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546732 | https://de.wikipedia.org/wiki/Grauspecht | Grauspecht | Der Grauspecht () ist eine Vogelart aus der Familie der Spechte (Picidae). Er ist neben dem bedeutend häufigeren Grünspecht (Picus viridis) und dem Iberiengrünspecht (Picus sharpei) der dritte Vertreter der sogenannten „Erdspechte“ in Europa. Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich über weite Teile der zentralen und östlichen Paläarktis, ostwärts bis an die Pazifikküste.
Der Grauspecht ist in seinen Habitatsansprüchen wesentlich anspruchsvoller als der Grünspecht. Er bevorzugt alte Laubmischwälder mit einem hohen Totholzanteil. Die Art ernährt sich vornehmlich von Ameisen, obwohl sie nicht so ausschließlich auf diese Insektenfamilie angewiesen ist wie der Grünspecht. Die Bruthöhle wird meist in abgestorbenen, zumindest aber stark geschädigten Bäumen angelegt.
Die lange Zeit als Unterarten betrachteten südostasiatischen Grauspechte, die des Himalayagebietes sowie jene aus Sumatra, werden seit 2014 als eigenständige Arten Picus guerini und Picus dedemi aufgefasst, sodass gegenwärtig (Stand 2016) drei Unterarten unterschieden werden.
Die Bestandsentwicklung der Art ist in den meisten Gebieten, aus denen detailliertere Einschätzungen vorliegen, negativ. Vor allem aufgrund des sehr großen Verbreitungsgebietes schätzt die IUCN den Gesamtbestand als nicht gefährdet (Least Concern) ein.
Aussehen
Die Körperlänge des Grauspechts beträgt 28–33 Zentimeter, sein Gewicht liegt zwischen 110 und 206 Gramm. Die Vögel der Unterart P. c. jessoensis sind meist etwas größer und schwerer als Individuen der Nominatform. Er ist im Durchschnitt etwas kleiner und leichter als der Grünspecht. Dieser Größenunterschied ist jedoch ohne direkten Vergleich feldornithologisch kaum feststellbar. In etwa entspricht die Größe der Art der einer Türkentaube.
Grauspechte sind auf der Oberseite ziemlich einheitlich matt olivgrün. Über den Nacken zum Kopf hin geht diese Färbung in ein helles Grau über, der Kopf wirkt hellgrau. Die spechttypischen Gesichts- und Scheitelzeichnungen sind klein und nicht sehr auffallend. Die Rotfärbung ist beim Männchen auf einen kleinen Fleck im Stirnbereich reduziert, nur ein relativ undeutliches Zügelband und ein ebenfalls wenig auffälliger Bartstreif sind schwarz. Der Schnabel ist dunkel und ganz leicht aufwärts gebogen, die Iris der Augen ist ebenfalls dunkel und schimmert, abhängig vom Lichteinfall, zuweilen leicht rötlich. Nackenabzeichen fehlen bei den Unterarten der in Europa und Westasien verbreiteten canus-Gruppe völlig. Bei den Unterarten der guerini-Gruppe ist der Nacken dagegen schwarz gefärbt. Hinterrücken und Bürzel sind heller als das Rückengefieder und weisen meist ein sattes, stumpfes Gelbgrün auf. Der im Vergleich zum Grünspecht etwas längere Schwanz ist wie das Rückengefieder gefärbt, einige der Steuerfedern sind jedoch etwas heller und zudem unregelmäßig hellbraun-gelb gebändert, sodass der Schwanz insgesamt etwas gesprenkelt erscheint. Die Unterseite des Spechtes ist einheitlich und zeichnungslos matt blassgelb, die Kehle ist sehr hell, manchmal fast weiß. Im Sitzen bilden die dunkelgrau bis schwarzen, deutlich hell gebänderten Handschwingen einen dunkel-hell markierten, meist auffälligen Flügelrand.
Die Geschlechter unterscheiden sich recht deutlich voneinander. Beim Weibchen fehlt die kleine rote Scheitelplatte des Männchens, meist ist bei ihnen diese Gefiederpartie etwas dunkler grau oder ganz leicht grau-schwarz gestreift. Auch die schwarzen Abzeichen (Zügel und Bartstreif) sind schmaler, kürzer und auch matter gefärbt. Insgesamt ist die Gefiederfärbung des Weibchens blasser und matter. In Größe und Gewicht unterscheiden sich die Geschlechter nicht.
Schon im Jugendgefieder besteht ein recht deutlicher Geschlechtsdimorphismus. Juvenile Männchen weisen bereits Andeutungen der roten Scheitelplatte und der schwarzen Gesichtsabzeichen auf, ihr Gefieder ist grünbräunlich und an der Unterseite undeutlich dunkel gebändert. Juvenile Weibchen dagegen sind ziemlich zeichnungslos matt grüngrau, sie gleichen weitgehend ausgefärbten Weibchen.
Flug
Wie Grünspechte fliegen Grauspechte in einem sehr schnellen wellenförmigen Bogenflug. Der Körper ist durchgestreckt, die Flügel werden einige Male rasch hintereinander geschlagen und danach – im Wellental des Flugverlaufes – eng an den Körper angelegt. Grauspechte fliegen häufiger auf als Grünspechte. Während diese auch weitere Strecken hüpfend zurücklegen, überbrücken Grauspechte auch kürzere Ortswechsel meist fliegend.
Unterscheidung Grauspecht-Grünspecht
Der Grauspecht ist dem Grünspecht ähnlich, es bestehen aber gute, auch feldornithologisch brauchbare Unterscheidungsmerkmale. Beim Grünspecht tragen beide Geschlechter ausgedehnte rote Stirn-Scheitel- und Nackenabzeichen, beim Grauspecht weist nur das Männchen eine kleine rote Stirn-Scheitelplatte auf. Der Grünspecht ist helläugig, die gesamte Wangenpartie dieses Spechtes ist schwarz. Beim dunkeläugigen Grauspecht sind nur kleine Bereiche (Zügelband, schmaler Bartstreif) schwarz. Der leuchtend olivgrüngelbe Grünspecht ist ein auffälliger, präsenter Vogel, während der in den Farbtönen ähnliche, aber matter gefärbte Grauspecht meist sehr verborgen und unauffällig lebt, ohne deshalb aber scheuer als der Grünspecht zu sein. Obwohl keine Verbreitungsüberschneidung der Arten in diesem Gebiet besteht, ähneln Grünspechte der Iberischen Halbinsel (Picus viridis sharpei) dem Grauspecht sehr. Auch bei diesen ist die Gesichtsmaske auf einen kurzen Zügel- beziehungsweise Bartstreif reduziert, die Wangenpartie wirkt insgesamt grau. Die roten Stirn- und Nackenabzeichen tragen dagegen beide Geschlechter.
Die Revierrufe der beiden Arten sind gut unterscheidbar, doch muss beachtet werden, dass Grünspechte in Regionen, in denen der Grauspecht nicht vorkommt, oft grauspechtähnlich rufen.
Stimme
Die Lautäußerungen von Grünspecht und Grauspecht sind einander sehr ähnlich. Der weittragende Reviergesang des Grauspechtes ist jedoch melodischer und reiner tönend als das explosive Lachen des Grünspechtes. Die aus zehn bis 15 Einzelelementen bestehende Lautreihe (klü-klü-klü ...kü...kü...kü(kö)..) fällt in der Tonhöhe ab und wird mit größeren Silbenabständen langsamer. Die Strophe wirkt etwas melancholisch, schwermütig, gegen Ende wird sie leiser und erstirbt. Der Reviergesang des Weibchens ist sehr ähnlich, aber etwas leiser und nicht so volltönend melodiös, sondern krächzender und meist auch kürzer. Die Reviergesänge sind ab Ende Februar zu hören, in besonders milden Wintern auch früher. Die höchste Gesangsintensität liegt im März, danach verhalten sich diese Spechte akustisch sehr unauffällig. Der Reviergesang dient sowohl der Revierabgrenzung und der Revierbehauptung als auch der Partnerwerbung. Daneben kommuniziert das Männchen mit dem Weibchen mit leisen djück-Rufen, auf die das Weibchen situationsbezogen entweder heiser gwüü oder leiernd diediedie antwortet. Die Bedeutung dieser Differenzierung ist nicht bekannt.
Neben diesen partnerbezogenen Vokalisationen sind von beiden Geschlechtern, häufiger jedoch vom Männchen, aggressionsbestimmte Laute zu hören. Dabei dominieren einzelne, scharfe kük-Rufe, die bei steigender Erregung gereiht und mit kek fortgesetzt werden. Einem einzelnen kük kommt auch eine Warnfunktion zu, denn sperrende Junge verstummen nach diesem Ruf eines Elternteils sofort. Die individuelle Trommelaktivität der Grauspechte ist sehr unterschiedlich, doch trommeln sie häufiger als Grünspechte. Die Schlagfrequenz beträgt etwa 20 Schläge pro Sekunde, ein Wirbel kann bis zu 40 Schläge umfassen, also zwei Sekunden dauern. Beide Geschlechter trommeln, das Weibchen aber weniger häufig und meist auch leiser und kürzer. Grauspechte benutzen oft dieselben, gut resonierenden Trommelunterlagen über Jahre hinweg – diese Trommelplätze können recht weit von der Bruthöhle entfernt liegen. Wegen der besonders günstigen Resonanz verwendet der Grauspecht auch häufig Metallabdeckungen auf Masten oder Dächern als Trommelunterlage.
Stimmbeispiele
Rufreihe des Grünspechts
Rufreihe des Grauspechts
Verbreitung
Der Grauspecht ist über weite Teile Zentral-, Nord- und Südosteuropas sowie in einem breiten Gürtel südlich des borealen Nadelwaldes quer durch Asien bis an die Pazifikküste, Sachalin und Hokkaidō verbreitet. Im Wesentlichen liegt die Nordgrenze des Verbreitungsgebietes im Übergangsbereich zwischen geschlossenem Nadelwald und aufgelockertem Laubmischwald, die Südgrenze verläuft in jenen Regionen, in denen die Baumsteppe in baumlose Strauch- und Buschsteppe übergeht. In Ostasien erreicht die Art ihre größte Rassendifferenzierung und besiedelt von der Mandschurei südwärts die Koreanische Halbinsel, weite Bereiche Ostchinas und Hinterindiens, die Bergwälder der Malaiischen Halbinsel sowie höher gelegene Gebiete auf Sumatra. Ob die Art auch auf Borneo vorkommt, ist unklar. Einige Populationen sind weit in die Gebirgstäler und Vorgebirge des Himalaya vorgedrungen.
In Europa brütet die Nominatform Picus canus canus von Westfrankreich in einem breiten Gürtel ostwärts bis an den Ural. Besiedelt sind ausgedehnte Gebiete in Mittelskandinavien und in Zentral-, Ost- und Südosteuropa. Über die Bestände in der Türkei liegen widersprüchliche Informationen vor, wahrscheinlich brütet die Art jedoch in einigen (hundert?) Paaren in den Mittelgebirgslagen des Pontischen Gebirges. Die Art kommt in der Norddeutschen Tiefebene, auf den Britischen Inseln und auf der Iberischen Halbinsel nicht vor. Auch die Mittelmeerinseln sind nicht besiedelt. In Italien brütet der Grauspecht nur im äußersten Norden.
Innerhalb seines großflächigen und weiträumigen Verbreitungsgebietes ist der Grauspecht nirgendwo häufig. Die Verbreitungsschwerpunkte dieser Art liegen in der Ostpaläarktis.
Lebensraum
Der Grauspecht brütet in reich gegliederten Landschaften, die zumindest kleine Laubholzanteile aufweisen. Er ist stärker an Wald gebunden als der Grünspecht und kommt auch, im Gegensatz zu diesem, im Inneren großer, geschlossener Wälder vor. Insgesamt sind seine Lebensräume sehr unterschiedlich. Bevorzugt werden aufgelockerte Laubmischwälder mit vielfältigen Grenzstrukturen, etwa Lichtungen, Windwurfflächen, Jungwuchsbeständen, Lawinenschneisen oder eingestreuten großen Felsblöcken, die sowohl ausreichend geeigneten Baumbestand zur Anlage von Brut- und Schlafhöhlen sowie Trommelbäume bieten als auch totholzreiche Abschnitte und Freiflächen zum Nahrungserwerb aufweisen. Solche Landschaftsstrukturen findet der Grauspecht in Europa vor allem in Auwaldgebieten sowie in forstwirtschaftlich nur extensiv bewirtschafteten Mittelgebirgslagen. Er kann aber auch Sekundärlebensräume wie Parkanlagen, Obstgärten, Friedhöfe oder Golfplätze besiedeln und dort auf relativ engem Raum gemeinsam mit dem Grünspecht vorkommen. Obwohl der Grauspecht in manchen Gegenden Mitteleuropas bevorzugt Buchenwälder zu besiedeln scheint, sind insgesamt keine eindeutigen Laubbaumpräferenzen feststellbar. Im Winter werden grobborkige Bäume wie Pappeln oder Eichen häufig zur Nahrungssuche aufgesucht. Auch Nadelwälder werden nicht generell gemieden, so brütet die Art in Vorarlberg in Kiefernmischwäldern und in alten Lärchenbeständen, eine isolierte griechische Population im Oita-Gebirge besiedelt reine Tannenbestände (Abies cephalonica).
In Europa kommt der Grauspecht bevorzugt in Habitaten der collinen und submontanen Stufe vor. In seinen asiatischen Verbreitungsgebieten sind Brutplätze auf über bekannt, die ostasiatischen Grauspechte sind fast ausschließlich Brutvögel der Bergwälder. Dort, wo die Art ungestörte Lebensbedingungen und ein ausreichendes Nahrungsangebot vorfindet, brütet sie jedoch ebenso in Tieflandgebieten. So sind zum Beispiel in den Pappel- und Erlengalerien des Donaudeltas die Populationsdichten sehr hoch, und auch in Deutschland zählen einige ausgedehnte Auwälder zu guten Grauspechtrevieren.
In Asien bewohnt die Art unterschiedliche Waldtypen, wobei solche mit laubwerfenden Baumarten offenbar bevorzugt werden. Im Himalaya steigen Grauspechte bis in Höhen von über auf, der Schwerpunkt der Brutverbreitung liegt aber unterhalb dieser Höhenlagen. In Ostasien werden gelegentlich auch Bambusgehölze besiedelt. Im Winter sind Grauspechte in unterschiedlichsten Landschaftsstrukturen zu finden, so unter anderem auch in Riedgebieten.
Über die Siedlungsdichten und Reviergrößen liegen nur wenige verlässliche Zahlen aus Mitteleuropa vor. In optimalen Habitaten wurden vergleichsweise hohe Dichten mit bis zu zehn Brutpaaren pro Quadratkilometer festgestellt. Meist sind geeignete Gebiete aber bedeutend dünner besiedelt. Der durchschnittliche Aktionsraum eines Grauspechtpaares beträgt in Mitteleuropa etwa einen bis zwei Quadratkilometer.
Systematik
Der Grauspecht ist ein Vertreter der Gattung Picus, der außer ihm noch 14 weitere Arten angehören. Nur der Iberiengünspecht (Picus sharpei) und der Atlasgrünspecht (Picus vaillantii) sind noch weiter in die West- beziehungsweise Südwestpaläarktis vorgedrungen. Die Radiation ging von Südostasien aus, wo auch heute noch die meisten anderen Arten dieser Gattung beheimatet sind.
Grünspecht, Grauspecht, Iberiengrünspecht und Atlasgrünspecht sind evolutionsgeschichtlich junge Arten. Wahrscheinlich wurden während der letzten Eiszeit, der Würmeiszeit, Populationen einer gemeinsamen Stammart isoliert. Erst nach Abschmelzen der Eismassen kamen die Arten wieder miteinander in Berührung. Möglicherweise ist die genetische Differenzierung zwischen den drei Arten aber von noch jüngerem Datum.
Die beiden lange Zeit als conspezifisch betrachteten Arten Picus guerini und Picus dedemi sind Schwesterarten, der Grünspecht ist sehr nahe verwandt.
Zurzeit (2016) werden drei Unterarten beschrieben:
Picus canus canus : Oben beschrieben. Europa bis Westsibirien. Im westlichen Sibirien breites Übergangsgebiet zwischen der Nominatform und P. c. jessoensis.
Picus canus jessoensis , 1886: Mittel- und Ostsibirien; Sachalin, Hokkaido; südwärts bis ins nördliche China. Geringfügig größer und im Durchschnitt schwerer. Insgesamt heller; Grauanteile überwiegen, weniger grün.
Picus canus griseoviridis (, 1907): Korea. Kleiner und dunkler als P. c. jessoensis; größerer Grünanteil.
Es wurden eine Reihe anderer Unterarten beschrieben, die mit Stand 2016 jedoch als individuelle Färbungsvarianten angesehen, und nicht als Unterarten anerkannt werden.
Das International Ornithological Committee führt zusätzlich:
Picus canus kogo (, 1906) kommt in Zentralchina vor.
Picus canus guerini (, 1849) kommt im nördlichen zentralen und östlichen zentralen China vor.
Picus canus sobrinus , 1948 ist im Südosten Chinas und dem Nordosten Vietnams verbreitet.
Picus canus tancolo (, 1863) kommt auf Hainan und Taiwan vor.
Picus canus sordidior (, 1906) ist im Südosten Tibets und dem Südwesten Chinas bis in den Nordosten Myanmars verbreitet.
Picus canus sanguiniceps , 1926 kommt im Nordosten Pakistans bis in den Norden Indiens und den Westen Nepals vor.
Picus canus hessei , 1916 kommt in Nepal und dem Nordosten Indiens bis Myanmar und Indochina vor.
Picus canus robinsoni (, 1906) kommt im Westen Malaysias vor.
Picus canus dedemi (, 1911) ist auf Sumatra verbreitet.
P. c. griseoviridis wird dort als Synonym zu P. c. jessoensis gesehen.
Hybridisierungen
Es gibt einige Belege für Mischbruten zwischen Grau- und Grünspecht, sie scheinen allerdings äußerst selten vorzukommen. Der weibliche Partner war offenbar immer ein Grauspecht. Die Jungen, über deren Fertilität nichts bekannt ist, ähneln in der Gefiederfärbung stärker einem Grauspecht, haben aber einen roten Scheitel, eine rötliche Nackenfärbung und eine helle Iris; einige waren auch auffallend dunkel gefärbt.
Nahrung
Der Grauspecht ist ein etwas weniger stark spezialisierter Ameisenjäger als der Grünspecht. In seiner Ernährungsstrategie bildet er ein Zwischenglied zwischen vielen Arten der Buntspechte (Dendrocopos) und den vielfach vorwiegend auf Ameisen spezialisierten anderen Arten der Gattung Picus. Diese weniger strikte Ausrichtung des Grauspechtes auf Ameisennahrung erlaubt es auch den beiden heimischen Picus-Arten in vielen Gebieten sympatrisch vorzukommen und bei Distanzen von etwa 100 Metern auch sehr nahe zueinander zu brüten.
Dennoch bilden vor allem im Frühjahr und Sommer Ameisen und ihre Entwicklungsstadien den Hauptbestandteil der Grauspechtnahrung. Vor allem Waldameisen (Formica sp.), Wegameisen (Lasius sp.) sowie Vertreter der Knotenameisen, insbesondere solche der Gattung Myrmica dominieren das Nahrungsspektrum. Daneben spielen Raupen, Grillen und verschiedene rinden- und holzbewohnende Käferlarven sowie Fliegen und Läuse als Beutetiere eine wesentliche Rolle. Im Spätherbst und im Winter nehmen Grauspechte regelmäßig und in beträchtlichen Mengen vegetarische Kost zu sich, wie verschiedene Beeren und Früchte.
Verhalten
Aktivität und Komfortverhalten
Die Aktivitätsspanne des Grauspechts reicht von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Weibchen sind in der Regel länger aktiv und kehren oft erst in der späten Abenddämmerung zu ihren Schlafhöhlen zurück. Innerhalb dieser Aktivitätszeit legen Grauspechte individuell sehr unterschiedlich lange und auch in ihrer zeitlichen Verteilung unregelmäßige Ruhe- und Komfortpausen ein. Grauspechte benützen mehrere Schlafhöhlen und wechseln diese häufiger als der Grünspecht.
Über das Komfortverhalten der Art ist nur sehr wenig bekannt. So sind Grauspechte bislang nur sehr selten beim Baden oder Trinken beobachtet worden. Häufiger dagegen wurden Grauspechte sowohl beim passiven als auch beim aktiven Einemsen gesehen.
Territorial- und Aggressionsverhalten
Grauspechte sind außerhalb der Brutzeit ausgesprochene Distanzvögel. Brutpartner sind jedoch auch außerhalb der Brutzeit gelegentlich gemeinsam anzutreffen. Die größte nachgewiesene Nähe benachbarter Bruthöhlen lag bei 1,25 Kilometern. Grauspechte beanspruchen unterschiedlich große Reviere, die bei günstigsten Bedingungen nur etwa zehn Hektar groß sein können, meist aber diese Größe um ein Mehrfaches überschreiten. Besonders die Winterreviere umfassen einige Quadratkilometer. Das Revier wird durch Rufe markiert, eindringende Artgenossen werden aber nicht direkt angegriffen. Schlüsselstellen dagegen werden direkt und aggressiv gegenüber Artgenossen und auch anderen Vögeln verteidigt. Dabei kann es sich um besonders günstige Nahrungsplätze (Ameisenhügel, insektenreiche Baumstumpen, frequentierte Ameisenstraßen), Rast- und Trommelplätze sowie Schlafhöhlen innerhalb des Reviers handeln. Solche Auseinandersetzungen können zu gelegentlich tödlich endenden Hackkämpfen führen. Auf Klangattrappen reagieren beide Geschlechter meist mit Antworten aus weiterer Distanz, gelegentlich aber auch mit größerer Annäherung und genauerer Inspektion der Störungsquelle. Bei Störungen durch Menschen am Nest verhalten sich Grauspechte meist sehr still, oft fliehen sie bereits bei den ersten Störungsanzeichen. Gegenüber potentiellen Feinden sichern sie intensiv und verharren oft völlig regungslos über längere Zeit auf der dem Eindringling abgewandten Stammseite.
Bei Auseinandersetzungen um eine Bruthöhle unterliegt der Grauspecht dem Grünspecht, weicht aber auch gegenüber anderen Höhlen beanspruchenden Vögeln wie Hohltauben oder Staren relativ rasch aus.
Nahrungserwerb
Die Nahrung wird überwiegend am Boden gesucht und aufgenommen. Meist werden die Ameisen direkt vom Boden, von einem Baumstrunk oder einem Stamm eingesammelt, seltener stochert er selbst Löcher in morsches Holz. Die Zunge dient bei der Nahrungsaufnahme mehr als Leimrute denn als Harpune. Holzbewohnende Insekten werden unter der Rinde aufgespürt, dabei entfernt er lose Rindenteile und stochert Insektenlarven mit bohrenden Schnabelbewegungen aus verrottenden Holzstümpfen. Im Winter werden Früchte und Beeren sowohl vom Boden als auch direkt von den Bäumen und Sträuchern aufgenommen, wobei Grauspechte gelegentlich kopfunter an einem Zweig hängend balancieren. Die Nahrungsflüge führen Grauspechte relativ weit von der Bruthöhle weg, Distanzen über einen Kilometer wurden regelmäßig festgestellt. In strengen Wintern profitieren Grauspechte oft von den Aktivitäten des Schwarzspechtes (Dryocopus martius), der selbst bei tiefen Temperaturen und hoher Schneebedeckung Ameisenhaufen öffnen oder durch seine großflächige Hackarbeit an holzbewohnende Insekten gelangen kann. Regelmäßig sind Grauspechte nahrungssuchend an Felsen und Klippen, gelegentlich auch an Gebäuden zu beobachten, und etwas häufiger als Grünspechte besuchen sie Futterhäuschen oder landwirtschaftliche Anwesen. Dabei handelt es sich vor allem um Jungvögel und Weibchen, die bei Nahrungsknappheit offenbar aus Männchenrevieren vertrieben werden.
Wanderungen
In den meisten Populationen dieser Art überwiegen Standvögel. Ortswechsel sind meist kleinräumig, wobei Weibchen – wohl gezwungenermaßen – eine größere Mobilität aufweisen als Männchen. Brutvögel aus höheren Lagen dehnen ihre Reviere weiträumig in tiefer gelegene Gebiete aus. Brutreviere werden im Winter oft auf das Zehnfache der Fläche vergrößert, wobei der ehemalige Brutplatz nicht unbedingt im Zentrum des Winterreviers liegen muss. Weibchen und Jungvögel müssen bei Nahrungsknappheit häufig in weniger optimale Gebiete ausweichen und erscheinen dann auch in unmittelbarer Nähe von Siedlungen und an Futterstellen. Bei hoher Schneebedeckung verstreichen auch die Männchen in günstigere Gebiete.
Weiträumigere und saisonal wiederkehrende Wanderbewegungen finden offenbar in nordeuropäischen und sibirischen Populationen statt. Manche, nach Ringbefunden mittelschwedische Vögel, ziehen über einige 100 Kilometer entlang der Küstenlinie der Ostsee nach Südwesten und kehren im Spätwinter wieder an ihre Brutplätze zurück. Möglicherweise überfliegen Grauspechte aus Finnland und den Åland-Inseln regelmäßig den Bottnischen Meerbusen. Ähnliche Zugbewegungen sind von mittelsibirischen Grauspechten bekannt.
Die generelle Brutortstreue der Art spiegelt sich auch in den mehrheitlich geringen Distanzen des Jugenddispersals wider. Bei durchschnittlicher Bestandsdichte und ausreichenden Nahrungs- und Brutplatzressourcen versuchen sich junge Grauspechte meist innerhalb eines Radius von 20 Kilometern wieder zu etablieren, Dispersionsflüge von mehr als 50 Kilometern gehören zu den Ausnahmen.
Brutbiologie
Balz und Paarbildung
Grauspechte werden am Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif. Sie führen eine weitgehend monogame Brutsaisonehe. Wegen der großen Brutplatztreue der Art dürften Wiederverpaarungen nicht selten sein. Die Balz beginnt im frühen Spätwinter, in Mitteleuropa bei mildem Wetter schon Ende Januar. Ihren Höhepunkt erreicht sie jedoch erst Ende Februar und Anfang März. Sie kann bis weit in den April hinein währen, in Ausnahmefällen hört man die Revier- und Balzrufe des Grauspechtes bis in den Mai hinein. Die Hauptbalz der nordeuropäischen und nordasiatischen Populationen beginnt erst Mitte März und dauert bis Juni. Über die Fortpflanzungszeit der südostasiatischen Unterarten sowie jener aus den Himalayatälern und Vorgebirgen liegen keine Informationen vor.
Die Hauptbalz beginnt mit intensiven Rufreihen und Trommelfolgen, zuerst des Männchens, nach erfolgter Anpaarung beider Geschlechter. Das Brutrevier wird abgeflogen, vorhandene Höhlen werden inspiziert. Gelegentlich, insbesondere vor einer Kopula, füttert das Männchen das Weibchen. Wesentlicher Bestandteil der Paarbindung ist das Höhlenzeigen und der Bruthöhlenbau. Ob eine neue Höhle gezimmert wird, hängt vom Angebot brauchbarer alter ab, häufig werden Schwarzspechthöhlen adaptiert oder Buntspechthöhlen ausgebaut. Sehr selten brüten Grauspechte in Nistkästen. Selbst zimmern Grauspechte Höhlen in unterschiedliche Baumarten, wobei vor allem Buchen und Eichen, in den Auwäldern Pappeln, Birken und Weiden bevorzugt werden. Grauspechthöhlen finden sich aber auch in Linden, Erlen, Ulmen und Eschen, gelegentlich auch in Nadelbäumen. In Sekundärhabitaten werden auch Obstbäume, vor allem Kirsch- und Birnbäume, als Höhlenbäume gewählt. An den Brut- und Schlafhöhlen arbeiten beide Partner. In der Regel werden Verwitterungsstellen oder Astausbrüche ausgenutzt, um den Nistplatz zu zimmern. Nicht selten werden die Höhlen nicht im Stamm, sondern in weitgehend vertikalen Astabschnitten angelegt. Die Bruthöhlen liegen meist in Höhen zwischen drei und fünf Metern. In Ausnahmefällen können sie fast bodennah oder im Kronenbereich hoher Bäume angelegt werden. Der Stamm- oder Astabschnitt, in dem die Höhle liegt, ist häufig leicht geneigt, so dass das Einflugloch gegen eindringenden Regen geschützt ist. Das Einflugloch selbst ist rund, manchmal auch leicht hochoval und misst etwa fünf bis sechs Zentimeter im Durchmesser. Oft bildet aber auch ein Riss oder Spalt im Baum die von außen kaum erkennbare Einflugstelle. Die Bruthöhlen selbst sind im Durchschnitt bis zu 30 Zentimeter tief. Wie fast alle Spechte trägt auch der Grauspecht kein Nistmaterial ein, doch verbleiben in der Nesthöhle genügend Hackspäne, um eine relativ weiche Unterlage abzugeben.
Gelege und Brut
Die Eiablage beginnt etwas später als beim Grünspecht, in Mitteleuropa meist Mitte April, in den nordeuropäischen und nordasiatischen Brutgebieten entsprechend später. Über die Brutzeiten der südostasiatischen Grünspechte liegen keine Angaben vor. Gorman nennt vier bis fünf Eier als Durchschnitt, während Glutz von Blotzheim und Bauer die Größe des Durchschnittsgeleges mit sieben bis neun Eiern beziffern. Die Eier sind meist langoval, feinporig, weiß und glänzend und weisen gelegentlich einen feinen gelben oder grauen Schimmer auf. Sie wiegen bei einer mittleren Größe von etwa 27,5 × 20,5 Millimetern ungefähr sieben Gramm. Die Eiablage erfolgt im Tagesrhythmus am frühen Morgen. Intensiv wird von beiden Geschlechtern erst nach der Ablage des letzten Eies gebrütet, sodass die Jungen nach 16 bis 17 (14 bis 18) Tagen fast zeitgleich schlüpfen. Grauspechte brüten nur einmal im Jahr, über Nachgelege bei Gelegeverlust ist nichts bekannt.
Die Jungen werden von beiden Elternteilen gefüttert und gewärmt. In den ersten Tagen wird die Insektennahrung vorverdaut, in der Folge werden die Nahrungstiere im Schnabel angeboten. Einige Male wurden unverpaarte Weibchen als Bruthelfer beobachtet. Nach etwa 24 bis 25 Tagen sind die Nestlinge flügge. Innerhalb einer Woche verlässt die gesamte Familie die Umgebung der Nisthöhle. Die Führungszeit scheint immer sehr kurz zu sein und dürfte gelegentlich vollkommen entfallen.
Bruterfolg und Höchstalter
Obwohl die Gelege des Grauspechtes sehr groß sein können, fliegen nur selten mehr als vier Junge aus. Frischflügge Jungvögel sind besonders gefährdet und verunglücken oft. Über die Lebenserwartung freilebender Grauspechte liegen nur wenige Daten vor. Das bisher festgestellte Höchstalter eines beringten Vogels lag bei fünf Jahren und vier Monaten. Generell können Spechte jedoch auch im Freiland gelegentlich ein recht hohes Alter erreichen. Das bisher festgestellte Höchstalter eines Grünspechtes lag bei über 15 Jahren.
Bestand und Bestandsentwicklung
Der Grauspecht gehört zu den recht schwer zu erfassenden Arten, da vor allem Einzelbrüter eine geringe Rufaktivität zeigen. Isolierte Reviere werden daher oft übersehen. Aus diesem Grunde unterliegen Bestandsangaben einer beträchtlichen Unschärfe. Wahrscheinlich fand in Europa, vor allem an der nordwestlichen Grenze des Verbreitungsgebietes, seit den 1960er Jahren ein Bestandsrückgang und auch ein damit einhergehender Arealverlust statt. Seit den 1990er Jahren scheinen sich aber die Grauspechtbestände, wohl auf Grund der überwiegend milden Winter, wieder zu erholen. Weltweit wird ein leichter Bestandsrückgang festgestellt, der aber nicht die Kriterien für eine Gefährdungsstufe erfüllt. Deshalb gelten die Bestände dieser Spechtart als gesichert.
In Europa sind die Bestände zurzeit stabil beziehungsweise nehmen in einigen Staaten sogar leicht zu, ein Umstand, der möglicherweise aber ein Scheineffekt und nur auf die bessere Erfassung dieser Art in den letzten Jahren zurückzuführen ist. Die europäische Gesamtpopulation wird auf 180.000 bis 320.000 Brutpaare geschätzt. Schlüsselvorkommen befinden sich im europäischen Teil Russlands sowie in Rumänien. In Deutschland brüten etwa 15.000 Paare, in Österreich um die 2.500 und in der Schweiz ungefähr 1.500. In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2015 wird die Art in der Kategorie 2 als stark gefährdet geführt. Über die außereuropäischen Bestandsverhältnisse liegen keine zusammenfassenden Zahlen vor.
Da der Grauspecht ungestörte und ursprüngliche Wälder mit natürlichen Altersstrukturen sowie Auwaldgebiete als Bruthabitate bevorzugt, liegt in der Zerstörung solcher Lebensräume die größte Gefährdung der Art.
Literatur
Hans-Günther Bauer und Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. 2. Auflage, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 283f.
Mark Beaman und Steve Madge: Handbuch der Vogelbestimmung. Europa und Westpaläarktis. Stuttgart 1998, ISBN 3-8001-3471-3, S. 532.
Dieter Blume: Schwarzspecht, Grauspecht, Grünspecht (= Neue Brehm-Bücherei Bd. 300). Magdeburg 1996, ISBN 3-89432-497-X.
L. Edenius et al.: . Ornis Svecica Bd. 9, 1999: S. 65–74.
Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas Band 9: Columbiformes – Piciformes. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1994, S. 917–942, ISBN 3-89104-562-X.
Gerard Gorman: Chalfont 2004, S. 57–68 sowie S. 44; 35, ISBN 1-872842-05-4.
Jochen Hölzinger (Hrsg.): Die Vögel Baden-Württembergs. Nicht-Singvögel Bd. 2/3, Stuttgart 2001, ISBN 3-8001-3908-1.
Josep del Hoyo et al.: . Band 7: Jacamars to Woodpeckers. Barcelona 2002, ISBN 84-87334-37-7.
Hans Winkler, David Christie und David Nurney: Robertsbridge 1995, ISBN 0-395-72043-5.
Einzelnachweise
Weblinks
Euring-Longevity Datenbank
[ Factsheet birdlife international (2006)] (englisch)
[ Factsheet birdlife europe (2004)] (englisch, PDF; 330 kB)
Grauspecht bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach
Federn des Grauspechts
Spechte |
564955 | https://de.wikipedia.org/wiki/Iva%20Ikuko%20Toguri%20D%E2%80%99Aquino | Iva Ikuko Toguri D’Aquino | Iva Ikuko Toguri D’Aquino (* 4. Juli 1916 in Los Angeles, Kalifornien; † 26. September 2006 in Chicago, Illinois) war eine japanischstämmige Amerikanerin, die während des Pazifikkriegs im Zweiten Weltkrieg in Japan unter dem Pseudonym Orphan Ann bei Radio Tokyo (NHK) in der Sendung The Zero Hour als Musikmoderatorin engagiert war. Diese Sendung war Bestandteil der japanischen Rundfunkpropaganda.
Jugend
Ikuko Toguri wuchs als Tochter des japanischen Immigranten Jun Toguri, der 1899 in die USA einreiste, und dessen Frau in einer Methodistenfamilie auf. Während ihrer Schulzeit in Calexico und San Diego legte sie sich den Namen Iva zu und begann, Klavierunterricht zu nehmen. Die High School und das College besuchte sie in Los Angeles. Iva Ikuko Toguri war bekennende Republikanerin und an ihren Schulen als loyale Amerikanerin bekannt.
Um ein Medizinstudium aufzunehmen, ging sie auf die University of California, Los Angeles (UCLA). Dort graduierte sie Anfang 1940 in Zoologie.
Zu Beginn des Jahres 1941 erfuhr die Familie Toguri, dass eine in Japan lebende Verwandte sehr krank war, woraufhin Iva Ikuko Toguri kurzfristig beschloss, diese zu besuchen. In der kurzen Zeit bis zur Abfahrt des Schiffes konnte von den Behörden kein Reisepass ausgestellt werden, so dass sie lediglich ein Identifikationszertifikat ausgehändigt bekam, das sie nach Japan und zurück bringen sollte. Als Beruf ließ Iva Ikuko Toguri „angehende Medizinstudentin“ eintragen. Die Überfahrt an Bord der Arabia Maru begann am 5. Juli 1941, einen Tag nach ihrem 25. Geburtstag.
In Japan
Im November 1941 wollte Iva Ikuko Toguri ihren Japanaufenthalt beenden und wieder nach Hause zurückkehren, doch ihr Identifikationszertifikat reichte den Amerikanern nicht als Beweis zur Feststellung ihrer amerikanischen Nationalität. Daher befand sie sich beim Ausbruch des Pazifikkriegs am 7. Dezember 1941 immer noch in Japan.
Nun begannen für sie die Probleme mit den japanischen Behörden, die von ihr verlangten, die amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen und im Gegenzug die japanische anzunehmen. Als sie dies ablehnte, wurde Iva Ikuko Toguri angedroht, sie zu internieren, was aber in Anbetracht ihrer japanischen Herkunft zuerst einmal nicht geschah. Doch ihre pro-amerikanischen Ansichten veranlassten Nachbarn, ihren Onkel zu überreden, den Feind unter seinem Dach zum Ausziehen zu bewegen. Daher suchte sie sich eine eigene kleine Wohnung, in der sie Klavierstunden gab, um die Gebühren für ihren Japanischkurs bezahlen zu können. Zusätzlich arbeitete sie als Schreibkraft und übersetzte für die Nachrichtenagentur Domei englische Texte. Dort sah sie auch die Namen ihrer Familie auf einer Liste des amerikanischen Internierungslagers Gila River Relocation Center in Arizona. In der Agentur freundete sie sich mit Felipe D’Aquino an, einem japanischstämmigen Portugiesen, der ihre Ansichten über den Krieg teilte.
Als sie eines Tages nach Hause zurückkehrte, fand sie die komplette Wohnungseinrichtung auf der Straße. Ihre Wohnung war von der japanischen Geheimpolizei Kempeitai durchsucht worden. Wiederum wurde ihr die Internierung angedroht.
Kurz darauf kam sie in ein Krankenhaus und musste wegen Unterernährung, Pellagra und Beriberi behandelt werden, da sie kaum Geld besaß, um sich vernünftig zu ernähren. Damit sie die dadurch angefallenen Kosten begleichen konnte, lieh sie sich bei ihrem Freund Felipe D’Aquino und ihrer Vermieterin Geld. Um dies zurückzahlen zu können, nahm sie eine zusätzliche Beschäftigung als Schreibkraft bei Radio Tokyo an.
Radio Tokyo
Auch hier bestand ihre Aufgabe im Übersetzen amerikanischer Nachrichtentexte. Während dieser Arbeit machte sie Bekanntschaft mit dem australischen Major Charles Cousens, der früher ein bekannter Sprecher bei Radio Sydney gewesen war. Mit seinen Mitarbeitern, dem amerikanischen Captain Wallace Ince und dem philippinischen Lieutenant Normando Reyes, die beide auf Corregidor von den Japanern gefangen genommen wurden, arbeiteten alle drei als Kriegsgefangene bei Radio Tokyo.
Obwohl sie Iva Ikuko Toguris pro-amerikanische Einstellung teilten, hielten die Männer sie zuerst für eine Spionin der Kempeitai. Nach einigen Monaten, während derer sie ihnen Lebensmittel und Medizin zukommen ließ, begannen sie jedoch, ihr zu vertrauen.
The Zero Hour
Der japanische Major Shigetsugu Tsuneishi ersann für die psychologische Kriegführung im Jahr 1943 die Radiosendung The Zero Hour (dt.: Die Stunde Null), für die er englischsprachige Moderatoren einsetzte. Diese sollten mit schlechten Nachrichten aus der Heimat, wie beispielsweise Überflutungen, Waldbränden, Verkehrsunfällen und ähnlichem, die Moral der kämpfenden Amerikaner im Pazifik untergraben. Dazu sollte bekannte amerikanische Musik gespielt werden, um dem Faktor Heimweh Rechnung zu tragen. Als Sprecher setzte er Major Cousens, Captain Ince und Lieutenant Reyes ein.
Cousens, Ince und Reyes ihrerseits versuchten, die japanischen Absichten zu unterlaufen. Mittels versteckter Andeutungen, Doppeldeutigkeiten und Sarkasmus sowie hastig gelesener Nachrichten sollte das Programm ad absurdum geführt werden. Doch als die japanischen Beobachter zu aufmerksam wurden, begannen sie die Texte so zu lesen und zu intonieren, als würden sie mit Waffengewalt zum Verlesen gezwungen.
Ende 1943 sollte die Länge der Sendungen von 45 auf 75 Minuten erweitert werden. Shigetsugu Tsuneishi wollte dazu Sprecherinnen integrieren. Cousens machte ihm den Vorschlag, Iva Ikuko Toguri zu fragen, ob sie als eine der Sprecherinnen arbeiten wolle. Sein Hintergedanke war, mit ihrer nicht ausgebildeten Stimme und dem nicht überragenden Englisch aus der Sendung nun endgültig eine absolute Burleske zu machen.
Iva Ikuko Toguri stimmte zu und moderierte zuerst anonym. Als die Japaner aber auf einem Namen bestanden, da alle anderen Sprecher/-innen ebenfalls namentlich über den Sender gingen, nannte sie sich Ann, nach der Abkürzung für Announcer, die vor dem Text in ihren Skripten stand. Cousens sah in dem Namen eine weitere Möglichkeit zur Persiflierung und erweiterte ihn auf Orphan Ann („Ann, die Waise“), basierend auf der amerikanischen Radiofigur Little Orphan Annie, und er ließ Iva Ikuko Toguri ihre Ansagen mit der Phrase Orphans of the Pacific („Waisen des Pazifiks“) beginnen. Damit sollte der humorvolle Bogen zwischen den zuhörenden GIs und den Moderatoren gespannt werden.
Nachdem Major Cousens einen Herzinfarkt erlitten hatte und in ein Krankenhaus eingeliefert worden war, übernahm Iva Ikuko Toguri das Schreiben der Skripte und versuchte, möglichst nah an seine flippige Schreibweise heranzukommen. Auch ihre anderen beiden Kollegen waren bald nicht mehr bei ihr. Ince wurde wegen Insubordination aus dem Programm gestrichen und Reyes wurde freigelassen, da die Philippinen nach der Besetzung nun offiziell zu Japan gehörten. Da das Zero-Hour-Programm aber in den Augen der Propagandisten ein zu großer Erfolg war, musste es weitergeführt werden. Weitere Sprecherinnen wurden engagiert, die alle unter einem anderen Pseudonym bekannt waren. Bei den Alliierten bürgerte sich alsbald der Sammelbegriff Tokyo Rose ein, der jedoch nie von einem der Moderatoren oder einer der Sprecherinnen während des Programms genannt worden war.
Kurz vor Kriegsende konvertierte Iva Ikuko Toguri zum katholischen Glauben und heiratete ihren Freund Felipe D’Aquino. Da zu der Zeit die Amerikaner von China und Okinawa aus die japanischen Inseln mit Bombern angriffen, endete die Hochzeitsfeier mit einem Fliegeralarm.
Kriegsende
Als der Tennō in der Gyokuon-hōsō am 15. August 1945 die Kapitulation Japans bekannt gab, plante Iva Ikuko Toguri D’Aquino, mit ihrem Mann in die USA zurückzukehren.
Am 30. August 1945 landete das Flugzeug mit General Douglas MacArthur in Japan. Ihn begleiteten dutzende Militär- und Zivilreporter, die sich diesen historischen Augenblick nicht entgehen lassen wollten. Unter ihnen befanden sich auch Clark Lee von INS und Harry Brundidge vom Cosmopolitan. Beide hatten sich zusammengetan, um die in Japan wohl begehrtesten Personen für ein Interview zu gewinnen: Hideki Tojo und Tokyo Rose. Ersterer war einfach zu finden, da er unter Hausarrest in Tokyo stand, aber Tokyo Rose war ein Phantom.
Um sie zu finden, setzte Brundidge eine Belohnung aus. 250 $ (heute: $) für denjenigen, der ihn mit Tokyo Rose bekannt macht und noch einmal 2.000 $ (heute: $) für Tokyo Rose selbst, um ein Exklusivinterview zu erhalten. Ein Mitarbeiter von Radio Tokyo nannte ihm daraufhin den Namen Iva Ikuko Toguri D’Aquino, den Clark Lee sofort weltweit verbreitete. Iva Ikuko Toguri D’Aquino selbst dachte sich, dass sie durchaus einen Anspruch auf den Namen und damit auch auf das Geld habe, und unterzeichnete einen Vertrag, der sie als die einzige Tokyo Rose identifizierte.
Es kam jedoch anders. Der Verleger des Cosmopolitan hielt nicht nur die Veröffentlichung des Interviews zurück, er war auch nicht gewillt, das Geld zu zahlen. Brundidge sollte die Summe aus eigener Tasche begleichen, wenn es ihm nicht gelänge, den Vertrag zu annullieren. Dieser begab sich zu General Elliott Thorpe und überreichte ihm den Vertrag mit den Worten: „Sie ist eine Landesverräterin, und hier ist ihr Geständnis.“ Zudem beraumte er eine Pressekonferenz mit allen anderen Reportern an.
Auf dieser Pressekonferenz stand Iva Ikuko Toguri D’Aquino vielen Reportern Rede und Antwort in dem Glauben, Tokyo Rose sei eine Sympathieperson in den USA, so wie sie selbst ihre Orphan Ann immer gesehen hatte. Sie ging sogar so weit, dass sie für die amerikanische Newsreel eine Zero-Hour-Situation nachspielte. Weiterhin ließ sie sich fotografieren und erfüllte viele Autogrammwünsche. Auf Fragen, die ihr unterstellten, etwas Falsches getan zu haben, reagierte sie mit Lachen und gab sogar ihre Skripte von Radio Tokyo heraus.
Als die Nachricht in den USA verbreitet wurde, Tokyo Rose sei eine amerikanische Bürgerin, die in die USA zurückkehren wollte, hagelte es öffentliche Proteste. Am 17. Oktober 1945 erschienen drei Offiziere der amerikanischen Militärpolizei bei ihr und baten sie, sie nach Yokohama zu begleiten, um einige Fragen zu beantworten. Im Hauptquartier der 8. Armee wurde ihr dann erklärt, sie werde inhaftiert. Gründe wurden nicht genannt, obwohl die Amerikaner die Verhaftung öffentlich bekannt gaben. Im Folgemonat wurde sie in das Sugamo-Gefängnis gebracht und verblieb dort bis zum 25. Oktober 1946, als sie überraschend ohne Auflagen entlassen wurde. Iva Ikuko Toguri D’Aquino zog sich mit ihrem Mann danach erst einmal aus der Öffentlichkeit zurück. Im Januar 1948 verlor sie ein Kind kurz nach der Geburt.
In dieser Zeit stand Major Cousens in Australien vor einem Militärgericht und wurde dort vom Vorwurf des Landesverrats freigesprochen, er nahm kurz darauf seine Arbeit bei Radio Sydney wieder auf. Captain Ince wurde nicht nur freigesprochen, sondern auch zum Major befördert.
In den USA liefen Bestrebungen, Tokyo Rose in San Francisco vor Gericht zu stellen, es gab aber auch eine landesweite Kampagne, die ihr verbieten wollte, wieder in die USA einzuwandern. Harry Brundidge, der nun für Nashville Tennessean arbeitete, kam mit dem FBI überein, nach Japan zu fliegen und Iva Ikuko Toguri D’Aquino noch einmal die Papiere, die Clark Lee ausgefertigt hatte, unterschreiben zu lassen. Als er in Japan bei ihr ankam, unterschrieb sie tatsächlich, nur um wieder in die Heimat zurückzukönnen.
Drei Monate danach wurde sie in ihrer Wohnung in Ikejiri unter Arrest gestellt, was mit Landesverrat gegen die US-Regierung während des Zweiten Weltkriegs begründet wurde, etwas später erfolgte ihre Ausschiffung nach Kalifornien mit einem Truppenschiff.
Zurück in den USA
In den USA konnte sie erstmals mit einem Anwalt sprechen, der auch sofort erfolgreich eine illegale Befragung durch das FBI verhindern konnte. Dieser Anwalt war Wayne M. Collins, der sie auch während des Prozesses verteidigte, der neun Monate später begann.
Der Prozess
Der Prozess selbst war der teuerste bis zu dieser Zeit in den USA. Er begann am 5. Juli 1949 und kostete den Staat 750.000 $ (heute: $). Zahlreiche Zeugen aus Japan wurden eingeflogen, die meist schon vorher in Japan vom FBI verhört worden waren. Charles Cousens und Wallace Ince reisten auf eigene Kosten an, um als Zeugen der Verteidigung aufzutreten. Doch trotz aller Bemühungen konnten die Geschworenen nicht zu einer Entscheidung kommen.
Der Richter rügte die Geschworenen und gab ihnen zu bedenken, dass der Prozess bis zu diesem Zeitpunkt bereits Kosten in Höhe von 500.000 $ verursacht hätte, und er wies sie an, schnellstmöglich eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung fiel am 29. September 1949 und lautete Freispruch in sieben Punkten, schuldig in einem Anklagepunkt. Dieser bezog sich auf das Verkünden von verlorenen amerikanischen Schiffen im feindlichen Rundfunk, was nicht erlaubt war.
Die richterliche Strafe, zehn Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 10.000 $ (heute: $), wurde am 6. Oktober 1949 verkündet.
In Haft
Als Gefangene 9380-W saß Iva Ikuko Toguri D’Aquino im Frauengefängnis von Alderson in West Virginia ein. Relativ schnell wurde sie von der Leitung als Modellgefangene mit einer vorbildlichen Führung klassifiziert. Sie arbeitete in verschiedenen Abteilungen, bis sie eine Unterweisung in der Bedienung von IBM-Lochkartenmaschinen erhielt und an einem Projekt zur Gefangenenzählung und -kartierung mitarbeitete. Danach wurde sie die Assistentin des Gefängnisarztes, wo sie sich zur ausgebildeten Röntgen- und Laborassistentin qualifizierte.
Eine ihrer Haftgenossinnen war Mildred Gillars (Axis-Sally), die ebenfalls wegen Landesverrats einsaß, da sie beim Reichsrundfunk in Berlin in einer Propagandasendung führend mitgewirkt hatte.
Am 28. Januar 1956 wurde Iva Ikuko Toguri D’Aquino wegen guter Führung aus dem Gefängnis entlassen. Am Ausgang händigte ein Aufseher ihr eine Deportationsbescheinigung aus, die sie anwies, unverzüglich nach Japan auszureisen.
In Freiheit
Zwei Jahre benötigte ihr Anwalt Wayne Collins, bis es ihm gelang, die Deportation zu verhindern. In dieser Zeit konnte Iva Ikuko Toguri D’Aquino bei ihm wohnen. Danach fuhr sie zu ihrer Familie nach Chicago, um ein neues, unerkanntes Leben zu führen. Sie schrieb in regelmäßigen Abständen Petitionen an die jeweilige Regierung, um eine Rehabilitation zu erreichen, doch alle Eingaben wurden abgelehnt. 1969 produzierte CBS eine Dokumentation über sie mit dem Titel The Tokyo Rose Story. 1976 hatte sie einen persönlichen Auftritt in der landesweit bekannten Sendung 60 Minutes, die ihren Fall wieder der Öffentlichkeit bekannt machte. Infolgedessen gelang es ihr am 19. Januar 1977 schließlich, von US-Präsident Gerald Ford die geforderte Rehabilitation zu erhalten. Eine Haftentschädigung erhielt sie allerdings nie.
1980 ließ Iva Ikuko Toguri D’Aquino sich von ihrem immer noch in Japan lebenden Ehemann Felipe scheiden. Felipe d’Aquino verstarb im November 1996 in Japan.
Iva Ikuko Toguri D’Aquino lebte bis zu ihrem Tod am 26. September 2006 in Chicago.
Siehe auch
William Joyce (Engl.-Pseudonym: Lord Haw-Haw)
Rita Louise Zucca (GI-Pseudonym: Roma Sally)
Trịnh Thị Ngọ (Pseudonym: Thu Houng – GI-Pseudonym: Hanoi Hannah)
Anna Wallis Suh (GI-Pseudonym: Seoul City Sue)
Literatur
Russell Warren Howe: The Hunt For “Tokyo Rose”. Madison Books, Lanham 1990. ISBN 0-8191-7456-4.
Masayo Umezawa Duus: Tokyo Rose: Orphan Of The Pacific. Kodansha International, New York 1979. ISBN 0-87011-354-2.
Rex B. Gunn: They Called Her “Tokyo Rose”. Gunn, Santa Monica CA 1977.
Weblinks
Orphan Ann Home Page (englisch)
Biografie Iva Ikuko Toguri D’Aquinos (englisch)
Bilder und komplette Aufzeichnungen einiger Sendungen der Zero Hour im Streaming Format (englisch)
Berühmte FBI-Fälle: Tokyo Rose (englisch)
Hörfunkmoderator
Hörfunk (Japan)
Hörfunk (Vereinigte Staaten)
Person im Pazifikkrieg
US-Amerikaner
Japaner
Geboren 1916
Gestorben 2006
Frau |
581086 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kelsos | Kelsos | Kelsos (, ) war ein antiker Philosoph. Er lebte in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts.
Aus der Sicht der platonischen Tradition, der er angehörte, verfasste Kelsos die Wahre Lehre, die älteste bekannte Streitschrift gegen das Christentum. Dieses Werk in altgriechischer Sprache ist nur fragmentarisch überliefert. Der Inhalt kann aber dank der zahlreichen Zitate in der Gegenschrift Gegen Kelsos des christlichen Kirchenschriftstellers Origenes in den Grundzügen rekonstruiert werden.
Kelsos besaß ein beträchtliches Detailwissen über die Bibel. In den christlichen Lehren und den Meinungsverschiedenheiten der verschiedenen untereinander zerstrittenen christlichen Richtungen kannte er sich aus. Er betrachtete das Christentum als Verfallserscheinung, die aus der Verfälschung der jüdischen Religion heraus entstanden sei, und griff es mit einer Fülle von Argumenten an. Insbesondere warf er den Christen ihre Absonderung aus dem sozialen Gefüge des Römischen Reiches vor. Aus seiner Sicht waren sie eine abergläubische, vernunft-, kultur- und bildungsfeindliche Bewegung, die zu Unrecht einen Überlegenheitsanspruch erhob, sich als Minderheit selbst hochmütig aus der Gesellschaft ausschloss und im Römischen Reich einen schädlichen Fremdkörper bildete. Daher appellierte er an die Gebildeten und Nachdenklichen unter den Christen, ihre Irrtümer einzusehen, ihre Exklusivität aufzugeben und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
In der Neuzeit wurde die antike Kontroverse zwischen Kelsos und Origenes erneuert. Gegner des Christentums griffen die Kritik des Kelsos auf, während christliche Autoren behaupteten, seine Argumente seien bereits von Origenes widerlegt worden. Die moderne Forschung schätzt die Wahre Lehre als kulturgeschichtliche Quelle von hohem Wert. Inwieweit sie als eigenständige philosophische Leistung gelten kann, ist allerdings umstritten.
Leben
Nachrichten über Herkunft und Leben des Philosophen sind nicht überliefert, über seine Heimat und seinen Wohnsitz gibt es nur Vermutungen. Versuche, ihn mit einer anderweitig bekannten Person zu identifizieren, haben nicht zu überzeugenden Ergebnissen geführt. Gesichert ist immerhin eine Einzelheit: Die Bemerkungen des Kelsos, er könne über Weissagungen in Phönizien und Palästina das mitteilen, was er „gehört und genau kennengelernt“ habe, und er habe die angeblichen Propheten selbst gehört, beweisen, dass er sich zumindest zeitweilig in dieser Region aufgehalten hat.
Alle heute vorliegenden Informationen über Kelsos stammen von Origenes, der seine ausführliche, acht Bücher umfassende Entgegnung in den 240er Jahren schrieb. Offenbar wusste Origenes über Kelsos und dessen Ansichten nicht mehr als das, was er der Wahren Lehre entnehmen konnte. Er identifizierte irrtümlich den Platoniker Kelsos, gegen den er sich wandte, mit einem gleichnamigen Epikureer, gab aber diesbezüglich seine Unsicherheit zu. Die Bezeichnung Epikureer wurde damals oft als Schimpfwort verwendet, um einen philosophischen Gegner zu diskreditieren.
Die Wahre Lehre
Entstehung und Textüberlieferung
Die Kampfschrift gegen das Christentum mit dem Titel Alēthḗs lógos (Wahre Lehre) ist nach der vorherrschenden Forschungsmeinung vermutlich in Alexandria entstanden. Daneben wurden auch Rom, Caesarea Maritima und Pergamon als mögliche Entstehungsorte vorgeschlagen. Wahrscheinlich schrieb Kelsos unter Kaiser Mark Aurel (161–180).
Oft wird die Abfassung aufgrund von Andeutungen des Autors zur aktuellen Lage in die Zeit zwischen 176 und 180 gesetzt, vereinzelt ist für Spätdatierung um 200 plädiert worden. Der Originaltext ist nur bruchstückhaft erhalten; spätestens nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion und dem Verbot aller anderen Kulte im späten 4. Jahrhundert wurden alle möglicherweise noch vorhandenen Exemplare vernichtet, da Kritik am Christentum von nun an nicht mehr geduldet wurde.
Die überlieferten Passagen liegen in Gestalt der Zitate vor, die Origenes in seine Gegenschrift einfügte. Das ebenfalls in griechischer Sprache abgefasste Werk des Origenes trägt den Titel Gegen die mit ‚Wahre Lehre‘ betitelte Schrift des Kelsos (kurz Gegen Kelsos, lateinisch Contra Celsum). Da der christliche Opponent einen Abschnitt nach dem anderen zitierte und zu widerlegen versuchte, lassen sich aus seiner Darstellung Aufbau und Inhalt der Wahren Lehre weitgehend erschließen. Allerdings verfuhr Origenes, wie er selbst einräumte, beim Zitieren nach seinem Ermessen. Forschungsergebnisse bestätigen diese Willkür: Der Kirchenschriftsteller hielt sich entgegen seiner Behauptung nicht konsequent an die Reihenfolge der Argumente des Kelsos; er überging Aussagen, die er für wertlos hielt, ließ manche Fragen aus und nahm in den zitierten Passagen Kürzungen vor, durch die Lücken und Unklarheiten entstanden, die das Verständnis beträchtlich erschweren.
Zwar behauptete Origenes, auf alle Argumente des Gegners eingegangen zu sein, doch gehen die Meinungen der Forscher darüber, wie groß der von ihm wiedergegebene Teil des Originaltextes ist, weit auseinander. Manche bestreiten, dass der Fragmentbestand eine Rekonstruktion ermöglicht. Der Gegenposition zufolge ist der Text dank der indirekten Überlieferung großenteils oder fast vollständig gerettet; nach einer besonders optimistischen Einschätzung ist nur etwa ein Zehntel verloren.
Hintergrund und Zweck
Mit dem Titel Alethes logos, den Kelsos seiner Schrift gab, kündigte er einen wahren „Logos“ an. Das mehrdeutige Wort logos bezeichnet im Altgriechischen unter anderem eine Aussage, eine Behauptung, eine Darlegung oder Belehrung oder auch eine ganze Abhandlung, oft mit der Konnotation des Vernünftigen. Im hier vorliegenden Kontext ist eine philosophische Lehre gemeint. Im Werktitel machte der Autor nicht nur selbstbewusst seinen Anspruch geltend, Wahrheit zu verkünden, sondern setzte zugleich auch dem christlichen Verständnis von Jesus Christus als Logos in Person – fleischgewordenes Wort Gottes – sein eigenes Logos-Konzept entgegen. Unter der „wahren Lehre“, auf die sich der Titel bezieht, verstand Kelsos ein anfängliches, den ältesten Völkern und insbesondere deren Weisheitslehrern ursprünglich gemeinsames religiös-philosophisches Wissen, das in den Schriften der Weisen niedergelegt sei und die Sitten der einzelnen Völker präge. Als Träger solcher Überlieferungen nannte er mehrere Völker, darunter die Ägypter, Assyrer, Inder und Perser. Auch die keltischen Druiden zählte er zu den Besitzern altehrwürdiger Weisheitslehren. Unter den einzelnen Persönlichkeiten, die nach seiner Überzeugung die wahre Lehre besaßen, führte er Orpheus, Pherekydes von Syros, Pythagoras und Zarathustra („Zoroastres“) an. Platon war aus Kelsos’ Sicht keineswegs der Schöpfer einer neuen Philosophie, sondern nur ein hervorragender Erklärer und Verkünder der uralten Weisheit. Dieses Bild der Philosophiegeschichte war keine Besonderheit des Kelsos; es wurde auch vom Mittelplatoniker Numenios vertreten, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts lebte.
Im 2. Jahrhundert war bei den griechischsprachigen Gebildeten Wertschätzung für die alte Weisheit der „Barbaren“ – der nichtgriechischen Völker – verbreitet. Kelsos bekannte sich zwar zu dieser Sichtweise, war aber zugleich von der geistigen Überlegenheit des Griechentums überzeugt. Er befand, die Barbaren seien zwar fähig, wertvolle Lehren zu erfinden, aber in der Beurteilung und Begründung der von ihnen gewonnenen Einsichten und in deren „Anwendung im Hinblick auf die Tugend“, also in der ethischen Praxis, seien die Griechen besser.
Die jüdische Religion zählte Kelsos nicht zu den bewundernswerten uralten Weisheitsüberlieferungen, denn er meinte, sie fuße zwar auf altem ägyptischen Wissen, doch diese ursprüngliche Wahrheit sei von Mose zum Teil verfälscht worden. Dennoch sah er im Judentum eine legitime Tradition, die ebenso wie die anderen ethnischen Überlieferungen und Sitten zu respektieren sei. Dem Christentum hingegen, das er für eine bloße Perversion des Judentums hielt, billigte er keinen solchen Rang zu.
Den Kern der Kritik des Kelsos an den Christen bildete der Vorwurf, sie hätten die überlieferte Wahrheit mit eigenen Erfindungen vermischt, die unbegründete und abstruse Behauptungen seien. Dieses Urteil wurde in der Wahren Lehre mit einer Fülle von Argumenten aus der Perspektive eines platonischen Welt- und Menschenbildes untermauert.
Die Absicht, die Kelsos mit seinem Werk verfolgte, beschränkte sich nicht auf die bloße Widerlegung der christlichen Lehre zum Zweck der Eindämmung ihrer Verbreitung. Vielmehr war die Wahre Lehre sowohl eine Kampfschrift, die Munition für die geistige Auseinandersetzung bereitstellte, als auch eine Lehrschrift, die wahrheitsgemäß über Gott und die Welt belehren sollte, und eine Werbeschrift für die Philosophie des Autors. Kelsos wollte nicht nur angreifen, sondern hatte auch ein protreptisches Ziel: Er präsentierte die „wahre Lehre“, das heißt seinen Platonismus, als überlegene Alternative, um die gebildete Minderheit unter den Christen zur Abkehr von ihrem Glauben zu bewegen und sie zu seiner eigenen Weltanschauung zu bekehren. Damit wollte er zugleich einen Beitrag zur Stärkung der staatsbürgerlichen Loyalität leisten, denn er hielt den Einfluss des christlichen Gedankenguts für staatszersetzend. Angesichts der aktuellen Bedrohung des Römischen Reichs durch feindliche Völker – die Abfassung fiel in die Zeit der Markomannenkriege – war dies ein wichtiges Anliegen, dessen Gewicht Kelsos mit dem Hinweis auf eine mögliche künftige Machtübernahme durch wilde Barbaren verdeutlichte. In Anbetracht der militärischen Gefahr beendete er seine Ausführungen versöhnlich mit einem Appell an die Christen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, ihre Bürgerpflichten zu erfüllen und dem Kaiser, der sich für das Gerechte abmühe, beizustehen.
Quellen und Kenntnisstand
Kelsos war sowohl über das Judentum als auch über das Christentum seiner Zeit gut informiert, wobei er sich auf mündliche und schriftliche Quellen stützte. Er kannte zumindest teilweise die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Seine Bezugnahmen auf die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut und die Geschichte der biblischen Patriarchen sowie auf das Konzept des Prophetentums und speziell Jona und Daniel zeigen seine Sachkenntnis. Inwieweit er zu den biblischen Originaltexten Zugang hatte und welchen Teil seines Wissens er aus anderen Quellen bezog, ist allerdings weitgehend unklar; nur für das Buch Genesis ist direkte Benutzung gesichert. Die Lehren der Evangelien und des Apostels Paulus waren ihm jedenfalls vertraut. Auch mit den zahlreichen christlichen Sondergemeinschaften, deren Anhänger von der Kirche als Häretiker bekämpft wurden, und ihren unterschiedlichen Lehren kannte er sich aus. Er wusste Bescheid über ihr konfliktreiches Verhältnis zur Kirche, die er als „Großkirche“ bezeichnete, und über ihre Streitigkeiten untereinander, ebenso wie auch über die Polemik zwischen Juden und Christen. Diese Gegensätze machte er sich für seine Argumentation zunutze; so ließ er im ersten Hauptteil seiner Streitschrift einen fiktiven Juden auftreten, der erst gegen Jesus, dann gegen die Judenchristen polemisiert und beide als unwissend demaskiert.
Die genauere Bestimmung der Quellen, die Kelsos zur Verfügung standen, ist schwierig. Offenbar hatte er nicht nur Zugang zu christlicher Literatur, sondern verfügte auch über Informationen aus erster Hand über Leben und Lehre der zeitgenössischen Christen. Seine lebensnahen Milieuschilderungen deuten auf persönliche Eindrücke und Begegnungen, die sich durch Kontakte mit dem christlichen Schulbetrieb ergaben.
Kelsos’ Kenntnis der platonischen Dialoge und der Platon zugeschriebenen Briefe stammte nicht ausschließlich aus der handbuchmäßig vermittelten Schultradition. Sie beruhte vielmehr zumindest teilweise auf eigener Lektüre der Originaltexte. Auch der systematisierte Platonismus der mittelplatonischen Literatur war ihm vertraut. Daneben griff er auch auf stoisches Gedankengut zurück. Er berief sich auch auf Vorsokratiker; drei Heraklit-Fragmente sind nur dank seinen Zitaten bekannt. Möglicherweise machte er sich auch Vorstellungen der Epikureer zunutze, wie ihm schon Origenes unterstellte, doch fehlt dafür ein eindeutiger Beleg.
Argumente
Kelsos bekämpfte das Christentum und einzelne christliche Lehren mit einer Reihe von Argumenten. Er versuchte Widersprüche und Fragwürdigkeiten aufzudecken. Mit kosmologischen und religionsphilosophischen Überlegungen wollte er biblische Aussagen als vernunftwidrig entlarven. Seine historischen und geschichtsphilosophischen Ausführungen richteten sich gegen das biblische Geschichtsbild und sollten das Christentum als Ergebnis eines kulturellen Auflösungsprozesses erweisen. Weitere Schwerpunkte der Kritik waren die Vorwürfe, die Christen seien bildungsfeindlich und intolerant, verweigerten die Erfüllung der Bürgerpflichten und gefährdeten durch ihre Absonderung den Fortbestand des Staates. Ihr Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz und ihre schroffe Zurückweisung der anderen Religionen untergrabe den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Historische Argumentation
Die Juden und die Christen sind aus Neuerungs- und Geltungssucht von der gemeinsamen Urweisheit der Völker abgewichen. Erst haben die Juden das alte Wissen teilweise verfälscht, dann haben die Christen völlig abwegige Lehren eingeführt. Diese sind aber nichts wirklich Neues, sondern nur aus Missverständnissen und bewusster Irreführung hervorgegangene Absurditäten. Die Begründer des Judentums verfügten noch über echte Kenntnisse. Diese verdankten sie dem altehrwürdigen gemeinsamen Wissensschatz der Menschheit, den Völker wie die Ägypter und die Perser bewahrt haben. In neuerer Zeit fabrizierten dann die Christen eine gänzlich entstellte Version der jüdischen Tradition und übernahmen zusätzlich Gedankengut Platons, das sie jedoch missverstanden. Die Folge waren gegensätzliche Positionen der beiden Religionen und Zwietracht. So sind Juden und Christen verschiedener Meinung über den angeblichen Retter der Menschheit, den Messias, an den sie glauben.
Ein zentrales Merkmal des Christentums sind theologische Streitigkeiten. Die Spaltung der Christenheit in eine Fülle sektiererischer Sondergemeinschaften ist die letzte Phase eines jahrhundertelangen Zerfallsprozesses. Dieser begann schon mit der Absonderung der Juden von den Ägyptern und setzte sich dann mit der Abspaltung des Christentums vom Judentum fort. Schließlich erfasste der Spaltungsimpuls die neue Glaubensgemeinschaft selbst. Es war unausweichlich, dass er in eine Aufsplitterung der Christenheit einmündete. Unter den Christen herrscht zwangsläufig Uneinigkeit, denn der Aufruhr ist für sie charakteristisch.
Die Angaben über die Herkunft Jesu sind widersprüchlich. Einerseits wird er als Sohn der Frau eines Zimmermanns, einer armen Handarbeiterin, bezeichnet, andererseits wird behauptet, er stamme von den jüdischen Königen ab und sein Stammbaum lasse sich bis Adam zurückverfolgen. Seine angebliche edle Herkunft ist eine dreiste Erfindung.
Kelsos übernimmt die Legende, der zufolge die angebliche Geburt Jesu aus einer Jungfrau damit zu erklären ist, dass seine Mutter von ihrem Mann des Ehebruchs überführt und verstoßen wurde und dann heimlich ein außereheliches Kind gebar. Sein Vater sei ein römischer Soldat namens Panthera gewesen. Die Geschichte der Jungfrauengeburt sei erfunden worden, um dies zu vertuschen. Der Legendenstoff ist in anderer Form auch in der rabbinischen Literatur überliefert, im Talmud ohne ausdrücklichen Bezug auf Jesus. Die Version des Kelsos ist der älteste Beleg für Verwendung in antichristlicher Literatur. Wie die Darstellung des paganen Philosophen mit der Rezeption des Stoffs in rabbinischen Texten zusammenhängt, ist ungeklärt; als plausibel gilt die Annahme einer beiden Überlieferungssträngen gemeinsamen jüdischen Quelle. Jedenfalls stammt die von Kelsos mitgeteilte Legende wohl aus jüdischer Polemik gegen das Christentum; die unterstellte Herkunft aus niedrigsten und schimpflichen Verhältnissen soll den Anspruch auf Göttlichkeit diskreditieren.
Die Wundertaten, die Jesus zugeschrieben werden, können die Behauptung der Christen, er sei Gottes Sohn, nicht untermauern. Vielmehr zeigen sie, dass er als Magier auftrat. Ob man an die Wunder glaubt oder nicht, jedenfalls sind sie im Prinzip nichts anderes als die Gaukelei der öffentlich auftretenden Zauberer, die niemand für Söhne Gottes hält. Magie ist keineswegs ein Beweis für besondere Würde. Das hat Jesus selbst eingeräumt, als er prophezeite, dass künftig Verführer auftreten und Wunder vollbringen würden.
Die christliche Berufung auf Prophezeiungen, die das Auftreten und das Schicksal Jesu vorausgesagt hätten, ist unglaubwürdig, denn dieselben Christen bestreiten den göttlichen Ursprung der Weissagungen aus den Orakelstätten. Es ist nicht einsichtig, dass nur jüdische Prophezeiungen unbedingten Glauben verdienen sollen und Weissagungen aus anderen Kulturen nicht.
Kosmologische und religionsphilosophische Argumentation
Es gibt keinen Grund anzunehmen, die Welt sei des Menschen wegen geschaffen worden. Eher könnte man, wenn man wollte, die Behauptung begründen, sie sei um der Tiere willen da. Zwar werden die Tiere vom Menschen gejagt und verspeist, aber das Umgekehrte kommt auch vor und war früher – bevor die Menschen Waffen, Netze und Jagdhunde einführten – sogar der Normalfall. Daraus ließe sich folgern, dass Gott eher die Raubtiere bevorzuge, denn er hat sie von vornherein mit Waffen ausgestattet und den Menschen nicht. Auch die Staatenbildung, soziale Organisation und Zukunftsvorsorge ist keine Sonderleistung des Menschen, da Ameisen und Bienen Vergleichbares zustande bringen. In Wirklichkeit ist keine Spezies von Natur aus privilegiert und zur Herrschaft über die Welt bestimmt. Jede Vorstellung, die einen bestimmten Teil der Schöpfung zu deren Zweck erhebt, ist prinzipiell verfehlt, denn der Kosmos bildet eine Gesamtheit, in der jeder Bestandteil seine Rolle und eigenständige Existenzberechtigung hat. Es trifft nicht zu, dass einer der Teile um eines anderen willen da ist oder eine Gattung von Lebewesen wegen einer anderen geschaffen wurde. Vielmehr besteht jeder Teil des Kosmos unmittelbar im Hinblick auf das Ganze, in das er eingeordnet ist, und die Vollkommenheit des Ganzen beruht auf der Vollständigkeit seiner Bestandteile.
Der Glaube, dass sich Gott um die Juden und die Christen mehr kümmere als um die übrige Welt und nur ihnen seine Botschaften offenbare, ist Ausdruck einer willkürlichen Subjektivität. Ebenso könnten Würmer oder Frösche sich einbilden, dass das Weltall ihretwegen bestehe und dass Gott sie gegenüber allen anderen Wesen bevorzuge.
Es ist absurd zu glauben, dass sich die höchste Gottheit in einen sterblichen Menschenkörper begebe, noch dazu einen normalen wie den Körper Jesu, der nicht durch Schönheit herausragt und dem man das Göttliche nicht ansieht, und dass sich Gott mit Bösem und Hässlichem abgebe und dem Leid aussetze. Außerdem ist nicht einzusehen, weshalb Gott dies erst spät zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt getan haben soll und nicht schon früher.
Es ist unsinnig anzunehmen, dass Gott außerstande gewesen sei, sein eigenes Geschöpf Adam zu überzeugen, und dass der Teufel in Gestalt einer Schlange den Geboten Gottes überlegen gewesen sei.
Es ist lächerlich, Gott menschliche Affekte wie Zorn zuzuschreiben und zu behaupten, dass er Drohungen ausspreche. Gott droht niemandem, denn sonst würde er sich gegen die von ihm selbst eingerichtete Ordnung wenden.
Gott hat dem Pentateuch zufolge durch Mose den Juden befohlen, alle ihre Gegner im Krieg zu vernichten und deren Nachkommenschaft auszurotten; Jesus hingegen fordert in der Bergpredigt Friedfertigkeit. Hierzu fragt Kelsos ironisch, ob Gott seinen früheren Befehl vergessen oder seine Meinung geändert habe.
Die Lehre der Auferstehung des Fleisches unterstellt Gott ein naturwidriges und unsinniges Verhalten. Dass verwestes Fleisch wieder aus der Erde auftauche, ist die Hoffnung von Würmern. Das Fleisch ist seiner Natur nach dem Zerfall ausgesetzt, sein Fortbestehen in Ewigkeit ist weder möglich noch wünschenswert.
Die Christen glauben, dass Gott nach dem Sechstagewerk der Schöpfung einen Ruhetag benötigt habe, als wäre er wie ein Handwerker nach der Arbeit ermüdet und bräuchte Erholung. Das ist eine alberne Vorstellung, die auf Verkennung der Natur des Göttlichen beruht.
Der Teufelsglaube – die Vorstellung, dass Gott einen bösen und mächtigen Widersacher habe – ist eine menschliche Erfindung und ein Zeichen größter Ignoranz. Wenn es den Teufel gäbe und er die Menschen betrogen hätte, so wären sie seine Opfer, und dann gäbe es für Gott keinen Grund, den Betrogenen Strafe anzudrohen.
Gott ist allen gemeinsam, gut, bedürfnislos und frei von Neid. Daher ist die christliche Verdammung aller anderen religiösen Traditionen unberechtigt. Es tut dem Kult der höchsten Gottheit keinen Abbruch, wenn auch die ihr untergeordneten Gottheiten und Dämonen die ihnen gebührende Verehrung erhalten. – Die hier erwähnten Dämonen (daimones) sind nach Kelsos’ Überzeugung wohlwollende und hilfreiche Wesen, nicht wie im christlichen Weltbild bösartige.
Staatspolitische und ethische Argumentation
Wenn sich alle Menschen so wie die damaligen Christen absondern und der Beteiligung an der staatlichen Gemeinschaft verweigern würden, müsste das Reich zugrunde gehen. Dann würden die gesetzlosesten und wildesten Barbaren die Macht übernehmen und jegliche Zivilisation und Weisheit vernichten. Auch vom Christentum bliebe dann schließlich nichts übrig.
Die Christen möchten die ganze Welt zu ihrem Glauben bekehren und ihrem Gesetz unterwerfen. Das zeigt ihre Weltfremdheit. Die Völker haben unterschiedliche religiöse Sitten, jedes zieht die seinigen allen anderen vor, und daran ist nichts Unrechtes, denn die Verschiedenartigkeit gehört zur Weltordnung. Die Welt kann nicht religiös vereinheitlicht werden.
Jesus droht und schimpft, weil er unfähig ist zu überzeugen. So verhält sich kein Gott und auch kein vernünftiger Mensch.
Als Augenzeuge auftretend beschreibt Kelsos die christliche Missionstätigkeit. Nach seiner Darstellung werben die Missionare auf offenen Plätzen und in Privathäusern für ihren Glauben. Dabei wenden sie sich nur an unverständige Menschen. Insbesondere hetzen sie Kinder heimlich gegen deren Väter und Lehrer auf und tragen so Unfrieden in die Familien hinein.
Kritik an der Geringschätzung von Vernunft und Bildung
Eine wahre Lehre muss sich auf Vernunftgründe stützen können. Die christliche Theologie kann aber nicht einsichtig machen, warum man ihren Behauptungen glauben soll. Vielmehr wird der Glaube einfach gefordert, weil es ohne ihn angeblich keine Erlösung gibt.
Die Christen sind ungebildet und betrachten dies nicht als einen Mangel, sondern als ob es ein Privileg wäre. Sie meinen absurderweise, ein Ungebildeter habe besseren Zugang zur Wahrheit als ein Gebildeter. Demgemäß sind die Unwissenden, die sich leicht betrügen lassen, ihr Zielpublikum.
Philosophische Position
Kelsos verfügte, wie seine kenntnisreichen Darlegungen zeigen, über eine ausgezeichnete Bildung, die er auch bei seinen Lesern voraussetzte. In Mythologie und Drama kannte er sich ebenso aus wie in der Rhetorik und Philosophie. Seine religiösen und philosophischen Vorstellungen beruhten auf dem Weltbild des Mittelplatonismus, der damaligen Entwicklungsphase des Platonismus. Er nahm einen transzendenten, unwandelbaren und gestaltlosen obersten Gott an, in dem er die Ursache des nous – der Weltvernunft und der menschlichen Vernunft – und der ousia – des Seins und Wesens der intelligiblen Entitäten – sah. Diesen Gott, das erste Prinzip, hielt Kelsos zwar nicht für schlechthin unbegreifbar, aber er meinte, dass man ihn durch einen gewöhnlichen Vernunftakt nicht erkennen könne. Vielmehr benötige man dazu eine besondere Kraft. Auf drei Wegen kann sich das Denken nach der Lehre des Kelsos Gott zuwenden: erstens, indem man ihn mit allem anderen zusammenhält und dadurch seinen Charakter als höchsten und letzten Grund erfasst; zweitens, indem man ihn radikal von allem, was unter ihm liegt, trennt und damit seine Transzendenz herausarbeitet; drittens, indem man die kosmische Hierarchie bis zu ihm verlängert und ihn damit gemäß dem platonischen Sonnengleichnis als Sonne im Reich der Ideen denkt. Kelsos betonte, dass der oberste Gott weder einen Namen noch Anteil an einer bestimmten Seinsweise habe; man dürfe ihm daher keine Eigenschaften zuschreiben. Demnach ist Gott nur negativ bestimmbar.
Dem unwandelbaren höchsten Gott ist nach der platonischen Theologie des Kelsos Veränderung und damit jegliche Tätigkeit völlig fremd. Er führt keinerlei Handlungen aus. Somit hat dieser der Menschenwelt ferne Gott nichts erschaffen. Er ist zwar die Ursache des Seins der ewigen, unveränderlichen Gegebenheiten der rein geistigen Welt, doch mit dem Bereich des Werdens, des Entstehens und Vergehens der vergänglichen Dinge hat er nichts zu tun. Darin unterscheidet er sich fundamental vom Gott der Christen. Demnach muss im Modell des Kelsos wie bei anderen Mittelplatonikern und bei Platon selbst die Rolle des Weltschöpfers einer untergeordneten Gottheit, dem Demiurgen, zufallen. Näheres ist dazu aber nicht überliefert.
Im hierarchischen Weltbild des Kelsos haben auch die Götter der griechischen Mythologie sowie hilfreiche Dämonen ihren Platz. Sie sind dem absolut transzendenten obersten Gott untergeordnet und mit ihm nicht vergleichbar. Im Gegensatz zur unwandelbaren höchsten Gottheit sind sie handelnde Wesen, die im Kosmos als Aufseher für Ordnung und Harmonie sorgen. Diesen höheren Wesen erweisen die Menschen mit Recht die gebührende kultische Verehrung, und die Götter und Dämonen wenden sich ihrerseits wohlwollend den frommen Menschen zu, etwa indem sie ihnen Orakelsprüche zukommen lassen oder ihnen Heilung von Leiden gewähren. Einzelnen Göttern sind im Rahmen der Weltordnung bestimmte ethnische und geographische Zuständigkeiten zugewiesen, sie sind Volksgötter oder lokale Gottheiten. Daraus ergeben sich Sinn und Berechtigung der vielfältigen religiösen Kulte und Bräuche. Allerdings warnt Kelsos vor einem übertriebenen Dämonenkult, da nach seiner Darstellung viele irdische Dämonen einen beschränkten Horizont haben und mit minderwertigen magischen Aktivitäten beschäftigt sind. Wer sich zu stark mit ihnen abgibt, der vernachlässigt Wichtigeres.
Rezeption
Antike und Mittelalter
Im Zeitraum von 244 bis 249 schrieb Origenes seine Verteidigungsschrift Gegen Kelsos als Antwort auf die Herausforderung des philosophischen Kritikers. Damit wandte er sich, wie er im Vorwort andeutete, an Christen, die durch die gegnerische Streitschrift verunsichert waren. Origenes führte die Auseinandersetzung nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, sondern bezog auch die Person und Vorgehensweise des Kelsos in seine scharfe Kritik mit ein, um ihn zu diskreditieren. Er bezeichnete ihn als unphilosophischen Menschen, der nicht vorurteilsfrei die Wahrheit suche, sondern nur polemisieren wolle. Kelsos argumentiere unsauber, bringe lauter Verworrenes vor und verstehe die Bedeutung seiner Platon-Zitate nicht. Er missachte den genauen Wortlaut und den Kontext der von ihm angeführten Bibelstellen, bemühe sich nicht um Erfassung ihres Sinns und missverstehe den Inhalt oder verfälsche ihn bewusst. Außerdem beschuldigte Origenes den paganen Autor der Unaufrichtigkeit: Er sei ein Epikureer, verheimliche aber den Lesern seine Zugehörigkeit zu dieser religionskritischen, die göttliche Vorsehung bestreitenden Richtung.
Ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß außer Origenes noch andere antike Autoren das Werk des Kelsos kannten und verwendeten, ist strittig; eindeutige Belege fehlen. Spätestens nach dem endgültigen Sieg des Christentums über die rivalisierenden Kulte in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts war der Originaltext nicht mehr bekannt. Immerhin bewahrte die im griechischsprachigen Reichsteil und später auch im Byzantinischen Reich geschätzte Gegenschrift des Origenes einen Teil des Inhalts. Neue Aktualität gewann die Thematik, als sich die orthodoxe byzantinische Theologie im Spätmittelalter mit der Kritik des Islam an der Lehre der Menschwerdung Gottes auseinanderzusetzen hatte und dabei auf die Argumentation des Origenes gegen Kelsos zurückgriff.
Da es im Mittelalter keine lateinische Übersetzung der Rechtfertigungsschrift Gegen Kelsos gab, waren die Argumente des Platonikers in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt West- und Mitteleuropas unbekannt. Dies änderte sich erst im 15. Jahrhundert. Papst Nikolaus V. (1447–1455) ließ auf Anregung von Thedoros Gazes eine griechische Handschrift in Konstantinopel kaufen und nach Rom bringen. Deren Text bildet die Grundlage der ältesten, wegen ihrer Mangelhaftigkeit oft kritisierten Übertragung ins Lateinische, die vom Humanisten Cristoforo Persona stammt und 1481 in Rom gedruckt wurde. Durch die lateinische Fassung erhielt eine breitere gebildete Öffentlichkeit Zugang zu der antiken Kontroverse.
Frühe Neuzeit
Der humanistische französische Schriftsteller Bonaventure des Périers veröffentlichte 1538 sein satirisches Werk Cymbalum mundi, in dem er die theologischen Streitigkeiten seiner Zeit aufs Korn nahm. Dabei griff er möglicherweise Argumente des Kelsos auf. Der Umfang seiner Rezeption der antiken Kampfschrift ist allerdings in der Forschung umstritten, teils wird ein Zusammenhang völlig verneint.
Erst im späten 16. Jahrhundert wandte sich die neuzeitliche Apologetik der Polemik des Kelsos zu. Im Jahr 1577 publizierte Domenico Mellini seine Schrift Gegen gewisse antike Autoren, böswillige Lästerer des christlichen Namens, in der er feststellte, die Widerlegung sei bereits von Origenes geleistet worden, daher erübrige sich eine nähere Auseinandersetzung.
Der griechische Originaltext der Kelsos-Fragmente wurde erst 1605 durch die von David Höschel in Augsburg herausgebrachte Erstausgabe der Entgegnung des Origenes der Öffentlichkeit vorgelegt.
Im Zeitalter der Aufklärung machten sich Religionskritiker die Polemik des Kelsos zunutze, während sich Verteidiger des Glaubens auf Origenes beriefen. Der Verfasser des erstmals 1719 anonym unter einem anderen Titel publizierten Traité des trois imposteurs nahm ausdrücklich auf die Wahre Lehre Bezug, als er behauptete, Jesus sei der Sohn einer Ehebrecherin und habe seine Vorstellungen dem Platonismus entlehnt. Der deutsche Aufklärer Johann Christian Edelmann, der in den 1740er Jahren in die Debatte eingriff, stimmte der These des Kelsos zu, dass sich Juden und Christen nicht auf exklusive göttliche Offenbarungen berufen könnten, da angebliche Besonderheiten dieser Religionen auch in anderen Kulturen, deren Traditionen weiter zurückreichten, anzutreffen seien. Im Jahr 1766 erschien die schon 1733 verfasste Schrift Examen critique des apologistes de la religion chrétienne, eines der verbreitetsten religionskritischen Werke des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen von Nicolas Fréret, der jedoch nicht der wirkliche Autor war. Diese Kampfschrift untersucht die Argumentation der frühchristlichen Apologeten und enthält eine Reihe von Erwähnungen des Kelsos. Ein anonymer Atheist trat in seinem 1752 in Lunéville gedruckten Buch Le Celse moderne ou objections contre le christianisme als neuer Kelsos auf. In den 1760er Jahren schrieb ein weiterer unbekannter Atheist die Briefsammlung Lettres à Sophie contenant un examen des fondemens de la religion chrétienne et diverses objections contre l’immortalité de l’ame, eine Kritik der Grundlagen des Christentums; im vierzehnten Brief stellte er unter anderem Kelsos-Zitate zusammen.
Ein Faktor, der das Ansehen des Kelsos in den Augen religionskritischer Aufklärer erhöhte, war die Annahme des Origenes, er sei Epikureer gewesen. Diese unzutreffende Behauptung des antiken Kirchenschriftstellers, die ursprünglich als vernichtende Kritik gemeint war, wirkte sich nun wie eine Empfehlung aus, da Epikur in hohem Ansehen stand, während Origenes als religiöser Fanatiker galt und daher auf Verachtung stieß.
Das religionskritische Schrifttum rief eine Fülle von Entgegnungen christlicher Autoren hervor. Der lutherische Kirchenhistoriker Johann Lorenz von Mosheim übertrug Origenes’ Gegen Kelsos ins Deutsche. Seine 1745 veröffentlichte Übersetzung sollte den Lesern Material für eine Verteidigung des Glaubens in die Hand geben. Allerdings verhehlte Mosheim nicht, dass es nach seiner Ansicht dem antiken Kirchenschriftsteller nicht gelungen war, alle Argumente des Kelsos überzeugend zu widerlegen. Nicolas-Sylvestre Bergier befand 1784, die Einwände des neuzeitlichen Unglaubens gegen die christliche Lehre seien bereits von Kelsos vorweggenommen und von Origenes überzeugend entkräftet worden.
Moderne
19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert wurde die Auseinandersetzung über die Qualität der Argumente des antiken Christengegners erneut aufgegriffen. Kelsos wurde mit Voltaire verglichen. Eugène Joly schrieb 1860 in seiner Etude sur Origène, die Wahre Lehre des Kelsos zeige beträchtliche Übereinstimmungen mit der Kirchenkritik Voltaires. Die Entgegnung des Origenes sei „die beste Widerlegung der Encyclopédie“. Nach Jolys Ansicht hätte Voltaire keinen so großen Erfolg erzielt, wenn er auf einen Gegner vom Format des Origenes gestoßen wäre. Auch der katholische Kirchenhistoriker Charles-Émile Freppel verglich Kelsos mit Voltaire. Freppel urteilte 1868, Origenes habe die Fragen, um die es in der Kontroverse zwischen Offenbarungsreligion und Rationalismus geht, mit beeindruckender geistiger Überlegenheit behandelt.
Ernest Renan äußerte 1882 die Meinung, Kelsos habe dank seiner hervorragenden Sachkenntnis die Falschheit des christlichen Glaubens erkannt und ebenso überzeugend wie Voltaire die Irrigkeit und Absurdität der biblischen Erzählungen und des jüdisch-christlichen Weltbilds entlarvt. Allerdings sei er mangels wissenschaftlicher Ausbildung nicht imstande gewesen, zu einer konsequenteren Kritik fragwürdiger religiöser Annahmen voranzuschreiten.
Der Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur befasste sich eingehend mit Kelsos. Im ersten Band seiner Geschichte der christlichen Kirche, der 1863 in dritter Auflage erschien, stellte er fest, der antike Philosoph sei unstreitig einer der gebildetsten, aufgeklärtesten, kenntnisreichsten und urteilsfähigsten Männer seiner Zeit gewesen. Er habe schon sehr treffend „dieselben allgemeinen und durchgreifenden Momente“ hervorgehoben, „auf welche alle folgenden Gegner des Christenthums […] immer wieder zurückgekommen sind“. Seine Bestreitung der These, dass die Welt für den Menschen geschaffen sei, ist nach Baurs Worten „in der Hauptsache dieselbe Ansicht, welche seitdem bis in die neueste Zeit“ die Hauptgegnerin des Offenbarungsglaubens blieb und für diesen umso gefährlicher wurde, „je mehr sie aus der noch rohen Gestalt, welche sie bei Celsus hat, zu einer philosophisch begründeten Theorie sich ausgebildet hat“.
Einen wegweisenden Impuls erhielt die moderne Kelsosforschung durch die 1873 erschienene Untersuchung Celsus’ Wahres Wort von Karl Theodor Keim, die ein abgerundetes Bild des Autors und seines Werks vermittelt und für die Folgezeit zum Bezugspunkt wurde. Keim versuchte den Text der Wahren Lehre aus den Fragmenten zu rekonstruieren und fertigte eine neue deutsche Übersetzung an.
20. Jahrhundert
Im 20. Jahrhundert fanden in der Altertumswissenschaft die Sachkenntnis und der religionsgeschichtliche Ansatz des Kelsos weithin Anerkennung. Die Einschätzungen seiner philosophischen Potenz fielen jedoch sehr unterschiedlich aus. Manche Forscher sprachen ihm gedankliche Kohärenz und philosophische Qualifikation ab, während andere wesentlich positiver urteilten und ihm eine innovative Leistung zubilligten. Die These, er habe über eine Geschichtstheorie verfügt, stieß auf Widerspruch.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1905) befand, Kelsos habe seine Polemik „in schlichter Form und versöhnlichem Sinne“ geschrieben. Die Wahre Lehre sei den Angriffen der christlichen Apologeten auf das Hellenentum „in jeder Hinsicht überlegen, am meisten an echter Frömmigkeit“.
Nach dem Urteil des Philologen Johannes Geffcken (1920) ist die Argumentation des Kelsos als „entschieden wissenschaftliche“ zu bezeichnen. Er habe nach einer Methode gearbeitet, „die immer wieder von den Gegnern des Christentums befolgt worden ist“, und sei sorgfältiger vorgegangen als Origenes, der seine Entgegnung flüchtig geschrieben habe.
Der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1924) meinte, Kelsos habe anscheinend nicht sehen wollen, dass das Christentum „eine vernünftige Behandlung zuläßt“, sei aber um diese Tatsache nicht herumgekommen. Zwischen den Zeilen könne man lesen, dass die Wahre Lehre „im letzten Grunde eine politische Schrift und ein kaum versteckter Friedensvorschlag“ an die Christen sei, an die er appelliert habe, sich der allgemeinen Ordnung des Römischen Reichs nicht zu entziehen.
In der Kirchengeschichte von Karl Bihlmeyer, die als Standardhandbuch zahlreiche Auflagen erlebte, wird festgestellt, die Schrift des Kelsos sei ein Werk wissenschaftlichen Charakters. Seine Einwände gegen die Lehre der Menschwerdung Gottes und der Erlösung seien „wenigstens insofern beachtenswert, als auch die späteren Gegner des Christentums bis zu den Freidenkern des 18. und 19. Jh. nichts wesentlich Neues vorzubringen wußten“. Der geschichtliche Teil der Wahren Lehre hingegen sei wesentlich schwächer.
Ein ungünstiges Urteil fällte Philip Merlan (1954). Er meinte, das Verständnis des Kelsos für das Eigenständige des Religiösen sei beschränkt gewesen, daher habe er dem Christentum nicht gerecht werden können. Seine ‘philosophische’ Religion bedeute eine Verflüchtigung des Religiösen. Er sei nur ein Gelehrter, kein Philosoph gewesen.
Anderer Meinung war Carl Andresen, der 1955 in seiner Habilitationsschrift Logos und Nomos die geistesgeschichtliche Stellung des Kelsos untersuchte. Er wandte sich gegen die Ansicht, die Wahre Lehre sei nicht mehr als eine Kompilation. Für Andresen war der Autor dieser Streitschrift ein Geschichtsphilosoph, dessen Denken als eine Einheit zu verstehen ist, in der sehr unterschiedliche Elemente zusammengefasst sind. Nach Andresens Analyse hat Kelsos versucht, diese Einheit durch ein außerhalb des Blickfelds der Schulphilosophie liegendes Moment, die geschichtliche Tradition, zu sichern. Er hat der Seinsmetaphysik seiner Vorgänger eine Geschichtstheorie hinzugefügt, die er der Geschichtstheologie der christlichen Apologetik entgegensetzte. Allerdings billigte er dem Geschichtlichen keine metaphysische Relevanz zu, sein religiöses Weltbild war geschichtslos.
Nach Olof Gigons Charakterisierung (1966) war Kelsos ein gewandter Schriftsteller, der zu nuancieren verstand und sein Werk geschickt aufbaute. Er „vertrat die antike Geistigkeit in ihrer vornehmsten, platonischen Gestalt“, zeigte sich wohlinformiert und berührte mehrere der heikelsten Probleme der gegnerischen Weltanschauung. Daher bedurfte es seitens der Christen einer gewaltigen Anstrengung, um ihm ebenbürtig zu begegnen und den Angriff abzuwehren, ohne die eigene Substanz preiszugeben.
Nach den Ergebnissen einer Untersuchung von Heinrich Dörrie (1967) befand sich Kelsos im Gegensatz zu den früheren Platonikern im vollen Besitz einer in sich geschlossenen, bereits zum System ausgebauten platonischen Theologie. Er ging vom Axiom aus, dass sich alles der Erfahrung und dem Denken Zugängliche zu harmonischer, ungebrochener Einheit zusammenfügt. Überdies war er – so Dörrie – für heutige Kenntnis der erste Philosoph, der dazu kam, ein wohldurchdachtes Kultur- und Bildungsbewusstsein nicht nur zu hegen, sondern auch darzustellen. Er verteidigte das ganze griechische Bildungserbe gegen diejenigen, welche die traditionellen Voraussetzungen nicht teilten. Dabei kam es ihm darauf an, dass „alle Elemente dieser Bildung – die Naturbetrachtung und die Mythen, die Dichtung und die Philosophie – auf einen bestimmten Punkt, auf eine Grundwahrheit hin konvergieren“: auf den höchsten Grund, der nach Dörries Interpretation von Kelsos’ Lehre als überseiender Seinsgrund aufzufassen ist.
Marcel Borret nahm 1976 in der Einleitung seiner kritischen Edition von Origenes’ Schrift Gegen Kelsos kritisch zu Andresens Thesen Stellung. Er bestritt die von Andresen postulierte Originalität und Kohärenz im philosophischen Denken des Platonikers. Dieser hat sich nach Borrets Urteil auf traditionelle Auffassungen berufen, ohne deren Stichhaltigkeit darzulegen.
Gegen Andresens und Dörries Deutungen erhob Cornelia de Vogel 1983 in der Festschrift für Dörrie Einspruch. Sie meinte, Kelsos sei kein Philosoph „von einiger Bedeutung“ gewesen und auch kein platonischer Theologe, eher ein gebildeter Literat mit religionsgeschichtlichem Interesse. Er habe das Christentum oft in verletzendem Ton und in möglichst gehässiger Weise bekämpft. Ähnlich urteilte in derselben Festschrift John M. Rist.
Zu einer anderen Einschätzung gelangte Willem den Boer. Er betonte 1976 die Tiefe der Kluft zwischen dem paganen und dem christlichen Denken, die durch die Wahre Lehre verdeutlicht worden sei. Kelsos habe begriffen, dass es sich um einen fundamentalen Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung handle, und daraus die Konsequenz gezogen, statt eine trügerische Harmonisierung anzustreben.
Wie schon in früheren Epochen bot auch im 20. Jahrhundert die Kelsos-Rezeption Stoff zu weltanschaulichen Auseinandersetzungen. Profilierte Kritiker des Christentums knüpften an die Wahre Lehre an. Der Philosoph Louis Rougier publizierte 1925 eine Untersuchung und französische Übersetzung der Fragmente des antiken Werks, wobei er sich die Sichtweise des Kelsos zu eigen machte. Rougier beschrieb den antichristlichen Platoniker als römischen Patrioten, der klarsichtig vorausgesehen habe, dass ein Triumph des Christentums zu einer fatalen Schwächung des römischen Staates führen müsse und die zwangsläufige Folge eine Barbareninvasion, wie sie dann in der Völkerwanderung geschah, und der Schiffbruch der Zivilisation sei. Mit der Wahren Lehre habe die Vernunft des antiken Denkens ihren Endpunkt erreicht; die später Geborenen hätten nur noch die Wahl zwischen dem christlichen Irrweg und paganem Aberglauben gehabt. Karlheinz Deschner (1986) befand, Kelsos habe scharfsinnig die prekärsten Punkte der christlichen Theologie erkannt. Er sei ein Meister des religionsgeschichtlichen Vergleichs gewesen, habe mit allem religionshistorischen Recht die Einzigartigkeit Christi bestritten und mit seiner Fundamentalkritik im Wesentlichen bis heute recht behalten.
21. Jahrhundert
Im Jahr 2005 veröffentlichte Horacio E. Lona eine neue deutsche Übersetzung der Fragmente der Wahren Lehre mit sehr ausführlichem Kommentar. Lona hielt Andresens Deutung für teilweise berechtigt und plädierte für den von Dörrie eingeschlagenen Weg. Borret habe Dörries Ergebnisse ignoriert und wie die ältere Forschung Kelsos als bloßen Eklektiker betrachtet. Diese Interpretation bedeute gegenüber Andresens und Dörries Erkenntnisstand einen deutlichen Rückschritt. Lona befand, die Stellungnahme des Kelsos zum christlichen Glauben enthalte Elemente, „die als ständige Herausforderung anzusehen sind und darum weit über eine bestimmte Epoche hinaus gehen“. Sein Fazit zu den Kernpunkten der antiken Kontroverse lautet: „So wenig Kelsos die christliche Botschaft verstehen konnte, so wenig konnte Origenes die Kritik des Kelsos in diesen entscheidenden Punkten verstehen und adäquat würdigen.“
Johannes Arnold stellte sich in seiner 2016 publizierten Habilitationsschrift die Aufgabe, die ursprüngliche Struktur des Werks zu erschließen. Dabei kam er zum Ergebnis, dass Origenes „weit stärker in den Text seines Gegners eingriff, als bisher angenommen wurde“. Er habe immer wieder zugunsten seiner eigenen Argumentation oder aus Gründen der Ökonomie Aussagen des Kelsos umgestellt. Die Analyse dieses Vorgehens ermögliche eine hypothetische Rekonstruktion der ursprünglichen Anordnung in der Wahren Lehre, allerdings für die einzelnen Fragmente mit unterschiedlich hoher Wahrscheinlichkeit. Arnold bilanzierte, es sei ihm gelungen, erstmals einen systematisch angelegten Gesamtrahmen des Textes zu ermitteln.
Ausgaben und Übersetzungen (teilweise mit Kommentar)
Marcel Borret (Hrsg.): Origène: Contre Celse. 5 Bände, Les Éditions du Cerf, Paris 1967–1976 (kritische Edition mit französischer Übersetzung)
Michael Fiedrowicz (Kommentator), Claudia Barthold (Übersetzerin): Origenes: Contra Celsum. Gegen Celsus (= Fontes Christiani, Bände 50/1–50/5). 5 Bände, Herder, Freiburg u. a. 2011–2012 (griechischer Text nach der Ausgabe von Marcel Borret, daneben die Übersetzung von Barthold)
Horacio E. Lona (Übersetzer): Die »Wahre Lehre« des Kelsos (= Kommentar zu frühchristlichen Apologeten, Ergänzungsband 1). Herder, Freiburg u. a. 2005, ISBN 3-451-28599-1 (deutsche Übersetzung mit ausführlichem Kommentar)
Miroslav Marcovich (Hrsg.): Origenes: Contra Celsum libri VIII. Brill, Leiden 2001, ISBN 90-04-11976-0 (kritische Edition, wird aber wegen umstrittener Konjekturen kritisiert)
Literatur
Übersichtsdarstellungen
Michael Frede: Celsus philosophus Platonicus. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Band II.36.7. De Gruyter, Berlin 1994, ISBN 3-11-013946-4, S. 5183–5213
Irmgard Männlein-Robert: Kelsos (von Alexandrien?). In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 5/1). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3698-4, S. 665–672, 704 f.
Untersuchungen
Carl Andresen: Logos und Nomos. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum. De Gruyter, Berlin 1955
Johannes Arnold: Der Wahre Logos des Kelsos. Eine Strukturanalyse (= Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 39). Aschendorff, Münster 2016, ISBN 978-3-402-10807-9
John Granger Cook: The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism. Mohr Siebeck, Tübingen 2000, ISBN 3-16-147195-4, S. 17–102
John Granger Cook: The Interpretation of the Old Testament in Greco-Roman Paganism. Mohr Siebeck, Tübingen 2004, ISBN 3-16-148474-6, S. 55–149
Karl Pichler: Streit um das Christentum. Der Angriff des Kelsos und die Antwort des Origenes. Peter Lang, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-8204-6126-4
Weblinks
Anmerkungen
Philosoph (Antike)
Person (Alexandria)
Kritik am Christentum
Grieche (Antike)
Geboren im 2. Jahrhundert
Gestorben im 2. oder 3. Jahrhundert
Mann |
667270 | https://de.wikipedia.org/wiki/Riemannsche%20Zeta-Funktion | Riemannsche Zeta-Funktion | Die Riemannsche Zeta-Funktion, auch Riemannsche ζ-Funktion oder Riemannsche Zetafunktion (nach Bernhard Riemann), ist eine komplexwertige, spezielle mathematische Funktion, die in der analytischen Zahlentheorie, einem Teilgebiet der Mathematik, eine wichtige Rolle spielt. Erstmals betrachtet wurde sie im 18. Jahrhundert von Leonhard Euler, der sie im Rahmen des Basler Problems untersuchte. Bezeichnet wird sie üblicherweise mit dem griechischen Buchstaben (Zeta).
Ihr Definitionsbereich umfasst alle komplexen Zahlen außer der Zahl . Für Werte mit Realteil größer als wird die Riemannsche Zeta-Funktion über eine Dirichlet-Reihe definiert. Mittels analytischer Fortsetzung kann sie zu einer auf holomorphen Funktion ausgeweitet werden. Sie erfüllt eine wichtige Funktionalgleichung, mit deren Hilfe sie sogar charakterisiert werden kann.
Von großer Bedeutung für die Zahlentheorie ist der Zusammenhang der Zeta-Funktion mit der Primfaktorzerlegung natürlicher Zahlen. Auf dieser Basis konnte Riemann im Jahr 1859 die sehr enge und nicht offensichtliche Beziehung zwischen den Primzahlen und der Lage der Nullstellen der Zeta-Funktion nachweisen. So folgt aus der Tatsache für alle komplexen Zahlen mit bereits, dass die -te Primzahl „recht genau“ den Wert hat – genauer gesagt folgt
Hier bezeichnet den natürlichen Logarithmus von . Genauere Informationen über nullstellenfreie Bereiche macht das Bild um die Primzahlverteilung deutlicher. Die bisher unbewiesene Riemannsche Vermutung sagt aus, dass alle nicht-trivialen Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion den Realteil haben, also auf einer gemeinsamen Geraden liegen. Ob diese Vermutung zutrifft, ist eines der wichtigsten ungelösten Probleme der Mathematik. Aufgrund der Bedeutung der Primzahlen für moderne Kryptosysteme (wie in etwa der RSA-Verschlüsselung) genießt die Riemannsche Vermutung auch außerhalb der reinen Zahlentheorie Aufmerksamkeit.
Das Verhalten der Riemannschen Zeta-Funktion in den Bereichen und gilt als gut verstanden. Jedoch sind ihre Eigenschaften innerhalb des kritischen Streifens weitestgehend unbekannt und Gegenstand bedeutender Vermutungen. Dies betrifft unter anderem die Fragen nach asymptotischem Wachstum in imaginärer Richtung und der für die Zahlentheorie so wichtigen Nullstellenverteilung. Nach heutigem Wissensstand beschreibt die Zeta-Funktion im Streifen im Wesentlichen Chaos. Die Werte der Nullstellen bauen nicht nur Brücken zur Theorie der Primzahlen, sondern höchstwahrscheinlich auch zur modernen Quantenphysik. Weitere Anwendungsgebiete sind die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Theorie der automorphen Formen (insbesondere im Feld des Langlands-Programms).
Aus Sicht der algebraischen Zahlentheorie ist die Riemannsche Zeta-Funktion nur ein Spezialfall einer ganzen Klasse sogenannter L-Funktionen. So entspricht sie der zum Trivialen Charakter modulo 1 gehörigen Dirichletschen L-Funktion und der zum Zahlkörper (rationale Zahlen) korrespondierenden Dedekindschen Zeta-Funktion.
Wegen der überragenden Bedeutung der Riemannschen Vermutung für die Zahlentheorie und deren Anwendungen bleibt der Themenkreis der Riemannschen Zeta-Funktion ein Gebiet intensiver mathematischer Forschung. Entscheidende Fortschritte erzielten Mathematiker wie zum Beispiel Lindelöf, Hadamard, de La Vallée Poussin, Hardy, Littlewood, Selberg, Woronin und Conrey.
Notation
Im ganzen Artikel bezeichnet die imaginäre Einheit und die Eulersche Zahl. Zudem wird häufig als komplexe Variable verwendet, die oft in zerlegt wird.
Des Weiteren wird oft die O-Notation von Landau für die Angabe von Fehlergrößen verwendet. Verhalten sich zwei (unbeschränkte) Funktionen und für wachsendes Argument gleich, gilt also , so wird dies mit notiert.
Einordnung ohne mathematisches Vorwissen
Motivation
Im Zentrum der Zahlentheorie, jenes Zweiges der Mathematik, der sich mit den Eigenschaften der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4 … beschäftigt, stehen die Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11 … Diese sind ausgezeichnet durch die Eigenschaft, genau zwei Teiler zu haben, nämlich die 1 und sich selbst. Die 1 ist keine Primzahl. Bereits Euklid konnte zeigen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, weshalb die Liste 2, 3, 5, 7, 11 … niemals enden wird.
Die Primzahlen sind gewissermaßen die Atome der ganzen Zahlen, da sich jede positive ganze Zahl eindeutig multiplikativ in solche zerlegen lässt. Zum Beispiel gilt 21 = 3 · 7 und 110 = 2 · 5 · 11. Trotz dieser elementaren Eigenschaft ist nach mehreren Jahrtausenden Mathematikgeschichte bis heute kein Muster bekannt, dem sich die Primzahlen in ihrer Folge unterwerfen. Ihre Natur ist eine der bedeutendsten offenen Fragen der Mathematik.
Auch wenn das detaillierte Verständnis der Sequenz 2, 3, 5, 7, 11 … unerreichbar fern ist, kann man nach Mustern suchen, wenn man den Blick ausweitet. Dabei hilft zum Beispiel die Vorstellung, dass mit Hilfe statistischer Methoden das Verhalten sehr vieler Menschen (zum Beispiel bezüglich des Konsum- und Wahlverhaltens) oft überraschend präzise beschrieben werden kann, obgleich ein einzelner Mensch äußerst komplex ist. Das hat grob gesagt damit zu tun, dass größer werdende relevante Datenmengen immer zuverlässigere Informationen liefern. Im Falle der Primzahlen führt eine solche Ausweitung unter anderem zu der Frage, wie viele Primzahlen es unterhalb einer fest gewählten Zahl gibt.
Zum Beispiel sind nur 4 Primzahlen, nämlich 2, 3, 5 und 7, kleiner als die Zahl 10. Im Falle von 50 gibt es schon 15 kleinere Primzahlen, nämlich
2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, 37, 41, 43, 47.
Ende des 19. Jahrhunderts konnte als Folgerung des Primzahlsatzes eine verblüffend genaue Abschätzung für die Verteilung der Primzahlen bewiesen werden. Der Primzahlsatz wurde bereits im 18. Jahrhundert vom 15-jährigen Gauß (in den Jahren 1792/93) vermutet. Die Abschätzung wurde bereits vor einem Beweis des Primzahlsatzes von Riemann gegeben und tritt als eine Formel in Erscheinung, die die schnelle Berechnung eines Vorhersagewertes zulässt. Mit dieser Formel kann zu einer gegebenen Zahl die Anzahl der Primzahlen, die kleiner als diese Zahl sind, in vernünftiger Zeit geschätzt werden. Die Formel zur Vorhersage wird prozentual immer genauer, je größer die Zahl gewählt wird (jedoch mit Schwankungen). Beispielsweise liefert sie für den Wert 50 die Prognose 14,97 (es sind tatsächlich 15 Primzahlen, siehe oben), womit der Fehler bei 0,16 Prozent liegt. Weiter sagt sie rund 78.527 Primzahlen unter der Zahl 1.000.000 voraus – tatsächlich sind es 78.498. Dies entspricht einer Abweichung von 0,037 Prozent.
Ein mögliches Werkzeug zum Beweis dieser Formel ist die Riemannsche Zeta-Funktion. Dabei wird ausgenutzt, dass sie das Gesetz der eindeutigen Primfaktorzerlegung in der Sprache der Analysis ausdrückt. Also werden die Eigenschaften der Primzahlen in dieser Funktion versteckt abgespeichert. Erhöht sich das Wissen um die Zeta-Funktion, so auch das Wissen um die Primzahlen, sogar in detaillierteren Fragestellungen. So können viele Primzahltests, wie der von Miller-Rabin unter Annahme der Riemannschen Vermutung bewiesen bzw. verbessert werden.
Die Nullstellen der Zeta-Funktion erzeugen einen Korrekturterm obiger Formel, der sie in einen exakten Ausdruck umwandelt. Diese dadurch entstehende exakte Formel kennt also die Verteilung der Primzahlen bis ins letzte Detail. Damit gelten die Fragen um die Primzahlen jedoch nicht als gelöst: der Rechenaufwand nimmt mit steigenden Werten sehr stark zu und somit sind praktische Berechnungen mit dieser Formel nicht effektiv. Für numerische Forschung eignen sich im Gegensatz dazu moderne Primzahltests besser.
Die exakte Formel ist jedoch von theoretischem Interesse: sie birgt nämlich den Fehlerabstand zwischen der einfachen Vorhersage und der tatsächlichen Primzahlverteilung. Es wird vermutet, dass dieser Fehler (innerhalb des Spektrums aller Möglichkeiten) kleinstmöglich ist. Dabei wäre eine Entschlüsselung dieses Fehlers nicht so sehr für die Numerik von Relevanz. Vielmehr ist die reine Mathematik bestrebt, den bisher verborgenen Grund zu erfahren, weshalb der Fehler (falls zutreffend) so klein wie möglich ausfällt.
Die Primzahlen sind nicht nur Gegenstand der mathematischen Grundlagenforschung, sondern haben auch praktische Anwendungen. So kommen beispielsweise bei Kryptosystemen wie der RSA-Verschlüsselung sehr große Primzahlen zum Einsatz.
Wie „funktioniert“ die Zeta-Funktion?
Eine mathematische Funktion ist im Grunde wie eine Rechenmaschine. Man gibt einen Wert in die Funktion ein, und diese liefert dann ein Ergebnis in Abhängigkeit vom Eingabewert, zumindest theoretisch. Damit ist gemeint, dass die Funktion an sich nicht rechnet, sondern meist nur eine Rechenvorschrift formelhaft festhält. Einfaches Beispiel für eine Funktion ist die quadratische Funktion, welche die Eingabe mit sich selbst multipliziert. Formelhaft schreibt man dies als . Somit ordnet die quadratische Funktion beispielsweise der Zahl den Wert zu. Rechnet man dies aus, ergibt sich , also .
Im Prinzip funktioniert die Riemannsche Zeta-Funktion genau wie das obere Beispiel, nur dass die Rechenvorschrift etwas komplizierter ist. Um diese zu verstehen, muss das Konzept der unendlichen Reihen bekannt sein. Eine (konvergente) Reihe ist grob gesagt eine Summe von Zahlen, die niemals endet und die sich einer Zahl immer mehr annähert. Ein elementares nicht-triviales Beispiel einer Reihe fußt auf der Zahl , die in Dezimalschreibweise nicht geschlossen, sondern nur durch die unendliche periodische Entwicklung
geschrieben werden kann. Schaut man genauer hin, sieht man, dass dies gerade die Summe aller kehrwertiger 10er-Potenzen ist:
Damit sich die unendlich lange Summe einem Wert annähert, muss gewährleistet sein, dass die Summanden „schnell genug klein“ werden.
Die Riemannsche Zeta-Funktion ist nun vergleichbar mit einer Rechenmaschine, die zu einer gegebenen Zahl die unendliche Summe der Kehrwerte aller natürlichen Potenzen mit diesem Exponenten bildet. Als mathematische Formel lautet diese Vorschrift
.
Um das besser zu verstehen, betrachtet man das Beispiel der Eingabe . Die natürlichen Potenzen mit diesem Exponenten sind gerade die Quadratzahlen 1, 4, 9, 16, 25 … . Damit wäre das Ergebnis der Zeta-Rechenmaschine in Abhängigkeit vom Eingabewert 2 die Reihe
Es stellt sich heraus, dass die Ausdrücke schnell genug klein werden, so dass diese unendlich lange Summe sich einem gewissen Zahlenwert beliebig annähert, je weiter man summiert. Experimentell kann man festhalten:
und wenn man sogar bis zur millionsten Quadratzahl geht
Da hier bereits sehr viele Terme addiert wurden, kann man vermuten, dass dem exakten Ergebnis schon recht nahe ist. Der exakte Grenzwert ist, das konnte Leonhard Euler begründen, die Zahl
.
Dabei ist die Kreiszahl. Zwar kannte Euler den Beginn der Dezimalfolge , doch seine Begründung beruhte letztlich auf mathematischen Argumenten und nicht expliziten Rechnungen, da die Summe ja niemals endet. Somit liefert die Zeta-Funktion für die Eingabe 2 das Ergebnis . Analog müssen für die Eingabe 3, 4 … usw. entsprechend die Kehrwerte aller Kubikzahlen, Biquadratzahlen usw. addiert werden und es kommen neue Grenzwerte , … usw. zustande.
Definition und Darstellungsformen
Dirichlet-Reihe
Die Zeta-Funktion wird in der Literatur oft über ihre Darstellung als Dirichlet-Reihe definiert.
Für komplexe Zahlen , deren Realteil größer als 1 ist, ist die Zeta-Funktion definiert durch die Dirichlet-Reihe
Wie man mittels des Integralkriteriums für unendliche Reihen zeigen kann, ist diese Reihe im angegebenen Bereich absolut konvergent. Zudem ist die Konvergenz auf kompakten Teilmengen gleichmäßig, weshalb nach dem Satz von Weierstraß die dargestellte Funktion holomorph ist. Wegen der Divergenz der harmonischen Reihe ist diese Darstellung für alle komplexen Zahlen mit Realteil kleiner oder gleich 1 jedoch ungültig. In besonderem Maße wird dies für negative Argumente ersichtlich, wenn man zum Beispiel versuchte, die Zeta-Funktion für über die Dirichlet-Reihe auszuwerten. Man hätte dann
und diese Reihe hat offensichtlich keinen endlichen Grenzwert.
Dennoch wird die Dirichlet-Reihe aufgrund ihrer Einfachheit und ihrer zahlentheoretischen Relevanz (siehe Euler-Produkt) als Basisdefinition verwendet. Mittels analytischer Fortsetzung (siehe unten) wird eine sinnvolle Berechnung für alle komplexen Zahlen mit möglich. Damit kann schließlich auch Werten wie ein Sinn gegeben werden, es gilt zum Beispiel .
Euler-Produkt
Eine wesentliche Eigenschaft der Zeta-Funktion ist ihre Verbindung zu den Primzahlen. Euler, der als Erster diesen Zusammenhang entdeckte, betrachtete dafür das später nach ihm benannte Euler-Produkt, das für alle mit gültig ist:
Es ist genau äquivalent zur Dirichlet-Reihe und wird von manchen Autoren als Definition verwendet. Jeder einzelne Faktor des Produktes stellt eine geometrische Reihe gebildet über den Wert dar, während sich das ganze Produkt über alle Primzahlen erstreckt. Das Euler-Produkt ist erstaunlich, weil Primzahlen aufgrund ihrer nicht genau vorhersehbaren Verteilung sehr schwer in analytischen Ausdrücken unterzubringen sind. Es stellt sich aber eine überraschend einfache Identität zwischen den „chaotischen“ Primzahlen und einer bekannten Reihe heraus.
Das Euler-Produkt konvergiert im betrachteten Bereich unbedingt. Mittels des Identitätssatzes für Dirichlet-Reihen lässt sich zeigen, dass das Euler-Produkt und der Fundamentalsatz der Arithmetik zueinander äquivalent sind. Daher wird es zuweilen auch als dessen analytische Version bezeichnet. Eine wichtige Folgerung des Euler-Produktes für die Analysis der Zeta-Funktion ist, dass für alle gilt. Dies ist eine Konsequenz einer Erweiterung des Satzes vom Nullprodukt für unendliche Produkte: keiner der Faktoren des Euler-Produktes ist für irgendeinen Eingabewert aus diesem Bereich Null, also wird es auch nicht im Grenzwert Null sein. Weitaus nichttrivialer ist die Tatsache, dass das Euler-Produkt, im Gegensatz zur Dirichlet-Reihe, auch auf der Geraden , mit Ausnahme von , an Gültigkeit behält. Es gilt
was die Nullstellenfreiheit von im gesamten Bereich zur Folge hat. Als eine Folgerung der Funktionalgleichung ergibt sich, dass die einzigen Nullstellen von außerhalb des sog. kritischen Streifens die trivialen Nullstellen
sind. Alle anderen Nullstellen bezeichnet man als nichttrivial, und diese liegen allesamt im kritischen Streifen.
Mithilfe des Euler-Produkts der Zeta-Funktion kann ein Beweis des Satzes von Euklid mit analytischen Methoden angegeben werden. Der Satz von Euklid besagt, dass es unendlich viele Primzahlen geben muss, und wurde etwa 300 Jahre vor Christus durch Euklid von Alexandria bewiesen. Unter der Annahme, es gäbe nur endlich viele Primzahlen, gilt
was ein Widerspruch zur Divergenz der harmonischen Reihe ist. Ähnlich bemerkenswert ist die Argumentation über die Formel
Bei endlich vielen Primzahlen wäre die linke Seite eine rationale Zahl, die rechte Seite ist aber aufgrund der Transzendenz der Kreiszahl irrational.
Eine weitere direkte Folgerung des Euler-Produktes, durch Logarithmieren und anschließende Verwendung der Taylor-Reihe des Logarithmus, ist die für gültige Formel
wobei mit die Primzetafunktion bezeichnet. Mit Hilfe von Möbius-Inversion lässt sich daraus eine Möglichkeit ableiten, die Primzetafunktion schnell aus einer Reihe über logarithmierte Zeta-Funktionen zu gewinnen:
Unter anderem kann dieser Ausdruck für eine schnelle numerische Berechnung der Primzetafunktion herangezogen werden.
Ferner folgt aus für , dass die Reihe der reziproken Primzahlen divergiert.
Mellin-Transformation
Die nach der Definition als Dirichlet-Reihe und dem Euler-Produkt wohl elementarste und wichtigste Darstellung der Zeta-Funktion ist die mit Hilfe eines uneigentlichen Integral-Ausdrucks. Auch diese Darstellung geht direkt aus der Dirichlet-Reihe hervor.
Grundlage dieser Darstellung ist die eulersche Integral-Darstellung der Gamma-Funktion
aus dem nach der Substitution mit und Division durch nach beidseitigem Summieren der Ausdruck
hervorgeht. Diese Darstellung von gilt naturgemäß nur auf der Halbebene . Die zweite Integraldarstellung von bezeichnet man auch als die Mellin-Transformation von . Das mögliche Vertauschen von Summe und Integral kann mit absoluter Konvergenz und dem Satz von Lebesgue begründet werden. Eine dazu verwandte Form ist
mit der Jacobischen Theta-Funktion (eine Modulform halbganzen Gewichts).
Die Darstellung der Zeta-Funktion mit Hilfe der Gamma-Funktion und der Mellin-Transformation von ist daher zentral, da sie ein Ausgangspunkt für die analytische Fortsetzung der Zeta-Funktion ist. Außerdem können mit ihr charakteristische Funktionalgleichungen und die Beziehung zur Theorie der Modulformen hergeleitet werden.
Methoden zur analytischen Fortsetzung
Die anfänglich nur für komplexe Zahlen definierte Zeta-Funktion kann zu einer in ganz holomorphen Funktion ausgeweitet werden. Diese Tatsache mag zunächst ungewöhnlich wirken, da ihre Dirichlet-Reihe an vielen Stellen nicht mehr konvergiert. Tatsächlich aber steht die Dirichlet-Reihe (wie auch Euler-Produkt und Mellin-Transformation aus Gründen der Äquivalenz) nicht überall für die Definition der Zeta-Funktion zur Verfügung.
An der Stelle besitzt die Zeta-Funktion zunächst mit Sicherheit eine Definitionslücke, denn mit der Divergenz der harmonischen Reihe folgt
Also wird sie in jedem Intervall beliebig anwachsen. Diese Lücke bildet gleichzeitig eine natürliche Barriere für die Konvergenz der Dirichlet-Reihe, was aus den Regeln für Abszissen von Dirichlet-Reihen folgt: die betrachtete Dirichlet-Reihe hat Konvergenzabszisse .
Eine analytische Fortsetzung der im Gebiet durch die Reihe definierten holomorphen Funktion ist eine auf einem größeren Gebiet holomorphe Funktion, die auf ganz mit dieser übereinstimmt. Nach dem Identitätssatz für holomorphe Funktionen ist eine solche Fortsetzung stets eindeutig bestimmt. Damit sind alle Werte der Zeta-Funktion im erweiterten Bereich bereits durch die Dirichlet-Reihe festgelegt, obwohl sie hier nicht mehr an allen Stellen konvergiert.
Umformungen der Dirichlet-Reihe und die Eulersche Reihentransformation
Obwohl es für den ganz allgemeinen Fall kein konstruktives Verfahren gibt, Berechnungsformeln für analytische Fortsetzungen anzugeben, ist es durch die Einfachheit der Dirichlet-Reihe nicht schwierig, für die Zeta-Funktion eine zu finden. Besonders einfach erweist sich dies für die gelochte Halbebene
mittels folgender Beobachtung:
Die Reihe zur Rechten konvergiert nachweislich in der Halbebene gegen eine holomorphe Funktion und wird in der Literatur auch manchmal als Dirichletsche Etafunktion bezeichnet. Damit lässt sich die Zeta-Funktion zu einer in ganz holomorphen Funktion fortsetzen. Die Lücke in wird mittels des Faktors gehoben und muss daher ein Pol erster Ordnung sein. Das Residuum der Zeta-Funktion ist dort 1, das heißt, es gilt:
Alle Stellen mit sind hingegen hebbare Singularitäten, denn es gilt dann Dies zeigt man am besten mittels partieller Summation: Für alle gilt
Für eine weitere holomorphe Ausdehnung des Definitionsbereiches eignen sich nun viele Methoden, die jedoch nach dem Identitätssatz alle dieselbe Funktion darstellen. Eine davon bietet die Anwendung der Eulerschen Reihentransformation auf die obere alternierende Reihe. Man erhält damit eine von Konrad Knopp veröffentlichte und auf ganz definierte Reihenidentität
Diese wurde 1930 von Helmut Hasse bewiesen. Es treten daher während der weiteren Fortsetzung keine weiteren Lücken bzw. Pole mehr auf. Daraus folgt schließlich Holomorphie in .
Durch Limitierungsverfahren
Die Idee der Theorie der Limitierungsverfahren ist es, einem divergenten Grenzprozess einen endlichen Wert zuzuordnen, indem man etwa zusätzliche Parameter einführt, die man anschließend gegen den Ursprungsaudruck „limitiert“. Dies geht bereits auf Leonhard Euler zurück, der berühmt für seinen sorglosen Umgang mit divergenten Reihen ist. Er berechnete einige Werte der Zeta-Funktion annähernd auch außerhalb des Bereichs, in welchem die Dirichlet-Reihe konvergiert. Auf diese Weise stieß er auch auf seine Vermutung hinsichtlich der Gültigkeit ihrer Funktionalgleichung, die er allerdings nicht beweisen konnte.
Der Gedanke ist, der für divergenten Reihe
für alle Werte einen „Grenzwert“ zuzuordnen. Dies gelingt durch Einführen eines weiteren Parameters . Es ist die Reihe
für jedes für alle konvergent. Auf dieser Basis kann der Konvergenzbegriff abgeschwächt werden: eine Reihe heißt A-summierbar, falls die zugehörige Potenzreihe für alle konvergiert und der Grenzwert existiert. Ist eine Reihe bereits im klassischen Sinne konvergent, stimmen die jeweiligen Grenzwerte nach dem Abelschen Grenzwertsatz überein, doch es gibt A-summierbare Reihen, die nicht konvergieren. Es ist also A-Summierbarkeit eine wohldefinierte Verallgemeinerung der klassischen Reihenkonvergenz. Durch bilden des Grenzwertes , d. h. nähert sich von links, erhält man
sogar für alle , und die rechte Seite stellt eine ganze Funktion dar.
Durch die Hinzunahme einer zweiten, zu limitierenden, Variablen, entsteht zugleich eine Beziehung zum Polylogarithmus. Dieser verallgemeinert unter anderen den natürlichen Logarithmus und ist für gegeben durch die Potenzreihe
Ist zudem , so ist diese Reihe auch an den Randwerten (außer bei ) konvergent. Generell ist für feste Werte eine analytische Fortsetzung in auf das Gebiet möglich. Es gilt für alle die Beziehung
aber auch
für Werte mit . Etwa für gilt zunächst für (siehe Bild rechts), also nach Grenzwertbildung
Die Euler-Maclaurin Summenformel
Eine weitere Möglichkeit, eine analytische Fortsetzung anzugeben, bietet die Euler-Maclaurin-Summenformel. Diese drückt diskrete Summen explizit in der Sprache der Integralrechnung aus und ist allgemein gegeben durch:
Hierbei ist eine auf dem Intervall mindestens -mal differenzierbare Funktion und eine natürliche Zahl. Es bezeichnen zudem die Bernoulli-Polynome und den ganzzahligen Anteil von .
Mit , und folgt also
Dabei ist das Restglied gegeben durch
und konvergiert in der gesamten Halbebene (gleichmäßig auf kompakten Teilmengen). Daher stellt diese Formel eine holomorphe Fortsetzung der Zeta-Funktion in die Halbebene dar. Lässt man gegen unendlich gehen, ergibt sich damit ein holomorpher Ausdruck für ganz .
Setzt man zum Beispiel , ergibt sich die in der Literatur häufig zitierte Darstellung
die für gültig ist.
Integration über eine Hankel-Kontur
Eng verwandt mit der Darstellung der Zeta-Funktion mittels der Mellin-Transformation ist eine Darstellung der Funktion mittels eines Kurvenintegrals. Diese wurde von Riemann selbst verwendet, um die Zeta-Funktion in die komplexe Ebene fortzusetzen. Die Funktion ist je nach Wahl des Zweiges des Logarithmus in unterschiedlichen Bereichen holomorph. Für die Hankel-Kontur (einen speziellen Integrationsweg) ist es von Vorteil, die Gerade aus dem Gebiet auszuschließen via:
Nun definiert man für die Funktion als ein Kurvenintegral über . Die gewählte Kurve kommt von , verläuft mit Abstand über der reellen Geraden, umläuft den Ursprung in einem Halbkreis und erstreckt sich dann wieder mit Abstand unterhalb der reellen Geraden gegen :
Wegen gleichmäßiger Konvergenz auf kompakten Mengen in ist eine ganze Funktion. Wählt man nun , so kann man wegen
die Schlaufe beliebig zusammenziehen und erhält mit der Mellin-Transformation
Daraus ergibt sich mit dem Ergänzungssatz die Formel
Ist , so ist innerhalb des gelochten Streifens holomorph. Damit lässt sich die Hankel-Kontur zu einer Kreiskurve zusammenziehen, ohne den Wert des Integrals zu verändern. Dies ermöglicht eine schnelle Berechnung der Werte für ganze Zahlen mittels des Residuensatzes. Unter anderem folgt daraus
für alle und die enge Beziehung der Werte der Zeta-Funktion an nicht-positiven ganzen Argumenten und den Bernoulli-Zahlen.
Diese Darstellungsform kann auch zu einer direkten Herleitung der Funktionalgleichung verwendet werden. Dabei wird die Kurve modifiziert und es kommt der Residuensatz zum Einsatz.
Weitere Darstellungsmöglichkeiten
Erwähnenswert ist der Reihenausdruck
,
der für alle Werte definiert ist. Interessant daran ist, dass sich damit die Zeta-Funktion rekursiv auf die ganze Zahlenebene fortsetzen lässt, da für die Berechnung von lediglich die Werte benötigt werden.
Von Helmut Hasse stammt die global konvergente Reihe
Ein exotischer und global konvergenter Ausdruck ergibt sich, wenn man direkt die elementare Reihendarstellung der Zeta-Funktion in die Abel-Plana-Summenformel einsetzt:
Geschichte
Im Gegensatz zu den Primzahlen oder der euklidischen Geometrie ist die mathematische Entdeckungsgeschichte der Riemannschen Zeta-Funktion sehr jung. So sind alle bis heute wesentlichen Entdeckungen zu dieser Funktion in den letzten 250 Jahren gemacht worden. Auf der einen Seite lässt sich die im Verhältnis zur Entstehung einer rigorosen (komplexen) Analysis frühe Entdeckung mit der Einfachheit der Reihe begründen. Auf der anderen Seite lassen sich die späten Resultate mit der Schwierigkeit von deren Eigenschaften erklären.
Um 1735 löste Leonhard Euler das Basler Problem
Einer der ersten Mathematiker, der sich mit einem Vorläufer der wie heute definierten Zeta-Funktion intensiv und ausführlich auseinandersetzte, war Leonhard Euler. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts versuchten Mathematiker, den exakten Grenzwert der unendlichen Reihe
zu bestimmen. Persönlichkeiten wie Pietro Mengoli, der das Basler Problem (wie es später bezeichnet wurde) erstmals formulierte, aber auch Jakob I Bernoulli scheiterten mit ihren Lösungsversuchen. Erst um das Jahr 1734 fand Leonhard Euler die Lösung
mit der Kreiszahl , indem er eine neuartige Technik zur Berechnung der Sinusfunktion entwickelte. Dieser Beweis wurde jedoch nach Veröffentlichung von seinen Zeitgenossen zunächst nicht akzeptiert. Daraufhin konterte er mit der Veröffentlichung eines alternativen Beweises im Jahr 1741. Natürlicherweise war Euler bald darauf an der Untersuchung von Reihen des Typs
interessiert. Er hatte die Hoffnung, weitere und außerdem weit bedeutendere Aussagen treffen zu können. Und tatsächlich sollte es nicht nur bei der Lösung des Basler Problems bleiben. Er fand unter anderem die Formeln
die 1735 in seiner Arbeit De Summis Serierum Reciprocarum erstmals veröffentlicht wurden. Obwohl mit steigenden Eingabezahlen die Funktionswerte komplizierter werden, berechnete Euler von Hand den Wert
In seinem Buch Institutiones calculi differentialis cum eius usu in analysi finitorum ac doctrina serierum, das 1755 veröffentlicht wurde, bewies er schließlich eine allgemeine Formel für . Diese zeigte auf, dass sich tatsächlich jedes stets als ein rationales Vielfaches der Potenz schreiben lässt.
Nicht erfolgreich war er hingegen bei ungeraden Argumenten, also zum Beispiel bei der Reihe
da sich hier keine seiner Techniken anwenden ließ. Jedoch berechnete er die Werte für bis auf mehrere Dezimalstellen. Außerdem schrieb er einheitlich , wobei im Falle, dass eine gerade Zahl ist, rational ist. Für den Fall, dass ungerade ist, vermutete Euler, sei „eine Funktion von “. Dies konnte jedoch, ungeachtet der vagen Formulierung Eulers, bis heute nicht bestätigt werden. Die Werte der Reihen für ungerade Argumente größer als 1 sind bis heute (Stand 2020) weitestgehend unbekannt und Gegenstand zahlentheoretischer Vermutungen.
Euler gilt als Entdecker der Verbindung zwischen der Zeta-Funktion und den Primzahlen. Diese Verknüpfung wird bis heute als Euler-Produkt bezeichnet. So schrieb er in seiner Arbeit Variae observationes circa series infinitas:
Sofort war sich Euler der Beziehung zwischen den Primzahlen und der Geometrie bewusst, und er schrieb weiter:
Aus der schon damals gut bekannten Tatsache, dass die harmonische Reihe divergent ist, konnte Euler ebenfalls aus dem Euler-Produkt schließen, dass die Summe der Kehrwerte aller Primzahlen keinen endlichen Grenzwert hat. Bezeichnet wird dieses Resultat auch als Satz von Euler über die Summation der Kehrwerte der Primzahlen.
Auch war die von Riemann später bewiesene Funktionalgleichung bereits Euler bekannt. In seiner Arbeit Remarques sur un beau rapport entre les series des puissances tant directes que reciproques beschrieb er diese mathematisch nicht rigoros:
Dabei bezog sich Euler eigentlich auf die Dirichletsche Etafunktion, die jedoch bis auf einen Faktor der Riemannschen Zeta-Funktion entspricht. Euler gab keinen rigorosen Beweis einer Funktionalgleichung, sondern hatte diese nur für viele Werte überprüft und anschließend als universell gültig vermutet.
Dirichlet zeigt seinen Primzahlsatz
Im Jahre 1838 gelang dem Mathematiker Peter Dirichlet ein großer Beitrag zur Zahlentheorie. Er bewies eine Vermutung von Fermat, die nun Dirichletscher Primzahlsatz heißt. Diese besagt, dass jede arithmetische Progression mit positiven, teilerfremden unendlich viele Primzahlen enthält. Ist hier zum Beispiel und , folgt, dass die Liste 1, 5, 9, 13, 17 … unendlich viele Primzahlen beinhaltet.
Schlüssel zum Beweis waren neben der Riemannschen Zeta-Funktion eine ganze Klasse weiterer Funktionen, die ebenfalls in Primzahlprodukte zerfallen und somit eine „große Familie“ bilden. Erst ein Jahrhundert später konnten dank feinerer Methoden die Ergebnisse von Dirichlet durch Siegel und Walfisz deutlich präzisiert werden (Satz von Siegel-Walfisz).
Riemanns Beitrag zur Zeta-Funktion
Im Jahr 1859 arbeitete Bernhard Riemann in seiner Publikation Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe den bereits von Euler gegebenen Zusammenhang der Zeta-Funktion zu den Primzahlen entscheidend aus. Die große Leistung bestand darin, die Relevanz der Ausweitung des Definitionsbereichs auf komplexe Zahlen zu erkennen. Erst mit dieser Herangehensweise war es möglich geworden, konkrete Informationen über Primzahlen 2, 3, 5, 7 … selbst zu gewinnen. Das ist insofern bemerkenswert, als Primzahlen reelle Zahlen sind. Riemann, der ein Schüler von Carl Friedrich Gauß war, schrieb in seiner zehnseitigen Arbeit eine funktionentheoretische Interpretation und Auswertung des Euler-Produkts, die einen Zusammenhang zwischen Primzahlen und den nicht-trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion schaffte. Das Hauptresultat war eine Formel, die ohne jeden Fehler die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen (nicht ganzen) positiven Zahl abzählte. Damit war ihm ein völlig neuer Zugang zur Theorie der Primzahlen gelungen.
Er etablierte in seiner Arbeit das griechische (Zeta) als Funktionssymbol und formulierte außerdem die bis heute unbewiesene nach ihm benannte Riemannsche Vermutung, die eine wichtige Aussage über die genaue Lage der Nullstellen der Zeta-Funktion behauptet.
Obwohl der Artikel heutzutage als Durch- und Aufbruch zur modernen analytischen Theorie um die Zeta-Funktion gesehen wird, stieß er damals in Mathematikerkreisen bei Weitem nicht nur auf Begeisterung. Schuld daran war in erster Linie, dass Riemann es an den meisten Stellen unterlassen hatte, Beweise für seine aufgestellten Formeln zu hinterlegen. So kam es, dass Godfrey Harold Hardy und John Edensor Littlewood Riemanns Arbeit lediglich als „beachtliche Ansammlung heuristischer Einsichten“ bezeichneten, die englischen Mathematiker waren allerdings in der analytischen Zahlentheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfangs noch so rückständig, dass Littlewood sich erinnerte, die Riemannsche Vermutung 1906 von seinem Professor als Übungsaufgabe gestellt bekommen zu haben. Auch Edmund Landau gehörte zu den lautesten Kritikern hinsichtlich der Bedeutung des Artikels. Zwar nannte er ihn zunächst „brillant und fruchtbar“, jedoch schlug sein Lob bald um:
Detlef Laugwitz bemerkt dazu in seiner Riemann-Biographie, dass Landau auch Eulers bahnbrechende Arbeiten in seinen Lehrbüchern wenig würdigte, da er tendenziell nur Arbeiten schätzte, in denen jedes Detail ausgearbeitet war. Auf der anderen Seite bewunderten Mathematiker wie Felix Klein, Riemann habe „mit großen allgemeinen Ideen“ gearbeitet und „oft auf seine Intuition“ vertraut. Das war noch bevor Carl Ludwig Siegel durch das Studium des Nachlasses zeigte, wie umfangreich Riemanns analytische Arbeiten zur Zeta-Funktion waren. Die Rechnungen im Nachlass waren allerdings schwer zu entschlüsseln und es bedurfte eines Mathematikers vom Kaliber Siegels, die Ideen Riemanns zu rekonstruieren.
Riemann arbeitete seit dieser Zeit bis zu seinem frühen Tode (er starb mit gerade mal 39 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose) nicht mehr an der Zeta-Funktion, es blieb seine einzige Veröffentlichung zur Zahlentheorie. Der Aufsatz von 1859 war nur skizzenhaft ausgeführt, Riemann wollte sich damit für die Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften bedanken.
Viele von Riemanns Aufzeichnungen wurden nach seinem Ableben von seiner Haushälterin verbrannt, bis sie von Mitarbeitern der Göttinger Fakultät gestoppt wurde. Die verbliebenen Schriften wurden seiner Witwe übergeben und verschwanden damit für viele Jahre. Über weitere Resultate zur Zeta-Funktion, die man ohne teilweise Vernichtung der Dokumente gefunden hätte, kann bis heute nur noch spekuliert werden.
Die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts
Mangoldt beweist die Hauptformel von Riemann
Im Jahr 1893 publizierte der Mathematiker Jacques Hadamard eine Arbeit, in welcher der Grundstein eines detaillierteren Verständnisses von Riemanns Arbeit gelegt wurde. Hadamard war es gelungen, eine Formel für die Zeta-Funktion zu beweisen, die ihre Nullstellen beinhaltet. Genau genommen handelte es sich dabei um ein Verfahren, die Zeta-Funktion als Ganzes aus ihren Nullstellen zu konstruieren. Die Existenz einer solchen Formel wurde von Riemann bereits vorausgesetzt, war jedoch bis dato nicht rigoros bewiesen worden. Für die Verifikation der Riemannschen Ideen war sie aber ein substanzieller Teil: das Grundschema der Argumentation für Riemanns Hauptformel lautete nämlich „Primzahlprodukt (Euler) versus Nullstellenprodukt (Riemann/Hadamard)“. Unter anderem deshalb bezeichnete Hans von Mangoldt den Beitrag von Hadamard „als ersten wirklichen Fortschritt in diesem Gebiet seit 34 Jahren“.
Aufbauend auf der Arbeit von Hadamard gelang Hans von Mangoldt nur zwei Jahre später, im Jahre 1895, der Durchbruch zu Riemanns Hauptformel. Allerdings zeigte er diese in einer leicht veränderten Version, die heute als „natürlicher“ angesehen wird. Seiner Leistung zu Ehren wird die Hauptformel heute als Riemann-von-Mangoldt-Formel bezeichnet.
Hadamard und De La Vallee-Poussin beweisen den Primzahlsatz
Nachdem von Mangoldt im Jahr 1895 den Beweis der Riemannschen Hauptformel erbracht hatte, fehlte zum Beweis des Primzahlsatzes nicht mehr viel. Dieser Satz trifft eine Aussage darüber, wie häufig Primzahlen durchschnittlich auftauchen. Es blieb lediglich zu zeigen, dass die Zeta-Funktion keine Nullstellen in dem Bereich hat, in dem das Primzahlprodukt von Euler „gerade so nicht mehr gültig ist“. Unabhängig voneinander erbrachten Hadamard und der Belgier Charles-Jean de La Vallée Poussin den Beweis im Jahr 1896. Wichtige Punkte für den Beweis waren Ideen von Franz Mertens und die trigonometrische Identität .
Obwohl die Aufregung in der Mathematikerwelt groß war, gab es bezüglich der Beweismethode, die stark an die Eigenschaften der schwierigen Zeta-Funktion gebunden war, Bedenken über deren Natürlichkeit. Es wurde als seltsam erachtet, dass eine Aussage über Primzahlen sogar äquivalent zu einer gewissen Verteilung der Nullstellen einer komplexen Funktion war. So äußerte Albert Ingham 1932:
Im Jahr 1948 wurde schließlich ein elementarer (also gänzlich ohne funktionentheoretische Mittel auskommender) Beweis von Atle Selberg und Paul Erdös gegeben. Hierbei bedeutet „elementar“ jedoch keinesfalls „einfach“. Es wurden im Lauf der Zeit auch erheblich einfachere funktionentheoretische und elementare Beweise des Primzahlsatzes gefunden.
Anfang des 20. Jahrhunderts
Hilbert formuliert seine 23 Probleme
Im Rahmen des 2. Internationalen Mathematikerkongresses des Jahres 1900 in Paris hielt David Hilbert am 8. August einen Vortrag. In diesem formulierte er eine Liste von 23 mathematischen Problemen, die seiner Ansicht nach zu den wichtigsten des kommenden Jahrhunderts zählten. Hilbert zählte zu diesem Zeitpunkt bereits zu den führenden Mathematikern der Gegenwart. Problem Nr. 8 war die Riemannsche Vermutung:
Das hohe Ansehen, das Hilbert genoss, beflügelte die Mathematiker, sich mit seinen Problemen, darunter der Zeta-Funktion, auseinanderzusetzen. Bis heute gelten 15 der 23 Probleme als gelöst, jedoch nicht die Riemannsche Vermutung.
Ramanujans Arbeit zur Zeta-Funktion
Im Jahre 1910 veröffentlichte der indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan im Journal of the Indian Mathematical Society einen Artikel, in dem unter anderem die folgende Gleichung behauptet wurde:
Die meisten Mathematiker, die diese Gleichung zu Gesicht bekamen, hatten sie als offensichtlichen Schwachsinn gewertet. So kam es, dass Professor Hill vom University College in London schrieb:
Hill verhielt sich jedoch nicht völlig ablehnend und ermutigte Ramanujan, es weiter zu versuchen. Und so schickte dieser seine Ergebnisse direkt an einige Mathematiker in Cambridge. Zwei davon waren nicht in der Lage, die Aussagen hinter Ramanujans verschlüsselten Formeln zu erkennen und lehnten die Bitte um Unterstützung ab.
Als Ramanujan jedoch schließlich auch Godfrey Harold Hardy brieflich auf seine Ideen aufmerksam machte, wurde diesem in der Gleichung die korrekte Auswertung des Werts bewusst, auch wenn sie bezüglich ihrer mathematischen Formalität natürlich inkorrekt war. In diesem Zusammenhang war die Formel schon Euler bekannt, da sie sich aus und der Funktionalgleichung ergibt (beides von Euler gefunden). Ferner erweckte Ramanujans Behauptung, eine Formel zu besitzen, die fast fehlerfrei voraussage, ob eine gegebene Zahl prim sei oder nicht (Ramanujans Formel verwendete jedoch nicht die Nullstellen der Zeta-Funktion) viel Neugier. Auch in einem zweiten Brief gab er jedoch dazu keinen Beweis. Littlewood äußerte:
Der anfänglich ausschließlich schriftliche Austausch gipfelte schließlich in einem Aufenthalt Ramanujans in England, wo sich das Duo aus Ramanujan und Hardy zu einer der produktivsten und außergewöhnlichsten mathematischen Korrespondenzen der Geschichte entwickelte.
Unter anderem nach Auswertung der Tagebücher Ramanujans durch George E. Andrews und Bruce Berndt offenbarten sich die zahlreichen Ideen Ramanujans zur Riemannschen Zeta-Funktion. So fand dieser unabhängig Eulers Formel für , das Euler-Produkt sowie zahlreiche unendliche Reihen und Integrale, die Zeta-Werte an ganzen und auch halbzahligen Stellen beinhalten.
Der Nachlass Riemanns
Fünfzig Jahre nach Riemanns Tod tauchten einige nicht verbrannte Seiten wieder auf. Richard Dedekind, ein Kollege von Riemann hatte einige Seiten des Nachlasses von Riemanns Frau Elise erhalten und einige davon in der Bibliothek von Göttingen hinterlegt. Nachdem der Mathematikhistoriker Erich Bessel-Hagen 1926 die Schriften fand und beim Versuch einer Entschlüsselung der wirren Aufzeichnungen keinen Erfolg hatte, gingen die Dokumente an Carl Ludwig Siegel. Dieser war erstaunt von der Tiefe der Gedanken Riemanns bezüglich der Zeta-Funktion. Dies entkräftete zugleich viel Kritik an Riemanns Originalarbeit, da die Notizen zeigten, dass Riemanns Behauptungen auf gründlichen Rechnungen beruhten. Jedoch beklagte auch Siegel das Chaos in den Notizen:
Siegel kam dahinter, dass Riemann ausschließlich über handschriftliche Rechnungen mindestens drei nicht-triviale Nullstellen der Zeta-Funktion relativ genau berechnet hatte. Die dafür verwendete Formel wurde durch Siegel ausgearbeitet, 1932 publiziert und wird seitdem auch Riemann-Siegel-Formel genannt.
Nach 1945 bis heute
Im Zeitalter des Computers
In der Forschung rund um die Riemannsche Zeta-Funktion werden Computer vor allem dazu benutzt, die Korrektheit der Riemannschen Vermutung für möglichst viele Nullstellen zu überprüfen. Obwohl es sich bei allen Rechnungen um numerische Verfahren handelt, zeigen diese exakt und nicht nur annähernd, dass sich die untersuchten Nullstellen auf der kritischen Geraden befinden.
Bereits im Jahr 1936 hatte der in Oxford wirkende Mathematiker Edward Charles Titchmarsh mit einer Maschine, die ursprünglich für astronomische Berechnungen konstruiert worden war, die ersten 1.041 nicht-trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion berechnet. Im Jahr 1953 wurden diese Berechnungen von Alan Turing fortgesetzt. Seine Methode wird bis heute benutzt. Erstmals kam dabei ein Computer zum Einsatz.
Ab Beginn der 80er Jahre wurden die Computer immer leistungsstärker. Bereits im Jahr 1979 hatte eine Gruppe aus Amsterdam um Herman te Riele und Richard P. Brent 200 Millionen Nullstellen überprüft (etwas später erhöhten sie ihre Rechnung auf 300 Millionen) – alle lagen auf der kritischen Geraden. Damit widersprachen sie einer Vorhersage von Don Zagier, der geäußert hatte, es sei „ein Wunder“, falls diese immer noch ausnahmslos auf der kritischen Geraden lägen. Zagier berief sich dabei auf theoretische Gründe, die zwar die Lage der ersten paar Tausend Nullstellen auf der Geraden bekräftigten, jedoch für steigende Zahlen schwächer – und letztlich sogar dagegen sprechend – auszulegen waren.
Bis 2005 wurden im Rahmen des sog. ZetaGrid Project durch verteilte Rechner die ersten 900 Milliarden Nullstellen überprüft. Um dieselbe Zeit berechnete Xavier Gourdon mit Unterstützung von Patrick Demichel die ersten 10 Billionen () Nullstellen. Alle lagen auf der kritischen Geraden.
Zahlentheorie trifft Quantenphysik
Im Jahr 1972 offenbarte sich durch ein zufälliges Gespräch zwischen dem Physiker Freeman Dyson und dem Mathematiker Hugh Montgomery ein bis dahin unbemerkter Zusammenhang zwischen Quantenphysik und Zahlentheorie. Gegenstand der Diskussion waren die Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion. In deren von Montgomery vermuteten Verteilung erkannte Dyson die Abstände zwischen Paaren von Eigenwerten von Hermitschen Zufallsmatrizen wieder. Diese werden von Quantenphysikern zur Vorhersage der Energieniveaus in einem schweren Atomkern verwendet, wenn dieser mit nieder-energetischen Neutronen bestrahlt wird. Als Montgomery sich die Abstände zwischen den Energieniveaus in dem Atomkern Erbium, dem 68. Element im Periodensystem, anschaute, erkannte er eine auffallende Ähnlichkeit. Die allgemeine Übereinstimmung zwischen einem gewissen Ausschnitt der Nullstellenorte auf der kritischen Geraden und den experimentell bestimmten Energieniveaus zeugte von großer Signifikanz.
Durch umfassenden Einsatz von Computern wurde die Vermutung von Montgomery über die Nullstellenabstände von Andrew Odlyzko überprüft. Die Zahlen sprachen dabei für Montgomerys Annahme. 1987 publizierte Odlyzko seine Ergebnisse.
Trotz starker Evidenzen wurden die Ergebnisse teilweise skeptisch gesehen. Es kam die Frage auf, ob damit irgendwelche Fortschritte in der reinen Mathematik erzielt worden waren. So äußerte der Zahlentheoretiker Peter Sarnak aus Princeton:
Jonathan Keating, ein Schüler des Physikers Michael Berry, lieferte schon bald eine zahlentheoretische Anwendung. Berry hatte sich zuvor schon mit Zusammenhängen zwischen Primzahlen und Quantenphysik beschäftigt (insbesondere Verbindungen zum Quantenchaos). Doch es waren schließlich Keating und seine Doktorandin Nina Snaith, die mit Hilfe statistischer Methoden (die häufig in der Quantenphysik zum Einsatz kommen) eine exakte Formel für das durchschnittliche Verhalten von Potenzen der Absolutwerte der Zeta-Funktion entlang der kritischen Geraden aufstellten. Diese Durchschnittswerte sind für die Zahlentheorie von Bedeutung und haben viele Anwendungen, zum Beispiel auf das Dirichletsche Teilerproblem. Wenige Minuten vor Keatings Vorstellung der Ergebnisse hatte er zusammen mit Snaith die Formel an einer Tafel „getestet“, indem sie schauten, ob ein bereits mühsam erarbeitetes Ergebnis korrekt vorausgesagt würde. Das Besondere an der Herangehensweise von Keating und Snaith, die unter anderem von Atle Selberg gelobt wurde, war, dass sie Primzahlen dabei als Zufallsvariablen, also gewissermaßen Resultate eines Münzwurfes interpretierten. Sarnak lenkte ein, dass ohne diesen fremdartigen Ansatz eine solche Vermutung über die Zeta-Funktion nicht hätte erarbeitet werden können.
Montgomerys Paarkorrelations-Vermutung und das asymptotische Verhalten der Zeta-Momente sind bis heute Gegenstand intensiver Forschung.
Die Riemannsche Vermutung bis heute
Spätestens nachdem Hilbert die Riemannsche Vermutung auf die Liste seiner Probleme genommen hatte, erweckte sie das Interesse zahlreicher Mathematiker. Doch bis heute erweist sich das Problem als außerordentlich schwierig.
Nachdem 1942 Atle Selberg gezeigt hatte, dass ein positiver Anteil der Nullstellen auf der kritischen Geraden liegen muss, entwickelte sich daraus ein wahrer Wettlauf um die Größe dieses Anteils. Norman Levinson zeigte, dass gut ein Drittel die Vermutung erfüllen, und Brian Conrey zeigte 1989, dass es sogar gut 40 Prozent sind. Ob diese Methoden aber letztlich zu einer Lösung führen, gilt als umstritten. Nicht mal ein solcher Beweis, dass „100 Prozent“ (in einem asymptotischen Sinn) der Nullstellen der Vermutung gehorchen, wäre zwingend zielführend, da die Anzahl der Nullstellen unendlich groß ist. Ähnliche Bedenken existieren gegenüber den unternommenen Anstrengungen, nullstellenfreie Regionen zu optimieren.
Stephen Smale, Träger der Fields-Medaille, veröffentlichte 1998 seine eigene – im Sinne von Hilbert verfasste – Liste von 18 Problemen. Problem Nummer 1 ist die Riemannsche Vermutung. Bisher wurden nur wenige Probleme auf Smales Liste gelöst (siehe Smale-Probleme).
Weitere Berühmtheit erlangte die Riemannsche Vermutung, als sie im Jahr 2000 vom Clay Mathematics Institute (CMI) auf die Liste der Millennium-Probleme gesetzt wurde. Für einen schlüssigen Beweis ist damit ein Preisgeld von 1 Million US-Dollar ausgelobt.
Praktische Anwendungsgebiete
Es werden im Folgenden Anwendungen mit praktischem Bezug gegeben. Beziehungen zur mathematischen und physikalischen Grundlagenforschung finden sich weiter unten in den Bereichen:
Analytische Zahlentheorie
Algebraische Zahlentheorie und Geometrie
Automorphe Formen
Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik
Schnelle Primzahltests
Ein Primzahltest ist ein Algorithmus, der überprüft, ob eine gegebene Zahl eine Primzahl ist. Verfährt man hier völlig naiv, muss dafür nachgerechnet werden, ob eine der Zahlen mit ein Teiler von ist. Teilt keine dieser Zahlen , so muss es eine Primzahl sein, da jeder Teiler größer als zu einem Teiler kleiner als korrespondiert über . Dieses Verfahren erfordert ca. Rechenoperationen, da ungefähr Quotienten gebildet und ausgewertet werden müssen. Damit wird es, trotz seiner Einfachheit, als aufwändig erachtet.
Die Lage der Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion spielt eine Rolle beim Beweis der Existenz schnellerer Primzahltests. Unter der Annahme der Verallgemeinerten Riemannschen Vermutung konnte Gary L. Miller 1976 zeigen, dass es einen deterministischen Primzahltest gibt, der in Schritten (d. h. „schnell“) prüft, ob eine Primzahl ist oder nicht. Der Begriff Verallgemeinerte Riemannsche Vermutung bedeutet, dass nicht nur die Riemannsche Zeta-Funktion, sondern auch sämtliche Dirichletschen L-Funktionen niemals für Argumente mit den Wert Null annehmen.
1980 gelang es Michael O. Rabin diesen zu einem probabilistischen Test umzuwandeln, der zwar niemals ein Ergebnis zu 100 Prozent korrekt ausgibt, jedoch nach hinreichend vielen Schritten sehr zuverlässig ist. Dieser funktioniert unabhängig von der Riemannschen Vermutung.
Große Primzahlen werden bei der Verschlüsselung von Daten (zum Beispiel im Internet) verwendet. Die Sicherheit solcher Systeme beruht auf der Annahme, dass es kein schnelles Verfahren gibt, eine Zahl in ihre Primfaktoren zu zerlegen. Beim RSA-Kryptosystem nimmt eine Person, die eine Nachricht verschlüsseln möchte, zwei große Primzahlen und mit großem Abstand zueinander, und bildet die zusammengesetzte Zahl . Mit Hilfe dieser können nun Nachrichten (wenn zuvor in Zahlen umgewandelt) durch einen öffentlichen Schlüssel, der aus und erzeugt wurde, verschlüsselt werden. Dieser Schlüssel steht jedermann zur Verfügung, gibt jedoch keine Einsicht in das Kryptosystem an sich. Mit dem Wissen um und kann eine Nachricht aus der Öffentlichkeit an den Privatmenschen anschließend wieder entschlüsselt werden, da mit dem Wissen um und auch der „Gegenschlüssel“ erzeugt werden kann, der den Klartext wieder herstellt. Dieser Gegenschlüssel steht nur der Privatperson zur Verfügung und ist daher ein privater Schlüssel. Zum Brechen des Systems ist folglich die Faktorisierung von erforderlich.
Physik
In der Physik spielt die Riemannsche Zeta-Funktion eine vielseitige Rolle. Anwendungen haben etwa spezielle Funktionswerte:
Der Wert wird u. a. bei der Berechnung der kritischen Temperatur für die Ausbildung eines sogenannten Bose-Einstein-Kondensats und in der Spinwellen-Theorie bei magnetischen Systemen benötigt.
Der Wert wird im Hochtemperatur-Limes in der Zustandsdichte für den harmonischen Oszillator gebraucht.
Der Wert wird in der Zustandsdichte für ein freies Bosonengas benutzt.
Die Konstante steht im Zusammenhang mit dem Integral über die Strahlungsdichte der Planckschen Schwarzkörperstrahlung.
Regularisierung von Determinanten
Zeta-Funktionen sind eine Möglichkeit zur Regularisierung von Funktionaldeterminanten von Operatoren auf unendlich-dimensionalen Räumen, der Vorgang nennt man Zetafunktions-Regularisierung. Solche Regularisierungen haben Anwendungen in der Physik, zum Beispiel in der Quantenfeldtheorie und in der String-Theorie. Dabei werden, ähnlich wie es bereits Ramanujan tat, divergenten Reihen endliche Werte zugeordnet. Ein Anwendungsbeispiel einer solchen Regularisierung betrifft den Casimir-Effekt.
Die Formel von Ramanujan und Euler für kann heuristisch dazu dienen, auf einfache Weise die Notwendigkeit von 26 Raum-Zeit-Dimensionen in der bosonischen Stringtheorie abzuleiten.
Das Zipfsche Gesetz
Das Zipfsche Gesetz wurde ursprünglich in der quantitativen Linguistik formuliert und besagt, dass bei einem Korpus von natürlichsprachlichen Äußerungen die Häufigkeit eines Wortes umgekehrt proportional zu seinem Rang in der Häufigkeitstabelle ist. So wird das häufigste Wort etwa doppelt so oft vorkommen wie das zweithäufigste Wort, dreimal so oft wie das dritthäufigste Wort usw. Bei der Verwendung von verschiedenen Wörtern hat dies eine Wahrscheinlichkeitsverteilung von
mit der harmonischen Folge zur Konsequenz. Je nach Art des Datensatzes kann es aber sein, dass ein anderer Exponent gebraucht wird. Mit der verallgemeinerten harmonischen Folge lässt sich für reelle Parameter die verallgemeinerte Verteilung
beschreiben. Im Falle von lässt sich damit die für „unendlich viele Wörter“ geeignete Zeta-Verteilung erzeugen:
Globale Eigenschaften
Funktionalgleichung
Im Folgenden bezeichnet die Gammafunktion, die die Fakultät auf komplexe Zahlen verallgemeinert. Auf ganz gilt als Identität zwischen meromorphen Funktionen
Aus dieser geht durch einfache Umformung die alternative Darstellung
für alle hervor. Oft wird auch die symmetrische Variante der Funktionalgleichung, nämlich
in der Literatur zitiert. Man beachte die Invarianz, die unter der Variablentransformation entsteht. Aus der symmetrischen Variante können die oberen Gleichungen mittels der Legendreschen Duplikationsformel und des Eulerschen Ergänzungssatzes hergeleitet werden.
Die Erfüllung einer Funktionalgleichung obigen Typs ist charakteristisch für L-Funktionen (spezielle Dirichlet-Reihen unter anderem mit analytischer Fortsetzung). Diese stehen wegen ihres Transformationsverhaltens oft in Beziehung mit Modulformen. Beispielsweise korrespondiert die Zeta-Funktion zur Jacobischen Theta-Funktion, einer Modulform halbganzen Gewichts. Aus dieser Beziehung geht, startet man mit dem Transformationsverhalten der Theta-Funktion, die Funktionalgleichung hervor.
Die Funktionalgleichung schafft einen Zusammenhang zwischen bedeutenden mathematischen Funktionen und zieht wichtige Resultate bezüglich Nullstellen- und Wachstumsverhalten der Zeta-Funktion nach sich. Sehr vielen Schlussfolgerungen ist dabei folgendes Prinzip gemein: Durch das (wegen absoluter Konvergenz der Dirichlet-Reihe) einfache Verhalten der Zeta-Funktion in der Halbebene wird automatisch eine Trivialisierung der mittels gespiegelten Halbebene erreicht.
In seiner Arbeit definierte Riemann ursprünglich für die ganze Funktion
In der heutigen Konvention ist es allerdings üblicher, statt die Variable zu verwenden; man setzt dann . In dieser neuen Notation gilt dann die Reflexion
Beide Interpretationen werden heutzutage als Riemannsche Xi-Funktion bezeichnet.
Die Funktionalgleichung war schon Euler (1749) bekannt, wenn er sie auch nicht für komplexe Argumente formulierte und nicht bewies, sondern nur in einer so großen Zahl von Fällen überprüfte, dass nach seinen Worten kein Zweifel an ihrer Gültigkeit bliebe. Beweise wurden auch 1858 von Oskar Schlömilch veröffentlicht und von Carl Johan Malmstén (1849). André Weil hat darauf hingewiesen, dass ein Beweis der Funktionalgleichung mit der Mellin-Transformation schon in einem Handexemplar der Gauß’schen Disquisitiones Arithmeticae von Gotthold Eisenstein niedergeschrieben ist, mit dem Riemann in seiner Berliner Zeit eng befreundet war.
Charakterisierung durch Hamburger
Im Jahre 1921 gelang es Hans Hamburger, die Riemannsche Zeta-Funktion anhand ihrer Funktionalgleichung wie folgt zu charakterisieren.
Es sei , wobei eine ganze Funktion endlicher Ordnung und eine Polynomfunktion ist, für durch die Dirichlet-Reihe darstellbar.
Ferner gelte die Funktionalgleichung
wobei ebenfalls auf der Halbebene als Dirichlet-Reihe darstellbar sei. Dann folgt bereits die Identität .
Transzendenz
Die Riemannsche Zeta-Funktion gehört zur Klasse der transzendenten Funktionen und sogar der hypertranszendenten Funktionen. Das bedeutet, dass sie keiner Polynomgleichung und auch keiner algebraischen Differentialgleichung (mit Koeffizienten in und algebraischen Startwerten) genügt. Dies wurde von V. E. E. Stadigh im Jahre 1902 bewiesen. Entscheidend für den Beweis war die Funktionalgleichung und ein analoges Resultat von Otto Hölder aus dem Jahr 1887 über die Gammafunktion:
Global konvergente Laurent-Reihe
Als auf holomorphe Funktion mit einfachem Pol in 1 kann man die Riemannsche Zeta-Funktion um ihre Singularität in eine global konvergente Laurent-Reihe (also mit Konvergenzradius ) entwickeln. Diese hat die Form
Bei den Koeffizienten
handelt es sich um die Stieltjes-Konstanten, wobei die Euler-Mascheroni-Konstante ist, für die sich daraus insbesondere der Ausdruck
ergibt.
Ordnung
Die Funktion ist ganz und hat die Wachstumsordnung 1. Das heißt, für jedes gibt es Konstanten und , sodass für alle :
Hierbei ist eine andere Schreibweise für , die Exponentialfunktion. Die Bestimmung der Wachstumsordnung ist ein Zwischenschritt beim Produktsatz von Hadamard, der zur Herleitung von Riemanns Hauptformel gebraucht wird.
Eigenschaften der Dirichlet-Reihe
Für reelle Argumente größer als 1
Abbildungseigenschaften und Folgerungen
Auf dem offenen Intervall ist die Zeta-Funktion eine unbeschränkte, reellwertige und streng monoton fallende Funktion. Insbesondere ist sie in diesem Bereich injektiv. Dabei ist 1 ihre größte untere Schranke, weshalb sie (wegen ihrer Stetigkeit) das Intervall bijektiv auf sich selbst abbildet. Aus ihrer Holomorphie folgt unterdessen sofort, dass sie auf beliebig oft reell differenzierbar (also glatt) ist.
Da , folgt bereits . Eine Eigenschaft analytischer Funktionen ist, unter diesen Voraussetzungen ein Spiegelungsgesetz unter der komplexen Konjugation zu erfüllen: Es gilt . Dies hat wichtige Konsequenzen für die Nullstellenverteilung, da die Nullstellen an der reellen Achse gespiegelt werden und damit paarweise auftreten.
Ungleichungen
Die reelle Dirichlet-Reihe lässt sich in ihrem Konvergenzbereich durch rationale Funktionen einschließen. Es gilt für alle die Abschätzung
Ebenfalls interessant in diesem Bereich ist die Ungleichung
Konvergenzgeschwindigkeit
Definiert man
so gilt für alle
wobei . Dies folgt aus der Euler-Maclaurin-Summenformel, die auch zur numerischen Berechnung der Zeta-Funktion herangezogen werden kann. Damit wird gezeigt, dass die Konvergenzgeschwindigkeit der Dirichlet-Reihe für kleiner werdende Realteile stark abnimmt. Zudem folgt, dass die Reihe in keinem Punkt konvergiert.
Verhalten in der vertikalen und horizontalen Richtung
Für unbegrenzt größer werdende Realteile hat die Zeta-Funktion ein leicht zu bestimmendes asymptotisches Verhalten, es gilt
Dies folgt unmittelbar aus der gleichmäßigen Konvergenz der Dirichlet-Reihe in den Bereichen und Vertauschen von Limes und Summation. Vergleiche hierzu auch den komplexen Graphen der Zeta-Funktion zu Beginn des Artikels, der in Richtung der positiven reellen Achse zunehmend konstant rot gefärbt ist.
Für jedes mit gilt
für alle . Diese Abschätzung ist optimal. Mit dem Euler-Produkt und Kroneckers Approximationssatz lassen sich nämlich zusätzlich die Aussagen
beweisen. Ebenfalls mit Approximationsmethoden kann bewiesen werden, dass für jedes ein existiert, sodass
gilt.
Beziehungen zu zahlentheoretischen Funktionen
Die Dirichlet-Reihen einiger elementarer und wichtiger (sehr häufig multiplikativer) zahlentheoretischer Funktionen können über die Riemannsche Zeta-Funktion ausgedrückt werden. Von großer Bedeutung ist dabei zum Beispiel die Beobachtung, dass das multiplikative Inverse der Zeta-Funktion wieder durch eine Dirichlet-Reihe dargestellt werden kann. Es gilt die Formel
wobei hier die Möbiusfunktion bezeichnet. Die Reihe zur Rechten konvergiert (wegen für alle ) absolut auf der Halbebene , und, falls die Riemannsche Vermutung richtig ist, sogar (bedingt) auf der Halbebene (was man mittels partieller Integration sieht). Zur informellen Erklärung der Dirichlet-Reihen-Identität betrachtet man
also den Kehrwert des Euler-Produkts, und bildet durch konsequentes Ausmultiplizieren die dazugehörige Dirichlet-Reihe.
Die Dirichlet-Faltung für zahlentheoretische Funktionen ist ein Homomorphismus vom Ring der zahlentheoretischen Funktionen in den Ring der formalen Dirichlet-Reihen . Mittels dieser ergeben sich weitere Identitäten. Für die Zahlentheorie wichtig sind dabei zum Beispiel Formeln wie
mit der Teilerfunktion oder auch
mit der Eulerschen Phi-Funktion. Es existiert darüber hinaus eine ganze Schar weiterer Identitäten. So geht zum Beispiel die Formel
auf Ramanujan zurück.
Diese Identitäten zeugen von einer engen Verbindung zwischen zahlentheoretischen Funktionen auf der einen Seite und einer mit guten analytischen Eigenschaften wie zum Beispiel globaler Meromorphie ausgestatteten Funktion auf der anderen Seite. Mittels Methoden der analytischen Zahlentheorie können damit oft frappierende Verhaltensmuster dieser zahlentheoretischen Funktionen bewiesen werden. Zwei wichtige Techniken dafür, die Selberg-Delange-Methode und die Verwendung von Taubersätzen, werden in diesem Artikel beschrieben.
Dirichlet-Reihe der Ableitungen und Stammfunktion
Ihre -te Ableitung besitzt für Argumente mit Realteil größer als 1 die Darstellung
Dies folgt mittels gliedweiser Differentiation, was wegen gleichmäßiger Konvergenz der Reihe auf kompakten Teilmengen erlaubt ist. Ähnlich gilt dort für eine Stammfunktion:
Spezielle Funktionswerte
Für positive gerade Argumente sind die Funktionswerte der Zeta-Funktion sämtlich bekannt. So fand Leonhard Euler die Formel
wobei die -te Bernoulli-Zahl bezeichnet. Insbesondere gilt
Die Frage nach dem Wert von ist auch als Basler Problem bekannt und galt lange als ungelöst. Über die Funktionalgleichung erhält man weiter
für alle . Insbesondere hat man
und es gilt für .
Im Gegensatz dazu sind geschlossene Ausdrücke für positive ungerade Werte bisher nicht bekannt. Man weiß jedoch, dass die Apéry-Konstante irrational ist. Dies wurde 1979 von Roger Apéry beweisen.
Nullstellen
Triviale Nullstellen
Aus der Darstellung als Euler-Produkt kann man leicht folgern, dass für gilt. Zusammen mit der Funktionalgleichung der Zeta-Funktion und den Polstellen der Gamma-Funktion ergibt sich, dass die einzigen Nullstellen außerhalb des kritischen Streifens die „trivialen“ Nullstellen sind. Diese sind alle einfach, denn es gilt für alle
Nichttriviale Nullstellen
Neben den trivialen Nullstellen besitzt die Zeta-Funktion weitere Nullstellen im kritischen Streifen . Diese werden auch als nicht-triviale Nullstellen bezeichnet, da bis heute nur sehr wenig über deren genaue Lage bekannt ist. Aus ihrer Verbindung zur Dirichletschen Etafunktion,
kann man zumindest folgern, dass für alle reellen gilt.
Existenz und asymptotische Verteilung
Aufgrund des Euler-Produktes und der Funktionalgleichung müssen alle nicht-trivialen Nullstellen innerhalb des abgeschlossenen kritischen Streifens liegen, falls sie existieren. Dass es sogar unendlich viele nicht-triviale Nullstellen gibt, war bereits Riemann bewusst:
Riemann gab in seiner Arbeit also eine Formel zur asymptotischen Verteilung der nicht-trivialen Nullstellen erstmals an. Er behauptete, die Anzahl (mit Vielfachheit gerechnet) der Nullstellen innerhalb des Rechtecks erfülle die asymptotische Äquivalenz
Seinen Gedankengang begründete er (wie oben knapp beschrieben) über eine Auswertung des nullstellenzählenden Integrals
wobei die (etwas anders skalierte) Riemannsche Xi-Funktion bezeichnet, die insbesondere dieselben Nullstellen im kritischen Streifen besitzt wie die Zeta-Funktion. Diese Aussage wurde jedoch erst über 50 Jahre nach Riemanns Veröffentlichung von Mangoldt rigoros bewiesen. Beim Beweis macht man sich die Funktionalgleichung zunutze. Ein von Gérald Tenenbaum gegebener Standardbeweis nutzt das erweiterte Rechteck und kommt zu
wobei wegen der ganzen Symmetrien von auch über den Linienzug integriert werden kann. Mittels der einfachen Formel für logarithmische Ableitungen, und der Tatsache, dass Imaginärteile des Logarithmus über das Argument gegeben sind, folgt
Während die meisten Faktoren der -Funktion in dieser Formel leicht auszuwerten sind und die Größenordnung liefern, besteht der schwierigste Teil in der Schätzung
Der Fehler konnte bis heute nicht verbessert werden. Von Littlewood stammt die Einsicht, dass die Imaginärteile der nicht-trivialen Nullstellen immer dichter zusammenrücken. Setzte man also (wobei die nach wachsenden, positiven Imaginärteilen aufsteigende Folge der nicht-trivialen Nullstellen bezeichnet), so gilt also . Dies folgert man recht direkt aus der asymptotischen Äquivalenz
Symmetrieeigenschaften
Die Funktionalgleichung der Zeta-Funktion und ihre grundlegende Spiegelungseigenschaft bezüglich konjugierter Argumente implizieren ein paarweises Auftreten der nicht-trivialen Nullstellen. Ist z. B. eine Nullstelle im kritischen Streifen, so ist aufgrund der Funktionalgleichung
auch Nullstelle. Zusätzlich aber ist , weshalb auch Nullstelle ist; analog aber auch Zu bemerken ist, dass alle Werte und im kritischen Streifen liegen, dort zu einem Rechteck verbunden werden können und somit quasi ein Nullstellen-Doppelpaar bilden.
Ist jedoch die Riemannsche Vermutung richtig, so liegen alle Nullstellen auf der Geraden , wobei dann stets bzw. gilt.
Summen und Reihen
Es gilt die Identität
Dabei ist die Euler-Mascheroni-Konstante. Die Reihe über alle konvergiert jedoch keinesfalls absolut. Summiert man die Absolutbeträge, ergibt sich
Diese Formel ist bei der Herleitung der expliziten Restgliedabschätzungen (auch unter Annahme der Riemannschen Vermutung) des Primzahlsatzes erforderlich.
Ordnungen
Über die Ordnung der nicht-trivialen Nullstellen ist bis heute wenig bekannt. Es wird angenommen, dass alle Nullstellen der Zeta-Funktion die Ordnung 1 haben. Diese Vermutung wird von numerischen Untersuchungen unterstützt: Bisher waren alle gefundenen Nullstellen von erster Ordnung.
J. B. Conrey, A. Ghosh und S. M. Gonek fanden jedoch Aussagen unter der Annahme der Riemannschen Vermutung und der verallgemeinerten Lindelöfschen Vermutung. Letztere besagt, dass für alle und jeden Dirichlet-Charakter modulo die zugehörige L-Funktion für anwächst wie
Setzt man beides voraus, ergibt sich für die Anzahl der einfachen Nullstellen :
2013 konnten H. M. Bui und D. R. Heath-Brown zeigen, dass man dies im Wesentlichen auch ohne die Lindelöfsche Vermutung beweisen kann. Des Weiteren gilt für Werte
wobei über Nullstellen summiert wird. Also liegt in jedem Intervall der Imaginärteil einer einfachen Nullstelle.
Nach einer Vermutung von Hardy und Littlewood existiert für jedes eine Zahl , sodass die Funktion für alle im Intervall eine Nullstelle von ungerader Ordnung hat. Zudem gibt es eine Konstante , so dass
gilt. Hierbei ist die Anzahl der Nullstellen ungerader Ordnung auf .
Im Falle, dass alle Nullstellen einfach sein sollten, kommt den nicht-verschwindenden Werten eine Bedeutung zu über die für nicht-natürliche gültige Formel:
Dabei ist die Möbiusfunktion. Diese kann jedoch nur unter zusätzlichen Annahmen an das Verhalten der Zeta-Funktion im kritischen Streifen gezeigt werden; dies bezieht sich auch darauf, über welchen Intervallen die partiellen Nullstellensummen zu erstrecken sind.
Nullstellenfreie Regionen
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts konnte mit Hilfe eines einfachen Widerspruchsbeweises gezeigt werden, dass die Zeta-Funktion keine Nullstellen auf der Geraden besitzt. Grundlage dieses Beweises ist die von Mertens gezeigte, für alle mit gültige Ungleichung
Diese nullstellenfreie Region konnte danach immer weiter vergrößert werden. So wurde gezeigt, dass eine Konstante existiert, sodass für keinen Wert mit
eine Nullstelle besitzt. Solche Verbesserungen führen (in verallgemeinerter Form für Dirichletsche L-Funktionen) unter anderem zum Satz von Siegel-Walfisz.
Das bis heute schärfste nullstellenfreie Gebiet, mit großem technischem Aufwand gewonnen, ist für gegeben durch
Dieses führt beim Primzahlsatz zu einem verbesserten Fehler: Für eine Konstante gilt
Ein expliziter Wert für die Konstante in der Fehlerfunktion, nämlich , wurde 2002 von Ford gegeben. Insbesondere ist nicht bekannt, ob es ein gibt, sodass gilt für alle mit .
Die Riemannsche Vermutung
Riemann vermutete im Jahr 1859, dass alle nicht-trivialen Nullstellen auf der parallel zur imaginären Achse verlaufenden Geraden liegen. Wegen der Funktionalgleichung ist dies äquivalent zu für alle . Diese sogenannte Riemannsche Vermutung konnte bislang weder bewiesen noch widerlegt werden.
Die Lage der Nullstellen im kritischen Streifen hängt eng mit Aussagen über die Verteilung der Primzahlen zusammen. Beispielsweise ist die Aussage, dass auf dem Rand des kritischen Streifens keine Nullstellen liegen, ein möglicher Zwischenschritt beim Beweis des Primzahlsatzes. Mit anderen Worten: Die Nullstellen kodieren die Abweichung der Primzahlfunktion von der durch den Primzahlsatz gegebenen Größenordnung (Integrallogarithmus). Deren (durch das nicht mehr konvergente Euler-Produkt) gewährleistete Existenz ist also als natürliche Barriere zu verstehen, die eine gewisse Unschärfe bei der Identifikation als Tribut fordert. Doch obwohl man weiß, dass diese Unschärfe natürlicherweise existiert, ist ihre Intensität nicht geklärt und hängt mit der Verteilung der Nullstellen zusammen. Je näher sich Nullstellen an der Geraden befinden, desto größer werden die Abweichungen sein. Gilt für alle mit , so folgt für alle
Liegen jedoch alle Nullstellen auf der mittleren Geraden , so ist diese Unschärfe kleinst möglich (man beachte, dass mit auch nicht-triviale Nullstelle ist). Dies hätte eine erstaunliche Glattheit bei der Verteilung der Primzahlen zur Folge, zum Beispiel gölte nach Lowell Schoenfeld dann ganz explizit
Hierbei ist zu beachten, dass zwar beliebig groß wird, jedoch asymptotisch betrachtet deutlich kleiner als ist.
Atle Selberg gab 1946 folgende Einschätzung:
Resultate zur Lage auf der kritischen Geraden
Im Jahr 1914 konnte Godfrey Harold Hardy zeigen, dass unendlich viele nicht-triviale Nullstellen auf der kritischen Geraden liegen. In seinem damals revolutionären Beweis machte er sich zunutze, dass für alle reellen Zahlenwerte der Ausdruck
nur reelle Funktionswerte annimmt. Dies vereinfachte das Problem auf die zu klärende Existenz unendlich vieler Nullstellen einer reellwertigen Funktion. Der durch Widerspruch geführte Beweis (siehe Reductio ad absurdum) zeigt auf, dass für unendlich oft sein Vorzeichen wechseln muss, was mit dem Zwischenwertsatz schon zeigt, dass unendlich viele Nullstellen auf besitzt.
1921 verbesserte Hardy zusammen mit seinem Freund und Kollegen John Edensor Littlewood die Aussage auf das wesentlich stärkere Resultat, dass für hinreichend große Werte die Anzahl der Nullstellen auf der kritischen Geraden im Segment mindestens beträgt, wobei eine positive Konstante bezeichnet.
Atle Selberg verbesserte dieses Ergebnis 1942 auf und zeigte außerdem, dass ein positiver Anteil aller Nullstellen auf der kritischen Geraden liegen. Es gibt also eine Konstante , sodass
Für diesen und andere Beiträge wurde er im Jahre 1950 mit der Fields-Medaille geehrt. Ab diesem Punkt wurde daran gearbeitet, möglichst hohe Werte für zu finden.
Anfang der 1970er Jahre konnte Norman Levinson zeigen, dass mindestens ein Drittel () der nicht-trivialen Nullstellen auf der kritischen Geraden liegen muss, wobei jedoch als hinreichend groß vorausgesetzt wird. 1989 verbesserte Conrey diesen Wert auf , wobei er Techniken von Levinson verfeinerte.
Numerische Berechnungen
Bereits früh gab es Anstrengungen, die Riemannsche Vermutung und andere Phänomene durch explizite numerische Berechnungen zu überprüfen. Die Methoden wurden, insbesondere im Zeitalter von leistungsstarken Computern, explosionsartig besser. Bisher liegen alle gefundenen nicht-trivialen Nullstellen auf der Geraden . Da es unendlich viele nicht-triviale Nullstellen gibt, können Algorithmen jedoch höchstens für die Suche eines Gegenbeispiels und nicht für einen Beweis der Riemannschen Vermutung herangezogen werden.
Numerische Werte der frühen Nullstellen
Die Imaginärteile der „ersten“ Nullstellen sind beispielsweise
Über die Eigenschaften dieser Imaginärteile (Irrationalität, Transzendenz …) ist bis heute nichts bekannt.
Hadamard-Produktentwicklung
Neben dem Euler-Produkt gibt es eine weitere Produktdarstellung der Zeta-Funktion, die erstmals ihre Nullstellen in eine mögliche Definition direkt mit einschließt. Diese ist so bedeutend, weil sie der Schlüssel für den Zusammenhang zwischen Primzahlen und Nullstellen ist. Der entscheidende Schritt in Bernhard Riemanns Arbeit war nämlich der „Vergleich“ dieser beiden Produkte, was schließlich ein enges Verhältnis zwischen den Produktelementen (in diesem Falle Primzahlen und Nullstellen) impliziert. Wegen ihrer niedrigen Konvergenzgeschwindigkeit ist die Produktdarstellung jedoch in der Praxis nicht als Grundlage für einen numerischen Berechnungsalgorithmus für die Zeta-Funktion geeignet.
Über den Produktsatz von Hadamard für holomorphe Funktionen ist es möglich, die Zeta-Funktion anhand ihrer Nullstellen über ein Produkt zu rekonstruieren. Dabei wird ausgenutzt, dass die ganze Funktion die Wachstumsordnung 1 besitzt. Demnach gibt es Konstanten und , so dass
Dabei ist und . Damit erhält man das Hadamard-Produkt, benannt nach seinem Entdecker Jacques Hadamard, das global in konvergiert:
Eine etwas einfachere (jedoch nur bedingt konvergente) Form des Hadamard-Produktes ist
Absolute Konvergenz ergibt sich, wenn man die Nullstellen „paarweise“ ordnet. Es werden damit die Faktoren unter Indexierung betrachtet.
Weitere Eigenschaften im kritischen Streifen
Universalitätssatz von Woronin
Nach dem Universalitätssatz von Woronin ist die Riemannsche -Funktion imstande, jede beliebige holomorphe Funktion in einer nullstellenfreien Kreisscheibe mit Radius 1/4 beliebig genau zu approximieren.
Als anschaulichen Vergleich stelle man sich dafür vor, dass es für jede holomorphe Funktion eine Art „Landkarte“ gibt, die Höhen und Tiefen sowie Himmelsrichtung der Funktionswerte in der komplexen Ebene darstellt. Der Universalitätssatz besagt nun, dass man, wenn man die Landkarte der Zeta-Funktion in einem bestimmten unendlichen Bereich scannen würde, früher oder später auf Gebiete stieße, die Ausschnitten der Landkarten anderer Funktionen, also mitsamt allen darin eingetragenen „Bergen“ und „Tälern“, beliebig ähneln. Als einzige Voraussetzung gelte hierbei jedoch, dass auf dem Kartenausschnitt der fremden Funktion nie der Wert 0 eingetragen sei.
Formal ausgedrückt: Sei eine kompakte Teilmenge des Streifens mit zusammenhängendem Komplement. Sei nun eine stetige Funktion, die holomorph im Innern von sei und für kein verschwinde. Es existiert dann für jedes ein , sodass
für alle . Zu beachten ist hierbei, dass es sich im Allgemeinen nur um eine Approximation handelt, also gewährleistet werden muss. Hätte man für eine Teilmenge mit Häufungspunkt im Inneren von , so folgte mit dem Identitätssatz für holomorphe Funktionen bereits auf ganz .
Es gilt sogar noch mehr: Die untere asymptotische Dichte aller , die eine Approximation erfüllen, ist positiv, wie die Ungleichung
beweist. Hier ist das Standard-Lebesgue-Maß auf den reellen Zahlen. Für sehr kleine Kreisscheiben können sogar effektive Schranken angegeben werden, falls bestimmte Voraussetzungen erfüllt. So existiert für alle in analytischen mit und eine Zahl , sodass
Ein ähnliches Resultat findet sich auch für die untere asymptotische Dichte. Es ist zu beachten, dass in dieser Version die modifizierte Funktion universell ist.
Diese erstaunliche Eigenschaft zieht einige Konsequenzen nach sich. Zum Beispiel lässt sich zeigen, dass die Riemannsche Zeta-Funktion keiner algebraischen Differentialgleichung gehorcht. Genauer gesagt kann man zeigen: Sind eine stetige Funktion, Konstanten, natürliche Zahlen mit , sodass
so folgt bereits . Ist zudem mit beliebig gewählt, folgt, dass die Menge
stets dicht in liegt.
Approximate functional equation
Obwohl die Dirichlet-Reihe im kritischen Streifen nicht mehr konvergiert, können ihre Partialsummen zu einer guten Approximation der Zeta-Funktionen führen. Eine sehr einfache Formel dieses Typs, gültig für , ist beispielsweise
Für feste Werte wird der Fehler für hinreichend große Werte klein. Jedoch ist ein schwerer Nachteil für große Imaginärteile. Um dem entgegenzuwirken, wird fest gewählt. Unter Zuhilfenahme der van-der-Corputschen-Summenformel kann für das Restglied weiter verbessert werden zu
indem der Summationsbereich an das Argument angepasst wird. Damit lässt sich die Zeta-Funktion in durch die ersten Glieder der Dirichlet-Reihe annähern. Im Bereich folgt mittels der Funktionalgleichung die folgende Darstellung durch eine Dirichlet-Reihe:
Auch hier ist eine entsprechende Annäherung im kritischen Streifen zu erwarten und kombiniert man beide Ergebnisse, so ergibt sich mit und , die Formel
die auch Approximate functional equation genannt wird. Diese wurde 1921 von Hardy und Littlewood entdeckt, jedoch war sie, wie sich später herausstellte, bereits Bernhard Riemann bekannt. Sie ist ein mächtiges Werkzeug zur Untersuchung der Zeta-Funktion im kritischen Streifen.
Wachstum im kritischen Streifen
Bekannte Resultate
Mit der Approximate functional equation folgt über
Korobov und Vinogradov haben 1958 die Abschätzung
mit einem bewiesen.
Für die Gerade zeigten sie damit
Eine explizitere Form gab Richert im Jahr 1967:
Aus diesen Resultaten lässt sich das bisher größte bekannte nullstellenfreie Gebiet von bestimmen. Innerhalb diesem gelten die Abschätzungen
und
Die Lindelöfsche Vermutung
Für alle reellen ist die Größe
endlich. Die Notation ist dabei historisch bedingt. Sie ist ein Maß dafür, wie schnell die Riemannsche Zeta-Funktion entlang vertikaler Geraden anwächst. Für reelle Zahlen außerhalb des kritischen Streifens lässt sich leicht berechnen. Für gilt , da für alle Werte mit nach Abschätzung der Summe mittels absoluter Konvergenz folgt, erhält man . Über die Möbius-Funktion folgt andererseits die untere Schranke , weshalb gleichzeitig und damit bewiesen ist. Zusammen mit diesem Resultat folgt über die Stirlingsche Formel und die Funktionalgleichung der Zeta-Funktion für alle . Ebenfalls gesichert sind die Randwerte sowie .
Die genauen Werte von für kritische Werte sind bis heute (Dezember 2019) unbekannt. Schuld daran ist, dass Größencharakterisierungen dieser Genauigkeit ohne absolute Konvergenz sehr schwierig und mitunter unmöglich sind. Es wird vermutet, dass die Zeta-Funktion in den vertikalen Bereichen zu weiterhin langsam anwächst, also gilt, jedoch nicht mehr zwangsläufig durch eine Konstante beschränkt ist. Dies ist äquivalent zu für alle . Diese Aussage wird auch als Lindelöfsche Vermutung (nach Ernst Leonard Lindelöf) bezeichnet und ist bis heute unbewiesen. Es ist aber bekannt, dass die Funktion auf jeder vertikalen Geraden mit unbeschränkt ist.
Trotz allem kann man Abschätzungen für das Verhalten von angeben. Über die Approximate functional equation folgert man beispielsweise
Man kann außerdem zeigen, dass konvex ist und dass die folgende Abschätzung nach unten gilt:
Die Lindelöfsche Vermutung ist äquivalent dazu, dass in der letzten Ungleichung stets Gleichheit gilt. Wegen der Konvexität von und der Funktionalgleichung der Zeta-Funktion ist dies bereits gleichbedeutend mit .
Zusammenhang zu Potenzmomenten
Die zahlentheoretische Bedeutung der Lindelöfschen Vermutung wird durch einen Zusammenhang zu den Potenzmomenten der Zeta-Funktion entlang der kritischen Geraden ersichtlich. Definiert man
so ist sie äquivalent zu der Aussage für alle Werte . Die Potenzmomente tauchen unter anderem bei Fehlerabschätzungen im Dirichletschen Teilerproblem und in der Statistik auf. Explizit gilt
und Heath-Brown zeigte 1979
mit und berechenbaren . Die Momente der Zeta-Funktion sind, besonders für große Werte (wo die Theorie deutlich schwieriger ist), ein hochaktuelles Forschungsgebiet. Beiträge lieferten Conrey, Gonek für große Werte und Heath-Brown für rationale . Im Zusammenhang mit der Theorie der Zufallsmatrizen haben Keating und Snaith eine Vermutung über das genaue asymptotische Verhalten der Potenzmomente formuliert.
Zusammenhang mit der Riemannschen Vermutung
Zwischen dem Wachstum einer analytischen Funktion und der Anzahl ihrer Nullstellen besteht wegen der Jensenschen Formel ein Zusammenhang. Tatsächlich gilt die Lindelöfsche Vermutung genau dann, wenn für alle gilt:
Dies wurde erstmals 1918 von Backlund bewiesen. Ist die Riemannsche Vermutung richtig, so wäre der Zähler stets 0, womit die Lindelöfsche Vermutung direkt folgt. Jedoch kann aus der Gültigkeit der Lindelöfschen Vermutung nicht die der Riemannschen Vermutung gefolgert werden, da schon eine einzige nicht-triviale Nullstelle mit Realteil ungleich genügt, um letztere zu widerlegen.
Im Falle, dass die Riemannsche Vermutung wahr ist, zeigte Littlewood
mit einer positiven Konstanten . Soundararajan zeigte, dass gesetzt werden kann.
Anwendung in der analytischen Zahlentheorie
Zusammenhang zur Primzahlverteilung
Der Primzahlsatz
Wie bereits der 15-jährige Gauß vermutete, wächst die Anzahl aller Primzahlen unter einer gegebenen Schranke asymptotisch gleich wie der Ausdruck . Es gilt also:
Dieser sogenannte Primzahlsatz wurde jedoch erst hundert Jahre später unabhängig von Hadamard und Poussin bewiesen. Für einen Beweis kann die zwischen der Riemannschen Zeta-Funktion und der Primzetafunktion geltende Identität
genutzt werden, die ihren Ursprung im Euler-Produkt findet. Weiß man nun, dass für alle , so folgt, dass sich auf das Geradenstück holomorph fortsetzen lässt und in einer Umgebung von in der Form mit einer holomorphen Funktion geschrieben werden kann. Mit dem Taubersatz von Delange folgt damit bereits
Dabei bezeichnet den Integrallogarithmus. Ein anderer elementarerer Ansatz verwendet die Mangoldt-Funktion und den Taubersatz von Wiener-Ikehara. Eine „schnelle“ Methode stammt von Donald Newman und verwendet die Möbiusfunktion.
Explizite Berechnung der Primzahlfunktion
Aus der unbedingten Konvergenz des Euler-Produktes folgt unmittelbar, dass auf der Halbebene keine Nullstellen besitzt. Ferner gilt dort die Identität woraus Riemann schließlich den für alle gültigen, zahlentheoretisch sehr wichtigen Ausdruck
mittels inverser Mellin-Transformation hervorbringen konnte. Die Summe auf der linken Seite liefert für jede Primzahlpotenz jeweils den Beitrag , kann also mit identifiziert werden. Hierbei bezeichnet die Primzahlfunktion, die zählt, wie viele Primzahlen kleiner als sind. Riemann berechnete das rechte Integral mittels eines Vorläufers des Hadamard-Produktes und fand damit die für nicht-ganze Zahlen gültige explizite Formel
wobei den Integrallogarithmus bezeichnet. Über Möbius-Inversion kann aus der Wert rekonstruiert werden:
Hierbei ist die Möbiusfunktion. Über die nicht-trivialen Nullstellen kann also der Wert der Primzahlfunktion an der Stelle exakt berechnet werden. Insbesondere ist eine vollständige Fehlerkorrektur des Primzahlsatzes möglich. Bezüglich Konvergenz ist zu beachten, dass die Summe über die Nullstellen nach ihrer Konjugation paarweise addiert. Des Weiteren sind die Terme in der Summe als zu verstehen (hier bezeichnet die (komplexe) Integralexponentialfunktion), denn: Verwechslungen können bei der Auswertung von über den Hauptzweig des komplexen Logarithmus entstehen.
Den „reellen Hauptteil“ seiner Formel interpretierte Riemann als bessere Approximation als an . Er hob auch die mögliche Bedeutung der Nullstellen („periodische Glieder“) bei der Entschlüsselung der unregelmäßigen Abstände zwischen Primzahlen hervor:
Die von Riemann angesprochene Funktion
wird heutzutage als Riemannsche R-Funktion bezeichnet und liefert für die ersten Werte eine (stellenweise deutlich) bessere Approximation von als . Da jedoch Littlewood zeigen konnte, dass die Funktion unendlich viele Nullstellen besitzt, kann das nicht für alle der Fall sein. Lediglich denkbar wäre eine „durchschnittlich“ bessere Annäherung im Sinne
für alle (hinreichend großen) , aber das ist bis heute unbekannt.
Die Selberg-Delange-Methode
Bei der Selberg-Delange-Methode handelt es sich um eine Technik, die mittlere Ordnung einer zahlentheoretischen Funktion zu bestimmen, solange ihre erzeugte Dirichlet-Reihe hinreichend gute Eigenschaften besitzt. Hierbei macht man sich komplexe Potenzen der Zeta-Funktion zunutze. Für betrachtet man und findet mit dem Euler-Produkt für alle :
Sei dafür eine Dirichlet-Reihe, die auf der Halbebene konvergiert. Falls sich für ein die Funktion holomorph in eine nullstellenfreie Region von fortsetzen lässt und dort ein gut kontrolliertes Wachstum besitzt, kann die Summe
explizit geschätzt werden. Der Fehler hängt dabei von der Größe des nullstellenfreien Gebietes von ab. Ein Vorteil dieser Methode ist, dass bis auf Konvergenz der Reihe keine wesentlichen Voraussetzungen an die Terme gestellt werden. Nachteilig ist die notwendige Wachstumsbedingung an die Funktion .
Ein Anwendungsbeispiel der Selberg-Delange-Methode ist ein Resultat von Paul Bateman bezüglich der Eulerschen Phi-Funktion. Dieses besagt, dass die Anzahl der natürlichen Zahlen , für die gilt, asymptotisch durch
gegeben ist, wobei eine Konstante ist. Die dafür betrachtete Dirichlet-Reihe hat für die Gestalt
Das Dirichletsche Teilerproblem
Die Lindelöfsche Vermutung ist bereits eine zahlentheoretische Aussage. Sie kann dazu verwendet werden, die Natur von Teilersummen recht detailliert zu beschreiben. Diese Summen sind Gegenstand des Dirichletschen Teilerproblems, das in der klassischen Variante nach der Größenordnung der Summe
fragt, wobei hier die Anzahl der positiven Teiler von bezeichnet. In etwa ist , da die 6 die Teiler 1,2,3 und 6 hat. Bereits Peter Gustav Lejeune Dirichlet zeigte:
mit . Das Teilerproblem fragt nun nach der Natur der Zahlen , die in diese Gleichung eingesetzt werden dürfen. Im Jahr 1922 zeigte J. van der Corput und die Abschätzung wurde von M. N. Huxley im Jahr 2003 angegeben. Auf der anderen Seite zeigten G. H. Hardy und E. Landau, dass gelten muss.
Dieses Problem lässt sich sogar noch verallgemeinern. Dazu definiert man
Während ist und alle Paare mit abzählt (mit anderen Worten die Teiler von ), zählt alle Tupel mit ab.
Mit Hilfe der Potenzmomente der Riemannschen Zeta-Funktion kann die allgemeine Aussage
getroffen werden. Der Term ist durch das Residuum der Funktion an der Stelle 1 gegeben. Hintergrund dieses Zusammenhangs ist, dass die Dirichlet-Reihe der Funktion durch die erzeugt wird.
Falls nun aber die Lindelöfsche Vermutung wahr ist, und nur dann, kann dieser Fehler für alle durch für alle ersetzt werden.
Aus mit einem Polynom vierten Grades folgt beispielsweise
Produktkompositionen
Eine Produktkomposition der natürlichen Zahl ist von der Form mit natürlichen Zahlen . Bezeichnet die Anzahl aller Produktkompositionen (die Reihenfolge der Faktoren spiele eine Rolle) von , so gilt für Zahlen mit hinreichend großem Realteil, wenn man fordert,
Dies wurde von László Kalmár genutzt, die folgende asymptotische, für jedes gültige, Formel zu entwickeln:
Dabei ist die einzige Lösung der Gleichung im Intervall . Diese wird heutzutage auch als Kalmársche Kompositionskonstante bezeichnet. Kalmár selbst gab die Abschätzung . Inzwischen wurden die Ergebnisse weiter verfeinert.
Bestimmung der mittleren Ordnung zahlentheoretischer Funktionen über Taubersätze
Taubersätze für Dirichlet-Reihen mit gelten bereits unter recht schwachen Voraussetzungen. So lassen sich Wachstumsformeln für summatorische Funktionen
bereits daraus ableiten, dass die zugehörigen Dirichlet-Reihen auf einer Halbebene konvergieren, an der Stelle einen singulären Punkt haben (d. h., dass sich die durch die Dirichlet-Reihe dargestellte holomorphe Funktion für keine offene Menge holomorph nach fortsetzen lässt) und sich ansonsten von rechts holomorph auf die Gerade fortsetzen lassen. Kompositionen der Riemannschen Zeta-Funktionen erfüllen sehr oft diese Bedingungen.
So folgt aus für reellwertige bereits
Für die Phi-Funktion ergibt sich mit
Gutes Werkzeug zur Herleitung dieser Identitäten ist der Taubersatz von Delange. Für den Fall, dass die betrachtete zahlentheoretische Funktion gerade Indikatorfunktion einer Teilmenge ist, geben Taubersätze Auskunft über deren asymptotische Dichte. Der Primzahlsatz, der den Fall (Menge der Primzahlen) behandelt, ist ein solches Dichteresultat.
Quaternionen und Oktaven
Über das Cayley-Dickson-Verfahren kann man aus den Quaternionen und Oktaven Dirichlet-Reihen bestimmen, welche die Quadratsummen-Funktion bzw. beinhalten, nämlich
und auch
Daraus folgt unter anderem unmittelbar der Vier-Quadrate-Satz und der Satz von Jacobi.
Zusammenhänge zu elliptischen Kurven und kongruenten Dreiecken
Die (globale) Hasse-Weil -Funktion einer elliptischen Kurve über hat die Gestalt
wobei die lokalen Zeta-Funktionen zu bezeichnen.
Ein Dreieck wird als kongruent bezeichnet, falls es rechtwinklig ist, ausschließlich rationale Seitenlängen und einen ganzzahligen Flächeninhalt besitzt. Die Zahl wird entsprechend als kongruente Zahl bezeichnet. Eine Zahl ist genau dann eine kongruente Zahl, falls die zugehörige elliptische Kurve unendlich viele rationale Punkte besitzt. Gilt die schwache Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer, ist dies genau dann der Fall, falls . Unter dieser Voraussetzung kodiert die oben definierte Hasse-Weil -Funktion die geometrischen Eigenschaften der Zahlen bezüglich Kongruenz.
Verallgemeinerungen
In dem Wunsch, die Definition der Riemannschen Zeta-Funktion zu verallgemeinern oder zu variieren, wurden zahlreiche verwandte Funktionen eingeführt und untersucht. Häufig tragen diese ebenfalls den Namen „Zeta-Funktion“, verbunden mit dem Namen ihres „Entdeckers“. Vorweg sei vor diesem Hintergrund auch auf die Liste von Zeta-Funktionen verwiesen.
Dirichletsche L-Funktionen
Die Riemannsche Zeta-Funktion ist eine spezielle Dirichletsche L-Funktion. Dabei wird zunächst einem Dirichlet-Charakter (einer periodischen, streng multiplikativen zahlentheoretischen Funktion) eine Dirichlet-Reihe mit Euler-Produkt zugeordnet via
Erneut ist diese Darstellung nur für Werte gültig, und die Funktionen lassen sich analytisch auf ganz fortsetzen, wobei in ein Pol erster Ordnung im Falle eines Hauptcharakters, d. h., nimmt an allen Stellen ungleich Null bloß den Wert 1 an, und ansonsten eine hebbare Singularität vorliegt. In letzterem Fall dehnt sich sogar zu einer ganzen Funktion aus. Die verallgemeinerte Riemannsche Vermutung besagt nun, dass alle (nichttrivialen) Nullstellen von im Streifen den Realteil haben. Die Riemannsche Zeta-Funktion entspricht damit der Dirichletschen L-Funktion zum trivialen Charakter, der stets den Wert 1 annimmt. Aus der verallgemeinerten Riemannschen Vermutung folgt somit die Riemannsche Vermutung mit als Spezialfall.
Hurwitzsche und Lerchsche Zeta-Funktion
Definiert wird die Hurwitzsche Zeta-Funktion für und durch
Für festes besitzt sie eine analytische Fortsetzung auf mit einem einfachen Pol in . Für gilt nun:
Mit Hilfe der Hurwitzschen Zeta-Funktion lassen sich die Riemannsche Zeta-Funktion und die Dirichletschen L-Funktionen einheitlich behandeln. Dies ist vor allen Dingen bezüglich deren verallgemeinerter Funktionalgleichung von Nutzen.
Sogar noch allgemeiner als die Hurwitzsche Zeta-Funktion ist die Lerchsche Zeta-Funktion, welche für , und gegeben ist durch
Es gilt dann
Die weitreichende Definition der Lerchschen Zeta-Funktion gestattet nicht nur Spezialisierungen zur Hurwitzschen und somit auch zur Riemannschen Zeta-Funktion, sondern beinhaltet noch viele andere wichtige Funktionen als Spezialfälle. Ähnlich definierte „verallgemeinerte Zeta-Funktionen“ werden auch in der theoretischen Physik verwendet, und zwar im Zusammenhang mit der systematischen sogenannten semiklassischen Näherung quantenmechanischer Resultate.
Dedekindsche Zeta-Funktion zu Zahlkörpern
Die Dedekindsche Zeta-Funktion eines Zahlkörpers verallgemeinert die Riemannsche Zeta-Funktion. Dabei befasst sich mit der „Primfaktorzerlegung“ im Ganzheitsring von . Der Ring ist die Menge aller Elemente , die Lösung einer Polynomgleichung mit ganzen Zahlen sind. Zum Beispiel ist und . Die Frage, ob es allgemein in eine eindeutige Zerlegung in Primelemente gibt, ist von zahlentheoretischer Relevanz und ihre Antwort lautet im Allgemeinen „Nein“. So sind die Zahlen zwar alle prim und paarweise verschieden in , jedoch gilt
Um Eindeutigkeit wieder herzustellen, wird auf die Ideale von übergegangen. Vor diesem Hintergrund entwickelte Ernst Eduard Kummer die Idee der „idealen Zahlen“, die jedoch als überholt gilt. Es kann gezeigt werden, dass jedes nicht-triviale ganze Ideal eine eindeutige multiplikative Zerlegung in Primideale besitzt. Dies ermöglicht schließlich die Definition einer Zeta-Funktion
die in ein Euler-Produkt über die Primideale zerfällt:
Hierbei bezeichnet die natürliche Zahl die Norm des Ideals (ein Maß für seine „Dichte“ in ).
Die Funktion besitzt eine holomorphe Fortsetzung nach , hat einen Pol erster Ordnung in und erfüllt eine Funktionalgleichung. Sie besitzt große zahlentheoretische Relevanz, da sie einerseits das Konzept der Riemannschen Vermutung auf Zahlkörper ausweitet, andererseits in der Klassenzahlformel kodiert, „wie stark“ die Primfaktorzerlegung in von der Eindeutigkeit abweicht. Dieses Maß ist auch als Klassenzahl bekannt.
Der Zahlkörper der rationalen Zahlen
Im Falle ist die Dedekindsche Zeta-Funktion gerade die Riemannsche Zeta-Funktion. Insbesondere hängt diese mit den Primelementen in deren Ganzheitsring zusammen.
Quadratische Zahlkörper
Ist eine quadratische Erweiterung von mit Diskriminante , so gibt es einen Dirichlet-Charakter modulo , sodass
wobei die zu gehörige Dirichletsche L-Funktion bezeichnet.
Ein wichtiger Spezialfall ist . Die dazu korrespondierende Zeta-Funktion ist gegeben durch
wobei die Dirichletsche Betafunktion zum Charakter modulo 4 korrespondiert. Daraus ergibt sich direkt die folgende Identität für die Dirichlet-Reihe der Quadratsummen-Funktion :
Über einen Koeffizientenvergleich kann man damit auf eine geschlossene Formel für die schließen. Dies liefert unter anderem einen analytischen Beweis dafür, dass eine Primzahl genau dann Summe zweier Quadrate ist, also , wenn
Kreisteilungskörper
Ist der Körper der -ten Einheitswurzeln, auch genannt Kreisteilungskörper, dann gilt
Das Produkt durchläuft hierbei alle primitiven Charaktere modulo sodass mit Ausnahme des trivialen Charakters , der nur den Wert 1 annimmt. Da sowohl als auch einfache Pole bei besitzen, folgt, dass gilt für alle Charaktere. Eine Konsequenz dieser Aussage ist der Dirichletsche Primzahlsatz.
Abelsche Erweiterungen
Im Falle, dass eine Abelsche Erweiterung ist, ist der Quotient eine ganze Funktion. D. h. gewissermaßen, dass die Riemannsche Zeta-Funktion in diesem Falle ein „Teiler von “ ist (Satz von Aramata-Brauer). Dass dies auch für nicht-abelsche Erweiterungen richtig ist, ist Gegenstand tiefer zahlentheoretischer Vermutungen, zum Beispiel der Dedekindschen Vermutung oder der Artinschen Vermutung.
Arithmetische Zeta-Funktionen
Die Zeta-Funktion eines Schemas (von endlichem Typ über den ganzen Zahlen) ist definiert durch das Euler-Produkt
Das Produkt durchläuft hierbei alle abgeschlossenen Punkte des Schemas, also jene, deren zugehöriger Restklassenkörper endlich ist. bezeichnet die Anzahl der Elemente dieses Körpers. Dem affinen Schema zugehörig ist dann die Riemannsche Zeta-Funktion.
Zusammenhänge zur Theorie der automorphen Formen
In der Theorie der für die Zahlentheorie wichtigen Modulformen taucht die Riemannsche Zeta-Funktion an einigen Stellen auf.
L-Funktionen zu Eisensteinreihen
Für die Gewichte werden die normierten Eisensteinreihen zur vollen Modulgruppe wie folgt definiert:
Bei letzterem Ausdruck handelt es sich um eine Darstellung als Fourierreihe. Diese ist charakteristisch für Modulformen. Aufgrund der Normierung mittels des Faktors hat diese nun ausschließlich rationale Koeffizienten. Das wird in der Zahlentheorie u. a. dazu benutzt, ganzzahlige Identitäten zwischen Teilerfunktionen zu beweisen. Wegen ihrer Beziehung zu Teilerfunktionen (die Koeffizienten der zu den gehörigen Fourierreihen) sind die zu gehörigen L-Funktionen. Dieses Prinzip verallgemeinert sich für Eisensteinreihen zu Kongruenzuntergruppen. Hier hängen die konstanten Koeffizienten mit Werten von L-Funktionen zu Dirichlet-Charakteren zusammen.
1987 konnte Frits Beukers die Irrationalität von mit Hilfe der Theorie der Eisensteinreihen beweisen. Dafür betrachtete er die Funktion
die eine Modulform zum Gewicht 4 für die Kongruenzuntergruppe ist. Die zu diesem korrespondierende L-Funktion ist dann
Das Argument bezieht sich letztlich auf eine Technik, die Konvergenzradien von Umkehrfunktionen lokal injektiver, meromorpher Funktionen ausnutzt. Mit der gleichen Methode lassen sich auch und zeigen, wobei der Charakter das Legendre-Symbol modulo 5 ist. Die Techniken lassen sich jedoch laut Beukers selbst höchstwahrscheinlich nicht auf die Fälle übertragen, geben jedoch Einblick in algebraisch geometrische und modulare Interpretationen der Apery-Zahlen.
Beziehung zu nicht-holomorphen Eisensteinreihen
Für komplexe Zahlen mit und mit konvergiert die Eisensteinreihe
absolut. Die dadurch definierte Funktion ist nicht-holomorph und zudem (für fixierte ) invariant in unter Wirkung der vollen Modulgruppe. Zudem lässt sie sich (für fixierte ) in meromorph in die gesamte Ebene fortsetzen mit einfachen Polen in und , es gilt die Funktionalgleichung
Diese Parallele zur Theorie der Zeta-Funktion lässt bereits einen Zusammenhang vermuten. Es gilt die Darstellung
wobei die Untergruppe der Translationen von bezeichnet. Betrachtet man zudem die Fourierentwicklung
so gilt
Nicht-holomorphe Eisensteinreihen, und damit auch die Zeta-Funktion selbst, spielen eine fundamentale Rolle bei der sogenannten Rankin-Selberg-Methode, die sich als mächtiges Werkzeug bei Untersuchungen im Rahmen des Langlands-Programms herauskristallisiert hat.
Beziehung zur Jacobischen Theta-Funktion
Eine sehr wichtige Eigenschaft der Riemannschen Zeta-Funktion ist ihre Funktionalgleichung. Diese drückt sich am einfachsten über
aus und es ist zu bemerken, dass auf der rechten Seite erstaunlicherweise die komplexe Variable einfach durch ersetzt wird.
Es gibt mehrere Herleitungsvarianten zum Auffinden dieser Gleichung. Zwei verschiedene zeigte bereits Riemann. Eine davon schließt einen einfachen Spezialfall der Jacobischen Theta-Funktion
direkt mit ein. Von Vorteil ist die Modifizierung , es gilt . Die Theta-Funktion ist dabei eine Modulform halbganzen Gewichts: Mit der Poissonschen Summenformel fand bereits Jacobi die Identität , woraus sofort folgt.
Ausgangspunkt ist die Integraldarstellung
Der folgende Trick ist eine Standardumformung beim Beweis des Heckeschen Umkehrsatzes. Durch eine Aufspaltung des Integrals in die Intervalle und , wobei in letzteres die Substitution vorgenommen wird, folgt:
Das zweite Integral kann elementar berechnet werden:
Wie man leicht erkennt, ist die rechte Seite unter der Abbildung unverändert, woraus schon die Funktionalgleichung folgt. Diese Argumentation ist gerechtfertigt, weil das Integral auf der rechten Seite nun für alle existiert.
Auftreten in der Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und probabilistischen Zahlentheorie
Teilerfremde Tupel
Auch einige Wahrscheinlichkeitsgesetze aus der Zahlentheorie stehen in engem Zusammenhang zu der Zeta-Funktion. Ein Satz von Ernesto Cesàro besagt, dass die asymptotische Dichte von Paaren ganzer Zahlen, die teilerfremd sind, gleich
()
ist, d. h., der Anteil solcher Paare in einem Intervall ganzer Zahlen konvergiert gegen , wenn gegen geht. Dasselbe gilt für die asymptotische Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällig gewählte Zahl quadratfrei ist.
Allgemeiner ist die asymptotische Wahrscheinlichkeit, dass positive ganze Zahlen keine -te Potenz größer 1 als gemeinsamen Teiler haben.
Beziehungen zur Theorie der Zufallsmatrizen
Im Jahr 1972 beschrieb der Mathematiker Hugh Montgomery am Princeton Institute for Advanced Studies während einer Teepause einem Kollegen, dem Quantenphysiker Freeman Dyson, sein Modell für die Paarkorrelation von Nullstellen der Zeta-Funktion. Unter Annahme der Riemannschen Vermutung lassen sich die nicht-trivialen Nullstellen mit reellen schreiben. Im Folgenden wird die Normalisierung
betrachtet. Zusammen mit erhält man Als weiteres Vorgehen kann für Zahlen die Paarkorrelation
und allgemeiner der lineare Operator für Funktionen
studiert werden. Der folgende Satz von Montgomery, unter Annahme der Riemannschen Vermutung bewiesen, klassifiziert das asymptotische Verhalten der für eine weite Klasse von Funktionen : Hat die Fourier-Transformation von kompakten Träger mit , so folgt
Dyson, einer der Gründer der Theorie der Zufallsmatrizen, erkannte sogleich einen Zusammenhang. Sind nämlich mit die Eigenwerte eines Elementes der unitären Gruppe und wird gesetzt, so folgt wie oben
Hierbei bezeichnet das Haar-Maß auf . Die Ähnlichkeit beider Formeln deutet auf eine starke Verbindung der Theorie der Zeta-Funktion zur Theorie unitärer Zufallsmatrizen hin. Diese Verbindung wird durch das sog. Polya-Hilbert-Programm unterstrichen: lassen sich die Werte aller nicht-trivialer Nullstellen als Eigenwerte eines (selbstadjungierten) Hamilton-Operators schreiben, folgt die Riemannsche Vermutung.
Vermutung von Keating-Snaith
Keating und Snaith haben eine Vermutung über das asymptotische Wachstum der Potenzmomente der Zeta-Funktion formuliert. Diese sagt aus, dass für alle
gilt:
mit dem arithmetischen Faktor
und dem Matrizen-Faktor
Um den Weg bis zu dieser Vermutung und deren Bezug zur Statistik zu verstehen, ist das folgende sehr heuristische Argument hilfreich. Geht man davon aus, dass alle Primzahlen „unabhängig verteilt“ sind, so folgt mittels Euler-Produkt für den Erwartungswert (bezüglich des Lebesgue-Maßes auf )
und daraus gewinnt man letztlich die von Keating und Snaith gegebenen Terme, wobei der Matrizen-Faktor nur ein Korrekturterm innerhalb dieses „Unabhängigkeitsmodells“ ist.
Algorithmen zur schnellen numerischen Berechnung
Für eine schnelle numerische Berechnung der Funktion sind viele klassische Darstellungsformen unbrauchbar. Dazu zählen etwa im Besonderen die Dirichlet-Reihe, das Euler-Produkt, die Darstellung als Mellin-Transformation und das Hadamard-Produkt. Für effiziente Leistung ist ein endlicher approximativer Summenausdruck mit hoher Konvergenzgeschwindigkeit am geeignetsten. Als gute und historisch betrachtet früh verwendete Methode erweist sich die „abgebrochene“ Summenformel, die mit Hilfe der Euler-Maclaurin-Summenformel gewonnen wird. Generell wird zunächst eine beliebige natürliche Zahl festgelegt, für die außerdem gelten sollte. Es gilt dann:
Dabei gilt für das Restglied
Bei der (freien) Wahl von ist außerdem zu beachten, dass das Restglied nur auf der Halbebene konvergiert. Daher muss stets gelten. Für größer werdende Werte von verkleinert sich der Fehler demnach rapide. Durch Anwendung der Funktionalgleichung (eine schnelle Berechnung der Gamma-Funktion und der Exponentialfunktion ist leicht zu implementieren), kann zudem ohne Einschränkung angenommen werden. Hier ist die Summenformel deutlich schneller. Ein Nachteil dieser Methode ist aber, dass sie für wachsende Imaginärteile an Effizienz einbüßt.
Ein Verfahren mittels abgebrochener alternierender Reihen stammt von Peter Borwein.
Viele Methoden verlieren jedoch an Präzision, wenn der Imaginärteil des Arguments sehr groß gewählt wird, was bei der Nullstellensuche entlang der kritischen Geraden problematisch ist. Daher greift man hier auf andere Methoden zurück, eine davon ist die Riemann-Siegel-Formel. Im Jahr 1988 entwickelten A. M. Odlyzko und A. Schönhage ein sehr schnelles Verfahren, um Werte der Riemannschen Zeta-Funktion auf der kritischen Geraden zu bestimmen. Es wird als Verfahren von Odlyzko und Schönhage bezeichnet. Dieses basiert auf den Ideen der Riemann-Siegel-Formel, benötigt jedoch nur noch anstatt Rechenoperationen, wobei beliebig klein gewählt werden kann. Die Verfeinerung der Rechentechniken basiert auf der schnellen Fouriertransformation.
Ableitung
In den vergangenen Jahrzehnten wurde auch immer verstärkter über die Eigenschaften der Ableitung geforscht.
Die Funktion besitzt eine holomorphe Fortsetzung auf ganz mit einem Pol zweiter Ordnung in . Auch sie erfüllt eine Funktionalgleichung, welche sich durch beidseitiges Ableiten der gewöhnlichen Funktionalgleichung der Zeta-Funktion ergibt.
Zwar besitzt die Ableitung keine Darstellung als ein Euler-Produkt, jedoch gibt es auch hier Zusammenhänge zu den Primzahlen. Eine solche Formel lässt sich mittels logarithmischer Ableitung gewinnen, also über die Identität
Setzt man hier
für die -te Primzahl, ergibt sich
Auch für die Ableitung sind die Nullstellen von zahlentheoretischem Interesse. So ist die Aussage im Streifen äquivalent zur Riemannschen Vermutung. Die reellen Nullstellen im negativen Bereich sind asymptotisch gegeben durch
Dabei ist , und .
Für alle negativen ganzen Zahlen erhält man über die Funktionalgleichung
Andere Werte sind
wobei hier die Glaisher-Kinkelin-Konstante bezeichnet.
In Kunst und Kultur
Im Film Die Poesie des Unendlichen ist im Büro von Godfrey Harold Hardy im Hintergrund auf einer Tafel die Euler-Produkt-Entwicklung der Riemannschen Zeta-Funktion angeschrieben.
In Neal Stephensons Roman Cryptonomicon wird die Riemannsche Zeta-Funktion mehrfach in Zusammenhang mit den fiktiven Kryptocodes Azure, Pufferfish und Arethusa erwähnt.
Siehe auch
Riemann-Siegelsche Theta-Funktion
Vielfach-Zetafunktion
Literatur
Zur Mathematik
Die Fachliteratur zur Mathematik der Riemannschen Zetafunktion wurde zu einem großen Teil in englischer Sprache verfasst. Es existiert vergleichsweise wenig deutschsprachige Fachliteratur zu diesem Thema. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Riemannscher Zeta-Funktion, Riemannscher Vermutung, Primzahlen und Primzahlsatz behandelt Fachliteratur zu einem der drei zuletzt genannten Themen häufig auch die Riemannsche Zeta-Funktion. Lehrbücher zur analytischen Zahlentheorie enthalten in der Regel eine Darstellung der Riemannschen Zeta-Funktion. Mitunter gilt dies sogar für Lehrbücher zur algebraischen Zahlentheorie.
Zur Geschichte
Weblinks
Deutschsprachige Weblinks:
Otto Forster: Riemannsche Zetafunktion. Website zur Vorlesung von Otto Forster im Wintersemester 2008/09 am Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München, enthält Links zu den einzelnen Kapiteln seines Vorlesungsskripts (PDF-Dokumente).
Bernhard Schiekel: Zeta-Funktionen in der Physik – eine Einführung. doi:10.18725/OPARU-4418. Umfangreiches Skript über das Auftreten von Zetafunktionen in der Physik, 2011.
Englischsprachige Weblinks:
Tom Apostol: Zeta and Related Functions. Kapitel 25 der Digital Library of Mathematical Functions (Digitale Bibliothek mathematischer Funktionen) des US-amerikanischen National Institute of Standards and Technology (Nationales Institut für Standards und Technologie).
Enrico Bombieri: Problems of the Millennium: The Riemann Hypothesis. (PDF; 194 kB). Offizielle Problembeschreibung des Clay Mathematics Institute bzgl. der Riemannschen Vermutung, eines der sieben Millennium-Probleme.
Xavier Gourdon, Pascal Sebah: The Riemann Zeta-function. (PDF; 68 kB). Definition der Riemannschen Zetafunktion, 2003.
Xavier Gourdon, Pascal Sebah: The Riemann Zeta-function: Generalities. (PDF; 97 kB). Allgemeine Eigenschaften, 2004.
Xavier Gourdon, Pascal Sebah: Numerical Evaluation of the Riemann Zeta-function. (PDF; 162 kB). Numerische Berechnungen, 2003.
Xavier Gourdon, Pascal Sebah: Distribution of the zeros of the Riemann Zeta function. (PDF; 112 kB). Verteilung der Nullstellen, 2004.
Mathematische Fachartikel:
P. Cerone: Bounds for Zeta and Related Functions. (PDF;248 kB). Journal of Inequalities in Pure and Applied Mathematics, Band 6, Nr. 5, 2005 (enthält Abschätzungen der Zetafunktion für ungerade ).
Einzelnachweise
Analytische Zahlentheorie
Funktionentheorie
Analytische Funktion
Bernhard Riemann als Namensgeber |
668682 | https://de.wikipedia.org/wiki/Das%20Messer%20im%20Wasser | Das Messer im Wasser | Das Messer im Wasser (Originaltitel: Nóż w wodzie) ist ein polnisches Filmdrama von Roman Polański aus dem Jahr 1962. In diesem Beziehungsdrama mit Elementen des Psychothrillers wird der Segelausflug eines Paares durch das Auftauchen eines jungen Herumtreibers zur Zerreißprobe für deren Beziehung.
Das Messer im Wasser ist Polańskis erster abendfüllender Spielfilm und gilt als Startpunkt seiner internationalen Karriere. Der Film gewann unter anderem den Kritikerpreis bei den Filmfestspielen von Venedig und wurde für einen Oscar als Bester fremdsprachiger Film nominiert.
Handlung
Andrzej, ein erfolgreicher Sportjournalist, und seine junge Frau Krystyna fahren mit dem Auto aufs Land, um ein Wochenende auf ihrem Segelboot an einem See der Masurischen Seenplatte zu verbringen. Sie nehmen unterwegs einen jungen Anhalter mit und laden ihn ein, sie auf ihrem Ausflug zu begleiten. Im Laufe des Tages entwickeln sich verbale Machtkämpfe zwischen dem bürgerlichen Andrzej und dem rebellischen, freiheitsliebenden jungen Mann. Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder das bedrohlich wirkende Messer, mit dem der Junge spielt. Die beiden Männer, in Konkurrenz um die Gunst Krystynas stehend, messen ihre Kräfte auf verschiedene Arten, doch keiner kann einen klaren Sieg erlangen.
Nach einer Nacht vor Anker ertappt Andrzej seine Frau und den Jungen früh morgens bei einem vertraulichen Gespräch an Deck. Bei einem Handgemenge zwischen den Männern geht erst das wohlgehütete Messer des jungen Mannes über Bord, dann der Junge selbst. Da er zuvor angegeben hatte, nicht schwimmen zu können, befürchtet das Paar, er sei ertrunken. Sie tauchen nach ihm, und Andrzej schwimmt ans Ufer, angeblich um die Polizei zu informieren. Der junge Mann ist jedoch nicht ertrunken, sondern klammert sich unbemerkt an einer Boje fest. Sobald er feststellt, dass Krystyna allein an Bord ist, kehrt er zurück auf das Boot. Er und Krystyna schlafen miteinander. Der Junge verlässt das Boot, bevor Krystyna es an Land bringt, wo Andrzej auf sie wartet. Andrzej hatte gezögert, die Polizei zu informieren. Krystyna eröffnet ihrem Mann, dass der Junge nicht tot sei, und gesteht den Ehebruch, doch Andrzej gibt an, ihr nicht zu glauben. Das Paar tritt die Heimreise an. An einer Weggabelung, deren eine Richtung nach Hause, die andere zur Polizei führt, stoppen sie.
Entstehungsgeschichte
Drehbuch und Vorproduktion
Polański hatte das Szenario zu Das Messer im Wasser bereits im Rahmen seiner Abschlussarbeit an der Filmhochschule Lodz 1959 zusammen mit Jakub Goldberg und Jerzy Skolimowski entworfen. Orr vermutet, dass Orson Welles’ Die Lady von Shanghai (1946) und René Cléments Plein Soleil (1960) während des Entstehungsprozesses als Inspiration für die Dynamik der Dreiecksgeschichte und für das Setting gedient haben könnten. Polański berichtete 1969 über die Entstehung seiner Idee zu Das Messer im Wasser: „Meine ersten Gedanken zu diesem Film, bevor es überhaupt eine Geschichte dazu gab, bezogen sich auf die Landschaft, insbesondere auf das Wasser in dieser Gegend Polens, wo diese ganzen Seen sind.“ Er hob besonders den Einfluss des damaligen Filmstudenten Skolimowski hervor, der hinzukam, als die Arbeit mit Goldberg stockte. Skolimowski brachte unter anderem die Idee ein, den Film, anstatt an einigen Tagen, an nur einem einzigen Tag spielen zu lassen. Nach Skolimowskis Angaben überprüften sie beim Schreiben des Drehbuchs jedes Wort, um die Dialoge möglichst minimalistisch und kurz zu halten.
1961 signalisierte Jerzy Bossak, der künstlerische Leiter der staatlich finanzierten Filmgesellschaft Produktionsgruppe Kamera, dass das politische Klima in Polen nun geeignet sei, das Projekt zu verwirklichen. Der zum Dreh seiner experimentellen Kurzfilme in Paris weilende Polański reiste nach Polen und bekam durch ein Komitee des Kultusministeriums die Erlaubnis, innerhalb von zwei Wochen ein Drehbuch zur Genehmigung vorzulegen. Zusammen mit Skolimowski erarbeitete Polański innerhalb kürzester Zeit ein drehfertiges Skript, wobei Skolimowski, gemäß Feeney „der ideale Partner für die Findung einer präzisen, minimalen Sprache“, für die Ausarbeitung der Dialoge zuständig war. Nachdem Polański den Vorwurf des Komitees der „gesellschaftlichen Irrelevanz“ des Drehbuchs durch das Einfügen eines „sozial bewussten Dialogs“, den er ironischerweise in die Liebesszene von Krystyna und dem Jungen einbaute, entkräftet hatte, bekam das Projekt grünes Licht.
Polański wollte ursprünglich den Jungen selbst spielen, doch Freunde rieten ihm davon ab mit der Begründung, es würde zu eitel aussehen, wenn Polański Regisseur, Drehbuchautor und Darsteller in Personalunion wäre. Seine Darsteller fand Polański in dem routinierten Film- und Bühnendarsteller Leon Niemczyk und dem noch wenig erfahrenen Schauspielschüler Zygmunt Malanowicz. Jolanta Umecka (* 1937) war eine Musikstudentin gänzlich ohne Schauspielerfahrung, die Polański in einem Schwimmbad entdeckt hatte. Sie verkörperte für Polański den idealen Kontrast zwischen Unscheinbarkeit in bekleidetem Zustand und einer reizvollen sexuellen Ausstrahlung, sobald man sie weniger verhüllt in Badebekleidung sah.
Produktion und Nachproduktion
Die Dreharbeiten fanden vom Sommer bis zum Herbst 1961 um Gizycko (Lötzen) in Masuren statt. Das Filmteam wohnte gemeinsam auf einem Hausboot. Polański nennt Das Messer im Wasser einen „teuflisch schwierig zu realisierenden Film“. Da auf einem echten Segelboot gedreht wurde, das kaum genug Platz für die drei Darsteller bot, musste das Filmteam über die Reling gelehnt und mit Gurten gesichert arbeiten, wobei ein Generatorboot für die Versorgung der technischen Geräte immer im gleichen Abstand neben dem Segelboot manövrieren musste. Die sich schnell ändernden Licht- und Schattenverhältnisse sowie der sich rasch verändernde Wolkenhimmel ließen die Befürchtung aufkommen, später beim Filmschnitt erhebliche Schwierigkeiten mit Anschlussfehlern zu bekommen.
Auch die Arbeit mit den Schauspielern gestaltete sich schwierig. Während Niemczyk als Profi einfach zu führen war, musste Polański für Malanowicz atmosphärische Situationen aufbauen, in die sich der bekennende Method Actor hineinsteigern konnte, um überzeugende Leistungen abzuliefern. Am schwierigsten war der Umgang mit Umecka. Die sich überwiegend passiv verhaltende junge Frau wurde für Polański und sein Team zur „Manifestation einer wahren Ausgeburt emotionaler Trägheit“ und konnte nur mit massiven Mitteln wie verbalen Provokationen oder dem Abfeuern einer Signalpistole dazu angeregt werden, schauspielerische Reaktion zu zeigen. Polański vertritt außerdem die Ansicht, sie habe während der Dreharbeiten massiv an Gewicht zugelegt und einer heimlichen Fresssucht gefrönt.
Auch der Besuch eines Reporters der Filmzeitschrift Ekran am Set bereitete dem Projekt Schwierigkeiten. Er prangerte in seinem Blatt das angeblich extravagante Leben des Filmteams und die in seinen Augen verschwenderische Ausstattung des Films an. Polański sah sich gezwungen, statt eines Mercedes’ nun einen Peugeot als Auto des Paares einzusetzen, und musste etliche Szenen nachdrehen. Ironischerweise fuhren sowohl der Reporter als auch ein hochrangiger Beamter bei ihren Besuchen der Produktion selbst einen Mercedes – das Filmteam mutmaßte daher, dass eher die Treffsicherheit der Anspielungen im Film an eine privilegiert lebende Elite, die sich in der kommunistischen Volksrepublik Polen etabliert hatte, der Grund für den Ärger waren. Während der Dreharbeiten hatte der Regisseur zudem einige Schicksalsschläge zu verkraften: Bei einem Autounfall trug er Verletzungen davon, die ihn für drei Wochen ins Krankenhaus brachten. Seine Frau Barbara Kwiatkowska eröffnete ihm telefonisch aus Rom das Ende ihrer
Ehe. Zudem starb Polańskis Freund und Mentor Andrzej Munk bei einem Autounfall.
Nach zehn Wochen waren die Dreharbeiten beendet. Es stellte sich heraus, dass der aufgenommene Originalton unbrauchbar war. Nur Niemczyk synchronisierte seine Figur selbst nach, während Umeckas Rolle von einer professionellen Schauspielerin nachgesprochen wurde. Den jungen Mann sprach Polański selbst ein. Die deutsche Synchronfassung für den Film entstand 1963 in München unter Synchronregie von Manfred R. Köhler, der auch das Dialogbuch verfasste. Alf Marholm sprach Andrzej und Thomas Braut den jungen Anhalter, die Sprecherin der Frau ist unbekannt.
Rezeption
Veröffentlichung und zeitgenössische Kritik
Bei einer privaten Vorführung des fertig geschnittenen Films lehnte ihn PVAP-Parteichef Władysław Gomułka als „gesellschaftlichen Zündstoff“ ab. Der Film sei „weder typisch noch relevant für Polen als Ganzes“. Die Produktionsgesellschaft Film Polski sah sich gezwungen, den Film nicht mit einer Galapremiere zu eröffnen, sondern lediglich in einigen kleinen Kinos zu starten. Die Filmpremiere war am 9. März 1962. Eine kommunistische Jugendzeitschrift kam zu einem vernichtenden Fazit: „Nichts rührt besonders an. Der Regisseur weiß über den zeitgenössischen Menschen nichts von Interesse auszusagen, und wir identifizieren uns mit keiner seiner Figuren.“
Der Filmunternehmer Pierre Braunberger hatte inzwischen die internationalen Veröffentlichungsrechte für 10.000 Dollar von Film Polski erworben. In der Bundesrepublik startete der Film am 18. Juni 1963, wogegen er in der DDR erst am 26. Februar 1965 in die Kinos kam. Bei seiner Veröffentlichung in westlichen Ländern wurde der Film zum Überraschungserfolg und rief wohlwollende bis begeisterte Kritiken hervor. Felix Barker von der Londoner Evening News etwa schrieb, Das Messer im Wasser sei „ein Film vollkommener Brillanz“. Arthur Dent vom Daily Telegraph urteilte, der Film sei „mit blendender Intimität inszeniert und gespielt“. Dilys Powell von der Sunday Times resümierte: „Der Regisseur ist Roman Polanski, ein Name, der uns wohl sehr vertraut werden wird, wenn man in Betracht zieht, was er mit seinem ersten Film erreicht hat.“ Peter John Dyer von Sight & Sound zog im Winter 1962 große Namen zum Vergleich heran: „Das Schlussbild […] impliziert eine Art erstarrter Mutlosigkeit, für die man normalerweise einen Bergman oder Antonioni braucht, um sie filmisch zu erreichen.“
Auszeichnungen
Das Messer im Wasser gewann 1962 den FIPRESCI-Preis bei den Filmfestspielen in Venedig. Bei der Oscarverleihung 1964 war er als Bester fremdsprachiger Film nominiert, verlor jedoch gegen Fellinis 8½. Bei den British Film Academy Awards 1964 war er in der Kategorie bester Film nominiert.
Nachwirkung
Polański erregte mit seinem Erstlingswerk sowohl in Europa als auch in den USA Aufmerksamkeit, wo es ein Szenenbild aus Das Messer im Wasser auf das Cover des Time Magazine schaffte. Der Film war für ihn der Startpunkt seiner internationalen Karriere und zeichnete bereits die Themen seiner großen Erfolge vor: die psychologisch genaue Zeichnung der Figuren, die Untersuchung von gesellschaftlichen Abhängigkeiten und von gegenseitigen Abhängigkeiten in Beziehungen. Diese, so Heer, „psychologische Vivisektion“ zieht sich durch weite Teile seines Werkes. In Das Messer im Wasser etabliert Polański den Prototyp einer psychologischen Dreiecksgeschichte, die er später immer wieder variiert. Mark Cousins stellt fest, Das Messer im Wasser, Wenn Katelbach kommt…, Bitter Moon und Der Tod und das Mädchen seien „alles Versionen derselben Geschichte, nämlich der eines Paares, das sich durch die Anwesenheit einer dritten Person, die ihm zu nahe kommt, unwohl fühlt“.
Für den polnischen Film insgesamt war Das Messer im Wasser zusammen mit Filmen wie Jerzy Kawalerowiczs Mutter Johanna von den Engeln (1961) oder Jerzy Skolimowskis Walkover (1965) Teil einer Wende weg von der oft monumentalen Aufarbeitung der eigenen Geschichte hin zu privateren und intimeren Themen. Andrzej Wajda bestätigt: „Polanskis ‚Das Messer im Wasser‘ war der Beginn des neuen polnischen Kinos.“ Polański selbst blieb dem polnischen Kino hingegen nicht erhalten, er verließ Polen 1963 in Richtung Frankreich, wozu ihn unter anderem die polemischen Kampagnen gegen Das Messer im Wasser und ihn persönlich bewegten. Bis heute drehte Polański keinen weiteren Film in der polnischen Filmindustrie und trat lediglich als Schauspieler in polnischen Produktionen auf, wie in Andrzej Wajdas Die Rache von 2002. 2021 wurde aber bekannt, dass er und Skolimowski 60 Jahre nach Das Messer im Wasser wieder an einem gemeinsamen Drehbuch – für den für 2022 geplanten Film The Palace – schreiben.
Filmwissenschaftliche Beurteilung
Für Feeney ist Das Messer im Wasser ein „straffer, intimer und handlungsreicher Thriller“, für Thompson und Bordwell ein „intimes Spannungsdrama“. Baer nennt den Film „ein Dreieck von geradezu klassischer Konstruktion“. Polański sei „ein unbestechlicher Realist, der mit sparsamsten Mitteln die einzelnen Gestalten psychologisch zu interpretieren versteht“. Gregor und Patalas bescheinigen dem Film „den Stil eines psychologischen Kammerspiels“. Butler hebt auf die existentialistischen Qualitäten des Films ab und konstatiert: „Polanski führt uns in eine traurige, graue Welt, wo alle drei Personen in gleicher Weise in der Falle sitzen.“
Werner lobt die Geschichte, die „von verblüffender Einfachheit“ sei, und hebt die von „Ironie und Zynismen durchsetzte Sprache“ hervor, die an Alltagssprache erinnere, aber „eine ganz und gar künstliche und kunstvolle“ sei, ein artifizielles Spiel mit Worten. Meikle resümiert: „Das Messer im Wasser ist handwerklich hervorragend gemacht, mit so viel Liebe zum Detail, wie man sie im Film nur zeigen kann. Der Film bleibt so lebendig […] in Erinnerung, als habe man an Andrzejs und Krystynas Ausflug auf einer intimeren Ebene teilgenommen als auf der des reinen Zuschauers.“
Das Lexikon des internationalen Films urteilt, der Film sei „eine erste Stilprobe Polanskis, die zwischen psychologischem Ernst und leiser Ironie schwankt, aber bereits enormes Talent verrät“. Koebner bemerkt ebenfalls die „ungewöhnliche Dichte und Perfektion des Films“, die die Kunstfertigkeit des damals nicht einmal 30-jährigen Regisseurs bezeuge. Indem er neben den Konflikten der Figuren immer wieder durch sanft wirkende Naturaufnahmen „naturromantische Sensibilität“ einbringe, balanciere der Film „Quälerei und Erholung, Peinigung und Trost“ aus. Das habe sich bis heute als „kluge Rezeptur“ bewährt, die verschiedene Interessen des Publikums zu mobilisieren wisse. Bird nennt Das Messer im Wasser „ein herausragendes Debüt“ und „einzigartig in Polanskis Filmographie“, denn der Film beinhalte ein soziales Engagement, das zwar typisch für Skolimowskis kommende Filme sei, aber in Polańskis weiteren Filmen grundsätzlich nicht mehr vorkommen würde.
Filmanalyse
Inszenierung
Visueller Stil
Trotz seines vorangegangenen Aufenthalts in Paris mit der in dieser Zeit aufblühenden Nouvelle Vague macht sich Polański deren Stilpluralismus nicht zu eigen und zitiert keine Stilmittel früherer Künstler, wie damals üblich. Thompson und Bordwell stellen fest: '„Polanski vermeidet die technische Innovation des neuen europäischen Kinos und verlässt sich […] auf lebendige Aufnahmen mit hoher Tiefenschärfe, durch die die Figuren in spannungsgeladener Konfrontation bleiben.“ In „strenger Wellesscher Tiefe“, erinnernd an Filme wie Citizen Kane oder Der Glanz des Hauses Amberson, staffelt Polański seine Figuren tief in den Raum der Mise-en-scène, wobei sich oft eine der Figuren im Bildvordergrund nahe an der Kamera befindet, während durch den Einsatz von Weitwinkelobjektiven auch die Figuren im Bildhintergrund nicht an Schärfentiefe verlieren. Der Effekt dieses „rituellen Gebrauchs der Schärfentiefe“ ist, dass der Zuschauer seine neutrale Beobachterposition verlässt, um die Handlung vom Standpunkt des nahe an der Kamera befindlichen Protagonisten aus wahrzunehmen. Dadurch, dass die Vordergrundpersonen ständig wechseln, wird jedoch nicht auf den Blickwinkel einer einzelnen Person fokussiert, sondern Polański bietet den Identifikationsmöglichkeiten des Zuschauers eine breite Basis, indem er den Filmblick nicht auf einen einzelnen Protagonisten hin subjektiviert.
Auch durch die Cadrage verdeutlicht der Regisseur die Dynamik der Dreiecksgeschichte: Die, so Butler, „Zwei-drinnen-einer-draußen-Situation“ wird filmisch etwa so umgesetzt, dass oft einer der Charaktere in der Distanz gezeigt wird, während die anderen beiden ihn in Großaufnahme am rechten und linken Bildrand umrahmen. Die Figuren bilden somit szenische Dreieckssituationen, wie sie auch in Citizen Kane und in Laurence Oliviers Hamlet, einem erklärten Lieblingsfilm Polańskis, zu finden sind. Sie dienen laut Orr dazu, „ein gewisses Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens zwischen den Figuren zu schaffen“.
Allgemein gelobt wird Lipmans Kameraarbeit, die, wie Baer anmerkt, den Gegensatz „zwischen der stillen Weite der schönen Landschaft“ und der „zur Aggressivität führenden Enge des Bootes“ herausarbeitet. In den Außenaufnahmen liefert Lipman „großartige, silbrige Bilder“, wie Feeney anmerkt, die „das herrliche Spiel von Wasser und Himmel“ bewusstmachen. Im Kontrast dazu rufen die Aufnahmen im Inneren des Bootes den Eindruck „eines engen Gefängnisses in freier Natur“, eines „perfekten ‚lieu clos‘ Sartrescher Provenienz“ hervor. Abgebildet werde, so Feeney, „die bildliche Eleganz einer psychologischen Dimension“. Polanski und sein lichtsetzender Kameramann Lipman sorgen gerade in den Szenen unter Deck laut Goscilo für „rein visuelle Auflösungen cinematischer Problemstellungen, eine Umwandlung klaustrophobischer Settings in psychologischen Raum“. Koebner betont ebenfalls, Polański wolle „mit Bildern erzählen“ und das „innere Drama der Personen mit versteckten oder auf Anhieb erkennbaren Signalen“ ausdrücken: Empfindungen, die die Figuren im Geheimen beschäftigen würden, nicht aussprechen können oder denen sie sich nicht einmal bewusst sind, beispielhaft in der Figur der lange lakonisch bleibenden Frau, werden visuell angedeutet.
Dramaturgie
Polański erläutert zu seinen Zielsetzungen der Inszenierung, er habe den Film „hochgradig intellektuell, technisch präzise, beinahe formalistisch“ umsetzen wollen. Kennzeichnend für Das Messer im Wasser ist ein dramaturgischer Minimalismus, eine Reduzierung auf drei Personen, einen festen Schauplatz, karge Dialoge und den Zeitrahmen von exakt 24 Stunden. Butler führt dazu aus: „Der Film beginnt, wie er endet, auf einer langen, grauen, langweiligen Straße; ein Kommentar zum langen, grauen und langweiligen Leben des Paares, das sie entlangfährt […] Die ganze Eröffnungssequenz ist kennzeichnend für die enggeknüpfte […] elliptische Qualität dessen, was folgt: ein Minimum an Dialog, ein Minimum an äußerer Handlung, eine strenge Beschränkung auf Charaktere und Setting.“ Polański führte 1966 gegenüber der französischen Filmzeitschrift Les Cahiers du cinéma aus, wie er diesen karg-realistischen Ansatz dramaturgisch erweiterte: „Was ich mag, ist das extrem realistische Setting, in dem sich jedoch etwas befindet, was mit der Realität nicht vereinbar erscheint. […] In ‚Das Messer im Wasser‘ basiert alles auf Zweideutigkeiten, auf kleinen ironischen Einsprengseln, auf einer Art Zynismus zwischen den Zeilen“. Der Film nutze „eine Urlaubsatmosphäre, getönt mit einer Menge Ironie“.
Das Ende des Films lässt für den Zuschauer einen möglichen Handlungsfortgang offen. Es wurde, wie Thompson und Bordwell konstatieren, zum „Kennzeichen für das Fehlen von Handlungsabschlüssen im Kino der 1960er“. Butler fügt hinzu, der Film ende „wie ‚Ekel‘, ‚Wenn Katelbach kommt…‘ und ‚Rosemaries Baby‘ mit einem Fragezeichen“.
Ton und Musik
Der Ton wird in Das Messer im Wasser meist in Form von natürlich erzeugten Klängen – „langen Momenten fast vollständiger Stille, rauschenden Wellen, knackendem Holz, flatternden Segeln“ – laut Butler „unaufdringlich“ eingesetzt, um dem Zweck der jeweiligen Szene zu dienen. Polański benutze Sound, „um Atmosphäre zu schaffen, Spannung zu erhöhen oder zu brechen, zu schocken oder ein latentes Gefühl der Gewalt hervorzurufen“.
Butler führt weiter aus, Komedas jazziger Soundtrack ergänze „virtuos die Kombination natürlicher Klänge, die Polański so schlau zusammengefügt hat“, und gebe „mit scharfer Zunge Kommentare zur Geschichte ab“. Werner bezeichnet die Filmmusik als „relativ sparsam“, kritisiert jedoch, dass sie an einigen Stellen dazu neige, „die Akzente zwischen kämpferischer Erregung oder harmonischem Segelvergnügen zu deutlich zu setzen“. Der 25-jährige Schwede Bernt Rosengren, den Komeda trotz einiger Probleme mit der Bürokratie nach Polen kommen ließ, spielt im Soundtrack Tenorsaxophon.
Themen und Motive
Gesellschaftskritik
Polański spricht deutlich aus, dass Das Messer im Wasser unter anderem auch eine „Attacke auf Privilegien“ ist. Andrzej schmückt sich mit den, so Baer, „Errungenschaften eines Anpassers“. Diese materiellen Dinge, die Andrzej durch seinen gesellschaftlichen Status erlangt hat – sein Auto, die Jacht, seine Pfeife, seinen Kompass, seinen Patent-Flaschenöffner und anderes mehr – stehen im krassen Gegensatz zum Eigentum des Jungen, in dessen Seesack sich sein Messer als wichtigster Besitz befindet. Thompson und Bordwell führen zur politischen Motivation des Films aus: „Das Messer im Wasser könnte als politisch genau bezeichnet werden, indem er die ‚rote Bourgeoisie‘ angreift, die in westlichem Luxus lebt. Aber der junge Mann kann wohl kaum ein positiv besetzter Held sein, da er bestenfalls naiv-verwirrt und schlimmstenfalls irgendwie zynisch ist.“
Wirkt anfangs das Spiel des Jungen mit seinem Messer wie ein rebellischer Akt gegenüber Andrzej, stellt sich allmählich heraus, dass es, so Bird, lediglich „die Konzentrationsübung eines in der Ziellosigkeit des alltäglichen Lebens zerstreuten Geistes“ ist, der Ausdruck eines „jugendlichen Nihilismus“. Der Junge ist somit nur anfänglich ein positiver Gegenentwurf zum Spießer Andrzej, aber, wie sich später herausstellt, ebenfalls nur handlungsohnmächtiger Teil einer Gesellschaft, der es an Gerechtigkeit mangelt. Werner resümiert, für Polański sei „der Nonkonformismus des Jungen eine ebenso sinnlose, hohle Attitüde wie Andrzejs Konformismus“. Ostrowska beschreibt die Wirkung der Figur des Jungen auf den Zuschauer so: „Nicht nur die Figuren spielen ein Spiel miteinander. Polański spielt auch mit den Erwartungshaltungen und Mutmaßungen des Zuschauers, wohin die Erzählung führen wird. Ein idealisiertes Bild der Jugend wird später im Film brutal zerstört, aber nicht einfach in sein dämonisches Gegenteil verkehrt, sondern in seiner ganzen Banalität und Flachheit präsentiert, was umso beunruhigender auf den Zuschauer wirkt.“
Butler konstatiert, der sich herausbildende Gegensatz in Das Messer im Wasser sei ein von Polański weitgehend neutral und beobachtend ausgeführter „Konflikt zwischen dem […] Alter und der Jugend […], zwischen Konformität und der Weigerung, sich konform zu verhalten, zwischen der Spießigkeit materiellen Erfolgs […] und der Zurückweisung der Standards dieses Erfolgs“. Die Position von Krystyna ist für Meikle hierbei „eine interessante Metapher“. Sie stehe im Zentrum dieser Auseinandersetzung in ihrer unnahbaren, sphinxhaften Art „für die Gesellschaft an sich, dem Flirt mit der rebellischen Jugend nicht abgeneigt, aber letztendlich wieder zum Status quo zurückkehrend“.
Psychologie der Beziehungen
Nicht nur der gesellschaftliche Konflikt, sondern auch die konflikthaften persönlichen Beziehungen des Trios werden von Polański thematisiert. Während Andrzej sich in einer sicheren Machtposition glaubt, die er zu bewahren versucht, hat ihn seine Frau in seiner, so Baer, „anmaßenden Selbstüberschätzung“ längst durchschaut. Polański bedient sich der Figur des Jungen, um den Ehekonflikt der beiden spürbar zu machen. Er erläutert: „Die dritte Person dient nur als Vorwand, nicht nur für den Drehbuchautor, sondern auch für das Paar in seiner Ehe. […] Der Konflikt betrifft das Paar.“
Doch auch die Beziehung zwischen Andrzej und dem Jungen ist betrachtenswert: Krystyna erkennt, dass der junge Mann „ein – wenngleich noch unausgefülltes – Abbild ihres Mannes“ ist, wie Baer erläutert. Jeder der beiden spiegle sich im Bild des anderen. Werner stellt fest: „Andrzej verkörpert die Zukunft des Jungen, wie der Junge die Vergangenheit Andrzejs verkörpert.“ Daher beinhaltet gemäß Butler die Beziehung der beiden Männer „sich bekriegende Aspekte von Eifersucht, Bewunderung, Angst, Verachtung und ein eindeutiges, aber nicht eingestandenes Element aufrichtiger Zuneigung, eher väterlich als homosexuell“.
Krystyna ist es, die diese Situation ausnutzt und zum Schluss des Films die beiden gegeneinander ausspielt. Sie bleibt Siegerin in einem Männerkampf, den Kroner so beschreibt: „Der Kampf zwischen Andrzej und dem Jungen war auch ein Versuch, in Kontakt miteinander zu kommen, ihre Kraft auf die Probe zu stellen und zu entscheiden, wer wen beherrscht oder wer sich wem unterwirft. Am Ende müssen beide einsehen, dass ein solcher Kontakt nicht hergestellt werden kann, ebensowenig wie eine endgültige Klärung von Macht und Ohnmacht.“
Psychoanalytische Deutungsansätze
Besonders Butler und Werner stellen ihre Filmanalysen auf mögliche psychoanalytische Deutungsmöglichkeiten ab. Butler betont die „phallische Signifikanz“ des Messers und nennt es ein „Freudsches Sexsymbol“, das für die Potenz des Jungen einstehe und dem älteren Mann gefährlich werde. Ironischerweise ermögliche Andrzej dem Jungen den Ehebruch jedoch erst damit, indem er das Messer beseitigt. Auch Werner entdeckt eindeutig sexuell konnotierte Symbole: Der Schuh, den Krystyna als Pfand für ein verlorenes Mikado-Spiel dem Jungen präsentiert, sei „eines der deutlichsten Symbole für die Vagina“, wobei der Gürtel mit der protzigen Schnalle, den der Junge als Pfand abgeben muss, ebenfalls ein sexuelles Potenzsymbol sei.
Das Dreiecksverhältnis sei „die Darstellung einer ödipalen Beziehung“, wobei Andrzej als „Vater“ die belehrende und strafende Position und Krystyna die beschützende Mutterrolle einnehme, aber gleichzeitig das Objekt der Begierde des Jungen sei. Werner führt in seiner Argumentation weiter aus, es gebe im Film Motive, die an Kastration und Kastrationsängste gemahnten. So spielen der Junge und Andrzej zum Beispiel das bekannte Spiel, mit dem Messer in die Zwischenräume der Finger einer gespreizten Hand zu stechen, ohne die Finger zu verletzen. Weitere Hinweise sind laut Werner das zweimalige Erklimmen des Bootsmastes durch den Jungen, die gegen Ende des Films prominent in Szene gesetzten gefällten Bäume und die Tatsache, dass die Scheibenwischer gestohlen sind, als Andrzej und Krystyna zu ihrem Auto zurückkehren.
Christliche Symbolik
In einigen der ungewöhnlichsten Einstellungen des Films wird auf christliche Symbolik Bezug genommen. So zeigt zum Beispiel ein Overhead-Shot von der Mastspitze den auf Deck ruhenden Jungen mit ausgestreckten Armen in einer Kreuzigungspose, wobei sein Kopf auf einer Seilrolle ruht, die an einen Heiligenschein gemahnt. Eine weitere Einstellung zeigt den Jungen über der Reling hängend und mit den Füßen „auf dem Wasser wandernd“. Als sich der Junge an einem heißen Topf die Hände verbrennt, können die Verletzungen im Kontext dieser Hinweise als Vertreter der Wundmale Christi gedeutet werden. Letztendlich durchlebt der Junge im Laufe der Erzählung seinen „Tod“ und seine „Wiederauferstehung“. Aber auch über die Figur des Jungen hinaus kann man Anspielungen entdecken: Das Segelboot heißt Christina, anglisiert nach der Ehefrau Krystyna benannt, und als es auf eine Sandbank einläuft, ist in einer längeren Einstellung von dem Schriftzug des Bootes nur der Wortanfang „Christ“ zu sehen.
Werner deutet diese Anspielungen auf Erlösungssymbolik als „rein ironisch“. Feeney stellt fest, Polański habe immer eine Absicht geleugnet und behauptet, die Anspielungen auf das Christentum seien reiner Zufall. Feeney fügt hinzu, er halte sie ebenfalls für ironische Brechungen und Beiträge zur Ambivalenz des Films: „Natürlich ist der junge Mann keine Christusfigur im traditionellen Sinne, sondern eher der, der in Versuchung führt, ein Engel, der Böses will, eine Schlange im Paradiesgarten.“
Literatur
Daniel Bird: Roman Polanski. Pocket Essentials Film, Harpenden 2002, ISBN 1-903047-89-7.
Ivan Butler: The Cinema of Roman Polanski. The International Film Guide Series, Barnes & Co, New York, Zwemmer Ltd., London 1970, ISBN 0-302-02061-6 (UK).
Paul Cronin (Hrsg.): Roman Polanski – Interviews. University Press of Mississippi, Jackson 2005, ISBN 1-57806-800-2.
F. X. Feeney, Paul Duncan (Hrsg.): Roman Polanski. Taschen Verlag, Köln 2005, ISBN 3-8228-2541-7.
Andreas Jacke: Roman Polanski – Traumatische Seelenlandschaften. Psychosozial-Verlag, Gießen 2010, ISBN 978-3-8379-2037-6.
Thomas Koebner (Hrsg.): Filmklassiker Band 2 1946–1962. 5. Auflage, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2006, ISBN 3-15-030033-9.
Marion Kroner: Roman Polanski – Seine Filme und seine Welt. Programm Roloff & Seeßlen Filmstudien Nr. 6. B. Roloff Verlag, Schondorf 1981, ISBN 3-88144-219-7.
Denis Meikle: Roman Polanski – Odd Man Out. Reynolds & Hearn, London 2006, ISBN 1-905287-21-6.
John Orr, Elzbieta Ostrowska (Hrsg.): The Cinema of Roman Polanski – Dark Spaces of the World. Wallflower Press, London / New York 2006, ISBN 1-904764-75-4.
Roman Polanski: Roman Polanski. Heyne Verlag, 1985, ISBN 3-453-02203-3.
Anke Steinborn: Das Messer im Wasser. Nóz w wodz. In: Kampkötter et al. (Hrsg.): Klassiker des polnischen Films. Marburg 2015, ISBN 978-3-89472-886-1
Kristin Thompson, David Bordwell: Film History – An Introduction. Zweite Auflage. University of Wisconsin, Madison 2003, ISBN 0-07-038429-0.
Paul Werner: Roman Polanski. Fischer Taschenbuch Verlag, 1981, ISBN 3-596-23671-1.
Weblinks
Das Messer im Wasser. Filmpolski.pl (mit Bildern)
Das Messer im Wasser. senseofview.de (mit Bildern)
Einzelnachweise
Roman Polański
Filmdrama
Polnischer Film
Schwarzweißfilm
Filmtitel 1962
Binnenschifffahrt im Film |
683793 | https://de.wikipedia.org/wiki/Georg%20Heinrich%20Sieveking | Georg Heinrich Sieveking | Georg Heinrich Sieveking (* 28. Januar 1751 in Hamburg; † 25. Januar 1799 ebenda) war ein Hamburger Kaufmann und Aufklärer. Gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Caspar Voght führte er eines der größten Handelshäuser der Hansestadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sieveking war ein begeisterter Anhänger der Aufklärung und vertrat die Ideale der Französischen Revolution. Zum Jahrestag des Sturms auf die Bastille fand auf Sievekings Initiative hin am 14. Juli 1790 in Harvestehude ein Freiheitsfest statt, das weit über Hamburg hinaus Beachtung fand. Nur wenige Jahre vor seinem Tod gelang Sieveking 1796 in Verhandlungen in Paris die Aufhebung des 1793 gegen Hamburg verhängten Handelsembargos.
Leben
Herkunft, Kindheit und Jugend
In dem aus Westfalen stammenden väterlichen Zweig der Familie Georg Heinrich Sievekings war sein Großvater Ahasver Hinrich (1668–1729) der erste, der dem kaufmännischen Beruf nachging, indem er ein auf den Leinenhandel spezialisiertes Unternehmen in Versmold gründete. Dessen Sohn Peter Niclaes (1718–1763) folgte ihm im Tuchhandel nach, ging aber 1734 nach Hamburg, wo er 1747 das Bürgerrecht erwarb. Nur zwei Jahre später heiratete er Catharina Margaretha Büsch, die Tochter eines aus Lüneburg nach Hamburg gekommenen Weinhändlers, deren Bruder Georg Heinrich Büsch den Aufstieg zum Hamburger Senator geschafft hatte. Nach diesem wurde ihr 1751 geborener erster Sohn Georg Heinrich Sieveking genannt. Sieveking erhielt vor allem Privatunterricht. Großen Einfluss übte der Hauslehrer Velthusen auf ihn aus. Der Familientradition folgend wurde er vom Vater für den Kaufmannsberuf bestimmt, was ihm jedoch aufgrund seiner ausgeprägten mathematischen Begabung auch entgegenkam. Gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Heinrich Christian Sieveking wurde Georg Heinrich zunächst von einem Hauslehrer unterrichtet, bevor beide ab 1764 die Mathematik-Vorlesungen Johann Georg Büschs an der Hamburger Handelsakademie hörten.
Das Handelshaus Voght & Sieveking
Am 1. August 1766 trat Sieveking als Lehrling in das Handelshaus des damaligen Hamburger Senators Voght ein. Während seiner Lehrzeit erwies er sich als so tüchtig, dass Voght ihm am 1. Januar 1777 – gemeinsam mit seinem eigenen Sohn Caspar – einen Anteil am Geschäft einräumte. Nach dem Tod des Senators im Jahre 1781 führten die beiden das Unternehmen zunächst gemeinsam weiter, erst unter dem Namen „Caspar Voght & Co.“, dann, ab 1788, unter der Bezeichnung „Voght und Sieveking“. Bis zu Sievekings vierzigstem Geburtstag am 28. Januar 1791 hatte Voght ihn mit einem Drittel am Gewinn beteiligt, danach beteiligte er ihn mit der Hälfte. Am 1. Juli 1793 trat Caspar Voght schließlich alle Geschäfte mit Ausnahme des Amerikahandels an Sieveking ab und widmete sich anderen Projekten.
Anstatt sich auf eine bestimmte Handelssparte zu konzentrieren, handelten Voght und Sieveking mit einem breiten Spektrum an Waren und auf der Grundlage eines weit gespannten Korrespondentennetzes. Der Schwerpunkt ihres Einfuhrhandels lag zunächst auf den Häfen der französischen Atlantikküste und Englands, doch schon mit Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges kamen auch mit Tabak, Reis und Indigo beladene Schiffe des Unternehmens aus den Häfen der nordamerikanischen Ostküste in der Hansestadt an. Beinahe sprichwörtlich ist heute der Ausspruch Voghts, der von sich selbst meinte: „Ich war der erste Hamburger Kaufmann, der aus Mocca Kaffee, aus Baltimore Toback, aus Surinam Kaffee, aus Afrika Gummi holte“. Der eigentliche Motor des bis 1793 gemeinschaftlich betriebenen Unternehmens war jedoch Georg Heinrich Sieveking. Während Voght auf seinen ausgedehnten Reisen ganz Europa durchquerte, kümmerte sich sein Partner Sieveking in Hamburg weitgehend alleinverantwortlich um die Abwicklung der Geschäfte. Dies unterstrich Voght selbst, als er in einem Rundschreiben an alle Geschäftspartner vom Juli 1793 schrieb, sein Freund sei schon seit einigen Jahren der alleinige Entscheidungsträger des Handelshauses („le seul gérant de notre commerce“) gewesen.
Sieveking und die französische Revolution
Freundschaftskreis, Logentätigkeit
Schon früh hatte Sieveking ein ausgeprägtes Interesse an der Literatur entwickelt. Gemeinsam mit seinen etwa gleichaltrigen Jugendfreunden Johann Michael Hudtwalcker und Caspar Voght verfasste der Aufklärer Gedichte und Prosa und führte im Kreise von Hudtwalckers Schwestern Theaterstücke auf. Sievekings Ehefrau Johanna Margaretha, geb. Reimarus (* Hamburg 20. November 1760, † Hamburg 12. Juni 1832), die er am 2. Oktober 1782 geheiratet hatte, führte in Hamburg einen Literarischen Salon, der ebenfalls diese Ideen pflegte. Zu den größten Vorbildern des Kreises um Sieveking gehörten Gotthold Ephraim Lessing und der als Dichter des Messias schwärmerisch verehrte Friedrich Gottlieb Klopstock. Die Ideen der Aufklärung vertiefte Sieveking als Freimaurer in der Hamburger Loge „St. Georg zur grünenden Fichte“, zu deren Meister vom Stuhl er 1789 gewählt wurde. In einer Logenrede über die Freiheit setzte er sich bereits 1777 für einen gemäßigten Freiheitsbegriff ein: „Freiheit ist eben nicht Gesetzlosigkeit: Selbst der erhabene Baumeister des großen Weltalls, der das freieste aller Wesen ist, wird in jeder seiner Handlungen durch die ewigen, unveränderlichen Gesetze der Schönheit, Weisheit und Stärke, der Ordnung und Harmonie regiert. Frei ist der, welcher in seiner Wahl durch vernünftige Gründe und nicht durch fremde Gewalt bestimmt ist. Freiheit im Staate heißt nicht Unabhängigkeit von den Gesetzen, sondern Sicherheit vor unvernünftigen Gesetzen und eigenmächtigen Eingriffen der Obrigkeit in unsere Rechte.“ Sieveking und seine Freunde sahen ihre geistigen Ideale in die Tat umgesetzt, als 1789 in Frankreich die Revolution ausbrach, jedenfalls so lange, bis die revolutionäre Freiheitsidee durch die Schreckensherrschaft Robespierres ad absurdum geführt wurde.
Sieveking erwarb 1793 zusammen mit Piter Poel und Conrad Johann Matthiessen einen Landsitz in Neumühlen, den heutigen Donners Park, der sich zu einem Treffpunkt von großer gesellschaftlicher Bedeutung entwickelte. Zu den Besuchern zählten Klopstock, Wilhelm von Humboldt und Friedrich Heinrich Jacobi.
Das Harvestehuder Freiheitsfest
Während der erste Jahrestag des Sturms auf die Bastille am 14. Juli 1790 in Paris auf dem Marsfeld gefeiert wurde, fand am selben Tag in Harvestehude vor den Toren Hamburgs ein Freiheitsfest statt, dessen Initiator Georg Heinrich Sieveking war. Die prominentesten unter den rund 80 Gästen waren Adolph Freiherr Knigge und Sievekings Jugendidol Friedrich Gottlieb Klopstock.
Sieveking hatte für den Anlass eine Ode auf die Revolution verfasst, die von einem Chor junger, weiß gekleideter und mit der revolutionären Kokarde geschmückter Mädchen vorgetragen wurde. Die an den Idealen von 1789 orientierte Sievekingsche Ode hinterließ einen tiefen Eindruck. Sophie Reimarus, geb. von Hennings, die zweite Ehefrau des Hamburger Arztes Johann Albert Heinrich Reimarus, schrieb später, dass durch Sievekings Lied „eine Saite berührt wäre, in deren Ton alle einstimmten“.
Das Fest begründete in Hamburg die politische Festkultur und sorgte weit über die Grenzen der Stadt hinaus für Aufsehen. Die französischen Zeitungen berichteten über die zunehmende Ausbreitung revolutionären Gedankengutes im Ausland. Sogar der Führer der Girondisten in Paris, Brissot, erwähnte das Fest lobend in seinem Patriot Français. Für die politische Kultur Hamburgs blieb es jedoch ohne konkrete Folgen. Der Senat, die städtischen Unterschichten und der überwiegende Teil des städtischen Bürgertums nahmen es gar nicht zur Kenntnis. Sauveur Joseph Gandolphe, der französische Geschäftsträger in Hamburg, hielt eine Würdigung der Pariser Ereignisse nur unter Franzosen innerhalb des Gesandtschaftshotels für angemessen. Seine Teilnahme lehnte er mit den Worten ab, dass „die Feier in Harvestehude zur Erregung einer Bevölkerung Anlaß hätte geben können, die in diesem Augenblicke die ruhigste in ganz Europa sei“.
Gemeinnütziges Engagement
Noch im Jahr 1789 argumentierte Sieveking in einer Schrift über den hamburgischen Münzfuß rein ökonomisch und vertrat die Auffassung, bei einem niedrigen Lohn könnten Manufakturen und Fabriken am besten existieren. Die Revolution sensibilisierte Sieveking wohl in politischen und sozialen Fragen. In einer Vorlesung vor der „Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“ („Patriotische Gesellschaft von 1765“), deren Mitglied er war, machte er 1791 zahlreiche Reformvorschläge, die aber erst 1797 veröffentlicht wurden. Sieveking wandte sich gegen übertriebenen Luxus bei Mahlzeiten, in der Kleidung und bei Begräbnissen. Er forderte die Gründung einer „Ersparniskasse“, die ärmere Menschen im Fall von Krankheit oder Arbeitslosigkeit helfen sollte. Seine vermögenden Mitbürger forderte er auf, ehrlich ihre Steuern und Abgaben zu zahlen.
1785 wurde Sieveking Provisor des Werk- und Zuchthauses. Ein Jahr nach Ausbruch der Französischen Revolution trat er als neuer Vorsteher des Werk- und Zuchthauses dafür ein, auch den Insassen die Menschenrechte zu gewähren. Sieveking war gegen das Recht der Provisoren, eigenmächtig Aufnahmen ins Zuchthaus durchzuführen. Das Aufnahmerecht konnte jedoch erst 1805 abgeschafft werden. Ihm gelang es aber, zehn Jungen aus dem Werk- und Zuchthaus zu entlassen und sie nach Philadelphia zu bringen. Er setzte sich auch für ein eigenes städtisches Gesetzbuch ein.
An meine Mitbürger
Nachdem sich die Revolution in Frankreich immer weiter radikalisiert hatte und der französische König Ludwig XVI. im Januar 1793 auf das Schafott geführt worden war, geriet Sieveking in Hamburg zunehmend unter Druck. Die 1792 von Hamburger Kaufleuten und Schriftstellern um den französischen Gesandten Lehoc gegründete Lesegesellschaft („Société de Lecture“) musste Sieveking als ihr Präsident auf Druck konservativer Kräfte bereits am 29. Dezember 1792 wieder auflösen. Sieveking wurde sogar persönlich bedroht: Unbekannte warfen ihm einen Strick ins Haus und malten einen Galgen an die Tür. Dem Vorwurf, er sei ein Jakobiner, trat er schließlich in einer öffentlichen Verteidigungsschrift unter dem Titel An meine Mitbürger entgegen, in der er energisch bestritt, den Tod des Königs begrüßt zu haben. Er sei Mitglied bei den Freimaurern und in der Patriotischen Gesellschaft, aber kein Jakobiner. Die Auswüchse der Revolution verurteilte er als „Anarchie, Cabale, Ungehorsam gegen die Gesetze, Irreligiosität, Grausamkeit und Mord“, wandte sich jedoch nicht grundsätzlich gegen die auf den Gedanken der Aufklärung basierenden Grundprinzipien der Revolution. Sein Geschäftspartner Voght ging hingegen so weit, später den Titel „Baron“ anzunehmen und sich für eine Einschränkung der Pressefreiheit einzusetzen.
Als hamburgischer Sondergesandter in Paris (1796)
Reichskrieg, Ausweisung Le Hocs und Embargo
Als der Erste Koalitionskrieg (1792–1797) gegen Frankreich offiziell zum Reichskrieg erklärt wurde, hatte dies schwerwiegende Folgen für den hamburgischen Frankreichhandel. Insbesondere die Ausfuhr der kriegswichtigen Güter Getreide und Fleisch war verboten. Eine Reihe von Kaufleuten – unter ihnen auch Sieveking – versuchten sich diesem Verbot zu entziehen, indem sie ihre Waren ins dänische Altona transportierten und von dort auf Schiffen nach Frankreich schickten. Die trotz der Verbote weiterhin engen Beziehungen der Hamburger zu ihrem bisher mit Abstand wichtigsten Handelspartner Frankreich erregten zunehmend das Missfallen Österreichs und seines Verbündeten Preußen. Im Februar 1793 verlangte der niedersächsische Reichskreis mit Preußen an der Spitze, unterstützt durch den kaiserlichen Gesandten Binder von Kriegelstein, die Ausweisung des französischen Gesandten in Hamburg, Louis-Grégoire Le Hoc. In dieser angespannten Situation verließ Le Hoc freiwillig die Stadt. Der Nationalkonvent erklärte daraufhin die Beschlagnahme aller in französischen Häfen liegenden Hamburger Schiffe und verhängte ein Handelsembargo über die Hansestadt. Dieses Embargo wurde jedoch durch die Vermittlung Sievekings 1796 wieder aufgehoben, da aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung Hamburgs eine Verschlechterung der Beziehungen nicht im Interesse Frankreichs lag.
Sievekings Mission in Paris
Als Nachfolger Le Hocs wurde im Juni 1795 Karl Friedrich Reinhard nach Hamburg geschickt. Auf Druck des Reiches musste der Hamburger Senat Reinhard am 25. Januar 1796 das Agrément verweigern. Am 27. Februar 1796 verließ Reinhard Hamburg und ging nach Bremen. In dieser diplomatischen Krise sollte Sieveking wegen seines hohen Ansehens in Paris vermitteln. Am 31. März 1796 traf er in Paris ein. Dort war nach der Niederschlagung des gegenrevolutionären Aufstandes vom 13. Vendémaire (5. Oktober 1795) durch Napoleon und Paul de Barras eine Zeit der innenpolitischen Ruhe eingekehrt. Am 12. April 1796 erhielt Sieveking eine erste Audienz beim Direktorium, bei der es jedoch zu keiner Lösung des Konfliktes kam. Sein Plan, Frankreichs Finanzen durch eine Anhebung des Wechselkurses für die weitgehend entwerteten Assignaten zu stützen, wurde nicht nur von Paris als unzureichend, sondern auch vom Hamburger Senat als undurchführbar abgelehnt. Am 27. April erhielt Sieveking von der Hamburger Kommerzdeputation 311.172 Mark zur freien Verfügung, und er zögerte nicht, sie an Barras und andere Entscheidungsträger der Republik als Bestechungsgelder auszuzahlen. Nach einem Gespräch Sievekings mit dem französischen Finanzminister Ramel im Mai nahm die Sache schließlich eine günstige Wendung. Der am 14. Juni 1796 vom Direktorium gebilligte Vertrag sah die Zahlung von insgesamt 13 Millionen Livres vor, für die Sieveking persönlich haftete. Noch am selben Abend ließ Barras Sieveking zu sich bitten und sagte ihm: „Votre affaire est finie“ (deutsch: „Ihre Angelegenheit ist erledigt.“). Die offizielle Unterzeichnung fand zehn Tage später statt, und noch am selben Tag schrieb Sieveking besorgt nach Hamburg: „Ob ich das Opfer meines Patriotismus sein werde, das werden meine Mitbürger entscheiden.“ Doch seine Furcht erwies sich als unbegründet. Bei seiner Rückkehr im Juli 1796 wurde Sieveking mit großen Ehrenbezeugungen empfangen. In seinem Bericht vor den versammelten Mitgliedern der Kommerzdeputation erklärte er: „Ich schwöre es bei Ihrer Achtung, bei meiner Ehre, ich habe Hamburg gerettet. Ich habe dabey gewagt arm zu werden“.
Tod
Am 25. Januar 1799 starb Sieveking plötzlich und unerwartet. In einem Brief schrieb Wilhelm von Humboldt über ihn: „Das Andenken des Verstorbenen wird gewiß bei allen seinen Freunden unvergeßlich bleiben, und gewiß ist nur wenigen das Glück zu teil geworden, so allgemein und so aufrichtig bedauert und vermißt zu werden.“
Sieveking wurde im Familiengrab in der Hauptkirche St. Nikolai beigesetzt und 1810 nach außerhalb zum Begräbnisplatz St. Nikolai überführt. Auf dem Grabstein für seine Witwe Johanna Margaretha, so wie er im Bereich der Sieveking-Familiengrabanlage (Planquadrat S. 25 / 26) auf dem Ohlsdorfer Friedhof steht, ist er nicht eingraviert.
Das Sievekingsche Handelshaus wurde von seiner Witwe zusammen mit den Teilhabern Jean François Bertheau (1763–1829) und Friedrich Joachim Schlüter (1753–1813), hanseatischer Gesandter in Frankreich, fortgeführt. Es musste durch die Kontinentalsperre 1806 Verluste hinnehmen, konnte jedoch 1807 schon wieder einen Gewinn von 62.298 Mark Banco verbuchen. In den folgenden Jahren nahmen die Verluste allerdings zu. 1811 ging das Handelshaus in Konkurs.
Werke
Materialien zu einem vollständigen und systematischen Wechsel-Recht: mit besonderer Rücksicht auf Hamburg; denkenden Rechtsgelehrten und Kaufleuten zur Prüfung vorgelegt. Zum Druck befördert von der Hamburgischen Commerz-Deputation. Hamburg: Treder 1792
Quellen
Ungedruckte Quellen
Staatsarchiv Hamburg, 622–1 Sieveking I – Archivalien zu Ehrenämtern, Haushalt und Vermögen: Erinnerungen von Johann Michael Hudtwalcker (Jugendfreund Sievekings), Korrespondenzen – Die Dokumente unterliegen einem besonderen Genehmigungsvorbehalt.
Admiralitätszoll- und Convoygeld-Einnahmebücher. Staatsarchiv Hamburg, 371-2 Admiralitäts-Kollegium, F 6, Bände 1–50 – Die Zollregister aus den Jahren 1733–1798 sind die wichtigste Quelle zur Hamburger Handelsstatistik des 18. Jahrhunderts. Da in den Registern auch die Namen der Importeure erfasst wurden, lässt sich aus ihnen ein ungefähres Profil des ausgedehnten Warenhandels des Handelshauses Voght & Sieveking gewinnen.
Gedruckte Quellen
Johann Georg Büsch: Zum Andenken meiner Freunde Dorner und Sieveking. Bachmann & Gundermann, Hamburg 1799. online, SUB Hamburg
Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.): Caspar Voght: Lebensgeschichte. Christians, Hamburg 2001, ISBN 3-7672-1344-3. Autobiographie mit Schwerpunkt auf Voghts Reisen durch Europa. Über das gemeinsame Handelsunternehmen mit Sieveking ist wenig zu erfahren, was jedoch Voghts Desinteresse an geschäftlichen Angelegenheiten noch nachträglich unterstreicht.
Georg Heinrich Sieveking: An meine Mitbürger. Hamburg 1793. Fünfzehnseitige Verteidigungsschrift Sievekings, der sich drei Jahre nach seinem „Freiheitsfest“ dem Vorwurf seiner Mitbürger ausgesetzt sah, er sei ein Jakobiner und habe sich über die Hinrichtung Ludwigs XVI. gefreut.
Literatur
Hans-Werner Engels: Alles war so möglich! Auftakt für ein neues Europa – Hamburgs Bürger feiern die Französische Revolution. In: Die Zeit, 29, 11. Juli, 2002, S. 80.
Walter Grab: Norddeutsche Jakobiner. Demokratische Bestrebungen zur Zeit der französischen Revolution (= Hamburger Studien zur neueren Geschichte. 8, ). Europäische Verlags-Anstalt, Frankfurt am Main 1967.
Arno Herzig: Zwischen Reich und Revolution: Hamburg in den 1790er Jahren. In: Arno Herzig, Inge Stephan, Hans G. Winter (Hrsg.): „Sie und nicht Wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich. Band 1: Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland. Dölling u. Galitz, Hamburg 1989, ISBN 3-926174-13-7, S. 153–176, (Guter Überblicksartikel über die politische Situation Hamburgs in den Jahren nach der Französischen Revolution).
Franklin Kopitzsch: Ein Lied für arme Teufel. Georg Heinrich Sieveking, Johann Wolfgang Goethe und die Französische Revolution. In: Jörgen Bracker (Hrsg.): Frieden für das Welttheater. Goethe – ein Mitwirkender, Beobachter und Vermittler zwischen Welt und Theater, Politik und Geschichte. Max Wegner zum 80. Geburtstag. Hamburger Museumsverein, Hamburg 1982, , S. 88–98.
Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs. Bd. 21). 2., ergänzte Auflage. Verein für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1990, ISBN 3-923356-36-6 (Zugleich: Hamburg, Universität, Dissertation, 1982).
Burghart Schmidt: Hamburg im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons (1789–1813) (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs. Bd. 55 = Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg. Bd. 15). 2 Bände. Verein für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1998, ISBN 3-923356-87-0.
Georg Herman Sieveking: Aus der Familiengeschichte de Chapeaurouge und Sieveking 1794–1806. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. 12, 1908, S. 207–234, (Digitalisat).
Heinrich Sieveking: Georg Heinrich Sieveking. Lebensbild eines hamburgischen Kaufmanns aus dem Zeitalter der französischen Revolution. Curtius, Berlin 1913, (einzig verfügbare moderne Biographie zu Sieveking).
Heinrich Sieveking: Das Handlungshaus Voght und Sieveking. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. 17, 1912, S. 54–128, (Digitalisat; Textgleich mit dem gleichnamigen Kapitel in Heinrich Sievekings 1913 erschienener Monographie).
Hedwig Voegt: Sieveking, Georg Heinrich. In: Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte. Von den Anfängen bis 1917. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1967, S. 440–441.
Hedwig Voegt: Sieveking, Georg Heinrich. In: Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte. Von den Anfängen bis 1945. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1970, S. 650–651.
Adolf Wohlwill: Reinhard als französischer Gesandter in Hamburg und die Neutralitätsbestrebungen der Hansestädte in den Jahren 1795–1797. In: Hansische Geschichtsblätter. Nr. 2, 1875, S. 53–121, (Digitalisat).
Weblinks
Anmerkungen
Unternehmer (18. Jahrhundert)
Unternehmer (Hamburg)
Aufklärer
Freimaurer (18. Jahrhundert)
Freimaurer (Deutschland)
Georg Heinrich
Präses der Handelskammer Hamburg
Deutscher
Geboren 1751
Gestorben 1799
Mann |
707818 | https://de.wikipedia.org/wiki/Das%20Parfum | Das Parfum | Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders ist ein Roman des deutschen Schriftstellers Patrick Süskind aus dem Jahr 1985. Dem Lebenslauf eines mit genialem Geruchssinn ausgestatteten Parfümeurs folgend, erkundet er die Welt der natürlichen und künstlichen Gerüche, thematisiert deren mögliche Bedeutung in zwischenmenschlichen Beziehungen und beschreibt traditionelle wie unkonventionelle Herstellungsverfahren von Parfum. Das der Postmoderne zugeschriebene Werk erlaubt eine Vielzahl von Lesarten, unter anderem als Entwicklungs-, Bildungs-, Künstler- und Kriminalroman – einschließlich deren Parodien.
Mit Übersetzungen in 48 Sprachen und bisher weltweit mehr als 20 Millionen verkauften Exemplaren ist Das Parfum einer der größten Bucherfolge unter den deutschsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts. Nach seinem Erscheinen hielt sich der Titel rund neun Jahre in der Spiegel-Bestsellerliste. Etwa ebenso lange wartete der Diogenes-Verlag mit der Publikation der ersten Taschenbuchausgabe. Das Urteil der nationalen wie internationalen Kritik war nahezu einhellig positiv. 1987 wurde Das Parfum in der Übertragung von John E. Woods mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet.
Bedingt durch die Öffentlichkeitsscheu des Autors sind viele Details der Entstehungsgeschichte des Romans noch unbekannt. Die Filmrechte verkaufte Süskind nach langem Zögern 2001 an den befreundeten Filmproduzenten Bernd Eichinger, dessen kommerziell erfolgreiche Produktion Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders fünf Jahre später Premiere hatte.
Inhalt
Der Roman erzählt das Leben von Jean-Baptiste Grenouille (zu Deutsch „Frosch“), der mit einem phänomenalen Geruchssinn, aber ohne jeden Eigengeruch auf die Welt kommt. In seiner Kindheit und Jugend ist er als Waise vielen Demütigungen ausgesetzt, gegen die ihn jedoch sein starker Überlebenswille schützt. Durch den Erwerb eines Gesellenbriefs emanzipiert, lebt er zunächst als Eremit. Später wird er zum Serienmörder, als er seine Vision, „der größte Parfumeur aller Zeiten“ zu werden, in die Tat umsetzt. Sein krönendes Parfum verschafft ihm scheinbar unbegrenzte Macht, führt ihn am Ende aber in die Desillusionierung und zum Scheitern.
Lehrjahre
Am 17. Juli 1738 kommt Grenouille unter dem Schlachttisch einer Fischbude in unmittelbarer Nähe zum Pariser , „am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“ zur Welt. Seine Mutter, eine Fischhändlerin, will ihn mitsamt den Fischresten in der Seine entsorgen, so wie sie es schon mit ihren vier früheren Totgeburten getan hat. Grenouille jedoch stößt einen derart durchdringenden Schrei aus, dass Passanten auf ihn aufmerksam werden und er gerettet wird. Seine Mutter wird als mehrfache Kindesmörderin hingegen zum Tode verurteilt und enthauptet. Das Waisenkind wird von Amme zu Amme gereicht, denn jede weigert sich nach kurzer Zeit, den gierigen Säugling weiter zu versorgen. So auch die vierte Amme, Jeanne Bussie, die ihn schließlich dem kirchlichen Vormund zurückbringt. Zudem vermisst sie den vertrauten Baby-Geruch und meint, es sei womöglich vom Teufel besessen. Pater Terrier, der Grenouille widerstrebend entgegennimmt, weist diesen Verdacht zurück, fühlt sich aber höchst unwohl, als der erwachende Säugling ihn „schamlos abriecht“ und markerschütternd schreit. Eilends gibt auch er ihn weiter in neue Obhut zu Madame Gaillard, die ihren Lebensunterhalt durch das Aufziehen von Waisenkindern bestreitet.
Obwohl die Nahrung kärglich ist, Liebe gänzlich fehlt und die anderen Kinder Grenouille meiden, isolieren und sogar umzubringen versuchen, ist er bei Madame Gaillard in den richtigen Händen. Ihr Handikap, der Verlust ihres Geruchssinns schon in der Kindheit, erweist sich für Grenouille als Segen, denn mit ihrem Olfaktus hat sie auch sämtliche Gefühlsregungen verloren, empfindet weder Zu- noch Abneigung und behandelt daher alle Kinder gleich. Grenouille kann also bei ihr überleben; mehr will er vorerst ohnehin nicht. In allem ist seine Entwicklung verzögert und bleibt auf ein Mindestmaß beschränkt – mit Ausnahme seines phänomenalen Geruchssensoriums, dem er sich umso ausschließlicher hingibt. Sein innerer Reichtum bleibt seiner Mitwelt jedoch verborgen, oder er äußert sich in übernatürlich scheinenden Fähigkeiten. So zieht Madame Gaillard zwar Nutzen aus seiner Gabe, dass er jedes in seiner „Riechweite“ befindliche Ding oder Lebewesen identifizieren und lokalisieren kann, ohne dass er es sieht; noch größer aber ist ihre Angst davor. Als daher irgendwann die Zahlungen der Kirche ausbleiben, nimmt sie dies zum Anlass, ihn loszuwerden, und verkauft den Achtjährigen an den Gerber Grimal.
Dieser beutet die Arbeitskraft des unterwürfigen Jungen rücksichtslos aus. Erst als Grenouille nach einem Jahr wider Erwarten den Milzbrand überlebt und gegen diese in aller Regel tödlich verlaufende Gerberkrankheit resistent wird, steigt er im Wert. Das verschafft ihm kleine Freiräume, die er nutzt, um die Großstadt Paris nach und nach geruchlich zu erobern. Auf einem seiner Streifzüge wird er plötzlich von einem atemberaubenden Duft angezogen. Fasziniert folgt er ihm und findet in einem kleinen Hinterhof dessen Quelle, ein junges rothaariges Mädchen, das Mirabellen putzt. In seinem Drang, ihren exquisiten Duft besitzen zu wollen, nähert er sich ihr heimlich von hinten, ergreift ihren Hals und erwürgt sie. Gierig saugt er den Duft ihres ganzen Körpers in sich auf, bis er sie „welkgerochen“ hat. Noch am selben Abend erkennt er seine Bestimmung als Geruchsgenie und beschließt, „der größte Parfumeur aller Zeiten“ zu werden. Zugleich wird er sich der Notwendigkeit bewusst, Methoden für die Konservierung von Düften kennenzulernen. Er sieht seine Chance gekommen, als er dem Parfümeur Baldini eine Lieferung Lederhäute zu überbringen hat, und demonstriert ihm auf eindrucksvolle Weise seine geniale Fähigkeit, ohne die üblichen Hilfsmittel Düfte zu kopieren und neue Parfums zu schaffen. Baldini, eigentlich schon entschlossen, vor dem aufstrebenden Konkurrenten Pélissier zu kapitulieren, schöpft wieder Hoffnung, kauft Grenouille und stellt ihn als Lehrling ein. Grimal, der sich am unerwartet hohen Erlös berauscht, stürzt volltrunken in die Seine und stirbt.
Grenouilles unerschöpfliche Produktivität macht Baldinis Haus binnen kurzer Zeit zur ersten Adresse Europas, ohne dass nach außen dringt, wer die begehrten Parfums kreiert. Zugleich lernt Grenouille die Techniken und Konventionen des Parfümeur-Handwerks kennen. Heimlich versucht er nebenbei, auch anorganischen Stoffen wie Glas oder Messing ihren Geruch zu entlocken. Als dies mit der einzigen ihm bekannten Methode, der Destillation, scheitert, erkrankt er lebensgefährlich. Von sämtlichen Ärzten bereits aufgegeben, gesundet er erst, als er von Baldini erfährt, dass man im Süden Frankreichs, vor allem in Grasse, noch andere Duftgewinnungsverfahren erlernen könne. Dennoch muss er noch knapp drei Jahre ausharren und seines Meisters Vermögen und Ruhm weiter mehren, bis dieser ihn endlich, ausgestattet mit dem längst verdienten Gesellenbrief, freigibt. Im Frühjahr 1756 verlässt Grenouille Paris in Richtung Süden. Noch in derselben Nacht stürzt die Brücke – der – genau dort, wo Baldinis Haus steht, „ohne erkennbare Ursache“ ein. Im Anschluss findet man weder die Leichen von Baldini und seiner Frau noch sein Vermögen, noch irgendetwas, das Grenouilles Wirken an diesem Ort bezeugt.
Wanderjahre
Indem Grenouille sich von Paris entfernt, entdeckt er in sich eine neue Leidenschaft: Luft zu atmen, die frei ist vom Geruch der Menschen. So ändert sich das Ziel seiner Wanderung. Es zieht ihn magisch zum „menschenfernsten Punkt“ des Landes. Diesen findet er auf einem Vulkanberg, dem , wo er sich in einer tiefen Höhle einrichtet und sie nur zur Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse verlässt. Äußerlich vegetiert er dahin, innerlich blüht er auf. Die zahllosen Düfte, die er in sich trägt, ordnet er, verwirft die schlechten und genießt die guten, wann immer er mag. Nach sieben Jahren bringt eine innere Erschütterung die Wende. In einem Albtraum erlebt er mit Entsetzen, was der Leser längst weiß: Er selbst hat keinen Geruch. Als alle Versuche, den Traum durch die Realität zu widerlegen, scheitern, bricht Grenouille auf und kehrt in die Zivilisation zurück.
Seine Behauptung, er sei sieben Jahre lang von Räubern in einem Erdloch gefangen gehalten worden, findet Glauben. Der Marquis de la Taillade-Espinasse, ein dilettierender Wissenschaftler, sieht in ihm sogar seine These bestätigt, wonach die Erde schädliche Gase ausstoße, welche alles Lebende schädige. Er bietet Grenouille an, ihn in einem „Vitalluftventilationsapparat“, den er selbst erfunden hat, binnen einer Woche zu kurieren, was vor der versammelten Geisteswelt in Montpellier demonstriert werden soll. Grenouille spielt das Spiel mit. Nur er weiß, was – neben der Wiederherstellung seines Äußeren – die Gelehrten tatsächlich täuscht: das Parfum, das er eigens für diesen Zweck kreiert hat. Ein zweites Parfum befriedigt ihn noch mehr: Es verleiht ihm den gewöhnlichen Menschenduft. Mit ihm fühlt er sich, wenn er unter Menschen ist, erstmals wie ihresgleichen und erkennt damit ihre Manipulierbarkeit. Jetzt will er auch noch Macht über sie, will, dass sie ihn lieben, glaubt er sich doch als „omnipotenter Gott des Duftes“, dem „stinkenden Gott“, dem die Menschen huldigen, überlegen. Heimlich verlässt er Montpellier und begibt sich auf kürzestem Weg nach Grasse. Die Spur des Marquis de la Taillade-Espinasse hingegen, der versucht, die Richtigkeit seiner These noch eindrucksvoller an sich selbst zu beweisen, verliert sich in den Höhen der Pyrenäen.
Meisterjahre
Auf seinem ersten Erkundungsgang in Grasse macht Grenouille eine geruchliche Entdeckung, die seinen inneren Kompass auf ein festes Ziel ausrichtet. Was er wahrnimmt, ist der erregende Duft eines Mädchens. Er ähnelt dem seines ersten Opfers in Paris, ja ist sogar noch verlockender, wenn auch noch nicht „gereift“. Dazu braucht es noch ein bis zwei Jahre Zeit. Grenouille beschließt zu warten und sich selbst zu vervollkommnen.
Die gewünschte Anstellung findet er im Parfümeuratelier der verwitweten Madame Arnulfi, wo er ihrem ersten Gesellen, Dominique Druot, zur Hand geht. Ihm gegenüber, Herrn Arnulfis Nachfolger in spe, taktiert Grenouille höchst geschickt: Sich radikal dem Stärkeren unterwerfend, äußert er gut dosiert vorsichtige kleine Verbesserungsvorschläge, was Druot dazu bringt, ihm mehr und mehr die Arbeit zu überlassen. Grenouille verschafft sich dadurch die Freiheit, die er sich wünscht – z. B. bei den durch Baldini verheißenen Verfahren der Enfleurage –, und bald auch die, die er braucht, als er sich heimlich anschickt, sein Meisterwerk zu vollenden. Zunächst eignet er sich Techniken an, die es ihm ermöglichen, den Duft seines zukünftigen Opfers verlustfrei einzufangen, dann fasst er den fatalen Entschluss, ihn einzubinden in ein „Duftdiadem“ von 24 ähnlich exquisiten Düften, die sein Meisterparfum abrunden sollen. So wird er zum Serienmörder.
Die Bewohner von Grasse reagieren auf die Mordserie mit Entsetzen und Ratlosigkeit. Es fehlt nicht nur jede Spur vom Täter, sondern auch ein plausibles Motiv. Die Opfer sind allesamt zu Frauen heranreifende junge Mädchen von ausgesuchter Schönheit, doch ein Sexualdelikt liegt offensichtlich nicht vor. Nach dem 24. Mord und einem öffentlichen bischöflichen Fluch auf den unbekannten Täter scheint der monatelange Spuk plötzlich vorüber. Nur einer, „der mit Abstand vermögendste Bürger weit und breit“, traut der Ruhe nicht: Antoine Richis, der Vater jenes Mädchens namens Laure, das Grenouille als krönendes Opfer auserkoren hat. Als Richis das erahnt, handelt er sofort. Unter Vortäuschung eines anderen Fluchtwegs plant er, Laure auf einer Insel in einem wehrhaften Kloster in Sicherheit zu bringen und schnellstmöglich zu verheiraten. Grenouilles feine Nase jedoch nimmt ihre Witterung auf, er folgt ihnen in den abgelegenen Gasthof, in dem sie unterwegs übernachten, tötet Laure im Schlaf und bemächtigt sich auch ihres Duftes. Sein Meisterparfum ist damit vollendet.
Diesmal allerdings hat er Spuren hinterlassen, die eindeutig zu ihm führen. Er wird verhaftet, gesteht die Tat, antwortet jedoch auf die wiederholte Frage nach dem Motiv nur mit der für die Ermittler unverständlichen Aussage, er habe die Mädchen „gebraucht“. Am 15. April 1766 wird er zum Tode verurteilt. Zwei Tage später soll er hingerichtet werden. Doch das erwartete Spektakel nimmt eine andere Richtung. Als Grenouille aus der Kutsche steigt, die ihn aufs Schafott bringen soll, ist die Menge unisono mit einem Schlag überzeugt, dass dieser Mann unmöglich ein Mörder sein könne. Der Duft eines einzigen Tropfens von seinem Meisterparfum genügt, um die Menge ihm vollkommen hörig zu machen. Die Verzückung und Anbetung der Masse – sie mündet in ein Bacchanal, eine wüste Sexorgie – erwidert Grenouille zunächst mit Triumph, dann mit Ekel und Hass. Er fällt in Ohnmacht und kommt im Bett der Laure Richis wieder zu sich. Selbst ihr Vater ist also der Massenhypnose erlegen. Nun will er Grenouille sogar als seinen Sohn adoptieren. Dieser heuchelt Zustimmung, stiehlt sich heimlich davon und verlässt Grasse unerkannt. Der Fall des Mädchenmörders wird abgeschlossen, indem man anstelle von Grenouille, dessen Verurteilung aufgehoben wurde, Dominique Druot beschuldigt und nach einem durch Folter erwirkten Geständnis hinrichtet.
Epilog
Grenouille, ernüchtert und desillusioniert, wandert zurück an den Ausgangspunkt seines Lebens: Am 25. Juni 1767 kommt er in Paris an und begibt sich geradewegs zum Cimetière des Innocents, in dessen Nachbarschaft er zur Welt gekommen war. Nach Mitternacht sucht er dort die Nähe der sich um ein Lagerfeuer scharenden Ausgestoßenen der Gesellschaft und übergießt sich vor deren Augen mit dem gesamten Rest seines Parfums. Sie reagieren so, wie von ihm vorausgesehen. Von seiner vermeintlich engelhaften Schönheit verzückt, begehren sie ihn mit kannibalischer Gier, und in kürzester Zeit wird Grenouille von ihnen zerrissen und vollständig verspeist.
Form
Aufbau
Der Roman hat 4 Teile und 51 durchlaufend nummerierte Kapitel. Weder die Teile noch die Kapitel tragen eine Überschrift. Der letzte Teil besteht aus nur einem, dem letzten Kapitel, was ihn schon formal von den anderen abhebt. Die Auffassungen der Interpreten, welche Funktion ihm zukommt, weichen nur geringfügig voneinander ab. Susanne Drobez hat sich für den Arbeitstitel „Die Desillusionierung“ entschieden, Werner Frizen und Marilies Spancken bezeichnen ihn schlicht als „Epilog“. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die drei ersten Teile des Romans den drei Etappen einer traditionellen Handwerker-Ausbildung entsprechen. Jeder Teil enthält deren typische Merkmale, und jeder Teil schließt ab mit Grenouilles Aufbruch bzw. Weggang. Bernd Matzkowski sieht eine gewisse Inkongruenz zwischen innerer Struktur und äußerer Aufteilung. Er hält die mit Grenouilles Abschied vom Plomb du Cantal entstehende Zäsur für stärker als die nach seinem Weggang aus Montpellier und rechnet daher die dazwischen liegenden Kapitel dem dritten Teil zu. Grenouilles sieben Jahre auf dem Berg bezeichnet er als „Mittelachse“ des Romans, die den Jugendlichen zum Erwachsenen mache und so den Höhepunkt bezüglich der „inneren Entwicklung des Protagonisten“ darstelle. Im Hinblick auf die „äußere Entwicklung der Geschehnisse und den äußeren Spannungsbogen“ hingegen liege der Höhepunkt im dritten Teil.
Erzählweise
Zwei Aspekte rücken in den Blick, wenn Interpreten (vor allem die frühen) diverse Charakteristika der Erzählweise des Parfum benennen: ein gewisser Konservatismus und die Fabulierkunst Süskinds. Letztere wird von Frizen/Spancken auch als Akt der Abgrenzung von der Moderne gedeutet, womit sie den Autor zugleich gegen den Vorwurf verteidigen, er habe deren Errungenschaften in puncto Erzählkunst „verschlafen“. Sie konstatieren: „Süskind hingegen trennt sich von diesen Darstellungsmitteln der Formzertrümmerung, der Diskontinuität, der Entschematisierung und entwickelt neue Lust zu fabulieren.“
Süskinds „Lust zu fabulieren“ im Sinne „fantasievollen Erzählens“ ist in jedem Falle eins der markantesten Merkmale des Romans und wurde durch die Würdigung mit dem World Fantasy Award (1987) bestätigt. Sie umfasst vieles: innere wie äußere Vorgänge, Imaginationen der Figuren ebenso wie deren Handlungen, das Einfühlen in Grenouilles Wahrnehmungen verschiedenster und komplexester Gerüche wie auch beispielsweise die Schilderung seines spektakulären Auftritts bei Baldini, bei dem er, sein erstes Parfum („Amor und Psyche“) schaffend, gleich „die parfümistische Weltordnung auf den Kopf stellt“. Was der Autor hier höchst anschaulich erzählt, ist pure Fantasie; allerdings bettet er sie ein in die reale Welt des Ortes, an dem er dies geschehen lässt. Süskind hat diese Welt intensiv studiert. Die Ergebnisse seiner Recherchen (bezüglich der Schauplätze, Kulturgeschichte und parfümistischen Techniken) hat er so in den Roman eingewoben, dass Fantastisches und Faktisches einander ergänzen und einen homogenen Erzählfluss ohne merkliche Brüche bilden.
Der Erzählfluss, und damit auch das Lesetempo, werden nicht unwesentlich dadurch bestimmt, dass Süskind ein versierter Drehbuchschreiber war, noch bevor Das Parfum erschien. Woran sich dies genau festmachen lässt, zeigt Frank Degler exemplarisch an den ersten drei Kapitelübergängen. Jedes Mal werde ganz neu angesetzt, sei es durch das Wort „Da!“ (Kap. 2), das „im Medium Sprache wie ein harter Filmschnitt“ funktioniere, sei es durch einen Ortswechsel (Kap. 3) oder sei es durch den Auftritt einer neuen Figur wie den von Madame Gaillard (Kap. 4), der in ihrem Fall mit „jedem großformatigen Leinwandauftritt konkurrieren“ könne, „sowohl was Intensität als auch was die Geschwindigkeit angeht, mit der die figurale Wirksamkeit entfaltet wird“. Degler verweist selbst weiter auf die diesbezügliche Analyse von Frizen/Spancken und deren vergleichendes Urteil mit Goethes Wilhelm Meister: Während dies „übel zusammengeleimt“ sei, „scheint Süskind die Komposition am Reißbrett entworfen zu haben. Seine letzten Sätze ‚sitzen‘.“ Ihre detaillierten Untersuchungen zum klanglichen „Ausschwingen der Kapitelenden“ schließen mit dem Urteil: „[Süskind] knüpft damit an die Klauseln an, die die antiken Rhetoriker zur Kultivierung der Prosa analog zum Versbau der Poesie schufen.“ Sie präzisieren so eine Beobachtung, die in Marcel Reich-Ranickis Rezension summarisch heißt: „[Süskind] hat einen ausgeprägten Sinn für den Rhythmus der Sprache.“
Süskinds „konservative Erzähltechnik“, von Norbert Berger positiv bewertet im Hinblick auf den Verkaufserfolg, wird in der Regel an zweierlei festgemacht: zum einen, dass auktorial, und zum anderen, dass (nahezu) chronologisch erzählt wird. Der auktoriale Erzähler des Parfum ist von der ersten Seite an präsent. Er mischt sich ein, indem er ebenso zurück verweist („wie wir wissen“) wie auch nach vorn („aber dahin sollte es nie kommen“). Zumeist bezieht er den Pluralis Auctoris nur auf sich („Vielmehr, so scheint uns […]“), mitunter schließt er mit dem „wir“ aber auch den Leser ein, wie zum Beispiel an einer der programmatisch wirkenden Textstellen, die zunächst nur den von Grenouilles „Amor und Psyche“ überwältigten Baldini zu meinen scheint: „Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes, die stärker ist als Worte, Augenschein, Gefühl und Wille. Die Überzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht in uns hinein wie die Atemluft in die Lungen, sie erfüllt uns, füllt uns vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.“
Süskinds Erzähler moderiert nicht nur, er kommentiert, wertet und ironisiert. Davon bleibt keine handelnde Figur ausgenommen. Als erste trifft dies Grenouilles Mutter, die beschrieben wird als „junge Frau […], gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hübsch aussah und noch fast alle Zähne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit“. Den Protagonisten selbst überhäuft der Erzähler schon in den ersten Sätzen mit Negativattributen („Scheusal“, „Finstermann“, „Selbstüberhebung“, „Menschenverachtung“, „Immoralität“, „Gottlosigkeit“). Dem stehen, an dieser Stelle, nur dessen Genialität und (vergessene) Berühmtheit gegenüber. An anderer Stelle hingegen, bei seinem ersten Mord, entlastet ihn der Erzähler gleich mehrfach: zunächst indem er detailliert erzählerisch beglaubigt, wie wenig Grenouille hier „bei Sinnen“ ist – oder eben getrieben von dem einzigen ihn beherrschenden; zusätzlich billigt er ihm am Kapitelende noch einmal zu, dass er sich einer Straftat kaum bewusst gewesen sei; vorher schon hatte er ihm verminderte Schuldfähigkeit aufgrund moralischer „Begriffsstutzigkeit“ attestiert. – Inhaltlich wie sprachlich auffallend ist das enorme Spektrum wertender Bezeichnungen, mit denen Grenouille versehen wird. Besonders groß ist es im ersten Teil, da er hier noch abhängig von anderen ist und die Wertung, die der Bezeichnung innewohnt, zumeist auch den wertet, der sie äußert oder denkt. In den ersten zwei Kapiteln zum Beispiel ist der neutrale Ausdruck „Kind“ eher die Ausnahme; stattdessen nennt ihn seine Mutter „das Ding“, die Amme Bussie „Bastard“ und Pater Terrier „feindliches Animal“ bzw. „Teufel“. In Kapitel 15 bricht Baldini, angesichts der vermeintlichen Hybris des „Zauberlehrlings“ Grenouille, in eine zunächst gedankliche, dann verbale Suada aus: „der kleine Mensch“ heißt es zuerst noch fast neutral, und danach „der Verrückte“, „Kind“, „Vormensch“, „fanatisches Kleinkind“, „der präpotente Bursche“, „das geduckte Häuflein Nichts“, „Geschmeiß“, „barbarischer Stümper“, „lausiger frecher Rotzbengel“ (und einmal nur wieder „Mensch“, aber auch dort, wie zu Beginn, nicht ohne begleitendes Attribut).
Einige dieser Bezeichnungen tragen Vergleichscharakter („wie ein Kind“, „wie diese unzugänglichen, unbegreiflichen, eigensinnigen kleinen Vormenschen“). Vergleiche gehören auch zu den wichtigsten Stilmitteln des Romans, was umso mehr gilt, wenn man deren verkürzte Form, die Metapher, hinzuzählt. So werden nach Grenouilles erstem Mord, als es heißt, dass er das Mädchen „welk“ riecht und von ihrem Duft nichts „verschütten“ will, zwei Metaphern eingeführt, die der Erzähler später wieder aufgreift und erweitert. Kurz darauf bündelt er in einem Satz zwei Vergleiche, die noch dazu antithetisch angelegt sind: „In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett.“ Ein typisches Vergleichs- und Metaphernfeld ist das der Musik. Schon in die Anfangsphase von Grenouilles Zeit bei Baldini fallen folgende Beispiele: der „geruchliche Zusammenklang“ des „unbeschreiblichen Chaos von Düften“ in dessen Haus gleicht „einem tausendköpfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie fortissimo spielt“; „ebenso wie ein musikalisches Kind darauf brennt, ein Orchester aus der Nähe zu sehen oder einmal in der Kirche auf die Empore hinaufzusteigen, zum verbotenen Manual der Orgel, so brannte Grenouille darauf, eine Parfumerie von innen zu sehen“; das Parfum, das Grenouille als zweites schafft – seine erste echte Kreation – und das Baldini dann „Nuit Napolitaine“ nennt, „war im Vergleich zu Amor und Psyche wie eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige“.
Im unmittelbaren Vorfeld dieser Phase erträumt sich Grenouille eine „innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen“. Die Synästhesie, die bereits dem Kompositum innewohnt, wird durch „Festung“ noch um den Tastsinn erweitert und zusätzlich kontrastiert durch die Antithese „fest“ – „luftig/leicht“. Ein noch markanteres Beispiel für Synästhesie, auf das Frizen/Spancken verweisen, fällt in Grenouilles (Traum-)Zeit auf dem Plomb du Cantal: „[…] die Düfte verströmten sich weiter und mischten sich in der Bläue der Nacht zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der Düfte bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk.“ Das Kompositum allein enthält nahezu alle Sinneswahrnehmungen: evident sind die optischen, akustischen und olfaktorischen; „B/brillant“ fügt taktile und farbliche hinzu; nur die gustatorischen fehlen.
Frizen/Spancken, die in den Synästhesien des Romans mehr als nur ein Stilmittel Süskinds sehen, weisen in diesem Zusammenhang auf eine weitere Funktion des Erzählers hin: die, Distanz zu schaffen. Die Erinnerung daran, dass Grenouilles erster Mord während eines Feuerwerks geschah, könne an dieser Stelle dazu führen, dass der Leser, „der vielleicht im Sinnenrausch schwelgt“, aus seinen Illusionen gerissen werde und auf Abstand zum Helden gehe. Ein anderes Mittel des Erzählers, dies zu bewirken, ist Ironie. Auch und gerade während der sieben Jahre, die Grenouilles ausschließlicher Beschäftigung mit sich selbst, mit seinem „inneren Imperium“ der Gerüche gewidmet sind, ist der Erzähler ständig präsent. So heißt es an einer Stelle, als er den „großen inneren Grenouille“ sich erheben lässt, in Parenthese: „fast schade, dass ihn keiner sah!“, an anderer „der liebe Jean-Baptiste“, und schließlich: „Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber!“
Die Frage, wie sich der Erzähler gegenüber dem Leser positioniert, beantworten Frizen/Spancken so: „Er steht mit dem einen Bein in jenem, mit dem anderen in unserem Jahrhundert, lässt Wunder zu und tut doch wissenschaftserfahren.“ Letzteres sei zu erkennen an Aussagen wie der, dass der neugeborene Säugling sich „vegetativ“ für das Leben entscheide, oder noch deutlicher: „Denn der zersetzenden Aktivität der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt.“ Süskinds Erzähler trete zwar, „gewollt anachronistisch“, als „Vertrauensperson“ in Erscheinung, die für den Wahrheitsgehalt des Erzählten bürge, doch tue er das, „nicht ohne den generellen Widerspruch im Bewusstsein des Lesers wach zu halten, dass das Sujet selbst, die Geschichte vom verduftenden Parfum-Genie, allen Realismus einerseits, alle auktoriale Wahrheitsversicherung andererseits a priori unterläuft.“ Der Umstand, dass der Roman „zwischen dem Authentizitätsanspruch eines aufgeklärten Erzählers und moderner Skepsis“ changiere, habe den Vorzug, dass er „zum nicht geringen Vergnügen des Lesers“ beitrage.
Interpretation
Figuren
Hauptfigur
Der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille steht ganz im Fokus des Romans; das einleitend gegebene Versprechen, hier gehe es um „seine Geschichte“, wird eingelöst, indem sein Leben buchstäblich vom ersten bis zum letzten Atemzug erzählt wird. Grenouille ist eine monomanische Figur. Die ihn beherrschende Manie ist bedingt durch sein Genie; sein Genie wiederum ist seinem Wesen nach manisch. Grenouille kann gar nicht anders als „immer der Nase nach“. Es scheint, als habe sein von Geburt an übermächtiger Geruchssinn die Entwicklung aller anderen Sinne behindert, ja überflüssig gemacht. Von seinen Augen beispielsweise heißt es, dass er sie zum ersten Mal „zuhilfe“ nimmt, als er schon 14 ist, gebannt vom Duft seines ersten Opfers – und nicht zur Korrektur, sondern nur, „um zu glauben, was er roch“. Die gleiche Diskrepanz zeigt sich in seinem Spracherwerb. Einerseits reicht die gängige Sprache bald schon nicht mehr aus für das, was er olfaktorisch wahrnimmt, andererseits ist und bleibt ihm zeitlebens die jenseits dessen liegende Welt (mit Abstrakta „vor allem ethischer und moralischer Natur“) begrifflich fremd, und demzufolge auch sprachlich. Dies ist einer der Indikatoren, die dafür sprechen, dass Grenouilles Verhalten autistische Züge trägt. Christina Bühler geht auf diesen Aspekt ausführlich ein. Unter Einbeziehung entsprechender Textpassagen aus dem Roman (zum Beispiel „Geborgenheit, Zuwendung, Zärtlichkeit, Liebe – oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte – waren dem Kinde völlig entbehrlich“) verweist sie auf weitere signifikante Symptome, die die Autismus-These stützen. Dazu gehören Grenouilles Inselbegabung bei vergleichsweise mäßiger Gesamtintelligenz, sein Streben nach sozialer Isolation, seine außergewöhnliche Schmerzunempfindlichkeit sowie sein Wahrnehmen der Umwelt als Ding-Welt, was – so Bühler – die Menschen ausdrücklich einschließe und in der Konsequenz dazu führe, dass er in ihnen nichts als gewöhnliche „Duftträger“ sehe und sie daher der gleichen „parfümistischen Verarbeitung“ unterziehe wie die dinglichen auch.
So eng die Hauptfigur angelegt scheint, wenn man sie beispielsweise als „monomanischen Autisten“ begreift, so vielfältig sind letztlich doch die in sie eingeschriebenen Facetten. Man kann in Grenouille so gegensätzliche Züge entdecken wie animalische, göttliche und teuflische. Man kann in ihm einen Übermenschen oder Unmenschen sehen, einen genialen Künstler, einen Betrüger, Führer und Verführer, und nicht zuletzt einen Außenseiter und Ungeliebten, der selbst nach Liebe und Anerkennung sucht. Zwischen „Scheusal“ und „Wunderkind“ changierend, bietet auch der Roman selbst einige Lesarten explizit an. Und wenn Bühler von „dem Verstoßenen, dem Saboteur, dem Narzisst, dem Größenwahnsinnigen, dem Amoralist, dem neuen Messias, dem Antichrist, dem schizophren-autistischen Monster, dem Mörder und Genie“ spricht, dann will sie mit dieser scheinbar wahllosen Aneinanderreihung sicher auch andeuten, dass Grenouilles Facetten sich darin noch längst nicht erschöpfen.
Grenouilles Leben vollzieht sich in einer Kreisbewegung, Anfangs- und Endpunkt fallen in eins, er kehrt zurück im doppelten Sinne. Zum einen räumlich: Um zu sterben, zieht es ihn zurück an seine Geburtsstätte, den Cimetière des Innocents, den „allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“. Zum anderen als Mensch: Er, der schon vor seiner Geburt Ungewollte und zeit seines Lebens Gemiedene, Isolierte und Ungeliebte, sucht nun die Nähe von seinesgleichen, den Ausgestoßenen der Gesellschaft, um sich von ihnen im buchstäblichen Sinne „einverleiben“ zu lassen – jetzt aber, die Begleitumstände seiner Geburt umkehrend, in einem Akt der Liebe. Zur animalischen Brutalität des Vorgangs steht das nur scheinbar in Widerspruch. Grenouilles „Abschlachtung“, so Matzkowski, erinnere an die Tötung des Pentheus durch die Mänaden, verweise aber auch – durch das eigenartige erzählerische Einsprengsel, „selbst Pferde“ hätten mit dem Auseinanderreißen eines Menschenkörpers „die größte Mühe“ – auf den Hergang einer zeitgenössischen Hinrichtung: der des Mörders Robert François Damiens.
Nebenfiguren
Die Menschen, die sich um den Protagonisten gruppieren, sind Nebenfiguren im eigentlichen Wortsinn. Sie sind ihm motivisch, thematisch und funktional untergeordnet, was den Autor nicht hindert, einigen sehr wohl ein markantes Profil zu verleihen und gelegentlich sogar seine Hauptfigur für sie zu verlassen (zum Beispiel für Baldini und Richis, wenn auch hauptsächlich zu dem Zweck, sie anschließend dem Genie umso hoffnungsloser unterliegen zu sehen).
Die Frauen sind leicht in zwei Gruppen zu unterteilen. Die eine bilden seine leibliche Mutter und seine zwei Ersatzmütter, die Amme Jeanne Bussie und die Pflegemutter Madame Gaillard. Erstere gibt ihm das Leben, die anderen sichern sein Überleben; zu mehr „braucht“ Grenouille sie nicht, auch wenn er damit zum ersten und einzigen Mal die Liebe einer Frau (der Amme) zurückweist. Allerdings hatte er sich, laut Erzähler, durch seinen Schrei nach der Geburt ja schon vorher „entschieden“ – „gegen die Liebe und dennoch für das Leben“. Sind die weiblichen Romanfiguren für das Motivgefüge Riechen/Geruch/Liebe unverzichtbar, schränkt ihre Funktionalität sie doch sichtlich ein. Madame Gaillard zum Beispiel, eine „abgestorbene Frau“, „obwohl noch keine dreißig Jahre alt“, wird so aller weiblichen Attribute beraubt, dass sie ähnlich geschlechtsneutral wirkt wie der Protagonist selbst. Tatsächlich ist ihr Handikap – das einzig geeignete, Grenouille am Leben zu erhalten – zugleich auch das, das sie offenbar nicht hat zur Frau werden lassen: Sie kann nicht riechen, also kann sie auch nicht lieben. Die zweite Gruppe der Frauen sind die von Grenouille getöteten Mädchen. Noch mehr reduziert als die „Mütter“, sind sie im Grunde nur noch Objekte seiner Gier und seines Kalküls. Selbst dem ersten und dem letzten Opfer gehört so gut wie kein Eigenleben; so plastisch der Leser ihr Bild vor Augen sieht, erblickt er es doch fast ausschließlich durch die geruchliche „Optik“ des Protagonisten.
Die Gruppierungen, die die Männer bilden, sind um einiges vielgestaltiger. Eine davon ist die der Männer, die die Rolle eines Ersatzvaters für Grenouille übernehmen könnten (der leibliche Vater wird vom Erzähler nicht einmal erwähnt). Zwei Männern stellt sich diese Frage explizit. Vor Richis, der sich Grenouille regelrecht anbietet, ist es Terrier, der sich angesichts des schlafenden Babys in der rührseligen Vorstellung gefällt, Vater zu sein, aber schnell davon ablässt, als das erwachende „feindselige Animal“ ihn geruchlich taxiert und ablehnt. Zwei andere Männer, seine Lehrherren Grimal und Baldini, kämen als potenzielle Ersatzväter ebenfalls in Frage. Allerdings zeigt sich, dass Grenouille weder danach sucht noch sie sich dafür eignen würden: Grimal ist brutal, Baldini engherzig und geizig. Beide verbindet wiederum mit zwei anderen Männern, Taillade-Espinasse und Druot, ein weiteres Gruppierungsmerkmal: der Egoismus, mit dem sie Grenouille ausbeuten und für den sie bei seinem Weggang umgehend mit dem Leben büßen müssen. Den beiden Männern, denen Grenouille in Grasse begegnet, Druot und Richis, bleibt schließlich die Gemeinsamkeit vorbehalten, ihn auch als Konkurrenten im Werben um eine Frau wahrzunehmen. Von Druot lässt sich Grenouille bereitwillig „besiegen“, weil ihm sexuelle Lust ohnehin fremd ist und erwachsene Frauen wie Madame Arnulfi nicht in sein Opferschema passen. Über den Witwer Richis hingegen, der seine Tochter inzestuös zu begehren beginnt, triumphiert er, weil dieser zwar sein Ziel erkennt, nicht aber seine „Technik“. Neben der Verbindungslinie zwischen den Handwerkern Grimal, Baldini und Druot, so Frizen/Spancken, gebe es auch die zwischen den „intellektuell und sozial herausragenden Männergestalten des Marquis und des zweiten Konsuls von Grasse, Antoine Richis“, die zudem mit dem Protagonisten Folgendes gemeinsam hätten: „Im Marquis wird das genialische Täuschungsvermögen, kombiniert mit einem Hang zur messianischen Mission, demonstriert, das Grenouille später ebenfalls exerziert, während Richis mit ihm ein Streben nach Macht und eine Kennerschaft des Schönen teilt.“ Der Marquis wird durch Textparallelen und Gedankengleichheit heute als Karikatur des Zoologen, Lebensreformers und Textilfabrikanten Gustav Jäger interpretiert.
Eine Linie schließlich, die die Haupt- und (mehrere) männliche Nebenfiguren sowohl verbindet als auch trennt und die zudem thematische, historische und ideengeschichtliche Aspekte berührt, ist die zwischen dem im Sturm und Drang wurzelnden Geniemythos und der Aufklärung. Drei Männer sind es, die aufgeklärte Positionen vertreten: Terrier als Kleriker, Taillade als Wissenschaftler und Richis als Geschäftsmann und Politiker. Grenouilles geniale Nase ist ihnen jedoch hoch überlegen, macht ihr mehr oder weniger redliches Bemühen schnell zunichte und gibt sie der Lächerlichkeit preis; und dort, wo Verstand und Widerstand etwas größer sind und der eine Mann (Richis) stärker scheint als der blinde Glaube der Masse an die Wirksamkeit des bischöflichen Fluchs, ist sein Fall umso tiefer. – Was Grenouille mit einem vierten Mann (Baldini) zunächst eint, ist ihre gegenaufklärerische Position. Ihre Motive allerdings sind völlig verschieden. Baldini ist ein alt und starrsinnig gewordener Fortschrittsverweigerer, Grenouille das „Wunderkind“, der junge ambitionierte „Künstler des Sturm und Drang […], der aus vorrationalem Vermögen schafft [… und …] mittels wunderbarer Einbildungskraft alle Dogmen der Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzt.“
Antithetik
Schon das Cover verspricht einen spannungsvollen Gegensatz: einerseits das Verführerisch-Schöne im Titel sowie beim Anblick der entblößten, schlafenden Nymphe, und andererseits der die Geschichte eines Mörders ankündigende Untertitel. Dieses Kontrastprinzip setzt sich im Text fort, schon im allerersten Satz. Formal und inhaltlich angelehnt an den Kern des Auftaktsatzes von Kleists Michael Kohlhaas („einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“), wird auch Grenouille avisiert als „[eine der] genialsten und abscheulichsten Gestalten“ seiner Epoche. Weitere solcher antithetischen, oft paradox wirkenden Momente folgen diesem ersten nach und beziehen sich zumeist auch auf die Hauptfigur. Darunter sind nicht wenige konzeptionell wesenhafte Attribute Grenouilles, so wie diese: Das (fiktiv) größte Geruchsgenie der Menschheitsgeschichte, dessen übermenschliche Gabe offenbar schon Teil seiner pränatalen Ausstattung ist, kommt zugleich mit dem Makel der eigenen Geruchlosigkeit zur Welt. – Der, dem es gegeben ist, den vollkommensten Wohlgeruch zu kreieren, wird am „allerstinkendsten Ort“ geboren, noch dazu an „einem der heißesten Tage des Jahres“, so wie er auch am „heißesten Tag des Jahres“ an den gleichen Ort zurückkehrt, um sich dort durch und mit seinem Meisterwerk auszulöschen. – Ausgerechnet der, dem Liebe und Geliebtwerden zeitlebens versagt bleiben, verfügt über die Fähigkeit, seine Mitmenschen nach Belieben zur Liebe zu verführen. – Der, der menschliche Schönheit am sichersten erkennt und für die anderen erkennbar macht, verkörpert selbst eher deren Gegenbild; seine zahlreichen Stigmata (er ist klein, verwachsen, vernarbt und hinkt) bedürfen kosmetischer Hilfe, um ihn bestenfalls „normal“ erscheinen zu lassen.
Matzkowski verweist auf zahlreiche weitere Paradoxa, die sich auch vorwiegend auf Grenouille beziehen, unter anderem die, die seinen Aufenthalt auf dem Plomb du Cantal betreffen: Ausgerechnet am Ort der größtmöglichen Menschenferne durchläuft Grenouille eine Art (innerer) Menschwerdung; unter der Bedingung „minimaler Bewegungsfreiheit“ weitet sich sein „Fantasiereich“; wo „absolute Geruchlosigkeit“ herrscht, imaginiert er „Millionen und Abermillionen von Gerüchen und Geruchskombinationen“; „während draußen ein Krieg tobt, lebt Grenouille in absolutem Frieden“.
Auch andere Figuren, wie zum Beispiel Richis, werden paradox gestaltet. So ist dessen Versuch, seine Tochter in Sicherheit zu bringen, vergleichbar mit dem von Dürrenmatts Physikern, die Welt zu retten; wie sie erreicht Richis genau das Gegenteil dessen, was er will, denn sein „fein ausgedachter Plan“, Laure zu schützen, macht sie letztlich umso schutzloser und liefert sie dem Täter desto sicherer aus. Hinzu kommt, dass es später mit Richis ausgerechnet der Vater des Opfers ist, der sich dem Mörder als Ersatzvater anbietet, und dass ausgerechnet er, der bis dahin als einziger den Verstand zu behalten schien, ihn am gründlichsten verliert.
„Unsere Sprache taugt nicht zur Beschreibung der riechbaren Welt“, äußert der Erzähler an einer Stelle ziemlich genau in der Mitte des Buches – eine höchst paradoxe Feststellung in einem Roman, in dem der Autor auf nahezu jeder Seite von Neuem versucht, sich und seine Leser vom Gegenteil zu überzeugen, so wie im folgenden Beispiel.
„Dieser Geruch hatte Frische […] und er hatte zugleich Wärme“, versucht der 15-jährige Grenouille jenen „unbeschreiblichen“ Duft in Worte zu fassen, noch bevor er ihn einem konkreten Objekt oder Subjekt zuordnen kann. „Dieser Geruch war eine Mischung aus beidem, aus Flüchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit, und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stück dünner schillernder Seide … und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie honigsüße Milch, in der sich Biskuit löst – was ja nun beim besten Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft […]“. – Die eine Vielzahl von Antithesen enthaltende Wahrnehmung beschreibt den Duft des Mädchens, das kurz darauf sein erstes Opfer wird.
Themen und Motive
Liebe/Tod – Geruch/Riechen – Blume/Blüte/Defloration
Liebe und Tod sind, laut Frizen/Spancken, die „zwei Fundamentalthemen“, die Süskinds Roman „umrahmen“. Wie der Autor sie an zentralen Punkten ineinander verschränkt, umreißen sie sinngemäß wie folgt: Auf die Liebe verzichtend, ertrotzt sich Grenouille das Leben auf Kosten des Todes seiner Mutter; später schafft er ein „Liebeselixier“ durch den Tod von 25 Mädchen; mit Hilfe von ihm entkommt er dem Tod und führt ihn bald darauf selbst herbei, indem er die „Kannibalen“ auf dem Friedhof dazu zwingt, dass sie, ihn verspeisend, „zum ersten Mal etwas aus Liebe“ tun.
Der Tod und deutlicher noch die Liebe werden eng verknüpft mit dem Themen- und Motivkomplex Geruch/Riechen. Bei den weiblichen Figuren liegt dies wiederum offener zutage als bei den männlichen. Was zwischen Grenouille und seinen drei „Müttern“ fehlt, ist das Band der Liebe, und in allen drei Fällen mehr oder weniger ursächlich durch einen olfaktorischen Defekt. Bei Madame Gaillard wird der Zusammenhang vom Erzähler explizit hergestellt („[sie hat] den Geruchssinn verloren und jedes Gefühl für menschliche Wärme und menschliche Kälte und überhaupt jede Leidenschaft“), bei seiner leiblichen Mutter zumindest angedeutet („ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft“), und im Verhältnis zur Amme Jeanne Bussie liegt das Handikap, der fehlende Eigengeruch, bei Grenouille selbst.
Im Beziehungsfeld zwischen Grenouille und seinen Opfern fällt zunächst das traditionell eher in der Lyrik beheimatete Motiv der Blume (Blüte/Defloration) ins Auge. Heißt es bei dem ersten Mädchen, dass Grenouille sie „welk“ riecht, nimmt er Laure Richis als „fast noch geschlossene Blüte“ wahr. Was diese später erwartet, wird metaphorisch vorausgedeutet, als Grenouille zunächst bei der Mazeration gebannt beobachtet, wie „der Tod“ die „frischen Blüten“ so schnell ereilt, dass „ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertränkte“, und dann bei der kalten Enfleurage, dass man den „edelsten aller Blüten“ die „Seele nicht einfach entreißen“, sondern „regelrecht abschmeicheln“ muss und sie sich „langsam zu Tode schlafen“. Die Tötung der Mädchen schließlich assoziiert man, im konkreten wie im übertragenen Sinne, mit einer Defloration, wenn zunächst Richis richtig vermutet, dass er seine Tochter durch eine Heirat für den Mörder wertlos machen würde, und dann, als Grenouille Laure für einen Moment verloren glaubt und mit Schrecken denkt: „Es ist mir ein anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht!“
Im Vergleich zur Beziehung zwischen Grenouille und seinen „Müttern“ oder auch der in einem der klassischen Modelle, Goethes Heidenröslein, ist die Konstellation zwischen dem Täter und seinen Opfern radikal einseitig: Grenouille usurpiert alle Macht für sich, vom Handeln bis hin zur Wahrnehmung. Die Schönheit des Dufts, den er in seinen Besitz bringen will, kann ihn im Voraus in ein Hochgefühl versetzen, das dem der Liebe gleichkommt; allerdings gilt diese ausschließlich dem Geruch selbst. Was er den anderen, den gewöhnlichen Menschen voraus hat, ist, dass er die Schönheit der Mädchen mit seiner Nase präziser und frühzeitiger erfasst als jene mit ihren Augen. (Der Grasser Bauer, der das erste Opfer findet, gesteht, „er habe so etwas Schönes noch nie gesehen“, und fast gleichlautend nach ihm Richis: „Niemals hätte er gedacht, daß es in Grasse soviel unerkannte Schönheit gab.“) Grenouille wird sich seiner Überlegenheit bewusst, was in ihm die Lust weckt, über die Menschen zu herrschen. Der aussichtsreichste – oder auch einzige – Weg, diese zu befriedigen, führt ihn über sein Genie. Daher kreiert er das Parfum aus dem Duft der 25 Mädchen, von dem er sicher weiß, dass – wie bei seiner geplanten Hinrichtung – buchstäblich ein Tropfen genügt, die Menschen ihm hilflos auszuliefern. Er weiß selbstverständlich auch, was das Parfum konkret bewirkt: Es inspiriert die Liebe. Dass sie ihm, dem lebenslang Ungeliebten, gilt, beschert ihm den Rausch des Triumphs. Was er allerdings nicht voraussieht, ist das Gefühl danach: die Ernüchterung, der „Kater“. Die Liebe, die sich im Bacchanal entäußert und die in paradoxester Steigerung (durch Richis) auch ihn persönlich trifft, erzeugt in ihm Ekel und Hass. Aber auch diese Gefühle werden nicht erwidert. Die Mauer zwischen ihm und den Menschen bleibt also bestehen, gewahren sie doch nicht „ihn“, sondern nur seine „Duftmaske“. Was ihn vollends ernüchtert und desillusioniert, ist, dass er auch die „Mauer“ in sich selbst nicht zu überwinden vermag. Das wirft ihn zurück an den Punkt seines Aufbruchs vom Plomb du Cantal. Zwar hat sein Parfum die „unüberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflößen“ und scheint „stärker als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes“, doch „eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selbst riechen machen.“ Frizen/Spancken resümieren: „Er durchschaut, dass sein Selbst ein Betrug ist. Niemals wissen zu können ‚wer er sei‘, wird ihm zum Grund der Selbstabschaffung. Dies ist die letzte und äußerste Krise seines Lebens. Sie besiegelt die Vergeblichkeit all seiner Versuche sich menschlichen Wesen durch die Kunst zu nähern.“
Unter Berücksichtigung von Bühlers These, dass das, was Grenouille als Geruchsphänomen wesenhaft auszeichnet – seine „olfaktorische Hypersensibilität“ und sein fehlender Eigengeruch – zu den „fantastischen Elementen“ des Romans, also „in den Bereich des Wunderbaren“ gehören, lässt sich die Verbindung zwischen den Themenkomplexen Geruch/Riechen und Liebe/Tod wie folgt zusammenfassen. Grenouille, mit der genialen Gabe ausgestattet, alle Gerüche dieser Welt wahrnehmen zu können mit Ausnahme seines eigenen, entwickelt sich zum Künstler, der jedweden Duft zu schaffen vermag bis hin zu jenem, der die Menschen dazu bringt, „ihn“ riechend zu lieben, löst aber dadurch nicht sein Dilemma, dass keiner – weder die anderen noch er selbst – tatsächlich „ihn“, das heißt seine ureigene Identität, „riechen“ bzw. erkennen und lieben kann, woraus er den Schluss zieht, seine Existenz als überflüssig zu betrachten und zu beenden.
Illusion
Eine der Botschaften, die der Erzähler dem Leser in den ersten Sätzen des Romans vermittelt, ist die: Wem der Name des Protagonisten nicht ebenso bekannt vorkomme wie der anderer „genialer Scheusale“ seiner Zeit, müsse sich nicht wundern, denn dessen Metier sei „das flüchtige Reich der Gerüche“ gewesen, das „in der Geschichte keine Spuren hinterläßt“. Dieses Motiv des „Flüchtig“-Werdens und Verschwinden-Lassens – eine Spielart der „Kunst der Illusion“ – gehört zu den konstituierenden Elementen des Romans. Es zeigt sich in Figuren wie auch in Dingen, allen voran in dem als Dingsymbol fungierenden Parfum selbst. Bei den Nebenfiguren ist es zunächst ein erzählerisches Prinzip. In dem Moment, in dem sie für das Leben des Protagonisten keine Rolle mehr spielen, lässt der Erzähler sie wieder verschwinden. Einige werden schlicht nicht mehr erwähnt, andere begleitet er noch ein Stück. Allerdings ist deren Weg (außer dem von Madame Gaillard) sehr kurz und führt geradewegs in den Tod, kaum dass der Held auf und davon ist. Nach Grenouilles Mutter widerfährt dies just den vier Männern, die ihn am intensivsten kontaktiert und am skrupellosesten ausgenutzt haben (Grimal, Baldini, Taillade, Druot). Zum einen geschieht hier erneut „Wunderbares“ (die „Bösen“ werden bestraft), zum anderen zeigt die Tatsache, dass sie sterben „müssen“, und mehr noch die Beschreibung des Wie, dass die Ankündigung, „keine Spuren zu hinterlassen“, buchstäblich eingelöst wird: Grimals und Baldinis Leichname verschwinden in der Seine, Taillade löst sich praktisch in Luft auf, und Druot ist nach wenigen Tagen vergessen. Ein auffälliges Detail ist, dass die Schilderung von Taillades Ende („fand sich nichts mehr von ihm […] kein Knöchelchen“) bis in die Wortwahl vorausweist auf den Moment, wenn der Protagonist – weniger mysteriös als Taillade – verschwindet. Das tut er, auf andere Art, allerdings auch schon vorher. Zum einen geschieht das in seinen „systolischen“ Phasen, wenn er sich unauffällig macht, sich als „Zeck“ zurückzieht, zum anderen bei seinen Ortswechseln. Diese haben, neben dem „Moment des Aufbruchs“, immer auch Fluchtcharakter, und das in zunehmendem Maße (Plomb du Cantal, Montpellier, Grasse). Das Wortspiel, dass Grenouille sich jedes Mal „verduftet“, trifft bei ihm allerdings erst bei seinem Freitod im übertragenen und im Wortsinn zu. Dass er dafür sorgt, dass mit diesem letzten Akt nicht nur er „vom Erdboden verschwunden“ ist, sondern zugleich auch sein Parfum, ist wiederum wichtig im Sinne der vollständigen Einlösung des anfänglichen Versprechens. Das Einzige, was außerdem seine Existenz hätte beglaubigen können – „die Büchlein mit den sechshundert Formeln“, sein Vermächtnis für Baldini –, hatte der Erzähler mit dem Besitzer bereits unauffindbar verschwinden lassen. Das Geruchs- und Parfümeursgenie Grenouille ist damit auch als Figur selbst „Illusion“ – als Teil eines Kunstwerks, das seinem Wesen nach Illusion ist.
„Da die Welt des Parfums eine Welt der reinen Illusion ist“, so Frizen/Spancken, „spielen auch Motive des Theaters mit.“ Eine der „Devisen“ Grenouilles sei: „Dasein heißt eine Rolle spielen“, und eine andere: „Er ist von Natur ein Versucher auf der Suche nach seinem Publikum.“ Sein „erster öffentlicher Auftritt“ bei Baldini verlaufe wie ein „Theatercoup […] nach klassischen dramaturgischen Gesetzen“, unterlegt durch Begriffe aus dieser Welt: Grenouilles Erscheinen „im vorteilhaftesten Licht der Leuchter“, sein plötzliches Entschwinden („mit einem Mal weg, weggeschluckt von der Dunkelheit“), die Tatsache, dass er seinen Zuschauer „überwältigt“, bis hin zur Ankündigung einer „Katastrophe“ und deren späterem Eintreten. Von einer solchen ist auch die Rede, als er seinen Aufenthalt auf dem Plomb du Cantal abbricht. Vorher hat er, in Ermangelung eines Publikums, sein Inneres zum „Schauplatz“ umfunktioniert und sieben Jahre lang „Vorstellung[en] des grenouilleschen Seelentheaters“ gegeben. Dass seine nachfolgenden drei großen Auftritte in Montpellier, Grasse und Paris allesamt den Charakter theatraler Inszenierungen haben, ist evident. Nur im ersten Fall teilt er sich die Regie mit einem Anderen (Taillade), und auch nur zum Schein; später lenkt und leitet er alles allein. Im Grunde kann er von dem Moment an, da er in Montpellier das Parfum kreiert, mit dem er riecht wie andere Menschen auch, alles berechnen; die Parfums für verschiedene Anlässe, die er dann in Grasse „wie die Kleider“ wechselt, erweitern seinen Spielraum nur noch und machen jeden seiner Schritte zum inszenierten Auftritt. Letztlich kommt Grenouille aber damit keinen Deut weiter. Denn was immer er schafft, es ist nur die Illusion, die man von ihm wahrnimmt – nicht er „selbst“. „Der Künstler ist an seiner Kunst gescheitert“, stellt Bühler fest und fügt hinzu, dass Grenouille sogar in „doppelter Hinsicht“ scheitere: zum einen durch die „illusionäre Täuschung“, der er als Künstler unterliege, und zum anderen durch sein Kunstwerk selbst, das Parfum, das „flüchtig seinem Wesen nach“ sei.
Einordnung
Genre
Die Interpreten des Romans ordnen Das Parfum ganz unterschiedlichen Genres und Strömungen zu. Dazu gehören solche, die sich sofort erschließen und gewiss intendiert sind – ganz gleich, ob parodistisch oder nicht –, aber auch recht ungewöhnliche. Bühler zum Beispiel weist Merkmale des Schelmenromans nach und entdeckt außerdem eine Reihe märchenhafter Elemente. Einige von diesen wiederum – unter anderem das Moment des Wunderbaren – begründen das Urteil der spanischen Zeitschrift Día, die Das Parfum als „Europas Antwort auf den Magischen Realismus Lateinamerikas“ bezeichnete. Wolfgang Delseit und Ralf Drost lesen den Roman auch als politische Parabel und heben hervor, dass gerade die Mischung mehrerer und ganz verschiedenartiger Genres den Reiz eines solchen Buches erhöhe und es zu einem Werk der Postmoderne mache.
Entwicklungs- und Bildungsroman
Zweimal – erst, als er zu Baldini hin, dann, als er von ihm weggeht – trifft Grenouille Entscheidungen, wie man sie vom Protagonisten (der in vielerlei Hinsicht ähnlichen Genres) eines Entwicklungs- oder Bildungsromans erwartet. Beide Male will er etwas Neues kennenlernen, und beide Male muss er sich zu diesem Zweck bei jemandem in die Lehre begeben. Allerdings ist hier der Lehrling seinen Lehrmeistern, ihrem Erfahrungsvorsprung zum Trotz, unendlich überlegen. „Sein Wissen, sein Geheimnis gehört nur ihm.“ Das wird nirgends so deutlich wie in der Szene, als Grenouille, wie ein „Zauberlehrling“ und „Hexenmeister“ zugleich, Baldini (und dem Leser) seine Künste zum ersten Mal demonstriert. Gewiss lernt er bei Baldini und später auch bei Druot dazu, doch bedarf er weder deren Anwesenheit noch Anleitung. Was er bei ihnen sucht und findet, ist im Grunde nichts anderes als Schutz und Maske einer bürgerlichen Existenz. Sein eigentliches Ziel, so Frizen/Spancken, sei also nicht „Integration“, sondern „Macht“. Daher handle es sich auch nur „äußerlich“ um einen Entwicklungsroman. Das zugehörige „Wertesystem“, zu denen „Entwicklung, Werden, Bildung“, aber auch „die Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe“ gehöre, sei „zerstört“. Das im Parfum erkennbare Entwicklungsprinzip sei vielmehr der zyklische Wechsel zwischen Rückzug und Aufbruch, Sich-Verpuppen und Expandieren, veranschaulicht in der Metapher der Zecke, vom Erzähler stets verkürzt zur maskulinen Form des „Zeck“. Diese Metapher beschreibt einen wesentlichen Aspekt von Grenouilles animalischer, instinktgetriebener Natur: Macht er sich klein und unscheinbar und minimiert seine Bedürfnisse, gehorcht er dem Instinkt des bloßen Überleben-Wollens; verheißt ihm seine „Witterung“ ein Opfer und lässt er sich „fallen“, folgt er seinem Macht- und Eroberungsdrang. Diesem „unklassischen“ Naturell zum Trotz, erkennen Frizen/Spancken hier einen Zusammenhang zu klassischem Gedankengut: Süskind übernehme „formal das Grundgesetz von Leben und Entwicklung, wie es Goethe als Polarität des Organischen verstanden hatte; eine Polarität, die im Sich-Zusammenziehen und Sich-Ausdehnen des Herzens, in Systole und Diastole, symbolisch vorgebildet sei.“ – Bühler hingegen äußert Zweifel an der Auffassung, dass Das Parfum den Bildungsroman parodiere. Sie sieht in Grenouille einen zunächst „rohen Diamant“, der zum einen sein Genie selbst erkenne und perfektioniere und zum anderen ein „duales ästhetisches Prinzip“ entwickle, eins, das nicht nur auf ihn ausgerichtet sei, sondern auch nach „außen“, auf die Mitmenschen.
Kriminalroman
Der Untertitel des Romans, Die Geschichte eines Mörders, verheißt dem Leser das besonders in der Unterhaltungs- und Trivialliteratur populäre Genre des Kriminalromans. An den üblichen Ingredienzen fehlt es in Süskinds Parfum freilich nicht. Es gibt einen Täter, nicht weniger als 26 Opfer, falsche Verdächtige und neben den ordentlichen Ermittlern einen unfreiwilligen Amateur-Detektiv, der zugleich Vater des letzten Opfers ist (Richis); es gibt, gleich mehrfach sogar, Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung; und nicht zuletzt gibt es die in diesem Genre beliebten überraschenden Wendungen: zum Beispiel die, dass der Mordplan plötzlich durchschaut und fast vereitelt wird, oder die, dass der Täter seine eigene Hinrichtung abwendet und dass er sich schließlich selbst richtet.
Dass er dies nicht aus Einsicht in seine Schuld tut, lässt das Bedürfnis nach Gerechtigkeit allerdings ebenso unbefriedigt wie die Tatsache, dass anstatt seiner ein Unschuldiger hingerichtet wird. Auch an anderer Stelle unterläuft der Roman gängige Erwartungen an das Genre. So wird das Urteil über die Schuldfähigkeit des Täters ganz dem Leser überlassen. Die eigentliche Kriminalhandlung nimmt mit nur neun Kapiteln (40–49) vergleichsweise wenig Raum ein. Der wichtigste Schlüsselreiz, auf dem Kriminalliteratur üblicherweise aufbaut, fehlt, denn der Mörder ist dem Leser bekannt. Auch wird die Täterfindung erzählerisch verknappt und eine Verfolgung oder gar Jagd auf ihn entfällt ganz. Der Verzicht auf eine solche Verfolgungsjagd folgt allerdings weniger einem Kalkül als vielmehr der Logik dieses Romans. Der Täter bleibt hier, solange er agiert, deshalb ein „Phantom“, weil dies nicht nur in seinem Wesen begründet ist (Geruchlosigkeit), sondern auch Teil der von ihm entwickelten Tötungstechnik: Um den Geruch seiner Opfer „rein“ einfangen zu können, muss er sich ihnen so nähern, dass sie völlig ahnungslos sind. Dass er dann jedoch, nach Abschluss der Mordserie, umso leichter gefasst werden kann, liegt wiederum daran, dass er sich kaum dessen bewusst ist, Unrecht begangen zu haben, und daher auch nicht der zu erwartenden Konsequenzen.
Wenngleich Süskind das im Untertitel gegebene Versprechen, Die Geschichte eines Mörders zu erzählen, sehr wohl einlöst, stellt sich doch heraus, dass ihm andere Attribute seines Protagonisten weit wichtiger sind und dass er in der Darstellung Grenouilles als Mörder gerade das ausspart, was von einem Werk dieses Genres allgemein erwartet wird. So stellen Frizen/Spancken fest, dass weder die Psyche des Täters („holzschnitthafte Seele“) irgendetwas erkläre noch dessen Sozialisation, die ersetzt werde durch eine „mörderische Erbsubstanz“. Auch werde „die Erwartung auf die bewährte Mischung von sex and crime bitter enttäuscht“. Matzkowski hingegen ist der Ansicht, bei der Lektüre des Parfum würden „auch die Freunde erotischer Literatur auf ihre Kosten kommen“, betont allerdings an anderer Stelle, Grenouilles Morde seien „frei von jeglichem sexuellen Aspekt“. Frizen/Spancken kommen zu dem Schluss, dass Grenouille nur „scheinbar“ ein „Triebtäter“ ist, da ihm nichts zu eigen sei, was eine solche Diagnose aus formaljuristischer Sicht rechtfertige: „[Er] hat für den Körper seiner Schönen kein Interesse, er meuchelt ohne Lüsternheit, er missbraucht seine Opfer nie, er tötet um höherer Zwecke willen.“
Künstlerroman
Zwei Genres in eine Kurzdefinition einbringend, klassifizieren Frizen/Spancken Das Parfum als „Künstlerroman […] in der Maskerade des Kriminalromans“. In ihrer Begründung, warum sie den Text vornehmlich als Künstlerroman lesen, verweisen sie unter anderem auf zwei Künstlerfiguren aus E. T. A. Hoffmanns Novellensammlung Die Serapionsbrüder, die sie als literarische Vorbilder für Grenouille sehen. Neben dem Juristen und Hobby-Instrumentenbauer Rat Krespel (aus der gleichnamigen Erzählung) sei das vor allem der Goldschmied Cardillac aus Das Fräulein von Scuderi, wo ebenfalls ein „Mörderkünstler“ porträtiert und, ähnlich wie im Parfum, eine „suggestive Mordgeschichte“ mit dem „romantischen Geniemythos“ verbunden werde. In diesem Geniemythos sehen Frizen/Spancken das entscheidende Moment, das Das Parfum zum Künstlerroman mache und aus dem sich die Figur des Grenouille speise. Dabei habe Süskind „nicht wahllos Bilder vom gefährdeten Künstler überblendet, sondern eine gewisse kulturhistorische Folge eingehalten“. Sich an ihr orientierend, untersuchen sie zunächst das „Originalgenie“ des Sturm und Drang mit dem gegen Gott rebellierenden Prometheus, dann das vor allem durch die Romantik begründete „kranke“ Genie mit einer Vielzahl von Attributen (wie stigmatisierender körperlicher Abnormität, Infantilität, Neigung zum Wahnsinn, Außenseitertum, Isolation und Hybris), und nach dem „dekadenten“ Genie schließlich auch das „postmoderne“, als dessen Repräsentant Grenouille gelten könne, indem Süskind in ihm Sein und Design, „Künstler und Nichts“ eins werden lasse.
Historischer Roman
Matzkowski sieht wesentliche Voraussetzungen erfüllt, Das Parfum auch als historischen Roman zu lesen. Er macht das vor allem daran fest, dass Süskind nachweislich aus historischen Quellen geschöpft hat, zum Beispiel bei der Beschreibung handwerklicher Techniken und der hygienischen Verhältnisse im 18. Jahrhundert. Etwas anders fällt die Einschätzung aus, wenn man dieses Genre differenzierter betrachtet, wie es beispielsweise Umberto Eco tut, der zwischen der „Romanze“, dem „Mantel-und-Degen-Roman“ und dem „wahren historischen Roman“ unterscheidet. Letzterem zuordnen würde man Das Parfum nicht, denn laut Eco ist dem Autor eines „wahren historischen Romans“ daran gelegen, seine Figuren so denken und handeln zu lassen, dass der Leser dadurch Geschichte besser verstehe. Auf Das Parfum trifft vielmehr eine der Kernaussagen zu, mit denen Eco das erste Subgenre charakterisiert: Er meint, dass der Autor einer „Romanze“ Geschichte benutze „als Bühnenbild, als Vorwand und phantastische Konstruktion, um der Einbildung freien Lauf zu lassen“.
Postmoderne
Die Zuordnung des Parfum zur Postmoderne erfolgte nicht sofort und war alles andere als selbstverständlich. Aus den ersten Rezensionen sprach eine gewisse Unsicherheit gerade bezüglich der Frage, wo der Roman zu verorten sei. Einer der gemeinsamen Nenner war, ihn als konventionell zu betrachten. Zugespitzt hielt die Kritik Süskind gar vor, die Moderne zu ignorieren oder schlicht nicht zu kennen, so zum Beispiel Reich-Ranicki. Dieser relativierte sein Urteil aber insofern, als er auch einem zeitgenössischen Autor zugestand, so wie Süskind erzählen zu „dürfen“ – vorausgesetzt, er könne es auch.
Wolfram Schütte war es dann vorbehalten, als „einer der ersten“ (Delseit/Drost) oder gar „als Erster“ (Frizen/Spancken) Das Parfum nicht als vormodern, sondern explizit als postmodernes Werk zu kennzeichnen. Hierbei muss zwar berücksichtigt werden, dass die Begriffe Moderne und Postmoderne keineswegs fest umrissen sind und nach wie vor kontrovers diskutiert werden. Andererseits ist es aber dennoch oft möglich, die Entstehung einer neuen Epoche oder Strömung gerade dort auszumachen, wo sie beginnt, sich von der „alten“ abzugrenzen. Dies gilt gleichermaßen für die Postmoderne, die zur Entstehungszeit des Parfum noch relativ jung war.
Schütte macht die Zugehörigkeit des Parfum zur Postmoderne vor allem daran fest, dass Süskind mit der literarischen Überlieferung spiele und dies auf ironisch-parodistische Weise tue, und zwar so, dass das intertextuelle „Patchwork“ des Romans „gut vernäht“ sei. Im Gegensatz zu Frank Lucht, der Das Parfum zwar auch der postmodernen Literatur zuordnet, aber deren Spielcharakter für „ein Nullsummenspiel, operativ wertlos“ hält, erkennt Judith Ryan, ebenso wie Schütte, in Süskinds Technik eine „positive Strategie“, die im Unterschied zur Montagetechnik der Moderne die einzelnen intertextuellen Teile zu einem homogenen Ganzen verschmelze. Ryan verteidigt Das Parfum damit auch gegen den Vorwurf, epigonal zu sein, und verortet es „an der Grenze zwischen Pastiche und Parodie, zwischen zwei literarischen Formen also, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen“.
Neben der Intertextualität sind es, laut Wolfgang Delseit und Ralf Drost, die Begriffe Selbstreferentialität und Mehrfachkodierung, die vorzugsweise auf Das Parfum angewandt werden, um „strukturelle Eigenarten postmoderner Literatur“ zu erläutern. „Selbstreferentialität“ erklären Delseit und Drost so, dass sich „etwas im Kunstwerk Dargestelltes auf das Kunstwerk selbst“ beziehen lasse. Ihr Beleg dafür ist, dass Süskind seinem Helden Grenouille als Künstler in doppelter Hinsicht gleiche: zuerst, indem er „das so noch nie Dagewesene“ schaffe, zum Schluss jedoch – da nur er „Zutaten und Machart“ kenne – auch als Einziger „von seinem Kunstwerk distanziert“ bleibe. Ein anderes Beispiel für ein selbstreferentielles Verfahren im Parfum ist Gerhard Stadelmaiers häufig zitierter Satz: „Grenouille plündert tote Häute, Süskind tote Dichter.“ Ausgehend von dieser Sentenz, beleuchtet Degler ebenjene Textstelle, auf die sich Delseit/Drost beziehen („Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist […] Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, für den es sinnlos ist.“) und kommt zu folgenden Überlegungen. Die „logischen Ketten“, dass einerseits „Unverständnis“ zu „Faszination“ führe und diese zu „Sinn“, andererseits aber „Verständnis“ „Distanz“ bewirke und diese „Sinnlosigkeit“, sei eine „Absage an Sinn und Möglichkeit der Interpretation von künstlerischer Produktion“. Da dieser Gedankengang aber „ironischerweise einer Figur zugeschrieben“ werde, von der es anschließend heißt: „Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Stärke“, unterlaufe Süskinds Parfum „jeden Versuch, einen dauerhaften interpretatorischen Sinn zu konstruieren bzw. aus den Paradoxien des Textes einen semantischen Überfluß zu entwickeln“.
Bezogen auf den Begriff „Mehrfachkodierung“ (definiert als „Ineinanderschieben“ von „mehreren literarischen Genres und deren Wert- und Bedeutungsebenen“) lesen Delseit/Drost Das Parfum zu Beginn als einen „Kriminalroman historischer Prägung“, der „allmählich vom Genre des Künstlerromans überlagert“ werde und zum Schluss der politischen Parabel nahestehe. Das spiegele sich folgerichtig in Grenouille wider, der gegen Ende alles in sich vereine: Mörder, Genie und Demagoge. Frizen/Spancken sprechen nicht von Mehrfach-, sondern von Doppelkodierung, beziehen dies „auf die Verwendung zweier Sprachen, z. B. einer elitären und einer populären“ und zielen damit auf einen anderen postmodernen Aspekt des Parfum: den, dass ganz unterschiedliche Lese(r)erwartungen befriedigt werden. Süskind beherrsche die Kunst, „Massenkultur, Pop Art und Avantgarde durch Doppelkodierung zu integrieren“, indem er „einen homogenen Dialog mit der Fantasy-, Schauer- und Detektivliteratur einerseits und einen ideologie- und literaturgeschichtlichen andererseits“ führe. Diese vielfach bestätigte Beobachtung spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass Das Parfum nach seinem Erscheinen auch von außen eine Art „Doppelkodierung“ erfuhr: als herkömmlicher Bestseller quantitativ, und qualitativ durch seine auf dem Urteil von 25 Literaturkritikern fußende Platzierung in der SWR-Bestenliste.
Intertextualität
Intertextualität, ein wesentliches Merkmal der Postmoderne, bedeutet, dass ein literarischer Text ex- oder implizit Bezug nimmt auf bereits vorhandene Texte. Im Falle des Parfum ist die Zahl solcher „Prätexte“ beträchtlich. Frizen/Spancken nennen in ihrem diesbezüglichen Kapitel rund 50 Titel sowie etwa 30 Autoren und merken an, die „Liste dieser literarischen, philosophischen und kulturgeschichtlichen Texte“ sei „nach unten hin offen“. An erster Stelle werden hier die Werke aufgeführt, bei denen die Bezugnahme an besonders vielen Punkten festzumachen ist.
Mindestens zwei Attribute – das Außenseitertum und körperlicher Misswuchs – verbinden Grenouille mit Quasimodo aus Victor Hugos Der Glöckner von Notre-Dame und Oskar Matzerath aus Günter Grass’ Die Blechtrommel.
Mindestens vier Attribute – die beiden zuvor genannten sowie die Genialität und ein eher handwerkliches als geistiges Künstlertum – hat Grenouille gemeinsam mit Cardillac aus E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi, Wilhelm Hauffs Zwerg Nase, Gaston Leroux’ Das Phantom der Oper namens Erik sowie Thomas Manns Cipolla aus Mario und der Zauberer.
Im Einzelnen kommen noch folgende Vergleichsmomente hinzu:
Grenouille/Quasimodo: Paradoxon des geruchlosen Parfümeurs bzw. gehörlosen Glöckners, Aufwachsen ohne Eltern, Mutation zum Mörder, Tod auf einem Friedhof, Kontrast zur weiblichen Schönheit.
Grenouille/Matzerath: „Geburtsumstände, pränatale Bewusstheit, postnatale Verweigerung […], Verführung durch Massenpsychose (Maiwiese), Konkurrenz und Machtprobe mit dem christlichen Messias, Zurücktrommeln/Erriechen als Erinnerungsprozess“, Mitverursacher des Todes ihnen Nahestehender.
Grenouille/Cardillac: die Phantomhaftigkeit; der Künstler als Getriebener; die Jekyll-and-Hyde-Existenz eines Künstlers und Mörders, wobei beides miteinander verquickt ist: Grenouille tötet um sein Kunstwerk zu schaffen, Cardillac um es nicht zu verlieren.
Grenouille/Zwerg Nase: Grenouille als Künstler des Geruchs-, Zwerg Nase als „Künstler des Geschmackssinns“; ihre Bewerbung (als Parfümeurlehrling bzw. herzoglicher Koch) erscheint den Etablierten als Hybris, und ihre Eignung muss sich in einer einmalig gewährten Probe erweisen, die zum Triumph gerät und ihre Meisterschaft bezeugt; die sieben wie im Traum verbrachten Jahre.
Grenouille/Erik: „Phantom“haftigkeit, Auftreten als „Engel“, Kontrast zur weiblichen Schönheit, In-Besitz-Bringen der Schönen.
Grenouille/Cipolla: der selbst inszenierte, theatralische Auftritt vor Publikum, verbunden mit Täuschung und Betrug; der missgestaltete, aber als „Engel“ erscheinende Protagonist bringt gezielt ausgewählte „Subjekte“ dazu, ihm öffentlich ihre Liebe zu bezeigen – und ihn zu töten (bei Cipolla ungewollt).
Chamissos Peter Schlemihl hat mit Grenouille gemeinsam, dass die Geruchs- bzw. Schattenlosigkeit als Kainsmal des aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen erscheint.
Die Berührungspunkte zu Kleists Michael Kohlhaas gehen, laut Frizen/Spancken, über den Auftaktsatz hinaus durch „[die] zwanghafte Verfolgung der Ziele der Helden, [die] outcast-Existenz [und das] Auftreten als Engel“.
Neben Goethes Prometheus und Zauberlehrling verweist das Autorenduo auch auf Parallelen zu seinem Faust: „Terriers Studium der Fakultäten, Grenouilles Heilschlaf und faustisches Streben, sein inneres Imperium, sein Entscheidungsmonolog vor dem Beischlaf mit Gretchen, das Ewig-Weibliche als Entelechie“.
Thomas Mann ist in Frizen/Spanckens Auflistung der intertextuell wichtigsten Werke am häufigsten vertreten. Neben Mario und der Zauberer nennen sie Doktor Faustus („der Künstler als Syphilitiker, das Ende der schöpferischen und der Anfang der parodistischen Kunst“), Felix Krull („der Künstler als Krimineller und Schauspieler“), Der Erwählte („siebenjährige Selbstverbannung, Ernährung am Busen der Erde, Metamorphose zum sehr großen Papst resp. Messias“), und Der Zauberberg („sieben geschichtlose Jahre des Bergaufenthaltes, Donnerschlag der Befreiung“).
Der Protagonist von Joris-Karl Huysmans’ Roman Gegen den Strich ist ein isoliert lebender, dekadenter aristokratischer Sonderling, der sich ganz seinen extravaganten Liebhabereien widmet und unter anderem auch eine synästhetische Geruchs- oder Duftorgel erfindet.
Eine gewisse Sonderstellung unter den sich zum Vergleich anbietenden Werken kommt Roald Dahls Erzählung Bitch zu. Neben Umberto Ecos Der Name der Rose gehört es zu den ganz wenigen, die erst in jüngerer Zeit entstanden und weder der deutschen noch der französischen Literatur zugehörig sind. Nach Ansicht von Frizen/Spancken ist „überzeugend nachgewiesen worden“, dass Bitch ein „Modell“ war „für das Fabelgerippe und einige Züge der Hauptfigur“: So sei der Protagonist der erotischen Erzählung ein „fast nur aus Nase bestehender Gnom“, ein „genialer Olfaktologe“, der „keine moralischen Hemmungen“, aber „Allmachtsfantasien“ hat und eine Essenz entwickelt, die jeden Mann, der sie riecht, „in eine rasende Sexbestie verwandelt“.
Dass Süskind „nicht einfach drauflos zitiert“, zeigt sich auch an Stellen, die zunächst einmal nicht mehr zu sein scheinen als Stil-„Mimikry“ (die Nachahmung eines bestimmten Gattungsstils), wie zum Beispiel zu Beginn des 44. Kapitels, wo er einen Märchenton anschlägt („Tiegelchen“, „Tarnkappe“, „zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen“). Die den Rahmen bildenden Phrasen „wollte er sich heute holen“ und „dann war er übermorgen im Besitz“ verweisen allerdings auf ein bestimmtes Märchen: Rumpelstilzchen. In Bezug auf Grenouille ist das nicht irgendeines. Beide Hauptfiguren haben Charakteristika gemeinsam, die über äußerliche Ähnlichkeiten hinausgehen: Ihre Identität verbergend, trachten sie danach, Menschen ihr Liebstes abzujagen. Andere Märchen, die sich zum Vergleich anbieten, sind Froschkönig (allein schon durch die Wortbedeutung des französischen als ‚Frosch‘) sowie Die Schöne und das Biest, an das sich wiederum das bereits erwähnte Phantom der Oper anlehnt.
Einen weiteren Beleg für die These, dass Süskinds Anspielungen „kein Selbstzweck“ und mehr als „Stil-Persiflage“ sind, erbringen Frizen/Spancken durch die Untersuchung von Kapitel 26. Dort werde der „hohe Stil“ der biblischen Genesis nicht nur übernommen, sondern immer wieder gebrochen, so in: „Der Große Grenouille aber war etwas müde geworden und gähnte und sprach […].“ Allein das Wort „gähnen“ genüge, um „in einem Satz“ den Bogen zu schlagen zum kranken „décadent“ des 19. Jahrhunderts, und damit „vom Glauben an echtes Schöpfertum hin zum unschöpferischen Versagen“. Im allerletzten Satz des Kapitels („Also sprach der Große Grenouille und segelte, während das einfache Duftvolk unter ihm freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Flügeln von der goldenen Wolke herab über das nächtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz.“) werten sie gleich mehrere Anspielungen aus. Erstens verweise die „in betonter Finalstellung“ stehende „zentrale Vokabel des empfindsamen Zeitalters, das Herz“, auf das „Originalgenie“, dessen nur in seiner Fantasie stattfindendes Schaffen hier jedoch eine „Anmaßung“ Grenouilles sei. Zweitens zitiere Süskind mit dem einleitenden „Also sprach […]“ Nietzsches Zarathustra, von dessen „Sendungsbewusstsein“ bei Grenouille allerdings nur „die Prophetenattitüde, der Egalitarismus gegenüber dem einfachen Duftvolk“ bleibe. Schließlich antworte Süskind mit Grenouilles „Seelenreise“ auf den „deutschen romantischen Traum vom Seelenflug schlechthin“, Eichendorffs Mondnacht („Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flügel aus,/ Flog durch die stillen Lande,/ Als flöge sie nach Haus.“), indem er dessen „Einheitssehnsucht nach dem wie immer beschaffenen Anderen“ in Grenouilles „Einsamkeit des Ichs“ verwandle und ihn „immer wieder nur in die leeren Hallen seines Selbst“ zurückkehren lasse, in die „autoerotische Selbstbegegnung, die Selbstbegattung“.
Einordnung in Süskinds Gesamtwerk
Als Süskind 2002 im Magazin der Süddeutschen Zeitung in mehreren kurzen Kapiteln porträtiert wurde, hieß eines davon – im Singular – „Sein Produkt“. Es widmete sich ausschließlich dem Parfum, und es lag nahe, Süskind für den Autor eines einzigen Werkes zu halten. Einerseits entspricht das durchaus der öffentlichen Wahrnehmung. Andererseits sagt es mehr über die Größe des Erfolgs, den er mit seinem Parfum hatte (und nach wie vor hat), als über vermeintliche Misserfolge mit seinen anderen Werken. Sein Erstling Der Kontrabaß beispielsweise reüssierte in einem für Theaterstücke durchaus vergleichbaren Maß und war zwei Mal das meistgespielte Stück an deutschsprachigen Bühnen, 1984/85 und 1991/92. Auch die Filmdrehbücher Monaco Franze (1983), Kir Royal (1986) und Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (1997), die er als Co-Autor mitgestaltete, erfuhren Anerkennung und Würdigung; Letzteres zudem durch mehrere Preise.
Beschränkt man die Sicht auf die dem Parfum nachfolgenden literarischen Werke Süskinds, so ist allerdings unverkennbar, dass ihnen bei Weitem nicht der Erfolg der beiden Vorgänger beschieden war. Am Handlungskern oder der Wesensart der Protagonisten kann dies nicht gelegen haben. In dieser Hinsicht blieb Süskind sich treu. Die Taube (1987) ebenso wie Die Geschichte von Herrn Sommer (1991) porträtieren „Einzelgänger und Sonderlinge, die mehr oder weniger entfernt von der Gesellschaft leben“ – nicht anders als Der Kontrabaß und Das Parfum auch. Was sich zum Nachteil verändert hat, zeigt beispielsweise die kritische Bemerkung des Spiegel, Die Geschichte von Herrn Sommer erzähle „mehr die Geschichte von Herrn Süskind selbst“. Einwände dieser Art gegen Das Parfum sucht man vergebens, im Gegenteil. Reich-Ranicki hob gerade hervor, in diesem Werk begegne dem Leser ein „Romancier, der uns nicht mit dem Spiegelbild seines Bauchnabels belästigt“. Das heißt nichts anderes, als dass es Süskind im Parfum gelungen ist, absonderliche Wesenszüge, die ihm durchaus nicht fremd waren, so in eine Figur und einen Handlungszusammenhang zu projizieren und zu überhöhen, dass die Frage, was diese mit dem Autor zu tun haben, sich dem Rezipienten nicht stellt oder völlig irrelevant ist. Warum er etwas Vergleichbares kein zweites Mal in Angriff nehmen wollte oder konnte, erklärt möglicherweise die folgende rückblickende Äußerung von ihm: „So einen Roman zu schreiben ist furchtbar. Ich glaube nicht, dass ich das noch einmal machen werde.“ Vielleicht wird aber auch eines Tages bestätigt, was bisher, wie manch anderes in seiner Biographie und der Genese seines Hauptwerks, nur kolportiert wird: „Schon der blutjunge Patrick Süskind habe davon gesprochen, dass er den einen Roman schreiben werde, welcher ihn reich machen werde und von dessen Erträgen er dann leben wolle.“
Entstehungs- und Publikationsgeschichte
Als Süskind 1984/85 mit dem Parfum ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte, wurde er zwar als Entdeckung gefeiert, war aber kein gänzlich Unbekannter. Sein Erstlingswerk, das Ein-Personen-Stück Der Kontrabaß, war drei Jahre zuvor, im Herbst 1981, im Münchner Cuvilliés-Theater uraufgeführt worden und hatte sich „zu einem stillen, aber anhaltenden Publikumserfolg“ entwickelt, auch international. Auf den deutschsprachigen Bühnen avancierte es 1983/84, nach Dürrenmatts Physikern, zum meistgespielten Stück; in der nachfolgenden Saison rückte es sogar an die Spitze.
Einer Empfehlung seiner Assistentin Susanne Dorn folgend, kam auch Diogenes-Verlagsgründer Daniel Keel mit dem Stück in Berührung. Zwar las er nur das Rollenbuch, war aber von dem Text so angetan, dass er ihn noch im selben Jahr (1983) verlegen wollte. Süskind reagierte auf seine Anfrage allerdings zurückhaltend und gab zu bedenken, dass Theaterstücke sich „in Buchform nie gut“ verkauften. Als er schließlich doch einer Publikation zustimmte (sie kam 1984 mit einer Startauflage von 4.000 Exemplaren zustande, von denen 3.000 abgesetzt wurden), lehnte er die übliche Vorschusszahlung an den Autor ab.
Auf die bei einem Neuling naheliegende Frage, ob er denn noch mehr „in der Schublade“ habe, antwortete Süskind im Juli 1983, zwar gebe es „einige Texte – übrigens nicht in der Schublade, sondern aufrecht stehend in Ordnern in einem Regal! –, aber wenn sie nicht veröffentlicht sind, so könnte das womöglich auch mit ihrer Qualität zusammenhängen.“ Ein knappes Jahr später jedoch, als er sich im Mai 1984 für die Belegexemplare des Kontrabaß bedankte, teilte er mit, er habe eine Woche zuvor „ein Manuskript abgeschlossen, das ich Ihnen gerne schicken würde.“ Bei einem Treff mit Keel in München habe er „schon andeutungsweise davon gesprochen“. Worum es ging, fasste Süskind so zusammen: „Es ist die Geschichte eines Parfumeurs, heißt Das Parfum, spielt im Frankreich des mittleren achtzehnten Jahrhunderts und hat 280 Seiten.“
Die Lektüre dieses Textes stimmte Keel euphorisch: „Jetzt haben wir einen Weltbestseller.“ Ein Zufall kam beschleunigend zu Hilfe, als die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Herbst 1984 „dringend“ einen geeigneten Fortsetzungsroman zum Vorabdruck suchte. Diogenes bot Das Parfum an, und so startete dessen Erstveröffentlichung am 16. Oktober 1984. Das Echo („Noch nie gab es so viele positive Leserzuschriften auf einen Serienabdruck“) bestärkte die Hoffnung des Verlags auf einen außergewöhnlichen Coup, ebenso die Resonanz seitens der Buchhändler auf die „eiligst gedruckten“ und kurz vor Weihnachten zugesandten Leseexemplare. Von dort drängte man sogar, die Auslieferung vorzuziehen. Diogenes reagierte: Einen Monat früher als geplant, am 26. Februar 1985, konnte Das Parfum erscheinen.
Süskind hatte zu einer Startauflage von 5.000 geraten. Der Verlag entschied sich für das Zehnfache. Zwar konnte man wegen des vorgezogenen Erscheinungstermins nicht sofort alle Ausgaben liefern, doch das heizte die Nachfrage eher noch an. In kurzen Abständen folgte eine Auflage auf die andere mit ständig steigender Zahl von Exemplaren, sodass die siebente, im September 1985, schließlich 100.000 betrug.
Auch international wurde man schnell aufmerksam. Nach Aussage von Marianne Liggenstorfer, der damaligen Lizenz-Chefin, habe Diogenes sich mit der Vergabe der Übersetzungsrechte jedoch Zeit gelassen, vor allem um sicherzustellen, dass das Buch in das jeweilige Verlagsprogramm passe, sodass schließlich nicht unbedingt der Meistbietende den Zuschlag erhalten habe. Diese wiederum hätten dann auch branchenunübliche Bedingungen akzeptiert, beispielsweise die, dass das Titelbild unverändert übernommen werden musste. Ausgenommen davon waren die US-amerikanische Taschenbuchausgabe (wegen des Verbots der Darstellung weiblicher Brustwarzen), die beiden DDR-Ausgaben des Verlags Volk und Welt Berlin (zur Verhinderung eines Reimports in die Bundesrepublik Deutschland) sowie die Buchclub-Ausgabe von Bertelsmann.
In den Jahren nach seinem Erscheinen entwickelte sich Das Parfum von einem Best- zu einem Dauerseller. Den Status eines Bestsellers (für den es gewöhnlich etwa 100.000 verkaufte Exemplare braucht) erreichte es binnen kürzester Zeit, noch vor Ablauf von acht Wochen. Zwei Jahre später, 1987, hatte man Das Parfum bereits in 23 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als eine Million Bücher abgesetzt. Seither hat sich die Zahl der Übersetzungen auf 48 erhöht und die der weltweit verkauften Exemplare auf über 20 Millionen (davon 5,5 Millionen in deutscher Sprache). Das Parfum hielt sich – einmalig in der deutschsprachigen Buchgeschichte – 470 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, davon 449 ununterbrochen. Etwa ebenso lange, rund neun Jahre, wartete Diogenes mit der Publikation einer Taschenbuchausgabe. Als die Startauflage im März 1994 erschien, war es mit 325.000 Exemplaren die höchste der Verlagshistorie.
So einfach es ist, die Publikationsgeschichte des Romans nachzuzeichnen, so schwierig ist es noch immer, dessen Entstehungsprozess transparent zu machen. Das liegt an der extremen Öffentlichkeitsscheu des Autors. Nach dem Erscheinen des Parfums hat sie sich noch auf eine Weise verstärkt, dass es in einem Artikel aus Anlass seines 60. Geburtstags, ihn ironisch zitierend, hieß: „Ums Jahr 1985 herum lebte und verschwand in der Gegend von München ein Mann, der zu den erfolgreichsten und rätselhaftesten Schriftstellern seiner Zeit gehört hatte.“ So soll der zurückgezogen lebende Süskind nur Kontakt zu einigen wenigen, aber sehr engen Freunden pflegen, die ihn „wie ein Wall umgeben“ und „nie über ihn sprechen würden“. Nach einem einzigen Fernsehauftritt 1981 ist er nie wieder öffentlich in Erscheinung getreten. Ihm zuerkannte Preise nimmt er nicht an, Interviewanfragen lehnt er ab. Bisher sind nur drei Fälle bekannt geworden, bei denen er von diesem Grundsatz abgewichen ist: ein Interview mit Edith Lier (für die Schweizer Illustrierte), eines mit James M. Markham (für die International Herald Tribune), und ein drittes mit einer Schülerzeitung. Die von Süskind vorgegebenen Einschränkungen lassen allerdings, zumindest in Liers Darstellung, darauf schließen, dass die Gespräche nur bedingt den Charakter herkömmlicher Interviews hatten: Lier durfte keine Fotos, keine Tonbandaufzeichnungen, ja nicht einmal Notizen machen. Ihre Publikation trug dem Rechnung: Sie erschien unter dem Titel „Brief an einen Unbekannten“, zeigte eine der wenigen verfügbaren Aufnahmen von Süskind mit einem Balken über seinen Augen und enthielt eher ihre während des siebenstündigen Gesprächs gewonnenen „weichen“ Eindrücke von ihm als Person denn „harte“ Fakten, die die Entstehung seiner Werke erhellen können hätten.
So gibt es relativ wenig, was als gesichert angenommen werden kann. Im Grunde sind es nur seine Recherchen, und von diesen auch nur die von ihm bestätigten. Die praktischen lassen sich an zwei Punkten festmachen. Mit einem „neu erworbenen Motorroller“ bereiste er die Handlungsorte („Der Geruchssinn war praktisch der einzige Sinn, der auf der Vespa funktionierte“), und bei einem achttägigen Aufenthalt in Grasse ließ er sich „bei der namhaften Firma Fragonard in die Geheimnisse der Parfumeurskunst einweihen“. Geht es um den Einfluss von Lektüre, so wird in der Regel Alain Corbins Pesthauch und Blütenduft an erster Stelle genannt; Delseit/Drost sprechen sogar davon, Süskind habe „dieses Werk erklärtermaßen seinem Roman zugrunde gelegt“. Geht man davon aus, dass er die 1982 erschienene französische Originalausgabe gelesen hat, so fallen drei seiner Aussagen in den Lier- und Markham-Artikeln auf: zum einen, dass er etwa zwei Jahre am Parfum gearbeitet habe, zum zweiten, dass die Geschichte zunächst in der Gegenwart spielen sollte, und schließlich, dass er sich zwar über das Ende des Romans im Klaren gewesen sei, dann aber gemerkt habe, dass er „die Biographie dieses Mannes von Anfang an schreiben musste“. Das könnte bedeuten, dass Corbins Werk nicht nur befördernd, sondern sogar richtungsgebend auf den Schreibprozess eingewirkt hat. Auch das Genre ist möglicherweise dadurch neu bestimmt worden, denn ursprünglich soll es als Kurzgeschichte geplant gewesen sein.
Noch unsicherer sind Aussagen über die Inkubationszeit des Romans. Laut Süskinds eigener Darstellung gegenüber Lier war die Idee zu dem Roman acht Jahre zuvor „plötzlich“ da. Das wäre, geht man vom Zeitpunkt des Interviews aus, etwa 1977 gewesen, also rund fünf Jahre, bevor er nach eigenem Bekunden zu schreiben begann. Folgt man den Aussagen von Personen, die den Entstehungsprozess zumindest peripher wahrgenommen haben, entsteht ein etwas anderes Bild. Ihrem Eindruck nach hat Süskind nicht nur länger an diesem Roman gearbeitet („10–12 Jahre“), sondern auch schon zu einem früheren Zeitpunkt Vorstellungen gehabt, die auf die endgültige Fassung hindeuteten. Anzeichen dafür wären die „unendlich vielen [Parfum]Fläschchen“ gewesen, mit denen er sich umgeben habe, seine Aussage, an einer Geschichte über einen Parfümeur zu arbeiten, und nicht zuletzt die Karte vom Paris des 18. Jahrhunderts in seinem Zimmer auf dem Boulevard Raspail 31. Auch wenn Letzteres laut Delseit/Drost „verbürgt“ sein soll, sind dies jedoch nicht mehr als Indizien und bestenfalls dazu geeignet, die eine oder andere Aussage des Autors in Frage zu stellen.
Rezeptionsgeschichte
Abhängig von Zeitpunkt und Zielsetzung unterscheiden diverse Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte des Parfum in der Regel drei Felder: die Feuilletonkritik, die Literaturwissenschaft und die Literaturdidaktik. Erstere ist, zumindest für das deutschsprachige Feuilleton, relativ leicht überschaubar und dementsprechend gut erforscht. Was die Mehrzahl der Rezensenten bei Erscheinen von Süskinds Debütroman konstatierten, war seine Andersartigkeit. Michael Fischer brachte sie auf die Kurzformel „ein erfreulicher Anachronismus im modischen literarischen Bla-Bla“, Stadelmaier versuchte sie konkreter zu fassen: „Sein Buch widerspricht so auch einer gegenwärtigen Produktion, die ihr Ungeheuerliches meist formal befriedigt – bei eher dürftigen Inhalten: Da wird (fast) nichts mehr festgehalten, dies aber mit großem Aufwand.“ – Bei der Beschreibung von Süskinds Erzählweise fällt fast immer das Wort „traditionell“, nicht selten auch „epigonal“. Auch Reich-Ranicki setzte sich damit intensiv auseinander: Autoren und Errungenschaften der Moderne aufzählend, stellte er fest, dass diese Süskind „herzlich gleichgültig“ seien, fragte sich, ob dies bewusst geschehen sei, und konzedierte schließlich, „daß man auch heute so erzählen darf – vorausgesetzt, daß man es kann“. Er lobte, unter anderem, die „einnehmende Musikalität“ von Süskinds Prosa und hielt zugleich fest: „Der verführerische Wohlklang vieler Seiten seines Buches geht nicht auf Kosten der Deutlichkeit des Ausdrucks.“ Später relativierte Reich-Ranicki sein Urteil: Von dem Moment an, in dem der Protagonist Frankreichs Hauptstadt verlässt, würden „mit der Unmittelbarkeit und Suggestivität des Romans auch dessen Schlüssigkeit und Überzeugungskraft schwinden“. Die Bacchanal-Szene nahm er allerdings von seiner Kritik aus. Auf sie bezog sich Reich-Ranicki auch, als er den Roman als Parabel auf das Dritte Reich deutete, indem er „die grandiose Darstellung des Massenwahns, der Verführbarkeit der Menschen“ in dem von Grenouille inszenierten Bacchanal als „Apotheose von mythologischem Rang“ bezeichnete. Andere folgten ihm nach: Stadelmaier („[Grenouille] gehört eher zur Sorte ‚Heydrich‘“) und Wolfram Schütte in zwei Artikeln (zuerst durch den Vergleich der Wendungen „größte[r] Parfumeur aller Zeiten“ / „größter Feldherr aller Zeiten“ bzw. „GröFaZ“, dann durch den Vergleich Grenouilles mit dem KZ-Arzt Mengele). Süskind selbst soll die auf das Dritte Reich abzielende Deutung, zumindest indirekt, bestätigt haben. – Eine weitere Frage, mit der sich mehrere Kritiker auseinandersetzten, war die nach dem „Sinn“. Reich-Ranicki entschied sich so: „Die Sehnsucht nach dem Absoluten, ihre Ursachen und ihre Folgen“. Beatrice von Matt hingegen (deren Rezension als eine der wenigen zu einem insgesamt negativen Gesamturteil führte) vermisste „eine korrigierende Gegeninstanz“ bzw. „die leiseste Spur eines utopischen Entwurfs“ und damit eine Sinngebung überhaupt. Dietrich Klose gab ihr implizit recht, wendete aber den Vorwurf ins Positive: „Eine besondere Absicht ist nicht zu erkennen – außer der, gut zu unterhalten.“
Degler stellt diese „Antwort auf die Frage nach dem tieferen Sinn des Romans“ heraus als eine Aussage, die „an lakonischer Prägnanz kaum zu übertreffen“ sei, und nutzt sie, um zu der Anfang der 1990er Jahre geführten akademischen Debatte über die „Bedeutung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ überzuleiten, deren „Leitdifferenz“ mit den Begriffen „‚Unterhaltsamkeit‘ versus ‚Sinnstiftung‘“ zusammengefasst werden könne und bei der auch immer wieder auf Süskinds Roman verwiesen worden sei. Literaturwissenschaft und -didaktik vergleichend, meint er, Letztere habe „schneller und intensiver“ auf Das Parfum reagiert. Frizen/Spancken behaupten diesbezüglich das Gegenteil, heben allerdings das „frühe Konzept“ von Norbert Berger hervor, das „weitaus praktikabler“ sei als andere, den Roman in seinem Selbstwert respektiere, seine Machart thematisiere und den Schüler zu einem kritischen Beobachter des literarischen Marktes erziehen wolle.
Einigkeit zwischen Degler und Frizen/Spancken besteht in ihrer Wertschätzung der zwei frühen Analysen von Schütte, die im Grenzbereich zwischen Feuilletonkritik und Literaturwissenschaft zu verorten sind. Schütte habe darin nicht nur als Erster den postmodernen Charakter des Parfum erkannt, sondern auch den „dunklen Schatten der Aufklärung“, der entsteht, indem Süskind Grenouille „ins Zeitalter Rousseaus und Voltaires“ versetzt. Außerdem zeige er Süskinds „doppelseitige Strategie“ von „Konstruktion“ (in der Entfaltung der „Kraft des Erzählens“) und „De-Konstruktion“ (durch Sichtbarmachen des Erzählten als „Künstlich-Gemachtes“). Eine „zweite zeitgenössische Kritik mit tiefergehendem analytischen Anspruch“ sieht Degler in der von Hartmut Böhme, der unter anderem der gängigen These widersprach, dass Grenouille „sinnliche Erfahrungen“ mache. Dessen Geruchswahrnehmung zerlege die Umwelt „in kleinste Informationseinheiten“ und speichere sie als „Kombination von bits“. In Grenouilles „binär codierendem Gehirn“, so Degler, erkenne Böhme daher eine „Allegorie auf die Computertechnologie und ihre entindividualisierenden/derealisierenden Auswirkungen“. Eine ganz ähnliche Auffassung vertrat Stadelmaier, der in Grenouille einen „Roboter der Sinnlichkeit“ und eine „Zukunftsfigur“ sah.
Adaptionen
Film
Süskind zögerte lange, bevor er die Filmrechte veräußerte. Über mögliche Gründe lässt sich nur mutmaßen. Einer davon, seine Öffentlichkeitsscheu, wurde im Film Rossini thematisiert, in dem der höchst kauzige Dichter Jakob Windisch sich gegen die Vergabe der Filmrechte an seinem Bestsellerroman sperrt. Da Süskind Mitautor des Drehbuchs von Rossini war, wurde darin gemeinhin ein ironisches Selbstporträt gesehen.
Angebote für eine Verfilmung des Parfum sollen Süskind ab 1986 vorgelegen haben; renommierte Regisseure wurden mit dem Projekt in Verbindung gebracht, etwa Stanley Kubrick, Tim Burton, Steven Spielberg, Roman Polański, Martin Scorsese, Miloš Forman und Ridley Scott. Den Zuschlag erhielt 2001 schließlich der mit Süskind befreundete Bernd Eichinger. Dieser verpflichtete als Regisseur Tom Tykwer; beide schrieben auch als Co-Autoren am Drehbuch mit. Die Besetzung der Hauptrolle mit dem eher unbekannten Ben Whishaw galt als Überraschung. Für einige Nebenrollen wurden namhafte Schauspieler gewonnen, wie Dustin Hoffman oder Alan Rickman. Premiere in Deutschland war am 14. September 2006. Der Film erhielt mehrere Preise und war kommerziell ein Erfolg. Der Tenor der Kritik war gespalten.
Weitere
Bereits ein Jahr nach Erscheinen des Parfum reagierte Dieter Heckenschütz unter dem Pseudonym Patricius Sauerbier mit dem Roman Das Soufflé. Geschichte eines Gourmands, den er ebenfalls im Frankreich des 18. Jahrhunderts ansiedelt und in dem er „das Geschehen aus der Welt der Gerüche parodistisch in die Welt der Geschmäcker versetzt“. – Auf Heckenschütz’ Parodie wiederum spielt der Film Rossini ironisch an, indem der vom Dichter Jakob Windisch (alias Patrick Süskind) verfasste Bestseller Loreley. Geschichte einer Hexe als „parfümierte pseudoliterarische Quarkspeise“ bezeichnet wird.
Das Parfum hat auch in der Popmusik Spuren hinterlassen. Zum Beispiel inspirierte der Roman die Liedtexte der Songs Scentless Apprentice (‚geruchloser Lehrling‘) der Grunge-Rock-Band Nirvana und Du riechst so gut der deutschen Rockgruppe Rammstein, in denen zahlreiche Anklänge an die Handlung bzw. den Protagonisten des Romans auftauchen. Kurt Cobain, Sänger und Songschreiber von Nirvana, bekannte sich in einem Interview explizit dazu, dass sich Scentless Apprentice auf Das Parfum beziehe. Grenouilles Bedürfnis, den Menschen fernzubleiben, hebt er als das Charakteristikum hervor, in dem er sich selbst wiedererkenne. Die Textstelle, die das am deutlichsten widerspiegelt, ist der Refrain (Go away – get away). Außerdem bedanken sich Nirvana bei dem Schriftsteller Patrick Süskind namentlich im Booklet, das dem 1993 erschienenen Album In Utero beiliegt, auf dem sich der betreffende Song Scentless Apprentice befindet, unter der Überschrift Special Thanks in den sogenannten Liner Notes.
Motive des Romans verwendet die 2018 erschienene Fernsehserie Parfum. In dieser in der Gegenwart und am Niederrhein spielenden Serie gelangen Ermittler in einem Mordfall auf die Spur einer Gruppe ehemaliger Internatsschüler, die während ihrer Schulzeit Süskinds Roman gelesen hatten und, fasziniert von der Lektüre, mit menschlichen Gerüchen und Düften experimentierten.
Literatur
Ausgaben
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 1985 (Originalausgabe), ISBN 3-257-01678-6. (23 Wochen lang in den Jahren 1985 und 1986 auf dem Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste)
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Bertelsmann, Gütersloh 1986 (Lizenzausgabe).
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Verlag Volk und Welt, Berlin 1987 (Lizenzausgabe für die DDR; Taschenbuch).
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 1988 (einmalige Sonderauflage mit 1.738 Exemplaren in Leder gebunden, nummeriert und vom Autor signiert).
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Verlag Volk und Welt, Berlin 1989 (Taschenbuch in der Reihe Roman-Zeitung, Nr. 471).
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 1994 (Taschenbuchausgabe, auf die sich die zitierten Textstellen beziehen), ISBN 3-257-22800-7.
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Litraton, Hamburg 1995 (Audiobook mit 8 Cassetten bzw. 8 CDs, gelesen von Gert Westphal).
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 2002 (Sonderausgabe Hardcover, Leinen mit Lesebändchen).
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 2006 (Sonderausgabe Hardcover, Leinen mit Schutzumschlag der Erstausgabe), ISBN 3-257-06540-X.
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 2006 (Audiobook mit 8 CDs, gelesen von Hans Korte), ISBN 3-257-80037-1.
Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes, Zürich 2012 (eBook).
Übersetzungen (Auswahl)
Il profumo. Romanzo. Übersetzung von Giovanna Agabio. Longanesi, Mailand 1985.
El perfume. Historia de un asesino. Übersetzung von Pilar Giralt Gorina. Seix Barral, Barcelona 1985.
Perfume. The Story of a Murderer. Übersetzung von John E. Woods. Knopf, New York 1986.
Le Parfum. Histoire d'un meurtrier. Übersetzung von Bernard Lortholary. Fayard, Paris 1986.
al-'iṭr ( ) Übersetzung von Nabil Haffar. Al Mada, Damaskus 1997.
Sekundärliteratur
Norbert Berger: Patrick Süskind: „Das Parfum“. Unterrichtshilfe mit Kopiervorlagen für die Sekundarstufe 2. Auer-Verlag, Donauwörth 2005, ISBN 3-403-04350-9.
Helmut Bernsmeier: Lektüreschlüssel. Patrick Süskind: „Das Parfum“. Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-15-015370-3.
Andreas Blödorn, Christine Hummel (Hrsg.): Psychogramme der Postmoderne – Neue Untersuchungen zum Werk Patrick Süskinds. (Kleine Reihe: Literatur – Kultur – Sprache, Bd. 5.) Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2008, ISBN 978-3-86821-005-7.
Christina Bühler: Vom Animal zum Künstler: Das Psychogramm eines Duftgenies. Magisterarbeit. Aachen 2007. Als Taschenbuch im GRIN Verlag, 2007, ISBN 978-3-638-73040-2.
Jan-Oliver Decker: Platz 4. Patrick Süskind: Das Parfum. In: Christoph Jürgensen (Hrsg.): Die Lieblingsbücher der Deutschen. Verlag Ludwig, Kiel 2006, S. 286–317, ISBN 3-937719-34-2.
Frank Degler: Aisthetische Reduktionen. Analysen zu Patrick Süskinds „Der Kontrabaß“, „Das Parfum“ und „Rossini“. de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 978-3-11-017759-6.
Wolfgang Delseit, Ralf Drost: Erläuterungen und Dokumente zu: Patrick Süskind: „Das Parfum“. Reclam, Stuttgart 2000, ISBN 978-3-15-016018-3.
Susanne Drobez: Patrick Süskind „Das Parfum“: Faktoren, die den Roman zum Bestseller werden ließen. Diplomarbeit. Wien 2008. abrufbar unter: (PDF; 626 kB).
Werner Frizen, Marilies Spancken: Das Parfum. Interpretationen. 2., überarbeitete und korrigierte Auflage, Oldenbourg, München 1998, ISBN 3-486-88677-0.
Gabriele und Rolf Froböse: Lust und Liebe – alles nur Chemie? (mit einer Abhandlung über: Das Parfum – wieviel Realität steckt in dem Roman und Kinofilm?) Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2004, ISBN 3-527-30823-7.
Alexander Kissler und Carsten S. Leimbach: Alles über Patrick Süskinds „Das Parfum“. Der Film – Das Buch – Der Autor. Heyne, München 2006, ISBN 3-453-81089-9.
Bernd Matzkowski: Patrick Süskind: „Das Parfum“. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 386). C. Bange Verlag, Hollfeld 2011, ISBN 978-3-8044-1922-3.
Oliver Mittelbach: Auf den Spuren von Patrick Süskinds „Das Parfum“. Ein Reiseführer zu den Romanschauplätzen. Mit Infos zum Film. books&friends, Essen 2006, ISBN 3-9810996-0-5.
Andreas Pfister: Der Autor in der Postmoderne. Mit einer Fallstudie zu Patrick Süskind. Dissertation. Fribourg 2005, abrufbar unter: (PDF; 1,2 MB).
Judith Ryan: Pastiche und Postmoderne. Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“. In: Lützeler, Paul Michael (Hrsg.): Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Fischer, Frankfurt a. M. 1991, S. 91–103.
Rainer Scherf: Der verführte Leser. Eine Interpretation von Patrick Süskinds „Das Parfum“. Tectum-Verlag, Marburg 2006, ISBN 978-3-8288-9124-1.
Rezensionen und sonstige Artikel
Michael Fischer: Ein Stänkerer gegen die Deo-Zeit. In: Der Spiegel. Hamburg, 4. März 1985
Tim Pröse: Verduftet. In: Süddeutsche Zeitung Magazin. München, 15. März 2002
Marcel Reich-Ranicki: Des Mörders betörender Duft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Frankfurt a. M., 2. März 1985
Wolfram Schütte: Parabel und Gedankenspiel. In: Frankfurter Rundschau. Frankfurt a. M., 6. April 1985
Wolfram Schütte: „Parfum“ und Unmenschlichkeit. Mengele von Süskinds Roman aus gesehen. In: Frankfurter Rundschau. Frankfurt a. M., 5. Juli 1985
Claudius Seidl: Der Ruhm des Unsichtbaren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Frankfurt a. M., 23. März 2009
Gerhard Stadelmaier: Lebens-Riechlauf eines Duftmörders. In: Die Zeit. Hamburg, 12.–15. März 1985
(ohne Autorenangabe:) Das Parfum. In: Diogenes Magazin. Nr. 3, Zürich, Frühjahr 2010 (enthalten im Pressedossier „Patrick Süskind“ des Diogenes Verlags)
Filmische Analyse
Julia Benkert: duft und distanz. Bayerischer Rundfunk, 2006
Anmerkungen
Literarisches Werk
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch)
Roman, Epik
Riechen
Werk von Patrick Süskind
Bestseller (Deutschland) |
742379 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fort%20Ross | Fort Ross | Fort Ross (vermutlich abgeleitet von , Transkription , für Russland) war von 1812 bis 1841 eine Niederlassung der Russisch-Amerikanischen Handelskompagnie in Kalifornien. Es liegt an der Küste des Pazifiks im heutigen Sonoma County, etwa 145 Kilometer nordwestlich von San Francisco.
Als südlichster befestigter Außenposten Russisch-Amerikas diente Fort Ross sowohl als Stützpunkt für die Pelztierjagd als auch der Versorgung von russischen Handelsniederlassungen in Alaska mit Lebensmitteln.
Mit dem Rückgang der Seeotterbestände und unzureichenden Erfolgen in der landwirtschaftlichen Nutzung erwies sich Fort Ross seit den 1830er Jahren zunehmend als unwirtschaftlich. Zur gleichen Zeit stand die Russisch-Amerikanische Kompagnie vermehrt vor Schwierigkeiten, ihre Gebietsansprüche gegen den wachsenden Druck durch mexikanische und amerikanische Siedler aufrechtzuerhalten.
Im Jahr 1841 wurde Fort Ross schließlich vom Beauftragten der Russisch-Amerikanische Kompagnie Dionissi Sarembo an Johann August Sutter verkauft, der es seiner Mexiko unterstehenden Privatkolonie Neu-Helvetien einverleibte. Nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg fiel ganz Oberkalifornien (Alta California) und damit auch Fort Ross 1848 im Vertrag von Guadalupe Hidalgo an die Vereinigten Staaten.
1906 wurde das Fort an den Bundesstaat Kalifornien verkauft und 1916 und 1925 Teile der durch Verfall und das San-Francisco-Erdbeben von 1906 beschädigten Gebäude rekonstruiert. 1948 wurde das einzige vollständig erhaltene Gebäude restauriert und nach einem Feuer im Jahr 1970 in der Folge auch die orthodoxe Kapelle. Schon ein Jahrzehnt zuvor war die Gesamtanlage als National Historic Landmark anerkannt worden. Die Rekonstruktion eines zweistöckigen Warenhauses wurde im Jahr 2012 fertiggestellt.
Heute wird das Fort touristisch genutzt und dient damit der Erinnerung an die russische Kolonialgeschichte Amerikas. Seit dem Jahr 1962 wird Fort Ross in der Liste der State Parks in Kalifornien geführt.
Geschichte
Vorgeschichte: Russlands Expansion nach Amerika
Während in Westeuropa noch der Dreißigjährige Krieg anhielt, stießen 1639 russische Jäger und Soldaten zum Ufer des Pazifischen Ozeans vor. 1648 durchsegelte der Kosak Semjon Iwanowitsch Deschnjow zusammen mit Fedot Popow und Gerassim Ankudinow die Meerenge zwischen Asien und Amerika und widerlegte damit die Auffassung, dass zwischen Asien und Amerika eine Landverbindung bestehe. Doch erst der russische Vorstoß nach Alaska im Zuge der Zweiten Kamtschatkaexpedition 1741 unter Bering und Tschirikow und die damit verbundene Entdeckung seines wirtschaftlichen Potentials gaben den Auftakt zu einer russischen Expansion nach Amerika. Angetrieben von den Profiten der Robben- und Seeotterjagd rüsteten ab 1745 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mehr als 40 russische Kaufleute und Handelskompagnien Expeditionen zu den Aleuten und zum Festland Alaskas aus. Im frühen 19. Jahrhundert gelangten jährlich durchschnittlich rund 62.000 Pelzfelle aus nordamerikanischen Niederlassungen in den russischen Handel.
Dieses schnelle Wachstum des Pelzhandels machte die Errichtung von dauerhaften Stützpunkten für die Jagd und die Lagerung der Pelze notwendig. Im Jahr 1784 gründete der russische Seefahrer und Unternehmer Grigori Iwanowitsch Schelichow die erste permanente Handelsniederlassung auf der Kodiak-Insel vor der Südküste Alaskas. Bei seinem Tod im Jahre 1795 dominierte Schelichows Unternehmen den russischen Amerikahandel. Zwei Jahre später fasste seine Witwe Natalia das Handelsunternehmen gemeinsam mit einem Geschäftspartner und einem Konkurrenten zur Vereinigten Amerikanischen Gesellschaft zusammen. Nach weiteren zwei Jahren entstand 1799 durch Ukas des Zaren Paul I. aus der Vereinigten Amerikanischen Gesellschaft die Russisch-Amerikanische Kompagnie. Diese erhielt – jeweils immer für zwanzig Jahre – das Handelsmonopol in Russisch-Amerika und damit das Recht der wirtschaftlichen Nutzung der Aleuten, der Kurilen und der Territorien auf dem nordamerikanischen Festland bis hinunter zum 55. Breitengrad, dem angenommenen Landungspunkt Tschirikows 1741. Zu den Anteilseignern gehörten Mitglieder der Zarenfamilie, des russischen Hochadels sowie führende Beamte des Russischen Reiches.
Der russische Vorstoß nach Kalifornien
Im Jahr 1790 hatte Grigori Iwanowitsch Schelichow den Pelzhändler Alexander Andrejewitsch Baranow als einen von zwei Gebietsleitern seines Unternehmens angeworben und nach Alaska geschickt. Baranow erwies sich bei der Führung der Pelzgeschäfte als so erfolgreich, dass er bei ihrer Gründung im Jahr 1799 zum ersten Leiter der Russisch-Amerikanischen Kompagnie ernannt wurde. Mit Hilfe seines Assistenten Iwan Alexandrowitsch Kuskow leitete Baranow später von Nowo-Archangelsk („Neu-Archangelsk“; heute Sitka) aus die wachsenden Geschäfte der Handelskompagnie und wurde zu einem der „Hauptarchitekten der südlichen Expansion Russlands“.
Mit Datum 18. April 1802 erhielt Baranow geheime Anweisungen der Russisch-Amerikanischen Kompagnie, das russische Gebiet über den 55. Grad nördlicher Breite hinaus nach Süden auszuweiten und zu diesem Zweck eine Siedlung nahe dem 55. Grad Nord zu gründen. Man wollte Fakten schaffen, um den nach der Nootka-Sound-Kontroverse geschaffenen Freiraum zu nutzen und irgendwann in der Zukunft eine anerkannte Grenze etwa zwischen dem 50. und 55. Breitengrad Nord zu errichten. Im Jahr 1803 ging Baranow ein Joint-Venture mit dem amerikanischen Kapitän Joseph O’Cain ein. Dieser brachte eine Jagdgruppe von Aleuten unter russischem Kommando auf seinem Schiff bis vor die Küste des heutigen San Diego. Den Gewinn aus mehr als 600 erbeuteten Seeotterfellen teilten sich Baranow und O’Cain.
Ein weiterer Grund für den russischen Vorstoß nach Kalifornien waren die anhaltenden Probleme mit der Lebensmittelversorgung der russischen Stützpunkte in Alaska. Mit ihren Versuchen, eine ausreichende Versorgungslage herzustellen, hatten die russischen Siedler im unwirtlichen Klima Alaskas nur magere Erfolge erzielt. Der Winter 1805/06 wurde zum Wendepunkt. Versorgungsschiffe konnten Nowo-Archangelsk wegen der in Europa anhaltenden napoleonischen Kriege nicht regelmäßig anlaufen. Die russischen Bewohner der Kolonie waren unterernährt und litten schon bald unter der Mangelerkrankung Skorbut. Die ersten Siedler starben.
In dieser Situation kam Nikolai Petrowitsch Resanow, einer der Initiatoren der Russisch-Amerikanischen Kompagnie und Schwiegersohn Schelichows, zur Inspektion nach Nowo-Archangelsk. Angesichts der katastrophalen Verhältnisse in der Siedlung entschloss er sich zu schnellem Handeln. Er kaufte ein im Hafen von Nowo-Archangelsk vor Anker liegendes amerikanisches Schiff und segelte im Frühjahr 1806 nach Yerba Buena (dem Vorläufer der heutigen Stadt San Francisco), um dort mit den Spaniern Handelskontakte zu knüpfen und Getreide zu kaufen.
Im Presidio, dem spanischen Militärstützpunkt in der Bucht von San Francisco, lebte Resanow einige Wochen bei der Familie des spanischen Kommandanten José Dario Argüello und tauschte russische Werkzeuge gegen Getreide ein. Argüello sicherte ihm seine Unterstützung zu und bat in einem Schreiben nach Madrid um Bestätigung der russisch-spanischen Handelskontakte. Bei seiner Rückkehr nach Nowo-Archangelsk drängte Resanow Baranow, den „unbewohnten Landstrich“ an der Küste Kaliforniens als russische Basis für die Pelzjagd und zur Versorgung Alaskas mit Lebensmitteln zu nutzen.
Fort Ross unter der Russisch-Amerikanischen Kompagnie
Die Gründung der russischen Kolonie
Zwischen 1808 und 1811 sandte Baranow seinen Stellvertreter Kuskow auf mehrere Erkundungsreisen nach Kalifornien. Im heutigen Bodega Bay errichtete Kuskow eine erste provisorische Siedlung, die er nach Nikolai Petrowitsch Rumjanzew, dem damaligen russischen Außenminister benannte. Von Rumjanzew aus erkundete Kuskow die umliegenden Küstenstreifen und entschied sich 1811 schließlich für eine kleine, nördlich gelegene Bucht als geeigneten Punkt für eine russische Kolonie.
Er traf dort auf die Kashaya, eine Abteilung der Pomo. Die Kashaya lebten in einem knapp 50 km breiten Küstenstreifen, der sich vom Gualala River im Norden bis zu Duncan’s Point, knapp sechs Kilometer südlich der Mündung des Russian River erstreckte. Einer der zentralen Punkte im Territorium der Kashaya war das Dorf Metini, in dessen direkter Nähe Fort Ross errichtet werden sollte.
Das Nahrungsangebot im Lebensraum der Kashaya war vielfältig und reichte von Muscheln, Fisch und den Meeressäugern des Pazifiks bis hin zu Hirschen, Elchen und einem breiten Spektrum kleinerer Tiere. Ergänzt wurde der Speiseplan durch Nüsse, Beeren, Getreide sowie Knollen und Wurzeln. Seesalz gewannen die Kashaya zum eigenen Verzehr und für den Handel. Besonderes Geschick besaßen die Kashaya in der Anfertigung von Körben. In der mündlichen Tradition erscheinen die ersten Russen als undersea people. Für sie stellten sie nur eine Episode dar, denn sie verschwanden nach drei Jahrzehnten wieder. Dennoch konnten die Älteren noch im späten 20. Jahrhundert beschreiben, wie die Russen Getreide droschen, indem sie Pferde über die ausgebreiteten Halme trieben, die auf einem vorbereiteten Lehm-, später Holzboden ausgebreitet waren.
Im März 1812 begann Iwan Kuskow mit 25 Russen – viele von ihnen Handwerker – und rund achtzig Ureinwohnern Alaskas (von den Russen zumeist vereinfachend als „Aleuten“ bezeichnet), mit dem Bau des Forts. In der Konstruktion folgten die russischen Handwerker dem Vorbild der traditionellen Holzgebäude Sibiriens.
Am 30. August, dem Namenstag Zar Alexanders I., wurde die Fertigstellung des Palisadenzauns mit einem besonderen Gottesdienst gefeiert. In den nordwestlichen und nordöstlichen Ecken der Palisadeneinfassung übersahen hölzerne Türme die Fläche rund um das Fort. Fahnenmasten mit der Fahne der Russisch-Amerikanischen Kompagnie waren in der Mitte des Forts und am Rand des Felsufers zum Pazifik aufgestellt. Im Inneren der Palisaden standen Blockhäuser für die Bewohner des Forts.
Außerhalb der Einzäunung entstanden innerhalb der nächsten fünf Jahre eine Windmühle, eine Bäckerei, ein Obstgarten, ein Friedhof und landwirtschaftliche Gebäude.
Das Leben in Fort Ross
Eine multiethnische Gemeinschaft
Die Einwohnerschaft der russischen Kolonie teilte sich in vier Gruppen auf. Innerhalb des Forts lebten die privilegierteren russischen Angestellten der Handelskompagnie. Abkömmlinge russischer Männer und indigener Frauen lebten – genauso wie niedrigergestellte Russen – in einem Dorf westlich des Forts. Zum Pazifik hin erstreckte sich eine kleine Ansammlung einfacher Holzhütten, in denen die von den Russen für die Jagd rekrutierten Ureinwohner Alaskas lebten. In einem kleinen Dorf nordöstlich der Palisadeneinzäunung und in weiteren Dörfern in den Bergen oberhalb des Forts lebten die Kashaya.
Die Gruppe der aus Alaska stammenden Bewohner der Kolonie bestand in der Mehrzahl aus Alutiiq, einem Volk aus dem Südwesten Alaskas. Sie stammten aus der Bucht des Prince William Sound, von der Kenai-Halbinsel sowie von der Kodiak-Insel. Aus Akten der Russisch-Amerikanischen Kompagnie sowie aus archäologischen Befunden geht hervor, dass neben den Alutiiq auch Unangan, Bewohner der östlichen Aleuten, in Fort Ross lebten. Sowohl Alutiiq als auch Unangan waren geschickte Robben- und Otterjäger und wurden zunächst nur für die Jagd auf Meeressäuger eingesetzt. In späteren Jahren wurden sie auch für jede Form der schweren Arbeit herangezogen. So arbeiteten sie etwa als Küfer, Gerber, Schreiner, Jäger, Fischer und halfen bei dem Rücken von Holz in Gegenden, in denen Pferde nicht eingesetzt werden konnten. 1821 bat Iwan Kuskow seinen Vorgesetzten in Nowo-Archangelsk um eine besondere Belohnung für fünf seiner seit Jahren in der Holzgewinnung eingesetzten aleutischen Arbeiter. Die Aleuten, die bislang nur in Kleidung und Schuhen bezahlt worden waren, erhielten fortan ein Jahresgehalt von 100 Rubeln.
Das Verhältnis zwischen den Russen und den Indianern war – im Vergleich zu demjenigen zwischen anderen Fremden in Kalifornien und Indianern – bemerkenswert spannungsarm. Die in Fort Ross beschäftigten Indianer wurden mit Mehl, Fleisch und Kleidung entlohnt und erhielten darüber hinaus Unterkünfte. Viele der Kashaya lernten die russische Sprache und eine Reihe von russischen Ausdrücken fand ihren Weg in die Sprache der Indianer.
Die Russen hatten nahezu ausschließlich männliche Ureinwohner Alaskas nach Fort Ross gebracht. Der hierdurch bedingte Frauenmangel führte dazu, dass sich zahlreiche Lebensgemeinschaften zwischen den Aleuten und den einheimischen Kashaya bildeten. Laut einer von Iwan Kuskow, dem Gründer von Fort Ross, im Jahr 1820 durchgeführten Zählung lebten von 56 weiblichen Kashaya 43 mit Männern zusammen, die von der Kodiak-Insel stammten. Aus den Zählungen der Jahre 1820 und 1821 ergibt sich, dass aus diesen Verbindungen insgesamt 28 Kinder hervorgegangen waren.
Religion in Fort Ross
Einen wichtigen Aspekt im Leben der russischen Einwohner der Kolonie stellte die Religion dar. Zwischen 1823 und 1824 spendeten die Offiziere und Mannschaften dreier russischer Schiffe Geld für den Bau einer Kapelle. Dieses erste orthodoxe Bauwerk südlich von Alaska ist erstmals für das Jahr 1828 in dem Reisebericht des französischen Kapitäns Auguste Duhaut-Cilly (Voyage autour du Monde. Principalement à la Californie et aux Iles Sandwich, pendant les années 1826, 1827, 1828, et 1829, Paris 1834–1835) schriftlich belegt. Die Kapelle diente den Siedlern zum gemeinsamen Gebet, wurde aber nie als Kirche geweiht (schon allein, weil ihr kein Priester dauerhaft zugewiesen war).
Im Sommer 1836 besuchte der später als „Heiliger Innozenz von Alaska“ heiliggesprochene Missionar und Priester Iwan Weniaminow Fort Ross. Während seines fünfwöchigen Aufenthaltes führte er Taufen, Hochzeiten, Beichten, Beerdigungen und Gottesdienste durch. In seinem Reisejournal beziffert Weniaminow die Gesamtzahl der in Fort Ross lebenden Menschen auf 260, darunter 15 Prozent Indianer, die den orthodoxen Glauben angenommen hatten.
Landwirtschaft und Viehzucht
Bereits im Jahr 1816 gingen die Seeotterbestände durch Überjagung zurück. Spätestens ab 1820 legte die Russisch-Amerikanische Kompagnie deshalb ein verstärktes Augenmerk auf die Landwirtschaft und Viehzucht in Fort Ross. Die Hoffnungen, dass die russische Siedlung in Kalifornien die Lebensmittelversorgung in Alaska sicherstellen könnte, sollten sich allerdings nicht erfüllen.
Die Gründe für die landwirtschaftlichen Misserfolge waren vielfältig. Zum einen war das nutzbare Land in direkter Nähe der Siedlung zu klein und nicht ausreichend fruchtbar. Der auf der Höhe von Fort Ross häufig auftretende Nebel führte außerdem zu Getreideernten, die die Erwartungen der Kompagnie nicht annähernd erfüllten. Darüber hinaus fehlten den Siedlern ausreichende Kenntnisse zur effektiven Bewirtschaftung des Bodens.
Einzig der Obst- und Weinanbau zeigte schon früh Erfolge. Der erste Pfirsichbaum wurde 1814 gepflanzt. Zwischen 1817 und 1818 kamen Weinreben aus Peru und weitere Pfirsichbäume aus Monterey hinzu. Beim Abzug der Russen im Jahr 1841 umfasste der in direkter Nähe des Forts gepflanzte Obstgarten Äpfel-, Pfirsich-, Kirsch- und Birnbäume sowie Traubenreben.
Im Vergleich zum Getreideanbau erzielten die russischen Siedler mit der Viehzucht größere Erfolge. Der Viehbestand wuchs mit den Jahren auf mehrere Tausend Rinder, Pferde, Esel und Schafe an und so konnten ganze Schiffsladungen von Pökelfleisch, Wolle, Talg, Häuten und Butter nach Alaska geschickt werden. In den letzten Jahren der Kolonie zählte der russische Viehbestand 1.700 Rinder, 940 Pferde und 900 Schafe, die laut einem Bericht des Franzosen Eugène Duflot de Mofras alle in „ausgezeichneter Verfassung“ waren.
Schiffbau, Handwerk und Handel
Die Wälder rund um Fort Ross boten reichhaltiges Material für den Bau von Schiffen. Im Jahr 1817 schickte Alexander Baranow, der Hauptverwalter der Russisch-Amerikanischen Kompagnie einen Schiffbauer von Nowo-Archangelsk nach Fort Ross. In den folgenden Jahren wurden unter dessen Leitung drei Briggs und ein Schoner gebaut. Die Schiffe hatten eine Nutzlast zwischen 160 und 200 Tonnen und kosteten zwischen 20.000 und 60.000 Rubel.
Die Reisenotizen Kyril Chlebnikows, eines Angestellten der Russisch-Amerikanischen Kompagnie, geben detaillierte Auskünfte über den Schiffbau in Fort Ross. Chlebnikow hielt sich zwischen 1817 und 1832 in Russisch-Amerika auf, und seine Journale und Notizen gehören zu den wichtigsten Quellen zur russischen Kolonie in Kalifornien. Durch Chlebnikows Berichte ist überliefert, warum der Schiffbau in Fort Ross schließlich aufgegeben wurde. Er berichtet mehrfach von Problemen mit Holzfäule, die sich in den Schiffsplanken festsetzte. Der Pilzbefall nahm schließlich solche Ausmaße an, dass die größeren Schiffe nur noch im Küstenverkehr eingesetzt werden konnten.
Die Herstellung anderer Güter war dagegen von größeren Erfolgen gekrönt. Insbesondere das Gerben von Tierhäuten florierte. Am Ufer des kleinen Flusses Fort Ross Creek entstand eine Gerberei, in der ein aleutischer Gerber Material für Schuhe, Stiefel und andere Lederwaren herstellte. Die Produktion war so erfolgreich, dass in den späten 1820er Jahren jährlich zwischen 70 und 90 gegerbte Häute nach Nowo-Archangelsk verschifft werden konnten.
Im Jahr 1814 bauten die Siedler die erste Windmühle Kaliforniens auf einem Hügel in direkter Nähe des Forts; eine weitere Mühle verarbeitete mehr als 30 Bushel Getreide am Tag. Eine dritte Mühle wurde von Menschen und Tieren mit Muskelkraft angetrieben. Eine Kashaya-Legende besagt, dass sich die Haare einer ihrer Frauen, die zu dieser Zeit noch lang getragen wurden, im Getriebe verfingen und dass sie vom Mahlwerk getötet wurde.
Im Bereich des Handels existierten schon seit Resanows Reise nach Yerba Buena Kontakte mit den im Süden lebenden Spaniern. Den Spaniern war der Handel mit Fremden zwar offiziell untersagt, dessen ungeachtet verkauften die Spanier den Russen aber gerade in den ersten Jahren Getreide, Obstbäume, Rinder und Pferde. Mit dem Wachsen der russischen Kolonie stellten die Handwerker in Fort Ross in zunehmendem Maße Waren her, für die auf spanischer Seite eine Nachfrage bestand. So verkauften die Russen den Spaniern Äxte, Nägel, Reifen, Töpfe und Langboote und erhielten im Gegenzug Getreide, Salz und andere Rohstoffe.
Mit dem Ende des Mexikanischen Unabhängigkeitskrieges im Jahr 1821 kam auch ein Ende der Handelsrestriktionen. In der Folge konkurrierten die Russen in stärkerem Maße mit den Amerikanern und Briten. Der Unterhalt des russischen Hafens in Bodega Bay glich dies zum Teil wieder aus. Hier hatte die Russisch-Amerikanische Kompagnie Speicherräume errichten lassen, und ihr Hafen stand allen fremden Flaggen offen.
Forscher und Entdecker in Fort Ross
Während der Zeitspanne, in der Fort Ross als Handelsstützpunkt der Russisch-Amerikanischen Kompagnie diente, kam eine Reihe von Forschungsreisenden und Entdeckern nach Oberkalifornien. Sie nutzten das Fort als Zwischenstation im Rahmen ihrer Reisen und als Ausgangspunkt für Arbeiten zur Zoologie, Botanik, Geographie und Völkerkunde.
Im Jahr 1818 kam der russische Marineoffizier Wassili Michailowitsch Golownin im Rahmen seiner Weltumseglung nach Fort Ross. In seinen Memoiren liefert Golownin detaillierte Beschreibungen der indigenen Ureinwohner Nordkaliforniens und ihrer Kultur.
In den frühen 1830er Jahren förderte der damalige Hauptverwalter der Russisch-Amerikanischen Kompagnie, Ferdinand von Wrangel, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Flora und Fauna Russisch-Amerikas. Während einer Reise im Jahr 1833 erkundete er darüber hinaus die Möglichkeiten, die russischen Besitzungen auf das Hinterland von Fort Ross auszudehnen. In diesem Zusammenhang leitete Wrangel die erste umfangreichere anthropologische Studie zu den indigenen Einwohnern in der Russian River-Region und der Gegend um das heutige Santa Rosa.
Unter den späteren Besuchern von Fort Ross befand sich der Maler Ilja Wosnessenski, der sich ein Jahr lang im Auftrag der kaiserlich-russischen Akademie der Wissenschaften in Nordkalifornien aufhielt. Von seiner Hand stammen zahlreiche Zeichnungen des Forts und der umliegenden Region. Im Jahr 1841 gehörte Wosnessenski zu den Teilnehmern einer Erkundungsreise, die bis in die Gegend des heutigen Healdsburg vorstieß. Dabei gelang auch die Erstbesteigung des Mount Saint Helena, dem höchsten Punkt im heutigen Sonoma County. Im Zuge seiner Reisen ins Landesinnere legte Wosnessenski eine völkerkundlich bedeutsame Sammlung indigener Artefakte an, die heute im Museum für Anthropologie und Ethnographie in Sankt Petersburg aufbewahrt wird.
Das Ende der russischen Kolonie
Im Jahr 1839 entschied die Russisch-Amerikanische Kompagnie, Fort Ross aufzugeben. Der Rückgang der Seeotterbestände seit Mitte der 1830er Jahre machte die Pelztierjagd unwirtschaftlich. Die landwirtschaftliche Nutzung der Kolonie hatte zudem nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Der Versuch, Schiffbau zu betreiben, war schon früher gescheitert, und die Erzeugung von Gewerbeprodukten konnte die Defizite nicht in genügendem Maße ausgleichen.
Darüber hinaus hatte der Druck durch mexikanische und amerikanische Siedler zugenommen. 1836 unternahm Ferdinand von Wrangel einen letzten Versuch, die Beziehungen zur jungen Republik Mexiko zu verbessern. Bei einem Besuch in Mexiko-Stadt setzte er sich für die Anerkennung der russischen Gebietsansprüche in Oberkalifornien ein, scheiterte aber an der Forderung, dass Russland die Republik Mexiko im Gegenzug diplomatisch anerkennen müsse.
Im April 1839 stimmte der russische Zar Nikolaus I. schließlich dem Vorhaben der Russisch-Amerikanischen Kompagnie zu, den Stützpunkt Fort Ross aufzugeben und sich aus Kalifornien zurückzuziehen. Mit der Auflösung wurde Alexander Rotschew, der letzte Kommandant von Fort Ross, beauftragt.
Rotschew nahm zunächst Verhandlungen mit der kanadischen Hudson’s Bay Company auf, diese lehnte das Angebot im Jahr 1840 aber ab. Daraufhin wandte sich Rotschew an den französischen Militärattaché in Mexiko-Stadt, Eugène Duflot de Mofras. Nach einem Besuch in Fort Ross entschied sich auch Duflot gegen einen Kauf. Daraufhin erhielt Rotschew den Auftrag, Mexiko um ein Angebot zu bitten. Doch auch die Mexikaner lehnten ab – zum einen, weil sie Fort Ross ohnehin als auf ihrem Gebiet liegend ansahen, und zum anderen, weil sie hofften, dass sich die Russen auch ohne weitere Intervention aus Kalifornien zurückziehen würden.
Ende 1841 nahm Rotschew schließlich Kontakt mit Johann August Sutter, einem kalifornischen Grundbesitzer Schweizer Abstammung auf. Sutter willigte dem Kauf für die Summe von 30.000 Dollar ein und am 1. Januar 1842 stach das letzte russische Schiff von Bodega Bay in Richtung Nowo-Archangelsk in See. Damit war das russische Engagement in Kalifornien nach rund 30 Jahren beendet.
Die Zeit nach der Russisch-Amerikanischen Kompagnie
Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Landwirtschaft und Viehzucht
Nach dem Abzug der Russisch-Amerikanischen Kompagnie begann eine Periode, in der die Ländereien um Fort Ross hauptsächlich für Landwirtschaft und Viehzucht genutzt wurden. Bis 1843 wurden das Fort und die dazugehörigen Ländereien nacheinander von drei verschiedenen Verwaltern im Auftrag von Johann August Sutter bewirtschaftet. Der vierte Verwalter, Wilhelm Benitz aus Baden in Deutschland, arbeitete zunächst für Sutter, bevor er Sutters Teile der Ländereien im Herbst 1843 gemeinsam mit seinem aus Württemberg stammenden Partner Ernest Rufus pachtete. Im Jahr 1849 ergänzten Benitz und Rufus ihren Besitz um den 17.760 Acres umfassenden nördlichen Teil der ehemaligen russischen Besitzung, der 1845 von der mexikanischen Regierung an Manuel Torres verkauft worden war. Nach ein paar Jahren trennten Rufus und Benitz sich; Benitz ging eine neue Partnerschaft mit Charles Meyer ein – im Wesentlichen gehörte der Besitz fortan aber Benitz.
Benitz’ Unternehmen erwies sich als überaus erfolgreich. Die Frachtbücher jener Zeit verzeichnen eine Vielzahl von landwirtschaftlichen Produkten, die von Fort Ross aus verschifft wurden. Rinder, Schafe, Pferde, Schweine, Häute, Kartoffeln, Äpfel, Hafer, Gerste, Eier, Butter, Enten und Tauben wurden im Auftrag von Benitz auf Märkten in Sonoma und Sacramento verkauft. Bei der Produktion setzte Benitz die indigenen Kashaya ein, die von der amerikanischen Regierung für 8 Dollar pro Monat zur Arbeit auf der Ranch verpflichtet wurden. Im Jahr 1848 lebten noch 162 Kashaya rund um Fort Ross.
Mit dem Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges geriet Benitz zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Bis ins Jahr 1867 verkaufte er Teile seines Besitzes, dann ging er nach Argentinien, wo er auf einer Estancia Rinderwirtschaft betrieb. Seine Nachfolger waren der irische Mühlenbauer und Holzfäller James Dixon und der aus Virginia stammende Charles Snowden Fairfax. Dixon errichtete eine Mühle bei Fort Ross Creek und eine große Laderampe nordwestlich der kleinen, Fort Ross vorgelagerten Bucht. Ob Fairfax jemals nach Fort Ross kam, ist nicht bekannt.
Dixon war vornehmlich an der forstwirtschaftlichen Nutzung der Ländereien um Fort Ross interessiert. Da er keine Verwendung für die Kashaya hatte, schickte er sie fort. In den frühen 1870er Jahren übersiedelten sie dauerhaft zu ihren bisherigen Winterquartieren in Huckleberry Hills und Abaloneville.
Um 1873 hatte Dixon weite Teile seines Besitzes abgeholzt. Er verkaufte Teile der Ländereien und ließ sich weiter nördlich an der Küste nieder. Sein Partner Charles Snowden Fairfax war bereits im Jahr 1869 unerwartet im Alter von 40 Jahren gestorben. Nach 1873 wurden weitere Teile der zu Fort Ross gehörenden Ländereien an Milchbauern verkauft.
Den größten Teil, rund 7000 Acres einschließlich des Forts, kaufte der aus Ohio gebürtige George W. Call. Er verfolgte dieselbe Bewirtschaftungsstrategie wie Wilhelm Otto Benitz und konzentrierte sich auf Landwirtschaft und Viehzucht. Gemeinsam mit seiner aus Chile stammenden Frau Mercedes Leiva und seinen vier Kindern lebte Call zunächst in dem nach Alexander Rotschew, dem letzten russischen Kommandanten von Fort Ross, benannten Rotschewhaus. Im Jahr 1878 baute Call für seine Familie ein Wohnhaus im Nordwesten der Bucht und wandelte das Rotschewhaus in ein Hotel um. Die von den Russen gebaute orthodoxe Kapelle wurde für Hochzeiten genutzt, im Winter auch als Pferdestall oder zur Lagerung von Äpfeln. Außerhalb des Palisadenzauns errichteten die Calls ein Postgebäude und einen Laden. Das Postgebäude war bis 1928 in Betrieb, der Laden wurde erst in den frühen 1960er Jahren geschlossen.
Zu den erfolgreichsten Unternehmungen George W. Calls gehörte die Produktion von Butter, die sich in San Francisco starker Nachfrage erfreute. Zwischen 1875 und 1899 wurden jährlich durchschnittlich 20.000 Pfund Butter im Hafen von Fort Ross verladen und verschifft. Darüber hinaus erweiterten die Calls den von den Russen gepflanzten Obstgarten, der noch heute Teil des Fort Ross State Park ist.
Fort Ross State Historic Park
Im Jahr 1903 verkaufte George W. Call rund 21 Acres seiner Besitzung, einschließlich Fort Ross und der angrenzenden Gebäude, an die California Historical Landmarks League. Diese übertrug es im Jahr 1906 an den Staat Kalifornien.
Weniger als einen Monat später wurden die Gebäude von Fort Ross im Erdbeben von 1906 stark beschädigt. Es dauerte zehn Jahre, bis Geld für den Wiederaufbau zur Verfügung stand.
Im Jahr 1928 wurde Fort Ross als eines von fünf historischen Gebäuden in die Liste der Historic Sites des Staates Kalifornien aufgenommen. 1936 begann eine kleine Gruppe russischstämmiger Amerikaner unter dem Namen Initiative Group for the Memorialization of Fort Ross Zeitungsartikel über die Geschichte von Fort Ross zu veröffentlichen. Für die nach der Februarrevolution von 1917 stark angewachsene Gemeinde der russischstämmigen Amerikaner in Kalifornien war Fort Ross ein besonderer Anziehungspunkt: es stand für die verlorene Heimat und wurde damit zu einem Brennpunkt ihrer Pflege russischer Kultur. Bis heute feiern sie den Amerikanischen Unabhängigkeitstag in Fort Ross.
1961 wurde Fort Ross als National Historic Landmark ausgewiesen, dem höchsten Denkmalschutzstatus auf Bundesebene. Im folgenden Jahr wurde Fort Ross State Park als kalifornischer State Park gegründet. Am 15. Oktober 1966 wurde Fort Ross als Baudenkmal in das National Register of Historic Places aufgenommen. 1970 wurde das Kuskowhaus als einziger original erhaltener Bauteil gesondert zum National Historic Landmark erklärt. 1972 konnte die California State Route 1 (auch: Highway One), die bis zu diesem Zeitpunkt noch quer durch Fort Ross verlief, nach Osten verlegt werden.
Unter der Leitung von State Park Director William Penn Mott, Jr. wurde im April 1972 ein Citizens Advisory Committee eingerichtet. Dieses Gremium war mit ortsansässigen Bürgern, russischstämmigen Amerikanern und Kashaya Pomo besetzt und betreute bis 1990 auf ehrenamtlicher Basis die Rekonstruktion des Forts.
Im Juli 1985 wurde das neue Besucherzentrum von Fort Ross feierlich eingeweiht. Die Kosten von 800.000 Dollar waren zum Teil von privaten Spendern aufgebracht worden. Mit dem Beginn der Glasnost kamen vermehrt russische Besucher in den Fort Ross State Historic Park. Gleichzeitig begann eine Periode des verstärkten kulturellen Austauschs und der vermehrten wissenschaftlichen Beschäftigung mit Fort Ross.
Fort Ross heute
Die Palisade
Die Palisade rund um Fort Ross ist nicht in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten. Schon 1833 schrieb der mexikanische Militärkommandant von Nordkalifornien Mariano Guadalupe Vallejo, die Wälle des Forts könnten keiner Kanonenkugel standhalten – gleich welchen Kalibers („The walls could not withstand a cannon ball of any caliber“.) Fotografien aus den Jahren nach 1865 zeigen, dass schon zu dieser Zeit große Teile der Palisade verfallen waren. Im Jahr 1929 wurden der östliche, südliche und Teile des westlichen Palisadenwalls erneuert. Nach einer archäologischen Grabung im Jahr 1953 wurden die westliche und die östliche Palisade fertiggestellt. Im Jahr 1974 war die Einpfählung schließlich wieder vollkommen geschlossen.
Die zwei Türme
In der nordwestlichen, zum Meer hingewandten Ecke der Palisade sowie gegenüber, in der südöstlichen Ecke, stehen heute zwei Holztürme. Sie sind Nachbildungen der ursprünglichen Türme, die im Erdbeben von 1906 schwer beschädigt und später abgerissen wurden. Der nordwestliche (siebeneckige) Turm wurde in den Jahren 1950 und 1951 unter Verwendung russischer Schreinertechniken wieder aufgebaut. Der Zustand des südöstlichen (achteckigen) Turmes datiert aus den Jahren 1956/57. Ursprünglich waren die Türme mit Kanonen bestückt und dienten der Verteidigung des Forts.
Das alte Warenhaus
Das zweistöckige Warenhaus (engl. Old Magasin) diente der Lagerung und dem Verkauf von Waren. Die moderne Rekonstruktion des Gebäudes wurde im Jahr 2012 fertiggestellt und stellt damit das jüngste Bauwerk im Ensemble des Forts dar. Bei archäologischen Untersuchungen im Jahr 1981 stießen die Ausgräber auf kleine Glasperlen, die vermutlich durch Ritzen im Holzfußboden fielen und aus denen die Archäologen auf die frühere Lage des Gebäudes schlossen. Die heute im alten Warenhaus beherbergte Ausstellung führt Besucher in die Geschichte der Handelsgüter des Forts ein.
Das Kuskowhaus
Das sogenannte „Kuskowhaus“ (engl. Kuskov House) diente dem ersten Kommandanten, Iwan Alexandrowitsch Kuskow, als Quartier. Es gehört zu den ersten Gebäuden, die nach dem Abzug der Russisch-Amerikanischen Kompagnie verfallen sind. Das heutige Kuskowhaus wurde im 20. Jahrhundert nach den Plänen von 1817 rekonstruiert und im Jahr 1983 fertiggestellt. Das untere Stockwerk besteht aus Lagerräumen und das obere aus Wohnräumen. Vom oberen Stockwerk aus konnten die Bewohner alle ankommenden Schiffe beobachten. Ein Raum in der oberen Etage ist heute dem Studierzimmer nachempfunden, in dem der russische Naturforscher Ilja Wosnessenski 1841 seine Zeit in Fort Ross verbrachte.
Die Quartiere der Kompagnie-Angestellten
Die Quartiere der Kompagnie-Angestellten waren in einem Haus untergebracht, das vermutlich zu den ersten Gebäuden gehörte, die innerhalb des Forts errichtet wurden. Die moderne Rekonstruktion des Hauses wurde 1981 abgeschlossen. Es beinhaltet einen Lagerraum, eine Holzwerkstatt, eine Metallwerkstatt, einen Gefängnisraum, mehrere Schlafräume sowie einen Essraum mit angeschlossenem Ofen für das Backen von Brot. Dabei spiegelt die heutige Einrichtung der Räume nicht unbedingt die ursprüngliche Nutzung wider.
Die russische Kapelle
Die markante und für Nordamerika sehr ungewöhnliche russische Holzkapelle gehört heute zu den häufig fotografierten Gebäuden von Fort Ross. Das ursprüngliche Gebäude war 1825 aus den eigenen Mitteln der russischen Bewohner des Forts sowie der Mannschaft des Schiffes Kreiser errichtet worden. Im Erdbeben von 1906 brachen die Wände der Kapelle vollständig ein; das Dach und die Türme blieben erhalten. Im Frühjahr 1916 stiftete der kalifornische Staat 3.000 Dollar für den Wiederaufbau. Für die Rekonstruktion wurde Holz aus einem Lagerhaus und aus den Quartieren der Kompagnie-Angestellten verwendet. Beim Wiederaufbau wurden Teile der Architektur verändert, und ab 1955 wurde der Bauzustand im Rahmen einer erneuten Restaurierungsmaßnahme schließlich an den Originalzustand angeglichen.
Am 5. Oktober 1970 wurde die Kapelle durch ein Feuer vollständig zerstört. 1971 bis 1973 verlor die Kapelle kurzfristig ihren Status als historic landmark, doch Spenden von Ortsansässigen, russischstämmigen Amerikanern und Regierungsbehörden ermöglichten einen Wiederaufbau. Das heutige Gebäude ist auf der Grundlage historisch-archäologischer Studien im Jahr 1973 errichtet worden und gibt – soweit möglich – den Originalzustand der Kapelle wieder.
Das Rotschewhaus
Das sogenannte „Rotschewhaus“ (engl. Rotchev House) ist das einzige weitgehend im Originalzustand erhaltene Gebäude von Fort Ross. Es wurde im Jahr 1836 für den letzten russischen Kommandanten des Forts, Alexander Rotschew, auf der Grundlage eines früheren Gebäudes renoviert. In einer Bestandsliste aus dem Jahr 1841 wird es als „neues Kommandantenhaus“ bezeichnet – vermutlich, um es vom Kuskowhaus oder „alten Kommandantenhaus“ abzuheben.
Zu Zeiten Rotschews war das Haus komfortabel eingerichtet. Der Franzose Eugène Duflot de Mofras zählt in einem Bericht aus dem Jahr 1841 eine ausgewählte Bibliothek, französische Weine, ein Klavier und eine Mozartpartitur zu den Einrichtungsgegenständen. All dies verschwand mit dem Abzug der Russen in den Jahren 1841/42.
Literatur
Quellen
The Khlebnikov archive. Unpublished journal (1800–1837) and travel notes (1820, 1822, and 1824), edited by Leonid Shur, translated by John Bisk, Fairbanks 1990, ISBN 0-912006-42-0 (Kyril Chlebnikows Reisejournale und -notizen sind eine wichtige Quelle für die Geschichte der russischen Siedlungen in Kalifornien. Die Reisenotizen enthalten Beschreibungen zu Geographie, Pflanzenwelt, Klima und zu den Menschen in Fort Ross und Bodega. Sie enthalten weiterhin detaillierte Informationen über den Schiffsbau in Fort Ross und über den Handel der Russisch-Amerikanischen Kompagnie).
А. А. Истомин, Жамес Р. Гибсон, Валерий Александрович Тишков: Россия в Калифорнии: русские документы о колонии Росс и российско-калифорнийских связях 1803–1850. 2 Bände, 2005
Darstellungen
Lyn Kalani, Lynn Rudy, John Sperry (Hrsg.): Fort Ross, Jenner, CA 2001, ISBN 1-56540-355-X.
Peter Littke: Vom Zarenadler zum Sternenbanner. Die Geschichte Russisch-Alaskas, Magnus, Essen 2003, ISBN 3-88400-019-5.
Kent G. Lightfoot, Thomas A. Wake, Ann M. Schiff: The Archaeology and Ethnohistory of Fort Ross, California, Contributions to the University of California Archeological Research Facility, 1991. Ein grundlegendes Werk, das in Kooperation mit den Pomo entstand.
Weblinks
Homepage der Fort Ross Conservancy
Fort Ross State Park bei California Dept. of Parks and Recreation
Fort Ross: Chronologie (englisch)
Einzelnachweise
Russische Kolonialgeschichte
Historisches Überseegebiet
National Historic Landmark (Kalifornien)
Denkmal im National Register of Historic Places (Kalifornien)
Sonoma County
Russische Diaspora
Archäologischer Fundplatz in den Vereinigten Staaten
Archäologischer Fundplatz in Amerika
Archäologie (Vereinigte Staaten)
Wikipedia:Artikel mit Video
Johann August Sutter |
767968 | https://de.wikipedia.org/wiki/Nachfolge%20des%20Pr%C3%A4sidenten%20der%20Vereinigten%20Staaten | Nachfolge des Präsidenten der Vereinigten Staaten | Die Nachfolge des Präsidenten der Vereinigten Staaten wird durch die Verfassung und den Presidential Succession Act von 1947 geregelt. Aus der Verfassung ergibt sich, dass – falls der Präsident aus irgendwelchen Gründen aus dem Amt scheidet – der Vizepräsident nachrückt. Ist dieses Amt unbesetzt, so ist im Presidential Succession Act eine Reihenfolge festgelegt, mit der ein kommissarischer Präsident bestimmt wird:
der Sprecher des Repräsentantenhauses,
der Präsident pro tempore des Senats
und danach die Mitglieder des Kabinetts in einer im Gesetz festgelegten Reihenfolge.
Durch die Einfügung des 25. Zusatzartikels zur US-Verfassung 1967 wurde die seit 1841 geübte Praxis kodifiziert, dass der Vizepräsident bei Tod oder Rücktritt des Präsidenten selbst zum Präsidenten wird und nicht nur das Amt kommissarisch ausübt. Weiterhin ermöglicht dieser Zusatz die Nachnominierung eines Vizepräsidenten, so dass es seither deutlich unwahrscheinlicher geworden ist, dass die Liste zur Ersatznachfolge des Präsidenten zur Anwendung kommt. In der Geschichte der Vereinigten Staaten gab es bisher noch nicht den Fall, dass sowohl das Amt des Präsidenten als auch des Vizepräsidenten vakant waren. Daher rückten immer die Vizepräsidenten als Präsidenten nach.
Da, anders als in parlamentarischen Regierungssystemen, der Präsident im amerikanischen politischen System vom Volk gewählt wird (durch ein Wahlmännerkollegium) und eine vorgezogene Neuwahl nicht vorgesehen ist, bedarf es einer genauen Regelung, wie mit dem Wegfall des Präsidenten umzugehen ist: Eine einfache Nachwahl etwa durch das Parlament ist nicht möglich. Andererseits ist eine auch zeitlich lückenlose Ersatznachfolge unbedingt erforderlich, da der Präsident gleichzeitig Staatsoberhaupt, Regierungschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist.
Presidential Succession Act von 1947
Da die Verfassung der Vereinigten Staaten nur die direkte Nachfolge des Vizepräsidenten vorsieht, enthielt der ursprüngliche Verfassungstext die Bestimmung, dass der Kongress durch einfaches Gesetz festlegen kann, wie im Falle des Wegfalls von Präsident und Vizepräsident weiterverfahren wird. Diese Möglichkeit hat er durch die Verabschiedung der drei Presidential Succession Acts (1792, 1886 und 1947) wahrgenommen.
Das derzeit gültige Gesetz aus dem Jahr 1947 ist in Title 3, Chapter 1, Section 19 des United States Code, der amtlichen Sammlung amerikanischen Bundesrechts, festgehalten:
Unterabsatz (a)
Unterabsatz (a) regelt, dass in allen Fällen, in denen weder Präsident noch Vizepräsident ihr Amt ausüben können, der Sprecher des Repräsentantenhauses als kommissarischer Präsident amtiert. Hierzu muss er jedoch aus diesem Parlamentsamt zurücktreten und, sofern er gewähltes Mitglied ist (was für die Wahl zum Sprecher nicht erforderlich ist), sein Mandat niederlegen. Der Sprecher des Repräsentantenhauses ist der gewählte Vorsitzende der Kammer und insofern dem deutschen Bundestagspräsidenten vergleichbar; jedoch ist das Amt des Sprechers nicht überparteilich geprägt, anders als das Amt des deutschen Bundestagspräsidenten. Sachlich ist das Sprecheramt somit eher dem Amt des Fraktionsvorsitzenden einer großen Partei im deutschen Bundestag vergleichbar.
(a) (1) If, by reason of death, resignation, removal from office, inability, or failure to qualify, there is neither a President nor Vice President to discharge the powers and duties of the office of President, then the Speaker of the House of Representatives shall, upon his resignation as Speaker and as Representative in Congress, act as President.
(2) The same rule shall apply in the case of the death, resignation, removal from office, or inability of an individual acting as President under this subsection.
(a) (1) Wenn aufgrund des Todes, des Rücktrittes, der Amtsenthebung, der Amtsunfähigkeit oder Fehlens der Wählbarkeit weder ein Präsident noch ein Vizepräsident zur Verfügung steht, um die Rechte und Pflichten des Amtes des Präsidenten auszuüben, amtiert der Sprecher des Repräsentantenhauses – nach seinem Rücktritt als Sprecher und als Mitglied des Repräsentantenhauses – als Präsident.
(2) Die gleiche Regel findet Anwendung im Fall des Todes, des Rücktrittes, der Amtsenthebung oder der Amtsunfähigkeit einer Person, die nach diesem Unterabsatz als Präsident amtiert.
Unterabsatz (b)
Unterabsatz (b) bestimmt, was passiert, wenn auch der Sprecher des Repräsentantenhauses das Amt nicht ausüben kann: In diesem Fall wird der vom Senat gewählte Präsident pro tempore kommissarischer Präsident. Allerdings muss auch dieser zuvor von seinem Amt im Senat und von seinem Mandat als Senator zurücktreten. Präsident des Senates ist an sich der Vizepräsident der Vereinigten Staaten. Dieser übt allerdings ausschließlich im Falle einer Stimmengleichheit ein Stimmrecht aus und sitzt den Verhandlungen im Senat nur selten selbst vor. Der Senat wählt deswegen den Präsidenten Pro Tempore, der auch in der Verfassung vorgesehen ist und bei Abwesenheit des Vizepräsidenten die Sitzungen leitet. Nach einer ungeschriebenen Tradition handelt es sich dabei heute stets um den dienstältesten Senator der Mehrheitspartei; dieser überträgt die tatsächliche Sitzungsleitung aber meist seinerseits auf einen jüngeren Senator.
(b) If, at the time when under subsection (a) of this section a Speaker is to begin the discharge of the powers and duties of the office of President, there is no Speaker, or the Speaker fails to qualify as Acting President, then the President pro tempore of the Senate shall, upon his resignation as President pro tempore and as Senator, act as President.
(b) Wenn zu der Zeit, zu welcher nach Unterabsatz (a) dieses Absatzes der Sprecher [des Repräsentantenhauses] die Ausübung der Rechte und Pflichten des Amtes des Präsidenten beginnen müsste, kein Sprecher im Amt ist, oder wenn dem Sprecher die Wählbarkeit als amtierender Präsident fehlt, amtiert der Präsident Pro Tempore des Senats – nach seinem Rücktritt als Präsident Pro Tempore und als Senator – als Präsident.
Unterabsatz (c)
Unterabsatz (c) sieht vor, dass ein acting president (also die durch dieses Gesetz als Nachfolger des Präsidenten bestimmte Person) grundsätzlich bis zum Ende der Amtsperiode die Befugnisse des Präsidenten ausübt. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen von dieser Regel: Wenn Präsident oder Vizepräsident nur wegen des Fehlens der Wählbarkeit oder wegen einer Amtsunfähigkeit ausgefallen sind, übernehmen diese nach Beseitigung dieses Mangels ihre Ämter wieder. Der englische Begriff „failure to qualify“ kann auch bedeuten, dass noch kein Präsident gewählt ist: Wenn in der Volkswahl kein Kandidat die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen erhält, so wird es Aufgabe des Repräsentantenhauses, einen Präsidenten zu wählen. Kann sich diese Kammer jedoch nicht bis zum Stichtag für den Amtsantritt (20. Januar) auf einen Präsidenten einigen, so unterliegt der Präsident dem „failure to qualify“. Also amtiert für die Zeit, bis die Kammer einen Präsidenten gewählt hat, ihr (bisheriger) Sprecher als Präsident.
(c) An individual acting as President under subsection (a) or subsection (b) of this section shall continue to act until the expiration of the then current Presidential term, except that –
(1) if his discharge of the powers and duties of the office is founded in whole or in part on the failure of both the President-elect and the Vice-President-elect to qualify, then he shall act only until a President or Vice President qualifies; and
(2) if his discharge of the powers and duties of the office is founded in whole or in part on the inability of the President or Vice President, then he shall act only until the removal of the disability of one of such individuals.
(c) Eine Person, die nach Unterabsatz (a) oder (b) dieses Absatzes als Präsident amtiert, bleibt amtierender Präsident bis zum Ende der dann laufenden Amtszeit, mit folgenden Ausnahmen:
(1) Wenn ihre Ausübung der Rechte und Pflichten des Amtes vollständig oder teilweise auf dem Fehlen der Wählbarkeit sowohl des neugewählten Präsidenten wie des neugewählten Vizepräsidenten beruht, so bleibt die Person nur solange kommissarischer Präsident, bis ein Präsident oder ein Vizepräsident die Wählbarkeit erlangt hat.
(2) Wenn ihre Ausübung der Rechte und Pflichten des Amtes vollständig oder teilweise auf der Amtsunfähigkeit des Präsidenten oder Vizepräsidenten beruht, so bleibt die Person nur bis Wiederherstellung der Amtsfähigkeit einer dieser Personen kommissarischer Präsident.
Unterabsatz (d)
Unterabsatz (d) definiert ferner, was passiert, wenn auch der Präsident Pro Tempore des Senats das Amt nicht ausüben kann. In diesem Fall wird die Liste der Minister, nach der zeitlichen Reihenfolge der Gründung der einzelnen Ministerien, abgearbeitet. Auch eine solche Amtsübernahme bedarf des Rücktrittes als Minister, der durch das Ablegen des Amtseides automatisch eintritt. Ein Minister, der als Präsident amtiert, bleibt solange im Amt, bis die Amtszeit des Präsidenten ausläuft, es sei denn, dass sich vorher ein Präsident, Vizepräsident, Sprecher des Repräsentantenhauses oder Präsident Pro Tempore des Senates findet, der dann das Amt ausüben kann. Die Wiederherstellung der Amtsfähigkeit eines eigentlich höher stehenden Ministers (Beispiel: Der Außenminister war amtsunfähig, deshalb wurde der Finanzminister kommissarischer Präsident. Danach wird der Außenminister wieder amtsfähig.) beeinträchtigt den kommissarischen Präsidenten nicht (im Beispiel bleibt der Finanzminister damit kommissarischer Präsident).
(d) (1) If, by reason of death, resignation, removal from office, inability, or failure to qualify, there is no President pro tempore to act as President under subsection (b) of this section, then the officer of the United States who is highest on the following list, and who is not under disability to discharge the powers and duties of the office of President shall act as President: Secretary of State, Secretary of the Treasury, Secretary of Defense, Attorney General, Secretary of the Interior, Secretary of Agriculture, Secretary of Commerce, Secretary of Labor, Secretary of Health and Human Services, Secretary of Housing and Urban Development, Secretary of Transportation, Secretary of Energy, Secretary of Education, Secretary of Veterans Affairs, Secretary of Homeland Security.
(2) An individual acting as President under this subsection shall continue so to do until the expiration of the then current Presidential term, but not after a qualified and prior-entitled individual is able to act, except that the removal of the disability of an individual higher on the list contained in paragraph (1) of this subsection or the ability to qualify on the part of an individual higher on such list shall not terminate his service.
(3) The taking of the oath of office by an individual specified in the list in paragraph (1) of this subsection shall be held to constitute his resignation from the office by virtue of the holding of which he qualifies to act as President.
(d) (1) Wenn aufgrund des Todes, des Rücktrittes, der Amtsenthebung, der Amtsunfähigkeit oder Fehlens der Wählbarkeit kein Präsident Pro Tempore zur Verfügung steht, um nach Unterabsatz (b) als Präsident zu amtieren, so amtiert derjenige Amtsträger der Vereinigten Staaten, der auf der folgenden Liste am höchsten steht und nicht gehindert ist, die Rechte und Pflichten des Amtes des Präsidenten auszuüben, als Präsident: Außenminister, Finanzminister, Verteidigungsminister, Generalstaatsanwalt (Justizminister), Innenminister, Landwirtschaftsminister, Handelsminister, Arbeitsminister, Gesundheitsminister, Bauminister, Verkehrsminister, Energieminister, Bildungsminister, Kriegsveteranenminister, Heimatschutzminister.
(2) Eine Person, die nach diesem Unterabsatz als Präsident amtiert, tut dieses bis zum Ende der dann laufenden Amtszeit, allerdings nicht, wenn zuvor eine wählbare und höher eingestufte Person amtieren kann, mit der Ausnahme, dass die Entfernung der Amtsunfähigkeit einer auf der Liste nach Paragraph (1) dieses Unterabsatzes höher eingestuften Person oder das Erlangen der Wählbarkeit einer Person, die auf ebendieser Liste steht, die Amtszeit des kommissarischen Präsidenten nicht beendet.
(3) Die Ableistung des Amtseides durch eine in der Liste nach Paragraph (1) dieses Unterabsatzes benannte Person gilt als Rücktritt von dem Amt, kraft dessen er für das Amt des kommissarischen Präsidenten wählbar geworden ist.
Unterabsatz (e)
Unterabsatz (e) enthält technische Details: Er sieht vor, dass alle kommissarischen Präsidenten auch als Präsident wählbar sein müssten. Er schließt damit etwa eingebürgerte Bürger, die zwar Minister, aber nicht Präsident werden können, aus der Nachfolgeliste aus. Weiter muss ein Minister schon vor dem Beginn der Abarbeitung der Ministerliste ordnungsgemäß, das heißt mit Zustimmung des Senates, ernannt worden sein. Schließlich ist festgehalten, dass der kommissarische Präsident das Präsidentengehalt bekommt.
(e) (1) Subsections (a), (b), and (d) of this section shall apply only to such officers as are eligible to the office of President under the Constitution. Subsection (d) of this section shall apply only to officers appointed, by and with the advice and consent of the Senate, prior to the time of the death, resignation, removal from office, inability, or failure to qualify, of the President pro tempore, and only to officers not under impeachment by the House of Representatives at the time the powers and duties of the office of President devolve upon them.
(2) During the period that any individual acts as President under this section, his compensation shall be at the rate then provided by law in the case of the President.
(e) (1) Die Unterabsätze (a), (b) und (d) dieses Absatzes finden nur Anwendung auf Amtsträger, die nach der Verfassung für das Amt des Präsidenten wählbar sind. Unterabsatz (d) findet nur Anwendung auf Amtsträger, die vor dem Zeitpunkt des Todes, des Rücktrittes, der Amtsenthebung, der Amtsunfähigkeit oder dem Fehlen der Wählbarkeit des Präsidenten Pro Tempore mit Zustimmung des Senates ernannt worden sind, und nur auf Amtsträger, die zum Zeitpunkt, zu dem die Rechte und Pflichten des Amtes des Präsidenten auf sie übergehen, nicht vom Repräsentantenhaus nach dem Impeachment-Verfahren angeklagt sind.
(2) Während des Zeitraums, in dem eine Person nach diesem Absatz als Präsident amtiert, erhält er das Gehalt, welches durch Gesetz für den Präsidenten vorgesehen ist.
Aktuelle Reihenfolge
Nach aktuellem Stand würden im Falle des Ausscheidens von Präsident Joe Biden folgende Personen in dieser Reihenfolge in das Amt des Präsidenten nachrücken (Stand 6. Januar 2023):
Vizepräsidentin Kamala Harris
der Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy
die Präsidentin pro tempore des Senats, Patty Murray
Außenminister Antony Blinken
Finanzministerin Janet Yellen
Verteidigungsminister Lloyd J. Austin
United States Attorney General Merrick Garland
Innenministerin Deb Haaland
Landwirtschaftsminister Tom Vilsack
Handelsministerin Gina Raimondo
Arbeitsminister Julie Su
Gesundheitsminister Xavier Becerra
Bauministerin Marcia Fudge
Verkehrsminister Pete Buttigieg
Energieministerin Jennifer Granholm – nicht berechtigt, da nicht von Geburt an US-Staatsbürgerin
Bildungsminister Miguel Cardona
Kriegsveteranenminister Denis McDonough
Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas – nicht berechtigt, da nicht von Geburt an US-Staatsbürger
Der Vizepräsident rückt nach dem 25. Zusatzartikel aus dem Jahr 1967 im Falle der endgültigen Erledigung des Präsidentenamtes in dieses Amt nach, er wird also „Präsident“ und nicht nur „kommissarischer Präsident“ (engl. acting president). Im Falle einer vorübergehenden Amtsunfähigkeit des Präsidenten wird auch der Vizepräsident nur kommissarisch Präsident. Diese Frage, ob ein Vizepräsident beim endgültigen Wegfall des Präsidenten tatsächlich „Präsident“ oder „kommissarischer Präsident“ wird, war vor dem 25. Zusatzartikel verfassungsrechtlich nicht unumstritten gewesen. Der Präzedenzfall von John Tyler im Jahr 1841 und seinen Nachfolgern entschied die Frage allerdings politisch. Die seit damals gängige Praxis der tatsächlichen Amtsnachfolge wurde dann 1967 nur noch verfassungsrechtlich kodifiziert.
Jede andere Person als der Vizepräsident kann – unabhängig davon, ob der Präsident dauerhaft oder nur vorübergehend wegfällt – nur „kommissarischer Präsident“ sein. Es handelt sich dabei um eine rein technische Unterscheidung. Er würde nicht in der Zählung der Präsidenten mitgezählt werden und würde sein Amt auch wieder verlieren, sofern der ursprünglich gewählte Präsident nur vorübergehend amtsunfähig war. Ein „kommissarischer Präsident“ besitzt allerdings die gleichen Befugnisse wie der Präsident. Nach dem schon 1951 verabschiedeten 22. Zusatzartikel wird die kommissarisch geleistete Amtszeit auch bei der Beschränkung auf zwei Amtszeiten eingerechnet. Ein kommissarischer Präsident, der mehr als zwei Jahre der Amtszeit übernommen hat, kann nur einmal zum Präsidenten gewählt werden, wie das analog auch für einen nachgerückten Vizepräsidenten gelten würde.
Nach mehrheitlicher Rechtsauffassung, die allerdings nicht unumstritten ist, stehen kommissarische Amtsinhaber – derzeit der Verteidigungsminister, Attorney General und Bildungsminister – in der Nachfolgelinie, wenn sie für ihr eigentliches Amt mit Zustimmung des Senats ernannt worden sind und die Voraussetzungen für die Wählbarkeit zum Präsidenten erfüllen. Dies spielt eine Rolle vor allem beim Übergang zwischen zwei Präsidentschaften, weil die bisherigen Kabinettsmitglieder üblicherweise mit Amtsantritt eines neuen Präsidenten ausscheiden, die neuen Minister aber erst nach Zustimmung des Senats ihr Amt ausüben können.
Historische Entwicklung der Präsidentennachfolge
Die Präsidentennachfolge wurde durch den ursprünglichen Verfassungstext und drei (vom Kongress beschlossene) einfache Gesetze, die Presidential Succession Acts von 1792, 1886 und 1947, bestimmt. Hinzu kamen zwei Zusatzartikel zur Verfassung: der 20. Zusatzartikel von 1933 und der 25. Zusatzartikel von 1967, die Einfluss auf die Präsidentennachfolge nahmen. Diese Verfassungszusätze wurden vom Kongress und drei Vierteln der amerikanischen Bundesstaaten ratifiziert und sind damit Bestandteil der amerikanischen Verfassung.
Der ursprüngliche Verfassungstext von 1787
Die Verfassung der Vereinigten Staaten sieht im zweiten Artikel, erster Abschnitt des ursprünglichen Textes vor, dass „[i]n Case of the Removal of the President from Office, or of his Death, Resignation, or Inability to discharge the Powers and Duties of the said Office, the same shall devolve on the Vice President, and the Congress may by Law provide for the Case of Removal, Death, Resignation or Inability, both of the President and Vice President, declaring what Officer shall then act as President, and such Officer shall act accordingly, until the Disability be removed, or a President shall be elected“. Sollte also der Präsident des Amtes enthoben werden oder sterben oder zurücktreten, oder sollte seine Amtsunfähigkeit festgestellt werden, geht das Amt auf den Vizepräsidenten über. Nicht ganz eindeutig ist, ob der Vizepräsident auch vollwertiger Präsident wird oder nur das Amt kommissarisch ausübt.
Ferner regelt der Satz, dass der Kongress durch Gesetz Vorsorge für den Fall des Verlustes beider Amtsträger treffen kann, indem er festlegt, welcher Amtsträger dann als kommissarischer Präsident amtieren soll. Der 25. Zusatzartikel stellte später einige bis dahin umstrittene Interpretationen dieses Satzes klar; sie spielten für die Präsidentennachfolge jedoch nie eine Rolle.
Diskussionen im ersten Kongress 1791
Im Januar 1791, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode des ersten Kongresses, schlug ein Ausschuss des Repräsentantenhauses vor, im Falle der Notwendigkeit der Nachfolge den Außenminister amtieren zu lassen, da dieses Ministerium das älteste war. Weil zu diesem Zeitpunkt jedoch der den Federalists ablehnend gegenüberstehende Thomas Jefferson Außenminister war, rief dieser Vorschlag Proteste hervor (Jefferson wurde schließlich 1801–1809 doch noch Präsident).
Ein anderer Vorschlag war, den Vertreter des Vizepräsidenten, den Präsidenten Pro Tempore des Senats, auch als ersten Nachrücker für das Präsidentenamt vorzusehen. Diese Idee stieß auf Ablehnung, da nicht klar war, ob der Präsident Pro Tempore weiter Senator bliebe und damit die Gewaltenteilung unterlaufen werde. Außerdem wurde noch vorgeschlagen, den Obersten Richter der Vereinigten Staaten (englisch: Chief Justice) in die Reihenfolge mitaufzunehmen. Schlussendlich vertagte sich der Kongress und überließ das Problem dem zweiten Kongress.
Presidential Succession Act von 1792
Der zweite Kongress einigte sich schließlich 1792 auf eine Fassung, die nach dem Vizepräsidenten den Präsidenten Pro Tempore des Senats, dann den Sprecher des Repräsentantenhauses in der Liste sah. Der Chief Justice wurde aus Gründen der Gewaltenteilung außen vor gelassen, obwohl gleichzeitig zwei Vertreter der Legislative in die Liste mitaufgenommen wurden. Bis heute wurde der Chief Justice nie zu einem potentiellen Ersatzmann für den Präsidenten.
John Tyler etablierte 1841 nach dem Tod von William Henry Harrison als erster nachrückender Vizepräsident mit seiner Auffassung des Verfassungstextes die Praxis, dass der Vizepräsident beim Wegfall des Präsidenten automatisch selbst Präsident wird und nicht nur dessen Amtspflichten und -rechte wahrnimmt. Da es keine Prozedur zur Neubesetzung des Vizepräsidentenamtes gab, wäre bei Tod oder Rücktritt des aufgerückten Vizepräsidenten ein kommissarischer Nachfolger anhand des Presidential Succession Act von 1792 bestimmt worden. In der Zeit zwischen 1792 und 1886 starben fünf Vizepräsidenten, einer trat zurück und vier Vizepräsidenten folgten dem Präsidenten während der laufenden Amtszeit ins Amt nach. Insgesamt gab es also zehn Zeiträume, in denen es keinen Vizepräsidenten gab. Wäre in einem dieser zehn Zeiträume der Präsident weggefallen, so wäre nach dem Presidential Succession Act von 1792 der Präsident Pro Tempore des Senates kommissarischer Präsident geworden. Der Presidential Succession Act von 1792 wurde nie angewandt. Dennoch gab es einige Fälle, in denen nicht viel zu seiner Anwendung gefehlt hat.
Um ein Haar wäre dieser Fall 1868 eingetreten: Vizepräsident Andrew Johnson, ein Demokrat, war dem im April 1865 ermordeten Republikaner Abraham Lincoln als Präsident ins Amt gefolgt. Lincoln hatte Johnson zuvor, 1864, als Geste der nationalen Versöhnung nach dem bereits abzusehenden Ende des Bürgerkriegs, als seinen running mate ausgewählt; als zwar unionstreuer, aber tendenziell südstaatenfreundlicher Demokrat hatte Johnson in den siegreichen und politisch in der unmittelbaren Nachkriegszeit völlig dominanten Nordstaaten keine Hausmacht. Er war bei der Bevölkerung des Nordens, das die im Krieg hart erkämpfte Entmachtung der ehemaligen Sklavenhalter nun auch vor Ort rigoros durchgesetzt sehen wollte, unbeliebt. Johnson wurde einige Zeit später vom Repräsentantenhaus angeklagt, da er gegen einige schwarzenfreundliche Bürgerrechtsgesetze des republikanisch dominierten Kongresses sein Veto eingelegt hatte. Bei der entscheidenden Abstimmung im Senat über die Amtsenthebung Anfang 1868 schließlich verpassten seine Gegner die notwendige Zweidrittelmehrheit im Senat um eine Stimme. Es gibt Spekulationen, nach denen einige gemäßigt-republikanische Senatoren, die eigentlich für Johnsons Amtsenthebung gestimmt hätten, angesichts seines potentiellen Nachfolgers, des radikal-republikanischen Präsidenten Pro Tempore, Benjamin Wade, dem ein allzu extremer Wille zur Bestrafung des Südens unterstellt wurde, gegen eine Verurteilung Johnsons stimmten. Wade wurden auch Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt, und als kommissarischer Präsident hätte er bei der Wahl im November 1868 eine deutlich bessere Ausgangsposition gehabt. Ein Zeitungsartikel lautete: „Andrew Johnson is innocent because Ben Wade is guilty of being his successor.“ („Andrew Johnson ist unschuldig, weil Ben Wade schuldig ist, sein Nachfolger zu sein.“)
Presidential Succession Act von 1886
1886 beschloss der Kongress ein neues Gesetz über die Nachfolge des Präsidenten: Er entfernte die Vorsitzenden der beiden Kammern aus der Liste und nahm stattdessen die Minister auf, beginnend mit dem Außen-, dem Finanz- und dem Kriegsminister. Die Reihenfolge entsprach der Reihenfolge der Gründung der Ministerien.
Diese neue Reihenfolge erschien politisch sinnvoller, da zu diesem Zeitpunkt bereits sechs vormalige Außenminister auf normalem Wege Präsident geworden waren, jedoch noch kein Vorsitzender aus dem Kongress, und wurde weithin angenommen. Auch das Gesetz von 1886 fand nie Anwendung, obwohl auch zwischen 1886 und 1947 drei Vizepräsidenten starben und drei ihrem Präsidenten ins Amt nachfolgten.
20. Zusatzartikel von 1933
Der 20. Zusatzartikel von 1933, der im Wesentlichen ein neues Datum für die Vereidigung des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Mitglieder des Kongresses festsetzt, enthält in seinem dritten Absatz auch eine Regelung, dass für den Fall des Scheiterns einer rechtzeitigen Wahl von Präsident und Vizepräsident der Kongress bestimmen kann, wer das Amt des Präsidenten kommissarisch ausübt, bis ein regulärer Kandidat in das Amt gewählt wurde. Dies ist neben dem ursprünglichen Verfassungstext die zweite Stelle in der amerikanischen Verfassung, die den Presidential Succession Act zur näheren Bestimmung des Verfassungswortlautes vorsieht. Der 20. Zusatzartikel war jedoch keine Voraussetzung für die Verabschiedung des Presidential Succession Acts von 1947.
Presidential Succession Act von 1947
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tode von Präsident Franklin D. Roosevelt unterstützte Präsident Harry S. Truman aktiv eine neue Nachfolgegesetzgebung, die schließlich zum aktuellen Presidential Succession Act führte.
Dabei wurden die Vorsitzenden der beiden Kongresskammern erneut eingefügt, diesmal jedoch in der Reihenfolge Sprecher des Repräsentantenhauses vor Präsident Pro Tempore des Senates. Die Kabinettsmitglieder folgten in der Reihenfolge der Entstehung ihrer Ministerien, wobei das Verteidigungsministerium den Platz des Kriegsministeriums einnahm.
25. Zusatzartikel von 1967
Im 25. Zusatzartikel wurde 1967 nach fast 200 Jahren eine Möglichkeit geschaffen, nachträglich einen Vizepräsidenten zu ernennen, wenn beide Häuser des Kongresses einem solchen Vorschlag zustimmen. Außerdem wurde endgültig festgelegt, dass ein nachrückender Vizepräsident zu einem vollwertigen Präsidenten wird. Diese Änderung erfolgte in der Zeit nach der Ermordung John F. Kennedys 1963 und stellte zudem einige weitere Fragen, insbesondere nach der Feststellung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten, verfassungsrechtlich klar. Die Reihenfolge der möglichen Nachfolger wurde durch den 25. Zusatzartikel zwar nicht verändert. Er reduzierte jedoch die Wahrscheinlichkeit einer Vakanz der beiden höchsten Ämter und damit auch der Notwendigkeit einer Anwendung der weiteren Nachfolgeregelungen. War es zuvor mehrfach vorgekommen, dass das Amt des Vizepräsidenten über mehrere Jahre (in John Tylers Fall fast vier Jahre) vakant war, konnte die Neubesetzung des Vizepräsidentenamts nun in jedem Falle innerhalb weniger Wochen oder Monate erfolgen. Selbst bei einer doppelten Vakanz könnte der kommissarische Präsident einen neuen Vizepräsidenten vorschlagen, der nach erfolgreicher Bestätigung durch den Kongress und Rücktritt des kommissarischen Präsidenten zum regulären Präsidenten aufsteigen würde.
Der Zusatzartikel gibt dem Präsidenten weiterhin die Möglichkeit, seine vorübergehende Amtsunfähigkeit zu erklären, wodurch der Vizepräsident das Amt kommissarisch übernimmt. Dies wurde von Ronald Reagan, George W. Bush und Joe Biden angewendet, als sie sich medizinischen Behandlungen unterzogen.
Anwendungen und Änderungen seit 1947
Auch der Presidential Succession Act von 1947 ist bisher nie tatsächlich zur Anwendung gekommen. Nach dem Tod John F. Kennedys 1963 war das Amt des Vizepräsidenten knapp eineinhalb Jahre unbesetzt, da Lyndon B. Johnson Kennedy ins Amt nachgefolgt war und ein Vizepräsident noch nicht nachnominiert werden konnte (der 25. Zusatzartikel wurde erst vier Jahre später verabschiedet).
Mitte der 1970er Jahre, in der Endphase der Amtszeit Richard Nixons, gab es zwei weitere Situationen, in denen der Sprecher des Repräsentantenhauses dem Präsidenten ins Amt nachgefolgt wäre: Im Oktober 1973 war Vizepräsident Spiro Agnew wegen eines Bestechungsskandals zurückgetreten, erst im Dezember 1973 wurde Gerald Ford zum neuen Vizepräsidenten ernannt. In dieser Zeit erwartete man allgemein, dass Präsident Nixon im Zuge der Watergate-Affäre zurücktreten würde. In diesem Fall wäre mit dem demokratischen Sprecher des Repräsentantenhauses, Carl Albert, ein politischer Gegner des bisherigen Präsidenten ins Amt gekommen. Albert war der Ansicht, dass er kein Recht habe, ein Amt, das die Wähler einem Republikaner anvertraut hätten, auszuüben, und kündigte für den Fall seiner kommissarischen Präsidentschaft an, bald einen republikanischen Vizepräsidenten zu ernennen und anschließend zu dessen Gunsten zurückzutreten. Auch wenn der Fall so nicht eintrat, wird Alberts Ankündigung als wichtiger Präzedenzfall angesehen.
Mit dem Rücktritt Richard Nixons im August 1974 und dem Nachrücken Fords ins Präsidentenamt wurde das Amt des Vizepräsidenten erneut vakant. Erst im Dezember 1974 wurde Nelson Rockefeller als Vizepräsident vereidigt.
Beim Attentat auf Ronald Reagan am 30. März 1981 war Vizepräsident George Bush gerade im heimischen Texas und Außenminister Alexander Haig rief sich wenige Stunden nach dem Anschlag vor laufenden Fernsehkameras im Weißen Haus zum verfassungsmäßigen Amtsinhaber aus. Dies sorgte für erhebliches Befremden. Die Situation wurde dadurch bereinigt, dass Bush am Abend des gleichen Tages die Amtsgeschäfte bis zu Reagans Genesung übernahm.
Der Presidential Succession Act ist seit 1947 einige Male geändert worden, um Änderungen der Ministerialstruktur abzubilden beziehungsweise neu geschaffene Ministerien (am Ende der Liste) einzufügen.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden einige potenzielle Nachfolger wie der Sprecher des Repräsentantenhauses, Dennis Hastert, an sichere Orte gebracht, um die Nachfolge abzusichern. Viele Abgeordnete wollten in der Folge der Terroranschläge die Einfügung des neuen Ministeriums für Innere Sicherheit in einer höheren Position als am Ende der Liste erreichen und argumentierten, dass der Minister für Innere Sicherheit in einem solchen Notstandsfall für das Amt des kommissarischen Präsidenten besser geeignet wäre als etwa der Bauminister. Tatsächlich wurde der Minister für Innere Sicherheit kurzzeitig nach dem Justizminister an achter Stelle der Nachfolge eingefügt, doch dieses Gesetz endete mit der Amtszeit des 109. Kongresses und wurde seither nicht wieder eingebracht. Durch die House Resolution 3199 wurde der Presidential Succession Act am 9. März 2006 zum bislang letzten Mal dahingehend ergänzt, den Minister für Innere Sicherheit nun wieder am Ende der Reihenfolge hinter dem Minister für Kriegsveteranen in die Nachfolgeregelung aufzunehmen.
Verfassungsrechtliche Diskussion
Einige bedeutende amerikanische Verfassungsrechtler wie Akhil Reed Amar bezweifeln die Verfassungsmäßigkeit der Aufnahme des Sprechers des Repräsentantenhauses und des Präsidenten pro Tempore des Senats in die Liste. Sie argumentieren, dass der Begriff „officer“ im verfassungsrechtlichen Sinne nur Angehörige der Exekutive und der Judikative, nicht jedoch der Legislative umfasse. Ferner hatte schon James Madison 1792 ausdrücklich auf die Gewaltenteilung verwiesen. In diesem Zusammenhang sei die Einbeziehung von Personen aus einer anderen Gewalt als der Exekutive in eine Nachfolgeregelung für die Exekutive verfassungsrechtlich fragwürdig.
Vorkehrungen für das Ausreichen der Liste
Zur Sicherstellung, dass mindestens ein Amtsträger der Liste auch im schlimmsten Fall überlebt, wird seit 1971 für den Fall der Zusammenkunft vieler Listenmitglieder eine Person als „designated survivor“ (Notfallüberlebender) bestimmt, der sich weitab von Washington für den Fall eines Terroranschlages oder großen Unfalls zur Übernahme des Präsidentenamtes bereithält. Ein solcher „designated survivor“ wird regelmäßig für die Rede zur Lage der Nation bestimmt, bei der ansonsten der Vizepräsident, alle Kabinettsmitglieder und die Mitglieder des Kongresses anwesend sind. Jedoch wird von jeder Partei und von jedem Haus je ein Abgeordneter als weiterer „designated survivor“ bestimmt, sodass diese vier Personen im Notfall dennoch eine parlamentarische Kontrolle auf den ansonsten unkontrollierten Präsidenten ausüben. Sollten jedoch auch diese Personen umkommen, gibt es keine ausdrücklichen Regelungen, wer dann die Nachfolge antritt: Stellvertretende Minister kämen nicht in Frage, da sich die Nachfolgeregelung ausdrücklich auf vollwertige Kabinettsmitglieder bezieht.
Siehe: Liste der Designated survivors
Fiktionale Anwendung der Präsidentennachfolge über den Vizepräsidenten hinaus
Die Übernahme des Präsidentenamtes durch den Vizepräsidenten erscheint in vielen amerikanischen Print- und Filmerzeugnissen. Seltener dagegen sind die Werke, in denen über den Vizepräsidenten hinaus die Amtsnachfolge besprochen wird, mithin der Presidential Succession Act als solcher angewandt wird:
Im Roman The Man von Irving Wallace aus dem Jahr 1964 stirbt der Vizepräsident an einem Herzinfarkt. Der Präsident und der Sprecher des Repräsentantenhauses sterben beide bei einem Unfall in Europa, sodass Douglass Dilman, der Präsident pro tempore des Senats, ein Afroamerikaner, der nur aufgrund seiner Rasse in dieses normalerweise unwichtige Amt erhoben wurde, Präsident wird. Rassistische Politiker beider Parteien versuchen Vorwände zu finden, Dilman des Amtes zu entheben, was jedoch scheitert. Am Ende des Romans entscheidet sich Dilman gegen eine Kandidatur – ein Afroamerikaner hätte keine Chancen gewählt zu werden, wie Autor Wallace es auch so sah. Der Roman wurde 1972 von Joseph Sargent nach einem Drehbuch von Rod Serling mit James Earl Jones als Präsident Dilman verfilmt.
Line of Succession von Brian Garfield (1972) enthält das Szenario, dass zwischen dem Tag der Wahl und dem der Vereidigung der designierte Präsident, der designierte Vizepräsident und der Sprecher des Repräsentantenhauses durch Terroristen getötet werden. Der Präsident pro tempore gilt als inakzeptabel für das Amt des Präsidenten. Deshalb versucht der noch im Amt befindliche, abgewählte Präsident im Amt zu bleiben.
Im Roman Thirty-four East von Alfred Coppel aus dem Jahr 1974 wird der Vizepräsident von arabischen Terroristen entführt. Gleichzeitig kommt der Präsident bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Da der Vizepräsident offenbar amtsunfähig ist, übernimmt der Sprecher des Repräsentantenhauses als kommissarischer Präsident die Macht. Er wird dabei aber als schwacher Charakter dargestellt, der vom Stabschef manipuliert wird.
Im Roman Trinity’s Child von William Prochnau aus dem Jahr 1983 (1990 als By Dawn’s Early Light verfilmt) fällt Washington einem Nuklearangriff zum Opfer, bei dem das halbe Kabinett stirbt. Der Innenminister übernimmt die Präsidentschaft und führt den Dritten Weltkrieg fort. Es stellt sich jedoch heraus, dass der Präsident noch lebt. Allerdings weigert sich der Innenminister, sein Amt wieder abzugeben, sodass es für einige Zeit kollidierende Befehle gibt.
1994: Ehrenschuld englischer Originaltitel: Debt of Honor. Japanische Großindustrielle verschwören sich gegen die USA, greifen die US-Börsen an und nehmen Pazifik-Inseln ein. Clark und Ding Chavez helfen dem Nationalen Sicherheitsberater Ryan, einen größeren Krieg mit Japan abzuwenden. Am Ende des Buches stürzt sich der Pilot einer japanischen Airline mit einer Boeing 747 in den Kongress, während dieser gerade zusammentritt, um Ryan als neuen Vize-Präsidenten zu vereidigen.
1996: Befehl von oben englischer Originaltitel: Executive Orders Fortsetzung von Ehrenschuld. Ryan wurde nach dem Flugzeugangriff zum Präsidenten vereidigt.
In der Fernsehserie The West Wing aus dem Jahr 2003 wird die Tochter des Präsidenten entführt, woraufhin der Präsident seine Amtsunfähigkeit erklärt, um nicht erpressbar zu sein. Da der Vizepräsident kurz zuvor zurückgetreten war, übernimmt der oppositionelle Sprecher des Repräsentantenhauses die kommissarische Präsidentschaft, bis der Präsident nach der Rettung seiner Tochter sein Amt wieder übernimmt.
In der Fernsehserie Welcome, Mrs. President aus dem Jahr 2005 erleidet die Präsidentin einen Blinddarmdurchbruch. Ähnlich wie beim vorherigen Beispiel ist auch hier der Vizepräsident kurz zuvor zurückgetreten, so dass der oppositionelle Sprecher des Repräsentantenhauses die Präsidentschaft übernimmt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus kehrt die Präsidentin in ihr Amt zurück.
Im Film xXx 2 - The Next Level, plant der US-Verteidigungsminister einen Militärputsch, bei dem der Präsident und alle vor ihm stehenden Nachfolger des Präsidenten getötet werden sollen, damit er selbst nächster US-Präsident werden kann. Als Nachfolger auf einem Schaubild genannt werden explizit aber nur Vizepräsident, Präsident pro tempore des Senats und Außenminister. Der Sprecher des Repräsentantenhauses und der Finanzminister fehlen.
Im Film Eagle Eye sollen der Präsident und weitere Mitglieder der Regierung eliminiert werden: nämlich alle Personen, welche in der Nachfolge des Präsidenten der Vereinigten Staaten noch vor dem, zu verschonenden, Verteidigungsminister stehen.
Im Film White House Down aus dem Jahre 2013 wird der Präsident nach einem terroristischen Angriff auf das Weiße Haus für tot erklärt und der Vizepräsident, der sich auf der Air Force One befindet, zum Präsidenten ernannt. Schließlich wird auch die Air Force One abgeschossen, sodass der Sprecher des Repräsentantenhauses, der in das Komplott der Terroristen eingebunden ist, die präsidentiellen Befugnisse übertragen bekommt.
Im Film Olympus Has Fallen – Die Welt in Gefahr aus dem Jahr 2013 kommt es zu einem Überfall von Terroristen, die dabei das Weiße Haus in ihre Gewalt bringen können. Der Präsident und andere hochrangige Persönlichkeiten inklusive des Vizepräsidenten werden im Bunker des Weißen Hauses gefangen gehalten. Dadurch übernimmt der Sprecher des Repräsentantenhauses (gespielt von Morgan Freeman) als amtierender Präsident die Macht.
In der Serie Designated Survivor, die in den Jahren 2016–2019 produziert wurde, ist der eigentlich gerade für die Abberufung vorgesehene Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung, Thomas Kirkman (gespielt von Kiefer Sutherland), der Designated Survivor. Bei einer Rede zur Lage der Nation, als im Kapitol eine Bombe explodiert und den Präsidenten, alle Nachfolger des Präsidenten mit Ausnahme Kirkmans, die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs und des Senats sowie fast alle Mitglieder des Repräsentantenhauses tötet. Kirkman muss das Amt übernehmen und sieht sich nicht nur der Krise ausgesetzt, sondern auch der Anzweiflung seiner Legitimität als Amtsinhaber.
In der Serie Madam Secretary konnte aufgrund eines Hacks keine Verbindung zur AirForce One aufgenommen werden, wodurch davon auszugehen war, dass diese mitsamt dem Präsidenten abgestürzt war. Der Vizepräsident war allerdings wegen einer Operation nicht amtsfähig, wodurch der Sprecher des Repräsentantenhauses nachrücken musste, was allerdings auch nicht ging, da er sich mit an Bord der AirForce One befand. Schließlich sollte der Präsident des Senats nachrücken. Jedoch wurde vor der Leistung des Amtseid festgestellt, dass dieser aufgrund von starker Altersdemenz nicht mehr komplett zurechnungsfähig war und somit nicht fähig war, das Amt des Präsidenten auszuüben. Dadurch wurde die Außenministerin (und Hauptdarstellerin der Serie) Präsidentin, bis die Maschine des Präsidenten wieder auftauchte.
Literatur
Ruth Caridad Silva: Presidential Succession. Greenwood, New York 1968, ISBN 0-8371-0229-4
Stephan W. Stathis: Presidential Succession. In: Leonard W. Levy, Louis Fischer (Hrsg.): Encyclopedia of the American Presidency. MacMillan Reference Books, Houndmills, Basingstoke, Hampshire und New York 1998, ISBN 0-02-865052-2
Weblinks
Chronologie der Gesetzgebung (englisch)
Gesetzentwurf House Resolution 1943 (englisch)
Gesetzentwurf House Resolution 2319 (englisch)
House Resolution 3199, USA PATRIOT Improvement and Reauthorization Act of 2005, SEC. 503 (englisch, wie verabschiedet durch Senat und Repräsentantenhaus)
Einzelnachweise
Präsidentschaft der Vereinigten Staaten |
828641 | https://de.wikipedia.org/wiki/STS-117 | STS-117 | STS-117 (englisch Space Transportation System) ist eine Missionsbezeichnung für den US-amerikanischen Space Shuttle Atlantis (OV-104) der NASA. Es war die 118. Space-Shuttle-Mission und der 28. Flug der Raumfähre Atlantis. Dieser 21. Flug einer US-Raumfähre zur Internationalen Raumstation (ISS) transportierte die S3/S4-Struktur zur ISS.
Der Start musste auf Grund von starken Beschädigungen am Außentank von Mitte März auf Anfang Juni 2007 verschoben werden.
Mannschaft
Frederick Sturckow (3. Raumflug), Kommandant
Lee Archambault (1. Raumflug), Pilot
James Reilly (3. Raumflug), Missionsspezialist
John Olivas (1. Raumflug), Missionsspezialist
Patrick Forrester (2. Raumflug), Missionsspezialist
Steven Swanson (1. Raumflug), Missionsspezialist
ISS-Crew Hinflug
ISS-Expedition 15/ISS-Expedition 16
Clayton Anderson (1. Raumflug), Bordingenieur
ISS-Crew Rückflug
ISS-Expedition 14/ISS-Expedition 15
Sunita Williams (1. Raumflug), Bordingenieurin
Missionsüberblick
Der Start war ursprünglich für den 15. März 2007 vorgesehen, musste aber wegen eines schweren Hagelsturms, der das Shuttle am Tank und einige der Hitzeschutzkacheln beschädigt hatte, verschoben werden. Durch die erforderlichen Reparaturarbeiten konnte der Start erst am 8. Juni erfolgen, bei dem erstmals seit vier Jahren die Startrampe 39A genutzt wurde.
STS-117 brachte das S3/S4-Element zur Internationalen Raumstation. Das Bauteil besteht aus der Gitterstruktur S3 und dem Solarzellenträger S4. Die Solarpaneele wurden nach der Installation ausgefahren. Außerdem wurde der zweite Flügel des Solarmoduls P6 eingefahren, um ihn später an seine endgültige Position bringen zu können.
Für die geplanten Arbeiten waren ursprünglich drei Weltraumausstiege vorgesehen. Während des Fluges wurde jedoch ein vierter Ausstieg hinzugefügt, um Beschädigungen am Orbiter zu reparieren.
Vorbereitungen
Reaktivierung der Startrampe 39A
STS-117 war die erste Mission nach über vier Jahren, die von der Startrampe 39A aus erfolgte. Diese wurde zuletzt beim Start der Mission STS-107 benutzt, die mit dem Absturz der Raumfähre Columbia und dem Tod der gesamten Mannschaft endete.
Ende 2006 wurde damit begonnen, die Rampe wieder für den Startbetrieb herzurichten. Dabei wurde festgestellt, dass es größere Schäden gab, als man angenommen hatte. Deshalb war lange Zeit nicht sicher, ob Pad 39A rechtzeitig für STS-117 fertig sein würde. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte man von Pad 39B starten können. Auf dieser Rampe sollten aber in den folgenden Monaten die Umbauten für die Testflüge der neuen Ares-I-Rakete beginnen, deshalb hätte ein Shuttle-Start von dieser Rampe zu weiteren Verspätungen im Constellation-Programm geführt. Da die Rampe 39B für eine Rettungsmission der STS-125-Mission bereitstehen musste, durften an der eigentlichen Startanlage keine Veränderungen vorgenommen werden. Nur kleinere Veränderungen am Launch Complex sowie der Bau von drei Blitzableitern waren daher erlaubt. Mitte Januar stellte sich heraus, dass die Rampe 39A rechtzeitig einsatzbereit sein würde.
Ende Januar 2007 wurden am Pad 39A Tests durchgeführt. Unter anderem wurde am 29. Januar die RSS-Zugangsplattform von der Park- in die Arbeitsposition und wieder zurückgefahren. Tags darauf wurden die Pumpen für die Treibstoffe in Betrieb genommen. Diese Überprüfungen waren erforderlich, weil die Startrampe seit STS-107 im Januar 2003 nicht mehr verwendet worden war.
Vorbereitung des Orbiters
Nach dem Ende ihrer letzten Mission wurde die Atlantis am 21. September 2006 in die Orbiter Processing Facility gefahren. Bei der obligatorischen Nachkontrolle der Raumfähre wurde Anfang Oktober entdeckt, dass während des STS-115-Fluges ein Mikrometeorit den Radiator der geöffneten rechten Laderaumtür durchschlagen hatte. Der Fremdkörper hinterließ ein Loch, das auf der Eintrittsseite 2,7 mm und auf der Austrittsseite 0,8 mm maß. Der Radiator wurde in einem Bereich von 2,5 cm um das Loch beschädigt und war kurze Zeit später repariert.
Der Anfang Dezember 2006 begonnene Zusammenbau der Feststoffraketen im Vehicle Assembly Building (VAB), die aus jeweils vier Segmenten bestanden, die aufeinander gesetzt und miteinander verbunden wurden, wurde einen Monat später abgeschlossen. Ende Dezember 2006 traf auch der Außentank in Florida ein.
Nachdem die Montage des Außentanks zwischen die Feststoffbooster am 20. Januar 2007 abgeschlossen war, wurde die Atlantis am 7. Februar zum VAB gerollt. Tags darauf wurde die Fähre mit Außentank und Feststoffraketen verbunden.
Am 15. Februar wurde die Raumfähre zum Pad 39A gefahren. Dieser sogenannte Rollout hatte um einen Tag verschoben werden müssen, weil ein Sensor in einer der Feststoffraketen bei Tests ungewöhnliche Werte geliefert hatte. Die Messsonde, die den Kammerdruck überwachte, wurde an der Startrampe ausgewechselt.
Raumfähre durch Gewitter beschädigt
Am 26. Februar brach ein unerwartet heftiges Gewitter mit Hagelschlag über das Kennedy Space Center (KSC) herein. Dabei wurden Teile des auf der Rampe stehenden Shuttles beschädigt. Erste Inspektionen ergaben allein am Außentank durch die teilweise golfballgroßen Hagelkörner etwa 7.000 Beschädigungen an der weichen Isolierung, von denen zehn Prozent als reparaturbedürftig eingestuft wurden. Auch mindestens 26 Hitzeschutzkacheln im Bereich der linken Tragfläche der Atlantis wurden in Mitleidenschaft gezogen. Dies war der größte Hagelschaden in der Geschichte der Shuttle-Flüge. Den bisherigen Rekord hielt nach Angaben der NASA ein Hagelsturm vom Mai 1999, der eine dreiwöchige Verschiebung der Mission STS-96 erzwang. Damals trug der Außentank über 600 „Beulen“ davon.
Wie geplant kamen am 27. Februar die Verantwortlichen des Shuttle-Programms am KSC zur traditionellen FRR-Flugbereitschaftsabnahme zusammen. Eigentlich sollte während des Flight Readiness Review die Flugtauglichkeit aller Systeme attestiert werden. Stattdessen gab Wayne Hale, der Leiter des Shuttle-Programms, bekannt, dass die Atlantis wegen der Hagelschäden zu Reparaturarbeiten und weiteren Untersuchungen zurück in das VAB transportiert werden müsse. Erst dort sei eine genaue Inspektion möglich. Vor allem die Schäden am orangefarbenen Tank müssten ausgebessert werden. Der vorgesehene Starttermin, der 15. März, wurde abgesagt, ein neues Datum nicht genannt.
Sechs Tage nach dem Hagelsturm erfolgte am 4. März der siebenstündige Rücktransport zur Montagehalle. Es war der 17. sogenannte Rollback des Shuttle-Programms. Der Letzte fand zwei Jahre zuvor statt, als die Raumfähre Discovery im Mai 2005 einen neuen Außentank für die Mission STS-114 erhielt.
Reparatur der Hagelschäden
Fünf Tage nach der Ankunft der Fähre in der Montagehalle gab die NASA bekannt, dass eine Reparatur des externen Tanks vor Ort möglich sei. Eine abschließende Beurteilung über den genauen Umfang der Hagelschäden am Außentank könne zwar noch nicht gegeben werden, aber mit kleinen Ausbesserungsarbeiten wurde bereits begonnen. Es wurde befürchtet, dass bei irreparablen Schäden der Tank sogar hätte ausgewechselt werden müssen. Dies hätte eine Demontage von Orbiter und Feststoffraketen vom Tank erfordert und eine längere Wartezeit bedeutet. Die NASA erklärte weiter, dass die Inspektion der Feststoffraketen bereits beendet und dass 28 Hitzeschutzkacheln der Atlantis in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ein Großteil davon wurde bereits repariert.
Am 15. März gab Wayne Hale, der Leiter des Shuttle-Programms, grünes Licht, mit den Reparaturen am Außentank (ET) zu beginnen. Fast zwei Wochen dauerten die vorbereitenden Arbeiten. Zunächst mussten im VAB Plattformen aufgestellt werden, um den gesamten ET auf Schäden untersuchen zu können. An der Spitze, wo die meisten Hagelschäden zu verzeichnen waren, wurde eine spezielle Paste aufgetragen, um auch kleinste Risse sichtbar zu machen. Parallel dazu wurden im Herstellerwerk des Tanks Reparaturtechniken entwickelt, denn wegen der umfangreichen Funde an der ET-Spitze reichte dort ein herkömmliches Verfahren (verspachteln und glätten) nicht aus.
Nach einem Treffen der NASA-Verantwortlichen wurde auf einer Telefon-Pressekonferenz am 21. März die weitere Vorgehensweise dargelegt. Obwohl die Reparatur des Tanks Fortschritte machte, wurde mit einem Start frühestens Mitte Mai gerechnet. Während bei einem Großteil der Hagelschäden im unteren und mittleren Bereich des Außentanks kein Ausbesserungsbedarf bestand oder diese durch Verspachteln repariert werden konnten, waren die Beschädigungen an der Spitze gravierend. Allein dort wurden rund 1.600 Beulen lokalisiert – auf engstem Raum und viele ineinander übergehend. Diese Sektion musste vollständig abgetragen und mit Sprühschaum von Hand aufgebracht werden. Weil diese Stelle des Tanks während des Starts den größten aerodynamischen Belastungen ausgesetzt ist, wurden noch einige Tests durchgeführt.
Ausbau der Haupttriebwerke
Die NASA gab am 10. April bekannt, dass alle Testergebnisse vorlägen und einstimmig beschlossen worden sei, den Außentank nicht auszuwechseln. Trotzdem behalte man sich die Tauschoption offen, falls der reparierte Tank später doch als „nicht flugtauglich“ eingestuft würde. Der Atlantis-Start sei nicht vor dem 8. Juni möglich, um den Technikern genügend Zeit zu geben, die Hagelschäden auszubessern, erklärte Shuttle-Manager Wayne Hale im Anschluss an eine Besprechung über das weitere Vorgehen.
Am 30. April wurde im VAB mit dem Ausbau der drei Haupttriebwerke begonnen. Es wurden mögliche Verunreinigungen in den Kraftstoffleitungen vermutet, weil bei Wartungsarbeiten in der Schwesterfähre Discovery Silikonrückstände entdeckt wurden. Mit Silikon werden seit einigen Jahren Abdrücke der Treibstoffleitungen angefertigt, um Risse in der Kraftstoffversorgung aufzuspüren. Die Techniker hatten gewartet bis die Standardreparaturarbeiten im unteren Bereich des Außentanks abgeschlossen und die Zugangsgerüste abgebaut waren – diese standen teilweise sehr dicht am Tank. Beim Entfernen der Triebwerke parallel zu den Arbeiten am Tank hätte die Gefahr bestanden, diesen erneut durch Kontakt mit den Plattformen zu beschädigen, weil der gesamte Shuttle etwas schwankt, wenn die schweren Motoren ausgebaut werden.
Nach einer Woche waren alle Triebwerke wieder in den Orbiter installiert. Während ein Aggregat in einwandfreiem Zustand war, wurde im Backbordtriebwerk (SSME-2) ein drei Millimeter großes Silikonstückchen gefunden. Auch in Motor Nr. 1 wurde ein kleiner Fremdpartikel entdeckt. Wegen eines zuvor angesetzten Wechsels einer Turbopumpe, wurde SSME-2 in die Triebwerkswartungshalle überführt – die beiden anderen Aggregate blieben im VAB.
Vorgezogener Besatzungswechsel
Wegen der mehrmonatigen Verschiebung der Mission STS-117 gab die NASA Ende April 2007 bekannt, den erst für den nächsten Shuttle-Flug geplanten Austausch der amerikanischen Bordingenieure auf der Raumstation vorzuverlegen. Der für einen Start mit STS-118 vorgesehene Astronaut Clayton Anderson wurde der Atlantis-Crew zugeteilt, um seine seit Dezember 2006 auf der ISS arbeitende Kollegin Sunita Williams abzulösen. Durch die kleine Mannschaftsumstellung wurde erreicht, dass es in der zeitlichen Planung der ISS-Besatzungen zu keinen Verzögerungen kommt.
Zweite Fahrt zur Startrampe
Am 11. Mai kamen die NASA-Verantwortlichen am KSC zusammen, um darüber zu beraten, ob der Shuttle bereit sei, zum zweiten Mal zur Rampe gefahren zu werden. Im Anschluss wurde erklärt, dass alle Reparaturarbeiten abgeschlossen und begutachtet worden seien und die Atlantis in fünf Tagen die Montagehalle verlassen werde. Der für den Tank Verantwortliche, John Chapman, wies darauf hin, dass der ET durch die ausgebesserten Stellen gesprenkelt aussehen würde, trotzdem hätte das ungewöhnliche Erscheinungsbild keinen Einfluss auf dessen Flugverhalten.
Der Startaufbau wurde am 15. Mai, einen Tag früher als ursprünglich geplant, zurück zur Startrampe 39A gebracht. Nach einer Fahrt von 6 Stunden und 45 Minuten wurde die Startplattform auf den Podesten der Startrampe abgesetzt. Danach wurde die Nutzlast, das S3/S4-Segment wieder in die Ladebucht des Shuttles geladen.
Letzte Startvorbereitungen
Drei Monate nach der ersten Flugbereitschaftsabnahme fand Ende Mai am KSC die Folgebesprechung statt. Die Führungsspitzen des Shuttle-Programms berieten anderthalb Tage lang über die Systeme der Raumfähre und bescheinigten am 31. Mai deren Einsatztauglichkeit. Dabei wurden besonders die Anstrengungen bei der Reparatur des Außentanks gelobt. Als Startdatum wurde der 8. Juni bestätigt, der von der NASA bis dahin als vorläufiger Termin genannt wurde.
Aus Houston kommend, traf am 4. Juni die Besatzung in T-38-Jets am KSC ein. Kommandant Rick Sturckow erklärte, dass es einen „kleinen Rückschlag“ gegeben habe, als er auf die witterungsbedingte Verschiebung des Fluges anspielte. Die gesamte Besatzung wisse die Leistung der Techniker und Ingenieure, die den externen Tank repariert haben, zu schätzen. Die Astronauten hätten vor wenigen Minuten die Rampe überflogen und der Tank sehe gut aus.
Missionsverlauf
Start
Der Countdown für STS-117 begann am 6. Juni 2007 und verlief aus technischer Sicht problemlos. Dafür forderte das Wetter mehr Aufmerksamkeit, denn für den Starttag wurden von den Meteorologen der NASA mögliche Gewitter vorhergesagt.
Elf Stunden nachdem die RSS-Arbeitsbühne (Rotating Service Structure) am 8. Juni in ihre Parkposition gefahren wurde, begann gegen 14:00 UTC die dreistündige Befüllung des Außentanks. Zuvor hatte die Flugleitung die jüngsten Wetterberichte eingeholt, die für den Startzeitraum eine Wahrscheinlichkeit von 80 % für gutes Wetter prognostizierten, und grünes Licht gegeben. Die großen Regengebiete nördlich des KSC würden an Cape Canaveral vorbeiziehen.
Die siebenköpfige Mannschaft wurde zu Beginn der Betankung geweckt und traf sechs Stunden später an der Startrampe ein. Nachdem die Astronauten eingestiegen waren, wurde um 21:49 UTC die Luke des Orbiters geschlossen.
Etwa eine Stunde vor dem Start hatte sich das Wetter an den zwei TAL-Landeplätzen (Transatlantic Abort Landing) soweit verschlechtert, dass diese ihre „Schließung“ melden mussten: Istres in Frankreich, das erst seit zwei Jahren von der NASA als Ausweichplatz genutzt wird, stand wegen Nebels nicht zur Verfügung und im spanischen Saragossa regnete es. Mindestens ein Landeplatz musste im Notfall aber angeflogen werden können, andernfalls hätte der Countdown abgebrochen werden müssen. 40 Minuten vor dem Start hatte sich der Nebel in Istres verzogen und die Militärbasis war wieder einsatzbereit.
Die Atlantis startete pünktlich um 23:38:04 UTC. Nach rund zwei Minuten wurden die beiden Booster abgeworfen. Sechs Minuten später folgte der Abwurf des Tanks, nachdem zuvor die drei Haupttriebwerke abgeschaltet wurden. Shuttle-Programm-Direktor Wayne Hale zeigte sich sehr zufrieden, nachdem er die erste Durchsicht der Bilder und Filme des Außentanks vorgenommen hatte. Während des Starts habe sich trotz der tausenden Reparaturstellen kaum Isolierschaum gelöst, so Hale.
Erstmals waren alle drei Haupttriebwerke (SSMEs) mit einem Zusatzcomputer ausgestattet, der vom Marshall Space Flight Center zur Erhöhung der Sicherheit entwickelt wurde. Das AHMS (Advanced Health Management System) überwacht die Hochleistungsturbopumpen der Motoren, die rund 500 kg wiegen und mit Drehzahlen zwischen 23.000/min und 34.000/min arbeiten. Durch Beschleunigungsmesser an den Pumpen wertet das AHMS zwanzig Mal in der Sekunde aus, wie stark diese vibrieren. Bei Überschreiten der Toleranzen kann das Triebwerk durch das AHMS abgeschaltet werden. Nur ein SSME war diesmal mit einem aktiven Kontrollcomputer ausgestattet – konnte im Notfall also eingreifen –, die zwei anderen Motoren wurden durch ihre AHMS-Geräte nur überwacht.
Etwa eineinhalb Stunden nach dem Start wurden die Ladebuchttüren geöffnet, damit sich die Radiatoren entfalten konnten und der RMS überprüft werden konnte. Dabei entdeckte man an einem der zwei OMS-Triebwerkspods (Orbital Maneuvering System) eine abgelöste Hitzeschutzmatte.
Nach dem Weckruf begann die Mannschaft am 9. Juni mit der Untersuchung des Hitzeschildes. Dazu wurde die OBSS-Verlängerung am RMS angebracht. Inspiziert wurden die beiden Flügel und die Orbiternase. Eine vorläufige Analyse ergab keine Schäden der Hitzeschutzkacheln in diesen Bereichen.
Arbeiten auf der ISS
Am 10. Juni erfolgte die Kopplung. Um 19:36 UTC dockte die Atlantis über dem Südosten Australiens an der Raumstation an. Vorher hatte die Atlantis eine 360°-Drehung vollführt, um der ISS-Besatzung die Möglichkeit zu geben, den Hitzeschild zu fotografieren.
Noch am gleichen Tag wurde gegen 21:20 UTC das S3/S4-Segment aus der Nutzlastbucht gehievt und an den Stationsarm weitergegeben. Zudem wurden zur Vorbereitung auf den ersten Außenbordeinsatz (EVA) die Raumanzüge von der Shuttle- zur Stationsluftschleuse Quest gebracht, wo Reilly und Olivas die Nacht verbrachten. Während dieses sogenannten Campouts atmeten sie in der Luftschleuse reinen Sauerstoff unter geringerem Druck. Ein weiteres wichtiges Ereignis war der Austausch des Sojussitzes in der Sojus-TMA-10-Mannschaftskapsel. Danach war Clayton Anderson offiziell ein Mitglied der ISS-Expedition 15 und Sunita Williams ein Mitglied von STS-117.
Der vierte Flugtag (11. Juni) diente der Installation des neuen Stationselements. Dafür stiegen die beiden Shuttle-Astronauten Olivas und Reilly um 20:02 UTC zur ersten EVA dieser Mission in den Weltraum aus. Der Beginn dieser EVA verzögerte sich um gut eine Stunde, weil die Gyroskope „gesättigt“ waren und neu gestartet werden mussten. Deshalb wurde die Lageregelung der ISS an die Atlantis übergeben. Danach begann der Ausstieg, bei dem die beiden Astronauten Strom- und Datenkabel zwischen der ISS und dem neuen Modul verbanden, das zuvor mit dem Canadarm2 an seine endgültige Position gebracht wurde. Außerdem bereiteten sie die im S3 befindliche SARJ-Sonnennachführungsmechanik (Solar Alpha Rotary Joint) darauf vor, die Solarpaneele zu drehen, damit die Solarzellen genau zur Sonne ausgerichtet werden und möglichst viel Strom liefern können. Auch wurde der Radiator des S4-Moduls ausgefahren. Das Duo konnte nach 6 Stunden und 15 Minuten seinen Einsatz beenden.
Im Verlauf des 11. Juni entschied die Flugleitung nach intensiven Beratungen, die Mission um zwei Tage zu verlängern und einen vierten Weltraumausstieg in den Flugplan zu integrieren. Während dieser EVA sollte die Isoliermatte an der Backbord-OMS-Gondel des Orbiters repariert werden, an der kurz nach dem Start eine Beschädigung entdeckt worden war.
Der 12. Juni brachte mit der Entfaltung der S4-Solarpaneele eine signifikante Änderung des Stationsäußeren. Zunächst wurde der vordere Flügel halb und nach einiger Zeit komplett ausgefahren, bevor er in die Arbeitsposition gedreht wurde. Danach wurde mit dem hinteren Paneel ebenso verfahren. Das Entfalten erfolgte stufenweise, damit sich die Flügel in der Sonne erwärmen konnten. So wurde verhindert, dass die einzelnen Lamellen aneinanderkleben. Dieses Problem trat beim Ausrollen des ersten Solarmoduls während STS-97 auf, als die Tafeln in einem Durchgang ausgeklappt wurden. Die Flächen des P6-Kollektors entfalteten sich ruckartig, was wellenartige Bewegungen entlang des Mastes verursachte. Dadurch schlugen die Solarzellen, die sich noch im Transportkanister befanden, gegen dessen Wände.
Flugtag 6 (13. Juni) begann bereits vor dem Wecken der Raumfahrer mit einem Versuch durch das Kontrollzentrum, den verbleibenden Flügel des P6-Elements teilweise einzufahren. Dies wurde später vom EVA-Team Patrick Forrester und Steve Swanson im Rahmen des zweiten Ausstiegs, der sieben Stunden dauerte, fortgesetzt. Dabei konnte knapp die Hälfte des Flügels eingefahren werden. Danach entriegelten die Astronauten am S3/S4-Element die Transportblockierungen des SARJ-Nachführungsrads und aktivierten den Antrieb. Eigentlich sollten alle Haltebolzen gelöst werden, aber als die beiden eine Antriebskupplung einrichten wollten, stellten sie fest, dass eine andere Kupplung reagierte, weil sie falsch verkabelt waren. Die NASA beschloss, das Problem zu analysieren und die Haltebolzen während eines anderen Ausstieges zu lösen.
Weil nur 13 der 31 Lamellen des P6-Moduls zusammengefaltet werden konnten, wurde am siebten Missionstag, dem 14. Juni, ein weiterer Versuch unternommen. Dreieinhalb Stunden lang gab die Bodenstation das Kommando zum Einrollen, trotzdem war der Erfolg gering. Der Flügel war noch immer bis zur Hälfte ausgefahren. Deshalb wurde entschieden, das Paneelproblem während des dritten Ausstiegs am folgenden Tag anzugehen.
Daneben hatten die ISS-Bewohner mit Computerproblemen zu kämpfen: Im russischen Teil der ISS fielen während des Entfaltens der S4-Solarpaneele drei Rechner gleichzeitig aus, die unter anderem für die Lagekontrolle der Station zuständig sind. Nach Auskunft der NASA hätte die Besatzung im schlimmsten Fall die Station verlassen müssen, falls das Problem nicht behoben würde. Die Lageregelung wurde an die Atlantis übergeben. Nach mehreren Stunden konnte einer der drei Rechner wieder gestartet werden.
Danach wurde versucht, auch die anderen Computer zu starten. Dabei wurden eine Reihe von Feueralarmen produziert, die die Besatzungen eine Stunde früher als vorgesehen weckten. Nach und nach gelang es, alle Rechner wieder zu starten. Direkt danach wurde mit den Triebwerken des Sarja-Moduls eine Kurskorrektur durchgeführt. Nach wenigen Minuten stürzten alle Rechner erneut ab. Während dieser Zeit führte die Atlantis die Kurskorrekturen aus. Da allerdings die Treibstoffreserven der Fähre begrenzt waren, mussten die Computer vor dem Abdocken wieder stabil laufen. Die NASA wies die Raumfahrer an Energie zu sparen, um für die Atlantis einen zusätzlichen Andocktag zu erreichen und den Computerexperten mehr Zeit zu geben. Als Grund wurde unter anderem vermutet, dass der Ausfall durch elektromagnetische Interferenzen des neu installierten S3/S4-Elements verursacht wurde.
Nach dem Weckruf um 12:40 UTC am 15. Juni (achter Flugtag) wurde der dritte Ausstieg vorbereitet. Dieser begann um 17:24 UTC, als Jim Reilly und Danny Olivas die Luftschleuse Quest verließen. Erster Programmpunkt war die Reparatur der Hitzeschutzmatte an der OMS-Gondel. Olivas wurde am Robotarm des Shuttles befestigt und in das Zielgebiet gebracht. Mit seiner Hand drückte er die Matte zurück an ihre Stelle und klammerte sie dann mit zweckentfremdetem „Operationsbesteck“ aus der Bordapotheke fest. Währenddessen wurde von Jim Reilly am Destiny-Modul ein neues Wasserstoffventil eingebaut. Anschließend begaben sich beide zum halb ausgefahrenen P6-Flügel, um ihn endgültig zusammenzufalten. Da das Einfahren länger als geplant dauerte, verlängerte die NASA die auf sechseinhalb Stunden angesetzte EVA um eine Stunde. Nach und nach konnte P6 eingefahren werden. Um 1:22 UTC endete die EVA nach 7 Stunden und 58 Minuten.
Erfolge konnten auch im russischen Teil der ISS verzeichnet werden: Nachdem die Astronauten in der Raumstation die Stromzufuhr umgeleitet hatten, ließen sich die Computer wieder starten, wobei sie noch nicht perfekt liefen. Des Weiteren wurden die ermittelten Daten der Computer zur Auswertung an das russische Kontrollzentrum übermittelt.
Flugtag 9 diente dem Verladen von Fracht aus der Atlantis in die ISS und von Müll in die umgekehrte Richtung. Auch wurden Vorbereitungen für den vierten Ausstieg am nächsten Tag getroffen. Außerdem brach Sunita Williams den Langzeitflugrekord für Frauen, den Shannon Lucid 1996 auf der russischen Raumstation Mir aufgestellt hatte. Der alte Rekord lag bei 188 Tagen und 4 Stunden. Von der NASA wurde mitgeteilt, dass die Computer im russischen Teil der Station wieder voll einsatzbereit seien, man sie aber genau beobachten werde.
Nach dem Weckruf um 11:38 UTC begannen am 17. Juni (10. Flugtag) die Vorbereitungen auf den vierten und letzten Ausstieg. Dieser begann um 16:25 UTC. Während des Ausstieges lösten Patrick Forrester und Steven Swanson unter anderem die letzten Bolzen, die bisher eine Drehung des S3/S4-Segmentes verhinderten. Zudem wurde dort eine Kamera angebracht. Da das Duo mit den Aufgaben sehr schnell fertig war, konnten sie noch einige weitere Aufgaben durchführen. Diese waren die Verlegung eines Ethernetkabels an Unity, die Demontage einer GPS-Antenne und der Anbau eines Teiles des Trümmerschilds am Destiny-Labormodul. Der Ausstieg endete nach 6 Stunden und 29 Minuten um 22:54 UTC.
Flugtag 11 war für die Besatzung, neben dem Umladen von Fracht, frei. Die Besatzungen bereiteten sich außerdem auf das Abdocken der Atlantis vor. Auch wurde das S3/S4-Segment mit der SARJ erstmals bewegt und zur Sonne ausgerichtet. Von der NASA wurden zusätzlich Tests durchgeführt, um die Stationscomputer zu überprüfen. Unter anderem wurde die Lageregelung wieder von der Atlantis an die ISS-Rechner übergeben. Dies war notwendig, damit die Atlantis abdocken konnte. Um 22:51 UTC wurden die Schotts zwischen der Atlantis und der ISS geschlossen, was sowohl das Ende der gemeinsamen Arbeiten als auch das Ende des 190-tägigen Aufenthalts von Sunita Williams auf der Station markierte.
Rückkehr
Am zwölften Missionstag (19. Juni) koppelte die Atlantis nach acht Tagen und 19 Stunden gemeinsamen Fluges um 14:42 UTC von der ISS ab. Anschließend wurde die Station in einer Entfernung zwischen 180 m und 200 m einmal umrundet, um Video- und Fotoaufnahmen der ISS in ihrer aktuellen Konfiguration zu erhalten. Dabei wurden mehrere große Objekte beobachtet, die sich von der ISS wegbewegten. Auch im weiteren Verlauf des Tages beobachtete die Shuttle Crew weitere Objekte. Vermutlich handelt es sich dabei um Eis. Im weiteren Verlauf des Tages wurde mit dem OBSS die letzte Inspektion des Hitzeschildes durchgeführt und Vorbereitungen für die Landung getroffen.
Nach dem Weckruf wurde im Verlauf des 20. Juni (13. Flugtag) alles verstaut, was nicht mehr benötigt wurde. Unter anderem wurde die Ku-Band-Antenne eingefahren. Außerdem wurden alle für die Landung wichtigen Systeme geprüft und US-Fernsehsendern Interviews gegeben.
Den 14. Flugtag (21. Juni) begann die Mannschaft mit den Vorbereitungen für die Landung. Die Flugleitung hatte entschieden, an diesem Tag zunächst nur die beiden Landemöglichkeiten am KSC zu nutzen. Allerdings sahen die Wetterbedingungen für die Landung nicht sehr gut aus. Ein ausgedehntes Wolkenband mit Schauern und Gewittern zog über das KSC, weshalb beide Landemöglichkeiten dort knapp zwei Stunden vor der jeweiligen Landung abgesagt wurden. Die Crew begann daraufhin die Vorbereitung für einen weiteren Tag im Orbit.
Mit den Vorbereitungen für eine Landung begann der 15. Flugtag (22. Juni). Da die Wetterbedingungen für das KSC nicht besser als am Tag zuvor aussahen, wurde eine Landung auf der Edwards Air Force Base (EAFB) favorisiert. Es gab zwei Landemöglichkeiten am KSC und drei auf der EAFB. Wegen des schlechten Wetters mussten beide Landemöglichkeiten am KSC abgesagt werden. Jedoch wurde die Besatzung angewiesen, große Mengen Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Dies diente der Wiederanpassung an die Erdgravitation und ließ an jenem Tag auf eine Landung in Kalifornien schließen.
Um 17:50 UTC gab man bekannt, die erste Möglichkeit auf der EAFB nutzen zu wollen. Dies wurde um 18:19 UTC bestätigt. Der Deorbit Burn begann um 18:43 UTC und dauerte etwa 3 Minuten. Die Landung auf der Edwards Air Force Base fand um 19:49 UTC statt.
Nach der Landung wurde der Orbiter abgekühlt. Die Mannschaft verließ diesen danach und lief um das Shuttle. Nur Sunita Williams, die nach 194 Tagen im All gelandet war und deren Muskeln sehr stark geschwächt waren, wurde direkt nach dem Öffnen der Luken in ärztliche Aufsicht übergeben.
Überführung nach Florida
Mehrere Stunden nach der Landung wurde die Atlantis zur Hebeanlage gebracht. Dort wurde sie für den Transport auf der modifizierten Boeing 747, dem Shuttle Carrier Aircraft, vorbereitet. Unter anderem wurde eine Heckverkleidung über die Triebwerke montiert, die den Luftwiderstand verringert.
Nachdem der Rücktransport auf der Boeing 747 nach Florida mehrmals wegen schlechten Wetters verschoben werden musste, startete das Gespann am 1. Juli von der Edwards Air Force Base. Nach zwei Stunden landete die Boeing mit der Atlantis auf dem Regionalflughafen von Amarillo in Texas. Dort wurde aufgetankt, und nach zwei Stunden Aufenthalt startete der Rücktransport wieder. Danach flog die 747 zum Luftwaffenstützpunkt Offutt bei Omaha, wo sie über Nacht blieb. Am nächsten Tag startete die 747 von Offutt zum US-Heeresstützpunkt Fort Campbell in Kentucky. Dort übernachtete die 747 mit der Atlantis aufgrund der Wettersituation am KSC. Am 3. Juli wurde der Start des Transportes zunächst wegen des Wetters am KSC verschoben. Allerdings klarte der Himmel über dem KSC auf, so dass der Flug fortgesetzt werden konnte. Zwei Stunden später landete die Boeing 747 mit der Atlantis auf der Shuttle Landing Facility des KSC. Danach fuhr die 747 zur Hebeanlage, wo die Atlantis von der Boeing gehoben wurde.
Nach dem Herunterheben von der Boeing 747 wurde die Atlantis in die Orbiter Processing Facility gefahren. Dort wurde sie auf ihre nächste Mission (STS-122) vorbereitet.
Siehe auch
Liste der Space-Shuttle-Missionen
Liste der bemannten Raumflüge
Liste der Raumfahrer
Weblinks
NASA: Offizielle Missionsseite (englisch)
NASA: Missionsübersicht (englisch)
NASA: Fotogalerie der Mission
Videozusammenfassung mit Kommentaren der Besatzung (englisch)
Space Science Journal: Mission STS-117
Einzelnachweise
Atlantis (Raumfähre)
NASA
Raumfahrtmission 2007 |
955419 | https://de.wikipedia.org/wiki/Keltische%20Gottheiten | Keltische Gottheiten | Keltische Gottheiten ist der Sammelbegriff für Götter und Wesen der Keltischen Mythologie und Religion, die innerhalb des Bereiches der keltischen Kultur (Celticum) von den Stämmen der Britischen Inseln, Galliens, den keltiberischen Völkern und den Ostkelten der Donauländer und Galatiens vor ihrer Christianisierung verehrt wurden. Archäologische wie philologische Zeugnisse ergeben das Bild einer polytheistischen Anschauung mit zahlreichen lokalen und regionalen, aber auch einigen überregional verbreiteten keltischen Gottheiten. Überliefert sind die Namen der Gottheiten festlandkeltischer Kulturen durch Inschriften und die Werke antiker griechischer und römischer Autoren; auch die der Inselkelten durch frühmittelalterliche Aufzeichnungen keltischer Mythen und Sagen. Während Muttergottheiten im gesamten keltischen Raum anzutreffen waren, lassen sich Vatergötter oder Götterväter kaum verlässlich benennen. Wichtige Positionen nahmen hingegen Toten-, Handwerks- und vor allem Kriegsgottheiten ein. Ob Götter mit Tierattributen oder in Tiergestalt im keltischen Kult eine wesentliche Rolle spielten, ist umstritten.
Götterbegriff, Etymologie und Quellenlage
Das rekonstruierte indogermanische Wort für Gott oder Göttin, *deiuos, *deiuih2, ist in allen keltischen Sprachen als Stamm vorhanden. In Gallisch und Britannisch lautet er *dēvo- oder *dīvo- und ist außer in Namen auch in der Bilingue (von lat. bilinguis „zweisprachig“) von Vercelli als teuoxtonion, daraus dēvo-gdonion „Götter und Mensch“ überliefert; irisch día, Plural dè, kymrisch dwyw, jünger duw. Vom britannischen deva „Göttin“ leitet sich der in Britannien häufige Flussname Dee ab.
Die Vorstellungen der Kelten von ihren Gottheiten sind im Wesentlichen nicht bekannt, da es dafür kaum ältere schriftliche Überlieferungen gibt. Dass die Götter allerdings als anthropomorph gesehen wurden – bis hin zur Unterscheidung männlich-weiblich sowie der Existenz von Götterfamilien – ist nicht nur auf vielen Kultbildern zu sehen, sondern auch an einer in der Literatur häufig vorzufindenden Mensch-Gott-Analogie. Ein einheitliches Pantheon, wie es aus der griechisch-römischen Mythologie bekannt ist, kann für die keltischen Gottheiten nicht angenommen werden.
Hypothesen zur Struktur der keltischen Götter und zu indogermanischen Religionen insgesamt („Drei-Funktionen-Theorie“) in der vergleichenden Mythen- und Religionsforschung des 20. Jahrhunderts durch ihren Einbringer Georges Dumézil, und in dessen Nachfolge, besonders für das Celticum zum Beispiel durch Jean J. Hatt und Jan de Vries, werden unter Keltologen heute kritischer bewertet und teilweise nicht mehr akzeptiert.
Die Interpretatio Romana und die Interpretatio Graeca – keltische Götter werden als klassische Gottheiten interpretiert – stellen lediglich ein sehr vereinfachtes Bild der Götterfunktionen dar und sagen zum dazugehörenden Mythos praktisch nichts aus. Die Probleme der Griechen und Römer bei der Gleichsetzung klassischer keltischen Gottheiten ist auf ihr weitgehendes Unverständnis für die Vielschichtigkeit der Keltengötter zurückzuführen. Aus rechtspolitischen Gründen unterstellt Marcus Tullius Cicero, der mit diesem Argument eine günstige Prozessposition für einen Klienten erreichen wollte, den Galliern nahezu Gottlosigkeit. Der im inselkeltischen Bereich verbreitete Euhemerismus, aus mythischen Heroen erst Götter, nach der Christianisierung dann wieder sterbliche Heroen werden zu lassen, lässt den Ursprung in der alten Mythologie nur mehr bruchstückhaft erkennen. Auf dem Festland sind somit die Namen der Gottheiten, dagegen auf den Inseln die Mythen – wenn auch in verfremdeter Form – erhalten geblieben:
Obgleich es einige Gottheiten gab, die weit verbreitet waren, geht man heutzutage eher von begrenzten, lokal gebundenen Kultgemeinschaften aus. Die Archäologie bestätigt, dass die meisten bekannten Götternamen auf kleine geografische Räume begrenzt sind. Anhand von Bilddarstellungen, (Weihe-)Inschriften, Fluchtafeln (defixiones) und Texten antiker Autoren sowie frühmittelalterlichen Sagen – besonders im inselkeltischen Bereich – kann man einige „göttliche Archetypen“ ausmachen, die im gesamten keltischen Kulturkreis verbreitet waren. Beispiel dafür ist Belenus/Belinus, oft mit Apollon gleichgesetzt, der auf Inschriften in Aquileia (noch heute im Namen des Stadtteiles Beligna), in Frankreich (Saint-Chamas, Bayeux), in Britannien (vergleiche den Königsnamen Cunobelinus) und vermutlich auch in Thrakien verehrt wurde. Der Versuch von Henri d’Arbois de Jubainville, den irischen Gott Lugh/Lugus auch als Gottheit Galliens zu postulieren, ist jedoch sehr umstritten. Allerdings ist der nahezu typisch keltische Partikularismus, der auch politisch bestimmend war, durch eine Vielzahl von Göttern (über 400) und deren deshalb unscharfe, sich überschneidende Funktionen für die lokale Begrenztheit der Verehrung verantwortlich. Eine Einteilung der Gottheiten nach diesen Funktionen ist deshalb in jedem Falle nur als Anhaltspunkt zu sehen. Eher ist anzunehmen, dass die Gottheiten eine Mehrzahl von Funktionen innehatten und diese je nach Anlass und Kult einzeln in den Vordergrund traten.
Bei den häufig auftretenden Triaden und auch der Götterpaare, ist einerseits eine Zusammenführung wegen der gleichen Funktion (siehe die Matronae oder Matronen), andrerseits als eine gegenseitige Ergänzung (Beispiel männlich/weiblich, siehe Bormo/Damona), sowie nach dem Aspekt der „Heiligen Hochzeit“, anzunehmen. Der Quader I („Götterpaarquader“) vom Pfeiler der Nautae Parisiaci kann als Beispiel für zwei Gottheiten mit jeweils gleicher Funktion gesehen werden. In diesen Verbindungen trägt die männliche Gottheit oft – manchmal ausschließlich – den römischen, während die Göttin den alten keltischen Namen beibehält (siehe Mercurius und Rosmerta). Auch über die Sprachgrenze geht die Verbindung zu einem Götterpaar manchmal hinaus, so ist in Trier (Augusta Treverorum) der keltisch/römische Lenus Mars zusammen mit der dem Namen nach eher germanischen Triade der Xulsigiae in einer Inschrift aus dem Tempelbezirk Irminenwingert genannt. Ein Zusammenhang dieser Xulsigiae mit den keltischen Göttinnen der Suleviae, die im Oberrheingebiet, Mosel, Britannien und der Stadt Rom belegt sind, wird angenommen. Wegen dieser Fundlage werden sie von einigen Forschern aber ebenfalls der germanischen Sphäre zugeordnet (siehe auch Kapitel „Keltisch-germanische Schnittstellen“). In den letzten Jahrzehnten wurden die Suleviae auch mit der in Bath verehrten Heil- und Quellgöttin Sulis in Verbindung gebracht.
Bei allen durch antike Autoren tradierten Götternamen, Funktionen, Kultformen und Inschriften ist jedoch nicht zwingend ein bereits ebenso bestehendes Brauchtum für die vorrömische Zeit vorauszusetzen.
Regionale Überlieferungen
Das Festlands-Celticum und Britannien (ohne Wales, Cornwall und Schottland) tradiert fast ausschließlich eine von den antiken Autoren aus Griechenland und Rom beeinflusste Funktionsaufteilung der Gottheiten. Eine Trennung der ursprünglich keltischen Vorstellungen und der später definierten Identifizierung mit den klassischen Göttern ist kaum möglich. Wenn beispielsweise Gaius Iulius Caesar über die Mercurius-Verehrung in Gallien schreibt:
Man sieht sehr viel Götterbilder von ihm. Sie halten ihn für den Erfinder aller Künste und für den Geleiter auf Wegen und Reisen, und es ist ihre feste Überzeugung, daß er den größten Einfluß auf Gelderwerb und Handel hat. (De bello Gallico 6,17)
so wird damit eine große Zahl lokaler Festlands-Gottheiten und ihre Funktionen einem einzigen römischen Gott zugeteilt. Der römische Kriegsgott Mars hat fast doppelt so viele keltische Beinamen wie Mercurius, aber gerade bei diesen beiden klassischen Göttern ist die Vermischung der Funktionen Handel, Reise, Handwerk und Krieg, ja auch Fruchtbarkeit evident. Die Interpretatio Celtica stellt als Gegenstück zu den Interpretationes Romana und Graeca griechisch/römische Gottheiten unter dem Namen und Abbild lokaler keltischer Götter dar. Eine Unterscheidung, in welche Richtung diese Identifikationen vorgenommen wurden, ist im Einzelfall oft schwierig.
In Irland sind die von Mönchen aufgezeichneten mythologischen Erzählungen Grundlage der Kenntnis über die alten Gottheiten. Eine Interpretatio Romana gab es hier nicht, da Irland nie römisch besetzt war. Besonders das Lebor Gabála Érenn („Das Buch der Landnahmen Irlands“) aus dem frühen 9. Jahrhundert, nennt in seinem Bericht über die Einwanderungswellen die Túatha Dé Danann, die „Stämme der Göttin Danu“, ein Göttergeschlecht, das dann im christlichen Sinne zu magiekundigen Heroen mutiert. Der Ausdruck Trí Dé Daná („Die drei Götter der Danu“), womit die drei Kinder der Danu benannt werden – Brian, Iuchar und Iucharba – weist darauf hin. Als Trí Dé Daná werden aber auch die drei Handwerksgötter Goibniu, Credne und Luchta sowie die Túatha-Angehörigen Dagda, Lugh und Ogma bezeichnet. Besonders der Name des Dagda wird mit „der gute Gott“ übersetzt, wenn auch etymologische Unklarheiten bestehen. Andere ausdrücklich als Gottheiten genannte mythische Figuren sind die Morrígan, die auf die altkeltische Göttin Rigani zurückzuführen ist, und der Meeresgott Manannan mac Lir. Aus dem Volk der Fomori haben die Könige Elatha und Indech beide das Patronym (Vaternamen) mac Dé Domnann („der Sohn des Gottes Domnu“). Eine klare Funktionszuweisung der irischen Gottheiten, im Sinne der Interpretatio Romana, ist aber nicht vorhanden. Versuche von Georges Dumézil und seinen Schülern, aus dem Lebor eine Funktionsaufteilung unter den Einwanderern zu konstruieren – die Fomori als Fruchtbarkeitsgötter, die Firbolg als Kriegsgötter – werden heute mehrheitlich abgelehnt. Eine andere umstrittene Einteilung kommt von d’Arbois de Jubainville, der in den Fomori die düsteren Todesgottheiten und in den Túatha Dé Danann die lichtvollen Lebensgottheiten sieht.
Für Schottland, Wales, Cornwall, die Isle of Man und die von den britischen Inseln aus bevölkerte Bretagne (Aremorica) gilt das oben Gesagte noch mehr, denn hier sind nur einige Heldenmythen überliefert, die ab dem Frühmittelalter aufgezeichnet wurden und deshalb die alten Götter der Umdeutung in mythische zauberkundige Heldengestalten weichen mussten. Dies geschah in den genannten Regionen im Unterschied zu Irland allerdings ohne den Einfluss der Klöster, die hierbei nicht als Orte der schriftlichen Tradierung fungierten. Abgesehen von der Bretagne fand hier ebenfalls keine Umdeutung der alten in klassische Götter statt, da diese Region – außer für vernachlässigbar kurze Zeit – nicht von den Römern besetzt war.
Gottheiten und Funktionen
Der Typus der Muttergottheiten (Matres, Matrae, Matronae) ist im gesamten Celticum verbreitet. Vor allem in den keltisch besiedelten Gebieten des Römischen Reiches sind vom 2. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. über 1000 entsprechende Funde registriert. Diese Göttinnen sind alte Fruchtbarkeits-, Heil- und Lokalgottheiten, die vermutlich bereits in vorkeltischer, eventuell schon vorindogermanischer Zeit ihren Ursprung haben, wie einige Menhir-Statuen andeuten könnten (etwa bei Le Mas d'Azaïs Montlaur und Le Mas Capelier, beide im Département Aveyron, Frankreich). In indogermanischer Zeit beginnt eine Matronenverehrung um 36 n. Chr. in Italien, ist zwischen 70 und 122 n. Chr. im Rheinland (besonders in der Gegend von Bonn) archäologisch feststellbar und endet etwa um 260 n. Chr. Zahlreiche Weihesteine der Matronae Aufaniae („Freigiebige Ahnmutter“) wurden in den 1960er-Jahren bei Bonn gefunden, solche der Matronae Vacallinehae im Tempelbezirk Pesch bei Bad Münstereifel-Nöthen, Kreis Euskirchen. Eine eindeutige Zuordnung zum keltischen oder germanischen Kultur- und Sprachraum ist wie bei vielen der Matres schwierig, da sie zumeist im Gebiet einer Mischbevölkerung verehrt wurden. In keltischer Zeit werden sie meist als Triaden in Form der Matronae dargestellt, die manchmal auch die drei Lebensalter personifizieren. Ihre Hauptfunktion ist die von Schutz- und Stammesgöttinnen, ein Übergang zu den Kriegs- oder Schlachtengöttinnen ist ebenfalls mancherorts feststellbar (etwa bei der Stammesgöttin Brigantia der nordbritannischen Brigantes und den „treverischen Müttern“ bei den Treverern im Raum Trier). In dieser Funktion werden sie auch von einzelnen Legionären und ganzen Truppenkörpern verehrt. In Irland wird umgekehrt die Kriegsgöttin Badb/Bodb auch mit dem Beinamen tuath thíre („Volk des Landes“), also etwa „Landesherrin“, benannt.
Ein Vatergott oder Göttervater im Sinne der klassischen Himmels-Hierarchie lässt sich für die Kelten nicht bestimmen. Caesar schrieb, die Kelten glaubten, dass sie alle von Dis Pater abstammten, dem griechischen Hades. Dies deutet auf einen Zusammenhang mit dem Todesgott hin, denn der Tod wird von den Druiden als Beginn des neuen Lebens gesehen, so dass der chthonische Todesgott gleichzeitig eine Fruchtbarkeitsfunktion innehat. Dispater wird in den Berner Lukan-Scholien mit Taranis gleichgesetzt, dem ja nach dieser Textstelle auch Menschenopfer dargebracht würden. An einer anderen Stelle der Scholien wird Taranis allerdings mit Iuppiter gleichgestellt, auf einer Inschrift in Rom mit Herakles. Sehr oft wird dem Dispater die Göttin Aericura zur Seite gestellt, besonders im Osten des Celticums. Ein Beispiel dafür ist die Inschrift auf einem Relief aus Sulzbach, wo Dispater mit einer Schriftrolle dargestellt wird. Dies wird als Buchführung über die aus dem Leben Abzuberufenden gedeutet. Im Westen des Celticums wird der Gott Sucellus anstatt Dispaters genannt, den Émile Linckenheld wegen seines Schlägelattributes als Schmiede- und Metallverhüttungsgottheit sieht, denn auch das Schmiedehandwerk und die Verhüttung werden mit einem chthonischen Todesgott in Verbindung gebracht. Als seine Gefährtin wird die Göttin Nantosuelta erwähnt. Ein Doppelrelief bei Sarrebourg (jetzt im Musée d'Art et d'Histoire de Metz) zeigt die beiden Gottheiten nebeneinander stehend mit ihren Attributen. Das Häuschen, das Nantosuelta auf den meisten Abbildungen in der Hand trägt, weist sie auch als Schutzgöttin des Hauswesens und des Wohlstandes aus. Eine andere Hauptgottheit ist Teutates („Vater des Volkes“ ?), der unter der Namensvariation Teutanus in dem spätkeltischen Oppidum der Eravisker auf dem heutigen Gellértberg in Budapest (Aquincum) verehrt wurde. Auf dem Berg, den die Römer wahrscheinlich Mons Teutanus nannten ist vom 2. bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. jährlich am 11. Juni von den Duoviri der Aquincumer Colonia ein Altarstein für Teutanus errichtet worden, der mit dem Iuppiter Optimus Maximus identifiziert wurde. In den Lukan-Scholien wird er allerdings durchgehend mit Mercurius gleichgesetzt, auf einigen antiken Inschriften mit Mars. Für Irland wird als Vatergottheit der Dagda angenommen, der mit seiner Gabelkeule Leben vernichten und wieder spenden kann. Er wird deshalb auch als Todes- und Fruchtbarkeitsgott gesehen.
Die Toten- oder Todesgötter überschneiden sich, wie schon oben erwähnt, zum Teil mit den Vatergöttern, es gibt aber auch einige Todesgötter im engeren Sinne. In Irland werden hier Donn und mit Einschränkung Goll mac Duilb und Tigernmas dazugezählt. Donn trägt auch den Beinamen Fírinne, weil als sein Sitz der „Totenberg“ Cnoc Fírinne im County Limerick angenommen wird. Eine andere Version nennt die Toteninsel Tech nDuinn („Haus des Donn“, die Insel The Bull an der Westspitze der Beara-Halbinsel) als seinen Sitz, wohin alle Verstorbenen gelangen. Bei Goll und Tigernmas sind lediglich die chthonischen Beziehungen zur „Anderen Welt“ ein Anhaltspunkt, sie als Todesgötter zu sehen. Der einäugige (Unpaarigkeit zeigt magische Potenz) Goll als König von Mag Mell, Tigernmas als Begründer des Goldabbaues in Irland (Totengötter waren fast immer auch Götter des Reichtums) und wegen seines Todes zu Samhain, in den er drei Viertel der irischen Bevölkerung mitnahm. Noch unsicherer ist der festlandskeltische Gott Ogmios einzuordnen, obwohl die Beschreibung bei Lukian von Samosata (Hercul. I) ihn in die Nähe des griechischen Charon rückt. Alle mit der Anders-/Unterwelt verbundenen Gottheiten als Totengötter einzuordnen, ist sicherlich unzulässig, ebenso wenig können die im gesamten Celticum weit verbreiteten Opferschächte und Opfergruben überall mit einem Totengott-Kultus der lokal dort verehrten Gottheit in Verbindung gebracht werden (siehe auch Viereckschanze).
Eine große Zahl von Handwerksgottheiten ist zusätzlich zu den schon genannten überliefert, was die Bedeutung des Handwerks für die Kelten veranschaulicht. Die Trí Dé Daná in Irland sind der Grund, warum die Túatha Dé Danann auch als „Stamm der Götter mit dem handwerklichen Geschick“ gesehen werden. Besonders Lugh wird als Träger dieser Funktion sowohl auf dem Festland als auch auf den Inseln hervorgehoben, was auch auf einer Inschrift in Osma, Provinz Soria in der Hispania Tarraconensis zu lesen ist: „Im Namen der Schustergilde machte Lucius Licinius (?) Urcico den Lugoves das Heiligtum zum Geschenk“. Der Name Lugoves wird als triadischer Begriff von Lugus gedeutet, dieser Gott wurde somit als Dreiheit, zumindest aber als Zweiheit verehrt. Lughs irischer Beiname (sam)ildánach bedeutet bezeichnenderweise „der Vielbegabte“. Der kymrische Name für Lugh ist Llew Llaw Gyffes und dieser wird in den walisischen Triaden als „einer der drei göttlichen/goldenen Schuster“ bezeichnet.
Einige der Schmiedegötter werden zugleich als Heilgötter gesehen. Besonders bei den Lokalgottheiten sind die Quellheiligtümer stets auch als deren Kultort zu sehen, wie bei den Suleviae, bei Grannus, Sequana, Bormo und Damona. Im römischen Namen von Aachen, Aquae Granni, einem „Kurort der niedergermanischen Armee“, ist der Heilgott Grannus zu finden. In Irland ist es wieder ein Túatha-Angehöriger, nämlich der Götterarzt Dian Cecht mit seiner lebenspendenden Quelle.
Die Kriegs- und Schlachtengottheiten spielten bei den Kelten ebenfalls eine große Rolle; bei den griechischen und römischen Autoren ist der Hinweis auf die „typisch keltische“ Kampffreudigkeit dieses Volkes ein immer wiederkehrendes literarisches Klischee.
…denn zu dieser Zeit hatte die Tyche (die griechische Göttin des Schicksals) eine gleichsam pestartig ansteckende Kriegswut über die Gallier kommen lassen.
Zu den Attributen des Kriegsgottes in Britannien gehört fast immer ein Hornschmuck auf dem Haupt, meist Widder-, Bocks- oder Stierhörner, aber kein Geweih wie bei Cernunnos. Einige der hier bereits genannten Götter und Göttinnen sind zusätzlich als Kriegsgötter zu sehen; soweit nicht schon in dieser Funktion genannt, zählen noch auszugsweise dazu: In Irland neben Badb/Bodb die Göttinnen Morrígan, Nemain und Ernmas, in Britannien Andraste, auf dem Kontinent der mit Mars gleichgesetzte Esus und die Göttin Nemetona. Ob auch die Kampfdämoninnen wie Scáthach aus Alba (Schottland) zu den Kriegsgottheiten zu zählen sind, ist umstritten. Das bei allen Kelten für die Schlacht bedeutsame Kriegsgelärme nennen die Iren im Lebor Gabála Érenn eine göttliche Erfindung der Túatha Dé Danann.
Ob es tatsächliche Tiergottheiten gab oder ob es sich hier um besonders enge Beziehungen zu bestimmten Tieren handelt, die durch entsprechende Attribute der Gottheit zugeordnet sind, kann nicht eindeutig unterschieden werden. So wird Cernunnos mit einem (Hirsch?-)Geweih dargestellt – auf dem Pfeiler der Nautae Parisiaci und vermutlich auch auf dem Kessel von Gundestrup. Andarta und Artio weisen durch ihren Namen (altkeltisch *artos) auf den Bären hin. Das Schwein, im Speziellen der Eber, ist das Reittier der Göttin Arduinna, beim Gott Moccus wird der Name wahrscheinlich vom irischen mucc bzw. walisischen mochyn (beides = „Schwein“) abgeleitet. Der Göttinnenname Damona wird mit dem irischen dam („Rind“) in Verbindung gebracht, der Tarvos Trigaranus ist der „Stier mit den drei Kranichen“ in Verbindung mit dem Gott Esus. Badb/Bodb wird von irisch *bodua („Krähe“) abgeleitet. Pferdegöttinnen sind die gallische Epona und die walisische Rhiannon, die ursprünglich als Gottheit verstanden wurde. Tiermasken bei Fruchtbarkeitsritualen sind ebenfalls ein Hinweis auf eine Verbindung zu den Göttern.
Keltisch-germanische Schnittstellen
Ältere Beziehungen (aus der Vor-Eisenzeit) zwischen Kelten und Germanen sind sprachhistorisch nicht feststellbar, ab der Späthallstatt- und Latènezeit werden friedliche und kriegerische Kontakte angenommen, was an gemeinsamen Wortwurzeln feststellbar ist. Ein keltisch-germanischer Kulturverband des Nordseeraumes ist ebenfalls sprachlich fixierbar sowie der Kesselkult, der gleichermaßen bei beiden Völkern im täglichen Leben und in der Mythologie vorkam. Angenommen wird, dass die Muttergottheiten (siehe oben bei den Xulsigiae/Suleviae und den Matronae Vacallinehae) ursprünglich keltisch waren und von den Germanen in Form der Mädchen-Frau-Matrone-Triaden übernommen wurden. Weitere, bisher noch nicht genannte Götter, deren Zuordnung umstritten ist, sind Arvernus, Baldruus, Cimbrianus, Gebrinius, Magusanus und die Göttinnen Aericura und Vercana.
Siehe auch
Liste der Gottheiten in den Asterix-Comics
Literatur
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Rudolf Thurneysen: Die irische Helden- und Königssage bis zum siebzehnten Jahrhundert. Halle 1921.
Jan de Vries: Keltische Religion (= Die Religionen der Menschheit. Band 18). Kohlhammer, Stuttgart 1961 / Nachdruck Edition Amalia, Bern 2006, ISBN 3-905581-20-5.
Weblinks
Anmerkungen |
970248 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Horst | Schloss Horst | Das Schloss Horst ist ein Schloss auf dem Gebiet des Gelsenkirchener Stadtteils Horst und gilt als einer der ältesten und wichtigsten Renaissancebauten in Westfalen. Zur Zeit seiner Errichtung im 16. Jahrhundert war es eine der größten vierflügeligen Schlossanlagen nördlich der Alpen und prägte den Baustil der Lipperenaissance, der auch als „Horster Bauschule“ bezeichnet wird. Es steht seit dem 15. Dezember 1983 unter Denkmalschutz.
Auf einer Insel im sumpfigen Gebiet zwischen zwei Emscherarmen existierte bereits im 11. Jahrhundert eine Hofstelle, deren Bewohner möglicherweise dem Fang der im Emscherbruch beheimateten Emscherbrücher Dickköppe nachgingen. Aus ihr erwuchs eine Burganlage, die zweimal einer Feuersbrunst zum Opfer fiel. Nach dem zweiten Brand entschied sich der damalige Besitzer Rütger von der Horst zu einem kompletten Neubau, der 1578 beendet war. Durch die besonders hohe Qualität seiner Bauplastiken hat dieser renaissancezeitliche Bau eine überregionale Bedeutung für die Kunstgeschichte.
Im 19. Jahrhundert stürzten große Teile des Schlosses ein oder mussten wegen Baufälligkeit niedergelegt werden. Die damalige Eigentümerin, die Familie von Fürstenberg, versuchte, so viel wie möglich von dem wertvollen Fassadenschmuck und der hochwertigen Bauplastik, dem sogenannten „Steinernen Schatz“, zu retten und lagerte die Fragmente ein. Die wenigen Gebäudereste, die nicht abgerissen wurden, verfielen allmählich. 1985 gründete sich eine Bürgerinitiative, die den endgültigen Ruin verhindern und eine neue langfristige Nutzung der Anlage verwirklichen wollte. Auf ihr Betreiben kaufte die Stadt Gelsenkirchen das Schloss und veranlasste umfangreiche historische und archäologische Untersuchungen. Inzwischen ist Schloss Horst wohl eines der besterforschten Renaissancebauwerke Nordwestdeutschlands. Nach Restaurierung und teilweisem Wiederaufbau wird es als Museum, Restaurant, Standesamt und Veranstaltungsort genutzt.
Geschichte
Bewohner und Besitzer
Das Rittergeschlecht der Herren von Horst ist seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar. Es stammte aus dem Gebiet der heutigen Stadt Essen. Ab etwa 1200 bekleideten Angehörige des Geschlechts das Marschallsamt des Essener Stifts, das zugleich mit der Aufsicht über die Wildbahn im Emscherbruch und dem Recht des Fangs der Emscherbrücher Pferde verbunden war. Wohl aus diesem Grund führten die Ritter von der Horst drei Rossbremsen, Pramen genannt, im Wappen. Ab 1363 sind sie in Urkunden als Lehnsmänner der Grafen von Kleve genannt und konnten sich und die Eigenständigkeit ihres Besitzes lange Zeit gegen den Machtanspruch des benachbarten Kölner Erzbistums behaupten. Da sie sich jedoch die Gerichtsherrschaft in den Kirchspielen Gladbeck und Buer, die zum kurkölnischen Territorium gehörten, angemaßt hatten, strengte der Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden 1410/11 einen Prozess gegen die Horster Ritter an, als dessen Resultat sich die Familie 1412 dem Erzstift unterwerfen musste. Rütger von der Horst leistete dem Kölner Erzbischof den Treueid, was eine Eingliederung der ehemals eigenständigen Herrschaft in das erzbischöfliche Vest Recklinghausen zur Folge hatte. Im Gegenzug erhielt er die Herrschaft als kurkölnisches Lehen wieder zurück. Mit dem Anschluss Horsts an das Kölner Territorium waren die zumindest für 1315 und 1349 belegten Bemühungen der Grafen von der Mark und der Grafen von Berg, die Burg Horst zu erwerben oder sich zumindest ein Öffnungsrecht zu sichern, endgültig gescheitert.
Die besondere soziale Stellung der damaligen Horster Herren dokumentiert ein Zufallsfund aus dem 19. Jahrhundert. Im Juni 1854 wurde im Zuge von Ausschachtungsarbeiten im Bereich des verfüllten Wassergrabens ein mit Gravuren reich verziertes spätromanisches Buntmetallbecken gefunden. Die sogenannte Hanseschale war wohl ein Handwaschbecken. Sie enthält auf der Innenseite ein Bildprogramm mit Schriftbändern, das die Philosophia, umgeben von Sokrates, Platon und den sieben freien Künsten zeigt. Die Schale ist nicht nur ein beredtes Zeugnis vom höfischen Zeremoniell auf Horst, sondern auch davon, welchen Bildungsgrad Gäste und Gastgeber hatten.
Der Bauherr des Schlosses, ebenfalls mit dem Namen Rütger, kam am 21. Mai 1547 durch Erbteilung in den alleinigen Besitz des „Hues zor Horst“. Er bekleidete unter sechs Kölner Kurfürsten das Marschallsamt; Erzbischof Salentin von Isenburg ernannte ihn kurz vor seiner Abdankung zum Kölner Statthalter im Vest Recklinghausen. Jener Rütger ließ an der Stelle der alten Burg einen prachtvollen Neubau errichten, verstarb aber bereits vier Jahre nach dem Abschluss der Bauarbeiten 1578. Da auch sein einziger Sohn Johann aus der Ehe mit Anna von Palandt bereits früh verstorben war, brachte Rütgers Erbtochter Margarethe die Anlage 1582 durch ihre Heirat an die Familie von Loë zu Palsterkamp und Geist. Der neue Schlossherr, Betram von Loë, starb ebenfalls, ohne einen männlichen Erben zu hinterlassen. Sibylla, eine seiner beiden Töchter, erbte Schloss und Herrlichkeit Horst und brachte diesen Besitz 1607 als Mitgift in ihre Ehe mit Dietrich von der Recke.
Am 9. Juni 1706 verkaufte dessen Nachfahr, Freiherr Hermann Dietrich von der Recke, Schloss und Herrlichkeit Horst für rund 100.000 Reichstaler an den Freiherrn Ferdinand von Fürstenberg. Hermann Dietrichs Neffe erhob Einspruch gegen den Verkauf und zog deswegen vor das Reichskammergericht. Der Prozess war erst 1802 beendet. Die Fürstenberg-Familie musste dem Grafen von Westerholt-Gysenberg, an den die Ansprüche unterdessen übergegangen waren, 76.000 Taler Abfindung zahlen. Die von Fürstenberg nutzten die Anlage nie als Dauerwohnsitz, sondern zogen es vor, in einem der vielen anderen Schlösser der Familie, wie zum Beispiel Schloss Herdringen, Schloss Schellenberg oder Schloss Adolfsburg, zu wohnen. 1730 löste Christian von Fürstenberg den Horster Haushalt endgültig auf. In der Folgezeit war die Vorburg landwirtschaftlich verpachtet, das Schloss verwaltete ein Rentmeister.
Ab den 1920er Jahren wurde die Anlage als Volkserholungsstätte genutzt. Der zu jener Zeit im Sockelgeschoss eingerichteten Gastronomie folgte in den 1970er Jahren eine Diskothek. Zu Beginn des Jahres 1985 gründete sich eine Bürgerinitiative, die sich für den Erhalt und eine neue Nutzung der historischen Bausubstanz einsetzte. Vorgesehen war unter anderem, in Schloss Horst ein Schulungszentrum, ein Hotel oder ein Tanzsportzentrum einzurichten. 1988 erwarb die Stadt Gelsenkirchen die Schlossruine für 650.000 DM und ließ sie teilweise wieder aufbauen.
Baugeschichte
Vorgängerbauten
Ausgrabungen auf dem Schlossgelände haben gezeigt, dass am Ort der Horster Vorburg bereits im 11. und 12. Jahrhundert eine Hofstelle existierte. Diese bestand aus einem sechs bis sieben Meter breiten und elf bis zwölf Meter langen Ständerhaus mit zwei Räumen, das durch Spuren von Pfosten und Schwellbaken nachweisbar ist. Die Bauweise und Ausstattung des Hauses wie beispielsweise Überreste von Kachelöfen sowie Funde des einstigen Inventars – darunter blaue Glasscherben mit weißer Fadenauflage – deuten darauf hin, dass die Bewohner des Hauses keine einfachen Bauern, sondern höheren Standes waren. Im späten 12. Jahrhundert wurde diese Hofstelle – wahrscheinlich auf Betreiben des Essener Stifts – unter Gerhard von der Horst zu einer hölzernen Befestigung in Form einer Motte ausgebaut, um die Grenzen des Stiftsterritoriums zu sichern und die dem Stift hörigen Höfe zu schützen. Der für diese Motte künstlich aufgeschüttete Erdhügel hatte bei einem Durchmesser von etwa 40 Metern eine Höhe von knapp zwei Metern. Zu jener Zeit bestand die Burg aus einem Hauptgebäude, einem polygonalen Turm mit einem Durchmesser von 6 bis 6,5 Metern und zwei weiteren Nebengebäuden aus Holz, die am Fuße des Hügels von einer Brustwehr samt Wehrgang umgeben waren. Ein Wassergraben davor war durch eine weitere Palisade geschützt. Schon zu jener Zeit gehörte eine Vorburg zur Horster Anlage, die westlich der Kernburg lag und mit dieser über eine Brücke verbunden war.
Nicht sehr lange nach ihrer Errichtung wurde diese hölzerne Turmhügelburg durch ein Feuer zerstört. Die Brandkatastrophe ereignete sich möglicherweise in den Wirren, die der Ermordung des Kölner Erzbischofs Engelbert von Berg im Jahr 1225 folgten. Gerhard von der Horst ersetzte die Reste der Holz/Erde-Befestigung daraufhin durch ein steinernes, 11 × 7,5 Meter messendes festes Haus oder einen Wohnturm mit 1,2 Meter starken Mauern und ließ das Gebäude mit einer Ringmauer umgeben. Zuvor war der Burghügel um mindestens 1,5 Meter erhöht worden.
Eine erste urkundliche Erwähnung als Burg fand Haus Horst erst im Jahr 1282, als der römisch-deutsche König Rudolf von Habsburg dem Ritter Arnold von Horst für seine treuen Dienste erlaubte, die neben seinem „castrum horst“ (castrum = ; in alten Urkunden auch hoirst, hurst und hoerst geschrieben) gelegene Freiheit, die von einer Gräfte umgeben war, weiter zu befestigen und dieser Siedlung im gleichen Zuge Stadtrechte verlieh. Von dieser ehemaligen Freiheit zeugt heute nichts mehr; sie verschwand im Zuge der Industrialisierung bei Bau- und Verkehrsprojekten. Sie lag ungefähr dort, wo heute die Horster Burgstraße verläuft.
In einer Urkunde des Jahres 1295 wurde erstmals ein Hausgeistlicher für Horst erwähnt, wodurch auf die Existenz einer Burgkapelle geschlossen werden kann. Ausgrabungen im Vorburgareal brachten die Erkenntnis, dass diese Kapelle schon im Jahrhundert zuvor existierte, denn die Ausgräber legten 1,5 Meter dicke Fundamente einer Kapelle frei, deren Ursprünge in das 12. Jahrhundert zurückreichten. Die erste Horster Burgkapelle war ein etwa 13 × 15 Meter messender Saalbau mit einem apsidial geschlossenen Chor. Die lichte Weite des Langhauses betrug 6,6×4,2 Meter. Eine Urkunde von 1411 nennt ihr Patrozinium Sankt Hippolyt. Die Wahl des Schutzpatrons verdeutlicht die Verbindung der Herren von Horst mit der Pferdewirtschaft, denn Pferdefang und -handel waren lange Zeit ihre Haupteinnahmequelle. Unter dem Chor befand sich ein kryptenartiger Unterbau mit vier Grablegen. Es steht zu vermuten, dass es sich bei den Bestatteten um Mitglieder der Burgherrenfamilie handelte. Im späten Mittelalter wurde die Kapelle umgebaut. Sie erhielt ein Gewölbe, und ihr Chor wurde durch einen größeren polygonalen Bau ersetzt. Zusätzlich kamen Anbauten an der Nordost-Seite hinzu. Vermutlich 1590 wurde die Horster Kapelle zur Pfarrkirche erhoben. Sie bestand im Vorburgareal bis in das Jahr 1753, ehe sie durch die heutige Kirche St. Hippolyt ersetzt wurde.
Ebenso wie die Burgkapelle wurde auch die Burg allmählich ausgebaut. Vielleicht noch im 15. Jahrhundert, spätestens aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, kamen An- und Zubauten aus Backstein innerhalb der Ringmauer hinzu. Grabungen konnten neben dem auf 19 × 11 Meter erweiterten Wohnturm mit Kloakenanlage einen zweigeschossigen Backsteinbau (16 × 10 Meter), einen Rundturm und einige weitere Bauten im Torbereich der Anlage nachweisen. Um den dafür nötigen Platz zu schaffen, errichtete man einige dieser Gebäude auf Pfahlrosten im Bereich der Burggräfte. Die Dächer der Bauten waren mit Ton- und Schieferschindeln gedeckt. Den Zustand der Burg im 16. Jahrhundert dokumentiert vermutlich ein Relief aus Sandstein, das sich früher eingemauert in der rechten Seite des Restauranteingangs befand.
Renaissance-Neubau
Nachdem Rütger von der Horst neuer Burgbesitzer geworden war, beschrieb er die Anlage 1549 als wüst und von üblem Aussehen („Item so ych myne behusynge gans woste und ungestalt yn myner bestetnyß gehadt“ – „Ebenso habe ich meine Behausung ganz verwahrlost und heruntergekommen in meinen Besitz genommen“). Er ließ bis 1553 Bauarbeiten durchführen, wobei bisher nicht klar ist, ob es sich dabei nur um notwendige Instandsetzungsmaßnahmen oder zugleich auch um Aus- und Umbauten gehandelt hat. Als Burg Horst im Frühjahr 1554 ein weiteres Mal durch ein Feuer zerstört wurde, ließ Rütger sie nicht erneut aufbauen, sondern die Reste der väterlichen Burg niederlegen. Er gab die Errichtung eines Wasserschlosses in Auftrag, das den gehobenen Wohn- und Repräsentationsansprüchen des Vestischen Statthalters genügen sollte. Eine erste Anschubfinanzierung für das kostspielige Bauprojekt bestand aus dem Erbe seiner im Oktober 1554 verstorbenen Schwiegermutter, Elisabeth von Palandt. Die späteren Kosten der aufwändigen und kostbaren Innenausstattung seines Schlosses bestritt Rütger ab 1571 aus den Einnahmen seiner äußerst gewinnbringenden Beteiligung an einer westfriesischen Salz- und Torfkompanie.
Den Fortgang der Arbeiten und die Beteiligten an diesem Neubau dokumentieren die sogenannten Bautagebücher des Rütger von der Horst. Dabei handelt es sich um zwei Rechnungsbücher und ein Bündel von 47 Bauverträgen in niederdeutscher Sprache, die den Zeitraum von 1554 bis 1567 abdecken. Leitender Baumeister war ab spätestens 1558 der Arnheimer Stadtbaumeister Arnt Johannsen to Boecop. Der Bauherr hatte ihn in Arnheim kennengelernt, wo dieser für einen entfernten Verwandten Rütgers, den geldrischen Heerführer Maarten van Rossum, gearbeitet hatte. Nach Johannsens Plänen sollte eine geschlossene Vierflügelanlage errichtet werden, an deren Ecken leicht vorspringende, quadratische Ecktürme mit für jene Zeit ungewöhnlichen Welschen Hauben standen. Drei der vier Seiten sollten von zwei- oder dreigeschossigen Flügeln eingenommen werden, während an der vierten Seite ein niedriger, eingeschossiger Trakt vorgesehen war, um den Schlosshof ausreichend hell zu halten. Zur Ausführung kamen aber schließlich nur ein dreigeschossiger Eingangstrakt im Nordwesten und ein nordöstlich angrenzender Wohnflügel mit zwei Geschossen und Walmdach. Aus dem geplanten mehrgeschossigen Südostflügel wurde letztlich nur ein dreiachsiger Risalit, dessen prachtvoll gestalteter Volutengiebel mit Beschlagwerk verziert und nach flämischen Vorbildern gestaltet war.
Der 1558 begonnene Nordwestflügel war inklusive einer hofseitigen Galerie 1559 fertiggestellt, davon kündet eine Jahreszahl an der Hoffassade. Die Arbeiten am Wohnflügel begannen bereits 1554 und dauerten bis 1563. In jenem Jahr war dessen Rohbau fertig. 1564 wurde mit der Gestaltung seiner Fassade begonnen, und der Trakt erhielt noch im gleichen Jahr sein Dach. Unstimmigkeiten zwischen dem Bauherrn und Arnt Johannsen hatten zur Folge, dass Rütger von der Horst andere Handwerker immer stärker in die Planung seines Schlosses einbezog und der Arnheimer die Baustelle schließlich im Jahr 1567 verließ. Einen Teil von dessen Aufgaben hatte seit 1563/64 der aus Wesel stammende Laurenz von Brachum übernommen, der am 23. September 1558 als Steinhauer auf der Horster Baustelle begonnen hatte. Er zeichnete für die endgültige Gestaltung der Hoffassaden und des Prunkgiebels am Nordosttrakt verantwortlich. Weitere Werke von Brachums waren die Gestaltung von Haus Geist, Haus Assen und Schloss Hovestadt. Bei den Arbeiten am bauplastischen Schmuck des Schlosses, der stark vom Stil des niederländischen Manierismus beeinflusst war, wurde von Brachum von dem aus Kalkar stammenden Heinrich Vernukken und seinem Sohn Wilhelm unterstützt. Sie zeichneten nicht nur für den figürlichen Schmuck, Wappendarstellungen und Inschriften verantwortlich, sondern waren auch mit der Gestaltung der Innenräume beauftragt. Wilhelm Vernukken beteiligte sich auch an Arbeiten zur Fassadengestaltung. So stammt der noch erhaltene Erker an der Straßenseite des Eingangsflügels von ihm. Auf die üppige Ausgestaltung der plastischen Dekorationen und Friese durch unzählige detailreiche, sich nie wiederholende Ornamente und Reliefs geht der kunsthistorische Begriff der Lipperenaissance zurück. Die schmuckreiche Bauskulptur und -ornamentik Horsts wird seit den 1920er Jahren als „Steinerner Schatz“ bezeichnet.
1567 war der Außenbau der beiden ersten Schlossflügel fertig. Frühere Publikationen gaben an, dass die übrigen, jüngeren Gebäudetrakte deshalb ein anderes Aussehen besaßen, weil sie unter der Leitung des Franzosen Joist de la Cour errichtet worden seien. Die Bautagebücher geben aber keine Anhaltspunkte für diese Vermutung, denn laut den zeitgenössischen Akten war de la Cour seit 1563 lediglich mit Malerarbeiten betraut. Die Innenräume besaßen eine aufwändige farbliche Gestaltung. Bei Restaurierungsarbeiten wurden in mehreren Zimmern Reste figürlicher und ornamentaler Malerei entdeckt, und für den Rittersaal ist ein großes Historiengemälde auf Leinwand verbürgt. Bis 1570 waren auch die beiden übrigen Trakte der Anlage vollendet. Die Arbeiten im Inneren des Schlosses dauerten noch bis 1573.
Im Zuge des Neubaus plante Rütger von der Horst auch die Umgestaltung des Vorburgareals, was jedoch am Widerstand der Kirche scheiterte.
Neuzeit bis Gegenwart
Schon früh gab es Anzeichen für einen Verfall der Bausubstanz, was vor allem an dem statisch ungeeigneten Baugrund in der einstigen Gräfte der Vorgängeranlage sowie einer unzureichenden Fundamentierung des Schlossbaus lag. Nach dem Erwerb der Anlage ließen die Freiherren von Fürstenberg in der Zeit von 1706 bis 1721 umfangreiche Reparatur- und Sanierungsarbeiten vornehmen; einen Großteil davon wegen akuter Einsturzgefahr. Dabei wurde zum Beispiel 1711/12 die Hoffassade des Herrenhausflügels zum Teil abgebrochen und neu aufgeführt. Weitere Arbeiten umfassten unter anderem 1716 die Ausbesserung des Fundaments sowie den Teilabriss und Wiederaufbau der oberen Partie des nördlichen Eckturms im Jahr 1721. Doch trotz aller Bemühungen konnten die Besitzer den allmählichen Verfall der Anlage nicht verhindern. 1828 wurde das Torgebäude niedergelegt. Der Essener Architekt Heinrich Johann Freyse war 1828/29 mit Reparaturen am verwahrlosten Schloss beauftragt und sollte es gleichzeitig im damals üblichen Zeitgeschmack umbauen. Freyse plante, das Schloss zu einer dreiflügeligen Anlage im Stil des Klassizismus umzugestalten. Seine Pläne sahen dabei auch die vollständige Entfernung des renaissancezeitlichen Fassadenschmucks vor, doch das Vorhaben wurde nie in die Tat umgesetzt. Kurz vor 1830 stürzte der Westturm ein und riss einen Teil des Nordwest-Flügels mit sich. Der Trakt wurde daraufhin verkürzt, indem man die gesamte Tordurchfahrt wegnahm. Die Reste des Turms wurden im Zuge der Arbeiten anschließend wohl ganz beseitigt. Im Frühjahr 1833 fiel dann der Nordturm in sich zusammen und wurde anschließend bis auf das Kellergeschoss niedergelegt. Heiligabend 1843 folgte der Einsturz des Südturms. Etwa zu dieser Zeit wurden auch die beiden niedrigen Schlossflügel an der Südost- und Südwest-Seite abgerissen. Noch vor 1850 verlor der Vernukken-Erker an der Eingangsfront seinen ursprünglichen Giebel, als im Dachgeschoss des Flügels Taubenschläge untergebracht werden sollten und zu diesem Zweck sämtliche Fensteröffnungen des Stockwerks verschlossen wurden. Bei den Abrissarbeiten war die Fürstenberg-Familie immer darauf bedacht, den noch vorhandenen, wertvollen Bauschmuck zu retten, und so wurde dieser größtenteils sorgfältig aufbewahrt und bis 1925 in einem eigens dafür errichteten Schuppen gelagert. Dem Umstand, dass König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Gedanken trug, den Horster Hausteinschmuck zu kaufen, verdankt die Bauforschung 23 der wenigen bildlichen Darstellungen des Schlosses, die sogenannten Potsdamer Blätter. Sie stammen aus der Feder des Frankfurter Architekturzeichners Karl Gustav Greiß, der mit einer Bestandsaufnahme beauftragt worden war. Weil die zwischen 1848 und 1851 geführten Verhandlungen über den Verkauf der Fassadendekorationen aber erfolglos verliefen, blieb der „Steinerne Schatz“ in Horst.
Auf Anordnung des preußischen Regierungspräsidiums in Münster mussten 1853/54 der östliche Turm mit seinen bis zu 2,2 Meter dicken Mauern und der sich anschließende Wohnflügel abgebrochen werden. Auch die landwirtschaftlich genutzte Vorburg wurde noch im 19. Jahrhundert zum Teil niedergelegt, sodass schließlich nur noch der Eingangsflügel und ein Ansatz des ehemaligen Wohnflügels mitsamt Fundamenten des dazugehörigen Eckturms erhalten blieben. Diese Teile von Schloss Horst wurden von 1924 bis 1930 zu einer Volkserholungsstätte umgestaltet. Dazu wurde das im 19. Jahrhundert zur Sicherung des Baubestands verfüllte Sockelgeschoss des Herrenhausflügels wieder freigelegt und in den Gewölbekellern nach Plänen des Architekten Paul Sültenfuß eine Gastronomie eingerichtet. Neben weiteren Umbauten im Inneren gehörte dazu auch die Errichtung eines Anbaus im Winkel der beiden noch erhaltenen Schlosstrakte. Die ehemalige Schlossküche im Eingangsflügel diente als kleines Museum, in dem der „Steinerne Schatz“ ausgestellt wurde. Zeitgleich erfuhr der Schlosspark eine Umgestaltung zu einem Landschaftsgarten im englischen Stil und wurde für den Publikumsverkehr geöffnet. Der großflächige Hausteich war bei den Umgestaltungsarbeiten zu einer geometrischen Gräfte verändert worden, die das Schloss an drei Seiten umgab. Heute ist sie nur noch als Rasensenke erkennbar.
Dem Restaurant folgte ab 1976 eine Diskothek, jedoch trug keiner der Nutzer zum Erhalt der historischen Bausubstanz bei. Folge war ihr zunehmender Verfall. Schon in der Zeit von 1962 bis 1967 waren mit Unterstützung des Landeskonservators erstmals Restaurierungen an der Straßenfassade des Eingangsflügels erfolgt. Dabei war fast der gesamte bauplastische Schmuck aus Baumberger Sandstein durch Rekonstruktionen aus dem unempfindlicheren Wrexener Sandstein ausgetauscht worden. Nur wenige Originale waren noch so gut erhalten, dass sie nicht ersetzt, sondern erneuert wurden. Die Arbeiten konnten dem weiteren Niedergang der Anlage aber nur geringfügig entgegenwirken. 1984 erfolgte die konservatorische Behandlung der hofseitigen Fassade des Eingangsflügels, um deren erheblichen Steinzerfall Einhalt zu gebieten.
Auf Betreiben des 1985 gegründeten „Fördervereins Schloss Horst“ kaufte die Stadt Gelsenkirchen die Anlage mit finanzieller Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 1988, um sie vor dem endgültigen Ruin zu retten. Zunächst plante sie, alle drei Gelsenkirchener Standesämter im Schloss zusammenzulegen, und sah dafür eine vollständige Umgestaltung des Inneren vor, um dort viele städtische Diensträume unterzubringen, wie auch ein neues Treppenhaus und einen Aufzug im Eingangsflügel. Diese Pläne wurden aber nicht umgesetzt. Zunächst fanden anstatt dessen ab Frühjahr 1990 unter der Federführung des Westfälischen Museums für Archäologie, der Behörde für Bodendenkmalpflege des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, systematische Ausgrabungen auf dem Schlossareal und im Bereich der Vorburg statt. Sie förderten nicht nur zahlreiche Grabungsfunde zutage, sondern brachten auch neue Erkenntnisse über die Baugeschichte der Anlage. So fanden die Ausgräber die Bauspuren der Vorgängeranlage und ein ausgeklügeltes Ver- und Entsorgungssystem, bestehend aus Zisterne, Brunnen und zahlreichen, teilweise mehrzügigen Kloakenschächten und -schütten. 1992 erfolgte auf Vorschlag des Fördervereins die Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs, nach dessen Gewinnerentwurf des Frankfurter Architekten Jochem Jourdan das Schloss von 1994 bis 1999 restauriert und unter Einbezug noch vorhandener, historischer Bauelemente zum Teil wiederaufgebaut wurde. Im Zuge der von der nordrhein-westfälischen Landesregierung finanziell unterstützten, rund 25 Millionen DM Bauarbeiten wurden dabei auch An- und Zubauten des 20. Jahrhunderts wieder entfernt.
Heutige Nutzung
Das Schloss Horst dient heute als Kulturzentrum und Standesamt der Stadt Gelsenkirchen. Außerdem ist dort seit 1995 die Bezirksverwaltung Gelsenkirchen-West beheimatet. Das Erkerzimmer wird unter anderem von der örtlichen Schuldnerberatung genutzt. Im Kellergeschoss des Schlosses hat ein Restaurant sein Domizil, während das restaurierte Kaminzimmer des Eingangsflügels, das seit dem 17. Jahrhundert als Schlossküche diente, heute als Trausaal genutzt wird. Der überdachte Innenhof der Anlage kann für Veranstaltungen angemietet werden und dient als Ort für Wechselausstellungen. Die Dauerausstellung des Schlossmuseums ist in den Gängen, im Sockelgeschoss des Südturms sowie im wiederaufgebauten Obergeschoss des Herrenhausflügels untergebracht. Sie zeigt neben Teilen des durch die Freiherren von Fürstenberg geretteten Fassadenschmucks Stücke der bauplastischen Dekoration von Portalen und Kaminen sowie die auf dem Schlossareal gemachten Grabungsfunde. Gemeinsam mit weiteren Exponaten dokumentiert die Ausstellung das Leben und Arbeiten im Zeitalter der Renaissance, wobei ein besonderes Augenmerk auf dem Betrieb der Großbaustelle für den Horster Schlossbau liegt. Einmal im Monat können Schloss Horst und sein Museum im Rahmen einer öffentlichen, kostenlosen Führung besichtigt werden.
Die Vorburggebäude aus dem Jahr 1856 werden nach vierjährigen Umbau- und Sanierungsarbeiten seit 2013 als Bürgerzentrum und Stadtteilbibliothek genutzt. Außerdem befindet sich dort ein kleines Druckereimuseum.
Beschreibung
Das Schloss zur Zeit der Renaissance
Horst war eine Vierflügelanlage mit einer Seitenlänge von etwa 53 Metern. Ihre vier Ecken wurden durch quadratische Pavillontürme markiert, die leicht aus der Mauerflucht hervortraten. Der nordwestliche Eingangsflügel mit einem aufwändig gestalteten Portal besaß drei Geschosse. Der sich ihm anschließende sogenannte Herrenhausflügel besaß zwar nur zwei Stockwerke, war jedoch genauso hoch wie der Eingangstrakt. Obwohl noch ein dritter großer Schlossflügel geplant war, kam dieser nicht mehr zu Ausführung, sodass die beiden übrigen Seiten der Anlage von niedrigen, eingeschossigen Trakten gebildet wurden. Der südöstliche von ihnen war ein zum Hof hin offener Laufgang mit schiefergedecktem Dach, während sich im südwestlichen Flügel die Schlosskapelle befand. Als Baumaterial dienten Backstein und Sandstein, der aus den Baumbergen stammte. Für das Mauerwerk kam der rote Ziegel zum Einsatz, während Tür- und Fenstergewände sowie Friese und Gesimse aus hellem Haustein bestanden. Im Gegensatz zum heutigen Zustand war Schloss Horst nach seinem Bau vollständig weiß verputzt. Dazu im Kontrast standen die größtenteils vergoldeten Hausteinelemente sowie die schwarz bemalten Gesimse und Gewände in grüner Farbe. Pilaster und Säulen an der hofseitigen Fassade besaßen zum Teil eine Bemalung, die Marmor als Material vortäuschte. Auch im Inneren herrschte eine bunte Farbenfrohheit. Decken und Wände waren kunstvoll ausgemalt und komplettierten die prächtige Innenausstattung aus Schlachten- und Puttenfriesen sowie aufwändig gestalteten Portalgewänden und Kaminaufsätzen.
Die Gesamtanlage war von einer sehr breiten aber nur recht flachen Gräfte umgeben, die zumindest im Osten von einer 3,5 Meter breiten Berme begleitet wurde. Das Gräftensystem wurde durch die Emscher gespeist, deren Hauptlauf bis zum 19. Jahrhundert das Gelände nördlich und westlich umfloss. Das Hauptschloss lag auf einer eigenen Insel, der im Nordosten eine Vorburg vorgelagert war. Hauptinsel und Vorburginsel waren durch eine dreibogige Steinbrücke miteinander verbunden. Von außen konnte die Schlossanlage nur über eine Zugbrücke am Torhaus der Vorburg betreten werden.
Heutiger Zustand
Äußeres
Im Gegensatz zu älteren Veröffentlichungen zeigten Ausgrabungen in den 1990er Jahren, dass Schloss Horst keine Pfahlrostgründung ist, sondern nur auf mehreren Lagen grob zugehauener Sandsteine ruht. Diese ungenügende Fundamentierung ist der Hauptgrund dafür, dass von der einst großen Anlage heute nur noch wenige Partien im Original erhalten sind. Dazu zählen die Keller mit Kreuzgewölbe aller vier Schlossflügel – mit Ausnahme der Kellergeschosse von West- und Ostturm – sowie der Eingangstrakt im Nordwesten und der sogenannte Rittersaal mit renaissancezeitlichen Kreuzstockfenstern im wiederaufgebauten nordöstlichen Flügel. Der die beiden Trakte verbindende Nordturm wurde in den 1990er Jahren mit den Maßen seines Vorgängers neu aufgeführt und greift mit seinem schlichten Sandsteingesims die horizontale Gliederung der beiden anstoßenden Gebäudeflügel auf. Alle übrigen Ecktürme der Schlossanlage wurden bis auf Höhe des Hofniveaus wieder aufgemauert, um Besuchern den Grundriss und die Dimensionen der Renaissance-Anlage zu verdeutlichen. Umgeben ist diese heute mit einem Trockengraben aus dem 20. Jahrhundert.
Schloss Horst besitzt außergewöhnlich hohe Dächer. Das Gebäude ist – gemessen an der Außenseite – inklusive des Kellergeschosses rund 24 Meter hoch, wovon zwölf Meter auf die Dachkonstruktion entfallen. Auffälligstes Merkmal der Eingangsfassade ist der geschossübergreifende Erker. Er ruht auf Bocksfüßlerkonsolen und besitzt reichen Hausteinschmuck in Form von Karyatiden, Kartuschen und Rollwerk. Da jedoch Baumberger Sandstein recht wetterunbeständig ist, sind diese Dekorelemente fast alle nicht mehr original, sondern Rekonstruktionen aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre, die den seinerzeit verwitterten Originalen nachempfunden wurden. Die Fassade ist durch zwei profilierte Hausteingesimse horizontal gegliedert, gibt jedoch nicht die Anzahl der im Bau vorhandenen Stockwerke wieder. Der dreigeschossige Flügel beherbergte in der obersten Etage die herrschaftlichen Schlafzimmer, während das niedrigere Zwischengeschoss auf der ersten Etage der Dienerschaft vorbehalten war. Im Erdgeschoss befand sich unter anderem die Küche. Portal und Fenster an der Außenseite des Sockelgeschosses gehören nicht zur originalen Bausubstanz, sondern wurden anlässlich des Umbaus zur Gastronomie ausgebrochen. Neben dem Eingangsflügel findet sich ein freistehender Torbogen aus Rustikaquadern, der ein letztes Relikt des ehemaligen Torbaus ist. An ihm finden sich noch Reste der einstigen Bauornamentik. Zum Tor führt heute eine moderne Rampe hinauf, unter der die Pfeilerstümpfe der früheren Schlossbrücke zu sehen sind. Sie wurden – ebenso wie ein Teil der einstigen Befestigungsmauer der Vorburg – bei Grabungen im 20. Jahrhundert freigelegt.
Ein Großteil des ehemaligen Innenhofs ist heute durch eine Glashalle überspannt. Sie dient unter anderem zum Schutz der durch Emissionen stark in Mitleidenschaft gezogenen Hoffassade des Nordwestflügels. Deren profilierte Gesimse scheiden die drei Stockwerke des Flügels. Im Erdgeschoss ist jeweils ein Paar von viereckigen Fenstern von einem gemeinsamen Flachgiebel bekrönt. Dazwischen finden sich stark verkröpfte, schmucklose Pilaster. Im ersten und zweiten Obergeschoss besitzt das Gebäude gekuppelte Bogenfenster. Zwischen jenen der ersten Etage finden sich toskanische Säulen, die reich mit Bandelwerk geschmückt sind und ein breites Gebälkstück tragen. Im obersten Geschoss werden die Rundbogenfenster von ionischen Säulen flankiert und wechseln sich mit Figurennischen ab, von denen durch die Verkürzung des Flügels im 19. Jahrhundert nur noch fünf von einst sieben Nischen übrig sind. Die Skulpturen darin stellten die sieben Planeten dar. Heute ist nur noch die stark verwitterte, 1,5 Meter Statue des Saturn erhalten. Den oberen Abschluss der Fassade bildet ein reich geschmücktes Konsolengesims.
Die hofseitige Fassade des Nordostflügels war ungleich prächtiger gestaltet, fiel aber Abrissarbeiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Opfer. Da zahlreiche Teile des Fassadenschmucks jedoch vor dem endgültigen Untergang bewahrt wurden, konnten zwei Abschnitte der Hoffassade rekonstruiert werden. Dabei wurden die Neuteile durch ausgenommene Schlichtheit gegenüber den üppigen Originalen gekennzeichnet. Die Nachbildung zeigt das rundbogige Hauptportal mit den darüberliegenden Wappen Rütger von der Horsts und seiner Frau Anna von Palandt. Diese werden flankiert von korinthischen Säulen, die einen flachen Dreiecksgiebel mit Löwenkopf im Giebelfeld tragen. Die Zwickelfelder rechts und links des Portals weisen Hermen und in Rollwerk gewickelte Satyrn auf. Die zwei Geschosse des Flügels wurden durch ein profiliertes Gesims gut sichtbar voneinander abgegrenzt. Direkt unter diesem Sims verläuft ein steinernes Band mit der Inschrift „EX TOTA MENTE TUA | ET PXIM SICVT [TE I]PM …“. Sie bezieht sich auf ein alttestamentliches Zitat mit einem Zusatz aus dem Neuen Testament, das in voller Länge mit „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und mit ganzer Seele und deinen Nächsten wie dich selbst“ übersetzt werden kann. Die Fassadenachsen sind im Erdgeschoss durch ionische Pilaster voneinander getrennt, während diese Funktion im Obergeschoss auf Skulpturen fußende korinthische Säulen wahrnehmen.
Innenausstattung
Von der reichen Ausstattung der Innenräume ist im Laufe der Jahre durch Abriss sowie Umbauten viel verloren gegangen, aber die erhaltenen Dekorationen und Ausstattungsstücke lassen etwas von der einstigen üppigen Pracht im Inneren des Schlosses erahnen. Dazu gehört der aus dem 16. Jahrhundert stammende Auferstehungskamin in dem nach ihm benannten Kaminzimmer, das sich im Erdgeschoss des Eingangsflügels befindet. Er trägt seinen Namen nach der szenischen Darstellung auf seinem Frontsturz: der Vision Ezechiels von der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag. Im darüberliegenden Erkerzimmer steht der sogenannte Diana-Kamin, eine Teilrekonstruktion aus erhaltenen Originalfragmenten. Sein Name rührt von seinem Frontrelief, das die Bestrafung der schwangeren Nymphe Kallisto durch Diana darstellt.
Zu den weiteren Beispielen für das aufwändige und kostbare Innendekor, die noch als Original erhalten sind, zählt das Rustika-Portal des Kaminzimmers sowie das ornamental gestaltete Gewände eines Nebeneingangs des Rittersaals. Dieser ist der einzige Raum des früheren Herrenhausflügels, der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht abgerissen wurde. Durch die Jahreszahl an seinem Hauptportal kann er auf das Jahr 1566 datiert werden. Im Boden des Saals findet sich eine Gesindetreppe in das Geschoss darunter. Sie war die Verbindung zur ehemaligen Schlossküche und folgte Vorbildern aus der italienischen Palazzo-Architektur. An beiden Stirnseiten des großen Raums standen früher Kamine, von denen einer unter Verwendung von Fragmenten des sogenannten Historienkamins teilrekonstruiert wurde. Sein Frontsturzrelief zeigt die Schlacht an der Milvischen Brücke.
Die für ihre Bauzeit neuartigen Galeriegänge an der Hofseite des Eingangsflügels besitzen Kreuzgewölbedecken. Bei jenem im Erdgeschoss handelt es sich um ein Kreuzgratgewölbe, während die Galerie im ersten Stockwerk mit einem Kreuzrippengewölbe ausgestattet ist. Dieses ist mit ornamentaler und figürlicher Malerei im Schwarz-, Beige- und Grautönen verziert, die noch aus der Errichtungszeit stammt. Allerdings ist derzeit nur ein restauriertes Teilstück für den Besucher sichtbar; der Rest der Bemalung wartet unter Gipskarton auf seine Instandsetzung.
Kunsthistorische Einordnung
Trotz enormer Verluste an der Bausubstanz durch Verfall und Abbruch ist Schloss Horst heute noch der wichtigste Renaissancebau des Ruhrgebiets und einer der bedeutendsten Renaissancebauten Westfalens. Die Großzügigkeit der Anlage, seine Regelmäßigkeit und die Qualität der Ausführung machten es zum Vorreiter einer neuen Form der adeligen Architektur, die weit über die Grenzen Westfalens hinaus Nachahmer fand. Sein architektonisches Konzept war für die damalige Zeit revolutionär. Es mischte Einflüsse französischer Vorbilder mit Zutaten aus der italienischen Palazzo-Architektur. So besaß der Horster Neubau – eine geschlossene Vierflügelanlage mit vorgeschobenen Pavillontürmen an den Ecken – große Ähnlichkeiten mit den Grundrissen der Schlösser Ancy-le-Franc und Écouen. Bei der Innenarchitektur folgte man in vielen Dingen der Ausgestaltung wie sie in italienischen Palazzi üblich war. Dazu zählten zum Beispiel die hofseitigen Galerien und das in den Baukörper integrierte zentrale Treppenhaus. Horst war die erste Anlage in Westfalen, bei der eine strenge Unterscheidung von öffentlichen Verkehrsflächen und Privaträumen vorgenommen wurde, indem man Galerien zur Erschließung der einzelnen Räume nutzte. Durch das repräsentative und großzügige Treppenhaus mit seiner neuartigen zweiläufigen Treppe, die aus geraden Stufenbahnen und einem Umkehrpodest bestand, konnte man auf einen bis dahin üblichen, der Fassade vorgelagerten Treppenturm verzichten.
Die Horster Bauskulptur war sowohl an Quantität als auch an Qualität beeindruckend. Das durch den niederländischen Manierismus beeinflusste bauplastische Hausteindekor, das heute als „Steinerner Schatz“ bezeichnet wird, war für den Schlossbau des 16. Jahrhunderts geradezu verschwenderisch und gilt als Bindeglied zwischen niederländischer Baukunst und der Architektur im Wesergebiet. All diese Merkmale veranlassten den Kunsthistoriker Richard Klapheck dazu, den Begriff der Lipperenaissance zu prägen, für den Schloss Horst nicht nur Pate stand, sondern auch als „Schlüsselbauwerk“ gilt.
Der „Steinerne Schatz“
Als langjähriger Besitzerin des Schlosses gelang es der Fürstenberg-Familie, diverse Stücke der wertvollen Fassadendekoration sowie Teile von Portalen und Kaminen zu erhalten. Bei der heute als „Steinerner Schatz“ bezeichneten Bauplastik handelt es sich um teilweise nur fragmentarisch erhaltene Ornamente, figürlichen Zierrat, Friese mit Putten- und Schlachtendarstellungen sowie szenische Reliefs aus Terrakotta und Kaisertondi mit einem Durchmesser von 40 cm. Einige Hausteinfragmente des einstigen Fassadenschmucks finden sich heute in Wänden der noch bestehenden Bauten eingemauert, weil sie bei Umbauarbeiten in den 1920er Jahren unter rein dekorativen Aspekten wahllos in die Zimmerwände vor allem im Erdgeschoss und Keller eingebaut wurden. Einige Plastiken fanden bei Um- und Neubauten auf Schloss Borbeck, das ebenfalls zum Fürstenbergschen Besitz zählte, Verwendung.
Von ursprünglich mindestens neun reich verzierten Bild-Kaminen auf Schloss Horst befindet sich nur noch einer in situ. Drei von ihnen fanden 1886 im Schloss Hugenpoet, das ebenfalls zum Familienbesitz der von Fürstenberg zählte, ein neues Zuhause. Ein weiterer Kamin wurde nach Burg Rheinstein verbracht, wo er mit neogotischem Beiwerk ausgestattet wurde. Von den übrigen sind lediglich Fragmente erhalten, oder sie sind nur durch schriftliche Quellen bekannt. Die heute noch erhaltenen szenischen Reliefs dieser Kamine sind allesamt der antiken Geschichte oder Mythologie sowie dem Alten und Neuen Testament entlehnt. Sie gehen großenteils auf weltbekannte Werke der römischen oder florentinischen Renaissance zurück.
Der Auferstehungskamin ist der einzige unversehrt gebliebene und noch am Originalplatz vorhandene Kamin des Schlosses. Seinen Namen erhielt er von der Darstellung auf seinem Frontsturz: die Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag nach . Über diesem 2,44 Meter breiten Relief ist der Sturz in drei Felder unterteilt, die sehr plastisch den dreischiffigen Innenraum einer Kirche wiedergeben. Der über 400 Jahre alte Kamin ist ein Werk Heinrich Vernukkens, der ihn in der Zeit um 1565/70 gestaltete. Als Vorlage für die Auferstehungsszene diente Vernukken eine Lutherbibel aus dem Jahr 1564 mit Holzschnitten von Jost Amman. Alle Bildinhalte – auch die seitlichen – werden durch darunter befindliche Inschriften erläutert und waren früher farbig bemalt. Durch ihre Position in der einstigen Schlossküche ist die Feuerstelle auch unter der Bezeichnung Küchenkamin bekannt.
Der heute im Rittersaal befindliche Historienkamin ist eine Teilrekonstruktion und zeigt im Frontsturz als Relief die Schlacht an der Milvischen Brücke nach Vorlage von Raffaels Monumentalgemälde in der Sala di Costantino, einem Raum der Stanzen des Raffael im Vatikan. Das darüberliegende Zentralrelief ist die bildliche Umsetzung einer Erzählung des römischen Dichters Livius vom Kampf der Horatier gegen die Curiatier, während das linke Seitenstück des Kamins dem Relief des Triumphzugs Mark Aurels im Konservatorenpalast in Rom nachempfunden ist.
Der sogenannte Diana-Kamin im Horster Erkerzimmer wurde aus einzelnen Fragmenten zusammengefügt, ohne die Gewissheit, dass die verwendeten Partien tatsächlich von einem einzigen Kamin stammen. Sein Frontrelief zeigt die Bestrafung Kallistos durch die Göttin Diana. Als Vorlage für die Szene diente ein Kupferstich des Niederländers Cornelis Cort nach einem Gemälde aus der Werkstatt Tizians. Die Jahreszahl im Sturz datiert den Kamin auf 1575. Die schlecht erhaltenen Seitenreliefs könnten Motive der gleichen Thematik zeigen. Sie besitzen Inschriftenkartuschen mit lateinischen Zitaten aus Ovids Metamorphosen. Der obere Kaminabschluss besteht aus einem aufwändig verzierten Aufbau, der das Bildnis der schlafenden Venus mit Amor zeigt.
Zu den drei in der zweiten Hälfte nach Schloss Hugenpoet transferierten Kaminen gehörte neben dem Kain-und-Abel-Kamin und dem Lot-Kamin aus dem Jahr 1560 auch der sogenannte Troja-Kamin von 1578. Benannt ist dieser nach seinem Relief, das den Brand Trojas zeigt und Raffaels Fresko Borgobrand in den vatikanischen Stanzen nachempfunden ist. Als Vorlage dazu diente Raimondis Kupferstich mit dieser Szene.
Grabungsfunde
Bei den Ausgrabungen auf dem Schlossareal in den 1990er Jahren kamen zahlreiche Funde zutage, welche die außergewöhnlich hohe kunsthistorische Bedeutung des Schlosses unterstrichen. Neben gefundenen Fragmenten der Fassadenornamentik und Stücken von Medaillons mit den Abbildungen römischer Caesaren fanden die Ausgräber zum Beispiel auch Stücke von sogenannten tektonischen Kacheln. Dabei handelt es sich um Teile von hochwertigen Leisten-, Gesims-, Kranz- und Bekrönungskacheln. Daneben wurden aber auch Zeugnisse einer prachtvollen Hofhaltung und gehobener Tischkultur gefunden, so zum Beispiel Besteckteile aus Silber und Elfenbein, kostbare Gefäße aus geschnittenem Stein, Keramiken und venezianische Gläser. Ein einzigartiges Fundstück fiel den Archäologen mit einem Sturzbecher aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in die Hände. Er zeigt einen Pfeife rauchenden Mann in spanischer Hoftracht und könnte möglicherweise den Bauherrn des Schlosses, Rütger von der Horst, darstellen.
Literatur
Elmar Alshut: Schloss Horst: Baugeschichte – stilistische Einordnung – Verfall – Konzepte und Maßnahmen zur Erhaltung. In: Elmar Alshut, Guido von Büren, Marcell Perse (Hrsg.): Ein Schloss entsteht… Von Jülich im Rheinland bis Horst in Westfalen. Jülicher Geschichtsverein 1923 e.V., Jülich 1997, ISBN 3-930808-06-4, S. 45–54.
Elmar Alshut, Hans-Werner Peine: Schloss Horst in Gelsenkirchen (= Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa. Band 15). Schnell & Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-1483-0.
Elmar Alshut, Ulrich Reinke, Ralph Röber, Beat Sigrist: Schloß Horst, Gelsenkirchen. In: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Westfälisches Amt für Denkmalpflege (Hrsg.): Im Wandel der Zeit. 100 Jahre Westfälisches Amt für Denkmalpflege. Aschendorff, Münster 1992, S. 133–189.
Wiltrud Apfeld: Die bauhistorische Entwicklung von Schloß Horst. In: Beiträge zur Renaissance zwischen 1520 und 1570 (= Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland. Band 2). Jonas, Marburg 1991, ISBN 3-89445-113-0, S. 43–52.
Klaus Gorzny: Emscherschlösser. Ein Wegbegleiter. Piccolo Verlag, Marl 2001, ISBN 3-9801776-5-3, S. 43–49.
Gustav Griese: Burg und Schloss Horst. In: Gustav Griese (Hrsg.), Albert Weskamp (Hrsg.): Burgen und Schlösser in Gelsenkirchen. 2. Auflage. Heimatbund Gelsenkirchen, Gelsenkirchen 1960, S. 74–84.
Lutz Heidemann: Wie »rettet« man ein Renaissance-Schloß? Bisherige Aktivitäten des Fördervereins Schloß Horst e. V. In: Beiträge zur Renaissance zwischen 1520 und 1570 (= Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland. Band 2). Jonas, Marburg 1991, ISBN 3-89445-113-0, S. 37–42.
Richard Klapheck: Die Meister von Schloss Horst im Broiche. Das Schlusskapitel zur Geschichte der Schule von Calcar. Wasmuth, Berlin 1915 (Digitalisat).
Cornelia Kneppe: Schloss Horst. In: Kai Niederhöfer (Red.): Burgen AufRuhr. Unterwegs zu 100 Burgen, Schlössern und Herrensitzen in der Ruhrregion. Klartext, Essen 2010, ISBN 978-3-8375-0234-3, S. 210–213.
August Kracht: Burgen und Schlösser im Sauerland, Siegerland, Hellweg, Industriegebiet. Ein Handbuch. Umschau, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-8035-8011-0, S. 279–287.
Hans-Werner Peine: Denkmal: Schloss Horst. Ein Haus im Wandel der Zeit. In: Archäologie in Deutschland, Heft 2/2003, Stuttgart 2003 , S. 66–67 ().
Hans-Werner Peine: Unter dem Pflaster. Ein Hof gibt seine Geheimnisse preis. Ergebnisse der Ausgrabungen auf Schloss Horst. In: Elmar Alshut, Guido von Büren, Marcel Perse (Hrsg.): Ein Schloss entsteht… Von Jülich im Rheinland bis Horst in Westfalen. Jülicher Geschichtsverein 1923 e.V., Jülich 1997, ISBN 3-930808-06-4, S. 55–59.
Hans-Werner Peine, Cornelia Kneppe: Haus Horst im Emscherbruch. Stadt Gelsenkirchen (= Frühe Burgen in Westfalen. Band 21). Altertumskommission für Westfalen, Münster 2004, (online).
Harald Polenz: Schloß Horst. Ein Renaissance-Denkmal wird gerettet. Dokumentation. Felidae, Essen [1992], ISBN 3-928843-01-X.
Weblinks
Schloss Horst auf der Webseite der Stadt Gelsenkirchen
Museum Schloss Horst auf der Website der Stadt Gelsenkirchen
Website des Fördervereins Schloss Horst
Hans-Werner Peine, Cornelia Kneppe: Haus Horst im Emscherbruch, kreisfreie Stadt Gelsenkirchen im Internet-Portal „Westfälische Geschichte“
Computeranimationen zu den Ausbaustufen der Horster Anlage
Fußnoten
Horst
Baudenkmal in Gelsenkirchen
Horst, Schloss
Erbaut im 16. Jahrhundert
Museum in Nordrhein-Westfalen
Horst
Museum in Gelsenkirchen
Horst, Schloss
Organisation (Gelsenkirchen)
Horst (westfälisches Adelsgeschlecht)
Horst |
1058306 | https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesische%20Kunst | Chinesische Kunst | Chinesische Kunst ist die Kunst, die ihren Ursprung im alten oder modernen China hat oder von chinesischen Künstlern ausgeübt wird, und damit ein Ausdruck der chinesischen Kultur ist.
Allgemeines
Anders als im „Abendland“, dessen Kunstgeschichte immer wieder starke Einschnitte in Form von Stilwechseln erlebt hat, ist die chinesische Kunst über Jahrhunderte hinweg von einer erstaunlichen Kontinuität geprägt. In der Ming-Novelle (14. bis 17. Jahrhundert) ist noch weithin ihr Vorbild aus der Tang-Zeit (7. bis 10. Jahrhundert) zu erkennen. Landschaftsgemälde eines Qing-Malers (17. bis 20. Jahrhundert) sind im Grunde ähnlich aufgebaut wie jene der Song-Dynastie (10. bis 13. Jahrhundert). Ein Grund dafür ist der in China von jeher verbreitete „Respekt vor der Tradition“. Nicht die Schaffung von Neuem war primäres Ziel der Künstler, sondern die möglichst originalgetreue Nachahmung der Vorbilder der Alten – die im Übrigen in keiner Weise als Plagiat oder in anderer Weise als unlauter empfunden wird. Letztlich fußt diese Auffassung im konfuzianischen Weltbild, das unter anderem Schüler die Verehrung des Meisters gebietet.
Aber auch die anderen in China verbreiteten religiösen und philosophischen Lehren gewannen immer wieder erheblichen Einfluss auf das Kunstschaffen. Weder die chinesische Malerei noch die Gedichte der Tang-Poeten wären etwa ohne den Daoismus denkbar. Schon thematisch befassen sie sich häufig mit dem Postulat eines Lebens im Einklang mit der Natur. Aber auch die Maltechnik verrät Einflüsse der daoistischen Yin-und-Yang-Lehre, etwa in dem dialektischen Wechsel zwischen bemalten und leeren Flächen, oder in dem Gegensatz zwischen „nassen“ und „trockenen“ Pinselstrichen. Daneben tauchen natürlich auch Figuren der daoistischen Mythologie immer wieder in Werken der chinesischen Kunst auf. Schwächer ausgeprägt sind indes die Einflüsse des Buddhismus, zumal dieser im Laufe der Zeit ohnehin teilweise bis zur Unkenntlichkeit sinisiert wurde. Ab dem 16. Jahrhundert traten, insbesondere vermittelt durch die Tätigkeit europäischer Missionare, auch westliche Einflüsse hinzu.
Träger der chinesischen Kunst waren schon aus finanziellen Gründen größtenteils der Kaiserhof bzw. höfische und Gelehrtenkreise. Daneben gab es besonders in der Literatur und Malerei auch einsame Künstlerpersönlichkeiten, die ihre Werke fernab der Menschen in ländlicher Gegend, in Gebirgstälern o. ä. schufen. Meist handelt es sich hierbei aber um Gelehrte oder gar ehemalige Beamte, die aus Frustration oder Empörung über die herrschenden politischen Zustände der Welt den Rücken gekehrt hatten. Ein Anstieg dieser Bewegung war üblicherweise nach Dynastiewechseln zu beobachten, in besonderem Maße, als Mitte des 17. Jahrhunderts die Mandschu als Qing-Dynastie die Macht übernommen hatten.
Ausstrahlungswirkungen der chinesischen Kunst sind im gesamten ostasiatischen Raum zu beobachten. Besonders ausgeprägt sind sie naturgemäß in Gebieten, die zeitweise unter chinesischer Herrschaft standen wie die „Vasallenstaaten“ Korea und Vietnam, oder von Chinesen besiedelt wurden (Singapur, Malaysia, Indonesien). Aber auch die japanische Kunst verdankt dem Reich der Mitte in dieser Hinsicht sehr viel. In manchen Teilbereichen gelang es den Epigonen sogar, ihr Vorbild zu überflügeln, wie etwa in der in Japan zu höchster Blüte gelangten Lackkunst. Ab dem 16. Jahrhundert wurden chinesische Kunstwerke – insbesondere auch Porzellan – in größerem Umfang nach Europa exportiert, wo sie Einfluss auf die abendländische Kunst gewannen.
Die Kunst Taiwans sowie die der chinesischen Emigranten kann als Teil der chinesischen Kunst betrachtet werden, in der sie ihre Wurzeln hat.
Historische Entwicklung bis 221 v. Chr.
Neolithische Töpferkunst
Frühe Formen chinesischer Kunst wurden in der jungsteinzeitlichen Yangshao-Kultur (仰韶文化) gefunden, die bis ins 6. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Archäologische Funde wie die der Banpo-Siedlung haben gezeigt, dass in der Yangshao-Zeit bereits Töpferei betrieben wurde; die frühen Keramik-Erzeugnisse waren oft unbemalt und wiesen häufig plastische Kordelstrukturen auf. Zu den frühesten Zierelementen gehörten Fische und menschliche Gesichter, die sich aber letztlich zu symmetrisch-geometrischen abstrakten Mustern entwickelten, viele davon gemalt.
Hervorstechendstes Merkmal der Yangshao-Kultur war der extensive Gebrauch bemalter Töpferwaren, insbesondere mit menschlichen Gesichtern, Tierdarstellungen und geometrischen Mustern. Anders als die spätere Longshan-Kultur kannte die Yangshao-Kultur noch nicht die Töpferscheibe. Nach Erkenntnissen der Archäologen basierte die Yangshao-Gesellschaft auf matriarchalisch organisierten Clans. Ausgrabungen haben gezeigt, dass Kinder in bemalten Töpfergefäßen beerdigt wurden.
Jade-Kultur
Die Liangzhu-Jade-Kultur war die letzte jungsteinzeitliche Jade-Kultur im Yangzi-Delta und dauerte etwa 1300 Jahre. Die Jadekunst dieser Zeit prägen fein ausgearbeitete große Ritualgefäße wie etwa Cong-Röhren, Bi-Scheiben, Yue-Äxte sowie Anhänger und Amulette in Form von fein ziselierten Vögeln, Schildkröten oder Fischen. Die Liangzhu-Jade zeichnet sich durch ihre milchig weiße Farbe aus, die auf ihren tremolitischen Ursprung zurückzuführen ist.
Bronzekunst
Die Bronzezeit begann in China mit der Shang-Dynastie, die für ihre detailfreudige Bronzekunst bekannt ist. Die Schmiede der Epoche arbeiteten gewöhnlich in Werkstätten außerhalb der Städte und stellten dort insbesondere Ritualgefäße sowie Wagenbeschläge her. Die Bronzegefäße dienten der Aufnahme verschiedener Flüssigkeiten, die bei religiösen Zeremonien verwendet wurden. Hübsch anzusehen sind die Ku- und Jue-Gefäße, am eindrucksvollsten erscheint aber das Ding, ein dreifüßiger Krug.
Auf Gefäßen der Shang-Zeit wurde typischerweise die gesamte verfügbare Oberfläche mit Dekor versehen, häufig mit stilisierten Formen real existierender wie imaginärer Tiere. Das verbreitetste Motiv ist das Taotie, ein flächig-symmetrisch dargestelltes Fabelwesen. Nach einer Interpretation soll es sich dabei um einen lüsternen Mann handeln, der zur Strafe dazu verdammt worden ist, eine der vier Himmelsecken gegen bösartige Ungeheuer zu verteidigen. Nach anderer Auffassung ist Taotie ein Monster, das nur aus einem Kopf besteht und daher bei seinen Versuchen, Menschen zu verschlingen, sich nur selbst verletzt.
Beim Übergang von der Shang- zur Zhou-Dynastie wandelten sich allmählich Form und Funktion der Bronzen. Sie dienten nunmehr in stärkerem Maße weltlichen Zwecken. In der Zeit der Streitenden Reiche wurden die Bronze-Gefäße sogar zum Objekt ästhetischen Genusses: Häufig traten nun Bankett- und Jagdszenen auf, während andere abstrakte Muster mit Gold- und Silbereinlagen sowie kostbaren Edelsteinen aufwiesen. Auch wurden verstärkt polierte Bronzespiegel hergestellt.
Große Wertschätzung erfuhren die Bronzen der Shang-Zeit später in der Song-Dynastie. Sie beruhte nicht nur auf ihr Form und Gestaltung, sondern auch auf der grünen, blauen und manchmal sogar rötlichen Patina, die sie aufgrund chemischer Prozesse angesetzt hatten, solange sie vergraben waren. Die Beschäftigung mit der frühen chinesischen Bronzekunst ist ein Spezialgebiet der Kunstgeschichte.
Frühe chinesische Musik
Die Ursprünge der chinesischen Musik und Dichtkunst dürften im Buch der Lieder (詩經 Shījīng) liegen. Das zwischen 1000 und 600 v. Chr. verfasste Werk enthält Volksweisen, religiöse Weihegesänge und Staatshymnen, aber auch Minne-, Kriegs-, Fasten- und Klagelieder aller Art. Insbesondere die Liebeslieder bestechen durch die Frische und Unschuld ihrer Sprache.
Die frühe chinesische Musik basierte vor allem auf Schlaginstrumenten wie der Bronzeglocke, die von außen mit einem Rammstößel zum Klingen gebracht wurde; oft wurden ganze Reihen von Glocken in hölzernen Gestellen aufgehängt. Im Inneren von Glocken wurden Kratz- und Schleifspuren gefunden, die vermutlich auf das „Stimmen“ der Glocke zurückzuführen sind. In der Zeit der Streitenden Reiche wurden die Schlaginstrumente allmählich durch Streich- und Blasinstrumente (Rohrflöten) abgelöst.
Bezeichnenderweise wird das zweite Schriftzeichen des Wortes Musik (音乐; yīnyuè) genauso geschrieben wie Freude (快乐; kuàilè). Konfuzius (孔子; Kǒng Zǐ; 551–479 v. Chr.) und seine Schüler räumten der Musik großen Stellenwert ein, da sie ihrer Ansicht nach die Macht hatte, die Menschen friedfertig und ausgeglichen zu stimmen, aber auch umgekehrt mutlos und streitsüchtig. Nach Xúnzǐ (荀子; 298–220 v. Chr.) war die Musik ebenso wichtig wie das Lǐ (礼; „Sitte“), ein zentraler Begriff des Konfuzianismus. Mòzǐ (墨子; Ende 5. Jahrhundert v. Chr.), ein Gegenspieler des Konfuzianismus, betrachtete Musik indes als rein ästhetische Kategorie und damit als nutzlose Zeitverschwendung.
Frühe Dichtkunst
Zum berühmten Buch der Lieder (詩經; Shījīng) trat später die Sammlung Gesänge aus Chu (楚辭; Chǔcí), die vorwiegend aus dem halblegendären Qū Yuán (屈原; 340–278 v. Chr.) und seinem Nachfolger Sòng Yù (宋玉; 4. Jahrhundert v. Chr.) zugeschriebenen Werken besteht. Die Lieder dieser Sammlung sind in einem lyrischeren und romantischeren Ton gehalten und stehen damit gegenüber dem Shījīng für eine andere Überlieferung für eine andere Tradition klassisch-chinesischer Dichtkunst.
Chu und die Kultur des Südens
Eine reichhaltige Quelle frühchinesischer Kunst war der im Yangzi-Tal gelegene Staat Chu. Ausgrabungen in Chu-Gräbern haben gemalte Holzplastiken zu Tage gebracht, weiter Jadescheiben, Glasperlen, Musikinstrumente sowie eine reichhaltige Sammlung von Lackwaren. Häufig sind die Lackgegenstände fein bemalt, entweder Rot auf Schwarz oder umgekehrt. In Changsha (Provinz Hunan) wurde die älteste Seidenmalerei der Welt gefunden; sie zeigt eine Frau in Gesellschaft eines Phönix und eines Drachen, zwei in der chinesischen Kunst sehr häufig vertretenen Fabelwesen.
Eine Auswahl der Chu-Dichtung hat auch in Form des bereits genannten Chǔcí überlebt. Häufig werden die Texte mit Schamanismus in Verbindung gebracht. Die Beschreibungen fantastischer Landschaften stellen Chinas erste Naturdichtung dar. Das längste Gedicht, „Im Griff der Sorge“ (Lisao), wurde vermutlich von der tragischen Figur des Qū Yuán als politische Allegorie geschrieben.
Weitere Beispiele für frühe chinesische Kunst
Qin-Dynastie (221 bis 207 v. Chr.)
Ungeachtet ihrer Kürze hat die weitgehend mit der Regierungszeit des ersten Kaisers Qin Shihuangdi identische Qin-Dynastie einen festen Platz in der chinesischen Kunstgeschichte. Grund dafür ist die weithin berühmte und zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Terrakotta-Armee im Mausoleum des Kaisers nahe Xi’an. Sie besteht aus mehr als 7000 lebensgroßen Krieger- und Pferdefiguren aus Terrakotta, die gemeinsam mit dem Shihuangdi begraben wurden. Die Originalkolorierung der bemalten Figuren war bei ihrer Ausgrabung noch sichtbar, ist mittlerweile aber durch den Einfluss der Luft verblasst, so dass die Figuren heute im reinen Terrakotta-Ton erscheinen. Die Figuren wurden in einer Vielzahl von Posen dargestellt: Stehende Infanteristen sind ebenso vertreten wie kniende Bogenschützen oder Wagenlenker, aber auch Generäle sind vorhanden. Die Gesichter und Frisuren wurden individuell gestaltet. Seit der Ausgrabung wurden zerbrochene Figuren per Hand wieder zusammengesetzt, was mit Hinblick auf die Masse an Scherben einen großen Zeitaufwand bedeutet. Daneben werden momentan kaum noch Soldaten ausgegraben, um den Verlust der Farbgebung zu verhindern, da noch keine ausreichende Lösung gefunden wurde. Bei Zusammentreffen mit Sauerstoff verbleicht die Farbe, die unter der Erde schon mehrere Jahrhunderte überdauerte.
Musik
In die Qin-Zeit fällt die Gründung des Kaiserlichen Musikamts.
Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.)
Bildende Kunst
Die heute noch erhaltenen Kunstwerke aus der Han-Zeit wurden größtenteils in den im Lauf des 20. Jahrhunderts freigelegten Gräbern entdeckt. Vorgefunden wurden dort vor allem als Grabbeigaben gedachte Artefakte aus Ton und Keramik. Berühmtheit erlangten insbesondere etwa die meist mehrstöckigen Miniaturhäuschen nebst Balkonen sowie die in ähnlichem Stil gefertigten Schiffe und Wagengespanne. Auch stieß man in den Gräbern auf Skulpturen, Seidenbilder, kunstvoll gearbeitete Bronzespiegel und Duftrauchbrenner.
Großes Interesse zogen aber auch die je nach geografischer Lage des Grabs stark differierenden Wandverkleidungen auf sich. Während man sich etwa in der Mandschurei mit massenhaft und daher relativ billig herzustellenden geprägten Lehmziegeln begnügte, wiesen die Steinreliefs der Kaufmannsgräber von Shanxi anspruchsvolle Ornamental- und Tierdarstellungen auf. Aber auch sie reichen nicht an die 1947 in Sichuan entdeckten Ziegel mit ihren detaillierten und künstlerisch anspruchsvollen Landschaftsszenerien heran.
Literatur
Während der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220) entwickelte sich die Chu-Lyrik zum Fu (賦) fort, einem häufig dialogisch aufgebauten, gewöhnlich gereimtem Gedicht. Aus diesem wiederum ging schließlich das Yuefu (乐府) hervor, ein im volkstümlichen Stil gehaltenes Gedicht. Der Begriff bedeutet wörtlich „Musikamt“ – ein Verweis darauf, dass das Schreiben und Sammeln von Lyrik ursprünglich die Aufgabe staatlicher Behörden war. Eine einheitliche Zeilenlänge besteht nicht, doch sind fünf Schriftzeichen pro Zeile Standard. Jedes Gedicht folgt einem der definierten, zum Titel passenden Lautmuster. Der Begriff Yuefu deckt nicht nur ursprüngliche Volksweisen ab, sondern auch deren bei Hof erarbeitete Nachahmungen sowie Fassungen berühmter Dichter.
Die Prosaliteratur der Han-Zeit befasst sich vorwiegend mit praktischen Themen. Erhalten sind etwa politische Schriften, Throneingaben und Briefe. Erwähnenswert ist auch das Shiji (史記 Shĭ Jì „Aufzeichnungen eines Großhistorikers“) des Sīmǎ Qiān (司馬遷; 145–90 v. Chr.), das auch heute noch nicht nur als historische Quelle geschätzt wird, sondern auch als Beispiel für vollendeten Stil.
Architektur
Grundlegende Architekturprinzipien Chinas gehen auf die frühe Kaiserzeit zurück, insbesondere die Hallenbauten. Mit der Reichseinigung setzt sich auf höfischer Ebene eine Prunkarchitektur durch, deren Anspruch imperiale Größe darstellen soll. Ihren Ursprung findet dies in den zahlreichen Palastbauten des Ersten Kaisers, dessen legendärer Epang-Palast zum Mythos kaiserlicher Architektur wurde. Die Han-Kaiser führten dieses Prinzip fort und setzten mit dem Weiyang-Palast neue künstlerische Maßstäbe.
In dieser frühen Form ist der Kaiserpalast noch stark undifferenziert, das heißt, dass nicht streng unterschieden wird zwischen Wohnbereichen, Repräsentationsbauten, Sakralarchitektur, Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäuden sowie Lagerhäusern. Alle diese Bereiche gehen ineinander über und bilden einen relativ großen Palastkomplex. Im Laufe der dynastischen Abfolge lässt sich von diesem Punkt an eine stete Evolution der Palastarchitektur beobachten, in deren Folge sich eine immer strengere Abtrennung der besagten Bereiche einstellt. Ihren Höhepunkt findet die Palastarchitektur in der Mingzeitlichen Verbotenen Stadt, mit einer konsequenten „Ineinanderschachtelung“ der Aufgabenbereiche, mit den Privatgemächern des Kaisers im Zentrum der Hauptstadt Peking.
Bei den Stadtbewohnern der Han-Zeit lassen sich mehrgeschossige, turmartige Häuser finden. Eine Übereinanderschichtung von Geschossen, deren Struktur unübersehbar derjenigen der Hallenbauten entspricht, wobei die einzelnen Stockwerke jeweils durch eigene Dächer betont werden. In dieser Epoche werden die Dächer zunehmend zum herausragenden Schmuckelement. Bis zur Song-Zeit entwickelt sich dieser (bei allen Bautypen zu beobachtende) Trend zu überladenen Dachkonstruktionen, deren vier Ecken sich immer weiter nach oben richten, um die wuchtige Architektur optisch zu kompensieren und um so Leichtigkeit vorzutäuschen.
Musik
Han-Kaiser Wudi baute das in der Qin-Zeit gegründete Kaiserliche Musikamt erheblich aus und beauftragte seine Beamten mit der Überwachung der Hof- wie Militärmusik sowie der offiziellen Anerkennung volkstümlichen Liedguts.
Sonstiges
Die Han-Dynastie war unter anderem auch für ihre aus winzigen Jadeplättchen gefertigten Beerdigungs-Anzüge bekannt. Ein berühmtes Exemplar befindet sich im Provinzmuseum in Wuhan. Zwei weitere hervorragende, vollständig erhaltene Exemplare besitzt das Museum in Xuzhou.
Weitere Beispiele für die Kunst der Han-Zeit
Zeit der Drei Reiche und Jin-Dynastie (von 220 bis 581)
Einfluss des Buddhismus
Der Buddhismus gelangte im 1. Jahrhundert nach China, wenn auch nach der Überlieferung bereits zu Lebzeiten König Ashokas ein Mönch das Reich der Mitte aufgesucht haben soll. Bis zum 8. Jahrhundert entfaltete er erhebliche Wirksamkeit im Bereich der Kunst, insbesondere auf dem Gebiet der religiösen Großplastik. Sehr bald nahm die buddhistische Kunst aber auch autochthon-chinesische Züge auf. Die Yungang-Grotten, die Mogao-Grotten und die Longmen-Grotten bieten ein reichhaltiges Zeugnis der buddhistischen Kunst in China.
Literatur
Zu den großen Dichtergestalten der Epoche gehören Fürst Cáo Cāo (曹操; 155–220) und seine Söhne Cáo Pī (曹丕; 187–226) und Cáo Zhí (曹植; 192–232). Cáo Pī ist insbesondere als Verfasser des ersten klassisch-chinesischen Gedichts mit sieben Schriftzeichen pro Zeile (七言詩 Qīyánshī) bekannt geworden, dem Schwalbenlied (燕歌行 Yàngēxíng).
Cáo Zhí ließ sein Genie bereits in frühen Jahren erkennen und galt lange als aussichtsreicher Kandidat für die Thronfolge. Letztlich stellte er sein Talent aber, ermutigt von hohen Beamten seines Vaters, in den Dienst von Literatur und Dichtkunst. Später umgab er sich mit Poeten und literarisch interessierten Beamten, die freilich oft genug Cáo Zhí und seine Familie in den Schatten stellten.
Großen Einfluss auf die chinesische Lyrik sollte Táo Yuānmíngs (陶淵明; 372–427) Werk haben. Er pries häufig in idealisierender Weise die Freuden des idyllischen Landlebens und des Weins. 120 seiner Gedichte sind erhalten.
Kalligraphie
In den Hofkreisen des alten China galten Malerei und Kalligraphie als die am höchsten geschätzten Künste. Ausgeübt wurden sie vor allem von Amateuren, Adeligen und Gelehrten-Beamten, die allein über die für eine Vervollkommnung ihrer Pinseltechnik erforderliche Muße verfügten. Kalligraphie galt als reinste und höchste Ausdrucksform der Malerei. Gemalt wurde mit einem aus Tierhaaren bestehenden Bürstenpinsel und einer auf der Basis von Ruß und Tierleim hergestellten Tusche ursprünglich auf Seide, nach Erfindung des Papiers im 1. Jahrhundert auch auf dieses neuartige und billigere Material.
Originalwerke berühmter Kalligraphen wurden in China zu allen Zeiten hochgeschätzt, auf Rollen gezogen und bisweilen in der Art von Gemälden an die Wand gehängt.
Zu den renommiertesten Vertretern der Kunst zählt Wáng Xīzhī (王羲之; 307–365), der im 4. Jahrhundert lebte und vor allem durch sein Werk Orchideenpavillon (蘭亭序; Lántíng Xù) bekannt geworden ist. Es handelt sich hierbei um das Vorwort zu einer Gedicht-Anthologie mehrerer Poeten, die sich in Lan Ting nahe der Stadt Shaoxing (Provinz Zhejiang) zu versammeln und ein Spiel namens „qushui liushang“ zu spielen pflegten.
Die Kalligraphin Wèi Shuò (卫铄; 272–349) aus der Östlichen Jin-Dynastie hat sich einerseits durch ein Regelwerk über die von ihr praktizierte Kunst einen Namen gemacht. Bekannte eigene Werke sind Inschrift über eine berühmte Konkubine (名姬帖 Míng Jī Tiè) und Die Inschrift von Wèishì Hénán (衛氏和南帖 Wèishì Hénán Tiè).
Malerei
Drei Grundlagenwerke über die Theorie der chinesischen Malerei stammen von Gù Kǎizhī (顾恺之; 344–405) aus Wuxi: Über die Malerei (画论 Huàlùn), Einführung in berühmte Gemälde der Wei- und der Jin-Dynastie (魏晋胜流画赞 Wèijìnshèngliúhuàzàn) und Beim Malen des Yuntai-Bergs (画云台山记 Huàyúntáishānjì). Seiner Auffassung nach kommt es beim Malen von Personen weniger auf die Kleidung oder Gesamterscheinung an; ausschlaggebend für den Geist eines Bildes seien vielmehr die sorgfältige Darstellung der Augen.
Von Gus Gemälden sind heute nur noch drei erhalten: Ermahnungen an die Hofdame, Die Nymphe vom Luo-Fluss (洛神赋 Lùoshénfù), und Weise und wohlwollende Frauen.
Weitere Beispiele für die Kunst der Drei Reiche und der Jin-Zeit
Sui- und Tang-Dynastie (581–960)
Buddhistische Großplastik
In Anknüpfung an eine bereits unter der Sui-Dynastie eingeleitete Tendenz entwickelte sich die buddhistische Großplastik auch unter der Tang-Dynastie zunehmend zu einem realistischeren und lebensnaheren Ausdruck hin. Infolge der Weltoffenheit des Tang-Reichs und insbesondere seines kulturellen Austausches mit dem indischen Kulturraum nahmen die buddhistischen Skulpturen der Tang-Zeit eine eher klassische, von der indischen Gupta-Kunst beeinflusste Form an.
Einen Einbruch erlebte die buddhistische Kunst gegen Ende der Tangzeit, als Kaiser Wuzong 845 alle ausländischen Religionen verbot, um den autochthonen Daoismus wieder in seine alte Position einzusetzen. Er konfiszierte buddhistisches Eigentum und zwang die Gläubigen in den Untergrund, worauf auch die Kunst weitgehend zum Erliegen kam.
Während die meisten Holzplastiken der Tangperiode die Verfolgungen nicht überlebt haben, ist von der Steinkunst erheblich mehr erhalten geblieben. Die großartigsten Skulpturen befinden sich in Longmen, südlich von Luoyang (Provinz Henan).
Tang-Keramik
Vor allem wird die Kunst der Tang-Zeit mit naturbelassenen oder farbig glasierten Keramik-Skulpturen assoziiert, die meist Pferde, Kamele und wütende Dämonen („Höllenwächter“) darstellen, aber auch Hofdamen und Musikanten. Die bisweilen erkennbar unchinesischen Gesichtszüge der Dargestellten sind über die kulturellen Einflüsse aus Westasien und Europa zu erklären, die insbesondere über den regen Handel über die Seidenstraße vermittelt wurden.
Bis in die Tang-Zeit reichen auch die Ursprünge des in China erfundenen und im Laufe spätere Dynastien immer mehr verfeinerten Porzellans zurück, das aus einer aus Kaolin und Feldspat bestehenden Paste gefertigt wird. Gegenüber herkömmlichen Töpferwaren stellt Porzellan seine Schöpfer schon wegen der Verarbeitungseigenschaften vor erheblich größere Herausforderungen. Berühmteste Fertigungsstätte ist das im Lauf der Geschichte mehrfach umbenannte Jingdezhen in der Provinz Jiangxi.
Beispiele für Tang-Keramik
Literatur
Lyrik
Eine Blütezeit erlebte in der Tang-Dynastie die lyrische Dichtung, insbesondere das ursprünglich aus dem Yuefu („Musikamtslied“) hervorgegangene Shi-Gedicht. Zu unterscheiden sind die formal freie traditionelle Form Gushi und das erheblich stärkeren Beschränkungen unterliegende Jintishi. Bekannte Shi-Dichter sind Bai Juyi (白居易; 772–846), Dù Mù (杜牧; 803–852), Hán Yù (韓愈; 768–824), Jiǎ Dǎo (賈島; 779–843), Lǐ Qiào (李峤; 644–713), Liǔ Zōngyuán (柳宗元; 773–819), Luò Bīnwáng (駱賓王; 640–684), Mèng Hàorán (孟浩然; 689–740), Wáng Wéi (王維; 701–761) und Zhāng Jiǔlíng (張九齡; 678–740).
Die bedeutendsten chinesischen Dichter nicht nur der Tang-Ära, sondern in der gesamten Literaturgeschichte, sind Lǐ Bái (李白; 701–762) und Dù Fǔ (杜甫; 712–770). Beide arbeiteten in einer Vielzahl traditioneller Formen. Während Li aber eher als Dichter weltflüchtiger Idyllen, der vom Daoismus beeinflussten Verklärung von Natur, Einsamkeit und Wein gilt, sind bei Du Fu die sozialkritischen Züge ausgeprägter. Li Bais Gedicht „Gelage im Mondschein“ gilt im Westen vielfach als das chinesische Gedicht schlechthin und ist dementsprechend häufig in alle europäischen Kultursprachen übersetzt worden.
Als schwer übersetzbar gelten die stark verdichteten, doch gefühlvollen und anspielungsreichen, eine Vielzahl politischer und philosophischer Implikationen enthaltenden Gedichte des Lǐ Shāngyǐn (李商隱; 810–858).
Als Dichter ist auch der letzte Herrscher des südlichen Tang-Reichs, Lǐ Hòuzhǔ (李後主; 936–978), hervorgetreten. Seine berühmtesten Gedichte entstanden nach seinem Sturz 975, als ihn die Song-Kaiser als Gefangenen nach Kaifeng gebracht hatten. Häufig handeln sie von der Trauer über die verlorene Herrschaft und wehmütigem Rückblick in bessere Zeiten. 978 wurde er vom Song-Kaiser vergiftet. Li ist auch die Weiterentwicklung der traditionell-volkstümlichen Ci-Lyrik zu verdanken; insbesondere öffnete er die Form für eine größere thematische Bandbreite und bezog neben Liebesliedern nunmehr auch historische und philosophische Gegenstände mit ein. Auch etablierte er die Zwei-Strophen-Form und arbeitete häufig mit dem Kontrast zwischen Neun-Zeichen-Zeilen und den kürzeren mit drei oder fünf Zeichen.
Novelle
Hochgeschätzt werden auch die Novellen der Tang-Zeit, die häufig einen phantastischen Einschlag aufweisen.
Sehr bekannt ist etwa Lǐ Gōngzuǒs (李公佐; um 800) Die Geschichte vom Gouverneur des Südbezirks (南柯太守傳; Nánkē tàishǒu chuán), in der der Erzähler in einem Traumerlebnis in einem Ameisenhaufen einen vollendeten Staat vorfindet. In Fräulein Ren (任氏傳 Rènshì Chuán) von Shěn Jìjì (沈既濟; um 740–800) aus dem Jahre 781 wird von der Begegnung eines jungen Mannes mit einem weiblichen Fuchsgeist berichtet. Als Beispiel für eine historische Novelle sei Dou Guantings „Der Alte mit dem lockigen Bart“ genannt, als Beispiel für eine Liebesgeschichte Das Leben des Fräulein Li (李娃傳; Lǐ Wá Chuán). Daneben existieren umfangreiche Novellensammlungen.
Malerei
Seit der Tang-Dynastie (618–907) waren Landschaften das zentrale Motiv der chinesischen Malerei; man sprach insofern vom Shanshui, der „Berg-Wasser“-Malerei. Zweck dieser meist monochromen Schöpfungen war weniger die naturalistische Darstellung als vielmehr, „Atmosphäre“ zu erzeugen und beim Betrachter Gefühle und insbesondere seinen Sinn für die Harmonie der Natur zu wecken.
Im Allgemeinen benutzte man dabei dieselbe Technik wie die Kalligraphen und malte mit in schwarze oder farbige Tusche getauchten Bürstenpinseln auf Seide oder Papier; der Gebrauch von Ölfarben war unbekannt. Die Bilder wurden in der Regel nicht so sehr an die Wand gehängt, sondern zusammengerollt in Möbeln verstaut und nur bei Bedarf hervorgeholt, um sie etwa als besonders kunstsinnig geschätzten Gästen zu zeigen.
Am Kaiserhof tat sich besonders Yán Lìběn (閻立本; 600–673) hervor, der als Beamter ebenfalls Hofmaler des Tang-Kaisers Taizong war. Mit seinem Werk Die dreizehn Kaiser, worin bekannte Herrscher von der Han- bis zur Sui-Zeit dargestellt sind, schuf er die ältesten bekannten Kaiserporträts.
Vom Sui-Maler Zhǎn Zǐqián (展子虔; um 600) ist nur noch ein Werk erhalten, Müßiggang im Frühling, in dem die Berge erstmals perspektivisch dargestellt werden. Es gilt als erste szenische Landschaftsmalerei in der ostasiatischen Kunst.
Dŏng Yuán (董源; 934–962), eigentlich ein Maler der Übergangszeit von der Tang- zur Song-Dynastie, war sowohl für seine Porträts als auch für Landschaftsdarstellungen bekannt und trug maßgeblich zu dem eleganten Stil bei, der für die nächsten 900 Jahre zum Standard der chinesischen Malerei werden sollte. Wie viele chinesische Künstler wurde er im offiziellen Auftrag tätig. Er studierte insbesondere den Stil von Lì Sīxùn (利思訓; 651–716) und Wáng Wéi (王維; 701–761) und bereicherte die Malerei um zahlreiche Techniken wie etwa die Verfeinerung der Perspektive, pointilistische Ansätze wie auch Kreuzschraffur zur Erzielung plastischeren Eindrucks.
Beispiele für die Malerei der Sui- und Tang-Zeit
Holzschnitt
In der Zeit der Sui-Dynastie werden auch die Anfänge der chinesischen Holzschnitt-Kunst vermutet. Hiermit pflegte man insbesondere religiöse Werke zu illustrieren. Als ältester noch erhaltener Holzschnitt gilt das 1907 in Dunhuang entdeckte Titelbild des Sutra Vajracchedikâ Prajna Paramitâ, das auf das Jahr 868 datiert wird.
Musik
Die während der Tang-Zeit zu verzeichnenden Einflüsse aus dem Ausland betrafen auch die Musik: Insbesondere aus Mittelasien wurden etwa diverse neue Musikinstrumente übernommen, insbesondere Lauten, Zithern und Fiedeln. Die bereits seit der Han-Dynastie bekannte Qin erlebte eine Blüte. Auch erfolgte ein reger Austausch von Musikern. In der Tang-Zeit emanzipierte sich auch die Säkularmusik endgültig von den religiös-kultischen Wurzeln und erlangte eigenständige Bedeutung.
Weitere Beispiele für die Kunst der Sui- und Tang-Zeit
Song-Dynastie (960–1279)
Literatur
Die Blüte der Lyrik in der Tang-Dynastie setzte sich in der Song-Zeit zwar fort, doch wurde großteils an die Vorbilder der verflossenen Ära angeknüpft. Deutlich machen dies bereits die Dichterschulen:
Bái Jūyì-Schule, wichtigster Vertreter Wáng Yǔchēng (王禹偁; 954–1001), einfacher Stil, bisweilen sozialkritische Themen
Xikun-Schule, ahmt Lǐ Shāngyǐn nach, wichtigster Vertreter Yáng Yì (揚億; 974–1020), blumiger Stil
Changli-Schule, ahmt Hán Yù nach; bekanntester Vertreter Ōuyáng Xiū (歐陽修; 1007–1072)
Jiangxi-Schule, wichtigster Vertreter Huáng Tíngjiān (黄庭堅; 1045–1105), u. a. stimmungsvolle Naturlyrik
Überragende Dichtergestalt der Song-Zeit war indes der bereits zu Lebzeiten berühmte Sū Dōngpō (蘇東坡; 1037–1101), der auf nahezu allen Feldern klassisch-chinesischer Poesie tätig war und insbesondere durch sein Ode von der Fahrt zur Roten Wand (前赤壁賦 Qián Qìbì Fù) bekannt wurde.
Einen Aufschwung erlebte auch die volksliedhafte Ci-Lyrik. Als Vertreter dieser Gedichtsform sind unter anderen Sū Dōngpō, Lǐ Qīngzhào (李清照; 1084–1151) und Xīn Qìjí (辛棄疾; 1140–1207) zu nennen. In Mode kamen in der Song-Zeit ferner die meist in Sammlungen herausgegebenen sogenannten Pinselnotizen. Anekdoten, Tagebücher, Reiseberichte finden sich darunter, aber auch Abenteuer- und Geistergeschichten, Witze, Rätsel und Kleinprosa jeglicher Art. Ältestes Werk dieser Art sind die Pinselnotizen des Song Jingwen (宋景文共笔记 Sòng Jǐngwén Gòng Bǐjì) des Sòng Qí (宋祁; 998–1061). Ihren Ursprung in der Song-Zeit haben schließlich die Urformen der späteren Romane Geschichte der drei Reiche und Die Reise nach dem Westen. Auch Theateraufführungen sind dokumentiert, die sich in den späteren Epochen zu den heutigen chinesischen Opern in ihren jeweiligen regionalen Prägungen weiterentwickelten.
Malerei
Einen Höhepunkt erreichte in der Song-Dynastie vor allem die chinesische Malerei. Die Landschaftsbilder etwa gewannen in dieser Zeit einen subtileren Ausdruck. So wurde beispielsweise die Unermesslichkeit von räumlichen Entfernungen durch verschwommene Umrisse, im Nebel verschwindende Bergsilhouetten oder eine geradezu impressionistische Behandlung von Naturphänomen angedeutet. Eine eher „gezähmte“ und vom kunstsinnigen Menschen „genossene“ Natur steht indes in den späteren Werken der südlichen Song-Dynastie im Vordergrund. Berühmte Landschaftsmaler der Epoche waren Lǐ Táng (李唐; 1047–1127), Guō Xī (郭熙; 960–1127), Mǎ Yuǎn (馬遠; um 1155–1235; Auf einem Gebirgspfad im Frühling) sowie Xià Guī (夏珪; um 1180–1230).
Wie bereits in früheren Perioden werden auch in der Song-Malerei gerne Menschen in ehrfürchtiger Kontemplation vor der Natur gezeigt, verschwinden nunmehr aber nicht mehr notwendigerweise vor majestätisch-überwältigenden Landschaftskulissen, sondern nehmen durchaus zentrale Positionen ein. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa der anonyme Vornehme Gelehrte unter einer Weide, vor allem aber auch Mǎ Líns (馬麟; um 1180–1256) berühmtes Dem Wind in den Kiefern lauschend. Beachtung verdienen auch die farbigen Miniaturen in Chao Yens Acht Reiter im Frühling.
Ein zentraler Gegenstand der Song-Malerei waren auch Tier- und Pflanzendarstellungen. Große Bewunderung erfuhr etwa Cuī Báis (auch Ts’ui Po, 崔白, aktiv 1068–1077) stimmungsvolles Gemälde Hase und Eichelhäher, aber auch die Schöpfungen des künstlerisch veranlagten Kaisers Huīzōng (徽宗; 1082–1135), von dem unter anderem die Zwei Finken auf Bambusstengeln stammen. Weitere renommierte Tier- und Pflanzenmaler waren Mao I und Wen Tong (文同; 1018–1079). Eine andere Richtung der Song-Malerei nahm schließlich buddhistische Themen auf und stellte etwa gerne chan-buddhistische Adepten dar.
Bahnbrechend wirkte in der Song-Malerei schließlich die insbesondere auf Sū Dōngpō (蘇東坡; 1037–1101) zurückgehende, konfuzianisch, aber auch chan-buddhistisch beeinflusste und bisweilen erstaunlich modern wirkende Wen-Jen-Hua-Schule. Sie brach mit dem lange unbestrittenen Dogma, Malerei müsse möglichst naturgemäß ihr Objekt wiedergeben, und trat für freiere Ausdrucksformen ein. Exemplarisch kommt der Gedanke der Wen-Jen-Hua-Schule etwa in Liáng Kǎis (梁楷; 1127–1279) berühmtem Porträt von Lǐ Bái (李白; 701–762) zum Ausdruck. Weitere bedeutende Vertreter dieser Richtung sind Mǐ Fú (米芾; 1051–1107), Mǐ Yǒurén (auch Mi Yu-jen, 米友仁; 1086–1165), Mùqī (牧谿; zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) und Wáng Tíngyún (王庭筠; 1151–1202).
Beispiele für die Malerei der Song-Zeit
Lackkunst
Eine erste Blüte erreichte in der Song-Zeit die bereits seit der Shang-Dynastie bekannte Lacktechnik, die insbesondere auf Gefäßen zur Anwendung kam. Neben monochromen Arbeiten konnte sich auch die sogenannte Ritzlacktechnik etablieren. Nachdem man das Dekor in die oberste Lackschicht eingraviert hatte, wurden die Vertiefungen mit Gold und Silber ausgerieben, wodurch man besonders optische Effekte erreichte.
Tapeten
Ebenfalls einen Höhepunkt erlebte in der Song-Zeit die chinesische Tapete, die nunmehr fast ausschließlich aus mit Leinen verstärktem Bambuspapier gefertigt wurden. Beliebt waren einerseits florale Muster mit Pflanzen, Blumen, Vögeln und Insekten, aber auch Landschaftsszenen und Darstellungen aus dem Alltag der Menschen.
Weitere Beispiele für die Kunst der Song-Zeit
Yuan-Dynastie (1279–1368)
Musik/Drama
Die Chinesische Oper, eine in China sehr beliebte Form des Dramas, datiert bis in die Tang-Dynastie zurück, als Kaiser Xuanzong (712–755) den Birnengarten (梨园 líyuán) gründete, die erste bekannte Operntruppe in China, die hauptsächlich zu des Kaisers eigenem Amüsement aufzutreten pflegte. Auf sie geht die heute noch für Schauspieler gebräuchliche Bezeichnung „Schüler des Birnengartens“ (梨园子弟) zurück. In der Yuan-Dynastie (1279–1368) fanden Formen wie das Zájù (杂剧, eine Art Varieté) Eingang in die Oper, das auf bestimmten Reimschemen sowie der neu eingeführten spezialisierter Rollen wie Dàn (旦, weiblich), Shēng (生, männlich) und Chǒu (丑, eine Art Clown) basiert.
Die Oper der Yuan-Dynastie lebt heute als Kanton-Oper fort. Allgemein wird angenommen, dass diese aus Nordchina importiert wurde und bis Ende des 13. Jahrhunderts langsam bis in die südliche Provinz Guangdong wanderte. Im 12. Jahrhundert existierte eine Theaterform namens Narm hei (南戲), auch Nanxi („Südliche Oper“) genannt, die in den öffentlichen Theatern von Hangzhou aufgeführt wurde, der Hauptstadt der Südlichen Song. Nach dem Einfall der Mongolen floh Kaiser Gōng (恭帝) 1276 mit hunderttausenden von Song-Anhängern in die Provinz Guangdong. Darunter befanden sich auch Narm-hei-Künstler aus dem Norden, die so den Grundstein zur späteren Kanton-Oper legten.
Viele heute noch aufgeführte Opern wie Die Purpur-Haarnadel und Verjüngung der roten Pflaumenblüte haben ihren Ursprung in der Yuan-Dynastie, ihre Texte sind traditionell in Kantonesisch abgefasst. Bis zum 20. Jahrhundert wurden auch Frauenrollen traditionell von Männern gespielt.
Malerei
Das in ihren Augen zu „gefällige“, romantisierende Erbe der südlichen Song-Dynastie lehnten die Maler der Yuan-Zeit weitgehend ab. Angeknüpft wurde daher vielmehr an die nördlichen Song, vor allem aber an die ältere Tang-Kunst, von der man insbesondere die verbreitete „Grün-Blau-Manier“ übernahm. Die Tonabstufung der späten Song sind zugunsten kräftig-plakativer Farben verschwunden, Raum und Umwelt werden als Gestaltungsmittel kaum mehr eingesetzt. Im Vergleich zu ihren Vorbildern schmähte man die Yuan-Bilder von der Kunstgeschichte häufig als „zurückhaltend unterkühlt“, als „leidenschaftslos“.
Besonders geschätzt werden aus dieser Zeit insbesondere Huáng Gōngwàng (黄公望; 1269–1354), dessen Alterswerk In den Fuchun-Bergen verweilend als eines der einflussreichsten Bilder der chinesischen Kunstgeschichte gilt, sowie Ní Zàn (倪瓚; 1301–1374) wegen seines – nach chinesischer Auffassung im besten Sinne – „reizlosen“ Stils und der gewollt „dilettantischen“ Maltechnik, die den Literatenmaler von seinen professionellen Kollegen, der sozial wenig geachteten „Berufsmalern“ unterschied.
Weitere wichtige Vertreter der Yuan-Malerei waren Zhào Mèngfǔ (趙孟頫; 1254–1322), Qián Xuǎn (錢選; 1235–1305), Gāo Kègōng (高克恭; 1248–1310), Lǐ Kàn (1245–1320), Wú Zhèn (吳鎮; 1280–1354), Wáng Miǎn (王冕; 1287–1359) und Wáng Méng (王蒙; 1308–1385).
Weitere Beispiele für die Kunst der Yuan-Zeit
Ming-Dynastie (1368–1644)
Literatur
Während der Ming-Dynastie erlebte die klassischen chinesischen Romane ihre Blütezeit. Sie hat etwa die Geschichte der drei Reiche, Die Räuber vom Liang-Schan-Moor, das berühmte Jin Ping Mei und Die Reise nach Westen (西遊記 Xiyouji) hervorgebracht.
Einen Aufschwung erlebte aber auch die Kleinprosa, etwa in Form umfangreicher schrift- wie umgangssprachlicher Novellensammlungen. Zu nennen sind Qú Yòus (瞿佑 1341–1427) Jiangdeng xinhua (Neue Gespräche beim Putzen der Lampe), Féng Mènglóngs (馮夢龍; 1574–1645) Sanyan (Die drei Welten) von 1620–1627 oder Líng Méngchūs (凌濛初; 1580–1644) Paian Jingqi (Auf den Tisch schlagen vor Staunen über das Ungewöhnliche) von 1628/1632.
Als bedeutendster Poet der Ming-Zeit gilt Gao Qi, der in seinen Werken durch rigide Abkehr von der Tradition einen neuen Stil begründete. Ruhm als Essayist hat Zhang Dai errungen. Wen Zhenheng schließlich, ein Urenkel von Wen Zhengming, schrieb ein klassisches Werk über Gartenarchitektur und Inneneinrichtung (Über überflüssige Dinge).
Malerei
Unter der Protektion der Ming-Kaiser erlebte die chinesische Malerei eine neue Blüte. Im Kaiserpalast wurde eigens eine Akademie für Malerei gegründet und einige Kaiser taten sich als begabte Maler hervor, allen voran Kaiser Xuande (宣德; 1399–1435). Populär wurden insbesondere „erzählende“, farbenprächtige Gemälde von figurenreicher Komposition.
Es etablierten sich zwei Schulen: Eine davon, die vorwiegend aus berufsmäßigen Hofmalern bestehende Zhe-Schule, knüpfte an die Tradition der Akademien der südlichen Song-Dynastie an und belebte insbesondere den Stil Mǎ Yuǎns. Wichtigster Vertreter der Zhe-Schule ist Dài Jìn (戴進; 1388–1462). Die gegen Ende des 15. Jahrhunderts in der Gegend um Suzhou entstandene Wu-Schule bestand indes aus – sozial höher angesehenen – Amateuren, meist finanziell unabhängigen Gelehrten. Zu den bedeutendsten Vertretern gehören Shěn Zhōu (沈周; 1427–1509), Wén Zhēngmíng (文徵明; 1470–1559), Táng Yín (唐寅; 1470–1523) sowie Qiú Yīng (仇英; 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts). Die Wu-Schule setzte die Landschaftsmalerei der nördlichen Song sowie die Tradition der Yuan-Dynastie fort und knüpfte insbesondere an die Kunst Ni Zans an.
Gegen Ende der Dynastie traten überdies Theoretiker auf wie insbesondere Dǒng Qíchāng (董其昌; 1555–1636), auf den die Einteilung der chinesischen Malerei in eine Nord- und eine Südschule zurückgeht.
Mit der Fortentwicklung des Farbdrucks wurden zunehmend auch illustrierte Handbücher über die Malkunst veröffentlicht. Das 1679 erschienene fünfbändige Jièzǐyuán huàzhuàn (芥子园画传; Handbuch des Senfkorngartens) gilt heute noch bei Künstlern wie Studenten als unentbehrliches Grundlagenwerk.
Beispiele für die Malerei der Ming-Zeit
Holzschnitt
Einen Aufschwung erlebte der bereits in der Sui-Dynastie entwickelte Holzschnitt. Insbesondere wurde auch ein polychromer Farbholzschnitt angewandt und diente der Illustration von historischen und belletristischen Werken (Das Westzimmer, Druck von Min Qiji, 1640) sowie Mal-Lehrbüchern (Bildersammlung der Zehnbambushalle, Hu Chengyen, 1622).
Porzellan
Bereits in der Yuan-Dynastie hatte sich das in China damals schon seit Jahrhunderten bekannte Porzellan gegenüber anderen Keramik-Arten wie insbesondere dem Seladon eine Sonderstellung verschafft. In der Ming-Zeit indes erreichte die chinesische Porzellankunst einen ersten Höhepunkt. Es etablierte sich der sogenannte Blau-Weiß-Stil; die blaue Farbe wurde dabei aus Cobaltaluminat (CoAl2O4) gewonnen. Der Stil erfreute sich unter der Ming-Dynastie großer Beliebtheit; insbesondere die geradezu sprichwörtlich gewordene „Mingvase“ prägt die europäische Vorstellung von chinesischer Porzellankunst in besonderem Maße. Seinen spezifischen Glanz erhielt das Porzellan durch die über der Bemalung aufgetragenen Schlussglasur.
Neben floral-ornamentalen Motiven herrschten insbesondere Tierdarstellungen vor. Ab dem frühen 15. Jahrhundert legte man immer größeren Wert auf eine Gliederung in ein Zentralmotiv und periphere Ornamentbänder und -friese. Mitte des 16. Jahrhunderts etablierten sich neben dem klassischen Dekorschatz schließlich auch Landschaftsmotive, Szenen aus dem Hofleben und der daoistische Geisteswelt sowie Darstellungen aus Werken der klassischen Literatur.
Die Herstellungstechniken wurden fortwährend verfeinert, erstmals kam auch vielfarbiges Dekor auf. In Jingdezhen, bereits seit der Tang-Zeit „Hauptstadt“ des chinesischen Porzellans, entstanden zahlreiche neue Manufakturen. Erstmals wurde auch Porzellan auf portugiesischen Schiffen nach Europa exportiert, wo es an den Fürstenhöfen reißenden Absatz fand.
Beispiele für Ming-Porzellan
Lackkunst
Ein hohes Niveau erreicht in der Ming-Zeit auch die chinesische Lackkunst. Der Ritzlack der Song-Dynastie wurde zunehmend durch den sogenannten Schnitzlack verdrängt. Aus dem in mehreren Schichten insbesondere auf Gefäßen aufgetragenen Lack wurden geometrische, florale oder ornamentale Muster geschnitten. Bisweilen entstanden auch anspruchsvollere szenische Darstellungen. Farblich dominierten rote und schwarze Lacke; besondere Effekte erreichte man durch die Kombination beider Farben in den verschiedenen Schichten.
Weitere Beispiele für die Kunst der Ming-Zeit
Qing-Dynastie (1644–1911)
Literatur
Die Qing-Dynastie hat zahlreiche bedeutende Prosawerke hervorgebracht. Verbreitung fand insbesondere der klassische chinesische Roman. Der berühmteste Vertreter dieser Gattung, Der Traum der Roten Kammer (红楼梦 Hóng Lóu Mèng) von Cáo Xuěqín (曹雪芹; 1719–1763), entstand Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine Satire auf das Beamten- und Prüfungswesen der Epoche stellt Wu Jingzis Roman Die inoffizielle Geschichte des Gelehrtenwalds von 1749 dar.
Als Erzähler der kleinen Prosa-Form trat insbesondere Pú Sōnglíng (蒲松齡; 1640–1715) mit seiner berühmten Sammlung Seltsame Geschichten aus einem Gelehrtenzimmer (聊齋誌異 Liáozhāi zhìyì) hervor.
Yuan Mei schuf den größten Teil seiner zahlreichen Gedichte, Essays und Gemälde in den letzten zehn Lebensjahren. Sein Werk spiegelt Yuans Interesse für den Zen-Buddhismus und das Übernatürliche wider. Berühmt wurde er vor allem für seine als „ungewöhnlich klaren und stilistisch eleganten“ gepriesenen Gedichte. In seinem theoretischen Werk über die Dichtkunst, der Suíyuán shīhuà (隨園詩話), betonte er die Bedeutung des persönlichen Gefühls wie auch der technischen Perfektion.
Daneben bemühte sich Kaiser Qianlong auch um eine Sammlung und Katalogisierung des vorhandenen literarischen Erbes in Form der Vollständigen Bibliothek der Vier Schätze.
Musik
Die zweifellos berühmteste chinesische Opernform ist die Peking-Oper. Wenn sie ihre heutige Form auch erst im 19. Jahrhundert erhielt, war sie bereits in der Qing-Zeit ausgesprochen populär. Die meist sehr anspielungsreiche Handlung lebt von ihr streng choreographierten Mimik und Gestik. Für die rhythmische Begleitung sorgen traditionelle chinesische Streich- und Schlaginstrumente.
Ungeachtet ihres Namens hat die Peking-Oper ihre Ursprünge vielmehr in den lokalen Operntraditionen insbesondere der Provinzen Anhui und Hubei, denen nicht nur zwei beliebte Hauptmelodien entstammen (Xipi und Erhuang), sondern auch die in der Peking-Oper verwendete altertümliche Sprache. Einflüsse lassen sich aber auch von Seiten der Qinqiang-Musik nachweisen. Als Geburtsstunde der Peking-Oper gilt eine Darbietung von aus Anhui stammenden Theatertruppen anlässlich des 60. Geburtstags von Kaiser Qianlong 1790. Ein gemeinsamer Auftritt mit Schauspielern aus Hubei im Jahre 1828 brachte die Peking-Oper in die im Wesentlichen heute noch gültige Form.
Malerei
Zu Beginn der Qing-Dynastie hatten sich endgültig die Literatenmaler durchgesetzt; die Berufsmaler spielten demgegenüber kaum mehr eine Rolle. Zu unterscheiden sind im Wesentlichen drei Schulen: Die eher traditionellen Vorbildern verpflichtete sogenannte orthodoxe Schule baute ihre Bilder sorgsam Linie für Linie und Ton für Ton auf, man vermied sicherere, ungebrochene Linien und einfache Flächen. Auch auf technische Kunstgriffe und die Erzielung besonderer Effekte wurde weitgehend verzichtet.
Einen freieren Stil praktizierte indes die individualistische Schule. Ihre Vertreter arbeiteten häufig mit aufgelösten, körperlosen Formen sowie Licht-und-Schatten-Effekten und schufen so unter anderem sehr stimmungsvolle, beseelte Landschaftsbilder. Durch geradezu bizarre Mal- und Lebensweise fielen schließlich die später hinzugekommenen sogenannten Acht Exzentriker von Yangzhou auf. Gāo Qípeì (高其佩; 1660–1734) etwa pflegte seine Bilder mit Händen, Fingern und Nägeln zu malen. Als Sonderfall kommt schließlich noch die Malerei der europäischen Jesuiten-Missionare am Qing-Hof dazu.
Berühmte Vertreter der Qing-Malerei sind Wáng Shímǐn (王時敏; 1592–1680), Zhū Dā (朱耷; 1625–1705), Wú Lì (吴历; 1632–1718), Shí Tāo (石濤; auch Daoji; 1642–1707), Wáng Huī (王翬; 1632–1717) und Luó Pìn (羅聘; 1733–1799). Wichtigster europäischer Maler in China war Giuseppe Castiglione. Mit Zhōu Shūxǐ (周淑禧; 1624–1705) erlangte auch eine Frau als Künstlerin Bekanntheit.
Beispiele für die Malerei der Qing-Zeit
Porzellan
Die in der Mingzeit zur Blüte gelangte Porzellankunst wurde unter den Qing weiterentwickelt. Das ehemals dominante ornamental geprägte Blau-Weiß-Design wurde zusehends von farbigem Dekor mit detaillierten, figurenreichen Darstellungen verdrängt. Beliebt waren etwa Szenen bei Hof wie auf dem Lande, Darstellungen aus klassischen Romanen oder mythologische Szenen. Zu unterscheiden sind insbesondere die nach ihren vorherrschenden Farben benannten Grüne Familie und Rosa Familie. Daneben gab es als Kontrast das rein weiße, häufig zu Skulpturen verarbeitete Dehua-Porzellan, das in Europa gerne „Blanc de Chine“ genannt wird. Seine intensiv leuchtende Farbe erhielt es durch den Zusatz von besonders viel Feldspat.
Ein Höhepunkt erreichte die Qing-Porzellankunst unter den Kaisern Kangxi, Yongzheng und Qianlong, die die Ware insbesondere in großem Stil nach Europa exportierten. Ein gewisser Rückgang war insofern zu verzeichnen, nachdem 1709 am Hofe Augusts des Starken zu Dresden erstmals die Herstellung von Porzellan gelungen war.
Beispiele für Qing-Porzellan
Lackkunst
Mit Lack überzog man in der Qing-Dynastie nicht mehr nur Gefäße, Schatullen und dergleichen, sondern nunmehr auch Möbel und vor allem Wandschirme.
Erstmals kam auch die sogenannte Koromandeltechnik auf: Auf farbig bemalten Untergrund wurden zunächst mehrere Lackschichten aufgetragen. Nach der vollständigen Trocknung schnitt man filigrane Muster in den Lack, so dass die – oft nur durch haarfeine Stege getrennten – farbigen Flächen darunter wieder teilweise sichtbar wurden. Auf diese Weise entstanden teilweise ausgesprochen anspruchsvolle Arbeiten. Im Linden-Museum in Stuttgart etwa ist ein Wandschirm zu sehen, der detailreich vom Leben und Wirken der daoistischen Unsterblichen erzählt.
Großer Beliebtheit erfreute sich auch die Perlmutt-Lackkunst, bei der in den Lack filigrane Muster und Figuren aus Perlmutt eingearbeitet wurden. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der prächtige Reisethron Kaiser Kangxis im Museum für Ostasiatische Kunst in Berlin.
Weitere Beispiele für die Kunst der Qing-Zeit
Moderne
Literatur
Insbesondere aufgrund europäischer Einflüsse erfuhr die chinesische Literatur nach dem Sturz der Monarchie erhebliche neue Impulse. Meilensteine setzten insofern das Manifest des Hu Shi von 1916 sowie die Vierter-Mai-Bewegung, die sich beide die Überwindung des traditionell-Konfuzianischen und eine Modernisierung der chinesischen Kultur auf die Fahnen geschrieben hatten.
Prosa
Als Begründer der modernen chinesischen Prosa gilt der Arzt Lǔ Xùn (鲁迅; 1881–1936). Nach dem Untergang der maroden Qing-Dynastie trat er in seinen Erzählungen und Essays für eine geistige Neuausrichtung des chinesischen Volkes und die Überwindung traditioneller Bevormundungen ein. Obwohl ihn seine Schriften in den 1930er Jahren häufig in Konflikt mit den Kommunisten brachten, wurde er nach seinem Tod von der nunmehr an die Macht gekommenen Kommunistischen Partei Chinas für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Der Mandschure Láo Shě (老舍; 1899–1966) ist vor allem durch seinen Roman Rikschakuli (駱駝祥子 Luòtuo Xiángzi) und das Drama Das Teehaus (茶館 Cháguǎn) bekannt geworden.
Zu den politischsten unter den Schriftstellern der chinesischen Moderne zählt der ursprünglich aus dem Journalismusbereich kommende Máo Dùn (茅盾; 1896–1981). Er war nicht nur 1921 an der Gründung der KPCh beteiligt, sondern arbeitete später auch als Maos Privatsekretär sowie schließlich als Kultusminister. Seine Hauptwerke sind die Romane Seidenraupen im Frühling (春蚕 Chūnchiji) und Shanghai im Zwielicht (子夜 Zǐyè).
Bā Jīn (巴金; 1904–2005) schließlich verdankt seine literarische Bedeutung seinem breiten Romanwerk, etwa den Trilogien Liebe (爱情 Àiqíng) von 1936 und Heftige Strömung (激流 Jīliú) von 1940, aber auch seinem Wirken als Übersetzer ausländischer Literatur und als Vorkämpfer der Esperanto-Bewegung in China.
Lyrik
Auch im Bereich der Lyrik streifte die chinesische Literatur infolge des Manifests des Hu Shi von 1916 sowie der Bewegung des vierten Mai traditionelle Bindungen ab. So überwinden moderne chinesische Gedichte (新詩 „Freivers“) etwa die strengen formalen Vorgaben des Jintishi und folgen meist keinem bestimmten Muster mehr.
Inhaltlich lassen sich starke Einflüsse der europäischen Lyrik feststellen, wofür insbesondere die aus England, Frankreich und Deutschland zurückgekehrte Dichter verantwortlich zeichnen. So knüpft etwa Xu Zhimo in seinen romantischen Dichtungen an die Schöpfungen der englischen Dichter Keats und Shelley an.
Berühmte chinesische Dichter der Zeit zwischen dem Sturz der Monarchie und der Gründung der Volksrepublik sind etwa Hú Shì (胡适/胡適; 1891–1962), Kāng Báiqíng (康白情; 1896–1959) sowie Frau Bīng Xīn (冰心; 1900–1999). Erhebliches auf dem Gebiet der Lyrik hat auch der universell begabte Guō Mòruò (郭沫若; 1892–1978) geleistet.
Malerei
Nach dem Sturz der Qing-Dynastie fand in der chinesischen Malerei eine bis dahin so nicht gekannte Differenzierung statt. Viele Künstler lösten sich unter vielfältigen politischen und kulturellen Einflüssen von den traditionellen Vorbildern und entwickelten höchst individuelle Stile.
Qí Báishís (齐白石; 1864–1957) Bilder zeichnen sich durch einfache Strukturen und schnelle, gekonnte Pinselstriche aus. Zu seinen bevorzugten Sujets gehören ländliche Szenerien, Ackergeräte, vor allem aber besonders lebensecht wirkende Tier- und Pflanzendarstellungen.
Xú Bēihóng (徐悲鸿; 1895–1953) importierte europäische Techniken in die chinesische Malerei; bekannt geworden ist er etwa als Maler galoppierender Pferde. In den 1930er Jahren schuf er einflussreiche Gemälde wie Tian Heng und fünfhundert Rebellen, Jiu Fanggao und Frühlingsregen über dem Lijiang-Fluss. An moderneren Werken der europäischen Kunst orientierte sich der lange von der offiziellen Kulturpolitik geächtete Lín Fēng Mián (林風眠; 1900–1991). Sein Werk prägen grelle Farben, auffällige Gestalten und reicher Inhalt.
Stärker der chinesischen Tradition verhaftet blieb der Blumen- und Landschaftsmaler Pān Tiānshòu (潘天壽; 1897–1971). Von den Akademiemalern des Südlichen Song-Dynastie übernahm er etwa das Arbeiten mit scharfen Kontrasten und großen leeren Flächen. Die Kunst Fù Bàoshís (傅抱石; 1904–1965) knüpft einerseits ebenfalls an die individualistische Gelehrtenmalerei Shí Tāos an, wurde aber auch von Einflüssen der japanischen Nihonga-Schule gespeist. Seinen Stil prägen zügige und doch akkurate Linienführung und trockene Textur, andererseits aber auch großflächige Lavierungen. Thematisch dominieren Landschaften sowie Darstellungen historischer und mythologischer Gestalten. Auf Landschaftsmalerei spezialisierte sich auch Lǐ Kěrǎn (李可染; 1907–1989). Ihm wird die Devise „Eine Biographie für die Berge und Flüsse der Heimat schreiben“ zugeschrieben. Auch er arbeitete häufig mit leeren Flächen und schenkte dem Verhältnis von Licht und Schatten großes Augenmerk.
Beispiele für chinesische Malerei des frühen 20. Jahrhunderts
Holzschnitt
Eine Renaissance erlebte in den 1930er Jahren die bereits seit der Sui-Dynastie in China fest etablierte Kunst des Holzschnitts. Treibende Kraft war hierbei Lu Xun, der hierin ein effektives Propagandainstrument im Kampf um die – meist lese- und schreibunkundigen – Massen sah. 1931 gründete er in Shanghai eine Vortrags- und Studiengruppe für den Holzschnitt und organisierte gegen den erbitterten Widerstand der herrschenden Guomindang im Untergrund Ausstellungen. Stilistisch lassen sich in den Holzschnitten dieser Periode neben der chinesischen Tradition auch sowjetische, japanische und deutsche Einflüsse nachweisen; eine zentrale Rolle spielte insofern auch die Kunst von Käthe Kollwitz.
Inhaltlich dominierten anfangs vor allem Appelle zum Kampf gegen die japanischen Invasoren; nach deren Vertreibung wurden etwa die Bodenreform, der Aufbau der Industrie, die Gleichberechtigung der Frau, die Verbesserung des Gesundheitswesens und ähnliches thematisiert. Bedeutende Holzschneider waren Lǐ Huá (李華; 1907–1994) und Gǔ Yuán (古元; 1919–1996).
Kunst in der Volksrepublik China
Literatur
Nach Gründung der Volksrepublik China 1949 befand sich die chinesische Literatur fest im Griff der offiziellen Parteipolitik: Nach einem Wort Mao Zedongs hatte sie „den Massen zu dienen“ und „den Standpunkt der Massen einzunehmen“. Maßgeblich waren insofern die sogenannten Yanan-Richtlinien. Bedeutende Schriftsteller wie Hú Fēng (胡風; 1902–1985) und Dīng Líng (丁玲; 1904–1986) sahen sich massiven staatlichen Repressionen und Kampagnen ausgesetzt. Wohlwollen genossen indes Autoren, die sich sozialistischer Propagandathemen wie des Klassenkampfes, des Kollektivierungsprozesses in der Landwirtschaft oder dem Fortschritt der Industrialisierung annahmen. Zu nennen sind etwa Zhào Shùlǐ (趙樹理; 1906–1970), der etwa durch den Roman Veränderungen im Dorf der Familie Li (李家庄的变迁 Lǐjiā zhuāngde biànjiān) von 1946 bekannt geworden war, Aì Wú (艾芜; 1904–1992), der in seinem Werk Hundertfach gestählt (百炼成钢 Bǎiliàn chénggāng) aus dem Jahr 1958 die Schönheit der industriellen Produktion glorifiziert, oder Du Pengchéng (排舫程; 1921–1991), der die Herausforderungen beim Bahnlinienbau schildert. Daneben wurde in großem Maße künstlerisch Zweitrangiges gefördert, wie etwa harmlose volkstümliche Geschichten in epigonenhaft-traditionellem Stil oder auch Tanzgesänge im Stil der Yangge-Oper.
Ähnlich wie im Bereich der Malerei brachte die politische Öffnung Chinas ab 1979 auch für die Literatur eine gewisse Liberalisierung mit sich. Die sogenannte Narbenliteratur (伤痕文学; shānghén wénxué) etwa thematisierte die teilweise traumatischen Erfahrungen weiter Bevölkerungskreise in den Zeiten der Kulturrevolution. Zentrale Werke des Genres sind u. a. die Erzählung Der Klassenlehrer (班主任; Bānzhǔrèn) von Liú Xīnwǔ (刘心武; *1942), Wunden (伤痕; shānghén) von Lú Xīnhúa (卢新华; *1954) oder Roter Ahorn (枫; Fēng) von Zhèng Yì (郑义; *1947).
Auf die Narbenliteratur folgte dann die stärker den Problemen des täglichen Lebens der Gegenwart zugewandte Literatur der neuen Periode. Behandelt werden hier etwa Themen wie die Bürokratie, die Gleichberechtigung der Frau, oder der Reformbedarf in der Industrie. Bekannte Vertreter sind u. a. Jiǎng Zǐlóng (蒋子龍; *1941) sowie die Autorin Shén Róng (諶容; *1950). Als Reaktion auf die Narbenliteratur entwickelte sich ebenfalls die Literatur der Wurzelsuche (寻根文学; xúngēn wénxué). Diese fragt nach dem historisch kulturellen Fundament, das Fehlentwicklungen wie die Kulturrevolution erst ermöglicht hatte. Auch setzt sie sich kritisch mit der Konstruktion der chinesischen Identität auseinander. Wichtigster Vertreter ist Mò Yán (莫言; *1955), der 2012 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Ein wichtiges Genre in der VR China in Bezug auf den politischen Diskurs ist bis heute die Reportageliteratur. Des Weiteren entstand eine umfangreiche, den Bedürfnissen der breiten Massen entgegenkommende Heimat- und Trivialliteratur.
Einen Aufschwung erlebte insbesondere auch die während der maoistischen Phase der Volksrepublik kaum mehr existente gehobene chinesische Lyrik. Genannt sei insbesondere die erhebliches Unbehagen an den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ausdruck bringende Nebeldichtung (朦胧诗 ménglóngshī). Anfangs kursierte sie nur in Privatdrucken und obskuren halblegalen Zeitschriften. Das erste und wegweisende Gedicht dieser Stilrichtung wurde 1979 von Běi Dǎos (北岛; *1949) verfasst und trug den Titel Die Antwort (回答 Huídá). Weitere bekannte Vertreter der Nebeldichtung sind etwa Gù Chéng (顾城; 1956–1993) und Shū Tíng (舒婷; *1952).
Auch die moderne Literatur war jedoch phasenweise immer wieder erheblicher staatlicher Repression ausgesetzt, insbesondere etwa im Zuge der „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“ (jingshen wuran) ab 1983. Einen erheblichen Rückschlag erlebte sie vor allem aber nach der Niederschlagung der Studentenproteste am Tian’anmen-Platz 1989.
Die heutige chinesische Literatur umfasst jedoch nicht nur die Werke von Schriftstellern oder Dichtern aus der Volksrepublik China, sondern auch Werke aus Taiwan sowie chinesische Werke aus Singapur, anderen südostasiatischen Ländern sowie von Exilchinesen. Als wichtigster Vertreter kann Gāo Xíngjiàn (高行健; *1940) genannt werden, dem im Jahr 2000 der Literaturnobelpreis überreicht wurde.
Malerei
Nach der Machtergreifung der Kommunisten 1949 wurde daneben der in der Sowjetunion entstandene Stil des sozialistischen Realismus propagiert, auf dessen Grundlage häufig Kunst als Massenproduktion hergestellt wurde. Parallel dazu entstand eine bäuerlich geprägte Kunstrichtung, die sich insbesondere auf Wandbildern und in Ausstellungen mit dem Alltagsleben auf dem Land auseinandersetzte. Eine gewisse Wiederbelebung erfuhr die traditionelle chinesische Kunst nach Stalins Tod 1953 und insbesondere nach der Hundert-Blumen-Bewegung von 1956 bis 1957.
Andere als die offiziell sanktionierten Stilrichtungen konnten sich alternative Künstler immer nur zeitweise behaupten, wobei sich Phasen starker staatlicher Repression und Zensur mit solchen größerer Liberalität abwechselten.
Nach der Unterdrückung der Hundert-Blumen-Bewegung und insbesondere im Zuge der Kulturrevolution war die chinesische Kunst weitgehend in Lethargie verfallen. Nach den Deng’schen Reformen ab ca. 1979 zeichnete sich jedoch eine Wende ab. Einige Künstler durften zu Studienzwecken nach Europa reisen; auch wurden Ausstellungen über zeitgenössische westliche Kunst sowie die Publikation der anspruchsvollen Kunstzeitschrift Review of Foreign Art geduldet. Während sich die Künstlergruppe Die Sterne an die Traditionen der europäischen klassischen Moderne anlehnte, bemühten sich die Maler der „Schramme“ um Bewältigung und künstlerische Verarbeitung des durch die Kulturrevolution über China gebrachten Leids.
Straffer gezogen wurden die Zügel indes 1982, als die Regierung im Zuge einer „Kampagne gegen religiöse Verschmutzung“ die zeitgenössische Kunst als „bürgerlich“ diffamierte, mehrere Ausstellungen schloss und die Redaktion der Art Monthly mit linientreuen Kadern besetzte.
Als Reaktion auf die sich nunmehr ausbreitende künstlerische Ödnis entstand die Bewegung ’85, die sich auf den Dadaismus, insbesondere Marcel Duchamp, sowie die amerikanischen Pop Art und zeitgenössische Aktionskunst berief. Sie konnte immerhin einige bedeutende Ausstellungen organisieren, wie etwa die „Ausstellung Null von Shenzhen“, das „Festival der Jugendkunst“ in Hubei 1986 sowie die Ausstellung „China/Avantgarde“ in Peking 1989. Trotz massiver Unterdrückung und Behinderung der Bewegung 85 blieb sie über Jahre hinweg am Leben und trug letztlich auch zu den Protesten am Tian’anmen-Platz im Juni 1989 bei.
Nach deren blutiger Niederschlagung kam die chinesische Kunst erneut zum Erliegen. Einige Künstler wanderten in der Folgezeit aus, andere arbeiteten im Untergrund weiter. In dieser Zeit entstand aber auch der Political Pop, der Elemente des sozialistischen Realismus mit der amerikanischen Pop Art vereint, um die Übernahme kapitalistischer Strukturen auf der Grundlage eines weiterhin autoritären Staatssystems zu geißeln. Vertreter dieser Richtung sind etwa die „Neue Geschichtsgruppe“ und die „Gruppe des Langschwänzigen Elefanten“. Auch die Arbeit dieser Kunstrichtung wurde von den Behörden aber weitreichend behindert.
Gleichwohl erlangten zahlreiche chinesische Künstler internationale Anerkennung und wurden etwa 2000 zur Kasseler Documenta eingeladen. Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt auf das engagierte Wirken außerhalb der Volksrepublik tätiger Museumskuratoren wie Hou Hanru. Aber auch Kuratoren im Inland wie Gao Minglu verbreiteten die Idee von Kunst als starker Kraft innerhalb der chinesischen Kultur.
Zu den bedeutendsten zeitgenössischen Künstlern gehören Ai Weiwei (* 1957), Wang Shugang (* 1960), Fang Lijun (* 1963), Cai Guo-Qiang (* 1957), Ma Liuming (* 1969), Zhang Huan (* 1965), Wang Guangyi (* 1956), Xu Bing (* 1955), Wu Shan Zhuan (* 1960), Huang Yong Ping (1954–2019), Wenda Gu (* 1956), Lu Shengzhong (* 1952) und Ma Qingyun (* 1965).
Film
In der ersten Phase der Volksrepublik befand sich die Filmindustrie fest im Griff der Partei und wurde weitgehend für propagandistische Zwecke instrumentalisiert. Zentrale Werke dieser Zeit sind etwa „Das rote Frauenbataillon“ (红色娘子军; Hóngsè niángzi jūn) von 1961 oder „Der Osten ist rot“ (东方红; Dōngfāng hóng) von 1965. Während der Kulturrevolution kam indes auch die Filmproduktion nahezu vollständig zum Erliegen. Nach Wiederaufnahme des Betriebs ab ca. 1972 entstanden dann unabhängigere Streifen, die teilweise auch international auf große Anerkennung stießen und sogar erheblichen Einfluss auf das „westliche“ Kino gewannen. Zu nennen sind insbesondere der Wuxia-Film und die Martial-Arts-Filme. Nach dem Vorbild der Biennale in Venedig wurde für die chinesische Filmwelt die Kwangju Biennale geschaffen.
Musik
Der in den achtziger Jahren auf dem Festland entstandene Chinesische Rock verbindet traditionell chinesische Musikinstrumente mit der westlichen Rock ’n’ Roll-Musik. Historisch den Anfang machte der 1986 aufgekommene, stark idealistisch-politisch ausgerichtete Xīběifēng-Stil (西北风, „Nordwest-Wind“). 1988 kamen die melancholischeren Qiúgē (囚歌, „Gefängnislieder“) hinzu. Den Durchbruch erlebte der chinesische Rock dagegen 1989, als er unter anderem Ausdrucksmittel der studentischen Proteste auf dem Tian’anmen-Platz wurde. Bekannte chinesische Rockbands und Musiker sind Hūxī (呼吸, „Atmen“), Yǎnjìngshé (眼镜蛇, „Kobra“), Zāng Tiānshuò (臧天朔, „Glücksmond“), Bùdǎowēng (不倒翁, „Unfehlbar“), Cui Jian sowie – vielleicht am bekanntesten – Hēi Bào (黑豹, „Schwarzer Panter“).
Daneben ist der in der Umgebung von Kanton und Hongkong produzierte Cantopop zu nennen, der neben Elementen der traditionellen chinesischen Musik Einflüsse aus dem Bereich des Jazz, des Rock, des Blues sowie der elektronischen Musik aufnahm. Zu den wichtigsten Interpreten zählen Anita Mui, Leslie Cheung, Alan Tam, Priscilla Chan, Danny Chan, Jacky Cheung, Andy Lau sowie die Band Beyond. Taiwan schließlich etablierte sich als fernöstliche Hochburg des chinesischen Hip-Hop.
Medienkunst
In der jungen Generation werden Einflüsse der Globalisierung als Anregung aufgenommen. Die in Peking lebende Cao Fei ist eine wichtige Vertreterin dieser Richtung, die Video- und Computerkunst mit traditionellen Elementen verbindet.
Beispiele für chinesische Gegenwartskunst
Chinesische Volkskunst
Während die bereits genannten Kunstformen in erster Linie von den oberen sozialen Klassen, insbesondere der Gelehrtenklasse, rezipiert wurden, bildete sich in China auch eine breiteren Schichten zugängliche Volkskunst heraus.
Bildende Künste
Im Bereich der Malerei bzw. der Holzschnittkunst sind zunächst die sogenannten Türbilder zu nennen, Darstellungen von Göttern, mythologischen Gestalten oder historischen Figuren, die dem eigenen Heim Schutz und Segen bringen sollen. Hieraus entwickelten sich die thematisch anspruchsvolleren alljährlich erneuerten Neujahrsbilder, die etwa detailliert Szenen aus alten Volkssagen und -dramen schildern. Eine Renaissance erlebten beide Kunstformen, als sie Anfang der 1950er Jahre vom kommunistischen Regime des Volksrepublik China als Propaganda-Instrument entdeckt wurden. Im Zuge dessen entstand auch die von der Partei propagierte Chinesische Bauernmalerei.
Darstellende Künste
Zu nennen ist weiter das Chinesische Puppentheater (傀儡戯; kuǐlěixì auch: 木偶戯; mùǒuxì), bei dem zum Klang von Rasseln, Trommeln oder Streichinstrumenten Geschichten erzählt oder komische Monologe bzw. Dialoge gehalten werden. Zu unterscheiden ist das Spiel mit Marionetten, mit Stockpuppen, mit Eisendrahtpuppen sowie mit Handpuppen. Daneben gibt es als Sonderform das Schattentheater: Hier werden 30–70 cm große, an filigrane Scherenschnittarbeiten erinnernde und mit Rindspergament bezogene Figuren von unsichtbaren Akteuren vor einer Lichtquelle bewegt. Thematisch greift das Puppentheater volkstümliche Stoffe der chinesischen Tradition auf, die allerdings meist sehr frei und improvisierend wiedergegeben werden.
Daneben genossen bereits seit der Han-Zeit auch etwa Akrobatik, Seiltanz, Jonglieren und Tiervorführungen große Wertschätzung.
Literatur
Von der Literatur war die Mehrheit des chinesischen Volks dagegen wegen ihres Analphabetismus naturgemäß lange ausgeschlossen. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen indes die sogenannten Bilderzählungen auf. Sie vermitteln meist populär-unterhaltsame Stoffe und bedienen sich dabei neben der Bilderfolge einer einfach-knappen, mit etwa tausend Schriftzeichen auskommenden Rudimentärsprache. Auch sie wurden von verschiedenen Seiten für politische Propaganda instrumentalisiert. Zu nennen ist etwa die gegen das Yuan-Shikai-Regime gerichtete Bilderzählung Die Geschichte einer Affenregierung. Mit zunehmender Alphabetisierung entstand in der Volksrepublik daneben eine umfangreiche Trivialliteratur.
Rezeption chinesischer Kunst im Westen
Bereits seit der Antike gelangten auf dem Landweg, insbesondere auf der Seidenstraße, neben Seide, Edelmetallen und Gewürzen in beschränktem Umfang auch chinesische Kunsterzeugnisse nach Europa. Ein sprunghafter Anstieg des Kunstexports war jedoch nach der Entdeckung des Seewegs nach China durch die Portugiesen im Jahr 1514 zu verzeichnen.
Porzellan
Zunächst waren es die Portugiesen und Spanier, die in größeren Mengen vor allem chinesisches Porzellan und Lackarbeiten nach Europa verschifften. Bereits König Philipp II. von Spanien besaß eine Porzellansammlung von mehr als 3.000 Stück. Im 17. Jahrhundert ging der Ostindienhandel indes zunehmend in die Hände der Holländer und Briten über. Von den niederländischen Häfen aus wurden Fürstenhöfe in ganz Europa insbesondere mit dem beliebten Blau-Weiß-Porzellan versorgt. Es diente nicht nur als Gebrauchsgeschirr, sondern erfreute sich auch als Kaminaufsatz oder Ausstattung für die berühmten „Porzellankabinette“ der europäischen Schlösser großer Beliebtheit. Teilweise wurde in China sogar Porzellan speziell für den Export gefertigt (siehe auch Chinesisches Auftragsporzellan).
Sehr bald versuchte man in Europa auch, das chinesische Porzellan nachzuahmen. Erste Versuche sind bereits für das Italien des späten 15. Jahrhunderts belegt, wobei es sich beim Endprodukt wohl mehr um ein milchiges Glas gehandelt haben dürfte. Später beeinflusste das Blau-Weiß-Porzellan die europäische Fayence-Kunst, insbesondere die Produktion der Delfter Manufakturen. Die Herstellung richtigen Porzellans gelang indes erst 1709 dem am Hofe Augusts des Starken in Dresden tätigen Johann Friedrich Böttger. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden daraufhin Manufakturen an allen führenden Fürstenhöfen des Kontinentes (nach Meißen u. a. Wien, Sèvres, Nymphenburg, Kopenhagen, Neapel). Später wurde Porzellan schließlich zu einem wichtigen Teil der europäischen Alltagskultur.
Lackkunst
Ebenfalls exportiert wurde chinesische Lackkunst, wenngleich man hierbei im Allgemeinen den Erzeugnissen Japans den Vorzug gab. Zur Zeit des großen Kunstexports hatte das Inselreich sein Vorbild China auf diesem Gebiet nämlich längst überflügelt. Große Wertschätzung genossen einerseits Lackmöbel mit aufwendigen Malereien oder Inkrustationen. Zum anderen pflegte man fürstliche Kunstkabinette gerne mit den Bestandteilen zerlegter Wandschirme zu vertäfeln. Als Sammler von Lackarbeiten betätigten sich u. a. Fürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg sowie König Karl II. von England; beide waren bei Studienaufenthalten in Holland erstmals mit chinesischer Kunst in Kontakt geraten.
Tapeten
Ein drittes beliebtes Exportgut waren Chinesische Tapeten, die insbesondere nach Amsterdam und London verschifft und von dort an die europäischen Fürstenhöfe verteilt wurden. Später wurden sie zunächst im Rahmen der Chinoiserie-Mode nachgeahmt, ehe sie schließlich zum Ausgangspunkt einer eigenen, selbständigen europäischen Tapetenkultur wurden.
Chinoiserien
Weniger rezipiert wurde zunächst die chinesische Malerei. Chinesische Motive fanden allenfalls in sehr verzerrter Form Eingang in die europäische Kunst, nämlich auf dem Wege der im 18. Jahrhundert in Mode gekommenen Chinoiserien. „Typische“ Landschaften mit Pagoden und Pavillons, Teichen und Bogenbrücken sowie der dazu passenden Bevölkerung finden sich etwa auf Gobelins, Wandbehängen und Tapeten. Mitunter versuchte man sich auch – meist eher unbeholfen – an der Nachahmung chinesischer Architektur; eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist das sächsische Schloss Pillnitz bei Dresden oder die Villa Valmarana bei Vicenza. Aufgegriffen wurde auch die Chinesische Gartenkunst, erstmals 1759 von William Chambers in den Kew Gardens.
Die Entdeckung der chinesischen Literatur
Die Rezeption der chinesischen Literatur ließ indes sogar bis ca. 1900 auf sich warten. Für Deutschland machte den Anfang Richard Wilhelm mit seinen Übersetzungen der Klassiker der chinesischen Geisteswelt wie Konfuzius oder Laozi. In der Folge entdeckten auch Dichter wie Hans Bethge, Klabund, Otto Julius Bierbaum, Bertolt Brecht oder Hermann Hesse die Schöpfungen ihrer fernöstlichen Kollegen, insbesondere Li Bais und Du Fus; in der englischsprachigen Moderne griff insbesondere Ezra Pound die Methode der chinesischen Lyrik auf. Eine breite Rezeption erfuhr auch Witter Bynners The Jade Mountain (1929), eine Nachdichtung vor allem von Gedichten der Tang-Dynastie. Neben bloßen Übersetzungen bzw. Nachdichtungen lassen sich auch chinesische Einflüsse in den eigenen Werken der genannten Autoren nachweisen. Große Verdienste hat sich insofern auch Franz Kuhn erworben, der mit seinen Übersetzungen der zentralen Romane wie Der Traum der Roten Kammer chinesische Literatur einer breiteren deutschsprachigen Leserschaft erschloss, allerdings immer in stark gekürzten Übersetzungen.
Chinesische Kunst in Europäischen Museen
Größere Sammlungen chinesischer Kunst befinden sich u. a. in folgenden europäischen Museen:
Museum für Asiatische Kunst in Berlin-Dahlem (Website); Schwerpunkte: Antike Bronzen, Tuschmalerei, Gebrauchskunst
Museum für Ostasiatische Kunst in Köln (Website); Schwerpunkte: Bronzekunst, Keramik, zahlreiche Wechselausstellungen
Übersee-Museum Bremen (Website)
Linden-Museum Stuttgart (Website); Schwerpunkte: Keramik, Lackkunst, Tang-Grabkult
Museum Fünf Kontinente (Website); nur ein Raum China; Schwerpunkt: Gebrauchskunst
Residenzmuseum München (Website); chinesisches Porzellan
Dresdner Zwinger (Website); chinesisches Porzellan
Museum für Völkerkunde Dresden (Website); Schwerpunkte: Porzellan, Gebrauchs- und Volkskunst
Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig (Website); Schwerpunkte: Yixing-Keramik, Perlmutt-Lackkunst, Speckstein-Kleinplastik
Museum für Lackkunst, Münster (Website); ausschließlich Lackkunst
Deutsches Ledermuseum, Offenbach (Website); Schwerpunkt: Puppentheater
Deutsches Tapetenmuseum, Kassel (Website); ausschließlich Tapeten
Internationales Keramikmuseum, Weiden (Website); ausschließlich Porzellan
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main (Website); Schwerpunkte: Kleinskulpturen, Gebrauchskunst
Museum für angewandte Kunst (Wien) (Website); Schwerpunkte: Porzellan, Kleinplastik
Rietberghaus, Zürich (Website); Schwerpunkte: Buddhistische Großplastik, Tuschmalerei
Musée Guimet Paris (Website); Schwerpunkte: Tang-Grabkult, Porzellan, Möbel, Tuschmalerei
Musées royaux d’art et d’histoire, Brüssel, (Website); Schwerpunkte: Textilien, Tuschmalerei, Grabkeramik
Pavillon Chinois, Brüssel (Außenstelle der MRAH in Brüssel-Laaken, Website); Schwerpunkt: Porzellan
British Museum London (Website); Schwerpunkte: Buddhistische Großplastik, Tang-Grabplastik,
Victoria and Albert Museum London (Website); Schwerpunkte: Buddhistische Großplastik, Porzellan
Museo Nazionale d’Arte Orientale "Giuseppe Tucci" Rom (Website); Schwerpunkt: Kleinplastik
Ferenc-Hopp-Museum Budapest (Website); Schwerpunkte: Kleinplastik
Kunstmuseum Thorn (Polen); Schwerpunkte: Kleinplastik
Topkapı Sarayı Istanbul (Website); chinesisches Porzellan
Musée Cernuschi, Paris
88-Mocca: The Museum of Chinese Contemporary Art on the Web virtuelle Ausstellung der Sammlung
Chinesische Kunst in nichteuropäischen Museen
Museum of Chinese in America, New York City
Asian Art Museum, San Francisco
Siehe auch
Buddhistische Kunst, Chinesische Architektur, Chinesische Kalligrafie, Chinesische Küche, Chinesische Kultur, Chinesische Lackkunst, Chinesische Literatur, Chinesische Malerei, Chinesische Musik, Chinesische Naturlyrik, Chinesische Oper, Chinesisches Puppentheater, Chinesisches Schattentheater, Chinesisches Porzellan, Chinesische Tapete, Gartenkunst in China, Kampfkunst, Nationales Palastmuseum Peking, Nationales Palastmuseum Taipeh, Suiseki, Bonsai
Literatur
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Franca Bedin: Wie erkenne ich chinesische Kunst? Belser, Stuttgart 1987, ISBN 3-7630-1994-4.
James Cahill: Die Chinesische Malerei. Skira, Genf 1960.
James Cahill: Chinesische Malerei 11.–14. Jahrhundert. Fackelträger-Verlag, Hannover 1961.
Lilian Chi u. a.: A Dictionary of Chinese Ceramics. Singapur 2003, ISBN 981-04-6023-6.
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Gloria und Robert Mascarelli: The Ceramics of China, 5000 BC to 1900 AD. Lancaster PA 2003, ISBN 0-7643-1843-8.
Gerhard Pommeranz-Liedtke: Chinesisches Kunstschaffen – Gegenwart und Tradition. Deutsche Akademie der Künste, Berlin 1954.
Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Beck, München 1999, ISBN 3-406-45337-6.
Peter Charles Sturman: Mi Fu: Style and the Art of Calligraphy in Northern Song China. New Haven 2004, ISBN 0-300-10487-1.
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1062135 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hermannstra%C3%9Fe%20%28Berlin-Neuk%C3%B6lln%29 | Hermannstraße (Berlin-Neukölln) | Die Hermannstraße führt im Berliner Ortsteil Neukölln vom Hermannplatz rund 2,6 Kilometer in Richtung Süden und setzt sich nach der Ecke Juliusstraße beziehungsweise nach der neuen Autobahnauffahrt des Berliner Stadtrings als Britzer Damm fort. Mit der Weiterführung als Buckower Damm in Richtung Großziethen ist der Straßenzug eine der historischen und größeren Berliner Nord-Süd-Verbindungen. Mehrere Kieze und Kirchhöfe bestimmen das Bild und die Struktur der dicht bebauten Wohn- und Geschäftsstraße. Bei ihrer Anlage um 1900 als bürgerliches Viertel konzipiert, zählen zwei der Kieze zu den sozialen Brennpunkten Berlins.
Verlauf auf dem Teltowhang
Im ersten Teil verläuft die Hermannstraße – lediglich durch eine kleine Nebenstraße getrennt – parallel zum Volkspark Hasenheide. Auf diesem sanft ansteigenden Teilstück führt sie aus dem Berliner Urstromtal auf den Teltowhang hinauf, einer flachwelligen Hochebene, die sich im Mittel rund 15 Meter über das Niveau des zentralen Berlins erhebt. Der Teltowhang wechselt seine Richtung in der Hasenheide von Ost nach Süd, sodass die Hermannstraße an der Ecke zur Flughafenstraße das Höhenniveau der Teltowplatte erreicht und sich auf ihrem Hang fortsetzt.
Die parallele Neuköllner Magistrale hingegen, die Karl-Marx-Straße, liegt im tieferen Spreetalniveau mit der Folge, dass sämtliche Querverbindungen zwischen den beiden Hauptstraßen abschüssig verlaufen. Besonders anschaulich ablesbar ist diese geologische Gegebenheit an der Rollbergstraße, die vom zubetonierten ehemaligen Rollberg hinunterführt. Das Gefälle ist – für Berliner Verhältnisse – sehr ausgeprägt: die Bewohner der zur Hermannstraße hin gelegenen Rollbergsiedlung pflegten früher die eher einfachen Behausungen dieser Arbeitergegend ironisch als ihre „Chalets in den Rixdorfer Alpen“ zu bezeichnen.
Getrennt durch den Kiez an der Schillerpromenade und durch den Werner-Seelenbinder-Sportpark (ehemals: Sportpark Neukölln) verläuft die Hermannstraße ab Flughafenstraße parallel zum Gelände des Flughafens Tempelhof, der sich südlich an den Volkspark Hasenheide anschließt. In dem Bereich ab U-Bahnhof Leinestraße Richtung Süden passiert die Hermannstraße sechs verschiedene Kirchhöfe, die jeweils als schmale Streifen Richtung Westen zum Flughafen oder Richtung Osten zur Karl-Marx-Straße reichen.
Dabei schließt der St. Thomas-Kirchhof den Schillerpromenadenkiez (kurz: Schillerkiez) bis zum Flughafen für den Autoverkehr ab, was zu einer ähnlichen Insellage des Kiezes wie bei der Schöneberger Roten Insel führt. Noch isolierter liegt der anschließende Warthekiez, dessen Südgrenze der St. Jacobi-Kirchhof bildet. Das folgende Viertel um die Emser Straße, das die Hermannstraße bis zur S-Bahn-Trasse begleitet, liegt vergleichsweise wieder etwas offener.
Zwei Namenspatrone
Die bis dahin unbenannte Straße erhielt 1859 die Bezeichnung Straße nach Britz. Ab 1875 wurde sie nach und nach von Norden her in Hermannstraße umbenannt und seit 1899 trägt sie auf der gesamten Länge ihren heutigen Namen. Für die Namensgebung gibt es eine offizielle und eine inoffizielle Version.
Arminius
Offiziell benannt ist die Straße nach Hermann dem Cherusker, der im von Patriotismus und Nationalismus geprägten Deutschland des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Namensform des Cheruskerfürsten Arminius. Der historische Arminius hatte im Jahr 9 die römischen Legionen unter Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen. Von ihm ist nur die latinisierte Namensform überliefert, die Übertragung mit dem Namen Hermann ist aber wahrscheinlich nicht historisch. Der mythisch verklärte und überhöhte Arminius wurde als Hermann eine wichtige Identifikationsfigur des jungen deutschen Kaiserreichs, wofür das 1875 fertiggestellte Hermannsdenkmal bei Detmold das berühmteste Zeugnis ist.
Hermann Boddin
Fast die gesamte Kaiserzeit hindurch war die beherrschende Figur der Lokalpolitik Rixdorfs, das ab 1912 Neukölln hieß und 1920 nach Berlin eingemeindet wurde, der Ortsvorsteher und spätere Bürgermeister Hermann Boddin (1844–1907). Eine Seitenstraße der Hermannstraße, die Boddinstraße, ist nach ihm benannt. Darüber hinaus gibt es den Boddinplatz, den U-Bahnhof Boddinstraße, die Hermann-Boddin-Grundschule, ein Ehrengrab auf dem landeseigenen Friedhof Britz sowie eine Gedenktafel. Die patriarchalische Dominanz, mit der Boddin „seine“ Vorstadtgemeinde beherrschte, führte unter den Rixdorfern zu der Mutmaßung, dass die Namensgebung der viel größeren, bedeutenderen Hermannstraße – für deren Ausbau er sich seit seinem Amtsantritt im Jahr 1874 massiv eingesetzt hatte – in ihrer Doppeldeutigkeit von Boddin zumindest nicht ungern gesehen wurde. Meyer-Kronthaler und Kramer teilen dazu mit: „[…] bis heute ist nicht hundertprozentig geklärt, welcher Hermann seither als Namenspatron fungiert. […] Glaubt man den Akten des Bezirksamtes, ist Boddin gemeint, obwohl bereits 1924 ein Dementi auf dem Tisch lag, das Boddins Schwager veröffentlichte.“
Auf Boddins Initiative geht die Umbenennung des als Vergnügungsviertel übel beleumundeten Rixdorfs (Gassenhauer: In Rixdorf ist Musike) zu Neukölln zurück, die Kaiser Wilhelm II. allerdings erst nach dem Tod des Bürgermeisters bewilligte. Die Umbenennung sollte die Anziehungskraft beispielsweise des neuen Viertels an der Schillerpromenade für Besserverdienende erhöhen. Die Baugenehmigung hatte Boddin als Bürgermeister durchgesetzt, das Viertel entstand nicht zuletzt auf seine Initiative – und er soll von diesen Bauten finanziell nicht unwesentlich profitiert haben.
Geschichte
Aus der Frühzeit der Hermannstraße
Historische Kreuzung am Rollkrug
Lange bevor die Hermannstraße ihren Namen erhielt, stand an ihrem nördlichen Ausgangspunkt mit dem historischen Rollkrug ihr erstes Gebäude, das sich damals noch weit außerhalb der Berliner Stadtgrenze südlich des Cottbusser Tors befand. Die Pferdewechselstation lag zwischen Bruchländereien und Wiesen an der Wegkreuzung, die den Hermannplatz bildet. Zu dieser Zeit passierte hier zum einen die West-Süd-Ost-Verbindung vom Halleschen Tor über Rixdorf nach Wusterhausen, die durch die Hasenheide und über die Schlächterwiesen zur alten Wusterhausener Chaussee führte. Diese Verbindung ist ab Hermannplatz weitgehend identisch mit der Bundesstraße 179, die 1849 von der Wusterhausen-Lübbener Chausseebau-Aktiengesellschaft als befestigte Kunststraße (Chaussee) erbaut wurde und, ihrem Namen entsprechend, über Wusterhausen bis nach Lübben im Spreewald verlief. Bis zur Berliner Grenze ist dieser Straßenzug dargestellt durch: Hasenheide, Karl-Marx-Straße, Buschkrugallee, Rudower Chaussee, Neuköllner Straße und Waltersdorfer Chaussee. Zum anderen kreuzte die alte Nord-Süd-Verbindung vom Kottbusser Tor nach Mittenwalde, die als Dresdener Heerstraße (heute: Kottbusser Damm) begann und sich im heutigen Straßenzug Hermannstraße, Britzer Damm usw. fortsetzte. Der Rollkrug bestand bis zum Jahr 1907 und wurde nach seinem Abriss durch ein Geschäftshaus ersetzt. In den ersten Jahren beheimatete das Gebäude eines der prominentesten Berliner Kinos.
Vier Windmühlen an der Straße
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen entlang der Hermannstraße verschiedene Windmühlen. Es gab die Mühle von Hänsche, ferner befand sich an der Ecke zur Leykestraße die Rohleder’sche und nur wenige Schritte weiter südlich gegenüber dem St. Thomas-Kirchhof die Fuhrmann’sche – allesamt Bockwindmühlen. Die einzige Holländermühle der Straße krönte zwischen 1860 und wahrscheinlich 1872 den Rollberg; die Jungfernmühle kam aus Potsdam und wurde dann weiter nach Buckow in die Goldammerstraße 34 umgesetzt, wo sie als einzige erhaltene der ehemaligen Hermannstraßenmühlen noch steht.
Hermannshof
Von 1904 bis 1905 entstand an der Hermannstraße 48 im zweiten Hinterhof der Hermannshof. Dies war nötig geworden, weil es zuvor keine Gewerbehöfe gab, die meisten Anwohner arbeiteten außerhalb des Kiezes. Schon seit seiner Erbauung trägt der Gewerbebau diesen Namen. Im Unterschied zu den für die Zeit typischen Rixdorfer Gewerbe-Hinterhäusern wurde der Hermannshof ebenso bekannt wie der Elisabeth- oder Oranienhof in Kreuzberg, das heißt, er erhielt einen individuellen, auf den Standort bezogenen Namen. Auch äußerlich hebt sich das Fabrikgebäude ab, beispielsweise durch die großen, kleinteilig gegliederten Fenster, die lichterfüllte Räume schaffen. Schmuckformen und Namenszug (noch im Original erhalten) betonen Mittelachse und Portal in einer für Gewerbebauten ungewöhnlichen Weise. Es sind in dem denkmalgeschützten Gebäude Vereine, Wohngemeinschaften und Kunstprojekte untergebracht, es dient nicht mehr als Industriegebäude. Neben dem Hermannshof entstand gleichzeitig der Ottilenhof auf dem Grundstück an der Hermannstraße 56/57, der im Jahr 2000 grundlegend saniert wurde.
Kirchhöfe und Zwangsarbeiter
Neben der fast ununterbrochenen Wohn- und Geschäftshausreihe bestimmen mehrere Kirchhöfe das Bild der Hermannstraße, in deren Bereich auf engstem Raum eine einzigartige Ansammlung von acht Friedhöfen zu verzeichnen ist.
Einmalige Konzentration
Die Gründung der Friedhöfe geht überwiegend auf Gemeinden des ehemaligen Stadtteils Luisenstadt zurück. Deshalb befinden sich die Gemeinden nicht in Neukölln, sondern zu einem großen Teil in Kreuzberg. Nach den rasanten Bebauungsmaßnahmen der Gründerzeit (die Einwohnerzahl des alten Berlins, des heutigen Kernbereichs der Stadt, vervierfachte sich von 500.000 im Jahr 1861 auf zwei Millionen 1910) fanden die Berliner Gemeinden in der engen Stadt keinen Platz mehr für ihre Grabstätten und verlegten die Friedhöfe vor die Tore der Stadt. Auf den Feldern und Wiesen vor dem Cottbusser Tor fanden sich freie und preiswerte Flächen, die zudem über die Landstraße Hermannstraße gut zu erreichen waren. Die Kirchhöfe entstanden zu beiden Seiten der Straße, wobei die nach Osten, Richtung Karl-Marx-Straße verlaufenden Anlagen das abschüssige Gefälle der ehemaligen Rollberge aufweisen. Die Hälfte der acht Friedhöfe steht als Gartendenkmale unter Schutz.
Schon vor dem großen Bauboom der Stadt legte die evangelische St. Jacobi-Gemeinde im Jahr 1852 den ersten der Hermannstraßenkirchhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rollkrug an. Dieser einzige Friedhof im unteren ersten Straßenteil liegt im Bereich zur Karl-Marx-Straße. Anders als die schmalen, querliegenden Kirchhofstreifen im mittleren Straßenteil verläuft der Kirchhof für rund einhundert Meter parallel zur Straße und sorgt gegenüber der dichten Häuserreihe des Hermannstraßenkiezes für eine ihrer wenigen grünen und offenen Passagen.
Die Konzentration liegt im mittleren Straßenbereich um den U-Bahnhof Leinestraße. Zwischen der Oker- und der Emser Straße entstanden hier in den 1860er und 1870er Jahren sechs, gleichfalls schmale und senkrecht liegende, Kirchhöfe. Die Straßenfront dieser Begräbnisstätten ist jeweils nur sehr kurz, in die Tiefe erstrecken sie sich dagegen bis über 600 Meter. Alle diese Kirchhöfe zeichnen sich durch eine lange Mittelallee aus, die durch eine unterschiedliche Anzahl von Rondellen und Querwegen aufgelockert wird. Nur im oberen Bereich findet man einige Erbbegräbnisstätten an den Seitenmauern, was auf die Bevölkerungsstruktur zurückzuführen ist. Die Kapellen und Verwaltungsgebäude stehen meist im Bereich des Eingangstores, die Rondelle besitzen gelegentlich Bildwerke, die die Tiefe der Alleen optisch unterbrechen.
Am südlichen Ende der Hermannstraße befindet sich mit dem Emmauskirchhof parallel zum neuen Autobahntunnel ein Friedhof, der gleichfalls senkrecht zur Straße liegt und die Bebauung kaum auflockern kann.
Verwirrende Nummerierung der Hermannstraße und uneinheitliche Bezeichnung der Friedhöfe
Mit dem Beginn der Bebauung hatte die Rixdorfer Verwaltung eine Nummerierung der Häuser nach dem Hufeisenprinzip festgelegt. Diese Berliner Nummerierung geht darauf zurück, dass die vom Schlossplatz (im Stadtzentrum) gesehen rechte Seite (in diesem Fall also die westliche) fortlaufende Nummern trägt, dann die Ostseite zurück in umgekehrter Richtung bis zur höchsten Hausnummer. Die Parzellen in der Hermannstraße waren also nicht wechselseitig nach geraden und ungeraden Hausnummern von Straßenseite zu Straßenseite durchgezählt. Die Zählung begann hier mit der Nummer 1 auf der Westseite am Hermannplatz/Hasenheide und reichte bereits in den 1880er Jahren bis zur Nummer 171. Viele freie Parzellen dazwischen waren im Adressbuch als Baustellen ausgewiesen. Die Friedhöfe trugen anfangs die Nummern 73 (Jerusalemer und Neue Kirche), 77 (Jakobi-Gemeinde) und 168. In der folgenden Übersicht wurden sie nach ihrer Lage jeweils von Nord nach Süd sortiert. Dabei ist zu beachten, dass sich die Kirchhöfe des mittleren Bereichs weitgehend und insbesondere die beiden Kirchhöfe der St. Thomas-Gemeinde trotz der vollkommen unterschiedlichen Nummern genau gegenüberliegen.
Im Jahr 1900 reichten die Parzellennummern der Hermannstraße schon bis zur Nummer 258, sie wurden demzufolge mit der zunehmenden Bebauung wieder neu vergeben, die Friedhöfe finden sich nun wie folgt: 79–83 St. Thomas, 84–90 Jerusalemer und Neue Kirche, 99–105 Jacobi-Gemeinde, 129–137 Emmaus-Gemeinde, 186–190 Luisen-Kirchhof und 191–195 St. Michael. Die Bezeichnung der Kirchhöfe bleibt im 21. Jahrhundert in der überkommenen Form. Über dem Eingangsportal befindet sich der alte Schriftzug „Friedhof der St. Michael Gemeinde“, eine Tafel am Portal nennt den Kirchhof „Alter Friedhof der Kath. Gemeinde St. Michael“ und eine historische Tafel 20 Meter neben dem Portal trägt die Aufschrift „Kirchhof der Katholischen St. Michael Gemeinde“. Die nachfolgende Orientierung entspricht der Namensgebung der jeweiligen Gemeinden.
Acht Kirchhöfe im Einzelnen
Nördlicher Bereich, ein Kirchhof
Alter Kirchhof der St.-Jacobi-Gemeinde, Hermannstraße 234–253 (Ostseite)/Karl-Marx-Straße 4–10
Im unteren Straßenbereich kurz hinter dem Hermannplatz liegt der Alte Kirchhof der St. Jacobi-Gemeinde. Das Gartendenkmal zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße ließ die St.-Jacobi-Gemeinde bereits 1852 anlegen. Es handelt sich um eine weitestgehend geometrische Anlage mit Alleen und Einzelbäumen, vor allem Kastanien und Linden. Schmuckplätze sind auf den 40.908 m² nicht vorhanden.
An der Friedhofsmauer befinden sich Erbbegräbniswände und im Ostteil des Kirchhofes kam später ein Urnenhain hinzu. Die Kapelle baute von 1911 bis 1912 Stadtbaurat Reinhold Kiehl als einen rechteckigen Putzbau im antik römischen Stil. Die Wandflächen erhielten eine Struktur durch Puttenfries und Pilaster. Die Vorhalle ist offen in der Mittelachse gestaltet, daran schließt sich ein rechteckiger Hauptraum mit einer halbkreisförmigen Apsis, toskanischen Säulen an den Seiten und kleineren Pilastern und Pfeilern im Chorbereich an. Die teilweise farbige Fensterung besteht aus Rundbogenfenstern, die mit Blenden abwechseln und darüber liegenden quadratischen Fenstern. Gemeinsam mit dem Verwaltungsgebäude, dem Eingangstor und dem anschließenden Kirchhofsgitter aus metallenen Speeren und toskanischen Säulen sowie einem Kolonnadenteil ist die Kapelle zu einer Baugruppe vereint, die zur gleichen Zeit zur Ausführung kam. Nach seiner teilweisen Zerstörung im Krieg konnte die St. Jacobi-Gemeinde das Ensemble bereits kurz nach Kriegsende wiederherstellen.
Der Stadtrat Reinhold Kiehl, auf den denkmalgeschützte Bauten wie das Rathaus Neukölln und die Königlich-Preußische Baugewerkschule, die spätere Technische Fachhochschule für Bauwesen von 1914 und heutige Carl-Legien-Oberschule in der Leinestraße am Ende der Schillerpromenade zurückgehen, fand hier 1913 seine letzte Ruhestätte; das Grabmal trägt den Schriftzug „Seinem Andenken die Stadt Neukölln“. Neben Hermann Boddin dürfte Kiehl, nach dem das Kiehlufer am Neuköllner Schiffahrtskanal benannt wurde, der bekannteste Lokalpolitiker aus der Rixdorfer Zeit sein.
Der Indologe Albrecht Weber (1825–1901), der Maler und Grafiker Franz Skarbina (1849–1910), ebenso wie der Märchenforscher, Germanist und Volkskundler Johannes Bolte (1858–1937) wurden hier bestattet.
Mittlerer Bereich, Ostseite, drei Kirchhöfe
Höhe U-Bahnhof Leinestraße, Reihenfolge in Richtung Süden
Kirchhof der St.-Michael-Gemeinde, Hermannstraße 191–195 (Ostseite)
Der Kirchhof der St.-Michael-Gemeinde entstand in den Jahren 1863 bis 1895 in mehreren Etappen auf einer Fläche von 21.537 m² geometrisch entlang einer zentralen Allee mit Eichen und Linden sowie drei Rondellen. Im vorderen Rondell steht ein dominantes Kruzifix.
Die Kapelle des Kirchhofs an der Straße von einem unbekannten Architekten im spätromantischen Stil stammt aus dem Jahr 1884. Die Fassade besteht aus gelben Verblendziegeln, wobei die Straßenfront optisch in drei Bereiche geteilt ist. Im Giebel befindet sich ein Glockenträger, darunter ein Christuskopf, angebaut sind eine Leichenhalle sowie ein Verwaltungsgebäude. 1912 erfolgte eine Umgestaltung der Fassade sowie ein weiterer Ausbau der Kapelle, im Zweiten Weltkrieg kam es zu Beschädigungen und 1954 restaurierte Wilhelm Fahlbusch das Gebäude. In einer Nische im Eingangsbereich fällt eine beeindruckende Skulptur des Erzengels Michael in den Blick.
Als Ehrengräber finden sich auf dem Friedhof die Grabstätten der beiden Stadtältesten Alfred Rojek und Richard Schönborn sowie des Schriftstellers und Übersetzers August Scholz.
Neuer Kirchhof der Luisenstadtgemeinde, Hermannstraße 186–190 (Ostseite)
Der Neue Kirchhof der Luisenstadtgemeinde stammt aus dem Jahr 1865. Das 47.996 m² große Gelände besitzt eine Hauptallee, von der mehrere Nebenalleen als Querwege abgehen und ist durch vier Rondelle aufgelockert. Die Bepflanzung besteht hauptsächlich aus Linden.
Die Kapelle aus den Jahren 1958/1959 ist ein Werk der Architekten Paul und Jürgen Emmerich. Es handelt sich um einen Bau mit rechteckiger Grundfläche und einem Pultdach, der mit Klinkersteinen und Rauputz gestaltet ist, die Stirnfläche ist verglast. Die Vorhalle besitzt auf den Seitenwänden Putzschnittdarstellungen. Das Gebäude wird als Leichenhalle genutzt.
Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde I, Hermannstraße 179–185 (Ostseite)
Der erste (auch: Alte) Kirchhof der St. Thomas-Gemeinde entstand 1865. Das Gartendenkmal ist 51.993 m² groß und wie alle anderen Kirchhöfe geometrisch angelegt. Das Zentrum bildet eine Platanenallee mit vier Rondellen und vier Queralleen, die von Fichten und Linden gesäumt sind. Die Randbepflanzung stellen ebenfalls Linden dar, außerdem unterteilen Taxus-Hecken die Flächen.
Die Kapelle geht auf das Jahr 1870 zurück, der Architekt ist Paul Erdmann. Es handelt sich um einen Backsteinbau mit Kreuzverbund. Die Halle ist seitlich geöffnet und besitzt eine gebrochene Apsis sowie zweiteilige Fenster. Der Innenbereich weist eine halbkreisförmige Altarnische sowie eine Empore auf. Ebenfalls auffällig ist das achteckige Blumenhaus, das wahrscheinlich in den 1920er-Jahren entstand.
Reinhold „Krücke“ Habisch (1889–1964), das Berliner Original und als „Erfinder“ der legendären vier Pfiffe im Sportpalast-Walzer heimlicher Star vieler Sechstagerennen, hat hier seine letzte Ruhestätte. Außerdem befinden sich hier das Grab des ehemaligen Berliner Oberbürgermeisters Robert Zelle, das Grab des Rixdorfer Stadtrats Gustav Leyke, Namensgeber der benachbarten Leykestraße, sowie das Gemeinschaftsgrab der Stadtältesten Marie und Wilhelm Wagner.
Auf dem Kirchhof befinden sich zudem ein Gedenkpavillon und ein Gedenkstein für ein Zwangsarbeiterlager, das sich auf dem Kirchhof V der Jerusalems- und Neuen Kirche in der Hermannstraße 84–90 befand. Der 2002 auf dem Kirchhof V errichtete Gedenkstein wurde später (spätestens 2013) auf den Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II umgesetzt (siehe unten Kapitel Zwangsarbeiterlager auf dem Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche).
In der Straßenfront des Kirchhofs befindet sich seit Dezember 2019 der Sitz der Stadtentwicklungsgesellschaft mbH STATTBAU (182), die in ihrem Arbeitsfeld Stadt·Raum·Kirche in Zusammenarbeit mit dem Kirchenkreis Berlin Stadtmitte für Friedhöfe an der Hermannstraße Friedhofsentwicklungspläne entwickelt. Seit 2014 erarbeitet und 2016 beschlossen wurde ein Integriertes Friedhofsentwicklungskonzept für Berlin-Neukölln.
Mittlerer Bereich, Westseite, drei Kirchhöfe, Zauberladen
Höhe U-Bahnhof Leinestraße, Reihenfolge in Richtung Süden
Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II, Hermannstraße 79–83 (Westseite)
Der jüngere Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde wurde 1872 angelegt. Er besitzt auf der Fläche von 65.697 m² eine Hauptallee mit Platanenbepflanzung sowie ein Rondell, ein weiteres kann vorhanden gewesen sein. Die Randbepflanzung stellen Pyramidenpappeln dar. Eine Kapelle gibt es auf diesem Kirchhof nicht, da die Kapelle auf dem gegenüberliegenden ersten Kirchhof der Gemeinde für beide Teile ausreichte. Seit Anfang 2007 wird dieser Friedhof abgeräumt und am 10. Juli 2017 als Anita-Berber-Park der Öffentlichkeit übergeben. Das aus Klinkern gemauerte, mit eisernen Gittern versehene Tor mit angrenzender Einfassung zur Hermannstraße hin ist als Denkmal erhalten.
Die 1928 gestorbene Tänzerin (Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase) und Schauspielerin (Dr. Mabuse, der Spieler von Fritz Lang) Anita Berber war hier bestattet. Das Grab ist nicht mehr vorhanden, da die Friedhofsverwaltung die Ruhestätte nach Ablauf der Belegungsfrist aufgelöst hat.
Kirchhof V der Jerusalems- und Neuen Kirche, Hermannstraße 84–90 (Westseite)
Der fünfte Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirchen-Gemeinden zu Berlin aus den Jahren 1870–1872 besitzt eine zentrale Lindenallee mit sieben Querwegen und mehreren Rondellen, das Gelände ist 56.024 m² groß.
Die Kapelle legte Louis Arndt in den Jahren 1899/1900 als roten Backsteinbau im gotischen Stil an. Nach Kriegsbeschädigungen erfolgte nach Kriegsende ihr Wiederaufbau. 2002 überließ die Eigentümerin, die Evangelische Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, die Kapelle für 30 Jahre an eine Gemeinde der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche gegen Auflage des Bauunter- und -erhalts. An Ostern 2003 weihte der Bischof der Diözese von West- und Mitteleuropa die Kapelle als Kathedralkirche des Hl. Zaren Boris des Täufers. Der Verwaltungsbau und das Tor an der Hermannstraße entstanden bereits 1873, der Architekt ist unbekannt. 1877 erfolgte ein Umbau des Verwaltungsgebäudes zur Leichenhalle, den C. Dammeier vornahm.
Während der letzten beiden Jahre des Zweiten Weltkriegs stand am Westende des Kirchhofs, kurz vor dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, eine Baracke für Zwangsarbeiter, die auf den umliegenden Friedhöfen arbeiten mussten. Am Standort des Zwangsarbeiterlagers wurde eine Gedenktafel errichtet. 2002 wurde zudem ein Gedenkstein des Berliner Bildhauers Rainer Fest nahe am Eingang Hermannstraße eingeweiht. Der Gedenkstein wurde später (spätestens 2013) auf den Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II, Hermannstraße 179–185, umgesetzt (siehe unten Kapitel Zwangsarbeiterlager auf dem Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche).
Die Kirchhöfe St. Thomas I und Jerusalems- und neue Kirche V dienten zusätzlich gemeinsam als östliche Einflugschneise des ehemaligen Flughafens Tempelhof und waren aus diesem Grund mit Reihen von Leuchtfeuermasten durchzogen.
Zauberladen, Herrmannstraße 84–90
Auf dem Friedhofsareal befinden sich weiterhin Baracken, in einer von ihnen hatte seit 1952 das Geschäft Zauberkönig sein langjähriges Domizil. Der Magier Josef Leichtmann hatte 1884 einen Handel mit Zubehör für Zauberei in der Friedrichstraße eröffnet. Die Tochter übernahm das Geschäft zusammen mit ihrem Ehemann Arthur Kroner, musste aber 1938 an einen arischen Betreiber übergeben, weil die Leichtmanns und die Kroners Juden waren. Die frühere Angestellte Regina Schmidt wurde Inhaberin.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Teilung der Stadt in vier Sektoren zog Regina Schmidt aus dem Ostteil Berlins an einen neuen Standort in Neukölln, in eine der rasch errichteten Behelfsbauten. Nach Schmidts Tod übernahmen wieder Familienmitglieder die Geschäfte. Ab den späten 2010er Jahren wurde bekannt, dass die kirchlichen Grundstückseigentümer anstelle der Baracken neue Gebäude errichten lassen wollen, betrieben von einer gemeinnützigen Stiftung. So musste Zauberkönig im Sommer 2018 schließen, bekam aber die Möglichkeit, schräg gegenüber in der gleichen Straße neu eröffnen zu können.
Neuer Kirchhof der St.-Jacobi-Gemeinde, Hermannstraße 99–105 (Westseite)
Der Neue Kirchhof der St.-Jacobi-Gemeinde aus dem Jahr 1867 verfügt über eine Fläche von 74.048 m², eine zentrale Lindenallee mit mehreren Rondellen und fünf Querwege.
Das Baujahr und der Architekt der im romantischen Stil gehaltenen asymmetrischen Kapelle sind nicht bekannt. Sie hat eine Fassade aus gelben Verblendziegeln im Kreuzverbund und besitzt eine halbkreisförmige Apsis sowie mehrere flache Nebengebäude. Im Krieg beschädigt kam es 1952 zum Wiederaufbau der Kapelle.
Auf dem St. Jacobi-Kirchhof befindet sich das Grab des Theologen Bruno Bauer (1809–1882), dessen Arbeiten Karl Marx und Friedrich Engels in Die Deutsche Ideologie (1845/1846) polemisch kritisierten („Sankt Bruno“). Der Grabstein trägt die Inschrift: „Er war ein Bürger Rixdorfs“.
In Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888 erschienen, spielt in Berlin um 1880) wird dieser Friedhof im 22. Kapitel erwähnt. Botho von Rienäcker, Protagonist dieser Geschichte, besucht hier das Grab der Ziehmutter seiner Geliebten, Lene Nimptsch. Im Roman wird im 21. Kapitel auch die Anfahrt recht ausführlich beschrieben: Über Kreuzberg geht es dann an der Hasenheide, dem Rollkrug und dem überfüllten Alten Kirchhof der St. Jacobi-Gemeinde vorbei, die Hermannstraße hinunter.
Südlicher Bereich, ein Kirchhof
Kirchhof der Emmausgemeinde, Hermannstraße 129–137 (Westseite)
Das Gartendenkmal Emmauskirchhof der gleichnamigen Gemeinde aus dem Jahr 1888 liegt am Südende der Hermannstraße kurz vor ihrem Übergang in den Britzer Damm, parallel zum neuen Autobahntunnel Richtung Westen (siehe unten Kapitel Radverkehr).
Der Friedhof ist zugleich der jüngste und mit 128.781 m² der größte Kirchhof an der Hermannstraße. Der Baumeister der Kapelle aus der Zeit um 1900 ist unbekannt. Stilistisch ist das Gebäude im Übergangsbereich zwischen Romantik und Gotik einzuordnen. Es handelt sich um einen unregelmäßigen Bau mit roter Ziegelfassade und grauen Putzflächen, die als Blenden und Bänder die Fassade strukturieren. Auf dem Dach steht ein Dachreiter mit Spitzhelm. Der Innenraum ist dreischiffig, wobei das Mittelschiff mit einem Kreuzgewölbe und einer Halbkreisapsis ausgestattet ist. Die Seitenschiffe besitzen Spitztonnengewölbe und an den Säulen befinden sich romanische Figurenkapitelle.
Hier ist Walter Bromme (1885–1943) bestattet, der in den Goldenen Zwanzigern beliebte Operetten und Schlager komponierte und in der Spielzeit 1923/1924 zeitweilig als Direktor des Metropol-Theaters in der Behrenstraße fungierte. Die Operetten Brommes reichten von Die Dame im Frack (1919) über Dolly (1924) bis zu Spiel nicht mit der Liebe (1934).
Zwangsarbeiterlager auf dem Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche
In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde im Zusammenhang mit den Nachforschungen für den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter bekannt, dass die Kirchen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs in erheblichem Ausmaß Zwangsarbeiter angefordert und deutschlandweit beschäftigt hatten. Im Sommer 2000 räumte der Berlin-Brandenburgische Bischof Wolfgang Huber ein, dass in Berlin auf dem Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche an der Hermannstraße 84–90 in den letzten drei Kriegsjahren ein Barackenlager für rund 100 Zwangsarbeiter bestand, die überwiegend zur Grabpflege und zur Bestattung von Bombenopfern zum Einsatz kamen. Es waren 39 evangelische und drei katholische Gemeinden, die sich aus dem Friedhofslager mit Bestattern versorgten. Die Kirchen sollen zudem die Ermordung von Kindern der Arbeiter stillschweigend in Kauf genommen haben. Mit aktiver Unterstützung der obersten Kirchenleitung bekam dieses Friedhofslager eine sogenannte „Rüstungsnummer“ und war damit als „kriegswichtig“ anerkannt. Der Leiter des Lagers, Gustav Weniger (ein Mitglied der Bekennenden Kirche), war Angestellter des evangelischen Stadtsynodalverbands. Die rechtlosen Zwangsarbeiter waren ihm als Lagerleiter und der Gestapo schutzlos ausgeliefert, jedoch kam unter ihm kein Häftling zu Tode.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat dazu ein Schuldbekenntnis abgelegt, außerdem beteiligten sich die Kirchen an Entschädigungszahlungen.
Unter welchen Gräuel und Entbehrungen die überwiegend russischen und ukrainischen Arbeiter, in der nationalsozialistischen Ideologie „slawische Untermenschen“, litten, beschreibt Wasyl Timofejewitsch Kudrenko, der mit 16 Jahren aus der Ukraine nach Berlin verschleppt wurde und im Jahr 2005 ein Tagebuch über den Alltag und das Überleben im Lager veröffentlichte. Darin heißt es: „Die schweren Bomben fielen auf den Friedhof und schleuderten die zuvor Begrabenen wieder empor […] Leichenteile, Eingeweide – alles auf dem Baum – schrecklich. Es war ein Horror. Wir ‚Ostarbeiter‘ legten sie in die Gräber zurück. Aber nicht jeder konnte das ertragen, psychisch aushalten.“
Die Zwangsarbeiter litten unter ständiger Todesangst, denn das Lager lag unmittelbar neben dem kriegswichtigen Flughafen Tempelhof, der besonderes Ziel der Flüge der Alliierten war. Kudrenko schreibt: „Wir suchten bei den Angriffen dort Schutz, wo der Alarm uns überraschte: zwischen den Särgen, in der Kanalisation, in Rohren“. Mehrfach kam es zu Bombentreffern im Barackenlager, im Jahr 1944 brannte es in kürzester Zeit vollständig aus. Zuflucht zu Schutzräumen war den Zwangsarbeitern verwehrt.
Zwangsarbeiter im Alter zwischen 53 und 64 Jahren kamen namentlich als „wegen ihres körperlichen Zustandes nicht mehr verwendbar“ auf eine Liste und wurden in ein Sammellager abgeschoben. In dem Lager fand mit einiger Sicherheit keinerlei medizinische Versorgung mehr statt, zudem gab es hier so gut wie keine Ernährung – eine hohe Sterblichkeitsrate war die Folge. Das Kriegsende befreite die Überlebenden im Sammellager und auf dem Kirchhof.
Eine Informationssäule (ehemals im Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche) mit acht Bild- und Schrifttafeln listet alle beteiligten Berliner Gemeinden auf. Die Tafeln verzeichnen ferner die Namen der 96 Zwangsarbeiter, die namentlich bekannt sind. 2002 wurde, gleichfalls im Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche, ein Gedenkstein des Berliner Bildhauers Rainer Fest eingeweiht, der auf der Oberfläche die beteiligten Gemeinden per Gravur festhält. Eine Schicht des Findlings, aus dem der Stein gearbeitet ist, schnitt Fest heraus und teilte sie in 42 Einzelteile – mit je einem Namen der beteiligten Gemeinden. Jede Gemeinde erhielt zur Erinnerung an ihre Verantwortung „ihren“ Stein, eine Verantwortung, die sich an der Oberfläche des Gedenksteins mit allen Namen zur Gesamtverantwortung zusammenfügt. Der Gedenkstein und die Informationssäule wurden später (spätestens 2013) auf den Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II in der Hermannstraße 179–185 umgesetzt.
Verkehr
Öffentlicher Verkehr
Die Poststraße Berlin – Mittenwalde – Dresden, deren Einweihung im Jahr 1712 stattfand, führte über die heutige Hermannstraße. Schon früh begann die Einbindung der bevölkerungsreichen Viertel an der Straße in das Berliner Verkehrsnetz. Am 13. Juni 1885 eröffnete die Stadt Rixdorf eine Pferdebahnlinie vom Hermannplatz zur Hermannstraße Ecke Knesebeckstraße (heute: Silbersteinstraße). Betreiber war die Große Berliner Pferde-Eisenbahn, die die Strecke zwei Jahre später auch erwarb. Die aus Wittenau kommende U-Bahn-Linie U8 führt unter der Straße entlang. Über die U-Bahnhöfe Hermannplatz, Boddinstraße und Leinestraße verläuft die Linie bis zum 1996 eröffneten Endbahnhof Hermannstraße, der rund 500 Meter vor dem Übergang der Hermannstraße in den Britzer Damm liegt. An gleicher Stelle kreuzt die Ringbahn, die hier den stark frequentierten S-Bahnhof Hermannstraße unterhält.
Die Ringbahn kreuzt seit November 1877 die Hermannstraße. Allerdings wurde erst im Zuge des viergleisigen Ausbaus der Ringbahn zwischen 1887 und 1910 der Bahnhof an der Rixdorfer Hermannstraße erbaut und am 1. Februar 1899 eröffnet. Die Hermannstraße war damit zunächst über dampfbetriebene Züge, ab 1928 per „elektrischer S-Bahn“ ans Eisenbahnnetz angeschlossen.
Am 28. September 1900 erfolgte am Bahnhof Hermannstraße die Verknüpfung mit der Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn (NME; bis 1919: Rixdorf-Mittenwalder Eisenbahn), die einen eigenen Personenbahnsteig erhielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor deren Reisezugverkehr an Bedeutung, auf Berliner Gebiet wurde er am 1. Mai 1955 eingestellt. Im Güterverkehr ist die NME nach wie vor tätig. Der S-Bahn-Verkehr am Bahnhof Hermannstraße ruhte von 1980 bis 1993.
→ Siehe auch: Bahnhof Berlin Hermannstraße
Individualverkehr
Autoverkehr
Trotz der guten Einbindung in den öffentlichen Personennahverkehr der Stadt mit U- und S-Bahn ist die Hermannstraße aufgrund ihrer Struktur nicht in der Lage, den Verkehr des bevölkerungsreichen Ballungsgebietes zufriedenstellend aufzunehmen; eine Erweiterung der Straße ist aufgrund der dichten Bebauung kaum möglich.
Die Dichte des Individualverkehrs liegt nicht höher als bei ähnlich stark frequentierten Straßen. Ferner hat die Anbindung an den Berliner Stadtring mit der Anschlussstelle Britzer Damm im Jahr 2000 zu einer spürbaren Entlastung des Durchgangsverkehrs nach Britz und Buckow geführt. Dennoch fließt der Verkehr nach wie vor überaus zähflüssig durch die Straße und ihr Durchfahren bringt für die Verkehrsteilnehmer eine hohe Stressbelastung mit sich. Gründe dafür sind:
Die – je Fahrtrichtung – zwei Fahrstreifen mit den jeweiligen Parkstreifen sind unterbrochen durch mehrere Verkehrsinseln für U-Bahnhöfe und Bushaltestellen, an denen sich die Fahrbahn verengt. Die hohe Zahl der Nebenstraßen nimmt die Links- und Rechtsabbieger nur schleppend auf, da das große Fußgängeraufkommen in den Grünphasen nur wenige Fahrzeuge passieren lässt. Die Ampelanlagen folgen in einigen Abschnitten überaus kurz hintereinander. Die dichte Bebauung mit Wohnblocks und Geschäften lässt sowohl Anwohner wie Lieferanten sehr häufig in der zweiten Spur halten oder kurzzeitig parken. Insgesamt führen diese Faktoren dazu, dass die Fahrt durch die Hermannstraße insbesondere in den Hauptverkehrszeiten in der Regel einer Slalomfahrt gleicht. Ein Ausweichen ist so gut wie unmöglich, denn der Verkehr fließt in der parallelen Karl-Marx-Straße nicht viel anders. Die Straßen der östlichen Kiezgebiete führen aufgrund ihrer Insellagen zudem zum Teil wieder zurück auf die Hermannstraße und bieten durch die Abtrennungen durch die Kirchhöfe keine abkürzenden Durchfahrten; zudem sind sämtliche angrenzenden Wohnviertel als Tempo-30-Zone ausgewiesen.
Dieser Stop-and-Go-Verkehr verursacht für Anwohner und Verkehrsteilnehmer eine hohe Lärmbelästigung und Gefährdung durch Schadstoffkonzentrationen.
Radverkehr
Die umweltbelastete Slalomstrecke verfügt im unteren Teil zwischen Hermannplatz und U-Bahnhof Boddinstraße über baulich unzulängliche und schmale Fahrradwege. Auf den übrigen Streckenabschnitten fahren Radfahrer im Mischverkehr auf der Fahrbahn. Es gibt im Ballungsgebiet Hermannstraße eine – trotz Innenstadtlage – abwechslungsreiche Radverbindung in die benachbarten Ortsteile Britz, Schöneberg und Kreuzberg. Diese – auch hinsichtlich des Belages – sehr gute Verbindung spart die Hermannstraße aus und verläuft durch die Kieze direkt neben dem Flughafen Tempelhof zum Columbiadamm. Radfahrer und Fußgänger kommen an den Stellen weiter, die dem Autoverkehr versperrt sind.
Aus Richtung Britz (der Britzer Damm führt einen Radweg) beginnt die Strecke an der neuen Autobahnanschlussstelle Britzer Damm. Die Autobahn wird hier in dem 1,7 Kilometer langen, hochmodernen und bislang permanent störanfälligen Tunnel Ortskern Britz aus dem Jahr 2000 unter den westlichen Neuköllner Wohngebieten und unter dem Britzer Damm in Richtung Dreieck Neukölln hindurchgeführt; die Anschlussstelle führt hinunter in den Tunnel. Nach Fertigstellung legte das Land Berlin auf der Tunneldecke eine langgezogene Grünanlage mit Spiel- und Sportplätzen an (Carl-Weder-Park), die parallel zum Gartendenkmal Emmauskirchhof verläuft. Dieser langgestreckte Streifen ist für Radfahrer gut zu durchfahren. Auf Höhe des Mariendorfer Weges gelangt man über die wenig befahrene Eschersheimer Straße über die S-Bahn-Trasse in die Oderstraße und damit in den Kiezbereich. Ein Radweg verläuft zweispurig zwischen Oderstraße und dem Sportpark Neukölln, der seit einigen Jahren zu Ehren des 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers und erfolgreichen Ringers Werner Seelenbinder, dessen Namen trägt. Der Weg führt an der renovierten Eissporthalle, den folgenden Sportgebäuden und -plätzen sowie an der Gedenkstätte für Werner Seelenbinder vorbei.
Am westlichen Ende des Kirchhofs der Jerusalems- und Neuen Kirche stößt der Weg direkt auf das Feld des ehemaligen Flughafens und führt in einem – für den Autoverkehr nicht passierbaren – Bogen um das Feld herum in den zweiten Teil der Oderstraße. Hier besteht parallel zum Flughafen ein alter Radweg, der vielfach aufgeplatzt und unpassierbar ist. Ausgleichend steht dem Radverkehr die gesamte Oderstraße zur Verfügung, die nur einen sehr geringen Kfz-Verkehr aufweist. Am nördlichen Ende der Oderstraße, an dem der motorisierte Verkehr wiederum abbiegen muss, führt ein breiter Rad- und Fußgängerweg zwischen dem Sommerbad Columbiadamm und den Freizeitanlagen an der Jahnsporthalle weiter zum Columbiadamm. Am Damm verlaufen Radwege nach Westen Richtung Tempelhof und Schöneberg oder nach Osten Richtung U-Bahnhof Boddinstraße, an dem der Anschluss zur Hermannstraße hergestellt ist. Über den einzigen Radwegabschnitt der Hermannstraße gelangen die Radlfahrer hinunter zum Hermannplatz. Landschaftlich noch reizvoller lässt sich der Hermannplatz erreichen, wenn man den Columbiadamm überquert und in den gegenüberliegenden Volkspark Hasenheide einfährt. Wahlweise asphaltierte Wege oder feste Sandwege leiten durch den Park Richtung Nordosten zum Hermannplatz und Richtung Nordwesten zum Kreuzberger Südstern.
Im März 2019 wurden Vorplanungen für einen neuen Radweg beendet, wobei ein geschützter Radweg als bevorzugte Variante genannt wurde. Für den Beginn der sukzessiv geplanten Bauarbeiten wurde das Jahr 2020 genannt. Da bereits zuvor mit dem Umbau der parallel verlaufenden Karl-Marx-Straße begonnen wurde, soll mit dem Umbau der Hermannstraße in dem davon weiter entfernten südlichen Teil begonnen werden, um den Umleitungsverkehr aus der Karl-Marx-Straße nicht weiter zu belasten. Ab Mai 2020 wurden mit der Covid-19-Pandemie mehrere Pop-up-Radwege in der Stadt errichtet. Dies führte zu einem stärkeren politischen Diskurs um einen geschützten Radweg in der Hermannstraße und mehreren Demonstrationen für eine vorgezogene sichere Radverkehrsinfrastruktur. Im Juni stimmte die Bezirksverordnetenversammlung dafür ab August 2020 einen Pop-up-Radweg auf einem Teilstück der Hermannstraße einzurichten. Die CDU sprach sich gegen einen solchen Radweg aus. Am 23. September 2020 überreichte die Bürgerinitiative „Hermannstraße für Alle“ der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln etwa 2000 Unterschriften für einen Anwohnerantrag zur Einrichtung eines Pop-up-Radwegs. Am gleichen Tag beschloss die Bezirksverordnetenversammlung mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken einen im Juni des gleichen Jahres eingebrachten Antrag für die Einführung einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, mit der Begründung, dass die Situation auf der Hermannstraße für Radfahrende sehr gefährlich sei, aber kurzfristig kein Pop-up-Radweg auf der gesamten Strecke eingerichtet werden könne. Der Senat wies Tempo 30 auf der Hermanstraße jedoch als nicht StVO-konform zurück. Die Initiative „Hermannstraße für alle“ stellte im September einen Einwohnerantrag auf die Einrichtung eines durchgängigen geschützten Radwegs, der mit der erforderlichen Anzahl der gesammelten Unterschriften zur Beschlussfassung in die Bezirksverordnetenversammlung am 3. November 2020 eingebracht wurde. Die Zählgemeinschaft aus SPD und Grünen brachte am 9. Dezember 2020 eine in Absprache mit der Initiative entstandene alternative Beschlussempfehlung für eine durchgängige, ggf. provisorische Radinfrastruktur auf der ganzen Hermannstraße vor dem Winter 2021 in den Verkehrsausschuss ein. Sie wurde mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken und unter Ablehnung von CDU und AfD als Empfehlung zur Beschlussfassung an die Bezirksverordnetenversammlung verabschiedet.
Strukturentwicklung und Kieze
Die soziale Struktur der Geschäfts- und Wohnstraße bestimmen kleine Gewerbebetriebe, eine Vielzahl an Geschäften, darunter zahlreiche türkische Märkte und Bäckereien, Imbisse, Wettlokale und Spielotheken, sowie Wohnhäuser und Wohnblocks, die teilweise aus der Gründerzeit stammen. Auf der Ostseite der Hermannstraße 214–216 entstand im Jahr 1996 das moderne Büro- und Geschäftszentrum Kindl-Boulevard, das sich tief in die Fläche der ehemaligen Rollberge erstreckt. Neben Geschäften, Restaurants, den Rollberg-Kinos und Ausstellungsräumen finden hier das Jobcenter Neukölln und das Frauenwirtschaftszentrum Neukölln Räumlichkeiten, das insbesondere Existenzgründerinnen Raum geben soll. Das Zentrum, in das eine Münchner Baufirma 400 Millionen Euro investiert hatte, steht im Kontrast zu der sonstigen Geschäftsstruktur der Straße, die zu einem erheblichen Teil von Einzelhändlern und Billigläden mit häufigen Inhaberwechseln gekennzeichnet ist.
Die Hermannstraße wird im gesamten westlichen Teil von drei Kiezen begleitet. Im unteren Teil von dem Hermannstraßenkiez, der westlich vom Volkspark Hasenheide, nördlich von der Straße Hasenheide und südlich vom Columbiadamm begrenzt wird. Jenseits des Columbiadamms schließen sich an den Volkspark die Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof beziehungsweise des Sportparks Neukölln an, die die südlich folgenden Kieze, den Schillerkiez, den Warthekiez und das Viertel an der Emser Straße, nach Westen abgrenzen.
Hermannstraßenkiez
Der Hermannstraßenkiez um die Wissmann- und Karlsgartenstraße am Volkspark Hasenheide entstand in der Gründerzeit als Vergnügungsviertel mit Biergärten, Theatern und Tanzsälen. In den 1920er Jahren entwickelte sich die Hermannstraße von dieser Gegend ausgehend zu einer bedeutenden „Kinomeile“ und blieb dies bis zum großen Kinosterben der 1960er Jahre. Der Kiez wurde ein reines Wohnviertel mit einigen kleineren Gartenlokalen. Für ein vielfältiges Flair sorgt die Werkstatt der Kulturen in der Wissmannstraße, die mit zahlreichen Ausstellungen Besucher anzieht und sich als Dialog- und Kooperationspartner der Migrantenszene in Berlin versteht und Forum für eine multikulturelle Bürgergesellschaft sein will. Die Werkstatt der Kulturen besteht seit dem 22. Oktober 1993 in dem sehenswerten historischen Gebäude der ehemaligen Löwenbrauerei – Böhmisches Brauhaus.
Ein weiteres Stück des alten Vergnügungsviertels findet sich mit dem Kino Neues Off direkt an der Hermannstraße 20, das 1919 als Theater und Varieté gegründet und seit 1926 unter dem Namen Rixi (Rixdorfer Lichtspiele) als Kino genutzt wurde. Trotz Restaurierung versprüht das Haus noch viel Charme vergangener Zeiten – im Foyer fällt beispielsweise ein roter Sarotti-Tresen im Design der 1950er Jahre ins Auge. Das Kino ist Teil eines viergeschossigen Wohnhauses und eines der letzten alten Lichtspielhäuser, die in Berlin noch überleben konnten.
Das Palastkino Stern gehörte zu den kleineren Filmtheatern der Zwischenkriegszeit. Es wurde in den Jahren 1925/1926 von Max Bischoff und Heinrich Möller sowie dem Ingenieur Gustav Heun durch einen Umbau eines ausgebrannten Hinterhaus-Saales in der Hermannstraße 49 aufgebaut. Der breite Eingangsbereich bestand aus dem erneuerten Erdgeschoss und ersten Obergeschoss des Wohnhauses, neben der Tür befanden sich Schaukästen mit dem Kinoprogramm. Die Vorhalle bildete ein Raum mit dunkler Holzverkleidung und blaugoldener Decke. Der rechteckige Zuschauerraum bot im Parkett 638, auf dem Rang 464 und in den in den Saal ragenden Logen 98 Zuschauern Platz. 1935 baute Heinrich Möller die Fassade um, im Zweiten Weltkrieg wurden Teile des Gebäudes zerstört, die 1946 wiederhergestellt werden konnten. 1956 wurde das Kino vom Architekten de Born umgebaut, 1973 endete die Nutzung als Kino, und ein erneuter Umbau machte aus dem Gebäude einen Selbstbedienungsladen.
Größtes Kino Europas
In den Jahren 1926 bis 1927 entstand an der Hermannstraße 214 Ecke Rollbergstraße inmitten des Arbeiterbezirks Neukölln unter der Leitung des Architekten Fritz Wilms mit dem Mercedes-Palast das seinerzeit größte Filmtheater Europas. Bis zu diesem Zeitpunkt befand sich dort der geräumige Biergarten der Kindl-Brauerei, der vor allem zur Jahrhundertwende überregional bekannt war. Fritz Wilms hatte sich in Berlin durch eine Reihe weiterer Theaterbauten einen Namen gemacht, insbesondere durch das Piccadilly in Charlottenburg. Seine Bauten waren wenig strukturierte, klare Blockbauten. Beim Mercedes-Palast verzichtete er erstmals auf allzu expressionistische Details, wie man sie von anderen seiner Bauwerke kannte. Ob dieser Trend dem Geschmack der Zeit oder den zur Verfügung stehenden Geldern geschuldet war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Das Gebäude hat eine Baufläche von rund 3773 m², wobei die Vorderfront an der Hermannstraße eine Länge von etwa 50 Metern und die Seitenfläche an der Rollbergstraße von etwa 72,5 Metern aufweist. Beiderseits des hervorgezogenen Eingangsbereichs befanden sich Ladengeschäfte und oberhalb der vier Eingänge fünf Meter hohe Plakatwände, getrennt durch vierkantige Halbsäulen. Den oberen Abschluss bildete ein Gesims mit grünen Laternen.
Die Innenausstattung führte diese Schlichtheit nicht fort. Im großräumigen Foyer dominierten die Farben Gold, Silber, Blau und das Scharlachrot der Wände, der Fußboden bestand aus gelbbraunen Steinplatten aus Solnhofen. Der anschließende Vorführraum hatte eine kuppelförmige, blaugrüne Decke, die, von Strahlern oberhalb der Logenbekrönung azurblau angestrahlt, einen Abendhimmel imitieren sollte. Während der Vorführung wandelte sich die Wölbung durch kleine, beleuchtete Öffnungen in einen sternenübersäten Nachthimmel. Das Zentrum der Decke bildete eine sternförmiges Rosette aus buntem Kristallglas, die von innen beleuchtet und am Rand mit Blattgold verziert war. Nach hinten schloss sich durch eine halbrunde Projektionsfläche die Bühne mit einem Orchestergraben an. Der Raum stellte den Besuchern 2320 Parkett- und 180 Logenplätze zur Verfügung.
Zur musikalischen Illustration der noch stummen Filme wurde 1927 eine zweimanualige Oskalyd-Kinoorgel der Fa. Walcker, Luedke & Hammer aus Ludwigsburg im Mercedes-Palast installiert. Emil „Mile“ Sagawe (1895–1988) war ab 1950 der organist in residence. Noch 1951 spielte er, nachdem die Orgel nach seinen Wünschen durch den Orgelbaumeister Glöckner umgebaut worden war, darauf Schallplatten für die Fa. Odeon ein (Tonfilm-Erinnerungen, Potpourri I und II, Odeon O-28 081 [mx. Be 14 142/43-I] und Odeon O-28 082 [mx. Be 14 251/52]).
Die Deutsche Bauzeitung lobte in einem Bericht aus dem Jahr 1927 weniger die Ausstattung als vielmehr ein ganz anderes, nicht minder wichtiges Detail des Kinos:
Doch wurden diese Eintrittspreise für das Gros der Bevölkerung im Gefolge der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise schnell unerschwinglich: im Jahr 1930 wurde das Kino trotzdem aufgrund zu geringer Besucherzahlen erstmals geschlossen und diente in der Folgezeit als Festsaal für Veranstaltungen in Konkurrenz zu den benachbarten Kindl-Sälen. So fand hier etwa die Zwölfjahresfeier der Roten Fahne statt; ebenso gastierte der Kabarettist Leon Hirsch mit seinem Ensemble „Die Wespen“ im Mercedes-Saal. 1932 nahmen der Architekt Gustav Neustein und sein künstlerischer Mitarbeiter Bruno Meltendorf die ersten Umbauten vor. Während der nationalsozialistischen Zeit war das Kino die meiste Zeit geöffnet und war der Aufführungsort für eine Reihe von Filmpremieren wie etwa dem Film Der unendliche Weg von 1942 (Regie: Hans Schweikart). Nach 1943 kam es zu einer starken Beschädigung durch Fliegerbomben.
Die Wiederherstellung erfolgte in den Jahren 1948 bis 1951, diesmal erneut unter der Leitung von Fritz Wilms. Bereits während der Bauphase fanden Vorstellungen statt, das dafür als Vorführraum unter dem Namen Metro-Palast genutzte Foyer bot immerhin noch Platz für 854 Zuschauer. Die Arbeiten gaben dem Vorführraum durch neue Wände eine trapezförmige Gestalt. Nach seiner Fertigstellung 1951 verfügte er im Parkett über 1426 und im Hochparkett noch einmal über 634 Plätze und nahm als Europa-Palast erneut den Filmbetrieb auf.
Im Jahr 1955 zog der Architekt de Born eine Zwischendecke in das Foyer ein – in der oberen Etage entstand das Kino Roxy mit 750 Plätzen. Weitere Umgestaltungen nahm 1966 Hans Joachim Woyke vor und 1969 ließ Woolworth das gesamte Gebäude zu einem Warenhaus umbauen, wobei vor allem die Fassade massive Veränderungen erfuhr. 1992 zog Woolworth in die benachbarten Kindl-Säle um und der ehemalige Mercedes-Palast musste dem Neubau des Kindl-Boulevards weichen.
Schillerkiez, Warthekiez und Rollbergsiedlung
Das Viertel um die Schillerpromenade, das auf altem Ackerland entstand, war von der Stadt Rixdorf und ihrem Bürgermeister Hermann Boddin um 1900 als „Wohnquartier für Besserverdienende“ und als Gegenpol zu der Arbeitersiedlung auf den Rollbergen konzipiert, die bereits in den Jahrzehnten zuvor errichtet worden war. Mit seinen alten Bauten und dem nach wie vor großzügigen und begrünten Mittelstreifen der 50 Meter breiten Schillerpromenade steht das Viertel seit 1996 unter Ensembleschutz. Die Promenade führt vom Columbiadamm über den zentralen Herrfurthplatz mit der Genezarethkirche aus dem Jahr 1906 direkt auf das historische Gebäude der ehemaligen Ingenieurschule für Bauwesen zu und endet dort; das denkmalgeschützte Gebäude aus dem Jahr 1914 in der Leinestraße beherbergt die Carl-Legien-Oberschule. In den 1920er Jahren ergänzte Bruno Taut, der Architekt der Britzer Hufeisensiedlung, den Kiez um preiswerte Arbeiterwohnungen an der Oderstraße, die im Stil seiner sozialreformerischen, nicht-kommerziellen Konzepte gehalten waren.
Zählt schon der Schillerkiez in seiner Bevölkerungsstruktur Anfang der 2000er Jahre zu den eher benachteiligten Vierteln mit einem hohen Anteil an Sozialhilfeempfängern, ist im Warthekiez die strukturelle Arbeitslosigkeit und insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit besonders ausgeprägt. Die sozial-räumliche Polarisierung ist in beiden Vierteln dem Verlust der altindustriellen Arbeitsstätten sowie der unmittelbaren Nachbarschaft zum Flughafen Tempelhof geschuldet, dessen Lärmbelästigung das Mietpreisniveau und in der Folge die Qualität der Wohnungen beträchtlich senkte. Erst seit etwa dem Jahre 2000 trat in diesem Bereich eine Erholung ein, die in der Verlagerung des Luftverkehrs zu den anderen damaligen Flughäfen in Tegel und Schönefeld begründet lag. Mit der Schließung des Flughafens am 30. Oktober 2008 fand diese benachteiligte Situation dann ihr Ende.
Durch Maßnahmen wie Quartiersmanagement, intensivierter Jugendarbeit, Modellprojekte zur Gewaltprävention oder Verbesserung der Freizeitangebote versucht der Bezirk Neukölln in Zusammenarbeit mit kirchlichen und freien Trägern gegenzusteuern. Investitionen wie in den Sportpark an der Oderstraße sollen das Viertel aufwerten, beispielsweise konnte im Herbst 2005 das mit erheblichen Mitteln restaurierte und erweiterte Eisstadion Neukölln wiedereröffnet werden. Da sich diesen westlich der Straße gelegenen Kiezen noch die östlich angrenzende Rollbergsiedlung zugesellt, die als ganz besonderer sozialer Brennpunkt gilt, ist resümierend festzustellen, dass die Hermannstraße einen besonders benachteiligten Teil Berlins durchläuft.
Seiten- und Querstraßen (stadtauswärts gesehen)
Hasenheide
Karl-Marx-Straße
Karlsgartenstraße
Biebricher Straße
Flughafenstraße
Mahlower Straße
Boddinstraße
Selchower Straße
Rollbergstraße
Herrfurthstraße
Werbellinstraße
Briesestraße
Kienitzer Straße
Kopfstraße
Allerstraße
Leykestraße
Okerstraße
Leinestraße
Thomasstraße
Jonasstraße
Warthestraße
Schierker Straße
Nogatstraße
Emser Straße
Siegfriedstraße
Silbersteinstraße
Kranoldstraße
Mariendorfer Weg
Delbrückstraße
Glasower Straße
Juliusstraße
Literatur
Christiane Borgelt, Regina Jost: Architekturführer Berlin-Neukölln. Stadtwandel Verlag Berlin 2003, ISBN 3-933743-91-5.
Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abt. Bauwesen (Hrsg.): 100 Jahre Bauen für Neukölln – Eine kommunale Baugeschichte. Berlin 2005, ISBN 3-00-015848-0.
Udo Dittfurth: Strecke ohne Ende – Die Berliner Ringbahn. GVE Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-89218-074-1.
Willy Grigat: Britz einst und jetzt, 1932. Auszugsweise wiedergegeben und hier benutzt in: Britzer Heimatgeschichte, Veröffentlicht im Gemeindebrief der Dorfkirche Britz. Ausgaben Februar 1979 bis Dezember 2000. (PDF) zum Rollkrug: S. 36, zu den Windmühlen: S. 31
Wasyl Timofejewitsch Kudrenko: Bist Du Bandit? Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko. Wichern Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-88981-173-6. Zitate nach den Informationstafeln, siehe „sonstige Quellen“
Jürgen Meyer-Kronthaler: Berlins U-Bahnhöfe – Die ersten hundert Jahre. be.bra Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-930863-16-2.
Jürgen Meyer-Kronthaler, Wolfgang Kramer: Berlins S-Bahnhöfe – Ein dreiviertel Jahrhundert. be.bra. verlag, Berlin 1998, ISBN 3-930863-25-1. Zitat zu Hermann Boddin: S. 120
Robert Riedel (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil V: Bauwerke für Kunst, Erziehung und Wissenschaft, Band A: Bauten für die Kunst. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1983, ISBN 3-433-00944-9.
Erich Schuppan (Hrsg.): Sklave in Euren Händen. Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie Berlin-Brandenburg. Wichern Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-88981-155-8.
Klaus Konrad Weber, Peter Güttler, Ditta Ahmadi (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil X Band A: Anlagen und Bauten für die Versorgung (3) Bestattungswesen. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1981, ISBN 3-433-00890-6.
Weblinks
Neukölln online, Siedlung Schillerpromenade
rbb-online, 7. Mai 2005: Vor 60 Jahren: Befreiung der kirchlichen Zwangsarbeiter in Berlin
Kindl-Boulevard
Frauenwirtschaftszentrum Neukölln
Einzelnachweise
Straße in Berlin
Berlin-Neukölln
Arminius als Namensgeber
Straße in Europa |
1255049 | https://de.wikipedia.org/wiki/Apolo%20Anton%20Ohno | Apolo Anton Ohno | Apolo Anton Ohno (* 22. Mai 1982 in Seattle, Washington) ist ein ehemaliger US-amerikanischer Shorttrack-Eisschnellläufer. Zwischen 2002 und 2010 gewann er acht Medaillen bei Olympischen Winterspielen, darunter zwei goldene.
Ohno begann seine sportliche Karriere Mitte der 1990er-Jahre und errang 1997 im Alter von 14 Jahren seinen ersten von elf nationalen Meistertiteln. 2002 wurde er bei den Winterspielen in Salt Lake City Olympiasieger im 1500-Meter-Rennen, vier Jahre später gelang ihm in Turin über 500 Meter der gleiche Erfolg. Mehr als zehn Jahre lang gehörte Ohno der Shorttrack-Weltspitze an und gewann in dieser Zeit unter anderem dreimal den Mehrkampf-Gesamtweltcup sowie 2008 den Weltmeistertitel im Mehrkampf. Die letzten Wettkämpfe seiner Laufbahn bestritt er bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver, wo er mit drei weiteren Medaillen zu einem der historisch erfolgreichsten US-amerikanischen Teilnehmer an Winterspielen wurde.
In den Vereinigten Staaten besaß Ohno auch dank verschiedener Fernsehauftritte – etwa einem Sieg in der Show Dancing with the Stars 2007 – große Beliebtheit und trug zur Popularisierung der Randsportart Shorttrack bei. Insbesondere in Südkorea wurde er hingegen vor allem wegen einer Kontroverse um seinen ersten Olympiasieg kritisch gesehen und zwischenzeitlich stark angefeindet. Nach seinem Karriereende arbeitete Ohno unter anderem als Kommentator für NBC und investierte in verschiedenen Geschäftsfeldern. 2019 wurde er in die United States Olympic & Paralympic Hall of Fame aufgenommen.
Sportliche Laufbahn
Anfänge
Apolo Anton Ohno wuchs in Federal Way in der Metropolregion Seattle als Sohn des alleinerziehenden Friseurs Yuki Ohno auf, der in Seattle einen Salon betrieb. Sein Vater meldete ihn als Sechsjährigen zunächst in einem Schwimmclub an und nahm ihn wenig später zur Rollschuhbahn mit, wo Ohno mit dem Quad- und Inlineskaten anfing. Sowohl im Schwimmen als auch im Inlineskating feierte er als Kind Erfolge: Mit zwölf Jahren wurde er in seiner Altersklasse Meister des Staates Washington im Brustschwimmen und hielt nationale Inline-Rekorde. Die Übertragung der olympischen Shorttrack-Wettkämpfe 1994 weckte Ohnos Interesse an der Eislaufdisziplin. Gemeinsam mit seinem Vater reiste er in den folgenden Jahren für Trainings und Wettkämpfe unter anderem nach Eugene und Vancouver, wo er sich an den zur internationalen Spitze gehörenden kanadischen Shorttrackern orientierte. Mit 13 Jahren belegte Ohno im Januar 1996 den vierten Rang bei der nationalen Qualifikation für die Junioren-Weltmeisterschaft. Er stand dabei in direkter Konkurrenz zu Athleten, die bis zu fünf Jahre älter waren. Ohnos Leistungen – verbunden mit drängenden Nachfragen seines Vaters, der nach weiteren Fördermöglichkeiten für seinen Sohn suchte – überzeugten den für das US-Juniorenteam verantwortlichen Trainer Patrick Wentland, den Nachwuchsathleten am Lake Placid Olympic Center aufzunehmen, obwohl er das festgelegte Mindestalter von 15 Jahren noch nicht erreicht hatte. Im Sommer 1996 zog Ohno nach Lake Placid, um dort gemeinsam mit dem Junioren-Nationalkader zu trainieren.
Unter Wentlands Anleitung verbesserte Ohno seine Eislauftechnik und entschied im März 1997 mit 14 Jahren die US-Meisterschaften der Erwachsenen für sich. Er triumphierte vor dem mehrfachen Olympiateilnehmer Andrew Gabel und qualifizierte sich für den amerikanischen Nationalkader, der bei Jeroen Otter in Colorado Springs trainierte. Bei Ohnos erster WM-Teilnahme einen Monat nach dem nationalen Meistertitel verpasste er als 19. eine vordere Platzierung. Enttäuscht und von der Saison erschöpft legte Ohno im Sommer gegen Otters Rat eine halbjährige Trainingspause ein, die er in Seattle verbrachte und in der er deutlich an Gewicht zunahm. Im Januar 1998 platzierte er sich unter 16 Teilnehmern auf dem letzten Rang bei der nationalen Olympia-Ausscheidung und verpasste damit die Qualifikation für die Winterspiele in Nagano. Er baute sein Training in den Folgemonaten neu auf – zunächst am Juniorenstützpunkt in Lake Placid, dann wieder in Colorado Springs, wo mittlerweile Patrick Wentland die Betreuung des Nationalkaders übernommen hatte. Zudem arbeitete er mit einem Sportpsychologen zusammen. Im November 1998 gewann Ohno in Székesfehérvár über 1000 Meter vor dem amtierenden Olympiasieger auf dieser Strecke, dem Südkoreaner Kim Dong-sung, zum ersten Mal ein Rennen im Shorttrack-Weltcup. Zwei Monate später wurde er in Montreal als erster US-Amerikaner Shorttrack-Juniorenweltmeister.
Ab 1999 festigte Ohno stetig seine Position als führender US-amerikanischer Shorttracker. Er siegte regelmäßig bei nationalen Meisterschaften im Mehrkampf (bis 2009 insgesamt elf Mal) und stellte US-Rekorde über 500 Meter sowie 1500 Meter auf. Im Training löste sich Ohno Anfang der 2000er-Jahre für einige Zeit weitgehend vom Nationalteam und arbeitete mit anderen Trainern zusammen, weil er die Betreuung der neuen leitenden Trainerin Sue Ellis als wenig förderlich empfand. In seiner 2002 erschienenen Autobiographie schrieb er, Ellis habe vollkommen andere Trainingsschwerpunkte gesetzt, als er es gewohnt gewesen sei: Sie habe vor allem Krafttraining und Anhebung der Laktatschwelle in den Fokus gestellt, während seine Konzentration auf Radfahren und Herz-Kreislauf-Training lag. In der Saison 2000/01 entschied Ohno zwölf Weltcup-Einzelrennen und drei Mehrkämpfe für sich. Am Saisonende stand er an der Spitze der Weltcup-Gesamtwertung im Mehrkampf (vor dem mehrfachen Weltmeister Li Jiajun aus China) sowie der 500-Meter-, 1000-Meter- und 1500-Meter-Klassements. Bei den Weltmeisterschaften 2001 in Jeonju gewann Ohno hinter Li die Silbermedaille im Mehrkampf mit einem Streckensieg im abschließenden 3000-Meter-Rennen und wurde zudem gemeinsam mit Rusty Smith, Daniel Weinstein und Ron Biondo zum ersten Mal Staffelweltmeister.
Olympische Winterspiele 2002
Im Dezember 2001 qualifizierte sich Ohno mit mehreren Streckensiegen bei den nationalen Auswahlrennen für die Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City. Über 1500 Meter stellte er dabei mit einer Zeit von 2:13,728 Minuten einen Weltrekord auf. Nach den Wettkämpfen warf der nicht qualifizierte Tommy O’Hare Ohno und Rusty Smith vor, das abschließende 1000-Meter-Rennen absichtlich gegen ihren Freund Shani Davis verloren zu haben, um Davis die Olympiateilnahme zu ermöglichen. Ein Schlichter sprach die beschuldigten Athleten im Januar 2002 von jeglichem Fehlverhalten frei. O’Hare hatte seine formelle Beschwerde bereits zuvor zurückgezogen.
In Salt Lake City gewann Ohno die Silbermedaille im 1000-Meter-Rennen und wurde Olympiasieger über die 1500-Meter-Distanz. Das 1000-Meter-Finale endete mit einem Sturz der führenden vier Läufer Li Jiajun, Ohno, Ahn Hyun-soo und Mathieu Turcotte in der letzten Kurve vor dem Ziel. Der abgehängte Australier Steven Bradbury profitierte von dem Zwischenfall und überquerte die Ziellinie als Erster, gefolgt von Ohno, der sich nach dem Sturz aufrichtete, dann wieder fiel und auf Händen und Füßen über die Ziellinie rutschte. Damit gewann er die Silbermedaille. Das 1500-Meter-Rennen wurde ab der Wettkampfhälfte vom Südkoreaner Kim Dong-sung angeführt. Ohno setzte sich in der vorletzten Runde hinter Kim an die zweite Stelle. In der letzten Runde schickte er sich an, den Koreaner zu überholen, brach das Manöver aber ab – mutmaßlich weil Kim ihn blockiert hatte – und hob die Hände in die Luft. Kim erreichte das Ziel vor Ohno als Erster, wurde aber kurz danach wegen cross-tracking (= Behinderung von Ohno durch Kreuzen seines Laufweges) vom Schiedsrichter James Hewish disqualifiziert. Unter dem Beifall des überwiegend amerikanischen Publikums bekam Ohno den Olympiasieg zugesprochen. Die Entscheidung zog ein kontroverses Echo nach sich. Während Ohno sie als eindeutig richtig ansah und Unterstützung etwa vom Bronzemedaillengewinner Marc Gagnon erhielt, bestritt insbesondere die südkoreanische Presse ein Foul Kims. Stattdessen unterstellten einige Zeitungen Ohno Schauspielerei und unsportliches Verhalten („Hollywood action“): Er sei nicht schnell genug gewesen, um Kim zu überholen, seine Geste des Handhebens sei ein Trick gewesen, um die Aufmerksamkeit des Schiedsrichters und des Publikums auf sich zu ziehen.
Das Koreanische Olympische Komitee protestierte erfolglos beim Internationalen Olympischen Komitee, bei der Internationalen Eislaufunion und beim Internationalen Sportgerichtshof gegen die Disqualifikation Kims. Ohno erhielt nach dem Wettkampf mindestens 40 Morddrohungen per E-Mail und stand für den Rest der Winterspiele unter Polizeischutz. Er blieb in den verbliebenen beiden Wettkämpfen ohne Medaille: Über 500 Meter wurde er im Halbfinale wegen Behinderung eines Gegners disqualifiziert, im Staffelfinale stürzte sein Mannschaftskollege Rusty Smith, das US-Team belegte letztlich den vierten Rang.
Entwicklung und Erfolge zwischen 2002 und 2010
In den Wintern nach seinem ersten Olympiasieg blieb Ohno Teil der Weltspitze im Shorttrack. 2002/03 und 2004/05 entschied er zum zweiten beziehungsweise dritten Mal den Mehrkampf-Gesamtweltcup für sich, in der dazwischenliegenden Saison 2003/04 belegte er Rang drei in dieser Wertung hinter Ahn Hyun-soo und Song Suk-woo. Bei den Weltmeisterschaften 2005 in Peking siegte Ohno über 1000 Meter sowie 3000 Meter und gewann hinter Ahn die Silbermedaille im Mehrkampf. Als prägend für die Zeit zwischen den Winterspielen in Salt Lake City und denen in Turin 2006 bezeichnete Ohno in seiner 2010 erschienenen Autobiographie das weiterhin angespannte Verhältnis zur südkoreanischen Öffentlichkeit. Aus Sicherheitsbedenken sagten er und seine Teamkollegen die Teilnahme am Weltcup im November 2003 in Jeonju ab. Erst 2005 trat er unter strengen Schutzvorkehrungen wieder zu einem Wettkampf in Südkorea an, wurde zweimal disqualifiziert und entschied zwei Rennen für sich. Auch zur Entspannung seiner Beziehung mit der koreanischen Presse reiste Ohno im Sommer 2006 nach Südkorea und trainierte dort gemeinsam mit den ortsansässigen Athleten in der Nähe von Seoul.
Um mit jüngeren, leichteren Konkurrenten wie Ahn Hyun-soo mithalten zu können, arbeitete Ohno an seinem Körper: Mit Unterstützung seines Privattrainers John Schaeffer, der ihn seit 2003 parallel zur neuen Nationaltrainerin Li Yan betreute, stellte er seine Ernährung um, verzichtete weitgehend auf kohlehydratreiche Kost und verringerte seinen Körperfettanteil bis 2010 auf 2,8 Prozent. In den Jahren vor Olympia 2010 reduzierte er sein Gewicht um mehrere Kilogramm auf 66 kg. Gleichzeitig trainierte er insbesondere seine Beinmuskulatur und drückte nach eigener Aussage in einem typischen Workout Anfang 2010 einbeinig etwa 450 kg (1000 Pfund) an der Beinpresse. Gemäß Ohnos Beobachtung hatte sich der Sport gegenüber früheren Jahren verändert: Anders als noch 2002 habe nun hohe Geschwindigkeit nicht mehr allein die zentrale Rolle gespielt, dafür hätten sowohl effizientes Laufen als auch Kraft an Bedeutung gewonnen. Seine typische Rennstrategie über den Großteil seiner Karriere beschrieb Ohno in seiner Autobiographie von 2010 dahingehend, dass er sich zu Beginn eines Rennens kräfteschonend hinten im Feld aufgehalten habe, um dann am Ende an den anderen Läufern vorbeizulaufen. Ein Bericht der Süddeutschen Zeitung äußerte sich 2006 bewundernd über die diesbezügliche „Lässigkeit“ Ohnos, mit der er die ersten Runden bestreite, bis er plötzlich sein Gewicht verlagere, Schwung aufnehme und sich an die Spitze setze. Er selbst galt als schwer zu überholen – ein Porträt von Sports Illustrated charakterisierte ihn 2004 in dieser Hinsicht als „körperlichen und raffinierten Läufer“ (im Original: „physical and cunning skater“) und zitierte seinen kanadischen Kontrahenten Mathieu Turcotte, dass er gegen Ohno nur gewinnen könne, wenn er das Rennen von vorne gestalte.
Bei den olympischen Shorttrack-Wettbewerben 2006 in Turin gewann Ohno drei weitere Medaillen, darunter über 500 Meter eine zweite goldene. Auf der Sprintstrecke lief er in olympischer Rekordzeit von 41,935 Sekunden zum Sieg vor François-Louis Tremblay und Ahn Hyun-soo, der zuvor die beiden anderen Einzelrennen für sich entschieden hatte. Abweichend zu seiner üblichen Rennstrategie führte Ohno den Wettkampf vom Start weg an und behielt die erste Position durchgängig bis ins Ziel. Rückblickend sprach er von einem „perfekten Rennen“ über die 500-Meter-Distanz, auf der er sonst weniger Erfolge feierte als auf den längeren Strecken und die er in seiner Autobiographie als „glücksspielähnlich“ (im Original: „something of a crapshoot“) bezeichnete. Ohno holte in Turin zudem auf der 1000-Meter-Distanz sowie mit der US-Staffel zweimal Bronze. Neben Chad Hedrick war er einer der erfolgreichsten Athleten aus dem US-amerikanischen Olympiakader von 2006. Zwei Jahre später wurde er bei den Weltmeisterschaften 2008 in Gangneung zum einzigen Mal in seiner Laufbahn Weltmeister im Mehrkampf. Im Zeitraum von 2002 bis 2013 war Ohno der einzige nicht für Südkorea startende Shorttracker, der diesen Titel errang. 2009 gewann die US-Staffel in Wien zum zweiten Mal nach 2001 die WM-Goldmedaille. Seine letzten Wettbewerbe absolvierte Ohno bei den Winterspielen 2010 in Vancouver, wo er wie 2006 drei Medaillen gewann: Silber über 1500 Meter hinter Lee Jung-su sowie Bronze über 1000 Meter und mit der Staffel an der Seite von John Celski, Simon Cho, Travis Jayner und Jordan Malone. Den 500-Meter-Wettkampf beendete er an zweiter Stelle, wurde jedoch nach dem Rennen disqualifiziert, weil er François-Louis Tremblay gestoßen hatte. Insgesamt gewann Ohno bei seinen Auftritten in Salt Lake City, Turin und Vancouver acht olympische Medaillen. Damit übertraf er den von Bonnie Blair gehaltenen Rekord, die als bis dahin historisch erfolgreichste US-Teilnehmerin an Olympischen Winterspielen sechs Medaillen – darunter fünf goldene – gewonnen hatte. Nach Olympia 2010 trat Ohno nicht mehr zu Shorttrack-Wettkämpfen an, trainierte aber weiter und hielt sich zunächst eine Rückkehr in das US-Team für die Winterspiele 2014 in Sotschi offen. Im April 2013 gab er bekannt, keine weitere Olympiateilnahme anzustreben. Damit erklärte er faktisch sein Karriereende.
Außersportliche Tätigkeiten
Die hohe mediale Präsenz von Ohno vor allem in den Olympiaübertragungen von NBC – die ihn unter allen Teilnehmern der Winterspiele sowohl 2002 als auch 2006 und 2010 am häufigsten erwähnten – verschaffte ihm große Popularität in der amerikanischen Öffentlichkeit. Seine Bekanntheit erweiterte er mit einem Auftritt in der vierten Staffel der Tanz-Castingshow Dancing with the Stars, die er im Mai 2007 mit seiner Partnerin Julianne Hough gewann. Ohno trat in der Folge als Werbeträger für Marken wie Coca-Cola und Omega in Erscheinung, Alaska Airlines druckte im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2010 sein Bild auf eine Boeing 737. Ein Sportvermarkter verortete ihn Anfang 2010 unter den 100 am besten verdienenden US-Sportlern – mit deutlichem Abstand auf die absoluten Topverdiener um Golfer Tiger Woods, auch bedingt durch die „Obskurität“ von Shorttrack im Vergleich zu etablierten Sportarten wie Basketball und American Football. Ohnos Einnahmen durch Sponsorenverträge im Jahr vor den Winterspielen in Vancouver wurden von Forbes auf anderthalb Millionen US-Dollar geschätzt.
Neben Gastauftritten in verschiedenen Fernsehserien und -shows (unter anderem in einer Episode von Hawaii Five-0 sowie bei Best Time Ever with Neil Patrick Harris) moderierte Ohno 2013 die Spielshow Minute to Win it. Für NBC wirkte er als Kommentator an der Berichterstattung von den Winterspielen 2014 und 2018 mit. Nachdem er bereits 2002 und 2010 zwei Autobiographien veröffentlicht hatte, war er 2020 Teil der Dokumentation The Weight of Gold von HBO Sports. Dort sprach er neben anderen Olympiasiegern in Interviews insbesondere über psychische Herausforderungen während und nach seiner Laufbahn.
Im Lauf seiner Karriere setzte sich Ohno für mehrere gute Zwecke ein, darunter die Initiative Product Red im Jahr 2006. Seit 2012 ist er Global Ambassador (weltweiter Botschafter) für die Special Olympics. Nach seinem Rücktritt vom aktiven Sport betätigte sich Ohno in unterschiedlichen Feldern als Geschäftsmann mit einem Schwerpunkt im asiatischen Raum. Er investierte unter anderem in Seltene Erden, digitale Währungen und Gesundheitstechnologie. Zudem tritt er als professioneller Redner auf.
Persönliches
Apolo Anton Ohnos Vater Yuki Ohno wanderte in den 1970er-Jahren aus Japan in die Vereinigten Staaten ein. Seine amerikanische Mutter lernte Apolo Ohno nicht kennen, sie verließ die Familie in seinem ersten Lebensjahr. Gegenüber Sports Illustrated bestätigte Ohno 2002, dass er einen zehn Jahre älteren Halbbruder habe, der wie seine Mutter keine Rolle in seinem Leben gespielt habe. Ohno bezeichnet sich selbst als Hapa – ein ursprünglich hawaiianischer Begriff für eine Person mit gemischter ethnischer Herkunft – und betont die Bedeutung, die sein multiethnischer Hintergrund für ihn habe: Weil ihm selbst beim Aufwachsen ein asiatisch-amerikanisches Vorbild in Fernsehen und Sport gefehlt habe, setze er sich besonders für die Repräsentation dieser Gruppe ein.
Die Beziehung zu seinem Vater beschreibt Ohno als ausgesprochen positiv. Er habe jeden seiner Schritte begleitet und sei die wichtigste Person hinter seinen Erfolgen. Gleichzeitig berichteten sowohl die US-Medien als auch Ohno selbst in seinen Autobiographien ausführlich über seine rebellische Teenagerzeit. Mit 13 Jahren verbrachte er demnach viel Zeit mit älteren Freunden, was seinen Vater befürchten ließ, dass sie ihn negativ beeinflussten. Auch aus diesem Grund legte Yuki Ohno Wert darauf, dass sein Sohn Seattle im Sommer 1996 verließ und für das Training mit dem US-Juniorenteam nach Lake Placid zog. Apolo Ohno empfand seinen Vater als überfürsorglich und wehrte sich zunächst gegen den Umzug, lebte sich aber nach einer Eingewöhnungszeit im neuen Umfeld ein. Als „life-defining moment“ (auf Deutsch: entscheidenden Moment seines Lebens) beschrieb Ohno die Zeit nach der verpassten Olympiaqualifikation 1998: Er sei sich unsicher gewesen, ob er weiter Shorttrack betreiben sollte; sein Vater habe ihn daraufhin für gut eine Woche alleine in einer abgeschiedenen Hütte an der Küste Washingtons abgesetzt, wo er die Entscheidung getroffen habe, sich dem Sport voll zu verschreiben.
Ein Artikel der New York Times von Anfang 2010 bescheinigte Ohno seit seiner ersten Olympiateilnahme 2002 einen geistigen und körperlichen Reifeprozess, der in erster Linie auf seine Trainer John Schaeffer und Jae Su Chun (den US-Nationaltrainer von 2007 bis 2012) sowie auf seinen Vater zurückzuführen sei. Ohno habe seine Emotionen in den Griff bekommen und klinge häufig wie ein Zen-Meister. Seit der Zusammenarbeit mit einem Sportpsychologen war Meditation nach Ohnos Aussage wesentlicher Bestandteil seines Trainings. Ohno, der als Jugendlicher den Spitznamen „Chunky“ (auf Deutsch etwa: Dickerchen) trug, entwickelte in den 2000er-Jahren eine Leidenschaft für das Laufen. Nach seinem Karriereende als Shorttracker beendete er unter anderem den New-York-City-Marathon 2011 in 3:25:14 Stunden sowie den Ironman Hawaii 2014 in 9:52:27 Stunden. Im Januar 2013 gab er bekannt, dass er seit Beginn seiner sportlichen Laufbahn einen belastungsbedingten Bronchospasmus habe, den er seit der 2000 erfolgten Diagnose mit Bronchodilatatoren behandelte. Ohno erklärte im Rückblick auf seine Laufbahn, dass er während seiner aktiven Zeit nicht öffentlich über diese gesundheitliche Einschränkung sprechen wollte, unter anderem um keine Schwächen zu zeigen. Er musste seine Medikation aber bei Dopingkontrollen im Einklang mit den olympischen Dopingrichtlinien anzeigen.
2010 zog Ohno von Salt Lake City, wo er sich auf die Winterspiele in Vancouver vorbereitet hatte, nach Los Angeles.
Öffentliches Bild und Würdigung
Bei der Entwicklung und Popularisierung des US-amerikanischen Shorttracks nimmt Apolo Ohno eine zentrale Stellung ein. Seit seinem Auftritt bei den Winterspielen 2002 gilt er als bekanntestes Gesicht der Sportart, die in den Vereinigten Staaten zuvor nahezu unbekannt war und deren Wettbewerbe viele Amerikaner ausschließlich seinetwegen verfolgten. Die Olympiamedaillengewinner John Celski – wie Ohno aus Federal Way stammend – und Jordan Malone nannten ihn als ihr Idol und den Grund, warum sie mit der Sportart angefangen hatten. Eine Rolle für Ohnos Wahrnehmung als Publikumsliebling spielte sein markantes Aussehen mit langen Haaren, Bandana und Soul Patch. Darüber hinaus galt sein Werdegang einigen Beobachtern als Beispiel für eine amerikanische Erfolgsgeschichte. Von seinem anfänglichen Scheitern erholte er sich demnach mit einer Mischung aus Wagemut, harter Arbeit, Demut und Selbstbewusstsein. Gemäß einer alternativen Sichtweise stand Ohno hingegen für negative Attribute, die mit den Vereinigten Staaten verbunden werden, darunter Arroganz, Schikane („bullying“) und wenig Rücksicht anderen gegenüber. Diese Perspektive war vor allem in Südkorea verbreitet, wo Ohno nach dem 1500-Meter-Finale von Salt Lake City 2002 über mehrere Jahre eine Symbolfigur des Antiamerikanismus war und erst nach Ende seiner Laufbahn wieder positive Presse erhielt. Die deutsche Tageszeitung (taz) zitierte noch 2010 die Shorttrackerin Aika Klein, Ohno sei „nicht immer ein sehr fairer Läufer“ und genieße einen Vorteil bei Schiedsrichterentscheidungen.
Ohno wurden verschiedene Ehrungen und Aufnahmen in Ruhmeshallen zuteil: 2007 wurde er in die drei Jahre zuvor in Seattle gegründete Asian Hall of Fame aufgenommen, im Mai 2016 in die US Speedskating Hall of Fame. Der US-Eisschnelllaufverband hatte ihn bereits 2003 als Athleten des Jahres ausgezeichnet. Dreimal stand er unter den Finalisten des James E. Sullivan Awards. Seit 2019 gehört er der United States Olympic & Paralympic Hall of Fame an.
Statistik
Olympische Winterspiele
Von 2002 bis 2010 zählte Apolo Anton Ohno bei drei aufeinanderfolgenden Winterspielen zum US-amerikanischen Aufgebot. Er nahm an zwölf Wettkämpfen teil, in denen er acht Medaillen, darunter zwei goldene, gewann.
Weltmeisterschaften
1997 nahm Ohno in Nagano an seinen ersten Shorttrack-Weltmeisterschaften teil. Bis 2009 folgten neun weitere WM-Starts. 1998 qualifizierte er sich nicht für das US-Nationalteam, in den späteren olympischen Jahren verzichtete er (teils verletzungsbedingt) auf eine Teilnahme. Bis einschließlich der WM 2000 führt die Internationale Eislaufunion (ISU) nur die Erstplatzierten im Mehrkampf und in Staffeln als Medaillengewinner, seit 2001 wird diese Ehre auch den Besten auf den Einzelstrecken 500 Meter, 1000 Meter und 1500 Meter zuteil. Das 3000-Meter-Rennen zählt weiterhin ausschließlich für den Mehrkampf. Wettbewerbe, in denen keine Medaillen vergeben wurden, sind in der folgenden Tabelle mit einem leichten grauen Hintergrund markiert. Die Darstellung der Ergebnisse folgt Ohnos Profil in der ISU-Datenbank. Demnach gewann er sechs Goldmedaillen, fünf Silbermedaillen und vier Bronzemedaillen bei Weltmeisterschaften. Seinen einzigen Titel im Mehrkampf errang er 2008 in Gangneung.
Ergebnisüberblick
Medaillenüberblick
ein Erfolg im Mehrkampf, fünf Siege auf Einzelstrecken (darunter zwei im 3000-Meter-Superfinale), zwei Siege mit der Staffel
insgesamt sechs Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften, darunter vier Einzelgoldmedaillen
Neben den Weltmeisterschaften wurden während Ohnos Karriere auch Team-Weltmeisterschaften ausgetragen. Hier gewann das US-Team mit Ohno 2008 in Harbin die Goldmedaille und 2009 in Heerenveen Bronze.
Weltcup
Ohno gehörte von der Erstaustragung des Weltcups 1998/99 bis zu seinem Karriereende 2010 nahezu durchgehend zum US-Kader der höchsten Rennserie. (Im Winter 2006/07 legte er eine mehrmonatige Auszeit ein und startete nicht im Weltcup, 2001/02 nur bei einer von fünf Stationen.) In dieser Zeit entschied er 57 Weltcupveranstaltungen für sich: fünf Rennen über 500 Meter, elf über 1000 Meter, dreizehn über 1500 Meter und elf über 3000 Meter, dazu vier Staffeln und dreizehn Mehrkämpfe. 3000-Meter-Rennen und Mehrkämpfe zählten seit der Saison 2006/07 nicht mehr zum Weltcupprogramm. In den Wintern 2000/01, 2002/03 und 2004/05 entschied Ohno die Gesamtweltcupwertung im Mehrkampf für sich, 2000/01 zusätzlich die Gesamtklassements aller Distanzen.
Die folgende Tabelle bildet für jede Saison das Ergebnis Ohnos in den Gesamtwertungen über 500 Meter, 1000 Meter, 1500 Meter und im Mehrkampf (bis 2006) ab sowie – nicht nach Disziplin aufgeschlüsselt und inklusive Staffeln – die Zahl seiner Weltcupsiege und Podiumsplatzierungen in dieser Saison.
Literatur
Publikationen
mit Alan Abrahamson: Zero regrets : be greater than yesterday. Atria Books, New York 2010, ISBN 978-1-4516-0908-0.
mit Nancy Ann Richardson: A journey : the autobiography of Apolo Anton Ohno. Simon & Schuster Books for Young Readers, New York 2002, ISBN 978-0-689-85608-2.
Biographien und Sekundärliteratur
John Slack: Not Sporting: The Short Track Racing Incident. In: David Straub (Hrsg.): Anti-Americanism in democratizing South Korea. Walter H. Shorenstein Asia Pacific Research Center, Stanford, CA, 2015, S. 133–155.
Terumi Rafferty-Osaki: Apolo Anton Ohno. In: Xiaojian Zhao & Edward Park (Hrsg.): Asian Americans: An Encyclopedia of Social, Cultural, Economic, and Political History. Greenwood 2013. ISBN 978-1-59884-239-5. S. 890–891.
Ken Robison: Apolo Ohno. Morgan Reynolds Pub., Grensboro 2012, ISBN 978-1-59935-186-5.
Michael V. Uschan: Apolo Anton Ohno. Lucent Books, Detroit 2011, ISBN 978-1-4205-0603-7.
Rebecca Aldridge: Apolo Anton Ohno. Chelsea House, New York 2009, ISBN 978-1-60413-565-7.
Weblinks
Offizieller Webauftritt von Apolo Ohno (englisch)
Apolo Anton Ohno in der Ergebnisdatenbank der Internationalen Eislaufunion (englisch)
Einzelnachweise
Shorttracker (Vereinigte Staaten)
Olympiateilnehmer (Vereinigte Staaten)
Teilnehmer der Olympischen Winterspiele 2002
Teilnehmer der Olympischen Winterspiele 2006
Teilnehmer der Olympischen Winterspiele 2010
Olympiasieger (Shorttrack)
Weltmeister (Shorttrack)
US-Amerikaner
Geboren 1982
Mann |
1287274 | https://de.wikipedia.org/wiki/Belgische%20Revolution | Belgische Revolution | In der Belgischen Revolution von 1830 erhob sich die überwiegend katholische Bevölkerung der südlichen Provinzen des Vereinigten Königreichs der Niederlande gegen die Vorherrschaft der mehrheitlich protestantischen Nordprovinzen. Innerhalb weniger Wochen im August und September führte der Aufstand zur Aufteilung des Königreiches in zwei Staaten. Das überwiegend niederländischsprachige Flandern und das überwiegend französischsprachige Wallonien begründeten das neue Belgien. Nur Teile Luxemburgs blieben bis 1890 in Personalunion mit den Niederlanden verbunden.
Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert hatten alle Teile der Niederlande eine gemeinsame (burgundische, habsburgische bzw. spanische) Geschichte. Im Zuge der Reformation und Gegenreformation und des Achtzigjährigen Krieges löste sich der reformiert (calvinistisch) regierte Norden als Republik der Sieben Vereinigten Niederlande von den spanischen Niederlanden im Süden. Nach dem Wiener Kongress 1815 wurden Nord und Süd – gemeinsam mit dem ehemaligen Hochstift Lüttich und dem heutigen Großherzogtum Luxemburg – wieder vereinigt. Die religiöse, sprachliche und wirtschaftliche Kluft, die 1581/1648 zur Trennung geführt hatte, hatte sich in den rund 250 Jahren getrennter Geschichte weiter vertieft, zumal die calvinistische Religionspolitik mit ihrer Einschränkung der katholischen Religionsausübung nicht aufgehoben wurde. Die Kluft erwies sich bald als unüberbrückbar. Die Folge war die bürgerliche, liberale Revolution, die auch im europäischen Kontext der französischen Julirevolution zu sehen ist. Der junge belgische Staat erlangte bis 1839 die volle Unabhängigkeit und legte in dieser Zeit das politische System fest, das in seinen Grundzügen bis heute besteht.
Belgien und die Niederlande bis 1815
Gemeinsame Geschichte
Die Territorien, die heute die Niederlande, Belgien und Luxemburg umfassen, waren im Mittelalter kulturell und politisch miteinander verbunden und gehörten mit Ausnahme des Bistums Lüttich vom 14./15. Jahrhundert bis ins 16. Jahrhundert als Burgundische Niederlande, zuletzt als Burgundischer Reichskreis, gemeinsam zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die Grafschaft Flandern und das Herzogtum Brabant nahmen mit ihren Städten (Antwerpen, Brügge, Gent, Brüssel, Ypern, Mechelen) eine kulturelle und wirtschaftliche Führungsrolle im niederländischen Raum ein. Die 1464 zum ersten Mal einberufenen Generalstaaten der Niederlande tagten in Brüssel, das höchste Gericht kam in Mechelen zusammen. Vom Haus Burgund waren die Niederlande 1482 durch Erbfolge auf die Habsburger übergegangen und erlebten unter Karl V. eine Blütezeit als bedeutender Teil seines Weltreiches. Nach seiner Abdankung 1555 kam das Territorium als Spanische Niederlande an seinen Sohn Philipp II. und damit an Spanien.
Getrennte Geschichte
Zur Trennung kam es im Zuge der Glaubensspaltung. Zunächst wurden die politischen Eliten der niederländischsprachigen Provinzen bis weit in den Süden der spanischen Niederlande vom Calvinismus erfasst. Infolgedessen brach 1568 der Achtzigjährige Krieg zwischen Spanien und den protestantisch bestimmten Landesteilen aus. Während sich die wallonischen Provinzen in der Union von Arras (niederländisch Unie van Atrecht) ausdrücklich zum katholischen Spanien stellten, schlossen sich 1579 die nördlichen Territorien, einschließlich Flanderns und Brabants, in der Utrechter Union zusammen. 1581 lösten sich die nördlichen Provinzen als Republik der Sieben Vereinigten Niederlande von der spanischen Oberhoheit und vom Deutschen Reich, mit dem sie ohnehin nur noch lose verbunden waren. Die Calvinisten betrieben eine konsequente calvinistische Konfessionalisierung durch das 1581 umgesetzte Verbot der katholischen Kirche und der katholischen Religionsausübung. Verbunden waren damit berufliche, gesellschaftliche und politische Ausgrenzung für die verbliebenen Katholiken.
Der Fall Antwerpens 1585 markiert eine Zäsur in der Geschichte beider Länder. Mit ihm fiel der Süden dauerhaft an Spanien und wurde bis in die Eliten rekatholisiert. Zahlreiche Intellektuelle, Künstler und Kaufleute flohen in den Norden. Die Folge war der Verlust der dominierenden Stellung der flämischen Städte und ein gleichzeitiges wirtschaftliches Aufblühen im Norden, wo jetzt das Goldene Zeitalter anbrach. Während im Norden eine Oligarchie weniger patrizischer Familien herrschte, unterstanden die südlichen Niederlande der Habsburgermonarchie. Die Interessen Madrids nahm ein Provinzstatthalter wahr, der von Brüssel aus regierte. Der fast ununterbrochene Krieg Spaniens mit den Niederlanden fand erst 1648 mit dem Frieden von Münster ein Ende, in dem die Trennung von Nord und Süd zementiert wurde. Da die Scheldemündung an die Niederländer ging, die diese schlossen, wurde Antwerpen von der See abgeschnitten und sein Handel erlag nun völlig. Einige von der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande seit langem militärisch besetzte Gebiete wie etwa Nordbrabant wurden nun offiziell der Republik angeschlossen, die damit wieder eine offizielle Minderheit von 35 Prozent Katholiken zählte. Diese neugewonnenen katholischen Gebiete wurden als Untertanenland behandelt, den religiösen Minderheiten und damit auch den Katholiken wurden jedoch in den Republiken – im Gegensatz zu den sieben Provinzen nach 1581 – zumindest im privaten Bereich die katholische Religionsausübung gestattet. In dieser Zeit gab es zwar Gesetze gegen Katholiken, aber diese Gesetze wurden im Laufe der Zeit immer weniger streng angewandt.
Auch durch den habsburgisch-französischen Gegensatz waren die Spanischen Niederlande ständiger Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen und verloren im Pyrenäenfrieden (1659) und im Devolutionskrieg (1667–1668) wichtige Gebiete und Städte an Frankreich, darunter Lille, Arras, Cambrai und die Grafschaft Artois. Nach dem zum Teil auf niederländischem Gebiet ausgefochtenen Spanischen Erbfolgekrieg wurde das bisher spanische Gebiet im Frieden von Utrecht 1714 als nunmehr Österreichische Niederlande den österreichischen Habsburgern zugesprochen.
Die Entwicklung seit der Französischen Revolution
1789/90 kam es nach Auseinandersetzungen mit Kaiser Josef II. in Brabant zur Revolution unter Führung von Hendrik van der Noot und Jan Frans Vonck, die am 11. Januar 1790 in der Unabhängigkeitserklärung der südlichen Niederlande als Etats Belgiques Unis (Vereinigte Belgische Staaten) mündete. Diese konföderierte Republik hatte zwar nur kurze Zeit Bestand, war jedoch Ausdruck der bereits entwickelten Unabhängigkeitsbestrebungen, die in Abgrenzung zu den zentralistischen Reformbestrebungen Josefs II. entstanden waren. In diesem Zusammenhang kamen verschiedene Konzepte einer „belgischen Nation“ auf, ohne dass man sich aber auf eine gemeinsame Definition dieses Begriffs hätte einigen können. Immerhin sollte das Gefühl der Zusammengehörigkeit aber auch nach dem Scheitern der Republik lebendig bleiben und unter ganz anderen Vorzeichen in der Revolution des Jahres 1830 wieder zum Ausbruch kommen. Gleichzeitig zur Revolution in Brabant kam es auch im Hochstift Lüttich zu einem von der französischen Revolution beeinflussten Umsturz.
Nachdem sowohl die österreichischen als auch die nördlichen Niederlande während des Ersten Koalitionskrieges 1794 bzw. 1795 durch französische Revolutionstruppen besetzt worden waren, wurde Belgien durch den Friedensvertrag von Campo Formio für die nächsten zwanzig Jahre ein Teil Frankreichs. Langfristig bedeutsam wurde, dass sich trotz anfänglicher Proteste gegen die Einverleibung das belgische Bürgertum in dieser Phase mehr und mehr der französischen Kultur und Sprache zuwandte. Die nördlichen Niederlande entwickelten sich zunächst zur von Frankreich abhängigen Batavischen Republik (1795–1806), dann zum Königreich Holland unter Napoleons Bruder Louis Bonaparte (1806–1810), und schließlich wurden sie ebenfalls in den französischen Staat eingegliedert. Als 1810 die Kontinentalsperre gegen England verhängt wurde, kam es zu einer Wirtschaftskrise, von der sich die Niederlande nicht mehr erholten, bis sich die französischen Truppen 1813 nach der Völkerschlacht bei Leipzig auch aus den Niederlanden zurückzogen.
Vereinigtes Königreich der Niederlande 1815–1830
Wiener Kongress
Im November 1813 übernahmen orangistisch gesinnte Politiker die öffentliche Gewalt in Den Haag und schon im Dezember ließ sich Erbprinz Wilhelm I. unter der Bürgschaft einer freien Verfassung zum souveränen Fürsten der Niederlande ausrufen. Noch vor der Schlacht bei Waterloo 1815 überzeugte Großbritannien, das die eigene Sicherheit durch ein Kräftegleichgewicht auf dem europäischen Festland gewahrt wissen wollte, die anderen Großmächte Österreich, Preußen und Russland davon, die frühere Republik der Sieben Vereinigten Niederlande, die ehemaligen österreichischen Niederlande (inkl. Luxemburg) und Lüttich zum Vereinigten Königreich der Niederlande zusammenzufügen, um einen Puffer sowohl gegen Frankreich als auch gegen Preußen zu errichten. Gleichzeitig entschädigten die Briten mit diesem territorialen Zugewinn die Niederlande für die Inbesitznahme der Kapkolonie.
Die Hoffnung der Konservativen in Belgien war die Restauration der österreichischen Herrschaft, doch da Wien daran offensichtlich kein Interesse mehr hatte, freundete man sich im Norden wie im Süden leicht mit der Alternative einer Vereinigung der Niederlande an. Entsprechende Pläne hatte im Londoner Exil bereits der Führer der Statisten während der Brabantischen Revolution, Hendrik van der Noot, mit Vertretern der Orangisten besprochen. Die Vereinigung wurde auf dem Wiener Kongress bestätigt. Der Kompromissvorschlag eines unabhängigen Staates unter einem österreichischen Prinzen fand keine Zustimmung, da ein solcher Staat als zu schwach eingeschätzt wurde.
Gemeinsamer Staat
Der neue Staat wurde nicht als föderaler, sondern als Einheitsstaat aufgebaut. Dies sollte sich als schwere Bürde herausstellen, denn schnell wurden die Gegensätze zwischen Nord und Süd zum Problem für das Vereinigte Königreich. Hauptsächliche Faktoren dafür waren religiöse und sprachliche Unterschiede, verschärft wurde die Entwicklung durch wirtschaftliche Probleme und die Nichterfüllung liberaler Forderungen. Das Ungleichgewicht wurde noch dadurch verstärkt, dass auf allen Gebieten der Norden dominierte, obwohl er mit zwei Millionen Einwohnern gegenüber 3,5 Millionen im Süden die deutlich geringere Bevölkerungszahl aufwies. Die „Hollandisierung“ stieß im Süden auf doppelten Widerstand: Die flämische Bevölkerung, insbesondere der Klerus, lehnte den Calvinismus des Nordens auf das Heftigste ab, zusätzlich wollte das frankophone Belgien sich nicht die niederländische Sprache aufzwingen lassen. Die mentale Kluft zwischen Belgiern und Holländern wuchs in solchem Maße, dass ein Aufstand unausweichlich schien. Geschürt wurde die gespannte Lage noch durch die Julirevolution in Frankreich, die ganz Europa in eine revolutionäre Unruhe versetzte und besonders auf den frankophonen Nachbarn im Norden ausstrahlte.
Nicht zuletzt trug auch das undiplomatische Auftreten König Wilhelms I. zum Ausbruch der Revolution bei. Wilhelm I. war von den konservativen Staatsvorstellungen der Restauration durchdrungen, die auch unter den Fürsten des Deutschen Bundes vorherrschte, insbesondere bei seinen preußischen Verwandten (seine Mutter Friederike Sophie Wilhelmine, die bis zu ihrem Tod 1820 großen Einfluss auf ihn hatte, war die Schwester des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II.).
Sprachkonflikte
1815 lebten im Süden 218.000 Analphabeten, gegenüber nur 23.000 im Norden. Die Bemühungen Wilhelms I. konzentrierten sich auf dieses Feld: Während seiner 15-jährigen Regierungszeit wurden im Süden 1500 Schulen gebaut, in denen in der Volkssprache unterrichtet wurde, in Flandern und in Brüssel war also Niederländisch Schulsprache, in Wallonien Französisch. Die Zahl der Grundschüler in den südlichen Provinzen verdoppelte sich von 150.000 auf 300.000.
Das frankophone Beamten- und Bürgertum reagierte empfindlich auf die Durchsetzung der niederländischen Sprache in der Armee, der Regierung und im Schulunterricht. Nicht nur die Wallonie war französischsprachig, auch im flämischen Norden sprach die Bourgeoisie französisch, während die übrige flämische Bevölkerung niederfränkische Dialekte sprach. So waren in Limburg noch bis um 1900 Limburgisch, Deutsch und Französisch (v. a. um Maastricht) die führenden Sprachen, während Niederländisch nur sporadisch gesprochen wurde.
Unterrepräsentation
Obwohl der Bevölkerungsanteil des Südens 62 % betrug, war er nur mit 50 % der Sitze im Parlament vertreten und nur einer von fünf Ministern war Süd-Niederländer. Die meisten staatlichen Institutionen waren im Norden angesiedelt, wo auch der größte Teil der Beamten angestellt war.
Das Kontingent, das die südlichen Niederlande für das Militär zu stellen hatten, war unverhältnismäßig groß. Gleichzeitig kam nur einer von sechs Offizieren aus dem Süden, die meistens auch nur in niedrigeren Rängen der Infanterie und Kavallerie zu finden waren. Bei der Artillerie und den Pionieren, für die eine besondere Ausbildung nötig war, war der Anteil belgischer Offiziere noch geringer.
Religiöse Gegensätze
Im Vereinigten Königreich standen 3,8 Millionen Katholiken (davon 800.000 im Norden) 1,2 Millionen Protestanten gegenüber. Im spanischen Süden war der römisch-katholische Glaube Staatsreligion gewesen, während der Calvinismus früher im Norden Landeskirche gewesen war. Für Konservative auf beiden Seiten waren deshalb zwei gleichberechtigte Religionen im Königreich nicht anzustreben. Wilhelm I. selbst war ein Anhänger der deutschen lutherischen Tradition der Landeskirche, in der der Fürst auch Haupt der Kirche war. Er versuchte, die katholische Kirche vom Einfluss der Römischen Kurie zu lösen und sie stattdessen unter staatliche Kontrolle zu bringen. So berief er selbst Bischöfe und entfachte einen Schulstreit, als er durch im Jahr 1825 verfügte Erlasse („Juni-Edikte“) es untersagte, an katholischen Schulen Gymnasialunterricht zu erteilen. Fortan sollte es nur noch staatliche „Lateinschulen“ geben. Den Priesterseminaren wurde es untersagt, Priesteramtskandidaten aufzunehmen, die ein Kleines Seminar durchlaufen hatten. Diese Maßnahme löste in der katholischen Mehrheitsbevölkerung einen heftigen Widerstand aus.
Die Unterrepräsentation des Südens war nicht zuletzt den katholischen Bischöfen zuzuschreiben, die den Gläubigen unter Androhung der Exkommunikation verboten hatten, eine Staatsstellung anzunehmen. Dieses Verbot war schon 1815 von dem französischen Bischof von Gent, Prinz de Broglie, ausgesprochen worden. 1817 eskalierte der Streit zwischen de Broglie und dem Haus Oranien, und er wurde seines Amtes enthoben und des Landes verwiesen. Sein persönlicher Hass auf die Oranier hatte solche Ausmaße angenommen, dass er öffentlich das ungeborene Kind der schwangeren Prinzessin von Oranje verfluchte. Den offenen Widerstand der katholischen Kirche nutzte wiederum die Regierung, um bei der Ernennung von Beamten für die Beibehaltung des holländisch-protestantischen Charakters des Staatsapparates zu sorgen. Trotzdem wollte König Wilhelm I. das Grundgesetz so anpassen, dass auch ein Katholik König werden könnte.
Als Wilhelm I. 1825 dem Klerus den Gymnasialunterricht entzog und diesen nur noch in staatlichen Schulen erlaubte, näherten sich die Katholiken unter dem Einfluss des französischen Priesters Félicité de Lamennais, der eine deutliche Trennung von Kirche und Staat lehrte, sogar den Liberalen an, um gemeinsam gegen Wilhelm I. zu opponieren. Im Dezember 1825 rief der katholische Politiker Baron de Gerlache aus Lüttich die Liberalen zum ersten Mal zu einer Vereinigung beider Oppositionsgruppen auf. Er verband die Freiheit des Unterrichts, die die Kirche forderte, mit der persönlichen Freiheit der Religionsausübung und der Presse. Ab 1828 wuchs die gemeinsame Kritik in den Zeitungen; Liberale und Katholiken stellten einen gemeinsamen Forderungskatalog auf. Diese Oppositionskoalition wurde Unionismus, spöttelnd auch Monsterverbond genannt.
Liberale Forderungen
Die antiklerikal eingestellten Liberalen waren neben Vertretern der Wirtschaft anfangs die einzigen gewesen, von denen Wilhelm I. Unterstützung erhielt. Nach etlichen Enttäuschungen begann Ende der 1820er Jahre für eine Gruppe junger Liberaler der Wunsch nach einer neuen Staatsordnung jedoch stärker zu werden als ihr Antiklerikalismus. Diese Generation hatte die privilegierte Position der Kirche vor der Französischen Revolution nicht mehr kennen gelernt und stand unter starkem Einfluss der französischen Liberalen, die zusammen mit der Kirche einen Kampf gegen den absolutistisch regierenden Karl X. führten. Als Element der Meinungs- und persönlichen Freiheit wurde jetzt auch die Freiheit des Glaubens betont. Großen Einfluss auf diese Gruppe junger Liberaler, darunter Joseph Lebeau und der französischstämmige spätere Premierminister Belgiens Charles Rogier aus Lüttich, Louis de Potter aus Brügge und der Luxemburger Jean-Baptiste Nothomb, hatte der schweizerisch-französische Philosoph Benjamin Constant.
1815 hatte Wilhelm I. dem Süden einen heftig kritisierten und sehr konservativen Grundgesetzentwurf aufgezwungen: Während der Norden seine Zustimmung gab, fiel er im Süden durch. Wilhelm I. wandte eine spöttisch als arithmetique hollandaise bezeichnete Interpretation an und erklärte kurzerhand alle Enthaltungen als prinzipielle Zustimmung. Im Grundgesetz fehlte jede ministerielle Verantwortung dem Parlament gegenüber, das auch weder gesetzgebende Macht noch das Haushaltsrecht besaß. Überdies wurden die Mitglieder der ersten Kammer nach Vorbild des britischen Oberhauses vom König selbst auf Lebenszeit berufen, die der zweiten Kammer der Generalstaaten nach einem gestuften Zensuswahlrecht gewählt.
Als besonders gravierender Missstand wurde unter Intellektuellen das Fehlen von Presse- und Versammlungsfreiheit empfunden. Dies wurde als ein zusätzliches Mittel zur Kontrolle durch den Norden wahrgenommen.
Ökonomische Gegensätze
Der Süden war industriell fortschrittlicher, der Norden traditionell eine auf Seehandel und Landwirtschaft ausgerichtete Region. Hatte Wilhelm I. anfangs noch Unterstützung in Belgien, so kam diese vor allem aus dem auf wirtschaftliche Entwicklung orientierten, gemäßigt-liberalen Teil der französischsprachigen Wallonie. Auch in und um Antwerpen hatte die Öffnung der Schelde einiges Wohlwollen zur Folge.
Die Industrien des Südens machten innerhalb kurzer Zeit eine Metamorphose durch: Durch die Abspaltung von Frankreich hatten sie ihren wichtigsten Absatzmarkt größtenteils verloren, doch durch die Öffnung des Antwerpener Hafens und den Zugang zum ostindischen Markt wuchs die belgische Wirtschaft trotzdem stark an. Gent war Ende der 1820er Jahre mit 30.000 gutbezahlten Arbeitern die Textilhauptstadt des europäischen Kontinents und der Schiffsverkehr im Hafen von Antwerpen stieg von 585 Schiffen mit 65.000 Tonnen Ladung 1819 auf 1.028 Schiffe mit 129.000 Tonnen 1829 an.
Andererseits überschwemmte Großbritannien nach dem Wegfall der Kontinentalsperre den Kontinent mit billigen Produkten, gegen die die im Vergleich zu England weniger mechanisierte Industrie der südlichen Niederlande kaum konkurrenzfähig war. Nur wenig später flammte in Ostindien ein langandauernder Aufstand auf, unter dem die Industrie zusätzlich litt. Hinzu kam 1829 eine Missernte, die die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb.
Als ungerecht wurde die Zusammenlegung der sehr ungleich eingebrachten Staatsschulden empfunden (1,25 Milliarden Florin des Nordens gegenüber nur 100 Millionen Florin des Südens), die von beiden Landesteilen gemeinsam getragen wurde. Mit der Algemeene Nederlandsche Maatschappij, aus der später die Belgische Nationalbank hervorging, richtete Wilhelm I. ein Gegenstück zur Bank von Amsterdam ein. Als öffentlicher Kreditgeber sollte die Gesellschaft die Ökonomie stimulieren.
Die Revolution von 1830
Politische Krise
Seit Katholiken und Liberale 1825 in der Union zusammengefunden hatten, befand sich das Königreich im Zustand einer permanenten Krise. 1829 wurde die Auseinandersetzung zwischen König und Liberalen immer heftiger. Der König lehnte jede ministerielle Verantwortung gegenüber dem Parlament ab und noch entschiedener eine Trennung von Nord und Süd mit jeweiliger Regierung und Verwaltung. Das Regime von Wilhelm I. wurde nach preußischem Muster immer offensichtlicher autoritär. Der König erklärte, dass seine Souveränität zeitlich dem Grundgesetz vorangegangen sei und dass dieses ihn deshalb nicht einschränken könne. Im Mai 1829, mitten in die politische Krise hinein, berief er seinen Sohn, den Prinzen von Oranien, den späteren König Wilhelm II., zum Vorsitzenden des Ministerrats und Vizepräsidenten des Staatsrates, um deutlich zu machen, dass die Minister allein dem König verantwortlich seien. Regierungskritik bedeutete unter diesen Voraussetzungen einen Angriff auf die Monarchie.
Die Presse, v. a. der Courrier des Pays-Bas, hatte zunehmend ihre Stimme gegen Wilhelm I. erhoben und immer weitgehendere Forderungen gestellt, wodurch sich die Regierung schließlich zu energischem Auftreten veranlasst sah. Am 11. Dezember 1829 erschien mit einem reaktionären Pressegesetzentwurf eine königliche Botschaft, die von allen Beamten unter Androhung der Absetzung binnen 24 Stunden unterzeichnet werden musste und in der diese ihre Loyalität zum König und ihre Zustimmung zum Grundgesetz versichern mussten. Gleichzeitig wurde gegen die Presse streng eingeschritten und nach einem Aufsehen erregenden Prozess wurden im März mehrere der angesehensten Stimmführer der Opposition des Landes verwiesen, darunter Louis de Potter (der 1828 bereits zu einer 18-monatigen Haftstrafe verurteilt worden war), François Tielemans und Adolf Bartels.
Die Julirevolution in Frankreich
Die Julirevolution vom 27. Juli 1830 in Paris hatte nach kaum drei Tagen König Karl X. gestürzt und den Bürgerkönig Ludwig Philipp auf der Grundlage einer konstitutionellen Monarchie an die Macht gebracht. Er wurde ein roi des Français par la volonté nationale. Diese liberale Revolution strahlte auf Belgien aus und verstärkte die unruhige Stimmung. Manche hofften, notfalls auf militärische Hilfe Frankreichs rechnen zu können, andere setzten auf innere Reformen der Vereinigten Niederlande.
Während die Revolution in Frankreich liberal ausgerichtet war, standen die Revolutionen in Griechenland, Polen und Italien, die im Zeitraum von 1829 bis 1831 ausbrachen, im Zeichen eines romantisch inspirierten Nationalismus. Hier stand das Volk im Mittelpunkt, das durch historische Entwicklungen verbunden sei und eine Gemeinschaft bilde, die das Recht auf Selbstregierung und die Bildung einer Nation habe.
Die August-Unruhen
Am 25. August 1830 brach nach einer Vorstellung der romantisch-nationalistischen Oper La muette de Portici (Die Stumme von Portici) von Daniel-François-Esprit Auber in der Brüsseler Oper im Publikum der Ruf vive la liberté los. Nach dem Ende der Aufführung zog das Publikum aus dem Theater und ließ die Menschenmasse, die sich ironischerweise zur Feier des 58. Geburtstags König Wilhelms I. versammelt hatte, außer Kontrolle geraten. Gemeinsam stürmte man den Justizpalast. Am späten Abend wurde das Haus des Verlegers Libry-Bagnano geplündert (möglicherweise auf Agitation französischer Geheimagenten) und das des Ministers van Maanen, der treibenden Kraft hinter der Sprachpolitik des Königs, in Brand gesteckt. Die amtliche Druckerei wurde zerstört. Als die herbeigeeilten Ordnungskräfte von der Schusswaffe Gebrauch machten, gab es Tote.
Die Unruhen kamen nicht völlig unerwartet. Schon am Tag zuvor hatten Maueranschläge auf das geplante Feuerwerk zu Ehren des Königs anspielend verkündet: Lundi, 23. août, feu d’artifice; mardi, 24. illumination, mercredi, 25. révolution. So sprang der Funke schnell auf Arbeiter und Arbeitslose über und am nächsten Tag zerstörten Maschinenstürmer die Dampfmaschinen und Webstühle in den Brüsseler Fabriken, die für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich gemacht wurden, und plünderten Lebensmitteldepots. Ab dem 27. August kam es zu ähnlichen Aktionen in Lüttich, Verviers, Huy, Namur, Mons und Löwen.
Das Bürgertum, das sich nun bedroht sah und feststellen musste, dass die Regierung die Situation nicht in den Griff bekam, stellte in verschiedenen Städten Bürgerwehren auf, die die Lage schnell unter Kontrolle brachten. Durch diese Erfolge selbstbewusst geworden, übernahm eine Gruppe von Honoratioren, die im Brüsseler Rathaus zusammengekommen war, die Initiative und entsandte am 28. August eine Abordnung mit der Forderung zu Wilhelm I., Justizminister van Maanen zu entlassen und in einem Eilverfahren die Missstände in den Generalstaaten zu besprechen. Von einer Abspaltung Belgiens von den Niederlanden war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede, allenfalls von einer Trennung der Verwaltung zwischen Nord und Süd, die de Potter schon 1829 ins Spiel gebracht hatte.
Die Versammlung hisste die belgische Flagge, die am 26. August der Rechtsanwalt und Redakteur Lucien Jottrand und der Journalist Édouard Ducpétiaux entworfen hatten. Sie hatten sich der Brabantisch-Hennegauischen Trikolore, die das Symbol des Brabanter Umsturzes von 1789/90 gewesen war, bedient, sie jedoch in Anlehnung an die französische Trikolore vertikal angeordnet. Nach der Unabhängigkeit Belgiens wurde aus dieser Fahne die Nationalflagge Belgiens.
Die Septemberrevolution
Das zaudernde und ungeschickte Auftreten Wilhelms I. und seiner Söhne führte im September 1830 zum endgültigen Bruch. Zwar hatte er schon im Juni die unbeschränkte Sprachfreiheit wieder eingeführt und ein umstrittenes philosophisches Seminar für Priester wieder abgeschafft, ließ aber weder Pressefreiheit noch eine Staatsreform zu. Während er seinen Sohn, den späteren Wilhelm II., zu Verhandlungen nach Brüssel schickte, stand sein anderer Sohn, Prinz Friederich, als Oberbefehlshaber der Armee mit einer 6000 Mann starken Truppe in und um Vilvoorde bereit. Dieses Auftreten wurde als das eines Besatzers aufgefasst. Vorläufig blieben die Truppen jedoch in Vilvoorde und Prinz Wilhelm kam unter Begleitung der Brüsseler Bürgerwehr in die Stadt. Dort verlangte man eine steuerliche Trennung von Belgien und den Niederlanden. Wilhelm I. zögerte jedoch und versuchte Zeit zu gewinnen.
Während die belgischen Abgeordneten der Generalstaaten am 13. September zu einer außerordentlichen Sitzung nach Den Haag zogen, wurden die Auseinandersetzungen in Brüssel wieder gewalttätiger, v. a. seit Anfang September bewaffnete Verstärkung aus Lüttich eingetroffen war. Spontan wurden Freikorps aufgestellt, die von gewählten oder selbsternannten Führern befehligt wurden.
Am 23. September marschierte die Armee mit 12.000 Soldaten in Brüssel ein. Der Volkszorn schlug nun in einen nationalen Aufstand um, und die Truppen, die sich im Warandepark aufgestellt hatten, wurden zur Zielscheibe der Bürgerwehr und der zahlreichen herbeigeströmten Idealisten. Auch aus dem Ausland schlossen sich Freiwillige an: So wurde in Frankreich die Légion belge parisienne aufgestellt, die aus Privatmitteln finanziert wurde (unter anderem durch den Grafen von Merode) und zwei Bataillone mit jeweils 400 Mann umfasste. Dies geschah mit Zustimmung der französischen Regierung, die einen eventuellen Anschluss Belgiens an Frankreich ins Auge fasste.
Nach viertägigen Gefechten zog die niederländische Armee in der Nacht vom 26. auf den 27. September ab. Beide Seiten hatten insgesamt 1200 Tote und zahlreiche Verletzte zu beklagen.
Die Regierungstruppen, die zu zwei Dritteln aus Süd-Niederländern rekrutiert waren, erwiesen sich als sehr empfänglich für die revolutionären Ideen und fielen rasch auseinander. Befehle wurden verweigert und schließlich kam es zu massenhaften Desertionen und zu Gefangennahmen nordniederländischer Offiziere. Trotz ihrer bunten Mischung waren die Freiwilligenbrigaden deshalb fast überall erfolgreich damit, die Stellungen der regulären Truppen einzunehmen. Bis auf die Gemeinde Mook en Middelaar in Nordlimburg und die Städte Maastricht und Luxemburg (das Bundesfestung des Deutschen Bundes war und wo deshalb preußische Truppen stationiert waren) war Ende Oktober das gesamte Gebiet Belgiens in der Hand der Freikorps.
Von 1830 bis 1839 blieben auch einige Gebiete faktisch unter belgischer Kontrolle, die vor 1815 nicht zu den Österreichischen Niederlanden gehört hatten, ehe sie wieder an die Niederlande übergeben wurden.
Die Bildung des belgischen Staates
Vorläufige Regierung
Schon während der Gefechte hatte sich am 23. September ein Verwaltungsausschuss gebildet, der aus Brüsseler Honoratioren bestand und den Aufstand zu lenken versuchte. Am 29. September erklärte das Komitee, die Regierungsgewalt des Königs zu übernehmen, proklamierte am 4. Oktober die Unabhängigkeit der belgischen Provinzen und ernannte zwei Tage später eine Kommission zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs. Außerdem ernannte sie ein Gericht und die allgemeine Verwaltung und organisierte Wahlen zu einem Nationalkongress. Jetzt wurde es üblich, die Kommission als „Provisorische Regierung“ zu bezeichnen. Die spontan eingerichtete Institution bestand aus neun Personen: Charles Rogier, Louis de Potter, Alexandre Gendebien, dem Grafen Félix de Mérode, Baron Emmanuel d’Hoogvorst, André Jolly, Sylvain van de Weyer, Baron Feuillien de Coppin und Joseph Vanderlinden.
Der Nationalkongress
Während sich die militärischen Positionen konsolidierten und man sich um einen Waffenstillstand bemühte, fanden am 3. November in ganz Belgien Wahlen zu einem Nationalkongress statt. Wahlberechtigt waren allerdings nur gut 46.000 steuerzahlende oder akademische, männliche Bürger über 25 Jahre, d. h. etwa ein Prozent der Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung lag bei 75 %. Der Nationalkongress trat am 10. November zum ersten Mal zusammen und bestätigte die am 4. Oktober ausgerufene Unabhängigkeit des belgischen Staates. Ausgenommen davon war Luxemburg, das Mitglied des Deutschen Bundes war. Zum ersten Vorsitzenden wurde Erasme Louis Surlet de Chokier gewählt. Am 25. Februar 1831 wurde die vorläufige Regierung vom Nationalkongress entbunden. Der Nationalkongress bestand bis zur Wahl des ersten Parlaments am 8. September 1831.
Grundgesetz
Die wichtigste Aufgabe des Nationalkongresses war es, eine Verfassung für den neuen Staat zu beschließen. Als Vorlage diente ihm der Entwurf eines Ausschusses unter dem Vorsitz von Baron de Gerlache, dem bedeutende junge Juristen wie Paul Devaux, Joseph Lebeau, Jean-Baptiste Nothomb und Charles de Brouckère angehörten. Seit dem 4. Dezember wurde im Nationalkongress über diesen Verfassungsentwurf der vorläufigen Regierung debattiert, der schon am 7. Februar 1831 mit wenigen Änderungen als Verfassung des Königreichs Belgien angenommen wurde.
Das Grundgesetz war eine Synthese der französischen Verfassungen von 1791, 1814 und 1830, des niederländischen Grundgesetzes von 1815 und des englischen Staatsrechts. Das Ergebnis ging aber weit über ein einfaches eklektisches Gesetzeswerk hinaus. Als Hauptprinzip lag der Verfassung die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zugrunde, die wichtigste Institution war jetzt das Parlament. Besonders der umfangreiche Grundrechtskatalog verlieh ihr den Rang einer liberalen Musterverfassung.
Der König und die Minister bildeten die ausführende Gewalt, wobei die Macht des Königs stark eingeschränkt war. Kein vom König unterzeichnetes Gesetz war ohne Gegenzeichnung durch einen Minister gültig. Die Minister waren dem Parlament verantwortlich, dessen zwei Kammern aus dem Abgeordnetenhaus und dem Senat bestanden. Der König hatte die Gesetze zu bestätigen. Die Gerichte waren unabhängig, ihre Sitzungen hatten öffentlich stattzufinden. Der Kassationshof hatte auch die Verfassungsmäßigkeit der Exekutive zu kontrollieren. Den Bürgern wurden weitreichende Grundrechte garantiert: Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf persönliche Freiheit, auf Eigentum, das Briefgeheimnis, Religions-, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit wurden festgeschrieben. Weniger modern, wenn auch im internationalen Vergleich doch relativ fortschrittlich, war das Wahlrecht. Die Abgeordneten wurden nach einem Zensuswahlrecht gewählt, das nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung zur Wahl zuließ (es war gestaffelt an eine jährliche Steuer zwischen 20 und 100 Gulden gebunden). Das passive Wahlrecht sah noch größere Hürden vor: Wählbar waren nur Männer, die mindestens 1000 Gulden Steuer zahlten. Das Mindestalter für die Wahl zur Abgeordnetenkammer betrug 25, das für den Senat 40 Jahre. Für den Senat kamen damit anfangs überhaupt nur 403 Personen in Frage und noch 1890 waren es lediglich 570, so dass adelige Großgrundbesitzer hier deutlich überrepräsentiert waren. Aus Sorge vor separatistischen Bestrebungen wurde der Staat sehr zentralistisch organisiert.
Trotz der Einschränkungen im Wahlrecht galt die Verfassung als die progressivste und liberalste ihrer Zeit und der belgische Staat kann nach England als erste parlamentarische Monarchie angesehen werden. Das belgische Grundgesetz hatte starken Einfluss auf die Verfassungen der Niederlande, Luxemburgs und Sardinien-Piemonts von 1848 und auf die Preußische Verfassung von 1850. Die spanische Verfassung von 1837, die griechische von 1844 bis 1864 sowie die rumänische von 1866 sind fast identische Kopien des belgischen Grundgesetzes. Für Belgien sind die Grundzüge der Verfassung von 1831 bis heute gültig.
Die Monarchie
Der überzeugte Republikaner de Potter beantragte im Nationalkongress die Proklamation der Republik, doch auf Antrag des Präsidenten Surlet beschloss die Versammlung am 22. November 1830 die Errichtung einer parlamentarischen Monarchie mit 187 gegen 13 Stimmen. Als Reaktion auf den Beschuss Antwerpens aus der Zitadelle am 27. Oktober wurde das Haus Oranien vom Thron ausgeschlossen, das zunächst noch als natürlicher Anwärter auf einen belgischen Königstitel betrachtet worden war. Zahlreiche Namen wurden jetzt mit der Krone in Verbindung gebracht. Die katholische Fraktion favorisierte den Baron de Mérode, doch dieser hegte keinerlei Ambitionen und lehnte ab. Zunächst wurde nun die Krone dem 16-jährigen Prinzen Ludwig, Sohn des französischen Königs Ludwig Philipp angetragen, doch dies war für England unannehmbar. Als vorläufiger Regent wurde deshalb am 25. Februar 1831 Surlet de Chokier benannt. Dieser war damit das erste Staatsoberhaupt des jungen Staates; an seiner Stelle wurde Étienne Constantin de Gerlache neuer Vorsitzender des Kongresses.
Nun wurde (gegen den Protest des katholischen Klerus) dem deutschen Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha, der in England lebte und bis zu ihrem Tode 1817 mit der britischen Thronerbin Charlotte verheiratet gewesen war, der Thron angeboten. Leopold hatte zuvor den griechischen Königstitel ausgeschlagen, akzeptierte aber den belgischen und wurde am 4. Juni 1831 mit 142 von 196 Stimmen gewählt. Am 21. Juli, der seitdem belgischer Nationalfeiertag ist, legte er auf dem Brüsseler Königsplatz den Eid auf die Verfassung ab und wurde erster König der Belgier.
Behauptung der Souveränität
Londoner Protokoll (1830)
Da sowohl Großbritannien als auch Preußen eine Stärkung Frankreichs unbedingt vermeiden wollten, setzten die beiden Großmächte die Unabhängigkeit Belgiens bei einer Konferenz in London durch. Gegen die von Talleyrand vertretenen Interessen Frankreichs betonte der britische Außenminister Lord Palmerston das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung. Russland unterstützte zwar den niederländischen König, war jedoch mit dem Aufstand in Polen gebunden und konnte keine Unterstützung leisten. Am 20. Dezember 1830 erkannten die europäischen Großmächte im Londoner Protokoll die belgische Unabhängigkeit mit der Auflage der strikten Neutralität des neuen Königreichs an. Äußerst ungünstig für den neuen Staat wurde aber die Verteilung der Schuldenlast geregelt, da Belgien 51,6 % davon und eine jährliche Schuldenlast von 14 Millionen Gulden übernehmen sollte. Dafür mussten die Niederlande den freien Zugang zum Hafen von Antwerpen durch die Scheldemündung und den Zugang zu den Märkten der niederländischen Kolonien garantieren. Die Grenzen zwischen den Niederlanden und Belgien sollten wie 1790 verlaufen; das bedeutete, dass Belgien einen Teil Limburgs und Luxemburg wieder an die Niederlande abzugeben hatte. Da Belgien aber, nicht ohne Selbstüberschätzung, das Protokoll ablehnte, mussten die Großmächte erneut verhandeln. Oberstes Ziel der Diplomatie war es, einen Krieg in Europa unter allen Umständen zu verhindern, und so kam man Belgien in wichtigen Fragen entgegen. Die Zugehörigkeit Maastrichts und Luxemburgs wurde offengehalten und die Schuldenlast neu auf beide Staaten verteilt. Belgien stimmte dem Vertrag zu, was wiederum Leopold als Bedingung für die Annahme der Krone vorausgesetzt hatte, und so schien ein Krieg abgewendet.
Zehn-Tage-Feldzug 1831
In Holland breiteten sich nach Abschluss der Londoner Konferenz und der darauffolgenden Inthronisierung Leopolds jedoch Empörung und eine zunehmend kriegerische Stimmung aus, obwohl viele Holländer sich mit der Abspaltung des katholischen Südens leicht hatten anfreunden können. Nur die Katholiken im Norden bedauerten den Verlust des südlichen Landesteils. Die in den Zeitungen verbreitete öffentliche Meinung sah in der Niederlage gegen die südlichen Rebellen aber auch eine nationale Schande, die vergolten werden müsse. Von der sich selbst überschätzenden Haltung des jungen und noch instabilen belgischen Staates zusätzlich gedemütigt, lehnte Wilhelm I. den Londoner Vertrag ab und marschierte am 2. August 1831 in Belgien ein.
Nach den militärischen Erfolgen während der Revolution waren die belgischen Milizionäre nicht auf einen Angriff der holländischen Truppen eingestellt, die das Land wenige Monate zuvor demoralisiert hatten verlassen müssen. Deshalb war es trotz der unsicheren Lage versäumt worden, eine schlagkräftige reguläre Armee aufzustellen. Diese Schwäche versuchte Wilhelm auszunutzen. Für ihn war es nach dem Meinungsumschwung in Holland leicht, Freiwillige zu finden, mit denen er sein empfindlich dezimiertes Heer verstärken konnte, das zusätzlich von Studentenkompanien unterstützt wurde.
Die Ernennung Leopolds I. zum belgischen König diente als Anlass zum militärischen Eingreifen in Belgien. Wilhelm I. wollte unbedingt verhindern, dass der neue König den Status quo auf internationaler Ebene festigen würde. Am frühen Abend des 2. August 1831 überschritten die Niederländer unter der Führung von Prinz Wilhelm die Grenze bei Poppel in Brabant; die ersten Gefechte fanden bei Nieuwkerk statt. Am 3. August nahmen 11.000 niederländische Soldaten Turnhout ein und am Tag darauf Antwerpen, wo es zu Plünderungen kam. Bis zum 12. August verlor die belgische Armee beziehungsweise Bürgerwehr auf ganzer Linie, die niederländischen Truppen standen vor Löwen, das junge Königreich schien den Krieg verloren zu haben. Die neue Verfassung Belgiens verbot die Anwesenheit fremder Armeen auf belgischem Staatsgebiet ohne Zustimmung der ersten und zweiten Kammer des Parlaments. Trotzdem beschloss Leopold bereits am 8. August gegen den Willen der Regierung, die in völliger Verkennung der Lage die belgische Armee für stark genug hielt, die Grenze für französische Truppen zu öffnen. Einen Tag später setzte sich Marschall Gérard mit 50.000 Soldaten in Bewegung.
Wilhelm I. hatte bei seinem Feldzug auf die Rückendeckung Preußens und Russlands gesetzt, die allerdings ausbleiben sollte. Russland war immer noch durch den Aufstand in Polen gebunden, und Preußen zeigte keine Neigung, sich für niederländische Interessen in einen Krieg hineinziehen zu lassen.
Zu Gefechten zwischen französischen und niederländischen Truppen kam es jedoch nicht. In Den Haag wurde sofort eine Proklamation veröffentlicht, in der betont wurde, dass der Einmarsch lediglich niederländischen Rechten bei der Scheidung beider Landesteile zum Durchbruch verhelfen sollte. Die in Antwerpen von den Soldaten anstelle der belgischen Trikolore gehisste niederländische Flagge ließ der Prinz von Oranien wieder einholen, um deutlich zu machen, dass es nicht darum ginge, Belgien zu besetzen. Gefechten mit der französischen Armee kam Prinz Wilhelm mit einem Waffenstillstand zuvor, der auf englische Vermittlung am 12. August geschlossen wurde. Die letzten niederländischen Soldaten zogen sich am 20. August aus Belgien zurück.
Nur die in der Zitadelle von Antwerpen verbliebenen niederländischen Truppen wurden erst nach Belagerung am 24. Dezember 1832 durch französische Truppen vertrieben.
Die Öffentlichkeit in den Niederlanden war trotz des Rückzugs zufrieden: Den Belgiern sei eine Lektion erteilt worden; ein Zurückweichen vor der französischen Übermacht galt nicht als Schande. Als Ergebnis der niederländischen Machtdemonstration beschlossen die Großmächte, die Vertragsbedingungen für die Niederlande etwas günstiger zu gestalten. Gleichwohl dauerte es noch acht Jahre, bis Wilhelm I. ihn unterzeichnete.
Annexionsversuche Frankreichs
Während all dessen behielt Talleyrand die Idee einer Annexion wenigstens von Teilen Belgiens im Auge. Angesichts der französischen Truppen in Belgien legte er einen detaillierten Plan zur Aufteilung des Gebietes unter den Nachbarländern Frankreich, Preußen und den Niederlanden vor, bei dem ein „Freistaat Antwerpen“ unter britischer Protektion stehen sollte. Tatsächlich war für viele Belgier, nicht zuletzt in der vorläufigen Regierung selbst, die Angliederung Walloniens oder auch ganz Belgiens an Frankreich das eigentliche Ziel des Aufstandes und die Ausrufung der Unabhängigkeit Belgiens nur ein Schritt in diese Richtung gewesen. Diese als Rattachisme bezeichneten Bestrebungen verfolgte zunächst auch der spätere Premierminister Belgiens, der aus Frankreich stammende Lütticher Revolutionär Charles Rogier. Doch der Plan wurde von Preußen und allen übrigen Großmächten entschieden zurückgewiesen. Da Frankreich die ohnehin schwierigen Beziehungen zu den Mächten nicht zusätzlich belasten wollte und konnte, blieb es bei der militärischen Unterstützung Belgiens durch Frankreich, wo in der öffentlichen Meinung große Sympathie für die „Schwesterrevolution“ des frankophonen Nachbarn vorherrschte.
Endvertrag von 1839
Belgien war im Zehn-Tage-Feldzug deutlich die eigene Schwäche demonstriert worden, den Niederlanden ihre internationale Isolation. Gleichwohl war die Reaktion in beiden Ländern von Trotz gekennzeichnet. Immerhin unterzeichnete Belgien noch 1831 den Londoner Vertrag, Wilhelm I. aber hielt die Diplomatie über Jahre hin. Nach endlosen, zähen Bemühungen kam es 1839 endlich zu einer Lösung, als diese schon kaum noch erwartet wurde. Wilhelm I. änderte abrupt seine Haltung und erklärte sich zur Unterzeichnung der 24 Artikel von London bereit. So plötzlich Holland dem Vertragswerk zustimmte, lehnte man dieses in Belgien jetzt wieder ab, da man sich an den Status quo gewöhnt hatte und nicht mehr bereit war, besetzte Territorien wieder herzugeben. Belgien stieß mit dieser Haltung jedoch auf den Unwillen der Londoner Konferenz und musste sich wohl oder übel mit den 1831 ausgehandelten Ergebnissen arrangieren.
Mit dem sog. Endvertrag nahm das Vereinigte Königreich der Niederlande auch juristisch ein Ende; die Trennung war jetzt endgültig vollzogen. Belgien gewann damit die staatliche Unabhängigkeit, verlor aber die Teile seines Staatsgebiets wieder, die 1790 nicht zu den Österreichischen Niederlanden gehört hatten. Die Provinz Limburg wurde geteilt: Der Westen blieb bei Belgien, der Osten (einschließlich Maastrichts) wurde als Herzogtum wieder Teil der Niederlande, das in Personalunion vom niederländischen Königshaus regiert und gleichzeitig Mitglied im Deutschen Bund wurde. Damit sollte kompensiert werden, dass ein großer Teil Luxemburgs als Provinz bei Belgien blieb und so aus dem Bund ausschied. Das um zwei Drittel seines Territoriums reduzierte Großherzogtum Luxemburg blieb Teil des Deutschen Bundes und wurde ebenfalls in Personalunion vom niederländischen König regiert. Es gewann dabei weitgehende Autonomie und erlangte 1890 nach dem Ende der Personalunion schließlich die volle Souveränität. Auch der nördlichste Teil Flanderns (Zeeuws Vlaanderen) an der Scheldemündung wurde erneut niederländisch, der südlichste (Französisch-Flandern) blieb französisch, wie schon seit 1678.
Neben den territorialen Bestimmungen sah der Vertrag vor, dass die Niederlande Belgien den freien Zugang zum Hafen von Antwerpen über die Schelde und eine Eisenbahnverbindung durch Ost-Limburg ins Ruhrgebiet garantieren mussten (den sog. Eisernen Rhein). Alle Einwohner Belgiens und der Niederlande sollten frei wählen können, welche Staatsbürgerschaft sie annehmen wollten. Die Sicherheit und strikte Neutralität Belgiens wurden bestätigt. Darüber hinaus verzichteten die Niederlande auf etwa ein Drittel der von Belgien aufzubringenden Schuldentilgung und auf die ausstehenden Zahlungen seit 1830.
Innenpolitischer Unionismus 1830–1839
Der außenpolitische Konflikt mit den Niederlanden wirkte sich stabilisierend auf die belgische Innenpolitik aus. Unter dem Einfluss des Königs hielt der Unionismus zwischen Liberalen und Katholiken bis 1839 und noch einige Zeit darüber hinaus. Allerdings hatte schon 1834 die Bildungs- und speziell die Hochschulpolitik die beiden Partner in Teilen voneinander getrennt. Neben den beiden 1817 von Wilhelm I. gegründeten Staatlichen Universitäten von Lüttich und Gent richtete die katholische Kirche eine Universität in Mechelen ein, die kurz darauf nach Löwen verlegt wurde, wo die staatliche Universität geschlossen worden war. Als Antwort darauf gründeten die Liberalen, unterstützt von der Freimaurerloge, die ebenfalls Freie Universität Brüssel. Die Reibereien konnten allerdings immer wieder bereinigt werden. Erst nach dem Rücktritt der beiden letzten unionistischen Regierungen Nothombs und van de Weyers 1845/46 musste Leopold I. ein ausschließlich aus Klerikalen bestehendes Kabinett unter Theux de Meylandt einsetzen.
Nachwirkungen
Wirtschaftliche Folgen für Belgien
Die unmittelbaren ökonomischen Folgen der Unabhängigkeit waren für Belgien verheerend: Hatte die wichtigste Industriestadt Gent 1829 noch 7,5 Millionen Kilogramm Baumwolle verarbeitet, so waren es 1832 nur noch zwei Millionen Kilogramm. Als unmittelbare Folge der Sezession waren die meisten Arbeiter arbeitslos geworden, und die Löhne für die verbliebenen Stellen hatten sich auf 30 % des Niveaus von 1829 reduziert.
Noch schlimmer sah es für die Hafenstadt Antwerpen aus: 1829 betrug der Schiffsverkehr noch 1028 Schiffe mit 129.000 Tonnen Fracht. Das war doppelt so viel, wie Rotterdam und Amsterdam zusammen aufbrachten. 1831 liefen nur noch 398 Schiffe ein, und der Handel mit Ostindien hörte völlig auf.
Der Steinkohlenbergbau erfuhr einen starken Einbruch. 1830 waren in den drei Bergrevieren von Mons, Charleroi und Lüttich in 350 Bergwerken rund 20.000 Bergleute beschäftigt. Nach 1830 stockte der Absatz der dort geförderten Steinkohle in die Niederlande infolge der fortan zu entrichtenden Zölle und aufgrund von Einfuhrbeschränkungen, die die niederländische Regierung verfügte.
Große Erfolge konnten dagegen beim Bau eines Eisenbahnnetzes erzielt werden. 1835 wurde zwischen Brüssel und Mechelen eine der ersten Strecken des europäischen Kontinents eröffnet und das Netz danach zu einem der dichtesten der Welt ausgebaut. Insgesamt aber blieb die konjunkturelle Lage überaus schwankend. Am 5. Juni 1832 war mit dem belgischen Franc eine neue Währung eingeführt und im Februar 1835 die Banque de Belgique gegründet worden.
Sprachpolitik
Als Reflex auf die Schul- und Sprachpolitik König Wilhelms I., die die niederländische Sprache enorm gefördert hatte, war es eine der ersten Maßnahmen der vorläufigen Regierung, alle öffentlichen Schulen wieder abzuschaffen. Nur die französischsprachigen Universitäten von Gent und Lüttich sowie die überwiegend französischsprachige Universität in Löwen blieben erhalten und dienten zur Bildung einer neuen Elite. Als Folge davon waren bei der Musterung zum Militär noch 1900 10,1 % Analphabeten gegenüber nur 2,3 % in den Niederlanden, 4,7 % in Frankreich und lediglich 0,5 % in Deutschland. 1913 gab es in Belgien (bei 7,5 Millionen Einwohnern) weniger Grundschüler als in den Niederlanden (mit 6 Millionen Einwohnern). Damit stand Belgien 1914 auf dem gleichen Niveau wie 1814.
Langfristig konnte der Sprachenstreit nicht gelöst werden, ja verschärfte sich im belgischen Staat noch. Als Reaktion auf die Vorrangstellung des Niederländischen im Vereinigten Königreich folgte nun die Bevorzugung der französischsprachigen Wallonen. Auch in Flandern sollte Niederländisch nur in der Grundschule benutzt werden, ab der Sekundarstufe verlief der Unterricht auf Französisch. Praktisch war Belgien l’état franco-belge, ein französisch-belgischer Staat. Le Flamand wurde zum Schimpfwort, um eine Reihe von Mundarten zu bezeichnen, Niederländisch in den ersten Jahren die „Sprache der Holländer“.
Belgisches Nationalbewusstsein
Ein belgisches Nationalbewusstsein entwickelte sich in Ansätzen schon vor der Revolution von 1830, trotzdem ist die Belgische Nation ein problematischer Begriff. Drei Konzepte konkurrieren seit der Gründung des belgischen Staates miteinander: Die belgische Nation, der nach Frankreich orientierte Rattachismus und der auf die Niederlande ausgerichtete Orangismus.
Die belgische Revolution knüpfte enger an die liberale französische Julirevolution an als andere Ereignisse des Jahres 1830. Die Aufstände in Polen, Griechenland und Italien sowie der deutsche Vormärz waren stark von einem romantischen Nationalismus geprägt. Definierten Italiener oder Deutsche die Kulturnation über die Sprache, so wurde gerade der Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen zum dauerhaften Problem für die innere Einheit Belgiens. Schon unmittelbar nach 1830 entstanden politische Kreise mit dem Ziel, Flandern wieder mit den Niederlanden beziehungsweise Wallonie mit Frankreich zu vereinigen. Zu diesen gehörte später auch Louis de Potter, der als Republikaner zunächst für die belgische Unabhängigkeit gekämpft hatte, dann jedoch als Gegner der Monarchie nach Frankreich ausweichen musste und nach seiner Rückkehr 1838 angesichts eingeschränkter Freiheiten in Belgien sogar eine Wiedervereinigung mit dem Norden vorschlug. Diese erste Richtung der Anhänger einer Wiedervereinigung wurde als Orangisme bezeichnet und mündete schließlich in der Vlaamse Beweging, die pro-französische wurde Rattachisme genannt. Als Napoléon III. die Annexion Belgiens an Frankreich betrieb, kam es 1860 zu einer Annäherung an die Niederlande, und sogar der als Rattachist geltende Premierminister Charles Rogier erklärte nun, dass das frühere Vereinigte Königreich als Konföderation unter zwei getrennten Regierungen wiederhergestellt werden müsse. Deshalb ließ er die Nationalhymne Brabançonne anpassen, deren Text bis dahin gegen die Holländer polemisiert hatte. In den 1920er Jahren gewann der Gedanke an eine Wiedervereinigung von Belgien und den Niederlanden erneut an Attraktivität. Heute steht die flämische Bevölkerung solchen Gedankenspielen teilweise positiv gegenüber.
Gleichwohl entwickelte sich Belgien zu einem stabilen Staat, der bis heute die 1830 festgelegten Grundzüge seines politischen Systems beibehalten hat. Lediglich die Gliederung Belgiens wurde im späten 20. Jahrhundert vom Zentral- zu einem föderalen Staat modifiziert, und in der Sprachpolitik konnte das Niederländische seit den 1960er Jahren eine Gleichberechtigung gegenüber dem Französischen erreichen. War die Errichtung der parlamentarischen Monarchie, statt einer Republik, nach der bürgerlichen Revolution von 1830 eher ein Zugeständnis an die internationale Politik, um Unterstützung für die staatliche Unabhängigkeit zu erhalten, so trug sie als integrative Kraft doch wesentlich zur Stabilität des Landes bei.
Die belgische Neutralität
Die 1830/39 festgeschriebene Neutralität Belgiens wurde erst 1914 gebrochen: Das Deutsche Kaiserreich besetzte Belgien (Schlieffen-Plan) zu Beginn des Ersten Weltkrieges in der Hoffnung, so Frankreich besiegen zu können.
Großbritannien stellte Deutschland am 3. August 1914 ein Ultimatum und erklärte ihm nach dessen Ablauf den Krieg (siehe auch Kriegsziele im Ersten Weltkrieg#Großbritannien).
Literatur
Herman Theodoor Colenbrander: Gedenkstukken der Algemeene Geschiedenis van Nederland van 1795 tot 1840. s’Gravenhage 1905 ff. (insbes. die Bände der Serie D.9: Regeering van Wilhelm I. 1825–1830 und D.10: Regeering van Wilhelm I. 1830–1840).
Robert Demoulin: La Révolution de 1830. Bruxelles 1950.
Robert Demoulin: L’influence française sur la naissance de l’Etat belge. In: Revue historique. Alcan, Paris 223.1960, S. 13–28.
Dokumente der Geschichte Belgiens. Bd. 2 Belgien der Neuzeit. Von 1830 bis heute. Informationsbericht Sammlung „Ideen und Studien“. Nr. 109, 1978. Hrsg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Entwicklungszusammenarbeit. Brüssel 1978. (Eine Auswahl wichtiger Quellen in Auszügen und Übersetzungen).
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J. S. Fishman: Diplomacy and revolution, the London conference of 1830 and the Belgian revolt. Amsterdam 1988, ISBN 90-5068-003-8.
Wolfgang Heuser: Kein Krieg in Europa. Die Rolle Preußens im Kreis der europäischen Mächte bei der Entstehung des belgischen Staates (1830–1839). Reihe Geschichtswissenschaft. Bd. 30. Pfaffenweiler 1992, ISBN 3-89085-775-2.
Johannes Koll (Hrsg.): Nationale Bewegungen in Belgien. Ein historischer Überblick. Niederlande-Studien, Bd. 37. Münster 2005, ISBN 3-8309-1465-2.
Johannes Koll: Nationale Unabhängigkeit und moderner Verfassungsstaat. Die Provisorische Regierung in Belgien 1830/31. In: Karsten Ruppert (Hrsg.): Die Exekutiven der Revolutionen. Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Brill | Schöningh, Paderborn 2022, ISBN 978-3-506-79101-6, S. 219–247.
Ernst Münch: Die Ereignisse in Brüssel im Jahre 1830. In: Ders: Biographisch-historische Studien. Hallberger, Stuttgart 1836, Bd. 2, S. 137–181. Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek
Verstolk van Soelen: Recueil de pièces diplomatiques relatives aux affaires de la Hollande et de la Belgique. La Haye 1831–1833.
Weblinks
Johannes Koll: Das Vereinigte Königreich der Niederlande 1815-1830/39 (NiederlandeNet, Uni Münster)
Belgien als unabhängiger Staat von 1830 bis heute
Einzelnachweise
Revolution (19. Jahrhundert)
Unabhängigkeitskrieg
Krieg in der niederländischen Geschichte
Konflikt 1830
Belgisch-niederländische Beziehungen |
1314512 | https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich%20in%20der%20Zeit%20des%20Nationalsozialismus | Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus | Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus beschreibt den Abschnitt der Geschichte Österreichs vom „Anschluss“ an das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich am 13. März 1938 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und zur Wiedererrichtung der Republik am 27. April 1945.
Dem vorübergehenden Ende der Eigenstaatlichkeit Österreichs und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten (vgl. Zeit des Nationalsozialismus) war die von politischen und gesellschaftlichen Spannungen (austrofaschistischer Ständestaat, Österreichischer Bürgerkrieg, NS-Putschversuch u. a.) sowie wirtschaftlichen Krisen geprägte Erste Republik vorausgegangen, die 1918 beim Zusammenbruch der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn am Ende des Ersten Weltkrieges als Deutschösterreich entstanden war und sich bis zum Verbot durch die Siegermächte 1919 dem demokratischen Deutschland anschließen wollte.
Der siebenjährigen NS-Herrschaft in Österreich folgte die zehnjährige Besatzungszeit, bis das Land 1955 mit dem Österreichischen Staatsvertrag und dem Abzug der alliierten Truppen seine staatliche Souveränität wiedererlangte. In diesen zehn Jahren wurde unter dem Druck der vier Besatzungsmächte (USA, UdSSR, Vereinigtes Königreich und Frankreich) die Entnazifizierung mit dem Verbotsgesetz 1947 gesetzlich geregelt und wurden österreichische Kriegsverbrecher, Beteiligte an Holocaust, Porajmos, Verbrechen der Wehrmacht u. a. von Volksgerichten in Österreich und bei den Nürnberger Prozessen verurteilt; Ermittlung und Verfolgung von NS-Verbrechen und Rückstellung geraubten Eigentums wurden aber bald auf die lange Bank geschoben. Das mit der Waldheim-Affäre 1986 einsetzende internationale Interesse und der Generationswechsel führten dazu, dass die wissenschaftliche, gesellschaftliche, politische und juristische Aufarbeitung der NS-Diktatur im Land bis heute andauert.
Vorgeschichte
1918, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, dem Auseinanderbrechen des Vielvölkerdoppelstaates Österreich-Ungarn und der Abschaffung der österreichischen Monarchie, standen sich in der jungen Republik vorerst drei große politische Lager gegenüber:
die Sozialdemokraten (SDAP),
die Christlichsozialen (CS) und
die Deutschnationalen (Großdeutsche Vereinigung, ab 1920: Großdeutsche Volkspartei, GVP).
Kleinere Parteien, wie die kommunistische (KPÖ) und die nationalsozialistische (Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, DNSAP), waren weder in der Provisorischen noch in der Konstituierenden Nationalversammlung und auch nicht im 1920 erstmals gewählten Nationalrat vertreten (vgl. Nationalratswahl in Österreich 1920 und weitere).
SDAP, Großdeutsche – auch Alldeutsche genannt – und DNSAP befürworteten klar, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Vereinigung Deutschösterreichs mit dem nun ebenfalls republikanischen Deutschen Reich (Weimarer Republik). Die Christlichsozialen waren ebenfalls tendenziell für diesen Zusammenschluss, zu Beginn aber deshalb gespalten, weil sie teils die Weiterführung der Monarchie, teils die Republik befürworteten. Während die KPÖ sich erst im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre klar gegen den Anschluss aussprach, traten die Monarchisten zunächst dagegen auf und befürworteten ihn erst später, nachdem die Münchner Räterepublik gescheitert war und das Deutsche Reich konservativ regiert wurde.
Mit dem Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung von Deutschösterreich vom 12. November 1918, die Republik zu proklamieren, war die Monarchiefrage erledigt. Zum Wunsch der Vereinigung mit Deutschland wurde der Staatsregierung von den Kriegssiegern im Frühjahr 1919 eindeutig signalisiert, dass diese Absicht illusorisch sei. Der am 10. September 1919 von Karl Renner (SDAP), dem ersten Staatskanzler, unterzeichnete Vertrag von Saint-Germain der Kriegssieger mit der Republik Österreich (der Namensteil Deutsch- wurde ignoriert) enthielt für Österreich das Unabhängigkeitsgebot (und damit implizit das Anschlussverbot). Unter dem neuen Namen Republik Österreich war das Land nunmehr als selbstständiger Staat völkerrechtlich verankert.
Erste Republik
Das Leben und die Politik der folgenden Jahre waren geprägt von großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Verlust der Industriegebiete und Rohstoffquellen in der nun unabhängigen Tschechoslowakei, Hyperinflation) und einem sich zuspitzenden Gegensatz zwischen den politischen Lagern. Von 1918 bis 1920 stellten die Sozialdemokraten den Regierungschef einer rot-schwarzen Koalition, danach regierten die Christlichsozialen, häufig in Koalition mit den Deutschnationalen.
Am 31. Mai 1922 wurde Prälat Ignaz Seipel vom Nationalrat zum Bundeskanzler der CS-geführten Regierung gewählt. Ihm gelang es, die wirtschaftliche Situation mit finanzieller Hilfe des Völkerbundes wieder zu verbessern (Genfer Sanierung 1922, Währungsreform 1925). Ideologisch war Seipel strikt antimarxistisch eingestellt und vor allem darauf bedacht, den Einfluss der Sozialdemokraten möglichst zurückzudrängen, – von beiden Seiten wurde der Konflikt als einer zwischen gesellschaftlichen Klassen betrachtet.
Auf Bundesebene regierte die konservative Koalition, die von christlichsozialer Seite auch personell eng mit der römisch-katholischen Kirche verbunden war. Die SDAP entwickelte in den 1920er Jahren vor allem in Wien, wo sie unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz mit großer Mehrheit regierte, in kleinerem Umfang auch in den Industrieregionen der Steiermark und Oberösterreichs, ein Gegenmodell: das vor allem durch den sozialen Wohnbau auch international bekannt gewordene „Rote Wien“.
Kennzeichen der Ersten Republik war von Beginn an ein nur schwach ausgeprägtes Bekenntnis zum Gewaltmonopol des Staates. Das Bundesheer war nach Vorgabe der Alliierten auf maximal 30.000 Mann beschränkt, die Polizei schlecht ausgerüstet.
Schon 1918 hatten sich erste „Heimatwehren“ gebildet (vgl. „Kärntner Abwehrkampf“). 1920 wurde in Tirol unter Führung des Landesrats Richard Steidle (CS) und unter Mithilfe der bayerischen „Organisation Escherich“ (vgl. Schwarze Reichswehr) die erste Heimwehr gegründet; ihr folgten bald weitere in den anderen Bundesländern. Nachdem 1923 Mitglieder der monarchistischen „Ostara“ einen Arbeiter erschossen hatten, gründeten die Sozialdemokraten ihrerseits den Republikanischen Schutzbund.
Weitere paramilitärische Gruppen waren die aus früheren Kriegsteilnehmern formierte Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs, die katholisch orientierten Ostmärkischen Sturmscharen, die Christlichdeutschen Turner und der Vaterländische Schutzbund der als „Hakenkreuzler“ anfangs nicht ernst genommenen Nationalsozialisten, der später in der österreichischen SA aufging.
Am 14. November 1903 war im böhmischen Aussig (Ústí nad Labem), damals Teil des kaiserlichen Österreich, die Deutsche Arbeiterpartei gegründet worden. Die Partei war deutsch-nationalistisch und antiklerikal, aber anfangs noch nicht ausgeprägt antisemitisch. Sie verstand sich vor allem als Vertreterin der Deutschösterreicher im „Volkstumskampf“ des Vielvölkerreiches. 1909 stieß der Rechtsanwaltsanwärter Walter Riehl zur Partei, der im Mai 1918 ihr Obmannstellvertreter und Geschäftsführer wurde.
Während ihres „Reichsparteitages“ am 4. und 5. Mai 1918 wurde der Name in Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) geändert. Mit dem Zerfall der Monarchie spaltete sich die Partei in einen tschechoslowakischen Teil unter Führung von Hans Knirsch und einen deutschösterreichischen unter Riehl. Ab 1920 arbeitete die österreichische DNSAP eng mit der aus der 1919 in München gegründeten Deutschen Arbeiterpartei (DAP) im Deutschen Reich hervorgegangenen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zusammen, in der Adolf Hitler 1921 die Führung übernahm. Die DNSAP zählte 1923 etwa 23.000 Mitglieder und war nur eine Randerscheinung in der politischen Landschaft Österreichs.
Nachdem Hitler Chef der deutschen Nationalsozialisten geworden war, entzündeten sich innerhalb der DNSAP bald Auseinandersetzungen über die Frage, ob die Partei den im Wesentlichen demokratisch-parlamentarischen Kurs, für den Riehl eintrat, oder den revolutionär-außerparlamentarischen Kurs Hitlers steuern sollte. Die Entscheidung fiel bei einem im August 1923 in Salzburg abgehaltenen Parteitag im Sinne Hitlers. Riehl legte nun alle seine Funktionen zurück und gründete den Deutschsozialen Verein, der völlig bedeutungslos bleiben sollte, 1924 aber seinen Ausschluss aus der DNSAP zur Folge hatte.
Die parteiinternen Auseinandersetzungen setzten sich allerdings auch unter Riehls Nachfolger, dem Werkmeister Karl Schulz, fort. Da auch Schulz demokratischen Spielregeln verpflichtet und ein Gegner von Hitlers alleinigem Führungsanspruch war, kam es 1926 zu einer erneuten Spaltung der österreichischen Nationalsozialisten. Am 4. Mai 1926 gründete der Wiener Mittelschulprofessor Richard Suchenwirth in Wien den Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterverein, der sich Hitlers Führungsanspruch bedingungslos unterordnete und zur Unterscheidung von den anderen NS-Gruppierungen den Zusatz Hitlerbewegung trug. Ab August 1926 wurde diese Parteineugründung als NSDAP-Hitlerbewegung bezeichnet.
In Italien war Benito Mussolini 1922 Ministerpräsident geworden. Er errichtete in den folgenden Jahren eine faschistische Diktatur und wurde zu einem wichtigen Verbündeten der Christlichsozialen und zum Unterstützer der Heimwehren.
Bei der Nationalratswahl im April 1927 erreichte die NSDAP im Wahlbündnis Völkischsozialer Block mit 26.991 Stimmen 0,74 % und konnte damit kein Mandat erzielen (im Weinviertel kandidierte sie alleine und erreichte 779 Stimmen). Stärkste Kraft – vor den Sozialdemokraten – wurde die Einheitsliste, der, unter Führung der Christlichsozialen, auch die deutschnationale Großdeutsche Volkspartei (GVP) und die nationalsozialistischen Riehl- und Schulzgruppen angehörten. In diesen Jahren gab es zahlreiche gewalttätige Zusammenstöße zwischen den verschiedenen bewaffneten Verbänden, die immer wieder Todesopfer forderten (vgl. Schattendorfer Urteil, Wiener Justizpalastbrand).
Die Nationalratswahl im November 1930 brachte eine relative Mehrheit für die SDAP. Die Christlichsoziale Partei fiel auf den zweiten Platz zurück, bildete aber in Koalition mit GVP und Landbund weiterhin die Regierung. Die NSDAP verfehlte mit 3,6 % den Einzug ins Parlament, konnte aber in den folgenden Jahren zahlreiche Wählerstimmen aus den verschiedenen deutschnationalen Gruppen und Parteien aufnehmen, so dass ihre Mitgliederzahl, auch infolge der Weltwirtschaftskrise, ab 1930 stark anstieg.
Bei den am 24. April 1932 abgehaltenen Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg und Wien sowie den gleichzeitig veranstalteten Gemeinderatswahlen in der Steiermark und in Kärnten erzielte sie deutliche Zugewinne. Eine ihrer Parolen lautete: 500.000 Arbeitslose – 400.000 Juden – Ausweg sehr einfach! Wählt nationalsozialistisch.
Diktatur, Bürgerkrieg und Verbot der NSDAP
Die seit 1920 regierenden Christlichsozialen, seit 1932 geführt von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, waren nun in ihrer Macht nicht nur durch die SDAP bedroht. Bereits der frühere Bundeskanzler und Prälat Ignaz Seipel hatte auf Basis der christlichen Soziallehre, insbesondere der Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891) und der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931), die Errichtung eines Ständestaates angestrebt. Voraussetzung dafür war die Abschaffung des Parlamentarismus. Eine Geschäftsordnungskrise im Nationalrat am 4. März 1933 (nach Regierungslesart die „Selbstausschaltung des Parlaments“) bot Dollfuß die willkommene Gelegenheit dazu.
Am 20. Mai 1933 wurde die Vaterländische Front (VF) als „überparteiliche“, allerdings katholisch orientierte und klar antimarxistische, politische Organisation aller vaterlandstreuen Österreicher und Österreicherinnen gegründet. Schon am 26. Mai folgte das Verbot der KPÖ. Am 30. Mai wurde der Republikanische Schutzbund verboten, und auch die Freidenker fielen der Verbotswelle zum Opfer. Die NSDAP erreichte bei Gemeinderatswahlen zwar meist unter 25 % der Stimmen, sorgte aber durch jeweils mehr als 40 % bei den Wahlen in Zwettl und Innsbruck für Unruhe bei der regierenden VF. Zudem fand auch eine Terrorwelle von NS-Anhängern ihren Höhepunkt, als in den ersten Wochen des Juni 1933 bei Anschlägen vier Menschen getötet und 48 verletzt wurden.
Im Deutschen Reich war Adolf Hitler am 30. Jänner 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden (vgl. „Machtergreifung“). Die SDAP strich in der Folge das Ziel des Zusammenschlusses mit dem nunmehr nationalsozialistischen Deutschen Reich aus dem Parteiprogramm. Nationalsozialisten, die nach dem Verbot ihrer Partei in Österreich nach Bayern geflohen waren, gründeten dort die „Österreichische Legion“. Sie war in eigenen Lagern untergebracht und wurde militärisch ausgebildet. Der Terror, den NSDAP-Anhänger in Österreich ausübten, wurde logistisch, finanziell und materiell aus dem Nachbarland unterstützt. Im Rahmen umfassender Agitation gegen Österreich verhängte die deutsche Regierung am 1. Juni 1933, nach der Ausweisung des bayerischen Justizministers Hans Frank aus Österreich am 15. Mai wegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes, die Tausend-Mark-Sperre: Deutsche Staatsbürger mussten nun vor Antritt einer Reise nach Österreich eine Gebühr von 1000 Reichsmark entrichten; ein schwerer Schlag für den Tourismus in Österreich.
Die österreichische NSDAP wurde am 19. Juni 1933 verboten. Auslösendes Moment war ein Anschlag mit Handgranaten in Krems. Der NS-Terror nahm in den folgenden Monaten ab, jedoch waren bis Jahresende immer noch fünf Tote und 52 Verletzte zu beklagen.
Am 12. Februar 1934 kam es in Linz zu einem folgenschweren Zwischenfall, als Mitglieder der Heimwehr, eingesetzt als Hilfspolizei, in ein Parteiheim der SDAP eindringen wollten, um dort nach Waffen des nun verbotenen Schutzbundes zu suchen. Die bewaffnete Auseinandersetzung griff auf das ganze Land über und weitete sich zum Bürgerkrieg im Februar 1934 (sozialdemokratische Lesart) bzw. zum Februaraufstand (Regierungslesart) aus. Die Polizei und die sie unterstützenden Heimwehrabteilungen unter Befehl des Heimwehrführers und Innenministers Emil Fey konnten gemeinsam mit dem Bundesheer die Kämpfe bis zum 14. Februar für sich entscheiden. Es folgten das sofortige Verbot der SDAP, aller anderen sozialdemokratischen Organisationen und Gewerkschaften, zahlreiche Verhaftungen, die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofs durch Nichtnachbesetzung freigewordener Richterstellen.
Nachdem die politische Opposition vollständig ausgeschaltet war, erfolgte die Umwandlung der Republik in den austrofaschistischen „Ständestaat“. Am 1. Mai 1934 verkündete Dollfuß die autoritäre „Maiverfassung“.
NS-Putschversuch und wachsende deutsche Einflussnahme
Ab Anfang 1934 erschütterte eine neuerliche Welle von Terroranschlägen der Nationalsozialisten das Land. Ziele waren nun nicht mehr Einzelpersonen wie zuvor, sondern vor allem Einrichtungen des Staates. In der ersten Hälfte des Jahres 1934 starben dabei 17 Menschen und 171 wurden verletzt. Am 25. Juli versuchten die Nationalsozialisten unter Führung der SS-Standarte 89 einen Putsch (siehe Juliputsch). Rund 150 Angehörige dieser Standarte drangen in das Bundeskanzleramt in Wien ein, wo Dollfuß durch Schüsse so schwer verletzt wurde, dass er einige Stunden später starb. Eine andere Gruppe besetzte das Gebäude der RAVAG, des staatlichen Rundfunks, und erzwang eine Durchsage, der zufolge die Regierung Dollfuß zurückgetreten und Anton Rintelen neuer Regierungschef sei. Diese Falschmeldung war als Signal für einen NS-Aufstand in den Bundesländern gedacht, der aber nur teilweise erfolgte. Der Putsch wurde schließlich nach zum Teil äußerst blutigen Kämpfen niedergeschlagen.
In der Steiermark und in Kärnten dauerten die Kämpfe bis zum 27. bzw. 30. Juli 1934 an. Von Bayern aus hatten Angehörige der „Österreichischen Legion“ versucht, über das Mühlviertel nach Linz vorzudringen, waren aber an der Grenze bei Kollerschlag zurückgeworfen worden. Mehrere tausend Anhänger der NSDAP wurden verhaftet, bis zu 4000 flohen über die Grenze in das Deutsche Reich und nach Jugoslawien. In Bayern schlossen sich viele der „Österreichischen Legion“ an (bzw. wurden ihr eingegliedert), die zwar wenig später offiziell aufgelöst, tatsächlich aber nur weiter nach Norden verlegt und in „Hilfswerk Nord-West“ umbenannt wurde. Das faschistische Italien, Schutzmacht und enger Verbündeter des Regimes in Wien, verlegte während der Tage des Putschversuches Soldaten an die österreichische Brenner-Grenze, um deutsche Truppen von einem möglichen Einmarsch in Österreich abzuschrecken.
Die deutsche Regierung erklärte, nichts mit dem Putschversuch zu tun zu haben. Sie ging nun dazu über, das politische System in Österreich mit Vertrauensleuten zu unterwandern. Die illegale NSDAP wurde zwar weiterhin unterstützt, von zunehmender Bedeutung waren aber Sympathisanten, die der Partei nicht angehörten. Dazu zählten, neben anderen, die großdeutschen Exponenten Franz Langoth, der Vizebürgermeister von Innsbruck Walter Pembaur, Anton Reinthaller wie auch Edmund Glaise-Horstenau, Taras Borodajkewycz und Arthur Seyß-Inquart.
Italien begann am 3. Oktober 1935 mit der Eroberung Abessiniens (Abessinienkrieg). International war Mussolini danach weitgehend isoliert und näherte sich Hitler an. Für die regierende Vaterländische Front bedeutete das den Verlust einer wichtigen Schutzmacht. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, Nachfolger des ermordeten Engelbert Dollfuß, musste nun nach Wegen suchen, das Verhältnis zum Deutschen Reich zu verbessern. Wie sein Vorgänger wollte auch er die Unabhängigkeit Österreichs bewahren. Das Land war für ihn der zweite und – auf Grund des katholischen Fundaments – bessere deutsche Staat.
Am 11. Juli 1936 schloss Schuschnigg mit der deutschen Regierung das so genannte Juliabkommen: Inhaftierte Nationalsozialisten wurden amnestiert (die NSDAP blieb verboten), und NS-Zeitungen wurden wieder zugelassen. Weiters verpflichtete Schuschnigg sich, zwei Vertrauensleute der Nationalsozialisten in die Regierung aufzunehmen: Edmund Glaise-Horstenau wurde Bundesminister für nationale Angelegenheiten und Guido Schmidt Staatssekretär im Außenministerium. Arthur Seyß-Inquart wurde in den Staatsrat, ein Beratungsgremium der Regierung, aufgenommen. Im Gegenzug hob das Deutsche Reich die Tausend-Mark-Sperre auf. Die Unterwanderung des austrofaschistischen Ständestaates durch die Nationalsozialisten wurde 1937 weiter erleichtert, indem ihnen die Aufnahme in die Vaterländische Front ermöglicht wurde. In ganz Österreich wurden „Volkspolitische Referate“ eingerichtet, die, zum Teil unter Leitung von Nationalsozialisten stehend, als legale Tarnung für deren Reorganisation dienten.
Ab 1937 wurde deutlich, dass die Annexion Österreichs aus deutscher Sicht nur noch eine Frage der Zeit war. Schon auf den ersten Seiten seines Buches „Mein Kampf“ (1924/25) hatte der gebürtige Österreicher Hitler seine Forderung Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande festgehalten. Die „Niederwerfung“ Österreichs und der Tschechei, wie die Tschechoslowakei damals im gesamten Sprachraum genannt wurde, war auch Teil seiner strategischen Planungen, wie sie in der Hoßbach-Niederschrift vom 5. November 1937 festgehalten wurden.
Hermann Göring, nach Hitler der „zweite Mann im nationalsozialistischen Staat“, hatte schon mehrfach diesbezügliche Aussagen getätigt. An einer Wand in seinem Jagdschloss Carinhall hing bereits eine Karte „Großdeutschlands“, auf der zwischen Österreich und Deutschland keine Grenze mehr eingezeichnet war. Für Göring, im Deutschen Reich auch für die Wirtschaftspolitik zuständig, hatte Österreich sehr attraktive Ressourcen: Die deutsche Rüstungspolitik hatte die Gold- und Devisenreserven nahezu erschöpft. In den Tresoren der Oesterreichischen Nationalbank hingegen lagerten noch umfangreiche Bestände. Zudem verfügte Österreich über wichtige Rohstoffe wie Eisenerz und Erdöl und über mehr als 500.000 Arbeitslose, darunter viele Facharbeiter, die für die Rüstungsindustrie einsetzbar waren.
Franz von Papen, der deutsche Botschafter in Wien, arrangierte am 12. Februar 1938 ein Treffen zwischen Hitler und Schuschnigg auf dem Obersalzberg im bayerischen Berchtesgaden. Der deutsche Reichskanzler drohte offen mit dem Einmarsch in Österreich und zwang Schuschnigg zur Annahme einer Reihe von Maßnahmen zur Begünstigung der österreichischen Nationalsozialisten. Das Berchtesgadener Abkommen garantierte der seit 1933 verbotenen NSDAP die freie politische Betätigung und verhalf Arthur Seyß-Inquart am 16. Februar 1938 zum Amt des Innenministers. Auch wurde der langjährige oberste Soldat Österreichs, der Chef des Generalstabes Feldmarschall-Leutnant Alfred Jansa, pensioniert, dessen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus evident war und der ein Verfechter einer militärischen Konfrontation im Falle des Einmarsches der Wehrmacht war („Jansa-Plan“).
Ende des Ständestaates
Trotz immer stärkerer Einflussnahme des Deutschen Reiches auf die österreichische Innen- und Wirtschaftspolitik wollte Schuschnigg Österreich immer noch als eigenen Staat erhalten. Ohne dies mit Hitler abgesprochen oder ihn informiert zu haben, gab er am 9. März 1938, vier Wochen nach dem Treffen am Berghof, bekannt, am folgenden Sonntag, dem 13. März 1938, eine Volksbefragung über die Unabhängigkeit Österreichs abhalten zu wollen. Hitler beantwortete das mit der Mobilmachung der für den Einmarsch vorgesehenen 8. Armee. Edmund Glaise-Horstenau, der zu diesem Zeitpunkt in Berlin war, überbrachte von dort das Ultimatum Hitlers, das von Göring auch in Telefonaten mit Schuschnigg bekräftigt wurde. Die deutsche Regierung forderte die Verschiebung bzw. Absage der Volksbefragung. Am Nachmittag des 11. März willigte Schuschnigg ein. Nun forderte Hitler auch seinen Rücktritt, der noch am selben Abend erfolgte.
Eingliederung in das Deutsche Reich
Der „Anschluss“
Machtübergang
Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg beauftragte Bundespräsident Wilhelm Miklas nach ergebnisloser Rundfrage bei christlichsozialen Politikern noch am selben Abend, wie von deutscher Seite gefordert, Arthur Seyß-Inquart mit der Bildung einer neuen Regierung. Vom 11. bis 13. März 1938 war er nun Regierungschef Österreichs und hatte den „Anschluss“ zu vollziehen, obwohl er damit das von ihm soeben angetretene Amt des Bundeskanzlers obsolet machte. Ihm wäre die Gleichschaltung Österreichs mit Hitler als Oberhaupt beider Staaten lieber gewesen.
Schon im Laufe des 11. März übernahmen österreichische Nationalsozialisten, z. B. in Graz, die Macht, wo immer Sicherheitsorgane bereits zu schwanken begannen, wem sie im Interesse ihrer kommenden Laufbahn ihre Loyalität widmen sollten. Die Exponenten des Ständestaates räumten ohne Widerstand das Feld. Nach Meinung vieler österreichischer NS-Aktivisten bedurfte es zu ihrer Machtübernahme keines Truppeneinmarsches aus Deutschland.
Schon am Abend des 11. März beginnend, wurden in den darauf folgenden Wochen, insbesondere in Wien, von SA und SS rund 72.000 Menschen verhaftet, darunter Politiker der Ersten Republik, Intellektuelle, Funktionäre des Ständestaates und vor allem Juden. Die meisten wurden, von den Nationalsozialisten als Prominententransport bezeichnet, in das KZ Dachau deportiert. Jüdische Vereine wurden aufgelöst.
Eintreffen Hitlers und der deutschen Wehrmacht
Am Morgen des 12. März überschritten deutsche Truppen und Polizisten, insgesamt etwa 65.000 Mann mit teils schwerer Bewaffnung, die österreichischen Grenzen (vgl. „Unternehmen Otto“) und wurden von der Bevölkerung vielfach mit Jubel empfangen. In Wien traf am Flughafen Aspern der Reichsführer SS Heinrich Himmler in Begleitung von SS- und Polizeibeamten ein, um die Übernahme der österreichischen Polizei durchzuführen. Wo noch nicht geschehen, besetzten nun österreichische Anhänger der NSDAP und Mitglieder von SS und SA öffentliche Gebäude und Ämter.
Am Abend des 12. März trafen Hitler und Seyß-Inquart in Linz zusammen. Vom Jubel vieler Österreicher beflügelt, entschied Hitler dort, die „Wiedervereinigung“ ohne die früher geplanten Übergangsfristen durchzuführen. Vom Balkon des Linzer Rathauses aus verkündete er die Schaffung des „Großdeutschen Reiches“. Am folgenden Tag, dem 13. März 1938, beschloss die Regierung Seyß-Inquart in ihrer zweiten Sitzung das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“. Als Seyß-Inquart dem im selben Gebäude, dem heutigen Bundeskanzleramt, amtierenden Miklas das Anschlussgesetz zur Unterschrift vorlegte, trat Miklas zurück und überließ es Seyß-Inquart, das Gesetz als interimistisches Staatsoberhaupt zu unterzeichnen. Von 15. März 1938 bis 30. April 1939 war Seyß-Inquart in der Folge als Reichsstatthalter im Rang eines SS-Obergruppenführers Leiter der Österreichischen Landesregierung. Er hatte die Aufgabe, die österreichischen Bundesbehörden aufzulösen und die Eingliederung der Verwaltung in jene des Deutschen Reiches durchzuführen.
Heldenplatz und Volksabstimmung
Am 15. März traf Hitler, der die beiden vorhergehenden Tage in seinem Geburtsort Braunau am Inn verbracht hatte, in Wien ein und hielt auf dem Heldenplatz unter dem Jubel zehntausender Menschen seine Rede, in der er die größte Vollzugsmeldung seines Lebens abgab: Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der deutschen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich. Der Oberösterreicher Ernst Kaltenbrunner, im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet, wurde zum SS-Brigadeführer befördert und Führer des SS-Oberabschnittes Österreich.
Für den 10. April wurde eine Volksabstimmung über den bereits vollzogenen „Anschluss“ angesetzt. In den Wochen nach dem 12. März wurde ganz Österreich mit einer in diesem Ausmaß bis dahin unbekannten Propaganda überzogen. Hitler selbst, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Rudolf Heß und andere führende Vertreter des nationalsozialistischen Regimes traten bei penibel inszenierten Veranstaltungen auf und hielten Reden. Auch die gleichgeschaltete Presse und der Rundfunk (RAVAG) hatten kein anderes Thema als das Ja zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Prominente Österreicher wie Kardinal Theodor Innitzer, der eine Erklärung der Bischöfe dazu mit Heil Hitler unterzeichnete, und Politiker, darunter der Sozialdemokrat Karl Renner, warben für die Zustimmung. Nach amtlichen, stark in Zweifel zu ziehenden Angaben stimmten in Österreich 99,73 % und im Deutschen Reich, dem „Altreich“, 99,08 % für den „Anschluss“.
Von der Abstimmung ausgeschlossen waren 8 % der eigentlich Wahl- bzw. Stimmberechtigten; etwa 200.000 Juden, rund 177.000 „Mischlinge“ und die bereits zuvor aus politischen oder „rassischen“ Gründen Verhafteten. Die so genannte „Volksabstimmung“ wurde daher von außenstehenden Beobachtern als NS-Propagandainstrument eingestuft, keinesfalls als faire Willensäußerung des österreichischen Volkes.
Spontane Judenverfolgung
Vielerorts wurden in diesen Wochen jüdische Österreicher Opfer von Übergriffen und Demütigungen. Viele wurden ihrer Geschäfte und Wohnungen beraubt, derer sich dann jene bemächtigten, die die Eigentümer zuvor mit Hilfe von SA und fanatischen Privatpersonen vertrieben hatten. Juden wurden gezwungen, ihre besten Kleider anzuziehen und dann auf Händen und Knien in so genannten Reibpartien mit Bürsten den Gehsteig von Pro-Schuschnigg-Parolen zu reinigen. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer beschrieb diese Tage des Anschlusspogroms in seiner Autobiografie (1966) als Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch […]. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem, haßerfülltem Triumph. […] Ich erlebte die ersten Tage der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. […] Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Mißgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.
Der plötzliche Ausbruch von zügelloser Gewalt auf den Wiener Straßen hing aber laut Martin Haidinger und Günther Steinbach nicht damit zusammen, dass es unter Österreichern oder Wienern einen radikaleren Antisemitismus gab als unter Deutschen. Im austrofaschistischen Ständestaat zwischen 1934 und 1938 war einerseits die NSDAP verboten, und die Lagerhaft vieler NS-Funktionäre schuf spezielle Mentalitäten unter den österreichischen Nazis. Zudem konnten sich in der Verbotszeit Personen mit Verbindungen in die Unterwelt besonders gut entwickeln, – Aktivitäten in der Illegalität sind schließlich nicht jedermanns Sache. Die plötzliche Eruption der Gewalt hing auch mit der überstürzten Entwicklung während des „Anschlusses“ zusammen: Die österreichischen Nationalsozialisten wussten am Freitag, dem 11. März 1938, noch nicht, dass sie am Sonntag im Besitz der absoluten Macht sein würden.
Verwaltung
Am 18. März wurde Albert Hoffmann als sogenannter Stiko installiert, dessen Aufgabe es war, die ideologische Gleichschaltung der Vereine, Organisationen und Verbände durchzuführen. Dazu gehörten auch die verschiedenen Kammern. Dazu wurde deren Vermögen festgestellt, das die Grundlage für die Aufbauumlage und der Gebühr zur Deckung der Kosten der Dienststelle darstellte.
Josef Bürckel, zuvor bereits „Reichskommissar für die Rückgliederung des Saargebiets“, wurde am 23. April 1938 „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“. Er war als kommissarischer Leiter der NSDAP auch mit der Reorganisation der Partei in Österreich beauftragt und als Reichskommissar für die Massendeportationen von österreichischen Juden verantwortlich.
Mit Inkrafttreten des „Ostmarkgesetzes“ am 1. Mai 1939 wurde die österreichische Landesregierung aufgelöst, womit auch die Befugnisse von Reichsstatthalter Seyß-Inquart auf Reichskommissar Bürckel übergingen. Die bisherigen Landeshauptleute wurden Reichsstatthalter, die Länder Reichsgaue und die Gebietsänderungen definiert. Die Umsetzung der Bestimmungen des Ostmarkgesetzes, also die Auflösung aller verbliebenen österreichischen Verwaltungsstrukturen und deren Integration in die des Deutschen Reiches, war am 31. März 1940 beendet. Bürckels Aufgaben als „Reichskommissar für die Wiedervereinigung“ waren damit abgeschlossen, und ihm folgte von 1940 bis zum Kriegsende 1945 Baldur von Schirach als Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien.
Militär
Das Bundesheer leistete auf Befehl der Regierung keinen Widerstand, als deutsche Truppen in Österreich einmarschierten.
Die Eingliederung des Bundesheeres in die Wehrmacht wurde bis zum 29. März vollzogen, der überwiegende Teil der Militärangehörigen, Offiziere wie auch Soldaten, wurde bis zum Herbst 1938 in die Wehrmacht übernommen (siehe auch NS-Ranggefüge). Offiziere, die den Eid auf Hitler nicht ablegen wollten, wurden zwangspensioniert. Österreich wurde in der Folge in die beiden Wehrkreise XVII (nördliches Österreich, südliche Tschechoslowakei) mit Hauptquartier in Wien und XVIII (südliches Österreich, nördliches Slowenien) mit Hauptquartier in Salzburg aufgeteilt. Das österreichische Heer wurde der Heeresgruppe 5 eingegliedert und der 2-jährige Militärdienst eingeführt.
Dem relativ geringen zahlenmäßigen Gewicht des vormaligen Österreich innerhalb des sog. Großdeutschen Reiches entsprach, dass in nur wenigen Formationen (so vermutlich der Mehrzahl der Gebirgs-Divisionen) die Soldaten aus der „Ostmark“ eine signifikante Mehrheit stellten. Viele Österreicher wurden im Verlauf des Krieges auch in Verbände der Wehrmacht des „Altreichs“ eingezogen oder versetzt. In Luftwaffe und Marine waren sie hingegen deutlich unterrepräsentiert. Nur nach der Eroberung Norwegens (Unternehmen Weserübung), insbesondere der Stadt Narvik, mit der das Deutsche Reich sich den Zugriff auf die Erzvorkommen um Kiruna sicherte, wurde die Rolle der „ostmärkischen“ Gebirgsjägereinheiten (allerdings geführt vom bayerischen General Eduard Dietl) propagandistisch genutzt.
Polizei
Die Polizei wurde dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, Heinrich Himmler, unterstellt und ihr Organisationsschema angepasst. Ernst Kaltenbrunner als Führer der österreichischen SS wurde mit der Bearbeitung aller Polizeiagenden beauftragt und bildete zwei Abteilungen mit je einem Inspekteur an der Spitze: Einerseits die uniformierte Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie und Gemeindevollzugspolizei) und andererseits die Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei und Kriminalpolizei). Nach Bildung der neuen Reichsgaue übernahmen Höhere SS- und Polizeiführer in den beiden „ostmärkischen“ Wehrkreisen XVII (Wien) und XVIII (Salzburg) die Funktionen von Kaltenbrunner.
Die Leitstelle Wien der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) wurde bereits am 15. März 1938 von Sipo- und SD-Chef Reinhard Heydrich im Auftrag Himmlers etabliert. Mit 900 Beamten war sie die größte Gestapoeinheit in Österreich (gesamt 2000 Beamte) und nach dem Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin war sie auch die größte Gestapoeinheit im Deutschen Reich.
Länder als Reichsgaue
Gliederung der Ostmark
Hitler ließ den von ihm ungeliebten Namen Österreich anfangs durch „Ostmark“ ersetzen, eine seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Übersetzung für marcha orientalis, die mittelalterliche Kernregion des späteren Österreich (vgl. Ostarrîchi). Ab 1942 lautete der Name, so es als notwendig erachtet wurde, die Territorien des früheren Österreich überhaupt noch mit einem zusammenfassenden Namen zu belegen, „Donau- und Alpenreichsgaue“. Damit sollte jeder Hinweis auf die historische Eigenständigkeit des Landes getilgt werden, auf welche die Bezeichnung „Ostmark“ noch hingedeutet hatte, und folgerichtig wurde ab Juli 1942 eine abweichende Bezeichnung mit strenger Strafe (unter Umständen Einweisung in ein KZ) geahndet.
Josef Bürckel plante bei Antritt seines Amtes als „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ das Staatsgebiet an Stelle der neun Bundesländer in vier Gauen neu zu ordnen. Das Vorhaben scheiterte nicht zuletzt an Einwänden der regionalen NS-Funktionäre, die befürchteten, dass ein solcher Schritt bei der traditionsverbundenen Bevölkerung auf kein Verständnis stoßen und die Autorität des Regimes beschädigen würde.
Das Staatsgebiet, die bisherigen Bundesländer, wurde mit dem Ostmarkgesetz 1939 in Reichsgaue aufgeteilt, die der Einteilung der Gaue der NSDAP vom 31. Mai 1938 entsprachen: Kärnten, Niederdonau (zuvor Niederösterreich), Oberdonau (zuvor Oberösterreich), Salzburg, Steiermark und Wien. Vorarlberg wurde, obwohl Vorarlberger NS-Funktionäre einen Zusammenschluss mit Schwaben bevorzugt hatten, mit Tirol zum Gau Tirol-Vorarlberg zusammengefasst. Das nördliche Burgenland wurde dem Reichsgau Niederdonau eingegliedert, der südliche Teil der Steiermark. Tirol musste den Bezirk Lienz (Osttirol) als Kreis Lienz an Kärnten abtreten. Dies war auch ein Signal an Mussolini, dass von Seiten Hitlers keine Ansprüche auf Südtirol gestellt würden. Weiters wurden auch einzelne Regionen neu zugeteilt. So wurde der steirische Teil des Salzkammerguts (Ausseerland) mit dem oberösterreichischen „wiedervereinigt“ und dem Gau Oberdonau zugeschlagen, das Kleine Walsertal wurde Schwaben und die Gemeinde Jungholz Oberbayern eingegliedert.
Mit der Unterzeichnung des Münchner Abkommens am 30. September 1938 wurden die deutsch besiedelten Gebiete, die seit 1918 zur Tschechoslowakei gehörten, dem Deutschen Reich angeschlossen. Zunächst waren sie als „Auftragsverwaltung“ einem eigenen Gauleiter unterstellt. Mit dem „Gesetz zur Gliederung der sudetendeutschen Gebiete“ vom 25. März 1939 wurde Südmähren (Znaim und Nikolsburg) dem Gau Niederdonau und das Gebiet um Krumau dem Gau Oberdonau zugeteilt.
Im Zuge des Balkankrieges und der Besetzung Jugoslawiens wurden 1941 Teile Sloweniens dem Deutschen Reich als provisorische Verwaltungsgebiete eingegliedert. Als CdZ-Gebiete wurden die besetzten Gebiete Kärntens und der Krain an den Gau Kärnten und die Untersteiermark an den Gau Steiermark angeschlossen.
Organisation
Die Verwaltungsstruktur war eng mit der Organisation der NSDAP verwoben. Den sieben Reichsgauen standen jeweils Reichsstatthalter vor, die dem Innenminister in Berlin unterstanden und zugleich NSDAP-Gauleiter waren, die der zentralen NSDAP-Führung in München unterstanden. Die Reichsgaue waren für die Partei in ganz Großdeutschland in Kreise, diese wiederum in Ortsgruppen, Zellen und auf unterster Ebene in Blocks unterteilt: die „Blockwarte“ trugen wesentlich zur Überwachung der gesamten Bevölkerung bei. Am 1. Oktober 1938 wurde in den Gebieten des ehemaligen Österreich die deutsche Gemeindeordnung eingeführt, die die Durchsetzung des Führerprinzips auf Gemeindeebene vorsah. (Die Gemeinden waren zuvor schon im Ständestaat seit 1934 undemokratisch organisiert.)
Anders als im „Altreich“ wurden Staats- und Parteifunktionen in der „Ostmark“ immer in Personalunion bekleidet.
Preußen, Bayern und Sachsen wurden beispielsweise von (politisch bedeutungslosen) NSDAP-Ministerpräsidenten und nicht von Reichsstatthaltern verwaltet (eine Reminiszenz an die lange Eigenstaatlichkeit dieser Länder) und waren viel zu groß, um für die Partei jeweils nur einen Reichsgau zu bilden. Die aufgelösten österreichischen Länder waren hingegen größenmäßig mit deutschen Reichsgauen vergleichbar, daher war hier der Reichsstatthalter immer auch Gauleiter (und wurde auch dann so bezeichnet, wenn er nicht für die NSDAP, sondern für den Staat agierte).
Aufteilung des Burgenlandes
Beim „Anschluss“ übernahm der burgenländische Nationalsozialist Tobias Portschy die Funktion des Landeshauptmannes. Er agitierte publizistisch gegen „Fremdrassige“, vor allem „Zigeuner“; auf burgenländischem Gebiet wurde das „Zigeuner-Anhaltelager Lackenbach“ eingerichtet. Die direkte Beteiligung an konkreten Verfolgungsmaßnahmen konnte Portschy nach 1945 nicht nachgewiesen werden.
Wie in Berlin geplant, wurde das Burgenland durch Reichsgesetz per 15. Oktober 1938 als eigenständige Verwaltungseinheit aufgelöst. Die Städte Eisenstadt und Rust und die Bezirke Eisenstadt, Mattersburg, Neusiedl am See und Oberpullendorf gelangten an Niederösterreich, ab 1939 als Reichsgau Niederdonau bezeichnet. Die Bezirke Oberwart, Jennersdorf und Güssing kamen zur Steiermark, wo Portschy dann als stellvertretender Gauleiter amtierte.
Auf dem Gebiet des Burgenlandes wurden in den letzten Kriegsmonaten Versuche unternommen, gegen die aus Ungarn heranrückende Rote Armee den „Südostwall“ zu errichten. Dazu wurden von den lokalen NS-Machthabern unter mörderischen Bedingungen vor allem Zwangsarbeiter und jüdische KZ-Häftlinge herangezogen. Im März 1945 wurde das Massaker von Rechnitz verübt, bei dem lokale NS-Funktionäre nach einem Gelage bei Margit von Batthyány auf Schloss Rechnitz ausrückten und wenige Stunden vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen 180 Personen ermordeten.
Groß-Wien
Erster Gauleiter und Reichsstatthalter Wiens wurde der Kärntner Odilo Globocnik. Dieser wurde 1939 als SS- und Polizeiführer nach Polen versetzt (siehe „Aktion Reinhardt“); ihm folgte Josef Bürckel, den seinerseits 1940 Baldur von Schirach ablöste. Schirach hatte diese Positionen bis zum Kriegsende 1945 inne.
Mit Parteiverfügung vom 1. Juni 1938 wurde die Stadt Wien in vorerst neun (später zehn) Kreise aufgeteilt. Es wurden 436 Ortsgruppen eingerichtet, die insgesamt 2.470 Zellen und 14.254 Blocks umfassten. Die auf unterster Ebene der NS-Hierarchie den „Blockwarten“ unterstellten „Blockhelfer“ waren im Durchschnitt für etwa 30 bis 40 Einwohner zuständig.
Per 15. Oktober 1938 wurden durch Reichsgesetz 97 Umlandgemeinden in den nunmehrigen Reichsgau Wien integriert und so auf Kosten Niederösterreichs die Bezirke XXII (Groß-Enzersdorf), XXIII (Schwechat), XXIV (Mödling), XXV (Liesing) und XXVI (Klosterneuburg) geschaffen. Dadurch wurde Groß-Wien mit 1.224 km² zur flächenmäßig größten Stadt des Deutschen Reiches.
Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes, hatte schon kurz nach dem „Anschluss“ das Hotel Metropol am Franz-Josefs-Kai beschlagnahmt und als Hauptquartier der Gestapo eingerichtet. Mit etwa 900 von Offizieren aus dem „Altreich“ geführten Mitarbeitern hatte die Gestapodienststelle Wien etwa so viele Mitarbeiter wie das Gestapohauptquartier Prag (diese beiden Dienststellen waren die größten im Reich); offenbar schätzte die deutsche Führung die Bevölkerung der „Donaugaue“ nicht nur loyal und parteikonform ein.
Die „Judenfrage“ wurde in Wien – zum Erstaunen vieler Deutscher, die das Thema nüchterner sahen – vom Moment der NS-Machtübernahme an „aktionistisch“ bearbeitet, um jüdische Wiener zu demütigen, oft in spontanen Handlungen der Nachbarn, der Anrainer oder eines Mobs, der sich schnell zusammenrottete. In der zweiten Phase folgten systematische Beraubung, Vertreibung und Ermordung (siehe Geschichte Wiens, Geschichte der Juden in Österreich), verbunden mit der Tätigkeit Adolf Eichmanns in Wien. Von über 200.000 jüdischen Wienern im Jahr 1938 waren im April 1945 nur wenige Dutzend lebend in Wien auffindbar.
Wien wurde in den letzten Kriegsmonaten intensiv bombardiert und schließlich in der „Schlacht von Wien“ von der Roten Armee Mitte April 1945 befreit.
Theodor Körner wurde Wiens erster Nachkriegsbürgermeister.
Unter den Bauwerken und Einrichtungen, die 1938–1945 errichtet wurden, sind die sechs von 1942 bis kurz vor dem Kriegsende gebauten Flaktürme, der Ölhafen Lobau und der Getreidehafen Albern die sichtbarsten Zeugnisse jener Jahre. Interessant dabei ist, dass von keinem der sechs Flaktürme ein feindliches Flugzeug abgeschossen wurde.
Kärnten
In Kärnten war die Machtübernahme auf allen Verwaltungsebenen, inklusive aller Gemeinden, bereits am 12. März 1938 vollzogen. Die Parteiorganisation war in Kärnten anfangs sehr stark, mit 6,5 % der Bevölkerung Österreichs stellte Kärnten 7,2 % (1942: 6,53 %) der NSDAP-Mitglieder.
Dem Gau Kärnten wurde im Oktober 1938 Osttirol angegliedert, 1941 auch das Mießtal und die Oberkrain.
Nach der Eroberung Jugoslawiens 1941 gab es Pläne, die Kärntner Slowenen, rund 20.000 bis 50.000 Menschen, in den Raum Lublin umzusiedeln. Kriegsbedingt und aufgrund von Protesten und der steigenden Partisanentätigkeit wurden diese Pläne nur ansatzweise ausgeführt. So wurden im April 1942 1075 Kärntner Slowenen von ihren Höfen vertrieben und ins „Altreich“ deportiert, während ihre Söhne „eingerückt“ waren, d. h. in der Wehrmacht dienten. Die Höfe sollten ins Reich rückgesiedelte Volksdeutsche übernehmen.
Die antislowenische Politik führte zu einem verstärkten Zulauf zur Partisanenbewegung. Im April 1941 wurde die Befreiungsfront/Osvobodilna Fronta (OF) gegründet; ihre Mitglieder stammten zumeist aus Südkärnten und hatten in diesem dünn besiedelten, sehr gebirgigen Landesteil den Vorteil großer Ortskenntnis und geheimer Unterstützung durch die dort Wohnenden. Die Partisanenbekämpfung band viele Soldaten: 1944/45 waren rund 15.000 Mann in Südkärnten stationiert.
Bis Kriegsende fielen etwa 500 Partisanen im Kampf. Dies war in Österreich der einzige kontinuierliche, organisierte und bewaffnete Widerstand gegen die NS-Diktatur und somit ein wichtiger Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung, wie er 1943 in der Moskauer Deklaration der Alliierten verlangt wurde.
Weitere 2400 Kärntner fielen der NS-Verfolgung zum Opfer: Behinderte, Juden, Widerstandskämpfer, Sinti und Roma. Das KZ Loibl und das KZ-Nebenlager Klagenfurt-Lendorf gehörten zu den zahlreichen Außenlagern des KZ Mauthausen. 62.000 Kriegsgefangene und Zivilisten mussten in Kärnten Zwangsarbeit verrichten.
Besonders Klagenfurt und der Verkehrsknotenpunkt Villach waren ab 1944 Ziele alliierter Luftangriffe, Villach war nach Wiener Neustadt die am stärksten zerstörte Stadt Österreichs. Alliierte Truppen erreichten Kärnten erst nach dem Waffenstillstand, so dass Kärnten von schweren Gefechten verschont blieb.
Am 7. Mai 1945 übernahmen Vertreter der demokratischen Parteien friedlich die Verwaltung von den NS-Machthabern Gauleiter Friedrich Rainer und Gauhauptmann Meinrad Natmeßnig. Am 8. Mai trafen britische Truppen in Klagenfurt ein, wenige Stunden später auch jugoslawische, die den Anschluss von Kärntner Gebieten an Jugoslawien durchsetzen wollten. Auf Druck der britischen und sowjetischen Verantwortlichen mussten sie sich noch im Mai aus Kärnten zurückziehen, wobei es zu Verschleppungen und Tötungen etlicher Kärntner durch jugoslawische Truppen kam.
Niederösterreich – Niederdonau
Gauleiter war Hugo Jury. Der Verwaltungssitz verblieb in Wien, Krems wurde zur „Gauhauptstadt“ erhoben. Während die Wien umgebenden Gemeinden dem Reichsgau Wien eingegliedert wurden, kam der nördliche Teil des Burgenlandes (Städte Eisenstadt und Rust, Bezirke Eisenstadt, Mattersburg, Neusiedl am See und Oberpullendorf) im Oktober 1938 zum Reichsgau Niederdonau. Auf Grund des Münchner Abkommens kamen im Oktober 1938 auch die südmährischen, deutsch besiedelten Gebiete mit den Städten Znaim und Nikolsburg zum Gau Niederdonau, sodass dieser insgesamt keine Einbußen erlebte.
Östlich der Stadt Schwechat, 1938–1954 Teil Wiens, wurde ein Flugfeld der Luftwaffe angelegt, aus dem sich der Flughafen Wien entwickelt hat.
Um die Gemeinde Döllersheim im Waldviertel, den Geburtsort von Hitlers Großvater, und 40 Nachbargemeinden wurde ab 1941 ein „Heeresgutsbezirk“, der größte Truppenübungsplatz im Deutschen Reich, angelegt. Die Bevölkerung wurde vertrieben und umgesiedelt (heute Truppenübungsplatz Allentsteig). Im Verlauf des Krieges diente das Gebiet als Sammelstelle für Kampfverbände, die an die östlichen Fronten verlegt wurden, und es wurden ein Sammellager für Beutegut und ein Kriegsgefangenenlager angelegt.
Entlang der Thermenlinie wurden auf Grund der strategisch günstigen Lage in den letzten Kriegsjahren kriegswichtige Schwerindustrie (Flugzeugbau u. ä.) angesiedelt und Lager für Zwangsarbeiter eingerichtet. In der Schlussphase des Krieges war die Wiener Operation 1945 die letzte Schlacht des Krieges in Niederösterreich.
Oberösterreich – Oberdonau
Am 14. März 1938 übernahm August Eigruber, zuvor Gauleiter Oberösterreichs der verbotenen NSDAP, das Amt des Landeshauptmanns. Am 12. April 1940 wurde er als Reichsstatthalter des Reichsgaues Oberdonau vereidigt. Erster stellvertretender Gauleiter war ab 18. März 1938 Rudolf Lengauer aus Schwanenstadt. Ihm folgte schon am 23. Mai Hans Eisenkolb, der am 7. Mai 1940 von Christian Opdenhoff abgelöst wurde. Im Rahmen der Dachauer Prozesse wurde Eigruber nach Kriegsende wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen im KZ Mauthausen zum Tode verurteilt und am 28. Mai 1947 hingerichtet. Linzer Polizeidirektor wurde nach der Ermordung von Viktor Bentz am 15. März 1938 der SS-Untersturmführer Josef Plakolm.
Mit der Neugliederung Oberdonaus in zwei Stadtkreise (Linz, Steyr) und 13 Verwaltungsbezirke am 1. November 1938 wurden die Bezirke Eferding und Urfahr-Umgebung aufgelöst und Ebelsberg und St. Magdalena der Hauptstadt eingemeindet. Die Gemeinden Lichtenegg und Pernau wurden Teile der Stadt Wels. Die südböhmischen, deutsch besiedelten Gebiete kamen im Oktober 1938 auf Grund des Münchner Abkommens zum Deutschen Reich und wurden dem Gau Oberdonau angeschlossen.
Das für sehr viele Insassen tödliche KZ Mauthausen östlich von Linz wurde wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten errichtet. Anders als KZs im „Altreich“ oder als die tief in den Wäldern versteckten Vernichtungslager in Polen wurde das KZ Mauthausen als bedrohliche Machtdemonstration des Regimes weithin sichtbar auf einem Hügelkamm erbaut. 1943 wurde als Nebenlager das KZ Ebensee nahe dem Traunsee in Betrieb genommen. In Schloss Hartheim westlich von Linz befand sich 1940–1944 eine berüchtigte Euthanasieanstalt. Neben Hitler sind zwei weitere bekannte NS-Verbrecher mit Oberösterreich verbunden: Ernst Kaltenbrunner wurde hier geboren, Adolf Eichmann lebte 20 Jahre hier. Die beiden lernten sich schon in der Schule in Linz kennen und waren später besonders eifrige Exponenten der NS-Tötungsmaschinerie.
Linz – die „Patenstadt des Führers“
Hitler hatte von 1900 bis 1903 in Linz die Realschule besucht, während die Familie in Leonding bei Linz wohnte. Nach dem Schulabbruch lebte er ab 1905 mehrere Jahre mit seiner Mutter – Vater Alois war 1903 verstorben – in der Stadt. In dieser Zeit begann er, Skizzen von Gebäuden anzufertigen und Entwürfe für verschiedene Bauwerke und sogar eine Umgestaltung der Stadt zu zeichnen.
In Hitlers Planungen nahm die Stadt, die er als „Patenstadt des Führers“ bezeichnete, nach seinem Regierungsantritt einen besonderen Stellenwert ein (siehe auch Welthauptstadt Germania). Sie sollte nach dem Ende des Krieges nicht nur der Ort sein, wo er seinen Ruhestand verbringen wollte, sondern auch grundlegend umgestaltet werden. Er plante, sie zu einer Donaumetropole auszubauen, die nicht nur keinen Vergleich mit Wien oder Budapest („Deutsches Budapest“) scheuen, sondern diese Städte überflügeln sollte. Dazu sollten dort eine Reihe von Prunkbauten, eine Prachtstraße und die größte Kunst- und Gemäldegalerie der Welt errichtet werden. Deren Bestände sollten aus den Museen und Sammlungen des gesamten Deutschen Reiches und im Rahmen des Sonderauftrags Linz als Beutekunst in den eroberten Ländern und durch Enteignung von vornehmlich jüdischen Sammlern zusammengetragen werden. Zwar hatte Hitler Pläne und Modelle der Stadt noch bis zum Ende im Führerbunker bei sich, aber weder Museum noch Prachtstraße wurden verwirklicht. Während des Krieges lag der Schwerpunkt der Investitionen im Bereich der Rüstungsindustrie.
Neben den repräsentativen Bauten sollte Linz auch zu einem Zentrum der Schwerindustrie ausgebaut werden. Schon am 4. Mai 1938 erfolgte die Gründung der Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring zur Herstellung von Eisen und Stahl; am 13. Mai folgte der Spatenstich durch Hermann Göring.
Zu den noch heute sichtbaren Zeugnissen von Hitlers Plänen für Linz zählen die Nibelungenbrücke über die Donau, deren Bau er am 13. Mai 1938 befahl, sowie die dazugehörigen, markanten Brückenkopfgebäude zwischen Brücke und Hauptplatz. Ebenfalls aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt die Prägung von Linz als Industriestadt: mit der Gründung der sechs Quadratkilometer großen Industrieanlagen der Hermann Göring Werke (ab 1946 VÖEST, heute Voestalpine) sowie der Stickstoffwerke Ostmark (ab 1946 Österreichische Stickstoffwerke, dann Chemie Linz und heute Agrolinz Melamine International) und Wohnhausanlagen mit rund 10.000 Wohnungen, vorwiegend für Arbeiter der neuen großen Industriebetriebe gedacht.
Salzburg
In Salzburg wurden zwei nationalsozialistische Instanzen mit überregionaler Bedeutung installiert. Der Salzburger Gauleiter war seit dem 1. September 1939 auch Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis XVIII, der Führer des SS-Oberabschnittes Alpenland war gleichzeitig Höherer SS- und Polizeiführer.
Die in Salzburg traditionell fest verwurzelte katholische Kirche musste trotz Widerstandes und Versuchen, eine Einigung mit den neuen Machthabern zu erzielen, starke Einschnitte ihrer Macht hinnehmen. Das katholische Schulwesen wurde, wie in ganz Österreich, verboten und Teile der Besitztümer der Kirche beschlagnahmt.
Kulturell sollte Salzburg von seiner „klerikalen und jüdischen“ Prägung befreit werden. So kam es auf Initiative Karl Springenschmids am 30. April 1938 auf dem Residenzplatz zur einzigen Bücherverbrennung auf dem Gebiet der „Ostmark“. Die jüdische Gemeinde Salzburgs zählte 1938 rund 200 Menschen, von denen nach dem „Anschluss“ viele ins Exil flohen oder nach Wien umsiedelten. Die Synagoge wurde während der Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“) zerstört, Geschäfte jüdischer Eigentümer verwüstet oder enteignet. Alle männlichen Juden der Stadt Salzburg wurden im Zuge der Ausschreitungen verhaftet. Gauleiter Friedrich Rainer verkündete wenig später, dass Salzburg „judenrein“ sei. Die Salzburger Festspiele wurden in den Jahren der NS-Herrschaft weitergeführt, nur 1944 wurden sie auf Anordnung von Joseph Goebbels, wie alle Festspiele im Deutschen Reich, infolge des versuchten Staatsstreichs vom 20. Juli 1944 abgesagt. Durch das Fehlen bedeutender Künstler, die entweder ins Exil gezwungen worden waren oder ihre Mitwirkung verweigerten, verloren die Festspiele aber in diesen Jahren an Bedeutung.
Am 21. März 1938 führte Hitler selbst, äußerst professionell inszeniert, bei Walserberg den Spatenstich für den Fortbau der Reichsautobahn von Salzburg über Linz nach Wien durch (heute Westautobahn, A1). Geplant und gebaut wurden von den angekündigten 300 Kilometern allerdings nur symbolische 17 km bis Eugendorf, da sich auf dieser Strecke eine malerische Kurve, besonders geeignet für Propaganda-Fotoaufnahmen, befand.
Von den alliierten Bombenangriffen 1944 und 1945 waren vor allem die Stadt Salzburg (Bahnhofsviertel, Innenstadt) und die Orte Grödig, Hallein, Bischofshofen und Schwarzach im Pongau betroffen. Die Landeshauptstadt wurde am 4. Mai 1945 von US-amerikanischen Truppen erreicht und kampflos eingenommen.
Steiermark
In der Steiermark, vor allem in Graz, fand schon in den Wochen vor dem 12. März 1938, insbesondere vom 19. bis zum 24. Februar, eine Reihe großer Demonstrationen und Kundgebungen von Anhängern der NSDAP statt. Gefordert wurden Machtwechsel und „Anschluss“, wobei es auch zu gewalttätigen Übergriffen auf politische Gegner kam. Als das Schuschnigg-Regime am 11. März 1938 Schwächezeichen zeigte, übernahmen die steirischen Nationalsozialisten die Macht, lang bevor deutsche Truppen eintrafen.
Nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich wurden die steirischen Rohstoff- und Industriegebiete rasch in den Vierjahresplan eingebunden. Von besonderer Bedeutung waren die Erzvorkommen (Eisenerzer Alpen, Erzberg) und die Produktionsanlagen in der Mur-Mürz-Furche. Zur Arbeit wurden dort auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter eingesetzt. Von 1700 im Jahr 1939 stieg die Zahl bis 1944 auf 4514 Zwangsarbeiter und 1871 Kriegsgefange, die am Erzberg arbeiten mussten. Kranke wurden in das KZ Mauthausen in Oberösterreich gebracht, das von 1943 bis 1945 das Außenlager „K-L. Eisenerz“ betrieb. Von den in der Steiermark zur Zwangsarbeit Herangezogenen stammten, wie auch in Kärnten, rund 80 % aus Slowenien, dessen nördlicher Teil ab 1941 als CdZ-Gebiet Untersteiermark dem Reichsstatthalter und Gauleiter der NSDAP für den Gau Steiermark, Siegfried Uiberreither, unterstand und germanisiert werden sollte.
Vom aufgelösten Burgenland wurden im Oktober 1938 die südlichen Bezirke Güssing, Jennersdorf und Oberwart an den Reichsgau Steiermark angeschlossen.
In den letzten Kriegsjahren formierten sich um Leoben, Donawitz und im Gebiet der Koralpe Partisanengruppen, die zum Teil Kontakte mit den jugoslawischen Partisanen unterhielten.
Von den Bombenangriffen der Alliierten waren ab 1944 insbesondere Graz und die Industrieregionen betroffen.
Graz – die „Stadt der Volkserhebung“
Bereits am 24. Februar 1938, noch vor dem „Anschluss“ und während die NSDAP in Österreich noch verboten war, gelang es Grazer NS-Anhängern mit Einverständnis des Bürgermeisters, am Rathaus die Hakenkreuzfahne anzubringen, was der Stadt die Bezeichnung als „Hochburg des Nationalsozialismus“ eintrug. Auch die Studenten der Grazer Universitäten beteiligten sich an den Aufmärschen und waren in großer Zahl Mitglied von SA und SS. Sie begrüßten dann auch die Vereinigung mit dem Deutschen Reich und schlugen vor, dass die Hochschule in „Adolf-Hitler-Universität“ umbenannt werden sollte. Die Grazer Universitäten waren in ihrem Verständnis der südöstliche Vorposten der deutschen Wissenschaft, „Wegbereiter des Deutschtums“ und ein „Bollwerk gegen die Gefahr aus dem Osten“.
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden Vertreter der anderen Parteien verhaftet sowie etwa 2400 Grazer, die gemäß den Nürnberger Gesetzen als Juden galten, verfolgt, ihres Eigentums beraubt, zur Emigration gezwungen oder nach Wien deportiert. Die Zeremonienhalle und die Synagoge wurden im November 1938 zerstört. Im März 1940 galt die Steiermark als „judenrein“. Anlässlich einer Feier am 25. Juli 1938, in der die steirischen Nationalsozialisten mit dem Motto „Und ihr habt doch gesiegt“ der Putschisten des Jahres 1934 gedachten, verlieh Hitler der Stadt den Titel „Stadt der Volkserhebung“.
Siehe auch: Geschichte der Steiermark
Tirol-Vorarlberg
Nordtirol und Vorarlberg wurden im April 1938 zum Reichsgau Tirol-Vorarlberg zusammengelegt. Die Parteiorganisation bestand aus 10 Kreisen, 335 Ortsgruppen, 813 Zellen und 4821 Blocks (Stand 1940). Zum Gauleiter und Reichsstatthalter wurde der Innsbrucker Franz Hofer bestimmt. Er hatte seinen Sitz im neu errichteten „Gauhaus“ in Innsbruck.
Obwohl in der Bevölkerung teilweise klerikaler Antisemitismus (z. B. Anderl von Rinn) tief verwurzelt war, hatte die NS-Ideologie vor 1938 kaum Widerhall gefunden. Auch nach dem „Anschluss“ stand der Nationalsozialismus zum Teil im Gegensatz zum tirolerischen Selbstverständnis und Patriotismus. Dass Osttirol nicht dem Gau Tirol-Vorarlberg, sondern dem Gau Kärnten angeschlossen wurde, war ein Zugeständnis Hitlers an seinen Verbündeten Mussolini, jedoch eine Enttäuschung für jene Tiroler, die von den neuen Machthabern eine Vereinigung auch mit Südtirol erwartet hatten. Die so genannte „Option“, das Umsiedlungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Italien, führte dazu, dass ab 1940 rund 70.000 Südtiroler nach Nord- und Osttirol übersiedelten, von denen nach dem Kriegsende etwa 25.000 wieder in ihre Heimat zurückkehrten.
Das Verhältnis der Vorarlberger und Tiroler zur NSDAP änderte sich im Lauf der Jahre. 1942 war Tirol-Vorarlberg mit 70.348 Parteimitgliedern der österreichische Gau mit der höchsten Zahl an NSDAP-Mitgliedern in Relation zur Bevölkerung.
Nach dem Kriegsaustritt Italiens im September 1943 wurde Südtirol als Teil der militärischen „Operationszone Alpenvorland“ definiert und Gauleiter Hofer unterstellt; die politische Vereinigung der Teile Tirols wurde aber nicht vollzogen.
Wirtschaft
Alle Vermögenswerte des österreichischen Staates gingen auf das Deutsche Reich über. Der beträchtliche Goldbestand der Österreichischen Nationalbank im Wert von 2,7 Mrd. Schilling, das waren rund 1,4 Mrd. Reichsmark, wurde nach Berlin transferiert. Es handelte sich um das Achtzehnfache der deutschen Währungsreserven, die Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht bis auf 77 Mio. Reichsmark der Regierung zum Verbrauch zur Verfügung gestellt hatte. Der Teil der österreichischen Gold- und Devisenreserven, der bei der Bank of England deponiert war, wurde von Gouverneur Montagu Norman anstandslos an Berlin ausgeliefert.
Im Zuge der Einführung der Reichsmark wurde der österreichische Schilling mit einem Wechselkurs von 1,5 Schilling zu 1 Reichsmark umgetauscht; dies entsprach keineswegs dem realen Wert der beiden Währungen, erleichterte aber der deutschen Regierung und deutschen Unternehmen die Übernahme österreichischer Vermögenswerte erheblich. Die Vorstände von Großbetrieben, Banken, Versicherungen und anderer wichtiger Betriebe wurden nach und nach mit regimetreuen Personen besetzt und mussten selbstverständlich „Vollarier“ sein. Betriebe im Eigentum von jüdischen Österreichern wurden sofort unter kommissarische Verwaltung gestellt und sukzessive enteignet, jüdische Manager binnen weniger Stunden entfernt.
Die Eingliederung der österreichischen Wirtschaft in den Vierjahresplan des Deutschen Reiches setzte unmittelbar nach dem „Anschluss“ am 12. März 1938 ein. Von den 21 Aktienbanken des Landes wurden sechs liquidiert, die fünf größten wurden Institutionen aus dem „Altreich“ eingegliedert, darunter Österreichische Länderbank, Österreichisches Credit-Institut, Niederösterreichische Handels- und Gewerbebank und Girozentrale.
Ein beträchtlicher Teil der österreichischen Unternehmen ging unter politischem Druck und oft mit Unterstützung der „ins Reich heimgeholten“ Banken an deutsche Konzerne über, so dass der Anteil deutscher Unternehmen am Kapital der österreichischen Aktiengesellschaften von 9 % im Jahre 1938 auf 57 % vor Kriegsende anstieg. Die Eingliederung österreichischer Unternehmen in deutsche Konzerne vollzog sich oft unter beachtlichen Machtkämpfen. Beispiele sind der Kampf um die Kontrolle der Creditanstalt-Bankverein (CA-BV) unter den Kontrahenten Deutsches Reich, Deutsche Bank und Dresdner Bank und der Kampf um die Kontrolle der Alpine Montan AG zwischen der VESTAG und den Hermann-Göring-Werken.
Die Beteiligungen der CA-BV gingen an die VIAG, später auch die Universale Bau.
Die Reichswerke Hermann Göring sicherten sich die Continentale Motorschiffahrt, die DDSG, die Kärntnerische Eisen- und Stahlwerksgesellschaft (Kestag), die Steirischen Gussstahlwerke, die Steyr-Daimler-Puch, die Feinstahlwerke Traisen und Anteile der Simmering-Graz-Pauker (SGP).
Die Berndorfer Metallwarenfabrik ging an Krupp,
Die Donau Chemie (Moosbierbaum, Liesing, Landeck) ging an I.G. Farben,
Anteile an der Floridsdorfer und Wiener Neustädter Lokomotivfabriken an Henschel & Sohn,
Teudloff-Vamag an VAG Armaturen Mannheim.
Sperrminoritäten an ELIN und Kabelfabrik und Drahtindustrie AG (KDAG) gingen an die Deutsche Continental-Gas-Gesellschaft.
Weitere Unternehmen, die an deutsche Konzerne verkauft, verpachtet oder von ihnen als „feindliches Eigentum“ verwaltet wurden, waren unter anderem: Austria Email, die Bleiberger Bergwerks-Union, Böhler, Borregaard in Hallein, Harlander, Hofherr-Schrantz, Leykam-Druck, ÖAF, ÖAMAG, Perlmooser Zement (Kaltenleutgeben), Treibacher Chemische Werke, Veitscher Magnesitwerke und Waagner-Biro.
Für viele Österreicher bedeutete die Neuorganisation und -ausrichtung der Wirtschaft vorerst eine Verbesserung der zuvor prekären Situation. Vor allem in Landwirtschaft und Industrie entstanden neue Arbeitsplätze, auch in Großprojekten wie den „Hermann-Göring-Werken“ bei Linz (heute voestalpine) und in der Schiffswerft Linz (heute ÖSWAG, gegründet am 24. Juni 1938 als erster Rüstungsbetrieb Oberösterreichs). Der oft erwähnte Autobahnbau und auch der Bau des Kraftwerks Kaprun spielten diesbezüglich jedoch keine Rolle, ersterer wegen der nur für Spatenstich-Propaganda und Film- bzw. Fotoaufnahmen gebauten wenigen Kilometer bei Salzburg, und Kaprun, weil dort die Aktivitäten über die Entnahme von Gesteinsproben und die beginnende Einrichtung der Baustelle nie hinausgingen.
Wesentlich bei der Arbeitsplatzschaffung war auch der systematische Ausschluss jüdischer Bürger aus dem Wirtschaftsleben und aus dem öffentlichen Dienst. Binnen eines Jahres nach dem „Anschluss“ war praktisch keine Arbeitslosigkeit mehr vorhanden. Neben den im Land selbst Beschäftigten wurden etwa 100.000 Arbeiter, vor allem Fachkräfte, in das „Altreich“ beordert. Junge Männer wurden vorerst zum Reichsarbeitsdienst einberufen und schieden als Arbeitsuchende für einige Zeit aus. Mit Beginn des Krieges wurden sie zur Wehrmacht eingezogen, Mädchen mussten im Rahmen der BDM-Aktivitäten in der Landwirtschaft aushelfen.
Dass die wirtschaftlichen Maßnahmen den Plänen zur militärischen Aufrüstung entsprachen, löste bei Menschen, die dies bemerkten, meist kein Befremden aus, – im Gegenteil, hatte die „Schande von Versailles“ (gemeint war der Vertrag von Versailles 1919) doch Deutschlands Selbstbewusstsein lang eingeschränkt. Kritiker der Aufrüstung wurden geheimpolizeilich behandelt und kriminalisiert; ihre Meinung drang nie an die (manipulierte) Öffentlichkeit. Die konkrete Kriegsplanung Hitlers war nur ganz wenigen Eingeweihten bekannt.
Architektur
In der Architektur verfolgte die NS-Verwaltung einen Stil, der mit der „Blut-und-Boden-Philosophie“ anderer Kunstbereiche wenig zu tun hatte. Architekten, die vor 1938 in Österreich gebaut hatten, etwa Josef Hoffmann, waren oft weiterhin im Geschäft, damals errichtete Bauten fallen heute kaum auf. Man baute in einem sachlichen, mit Elementen der Heimatarchitektur versetzten Stil. Beispiele sind die beiden Brückenkopfbauten an der Linzer Nibelungenbrücke und die SS-Kaserne im Fasangarten von Schloss Schönbrunn in Wien, heute Maria-Theresien-Kaserne genannt. Im Wohnbau sind die Südtiroler-Siedlungen für die damaligen Optanten aus Südtirol österreichweit anzutreffen. Als „Gigantomanie“ einzustufende Projekte, wie Hitler sie liebte, etwa die Führerbauten in Linz oder die Verlängerung der Wiener Ringstraße bis zur Donau unter Schaffung eines riesigen Paradeplatzes, blieben wegen des Krieges unausgeführt.
Als der Bombenkrieg näherrückte, wurden in Wien sechs Flaktürme als militärische Zweckbauten errichtet. Nach dem Krieg hätten sie, mit Marmor verkleidet, als monumentale Kriegerdenkmäler dienen sollen. In den letzten Jahrzehnten sind sie immer wieder für diverse Nutzungen im Gespräch.
Musik
Wie alle gesellschaftlichen Gruppierungen unterlagen auch die Opern-, Operetten- und Konzerthäuser den Auflagen der Nazi-Diktatur. In den großen Gebäuden fanden oft auch unmittelbar politische Veranstaltungen statt. Außerdem gab es künstlerische Werke, die sich unmittelbar auf die politische Entwicklung bezogen, etwa Franz Schmidts Kantate Deutsche Auferstehung. Ein festliches Lied (1938/1939), die im Auftrag des Gauleiters Globocnik komponiert und am 24. April 1940 im Wiener Musikverein uraufgeführt wurde.
Staatsverbrechen
Zu Verhaftungen und Folterungen im Wiener Gestapo-Hauptquartier siehe Hotel Metropol
Das vormalige Palais Albert Rothschild wurde aus dem Besitz einer als Juden verfolgten Bankiersfamilie beschlagnahmt und zeitweise vom RSHA bzw. der Gestapo als „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ unter Adolf Eichmann benutzt. Siehe auch: Arisierungen, Reichsfluchtsteuer, Deportationen
zu Enteignungen siehe auch Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens (3. Dezember 1938)
Beraubung
In ganz Österreich setzte nach dem 11. März sofort eine Welle „wilder Arisierungen“ ein. Geschäfte österreichischer Juden wurden von spontan gebildeten „Requirierungskommandos“, bestehend aus Zivilisten mit Hakenkreuz-Armbinden und SA-Angehörigen, geplündert. Unternehmen und Wohnungen wurden ihren Besitzern unter fadenscheinigen Begründungen entzogen oder, nachdem die jüdischen Eigentümer vertrieben worden waren, einfach übernommen. Diese Übergriffe nahmen solche Ausmaße an, dass die Reichsregierung schließlich explizit diese Vorgehensweise zu unterbinden suchte und Enteignungen nur im Einklang mit den Gesetzen zuließ. Für die Opfer machte das keinen Unterschied. Die folgenden, staatlich organisierten Konfiskationen und Zwangsverkäufe zu minimalen Preisen, die auf dem Eigentümer nicht zugänglichen Sperrkonten deponiert wurden, stellten sicher, dass die Beraubung von jüdischen Österreichern und Regimegegnern lückenlos erfolgte, das Regime am Raub profitierte und der Staat insbesondere dort steuernd eingreifen konnte, wo es um Einfluss auf überregional wirtschaftlich bedeutende Unternehmen ging.
Im Zuge von „Arisierungen“ wurden bis zum 10. August 1938 etwa 1.700 Kraftfahrzeuge und bis Mai 1939 etwa 44.000 Wohnungen beschlagnahmt. Mobiles Eigentum, vom Hausrat bis zu Kunstgegenständen, wurde frei verkauft oder über Auktionshäuser versteigert. Eine führende Rolle hatte dabei in der nunmehrigen „Ostmark“ das Dorotheum inne. Besonders Wertvolles, etwa Kunstgegenstände, wurde meist Museen oder Universitäten übereignet, aber nicht selten auch günstig von Privatpersonen, die dem NS-Regime nahestanden, oder von Funktionären des Regimes erworben. Die Wiener Jüdische Gemeinde wurde gezwungen, als „Sühne“ für die Unterstützung der von Schuschnigg geplanten Volksabstimmung eine halbe Million Reichsmark zu entrichten. Diese Summe wurde wie alle Erlöse der „Arisierung“ sofort nach Berlin transferiert.
Unter enormen finanziellen Belastungen flohen viele in diejenigen Länder, die bereit waren, als Juden oder politisch Verfolgte aufzunehmen. Das nationalsozialistische Regime verdiente an dieser Flucht, indem es von den Emigranten die „Reichsfluchtsteuer“ (25 % des gemeldeten Vermögens), die „Auswandererabgabe“ und die „Sozialausgleichsabgabe“ einhob und sie zwang, ihre übrigen Vermögenswerte „arisieren“ zu lassen. Im Völkischen Beobachter, dem Parteiorgan der NSDAP, wurde das mit den Worten Der Jud muß weg – sein Gerstl bleibt da! kommentiert („Gerstl“ steht umgangssprachlich für Geld). Bei vermögenden Bürgern jüdischer Abstammung, die selbst nichtgläubig waren, wurde der Vermögensentzug teilweise auch über die sogenannte Aktion Gildemeester abgewickelt. Bei Prominenten, wie z. B. der Familie Rothschild, kam dazu die Erpressung mit Geiselnahme.
Die wirtschaftliche Struktur des Landes wurde grundlegend umgeformt. Gab es beispielsweise 1938 in Österreich 157 Apotheken, die von Juden geführt wurden, waren davon im Februar 1939 nur noch drei übrig; alle anderen waren innerhalb eines knappen Jahres „arisiert“ worden. Das Kaufhaus Herzmansky und das Warenhaus Gerngross in der Wiener Mariahilfer Straße, zwei der damals größten Warenhäuser Österreichs, wurden genauso wie zahlreiche Gewerbebetriebe und Unternehmen enteignet und nichtjüdischen Gesellschaftern übergeben. Bis 1940 wurden 18.800 der 25.440 im Jahr 1938 im Eigentum von Juden stehenden Unternehmen liquidiert. Nicht in diesen Zahlen enthalten sind Banken. Von den etwa 100 Privatbanken, die als in jüdischem Besitz stehend galten, wurden acht „arisiert“ und alle anderen von kommissarischen Verwaltern übernommen, geschlossen und aufgelöst. Die Vermögen flossen direkt dem Regime oder ihm nahestehenden Unternehmen zu.
Verfolgung und Ermordung
Politische Gegner, Intellektuelle und Künstler
Die Verfolgung politischer Gegner setzte, wie auch die von Juden, unmittelbar nach dem „Anschluss“ ein. Innerhalb weniger Wochen wurden rund 60.000 Menschen verhaftet und vor allem in das KZ Dachau deportiert. Die Polizei, die nun Heinrich Himmler unterstand, war in den deutschen Polizeiapparat eingegliedert worden; den Behörden standen alle Unterlagen des austrofaschistischen Regimes zur Verfügung. Daher war es für die neuen Machthaber ein Leichtes, Exponenten der Kommunisten und der Sozialdemokraten (vgl. Revolutionäre Sozialisten Österreichs), die bereits seit 1934 als Parteien verboten und verfolgt gewesen waren, zu verhaften und einige Tage bis einige Jahre festzuhalten. Neben diesen Gruppierungen wurden Vertreter und Funktionäre des Ständestaatsregimes 1934–1938, das die NSDAP in Österreich verboten und die Nationalsozialisten in die Illegalität gezwungen hatte, rigoros verfolgt. In geringerem Ausmaß wurden auch prononcierte Christdemokraten und Monarchisten zum Ziel von Verfolgung.
Unter den Ersten, die nach Dachau gebracht wurden, waren Leopold Figl, Richard Schmitz und Alfons Gorbach, die der Vaterländischen Front angehört hatten. Bekannte Sozialdemokraten unter den Verhafteten waren Robert Danneberg (1942 im KZ Auschwitz ermordet), Franz Olah, Käthe Leichter (in Ravensbrück ermordet) und Karl Seitz. Auch Franz Koritschoner, einer der führenden kommunistischen Parteifunktionäre der Ersten Republik, der 1929 in die Sowjetunion emigriert war, wurde nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion im KZ Auschwitz ermordet.
Künstler und Wissenschaftler wurden vom nationalsozialistischen Regime, sofern sie nicht dessen Ideologie entsprachen, verfolgt oder zumindest in ihrer Arbeit stark eingeschränkt. Schon von der Bücherverbrennung 1933 in Deutschland waren auch österreichische Autoren betroffen gewesen, darunter Franz Werfel, Sigmund Freud, Egon Erwin Kisch, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig. Nach dem „Anschluss“ wurden politisch und ideologisch unerwünschte Kunstschaffende und Intellektuelle jüdischer Abstammung in großer Zahl deportiert. Zu den bekanntesten Opfern zählen der Schauspieler Paul Morgan (ermordet 1938 im KZ Buchenwald), der Dramatiker Jura Soyfer (1939 in Buchenwald), der Kabarettist Fritz Grünbaum (1941 im KZ Dachau) und der Librettist Fritz Löhner-Beda (1942 im KZ Auschwitz). Der „Nichtjude“ Robert Stolz emigrierte von sich aus. Wer zufälligerweise, wie Friedrich Torberg, in den Anschlusstagen nicht in Österreich war, kehrte, um der Verfolgung zu entgehen, nicht ins Land zurück. Erstes sicheres Land war, auch bei der Flucht über die grüne Grenze, oft die Tschechoslowakei. Egon Friedell starb durch Suizid.
Viktor Frankl überlebte mehr als zwei Jahre Gefangenschaft (Ghetto Theresienstadt, KZ Auschwitz, KZ 9 bei Türkheim), ehe er am 27. April 1945 von der US-Armee befreit wurde. Sein Vater starb in Theresienstadt, seine Mutter in Auschwitz und seine Frau im KZ Bergen-Belsen. Unter dem Eindruck des Erfahrenen schrieb er später das Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, in dem er, trotz des erlebten Grauens und der Entmenschlichung in den Lagern, für sich zu dem Schluss kam, dass Versöhnung, nicht Vergeltung, die einzig zielführende Form der Aufarbeitung wäre – eine von vielen geachtete, aber auch viel kritisierte Ansicht.
Siehe auch: Entartete Musik, Liste verbotener Autoren während der Zeit des Nationalsozialismus
Juden
Antisemitische Hetze hatte es in Österreich bereits lang vor dem „Anschluss“ gegeben. Hitler selbst, der 1909 als 20-Jähriger nach Wien gezogen war und dort die Schriften des Rassenideologen und Antisemiten Jörg Lanz von Liebenfels und die antisemitische Polemik von Politikern wie Georg Ritter von Schönerer (Alldeutsche Vereinigung) und dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger kennengelernt hatte, war von diesem Milieu mitgeprägt. Nach dem Ersten Weltkrieg waren sowohl Vertreter politischer Parteien wie auch der katholischen Kirche gegen Juden und das Judentum aufgetreten. 1925 warnte etwa Bischof Sigismund Waitz (Innsbruck) vor der Weltgefahr des habgierigen, wucherischen, ungläubigen Judentums, dessen Macht unheimlich gestiegen sei. Die Christlichsoziale Partei bediente sich im Wahlkampf teils offen antisemitischer Klischees.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 wurde immer wieder vom jüdischen „raffenden“ (Spekulations-)Kapital im Gegensatz zum nichtjüdischen „schaffenden“ Kapital gesprochen. Der Austrofaschismus ab 1934 drängte Juden in der Organisation des katholischen „Ständestaates“ an den Rand der Gesellschaft (vgl. Klerikalfaschismus). Kauft nicht bei Juden war schon vor der Eingliederung des Landes in das nationalsozialistische Deutsche Reich eine bekannte Parole, die damals allerdings noch kaum Wirksamkeit entfaltete.
Die Nürnberger Gesetze traten in Österreich am 20. Mai 1938 in Kraft. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ lebten in Österreich, nachdem einige schon zuvor emigriert waren, 201.000 bis 214.000 Menschen, die diesen Gesetzen gemäß als „Voll-, Halb-, Viertel-, Achteljuden“ galten (davon über 180.000 in Wien). In den Monaten nach dem „Anschluss“ mussten diese Menschen aus allen Teilen Österreichs nach Wien übersiedeln. Die Beraubung (siehe diesen Abschnitt) begann. Egon Friedell, der am 11. März 1938 an Ödön von Horváth geschrieben hatte: Jedenfalls bin ich immer in jedem Sinne reisefertig, nahm sich fünf Tage später durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben, als Gestapo-Beamte ihn abholen wollten. Auch viele andere Verfolgte begingen Selbstmord.
Während der Novemberpogrome („Reichskristallnacht“) wurden im ganzen Reich, so auch in Wien, Klagenfurt, Linz, Graz, Salzburg, Innsbruck und mehreren niederösterreichischen Orten, von SA in ländlichen Gebieten und von SS in den Städten, auf persönlichen Befehl von Joseph Goebbels spontan aussehender Terror organisiert und Gewaltakte gegen Juden und jüdische Einrichtungen begangen. Dabei wurden 27 Menschen getötet, darunter auch Richard Berger, der Vorstand der Kultusgemeinde von Innsbruck. Etwa 6.500 Juden wurden verhaftet, von denen die Hälfte in Konzentrationslager, vor allem nach Dachau, deportiert wurden. Fast alle Synagogen wurden in Brand gesteckt, die Ruinen abgerissen. Der von Joseph Kornhäusel erbaute Stadttempel in Wien 1., Seitenstettengasse, blieb äußerlich unbeschädigt, da Brandstiftung wegen der umliegenden Wohnhäuser nicht in Frage kam.
Ein Jahr nach dem „Anschluss“ lebten in Wien noch ca. 91.000 so genannte „Volljuden“ und 22.000 „Mischlinge“. Ab 1940 wurden die in der „Ostmark“ verbliebenen Juden in großer Zahl in das KZ Theresienstadt oder eines der Ghettos im besetzten Polen deportiert. Baldur von Schirach, als Gauleiter von Wien dafür verantwortlich, bezeichnete dies als seinen Beitrag zur europäischen Kultur. Die Shoa kostete etwa 65.500 jüdische Österreicher das Leben.
Roma
„Zigeuner“ galten gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie als den Juden vergleichbare unerwünschte Volksgruppe. Adolf Eichmann schlug 1939 vor, die „Zigeunerfrage“ solle gleichzeitig mit der „Judenfrage“ gelöst werden.
Im Burgenland wurde für die Burgenland-Roma das „Zigeuner-Anhaltelager Lackenbach“ errichtet. Die Inhaftierten hatten Zwangsarbeit zu leisten. Anfang November 1941 wurden 5007 Roma in Viehwaggons aus den Reichsgauen Niederdonau und Steiermark ins Ghetto Litzmannstadt in Łódź deportiert. Fast alle zählten zur Gruppe der Burgenland-Roma, mehr als die Hälfte von ihnen waren Kinder. Rund 2000 „Zigeunerinnen“ und „Zigeuner“ wurden aus den im Lager Lackenbach Internierten ausgewählt, die übrigen 3015 stammten aus dem Gau Steiermark: 2011 davon aus dem Bezirk Oberwart (deren Abtransport erfolgte aus dem Sammellager Pinkafeld), 1004 aus den restlichen Gaubezirken (Abtransport aus dem Sammellager Fürstenfeld). Für die Selektion waren die jeweiligen Landräte verantwortlich. Die Überlebenden des sich rasch ausbreitenden Fleckfiebers wurden im Jänner 1942 in dem inzwischen installierten Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) in Gaswagen erstickt. Kein einziger der nach Łódź deportierten Roma überlebte.
Von den etwa 11.000 Roma der „Ostmark“ wurden etwa 86 % ermordet.
Bibelforscher
Zeugen Jehovas, Quäker und andere als Bibelforscher zusammengefasste kleinere religiöse Gruppen wurden verfolgt und ihre Anhänger in Konzentrationslager deportiert. Viele, vor allem Zeugen Jehovas, wurden als Kriegsdienstverweigerer verurteilt, und mehrere hundert Kinder wurden ihnen unter Entzug des Sorgerechts weggenommen.
Priester
Angehörige der großen Religionsgemeinschaften (römisch-katholisch, evangelisch) blieben in der Zeit des Nationalsozialismus weitestgehend unbehelligt. Gefährdet waren hingegen jene Priester, die sich offen gegen das Regime aussprachen, am Widerstand dagegen beteiligten oder Verfolgte in Pfarrhäusern versteckten. Auch der ob seiner ablehnenden Haltung zum Nationalsozialismus bekannte Fürstbischof von Seckau, Ferdinand Stanislaus Pawlikowski, wurde als einziger Bischof im „Großdeutschen Reich“ nach der Okkupation verhaftet und erst auf Intervention des Vatikans wieder freigelassen. Zwischen 1938 und 1945 wurden insgesamt 724 österreichische Priester verhaftet, von denen 20 in Haft verstarben oder zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden. Mehr als 300 Priester waren landesverwiesen, über 1500 Priester wurde ein Predigt- und Unterrichtsverbot verhängt.
In ihrer Tätigkeit wurde die katholische Kirche insbesondere in der Jugendarbeit stark eingeschränkt. Kirchliche Schulen wurden geschlossen und die Jugendseelsorge verboten. Auch eine Reihe von Klöstern (Admont, Altenburg, St. Florian, Göttweig, Klosterneuburg, Kremsmünster, Lambach, St. Lambrecht, Stams, Wilhering, Stift St. Paul im Lavanttal) wurde aufgehoben und ihre Besitztümer beschlagnahmt. 188 andere Männer- und Frauenklöster wurden aufgehoben, über 1400 katholische Privatschulen, Heime und Bildungsinstitute geschlossen, das Kirchenvermögen beschlagnahmt, der Religionsfonds (von Kaiser Joseph II. aus dem Vermögen aufgehobener Klöster zur Finanzierung neu geschaffener Pfarren errichtet) aufgelöst. Aus dem Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg machte man eine Adolf-Hitler-Schule.
Über 6000 kirchliche Vereine, Werke und Stiftungen wurden verboten. Die katholischen Standesblätter und schließlich auch die Kirchenzeitungen wurden eingestellt. Der „Katholische deutsche Reichs-Soldatenbund“, der aus der vom damaligen Militärbischof Pawlikowski gegründeten Marianischen Soldatenkongregation hervorgegangen war (Höchststand 1935: ca. 7.000 Mitglieder), wurde am 13. März 1938 aufgelöst, der Obmann dieser Laienorganisation, Major Franz Heckenast, wurde von den Nationalsozialisten 1938 verhaftet und kam im Konzentrationslager Buchenwald ums Leben.
Die Evangelische Kirche in Österreich, vorher schon deutschnational geprägt, hatte den „Anschluss“ vorbehaltlos begrüßt und hatte mit dem NS-Regime kaum Probleme.
Homosexuelle
Homosexuelle wurden von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ betrachtet, weshalb auch sie verfolgt und in Konzentrationslager deportiert wurden, wo sie den Rosa Winkel zu tragen hatten. Im Unterschied zum „Altreich“, wo Homosexualität zwischen Männern gemäß § 175 RStG verfolgt wurde, war nach dem in Österreich vor 1938 geltenden § 129 Abs. 1 lit. b StG auch Homosexualität zwischen Frauen verboten. Diese Bestimmung blieb nach dem „Anschluss“ aufrecht; in der „Ostmark“ wurden daher auch lesbische Frauen inhaftiert.
Siehe auch: Homosexualität in der Zeit des Nationalsozialismus
Behinderte
Als ebenfalls nicht der Ideologie der „reinen, arischen, germanischen Herrenrasse“ entsprechend wurden körperlich und geistig Behinderte zu Opfern der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In einem euphemistisch als Euthanasie (griechisch, etwa guter, leichter Tod) bezeichneten Programm, der Aktion T4, wurden sie in eigens eingerichteten Tötungsanstalten wie Schloss Hartheim in Oberösterreich mittels tödlicher „medizinischer Versuche“ ermordet (zum Beispiel Am Spiegelgrund in Wien, wo der Arzt Heinrich Gross (1915–2005) tätig war).
Konzentrationslager und Tötungsanstalten
Das größte Konzentrationslager in Österreich war das KZ Mauthausen östlich von Linz. Es gehörte zum „Doppellagersystem Mauthausen/Gusen“ und umfasste insgesamt 49 Nebenlager (KZ-Nebenlager Bretstein, KZ-Nebenlager Redl-Zipf, KZ-Nebenlager Steyr-Münichholz, KZ Ebensee u. a.). Es wurde im August 1938, sechs Monate nach dem „Anschluss“, von der SS als Außenstelle des KZ Dachau gegründet. Ab März 1939 wurde es zu einem selbstständigen Lager erweitert. Die Insassen hatten unter unmenschlichen Bedingungen schwerste Arbeiten zu verrichten, bei denen ihr Tod jederzeit in Kauf genommen wurde, sofern er nicht absichtlich herbeigeführt wurde.
Am 2. Februar 1945 versuchten rund 500 Häftlinge, großteils sowjetische Offiziere, aus dem KZ Mauthausen zu entkommen. Die Mehrzahl starb bereits während des Fluchtversuchs im Kugelhagel der Wachmannschaften. Nur etwa 150 von ihnen gelang es, die umliegenden Wälder zu erreichen. Es folgte eine drei Wochen andauernde Suchaktion, von der SS als „Mühlviertler Hasenjagd“ bezeichnet. Nur wenige Wochen vor dem Kriegsende nahmen daran, neben SS, SA, Gendarmerie, Wehrmacht, Volkssturm und Hitler-Jugend, auch Teile der aufgehetzten Zivilbevölkerung der Umgebung teil. Wurden geflohene KZ-Insassen entdeckt, wurden sie meist an Ort und Stelle erschossen oder erschlagen. Der Lagerleiter hatte befohlen, niemand lebend ins Lager zurückzubringen. Nur von 11 sowjetischen Offizieren ist bekannt, dass sie, auch dank der Hilfe einzelner Zivilisten, überleben konnten.
Bis zum Kriegsende wurden etwa 200.000 Menschen aus mehr als 30 Nationen nach Mauthausen und in seine Nebenlager deportiert; rund 100.000 wurden ermordet oder starben im Zuge des „Arbeitseinsatzes“.
Seit dem 23. November 1940 wurden im „Zigeuner-Anhaltelager Lackenbach“ (Burgenland) Roma inhaftiert. Von dort sollten die Insassen in die Vernichtungslager in Polen oder in andere KZs gebracht wurden. Während der Gefangenschaft im Anhaltelager hatten sie Zwangsarbeit zu verrichten. Von den insgesamt rund 4000 Gefangenen fanden mehr als 3000 in Lackenbach oder einem der Lager, in die sie von dort gebracht wurden, den Tod.
Neben den Konzentrationslagern existierten auch Tötungsanstalten wie jene im Schloss Hartheim, wo im Rahmen der „Aktion T4“ und der „Sonderbehandlung 14f13“ insgesamt rund 30.000 Menschen mit Behinderungen, Alte oder Kranke in einer Gaskammer ermordet wurden. In den Krankenakten wurden auch Begriffe wie Deutschenhasser, Kommunist und Polenfanatiker eingetragen. Auch im Rahmen der NS-Medizin fanden Menschen in österreichischen Krankenhäusern den Tod. Allein am Spiegelgrund, einem Teil des Spitalskomplexes auf der Baumgartner Höhe in Wien, wurden rund 700 zum Teil geistig behinderte Kinder ermordet.
„Fremdarbeiter“ und Zwangsarbeit
Im Winter 1939/1940 machte sich wegen der Einberufungen zur Wehrmacht und der intensiven Rüstungsproduktion ein größerer Mangel an Arbeitskräften bemerkbar. Polen, Tschechen und über zwischenstaatliche Verträge auch Slowaken, Italiener und Jugoslawen wurden als so genannte „Fremdarbeiter“ in der Landwirtschaft eingesetzt.
Nach der Besetzung Polens wurden erstmals auch Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit verpflichtet. Am 31. März 1941 wies eine Aufstellung insgesamt 96.999 Kriegsgefangene aus, die in den Wehrkreisen XVII und XVIII, dem Gebiet Österreichs, als Zwangsarbeiter, mehrheitlich zum Aufbau von Industrieanlagen und in der Land- und Forstwirtschaft, eingesetzt wurden. Männer, Frauen und Jugendliche ab 15 Jahren wurden in den besetzten Gebieten willkürlich aufgegriffen und zur Zwangsarbeit abtransportiert. Die Gemeinden wurden verpflichtet, jeweils eine festgelegte Anzahl von Arbeitern zu stellen; taten sie das nicht, wurden mitunter Gehöfte oder ganze Dörfer abgebrannt.
Bei seiner Posener Rede am 4. Oktober 1943 stellte Heinrich Himmler vor SS-Führern fest: Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. […] Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, […].
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Arbeiter und Kriegsgefangenen waren, entsprechend der nationalsozialistischen Rassenideologie, stark von ihrer Herkunft abhängig. „Westarbeiter“ (Franzosen, Italiener, Belgier, Niederländer) wurden besser behandelt als aus Ungarn und Südosteuropa Stammende. Arbeiter aus Polen, dem Protektorat Böhmen und Mähren und der Sowjetunion standen am unteren Ende der Hierarchie. Sie erhielten die geringsten Lebensmittelrationen, die schlechtesten Unterkünfte und wurden am stärksten von jedem Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung abgeschirmt.
Österreicher als Täter
Adolf Hitler, geboren in Braunau am Inn und aufgewachsen in verschiedenen Orten Oberösterreichs, betrachtete Österreich, obwohl er im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gedient, die Staatsbürgerschaft 1925 auf eigenen Wunsch abgelegt hatte und seit 26. Februar 1932 Bürger des Deutschen Reiches war, als seine (ungeliebte) Heimat; allerdings war Österreich für ihn kein Staat, sondern Teil des gesamten Deutschen Reiches.
Wie stark die Bevölkerung in der „Ostmark“ bzw. im „Altreich“ von der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten durchdrungen war oder diese willig aufnahm, ist bis heute Gegenstand der Forschung. Während beispielsweise der US-amerikanische Soziologe und Politologe Daniel Goldhagen die Bevölkerung des Deutschen Reiches als „Hitlers willige Vollstrecker“ bezeichnete, legte anderseits die im Widerstand tätige Wienerin Ella Lingens großen Wert darauf festzustellen, dass passiver und auch aktiver Widerstand durchaus weit verbreitet war. Erschwert wurde die Opposition zum herrschenden Regime allerdings durch dessen effiziente Verwaltungs- und Überwachungsstruktur und die brutale Sanktionierung selbst geringsten Abweichens von der Parteilinie. Schon ein kritischer Satz über die Situation der Lebensmittelversorgung konnte zur Einweisung in ein Konzentrationslager und damit zum Tod führen. Aber auch jemand, der eine solche Aussage „überhörte“, also nicht meldete, riskierte damit bereits sein Leben und u. U. das seiner nahen Verwandten.
In der Bevölkerung waren xenophobe und rassistische Haltungen (Antisemitismus, Antiziganismus, Antislawismus) sowie die „traditionellen“ Feindbilder (Frankreich als Gegner in früheren Kriegen, die „Bolschewisten“ u. a.) weit verbreitet, so dass die NS-Propaganda hier zwar verstärkend und radikalisierend wirkte, bei vielen aber auf bereits vorhandene Ressentiments und Einstellungen aufbauen konnte. In der Ersten Republik wurde die Sozialdemokratie von politischen Gegnern mit „jüdischem Bolschewismus“ in Verbindung gebracht; der Ständestaat benachteiligte 1934–1938 jüdische Österreicher. Dazu kamen 1938 noch wirtschaftliche Interessen wie die Aussicht auf die Übernahme von Wohnungen, Geschäften oder Firmen von bei den Behörden angezeigten „Volksfeinden“. Die Denunziation von „Volksschädlingen“, beispielsweise Menschen, die Verfolgten Unterschlupf gewährten oder ihnen bei der Flucht halfen, war oft nicht so sehr ideologisch motiviert als mit der Aussicht auf persönliche Bereicherung verknüpft.
Acht (von insgesamt 75) KZ-Kommandanten, 40 % der KZ-Aufseher, 14 % der SS-Mitglieder und 70 bis 80 % von Eichmanns 15-köpfigem Stab waren Österreicher (bei einem Bevölkerungsanteil von 8 %). Eichmann, in Deutschland geboren, aber in Österreich aufgewachsen, bediente sich seiner aus Wiener Zeiten bekannten Seilschaften, da er als Nicht-Akademiker von den Kollegen aus dem „Altreich“ teilweise geschnitten wurde.
Überdurchschnittlich viele Österreicher nahmen an SS-Einsatzgruppen bei Massenerschießungen von Juden und anderen Zivilisten im Rückraum der Ostfront teil. Der Zeitgeschichtler Bertrand Perz hält den 40-%-Anteil der Österreicher am KZ-Personal allerdings für übertrieben und geht von etwa 13 bis 20 Prozent aus. Da ihnen vor dem Hintergrund der k.u.k. Monarchie „Ostkompetenz“ zugeschrieben wurde, wurden sie häufig im Osten des deutschen Herrschaftsgebietes eingesetzt: Das KZ Treblinka wurde nacheinander von Irmfried Eberl und Franz Stangl geleitet, das KZ Sobibor von Franz Reichleitner und wiederum Franz Stangl. Kommandanten des KZ Theresienstadt waren die Österreicher Anton Burger, Karl Rahm und Siegfried Seidl. Amon Göth („Der Schlächter von Plaszow“) leitete das KZ Plaszow, Herbert Andorfer das KZ Sajmište (Belgrad). Das von Simon Wiesenthal verbreitete Narrativ der überdurchschnittlichen Anzahl von Tätern österreichischer Abstammung wurde von Kurt Bauer einer umfangreichen Überprüfung unterzogen und nicht bestätigt. Österreicher waren statistisch weder in der NSDAP, noch bei SS oder den meisten Tätergruppen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern überrepräsentiert.
Als Täter vom Gestapo-Beamten über an „Euthanasie“-Programmen teilnehmende Ärzte bis zu maßgeblich an der Planung und Umsetzung des Holocausts Beteiligten wurden weiters unter anderem folgende Österreicher bekannt:
Ernst Kaltenbrunner: 1930 der österreichischen NSDAP und 1931 der SS beigetreten, ab 1938 im Rang eines SS-Gruppenführers Kommandant der SS der gesamten „Ostmark“, ab 1943 in der Nachfolge Heydrichs Chef der Sicherheitspolizei und des SD und wenig später SS-Obergruppenführer und General der Polizei sowie Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und damit auch der Gestapo.
Arthur Seyß-Inquart organisierte oder deckte als Reichsstatthalter in den Niederlanden zahlreiche NS-Verbrechen.
Odilo Globocnik: 1931 der österreichischen NSDAP und 1932 der SS beigetreten, ab 1933 stellv. Gauleiter der NSDAP in Kärnten, ab 1939 als SS- und Polizeiführer auf dem Gebiet des besetzten Polens eingesetzt, wo er 1942/43, die vier Vernichtungslager Belzec, Sobibor, Treblinka und Majdanek errichten ließ und einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von etwa 2 Millionen polnischen Juden war („Aktion Reinhardt“).
August Eigruber war als Gauleiter von Oberösterreich intensiv in die NS-Tötungsmaschinerie involviert.
Wolfgang Abel: 1933 Beitritt zur NSDAP, an der Zwangssterilisation so genannter Rheinlandbastarde beteiligt, ab 1934 Dozent und stellvertretender Leiter der Abteilung „Rassenpflege“ der Deutschen Hochschule für Politik, ab 1943 Leiter des „Instituts für Rassenbiologie“, 1935 im SS-Rasse- und Siedlungshauptamt beschäftigt, Obergutachter im Reichssippenamt, ab 1940 Abteilungsleiter für „Rassenkunde“ am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, ab 1942 Lehrstuhl für „Rassenbiologie“ und für das Oberkommando des Heeres mit „Rassenuntersuchungen“ an 7000 Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion befasst.
Heinrich Gross gutachtete über „unwertes Leben“ und führte am Spiegelgrund in Wien mörderische „Versuche“ an behinderten Kindern durch.
Karl Josef Silberbauer: seit 1939 „kleiner“ Gestapo/SD-Beamter, Leiter der Verhaftung Anne Franks 1944.
An den NS-Verbrechen beteiligt waren auch die im Abschnitt „Länder als Reichsgaue“ genannten, aus der „Ostmark“ stammenden Gauleiter Hugo Jury, Franz Hofer, Tobias Portschy und Friedrich Rainer.
Alexander Löhr leitete als Chef der Luftflotte 4 im April 1941 den Luftangriff auf Belgrad.
Widerstand
In Österreich fielen rund 2700 im Widerstand Aktive der NS-Justiz zum Opfer, wurden wegen ihrer Tätigkeit verurteilt und hingerichtet. Etwa 10.000 wurden in Gefängnissen der Gestapo ermordet. Im Wiener Landesgericht wurden von 1938 bis 1945 600 Widerstandskämpfer mit dem Fallbeil (siehe auch Henker Johann Reichhart) hingerichtet, andere auf der Erschießungsstätte Kagran. Die enthaupteten Leichen wurden danach an das Anatomische Institut der Universität Wien überstellt, und später wurden die Leichenteile in Schachtgräbern im Wiener Zentralfriedhof im Geheimen beerdigt. Auch in Graz wurden ab August 1943 Menschen, die der NS-Diktatur Widerstand leisteten, mit einem Fallbeil ermordet. Hinsichtlich der Motivation und Würde der Widerstandskämpfer werden oft die Worte im Abschiedsbrief des Tirolers Walter Caldonazzi vor seiner Hinrichtung angeführt: "Wir sterben ja nicht als Verbrecher, sondern als Österreicher, die ihre Heimat liebten und als Gegner dieses Krieges, dieses Völkermordes."
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes schätzt die Zahl der am Widerstand beteiligten Österreicher insgesamt auf 100.000. Der österreichische Widerstand musste isoliert ohne die Unterstützung einer Exilregierung agieren. Die Widerstandsgruppen waren bis auf die Kommunisten, die von Moskau aus geleitet wurden, daher weitgehend auf sich allein gestellt. Als grundsätzliche Besonderheit des österreichischen Widerstandes gilt, dass die für Österreich typische parteipolitische Fragmentierung auch bis tief in den Widerstand und Exil-Organisationen hinein reicht und sich erst spät der Versuch einer losen überparteilichen Führung (Provisorisches Österreichisches Nationalkomitee, O5) bildete. Neben diesen einzelnen Gruppierungen gab es aber auch individuellen Widerstand. Den meisten Gruppen war gemein, dass es der Gestapo gelang sie durch V-Leute, wie Otto Hartmann, Kurt Koppel, Hans Pav oder Eduard Korbel, zu durchsetzen. Als Versuch, gegen die Gestapo selbst sogar offensiv vorzugehen, gelten die Planungen der Widerstandsgruppe rund um Karl Burian, das Gestapo-Hauptquartier in Wien zu sprengen. Der einzige breite öffentliche Protest gegen den Nationalsozialismus war die Demonstration von 6000 katholischen Jugendlichen am 7. Oktober 1938 vor dem Stephansdom in Wien.
Sozialdemokraten und Kommunisten
Sozialdemokraten und Kommunisten mussten schon in der Zeit des Austrofaschismus ab 1934 „illegal“ agieren, da ihre Parteien verboten waren; viele von ihnen waren einige Zeit in Haft gewesen. Sie verfügten aber über intakte Untergrundorganisationen. Nach dem „Anschluss“ Österreichs und den ersten Verhaftungswellen lösten sie die zentralen Strukturen auf und organisierten sich 1940/1941 in kleinen örtlichen Gruppen, die untereinander nur geringen Kontakt unterhielten, um die Verfolgung zu erschweren. Eine kommunistische Parole jener Zeit lautete: Du bist jetzt die Partei. Versuche, eine zentrale Leitung zu errichten, bewirkten durch die von der Gestapo eingeschleusten V-Leute regelmäßig die Aufdeckung der kommunistischen Strukturen.
Eisenbahner und Industriearbeiter verübten wieder Sabotageakte. Dazu gab es verschiedene Kleingruppen die in der Tradition von Leo Trotzki standen, die von der Gestapo genannte „tschechische Sektion der KPÖ“, anarchistisch beeinflusst waren oder von ehemaligen Spanienkämpfern gebildet wurden. Gegenüber dem massiven Widerstand der Kommunisten fiel der sozialistische Widerstand recht schwach aus. Während die KP ihre Kader "verheizte" und damit die aktivsten Mitarbeiter verlor, tauchten die SP-Kader unter und hielten still. Eine Erklärung liegt in der großdeutschen Einstellung der Sozialdemokraten, die erst später einem zarten Österreich-Patriotismus wich. Dennoch wurden schon ab 1938 viele Mitglieder der Revolutionären Sozialisten und der Sozialistischen Arbeiterhilfe verfolgt, aufgedeckt und verhaftet. Mit voller Wucht traf auch der NS-Apparat die Sozialdemokraten mit jüdischen Wurzeln wie den Wiener Finanzstadtrat Robert Danneberg.
Römisch-katholische Kirche
Die führenden Exponenten der Römisch-katholischen Kirche, die in den Jahren 1934–1938 auch personell eng mit dem austrofaschistischen Regime verbunden gewesen waren und deren Bischöfe den „Anschluss“ befürwortet hatten, konnten bald erkennen, dass die erhoffte Koexistenz mit den nationalsozialistischen Machthabern sich nicht erfüllen würde. Der Einfluss der Kirche wurde stark eingeschränkt: Kirchliche Schulen wurden aufgelöst und der Religionsunterricht zum Freifach, an dessen Stelle Schüler sich in der Hitler-Jugend betätigen sollten, ihre Finanzierung erfolgte nicht mehr durch die vom NS-Staat beschlagnahmten Religionsfonds, sondern durch neu eingeführte Kirchenbeiträge der Mitglieder, Trauungen im Standesamt wurden obligatorisch (siehe Ehegesetz (Österreich)) und gerichtliche Ehescheidungen auch für Katholiken eingeführt.
Am 7. Oktober 1938, einem Herz-Jesu-Freitag, rief Kardinal Theodor Innitzer Jugendliche zu einer Andacht zum Rosenkranzfest in den Wiener Stephansdom. Etwa 6000 vorwiegend junge Katholiken folgten dem Aufruf und beantworteten Innitzers Predigt, in der er feststellte Nur einer ist euer Führer: Jesus Christus, mit Ovationen. Nach der Andacht versammelten sich viele der Anwesenden vor dem Erzbischöflichen Palais neben dem Dom und riefen: Wir wollen unseren Bischof sehen. Staat und Partei antworteten auf die unerwarteten Kundgebungen mit zahlreichen Verhaftungen; tags darauf erstürmten und verwüsteten Angehörige der Hitler-Jugend das Palais, die Polizei sah tatenlos zu. Gauleiter Josef Bürckel hielt am 13. Oktober vor über 200.000 Demonstrationsteilnehmern auf dem Heldenplatz eine Rede gegen politisierende Geistliche.
Die Kundgebungsteilnehmer zeigten Transparente mit Parolen wie Pfaffen auf den Galgen und Innitzer und Jud, eine Brut.
Die Kirchenführung ging von da an offenen Konfrontationen mit den Machthabern großteils aus dem Weg. Gegen die Deportation der jüdischen Bevölkerung wurde kein öffentlicher Protest erhoben, jedoch sprachen sich die Bischöfe klar gegen die Tötung von körperlich oder geistig Behinderten aus. Während erst am 19. Juni 1943 Bischöfe in einem Hirtenbrief die Ermordung von „Menschen fremder Rassen und Abstammung“ brandmarkten und „für die schuldlosen Menschen“ eintraten, leisteten einfache Priester wie zum Beispiel Marcel Callo, Johann Gruber, Konrad Just, Hermann Kagerer, Carl Lampert, Andreas Rieser, Matthias Spanlang und Johann Steinbock schon viel früher erheblichen Widerstand. Christliche Laien und einzelne Priester unterstützten vereinzelt Verfolgte und versteckten sie in Kirchengebäuden. Gegenwehr gegen das faschistische Regime konnten auch die Verweigerung des Fahneneides (z. B. Franz Reinisch), individuelle Widerstandshandlungen („staatsfeindliche“ Äußerungen, „Rundfunkverbrechen“ etc.), das Verhindern von nationalsozialistischer Propaganda im Religionsunterricht wie durch Josef Steinkelderer, spontane Proteste gegen antikirchliche Maßnahmen und die Bildung von Widerstandsgruppen (vgl. z. B. die Gruppe rund um Heinrich Maier) sein. Priester, ihre Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen wurden daher von der Gestapo überwacht. Es wurden aber auch Priester, wie der Vorarlberger Alois Knecht, der am 17. September 1939 seine Sonntagspredigt mit den Worten „Der Krieg ist das größte Übel, das die Menschheit treffen kann, und trotzdem haben wir schon wieder einen Krieg“ begann und dadurch für fünf Jahre ins Konzentrationslager kam, von Mitgliedern der Kirchengemeinde denunziert.
Der Wiener Kaplan Heinrich Maier gründete mit dem Tiroler Walter Caldonazzi und Franz Josef Messner, dem Generaldirektor der Semperit-Werke, die Widerstandsgruppe Maier-Messner-Caldonazzi. Diese katholisch-konservative Gruppe, der auch Andreas Hofer angehörte, wurde später „als die vielleicht spektakulärste Einzelgruppe des österreichischen Widerstandes“ bezeichnet und hatte einen hohen politisch-militärischen Stellenwert. Ziel der Gruppe war es, schnellstmöglich das Ende des Schreckensregimes durch eine militärische Niederlage herbeizuführen und die Wiedererrichtung eines freien und demokratischen Österreichs zu realisieren. Die Gruppe übermittelte dazu streng geheime Baupläne der V-2-Rakete bzw. des Tigerpanzers und Lagepläne von geheimen Produktionsanlagen und Rüstungsindustrie an die Alliierten. Dadurch sollten die alliierten Luftangriffe zivile Ziele schonen und verstärkt Waffenproduktionsanlagen treffen.
Zu den bekanntesten Aktivisten, die als Verräter oder wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet wurden, zählen der Wehrdienstverweigerer Franz Jägerstätter, die Ordensschwester Maria Restituta, die Priester Jakob Gapp und Otto Neururer, der Pater Franz Reinisch, Marie Schönfeld, Franz Schönfeld, der Provikar Carl Lampert und der Augustiner-Chorherr Roman Karl Scholz. Allein die Gruppe von Scholz umfasste an die 200 Leute.
Kardinal Innitzer richtete in seinem Haus eine „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Christen“ ein, die getauften Juden und Angehörigen anderer christlicher Konfessionen bei der Ausreise aus dem Deutschen Reich und der Beschaffung von dazu nötigen Dokumenten half sowie Rechtsberatung und ärztliche Hilfe organisierte. Die Hilfsstelle hielt auch so lange wie möglich den Kontakt mit den ins KZ Deportierten aufrecht. Von den 23 Mitarbeitern der Hilfsstelle waren zwölf im Sinne der Nürnberger Gesetze jüdischer Herkunft, acht von ihnen wurden in der NS-Zeit ermordet.
1940 bestimmte die SS das KZ Dachau mit einem eigenen Priesterblock als zentralen Internierungsort für christliche Geistliche, die oft schwer gefoltert wurden. Hinzu kamen immer wieder besondere Ausschreitungen gegen die Priester. Es wurde zum Beispiel am Heiligen Abend 1938 unter dem auf dem Appellplatz aufgestellten Julbaum der österreichische Prälat Ohnmacht ausgepeitscht. An einem Gründonnerstag geißelten SS-Wärter den österreichischen Kaplan Andreas Rieser am nackten Oberkörper, bis das Blut spritzte, und wanden ihm dann eine Dornenkrone aus Stacheldraht. Am Karfreitag 1940 wurden sechzig Priester „gekreuzigt“, indem sie eine Stunde lang am Pfahl aufgehängt wurden. Die Priester Martin Spannlang und Otto Neururer wurden im KZ Buchenwald getötet durch Kreuzigung mit geknebeltem Kopf nach unten. Insgesamt waren als österreichische Widerstandskämpfer 706 Priester im NS-Gefängnis, 128 in Konzentrationslagern und 20 bis 90 wurden hingerichtet beziehungsweise im KZ ermordet.
Legitimistischer (monarchistischer) Widerstand
Im Fokus des Gestapo lag besonders die Bekämpfung von legitimistischen Widerstandsgruppen. Deren gemeinsames Ziel – Sturz des NS-Regimes, Wiedererrichtung eines selbstständigen Österreichs unter habsburgischer Führung – stellte für das NS-Regime eine besondere Provokation und Herausforderung dar. Insbesondere, weil Hitler vor Hass auf die Familie Habsburg strotzte. Die zentrale Person dieser Bestrebungen, Otto Habsburg, wurde steckbrieflich gesucht, sein Vermögen auf persönlichem Befehl Hitlers beschlagnahmt, seine Anhänger wurden verfolgt. Der führende Vertreter Habsburgs in Österreich Hans Karl Zeßner-Spitzenberg wurde mit dem ersten Transport ins KZ Dachau gebracht, wo er am 1. August 1938 starb.
Als monarchistische Gruppen gelten zum Beispiel die Widerstandsgruppe um Karl Burian mit dem von ihm gegründeten "Monarchistischen Zentralkomitee", die Widerstandsnetze um Wilhelm Hebra und Josef Eder, die Österreichische Volksfront um Wilhelm Zemljak, Teile der Großösterreichischen Freiheitsbewegung um Jakob Kastelic, die Gruppe um Johann Müller, Alfred Gruber und Franz Waschnigg, die Widerstandsbewegung um Karl Polly mit der Bezeichnung Österreichische Arbeiterpartei und dem Ziel einer sozialen Volksmonarchie, die Illegale Österreichische Kaisertreue Front um Leopold Hof oder die Antifaschistische Österreichische Kaisertreue Front um Karl Wanner (Lambertrunde). Bereits im Zeitraum 1938 bis 1940 hatte die Gestapo einer Reihe von legitimistischen Widerstandsgruppen von Jugendlichen zerschlagen, die sich aus dem Österreichischen Jungvolk beziehungsweise aus der Bündischen Jugend entwickelt hatten.
Gerade die Gruppe um Karl Burian war aus Sicht der Gestapo besonders gefährlich. Einerseits stand diese Gruppe in direktem Kontakt zu Otto Habsburg und andererseits plante Burian selbst offensiv gegen die Gestapo vorzugehen. Mit den Original-Hausplänen des Gestapo-Hauptquartiers am Morzinplatz, die der enteignete jüdische legitimistische Mitbesitzer Karl Friedinger beschaffte, plante die Widerstandsgruppe einen Sprengstoffanschlag. Durch den Gestapospitzel und Informanten der Abwehrstelle Wien Josef Materna verraten, fielen die legitimistischen Aktivisten in die Hände der Gestapo.
Es gab auch einzelne christlich-monarchistische Widerstandskämpfer wie Franz Schönfeld und Marie Schönfeld. Viele dieser Widerstandskämpfer wurden hingerichtet. Die Härte der Verfolgung lässt sich schon im Verfahren gegen die alte, schwer kranke und gebrechliche Marie Eckert erkennen, welche wegen Besitzes eines in ihrer Brieftasche gefundenen selbstgeschriebenen Zettels mit dem Text „Wir wollen einen Kaiser von Gottesgnaden und keinen Blutmörder aus Berchtesgaden“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. In der Gestapo-Wien leitete lange Zeit der wegen seiner Brutalität berüchtigte Johann Sanitzer das für den legitimistischen und österreich-patriotischen Widerstand zuständige Referat. Insbesondere ab November 1943 wurden in Regensburg, Salzburg und Wien Volksgerichtshof-Verhandlungen gegen mehr als 300 österreichische Separatisten beziehungsweise Legitimisten durchgeführt, die in der Folge zu zahlreichen Todesurteilen und Zuchthausstrafen führten. Bis dahin waren viele monarchistische Widerstandskämpfer aufgrund Anordnung Hitlers ohne Gerichtsverhandlung direkt ins KZ eingeliefert worden. Es wurden 800 bis 1.000 monarchistische Widerstandskämpfer hingerichtet.
Ernst Karl Winter gründete im Jahr 1939 in New York mit dem „Austrian American Center“ ein überparteiliches Nationalkomitee mit legitimistischen Hintergrund. Dieses organisierte regelmäßige Demonstrationen und Aufmärsche und veröffentlichte wöchentliche Publikationen. In den USA gab es als pro-habsburgische Organisationen weiters die „Austrian American League“.
Evangelische Kirche und Freikirchen
Die Schwedische Israelmission in Wien half insbesondere evangelischen Juden, so dass viele von ihnen rechtzeitig ausreisen konnten. Der in Wien tätige Baptistenprediger Arnold Köster brachte in Predigten und Vorträgen oft auch Kritik an Merkmalen des Nationalsozialismus vor.
Soldaten
Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich wurde das österreichische Bundesheer gleichgeschaltet. 126 Berufssoldaten und Beamte verweigerten aber den Eid auf Hitler und wurde sofort entlassen. Eine Besonderheit war die Weigerung des Kommandanten der Theresianischen Militärakademie, Generalmajor Rudolf Towarek, die Akademie in Wiener Neustadt der deutschen Wehrmacht zu übergeben. Er ließ Wache mit aufgepflanztem Bajonett aufmarschieren und verweigerte so der Wehrmacht mehrere Tage den Zutritt zur Burg. Möglicher Widerstand gegen das NS-Regime wurde verfolgt; so wurde General Wilhelm Zehner von der Gestapo getötet. Insgesamt wurden unmittelbar nach dem Einmarsch zwölf Offiziere in Konzentrationslager verbracht, sieben davon überlebten die Lager nicht. Sechzehn Offiziere kamen in Gefängnisse und zahlreiche Soldaten aller Dienstgrade wurden in den Freitod getrieben.
Am 7. März 1943 hatte der Österreicher Erwin von Lahousen gemeinsam mit Admiral Wilhelm Canaris Sprengstoff für ein Attentat auf Adolf Hitler in das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Smolensk gebracht. Dieser wurde am 13. März 1943 durch Henning von Tresckow und Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff in Hitlers Flugzeug platziert. Allerdings detonierte die Sprengladung aus ungeklärten Gründen nicht. Am 20. Juli 1944 scheiterte dann auch das Attentat auf Hitler und der Umsturzversuch durch Offiziere der deutschen Wehrmacht und Staatsbeamte, womit die Möglichkeiten des militärischen Widerstandes für einen Sturz des Systems erschöpft waren. Zu den Beteiligten gehörten auch die Österreicher Robert Bernardis (Oberstleutnant im Generalstab; am 8. August 1944 vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und hingerichtet), der Chef des Stabes im Wehrkreis XVII (Wien), Oberst i. G. Heinrich Kodré (er überlebte das KZ Mauthausen), und Major Carl Szokoll, der unentdeckt blieb.
Als Beispiel soldatischen Widerstands gilt auch das Verhalten von Walter Krajnc. Krajnc, Mitglied der Widerstandsgruppe „Kampfgruppe Tirol“ war nur einfacher Wehrmachtssoldat. Er trat der französischen Résistance bei und arbeitete für diese als Funker, wurde wegen kritischer Äußerungen im Zusammenhang mit Geiselerschießungen denunziert und wegen seiner Kontakte zur Résistance von einem Kriegsgericht zum Tod verurteilt und am 29. Juli 1944 erschossen.
In der „Operation Radetzky“ versuchten Offiziere – darunter erneut Major Carl Szokoll – in den letzten Kriegstagen, die Schlacht um Wien durch eine kampflose Kapitulation zu verkürzen und so die Zerstörung der Stadt zu verhindern. Oberfeldwebel Ferdinand Käs konnte das Hauptquartier der sowjetischen Armee in Hochwolkersdorf im südlichen Niederösterreich erreichen und den „Russen“ die Vorschläge der Gruppe übermitteln. Die Operation wurde aber verraten: Drei enge Mitarbeiter Szokolls, Major Karl Biedermann (geb. 1890, Kommandant der Heeresstreife Groß-Wien), Hauptmann Alfred Huth (geb. 1918) und Oberleutnant Rudolf Raschke (geb. 1923), wurden am 8. April 1945 an Straßenlaternen in Floridsdorf gehängt.
Widerstands- und Partisanengruppen
Angehörige verschiedener Widerstandsgruppen gründeten das „Provisorische Österreichische Nationalkomitee“. Die bekannteste dieser Gruppen war die unter der Chiffre „O5“ auftretende (das O und das als fünfter Buchstabe des Alphabets gekennzeichnete E standen für OE oder Österreich). Mitglieder waren unter anderem der Publizist Fritz Molden, der im Schweizer Exil als Kontaktmann der Gruppe zu den Westalliierten wirkte, und der spätere Bundespräsident Adolf Schärf. Die Gruppe O5 arbeitet auch eng mit den an der „Operation Radetzky“ beteiligten Offizieren zusammen.
Partisanengruppen, die vor allem seit 1944 aktiv waren, gab es in der Steiermark und in Kärnten, so in Leoben, in Judenburg, in Selzthal, im Gailtal und in den Karawanken. Sie unternahmen kleine Überfälle auf SS-Einheiten und die Feldgendarmerie. Außerdem organisierten und unterstützten die österreichischen Partisanen die Flucht ausländischer Zwangsarbeiter. Die zumeist aus Kärntner Slowenen bestehenden Südkärntner Partisanengruppen agierten grenzüberschreitend und arbeiteten mit jugoslawischen Partisanen zusammen, an deren Seite ab November 1944 auch ein „Österreichisches Freiheitsbataillon“ gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Die Aktionen der Partisanen zwangen das NS-Regime, viele Soldaten im Land statt an der Front einzusetzen.
Einzelpersonen
Auch Privatpersonen, die keiner Organisation oder Gruppe angehörten, betätigten sich vereinzelt im Widerstand, indem sie beispielsweise Juden und anderen Verfolgten Unterschlupf gewährten. Einige von ihnen, darunter Gottfried von Einem, Ella Lingens und Hermann Langbein, wurden nach dem Krieg in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Österreicher im Exil
Österreicher, die das Unheil hatten kommen sehen, waren schon vor dem 12. März 1938 emigriert. Sie „wählten“ das Exil aus Sorge um ihr Leben bzw. ihre wirtschaftliche Existenz oder weil sie nicht in der Diktatur leben wollten. In den Tagen des „Anschlusses“ und danach, als die Gefahr unmittelbar greifbar wurde und Übergriffe auf jüdische Österreicher und die Verfolgung politischer Gegner ahnen ließen, was noch folgen würde, flohen auch viele derjenigen, die zuvor geglaubt hatten, es würde schon nicht so schlimm werden. Das NS-Regime führte allerdings sofort strikte Grenzkontrollen ein und verhaftete viele Flüchtende aus den Zügen heraus.
Über die „grüne Grenze“ gelang so manchem die Flucht in die Tschechoslowakei, die Schweiz verstärkte bald ihre Grenzkontrollen und schickte Flüchtlinge nicht selten zurück („Das Boot ist voll“). Von März bis November 1938 gelang legal und illegal 130.000 Menschen die Ausreise. Unter den bekanntesten Künstlern, die emigrieren mussten, waren die Komponisten Arnold Schönberg und Hermann Leopoldi, die Filmschaffenden Leon Askin, Fritz Lang, Josef von Sternberg und Billy Wilder (geb. Samuel Wilder), der Theaterregisseur Max Reinhardt, die Kabarettisten Karl Farkas, Hugo Wiener und Gerhard Bronner sowie die Schriftsteller Hermann Broch, Anton Kuh und Franz Werfel. Friedrich Torberg, der den „Anschluss“ in Prag erlebte, kehrte nicht mehr nach Wien zurück. Robert Musil und Robert Stolz emigrierten aus Abscheu gegen den Nationalsozialismus. Erich Fried floh mit seiner Mutter nach London, nachdem sein Vater im Mai 1938 während eines Verhörs durch die Gestapo getötet worden war. Stefan Zweig, der über London, New York, Argentinien und Paraguay nach Brasilien geflohen war, nahm sich dort am 22. Februar 1942 gemeinsam mit seiner Frau Charlotte Altmann aus Trauer über die Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa das Leben.
Dem Nobelpreisträger für Medizin des Jahres 1936, Otto Loewi, wurde vor seiner Ausreise das Preisgeld abgepresst. Weitere Wissenschaftler, die ins Exil gingen, waren Sigmund Freud, Erwin Schrödinger, Kurt Gödel, Martin Buber, Karl Popper, Lise Meitner und Walter Hollitscher. Unter den aus politischen Gründen und der Rassengesetze wegen Emigrierten war der Sozialdemokrat Bruno Kreisky, der in Schweden Asyl fand und später als Bundeskanzler eine der prägendsten Persönlichkeiten der Zweiten Republik werden sollte. Manche der Emigranten nahmen auf Seiten der Alliierten aktiv am Kampf gegen das NS-Regime teil. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der schon in den 1930er Jahren in England lebte, meldete sich dort während des Krieges als Freiwilliger zu einer medizinischen Forschungsgruppe. Der Satiriker Georg Kreisler, 1938 geflohen und seit 1943 US-Bürger, war als Soldat in Europa stationiert.
Nur wenige der Emigrierten kehrten nach dem Krieg zurück. Von offizieller Seite gab es nach 1945 – ausgenommen den Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka – auch keine nennenswerten Bemühungen, die Vertriebenen zur Rückkehr zu bewegen. Eine der wenigen Ausnahmen war Karl Popper, dem ein eigenes Institut an der Universität Wien angeboten wurde. Dieser verspürte jedoch wenig Neigung, von England ins zerbombte Wien zurückzukehren, stellte sich aber Otto und Fritz Molden für das Forum Alpbach in Tirol zur Verfügung. Für Österreich bedeutete der Aderlass nicht nur den Verlust eines Teiles seiner Bevölkerung, sondern großer Teile seiner schöpferischen und intellektuellen Elite.
Österreichische Organisationen im Exil waren:
Austrian Democratic Union (August 1941–1945), London
1939 gründete Ernst Karl Winter in New York mit dem Austrian American Center das erste überparteiliche Nationalkomitee. Dieses organisierte regelmäßige Demonstrationen und Aufmärsche und veröffentlichte wöchentliche Publikationen. In den USA gab es als Organisationen weiters die Austrian American League und die Austrian Action mit dem späteren Austrian National Committee.
Young Austria, Emigrantenorganisation junger Österreicher in Großbritannien
Free Austrian Movement, Dachverband für in Großbritannien bestehende österreichische Exilorganisationen
Überparteilich: Österreichische Freiheitsfront
Krieg
Österreicher waren nach heutigem Forschungsstand unter den führenden Offizieren der Wehrmacht ungefähr im Verhältnis 1 : 10 vertreten, analog dem Bevölkerungsverhältnis Altreich : Alpen- und Donaugaue. Dies ist vergleichbar mit der Situation bei Gestapo und Polizei. In den besetzten Gebieten Südosteuropas nahmen sie z. B. mehrere der höheren Ränge ein. Insgesamt leisteten rund 1,25 Millionen Österreicher Kriegsdienst in Wehrmacht und Waffen-SS. Es herrschte unbedingte Wehrpflicht mit alternativ gnadenloser Todesstrafe; wie viele der Österreicher freiwillig dienten ist nicht zu ermitteln.
247.000 Österreicher fielen oder blieben vermisst. Bundesheer und Polizei wurden als Ganzes von Heinrich Himmler persönlich noch im März 1938 auf Adolf Hitler vereidigt ("Führereid"); Offiziere, die den Eid auf Hitler nicht ablegen wollten, wurden ebenso wie jüdische Offiziere zwangspensioniert und schwer diskriminiert.
Wegen des elitären Charakters und der zum Teil spektakulären Privilegien und zahlreicher Vergünstigungen (beschleunigte akademische Karriere, Wohnungen) meldeten sich junge Männer zur SS anfangs freiwillig; ab 1944 jedoch wurden wegen mangelnder Meldungen zur SS und zur Waffen-SS Zwangsrekrutierungen vorgenommen.
Für die Bevölkerung wurden Auswirkungen der Kriegswirtschaft schnell spürbar.
Reichsweit (also auch in Österreich) wurden am 28. August 1939, vier Tage vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Benzin ausgegeben. Damit sollte vermieden werden, dass Menschen (z. B. vor dem Hintergrund des verbreiteten Hungers während des Ersten Weltkriegs, siehe z. B. Steckrübenwinter) Lebensmittel und andere Güter horteten.
In der Bevölkerung war nach den schnellen Erfolgen in Polen und im Westfeldzug (1940 – Eroberung der Niederlande, Luxemburgs, Belgiens und Frankreichs) die Zuversicht groß, dass der Krieg schnell vorüber sein und siegreich enden würde.
Der Krieg in Jugoslawien (Balkanfeldzug 1940–1941) und der folgende Angriff auf die Sowjetunion (Russlandfeldzug 1941–1945), das flächengrößte Land der Welt, führten allerdings allmählich zu wachsender Skepsis und Bedenken. Das Ende von Hitlers schnellen Erfolgen mit dem Scheitern der Eroberung Moskaus im Winter 1941/42 und die nicht schönzuredende Niederlage in der Schlacht von Stalingrad (1942/43) bedeuteten entscheidende Wendepunkt des Kriegsverlaufs auch in der Wahrnehmung in der Bevölkerung. Die Todesanzeigen im „Völkischen Beobachter“, in denen in stolzer Trauer über den Tod von Vätern und Söhnen berichtet wurde, wurden zahlreicher, und Soldaten auf Fronturlaub berichteten vom Grauen, das sie erlebt hatten. Auch die Versorgungslage wurde zunehmend problematisch. Lebensmittel, Heizmaterial und „Spinnstoffe“ (Textilien war als „undeutsches“ Wort verpönt) waren immer schwieriger zu besorgen. Frauen wurden zum Reichsarbeitsdienst zwangsverpflichtet.
Nachdem die West-Alliierten ab 1943 von Süden her Italien eroberten (Operation Husky) und mit der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 zur Befreiung Frankreichs ansetzten, rückte das Kriegsgeschehen immer näher an die „Donau- und Alpenreichsgaue“ heran. Sie waren zuvor „Luftschutzkeller des Reiches“ genannt worden, weil sie erst spät in die Reichweite alliierter Bomberverbände gelangten.
Am 1. November 1943 wurde von den Außenministern der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA die Moskauer Deklaration beschlossen. Darin erklärten sie die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 15. März 1938 als null und nichtig. In Österreich erfuhren nur Menschen davon, die unter Lebensgefahr „Feindsender“ hörten.
Luftangriffe auf Österreich
Am 6. April 1941, dem Beginn des deutschen Angriffs auf Jugoslawien, erfolgten die ersten Luftangriffe auf österreichisches Gebiet im Zweiten Weltkrieg durch die jugoslawische Luftwaffe. Auf dem Grazer Frachtenbahnhof wurden dabei 60 Waggons zerstört.
Da Österreich bis 1943 nicht weiter bombardiert wurde beziehungsweise an der Grenze der Reichweite britischer und US-amerikanischer Langstreckenbomber und deren Begleitjäger lag, galt es lange als „Luftschutzkeller des Deutschen Reiches“. Daher verlagerte die deutsche Rüstungsindustrie große Teile ihrer Produktion nach Österreich. Im Mai 1943 wurde dann Nordafrika und anschließend Süditalien von den Alliierten befreit, womit ganz Österreich in die unmittelbare Reichweite und Aufmerksamkeit der britischen und amerikanischen Luftflotten gelangte. Foggia war ab November 1943 Stützpunkt der 15th Air Force der USAAF und der No. 205 Group der Royal Air Force. Grundsätzlich war ab dem Sommer 1943 bis Mitte 1944 der Fokus der alliierten Bomberverbände fast ausschließlich auf die Waffen- und Stahlindustrie im Raum Wiener Neustadt, Linz und Steyr gerichtet. Über das amerikanische Office of Strategic Services waren die alliierten Generalstäbe, auch durch die Widerstandsgruppe rund um Heinrich Maier, welcher den Bombenkrieg weg von Wohngebieten hin zur Rüstungsindustrie verlagern wollte, über genaue Lageskizzen der dann getroffenen Industrie informiert.
Nachdem diese weitgehend zerstört war, wurden die Erdölindustrie im Wiener Raum angegriffen und schließlich ab Ende 1944 die Transportknotenpunkte der Deutschen Reichsbahn. Hervorzuheben ist, dass ab dem Frühjahr 1945 viele österreichische Städte Ziel der amerikanischen Bomberverbände wurden. Ein Eisenbahnknotenpunkt nach dem anderen wurde getroffen, wobei es dabei zu umfangreichen Zerstörungen in zivilen Wohngebieten kam, weil Bomben oft mittels eines damals neu entwickelten Radars durch die Wolkendecke hindurch abgeworfen wurden.
Am 13. August 1943 erreichten die alliierten Luftstreitkräfte mit 61 Flugzeugen vom Typ B-24 „Liberator“ 9th Air Force der USAAF vom Stützpunkt Bizerta in Tunesien aus erstmals Österreich. Beim ersten Angriff auf Wiener Neustadt wurden offiziell 185 Todesopfer bekanntgegeben.
In einem massiven Angriff am 2. November 1943 wurde die Flugzeugproduktion entscheidend getroffen. Im April und Mai 1944 wurden dann die beiden Stammwerke, wichtige Nebenwerke und Verlagerungsbetriebe endgültig zerstört. Wiener Neustadt, in dessen Raxwerken die V2-Rakete teilgefertigt und in dessen Wiener Neustädter Flugzeugwerken im Jahr 1942 knapp 50 Prozent aller im Deutschen Reich gefertigten einmotorigen Jäger vom Typ Messerschmitt Bf 109 produziert wurden, sollte bis Kriegsende zu einer der am stärksten getroffenen Städte Österreichs werden; die 29 Luftangriffe auf Wiener Neustadt, während derer 55.000 Bomben abgeworfen wurden, zerstörten 88 % der Gebäude der Stadt und forderten 790 Todesopfer.
Am 14. und 19. Dezember 1943 wurde auch Innsbruck das Ziel von Luftangriffen; dabei starben 339 Menschen. Das dabei bis Kriegsende nachhaltig verfolgte Ziel der Alliierten war die Unterbrechung der Versorgungslinien deutscher Truppen über den Brenner nach Italien.
Im Februar 1944 begannen massive Luftangriffe großer britischer und US-amerikanischer Verbände auf Ziele in Österreich („Big Week“). Im Februar und April 1944 kam es zu umfassenden Angriffen auf die Flugzeug- und Kugellagerindustrie in Steyr.
Am 17. März 1944 begannen die Luftangriffe auf Wien, mit der Raffinerie und Verladestellen in der Lobau als Zielen. Das verbaute Stadtgebiet wurde ab Sommer 1944 bombardiert. Am 10. September sowie am 11. Dezember 1944 wurden das Wiener Arsenal und der Südbahnhof von alliierten Bomberverbänden derart stark in Mitleidenschaft gezogen, dass das Hauptgebäude des Heeresgeschichtlichen Museums und auch zahlreiche Depots und Wohnungen von Bomben getroffen und stark beschädigt bzw. zerstört wurden.
60 sowjetische Bomber erreichten erstmals am 22. Februar 1945 den Raum Wien. Der schwerste Angriff, dem so viele Menschen zum Opfer fielen, dass im „Völkischen Beobachter“ die sonst üblichen Todesanzeigen nicht abgedruckt wurden, erfolgte am 12. März 1945 durch die USAAF – genau sieben Jahre nach dem „Anschluss“. Den insgesamt 53 Bombenangriffen bis zum Kriegsende fielen in der Stadt 8.769 Menschen zum Opfer, 6.214 Gebäude wurden vollständig und 12.929 schwer zerstört, 27.719 leicht beschädigt. (Hauptartikel: Luftangriffe auf Wien)
Weitere Hauptziele waren ab dem Herbst 1944 Graz mit seinen Rüstungsbetrieben von Steyr-Daimler-Puch (56 Angriffe, 1980 Tote), Klagenfurt (48 Angriffe, 477 Tote), Villach mit dem Verkehrsknotenpunkt Wien-Venedig und München-Balkan (37 Angriffe, 266 Tote), Innsbruck (22 Angriffe, 504 Tote) und die Industrieregion der Mur-Mürz-Furche sowie jene Orte, in die zuvor einige der Rüstungsbetriebe des Deutschen Reichs verlegt worden waren: Schwechat, Zwölfaxing und Hallein mit ihren Flugmotorenwerken, die Panzerproduktion in Steyr, die Waffenproduktion in den „Hermann-Göring-Werken“ in St. Valentin bei Linz und in der Obersteiermark, die Treibstoffproduktion in Moosbierbaum und die Raffinerien bei Wien. Bei den 22 Luftangriffen auf Linz starben 1.679 Menschen; in Salzburg starben bei 16 Angriffen 531 Menschen (siehe Luftangriffe auf Salzburg). Noch am 21. April 1945 wurde Attnang-Puchheim als wichtiger Bahnknotenpunkt und Umladebahnhof für die geheime Raketentestanlage in Zipf schwer getroffen.
Insgesamt forderten alliierte Luftangriffe unter Österreichs Zivilbevölkerung etwa 24.300 Todesopfer. Einschließlich der betroffenen Soldaten, Flüchtlinge, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter starben etwa 35.000 Menschen, rund 57.000 wurden verwundet. Zusammenfassend gesehen wurden in Österreich im Vergleich zu Deutschland durch Luftangriffe weit weniger zivile Ziele, sondern großteils Rüstungsindustrie und Verkehrsknotenpunkte getroffen, womit die alte Bausubstanz weitgehend erhalten blieb. Flächenbombardierungen wie auf Hamburg, Pforzheim oder Dresden gab es in Österreich nicht.
Kampf um Wien
Im März 1945 drang die Rote Armee in Ungarn in das Gebiet zwischen Plattensee und Donau vor. 1944 war dort von deutscher Seite mit dem Bau des „Südostwalls“ begonnen worden. Die Stellungsanlagen sollten von den Weißen Karpaten im Norden bis Zagreb im Süden reichen, konnten aber nicht mehr fertiggestellt werden. Zum Bau wurden rund 30.000 ungarische Juden herangezogen, von denen etwa 13.000 durch Hunger, Krankheit und die Strapazen ums Leben kamen oder von den Wachmannschaften erschossen wurden (Massaker von Rechnitz und Massaker von Deutsch Schützen). Die überlebenden 17.000 wurden in das KZ Mauthausen gebracht.
Zur Besetzung der Stellungen wurde auch der „Volkssturm“ eingesetzt, – alle bisher noch nicht kämpfenden waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren. Schlecht ausgerüstet und militärisch nicht ausgebildet, konnten die Verteidiger in den unfertigen Stellungen der anrückenden sowjetischen Armee nicht standhalten. Am 29. März überschritten die sowjetischen Truppen bei Klostermarienberg die österreichische Grenze und erreichten am 6. April Wien.
Hitler hatte Wien am 2. April zum „Verteidigungsbereich“ erklärt (Auf Plakaten wurde kundgemacht: „Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen.“). Der Kampf sollte mit allen Mitteln bis zum Ende geführt werden, ohne Rücksicht auf Verluste an Gebäuden und Menschenleben. Bevor Einrichtungen der Infrastruktur dem Feind in die Hände fallen konnten, sollten sie zerstört werden („Nerobefehl“).
Mitglieder einer militärischen Widerstandsgruppe im Wehrkreiskommando versuchten daraufhin, in der „Operation Radetzky“ die kampflose Übergabe der Stadt an die sowjetischen Truppen zu arrangieren, was aber nur zum Teil gelang. Die Aktion wurde verraten, und die neben Major d. G. Carl Szokoll dabei federführenden Offiziere Major d. G. Karl Biedermann (Chef der Heeresstreife Groß-Wien), Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke wurden verhaftet und am 8. April öffentlich gehenkt. Am 13. April war die Schlacht um Wien, die etwa 19.000 deutsche und 18.000 sowjetische Soldaten das Leben kostete, zu Ende.
Die sowjetischen Truppen rückten danach noch im Weinviertel nördlich bis an die Thaya, im Westen bis an die Erlauf und im Süden bis zum Semmering vor. In den weiter westlich gelegenen Teilen Niederösterreichs verübten die verbliebenen Einheiten der SS und einzelne Verbände der Wehrmacht noch in den letzten Kriegswochen Massaker an den Gefangenen der Haftanstalt Stein in Krems an der Donau („Kremser Hasenjagd“) und an Gruppen von Zwangsarbeitern. Junge Soldaten, die erst kurz zuvor im Rahmen des „Volkssturmes“ eingezogen worden waren, aber nicht an dem aussichtslosen Kampf teilnehmen wollten, wurden standrechtlich erschossen oder gehenkt.
Vordringen der Westalliierten
Am 28. April betraten, von Kempten im Allgäu kommend, bei Vils in Tirol als erste unter den Westalliierten US-Soldaten österreichisches Gebiet. Die Führungsstäbe waren auf hinhaltenden Widerstand in der „Alpenfestung“ vorbereitet, doch die Pläne dafür waren von deutscher Seite nur ansatzweise realisiert worden. Am 29. April überschritten französische Soldaten bei Hohenweiler und Unterhochsteg in Vorarlberg die Grenze. Marokkanische Einheiten der Fremdenlegion folgten am nächsten Tag.
Die französischen Verbände drangen in der Folge, ohne – mit Ausnahme eines Gefechtes bei Götzis – auf Widerstand zu stoßen, bis zum Arlberg vor. Die Verbände der Wehrmacht befanden sich durch Desertion bereits in Auflösung, und auch die Bemühungen von Teilen der Bevölkerung, Kampfhandlungen zu vermeiden, trugen das ihre dazu bei.
US-Truppen gelangten, nach Gefechten um den Fernpass und die Porta Claudia, tiefer nach Tirol. Im Ötztal wurden sie von einer Partisanengruppe, die von dem Studenten Wolfgang Pfaundler angeführt wurde, begrüßt. Ihnen war es schon kurz zuvor gelungen, das Gebiet unter ihre Kontrolle zu bekommen. Auch in der Landeshauptstadt Innsbruck war es Widerstandskämpfern gelungen, General Hans Böhaimb, den Kommandanten der Divisionsgruppe Innsbruck-Nord, gefangen zu nehmen. Sie hatten über den Sender der Stadt bereits das Ende der Herrschaft der Nationalsozialisten verkündet und die Häuser mit rot-weiß-roten Fahnen geschmückt, als am 3. Mai die US-Soldaten eintrafen.
Die Stadt Salzburg wurde am Morgen des 4. Mai 1945 von amerikanischen Kampfverbänden aus dem Raum München erreicht, die den von Tirol kommenden Verbänden zuvorkamen. Nach einer angeblich am 30. April mündlich getroffenen Übereinkunft mit Gauleiter Gustav Adolf Scheel richtete der Kampfkommandant der Stadt Oberst Hans Leppertinger über Hörfunk einen Appell an die Einwohner Salzburgs. Darin übernahm er die Verantwortung für die kampflose Übergabe der Stadt.
August Eigruber, Gauleiter von „Oberdonau“, 1946 im Mauthausen-Prozess zum Tode verurteilt und 1947 hingerichtet, wollte den Kampf nicht aufgeben. Er ließ Deserteure und KZ-Häftlinge töten, die aus Wien geflohenen NS-Funktionäre verhaften und plante, die im Salzbergwerk von Altaussee versteckten Kunstschätze aus ganz Europa zu zerstören. Als Folge der anhaltenden Kämpfe flogen die Alliierten weitere Bombenangriffe gegen Linz, Wels und Attnang-Puchheim, denen in den letzten Kriegstagen noch hunderte Menschen zum Opfer fielen. Am 5. Mai schließlich kapitulierte der Militärbefehlshaber von Linz, und US-Truppen befreiten als letztes der Konzentrationslager des Deutschen Reiches das KZ Mauthausen.
Kriegsende
Wien war Mitte April 1945 durch die so genannte Wiener Operation der Roten Armee vom NS-Regime befreit. Am 16. April konstituierte sich die Sozialistische Partei Österreichs (heute: Sozialdemokratische Partei). Einen Tag später, am 17. April, wurde die Österreichische Volkspartei als Sammelbecken der bürgerlichen und bäuerlichen Bevölkerung gegründet. Ebenso gründete sich die Kommunistische Partei Österreichs. Währenddessen wurde westlich von Wien noch gekämpft. Am 27. April 1945, elf Tage vor der Gesamtkapitulation der deutschen Streitkräfte am 8. Mai, wurde mit der von SPÖ, ÖVP und KPÖ unterzeichneten Unabhängigkeitserklärung die Republik Österreich wiedererrichtet (sie wird inoffiziell als Zweite Republik bezeichnet). Am gleichen Tag konstituierte sich unter Karl Renner die erste Staatsregierung und nahm zwei Tage später das Parlamentsgebäude von Vertretern der Roten Armee symbolisch in Besitz.
Während die Rote Armee Österreich von Osten her eroberte, drangen britische Truppen von Italien Richtung Kärnten und Steiermark, Titos Partisanen aus Jugoslawien in der gleichen Richtung, US-Truppen von Bayern nach Salzburg und Oberösterreich und französische Truppen von Württemberg nach Vorarlberg vor. Hitler beging am 30. April 1945 Suizid. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl in Reims (Frankreich) die bedingungslose Gesamtkapitulation der Wehrmacht. Am folgenden Tag trafen im niederösterreichischen Ort Erlauf erstmals in Österreich US-amerikanische und sowjetische Truppen aufeinander. Die von dieser Begegnung existierenden Filmaufnahmen wurden allerdings in einer Seitengasse von Amstetten gedreht; bis dorthin waren US-Einheiten vorgedrungen.
Die Grenzen der Besatzungszonen (siehe: Besetztes Nachkriegsösterreich) waren zuvor bereits vereinbart worden. Das NS-Regime wurde in Tirol, wo eine Widerstandsbewegung aktiv war, bereits vor dem Eintreffen der US-Truppen beendet. Die vielbeschworene Alpenfestung im Salzkammergut, in der sich Nationalsozialisten verbarrikadieren wollten, um den Kampf fortzusetzen, erwies sich als Schimäre; einige hochrangige NS-Verbrecher konnten in Berghütten des Salzkammerguts verhaftet werden.
Kärnten und die Steiermark waren der britischen Armee zugeteilt. Um weitere Kämpfe und eine Teilung zu vermeiden, bemühten sich Kärntner Politiker der bis dahin verbotenen demokratischen Parteien darum, Gauleiter Friedrich Rainer davon abzubringen, einen „Abwehrkampf“ nach dem Vorbild des „Kärntner Abwehrkampfes“ von 1918/19 zu führen. Am 6. und 7. Mai erfolgte die Übergabe der Regierungsgewalt von Rainer an die Vertreter der Parteien, und Hans Piesch übernahm das Amt des Landeshauptmannes. Der bewaffnete Widerstand wurde nun beendet, die neue Landesregierung suchte den Kontakt mit den anrückenden britischen Truppen. Am 8. Mai („V-E-Day“) erreichten sowohl erste britische Panzereinheiten wie auch jugoslawische Partisanen Klagenfurt. Auf Druck des britischen Kommandanten mussten sich die Partisanen wieder zurückziehen. Titos Forderungen nach Gebietsabtretungen Österreichs an Jugoslawien wurden von den Alliierten nicht unterstützt.
Am 9. Mai, dem Tag, an dem die Gesamtkapitulation der Wehrmacht in Kraft trat, erreichten sowjetische Truppen Graz und rückten, nachdem Gauleiter Siegfried Uiberreither von der örtlichen Wehrmachtführung überzeugt wurde, dass seine Pläne für militärischen Widerstand zum Scheitern verurteilt waren, kampflos in die Stadt ein. Dort bildete sich unter dem Sozialdemokraten Reinhard Machold eine neue Landesregierung. Weite Teile der Steiermark standen vorerst unter sowjetischer Militärverwaltung. Die Südsteiermark war zum Teil noch von Partisanen und von bulgarischen Truppen besetzt. In den folgenden Monaten übernahm Großbritannien die Militärverwaltung des gesamten Gebietes der beiden Bundesländer.
Museale Rezeption
Der Zweite Weltkrieg in Österreich ist im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien ausführlich dokumentiert. Beginnend mit dem „Anschluss“ Österreichs und der damit verbundenen Übernahme des Bundesheeres in die deutsche Wehrmacht spannt sich der Bogen über die Themen Luftkrieg, totaler Krieg bis hin zur Schlacht um Wien.
Am 9. Mai 2015 wurde in der Friedensgemeinde Erlauf das Museum Erlauf erinnert eröffnet, in dem der dort erfolgte historische Handschlag zwischen dem sowjetischen General Dmitri Dritschkin und dem US-amerikanischen General Reinhart am 8. Mai 1945 in einer umfassenden Dauerausstellung dokumentiert ist.
Opferbilanz
Etwa 247.000 tote bzw. für tot erklärte Militärangehörige; nach anderen Angaben 380.000 Tote (davon 100.000 Vermisste)
etwa 65.500 ermordete Juden österreichischer Staatsangehörigkeit
etwa 35.000 tote Zivilisten infolge von Kampfhandlungen und Bombardements
etwa 16.000 weitere in Konzentrationslagern Ermordete, davon 8.000 als „Zigeuner“ Ermordete
etwa 10.000 in Gestapo-Haft und mehr als 6.000 in Gefängnissen in vom Deutschen Reich besetzten Ländern Getötete
etwa 2.700 als Widerstandskämpfer zum Tod Verurteilte und Hingerichtete
etwa 114.000 schwer Kriegsgeschädigte
etwa 57.000 verletzte Zivilisten
Der Begriff Raubgold bezeichnet in der Forschung die vom NS-Regime geraubten Wertgegenstände. Diese stammten hauptsächlich aus dem „arisierten“ Besitz von Personen, die fliehen mussten oder in Konzentrationslagern eingesperrt und zum Großteil darin ermordet wurden. Aber auch das Gold aus der Währungsreserve der österreichischen Nationalbank wurde sofort nach Berlin weggeschafft. Der Verbleib des Raubgolds nach dem Zweiten Weltkrieg ist weitgehend ungeklärt.
Wiedererrichtung Österreichs
Am 4. April 1945 wollte Karl Renner, der von 1918 bis 1920 Staatskanzler der Ersten Republik gewesen war, in Hochwolkersdorf vor dem zuständigen General der Roten Armee nur gegen das Verhalten der Soldaten protestieren. Der 75-Jährige wurde aber als Expolitiker erkannt und nach mehrstufiger Rückfrage in der Sowjetunion, letztlich bei Josef Stalin, der Renner noch von seinem Wien-Aufenthalt vor dem Ersten Weltkrieg kannte, gefragt, ob er an der Wiederherstellung Österreichs mitwirken könne; Renner sagte unter der Bedingung zu, dass sein Auftrag von österreichischen Politikern komme. Von Schloss Eichbüchl nahm Renner Kontakt mit Adolf Schärf und dem christlichsozialen Finanzminister Josef Kollmann auf. Mitte April konstituierten sich die Parteien, die teils seit 1938, teils bereits seit 1934 verboten waren, neu. Als erste bildeten am 14. April Vertreter der früheren SDAP und der Revolutionären Sozialisten die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) unter dem provisorischen Vorsitz Adolf Schärfs (der letzte SDAP-Vorsitzende, Karl Seitz, war aus deutscher Haft noch nicht zurückgekehrt). Der Österreichische Gewerkschaftsbund folgte am nächsten Tag. Die Vertreter der ehemaligen Christlichsozialen Partei fanden vorerst in drei Bünden zusammen (Bauernbund, Wirtschaftsbund sowie Arbeiter- und Angestelltenbund); am 17. April folgte die Gründung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) mit ihrem ersten Obmann Leopold Figl. Die Kommunistische Partei (KPÖ) hatte seit der Ersten Republik, trotz des Verbotes, weiterexistiert.
Renner traf am 21. April in Wien ein und bildete innerhalb einer Woche die erste provisorische Nachkriegsregierung der Republik Österreich; die Beratungen fanden im Roten Salon des Wiener Rathauses statt. Am 27. April proklamierten die drei Parteien die Unabhängigkeit Österreichs und setzten die neue Regierung ein (Provisorische Staatsregierung Renner 1945), am 29. April nahmen sie das Parlamentsgebäude in Besitz. Am 1. Mai 1945 trat das Verfassungs-Überleitungsgesetz in Kraft. Renner als Staatskanzler stand ein politischer Kabinettsrat mit Vertretern der drei Parteien zur Seite, bestehend aus Adolf Schärf (SPÖ), Leopold Figl (ÖVP) und Johann Koplenig (KPÖ). Die Minister wurden als Staatssekretäre bezeichnet, die späteren Staatssekretäre als Unterstaatssekretäre. Das Staatsgebiet wurde in den Grenzen vor 1938 wiederhergestellt. Alle diese Beschlüsse waren vorerst nur in der „sowjetischen Zone“ verbindlich; die Westalliierten hielten Renner für eine Marionette Stalins und erkannten seine Regierung erst Monate später an. Die Besatzungsmächte behielten sich außerdem das Veto gegen österreichische Beschlüsse vor; diese Regelung wurde erst 1947 gemildert.
Am 8. Mai 1945 wurde das Verbotsgesetz beschlossen, in dessen erstem Paragraphen festgestellt wird: Die NSDAP, ihre Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK), ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände sowie alle nationalsozialistischen Organisationen und Einrichtungen überhaupt sind aufgelöst; ihre Neubildung ist verboten. Paragraph 3 regelt die Bestimmungen über die Registrierung vormaliger NSDAP-Mitglieder und schließlich den bis heute bestehenden Straftatbestand der NS-Wiederbetätigung.
In ganz Österreich setzte sofort die Entnazifizierung ein. Bei der Registrierung der Mitglieder der NSDAP, der SS und anderer Organisationen des nationalsozialistischen Regimes wurden insgesamt 537.632 Personen erfasst. In dieser Zahl fehlen einerseits jene, die sich der Registrierung entziehen konnten, anderseits sind darin auch bloße Mitläufer enthalten, die es als opportun angesehen hatten, der NSDAP beizutreten. Als „schwer belastet“, also in Führungspositionen und als Entscheidungsträger tätig oder an Verbrechen beteiligt, wurden 41.906 Personen eingestuft.
Auf der Basis des Verbotsgesetzes fanden von 1945 bis 1955 Prozesse vor eigens eingerichteten Volksgerichten statt. 136.829 gerichtliche Voruntersuchungen wegen des Verdachtes auf NS-Verbrechen oder der Mitgliedschaft in der damals verbotenen NSDAP von 1933 bis 1938 führten zu 23.477 Urteilen, davon waren 13.607 Schuldsprüche. Etwa 2000 Urteile ergingen wegen Gewaltverbrechen im Namen des NS-Regimes, davon 43 Todesurteile (30 wurden vollstreckt, zwei weitere Verurteilte begingen vor der Vollstreckung Selbstmord), 29 lebenslange Haftstrafen und 650 Haftstrafen zwischen fünf und zwanzig Jahren.
Die Separierung der 440.000 Minderbelasteten von den 96.000 Belasteten durch das am 24. Juli 1946 vom Nationalrat beschlossene Nationalsozialistengesetz war eine Folge der Einsicht, dass man einer halben Million Menschen unmöglich für mehrere Jahre Sühnefolgen aufbürden konnte, die sie zu Staatsbürgern zweiter Klasse machten und mit ihnen auch ihre Familien bestraften. Dieser Plan eines schnellen Schlussstrichs für die Minderbelasteten wurde vom Alliierten Rat durchkreuzt, indem dieser zahlreiche Verschärfungen in das Nationalsozialistengesetz hineinreklamierte. Ein weiteres Jahr später (1947) konnten aber auch die Alliierten erkennen, dass man fast eine halbe Million Menschen, die man für Jahre vom Studium und zahlreichen Berufen ausschloss, damit nicht für die Demokratie gewann, sondern ins selbe Boot mit den Belasteten verfrachtete.
Als Beispiel für Urteile nach 1945 sei hier die als „Mühlviertler Hasenjagd“ bekannte Suchaktion nach 500 aus Mauthausen entflohenen sowjetischen Kriegsgefangenen genannt. Allgemein wird angenommen, dass keiner der Beteiligten für diese grausame „Treibjagd“ bestraft wurde. Tatsächlich jedoch wurden neben kleineren Strafen in diesem Fall mindestens drei Verurteilungen zu zehn, eine zu zwölf und eine zu zwanzig Jahren schweren, verschärften Kerkers ausgesprochen und vollstreckt.
In späteren Jahren ließ die österreichische Justiz allerdings eine kalte Amnestie (wie Simon Wiesenthal den Zustand nannte) walten, indem Ermittlungen gegen Verdächtige unterblieben oder ohne Erfolgsabsicht geführt wurden. In der österreichischen Justiz gab es dazu verschiedene Ansätze, so wie einerseits der Wiener Strafrechtler Wilhelm Malaniuk für eine ordentliche strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen drängte, versuchten andere wie Theodor Rittler rechtstheoretische Fundamente zu propagieren, womit viele NS-Verbrechen ungesühnt blieben. Andererseits wurde die bis dahin bestehende Verjährungsfrist von zwanzig Jahren für Mord aufgehoben, da es unerträglich schien, allfällige NS-Massenmörder ab 1965 nicht mehr vor Gericht stellen zu können. Nach Kritik engagierter Publizisten wurde erst in den 1990er-Jahren begonnen, noch lebende Verdächtige der NS-Verbrechen aufzuspüren und über ihre Taten präzise zu ermitteln.
Am 15. Mai 1955 erlangte Österreich mit der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages, der am 27. Juli 1955 in Kraft trat, seine volle Souveränität wieder. Der Vertrag schrieb das schon 1919 ausgesprochene Anschlussverbot und das Habsburgergesetz fest. Die Aufarbeitung der NS-Raubzüge, -Enteignungen und -Vermögensentziehungen ist mehr als 50 Jahre später noch nicht abgeschlossen.
Aufarbeitung und Verdrängung
„Entnazifizierung“ hatte 1945 vor allem bedeutet, Täter zur Verantwortung zu ziehen und Funktionäre ihrer Ämter in Verwaltung und Wirtschaft zu entheben. Volksgerichte fällten dabei auch Todesurteile. Belastete waren von der Nationalratswahl 1945 ausgeschlossen. Vier Jahre später bedeutete es nur noch, dass ehemalige Unterstützer des NS-Regimes sich offiziell davon abgewandt hatten und nun in anderen Parteien tätig wurden. Die westlichen Besatzungsmächte Österreichs hatten nach Beginn des Kalten Krieges ihr Interesse an der Verfolgung von NS-Tätern stark reduziert; neuer Feind waren die Kommunisten, und so mancher frühere NS-Anhänger hatte schon im NS-Staat gegen die Kommunisten gekämpft und wurde nun auf Grund dieser Erfahrungen geschätzt.
Spätestens nach der Gründung des Verbandes der Unabhängigen (VdU; Vorgänger der Freiheitlichen Partei Österreichs, FPÖ), der als Sammelbewegung vormaliger NSDAP-Mitglieder, Großdeutscher und jener, die in keiner anderen Partei eine politische Heimat gefunden hatten, bei der Nationalratswahl 1949 mit 11,7 % auf Anhieb den dritten Platz erreichte, bemühten sich auch die beiden großen Volksparteien (SPÖ und ÖVP) darum, diese Wähler für sich zu gewinnen. So fanden auch in Österreich frühere NS-Funktionäre Aufnahme in Parteiorganisationen und Bereichen wie Justiz, Universitäten und staatliche Unternehmen.
Als weiterer Grund für die nur teilweise vollzogene Entnazifizierung wurde der Mangel an Männern im Allgemeinen sowie von Fachkräften im Speziellen angeführt. Andererseits gab es von offizieller Seite nach Kriegsende keine Bemühungen, die ins Exil Geflohenen zur Rückkehr zu bewegen, auch nicht Fachkräfte; teils, weil Funktionäre und Manager unter den möglichen Rückkehrern neue Konkurrenten fürchteten, anfangs auch, weil die Lebensmittelversorgung problematisch war und Wohnungen fehlten.
„Wiedergutmachung“ für Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge und möglichst vollständige Rückgabe geraubten Eigentums (Restitution) waren noch lang nicht beabsichtigt. In der Gesellschaft war mehrheitlich kein Bewusstsein für die rechtliche und moralische Problematik der eigenen Vergangenheit vorhanden; noch Jahrzehnte später wurden jene, die auf Österreichs Mitschuld hinwiesen, häufig als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Erst 1963 wurde das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gegründet.
Österreich: erstes Opfer oder mitverantwortlich
Jahrzehntelang – und teils noch heute – wurde die Mitschuld von Österreichern am Krieg und an den Verbrechen des NS-Regimes von weiten Teilen der Bevölkerung nicht wahrgenommen oder verdrängt. Der „Opfermythos“, der besagte, dass Österreich das erste Opfer von Hitlers Aggressionen gewesen sei, wurde lange Zeit sowohl in der Bevölkerung wie auch in der Politik bemüht, um sich nicht der eigenen Verantwortung stellen zu müssen.
Fester Bestandteil dieser Sichtweise ist die Berufung auf die Moskauer Deklaration von 1943, in der die alliierten Außenminister erklärten: Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Nicht erwähnt, meist auch gar nicht bekannt, bleibt dabei der weitere Text der Deklaration: Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann. Die Deklaration wies aber auch darauf hin, dass bei der endgültigen Abrechnung darauf Bedacht zu nehmen sein werde, welchen Anteil die Österreicher selbst zu ihrer Befreiung beigetragen haben, und sollte auch zum Widerstand gegen das NS-Regime motivieren.
Die Mehrheit der Österreicher betrachtete sich noch lange als Opfer des NS-Regimes, weil sie verführt worden seien oder bloß ihre Pflicht erfüllt hätten; der überwiegende Teil rechtfertigte sich damit, es wäre ihm nichts anderes übrig geblieben. In der Deutung von Begriffen wie „Opfer“, „Heimkehrer“ und „Vertriebene“ wurde deutlich, wie die Rolle Österreichs meist wahrgenommen wurde: Opfer waren vor allem die im Krieg gefallenen Soldaten, nicht die in den Konzentrationslagern Ermordeten und nicht die hingerichteten Widerstandskämpfer und Wehrdienstverweigerer, Heimkehrer waren die aus der Kriegsgefangenschaft Zurückkehrenden, nicht jene wenigen, die aus der Emigration heimkehrten, und Vertriebene waren Angehörige deutscher Volksgruppen aus der Tschechoslowakei oder Jugoslawien, nicht Juden. Was von den meisten nicht mehr angesprochen wurde, war, dass der „Anschluss“ von Zehntausenden bejubelt worden war und viele von Arisierungen profitiert hatten.
Der Staat räumte erst 1991 durch eine Erklärung Bundeskanzler Franz Vranitzkys vor dem Nationalrat ein, dass Österreicher Mitverantwortung für das in der NS-Zeit entstandene Leid trugen.
Konfrontation mit der Vergangenheit
Für Aufsehen sorgte 1962 die durch einen Zeitschriftenartikel Heinz Fischers, der 2004 zum Bundespräsidenten gewählt wurde, publik gewordene Tätigkeit des zum Professor an der Hochschule für Welthandel aufgestiegenen Nationalsozialisten Taras Borodajkewycz, der in seinen Vorlesungen wiederholt nazistische und antisemitische Ansichten vorgetragen hatte. Bei einer Demonstration gegen Borodajkewycz im März 1965 kam es zum Zusammenstoß der Demonstranten mit einer vom Ring Freiheitlicher Studenten, der Studentenorganisation der FPÖ, organisierten Gegendemonstration. Dabei wurde der nur zusehende ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem Gegendemonstranten so schwer verletzt, dass er wenige Tage später verstarb; er war das erste politische Todesopfer in der Zweiten Republik. Der 1902 geborene Borodajkewicz wurde 1971 bei vollen Bezügen zwangspensioniert.
Nach der Nationalratswahl vom 1. März 1970 bildete Bruno Kreisky eine SPÖ-Minderheitsregierung (Bundesregierung Kreisky I). Er betraute vier ehemalige Nationalsozialisten (Innenminister Otto Rösch, Bautenminister Josef Moser, Verkehrsminister Erwin Frühbauer und Verteidigungsminister Johann Freihsler) mit Ministerämtern, was im In- und Ausland massiv kritisiert wurde. Moser und Frühbauer waren NSDAP-Mitglieder gewesen und Rösch SA-Mitglied. Öllinger, ein ehemaliger SS-Untersturmführer, trat vier Wochen nach seiner Ernennung freiwillig und nur aus Krankheitsgründen zurück; das ehemalige NSDAP-Mitglied Oskar Weihs folgte ihm im Amt. Günter Haiden wurde am 8. Juli 1974 Weihs' Nachfolger.
Die ausländische Öffentlichkeit reagierte auf diese Regierungsmitglieder empfindlich. Kreisky nahm aber selbst Friedrich Peter, ein ehemaliges Mitglied einer Mordbrigade der Waffen-SS und damaliger FPÖ-Obmann, gegenüber Simon Wiesenthal in Schutz, was 1975 zur „Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre“ führte. Peter hatte Kreiskys Minderheitsregierung ermöglicht, indem die FPÖ-Abgeordneten darauf verzichteten, gegen sie zu stimmen, und wurde dafür mit einer kleine Parteien begünstigenden Wahlrechtsreform belohnt.
Simon Wiesenthal attestierte SPÖ-Justizminister Christian Broda, eine „kalte Amnestie“ zu vollziehen. Staatsanwaltschaften gingen häufig Verdachtsmomenten nicht energisch nach und erhoben gegen mutmaßliche NS-Täter keine Anklagen. Der Justizminister als Vorgesetzter der Staatsanwälte deckte diese Unterlassungen.
„Waldheim-Affäre“, VAPO und Aufstieg Jörg Haiders
Eine Zäsur im Umgang mit der Geschichte bildete das Jahr 1986. Der vormalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim kandidierte, unterstützt von der ÖVP, für das Amt des Bundespräsidenten. Während des Wahlkampfes wurde bekannt, dass er in seiner zuvor erschienenen Autobiografie seine Rolle während des Zweiten Weltkrieges lückenhaft und teilweise falsch dargestellt hatte (z. B. seine Mitgliedschaft in der SA und seine Tätigkeit auf dem Balkan betreffend). Speziell hatte Waldheim u. a. einen US-Parlamentarier, der ihn nach seiner Rolle im Krieg gefragt hatte, irreführend informiert. Die „Waldheim-Affäre“ weckte daher in den USA und anderen Ländern beträchtliche Aufmerksamkeit; sie führte aber auch dazu, dass das Verhalten der Österreicher während der Zeit des Nationalsozialismus in einer Vielzahl von österreichischen Publikationen und Diskussionen thematisiert wurde. Im Wahlkampf wurden von manchen auch antisemitische Klischees (z. B. die „Ostküste“ als Chiffre für die angeblich von Juden dominierte Politik und Wirtschaft der USA) ins Spiel gebracht, dies auch, weil der World Jewish Congress in New York federführend bei der Pressebetreuung gegen Waldheim war und letztlich auch die Platzierung Waldheims auf der „Watchlist“ durchsetzte. Die Mehrheit der Wähler schloss sich Waldheims Ansicht an, er habe nur seine Pflicht getan, und er gewann die Wahl. In den USA hatte Waldheim seitdem Einreiseverbot, in vielen anderen Ländern war er als Staatsbesucher nicht willkommen. Erst viele Jahre später bedauerte Waldheim, sich 1986 so missverständlich ausgedrückt zu haben.
Erich Fried schrieb dazu in „Nicht verdrängen, nicht gewöhnen“ (1987): Das sogenannte Brückenbauen, also der Versuch, das Verständnis der Jugend für die Kriegsgeneration zu fördern, indem Widersprüche und dunkle Stellen verkleistert oder totgeschwiegen werden, dient nicht der Kontinuität der österreichischen Kultur, sondern der Kontinuität gewisser Arten der österreichischen Unkultur!
Ebenfalls 1986 gründete der Wiener Rechtsextremist und Revisionist Gottfried Küssel die Volkstreue Außerparlamentarische Opposition (VAPO). Im Herbst 1986 übernahm Jörg Haider die Führung in der FPÖ und drängte den liberalen Flügel der Partei ins Abseits. Die SPÖ beendete daraufhin die Koalitionsregierung mit der FPÖ. Der politische Gegensatz zwischen FPÖ und vor allem der SPÖ hatte prägenden Einfluss auf die Innenpolitik der folgenden Jahre.
Umdenken
Am 8. Juni 1991 hielt der Bundeskanzler Franz Vranitzky im Nationalrat eine Rede, in der erstmals ein österreichischer Regierungschef den „Opfermythos“ relativierte und die Mitschuld von Österreichern am Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen ansprach: Es gibt eine Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben. […] Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte […] und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen – bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten.
1991 musste Haider, nachdem er in einer Landtagsdebatte zur Arbeitslosigkeit geäußert hatte: „Das hat's im Dritten Reich nicht gegeben, weil im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht.“ vom Amt des Kärntner Landeshauptmannes zurücktreten (er wurde 1999 und 2004 wieder gewählt). Erneut sorgte er 1995 für Aufsehen und Kritik, als er, als Redner bei einem Treffen von SS- und Wehrmachtsveteranen, diese als anständige Menschen […], die einen Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind, lobte.
Im November 1997 beschloss das Österreichische Parlament als geschichtspolitischen Kompromiss der damaligen politischen Lager die Einführung des Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und legte das Datum auf den 5. Mai – den Tag der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Mauthausen durch die US-Army – fest (siehe Abschnitt Gedenktag in Österreich).
Mit der Bildung der Koalitionsregierung Schüssel I aus FPÖ und ÖVP im Februar 2000 verschärfte sich die innenpolitische Situation erneut. In den anderen Ländern der EU sorgte die Regierungsbeteiligung von Haiders Partei – auch angesichts von Parteien wie den Republikanern in Deutschland, Jean-Marie Le Pens Front National in Frankreich und dem belgischen Vlaams Blok – für Besorgnis. Die Regierungen der anderen 14 EU-Staaten beschlossen, die bilateralen politischen Kontakte mit der österreichischen Regierung auf das notwendige Mindestmaß zu beschränken, österreichische Botschafter nicht zu empfangen sowie österreichische Bewerber für freie Stellen in der EU-Verwaltung nicht zu berücksichtigen.
In Österreich wurden diese Maßnahmen von Anhängern und Angehörigen der FPÖ-ÖVP-Koalitionsregierung stets als Sanktionen gegen Österreich bezeichnet und vehement kritisiert. Unter den Regierungsgegnern fanden sich sowohl Befürworter als auch Kritiker der Maßnahmen. In der Zivilgesellschaft fand die Ablehnung der Koalition in den so genannten Donnerstagsdemonstrationen ihren augenscheinlichsten Niederschlag. Zur Lösung der von Beobachtern als verfahren eingeschätzten Lage wurden der frühere finnische Staatspräsident Martti Ahtisaari, der deutsche Völkerrechtler Jochen Frowein und der frühere spanische EU-Kommissar Marcelino Oreja beauftragt, den sogenannten Weisenbericht zu erstellen, in dem die Situation in Österreich evaluiert werden sollte. Nachdem Ahtisaari, Frowein und Oreja schließlich das Vorgehen als kontraproduktiv bezeichneten, wurden die Maßnahmen der 14 EU-Staaten aufgehoben, unter denen sich bereits teilweise eine gegenüber den Maßnahmen kritische Haltung verstärkt hatte.
Dass in den vergangenen Jahren jedoch durchaus ein weiterreichendes Umdenken stattgefunden hat – oder zumindest klar wurde, dass Österreich ohne diese Maßnahmen international isoliert werden könnte –, zeigten unter anderem erst die Einsetzung der Historikerkommission zur Untersuchung von Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen (sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen) der Republik Österreich ab 1945 (zwischen 1998 und 2003 tätig) und die Gesetze zur Restitution geraubten Vermögens und Eigentums (1946/1947/1949, 1998) und zu Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter.
Auch in der tagespolitischen Auseinandersetzung zeigten etwa die Reaktionen auf Äußerungen der FPÖ-Bundesräte Siegfried Kampl und John Gudenus im Jahr 2005 eine zunehmende Sensibilisierung. Kampl hatte in einem Beitrag zur Diskussion um eine Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren diese als zum Teil Kameradenmörder bezeichnet und in Hinblick auf die Entnazifizierung von einer brutalen Naziverfolgung nach 1945 gesprochen. Den Protesten der Opposition schloss sich, nach anfänglichem Zögern, auch die ÖVP an, und so wurde eine Gesetzesänderung beschlossen („Lex Kampl“), mit der verhindert werden konnte, dass Kampl den Vorsitz im Bundesrat übernahm, für den er turnusmäßig vorgesehen war.
Gudenus hatte in Interviews schon früher Entschädigungszahlungen an Opfer des NS-Regimes als Schutzgeld bezeichnet und musste bereits 1995 als Nationalratsabgeordneter zurücktreten, nachdem er indirekt die Existenz von Gaskammern in Frage gestellt hatte. 2005, inzwischen Bundesrat, wiederholte er entsprechende Aussagen mehrmals und trat erst infolge der öffentlichen wie auch politischen Proteste von seinem Mandat zurück. Am 26. April 2006 wurde er gemäß § 3 h des Verbotsgesetzes (NS-Wiederbetätigung) zu einer einjährigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.
Der Verfassungsgerichtshof hat zu Recht erkannt, dass die kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus zu den Grundprinzipien der Republik gehört. Dennoch wurde von der Mehrheit der ÖVP- und SPÖ-Abgeordneten im Herbst 2008 Martin Graf (FPÖ), Mitglied einer rechtsextremen Burschenschaft und erklärter Gegner des „antifaschistischen Grundkonsenses“, zum Dritten Präsidenten des Nationalrats gewählt. Nationalratspräsidenten sind nicht abwählbar; es wurde zeitweise darüber diskutiert, mit welchen Regeln man sie abwählbar machen könnte, spätestens seit dem Amtsende Grafs 2013 wurden derartige Überlegungen jedoch aufgegeben.
Gedenken
Der Umgang mit der Vergangenheit ist in Österreich bis heute sehr uneinheitlich und oft stark von tagespolitischen Erwägungen beeinflusst. Während z. B. für die verfolgten burgenländischen Roma in Lackenbach 1984 ein Mahnmal in Erinnerung an das „Zigeuner-Anhaltelager“ enthüllt wurde, scheiterte der Wunsch nach Anbringung einer Gedenktafel in Kemeten am mangelnden Interesse des dortigen Gemeinderates. In dem burgenländischen Ort hatten vor dem Krieg 200 Roma gelebt, die 1941 deportiert wurden. Nur fünf von ihnen kehrten nach 1945 nach Kemeten zurück.
Im Sommer 2004 kam es zu innenpolitischen Auseinandersetzungen darüber, wie des 60. Todestages des Linzers Robert Bernardis, der am Umsturzversuch am 20. Juli 1944 beteiligt gewesen und deshalb am 8. August in Berlin gehängt worden war, zu gedenken sei. Politiker der Opposition (SPÖ, Grüne) wie auch eine Reihe prominenter Privatpersonen schlugen die Umbenennung einer Kaserne in Robert-Bernardis-Kaserne vor. Die ÖVP-FPÖ-Bundesregierung lehnte ab (die FPÖ ist am Gedenken an NS-Opfer grundsätzlich wenig interessiert, die ÖVP konnte sich zu einer Kasernenbenennung oder einem entsprechenden Jahrgangsnamen für die Absolventen der Militärakademie aber auch nicht entschließen). Verteidigungsminister Günther Platter (ÖVP) beschloss schließlich die Errichtung eines Denkmals im Hof der Towarek-Kaserne (Heeresunteroffiziersschule) in Enns. Die Grünen-Politikerin Terezija Stoisits wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in Norddeutschland am 8. Mai 2004 eine Kaserne nach dem aus Österreich stammenden Feldwebel Anton Schmid benannt worden sei. Schmid war von einem Kriegsgericht der Wehrmacht zum Tode verurteilt und am 13. April 1942 erschossen worden, nachdem er im Ghetto von Vilnius hunderten Juden das Leben gerettet hatte.
Die Widerstandsleistung des Österreichers Erwin von Lahousen, der sich auch freiwillig als Kronzeuge bei den Nürnberger Prozessen zur Verfügung stellte, blieb bis heute ungewürdigt und war auch noch nie Gegenstand einer öffentlichen Diskussion, während etwa Robert Bernardis am Reformationstag 2008 (31. Oktober) durch die evangelische Kirche und Bundespräsident Heinz Fischer neuerlich geehrt wurde.
In vielen Orten wurde bald nach dem Krieg der gefallenen Soldaten gedacht, indem Kriegerdenkmäler für den Ersten Weltkrieg um die neuen Namenslisten ergänzt wurden. Die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges wurden dabei meist wie die des Ersten Weltkrieges unter Worten wie „Sie fanden für die Heimat den Heldentod“ verzeichnet. Namen der NS-Opfer, die aus dem Ort stammten oder im Ort ermordet worden waren, scheinen auf solchen Denkmälern generell nicht auf. Erst viel später wurden (nicht durchgängig) eigene Denkmäler für diese Opfer errichtet.
Der Zivildienst (Wehrersatzdienst) kann in Österreich auch als so genannter Gedenkdienst geleistet werden, d. h. durch Tätigkeit an Orten oder in Einrichtungen des Gedenkens an die Geschichte Österreichs in der Zeit des Nationalsozialismus. Etwa 15 Zivildiener werden im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen bzw. im KZ Mauthausen selbst eingesetzt. Am 1. September 1992 trat der erste österreichische Zivildienstpflichtige seinen Gedenkdienst im Museum des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau an. Andreas Maislinger hatte die Idee von der Aktion Sühnezeichen übernommen. Jährlich werden im Rahmen des Gedenkdienstes etwa 30 Zivildienstpflichtige zu Holocaustgedenkstätten und damit verbundenen Institutionen in Europa, Israel, den USA, Südamerika und China entsandt.
Die größte österreichische Gedenkstätte zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ist das KZ Mauthausen. Weitere dem Gedenken, der Dokumentation und der Forschung gewidmete Organisationen und Projekte sind unter anderen
das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien (von Neonazis als kryptokommunistisch diffamiert, weil auch kommunistische Widerstandskämpfer an der Gründung des DÖW beteiligt waren),
das Jüdische Museum Wien,
das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt,
das Jüdische Museum Hohenems,
das Jewish Welcome Service Vienna,
die Austrian Heritage Collection des Leo Baeck Institutes in New York,
das Zeitgeschichte Museum Ebensee (KZ Ebensee)
die Braunauer Zeitgeschichte-Tage,
die Aktion A Letter To The Stars,
das Holocaust-Denkmal in Wien,
das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus in Wien,
die Wiener Aktion „Steine der Erinnerung“.
Mit symbolischen Zahlungen an vom NS-Regime Beraubte und von ihm Ausgebeutete befasst sich der dem Parlament unterstehende Österreichische Nationalfonds.
Nationalratspräsidentin Barbara Prammer sprach bei einer Gedenkveranstaltung am 12. März 2008 im Parlament in Wien sehr klar über die Ereignisse siebzig Jahre zuvor:
Im Frühjahr 2009 trafen die Staatsoberhäupter Österreichs und Sloweniens, Heinz Fischer und Danilo Türk, zu einer Gedenkfeier für das an der slowenisch-österreichischen Grenze gelegene KZ Loibl zusammen (der Loiblpass verbindet Kärnten mit Nordslowenien). Der Kärntner Landeshauptmann Gerhard Dörfler (damals BZÖ) vermied die Teilnahme am Gedenken mit einer fadenscheinigen Begründung.
2014 wurde auf dem Wiener Ballhausplatz das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz, als Deserteursdenkmal bekannt, der Öffentlichkeit übergeben. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte Österreichs ist bis heute nicht abgeschlossen.
Gedenktag in Österreich
Siehe auch
Zeit des Nationalsozialismus
Sprache des Nationalsozialismus
Nationalsozialistische Europapläne
Faschismus
NS-Forschung
Liechtenstein in der Zeit des Nationalsozialismus
Literatur
Geschichte und Forschung
Kurt Bauer: Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938 bis 1945. Fischer, Frankfurt am Main 2017, ISBN 978-3-596-29903-4 (Das Verhalten der Österreicher unter dem Hakenkreuz. Rezension im Standard).
Hellmut Butterweck: Verurteilt und begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter. Czernin, Wien 2003, ISBN 3-7076-0126-9.
DÖW, BMUK (Hrsg.): Österreicher und der Zweite Weltkrieg. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1989, ISBN 3-215-07350-1.
Karl Glaubauf: Robert Bernardis – Österreichs Stauffenberg, Statzendorf 1994.
Neuaufl.: Evangelische Kirche A. u. H. B. in Österreich (Hrsg.): Robert Bernardis (1908–1944), Österreichs Stauffenberg zum ehrenden Gedenken anläßlich seines 100. Geburtsjubiläums. Bearbeitet von Karl Glaubauf und Karl-Reinhard Trauner. Mit einer Einführung von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer. Wien 2008, ISBN 978-3-85073-314-4.
Siegwald Ganglmair, Oskar Achs, DÖW (Hrsg.): Wien 1938. Jugend & Volk, Wien 1988, ISBN 3-215-07022-7.
Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hrsg.): Österreichs Archive unter dem Hakenkreuz. (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Band 54.). Wien 2010, ISBN 978-3-7065-4941-7.
Karl Glaubauf: Die Volkswehr 1918–1920 und die Gründung der Republik. Wien 1993, ISBN 3-901208-08-9.
Karl Glaubauf, Stefanie Lahousen-Vivremont: Generalmajor Erwin Lahousen, Edler von Vivremont: ein Linzer Abwehroffizier im militärischen Widerstand, Lit Verlag, Münster 2005, ISBN 3-8258-7259-9.
Judith Goetz, Alexander Emanuely Hgg.: März. Literatur und Gedächtnis – März 1938. Ein Lesebuch. Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2011, ISBN 978-3-901602-44-3.
Clemens Jabloner u. a.: Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56744-6.
Ernst Langthaler: Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945 (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 38). Böhlau, Wien 2016, ISBN 978-3-205-20065-9. E-Book (open access)
Matthias Pape: Ungleiche Brüder – Österreich und Deutschland 1945–1965. Böhlau, Wien 2000, ISBN 3-412-07200-1.
Verena Pawlowsky, Harald Wendelin (Hrsg.): Arisierte Wirtschaft (Raub und Rückgabe – Österreich von 1938 bis heute). Mandelbaum, Wien 2005, ISBN 3-85476-161-9.
Anton Pelinka, Erika Weinzierl (Hrsg.): Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit. Österreichische Staatsdruckerei, Wien 1997, ISBN 3-7046-1094-1.
Manfried Rauchensteiner: Der Ruf des Gewissens. In: Viribus Unitis. Jahresbericht 2004 des Heeresgeschichtlichen Museums. Wien 2005, S. 9–20.
Hans Schafranek: Sommerfest mit Preisschießen: Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934. Czernin, Wien 2006, ISBN 3-7076-0081-5.
Manfred Scheuch: Österreich im 20. Jahrhundert. Christian Brandstätter, Wien 2000, ISBN 3-85498-029-9.
Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer (Hrsg.): NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945. Ein Handbuch. Reihe: Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, 36. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1988, ISBN 3-900351-84-8.
dies.: NS-Herrschaft in Österreich. Österr. Bundesverlag ÖBV & HPT Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 2000, ISBN 3-209-03179-7 (überarb. Neuauflage).
Karl Vocelka: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik. Heyne, München 2002, ISBN 3-453-21622-9.
Wilhelm Baum: Die Freisler-Prozesse in Kärnten. Klagenfurt 2011, ISBN 978-3-902585-77-6.
Wilhelm Baum: Zum Tode verurteilt. NS-Justiz und Widerstand in Kärnten. Klagenfurt 2012, ISBN 978-3-902585-93-6.
Augenzeugenberichte
Carl Szokoll: Die Rettung Wiens 1945 (Die Waffe des Gewissens). Amalthea Signum, Zürich/ Leipzig/ Wien 2001, ISBN 3-85002-472-5.
Ella Lingens: Gefangene der Angst – Ein Leben im Zeichen des Widerstandes. Deuticke im Zsolnay Verlag, Wien 2003, ISBN 3-216-30712-3.
Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin. Picus, Wien 1988, ISBN 3-85452-206-1.
Viktor Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen (Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager). dtv, München 1982–97, ISBN 3-423-30142-2.
Weblinks
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, umfangreiche Sammlung von wissenschaftlich aufbereiteten
mauthausen memorial, KZ-Gedenkstätte Mauthausen
„Überblicke“, österreichische Literatur im Exil
Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)
Reichsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (Reichsgesetzblatt 1938 I S. 238) (13. März 1938)
NS-Opferorte in Österreich
Einzelnachweise |
1342535 | https://de.wikipedia.org/wiki/Sodankyl%C3%A4 | Sodankylä | Sodankylä [] (nordsamisch Soađegilli) ist eine Gemeinde im finnischen Teil Lapplands. Sie umfasst ein über 12.000 Quadratkilometer großes und mit Einwohnern (Stand ) nur dünn besiedeltes Gebiet in Zentrallappland. Fast zwei Drittel der Einwohner Sodankyläs leben im gleichnamigen Hauptort, der am Fluss Kitinen 95 Kilometer nördlich des Polarkreises gelegen ist. Der Nordteil des Gemeindegebiets gehört zum Siedlungsgebiet des Volks der Samen (Lappen), dessen Angehörige vier Prozent der Bevölkerung Sodankyläs ausmachen.
Geografie
Lage und Ausdehnung
Sodankylä liegt zentral in der Landschaft Lappland im Norden Finnlands. Das Gemeindegebiet liegt zwischen 40 und 210 Kilometer nördlich des Polarkreises und umfasst eine weite und nur sehr dünn besiedelte Fläche. Bei einer maximalen Ost-West-Ausdehnung von rund 100 Kilometer und einer Nord-Süd-Ausdehnung von 170 Kilometer hat die Gemeinde eine Fläche von 12.415,22 Quadratkilometer (fast das Fünffache Luxemburgs). Damit ist Sodankylä nach Inari flächenmäßig die zweitgrößte Gemeinde Finnlands. Bei Einwohnern ergibt sich eine äußerst geringe Bevölkerungsdichte von Einwohnern pro Quadratkilometer Landfläche.
Nachbargemeinden und -städte von Sodankylä sind Savukoski im Osten, Pelkosenniemi und Kemijärvi im Südosten, Rovaniemi im Südwesten, Kittilä im Westen und Inari im Norden. Im Nordosten liegt die Staatsgrenze zu Russland. Die Entfernung nach Rovaniemi, der größten Stadt Lapplands, beträgt 129 Kilometer, in die Hauptstadt Helsinki sind es 944 Kilometer.
Ortschaften
Der Hauptort der Gemeinde Sodankylä ist das namensgebende Kirchdorf Sodankylä (Sodankylän kirkonkylä). Im Gemeindezentrum samt Umgebung leben fast zwei Drittel der Gemeindebevölkerung. Die übrigen Einwohner verteilen sich auf eine Reihe von weit verstreuten kleineren Dörfern und Streusiedlungen im Gemeindegebiet.
Die Dörfer von Sodankylä (Einwohnerzahlen zum 31. Dezember 2005)
Landschaft und Natur
Landschaftlich gehört Sodankylä zum Großraum Lappland, genauer zum sogenannten Wald-Lappland. Ein Großteil des Gemeindegebiets ist bewaldet. Vorherrschende Baumarten sind Kiefer (76 %), Birke (13 %) und Fichte (11 %). Der Süden Sodankyläs ist flach und reich an Aapamooren. Vereinzelt erheben sich aus der Umgebung Fjells (tunturi), für die Landschaft Lapplands charakteristische Anhöhen, die die Baumgrenze überragen. Hierzu gehört etwa der 514 m hohe Luosto, der zusammen mit dem in der Nachbargemeinde Pelkosenniemi gelegenen Pyhätunturi eine 35 Kilometer lange Bergkette bildet. Im Nordwesten hat Sodankylä Anteil an Saariselkä, einem ausgedehnten und gänzlich unbewohnten Fjellgebiet. Die höchste Erhebung ist der 718 m hohe Sokosti.
In Sodankylä liegen Teile des Urho-Kekkonen- und des Pyhä-Luosto-Nationalparks sowie der Naturpark Sompio. In der Wildnis Sodankyläs leben zahlreiche Tiere, darunter alle vier Großraubtierarten Finnlands (Braunbären, Wölfe, Luchse und Vielfraße), daneben Elche und halbdomestizierte Rentiere. Insgesamt stehen 28 % der Fläche Sodankyläs unter Naturschutz unterschiedlichen Grades. In der Vergangenheit kam es zu Konflikten zwischen Naturschützern und der Forstindustrie, weil auch unter den ungeschützten Flächen unberührte Urwälder sind.
Binnengewässer bedecken in Sodankylä eine Fläche von 718,65 km² (knapp 6 % des Gemeindegebiets). Durch die Gemeinde fließen mehrere Zuflüsse des Kemijoki, des längsten finnischen Stroms. Das Gemeindezentrum von Sodankylä liegt am Ufer des Flusses Kitinen. Der 278 km lange Kitinen entspringt im Norden von Sodankylä und fließt in Richtung Süden durch das Gemeindegebiet, ehe er bei Pelkosenniemi in den Kemijoki mündet. Der Fluss Luiro entsteht als Abfluss des Luirojärvi-Sees im Saariselkä-Gebiet und vereinigt sich kurz vor der Einmündung in den Kemijoki mit dem Kitinen. Weitere Zuflüsse des Kitinen sind der Sattanen und Jeesiöjoki. Die Seen in Sodankylä sind größtenteils eher klein, im Gemeindegebiet befinden sich aber zwei große Stauseen, die für die Zwecke der Wasserkraft angelegt wurden: Der Lokka-Stausee entstand 1967 durch Aufstauung des Flusses Luiro und hat je nach Wasserstand eine Fläche von 216 bis 417 km². Drei Jahre später wurde der Porttipahta-Stausee (34 bis 214 km²) am Oberlauf des Kitinen angelegt.
Klima
Das Klima in Sodankylä ist kaltgemäßigt und kontinental geprägt. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt −0,4 °C (zum Vergleich: Helsinki etwa +5 °C, Berlin etwa +9 °C). Der wärmste Monat ist der Juli mit einer mittleren Durchschnittstemperatur von 14,7 °C, der kälteste der Januar mit −13,5 °C. Die Winter sind lang und gehören zu den kältesten Finnlands, weil Sodankylä bereits recht weit nördlich liegt, das Klima aber kontinentaler ist als im nördlichsten Lappland. Die zweitniedrigste jemals in Finnland gemessene Temperatur wurde im Februar 1862 mit −51,3 °C in Sodankylä registriert, für die Monate September bis November und Februar hält Sodankylä jeweils den Kälterekord. Die Sommer sind kurz, aber durchaus warm. Wie für Lappland typisch ist die Niederschlagssumme bei ca. 500 mm verhältnismäßig niedrig. Der meiste Niederschlag fällt im Juli, der geringste im März. Eine bleibende Schneedecke herrscht im Schnitt zwischen 30. Oktober und 15. Mai vor.
Das Gemeindezentrum von Sodankylä liegt 95 Kilometer nördlich des Polarkreises. Entsprechend herrschen extreme jahreszeitliche Unterschiede in der Sonnenscheindauer: Vom 30. Mai bis 15. Juli scheint die Mitternachtssonne. Entsprechend herrscht zwischen 19. und 25. Dezember die Polarnacht (kaamos), während deren die Sonne gar nicht aufgeht.
Geschichte
Vorgeschichte und schwedische Zeit
Nach dem Rückzug der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit verbreitete sich die erste menschliche Besiedlung im Gebiet von Sodankylä. Die ältesten Siedlungsspuren stammen aus der Zeit um 5000 v. Chr. Durch die Vermischung der steinzeitlichen Urbevölkerung und der ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. einwandernden Finno-Ugrier entstand die samische (lappische) Bevölkerung Lapplands, die in Sodankylä lange vorherrschend blieb. Die Samen von Sodankylä gehörten zum Kulturkreis der „Waldsamen“ der sogenannten Kemi-Lappmark, d. h. des samischen Siedlungsgebiets am Oberlauf des Kemijoki. Diese samische Volksgruppe sprach Kemisamisch und lebte von Jagd und Fischfang. Die Lebensweise der Samen war halbnomadisch: Im Frühjahr machten sie Jagd auf die wilden Waldrentiere, im Sommer betrieben sie Fischerei und sammelten Beeren, in der kalten Jahreszeit versammelten sie sich in einem Winterdorf, um Handel zu treiben und ihre gerichtlichen und religiösen Angelegenheiten zu regeln. Die Einwohner eines Winterdorfes bildeten eine Gemeinschaft, die das Nutzungsrecht an einem festgelegten Gebiet besaß. Im Gebiet des heutigen Sodankylä befanden sich zwei solche Samendörfer: Sodankylä und Sompio. Der Name Sodankylä bedeutet auf Finnisch wörtlich übersetzt „Kriegsdorf“. Tatsächlich leitet er sich aber über die alte Form Sovankylä vom samischen Personennamen Sova bzw. Tsoavva ab.
Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts geriet das Gebiet von Sodankylä immer stärker unter den Einfluss des Schwedischen Reiches. Zu dieser Zeit verlief die Grenze des samischen Lapplands und des finnischen Siedlungsgebiets südlich von Sodankylä. Ende des 17. Jahrhunderts begann der schwedische Staat, die Besiedlung Lapplands zu forcieren: 1673 wurde allen Neusiedlern, die sich in Lappland niederließen, für 15 Jahre Steuerfreiheit gewährt. In der Folge ließen sich Ackerbau und Viehzucht betreibende finnische Neusiedler in Sodankylä nieder. Zur gleichen Zeit wurden die zuvor schamanistischen Samen christianisiert. Mit dem Bau der Alten Kirche von Sodankylä im Jahr 1689 festigte sich die Stellung der Kirchenverwaltung. 1747 wurde Sodankylä zu einer eigenen Kirchengemeinde erhoben, zu der die Samendörfer Sodankylä, Sompio, Kittilä und Keminkylä (heute Pelkosenniemi und Savukoski) gehörten.
Russische Zeit
Als Schweden 1809 im Vertrag von Fredrikshamn das Gebiet des heutigen Finnland an Russland abtrat, wurde auch Sodankylä zu einem Teil des neugegründeten Großfürstentums Finnland. Durch die finnische Zuwanderung und die Übernahme der sesshaften Ackerbaukultur wurde die samische Bevölkerung Sodankyläs nach und nach assimiliert. Etwa zur gleichen Zeit mit der Ausrottung des Waldrentiers starben Mitte des 19. Jahrhunderts die waldsamische Kultur Sodankyläs und die kemisamische Sprache endgültig aus. Gleichzeitig ließen sich aber im Norden Sodankyläs Nordsamisch sprechende Rentiernomaden aus dem nordlappischen Gebiet um Kautokeino nieder, die nach der Schließung der russisch-norwegischen Grenze im Jahr 1852 nicht mehr wie zuvor mit ihren Herden zwischen dem Binnenland und der Eismeerküste hin und her ziehen konnten und ihre Weidegebiete nach Süden verlegen mussten. Diese neue samische Bevölkerungsgruppe führte die Rentierzucht in Sodankylä ein, die in der Folgezeit auch von der finnischen Bevölkerung als Erwerbszweig übernommen wurde.
Als die Einwohnerzahl Sodankyläs zunahm, wurde die alte Holzkirche der Gemeinde zu klein. 1859 wurde die Neue Kirche eingeweiht. Unterdessen hatte sich Kittilä 1854 als eigenständige Kirchengemeinde von Sodankylä gelöst, Pelkosenniemi und Savukoski machten sich 1917 selbstständig.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg in Lappland die Nachfrage nach Holz, als im Zuge der Industrialisierung in den Küstenstädten Tornio und Kemi dampfbetriebene Sägewerke gegründet wurden. Auch in Sodankylä entwickelte sich die Forstwirtschaft zu einem wichtigen Industriezweig und brachte zahlreiche Arbeitskräfte in die Gegend. In den Wäldern der Gemeinde wurde in großem Umfang Holz geschlagen und anschließend den Kemijoki hinab geflößt. Mit dem Aufkommen der Forstwirtschaft ging der Ausbau der Infrastruktur einher: 1902 wurde die Landstraße von Rovaniemi nach Sodankylä fertiggestellt. Zuvor war die Gemeinde nur auf dem Wasserweg erreichbar gewesen.
Seit der Unabhängigkeit
Mit der finnischen Unabhängigkeitserklärung wurde auch Sodankylä 1917 Teil der unabhängigen Republik Finnland.
Während des finnisch-sowjetischen Winterkriegs von 1939–1940 wurden die grenznahen Dörfer Sodankyläs evakuiert. Nach Ausbruch des Fortsetzungskriegs, in dem Finnland 1941–1944 in sogenannter Waffenbrüderschaft mit Deutschland gegen die Sowjetunion kämpfte, verzichtete man zunächst auf eine erneute Evakuierung. Erst nachdem sowjetische Partisanen im Juli 1944 das Dorf Lokka angriffen und mehrere Zivilisten töteten, wurden die Einwohner in Sicherheit gebracht. Als Finnland am 4. September 1944 den Waffenstillstand von Moskau mit der Sowjetunion schloss, in dem es sich verpflichtete, die deutschen Truppen aus dem Land zu vertreiben, brach der finnisch-deutsche Lapplandkrieg aus. Nun musste auch die Bevölkerung aus den restlichen Teilen der Gemeinde evakuiert werden, da sich in Sodankylä, das wie ganz Nordfinnland während des Fortsetzungskriegs zum Operationsgebiet der Wehrmacht gehört hatte, deutsche Truppen befanden. Die Deutschen zogen sich aus Lappland zurück, wandten dabei aber die Taktik der verbrannten Erde an und zerstörten bei ihrem Rückzug auch das Kirchdorf Sodankylä.
In der Nachkriegszeit wurde Sodankylä wiederaufgebaut. Um mehrere im Krieg verlorene Kraftwerke zu ersetzen und die Konjunktur Lapplands zu fördern, wurden der Kemijoki und seine Nebenflüsse für die Wasserkraft nutzbar gemacht. So entstanden auch in Sodankylä mehrere Wasserkraftwerke. Um die Wassermenge regulieren zu können, wurden 1967 bzw. 1970 die Stauseen Lokka und Porttipahta angelegt. Mehrere Dörfer verschwanden dabei unter den Fluten, insgesamt mussten rund 600 Menschen umgesiedelt werden.
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung und -struktur
Sodankylä hat derzeit knapp 9000 Einwohner. Die Gemeinde ist von den demografischen Problemen des strukturschwachen Lapplands – Abwanderung und Überalterung – stark betroffen: Mitte der 1990er Jahre hatte die Einwohnerzahl noch knapp 11.000 betragen. Weil aber das strukturschwache Lappland von der finnischen Wirtschaftskrise schwerer getroffen wurde als der Süden des Landes, setzte eine Abwanderungswelle in die Wachstumszentren des Südens ein. Seitdem verringert sich die Einwohnerzahl Sodankyläs konstant um durchschnittlich anderthalb Prozent pro Jahr. Zugleich ist das Durchschnittsalter der Gemeindebevölkerung rapide gestiegen: Während 1990 nur 9 % der Einwohner älter als 64 Jahre waren, waren es 2006 bereits 19 %. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil der unter 15-Jährigen von 21 % auf 15 %.
Samen
Der Norden von Sodankylä gehört zum Siedlungsgebiet des indigenen Volks der Samen (Lappen) in Nordlappland. Der Ort Vuotso (Vuohčču) ist das südlichste samische Dorf Finnlands. Der Rest des Gemeindegebiets wird indes von ethnischen Finnen bewohnt. Somit machen die Samen mit 4 % nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung Sodankyläs aus. Viele Samen haben indes ihre Sprache aufgegeben: Nur 123 Personen, also 1,4 % der Gemeindebevölkerung, sprechen Samisch als Muttersprache. Der Nordteil Sodankyläs gehört zum gesetzlich festgeschriebenen „Heimatgebiet“ (kotiseutualue) der Samen in Finnland. Daher hat die in Sodankylä verwendete Variante des Samischen, die nordsamische Sprache, in der Gemeinde einen offiziellen Status und darf im Umgang mit den Behörden verwendet werden.
Politik
Verwaltung
Wie allgemein in den ländlichen Gegenden Finnlands ist auch in Sodankylä die Zentrumspartei die stärkste politische Kraft. Zwar brach sie bei der Kommunalwahl 2008 erheblich ein und büßte ihre absolute Mehrheit ein, doch stellt sie mit 14 von 35 Abgeordneten im Gemeinderat, der höchsten Entscheidungsinstanz bei lokalen Angelegenheiten, nach wie vor die größte Fraktion. Das Linksbündnis ist, wie in Lappland üblich, mit mehr als einem Fünftel der Stimmen recht stark vertreten und verfügt über acht Sitze im Gemeinderat. Die Nationale Sammlungspartei und die Sozialdemokraten, die landesweit zu den drei großen Parteien zählen, sowie die rechtspopulistischen Basisfinnen konnten bei der Kommunalwahl ihr Ergebnis deutlich verbessern und kommen nun auf sechs, vier respektive drei Abgeordnete im Gemeinderat.
Wappen
Das Wappen von Sodankylä wurde 1960 von Aarno Liuskiala entworfen. Es zeigt im schwarzen Schild einen Balken in Silber mit einem an der Oberseite geflammten Faden in Rot, darüber einen sechszackigen Stern in Silber. Das Wappenmotiv stellt eine besondere, in Finnland als rakovalkea bekannte Form des Lagerfeuers dar, die aus einer brennenden Furche zwischen zwei Baumstämmen besteht, und symbolisiert die Waldläuferkultur Lapplands. Die schwarze Farbe und der Stern stehen für die lange Polarnacht.
Gemeindepartnerschaften
Sodankylä unterhält Gemeindepartnerschaften mit folgenden Städten und Gemeinden:
Kola (Russland, seit 1968)
Berlevåg (Norwegen, seit 1971)
Norsjö (Schweden, seit 1977)
Heiligenblut (Österreich, seit 1979)
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaftsstruktur
Die Wirtschaftsstruktur Sodankyläs weist die für das strukturschwache Lappland typischen Merkmale auf: Ein mit 70,7 % überproportional großer Teil der Einwohner der Gemeinde ist im Dienstleistungssektor beschäftigt, davon über die Hälfte in Staatsdiensten. Der größte individuelle Arbeitgeber ist die Gemeindeverwaltung, gefolgt von der finnischen Armee, deren Garnison in Sodankylä Standort der rund 1100 Mann starken Jägerbrigade (Jääkäriprikaati) ist, und der finnischen Forstbehörde Metsähallitus. Dank der Nationalparks im Gemeindegebiet und einem Skisportzentrum am Luosto-Fjell spielt der Tourismus als Erwerbszweig eine gewisse Rolle. Luosto und das benachbarte Skisportzentrum Pyhä am Pyhätunturi verzeichnen insgesamt rund 110.000 Übernachtungen pro Jahr und gehören damit zu den kleineren Skisportzentren Lapplands.
In der Land- und Forstwirtschaft arbeiten 11,9 % der erwerbstätigen Bevölkerung. Die Forstwirtschaft, einst wichtigster Erwerbszweig Sodankyläs, spielt nach wie vor eine große Rolle, die Anzahl der Arbeitsplätze in diesem Sektor ist aber wegen der Mechanisierung stark zurückgegangen. Auch die Flößerei auf dem Kemijoki wurde 1991 endgültig eingestellt. Wegen der klimatischen Bedingungen beschränkt sich die Landwirtschaft im Wesentlichen auf Molkereiwirtschaft. Daneben wird Rentierzucht betrieben.
Sodankylä verfügt über keine nennenswerte Industrie. Dafür sind Bergbau und Energieproduktion für die Wirtschaft der Gemeinde von Bedeutung. 1934 wurde in Tankavaara ein Goldvorkommen entdeckt. Heute wird die Goldgräbertradition des Ortes vor allem touristisch verwertet. Im Bergwerk Pahtavaara wird dagegen heute noch Gold gefördert: Das 1985 entdeckte Vorkommen wird auf 15 Tonnen geschätzt. Die Mine ist seit 2002 im Besitz des schwedischen Konzerns ScanMining und beschäftigt rund 100 Arbeiter. An den Flüssen Kitinen und Luiro befinden sich insgesamt sieben Wasserkraftwerke des Konzerns Kemijoki Oy. Die jährliche Stromproduktion der Kraftwerke beträgt 471,5 GWh, was rund 4 % der gesamten finnischen Wasserkraftproduktion ausmacht.
Die Arbeitslosenquote liegt in Sodankylä mit 17,7 % (Jahresmittel 2006) deutlich über dem landesweiten Durchschnitt und ist etwas höher als der Mittelwert Lapplands. Um der Arbeitslosigkeit abzuhelfen, wurde das Projekt Astropolis Sodankylä ins Leben gerufen. Es wird unter anderem von der Gemeinde und mehreren finnischen Hochschulen getragen und soll den Ort zu einem Hi-Tech-Standort machen.
Verkehr
Im Gemeindezentrum von Sodankylä treffen sich zwei wichtige Fernstraßen: Die Staatsstraße 4, die von der Hauptstadt Helsinki in Nord-Süd-Richtung durch ganz Finnland bis nach Utsjoki führt, durchquert den Ort. Der Streckenabschnitt von Rovaniemi über Sodankylä nach Ivalo ist als Eismeerstraße (Jäämerentie) bekannt, weil die Strecke vor dem Zweiten Weltkrieg bis nach Petsamo an die Eismeerküste führte. Die zweite große Nord-Süd-Verbindung Finnlands, die Staatsstraße 5, endet über Kemijärvi und Kuusamo aus Südfinnland kommend in Sodankylä. Mit dem westlich gelegenen Kittilä ist Sodankylä über die Hauptstraße 80 verbunden. Die Dörfer im Gemeindegebiet sind über kleinere Landstraßen erreichbar.
An das Bahnnetz ist Sodankylä nicht angeschlossen. Die nächsten Bahnhöfe befinden sich in Kemijärvi und Rovaniemi 108 bzw. 129 Kilometer südlich. Mit dem drei Kilometer südlich des Gemeindezentrums gelegenen Flugplatz Sodankylä verfügt die Gemeinde über einen eigenen Flugplatz, der derzeit nur von der Allgemeinen Luftfahrt genutzt wird. Zuletzt hatte die Fluggesellschaft Air Botnia zwischen 1989 und 1996 Flüge auf der Strecke Oulu-Rovaniemi-Sodankylä-Ivalo angeboten.
Bildung und Forschung
In der Gemeinde Sodankylä gibt es neun Grundschulen: in den Schulen des Kirchdorfs, von Järvikylät, Lokka und Vuotso werden Schüler von der Vorschule bis zur neunten Klasse unterrichtet. Die Schüler an den Schulen von Kelujärvi, Orajärvi, Sattanen, Torvinen und Vaalajärvi besuchen diese bis zur sechsten Klasse und müssen für den Besuch der Oberstufe in der siebten Klasse an eine der anderen Schulen wechseln. Die Hochschulreife können Schüler am Gymnasium von Sodankylä erlangen. Die rund 1000 Grundschüler und 200 Gymnasiasten werden von etwa 100 Lehrern unterrichtet. Der Erwachsenenbildung dient die Volkshochschule von Sodankylä. Die Bibliothek der Gemeinde befindet sich im Kirchdorf und verfügt über eine Sammlung von 95.000 Büchern. Die abgelegenen Gebiete werden mit einer fahrenden Bibliothek versorgt.
Die Universität Oulu unterhält in Sodankylä ein geophysikalisches Observatorium. Bereits während des Ersten Internationalen Polarjahrs 1882/83 war im Dorf eine temporäre Beobachtungsstation eingerichtet worden. Die heutige Forschungsstation wurde 1913 von der Finnischen Akademie der Wissenschaften gegründet und ist seit 1997 ein eigenständiges Forschungsinstitut der Universität Oulu. Hier wird unter anderem Forschung zu den physikalischen Vorgängen in der Erdatmosphäre betrieben. Insbesondere umfasst dies auch die wissenschaftliche Beobachtung des Polarlichts.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Bauwerke
Das Gemeindezentrum von Sodankylä ist ein recht gesichtsloser Ort mit schmucklosen Zweckbauten aus der Nachkriegszeit. Von kulturgeschichtlichem Wert ist allein die am Ortsrand inmitten eines alten Friedhofs gelegene Alte Kirche von Sodankylä. Sie wurde 1689 erbaut und gehört somit zu den ältesten erhaltenen Holzkirchen Finnlands. Die in Blockbauweise errichtete Kirche vertritt den Bautyp der Stützpfeilerkirche mit rechteckigem Grundriss, wie er vor allem in der finnischen Landschaft Österbotten verbreitet war. An der Nordseite des heute turmlosen Baus ist eine Sakristei angebaut. Der Innenraum wird von einem gezimmerten Tonnengewölbe aus dem Jahr 1703 abgeschlossen. Altar und Kanzel der Kirche sind in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Die Alte Kirche blieb im Lapplandkrieg unversehrt und wurde zuletzt 1980 restauriert. Obgleich die kleine Kirche sehr schlicht anmutet, ist sie in Anbetracht ihres hohen Alters und guten Erhaltungszustands sowie der Abgelegenheit Sodankyläs ein bemerkenswertes Baudenkmal.
Unweit der Alten Kirche befindet sich die Neue Kirche von Sodankylä. Der steinerne Bau wurde 1859 nach Plänen von Ludvig Isak Lindqvist fertiggestellt. Der ehemals an der Südseite der alten Kirche gesondert stehende Glockenturm wurde abgerissen, nachdem man die Glocken in den Kirchturm des Neubaus überführt hatte. Die Neue Kirche ist heute die Hauptkirche der Gemeinde. Die Alte Kirche wird nur noch im Sommer zu besonderen Anlässen genutzt.
Museen
Das Heimatmuseum von Sodankylä stellt das Leben der bäuerlichen Bevölkerung Sodankyläs Anfang des 20. Jahrhunderts vor und besteht aus einem Komplex von 13 historischen Gebäuden unweit des Gemeindezentrums. Das Hauptgebäude ist das 1906 erbaute Bauernhaus Kuukkeli. Es stammt ursprünglich aus dem Dorf Riesto, das beim Bau des Lokka-Stausees unter Wasser gesetzt und 1962 auf das Museumsgelände verlegt wurde. Außerdem gehören zum Museumskomplex verschiedene Wirtschaftsgebäude, eine Rauchsauna und Teile eines Rentierzauns. Das älteste Exponat des Heimatmuseums ist ein rund 700 Jahre alter Ski.
Im Zentrum von Sodankylä befindet sich die Galerie Alariesto. Hier sind naive Malereien des aus Sodankylä stammenden Künstlers Andreas Alariesto (1900–1989) ausgestellt. An die Goldgräbertradition Lapplands erinnert das 1973 eröffnete Goldmuseum in Tankavaara. Zum Museumskomplex gehört eine Freilichtabteilung mit Gebäuden und Vorrichtungen aus der Zeit des lappischen Goldrauschs. Angeschlossen ist ein erlebnisorientiertes „Golddorf“, in dem Besucher sich selbst im Goldwaschen versuchen können. Ebenfalls im Tankavaara befindet sich das Koilliskaira-Naturzentrum, ein Besucherzentrum des Urho-Kekkonen-Nationalparks mit einer Ausstellung über Natur und Geschichte des Nationalparks.
Regelmäßige Veranstaltungen
Alljährlich Mitte Juni findet in Sodankylä das Midnight Sun Film Festival statt. Das nördlichste Filmfestival der Welt wurde 1986 von den Brüdern Aki und Mika Kaurismäki ins Leben gerufen und zieht regelmäßig 15.000 bis 20.000 Besucher an. Es versteht sich als Gegenveranstaltung zu glamourösen Filmfestspielen wie Cannes. Unter der namensgebenden Mitternachtssonne werden rund um die Uhr Filme gezeigt, auf einen Wettbewerb wurde bewusst verzichtet. Zu den bekanntesten Regisseuren, die am Midnight Summer Film Festival teilgenommen haben, gehören unter anderem Samuel Fuller, Jonathan Demme, Michael Powell, Jim Jarmusch und Wim Wenders.
Während der Polarnacht (kaamos) Ende November hingegen wird in Tankavaara und Saariselkä das Jazzfestival Kaamosjazz veranstaltet. Im Goldgräberdorf von Tankavaara findet alljährlich seit 1974 die finnische Meisterschaft im Goldwaschen statt, auch die Weltmeisterschaft wurde bereits siebenmal (zuletzt 2006) hier veranstaltet.
Söhne und Töchter
Andreas Alariesto (1900–1989), Maler
Meri Maijala (* 1993), Biathletin
Katja Riipi (* 1975), Eishockeyspielerin
Johanna Sinisalo (* 1958), Schriftstellerin
Aimo Tepsell (* 1932), Orientierungsläufer
Pertti Ukkola (* 1950), Ringer
Weblinks
sodankyla.fi Website der Gemeinde
Sodankylä Geophysical Observatory
Arctic Research Center of Finnisch Meteorological Institute
Topografische Karte – mit Zoom-Funktion
Einzelnachweise
Ort als Namensgeber für einen Asteroiden |
1358437 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rurik-Expedition | Rurik-Expedition | Die russische Rurik-Expedition (veraltet Rurick-Expedition) war eine Weltumsegelung, die vom 30. Juli 1815 bis zum 3. August 1818 unter dem Kommando von Otto von Kotzebue stattfand und zur Entdeckung und Erkundung der Nordwestpassage dienen sollte. Die Expedition des Kriegsschiffes Rurik (russisch Рюрик) wurde durch den russischen Grafen Nikolai Petrowitsch Rumjanzew (russisch Никола́й Румянцев) ausgerüstet und finanziert. Sie fand mit wohlwollender Unterstützung des Zaren Alexander I. statt. Aufgrund widriger Wetterbedingungen erreichte sie ihr Ziel jedoch nicht und kehrte früher als geplant zurück. Die historische Bedeutung der Expedition liegt in den zahlreichen Neuentdeckungen entlang der gesamten Route sowie den menschlichen und kulturellen Erfahrungen, welche die Besatzung von dieser dreijährigen Reise mitbrachte.
Expeditionsziel
Der russische Wunsch, die Nordwestpassage zu finden, hatte vornehmlich wirtschaftliche Gründe. Die Versorgung der Handelsstützpunkte an der Ostküste Russlands und in der Kolonie Russisch-Amerika, die sich an der amerikanischen Westküste von Alaska bis San Francisco erstreckte, war über den Landweg quer über den asiatischen Kontinent nur schwer aufrechtzuerhalten und kostete viel Geld. Die Suche nach einem Seeweg im Norden des europäischen und asiatischen Kontinents (Nordostpassage) hatte noch nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Die Seewege um die Südspitze Afrikas (Kap der Guten Hoffnung) oder Amerikas (Kap Hoorn) hingegen erwiesen sich als zeitaufwändig und wegen vielfältiger Bedrohungen, unter anderem durch widriges Wetter und Piraterie, nicht ungefährlich. Daher hoffte Russland eine Durchfahrtsmöglichkeit im Norden des amerikanischen Kontinents zu entdecken, welche weitaus kürzer und eventuell einfacher zu befahren gewesen wäre.
Da alle Versuche, diesen Seeweg aus östlicher Richtung zu entdecken, bis dato gescheitert waren, sollte die Passage diesmal von Westen aus gefunden und in entgegengesetzter Richtung erforscht und durchfahren werden. Man versprach sich die Ausgangslage der Expedition dadurch verbessern zu können, dass Russland über zahlreiche Handelsstützpunkte an der Westküste des nordamerikanischen Kontinents verfügte, welche als Anlaufpunkte zur Versorgung der Mannschaft und die sonstige logistische Unterstützung der Kampagne dienen konnten.
Die Reise sah zwei Sommerkampagnen (1816 und 1817) vor: Die erste sollte der Erkundung geeigneter Ankerstellen nördlich der Beringstraße dienen. Mit der zweiten hoffte man, im darauffolgenden Sommer von dort aus weiter nach Norden und Osten vordringen zu können.
Die Expedition erreichte, wie viele vor und nach ihr, das gesteckte Ziel nicht. Otto von Kotzebue konnte jedoch eine zusammenhängende Meeresströmung nachweisen, die der erste wissenschaftliche Beleg für die Existenz der Nordwestpassage war. Außerdem kartografierte von Kotzebue über 400 Inseln in Polynesien und weite Teile der Westküste Alaskas. Die Naturforscher dokumentierten eine große Zahl unbekannter Tier- und Pflanzenarten.
Expeditionsteilnehmer
Neben den drei Untersteuerleuten Chramtschenko, Petrow und Koniew, zwei Unteroffizieren, einem Koch und 20 Matrosen nahmen folgende Personen an der Expedition teil:
Otto Jewstafjewitsch von Kotzebue (1787–1846), Leutnant der kaiserlich-russischen Kriegsmarine, Kapitän der Rurik und Leiter der Expedition.
Johann Friedrich Eschscholtz (1793–1831), Schiffsarzt und Naturforscher
Adelbert von Chamisso (1781–1838), Naturforscher (Titulargelehrter), Verfasser des Tagebuchs Reise um die Welt in den Jahren 1815–1818
Ludwig Choris (1795–1828), Zeichner (stand auch den Naturforschern zur Dokumentation zu Verfügung)
Morten Wormskjold (1783–1845), freiwilliger Naturforscher (ging in Petropawlowsk-Kamtschatski von Bord)
Gleb Simonowitsch Schischmarew, Erster Leutnant
Iwan Jakowlewitsch Sacharin, Zweiter Leutnant
Wassili Stepanowitsch Chromtschenko, Steuermann-Assistent
Im Laufe der Reise gingen zeitweise folgende Personen an Bord:
17. August 1815: Lotse für die Fahrt im Kanal und nach Plymouth.
1. Oktober 1816: Zwei russische Matrosen sowie ein Passagier: Elliot de Castro, Leibarzt des Königs von Hawaii (von San Francisco bis Hawaii)
23. Februar 1817: Der Südseeinsulaner Kadu (während der gesamten Sommerkampagne 1817)
27. Mai 1817: Zwei Dolmetscher für die Dialekte der nördlicheren Küstenvölker.
August 1817: Vier Aleuten zur Verstärkung der Mannschaft
Das Schiff
Die Rurik, benannt nach dem warägischen Fürsten und Begründer Russlands Rurik (ca. 830 bis ca. 879), war eine kleine Brigg von 180 Tonnen. Für den Verlauf der Expedition wurde ihr erlaubt, die kaiserlich-russische Kriegsflagge zu führen. Sie galt daher als Kriegsschiff. Da das vordringliche Ziel der Reise die Entdeckung der Nordwestpassage war, hatte man sie nur zweitrangig als Forschungsschiff ausgestattet. Die mitreisenden Forscher mussten sich deshalb den militärischen Gepflogenheiten an Bord unterordnen.
Bezeichnend hierfür sind die Worte von Kotzebues an Adelbert von Chamisso, „daß [er] als Passagier an Bord eines Kriegsschiffes, wo man nicht gewohnt sei, welche zu haben, keinerlei Ansprüche zu machen habe.“ Es stand den Forschern nur wenig Raum für Pflanzen- und Artefaktsammlungen zur Verfügung. Ein Großteil der Sammlungen wurde sofort in versiegelten Kisten unter Deck verstaut. Wie Adelbert von Chamisso beschreibt, wurden offen ausgelegte Sammlungen häufig (auch auf Befehl des Kapitäns) über Bord geworfen, da sie die Matrosen in ihren alltäglichen Aufgaben an Bord behinderten.
Das Schiff war nur leicht bewaffnet, die acht Kanonen wurden fast ausschließlich zur Abgabe von Salutschüssen während des Ein- und Auslaufens in fremden Häfen benutzt. Gegen Ende der Fahrt begegnete die Rurik in der Nähe der Sundastraße vermeintlichen Piratenschiffen, die mithilfe von Warnschüssen auf Abstand gehalten wurden.
Vor der zweiten Sommerkampagne im Jahr 1817 geriet die Rurik vor Kamtschatka in einen Sturm und wurde stark beschädigt. Die eilig durchgeführten Reparaturarbeiten in Unalaska stellten eher Schadensbegrenzung als eine vollkommene Wiederherstellung dar. Der Zustand der Rurik galt offiziell als einer der Gründe, warum von Kotzebue nicht weiter nach Norden fahren wollte und das Expeditionsziel aufgab. Während der Rückfahrt wurde die Rurik in der Werft von Cavite auf den Philippinen generalüberholt.
Expeditionsverlauf
Von St. Petersburg nach Kamtschatka
Die Rurik sollte über das Kap Hoorn den Pazifik erreichen. Diese erste große Etappe der Reise, von Sankt Petersburg und Kronstadt ausgehend, war bereits von einigen Landgängen geprägt, von denen vor allem die Naturforscher der Expedition profitieren konnten. Nach einem ersten kurzen Aufenthalt in Kopenhagen ging es weiter nach Plymouth an der englischen Südküste, um sich dort für die lange Atlantiküberquerung zu rüsten. Ein mehrtägiger Aufenthalt auf Teneriffa in den kanarischen Inseln ermöglichte den Naturforschern erste Erkundungstouren in einer ihnen neuen Welt. Schließlich erreichte die Rurik am 12. Dezember 1815 die Insel Ilha de Santa Catarina vor Brasilien und legte bei Florianópolis an.
Der weitere Verlauf der Reise bis zur russischen Halbinsel Kamtschatka – um das Kap Hoorn herum – war vor allem von einem langen Aufenthalt in Talcahuano, Chile geprägt, während dessen ausschweifende Feste mit dem Gouverneur, dem Kommandanten und den Edelleuten der Stadt und Umgebung gefeiert wurden. Die anschließende Reise quer durch den Pazifik wurde eilig durchgeführt, um früh genug in der Bucht von Awatscha einzutreffen und die Sommerkampagne von 1816 vorzubereiten. Es galt, die wenigen warmen Tage des Jahres zu nutzen, um weit genug nach Norden vordringen zu können, bevor die winterliche Vereisung wieder einsetzte.
Für den Weg nach Awatscha wählte Otto von Kotzebue eine Route fernab der üblichen Handelsrouten. Hierbei kartografierte er zahlreiche Inseln der polynesischen Inselwelt, welche bis dahin noch nicht erkundet worden waren. Die Namen, die damals jenen Inseln gegeben wurden, haben sich jedoch aufgrund der späteren Kolonisation durch verschiedene andere Nationen bis zum heutigen Tage häufig geändert. Am 19. Juni 1816 legte die Rurik in der Bucht von Awatscha vor Petropawlowsk-Kamtschatski an.
Sommerkampagne 1816
Die Sommerkampagne von 1816 begann am 14. Juli mit dem Auslaufen aus der Bucht von Awatscha auf der Halbinsel Kamtschatka und endete mit dem Einlaufen im Hafen von Unalaska, einer Insel der Aleuten, am 7. September. Sie diente dazu, das Meer und die Küsten nördlich der Beringstraße zu erkunden und geeignete Ankerplätze zu finden, um ein weiteres Vorstoßen während der Sommerkampagne 1817 vorzubereiten. Während dieser Fahrt wurden der Kotzebuesund mit der Eschscholtzbucht und der Chamisso-Insel und weitere Landmarken entdeckt (siehe Karte rechts).
Außerdem wurde Kontakt zu den dort lebenden Einheimischen hergestellt und gepflegt. Nach erster vorsichtiger Annäherung gelang es oft, Handel zu betreiben: Gegen Nadeln, Scheren, Messer und vor allen Dingen Tabak konnten die Expeditionsteilnehmer Proviant, Kleidung und handwerkliche Kulturzeugnisse in Form von Gegenständen des täglichen Gebrauchs, Kunstwerken oder Kultgegenständen eintauschen.
Die Rurik segelte weiter von der Awatscha-Bucht auf einem Nord-Ost-Kurs, bis sie auf die Sankt-Lorenz-Insel traf, und durchquerte darauf die Beringstraße entlang der Küste Alaskas. Hier folgte der Kapitän zuerst einer sandbankartigen Inselkette, welche unmittelbar vor der Küste lag, bis die Schischmarew-Bucht erreicht wurde. Nach kurzer Erkundung der Bucht wurde die Reise bis zum nördlichen am Eingang zum Kotzebuesund gelegenen Kap Espenberg fortgesetzt. In der Hoffnung, dort den Zugang zur Nordwestpassage gefunden zu haben, erfolgte am 2. August die Kursänderung nach Osten. Die Rurik traf jedoch schon bald auf die Baldwin-Halbinsel und folgte dem Küstenverlauf nach Süden, bis sich der Eingang zur Eschscholtzbucht auftat, in die das Schiff zwischen der Baldwin-Halbinsel und der Chamisso-Insel hineinsegelte. Der Kapitän ließ in den darauffolgenden Tagen die Bucht mit Ruderbooten erkunden, musste jedoch erkennen, dass hier kein Weiterkommen war. Am 7. August entdeckte Eschscholtz im Süden der Bucht bereits Eisberge.
Am 11. August nahm die Expedition die Reise wieder auf und folgte der südlichen Küste des Kotzebuesunds bis zur Mündung des Kiwalik River. Dort befragte von Kotzebue einen Eskimo über den weiteren Verlauf des Flusses. Er vermutete eine direkte Verbindung zum südlichen Nortonsund quer durch die Seward-Halbinsel. Weil diese Vermutung nicht bestätigt werden konnte, wurde die Expedition in nördlicher Richtung wiederaufgenommen, bis sie das Kap Krusenstern im Norden des Eingangs zum Sund erreichte. Wegen des mittlerweile fortgeschrittenen Sommers entschloss sich der Kapitän, die Tschuktschensee in westlicher Richtung zu überqueren und entlang der russischen Küste die Beringstraße in Richtung Süden zu passieren.
Südlich der Meerenge segelte die Rurik in die Sankt-Lorenz-Bucht (russisch zaliv Lavrentija) ein und ankerte dort. Der Kapitän tauschte mit den dort lebenden Tschuktschen frisches Rentierfleisch. Während des Aufenthalts kamen zahlreiche Tschuktschen aus der südlichen Metschigmenskischen Bucht (russisch Mečigmeskij zaliv) in die Sankt-Lorenz-Bucht, um die Neuankömmlinge zu bestaunen. Wegen schlechten Wetters ließ der Kapitän erst am 29. August Kurs auf die Ostspitze der Sankt-Lorenz-Insel setzen. Aufgrund anhaltenden dichten Nebels lief die Rurik in respektvollem Abstand entlang der Insel nach Osten, wagte nicht zu ankern und legte schließlich Kurs nach Süden. Am 3. September kam die Insel Saint Paul der Pribilof Islands in Sicht. Auch hier segelte die Rurik weiter und lief am 7. September in den Hafen von Unalaska ein.
In Unalaska wurde der Agent der „Russisch-Amerikanischen Kompanie“ (einer russischen Handelsgesellschaft) mit der Vorbereitung der Sommerkampagne des nächsten Jahres beauftragt, während die Rurik die Winterzeit in südlicheren Breiten verbringen sollte. Außerdem sollten sich 16 Alëuten (darunter ein Übersetzer) bereithalten, um im Folgejahr mit nach Norden zu fahren.
Von Unalaska durch den Ostpazifik
Um dem harten Winter im Norden auszuweichen und der Mannschaft etwas Erholung vor der geplanten Sommerkampagne 1817 zu gönnen, wich die Rurik nach Süden in wärmere Regionen aus. Diese Fahrt führte sie von Unalaska nach San Francisco im spanischen Kalifornien und weiter nach Hawaii und den Marshallinseln.
In San Francisco und Hawaii musste die Besatzung diplomatische Aufgaben übernehmen, die weit über den Rahmen ihrer wissenschaftlichen Mission hinausgingen. Zunächst wurde im Presidio von San Francisco in Verhandlungen zwischen dem spanischen Gouverneur der Region Don Paolo Vicente de Sola und dem Russischen Reich – vertreten durch Otto von Kotzebue in seiner Funktion als Leutnant der kaiserlich-russischen Marine – eine Auseinandersetzung vorläufig beigelegt, die das Vorgehen der Russisch-Amerikanischen Handelskompanie an der kalifornischen Küste betraf: Es war zu völkerrechtlichen Unstimmigkeiten mit russischen Kolonisten gekommen, welche ohne Erlaubnis der Spanier etwas weiter nördlich an der Bodega Bay eine Siedlung für den Pelzhandel und ein Fort errichtet hatten. Es gelang von Kotzebue, einen möglichen bewaffneten Konflikt dadurch zu vertagen, dass er beide Parteien dazu bewog, ihr weiteres Vorgehen von der Haltung ihrer jeweiligen Regierungen abhängig zu machen. Eine offizielle Reaktion der betroffenen Regierungen erfolgte jedoch nicht und so blieb der Status quo noch für geraume Zeit erhalten.
Auch Hawaii war kurz zuvor Opfer einer politischen Auseinandersetzung mit Kräften der Russisch-Amerikanischen Handelskompanie geworden. Zwei ihrer Handelsschiffe hatten die russische Flagge auf einer der Inseln gehisst und so versucht, diese für den Zaren in Besitz zu nehmen. Ein Blutvergießen konnte dank der Vermittlung einiger dort ansässiger Europäer und Amerikaner zwar noch rechtzeitig abgewandt werden, aber als Reaktion auf ihre Vertreibung hatten die russischen Seefahrer gedroht, die Inseln mit Krieg zu überziehen. In dieser Situation erreichte die Rurik Hawaii und fand sich mit einer großen Anzahl bewaffneter und kampfbereiter Insulaner konfrontiert. Glücklicherweise hatte die Rurik in San Francisco Elliot de Castro an Bord genommen, den Leibarzt des Königs von Hawaii. Dieser konnte vermitteln, bevor es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam. Als Gast König Kamehamehas I. vermochte Otto von Kotzebue diesen in der Folge von seiner und des russischen Reiches friedlicher Gesinnung zu überzeugen.
In der Inselwelt der Marshallinseln besuchte die Expedition danach zahlreiche Inselkönigreiche. Hauptsächlich wurde die Ratak-Kette kartografiert und man versuchte, den Einheimischen, die von den eher kargen Ressourcen der Inseln leben mussten, neue Nahrungsquellen durch den Anbau von Obst und Gemüse nahezubringen. Diese Versuche scheiterten jedoch fast vollständig, denn Ratten verwüsteten die angelegten Kleingärten zu einem großen Teil und die Insulaner nahmen Nutztiere nur schwer an. Trotzdem waren die Beziehungen zwischen den Vertretern der beiden Kulturen ebenso offen wie freundschaftlich und ließen einen regen Tauschhandel sowie die Übergabe von Geschenken zu. Bei der Abfahrt schloss sich ein Rataker namens Kadu der Expedition an und sowohl Naturforscher als auch Kapitän nutzten die sich hieraus ergebende Möglichkeit, mehr über Sprache, Kultur und Geografie dieser Inselwelt zu erfahren.
Auf der Fahrt zurück nach Norden geriet die Rurik in einen schweren Sturm, der das Schiff stark beschädigte. Nur mit Mühe gelangte die Expedition in den sicheren Hafen von Unalaska. Drei Matrosen waren in dem Unwetter schwer verletzt worden und auch die Gesundheit des Kapitäns hatte gelitten. Viel Zeit blieb nicht, um das Schiff wieder seeklar zu machen, denn der Sommer setzte bereits ein und so wurde die Rurik nur notdürftig wieder instand gesetzt und schnellstens für die zweite Sommerkampagne ausgerüstet.
Sommerkampagne 1817
Die Erwartungen, die an die Expedition gestellt wurden, konnten nicht erfüllt werden. Die Expedition sollte ausgehend von den im Sommer 1816 erkundeten Küsten und Ankerplätzen die Nordwestpassage finden. Hierfür nahm man fünfzehn Aleuten mit an Bord sowie eine Reihe kleiner Boote. Sollte es sich als unmöglich erweisen, die Reise an Bord der Rurik fortzusetzen, wollte man diese an einem sicheren Ankerplatz zurücklassen und die Reise mithilfe der Aleuten auf den kleinen Booten fortführen. Doch nachdem sich die Mannschaft auf Unalaska und den Pribilof Islands mit Verpflegung und Ausrüstung eingedeckt hatte, standen die Vorzeichen schlecht: Der Winter hatte in diesem Jahr lange gedauert, die Eisschmelze setzte erst spät ein und auch die Gesundheit des Kapitäns begann, sich aufgrund der niedrigen Temperaturen und des nassen Wetters zunehmend zu verschlechtern.
Als am 10. Juli die Ostspitze der St.-Lawrence-Insel erreicht wurde, erfuhr der Kapitän von Tschuktschen, dass das Eis im Norden erst seit einigen Tagen aufgebrochen sei und mit der Strömung langsam nach Norden treibe. Noch am selben Tag ließ der Kapitän die Anker lichten und umsegelte die Insel. Doch bereits am Abend wurde Eis gesichtet. Der Kapitän litt an starken Brustschmerzen und war bettlägerig. Der Schiffsarzt versicherte dem Kapitän, dass er sein Leben aufs Spiel setze, wenn er sich weiter nach Norden begebe. Auch der Zustand des Schiffes war nicht ideal, um den harten Bedingungen des Nordens zu trotzen.
Unter diesen Umständen entschied sich der Kapitän am 12. Juli, das Expeditionsziel aufzugeben und über Unalaska, Hawaii, die Marshallinseln und Manila in die Heimat zu segeln. Diese Entscheidung wurde später stark kritisiert. Es war damals unüblich, insbesondere auf einem Kriegsschiff, den Verlauf einer Reise von der Gesundheit des Kapitäns abhängig zu machen, wenn noch weitere Offiziere (wie z. B. der Leutnant Schischmarew) an Bord waren, die das Kommando hätten übernehmen können. Es wurde auch spekuliert, dass sich das nach Norden treibende Packeis nach dem Ausweichen der Rurik nach Kamtschatka oder der St.-Lawrence-Bucht geöffnet hätte. Der schriftliche Befehl des Kapitäns stand jedoch fest und die Rückfahrt nach Unalaska wurde angetreten.
Die Rurik kehrte um und durchkreuzte die Beringsee mit Kurs auf Unalaska, ohne die St.-Matthew-Insel und die Pribilof Islands wegen nebligen Wetters zu sehen. Am 22. Juli lief die Rurik erneut in den Hafen von Unalaska ein.
Rückfahrt über Manila
Während eines kurzen Aufenthaltes auf Unalaska wurde die Expeditionsausrüstung für den Norden und ein Großteil der zusätzlich aufgenommenen Alëuten ausgeschifft. Anschließend segelte die Rurik nach Hawaii, wo die Forscher erneut den König trafen. Von da aus ging die Reise zu den Marshallinseln. Der Empfang dort war jedoch nicht überschwänglich, da der Großteil der Männer in den Krieg gegen ein benachbartes Inselkönigreich gezogen war. Hier ging auch der Rataker Kadu wieder von Bord. In Anbetracht der instabilen Lage blieb die Rurik nur kurz vor diesen Inseln liegen. Man versuchte, in der Eile noch einige Gärten anzulegen und Nutzvieh unterzubringen. Kadu sollte die Pflege dieser neuen Nahrungsquellen überwachen.
Die Rurik segelte daraufhin nach Manila, wo das während der Nordfahrten in Mitleidenschaft gezogene Schiff in der Werft von Cavite repariert wurde. Nach einem langen Aufenthalt ging es dann weiter durch die Sundastraße in den Indischen Ozean, der bis ans Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas durchkreuzt wurde. Dort ankerte die Rurik kurze Zeit in Kapstadt. Danach setzte die Expedition ihre Fahrt entlang der Inseln des Südatlantiks fort und kehrte über die Kanarischen Inseln nach Portsmouth in England zurück. Das letzte Stück der Reise erfolgte auf direktem Weg zur Festung Kronstadt und weiter nach Sankt Petersburg.
Forschungsarbeiten
Adelbert von Chamisso musste bereits zu Beginn der Reise bedauernd feststellen, dass seine Rolle als Titulargelehrter an Bord der Rurik nur von zweitrangiger Bedeutung war. Doch erst zu Beginn der Sommerkampagne 1816 begann er die Gründe hierfür zu erahnen, als er erfuhr, dass das wesentliche, ja fast ausschließliche Ziel der Expedition in der Erforschung der Nordwestpassage bestand und alle seine Forschung nur schmückendes Beiwerk darstellen sollten, um den damaligen Zeitgeist zu befriedigen, welcher eben einforderte, dass derartige Expeditionen von Gelehrten begleitet wurden. Es ging jedoch letztendlich um „hohe Politik“, nämlich darum, dass Russland sich zur damaligen Zeit bereits darüber im Klaren war, dass es die Kolonien auf dem amerikanischen Festland nur dann auf Dauer zu halten in der Lage sein würde, wenn es einen gangbaren Seeweg im Nordmeer erschließen konnte, um jene zu versorgen und mit ihnen stabile Handelsbeziehungen einzugehen. Da vom Zaren die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges nur gering eingeschätzt wurde, blieb es dem Grafen Rumjanzew überlassen, die Kampagne zu finanzieren.
Der Neugierde Chamissos tat diese Sachlage jedoch keinen Abbruch. Von Anfang an sammelte er alles, von dem er annahm, es könne für irgendeinen Zweig der damaligen Wissenschaft von Bedeutung sein: Pflanzen, Tiere, Mineralien, Knochen und handwerkliche Erzeugnisse der besuchten Völker. Selbst vor menschlichen Schädeln schreckte seine Sammelleidenschaft nicht zurück. Wo immer er konnte, versuchte er zu katalogisieren und zu beschreiben, was er vorfand, und studierte nicht zuletzt die Sprachen, Sitten und Gebräuche der Menschen, welchen er begegnete. Hier galt seine große Liebe den Völkern Polynesiens und Mikronesiens. Mehr als einmal musste er erleben, dass Teile seiner Sammlung von den Matrosen des eigenen Schiffes teils mutwillig, teils aus Unkenntnis zerstört oder verstümmelt wurden. Doch unverdrossen machte er weiter, und so gelang es ihm am Ende doch, eine nicht unerhebliche Sammlung von Zeugnissen einer Europa damals noch fremden Welt nach Hause zu bringen.
Da der Initiator der Reise Graf Rumjanzew nicht auf irgendwelchen Besitztiteln an den mitgebrachten Artefakten bestand, konnte von Chamisso diese am Ende der Reise nach Berlin verschiffen. Er schenkte den größten Teil der gesammelten Natur- und Kulturzeugnisse dem Botanischen Garten in Berlin, wo er als zweiter Kustos eine Anstellung fand. Neben einem Band des offiziellen Expeditionsberichts veröffentlichte er 1836 sein Reisetagebuch Reise um die Welt in den Jahren 1815–1818 sowie im Jahre 1837 seine Sprachstudie Über die Hawaiische Sprache.
Nach der Expedition
Die Rurik wurde nach der Ankunft in Sankt Petersburg verkauft. Otto von Kotzebue verfasste einen ausführlichen Expeditionsbericht, der durch die Berichte der einzelnen Expeditionsteilnehmer ergänzt wurde.
Nach seiner Ernennung zum Kapitän unternahm von Kotzebue 1823 bis 1826 auf der Predprijatije erneut eine Weltreise, auf welcher er von Johann Friedrich Eschscholtz begleitet wurde. Sie besuchten auch die Inselketten, die sie mit der Rurik entdeckt hatten. Sie stellten fest, dass die Versuche, neue Nahrungsmittel und Nutzvieh auf den Inseln zu verbreiten, größtenteils fehlgeschlagen waren.
Die Nordwestpassage verlor für Russland an Bedeutung. Nachdem die verschiedenen Suchexpeditionen nach dem verschollenen britischen Entdecker John Franklin um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Bedeutungslosigkeit der nordwestlichen Durchfahrt für die Schifffahrt bewiesen hatten, begann gleichzeitig der Pelzhandel an der amerikanischen Westküste nachzulassen. Die Aufgabe der Siedlungen in Nordamerika mündete schließlich in den Verkauf von Alaska im Jahre 1867. Zur direkten Versorgung der russischen Siedlungen am Pazifik diente infolge die 1879 durch Adolf Erik Nordenskiöld neu erschlossene Nordostpassage und der Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891–1916).
Literatur
Quellen
Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt, Leipzig 1836, 1. Band: Tagebuch, 2. Band: Anhang. Bemerkungen und Ansichten
Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt. Mit 150 Lithographien von Ludwig Choris und einem essayistischen Nachwort von Matthias Glaubrecht. Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. ISBN 978-3-8477-0010-4.
Entdeckungs-Reise in die Süd-See und nach der Berings-Straße zur Erforschung einer nordöstlichen Durchfahrt: unternommen in den Jahren 1815, 1816, 1817 und 1818, auf Kosten Sr. Erlaucht des Herrn Reichs-Kanzlers Grafen Rumanzoff auf dem Schiffe Rurick unter dem Befehle des Otto von Kotzebue, Weimar 1821, Band 1, Band 2, Band 3, Tafeln zu Band 1
Darstellungen
Louis Choris: Voyage pittoresque autour du monde, Paris 1822.
Dietmar Henze: Kotzebue, Otto von. In: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, Band 3, 63–69. 5 Bände. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001. Originalausgabe Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1978.
Otto von Kotzebue: Zu Eisbergen und Palmenstränden 1815–1818. Mit der Rurik um die Welt, Ed. Erdmann, 2004, ISBN 3-86503-005-X.
Beatrix Langner: Der wilde Europäer – Adelbert von Chamisso. [Teil III: Die Reise um die Welt], Matthes und Seitz, Berlin 2008.
August Karl Mahr: The Visit of the ‚Rurik‘ to San Francisco in 1816; Stanford, Kalifornien 1932.
Edward Mornin: Through alien eyes: the visit of the Russian ship Rurik to San Francisco in 1816 and the men behind the visit; Bern 2002, ISBN 3-906769-59-3.
Weblinks
Louis Choris' „Voyage pittoresque autour du monde“; Textausschnitte mit zusätzlichen Abbildungen auf americanjourneys.org
Einzelnachweise
Weltumseglung
Russische Kolonialgeschichte
Geschichte der Vereinigten Staaten (1789–1849)
Geschichte von Alaska
1810er
Expedition |
1501442 | https://de.wikipedia.org/wiki/Glyptodontidae | Glyptodontidae | Die Glyptodontidae oder Glyptodonten sind eine ausgestorbene Familie der Nebengelenktiere (Xenarthra) und waren in Südamerika und in einigen Teilen Nordamerikas verbreitet. Sie stehen in der näheren Verwandtschaft mit den heute noch lebenden Gürteltieren und besaßen wie diese einen ausgebildeten Körperpanzer, der aber im Gegensatz zu dem der Gürteltiere starr war und über keine beweglichen Bänder verfügte. Darüber hinaus war auch der Schwanz vollständig gepanzert, einige Formen wiesen ein keulenartiges, verlängertes Ende auf. Die Vertreter der Familie erreichten vor allem im Pleistozän teilweise riesige Ausmaße und wogen bis zu 2 t, womit sie die größten Mitglieder der Gepanzerten Nebengelenktiere stellten. Neben einigen Merkmalen des Schädels verfügten die Glyptodonten auch über Besonderheiten im Skelettbau, wozu unter anderem elefantenähnliche Hinterbeine und eine extrem stark verknöcherte Wirbelsäule zu zählen sind. Als möglicherweise angepasste Grasfresser hatten sie zudem Zähne mit hohen Kronen. Die Glyptodonten bewohnten meist offene, von kühlem bis hin zu tropischem Klima beeinflusste Landschaften und kamen auch in höheren Gebirgslagen vor.
Die ersten Vertreter der Familie sind aus dem Mittleren Eozän vor rund 48 Millionen Jahren bekannt und wurden in Patagonien entdeckt, wo wahrscheinlich auch der Ursprung der Gruppe liegt. Die jüngsten Funde stammen aus dem Beginn des Holozäns und sind rund 7500 Jahre alt. Während der Stammesgeschichte kam es zu einer starken Aufgliederung der Glyptodonten in mehrere Entwicklungslinien. Im Pliozän vor rund 3,5 Millionen Jahren erreichten einige Vertreter durch die Entstehung einer Landbrücke auch Nordamerika, wo sie sich aber nicht sehr lange hielten. Da häufig nur Reste des Panzers fossil belegt sind, ist die systematische Gliederung nur ungenügend untersucht und basiert weitgehend auf der Gestaltung und den Formenveränderungen der einzelnen Elemente der Rücken- und der Schwanzpanzerung. Insgesamt repräsentieren die Glyptodonten neben den Faultieren aber eine der formenreichsten Gruppen der Nebengelenktiere.
Die Forschungsgeschichte der Glyptodonten reicht bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück und begann mit der Entdeckung eines Rückenpanzers in der Pamparegion. Weitere Funde folgten Anfang des 19. Jahrhunderts, der für die Familie namengebende Gattungsvertreter Glyptodon erhielt 1839 durch Richard Owen seine Beschreibung. Diese baute auf einem Teilskelett aus der Pamparegion südlich von Buenos Aires auf, das nach England verbracht worden war. Einen wichtigen Beitrag leistete Charles Darwin auf seiner Reise nach Südamerika, der zahlreiche Reste von Glyptodonten in der Pampa barg. Die ersten Funde in Nordamerika gelangen erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Im gleichen Zeitraum erarbeitete Florentino Ameghino eine erste systematische Untergliederung der Glyptodonten, die als Grundlage für zahlreiche weitere Forschungen diente.
Merkmale
Allgemein und Körpergröße
Die Glyptodontidae ähnelten den heutigen Gürteltieren (Dasypoda), mit denen sie enger verwandt sind, waren aber bedeutend größer und besaßen einen kurzschnauzigen Schädel und einen starren, kuppelartig gewölbten Rückenpanzer sowie einen vollständig gepanzerten, vergleichsweise kurzen Schwanz. Frühe Vertreter dieser Familie waren noch verhältnismäßig klein. So erreichte Cochlops aus dem Unteren Miozän eine Gesamtlänge von rund einem Meter bei einem Gewicht von knapp 90 kg, das etwa gleich alte Eucinepeltus brachte bis zu 115 kg auf die Waage. Vor allem die Formen des späten Pleistozäns besaßen demgegenüber aber riesige Ausmaße. Panochthus wurde über 2,6 m lang, während das Gewicht zwischen 1,1 und 1,3 t betrug. Größere Ausmaße besaß Doedicurus mit einer Länge von mehr 3,3 bis 4 m und einer Höhe von 1,5 m. Es wog zwischen 1,4 und 1,76 t, wobei für einen sehr späten Angehörigen der gleichen Gattung anhand eines fragmentierten Oberarmknochens ein Gewicht von 2,3 t ermittelt werden konnte. Die größten Vertreter von Glyptodon brachten es auf eine Länge von über 3,5 m bei einem Gewicht von rund 2 t. Damit waren die Glyptodonten die größten Vertreter der Gepanzerten Nebengelenktiere (Cingulata) und deutlich größer als die verwandten Gürteltiere und Pampatheriidae.
Schädel- und Gebissmerkmale
Der Schädel der Glyptodonten war massiv und dabei kurz und hoch. Er wies dadurch einen sehr charakteristischen Bau auf, der zusammen mit dem Unterkiefer fast einem Kubus ähnelte. Nur stammesgeschichtlich ältere Formen besaßen noch ein etwas verlängertes Rostrum und ähnelten dadurch den heutigen Gürteltieren. Kleinere Formen wie Eosclerocalyptus wiesen Schädellängen von etwa 22 cm auf, bei großen wie Panochthus erreichten sie mit bis zu 42 cm gut die doppelte Länge. Charakteristisch war vor allem der deutlich verkürzte rostrale Bereich, wodurch der Gesamtschädel wie teleskopartig zusammengeschoben wirkte. Ein weiteres markantes Merkmal stellten die überaus massigen Jochbögen dar, die weit auskragten und bei Panochthus einen Abstand von 31 cm erreichten. Als auffällig erwies sich hier ein zweiter Knochenauswuchs, der vom vorderen Ansatz des Jochbogens weit nach unten bis unterhalb der Zahnreihe des Unterkiefers reichte und vorne und hinten verschmälert war. Eine ähnliche Bildung kann bei den Faultieren beobachtet werden, doch ist diese seitlich abgeflacht. In beiden Fällen dient der Auswuchs als Ansatzstelle des Musculus masseter der Kaumuskulatur. Da der Muskel aber in beiden Gruppen unterschiedlich angeordnet ist, geht man bei dem knöchernen Fortsatz von jeweils unabhängigen Bildungen aus. Daneben treten bei den Glyptodonten weitere Schädelmerkmale auf, die sie von anderen Säugetieren unterscheiden. Vor allem die Knochenabschnitte im Bereich des Rostrums, so der Oberkiefer und das Gaumenbein, zeigten vertikal ausgerichtete Verlängerungen, um die extrem hochkronigen (hypdodonten) Zähne aufzunehmen. Ebenso waren die Stirnhöhlen stark vergrößert, was möglicherweise eine Rolle beim Zerkauen der Nahrung spielte. Der Unterkiefer war massiv gestaltet, am horizontalen Knochenkörper aufgrund der Zähne äußerst hoch und mit einer robusten Symphyse versehen. Das Gelenkende ragte steil auf, weit über die Höhe der Zahnreihe hinaus. Aufgrund des ungewöhnlichen Baus des Schädels besaßen die Glyptodonten in Bezug auf die Schädellänge den im Verhältnis am höchsten gelegenen Ansatzpunkt für die Gelenke des Unterkiefers (craniomandibulare Verbindung) innerhalb der Säugetiere.
Wie bei allen Nebengelenktieren wich das Gebiss in seinem Aufbau von dem der anderen Höheren Säugetiere ab. Schneide- und Eckzähne waren nicht ausgebildet. Die hintere Bezahnung war homodont gestaltet, sodass zwischen Prämolaren und Molaren nicht unterschieden werden kann. Prinzipiell standen in jeder Kieferhälfte acht molarenartige Zähne, insgesamt verfügte das Gebiss also über 32 Zähne. Eine Besonderheit war das Fehlen von Zahnschmelz, was ebenfalls ein generelles Merkmal der Nebengelenktiere ist. Die Zähne wurden weitgehend aus Orthodentin und Osteodentin, die beiden härtesten Varianten des Zahnbeins, gebildet. Mit Ausnahme der vordersten beiden Zähne wiesen die Kauflächen aller Backenzähne drei querstehende lappenartige (trilobate) Bildungen auf. Jede einzelne Lobe bestand aus einem Mantel aus deutlich mineralisiertem Orthodentin (ursprünglich auch als Zahnzement beschrieben) und einem Inneren aus weniger stark ausgehärtetem Zahnbein. Im Zentrum erhob sich jeweils eine kleine, querstehende Rippe aus sehr hartem Osteodentin, wobei eine entlang der Zahnmittelachse verlaufende Leiste die drei Rippen miteinander verband. Damit unterschieden sich die Zähne der Glyptodonten von denen der heutigen Gürteltiere mit ihrer generell stift- oder nagelartigen Form. Sie ähnelten dagegen den Backenzähnen der Pampatheriidae, ebenfalls panzertragende Verwandte der Gürteltiere, die zwei querstehende Loben besaßen. Generell waren die Zähne sehr hochkronig und wurzellos und wuchsen dadurch lebenslang, wodurch es wie bei anderen Nebengelenktieren auch nicht zu einem Zahnwechsel kam. Im Gegensatz zu anderen Gruppen der Höheren Säugetiere sind bei Glyptodonten nur wenige Fälle bei der Ausbildung überzähliger Zähne bekannt. Eines der wenigen Beispiele liegt von einem Individuum der Gattung Boreostemma aus dem Mittleren Miozän vor, das im Oberkiefer einen zusätzlichen vorderen Zahn besaß.
Körperskelett
Besondere Skelettmerkmale befinden sich an der Wirbelsäule. Charakteristisch für alle Gepanzerten Nebengelenktiere ist die Fusion der Wirbel der Halswirbelsäule, wobei in der Regel der Atlas (vorderster Halswirbel) frei beweglich ist, die hinteren aber eine zusammengewachsene Knochenstruktur darstellen. Zusätzlich waren bei den Glyptodonten noch der zweite, dritte und vierte Brustwirbel fest verwachsen (trivertebrales Element). Darauf folgte eine knöcherne Röhre, bestehend aus neun Brustwirbeln. Die Anzahl der Lendenwirbel variierte innerhalb der Glyptodonten auf Artebene, Vertreter der nordamerikanischen Gattung Glyptotherium wiesen zwischen 5 und 9 auf. Allerdings waren die Wirbel der Lendenwirbelsäule ebenfalls fest verwachsen, womit die Glyptodonten den höchsten Grad an Wirbelfusionen unter allen Säugetieren zeigten. Dadurch traten bei diesen aber die für die Nebengelenktiere typischen und namengebenden xenarthrischen Gelenke (Nebengelenke oder Xenarthrale) an den seitlichen Gelenkfortsätzen der Lenden- und der hinteren Brustwirbel nicht auf, was als einzigartiges Merkmal anzusehen ist.
Der Bewegungsapparat zeigte vor allem an den Hinterbeinen Besonderheiten. Diese waren ähnlich denen der heutigen Elefanten gestaltet und wiesen Anpassungen an einen extrem schweren Körperbau auf. In den Proportionen übertrafen die Glyptodonten dabei die heutigen Elefanten und gehörten damit zu den am stärksten auf einen schweren Gang angepassten Landwirbeltieren. Weiterhin war das Becken vollständig mit dem Panzer verwachsen und dadurch unbeweglich. Am Oberschenkelknochen bildete sich typisch für Nebengelenktiere ein dritter Trochanter als Muskelansatzstelle aus, der aber sehr weit unten lag und kontinuierlich in das untere Gelenkende überging. Schien- und Wadenbein waren fest an den Enden miteinander verwachsen. Die Hände und Füße besaßen einen relativ ursprünglichen Aufbau ohne stärkere Spezialisierungen. Die jeweils ersten Phalangen (Finger- und Zehenglieder) waren deutlich gekürzt. Finger und Zehen endeten in eher huf- als krallenartigen Bildungen. Insgesamt erinnerten die Vorder- und Hinterfüße an jene der Elefanten. Frühe Glyptodonten hatten jeweils fünfstrahlige Hände und Füße (pentadactyl). Die späteren Formen reduzierten an den Autopodien den innersten Strahl (Strahl I) und verfügten demzufolge über vierstrahlige Hände und Füße (tetradactyl), mit Ausnahme von Glyptodon und seiner näheren Verwandtschaft, die den pentadactylen Hinterfuß beibehielten.
Panzer
Die Gepanzerten Nebengelenktiere sind die einzigen Säugetiere, bei denen ein äußerer, knöcherner Panzer ausgebildet ist. Im Gegensatz zu den heutigen Gürteltieren war der Rückenpanzer bei den Glyptodonten starr und unbeweglich. Er bedeckte den gesamten Rumpf der Tiere und bestand aus einem Mosaik von mehreren hundert bis zu 1800 einzelnen Knochenplättchen (Osteoderme), die sich in der Haut bildeten und meist wie bei den heutigen Gürteltieren mit Horn überzogen waren. Die Form des Panzers variierte und war bei Doedicurus etwa stark kuppelartig aufgewölbt, bei Glyptodon weniger deutlich und bei Neosclerocalyptus markant flach. Bei größeren Formen wie Panochthus und Glyptodon maß der Panzer zwischen 127 und 194 cm in der Länge, wobei sich unter Berücksichtigung der Krümmung die Werte auf 146 bis 220 cm belaufen. Auch die Knochenplättchen zeigten je nach Gattung eine unterschiedliche Gestaltung, häufig besaßen sie aber einen vieleckigen Umriss. Teilweise wiesen sie oberflächlich eine auffällig rosettenartige Ornamentierung mit einer mehr oder weniger zentral gelegenen Musterung auf, um die konzentrisch in einer oder mehreren Reihen weitere angeordnet waren. Die einzelnen Musterungen hoben sich durch Furchen (Sulci) voneinander getrennt ab. Im Querschnitt hatten die Osteoderme analog zu denen der Gürteltiere einen mehrlagigen Aufbau: Innen und außen befand sich eine feste Knochenschicht, dazwischen ein Raum mit luftgefüllten Kammern, in denen möglicherweise auch Schweiß- und Talgdrüsen sowie Haarfollikel eingebettet waren. Dieser Innenraum nimmt bis zur Hälfte des Volumens des gesamten Knochenplättchens ein. Bei den Glyptodonten war er wesentlich regelmäßiger aufgebaut als im Vergleich zu den Gürteltieren.
Auch der Schädel war durch einen Kopfschild geschützt, der den Kopf helmartig bedeckte. Zudem sind bei einigen Vertretern auch auf der Bauchseite und an den Beinen Osteoderme nachgewiesen, die aber unregelmäßig gestaltet und nicht miteinander verwachsen waren. Der eher kurze Schwanz war ebenfalls vollständig gepanzert. Die Panzerung bestand hier aus mehreren knöchernen Ringen, die lose miteinander verbunden waren und so dem Schwanz eine hohe Flexibilität gaben. Jeder Ring war aus zwei oder drei Reihen von Knochenplättchen aufgebaut. Bei einigen Gattungen wie Glyptodon wies der Schwanz ein relativ kurzes Ende auf. Andere Formen wie Doedicurus, Panochthus oder Castellanosia hatten nur im vorderen Bereich Ringe ausgebildet. Die Osteoderme des hinteren Schwanzteils waren bei diesen dagegen komplett verwachsen und umhüllten den Schwanz vollständig. Sie bildeten eine röhrenartige, knöcherne Keule, die bis zu über einen Meter lang werden konnte und einen Durchmesser von bis zu 30 cm besaß. Teilweise war das Ende auch verdickt, häufig befanden sich aber auf der Oberfläche ovale Eintiefungen mit aufgerauter Oberfläche. Bei Hoplophorus und Panochthus ragten aus diesen Vertiefungen kegelförmig gestaltete Knochenbildungen auf, bei anderen Vertretern nehmen einige Wissenschaftler an, dass dort ursprünglich dornartige Stachel aus Keratin ausgebildet waren. Die Schwanzgestaltung ist einmalig unter den Säugetieren und stellt eine konvergente Entwicklung zu den Ankylosauriern dar. Diese Konvergenzen betreffen etwa die Versteifung und Verdickung des hinteren Schwanzabschnittes, aber auch die Teilverwachsung der Rückenwirbel und die Ausbildung eines knöchernen Hautpanzers sowie eine enorme Körpergewichtszunahme.
Verbreitung und Lebensraum
Die Familie der Glyptodontidae lebte ausschließlich auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Sie entstand im Eozän in Südamerika, möglicherweise in der Region des heutigen Patagonien, und breitete sich von dort sukzessive nach Norden und Süden aus. Bedeutend sind hier die Funde der Santa-Cruz-Formation im Übergang vom Unteren zum Mittleren Miozän im Süden des Kontinents, deren zahlreiche Funde angeben, dass die Glyptodonten damals in ihrer frühen Entwicklungsphase in einem Mosaik aus offenen und teils geschlossenen Landschaften lebten. Im Pliozän erreichten sie erstmals Nordamerika, was durch die Schließung des Isthmus von Panama und der Entstehung einer Landbrücke ermöglicht wurde, wonach der Große Amerikanische Faunenaustausch einsetzte. Dadurch besaßen die Glyptodonten im Pleistozän ihr größtes Verbreitungsgebiet und kamen dann von Südamerika vom 49. südlichen Breitengrad bis nach Nordamerika etwa um den 36. nördlichen vor. Sie bewohnten damals weitgehend offene Landschaften in sowohl kühlen bis kalten, trockenen, wüstenartigen Regionen, kamen aber auch in tropischen Gebieten vor. Zudem waren sie in dieser Zeit auch in der Andenregion auf bis mehr als 3300 m, teilweise auch bis über 4000 m, über Meeresspiegelhöhe anzutreffen, was zu den höchsten Nachweisen von Nebengelenktieren gehört. Eine mitunter für einige Formen angenommene Lebensweise in sumpfigen Gebieten oder Auenlandschaften wird meist mit Hinweis auf den Bau der Gliedmaßen und den Anpassungen an offene Landschaften abgelehnt.
Paläobiologie
Fortbewegung
Heutige Gürteltiere sind mit wenigen Ausnahmen, etwa den Kugelgürteltieren, gute Gräber, die mit spezialisierten Vorderfüßen und robusten Vordergliedmaßen an eine grabende Lebensweise angepasst sind. Dazu gehören unter anderem der kräftige und teilweise verlängerte Mittelfinger und der sehr ausgedehnte obere Gelenkfortsatz der Elle, das Olecranon. Es wird angenommen, dass die Grabfähigkeit ursprünglich bei allen Gepanzerten Nebengelenktieren ausgebildet war und erst später eine Anpassung an rein bodenbewohnende Lebensweisen erfolgte. Ein Großteil der Glyptodontidae, so unter anderem die frühen Vertreter wie Propalaehoplophorus, aber auch zahlreiche spätere Formen besitzen ein moderat gebautes Olecranon, das nicht auf spezialisierte Gräber hinweist. Ebenso ist der Aufbau der Hand eher ursprünglich und somit abweichend von den Gürteltieren. Die extrem großen späten Formen wie Glyptodon und Doedicurus weisen aber massige obere Ulnagelenkfortsätze auf, die bei jeweils 24 cm Knochenlänge bis zu 11 cm lang sind. Hier wird argumentiert, dass dieser kräftig gebaute Vorderarm eine Anpassung an das sehr hohe Körpergewicht ist. Zudem diente er wohl auch dazu, den Körper abzufedern, wenn ein Tier aus einem zweifüßigen Stand in eine vierfüßige Position zurückkehrte. Dass sich die Glyptodonten auf die Hinterbeine aufrichten konnten, zeigen vor allem die extrem starken Knochen der Hinterbeine, die auch nach histologischen Untersuchungen an Gliedmaßenelementen von Lomaphorus deutlich kompakter gebaut sind als die Vorderbeine. Zudem befindet sich das Zentrum der Körpermasse sehr weit hinten am Rumpf und unterstützte so das Aufrichten. Auch die heutigen Gürteltiere und Ameisenbären vermögen in eine zweibeinige Position zu wechseln, die überwiegend bei der Nahrungssuche und zur Verteidigung eingenommen wird.
Häufig wird der Bau des Innenohrs für die Bewegungsfähigkeit zu Rate gezogen. Hier sind vor allem die Bogengänge von Bedeutung. Deren Orientierung und Lage zueinander ermöglichen Aussagen über den Gleichgewichtssinn und somit auch die Rotationsfähigkeit des Kopfes. Darüber hinaus hat die Weite der Bogengänge Einfluss auf die Agilität eines Tieres. Die optimale Lage der drei Bogengänge zueinander liegt bei jeweils rund 90°. Bei den untersuchten Glyptodonten, hier den Gattungen Glyptodon, Doedicurus, Panochthus und Pseudoplohophorus, stehen die Bogengänge in einem spitzeren Winkel zueinander, was mit zahlreichen grabenden Tieren einschließlich der Gürteltiere übereinstimmt und eine eher geringe Beweglichkeit beziehungsweise Rotationsfähigkeit des Kopfes impliziert. Die Bogengänge selbst sind eng und vergleichsweise dick gegenüber denen der Gürteltiere und der Pampatheriidae. Generell wird daher die Agilität der Tiere als niedrig eingeschätzt. Jedoch bestehen bei den verschiedenen untersuchten Formen der Glyptodonten einzelne Unterschiede. So weist Glyptodon in Relation zu den anderen drei Gattungen einen kleineren seitlichen Bogengang auf. Dies könnte koordinative Auswirkungen beinhalten, da Glyptodon als einziger Angehöriger kein keulenartiges Schwanzende besaß, das von den drei anderen Vertretern eventuell als Verteidigungswaffe eingesetzt wurde.
Direkte Belege für die Fortbewegung der Glyptodonten in Form von Spurenfossilien sind bisher nur wenig bekannt. Die umfangreichsten kamen in Pehuén-Có bei Bahía Blanca in der argentinischen Provinz Buenos Aires zu Tage. Diese 1986 entdeckte Fundstelle mit einem Alter von rund 12.000 Jahren birgt auf einer Fläche von rund 1,5 km² eine große Anzahl an Trittsiegeln unterschiedlichster Säugetiere und Vögel, die in ein ursprünglich weiches Substrat eingedrückt sind. Darunter befinden sich rundliche Abdrücke mit fünf beziehungsweise drei kurzen Zehen. In Form und Größe stimmen sie mit der anatomischen Rekonstruktion der Füße von Glyptodon überein, wobei die fünfstrahligen Abdrücke als Hinterfüße, die dreistrahligen als Vorderfüße interpretiert werden (die Vorderfüße von Glyptodon sind eigentlich vierstrahlig, der äußere Strahl V steht seitlich ab und ist klein, sodass er möglicherweise keinen Abdruck hinterließ). Die Maße der Hinterfußabdrücke betragen 18,5 × 18,5 cm, die der Vorderfüße 17 × 10 cm. Die Funde werden der Spurengattung Glyptodontichnus zugewiesen. Die Seltenheit von Glyptodonten-Spurenfossilien im Gegensatz zu dem reichhaltigen anatomischen Fossilreport erklären einige Forscher damit, dass die großen Tiere Landschaften mit weichem Untergrund aufgrund größerer Verletzungsgefahr mieden.
Ernährung
Aufgrund der zahnschmelzlosen Zähne sind keine Abriebspuren erkennbar, auch gibt es keine Überreste von Nahrung in Form von Koprolithen, um die Ernährungsweise genauer zu untersuchen. Die extrem hochkronigen Zähne lassen möglicherweise eine Ernährung hauptsächlich von Gras annehmen. Für stammesgeschichtlich frühe Vertreter wird aber auch gemischte Pflanzenkost als Hauptnahrung vermutet. Dies lässt sich unter anderem aus der relativen Breite der Schnauze schlussfolgern. Heutige grasfressende Huftiere haben meist ein vergleichsweise weites Maul gegenüber den schmalschnauzigeren, stärker selektiven Blattfressern. Für zahlreiche frühe Glyptodonten aus dem Miozän wie Propalaehoplophorus oder Cochlops kann ein eher schmales Rostrum rekonstruiert werden, während dieses bei späten Formen aus dem Pleistozän wie Doedicurus oder Panochthus deutlich breiter war. Die beiden ersteren ernährten sich wohl demzufolge stärker wählerisch als die beiden letzteren. Ähnlich wie Propalaehoplophorus und Cochlops ist auch Glyptodon einzuschätzen, dessen Schnauze allgemein schmaler war als bei seinen pleistozänen Zeitgenossen. In der Struktur des Gebisses ähneln Glyptodonten den Rindern und afrikanischen Nashörnern, ersteren fehlen Schneidezähne im Oberkiefer, letzteren zudem auch im Unterkiefer. Beide Gruppen benutzen ihre beweglichen Lippen zur Nahrungsaufnahme, was auch bei den Glyptodonten angenommen werden kann. Aufgrund der besonderen Gestaltung des Schädels mit der kurzen Schnauze hat sich bei den Glyptodonten ein abweichender Kauapparat entwickelt. Die Schädelkürzungen hatten zur Folge, dass der Hirnschädel über die hintere Hälfte der Zahnreihe ragt, eine Kondition, die bei den verwandten Gürteltieren nicht auftritt und zu einer abweichenden Anordnung der Kaumuskulatur führt.
Im Vergleich zur Körpergröße der Tiere ist darüber hinaus die gesamte verfügbare Kauoberfläche des Gebisses eher klein. So besaß Plohophorus bei einem Körpergewicht von schätzungsweise 260 kg eine Kaufläche von knapp 900 mm², einem etwa gleich großen Steppenzebra stehen dagegen 2600 bis 2830 mm² zur Verfügung, beim Flachlandtapir bewegt sie sich zwischen 1930 und 2240 mm². Für Doedicurus lässt sich wiederum eine Kauoberfläche von etwa 1800 mm² bei einem Körpergewicht von rund 1,5 t ermitteln. Hier liegen Vergleichswerte beim etwa gleich großen Java-Nashorn bei rund 6250 mm². Aufgrund dieser Merkmale und in Verbindung mit der besonderen Gestaltung des Unterkiefers – so liegt der hinterste Zahn durch den schräg nach vorn ragenden Gelenkast direkt unterhalb des Unterkiefergelenkes und nicht wie sonst üblich deutlich davor – ergibt sich, dass Glyptodonten ihre Nahrung offensichtlich weniger effizient kauen konnten. Da dadurch die Nahrung in einem geringeren Maß zerkleinert wurde, durch die teils enorme Größe der Tiere aber entsprechend hohe Nahrungsmengen aufgenommen werden mussten, gehen Wissenschaftler von einer insgesamt niedrigen Stoffwechselrate für diese Tiere aus. Allerdings zeigt das Zungenbein eine robuste Gestaltung, die eine sehr gut ausgeprägte und bewegliche Zunge annehmen lassen, die möglicherweise die Nahrungsaufnahme und den Verdauungsprozess im Maul unterstützte.
Sozialverhalten und Individualentwicklung
Über das Sozial- und Fortpflanzungsverhalten der Glyptodonten ist kaum etwas bekannt, heutige Gürteltiere sind einzelgängerisch und kommen nur zur Paarungszeit zusammen. Die Wurfgröße ist artspezifisch und variiert zwischen 1 und 3 Jungtieren bei den meisten Vertretern und bis zu 12 bei einigen Angehörigen der Langnasengürteltiere. Jungtiere von Glyptodonten sind teils gut belegt. Mit diesen aufgefundene Osteoderme besitzen eine hohe Dicke und eine wenig ausgeprägte Oberflächenmusterung. Dies gibt an, dass der Panzer analog zu den heutigen Gürteltieren erst nach der Geburt vollständig ausformte und aushärtete. Als äußerst selten sind Funde von ungeborenen Individuen im Rückenpanzer von Alttieren anzusehen. Ein Beispiel wurde in Monte Cercado im südlichen Bolivien entdeckt und gehört zu Glyptodon, ein weiteres liegt aus der Sopas-Formation in Uruguay vor und repräsentiert Neuryurus. Am Unterkiefer des erstgenannten Fundes waren bereits einzelne Zähne durchgebrochen, ob Glyptodonten aber voll bezahnt zur Welt kamen, ist unklar. Schädeluntersuchungen zeigten wiederum auf, dass die Zähne von hinten nach vorn durchbrechen, die ausgesprochene Hochkronigkeit jedoch schon bei jungen Individuen bestand.
Funktion des Panzers und Verteidigung
Es gilt als wahrscheinlich, dass sich der Panzer ursprünglich nicht aufgrund der Bedrohung durch Fressfeinde entwickelte, sondern möglicherweise als Schutz vor stacheliger Vegetation fungierte. Erst in zweiter Linie schützte er vor größeren Beutegreifern, die damals in Südamerika von den Phorusrhacidae („Terrorvögeln“) und Raubbeutlern wie etwa den Vertretern der Borhyaenidae und der Thylacosmilidae gestellt wurden. Als sekundäre Funktion diente er wohl auch als Abschluss eines Fettspeichers oberhalb des Brustbereiches, ähnlich den Höckern der Kamele. Hier ist der Panzer nicht mit der Wirbelsäule oder den Rippen verbunden und erhebt sich frei darüber, wodurch unter anderem bei Doedicurus ein Freiraum mit einer Höhe von rund 25 cm bestand. Da dieser Bereich kaum von Muskeln beansprucht worden sein dürfte, gehen Fachleute hier von einem Fettpolster aus.
Der lange und massive Schwanz diente wahrscheinlich auch als Gegengewicht bei der Fortbewegung, was durch die starre Wirbelsäule und das fest mit ihr verwachsene Becken notwendig wurde. Allerdings konnten ihn einige Vertreter, bei denen das Ende keulenartig verwachsen war, auch als Waffe einsetzen. Am Schwanzansatz war eine kräftige Muskulatur ausgebildet, was die massiven Fortsätze der Wirbel und der große Durchmesser der Panzerringe anzeigen. Diese allein wog Berechnungen auf Basis der Schwanzgröße zufolge bei Panochthus rund 74 kg, bei Doedicurus möglicherweise bis zu 108 kg. Das keulenartige Ende ist bei beiden 89 respektive 105 cm lang, bei einem Gewicht von 30 und 65 kg. Die vorhandene Muskelmasse ermöglichte es einzelnen Berechnungen zufolge, über das keulenartige Ende punktuell bis zu 3000 J an Energie bei einem Schlag freizusetzen (das entspricht in etwa der Menge, die ein Kugelstoßer benötigt, um die 7,3 kg schwere Kugel 16 m weit zu stoßen), wobei der Schlagpunkt im hinteren Teil der Schwanzkeule lag. Auf derartige Einsätze des Schwanzes im intraspezifischen Kampf deuten auch einige Panzer hin, die Frakturen aufweisen, so unter anderem ein Rückenpanzer von Doedicurus mit verheilten Narben von etwa 35 cm Durchmesser. Offensichtlich bestanden hierbei aber auch funktionelle Unterschiede. So weisen unter anderem frühe Vertreter von Panochthus ein eher konisches Schwanzende auf, während dieses bei späteren Formen an ein Wikingerschwert erinnert. Erstere konnten ihren Schwanz in alle Richtungen kreisen, ohne dass bei den Schlägen eine hohe Präzision erreicht wurde. Für letztere ließen sich überwiegend horizontale Bewegungen rekonstruieren, die wiederum zielgerichteter erfolgten. Bei einigen Formen, die wie Glyptodon nicht über ein keulenartiges Schwanzende verfügten, befanden sich am Rand des Körperpanzers bis zu drei Reihen hochmodifizierter Knochenplättchen, die ihn umschlossen, aber nicht mit diesem fest verwachsen waren und eine spitz-konische Form aufwiesen. Möglicherweise besaßen diese Osteoderme eine Schutzfunktion für besonders wichtige Körperteile wie den Nacken. Der älteste Nachweis vollständig ausgebildeter Schwanzkeulen wurde bisher bei Kelenkura aus dem Oberen Miozän vor rund 9 Millionen Jahren erbracht.
Ob die Glyptodonten ihren Schwanz auch gegen Fressfeinde einsetzten, ist unklar, heutige Stirnwaffenträger als Vergleich benutzen ihre Hörner und Geweihe nur äußerst selten zur Abwehr von Beutegreifern. Zumindest für die größten Vertreter wird eine derartige Bedrohung im ausgewachsenen Alter eher ausgeschlossen. Aus Nordamerika ist lediglich der Schädel eines jungen Individuums von Glyptotherium aus dem Pliozän bekannt, dessen Kopfpanzer noch nicht vollständig ausgebildet war und der Bissmarken aufweist, die zum Tod des Tieres führten. Aus der argentinischen Provinz Buenos Aires wiederum ist ein Panzer mit Resten des Körperskelettes von Eosclerocalyptus aufgefunden worden, der ebenfalls ins Pliozän datiert und dessen Wirbel wiederum Bisspuren tragen. Diese stammen wahrscheinlich von einem Kleinbären, möglicherweise von Chapalmalania, der zu jener Zeit in der Region fossil belegt ist. Allerdings entstanden sie wohl erst nach dem Tod des Glyptodonten und gehen somit auf Aasfresserei zurück.
Gehirn
Mehrere vollständige Schädel ermöglichen die Untersuchung der Gehirnstruktur. Ausgüsse der Gehirnkapsel ergeben für große Vertreter wie Glyptodon, Doedicurus und Panochthus mit Körpergewichten von 1,2 bis 2 t ein Volumen von 213 bis 234 cm³, bei kleineren wie Pseudoplohophorus, das nur etwas mehr als 200 kg wog, von 101 cm³. Der Enzephalisationsquotient liegt bei 0,12 bis 0,4, wobei das kleinere Pseudoplohophorus den größten Wert aufweist. Die Angaben liegen im unteren Bereich der heutigen Gürteltiere (0,44 bis 1,06) und entsprechen zusätzlich denen der Pampatherien. Das Gehirn der Glyptodonten verfügte über einen ausgedehnten Riechkolben, der zwischen 4,8 und 9,7 % des Gesamtgehirns in Anspruch nahm. Rund zwei Drittel wurden darüber hinaus vom Großhirn und der Rest vom Kleinhirn eingenommen. Im generellen Aufbau stimmt dies mit den Gürteltieren überein, allerdings ist bei letzteren das Großhirn im Verhältnis voluminöser und das Kleinhirn weniger umfangreich. Abweichend von den Gürteltieren mit ihrem breiten Riechkolben war dieser bei den Glyptodonten lang-schmal und spitz, ähnlich wie es sich auch bei den Pampatherien wiederfindet. Korrespondierend zu den Gürteltieren zeigte sich das Relief der Großhirnrinde als relativ einfach gestaltet. An Furchen ließ sich lediglich der Sulcus suprasylvianus des Scheitellappens ausmachen, was auch für die Pampatherien zutrifft. Der bei den Gürteltieren zusätzlich ausgebildete Sulcus praesylvianus fehlte dagegen.
Generell haben die heutigen Gürteltiere in Relation kleinere Gehirne als die Ameisenbären und Faultiere. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig. Sie könnten einerseits in einer kürzeren Aufzuchtphase des Nachwuchses liegen, andererseits auch mit der Ausbildung des Panzers und den damit verbundenen zahlreichen biologischen und funktionalen Einschränkungen zusammenhängen. Auch der extrem niedrige Stoffwechsel der Gürteltiere wäre eine potentielle Möglichkeit, da dadurch weniger Energie in die aufwendige Entwicklung des Gehirns fließt. Für die Glyptodonten wird ebenfalls ein geringer Metabolismus angenommen. Ihre gegenüber den Gürteltieren weitaus größere Statur lässt noch weitere Überlegungen zu dem kleinen Gehirn zu. Die teils enorme Körpergröße und der massive Panzer erforderten kaum Verteidigungs- und Fluchtstrategien gegenüber großen Beutegreifern, was wiederum gegen ein größeres Gehirn spricht. Ähnliches ist von den gepanzerten Ankylosauriern mit einem ebenfalls kleinen Enzephalisationsquotienten im Verhältnis zu ungepanzerten Sauriern überliefert. Als eine einschränkende funktionale Komponente kommt aber der Panzer selbst in Betracht. Dieser ermöglichte bedingt durch seine Kompaktheit nur eine schwach ausgebildete Halsmuskulatur, die den Kopf trägt und stabilisiert. Eine verminderte Gehirngröße unterstützte damit die Gewichtsverringerung des Schädels, was sich dann vor allem bei den riesigen Formen des Pleistozäns mit ihren großen Schädeln stärker auswirkte.
Parasiten und Pathologien
An einigen Rücken- und Schwanzpanzern, unter anderem von Glyptodon und Panochthus, treten mitunter rundliche Durchbohrungen von nur wenigen Millimetern Durchmesser und mit konischem Querschnitt auf. Sie ähneln parasitischen Fraßspuren, die von Flöhen, speziell der Gattung Tunga, verursacht werden. Vergleichbare Befunde wurden auch bei fossilen Gürteltieren berichtet und sind ebenso von den heutigen Vertretern der Gruppe bekannt. Da sich derartige Eintiefungen sowohl bei den Gürteltieren als auch den Glyptodonten belegen lassen und bereits an Fossilien aus dem Miozän dokumentiert sind, kann von einer langen Koevolution zwischen den gepanzerten Tieren und den Flöhen ausgegangen werden. Des Weiteren kommen oberflächliche Veränderungen an den Ornamenten der Knochenplättchen vor. Diese gehen womöglich auf Entzündungen zurück, deren Verursacher Bakterien oder Pilze waren.
Eher selten lassen sich bisher pathologische Veränderungen nachweisen. Dazu gehören unter anderem Knochendeformationen an den Füßen, besonders im Bereich der Gelenke. Sie sind in der Regel auf Enthesiopathien und Pseudogicht zurückzuführen. Einzelne Individuen zeigen dabei unter Umständen mehrere Krankheitsbilder gleichzeitig auf, was womöglich auf die Anfälligkeit vor allem der großen Glyptodonten für solche Gelenkerkrankungen verweist. Darüber hinaus könnten einige Knochendeformationen am Schädel mit Treponematose-Infektionen in Verbindung stehen.
Systematik
Äußere Systematik
Die Glyptodontidae bilden eine Familie innerhalb der Ordnung der Gepanzerten Nebengelenktiere (Cingulata). Diese Ordnung war einst formenreich in Süd- und Nordamerika vertreten. Ihr gehören weiterhin auch die ebenfalls ausgestorbenen Pampatheriidae, die Peltephilidae, die Palaeopeltidae, die Pachyarmatheriidae sowie die heute noch bestehenden Gürteltiere (Dasypoda) an. Die Gepanzerten Nebengelenktiere stellen wiederum einen Teil der Überordnung der Nebengelenktiere (Xenarthra) dar, die zusätzlich noch die Zahnarmen (Pilosa) mit den heutigen Faultieren (Folivora) und den Ameisenbären (Vermilingua) beinhalten. Die Nebengelenktiere repräsentieren eine der vier Hauptlinien der Höheren Säugetiere, die den anderen drei (zusammengefasst als Epitheria) als Schwestergruppe gegenübersteht. Eine generelle Gemeinsamkeit der Nebengelenktiere findet sich in den namengebenden xenarthrischen Gelenke (Nebengelenke, auch Xenarthrale) an den Gelenkfortsätzen der hinteren Brust- und der Lendenwirbel. Hier bilden allerdings die Glyptodontidae eine Ausnahme, da deren Lendenwirbel als einzigartiges Merkmal miteinander verwachsen sind. Der Ursprung ist bisher unbekannt, die ältesten Fossilfunde stammen aus Südamerika, datieren in das Paläozän vor mehr als 56 Millionen Jahren und werden zu den Gürteltieren gerechnet. Molekulargenetische Untersuchungen erbrachten eine Abspaltung der Nebengelenktiere von den anderen Höheren Säugetieren bereits in der ausgehenden Unterkreide vor etwa 103 Millionen Jahren. Die Gürteltiere als heute lebende, nächste Verwandte der Glyptodonten trennten sich von der gemeinsamen Linie mit den Zahnarmen zu Beginn des Paläozän vor etwa 65 Millionen Jahren ab.
Die innere Gliederung der Gepanzerten Nebengelenktiere ist nicht vollständig gesichert und gegenwärtig im Fluss. Von größerer Bedeutung sind hier die Pampatheriidae, die in einer klassischen Auffassung als die nächsten Verwandten der Glyptodonten gelten. Diese charakterisieren sich durch einen Rückenpanzer, der ähnlich dem der Gürteltiere mit beweglichen Bändern zwischen einem starren Schulter- und Beckenschild versehen ist. Abweichend von den Gürteltieren mit ihrer variablen Anzahl an beweglichen Bändern waren es bei den Pampatherien zumeist drei. Mit einem Gewicht von über 200 kg für einige Formen des späten Pleistozäns, etwa Pampatherium und Holmesina, erreichten sie auch deutlich größere Ausmaße als die Gürteltiere, allerdings zeichnet sie die Gestaltung der Vorderbeine als nicht so geschickte Gräber aus. Aufgrund des markanten Baus des Panzers hielt man die Pampatherien ursprünglich für näher verwandt mit den Gürteltieren und führte sie innerhalb dieser als Unterfamilie. Untersuchungen an Schädeln und Zähnen erwiesen dagegen, dass sich Pampatherien und Glyptodonten näher stehen. Dies ergab sich unter anderem aus der Struktur des Gehörganges und dem Bau des Kauapparates, wie dem hohen Unterkiefer, aber auch aufgrund der komplexer gestalteten Zähne. Letztere sind bei den Gürteltieren einfach nagelartig gebaut, bei den Pampatherien aber durch zwei querstehende Loben, bei den Glyptodonten durch drei charakterisiert. Beide Familien bilden zusammen die übergeordnete Gruppe der Glyptodonta. Die weiteren Gruppen – Palaeopeltidae, Peltephilidae und Pachyarmatheriidae – stehen in einem mehr oder weniger engen Verhältnis zu den übrigen Gepanzerten Nebengelenktieren, wobei letztere möglicherweise die Schwestergruppe der Glyptodonta repräsentieren.
Die Beziehungen der Glyptodonten zu den heutigen Gürteltieren unterliegen einer bis heute anhaltenden fachwissenschaftlichen Debatte. Die anfänglich favorisierte Zweiteilung der Gepanzerten Nebengelenktiere in die Großgruppen der Gürteltier- und Glyptodonten-Verwandtschaft wurde durch modernere phylogenetische Untersuchungen basierend auf anatomischen Merkmalen im Jahr 2006 weitgehend aufgehoben. Die Analyse ergab eine deutlich nähere Bindung der Glyptodonta (Glyptodonten und Pampatherien) an die Gürteltiere und ordnete sie in eine evolutionäre Entwicklungslinie. Im Ergebnis bildeten die Glyptodonta eine gemeinsame Klade mit den Euphractinae, denen unter anderem das heutige Sechsbinden-Gürteltier angehört. Verfeinerte Studien in Verbindung mit weiterem Fossilmaterial im Jahr 2011 rückten die Glyptodonta noch tiefer in die Gürteltiere hinein, da sie eine Nahbeziehung zu den Eutatini vermuten ließen, letztere, benannt nach der Charakterform Eutatus, stellen einen ausgestorbenen Seitenzweig der euphractinen Gürteltiere dar. Dadurch wurden aber die Gürteltiere an sich zu einer paraphyletischen Gruppe. Den skelettanatomischen Analysen stehen molekulargenetische Untersuchungen aus dem Jahr 2016 gegenüber, die neben den Gürteltieren auch die ausgestorbene Glyptodonten-Gattung Doedicurus einschlossen. Sie bestätigen generell die sehr nahe Verwandtschaft der beiden Gruppen. Im Gegensatz zu der skelettanatomisch festgestellten Beziehung zu den Euphractinae unterstützen die genetischen Daten jedoch ein Nahverhältnis der Glyptodonten zu einer Klade bestehend aus den Chlamyphorinae, welche die Gürtelmulle stellen, und den Tolypeutinae, innerhalb derer die Kugelgürteltiere, die Nacktschwanzgürteltiere sowie das Riesengürteltier vereint sind. Demnach wären die Glyptodonten die Schwestergruppe dieser beiden Unterfamilien, die Trennung der beiden Linien erfolgte im Übergang vom Eozän zum Oligozän vor etwa 35 Millionen Jahren. Sowohl nach den anatomischen wie auch den molekulargenetischen Untersuchungsergebnissen wären die Glyptodonten somit lediglich als Seitenzweig der Gürteltiere anzusehen und würden keine eigenständige Entwicklungslinie innerhalb der Gepanzerten Nebengelenktiere darstellen. Zum genauen taxonomischen Status der Glyptodonten finden sich unterschiedliche Auffassungen. Einige Forscher sehen die Glyptodonten lediglich auf der Ebene einer Unterfamilie (Glyptodontinae) innerhalb der Gürteltiere, andere behalten den Familienstatus vorerst bei. Die Position der Pampatherien ist unklar, da bisher noch keine DNA-Untersuchungen dazu vorliegen. Allerdings unterstützen anatomische Untersuchungen am Innenohr sowohl die nahe Position der Glyptodonten zu den Chlamyphorinae als auch ihre enge Verwandtschaft mit den Pampatherien.
Innere Systematik
In einer häufig zitierten Ansicht wird die Familie der Glyptodonten in fünf Unterfamilien unterteilt. Sehr urtümlich erscheinen die Glyptatelinae als basale Gruppe. Sie waren auf das Eozän und das Oligozän beschränkt und wiesen noch sehr ursprüngliche Merkmale der Osteoderme und Zähne auf. So sind erstere nicht so symmetrisch-rosettenartig aufgebaut wie bei stammesgeschichtlich jüngeren Glyptodonten, sondern weisen ein dezentral liegendes Hauptmuster auf. Insgesamt gelten sie aber als nur wenig erforscht. Die Propalaehoplophorinae traten erstmals im Oberen Oligozän auf, verschwanden aber im Oberen Miozän wieder. Sie waren deutlich weiter entwickelt als die Glyptatelinae, aber weniger modern als die späteren Glyptodonten. Gegenüber diesen zeichnen sie sich durch etwas längere Schädel mit einer weiter ausgedehnten Schnauze aus, ebenso wie durch das Vorhandensein von bis zu sechs beweglichen Bändern an den Seitenrändern des Rückenpanzers, was als ursprünglicher Zustand innerhalb der Glyptodonten gilt. Allerdings weisen die Osteoderme bereits eine symmetrische Form und meist eine zentrale Musterung auf. In ihrer Körpergröße blieben sie mit etwa 70 bis 115 kg noch deutlich hinter den späteren Formen zurück.
Die anderen drei Unterfamilien umfassen die „Hoplophorinae“ (= Sclerocalyptinae), die Doedicurinae und die Glyptodontinae. Die „Hoplophorinae“ stellen die formenreichste Gruppe mit circa 60 % aller bekannten Taxa dar. Die Unterfamilie ist insgesamt über einige, nur unzureichend definierte Merkmale charakterisiert, daher sehen einige Untersuchungen sie nicht als monophyletische Gruppe an. Sie wird daher teilweise als Sammelgruppe für Vertreter aufgefasst, die moderner erscheinen als die Propalaehoplophorinae, aber außerhalb der Glyptodontinae und Doedicurinae stehen. Die große Heterogenität der Unterfamilie schlägt sich auch in der Aufstellung von wenigstens sechs weiteren Untergruppierungen nieder (etwa die Hoplophorini, Panochthini, Plohophorini), die für sich genommen teilweise wieder stark angezweifelt werden. Mitunter als Resultat daraus lösten einzelne Fachwissenschaftler verschiedentlich weitere Unterfamilien aus den „Hoplophorinae“ heraus. Zu den bedeutendsten Entwicklungen innerhalb der „Hoplophorinae“ gehört die Ausbildung eines keulenartigen Schwanzendes. Die Doedicurinae und Glyptodontinae umfassen stammesgeschichtlich jüngere Glyptodonten, die moderner waren als die Propalaehoplophorinae. Dabei charakterisieren die Doedicurinae eine ausgeprägte Schwanzkeule und Knochenplättchen, die kaum ornamentiert sind. Die Gruppe ist aber bis auf den namengebenden Vertreter weitgehend wenig erforscht und fast nur anhand der Panzerung bekannt. Die Glyptodontinae wiederum behielten die Gestaltung der Osteoderme der Propalaehoplophorinae weitgehend bei, entwickelten aber kurze Schwänze ohne keulenartig verwachsenes Ende.
Ein von dieser traditionellen Gliederung abweichendes Ordnungsschema der Glyptodonten ergaben kladistische Analysen des Jahres 2008. Die ganze Gruppe der Glyptodonten in der klassischen Auffassung wurde auf die Ebene der Unterordnung der Glyptodontia angehoben. Die eigentlichen Glyptodontidae beschränken sich auf die stammesgeschichtlich moderneren Formen. Innerhalb der Glyptodontidae wurden die Doedicurinae mit den Glyptodontinae vereint, eine Aufteilung erfolgt hier nur noch auf der Ebene der Tribus. Zur Seite der Glyptodontinae stehen die Plohophorinae und einzelne weitere Triben. Nicht zu den Glyptodontidae gehörig, sondern als eigenständig erwiesen sich die Panochthidae, die in die beiden Triben der Panochthini und der Neosclerocalyptini differenziert werden. Die Glyptodontidae und die Panochthidae wiederum formen die Überfamilie der Glyptodontoidea. Die häufig als paraphyletisch angenommenen Propalaehoplophorinae stellten sich als monophyletisch heraus, formen aber nun als eigenständige Familie eine Linie außerhalb der Glyptodontoidea. Hier erhielten zudem die Glyptatelinae einen Familienstatus. Die problematischen „Hoplophorinae“ wurden dagegen aufgelöst, die meisten der enthaltenen Gattungen sind aber in diesem Gliederungsschema nicht einer genaueren Gruppe zuordenbar, sie gelten somit als incertae sedis. In dieser Sichtweise bestehen die Glyptodontia derzeit aus vier Familien: den Glyptatelidae, den Propalaehoplophoridae, den Panochthidae und den Glyptodontidae.
In weiteren phylogenetischen Studien wird teilweise zwischen einer „nördlichen“ und „südlichen Klade“ unterschieden. Erstere umfasst weitgehend die klassischen Glyptodontinae, letztere die Propalaeohoplophorinae, die „Hoplophorinae“ und die Doedicurinae. Beide Linien bilden in sich geschlossene Gruppen, wobei in der „südlichen Klade“ die angenommenen höheren taxonomischen Einheiten sich stärker mischen und so als eher paraphyletisch aufzufassen sind. Definierende Unterschiede zwischen den beiden Gruppen finden sich unter anderem in der Panzergestaltung. So kam es in der „nördlichen Klade“ nicht zu einer Ausbildung einer komplexen Schwanzpanzerung, während sich in der „südlichen“ eine teils massive Schwanzkeule herausformte.
Überblick über die Gattungen
Insgesamt sind etwa 65 Gattungen der Glyptodontidae bekannt, womit die Familie sehr formenreich war. Die meisten der Taxa sind aber nur unzureichend überliefert, ihre Beschreibung basiert in der Regel auf Resten der Panzerung. Nur bei den wenigsten Formen sind auch Schädel oder Körperskelettteile bekannt. Traditionell erfolgt die Unterscheidung der einzelnen Arten und Gattungen der Glyptodonten anhand der Form der Knochenplättchen des Panzers und der Gestaltung der Schwanzpanzerung und nicht, wie sonst bei Säugetieren üblich, mit Hilfe von Schädel- und Gebissmerkmalen. Aus diesem Grund ist es teilweise auch schwierig, isoliertes Skelettmaterial bestimmten Taxa zuzuweisen, die sonst nur durch Panzerreste bekannt sind. Das hier verwendete Ordnungssystem folgt weitgehend McKenna und Bell 1997, wobei neuere Entwicklungen berücksichtigt wurden.
Familie: Glyptodontidae Gray, 1869
Paraeucinepeltus González-Ruiz, Zurita, Scillato-Yané, Zamorano & Tejedor, 2011
Parapropalaehoplophorus Croft, Flynn & Wyss, 2007
Kelenkura Barasoain, Zurita, Croft, Montalvo, Contreras, Miño‑Boilini & Tomassini, 2022
Unterfamilie: Glyptatelinae Castellanos, 1932
Glyptatelus Ameghino, 1897
Clypeotherium Scillato-Yané, 1977
Unterfamilie: Propalaeohoplophorinae Castellanos, 1932
Propalaehoplophorus (= Propalaeohoplophorus) Ameghino, 1887
Cochlops (= Metopotoxus) Ameghino, 1889
Eucinepeltus Ameghino, 1891
Asterostemma Ameghino, 1889
Unterfamilie: „Hoplophorinae“ Huxley, 1864
Asymmetrura Fariña, 1981
Caudaphorus Fariña, 1981
Uruguayurus Mones, 1987
Tribus: Hoplophorini Huxley, 1864
Hoplophorus (= Sclerocalyptus) Lund, 1838
Eosclerocalyptus Ameghino, 1919
Hoplophractus Cabrera, 1939
Trachycalyptus Ameghino, 1908
Berthawyleria Castellanos, 1939
Parahoplophorus Castellanos, 1932
Isolinia Castellanos, 1951
Stromaphoropsis Kraglievich, 1932
Eosclerophorus Castellanos, 1948
Trabalia Kraglievich, 1932
Neosclerocalyptus Paula Couto, 1957
Eonaucum Scillato-Yané & Carlini, 1998
Chacus Zurita, 2002
Tribus: Palaehoplophorini Hoffstetter, 1958
Palaehoplophorus (= Palaeohoplophorus) Ameghino, 1883
Aspidocalyptus Cabrera, 1939
Chlamyphractus Castellanos, 1939
Pseudoeuryurus Ameghino, 1889
Protoglyptodon Ameghino, 1885
Palaehoplophoroides Scillato-Yané & Carlini, 1998
Tribus: Lomaphorini Hoffstetter, 1958
Peiranoa Castellanos, 1946
Lomaphorops Castellanos, 1932
Lomaphorus Ameghino, 1889
Trachycalyptoides Saint-André, 1996
Tribus: Plohophorini Castellanos, 1932
Coscinocercus Cabrera, 1939
Phlyctaenopyga Cabrera, 1944
Stromaphorus Castellanos, 1926
Plohophorops Rusconi, 1933
Plohophorus (= Urotherium) Ameghino, 1887
Nopachtus Ameghino, 1888
Propanochthus Castellanos, 1925
Pseudoplohophorus Castellanos, 1926
Tesseiria Kraglievich, 1932
Plohophoroides Castellanos, 1928
Zaphilus Ameghino, 1889
Tribus Panochthini Castellanos, 1927
Panochthus Burmeister, 1866
Parapanochthus Moreira, 1971
Tribus: Neuryurini Hoffstetter, 1958
Neuryurus (= Euryurus) Ameghino, 1889
Unterfamilie: Doedicurinae Ameghino, 1889
Eleutherocercus Koken, 1888
Prodaedicurus (= Palaeodoedicurus, Thoracophorus) Castellanos, 1927
Comaphorus Ameghino, 1886
Castellanosia Kraglievich, 1932
Xiphuroides Castellanos, 1927
Doedicurus Burmeister, 1874
Doedicuroides Castellanos, 1941
Plaxhaplous Ameghino, 1884
Unterfamilie: Glyptodontinae Gray, 1869
Boreostemma Carlini, Zurita, Scillato-Yané, Sánchez & Aguilera, 2008
Andinoglyptodon Salas-Gismondi, Ochoa, Gamarra, Pujos, Foster & Tejada, 2023
Tribus: Glyptodontini Gray, 1869
Glyptodontidium Cabrera, 1944
Glyptodon (= Chlamydotherium, Glyptocoileus, Glyptopedium, Lepitherium, Neothoracophorus?, Pachypus, Paraglyptodon, Pseudothoracophorus, Schistopleurum) Owen, 1839
Stromatherium Castellanos, 1953
Glyptostracon Castellanos, 1938
Heteroglyptodon Roselli, 1976
Tribus: Glyptotheriini Castellanos, 1953
Glyptotherium (= Brachyostracon, Boreostracon, Neothoracophorus?, Xenoglyptodon) Osborn, 1903
Stammesgeschichte
Adaptive Radiation und Ursprünge
Zahlreiche Linien der Glyptodonten erfuhren eine starke Körpergrößenzunahme, vor allem im letzten Abschnitt des Pleistozäns. Erklärt wird diese teilweise mit der Bergmannschen Regel, nach der die Tiere unter den kühleren Bedingungen der Eiszeit größer wurden. Einen stärkeren Einfluss hierbei haben allerdings auch die verfügbaren Nahrungsressourcen, sodass Formen aus höheren Bergregionen mit ihrem begrenzteren Pflanzenangebot dieser Regel nicht zwingend unterlagen. Andere Erklärungsversuche führen den Konkurrenzdruck an, der durch einwandernde Pflanzenfresser aus Nordamerika im Zuge des Großen Amerikanischen Faunenaustausches seit dem Pliozän entstand. Weitere evolutive Veränderungen betreffen die Reduktion der Zehenanzahl in mehreren Linien und die Überprägung der Form der Knochenplättchen und des Schwanzpanzers. Dabei zeigt sich aber, dass ähnlich gestaltete Strukturen nicht unbedingt auf nähere Verwandtschaft schließen lassen, sondern teilweise Ausdruck einer konvergenten Entwicklung sind.
Die frühesten bekannten Funde, einige Knochenplättchen des Rückenpanzers, stammen aus Patagonien und gehören mit einem Alter von 48 bis 42 Millionen Jahren ins Mittlere Eozän. Sie werden der Gattung Glyptatelus aus der Gruppe der Glyptatelinae zugewiesen. Das Material wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts vorgestellt und soll aus entsprechend alten Gesteinseinheiten geborgen worden sein, genauere Daten zu den Lokalitäten liegen aber nicht vor. Damit ist der älteste Nachweis der Glyptodonten etwas jünger als der der verwandten Gürteltiere, der in Ablagerungen des Paläozän mit Alterswerten von vor über 56 Millionen Jahren im südlichen Brasilien gefunden wurde. Möglicherweise ist im südlicheren Teil des Kontinentes auch die Ursprungsregion beider Gruppen zu suchen. Im Oberen Eozän ist dann Clypeotherium aus der gleichen Verwandtschaftsgruppe nachgewiesen.
Oligozän
Im Verlauf des Oligozän treten weiterhin Clypeotherium und Glyptatelus auf, so unter anderem mit einzelnen Knochenplättchen in Quebrada Fiera im westlichen Argentinien belegt. Im ausgehenden Oligozän, einer Zeit mit stärkerer Diversifizierung der Glyptodonten, sind erstmals Vertreter der Propalaehoplophorinae überliefert, eine der am besten untersuchten basalen Gruppen dieser Gürteltierverwandten. Sie gelten zudem als Ausgangsgruppe der Entstehung der moderneren Glyptodonten. Ähnlich den Glyptatelinae liegen die frühesten Nachweise der Propalaehoplophorinae aus Patagonien vor, bedeutend ist hier etwa die Fundstelle El Pajarito in der argentinischen Provinz Chubut. Doch bereits im Oberen Oligozän hatten sie auch weiter nördlich gelegene Regionen erreicht, wie einige Osteoderme aus der Fray-Bentos-Formation in der argentinischen Provinz Entre Ríos zeigen. Neben diesen beiden bedeutenden Linien kommt mit Pseudoglyptodon eine Gattung vor, die Mischmerkmale der Faultiere und der Glyptodonten aufweist. So erinnert der Gebissaufbau mit fünf Zähnen je Oberkiefer- und vier je Unterkieferhälfte an die Faultiere, die Gestaltung der Zahnkauflächen mit drei querstehenden Loben dagegen an die Glyptodonten. Abweichend von den Glyptodonten fehlten den Zähnen die erhöhten Rippeln aus hartem Zahnbein innerhalb der Loben. Bedeutende Funde stammen unter anderem aus Salla-Luribay in Bolivien und aus der Tinguiririca-Fauna aus dem zentralen Chile. Möglicherweise aber steht Pseudoglyptodon den Faultieren näher.
Miozän
Recht formenreich traten die Glyptodonten im Miozän auf. Im Unteren Miozän und im Übergang zum Mittleren Miozän aus der Zeit vor 18 bis 16 Millionen Jahren ist die Santa-Cruz-Formation in Patagonien bedeutend, wo die Glyptodonten mit den Propalaehoplophorinae recht zahlreich in Erscheinung treten. Nachgewiesen sind mit Propalaehoplophorus, Cochlops, Asterostemma und Eucinepeltus wenigstens vier Gattungen, wobei letztere durch ebenfalls wenigstens vier Arten repräsentiert wird. Alle Vertreter waren deutlich größer als die heutigen Gürteltiere und wogen zwischen 67 kg bei Propalaehoplophorus und 115 kg bei Eucinepeltus. Erstmals für Glyptodonten sind aus der Santa-Cruz-Formation auch vollständige Skelette erhalten. Dadurch gelten die Propalaehoplophorinae als gut untersucht. Die Angehörigen der Propalaehoplophorinae ernährten sich hauptsächlich von gemischter Pflanzenkost und bewegten sich ausschließlich am Boden fort. Neben den Funden der Santa-Cruz-Formation sind auch noch weitere bedeutende aus anderen Bereichen Südamerikas bekannt. Hierzu gehören Knochenplättchen und umfangreiche Reste des Körperskeletts von Propalaehoplophorus aus der zeitlich etwas jüngeren Río-Mayo-Formation in der Chubut-Provinz von Argentinien. Ein Teilskelett von Parapropalaehoplophorus wurde aus der Chucal Formation im nördlichen Chile berichtet. Der Fund ist etwa gleich alt zu jenen der Santa-Cruz-Formation, aufgrund abweichender Merkmale der Zähne und der Osteoderme, letztere zeigen kaum Ornamentierungen, ist dessen genaue systematische Zuweisung unklar.
Im Mittleren Miozän treten noch einzelne frühe Vertreter auf, etwa das mit beweglichen Bändern an den seitlichen Panzerrändern ausgestattete Paraeucinepeltus aus dem südlichen Argentinien. Darüber hinaus sind aber auch einige modernere Formen nachgewiesen, etwa Eonaucum. Die frühesten Vertreter der Glyptodontinae erscheinen erstmals im Mittleren Miozän vor rund 12 Millionen Jahren und gehören der Gattung Boreostemma an. Aus dieser Zeit liegt ein vollständiges, rund 1,4 m langes Exemplar von Boreostemma aus den Monkey Beds der Villavieja-Formation in La Venta in Kolumbien vor. Da auch weitere frühe Funde aus dem nördlichen Südamerika stammen, etwa aus der formenreichen Fitzcarrald-Lokalfauna des westlichen Amazonasgebietes in Peru, kann ein Ursprung der Gruppe in dieser Region angenommen werden. Vom Norden aus breiteten sich die modernen Glyptodonten nach Süden aus, sodass sie im ausgehenden Miozän auch in der Pamparegion mit Glyptodontidium und möglicherweise schon Glyptodon nachweisbar sind. Weiter südlich im heutigen zentralen Argentinien ist mit Kelenkura aus der Arroyo-Chasicó-Formation und der Loma-de-Las-Tapias-Formation des Oberen Miozäns eine Form dokumentiert, die erstmals über eine vollständige gepanzerte Schwanzkeule verfügte. In regionaler und zeitlicher Nähe liegt eine sehr umfangreiche Glyptodontenfauna aus dem Conglomerado osífero der Ituzaingó-Formation vor, die im nordöstlichen Argentinien am Unterlauf des Río Paraná nahe der Stadt Paraná aufgeschlossen ist und rund ein Dutzend Gattungen einschließt. Wiederum in den Übergang vom Miozän zum Pliozän lässt sich im südlichen Südamerika mit Eleutherocercus eines der frühesten Mitglieder der Doedicurinae feststellen, wie einzelne Skelettfunde einschließlich Schädel, Gliedmaßen und Panzerreste aus der Andalhuala-Formation und der Monte-Hermoso-Formation im nordwestlichen Argentinien nahelegen.
Plio- und Pleistozän
Vor allem im Pliozän und im Pleistozän kam es zu einer starken Aufsplitterung der Glyptodonten, was möglicherweise mit der Ausbreitung offener Landschaften in Folge des sich abkühlenden Klimas einherging. Waren im Pliozän mit Boreostemma aus der bedeutenden Codore-Formation in Venezuela oder Andinoglyptodon aus der Descanso-Formation im peruanischen Andengebiet noch frühe Formen der modernen Glyptodonten anzutreffen, ist im Altpleistozän vor etwa 1,8 Millionen Jahren erstmals eindeutig Glyptodon im südlichen Südamerika überliefert. Zu den frühesten Funden gehört unter anderem ein 28 cm langer Schädelfund aus der Nähe von Tarija im südlichen Bolivien. Ähnlich alte Funde stammen auch aus dem angrenzenden Pampagebiet, sodass der wahrscheinliche Ursprung der Gattung in dieser gesamten Region lag. In der darauf folgenden Zeit stellt Glyptodon den dominierenden Vertreter der Glyptodonten dar. Die Gattung kam hauptsächlich vom südlichen Brasilien bis in die südlichen Bereiche des Kontinentes vor, war aber auch weiter nördlich in den Anden zu finden. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich zwischen dem 20. und 38. südlichen Breitengrad. Der ursprünglich angenommene Artenreichtum der Gattung ist allerdings möglicherweise ein Relikt der Forschung, da moderne Analysen lediglich zwei Formen in den Tieflandsgebieten unterscheiden können, die sich weitgehend zeitlich abgrenzen, zuzüglich einer dritten aus den Anden. Auch Vertreter anderer Linien bewohnten weite Bereiche des Kontinentes. So hatte Panochthus eine größere geographische Reichweite und ökologische Toleranz und besiedelte sowohl tropische Areale als auch temperierte Gebiete vom heutigen nordöstlichen Brasilien bis weit in das südliche Argentinien hinein. Außerdem gehört Panochthus neben Glyptodon zu den wenigen Angehörigen der Gepanzerten Nebengelenktiere, die zu jener Zeit bis in Hochgebirgslagen von teils über 4000 m vordrangen. Andere Formen waren dagegen regional stärker begrenzt. Hierzu zählen unter anderem Hoplophorus, das überwiegend in tropischen Landschaften vorkam, und Doedicurus sowie Plaxhaplous in der Pampa und im angrenzenden Mesopotamia. Ein ähnliches Verbreitungsgebiet wies auch Neosclerocalyptus auf, das mit geschätzten 295 bis 470 kg Körpergewicht der kleinste alle pleistozänen Vertreter der Glyptodonten war. Einzigartig war bei ihm eine stark verknöcherte Nasenregion.
Mit der Entstehung des Isthmus von Panama vor rund 3,5 Millionen Jahren während des Pliozäns und der damit verbundenen Ausbildung einer Landbrücke zwischen Süd- und Nordamerika kam es zum Großen Amerikanischen Faunenaustausch. Die frühesten Glyptodontenreste nördlich von Südamerika, die aber nur einige wenige Osteoderme umfassen, sind im San-Miguel-Allende-Becken des mexikanischen Bundesstaates Guanajuato im zentralen Teil des Landes entdeckt worden und datieren auf etwa 3,6 bis 3,9 Millionen Jahre. Im ausgehenden Pliozän ist dann erstmals der nordamerikanische Vertreter Glyptotherium nachgewiesen, dessen Knochenplättchen stärker ornamentiert sind als bei seinem Verwandten Glyptodon. Dabei traten zuerst eher kleine Angehörige dieser Gattung auf, die nur rund 230 kg wogen, erst im Verlauf des Pleistozäns bildeten sich bis zu 790 kg schwere Formen aus. In Nordamerika war Glyptotherium, der einzige bisher anerkannte Vertreter der Glyptodonten dort, hauptsächlich entlang der Golfküste verbreitet, zahlreiche Funde sind aus Texas, Arizona und Florida bekannt. Einer der bedeutendsten und reichhaltigsten Fundpunkte ist mit der 111 Ranch in Arizona belegt. In Oklahoma erreichte Glyptotherium bei 36° 37′ sein nördlichstes Vorkommen, wie ein Rückenpanzer aus Carmen im Alfalfa County anzeigt. Im Verlauf des Mittelpleistozäns verschwanden die Glyptodonten allmählich wieder aus ihren nördlichsten Refugien, möglicherweise infolge des trockener werdenden Klimas während der Kaltzeiten. Sie blieben aber noch sehr weit über das heutige Mexiko und Guatemala verbreitet. Aus letzterer Region liegt sehr umfangreiches Material aus Quetzaltenango und Estanzuela im Süden des Landes vor, das Schädel, Unterkiefer und Rückenpanzer einschließt. Offensichtlich kam es zu dieser Zeit teilweise zu einer Rückwanderung nach Südamerika, da im ausgehenden Pleistozän Glyptotherium auch aus Venezuela und Brasilien bekannt ist und dort Küstenflachländer bewohnte.
Aussterben
Zum Ende des Pleistozäns im Übergang zum Holozän starben die Glyptodonten im Zuge der Quartären Aussterbewelle aus. Für Glyptodon liegen die jüngsten direkt datierten Funde bei einem Alter von rund 25.500 Jahren von Inciarte in Venezuela. Jüngere Daten von 9600 bis 10.500 Jahren von Pay Paso in Uruguay wurden an beigefundener Holzkohle gewonnen, wobei eine gemeinsame Ablagerung der Reste von Glyptodon und Holzkohle nicht sicher ist. Deutlich länger überlebte Doedicurus. Es war noch während der Besiedlung Südamerikas durch den frühen Menschen anzutreffen, die vor etwa 14.500 Jahren begann. Ob der Mensch aber ursächlich für das Verschwinden der großen Säugetierfauna verantwortlich ist, gehört zu einer vielfach diskutierten Debatte. In der Pamparegion hielt sich Doedicurus noch bis in das frühe Holozän. So sind Funde der Gattung, die einen Unterkiefer, mehrere Halswirbel, Knochen des Fußskelettes und andere Elemente des Körperskelettes sowie des Panzers einschließen, zusammen mit Steinartefakten früher Jäger-Sammler-Gruppen von La Moderna im nordöstlichen Argentinien auf ein Alter von 7500 Jahren BP datiert worden. Unklar ist hier, ob die Menschen das Tier selbst jagten oder einen Kadaver zerlegten. Mit rund 8480 Jahren BP wenig älter ist ein Fragment eines Oberarmknochens, das südlich von Buenos Aires aufgefunden wurde.
Forschungsgeschichte
Erste Entdeckungen im 18. und 19. Jahrhundert
Der früheste bekannt gewordene Fund eines Glyptodonten geht auf das Jahr 1774 zurück, als der englische Jesuit Thomas Falkner von einem rund 2,7 m langen Körperpanzer, bestehend aus sechseckigen Knochenplättchen berichtete, der am Ufer des Rio Carcarañá nahe Santa Fe in Argentinien entdeckt worden war und den er mit dem der heutigen Gürteltiere verglich. Im Jahr 1814 erstellte Dàmaso Antonio Larrañaga (1771–1848) die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Glyptodonten in seiner Schrift Diario de Historia Natural anhand eines Rückenpanzers, eines Oberschenkelknochens und eines Schwanzpanzers. Er fügte dieser die Bezeichnung Dasypus (Megatherium Cuv) zu, was 1823/24 von Georges Cuvier (1769–1832) in die zweite Auflage seines Werkes Recherches sur les ossemens fossiles, eines der Grundlagenwerke zur Entwicklung der Paläontologie, eingebracht wurde. Die Angabe der Untergattung Megatherium, eigentlich ein riesiges Bodenfaultier, das Cuvier 1796 selbst wissenschaftlich eingeführt hatte, führte dazu, dass in der darauf folgenden Zeit die Ansicht von gepanzerten Riesenfaultieren vertreten wurde. So beschrieb etwa 1827 Christian Samuel Weiss Panzerreste eines Glyptodonten aus dem heutigen Uruguay und Brasilien als zu Megatherium gehörig. Auch William Clift verband in einer Publikation von 1835 ein Skelett von Megatherium aus der Umgebung von Villanueva am Río Salado in der Pamparegion südlich von Buenos Aires mit ebenfalls dort aufgefundenen Panzerresten von Glyptodonten und bildete diese auch ab.
Sechs Jahre später untersuchte Joseph Eduard d’Alton das von Weiss verwendete Material erneut und schloss auch zusätzlich gefundene Skelettreste ein. Er kam nach ausführlichen anatomischen Vergleichen zu dem Schluss, dass es sich um riesige Gürteltiere handelte. Heinrich Georg Bronn (1800–1862) verwendete die gleiche Fundkollektion für die Aufstellung der Gattung Chlamydotherium. Allerdings ist der Name Chlamydotherium problematisch, einerseits weil er nahezu gleichzeitig von Peter Wilhelm Lund für einen Vertreter der Pampatheriidae, naher Verwandter der Glyptodonten, verwendet worden war, andererseits, weil Bronn ihn als Genus coelebs (ungebundene Gattung) eingeführt hatte, ohne der Gattung eine spezifische Art zuzuweisen. Chlamydotherium gilt heute als synonym zu Glyptodon. Im gleichen Zeitraum entdeckte eine Expedition unter der Leitung von Teodoro Vilardebó mehrere Knochen und einen Rückenpanzer in Uruguay, den sie nach wissenschaftlicher Analyse 1838 in einer lokalen Tageszeitung veröffentlichten. Die darin verwendete Bezeichnung Dasypus antiquus ist allerdings ungültig. Erst 1844, nachdem die Reste an das Muséum national d’histoire naturelle in Paris verschickt worden waren, konnte der Schweizer Zoologe François Jules Pictet diese als zu Glyptodon gehörig klassifizieren.
Wissenschaftliche Namensgebungen
Den Gattungsnamen Glyptodon führte der englische Paläontologe Richard Owen (1804–1892) im Jahr 1839 ein, eine weitere ausführliche Vorstellung der Gattung, hier auch verbunden mit dem Artzusatz Glyptodon clavipes, folgte zwei Jahre später. Die Erstbeschreibung basierte auf einem Teilskelett, das in den 1830er Jahren in der Umgebung von Cañuelas am Río Matanza-Riachuelo südlich von Buenos Aires gefunden worden war. Woodbine Parish, ein hochrangiger britischer Diplomat in Buenos Aires, sandte die Fossilreste nach England, wo sie Owen eingehend untersuchte und dabei erkannte, dass es sich um einen Verwandten der Gürteltiere handelte. Er revidierte dabei auch alle angeblichen Panzerreste, die mit Megatherium in Verbindung gebracht worden waren. Der Name Glyptodon setzt sich aus den griechischen Wörtern γλύφειν (glyphein „einschneiden“; Partizip Perfekt γλύπτω, glypto) und ὀδούς (odoús „Zahn“) zusammen und bezieht sich auf die besondere Gestaltung der Zähne, die Owen im Vergleich zu den Gürteltieren sah.
Etwa zur gleichen Zeit unternahm Charles Darwin (1809–1882) mit der HMS Beagle seine für die Evolutionsforschung bedeutende Forschungsreise und landete zwischen 1832 und 1834 mehrfach an der Küste Argentiniens an. Dort sammelte er über 5000 Fossilfunde, zumeist aus dem Pleistozän, die er an das Royal College of Surgeons in London weiterleitete (von denen haben aber nur insgesamt 175 Objekte die Bombardements Londons 1941 überstanden). Dort begann Owen ab 1836 mit dem Studium der Fossilien. Darwin selbst war aufgrund von Cuviers Angabe zu der Körperpanzerung von Megatherium in der neuen Ausgabe dessen Werkes Recherches sur les ossemens fossiles von gepanzerten Riesenfaultieren überzeugt und wies diesen in seinen Reiseaufzeichnungen zahlreiche Funde zu, was Owen im Nachfolgenden korrigierte. Parallel zu Darwins Unternehmungen und Owen Analysen arbeitete der dänische Forscher Peter Wilhelm Lund (1801–1880) in Brasilien, wo er in der Region des Rio das Velhas eine über 12.000 Fossilien umfassende Kollektion von rund 800 Fundstellen, überwiegend Höhlen, zusammentrug und nach Kopenhagen verschiffte. Diese Tätigkeiten führten 1838 zur Beschreibung von Hoplophorus durch Lund.
Im Jahr 1869 etablierte John Edward Gray (1800–1875) den heute für die Familie genutzten Namen Glyptodontidae. In diese schloss er neben Glyptodon auch Hoplophorus, Panochthus und Schistopleurum ein, letzteres ist heute ein Synonym zu Hoplophorus. Als Hauptmerkmale nannte er:
Wenige Jahre zuvor hatte der deutsche Forscher Hermann Burmeister (1807–1892), der jahrelang in Südamerika tätig war, den Begriff Biloricata („Zweischaler“) für die Glyptodonten eingeführt, unter der Annahme, das auf dem Bauch ebenfalls ein, wenn auch dünnerer Panzer ausgebildet sei. Diese Überlegung arbeitete Gray in seine Beschreibung ein, wobei er zusätzlich vermerkte, dass wohl der Kopf analog zu den Schildkröten in den Panzer zurückgezogen werden könne.
Im Jahr 1875 wurden erstmals außerhalb Südamerikas Reste von Glyptodonten in Form eines vollständigen Rückenpanzers im Tal von Mexiko entdeckt, denen einige weitere bis Anfang des 20. Jahrhunderts folgten, so 1912 ebenfalls ein vollständiger Panzer nebst einigen Skelettteilen. Bereits 1888 beschrieb Edward Drinker Cope (1840–1897) einzelne Osteoderme aus Texas und lieferte damit den frühesten Nachweis der Glyptodonten nördlich von Mexiko. Erst 1903 publizierte Henry Fairfield Osborn (1857–1935) ein nahezu vollständiges Skelett von Glyptotherium und beschrieb damit die einzige heute anerkannte Gattung Nordamerikas.
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert heben sich die Arbeiten der Gebrüder Carlos und Florentino Ameghino heraus. Im Jahr 1889 erarbeitete Florentino Ameghino erstmals eine systematische Gliederung der Glyptodonten, die 13 der 19 damals bekannten Gattungen umfasste. Er ordnete diese in drei Familien (Glyptodontidae, Doedicuridae und Hoplophoridae). Grundlagen seiner systematischen Aufteilung waren die unterschiedliche Gestaltung der Osteoderme und der Schwanzpanzerung. Dabei erkannte Ameghino als erster die zwei grundsätzlichen Schwanztypen der Glyptodonten: zum einen der Schwanz, der vollständig umringt war und in einer kurzen Spitze endete, typisch für Glyptodon und zum anderen der Schwanz mit einem keulenartigen Ende, wie er bei Doedicurus vorkam. Diese Methode zur Untergliederung der Glyptodonten wurde auch später von anderen Wissenschaftlern verwendet. Zu den weiteren herausragenden Forschern zu den Glyptodonten gehören unter anderem Lucas Kraglievich in den 1930er Jahren sowie Robert Hoffstetter in den 1950er Jahren.
Literatur
Richard M. Fariña, Sergio F. Vizcaíno und Gerardo de Iuliis: Megafauna. Giant beasts of Pleistocene South America. Indiana University Press, 2013, ISBN 978-0-253-00230-3.
Paul S. Martin und Richard G. Klein (Hrsg.): Quaternary Extinctions. A Prehistoric Revolution. The University of Arizona Press, Tucson AZ 1984, ISBN 0-8165-1100-4.
Einzelnachweise
Weblinks
The Paleobiology Database: .
Ausgestorbenes Nebengelenktier
Nebengelenktiere
Xenarthra |
1551697 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kittelsthaler%20Tropfsteinh%C3%B6hle | Kittelsthaler Tropfsteinhöhle | Die Kittelsthaler Tropfsteinhöhle ist eine Höhle im Thüringer Wald. Sie liegt im Stadtteil Kittelsthal der Stadt Ruhla im Wartburgkreis. Die Höhle ist über ein ehemaliges Bergwerk zugänglich. Die Gesamtlänge beträgt 726 Meter; bei Führungen wird sie auf einer Länge von 158 Metern begangen. Man gelangt über 228 Stufen in die 48 Meter tiefer gelegene Höhle. Die ersten natürlichen Hohlräume wurden 1888 entdeckt. Im Jahre 1894 wurde sie zu einer Schauhöhle ausgebaut und 1896 eröffnet. Zwischen 1968 und 1992 fanden keine Führungen in der Höhle statt.
Geografische Lage
Die Höhle befindet sich im Ruhlaer Ortsteil Kittelsthal im Wolfsberg, einem kleinen Berg () auf der Nordostabdachung des nordwestlichen Thüringer Waldes und im Nordwestteil des Naturparks Thüringer Wald. Der Ortskern von Kittelsthal liegt südwestlich des Wolfsberges, und östlich fließt der Hörsel-Zufluss Erbstrom vorbei.
Geschichte
Natürliche Höhlen
Das Gebiet um Thal ist besonders reich an natürlichen Höhlen und Spalten. Die Ritterhöhle, der Hohle Stein, das Backofenloch und einige andere wurden schon im Mittelalter von Menschen besucht; die Sagen über Venediger sind in der Region besonders zahlreich.
Bergbau
Im Raum Kittelsthal wurde seit dem Spätmittelalter mit wechselndem Erfolg Bergbau betrieben; dies belegen noch immer zahlreiche Pingen und Hohlwege im Waldgelände vom Spitzigen Stein, am Forstort Zange in Richtung Mosbach und Ruhla. Auch finden sich im offenen Gelände, am südlichen Ortsrand, sogenannte Bauernschächte. Hier wurde zunächst Kupfererz gefördert. Besondere Bedeutung hatte der Gipsabbau bei Kittelsthal, denn im 18. Jahrhundert war Gips ein wertvoller Baustoff; Kittelsthaler Gips wurde bis nach Weimar geliefert.
Seit dem 19. Jahrhundert gelten die Kupfererzvorkommen als abgebaut; die hiesigen Bergleute suchten nun hauptsächlich Baryt (Schwerspat) und Fluorit (Flussspat). Am Wolfsberg gab es bis Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Barytgruben mit senkrecht nach unten führenden Schächten. Diese zweite Phase der örtlichen Bergbaugeschichte hatte jedoch für Kittelsthal nur noch eine geringe Bedeutung und bis auf den Barytabbau nur geringen Erfolg. Im Jahre 1924 kam der Bergbau im Wolfsberg aus wirtschaftlichen Gründen zum Erliegen.
Entdeckung und Erforschung der Tropfsteinhöhle
Im Jahre 1888 wurden erstmals natürliche Hohlräume in der Grube Wolfsberg I erwähnt. Der Bergbeamte Henninger aus Elgersburg stellte die Große Grotte in einem Saigerriss dar. Bei Grabungen entdeckten Bergleute immer wieder Höhlenteile. Diese hatten jedoch meistens nur geringe Ausmaße, waren mit Sedimenten belegt und in einem nicht erhaltungswürdigen Zustand. Die Hohlräume wurden deswegen in den meisten Abbaugebieten teilweise mit Abraum gefüllt. Dies geschah anfangs zum Teil auch mit der Höhle im Kittelsthal. Nachdem die Bergwerksbesitzer ihren Schauwert erkannt hatten, wurde die Verfüllung eingestellt. Im Jahre 1894 wurden weitere Hohlräume im Wolfsberg entdeckt, so dass man beschloss, die Höhle als Schauhöhle auszubauen.
Schauhöhle
Einen großen Anteil an der Erschließung und dem Ausbau der Höhle von 1894 bis 1896 hatte der Betreiber der Bergbauanlage, der Steiger Hess aus Kittelsthal. Ein Schrägstollen mit Treppenanlage wurde geschaffen, der heutige Zugang zur Höhle, der die Abbauhohlräume der Schächte 1 und 2 miteinander verbindet. Im Jahre 1895 fanden die ersten Führungen in der Höhle statt, die 1896 mit einer Bergpredigt feierlich eröffnet wurde. Steiger Hess war der erste Höhlenführer. Das ehemalige Materialgebäude und die Kaue der Bergbauanlage wurden als Gaststätte Zur Tropfsteinhöhle umgestaltet. Der Höhleneingang wurde überbaut und ein Kassenhäuschen mit Aufenthaltsraum und Andenkenverkauf errichtet. In den ersten Jahren des Schauhöhlenbetriebes wurde die Höhle mit Gas beleuchtet. Anfang des 20. Jahrhunderts suchten Höhlenforscher nach neuen Hohlräumen. Im Jahre 1918, nach anderen Quellen bereits ab 1913/1914, wurden abschnittsweise eine elektrische Beleuchtung mit farbigen Lampen eingebaut und die Höhle mit Grünpflanzen und Gartenzwergen versehen. Die Beleuchtung wurde bis 1936 mehrmals umgestaltet.
Die Bezeichnung der Höhle war bis zum Zweiten Weltkrieg unterschiedlich. In den Veröffentlichungen des Thüringer Höhlenvereins erschien sie als Thaler Tropfsteinhöhle oder Tropfsteinhöhle bei Thal. Seit Kriegsende wird sie ausschließlich Kittelsthaler Tropfsteinhöhle genannt. Die gesamte Schauhöhle und Teile des restlichen Höhlenbereichs befinden sich in der Flur Kittelsthal. In den 1960er Jahren investierte der Rat des Kreises Eisenach 18.000 Mark in Sicherungsarbeiten im Zugangsstollen und in der Großen Grotte durch die Firma Quent aus Farnroda. Im Jahre 1954 wurde der Führungsbetrieb, der 1945 eingestellt worden war, wieder aufgenommen. Ein Höhlenführer und stundenweise eine Verkaufskraft waren beschäftigt. Die Familie Raimund verkaufte 1966 die Höhle an die Gemeinde Kittelsthal. Im letzten vollen Betriebsjahr besuchten etwa 4000 Personen die Höhle, wovon die Hälfte Schulkinder waren. Das Entgelt für die Führungen von Anfang Juni bis Ende September betrug für Erwachsene 0,80 und für Kinder 0,50 Mark. Im Frühjahr 1968 kam es zu einem kleinen Firstebruch. Daraufhin wurde die Höhle aus Sicherheitsgründen gesperrt.
Ruhephase
Der abgestürzte Firsteteil hatte sich in einer Lehmtasche befunden, die sich möglicherweise wegen starker Durchfeuchtung löste. Ein krummer Stahlträger in der Großen Grotte, der ebenfalls als Schließungsgrund aufgeführt worden war, war bereits beim Einbringen in die Höhle deformiert gewesen. Da die Risiken nur schwer zu beurteilen waren und wegen der eher niedrigen Besucherzahlen bestand kein großes Interesse an einer Weiterführung des Schauhöhlenbetriebs. Zudem waren die Installationsanlagen in der Höhle in einem relativ schlechten Zustand. Da sich niemand für den Schutz der Höhle zuständig erklärte, kam es zu erheblichen Zerstörungen, beispielsweise im Bereich der Drei Gleichen, in der Wolfsschlucht und in der Großen Grotte. So wurde ein Teil der Tropfsteine abgebrochen und entwendet. In der Großen Grotte wurde die Spitze der Pyramide abgeschlagen. Der Dieb wurde überführt; die Spitze konnte sichergestellt und wieder aufgesetzt werden. Wasser von der Decke wurde so umgeleitet, dass es auf die aufgesetzte Spitze tropft. Dadurch soll mit der Zeit ein Wiederanwachsen ermöglicht werden. Der Höhleneingang wurde mit einer massiven Tür verschlossen, um weitere Zerstörungen zu verhindern. Die Höhle war von da an nur noch für organisierte Höhlenforscher zugänglich. In der Höhle begann eine längere Forschungszeit. Noch 1968 war im Rahmen der Untersuchungen wegen der Gefährdung der Höhle die Suhler Grotte entdeckt worden. Diese war durch eine mehrere Meter breite, jedoch nur 0,5 Meter hohe Senkungsfuge zu erreichen. Die Höhlenforscher E. Roscher und V. Nemitz entdeckten am 3. Oktober 1971 die Schlammgrotte. Anschließend wurden mit einer Ausdehnung von 50 mal 12 und einer durchschnittlichen Höhe von 10 Metern der größte Raum, der Saal der Titanen, und in dessen Umkreis weitere Räume, darunter der Lehmdom, entdeckt. Die im Dezember 1975 gegründete Kittelsthaler Höhlenforschungsgruppe setzte die Forschungen in der Höhle fort. Die letzte größere Entdeckung war im Jahre 1981 die Silbermanngrotte mit dem Kristallsee, dem einzigen kleinen Gewässer der Höhle.
Sicherungsarbeiten
Mit der Zeit verfielen die Holztreppe im Eingangsstollen und die Elektroinstallation. Um einem weiteren Verfall der Höhle entgegenzuwirken, führte ab 1980 die Bergsicherung Ilfeld Sicherungsmaßnahmen in der Höhle und den darüber liegenden Bergbauteilen durch, nachdem ein Bergbauabschnitt direkt neben der Höhlengaststätte eingestürzt war. Ein Teil der alten Schächte wurde aufgewältigt; die erreichbaren Teile der alten Stollen und Abbaufelder wurden aufgefüllt. Im Firstebereich der Großen Grotte und des Zugangsstollens wurden Betonplomben angebracht. An einer Kluft im Schacht I löste sich eine große Gesteinsplatte, die mit Ankern gesichert wurde. In der Umgebung der Höhle wurden weitere Altbergbauanlagen verfüllt oder deren Eingangsbereiche gesichert. Die Sicherungsarbeiten waren 1990 abgeschlossen.
Wiedereröffnung
Nach den zehnjährigen Sicherungsarbeiten und der deutschen Wiedervereinigung beabsichtigte die Gemeinde, die Schauhöhle als ihre größte Sehenswürdigkeit wieder zu öffnen. Mit ABM-Kräften und geringen finanziellen Mitteln begann am 2. Mai 1991 die Restaurierung der Höhle. Im Zugangsstollen wurde eine neue Betontreppe gegossen, der Auf- und Abgang mit Geländern gesichert und auf den Höhlengängen Splitt aufgebracht. Das alte Eingangshäuschen und die Unterkunft der Höhlenforscher wurden abgerissen, der Eingangsbereich teilweise planiert. Ein von der Bergsicherung errichteter Bungalow dient jetzt als Unterkunft für die Höhlenführer und als Kassenhäuschen. Der durch offene Bergbauschächte eingefallene Schmutz wurde beseitigt und die alte Höhlenbeleuchtung ersetzt. Die Höhlenwände wurden vom Lehm befreit, seitdem erstrahlen die Baryt- und Sinterflächen in neuem Glanz. Die Höhle wurde nach Beendigung der Arbeiten am 11. September 1992 mit einer Feier wiedereröffnet. Von 1992 bis 2019 war die Tropfsteinhöhle Kittelsthal durchgehend von April bis Oktober geöffnet. Durch die Corona-Pandemie sowie dem gesundheitsbedingten Ausscheiden des Höhlenführers war die Höhle vom 1. November 2019 bis zum 2. Oktober 2022 geschlossen. Die feierliche Wiedereröffnung der Tropfsteinhöhle Kittelsthal fand am 3. Oktober 2022 statt.
Geologie
Die Höhle befindet sich im Karstkomplex Thal-Kittelsthal, einem früheren Zechstein-Riff. Diese Region befand sich zu Beginn der Zechsteinzeit in einer Schwellenposition; Thüringen war vom Zechsteinmeer bedeckt, das in dieser Schwellenregion nur eine geringe Wassertiefe aufwies. In diesen Flachwasserbereichen, begünstigt durch die klimatischen Bedingungen, fanden viele kalkablagernde Riffbewohner einen Lebensraum. Diese Riffbildner starben bei immer unwirtlicheren Lebensbedingungen ab und wurden nach und nach von Sedimenten des höheren Zechsteins bedeckt. Der Thüringer Wald hob sich durch Saxonische Bruchschollentektonik heraus; in geringerem Maße betraf dies auch Bereiche des Vorlandes wie die Kittelsthaler Region, von denen später Teile wieder abgetragen wurden. Damit waren günstige Voraussetzungen für eine Verkarstung gegeben. Über Klüfte und Ponore im Riffkomplex versank Wasser und die Tropfsteinhöhle begann zu entstehen. In größeren Hohlräumen bildeten sich durch die Auflösung des Kalks durch Kohlensäure Tropfsteine wie Stalaktiten, Stalagmiten und Stalagnaten in verschiedenen Größen und Formen. In der Höhle gibt es vereinzelt auch Excentriques, unabhängig von der Schwerkraft seitwärts oder nach oben gekrümmte Auswüchse von einigen Zentimetern Länge.
Führungsweg
Ein etwa 90 Meter langer Schrägstollen führt durch Altbergbauteile, durch die die Tropfsteinhöhle entdeckt wurde. Über 87 Stufen geht es abwärts bis zu einem kleinen Podest. Oberhalb davon befindet sich ein 18 Meter hoher Schacht, der ins Freie führte. Aus Sicherheitsgründen wurde er von der Bergsicherung mit einer Betonplombe versehen. Über diesen Schacht wurde der gewonnene Schwerspat vermutlich mit einer Haspel in das Grubengebäude gefördert. Weiter abwärts folgt nach etwa 20 Metern der engste Teil der Altbergbauanlage. Hier hat der Barytgang nur noch eine Mächtigkeit von 0,30 Metern, wobei der Stollen knapp mannshoch ist. Da sich in diesem Bereich kein Abbau gelohnt hatte, wurde der Durchgang erst mit der Erschließung der Schauhöhle geschaffen. Weiter abwärts sind an den Wänden, vor allem am rechten Stoß, große strahlend weiße Barytflächen zu sehen. Diese Abbauhohlräume gehören zum Schacht II der Grube. Dort sind zahlreiche schwarze Kalksteinbruchstücke im Baryt enthalten.
Nach weiteren 40 Metern durch recht enge Gangstücke wird in 40 Meter Tiefe der erste natürliche Hohlraum erreicht, die Große Grotte. Dort bildet der etwa 80 Meter mächtige, bis weit über den Hohlraum hinaus abgebaute Barytgang die nördliche Raumbegrenzung. Die Grotte ist etwa 10 mal 12 Meter groß und 5 Meter hoch. Über einem nur wenige Quadratmeter großen, künstlich angelegten See rechts neben dem Eingang zur Großen Grotte befinden sich Abschnitte mit intensiv korrodiertem Kalkstein. Die Pyramide im westlichen Teil des Hohlraums zählt zu den schönsten Tropfsteinen in der Höhle. Sie erreicht eine Höhe von etwa 3,5 Metern. Im südlichen Teil der Großen Grotte befinden sich ein ummauerter Betonpfeiler und ein Stahlträger zur Sicherung. Eine hölzerne Verbühnung und eine Betonplombe über der Grotte sollen vor hereinbrechendem Material aus dem Schacht III, dem Hauptförderschaft der Altbergbauanlage, schützen.
Von der Großen Grotte geht es über einige Stufen abwärts in den Bereich Drei Gleichen. Von den namensgebenden Tropfsteinen sind nur noch Stümpfe vorhanden, da sie vor der Schließung der Höhle dem Vandalismus zum Opfer fielen. Zu sehen sind massige, grobkristalline Sinterflächen und mehrere kleine, in Wandnischen verborgene Excentriques. Diese wachsen scheinbar ohne jede Gesetzmäßigkeit, auch gegen die Schwerkraft, in alle Richtungen und sind oft sonderbar gekrümmt. Chemisch sind sie mit den Tropfsteinen identisch. Über weitere Stufen geht es zur Domgrotte, einem langgestreckten Hohlraum, in dessen Firstebereich wieder der Barytgang sichtbar ist, der kurzzeitig verlassen wurde. Dort gibt es neben dem Baryt auch gelbliche bis grünliche, maximal einen Zentimeter starke Fluoritkristalle. Der Fluorit löst sich viel schneller als der Baryt, deshalb sind teilweise nur noch die Negative der Kristalle vorhanden. Im hinteren Teil der Domgrotte befindet sich die Gerberkammer mit zahlreichen Korrosionsformen an den Wänden, die auf die chemische Lösung des Kalksteins durch die Höhlenwässer zurückzuführen sind. Die weitere Fortsetzung der Höhle in diesem Bereich ist mit Lehm zugesetzt. Dort wird 48 Meter unter der Erdoberfläche der tiefste Punkt des Schauhöhlenteils erreicht.
Auf dem Rückweg geht es in die Wolfsschlucht, den einzigen bekannten Hohlraum der Höhle nördlich des Barytganges. Der Boden ist von mehreren Verbruchsblöcken bedeckt, die eine eventuell vorhandene Fortsetzung der Höhle verschließen. Neben Sinterbildungen an den Hohlraumwänden stehen dunkelbraune Kalksteine, dünne Bänder und einzelne Kristalle aus Baryt an. Dies ist auf die unterschiedliche Löslichkeit von Kalzit und Baryt zurückzuführen. Die Wände sind auch mit millimeterstarkem, teilweise wasserklarem Kalzitrasen überzogen. Von dort geht es über den Eingangsweg zurück zum Höhleneingang.
Neue Höhlenteile
Im südlichen Teil der Großen Grotte führt ein Durchstieg in den 1971 entdeckten Saal der Titanen, der bei Führungen nicht besucht wird. Er ist teilweise mit riesigen Versturzblöcken bedeckt. Westlich schließt sich ein etwa 18 mal 32 Meter großer und etwa 10 Meter hoher Gesteinsblock an, der sich von der Decke gelöst hat. Seine Masse wird auf etwa 13.500 Tonnen geschätzt. Der Saal der Titanen hat zusammen mit der durch die Absenkung des Blockes entstandenen Senkungsfuge eine Fläche von etwa 1600 Quadratmetern. Der Gesteinsblock befindet sich noch in geringfügiger Bewegung, da zahlreiche frische Risse in Sinterflächen und zerbrochene Stalagnaten zwischen dem Block und der Decke vorhanden sind. In der Umgebung des großen Saals gibt es noch weitere Hohlräume. Menge und Schönheit der Tropfsteine in diesen Höhlenteilen übertreffen teilweise die bei Führungen zugänglichen. Dass diese Tropfsteine kaum zerstört sind, liegt daran, dass diese Höhlenteile nur von sehr wenigen Menschen betreten werden. Der größte Tropfstein in diesem Bereich ist die sogenannte Möhre, ein Stalaktit mit einer Länge von 2,5 Metern. Die größte Sintergardine ist etwa 4 Meter lang. Wegen finanzieller Engpässe ist die Erschließung dieser Höhlenteile derzeit nicht möglich, da unter anderem ein Stollen durch den Fels gesprengt werden müsste und umfangreiche Sicherungsmaßnahmen notwendig wären.
Fauna und Flora
Tierwelt
Die Höhlentierwelt wurde im Jahre 2001 durch Ronald Bellstedt und Stefan Zaenker erforscht. Dabei konnten zahlreiche Nachweise von Würmern, Spinnen, Insekten (u. a. Käfer, Zweiflügler und Schmetterlinge) sowie anderen Arthropoden erbracht werden, die auf eine große Artenvielfalt schließen lassen.
Spinnen kommen bevorzugt im Eingangs- und Übergangsbereich vor, so die troglophilen Arten Lepthyphantes pallidus aus der Familie der Baldachinspinnen und Nesticus cellulanus, eine Höhlenspinne. Dauerhaft in der Höhle lebende Tiere haben sich an die dortigen Verhältnisse angepasst. Sie sind blind und pigmentlos wie die Höhlenassel (Proasellus cavaticus) oder die Höhlenflohkrebse (Niphargus). In der Höhle finden sich zudem augenlose Springschwänze (Collembola).
Unter den Zweiflüglern (Diptera) ist besonders eine nur dort aufgefundene Trauermückenart hervorzuheben, die im Jahr 1990 von Frank Menzel nachgewiesen wurde. Im Sommer kommt die Stelzmücke Limonia nubeculosa vor, weiterhin zeigen sich Mückenarten aus den Familien der Pilzmücken (Mycetophilidae), Schmetterlingsmücken (Psychodidae), Trauermücken (Sciaridae) und Wintermücken (Trichoceridae). Bei den Fliegen wurden Arten aus den Familien der Dungfliegen (Sphaeroceridae) und Köcherfliegen (Trichoptera) festgestellt. An Schmetterlingsarten gibt es den Höhlenspanner (Triphosa dubitata) und die Zackeneule (Scoliopteryx libatrix).
In der Höhle überwintern verschiedene Fledermausarten wie das Große Mausohr (Myotis myotis) oder die Kleine Bartfledermaus (Myotis mystacinus).
Lampenflora
In der Kittelsthaler Tropfsteinhöhle hat sich im Schein der Lampen eine ausgeprägte, als Lampenflora bezeichnete Pflanzengemeinschaft entwickelt. Im Bereich der Lichtquellen siedeln sich vor allem Algen, Moose, Pilze und Farnpflanzen an. Es handelt sich dabei meistens um Kümmerformen, die in absoluter Dunkelheit ohne künstliche Beleuchtung nicht überleben könnten. Die Pflanzen sind nicht gleichmäßig verteilt. Es hängt davon ab, welche Sporen mit dem Sickerwasser von der Erdoberfläche durch Klüfte in die Höhle gelangen. Zur Verbreitung der Pflanzen tragen zudem die Höhlenbesucher bei. In manchen Höhlenbereichen konnte sich aufgrund der Trockenheit keine oder nur eine geringe Lampenflora ausbilden.
Tourismus
Seit der Wiedereröffnung der Tropfsteinhöhle am 3. Oktober 2022 finden Führungen von April bis Oktober donnerstags und freitags von 10–18 Uhr sowie samstags, sonntags & an Feiertagen von 13–18 Uhr sowie von März bis November donnerstags bis samstags von 10–18 Uhr statt. Mittwochs sind ganzjährig Gruppenführungen nach Voranmeldung möglich. Ohne Führung ist die Höhle nicht zugänglich. Die Strecke führt über gut begehbare Wege in die einzelnen Höhlenteile, vorbei an den Tropfsteinformationen. Über 228 Stufen gelangt man in eine Tiefe von über 48 Metern, wobei eine Strecke von 158 Metern zurückgelegt wird. In der Höhle herrscht ständig eine Temperatur von etwa elf Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von über 95 Prozent.
Im Jahre 1993, dem ersten nach der Wiedereröffnung, besuchten 10.242 Personen die Höhle. Danach gingen die Besucherzahlen zurück und pendelten sich auf jährlich 4000 bis 6000 ein. Im Jahre 2012 besuchten 4795 Personen die Höhle. Seit der Wiedereröffnung der Höhle besuchten bis 2012 etwa 109.000 Personen die Höhle. In den Jahren 2008 bis 2012 lag die durchschnittliche Besucherzahl bei 4954. Damit liegt sie im unteren Bereich der Schauhöhlen in Deutschland.
Siehe auch
Liste der Schauhöhlen in Deutschland
Liste von Höhlen
Literatur
Hans Binder, Anke Lutz, Hans Martin Lutz: Schauhöhlen in Deutschland. Hrsg. v. Aegis Verlag, Ulm 1993 ISBN 3-87005-040-3.
Stephan Kempe Welt voller Geheimnisse – Höhlen. Reihe: HB Bildatlas Sonderausgabe. Hrsg. v. HB Verlags- und Vertriebs-Gesellschaft, 1997 ISBN 3-616-06739-1.
Weblinks
Schauhöhlen in Deutschland
Thüringer Höhlenverein e. V.
Einzelnachweise
Höhle in Europa
Geographie (Ruhla)
Schauhöhle
Höhle im Wartburgkreis
Geographie (Thüringer Wald)
Tourismus (Thüringen)
Karsthöhle in Deutschland |
1722087 | https://de.wikipedia.org/wiki/Maria-Magdalenen-Gymnasium | Maria-Magdalenen-Gymnasium | Das Maria-Magdalenen-Gymnasium (offizieller Name: Gymnasium zu St. Maria Magdalena) in Breslau gehörte bis zur Einstellung des Schulbetriebs 1945 zu den traditionsreichsten deutschsprachigen Gymnasien. Es wurde 1267 als Lateinschule gegründet und 1643 zum Gymnasium erhoben. Das „Magdalenäum“, dessen Namensgeberin Maria Magdalena war, wurde weit über die Grenzen Schlesiens hinaus bekannt und hatte über viele Generationen hinweg bedeutende Lehrer und Schüler.
Nach dem Übergang fast ganz Schlesiens 1945 an Polen wurde 1946 am selben Standort ein polnisches Liceum eröffnet.
Geschichte
Gründung als Lateinschule 1267
Im Jahre 1242 wurde Breslau nach Magdeburger Stadtrecht neu gegründet, nachdem die Stadt zuvor durch den Mongolensturm im Jahre 1241 schwer gelitten hatte. Es dauerte 25 Jahre, bis die Breslauer Bürger eine eigene Lateinschule erhielten, die Gründungsurkunde stammt vom 12. Februar 1267. Darin wurde auf Antrag des Rats und der Bürgerschaft der Stadt Breslau die Schaffung der Schule bei der Kirche St. Maria Magdalena (um 1230 als Pfarrkirche gegründet) vom päpstlichen Kardinallegaten Guido zugesichert: „infra muros civitatis Vratislaviensis juxta ecclesiam sancte Maria Magdalene scole fiant ...“ (deutsch: Sie können innerhalb der Breslauer Stadtmauern neben der Kirche St. Maria Magdalena eine Schule errichten ...). Die Bedeutung dieser Schule nahm auch mit dem Wachstum der Stadtbevölkerung zu. Bereits 1293 wurde an der Kirche St. Elisabeth eine zweite Lateinschule gegründet.
Ab Mitte des 15. Jahrhunderts gewann an den Breslauer Schulen der Humanismus an Bedeutung. Die Lektüre klassischer Autoren trat an die Stelle scholastischen Grammatikbetriebes. Im 16. Jahrhundert kam die Reformation hinzu. Die Ratsherren Breslaus wählten eigenmächtig Johann Heß zum Pfarrer an der Magdalenenkirche. Ihm verdankt Breslau den moderaten Prozess in der Auseinandersetzung der beiden Religionsrichtungen. Hess, der regen Kontakt mit Melanchthon hatte, war auch der „Umgestalter“ des Schulwesens an der Schule zu Maria Magdalena. Neuer Schulmeister wurde Ambrosius Moibanus. Sein Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichts zeigte sich auf allen Gebieten. Aus seiner neuen Schulordnung von 1528 wird auch ersichtlich, dass von nun an der Rat der Stadt Breslau den Rektor und die Lehrer der Schule wählte. Im Mittelpunkt des Unterrichts stand weiterhin die Lateinische Sprache. Primaner und Sekundaner durften in der Schule nur lateinisch sprechen.
Nachfolger von Moibanus wurde 1552 Martin Helwig, der aus Neiße stammte. Er zeichnete sich nicht nur durch gründliche Kenntnis der Alten Sprachen und der Mathematik aus. Helwig gab 1561 auch die erste Landkarte von Schlesien heraus, die der schlesische Historiker Christian Runge noch 1738 „die Mutter aller andern Schlesischen Land-Charten“ nannte. 1570 verfasste Petrus Vincentius eine neue Schulordnung. auf Anordnung des Rates der Stadt in deutscher Sprache. Zeitgenossen bezeichneten sie als die beste des 16. Jahrhunderts.
Wegen seiner Fähigkeiten besonders gerühmt wurde Johannes von Höckelshoven, der ab 1598 Rektor der Magdalenenschule war. Und wohl seinetwegen wurde Martin Opitz 1614 von seinen Eltern nach Breslau geschickt. Unter der Leitung des Rektors Jeremias Poll (1617–1621) reichte der gute Ruf der Schule weit über Breslau hinaus. Die Zahl der Schüler wuchs auf annähernd 800. Im Jahre 1625 musste die Schule wegen der Pest für ein halbes Jahr geschlossen werden und 1633 für einen noch längeren Zeitraum. 1637 übernahm Heinrich Klose die Leitung der Schule.
Erhebung zum Gymnasium 1643
Unter Klose wurde die Schule im April 1643 mit der Genehmigung des böhmischen Landesherrn Kaisers Ferdinand III. zum Gymnasium erhoben. Heinrich Klose blieb noch acht Jahre dessen Leiter. Die Anzahl der Schüler von 840 im Jahre 1643 nahm ständig zu. Es gab öffentliche Redeübungen über das Christentum, die Antike und auch die eigene Stadtgeschichte. In der Gesellschaft wuchs das Verlangen nach dramatischer Darstellung. Entsprechende öffentliche Aufführungen wurden daher ein wichtiger Bestandteil des Schulbetriebs. Die Helden der Dramen, die vom Magdalenen-Gymnasium aufgeführt wurden, gehörten der Weltgeschichte an. In einem gedruckten Programm wurden auch die auftretenden Schüler und ihre Namen genannt. U a. waren Johann Christian Hallmann und Daniel Caspar von Lohenstein Schüler des Magdalenen-Gymnasiums.
Im Maria-Magdalenen-Gymnasium gab es ein berühmtes barockes Schultheater, das sich stets in edlem Wettstreit mit der Bühne des Elisabethgymnasiums befand. Hier wurden die Stücke des Breslauer Barockdramatikers Johann Christian Hallmann sowie einige Lohenstein-Dramen uraufgeführt. Lohenstein und Hallmann, die sich auch als Schauspieler hervortaten, verfassten etliche ihrer Märtyrer- und Tyrannenstücke direkt für die Breslauer Schulbühne. Mit aufwendiger Bühnentechnik und zahlreichen musikalischen Einlagen versuchte Hallmann durch seine effektvollen Dramen das barocke Ideal des Gesamtkunstwerks zu verwirklichen.
Von 1686 bis 1706 leitete Christian Gryphius, Sohn des Barockdichters Andreas Gryphius, das Gymnasium. Schüler zu seiner Zeit war von 1688 bis 1699 auch der Philosoph Christian Wolff, in dessen Lebensbeschreibung es heißt: Unter meinen Praeceptoribus (Lehrern) bin ich den meisten Dank schuldig dem Herrn Pohl … und weiter: Gryphius habe ich auch etwas besonderes zu danken … und: Herr Pohl und der Inspektor Herr Kaspar Neumann machten mir Lust zur Philosophie des Cartesius und der Mathematik und Algebra immer mehr.
Christian Stieff war ein besonderer Zögling des Christian Gryphius. Er stammte aus Liegnitz, wo sein Vater Bäckermeister war. 1706 kam Christian Stieff nach dem Studium in Leipzig als Lehrer an das Magdalenengymnasium zurück und wurde dort im Jahre 1717 Rektor (bis 1734). Er betrieb urgeschichtliche Studien, begründete in Breslau eine Prähistorische und Naturwissenschaftliche Sammlung und hatte mit vielen Wissenschaftlern im In- und Ausland Kontakt. Die Berliner Akademie ernannte ihn zum auswärtigen Mitglied.
Viele Jahre lang hatten die Rektoren bei der Stadt für ein neues Schulgebäude des Gymnasiums geworben. 1710 konnte es an der Südseite der Magdalenenkirche bezogen werden. Auch nach dem 1736 erlassenen neuen Lehrplan des Rates der Stadt war der Gebrauch der deutschen Sprache in den Oberklassen nur gestattet, wenn es zur Verständigung nötig war. 1766 trug man neuen Strömungen und Anforderungen Rechnung: In einer angegliederten Realschule wurden unter anderem „außer der reinen Teutschen Sprache“ vier lebende Fremdsprachen, praktische Mathematik, Geografie und sogar Landwirtschaft und Buchhaltung angeboten. Daneben konnten auch Glasschleifen, Tanzen und Fechten erlernt werden. Zudem wurde ein Internat für auswärtige Schüler angegliedert. Ferdinand Fleck und Friedrich von Gentz besuchten in dieser Zeit die Schule. Nach einem anfänglichen Aufschwung durch die Neuerungen gab es bald Uneinigkeit unter den Lehrern wegen Zuständigkeiten aufgrund verbreiteter Disziplinlosigkeit unter den Schülern.
Entwicklung der Schule im 19. Jahrhundert
1790 wurde Johann Kaspar Friedrich Manso (1760–1826) aus Gotha als Prorektor an das Magdalenengymnasium berufen. Er fand die Schule in einem trostlosen Zustand vor. 1793 wurde er Rektor des Gymnasiums und lenkte dessen Geschicke 33 Jahre – bis zu seinem Tod. Als anerkannter Historiker, als Literaturhistoriker, Übersetzer und kritischer Geist seiner Gegenwartsliteratur (Xenienkampf mit Goethe und Schiller) genoss Manso unter Gelehrten, besonders in Breslau, hohes Ansehen. Der Einfluss auf seine Schüler, die ihn verehrten, war bedeutsam. Erwähnt seien hier der Philologe und Sekretär Goethes Friedrich Wilhelm Riemer, der Schriftsteller Karl von Holtei, der Physiologe Gabriel Gustav Valentin, der Maler und Schriftsteller August Kopisch und der Theologe August Tholuck. Mansos Unterricht war mit Vorlesungen an der Universität zu vergleichen: Ganz besonders berühmt waren aber seine Lehrstunden auf dem Gebiet der deutschen Literaturgeschichte, Rhetorik und Ästhetik in solchem Maße, dass vielfach Studierende der seit 1806 hier neu gegründeten Hochschule sich die Erlaubnis zur Teilnahme an diesen Stunden auswirkten. Zu diesen Gaststudenten gehörten auch die Brüder Joseph und Wilhelm von Eichendorff.
Unter Mansos Nachfolgern ist besonders Karl Schönborn (1803–1869) zu erwähnen, der mit 31 Jahren 1834 die Schulleitung übernahm. In seine 35-jährige Amtszeit fiel das 200-jährige Bestehen des Gymnasiums. Schönborn errang das Vertrauen der Eltern und die Zuneigung seiner Schüler. Auch in der Öffentlichkeit genoss er großes Ansehen. Seine Erfolge und seine Beliebtheit führten zu weiter steigenden Schülerzahlen. 1866 zählte das Gymnasium 1063 Schüler, die in 21 Klassen von 33 Lehrern unterrichtet wurden. Da die schlechten Lichtverhältnisse in den Klassenräumen dies erforderten, entstand nach Entwurf des Stadtbaurats Carl Johann Christian Zimmermann neben der Maria-Magdalenen-Kirche ein neues Schulgebäude, das 1869 bezogen werden konnte.
Unter Schönborns Schülern waren der Rechtswissenschaftler Oskar von Bülow, der Bakteriologe Ferdinand Cohn, der Begründer der Immunologe Paul Ehrlich, der Mathematiker, Physiker und Astronom Wilhelm Foerster, der Mineraloge und Kristallograph Carl Hintze, der Mathematiker Ludwig Kiepert, der Admiral Curt von Prittwitz und Gaffron. Cohn, der später ein international anerkannter Bakteriologe wurde, schrieb zum Abschluss seiner Schulzeit ein Gedicht, in dem es heißt:
Wilhelm Foerster schrieb 1911 in seinen „Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen“: Die Seele jener Breslauer Gymnasialzeit war der Direktor Schönborn zusammen mit einigen ausgezeichneten Lehrern der Sprachen und Mathematik. Die Schüler der oberen Klassen wurden mit stetigem Ernst unterwiesen und erzogen, aber jegliche disziplinarische Not einer beiderseitigen Erniedrigung wurde aufs glücklichste vermieden.
Unter den Direktoren Otto Heine (1869–1883) und Adolf Moller (1884–1906) fielen die Gymnasialzeiten des Nationalökonomen Eberhard Gothein, des Dermatologen Albert Neisser, des Neurologen Otfrid Foerster, des Schauspielers Friedrich Kayssler, des Pharmakologen Oscar Troplowitz, des Physikers Georg Graf von Arco, des Politikers Georg Snay und des Dichters Christian Morgenstern. Gothein äußerte sich über Rektor Heine: Es ist doch nicht wenig, was er mir seinerzeit gegeben hat...
Der Vorschlag von Rektor Manso, die Anzahl der Schüler je Klasse auf höchstens dreißig zu begrenzen, war vom Ministerium abgelehnt worden. Nun waren die Klassen auch im neuen Gebäude schon wieder überfüllt. Das wurde durch die Eröffnung des Johannesgymnasiums im Jahre 1872 gemildert. Das Magdalenengymnasium gab fast 300 Schüler ab, hatte aber 1875 schon wieder über 800. Bis 1910 hielt sich die Anzahl der Schüler auf beachtlicher Höhe. Der Jahresbericht von 1912 jedoch verzeichnete nur noch 433 Schüler. An den Lehrern und der Schulleitung hat es nicht gelegen, es war die Neuorientierung des Schulwesens und der Lernenden. Im Jahre 1912 gab es in Breslau bereits zwei Realgymnasien, eine Oberrealschule und drei Realschulen, deren Ausbau zur Vollanstalt vorgesehen war. Ein Vorstoß des Direktors Maximilian Consbruch, das Magdalenengymnasium diesem Trend anzupassen, wurde aber im Februar 1914 vom Ministerium abgelehnt. Der Nachfolger, Friedrich Staats, übernahm daher 1915 kein leichtes Amt. Er war der Direktor, der die Schule während des Ersten Weltkrieges und der schwierigen Nachkriegs- und Inflationszeit leitete. 1926 wurde er pensioniert.
Umzug und die Zeit bis Kriegsende
Die Schule war noch in dem 1869 errichteten Gebäude neben der Magdalenenkirche untergebracht. Aber es gab schon seit langem Pläne für einen großzügigen Neubau in einem grünen Wohnviertel Breslaus. Dem seit 1926 amtierenden Schulleiter Konrad Linder, der bereits von 1910 bis 1924 Lehrer am St. Maria-Magdalenen-Gymnasium gewesen war, gelang es gegen erhebliche Widerstände, dass diese moderne Schule gebaut werden konnte. Schon im September 1929 fand der Umzug statt. Das neue MMG – so die gebräuchliche Abkürzung der letzten Schülergenerationen für ihre „Penne“ – war so großzügig, fortschrittlich und zweckmäßig, dass noch 75 Jahre nach der Eröffnung des Gebäudes lobende Worte darüber – jetzt von Polen – zu hören waren.
Der Sprachwissenschaftler Peter Gaeffke, der Mediziner und Hochschullehrer Hans-Georg Boenninghaus, der katholische Theologe Peter Lengsfeld und der Bühnenbildner Christof Heyduck haben als Schüler vor 1945 noch davon profitiert.
Während Linders Schulleitung entstand 1928 im Riesengebirge (in Hartenberg) ein neues Landheim, in dem jede Klasse etwa zwei Wochen im Jahr zubrachte. Der ehemalige Studienrat Karl Kolde berichtete: „So herrschte 1932 am MMG ein reges pädagogisches Leben, aus dem vor allem die bildungswilligen Schüler manchen Gewinn zogen. In den politischen Anschauungen bot das Kollegium“ (gemeint sind die fest angestellten Lehrer) „ein einigermaßen einheitliches Bild. Extreme politische Überzeugungen waren nicht vertreten.“
Kolde zufolge wurden bis ins Jahr 1945 humanistische und christliche Werte besser erhalten als an anderen Schulen: „[..] hat das Magdalenen-Gymnasium in der Zeit, in der in Deutschland der Nationalsozialismus herrschte, seinen ursprünglichen Auftrag als evangelisches und dem humanistischen Bildungsideal eines Wilhelm von Humboldt verpflichtetes Gymnasium offensichtlich besser und wirkungsvoller dienen können als manche anderen Höheren Schulen in Deutschland.“
Der Historiker Fritz Stern besuchte die Schule von der Sexta im Jahre 1936 bis zu seiner Emigration 1938. Stern, der evangelisch getaufter Jude war, berichtet in seinen Erinnerungen von einigen übermäßig „angepassten“ Lehrern und solchen „von untadeliger Korrektheit“; antisemitische Äußerungen eines Mathematiklehrers sind ihm in unangenehmer Erinnerung geblieben. Gelegentlich wurde Stern Zielscheibe verbaler und auch körperlicher Angriffe von Mitschülern, von denen sich viele „sichtlich erfreut“ zeigten, als er 1938 als letzter Jude die Schule verließ. Schulleiter Linder versicherte ihm beim Abschied: „Ich hoffe, Sie wissen, dass ich immer versucht habe, Ihr Leben hier so gut zu gestalten wie möglich“. Sterns Antwort: „Nein, das habe ich nicht gemerkt.“
Der ehemalige Schüler und spätere Prior des Klosters Metten, Adalbert Seipolt, berichtet, dass im Vergleich zu den damals geltenden Bestimmungen der Einfluss der Hitlerjugend gering blieb. Unter Konrad Linder, der selbst Mitglied der NSDAP war, wurden bis 1944 der evangelische wie auch der katholische Religionsunterricht immer noch in den jeweiligen Klassenräumen – also nicht extern – erteilt. Dies war eine bemerkenswerte Ausnahme in Breslau.
Michael Graf von Matuschka meldete seine beiden Söhne, die vorher auf dem ehedem katholischen Matthias-Gymnasium waren, noch 1944 auf dem Maria-Magdalenen-Gymnasium an. Im gleichen Jahr wurde er als Gegner des NS-Regimes hingerichtet. Einer der Söhne, Mario Graf von Matuschka, erinnert sich, „daß Linder, der von uns alles wußte, sehr gütig mit uns war; und so war meine Mutter beruhigt, uns dort zu wissen.“
Die Stadt Breslau war am Ende des Zweiten Weltkrieges zur Festung Breslau erklärt worden. Am 22. Januar 1945 musste die „nicht wehrtaugliche Bevölkerung“ die Stadt verlassen, der Schulbetrieb wurde eingestellt. Die meisten noch im Schuldienst tätigen Lehrer und die Schüler ab dem 16. Lebensjahr mussten sich beim Volkssturm melden. In den Schulräumen des Maria-Magdalenen-Gymnasiums wurden eine Sanitätsstelle und ein Lazarett der Luftschutzpolizei eingerichtet.
Im Jahre 1957 übernahm das Heinrich-von-Gagern-Gymnasium in Frankfurt am Main die Patenschaft über das Breslauer Magdalenen-Gymnasium. Und 1967 veranstaltete die Frankfurter Patenschule für die ehemaligen Schüler und Lehrer des Magdalenäums eine Feier aus Anlass der Gründung des Gymnasiums zu St. Maria Magdalena zu Breslau vor 700 Jahren, zu der eine Gedenkschrift erschien.
Das Magdalenäum hat das geistige Leben Breslaus und Schlesiens mit bestimmt. Viele Rektoren und Lehrer waren als Gelehrte anerkannt und haben als solche nachhaltig gewirkt. Zahlreiche prominente Persönlichkeiten sind aus der Schule hervorgegangen: Wissenschaftler aller Fakultäten, Pädagogen, Unternehmer und Personen des öffentlichen Lebens. Nur wenige Schulen konnten auf eine so lange und denkwürdige geschichtliche Vergangenheit zurückblicken wie das Gymnasium St. Maria Magdalena zu Breslau. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, blieb es über 650 Jahre seinen christlichen und humanistischen Wurzeln treu.
Seit 1946 Liceum Ogólnokształcące im. Piastów Śląskich
Der Neubau des Maria-Magdalenen-Gymnasiums ist von den Zerstörungen, die die Stadt in der Schlacht um Breslau im Frühjahr 1945 erlitt, weitgehend verschont geblieben. Nach der Inbesitznahme der Stadt durch die Volksrepublik Polen 1945, der anschließenden Vertreibung ihrer Einwohner und der Neubesiedlung durch Polen befindet sich im Gebäude das II. Liceum Ogólnokształcące im. Piastów Śląskich, benannt nach den Schlesischen Piasten. Bis 1990 unterlag diese Schule den Weisungen des sozialistischen Staates. Humanistische Werte standen in dieser Zeit nicht auf dem Programm. Unterrichtsschwerpunkte, die auch heute noch bestehen, waren Sport, Technik und Naturwissenschaften. Eine Absolventin dieses polnischen Liceums war Wanda Rutkiewicz. Auf dem Schulgelände erinnert ein Gedenkstein an die bekannte Bergsteigerin und Elektroingenieurin.
Das im Jahr 1869 erbaute Schulgebäude wurde 1945 zerstört und seine Ruinen abgetragen. Erst 1998 wurde das Grundstück mit dem modernen Handelshaus Howell wiederbebaut.
Bekannte Schüler und Lehrer
Siehe Hauptartikel: Liste bedeutender Schüler und Lehrer des Magdalenäum Breslau
Literatur
Zu der öffentlichen Prüfung der Schüler des hiesigen Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena, welche ... in dem Prüfungssaale veranstaltet werden soll, ladet ehrerbietigst ein . Breslau ().
Zur Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Kaisers und Königs und der damit verbundenen Entlassung der Abiturienten ... sowie zu der öffentlichen Prüfung der Schüler des hiesigen Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena ... ladet ... ein . Breslau ().
Zur Vorfeier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Kaisers und Königs am ... und der damit verbundenen Entlassung der Abiturienten sowie zu der öffentlichen Prüfung der Schüler des hiesigen Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena ... ladet ehrerbietigst ein. Breslau ().
Jahresbericht des Städtischen Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena. Breslau ().
Otmar Eitner (Hrsg.): Das St. Maria-Magdalenen-Gymnasium zu Breslau vom 13. bis zum 20. Jahrhundert; die Geschichte des ehrwürdigen Gymnasiums; Prominente ehemalige Rektoren und SchülerDas Gymnasium St. Maria-Magdalena zu Breslau. Bad Honnef 2003.
Festschrift zur 250-jährigen Jubelfeier des Gymnasiums St. Maria Magdalena zu Breslau, Breslau 1893 (archive.org).
Gedenkschrift aus Anlass der Gründung des Gymnasiums St. Maria Magdalena zu Breslau vor 700 Jahren. Vereinigung Ehemaliger Magdalenäer, Frankfurt 1967.
E. F. Glockner: Rede zum Andenken Dr. Joh. Caspar Friedrich Mansos, vormaligen Rektors und ersten Professors am Magdalenen-Gymnasium in Breslau,. .. nebst einem Anhang zweyer Gedichte und einem chronologischen Verzeichnisse d. Schriften Mansos, Breslau 1826.
Jahresberichte des Gymnasiums zu St. Maria Magdalena Breslau, später städt. ev. Gymnasium zu St. Maria Magdalena in Breslau von 1865, 1868, 1869, 1873, 1876, 1889, 1890, 1891, 1895, 1908, 1910, Breslau.
im Nordostdeutschen Archiv beim Institut Nordostdeutsches Kulturwerk, Lüneburg Inventar-Nr. As 96/1, Signatur P0/988.
Magdalenäum. Monatszeitschrift für die Schüler des Gymnasiums zu St. Maria Magdalena, Breslau, 1. 1931/32 – 5. 1936/37.
Carl Schönborn: Beiträge zur Geschichte der Schule und des Gymnasiums zu St. Maria Magdalena in Breslau, I.–IV., Breslau 1844–1848.
Adolf Laminski: Collectanea M. Henrici Closii: eine schlesische Privatbibliothek des 17. Jahrhunderts in Berlin. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte. Band 72, 1993, S. 8–24.
Weblinks
Historische Aufnahmen
Foto des neuen Schulgebäudes von 1929
Webseite des II Liceum Ogólnokształcące
Einzelnachweise
Geschichte (Schlesien)
Maria Magdalena
Maria Magdalena
Gymnasium in Breslau
Schule (Preußen)
Gegründet 1267
Aufgelöst 1945 |
2176310 | https://de.wikipedia.org/wiki/Winchester%20%E2%80%9973 | Winchester ’73 | Winchester ’73 ist ein US-amerikanischer Westernfilm von Anthony Mann aus dem Jahr 1950. Er gilt als Startpunkt der wirtschaftlich und künstlerisch erfolgreichen Epoche des amerikanischen Westernkinos, die bis in die 1960er Jahre andauerte. Darüber hinaus markiert der Film den Anfang einer erfolgreichen längeren Zusammenarbeit des Regisseurs Mann mit dem Schauspieler James Stewart.
Handlung
1876 im Südwesten der Vereinigten Staaten: Lin McAdam und sein Begleiter „High-Spade“ Frankie Wilson verfolgen einen Verbrecher, mit dem Lin eine alte Rechnung offen zu haben scheint (aus für den Kinobesucher zunächst ungeklärten Motiven). Die Freunde finden, wie erhofft, den Gesuchten und zwei seiner Kumpane in Dodge City, wo er unter dem Falschnamen Dutch Henry Brown Station gemacht hat, um an einem Schießwettbewerb zum „Centennial“ (Hundertjahrfeier) der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung teilzunehmen. Eine blutige Konfrontation der Männer wird zunächst verhindert, da in der Stadt ein Verbot privater Waffen vom charismatischen Sheriff Wyatt Earp durchgesetzt wird. Siegespreis des Wettbewerbs ist ein legendäres Präzisionsgewehr – eine „Winchester ’73“ in der Spezialanfertigung „Eine unter Tausend“ (Engl. “One of One Thousand”). Lin McAdam siegt im spektakulären Stechen gegen Dutch Henry Brown. Der Verlierer täuscht eine eilige Abreise vor und Lin muss deswegen auf die übliche, einen Tag in Anspruch nehmende Gravur seines Sieges auf dem Gewehr verzichten, denn er will seinem Widersacher keinen Vorsprung lassen. Ein Duell außerhalb der Stadt scheint unvermeidlich. Doch Dutch Henry Brown schlägt Lin hinterrücks in dessen Hotelzimmer nieder, nimmt ihm die gerade gewonnene Winchester ab und flieht mit seiner Bande, nachdem der Sheriff eingegriffen hat. Der Aufbruch des scheinbar sofort wieder kampfbereiten Lin McAdam und seines Freundes „High-Spade“ Frankie Wilson verzögert sich aus etwas unerfindlichen Gründen stark.
In einer Spelunke am Rand der Wüste verliert Dutch die Winchester beim Kartenspiel an einen dubiosen Waffenhändler, dem sie bei einem Geschäft mit den Indianern von Häuptling Young Bull abgenommen wird. Lin und High-Spade folgen währenddessen Dutchs Spur durch die Wüste nach Tascosa. Eine Indianerattacke zwingt sie zur Flucht in eine Wagenburg der US-Kavallerie, wo auch das junge Paar Lola Manners und Steve Miller Schutz gesucht hat. Mit Hilfe der Neuankömmlinge und ihrer schnell schießenden Repetiergewehre kann am nächsten Morgen ein weiterer Indianerangriff endgültig abgewehrt werden. Der Anführer, kein anderer als Young Bull, kommt ums Leben, aber die Waffe wird erst gefunden, nachdem Lin und High-Spade schon weitergeritten sind. Die Kavalleristen schenken sie ahnungslos Steve zum Schutz von Lola.
Auf ihrer Farm angekommen, stoßen Steve und Lola auf Banditen, die auf der Flucht vor dem Sheriff und seiner Posse sind. Bandenchef Waco Johnnie Dean entpuppt sich zwar als ein alter „Freund“ Steves, tötet diesen aber skrupellos, um an die Spezial-Winchester zu gelangen. Lola rettet sich aus der bedrohlichen Lage, indem sie sich äußerst kaltblütig gibt und mit Waco geht, als dieser, seine Bande dabei in den Tod schickend, aus der Belagerung des Sheriffs flieht. Beide treffen mit Dutch und dessen Bande in einer einsamen Berghütte zusammen, worauf Dutch „seine“ Winchester erkennt und Waco zwingt, sie ihm wieder auszuhändigen. Ohne auf Lola zu achten, verabreden sie dann einen Banküberfall in Tascosa und reiten getrennt dorthin.
Zufällig treffen in Tascosa auch Lin und Lola aufeinander. Lola offenbart Lin die Pläne der Bande und dass Waco mit Dutch unter einer Decke steckt. In der anschließenden Schießerei sterben Waco und Dutchs Banditen. Dutch entkommt allein und flieht in sein altes Versteck, dicht gefolgt von Lin.
Unterdessen klärt High-Spade Lola über die bisher verborgen gebliebenen Hintergründe der erbitterten Feindschaft auf: Lin und Dutch sind Brüder, wobei Dutch alias Matthew McAdam einst den gemeinsamen Vater erschoss und so Lins Rache provozierte.
Tatsächlich stellt Lin Dutch in einer Felsenlandschaft zum finalen Duell. Obwohl mit der zielsicheren Spezial-Winchester bewaffnet, stirbt Dutch im Feuergefecht. Mit der Waffe kehrt Lin nach Tascosa – und zu Lola – zurück und signalisiert High Spade durch das Zeigen der Winchester, dass Dutch endlich tot ist.
Geschichtlicher Hintergrund
Das Ende des Wilden Westens
Die Handlung von Winchester ’73 beginnt am 4. Juli 1876 – dem hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Die Besiedlung des Wilden Westens durch europäische Einwanderer ist fast abgeschlossen. Die Städte an der ehemaligen Frontier verfügen bereits über ein politisches System, in dem der Sheriff die Rechte der Bürger verteidigt. Diese Ordnung wird von Banditen bedroht, die in Winchester ’73 durch die Banden von Dutch Henry Brown und Waco Johnnie Dean verkörpert werden. Gleichzeitig stellt der Film aber die Bedrohung der amerikanischen Siedler durch Indianer dar, die im Jahr der Schlacht am Little Bighorn aufgrund der bereits begonnenen Indianerumsiedlungsprogramme gerade akut geworden war.
Manns Western bezieht sich neben diesen Ereignissen der Geschichte der Vereinigten Staaten auch auf konkrete bekannte Orte und Personen. Die beiden Städte Dodge City und Tascosa, die Startpunkt und Ziel der Handlung des Films darstellen, sind geschichtsträchtige Städte der Besiedlung des amerikanischen Westens. Vor allem Dodge City ist eine oft als Schauplatz von Western benutzte Stadt, da sie Aufenthaltsort bekannter Revolverhelden wie Doc Holliday war. So treten in Winchester ’73 die historischen Personen Wyatt Earp und Bat Masterson als Town-Marshalls auf.
Tascosa ereilte das Schicksal vieler Städte der Besiedlungszeit: Sie wurde zu einer Geisterstadt.
Das Winchester-Gewehr
Das Winchester-Gewehr wurde zur Zeit des Sezessionskriegs entwickelt. Die erste Baureihe kam 1866 als Nachfolger des Henry-Gewehrs auf den Markt. Berühmt wurde es vor allem durch seine Verbreitung bei der Besiedlung des Westens der Vereinigten Staaten ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Besonders das Modell Winchester ’73 der Repetiergewehre der Winchester Repeating Arms Company, das dem Film seinen Namen gab, wurden dabei als the gun that won the west (deutsch: „das Gewehr, das den Westen erobert hat“) zum Synonym für die Besiedlung des Westens. Im Film wird dies durch die besondere Verehrung und Gier nach dem Besitz der Waffe gezeigt.
Die Modellreihe „Eine unter Tausend“, die im Film besonders betont wird, wurde von Winchester ab 1875 auf den Markt gebracht. Von allen nach der Herstellung probegeschossenen Gewehrläufen aus einem Fertigungslos von jeweils 1000 Stück wurde der am präzisesten schießende ausgesucht. Die mit diesen Läufen versehenen Gewehre wurden in höchster Qualität fertiggestellt und auf der Laufoberseite mit „One of One Thousand“ oder „One of 1000“ beschriftet. Von dieser Serie wurden 136 Gewehre gefertigt und zu einem Stückpreis von 100 US-Dollar verkauft. Eine handelsübliche Winchester kostete 40 US-Dollar. Der durchschnittliche Monatslohn eines Cowboys betrug damals etwa 30 US-Dollar. Eines der ca. 60 heute noch erhaltenen Exemplare des Modells 1873 „One of One Thousand“ hat derzeit einen Sammlerwert von bis zu 125.000 US-Dollar.
Der Film thematisiert mehrfach eine Konkurrenz zum Henry-Gewehr, das als weniger tödlich und zuverlässig charakterisiert wird. Das Henry-Gewehr war jedoch nicht, wie suggeriert, ein Konkurrenzprodukt der Winchester-Modelle, sondern deren direkter technischer Vorläufer, das sogar vom selben (allerdings 1866 umbenannten) Hersteller stammte.
Produktionsgeschichte
Drehbuch, Beteiligte und Produktion
Fritz Lang wählte für seine gerade neu gegründete Produktionsfirma Diana Production Company als einen der Stoffe Winchester ’73, eine Geschichte von Stuart N. Lake, aus und arbeitete an der Entwicklung des Films. Laut Lang war die Haupthandlung des Filmes zu diesem Zeitpunkt folgende: „Ein Westerner verliert sein Gewehr, eine Winchester ’73, die für ihn der einzige Lebensgrund und das Symbol seiner Stärke war. Er muss diese Waffe finden oder einen neuen Grund zum Leben finden. Er muss seine verlorene Kraft wiederfinden.“ Unter Hollywood-Produzent Walter Wanger, der u. a. bereits mit Ringo (John Ford, 1939) für Western verantwortlich war und mit Fritz Lang zuvor drei Filme produziert hatte, sollte Winchester ’73 – nach Langs Vorstellung in Technicolor – realisiert werden. Stuart N. Lake verfasste bereits bis April 1946 einen Drehbuch-Rohentwurf für Winchester ’73. Der 200 Seiten umfassende Entwurf wurde verworfen und Howard Dimsdale begann im Oktober desselben Jahres die Arbeit an einem völlig neuen Drehbuch. Währenddessen fiel Fritz Langs Geheimnis hinter der Tür (1948) an den Kinokassen durch, und Langs Zerwürfnis mit seinem Produzenten Walter Wanger und Probleme mit dem Vertrieb durch Universal Pictures und der Zensur führten dazu, dass Langs Verlängerung der Option auf die Idee Winchester ’73 verfiel, da er nicht rechtzeitig bis Juni 1948 ein fertiges Drehbuch vorweisen konnte. Die Rechte gingen zurück an den ursprünglichen Inhaber Universal und die Leitung des Projekts wurde vom Produzent Aaron Rosenberg übernommen, der zunächst James Stewart mit dem Projekt zusammenbrachte.
Mit der Regie wurde nun Anthony Mann beauftragt. Stewart erinnert sich in einem Interview an die Verknüpfung Anthony Manns mit Winchester ’73 auf die Frage, ob Stewart Mann als Regisseur vorgeschlagen habe: „Niemand von uns hatte je den Namen Anthony Mann gehört. Aber auf den Film, den er gemacht hatte – ein Western – und sie alle hatten die gleiche Reaktion. Sie sagten: ‚Das ist ein wunderschön inszenierter Film. Wenn man einen guten Western hat, dann wäre dies der richtige Mann dafür.‘“ Stewart hatte Mann jedoch bereits in den 1930er-Jahren beim Theater kennen gelernt.
Mann arbeitete mit Borden Chase – seinem „bevorzugten Drehbuchautor“ – am endgültigen Drehbuch. Die Besetzung wurde aus Vertragsschauspielern der Universal Pictures mit James Stewart in der Hauptrolle zusammengestellt. Nach drei Jahren der Vorproduktion begannen die Dreharbeiten schließlich 1949 unter der künstlerischen Gesamtleitung Anthony Manns und als Schwarzweißfilm in Tucson, Arizona.
Da sich die Produktion die 200.000 US-Dollar Gagenforderung des bereits bekannten Star-Schauspielers James Stewart nicht leisten konnte, griff man auf eine damals unübliche Praxis zurück: Stewart wurde prozentual an den Einspielergebnissen des Filmes beteiligt. Der überraschende Erfolg des Filmes brachte Stewart schließlich ein Einkommen von 600.000 US-Dollar für seine Mitarbeit ein. In den folgenden Jahren setzte sich diese Bezahlung für Starschauspieler immer weiter durch und ist bis heute in Hollywood üblich.
Zwei Schauspieler, die später sehr erfolgreiche Hollywoodstars werden sollten, hatten ihre ersten Filmauftritte in kleinen Rollen: Tony Curtis spielt einen jungen Soldaten und Rock Hudson ist mit Schminke und Perücke als Indianer Young Bull zu sehen.
Der Film erhielt 1967 ein gleichnamiges Remake. Der amerikanische Fernsehfilm fügte Szenen hinzu, die die Vergangenheit der Hauptcharaktere erzählen. Dan Duryea, der im Original den Verbrecher Waco Johnnie Dean spielte, tritt hier als Vater der beiden verfeindeten Brüder auf.
Anthony Mann und James Stewart
Für den Regisseur Mann und seinen Hauptdarsteller Stewart war Winchester ’73 ein entscheidender Wendepunkt in ihren Karrieren. Für Mann war es der Aufstieg zum Regisseur von A-Filmen; für Stewart war es ein wichtiger Schritt zur Veränderung seines Images. Roger Ebert schrieb in einem Artikel zum Tode Stewarts, dass „es Mann war – mehr als jeder andere –, der Mr. Stewart in die Richtung seiner späteren Laufbahn gelenkt hatte“.
Mann kam vom Theater zum Film. In den 1950ern führte er vor allem bei kostengünstigen Genrefilmen Regie, zunächst Filme des Film noir und bis Ende der 1950er vom Film noir beeinflusste Polizeifilme. Mit dem 1950 veröffentlichen Die Farm der Besessenen drehte er seinen ersten Western, der ihm auch die Regiearbeit für Winchester ’73 einbrachte. Der Erfolg dieses Filmes gab ihm die Möglichkeit, acht weitere Western zu drehen und zu einem der wichtigen Regisseure des Genres zu werden. Gleichzeitig feierte er ab den 1950ern mit Filmen verschiedenster Genres kommerzielle Erfolge.
James Stewart war bereits ein Star, als er in Winchester ’73 spielte. Nach der Arbeit am Theater wurde er in den 1930ern bekannt durch seine Mitarbeit in einer Vielzahl von Screwball-Komödien. Neben diesen prägten auch seine Hauptrollen in den Melodramen von Frank Capra Stewarts prominentes Image des American everyman (deutsch: „amerikanischer Durchschnittsbürger“). Seine beachtete Teilnahme als Pilot in Kampfeinsätzen des Zweiten Weltkriegs unterstützten dieses Image des perfekten Amerikaners weiter. Seine Rollen in den Filmen von Alfred Hitchcock und Anthony Mann in den 1950ern veränderten dieses Image. Der Gewaltausbruch und die Besessenheit seiner Figur in Winchester ’73 schockierten die Zuschauer umso mehr, da er wider sein bisheriges Image spielte. Auch in seinen späteren Western mit Mann waren die Figuren Stewarts ähnliche, von Besessenheit getriebene Westerner. Beinahe parallel ließ Hitchcock in seinen Filmen Stewarts Rollen immer mehr zum gebrochenen Mann werden. Diese Entwicklung der Figuren, die Stewart unter Mann und Hitchcock verkörperte, gipfelte schließlich in Hitchcocks Vertigo – Aus dem Reich der Toten (1958).
Mann drehte in den 1950er Jahren insgesamt fünf Western mit Stewart. Die schon angesprochene Ähnlichkeit der Figuren vollzieht sich hier bis zur fast identischen Inszenierung von Gewaltausbrüchen Stewarts. Über die Western hinaus übernahm Stewart auch in weiteren Filmen Manns die Hauptrolle, etwa in der Filmbiografie Die Glenn Miller Story (1953).
Rezeption
Erstaufführung
Winchester ’73 war bei seiner Erstaufführung am 12. Juli 1950 in den USA ein Box-Office-Erfolg. In der TIME wurde Winchester ’73 als zweiterfolgreichster Film des Monats angegeben; er war in dieser Auflistung der einzige ernste Western.
Die Kritik der TIME eröffnete mit „Winchester ’73 ist ein flotter (crisp) Western“, lobte die Darsteller, vor allem die Kameraarbeit und schloss mit: „Eindrucksvoll in Schwarzweiß gefilmt, ist der Film mit einem Blick für realistische Details, einem Ohr für die oft natürlichen Dialoge des Drehbuchs und der Fertigkeit, Spannung zu erzeugen, inszeniert.“
Der deutsche Filmstart vom 9. Februar 1951 wurde von der deutschen Tagespresse nicht beachtet. Die Filmseiten widmeten sich zum Großteil Retrospektiven des deutschen Films vor und nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem damaligen Skandalfilm Die Sünderin; Western wurden kaum besprochen. In einer Filmbesprechung der Filmzeitschrift Deutsche Film-Illustrierte wurden wiederum die Darsteller gelobt und der Artikel mit einem positiven Resümee beendet: „Es wird zwar ein wenig viel mit der ‚Winchester ’73’ und anderen Modellen geschossen und getötet, aber nicht so unmotiviert, grausam-dilettantisch und in altbekannter Manier, dass nicht auch ein Wildwest-Verneiner sich diesen Film mit Genuss ansehen könnte.“
Spätere Rezeption, Einordnung und Einfluss
In der Nachbetrachtung wird Winchester ’73 äußerst positiv bewertet. Gelobt wird der Film in zahlreichen Besprechungen vor allem für die Filmstruktur, die Beziehungen zwischen den Charakteren, die Darsteller und die Inszenierung. Das Lexikon des Internationalen Films fasst diese Argumente in zwei Sätzen zusammen: „Ein spannender, psychologisch sehr sorgfältig fundierter Western, der bei allem Aktionsreichtum das Geschehen in ruhigen, kalkulierten Einstellungen vermittelt, die der Landschaft und den sorgsam rekonstruierten Interieurs breiten Raum lassen.“ Für die Bewertung der Schauspieler fügt das Lexikon nur ein einfaches „Ausgezeichnet gespielt“ hinzu. Thomas Jeier bescheinigt dem Film in einer von ihm erstellten Übersicht über den Western-Film, „eine der spannendsten und am besten fotografierten Schießereien in der Geschichte des Westernfilms“ zu zeigen.
Winchester ’73 wird in späteren Rezensionen oft als Wendepunkt des Western und Startpunkt des Edelwestern genannt. Dabei wird der Erfolg von Winchester ’73 an den Kinokassen auch immer als Beginn für die Produktion von teureren Westernfilmen genannt, der den großen Erfolg und die Wiederbelebung des amerikanischen Westerns in den 1950ern einläutete. So schreiben Ulrich Gregor und Enno Patalas in ihrer ausführlichen Filmgeschichte: „[Anthony Mann] ist wie keinem anderen die Regeneration des Western zu verdanken.“
Der Western hatte in den 1940er Jahren zunehmend an Bedeutung verloren und fand vor allem in einfachen „Cowboy-und-Indianer-B-Movies“ seinen Weg auf die Leinwand. Der große finanzielle Erfolg von Winchester ’73 brachte die Studios dazu, vermehrt Gelder in die Produktion von Western zu stecken und wird oft als Startpunkt der an den Kinokassen und bei Filmkritikern äußerst erfolgreichen Phase des amerikanischen Westernfilms bis in die 1960er Jahre gesehen.
Darüber hinaus sind die komplexeren Figuren und die darin mitschwingende kritischere Sicht auf die Besiedlung Amerikas und den Westernfilm an sich ein neuer Ansatz, den sich Winchester ’73 mit anderen Western dieser Zeit teilt. Nachfolgende Filme – in der amerikanischen Filmgeschichte auch „adultwestern“ genannt – übernehmen zum Großteil diese Sichtweise. Der Western wurde vom einfachen Abenteuerfilm zur „Spielwiese für Fragen der Macht, Moral und Politik“ erhoben. Neben Manns Filmen sind es u. a. die Western von John Ford, der mit Ringo und Faustrecht der Prärie schon vor 1950 ähnliche Ansätze zeigt, die den amerikanischen Edelwestern der 1950er prägten und die Motive des Spätwestern schon vorwegnahmen.
Davon unabhängig wird Winchester ’73 auch in eine Untergruppe der Western dieser Zeit eingeordnet, die vor allem die Waffen und das Schießen thematisieren. Andere Filme dieser Gruppe wie Vera Cruz (Robert Aldrich, 1956) oder Der Scharfschütze (Henry King, 1950) enthalten ebenfalls Duelle und die Verehrung von Waffen oder zeigen das Leben besonders bekannter Schützen.
Inszenierung
Filmstruktur und Spannungslenkung
Mit „[eine] Kombination von gerader Linie und Kreis zeigt sich in der Konstruktion der Handlung von Winchester ’73“ beschreibt Oplustil die Haupterzählstruktur des Filmes, die sich in Lins geradlinige Verfolgung von Dutch und das Schicksal der titelgebenden Waffe aufteilt. Die meisten Rezensenten unterscheiden diese zwei Handlungsebenen.
Dabei teilen sich beide Handlungsstränge auf eine große Anzahl für das Western-Genre typische Szenen und Settings auf: Saloon, Wettschießen, (Kutschen-)Verfolgungsjagd, Lagerfeuer, Wagenburg, Kavallerie, Indianerüberfall, Indianerbelagerung, Sheriff gegen Banditenbande, Pokerspiel, Banküberfall und schließlich der finale Shoot-Out Mann gegen Mann. Trotz dieser „Anthologie“ von Elementen des Westernfilms und der zwei Handlungsstränge wird Winchester ’73 von Kritikern häufig große Spannung zugesprochen. Die Formalspannung (eine inhaltsunabhängige Untersuchung des Schnitte-pro-Minute-Verhältnisses eines Films; siehe Grafik unten) weist durch einige hervorstechende Höhepunkte vor allem auf die Sequenzen der Indianerangriffe und des Banküberfalls und finalen Shoot-Outs als spannend inszeniert hin. Diese Sequenzen werden auch in Besprechungen als Spannungshöhepunkte beschrieben; vor allem der finale Shoot-Out der beiden Brüder wird meist hervorgehoben. Mann wählte eine Felsformation mitten in der Wüste als Hintergrund für dieses Duell und zeigt sich zufrieden damit, dass er diesen Drehort entdeckt hatte, da die „beiden Männer […] nicht auf einem flachen Terrain miteinander [hätten] kämpfen dürfen. Beide sind zu gute Schützen, das Duell hätte nur 15 Sekunden gedauert.“
Der filmübergreifende Spannungsbogen ergibt sich bei Winchester ’73 aus der Suche von Lin nach seinem Bruder. Diese Beziehung setzt Beginn und Ende und ist „zentraler Fokus“ des Films. Die große Anzahl von Sequenzen in der Mitte des Films, die sich nur um die Geschichte der Winchester drehen, werden immer wieder von kurzen Reiseszenen Lins unterbrochen (siehe Grafik), denn „auch wenn die Erzählung ein wenig fragmentiert ist, […] [Lin] hat die Aufgabe den Film zusammenzuhalten“.
Zusätzlich wird Spannung dadurch erzielt, dass sich die genaue Beziehung (Lin und Dutch sind Brüder) und die Motivation von Lin (Dutch hat den gemeinsamen Vater umgebracht) erst im Laufe des Films stückweise dem Zuschauer erklärt. So erfährt der Zuschauer, nachdem er zu Beginn des Filmes keine Erklärung für die Jagd auf Dutch erhalten hat, zunächst nur, dass Lin und Dutch den gleichen Lehrer für den Umgang mit Waffen hatten; später wird dieser durch eine Fotografie als wahrscheinlicher gemeinsamer Vater enthüllt und erst kurz vor Schluss wird der Vatermord als Begründung für Lins Racheplan offenbart. Anthony Mann hat sich laut Stewart zu dieser Filmkonstruktion in Winchester ’73 mit „don’t spill the beans“ (deutsch: „nicht gleich alles ausplaudern“) geäußert; eine Filmkonstruktion, die Mann auch in weiteren Filmen einsetzte (z. B. in Der Mann aus Laramie, 1955, und Der Stern des Gesetzes, 1957).
Der Weg der Waffe als weiterer Handlungsstrang wird schon durch eine Texttafel am Anfang des Films deutlich. Sie verheißt, dass der folgende Film „die Geschichte der Winchester Büchse, Modell 1873“ sei. Weiter heißt es: „Dem Cowboy und dem Soldaten, dem Polizisten und dem Verfolgten war die Winchester 73 ein teurer Besitz. Und jeder Indianer hätte für dieses Gewehr seine Seele verkauft“ Dieser Fokus auf die Winchester wird auch in der Montage deutlich, so beginnt jedes der fünf durch eine Auf- und Abblende gekennzeichnete Kapitel des Filmes mit einer Nahaufnahme der Winchester. Erst mit einer Kamerafahrt wird der jeweilige Besitzer der Waffe in den Focus der Erzählung gerückt. Der Anfang des Films wird dabei jedoch durch eine Überblendung von der beschriebenen Texttafel auf die in einem Schaukasten ruhende Winchester realisiert.
Motive: Rache und Gier
Mann nutzt in seinem Film zwei Hauptmotive: Rache und Gier. Diese für den Western typischen Motive treiben die jeweiligen Haupterzählstränge des Filmes voran. Dabei ist vor allem die Rache als Motivation der Hauptfigur in den amerikanischen Western der 1950er und 1960er (u. a. Der schwarze Falke) und stärker noch im Italowestern ab 1963 als Hauptmotiv zu finden.
Die Waffe zeigt die Gier der Charaktere und veranlasst sie zu verbrecherischen Taten wie einem kaltblütigen Mord, um sie in den eigenen Besitz zu bringen. In Movies and Methods. Vol. I wird die Winchester in Winchester ’73 als einem „göttlichen Objekt“ ähnlich beschrieben, das in einer sich verändernden Welt für etwas „Beständiges, Perfektes und Schönes“ steht und in der Art der „Waffen in der mittelalterliche Romantik“ alleine durch die Präsenz auf das menschliche Verhalten des Waffenträgers einwirkt. Die Besonderheit der Sonderausgabe der Winchester, die im Film vorkommt, wird durch eine hohe Anzahl von Szenen hervorgehoben: Die Dorfbewohner bestaunen die Winchester im Schaukasten, der Sheriff stellt sie beim Duell als Hauptpreis ausgiebig vor und auch die folgenden Banditen, Indianer und Soldaten nehmen sich Zeit, die Winchester zu betrachten und zu preisen. Dabei wird die Waffe in vielen Rezensionen als eine Art MacGuffin beschrieben, der lediglich Aktionen der Personen veranlassen soll.
Die Rache als Motiv des Protagonisten Lin treibt den anderen Handlungsstrang voran. Diese Rache wird durch den Umstand, dass Rächer und Gejagter Brüder sind, noch verstärkt. Es ist ein Motiv, das Mann auch in seinen folgenden Western einsetzen wird. Manns rachegetriebene Protagonisten, die in den Folgefilmen mehr noch als Lin in Winchester ’73 außerhalb der Gesellschaft leben, zeigen dabei oft gleiche Charakteristika. Lin hat ein Leben in der Gesellschaft aufgegeben, um Rache nehmen zu können; die lange Dauer der Suche nach Dutch wird indirekt angedeutet. Spätere Stewart-Mann-Protagonisten leben noch stärker in ihrer Vereinsamung und kämpfen nicht mehr wie Lin neben der Rache für die „gerechte Sache“. Dabei werden die negativen Aspekte der Protagonisten bei Mann durch den Vollzug oder das Ablassen von Rache am Ende des Filmes wieder zu rechtschaffenen Bürgern, denn die „Kain und Abel-Motive von Manns Western (Winchester ’73, Meuterei am Schlangenfluß) […] scheinen eine Lösung deshalb zu finden, weil der Held positiv auf die geänderten Situationen reagiert“.
Gewaltausbrüche
Besonders in der späteren Rezeption des Filmes wird auf den Gewaltausbruch Lins in der letzten Sequenz des Filmes eingegangen. Lin überwältigt Waco Johnny Dean dabei und „greift Deans Arm, verdreht ihn auf gemeine Weise hinter dessen Rücken, und schlägt Wacos Gesicht auf den Tresen, während der um Gnade fleht“. Der Wutausbruch, der sich darüber hinaus im Gesicht des Schauspielers Stewart deutlich zeigt, wird dabei aus einer Untersicht gefilmt und ohne Vorwarnung inszeniert. Das Verhalten des Helden, das den damaligen Westernkonventionen überhaupt nicht entspricht, wird also als Schockeffekt inszeniert und zeigt deutlich die negative Seite des Protagonisten, der Züge eines Anti-Helden annimmt. Der Gewaltausbruch wird auch in späteren Mann-Stewart-Western – oft mit einer fast identischen Inszenierung – und weiteren Mann-Filmen genutzt, um den Zwiespalt des Charakters des Hauptdarstellers offenzulegen.
Synchronisation
Medien
Winchester ’73 wurde auf 35-mm-Schwarzweiß-Film gedreht und – mit einem Bildformat von 1,37:1 – auch 1950 in die Kinos gebracht. Für die deutsche Kinoauswertung 1951 erfuhr der Film eine Synchronisation in deutscher Sprache. Siegmar Schneider spricht hier wie in über 30 weiteren deutschen Synchronisationen Stewart.
Ab den 1970er Jahren wurde der Film in Deutschland häufig von verschiedenen Fernsehsendern (unter anderem ZDF, Bayerisches Fernsehen und kabel eins) ausgestrahlt. Eine Auswertung auf VHS und DVD folgte. Für die Laserdisc-Veröffentlichung des Heimvertriebs von Universal wurde ein Audiokommentar in Form eines Interviews mit James Stewart produziert. Dieser einzige Audiokommentar Stewarts wurde ebenfalls auf nachfolgenden DVD-Veröffentlichungen integriert.
Auszeichnungen
Die Writers Guild of America nominierte in ihrer dritten Auszeichnungsgala 1951 das Drehbuch von Robert L. Richards und Borden Chase in der Kategorie des besten Drehbuchs für einen Westernfilm. Winchester ’73 verlor jedoch gegen Der gebrochene Pfeil (Delmer Daves, 1950) nach einem Drehbuch von Albert Maltz, der ebenfalls James Stewart in der Hauptrolle hatte. Das American Film Institute hat in seiner Liste zur Nominierung der „besten amerikanischen Filme aller Zeiten“ Winchester ’73 auf Rang 578 platziert.
Einzelnachweise
Literatur
Jim Kitses: Horizons West - Directing the Western from John Ford to Clint Eastwood. London: British Film Institute 2004. S. 139–171, ISBN 1-84457-050-9 (Analyse der Figuren, Themen und Inszenierungsstrategien in Anthony Manns Western)
Karlheinz Oplustil: Winchester ’73. In: Bernd Kiefer / Norbert Grob (Hrsg.): Filmgenres. Western. Reclam, Ditzingen 2003, ISBN 3-15-018402-9 (Kurzanalyse von Winchester ’73)
Weblinks
Filmtitel 1950
US-amerikanischer Film
Schwarzweißfilm
Western
Anthony Mann |
2177619 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsschenkelblock | Rechtsschenkelblock | Als Rechtsschenkelblock (abgekürzt RSB oder seltener auch RBBB vom engl. right bundle branch block) wird in der Medizin eine Störung der Erregungsleitung im Herzen und auch der dabei vorliegende Befund im Elektrokardiogramm (EKG) bezeichnet.
Die Erregungsleitungsstörung „Rechtsschenkelblock“ verursacht keine Beschwerden, kann aber, wie auch der Linksschenkelblock, Hinweis auf eine bedeutsame Herzerkrankung oder eine andere Belastung der rechten Hauptkammer sein. Als Ursachen eines Rechtsschenkelblocks kommen Durchblutungsstörungen, Entzündungen des Herzens oder Volumenbelastung der rechten Herzkammer, selten auch Vergiftungen in Frage. Häufig jedoch lässt sich keine Ursache feststellen. Eine spezielle Therapie ist nicht erforderlich.
Der EKG-Befund „Rechtsschenkelblock“ ist durch Veränderungen des QRS-Komplexes charakterisiert, der im EKG die Aktivierung der Herzkammern abbildet. Diese Veränderungen können in verschiedenen Ausprägungen auftreten. Als „kompletter Rechtsschenkelblock“ weisen sie auf eine Leitungsstörung im rechten Tawara-Schenkel hin, der als Teil des Erregungsleitungssystems die rechte Herzkammer versorgt. Als „inkompletter Rechtsschenkelblock“ hingegen können sie auch bei Herzgesunden ohne krankhafte Bedeutung vorhanden sein.
Entstehung
Die Entstehung eines Rechtsschenkelblocks lässt sich anhand der Anatomie des Erregungsleitungssystems sowie der Physiologie und Pathophysiologie der Erregungsleitung im Herzen erläutern.
Erregungsleitungssystem
Das Herz von Säugetieren besitzt spezialisierte Herzmuskelzellen, die elektrische Impulse (Aktionspotentiale) erzeugen und innerhalb des Herzens über sogenannte Gap junctions weiterleiten. Diese Zellen bilden das Erregungsleitungssystem.
Unterhalb des sekundären Herzschrittmachers, des sogenannten AV-Knotens, verzweigt sich der als His-Bündel bezeichnete Anteil des Erregungsleitungssystems zunächst in den rechten und linken Tawara-Schenkel. Der linke Schenkel teilt sich zusätzlich in ein hinteres und ein vorderes Faserbündel auf, den linksposterioren und linksanterioren Faszikel.
Von den sogenannten Purkinje-Fasern, den Endverzweigungen der Tawara-Schenkel, breitet sich die Erregung dann in der Muskulatur der Herzkammern (Ventrikel) aus. Dabei sind die Fasern des rechten Tawara-Schenkels hauptsächlich für die Muskulatur der rechten Herzkammer und die Fasern der beiden Faszikel des linken Schenkels für den linken Ventrikel verantwortlich.
Normale Erregungsleitung
Innerhalb des Erregungsleitungssystems ist die Leitungsgeschwindigkeit mit etwa zwei Metern pro Sekunde (m/s) so hoch, dass die durchschnittlich fünf bis zehn Zentimeter vom AV-Knoten zur Spitze des menschlichen Herzens innerhalb von 25–50 Millisekunden (ms) überwunden werden. Eine Ausnahme bildet der AV-Knoten selbst, der die Erregungsüberleitung von den Vorhöfen auf die Ventrikel verzögert, um eine ausreichende Füllungszeit der Kammern zu garantieren. Die Muskelzellen an der Innenwand beider Herzkammern werden innerhalb weniger Millisekunden nahezu gleichzeitig depolarisiert. Von dort breitet sich die Erregung dann mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Meter pro Sekunde in der übrigen Muskulatur der Ventrikel aus.
Diese Art der Erregungsausbreitung bei einem intakten Erregungsleitungssystem führt zu einer synchronen Kontraktion der Muskulatur der linken und der rechten Herzkammer zu Beginn der Austreibungsphase (Systole) des Herzens.
Pathophysiologie
Bei einem kompletten Rechtsschenkelblock ist die Weiterleitung der elektrischen Impulse im rechten Tawara-Schenkel verlangsamt oder völlig blockiert. Solange wenigstens ein Faszikel des linken Tawara-Schenkels noch funktioniert, breitet sich die Erregung von dessen Endästen auch zur Muskulatur der rechten Herzkammer aus. Deren Muskelzellen werden dann etwa 50 ms später depolarisiert als jene der linken Herzkammer. Diese Verzögerung ist auf den Umweg der Impulse über den linken Tawara-Schenkel und die langsamere Erregungsleitung in der Arbeitsmuskulatur (etwa 1 m/s) im Vergleich zu den Zellen des Erregungsleitungssystems (etwa 2 m/s) zurückzuführen.
Ursachen
Die möglichen Ursachen eines Rechtsschenkelblocks sind vielfältig. Sie reichen von nur leichten Berührungen der Kammerscheidewand (Ventrikelseptum) während einer Herzkatheteruntersuchung bis hin zu schweren Herzkrankheiten wie Herzinfarkten oder Belastungen des rechten Herzens bei Lungenkrankheiten (Cor pulmonale). Besonders bei jüngeren Menschen wird er auch ohne erkennbare Ursache beobachtet. Ein kompletter Rechtsschenkelblock hat fast immer eine organische Ursache. Ein inkompletter RSB hingegen kann neben einer leichten Leitungsverzögerung im rechten Tawara-Schenkel auch andere Ursachen haben und auch bei normaler Erregungsleitung auftreten.
Angeborene Ursachen
Angeborene Herzerkrankungen wie der Vorhofseptumdefekt können einen RSB verursachen. In sehr seltenen Fällen ist der RSB auf eine Erbkrankheit mit autosomal dominantem Erbgang zurückzuführen, wie er in einer großen libanesischen Familie festgestellt wurde. Bei ihr führt ein auf dem langen Arm des Chromosom 19 lokalisierter Defekt zu verschiedenen Erregungsleitungsstörungen wie RSB, Blockierungen in einem der linken Tawara-Schenkel oder einem kompletten AV-Block.
Auch für die arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie und das Brugada-Syndrom, die den „angeborenen primären Kardiomyopathien“ zugerechnet werden, ist das familiär gehäufte Auftreten eines RSB charakteristisch. Bei diesen seltenen angeborenen Herzmuskelerkrankungen treten gehäuft lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen auf.
Erworbene Ursachen
Am häufigsten sind RSB bei älteren Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit. Auch primäre Herzmuskelerkrankungen (Kardiomyopathie) und akute oder chronische Belastungen des rechten Herzens durch Lungenerkrankungen (akutes und chronisches Cor pulmonale) zählen zu den häufigen Ursachen. Bei einer Lungenembolie weist ein Rechtsschenkelblock auf ein akutes Cor pulmonale hin, bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung oder Lungenfibrose ist er ein Indiz für ein chronisches Cor pulmonale.
Herzmuskelentzündungen (Myokarditis) oder entzündliche Veränderungen an den Herzkranzgefäßen bei Periarteriitis nodosa oder Endangiitis obliterans zählen zu den seltenen Ursachen. Auch im Rahmen anderer Entzündungen kann ein RSB auftreten, geläufig beispielsweise sind Erregungsleitungsstörungen bei einer Herzmuskelentzündung im Rahmen der Borreliose (Lyme disease).
Auch bei Herzklappenfehlern können Rechtsschenkelblockbilder auftreten, ebenso nach operativen Eingriffen am Herzen, wenn die rechte Herzkammer eröffnet wurde. Dies ist insbesondere nach einem Verschluss von Defekten der Kammerscheidewand (Ventrikelseptumdefekt) häufig und kann sich in den Jahren nach der Operation auch zurückbilden.
Andere mögliche Ursachen sind Vergiftungen (Intoxikationen) und Elektrolytstörungen. Beschrieben sind RSB bei Vergiftungen mit Blei und Arsen, und auch eine Reihe von Arzneimitteln wie Betablocker, trizyklische Antidepressiva, Diphenhydramin, Chloroquin und Digitalispräparate kommen in Frage. Auch eine zu hohe Konzentration von Kalium im Blut (Hyperkaliämie) kann einen Rechtsschenkelblock verursachen.
Diagnosekriterien und Nomenklatur
Die Kriterien für die Diagnose eines Rechtsschenkelblockes sind nirgends verbindlich festgelegt. Die heute üblichen Definitionen orientieren sich an der Dauer oder Breite und bestimmten Merkmalen des QRS-Komplexes im EKG. Dabei schwanken die Angaben für die Obergrenze der normalen QRS-Dauer beim Menschen in der Literatur zwischen 100 und 120 ms, der am häufigsten genannte Grenzwert liegt bei 120 ms. Der sogenannte „Obere Umschlagspunkt“ (OUP) oder „Beginn der größten Negativitätsbewegung“ (GNB) liegt mehr als 30 ms nach Beginn des QRS-Komplexes.
Die Diagnose eines Rechtsschenkelblocks erfolgt beim Menschen unabhängig von Alter und Geschlecht, obgleich die Dauer des QRS-Komplexes in Abhängigkeit von diesen Merkmalen variiert. So beträgt die mittlere QRS-Dauer bei Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr 56 ms, mit 12–15 Jahren 65 ms, bei Frauen mit einem Lebensalter von mehr als 49 Jahren 87 ms und bei Männern im Alter von 18 bis 29 Jahren 96 ms.
Kompletter Rechtsschenkelblock
Von einem „kompletten Rechtsschenkelblock“ oder „vollständigen Rechtsschenkelblock“ wird üblicherweise gesprochen, wenn beim Menschen
die Dauer des QRS-Komplexes mindestens 120 ms beträgt und
in den Ableitungen V1 und V2 breite, gekerbte R-Zacken sowie
in den Ableitungen V5 und V6 breite, tiefe S-Zacken nachzuweisen sind.
Bei Tieren sind andere Grenzwerte für die QRS-Dauer zu berücksichtigen (vgl. veterinärmedizinische Aspekte).
Inkompletter Rechtsschenkelblock
Dauert der QRS-Komplex bei ansonsten typischer Form weniger als 120 ms, so wird dafür oft der Begriff „inkompletter Rechtsschenkelblock“, seltener auch „unvollständiger“ oder „partieller Rechtsschenkelblock“ verwendet. Manche Autoren beschränken diese Diagnose auf Patienten mit einer QRS-Dauer zwischen 100 und 119 ms und bevorzugen bei einer geringeren QRS-Dauer die Bezeichnung „angedeuteter Rechtsschenkelblock“, „Rechtsverspätung“ oder „Rechtsverspätungskurve“. Diese Formen des Rechtsschenkelblocks sind allerdings nicht einheitlich definiert und werden auch bei Menschen mit normaler Erregungsleitung beobachtet. So liegt das Perzentil P98, welches nur zwei Prozent der Untersuchten überschreiten, für herzgesunde Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren bei 114 ms.
Wilson-Block
Der Begriff „Wilson-Block“ ist historisch begründet und heute nicht mehr üblich. Er wurde insbesondere im deutschsprachigen Raum bis in die 1970er-Jahre für diejenige Form des Schenkelblocks verwendet, die Wilson 1934 in Abgrenzung zum Bayley-Block zunächst als unusual type in right bundle-branch block (ungewöhnlichen Typ eines Rechtsschenkelblocks) bezeichnet hatte. Er entspricht der heutigen Definition des „normalen“ Rechtsschenkelblocks, ein Synonym ist „Rechtsschenkelblock vom häufigen Typ“.
Bayley-Block oder klassischer Rechtsschenkelblock
Auch die besonders in der deutschsprachigen Literatur der 1960er-Jahre verwendeten Bezeichnungen „klassischer Rechtsschenkelblock“ oder „Bayley-Block“ sind nicht mehr gebräuchlich. Mit ihnen wurde ein Spiegelbild des Linksschenkelblocks mit tiefen, breiten und oft gesplitterten S-Zacken in Ableitung I und demzufolge einem Rechtstyp oder überdrehten Rechtstyp der elektrischen Herzachse beschrieben. Seit den 1970er-Jahren geht man davon aus, dass dieses Blockbild durch eine Kombination aus einem RSB und einer Blockierung im posterioren Faszikel des linken Tawara-Schenkels (linksposteriorer Hemiblock oder LPH) hervorgerufen wird. Heute wird diese Kombination als bifaszikulärer Block bezeichnet.
Sonstige Formen
Ein nur vorübergehender Rechtsschenkelblock, bei dem das EKG nach Beseitigung einer leitungsverzögernden Ursache wieder normalisiert ist, bezeichnet man als „temporären“ oder „passageren Rechtsschenkelblock“. Dieses Phänomen kann nach einer Herzmuskelentzündung, einer länger anhaltenden Tachykardie oder einer Hyperkaliämie beobachtet werden. Bei einem spontanen Wechsel zwischen RSB und normaler Erregungsleitung ist der Begriff „intermittierender Rechtsschenkelblock“ geläufig. Als „bilateraler“ oder „alternierender Schenkelblock“ wird der seltene Wechsel zwischen Rechts- und Linksschenkelblock bezeichnet.
Diagnose
Erfahrene Ärzte können einen Rechtsschenkelblock bei der Auskultation im Rahmen der körperlichen Untersuchung gelegentlich „hören“. Durch die verspätete Kontraktion der rechten Herzkammer ist die Spaltung des ersten Herztones deutlicher und auch die bei der Einatmung (Inspiration) besonders prägnante Spaltung des zweiten Herztones ist durch den späteren Schluss der Pulmonalklappe betont. Diese Befunde sind aber mehrdeutig, eine sichere Diagnose ist nur mit Hilfe des Elektrokardiogramms (EKG) möglich.
Elektrokardiogramm
Durch die verzögerte Erregung der rechten Herzkammer ist der QRS-Komplex besonders in den EKG-Ableitungen über dem rechten Herzen (V1–3) abnorm geformt und verbreitert. Dort liegt der obere Umschlagspunkt (OUP) mehr als 30 ms nach Beginn des QRS-Komplexes und ist damit verspätet. Die häufigsten Formen des QRS-Komplexes werden als M-förmig, rsr'-Konfiguration, rsR'-Konfiguration, rR'-Konfiguration oder RsR'-Konfiguration, seltener auch als qR-Konfiguration beschrieben. In den Ableitungen mit der ausgeprägtesten Verspätung des oberen Umschlagpunktes ist die ST-Strecke häufig abfallend (deszendierend) gesenkt und die T-Welle negativ.
Der komplette RSB ist durch schlanke und hohe R-Zacken sowie breite, plumpe S-Zacken in den Ableitungen I, aVL und V5–6 mit einer normalen Lage der elektrischen Herzachse gekennzeichnet.
Differentialdiagnose
In der Regel ist der EKG-Befund eines Rechtsschenkelblocks eindeutig. Mit dem Linksschenkelblock (LSB) hat er zwar die QRS-Dauer von mehr als 120 ms gemein, unterscheidet sich von ihm aber deutlich durch die Ableitung mit der größten Verspätung des oberen Umschlagpunktes. Beim RSB ist es die Ableitung V1 oder selten V2, beim LSB eine der linksgerichteten Ableitungen (I,aVL,V5 oder V6).
Selten und nur bei einer schweren Schädigung des Herzmuskels wird ein stark verbreiterter QRS-Komplex beobachtet, der sowohl die Kriterien des RSB als auch die des LSB erfüllt. Dieser prognostisch ungünstige Befund wird als Verzweigungs- oder Arborisationsblock oder „diffuse intraventrikuläre Leitungsstörung“ bezeichnet.
Besonders bei jüngeren Patienten nach Synkope oder mit Blutsverwandten, die im Alter von weniger als 45 Jahren eine Synkope erlitten haben, ist es wichtig, bei Rechtsschenkelblockbildern auf Hinweise für ein Brugada-Syndrom oder eine arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (ARCM) zu achten. Eine zeltförmige oder gewölbte ST-Streckenhebung in mehr als einer der Ableitungen V1–3 macht ein Brugada-Syndrom wahrscheinlich und erfordert eine weitere differenzierte Therapie. Negative T-Wellen in den Brustwandableitungen (oft V2–4) und Extrasystolen mit rechtsschenkelblockartigem Aussehen weisen auf eine ARCM hin.
Die Abgrenzung eines isolierten Rechtsschenkelblocks von einem bifaszikulären Block, also einer Kombination aus RSB und linksposteriorem (LPH) oder linksanteriorem Hemiblock (LAH), erfolgt hauptsächlich durch Analyse der elektrischen Herzachse. Sie ist beim RSB normal und bei der Kombination RSB+LAH nach links verschoben. Als gesichert kann der LAH bei einer QRS-Achse < −45° gelten. Bei der Kombination RSB+LPH, die früher als „klassischer Rechtsschenkelblock“ bezeichnet wurde, ist die QRS-Achse nach rechts verschoben (gesichert bei > +120°).
Therapie
Ein Rechtsschenkelblock ohne erkennbare Herzerkrankung bedarf keiner Therapie.
Grundsätzlich besteht zwar bei einem Rechtsschenkelblock die Möglichkeit, die zeitliche Abfolge der Kammererregung mit Hilfe eines biventrikulären Herzschrittmachers („Dreikammerschrittmacher“) weitgehend zu normalisieren, in die Studien zu dieser als kardiale Resynchronisationstherapie (CRT) bezeichneten Behandlung waren jedoch nur wenige Patienten mit RSB eingeschlossen, so dass der Nutzen nicht gut belegt ist. Bei einer schweren Herzinsuffizienz und einer QRS-Dauer von mehr als 120 ms kann die CRT eingesetzt werden, wenn die beiden Herzkammern bei der Ultraschalluntersuchung des Herzens (Echokardiografie) ein ausgeprägt asynchrones Bewegungsmuster aufweisen.
Bei einem reinen Rechtsschenkelblock ist die Gefahr eines kompletten AV-Blocks durch ein Fortschreiten der Erregungsleitungstörung auf den linken Tawara-Schenkel gering. In Kombination mit einer Blockierung in einem der linken Faszikel (linksanteriorer oder linksposteriorer Hemiblock) hingegen sind besonders bei älteren Menschen die Wahrscheinlichkeit eines kompletten AV-Blocks und auch das Sterblichkeitsrisiko erhöht. Aus diesem Grund wird bei gleichzeitig bestehenden Blockierungen im linken Tawara-Schenkel an eine prophylaktische Schrittmacherimplantation gedacht. Sie kommt bei einem Wechsel zwischen Links- und Rechtsschenkelblock, bei zusätzlichen häufigen AV-Blockierungen und bei bereits erlittenen Synkopen in Frage.
Statistik
Epidemiologie
Bei Menschen ohne eine erkennbare Herzkrankheit beträgt der Anteil von EKG mit Rechtsschenkelblock etwa 0,12 bis 0,18 %. In den EKG von Patienten, die in einem Krankenhaus aufgenommen wurden, fand sich bei 3,6 % ein Rechtsschenkelblock, bei Patienten im Alter von 90 und mehr Jahren sogar bei 13 % der Frauen und 7 % der Männer.
Insgesamt gesehen ist der Rechtsschenkelblock etwa gleich häufig wie der Linksschenkelblock. Der Linksschenkelblock ist im Gegensatz zum Rechtsschenkelblock öfter Folge einer organischen Herzerkrankung.
Prognose
Abhängigkeiten der Prognose
Die Prognose von Menschen mit Rechtsschenkelblock hängt davon ab, ob zusätzlich eine erkennbare Herzerkrankung besteht. Bei Herzgesunden sind die Aussichten gut. Da in einer Studie bei der Royal Canadian Air Force an fast 140.000 jungen Männern keine nachteiligen Folgen des Rechtsschenkelblocks bei den 168 Betroffenen feststellbar waren, werden sie seit 1953 dort auch als Piloten akzeptiert. Diese Ergebnisse wurden 1996 anhand von Untersuchungen bei insgesamt 110.000 Personen ohne erkennbare oder vermutete Herzkrankheit nochmals bestätigt. Während Menschen mit einem Linksschenkelblock in den folgenden knapp zehn Jahren signifikant häufiger an einer koronaren Herzkrankheit litten und an einer Herzkrankheit verstarben als jene ohne Schenkelblock, war dies bei Menschen mit einem Rechtsschenkelblock nicht der Fall. Eine weitere Studie aus den USA zeigte bei Menschen mit einem zufällig entdeckten Rechtsschenkelblock ohne sonstige Anzeichen einer Herzkrankheit im Vergleich zu Menschen ohne Schenkelblock zwar einen Trend zu einer leicht erhöhten Sterblichkeit nach im Mittel 7,7 Jahren, der aber statistisch nicht signifikant war (relatives Risiko 1,18; Vertrauensbereich 0,85–1,65, p=0,32).
Bei Patienten mit Erkrankungen des Herzens oder auch anderer Organe hingegen weist ein EKG mit Rechtsschenkelblock auf eine schlechtere Prognose hin als ein normales EKG. So war die jährliche Sterblichkeit von Patienten mit Rechtsschenkelblock im Palo Alto Veterans Affairs Medical Center mit 3,6 % signifikant höher als die der Patienten mit einem normalen EKG (0,5 %).
Bei koronarer Herzkrankheit
Ein isolierter Rechtsschenkelblock hat bei Patienten, bei denen lediglich der Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit besteht, keine prognostische Bedeutung. Die Kombination von RSB und linksanteriorem Hemiblock (LAH) hingegen war in dieser Patientengruppe mit einer mehr als dreifach höheren Sterblichkeit nach etwa 3,5 Jahren verbunden.
Bei Patienten mit akuten Brustschmerzen ist der Rechtsschenkelblock erwiesenermaßen ein unabhängiger Risikofaktor für die Sterblichkeit in den folgenden sieben Tagen und insbesondere bei einem Herzinfarkt ist er bedeutsam. Er wird bei gut 10 % aller Infarktpatienten festgestellt und ist mit einem signifikant häufigeren Auftreten von Herzinfarktkomplikationen verbunden. So kommt es fast doppelt so häufig zu einer Herzinsuffizienz und schrittmacherbedürftige AV-Blockierungen treten sogar dreimal häufiger auf. In einer Studie war die Sterblichkeit innerhalb eines Jahres bei Patienten mit einem RSB mit 40,7 im Vergleich zu 17,6 % deutlich erhöht. Insbesondere bei neu aufgetretenen RSB, die sich nicht zurückbilden, ist die Sterblichkeit innerhalb von 30 Tagen mit 76 % hoch.
Veterinärmedizin
Relevanz
In der Tiermedizin hat der Rechtsschenkelblock lediglich bei Hunden, Katzen und Pferden eine klinische Bedeutung, wobei der entsprechende EKG-Befund beim Pferd diagnostisch nicht sicher ist, da sich eine Hypertrophie der Herzkammern ähnlich darstellen kann. Die Veränderung wird bei gesunden Hunden und Katzen gelegentlich als Zufallsbefund gesehen. Bei Katzen kann sich das Bild als Folge einer Hyperkaliämie bei Verschluss der Harnröhre zeigen. Weitere mögliche Ursachen sind Ventrikelseptumdefekt, Tumorerkrankungen des Herzens (insbesondere metastasierende Hämangiosarkome (Hund), Lymphosarkome (Katze) und Milchdrüsentumoren (beide)), Kardiomyopathien, Verletzungen, Herzwurmbefall, vorausgegangener Herzstillstand und chronische Trypanosoma-cruzi-Infektionen (Chagas-Krankheit). Beim Beagle kann ein – meist inkompletter – Rechtsschenkelblock Folge einer genetisch bedingten Veränderung der Wandstärke des rechten Ventrikels sein. Differentialdiagnostisch muss eine Vergrößerung des rechten Ventrikels ausgeschlossen werden. Obwohl ein Rechtsschenkelblock meist nicht medikamentös therapiert werden muss, kann er Anzeichen einer therapiebedürftigen Grunderkrankung des Herzens sein.
EKG-Veränderungen
Beim Hund beträgt die Dauer des QRS-Komplexes bei einem RSB mehr als 80 ms (oder 70 ms bei Zwergrassen), bei Katzen mehr als 60 ms. Die elektrische Herzachse ist üblicherweise nach rechts verschoben. Der QRS-Komplex ist positiv in den Ableitungen aVR, aVL und CV5RL (rV2) und hat in dieser Ableitung eine breite, häufig M-förmige RSR- oder rSR-Form. In V10 stellt er sich häufig W-förmig dar. In II ist er negativ. Die S-Welle ist vergrößert und verbreitert in den Ableitungen I, II, III, aVF, CV6LL (V2–3) und CV6LU (V4–6). Treten die beschriebenen Veränderungen bei einer normalen oder leicht erhöhten Dauer des QRS-Komplexes auf, besteht der Verdacht auf einen inkompletten Rechtsschenkelblock. Differentialdiagnostisch ist insbesondere bei Abweichungen vom normalen Sinusrhythmus – zum Beispiel bedingt durch Vorhofflimmern – das Vorliegen ventrikulärer Extrasystolen auszuschließen, da sich die therapeutischen Konsequenzen (etwa Gabe von Herzglykosiden) widersprechen.
Geschichte
Die Geschichte des Begriffs Rechtsschenkelblock als EKG-Diagnose begann im frühen 20. Jahrhundert. Im Rahmen seiner Pionierarbeit bei der Einführung der Elektrokardiografie beschrieb der niederländische Physiologe und spätere Nobelpreisträger Willem Einthoven 1906 und 1910 neben dem normalen EKG auch verbreiterte QRS-Komplexe und führte sie auf Störungen der Erregungsleitung zurück. 1917 präsentierten die Wiener Carl Rothberger und Heinrich Winterberg in der „Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin“ Versuchsergebnisse, die eine Unterscheidung zwischen Links- und Rechtsschenkelblock anhand des EKG erlaubten. Unter dem Titel „Experimentelle Beiträge zur Kenntnis der Reizleitungsstörungen in den Kammern des Säugetierherzens“ veröffentlichten sie ihre mit dem von Einthoven entwickelten String-Galvanometer gewonnene Erkenntnis, dass der QRS-Komplex nach Durchtrennung des rechten Tawara-Schenkels einer Extrasystole aus dem linken Ventrikel gleicht und bereits bei Druck auf den rechten Schenkel vorübergehend eine solche Form annimmt.
Die heute üblichen Beschreibungen des Rechtsschenkelblocks sind im Wesentlichen in den 1930er-Jahren entwickelt und maßgeblich von dem US-amerikanischen Kardiologen Frank Norman Wilson beeinflusst worden. In der Praxis unterschied man noch Anfang der 30er-Jahre nur zwei Arten des Schenkelblocks anhand der Form der QRS-Komplexe: einen häufigen (common type) und einen seltenen Typ (rare type). 1932 gelang es Wilson, den common type als Linksschenkelblock und den rare type als Rechtsschenkelblock zu identifizieren. Ab 1934 wurden die bis dahin üblichen Bezeichnungen common und rare type zunehmend aufgegeben, nachdem Wilson festgestellt hatte, dass ihre Häufigkeit keineswegs so unterschiedlich war wie bis dahin angenommen.
Ebenfalls 1934 beschrieb er die typische Form der QRS-Komplexe bei bifaszikulärem Block und führte sie auf eine Blockierung des rechten Tawara-Schenkels und einen unbekannten zusätzlichen Faktor zurück, da er in den nach ihm benannten Brustwandableitungen („Wilson-Ableitungen“) bei Hunden mit einer experimentell erzeugten Blockierung vergleichbare EKG-Befunde beobachtet hatte.
In den 1950er-Jahren konnten Braunwald und seine Mitarbeiter anhand der gleichzeitigen Registrierung von EKG und Druckkurven aus dem rechten Ventrikel nachweisen, dass ein Rechtsschenkelblock tatsächlich zu einer um etwa 0,05 Sekunden verspäteten Kontraktion der rechten Herzkammer führt.
Zu Beginn der 1970er-Jahre wurde gezeigt, dass ein inkompletter Rechtsschenkelblock bei Hunden häufiger auf eine vermutlich genetisch bedingte stellenweise Verdickung des rechtsventrikulären Herzmuskels als auf eine Leitungsverzögerung im rechten Tawara-Schenkel zurückzuführen ist, was zu einer teilweisen Neubewertung des inkompletten Blockbildes führte.
In den 1990er-Jahren wurde eine besondere Form des Rechtsschenkelblocks als eigenständige Erkrankung abgegrenzt, die für betroffene Patienten ein erhebliches Risiko für den plötzlichen Herztod bedeutet. Sie wird nach ihren Erstbeschreibern heute meist als Brugada-Syndrom bezeichnet und seit 2006 den Kardiomyopathien zugerechnet.
Literatur
D. Kalusche, G. Csapo: Konventionelle und intrakardiale Elektrokardiographie. 3. Auflage. Novartis Pharma GmbH, 1997, ISBN 3-933185-05-X.
D. M. Mirvis, A. L. Goldberger In: D. P. Zipes et al. (Hrsg.): Braunwald's Heart Disease: A Textbook of Cardiovascular Medicine. 7. Auflage. W.B. Saunders Company, Philadelphia 2004, ISBN 1-4160-0014-3, S. 114–128.
Weblinks
Farbkodierte Computersimulation der Erregungsausbreitung bei RSB (Format MOV, „movie 3“) bei The Visible Human Project der National Library of Medicine
Einzelnachweise
Krankheitsbild in der Kardiologie |
2242573 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof%20Tuttlingen | Bahnhof Tuttlingen | Der Bahnhof Tuttlingen ist die wichtigste von insgesamt acht Bahnstationen der baden-württembergischen Kreisstadt Tuttlingen. Der heutige Durchgangsbahnhof wurde zwischen 1928 und 1933 an neuer Stelle erbaut und ersetzte den wesentlich kleineren ersten Bahnhof aus dem Jahre 1869. Tuttlingen ist ein Eisenbahnknoten, der die Bahnstrecke Plochingen–Immendingen, die Bahnstrecke Tuttlingen–Inzigkofen und die Bahnstrecke Tuttlingen–Hattingen miteinander verknüpft. Er ist an das Intercity-Netz angeschlossen und eine der bedeutendsten Stationen im Ringzug-System. Dem Landkreis Tuttlingen dient er als die wichtigste Drehscheibe im Öffentlicher Personennahverkehr.
Geschichte
Der Bahnhof von 1869
Anschluss Tuttlingens an die Eisenbahn
Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich Tuttlingen in einer Randlage im südlichen Württemberg unmittelbar an der Grenze zu Baden. Trotz dieser Grenzlage lag Tuttlingen zunächst aber sehr verkehrsgünstig an der so genannten Schweizer Poststraße, einer wichtigen Nord-Süd-Straßenverbindung, die von Stuttgart an die Schweizer Grenze bei Schaffhausen führte. 1797 reiste über diese viel befahrene Straße unter anderem auch Johann Wolfgang von Goethe von Weimar über Tuttlingen in die Schweiz. Mit dem Bau der Württembergischen Hauptbahnen 1844 bis 1850 verlor die Schweizer Poststraße aber ihre Bedeutung und Tuttlingen seine verkehrsgünstige Lage. Dies änderte sich erst, als Württemberg seine Hauptbahnen durch weitere Strecken ergänzte und so auch Tuttlingen in die Reichweite des neuen Verkehrsmittels kam. Ab 1859 bauten die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen von Plochingen ausgehend die damals so genannte Obere Neckarbahn durch das Neckartal nach Südwesten. Tuttlingen bekam durch diese am 15. Juli 1869 erstmals Anschluss an das Eisenbahnnetz und gewann so seine zwei Jahrzehnte zuvor verlorene verkehrsgünstige Position zurück.
Auswirkungen des Bahnhofsbaus auf die Stadtentwicklung
Tuttlingens erster Bahnhof befand sich etwa dort, wo sich heute der Kreisverkehr am Aesculap-Platz befindet, also am Kreuzungspunkt der heutigen Bundesstraßen 14 und 311 weit außerhalb der damaligen Besiedlung und des damals existierenden Straßennetzes. Grund für diese vergleichsweise ungünstige Lage war, dass die Bahnstrecke vor allem als Verbindungsbahn zur Schwarzwaldbahn dienen sollte und die topographischen Gegebenheiten es schwierig machten, der Stadt einen zentral gelegenen Bahnhof zu geben. Die Bahnstrecke folgte ab Rottweil der Prim, dem Faulenbach und der Elta nach Süden und sollte von Tuttlingen aus nach Westen in das Tal der Donau wechseln und so den Schwarzwaldbahn-Bahnhof Immendingen erreichen. Die damalige Besiedlung Tuttlingens lag jedoch ausschließlich östlich des Zusammenflusses von Elta und Donau, so dass die Bahnstrecke an der Tuttlinger Besiedlung vorbeiführte, und der Bahnhof deutlich außerhalb der Tuttlinger Siedlungsstruktur erbaut werden musste. Um Tuttlingen an seinen weit entfernt liegenden Bahnhof anzuschließen, verlängerte die Stadt die damals Poststraße genannte Straße vom Rathausplatz bis zum Bahnhof. Diese Straße, die zunächst
hauptsächlich an Äckern und Wiesen vorbeiführte, erhielt somit die Funktion der zentralen Achse zwischen Zentrum und Bahnhof und wurde dementsprechend in Bahnhofstraße umbenannt. Zum Bau der Bahnhofstraße musste unter anderem auch die Donau, die ursprünglich im Bereich des heutigen Stadtgartens durchfloss, begradigt werden. Der Anschluss Tuttlingens an die Eisenbahn war auch mit ein Grund für das starke Wachstum der Stadt, die sich nun vor allem in Richtung Westen zum Bahnhof hin ausdehnte. Hatte Tuttlingen 1867, zwei Jahre vor dem Bahnanschluss, noch 7.031 Einwohner, wuchs die Zahl 1883 auf 8.343 Bewohner und 1900 auf 13.530 Einwohner. Die aufstrebende Tuttlinger Firma Jetter und Scheerer (heute Firma Aesculap AG) siedelte sich infolge des Bahnbaus im entstehenden Bahnhofsviertel an, wo sie zum einen gut für Pendler erreichbar war und zum anderen die produzierten Waren leicht mit der Bahn abtransportieren konnte. Der Bahnanschluss hatte erheblichen Anteil an der industriellen Entwicklung Tuttlingens, das vor dem Bahnanschluss noch weitgehend von Landwirtschaft und Handwerk geprägt war.
Entwicklung des Tuttlinger Eisenbahnanschlusses bis 1890
Die Fahrt vom Bahnhof Tuttlingen nach Stuttgart dauerte zunächst zirka acht Stunden (heute im IC etwa eine Stunde und 25 Minuten), was auch dem Umweg der Oberen Neckarbahn über Tübingen und Plochingen geschuldet war. Erst mit Vollendung der Bahnstrecke Stuttgart–Horb im Jahr 1879 entstand eine relativ direkte Strecke von Tuttlingen in die württembergische Landeshauptstadt. Aus Richtung Osten war Tuttlingen aber auch weiterhin nicht mit der Bahn zu erreichen, erst 1890 wurde die Stadt mit der Fertigstellung der Strecke nach Inzigkofen zum Eisenbahnknoten. Es bestand jetzt direkter Anschluss nach Ulm, Stuttgart und über Immendingen an die Schwarzwaldbahn. Eine Verbindung nach Singen (Hohentwiel) gab es jedoch nur über den Umweg über Immendingen, wo zudem ein Fahrtrichtungswechsel erforderlich war.
Der Bahnhof von 1933
Hintergrund: Der Ausbau der Verbindung zwischen Stuttgart und Singen
Nach dem Ersten Weltkrieg strebte der Volksstaat Württemberg einen Ausbau seiner Eisenbahnen an. Württemberg war aus wirtschaftlichen Gründen daran interessiert, dass der Verkehr von Berlin in die Schweiz über sein Territorium und nicht ausschließlich über die Nachbarländer Bayern und Baden verlief. Württemberg ging deshalb daran, seinen Teil einer Eisenbahnmagistrale von Berlin über Würzburg, Stuttgart und Tuttlingen nach Zürich auszubauen. Hierfür wurde am 23. Februar 1927 in einem Vertrag mit der Deutschen Reichsbahn zahlreiche Ausbaumaßnahmen beschlossen, die unter anderem zum Bau eines neuen Tuttlinger Bahnhofs führten. Es war vorgesehen, den Streckenabschnitt zwischen Horb und Tuttlingen vollständig zweigleisig auszubauen sowie den Umweg über Immendingen durch die so genannte Hattinger Kurve zu vermeiden.
Bau des neuen Bahnhofs 1928–1933
In den 1920er Jahren war der Bahnhof aus dem Jahre 1869 bereits an seiner Kapazitätsgrenze angelangt. Ein Ausbau des alten Bahnhofs war aber auf Grund seiner eingezwängten Lage zwischen der Donau, dem Ehrenberg und der Weimarstraße nicht möglich. Die geplante Verlegung eines zweiten Gleises Richtung Stuttgart in Verbindung mit der Neubaustrecke nach Hattingen (Baden) galt auf dem alten Gelände als unmöglich. Die Reichsbahndirektion Stuttgart, die mit den Bauarbeiten betraut war, beschloss deshalb, einen neuen Bahnhof auf der anderen Seite der Donau nochmals 200 m weiter vom Stadtkern entfernt zu errichten, wo sich genügend Entwicklungspotenzial für den Bahnhof bot. Das Bett der Donau wurde dafür auf etwa zwei Kilometern Länge in den Ortsteil Koppenland verlegt, das Niveau des neuen Bahnhofsgeländes mit Aushubmaterial aus dem vier Kilometer entfernten Wurmlinger Waldgebiet „Hölzle“ angehoben.
Für den Bau des neuen Bahnhofs war Reichsbahndirektor Alfred Nägele von der Reichsbahndirektion Stuttgart zuständig. Der Einbau der Gleise begann im Frühjahr 1932. Diese und andere Teile der Bahnhofsanlage überschritten dabei die Landesgrenze zu Baden, sodass der Bahnhof halb auf württembergischem und halb auf badischem Gebiet lag. Der Bahnhof verfügte über acht Gleise und zusätzliche Ladegleise, eine Güterabfertigungshalle sowie ein Bahnbetriebswerk mit siebenständigen Ringlokschuppen und 21-Meter-Drehscheibe. Beim Bau des Bahnhofs wurde an verschiedenen Stellen Vorkehrungen für eine mögliche spätere Bahnhofserweiterung getroffen, zu der es allerdings nie kam. Das Empfangsgebäude wurde vom Hochbaubüro der Reichsbahndirektion Stuttgart entworfen. Es ist im Stil der späten 1920er Jahre gehalten und steht in der Tradition des Modernen Bauens der Weimarer Zeit. Eine Besonderheit war das Flachdach des Empfangsgebäudes, das für die Tuttlinger Architektur recht ungewöhnlich ist. Das Empfangsgebäude ist dreistöckig und war zur Zeit des Baus eines der größten Bahngebäude in ganz Württemberg. Obwohl das Gebäude schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung von der Reichsbahndirektion Stuttgart geplant worden ist, werden auch Ähnlichkeiten mit den Monumentalbauten der nationalsozialistischen Architektur gesehen. Das Tuttlinger Bahnhofsgebäude blieb bis heute das größte Bahngebäude in der Region und gilt für eine Stadt in der Größe von Tuttlingen als überdimensioniert.
Durchschnittlich fanden während der Bauzeit in den Jahren zwischen 1928 und 1933 täglich 280 Arbeitskräfte Beschäftigung am Tuttlinger Bahnhof, was für den damaligen von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten lokalen Arbeitsmarkt eine enorme Entlastung darstellte. Insgesamt wurden am neuen Bahnhof 20.000 m³ Beton, 900 Tonnen Stahl und 24,6 Kilometer Gleise verbaut. Die Gesamtkosten des Bahnhofsneubaus beliefen sich auf neun Millionen Reichsmark.
Am 29. September 1933 wurde der Bahnhof offiziell eröffnet. Die Feier stand unter starkem Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda, die den neuen Bahnhof für sich vereinnahmte. Eine der Reden hielt der württembergische Staatspräsident und NSDAP-Gauleiter Wilhelm Murr. Zudem sprach der Direktor der Reichsbahndirektion Stuttgart. Er begründete die Verzögerung des Neubaus mit einem hohen Kostenaufwand. Sie seien durch das Sparprogramm verursacht, das während der Zeit des württembergischen Bahnbetriebs praktiziert wurde.
Die Anlagen des alten Bahnhofs, der seinen Zweck verloren hatte, wurden in den Monaten nach Eröffnung des neuen Bahnhofs abgebaut. Das Empfangsgebäude wurde abgerissen und die Steine teilweise zum Bau eines Wohnhauses verwendet. Im Mai 1934 wurde der Bau der Neubaustrecke nach Hattingen abgeschlossen.
Kriegsschäden 1945, Reparationsleistungen und Umstellung auf Dieselbetrieb
Von den insgesamt fünf alliierten Luftangriffen auf Tuttlingen im Februar und März 1945 galten vier überwiegend den Bahnanlagen. Der Westflügel des Empfangsgebäudes, der Güterbahnhof, der Lokschuppen sowie die Gleisanlagen wurden dabei schwer beschädigt. Nach der Kapitulation im Mai 1945 kam der zivile Bahnverkehr in Tuttlingen bis zum Juni 1945 ganz zum Erliegen. Da die deutsche Wehrmacht in den letzten Kriegstagen zahlreiche Donaubrücken sprengte, blieb die Strecke nach Inzigkofen sogar noch bis 1950 über weite Teile gesperrt. Züge, die aus der Französischen Besatzungszone, in der Tuttlingen lag, hinausfuhren, gab es zunächst gar nicht. Erst 1948 fuhren wieder Züge von Tuttlingen nach Stuttgart und Zürich. Die Direktverbindungen von Tuttlingen nach Berlin, für die die Bahnstrecke Plochingen–Immendingen zwischen 1928 und 1941 ausgebaut worden war, wurden nach dem Krieg bis zum heutigen Tag nicht mehr aufgenommen. Erst 1957 wurden am Bahnhof Tuttlingen die letzten Kriegsschäden beseitigt.
1946 entfernte die französische Besatzungsmacht als Reparationsleistung das erst wenige Jahre zuvor verlegte zweite Gleis zwischen Horb und Tuttlingen. Seitdem ist Tuttlingen aus allen Richtungen nur noch über eingleisige Strecken angebunden. Zwischen 1955 und 1969 erfolgte in Tuttlingen auf allen Strecken die Umstellung von Dampf- auf Dieselbetrieb.
Elektrifizierung, Rückbau und der Verkauf von Bahnanlagen seit den 1960er Jahren
Im Jahre 1977 elektrifizierte die Deutsche Bundesbahn die Strecke Horb–Singen, was zu Fahrtzeitverkürzungen in Richtung Stuttgart und Zürich führte. Auf den Strecken nach Immendingen und Inzigkofen blieb es bis heute beim Dieselbetrieb.
Seit den 1960er Jahren kam es zu zahlreichen Rückbaumaßnahmen am Bahnhof Tuttlingen, der beim Bau zu Beginn der 1930er Jahre noch auf eine mögliche Erweiterung ausgelegt worden war. Von den ursprünglich acht Gleisen im Personenverkehr sind heute noch fünf vorhanden. Mit der Einstellung der Güterabfertigung wurden die Gütergleise und viele Weichen zurückgebaut. Im Jahr 1992 verkaufte die Bundesbahn das Güterbahnhofsgelände an die Stadt Tuttlingen sowie das Bahnbetriebswerk-Areal an einen Eisenbahnliebhaber. Ebenfalls 1992 veräußerte die Bahn den Westflügel des Bahnhofsgebäudes an einen Versicherungsmakler, der diesen daraufhin renovierte und teils weitervermietete. Der Ostflügel, der bei der Bundesbahn verblieb, wurde 1994 grundlegend erneuert. Eine Renovierung der Fassade, wie sie am Westflügel vorgenommen wurde, unterblieb aber. Die Deutsche Bahn schloss 1995 zwar den Gepäckschalter, richtete dafür aber im selben Jahr ein Reisezentrum ein.
Der Bahnhof heute
Gleise
Gleis 1 dient dem Ringzugverkehr nach Fridingen an der Donau und Verstärkern nach Aldingen
Gleis 2 dient dem Regional- und Fernverkehr von Stuttgart
Gleis 3 dient dem Regionalverkehr nach Ulm sowie dem Ringzugverkehr Richtung Immendingen/Geisingen-Leipferdingen/Blumberg-Zollhaus
Gleis 4 dient dem Regionalverkehr nach Donaueschingen sowie dem Ringzugverkehr Richtung Rottweil/Villingen
Gleis 5 dient dem Regional- und Fernverkehr nach Stuttgart
Länge der Gleise
Gleis 1: Höhe 55 cm; Länge 80 m. Als einziges Gleis völlig barrierefrei, da hier nur Triebwagen des Ringzuges verkehren
Gleis 2: Höhe 76 cm; Länge 320 m. Für Ringzug-Regio-Shuttle nur bedingt barrierefrei
Gleis 3: Höhe 76 cm; Länge 320 m. Für Ringzug-Regio-Shuttle nur bedingt barrierefrei
Gleis 4: Höhe 76 cm; Länge 320 m. Für Ringzug-Regio-Shuttle nur bedingt barrierefrei
Gleis 5: Höhe 76 cm; Länge 320 m. Für Ringzug-Regio-Shuttle nur bedingt barrierefrei
An den Gleisen 2 bis 5 ist der Einstieg mit Rollstühlen in die Triebwagen des Ringzuges nur über eine Rampe möglich.
Lage
Der Bahnhof liegt etwa zwei Kilometer westlich der Altstadt am Rand der Tuttlinger Kernstadt und schließt im Westen an den Ortsteil Koppenland und die dortigen Kleingärten sowie den Donauradweg an. Der Gleiskörper erstreckt sich auf den ehemals badischen Stadtteil Möhringen. Der Bahnhofsvorplatz östlich des Bahnhofs liegt in unmittelbarer Nähe der Firma Aesculap, dem größten Arbeitgeber Tuttlingens.
Lokale Bezeichnung als Hauptbahnhof
Der Bahnhof Tuttlingen gehört nicht zu den insgesamt 125 deutschen Bahnhöfen, die die Deutsche Bahn als Hauptbahnhöfe bezeichnet und trägt deshalb den Namen Tuttlingen. In Tuttlingen ist die Bezeichnung Tuttlingen Hauptbahnhof jedoch als Abgrenzung zum heutigen Haltepunkt Tuttlingen Nord weit verbreitet. Auf den Hinweisschildern der Stadtverwaltung wird so beispielsweise mehrmals auf den Hauptbahnhof verwiesen. Auch wird die Adressbezeichnung Hauptbahnhof 1 als Anschrift des Empfangsgebäudes offiziell verwendet.
Nutzung der Bahnanlage für nicht-betriebliche Zwecke
Große Teile des Bahnhofsgebäudes und der Bahnanlagen sind heute in Privatbesitz und haben keine eisenbahnbetriebliche Funktion mehr. Das Empfangsgebäude ist heute in einen Bahnbereich und einen Nicht-Bahnbereich aufgeteilt, die durch eine Glaswand voneinander getrennt sind. Im Nicht-Bahnbereich haben sich vor allem gastronomische Betriebe eingerichtet.
Am Bahnbetriebswerk mit Lokomotivschuppen und der Drehscheibe ist inzwischen ein privates Eisenbahnmuseum entstanden, das 26 zumeist nicht betriebsfähige Dampflokomotiven, großteils unter freiem Himmel, zeigt.
Betrieb
Der Tuttlinger Bahnhof dient heute ausschließlich dem Personenverkehr, eine Güterabfertigung existiert nicht mehr. Es passieren allerdings weiterhin Güterzüge den Bahnhof. Im Personenverkehr halten alle Züge im Bahnhof, er wird von folgenden Linien bedient:
Die heute noch für den Bahnbetrieb relevanten Teile der Bahnanlage sind im Eigentum der DB Station&Service. Die Deutsche Bahn ordnet den Bahnhof zurzeit als Fernverkehrshalt und Knotenpunkt des Regionalverkehrs der Preisklasse 3 zu. Die Intercity-Züge liegen in Tuttlingen im Taktknoten zur vollen Stunde mit Anschluss zu den Ringzügen nach Rottweil und Geisingen-Leipferdingen beziehungsweise Blumberg-Zollhaus.
Im Ringzug-System ist der Bahnhof Tuttlingen ein Nullknoten, das heißt, die Ringzüge aus Rottweil kreuzen hier zur Minute Null mit den Ringzügen aus Leipferdingen, wo wenige Minuten nach Ankunft der Ringzüge auch einige Überlandbuslinien zum Beispiel nach Trossingen und Richtung Sigmaringen abfahren. Kurz vor Ankunft der Ringzüge in Tuttlingen erreichen die Überlandbusse den Bahnhof Tuttlingen, wo optimale Umsteigeverbindungen zu anderen Bussen wie auch zu den Ringzügen Richtung Rottweil und Leipferdingen bestehen.
Anschluss an den Stadtbusverkehr
Da der Tuttlinger Bahnhof deutlich außerhalb der Innenstadt und größerer Wohngebiete liegt, ist für viele Fahrgäste eine Weiterfahrt per Omnibus nötig. Im Stadtverkehr herrscht sowohl werktags wie auch am Wochenende ein Viertelstunden-Grundtakt zum Zentralen Omnibusbahnhof in der Innenstadt, bis zu dem alle Stadt- und Überlandbuslinien parallel verlaufen. Dieser Takt von vier Bussen pro Stunde wird werktags durch zahlreiche zusätzliche Fahrten insbesondere im Schülerverkehr ergänzt.
Verknüpfung mit dem Individual-Verkehr
Unmittelbar östlich des Bahnhofs schließt der touristisch wichtige Donauradweg an. Ein Radweg über die Bahnhofstraße in die Innenstadt ist jedoch nicht vorhanden. Radfahrer müssen vielmehr den Aesculap-Platz, den Kreuzungspunkt zweier viel befahrener Bundesstraßen, über- oder unterqueren, um in die Innenstadt zu gelangen. Am Bahnhof steht ein nicht bewachter Fahrradabstellplatz zur Verfügung. Der Bau einer Radstation ist hier ein Projekt der Lokalen Agenda 21. Auf Grund der unmittelbaren Nähe zweier wichtiger Bundesstraßen ist der Bahnhof gut an das Straßennetz angeschlossen. Es stehen kostenlose Parkplätze für Bahnreisende zur Verfügung.
Barrierefreier Zugang
Die Deutsche Bahn ordnet den Tuttlinger Bahnhof den teilweise barrierefreien Bahnhöfen zu. Es stehen neben den Treppen auch Aufzüge als Zugang zu den Bahnsteigen zur Verfügung. Alle Bahnsteige haben eine Höhe von 55 cm. Erschwerend sind die in Tuttlingen haltenden Züge der Baureihe 612 nicht barrierefrei, so dass Rollstuhlfahrer in aller Regel im Bahnhof nicht ohne fremde Hilfe ein- oder aussteigen können.
Literatur
Deutsche Bundesbahn Bundesbahndirektion Stuttgart Pressedienst: 50 Jahre neuer Bahnhof, 113 Jahre Eisenbahn in Tuttlingen: Ein geschichtlicher Rückblick, Tage der DB am 8. und 9. Oktober 1983 beim Bahnhof Tuttlingen. Stuttgart 1983.
Jens Herzbruch: Wie es wurde, was es ist: Tuttlingen – die geplante Stadt, Arbeit im Rahmen der Berufspraktischen Studien I an der Gesamthochschule Kassel, Wintersemester 1986/87. (unveröffentlicht)
Richard Leute: Die Geschichte der Eisenbahnen im Raum Tuttlingen. In: Tuttlinger Heimatblätter. Jahrgang 46, 1983, S. 46–63.
Richard Leute: Die Eisenbahn im Raum Tuttlingen. In: Hans-Wolfgang Scharf, Burkhard Wollny: Die Gäubahn von Stuttgart nach Singen. EK-Verlag, Freiburg im Breisgau 1992, S. 200–215. ISBN 3-88255-701-X
Richard Leute: Die Eisenbahnen im Raum Tuttlingen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Tuttlinger Heimatblätter. Jahrgang 61, 1998, S. 144–156.
Birgit Schocker: Alltag in Tuttlingen 1939 bis 1945/46. Tuttlingen 1995, S. 49–52.
Stadt Tuttlingen (Hrsg.): Zur Geschichte der Stadt Tuttlingen. Tuttlingen 1997.
Stadt Tuttlingen (Hrsg.): Tuttlingen entdecken. Tuttlingen 2004, S. 84.
Gunda Woll: „In rasender Eile“ – Mobilität in Tuttlingen In: Tuttlinger Heimatblätter. Jahrgang 68, 2005, S. 85–104.
Zweckverband Ringzug Schwarzwald-Baar-Heuberg (Hrsg.): Der 3er Ringzug: Eine Investition für die Zukunft der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg. Villingen-Schwenningen, 2006, S. 63.
Weblinks
Lage, Gleisanlagen, Signale und zulässige Geschwindigkeiten des Bahnhofs auf der OpenRailwayMap
Baupläne im Staatsarchiv Ludwigsburg
Einzelnachweise
Bahnhof im Landkreis Tuttlingen
Bahnhof
Bauwerk der Moderne im Landkreis Tuttlingen
Erbaut in den 1930er Jahren
Tuttlingen
Tuttlingen #Bahnhof |
2975676 | https://de.wikipedia.org/wiki/Parsteiner%20See | Parsteiner See | Der Parsteiner See (umgangssprachlich meist Parsteinsee) ist mit 1003 Hektar Fläche der drittgrößte natürliche See in Brandenburg. Die Wasserfläche liegt vollständig im Landkreis Barnim, während Teile der östlichen und nordwestlichen Uferbereiche zum Landkreis Uckermark gehören.
Das Seebecken besitzt eine komplexe Anlage, die sowohl Formen eines Zungenbeckens, mehrerer glazialer Rinnen als auch einer Toteislandschaft umfasst. Der See gehört zum Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und besteht aus einem Hauptbecken, einem Nebenbecken und mehreren Buchten. Die mittlere Wassertiefe im Hauptbecken beträgt rund 10 Meter, das Maximum erreicht 31 Meter. Das oberflächliche Einzugsgebiet umfasst 130,5 km² und besteht zu 78 % aus hügeligem Ackerland.
Der See bietet zahlreiche Wassersportmöglichkeiten und verfügt über eine sehr gute Wasserqualität. Die Uferbereiche sind in sechs Schonzonen eingeteilt und weitgehend naturbelassen. In der näheren Umgebung liegt das Dorf Brodowin, das in Abstimmung mit der Verwaltung des Biosphärenreservats und weiteren Institutionen verschiedene Schutzprogramme für die Ökosysteme des Sees und seiner Flora und Fauna durchführt. Auf der Halbinsel Pehlitzwerder befinden sich die Überreste des Zisterzienserklosters Mariensee, das die Mönche 1273 noch vor seiner Fertigstellung unter dem neuen Namen Kloster Chorin um rund acht Kilometer nach Südwesten an den ehemaligen Choriner See, den heutigen Amtssee, verlegten. Die Mönche schufen zudem im 13. Jahrhundert mit dem Nettelgraben den einzigen und heute noch bestehenden Abfluss des Parsteiner Sees.
Etymologie
Die Bezeichnung des namensgleichen Ortes Parstein südöstlich des Sees geht auf die slawische Siedlungszeit zurück. Das Landbuch Karls IV. von 1375 verzeichnet den Ort als Parsteyn (slawisch), übersetzt Siedlung auf staubiger Erde. Dabei könnte der Ortsname laut Reinhard E. Fischer nach dem Seenamen gewählt worden sein, denn in der Gründungsurkunde für das Kloster Mariensee von 1258 findet sich die Bezeichnung stagnum Parsten = See in staubiger Gegend, mit staubigem Ufer.
Geographie
Räumliche Zuordnung
Der Parsteiner See ist das größte Gewässer im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin, einer gewässerreichen Kulturlandschaft. Er liegt etwa 60 Kilometer nordöstlich von Berlin, 13 Kilometer nordöstlich von Eberswalde, 14 Kilometer nordwestlich von Oderberg und 10 Kilometer südlich von Angermünde.
Während der gesamte See zum brandenburgischen Landkreis Barnim gehört, liegen die umgebenden Gemeinden im Landkreis Barnim und im Landkreis Uckermark. Das sind im Einzelnen:
Im Landkreis Barnim
die Gemeinde Parsteinsee mit dem Dorf Parstein am östlichen Südufer und südlichen Ostufer,
die Gemeinde Chorin mit Brodowin und der Halbinsel Pehlitzwerder am westlichen Südufer und dem Dorf Serwest mit der Halbinsel Parsteinwerder am Westufer
Im Landkreis Uckermark
die Dörfer Herzsprung in den nördlichen Uferbereichen des weitgehend abgetrennten Nordbeckens und Bölkendorf am mittleren Ostufer des Hauptbeckens; beide Dörfer sind Ortsteile der Stadt Angermünde.
Topographie
Die Längsausdehnung des Gewässers von Nordwest nach Südost beträgt rund 6,8 Kilometer, die maximale Breite rund vier Kilometer. Der See besteht aus mehreren Becken und großen Buchten und gliedert sich im Wesentlichen in ein südliches Hauptbecken und einen hufeisenförmigen Nordteil. Dieser wird durch die Halbinsel Parsteinwerder vom Hauptbecken weitgehend abtrennt und gelegentlich als Kleiner Parsteiner See bezeichnet. Die Gesamtfläche von 10,03 km² teilt sich in 1,12 km² für das Nord- und 8,91 km² für das Hauptbecken. Die mittlere Wassertiefe des Gesamtsees beträgt 7,7 Meter, im Hauptbecken 10,0 Meter. Die Tiefe erreicht im Nordbecken maximal 4 Meter und im Hauptbecken in einem eng umgrenzten Bereich mit Tiefen von mehr als 20 Metern, maximal 31 Meter. Dieser Bereich liegt am Ostufer, westlich der kleinen Halbinsel bei Bölkendorf in der Nähe des benachbarten Apfelsees. Das Ufer fällt in dieser Region steil ab.
Geologie und Hydrographie
Genese
Der Parsteiner See ist ein glazial angelegter See. Seine Entstehung ist recht komplex und nicht in ein einzelnes der gängigen Schemen einzuordnen. Er beinhaltet sowohl Elemente eines Zungenbeckensees, eines Rinnensees als auch eines Toteissees.
Der See befindet sich wenige Kilometer nördlich der Pommerschen Eisrandlage, die Nordostbrandenburg in mehreren Endmoränenbögen durchzieht. Innerhalb des Choriner Endmoränenbogens füllt der See große Teile des Parsteiner Lobus. Im Stirnbereich ist der Parsteiner Lobus als kombinierte Stauch- und Satzendmoräne ausgebildet. Während der Eisbedeckung des Weichsel-Hochglazials bildeten sich in einem Zeitraum von vor rund 18.400 Jahren bis vor rund 15.200 Jahren im Bereich der Grundmoräne durch Exaration flache Hohlformen heraus, das spätere Zungenbecken. Gleichzeitig bildeten sich unter dem Eis Glaziale Rinnen, die die Grundmoräne und auch das Zungenbecken in Eisbewegungsrichtung zerschnitten. Mehrere dieser Rinnen queren auch den Parsteiner See. Ihr Verlauf lässt sich durch benachbarte, reine Rinnenseen gut erschließen. Zum Beispiel verlaufen die Rinnen des Krummen Sees und des Apfelsees nordöstlich des Parsteiner Sees in das Hauptbecken hinein und verlassen das Seebecken am südwestlichen Ufer wieder in Richtung Weißer See bzw. Brodowinsee. Mit dem Rückschmelzen des Eises wurden vor allem am Südufer des Sees feine Sedimente eines Eisstausees abgelagert. Inwieweit der See zu dieser Zeit existierte oder noch mit Eis blockiert war, ist nicht sicher geklärt. Die Tatsache, dass sich der nördliche Teil des Sees im Bereich eines Sanders befindet, der von der jüngeren Angermünder Eisrandlage in Richtung Eberswalder Urstromtal verläuft, spricht eher für eine längere Plombierung des Beckens mit Toteis. Andernfalls wäre die Hohlform von den Schmelzwässern verschüttet worden. So entstand der heutige See wahrscheinlich erst einige Tausend Jahre später, als mit der ausklingenden Eiszeit das Toteis endgültig abschmolz.
Geologiegeschichte
Der Geologe G. Berendt entwickelte 1888 aus Untersuchungen im Gebiet um den Choriner und Joachimsthaler Endmoränenbogen ein Modell zur Verbindung einer Endmoräne mit einem Urstromtal. Er vermutete eine Verbindung des Eberswalder Urstromtals über Das Choriner Schmelzwasser mit dem Joachimsthaler Stausee (heutiger Rest: Grimnitzsee). Der Parsteiner See war nach seiner Analyse der größte Rest des ehemaligen Choriner Stausees, der ungefähr die vierfache Fläche des heutigen Parsteiner Sees einnahm. Nach einer Karte Berendts erstreckte sich der Stausee von Chorin unter Einschluss des Serwester Sees und Rosinsees nach Norden bis nach Schmargendorf und schloss östlich das Plagefenn und Bereiche um den (südlichen) Rosinsee ein. Der Parsteiner See befand sich danach in mittlerer westlicher Randlage des ursprünglichen Stausees. Das Modell wurde seither zwar erheblich modifiziert und differenziert, ist aber wissenschaftshistorisch für die Geschichte der Geologie bedeutsam, da durch diese Arbeit die Region Eberswalde-Chorin-Joachimsthal zum klassischen Raum der Eiszeitforschung im Norddeutschen Tiefland wurde.
Einzugsgebiet und Umgebung
Das reliefreiche oberflächliche Einzugsgebiet des Parsteiner Sees umfasst 130,5 km² und besteht zu 78 % aus hügeligem Ackerland. Die südöstlichen Randbereiche des Gewässers bestimmen die Formen der kuppigen Endmoräne mit einer starken Differenzierung glazigener Formen, die sich in den drei Parsteiner Staffeln I bis III (Rückzugshalte des Gletscherlobus) entwickelten und teilweise postglazial überformt wurden.
Zwischen zwei und zehn Meter mächtige Geschiebemergel einer ebenen bis flachwelligen Grundmoränenlandschaft dominieren das Ostufer um Bölkendorf und Teile des Südwestufers um Brodowin. Das Westufer bilden glazifluviatile Sande und Kiese der Sander aus der Angermünder Staffel.
In den Randbereichen liegen mehrere flache langgezogene Hügel wie der Rosinberg am Westufer des Parsteiner Sees und der Kleine Rummelsberg am Ostufer des heute isolierten Wesensees, der mindestens bis zum Hochmittelalter eine Bucht des Parsteiner Sees bildete. Diese Hügel werden vielfach als Drumlin eingestuft, allerdings ist diese Einstufung unter Geologen sehr umstritten. Die höchste Erhebung bildet der 85 Meter hohe Wurzelberg am Südufer. Das Gewässer ist zudem von einer Reihe kleinerer Seen umgeben.
Die Bölkendorfer Grundmoräne durchziehen mehrere Rinnensysteme, die heute zum Teil von Seen (Apfelsee, Krummer See, Tiefer See, Schleipfuhl) erfüllt werden und Einzugsgebiete zwischen 15 und 20 Hektar aufweisen. Hinzu kommen in diesem Gebiet zahlreiche geschlossene Hohlformen aus Toteislöchern mit einer mittleren Einzugsgröße von drei Hektar, „die den Charakter von Binnenentwässerungsgebieten haben. Der überwiegende Teil dieser Ackerhohlformen weist im Zentrum Sölle und temporäre Naßstellen auf.“
Zuflüsse und Entwässerung
Vier kleine Fließe, die zum Teil aus den umliegenden Seen kommen, speisen den Parsteiner See. Das Hauptbecken erhält Wasser durch den Mooderbruch aus dem Feuchtgebiet rund um das Plagefenn und durch den Brodowinseegraben, das Nordbecken durch Zuflüsse vom Serwester See über den Krugsee, ferner vom Rosinsee und vom Midrowsee. Messungen im Jahr 1996 ergaben für die zuführenden Fließe nur sehr schwache oder gar keine Wasserbewegungen, während vom Serwester-/Krugsee zwei bis fünf Liter Wasser pro Sekunde zuströmten.
Seit dem Bau des Nettelgrabens durch die Zisterzienser-Mönche des Klosters Chorin fließt das Wasser über diesen Graben in den Amtssee und dann weiter über die Ragöse, den Finowkanal und den Oder-Havel-Kanal zur Oder ab; zuvor war der gesamte Seebereich und das Plagefenn ein Binnenentwässerungsgebiet. Bei Messungen im Jahr 1996 führte der Nettelgraben kein Wasser.
Klima und Hydromorphologie
Klima
Das östliche Brandenburg liegt im Übergangsbereich vom atlantisch geprägten Klima Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Dabei sind die Bereiche nördlich des Endmoränengürtels und in der angrenzenden Uckermark bereits durch deutlich kontinental getönte Bereiche gekennzeichnet. Hinsichtlich der Niederschlagsmengen ergibt sich eine deutliche Stufung von West nach Ost. Im Raum Joachimsthal beträgt die mittlere jährliche Niederschlagsmenge rund 620 mm, bei Groß-Ziethen 580 mm und um Chorin wie auch im Parsteinseebecken 540 mm. Zum östlich angrenzenden, tiefer gelegenen Oderbruch macht sich ein vergleichsweise deutlicher Regenschatten bemerkbar. Mit Niederschlagsmengen von deutlich unter 500 mm zählt das Bruch zu den (klimatisch gesehen) trockensten Regionen in Deutschland. Die Durchschnittstemperaturen lagen im Raum Eberswalde/Chorin zwischen 1901 und 1950 im Winter um −1 °C, im Frühling um 8 °C, im Sommer um 17 °C und im Herbst um 8,5 °C; die Jahresmitteltemperatur erreichte knapp 9 °C.
Schichtung und Zirkulation
Das Volumen des Parsteiner See beträgt 77 Mio. m³. Eine starke Windexposition und die geringe, mittlere Tiefe der großflächigen Buchten führt zu einer mehrfachen Durchmischung des überwiegenden Teils des Wasserkörpers auch im Sommer. Die Wassermassen des Hauptbeckens sind in dem sehr begrenzten tiefsten Bereich dreifach geschichtet. Eine vollständige Wasserzirkulation besteht für das Hauptbecken über das ganze Jahr bis zu einer Tiefe von neun Metern, einem Wasservolumen von 70 % entsprechend. In einer Tiefenzone zwischen zehn und zwanzig Metern bildet sich unter dem Epilimnion das Metalimnion aus, das in ein enges trichterförmiges Hypolimnion übergeht. Das Hypolimnion ist ab Juli sauerstofffrei. Das lediglich bis zu vier Meter tiefe Nordbecken weist nur für wenige Sommermonate eine Schichtung auf.
Eine Analyse aus dem Jahr 2003 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, Lehrstuhl für Gewässerschutz, zählt den Parsteiner See, bezogen auf sein Hauptbecken, zu den geschichtete[n] kalkreiche[n] Tieflandseen mit großem Einzugsgebiet.
Chemische und trophische Charakteristik
Der Parsteiner See weist mit pH-Wert 8,4 schwach alkalische und mit einer Leitfähigkeit von 522/576 µS/cm (mikroSiemens je Zentimeter) mäßig elektrolytreiche Verhältnisse auf. Nach einer 2004 im Auftrag des Umweltbundesamtes erarbeiteten Dokumentation der TU Cottbus, Lehrstuhl für Gewässerschutz, erbrachten die Messungen trophierelevanter Parameter im Jahr 2000 Ergebnisse, die den See als mesotroph im Hauptbecken und schwach eutroph im Nordbecken charakterisieren. Als potentiell natürlicher Referenzzustand der Trophie wird ein oligo- bis schwach mesotropher Zustand angegeben. In dem Bemessungszeitraum betrug die Gesamtphosphorkonzentration 56/37 µg/l, im Frühjahr 18/42 µg/l.
Die Chlorophyll a-Konzentration korrelierte bei Werten von 3,73/14,6 µg/l mit dem Biovolumen des Phytoplanktons, das 1996 im Hauptbecken 0,33 mm³/l betrug. Die mittlere Gesamtstickstoffkonzentration lag bei 1,2 mg/l. Die Ursache für den im Vergleich zu den übrigen mesotrophen Seen Brandenburgs hohen Chloridgehalt vermutet die Analyse der TU Cottbus in der natürlichen Abflusslosigkeit des Seebeckens.
Ökologie
Schadstoffeinträge in der DDR-Zeit und Renaturierung
In dem ehemals kalkhaltigen mesotrophen Klarwassersee stieg insbesondere in der DDR-Zeit durch intensive Fischwirtschaft die Eutrophierung stark an und der breite Schilfgürtel bildete sich zurück. Bis zur Ausrufung des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin im Jahr 1990 entzogen Pumpstationen dem See im Sommer jährlich rund 1,5 Mio. m³ Wasser zur Beregnung der umliegenden LPG-Felder. Das Wasser floss zum Teil stark mit Schadstoffen belastet und als Gülle aus der Massentierhaltung in den See zurück. Im Nordbecken wurde eine intensive Karpfenhaltung betrieben, die durch die Verfütterung von zwei Tonnen Mais pro Woche zum Sauerstoffmangel des Wassers führte. Die Verschlechterung der Wasserqualität veranlasste die Behörden zeitweise zu Badeverboten.
Seit den Schutzmaßnahmen nach der deutschen Wiedervereinigung haben sich die Wasserqualität und das Ökosystem des Sees deutlich erholt. Ferner trugen die Gemeinde Brodowin – 1995 Preisträger im Wettbewerb „TAT-Orte, Gemeinden im ökologischen Wettbewerb“ des Deutschen Instituts für Urbanistik – und der Verein „Ökodorf Brodowin e. V.“ in Abstimmung mit der Verwaltung des Biosphärenreservates dazu bei, die Schäden, die durch die intensive Landwirtschaft mit Mineraldünger-, Gülle- und Pestizideinträgen sowie durch die Ausräumung der Feldflur entstanden waren, zu beseitigen.
Schutzgebiete und ökologische Landwirtschaft
Der Parsteiner See und seine Umgebung sind unter den vier Schutzstufen im Biosphärenreservat als Zone III, Landschaftsschutzgebiet, ausgewiesen. Das benachbarte Plagefenn genießt als Totalreservat die Schutzstufe I. Daneben ist rund die Hälfte des gesamten Uferbereiches in sechs gesonderte Schonzonen eingeteilt, die ungestört bleiben sollen. Dazu zählt als Gelegezone das Verlandungsgebiet Prottenlanke am Seeabfluss Nettelgraben. Der See ist zudem als FFH-Gebiet „Parsteinsee“ in den Anhang der FFH-Richtlinie der Europäischen Union im Rahmen des Programms Natura 2000 aufgenommen.
Große Teile der in Gewässernähe liegenden ehemaligen Ackerflächen hat die Ökodorf Brodowin GmbH und Co Vertriebs KG in Weideland umgewandelt beziehungsweise stillgelegt. Seit 1993 Demeter-Betrieb, bewirtschaftet der Landwirtschaftsbetrieb rund 1.200 Hektar nach den Prinzipien des biologisch-dynamischen Anbaus. Eine achtgliedrige Fruchtfolge mit Luzerne, Klee, Gras, Getreide, Kartoffeln und Futterleguminosen sichert einen geschlossenen Stoffkreislauf in der Tier- und Pflanzenproduktion. Die Stilllegung der Ackerflächen erfolgte in Abstimmung mit dem Naturschutzbund Deutschland insbesondere in den westlichen Uferbereichen, um Pufferzonen zu den Lebensräumen der Flora und Fauna zu schaffen.
Flora und Fauna
Die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen und Artenschutzprogramme auf die Flora und Fauna des Parsteiner Sees und seiner Umgebung verdeutlicht unter anderem die Entwicklung einer Trauerseeschwalbenkolonie von 10 Brutpaaren im Jahr 1980 auf 69 Paare im Jahr 2007. Besondere Schutzprogramme bestehen ferner für die vom Aussterben bedrohte Rotbauchunke, den Kammmolch, die Knoblauchkröte, Tagfalter, Heuschrecken, Greifvögel, die Große Rohrdommel, Feldvögel, Heckenvögel und den in Brandenburg gefährdeten Feldhasen. Unter den Fischen gibt es vereinzelte Vorkommen des stark gefährdeten Steinbeißers. Das Phytobenthos des Sees prägen im Wesentlichen Rasenteppiche aus Armleuchteralgen.
Phytoplankton und Zooplankton
Das Biovolumen des Phytoplanktons, Basis der autochthonen Nahrungspyramide eines Sees, betrug 1996 im Hauptbecken 0,33 mm³/l. Zu den wichtigsten Großgruppen der Algen zählen Dinoflagellaten mit der Klasse Dinophyceen (hauptsächlich Ceratium hirundinella und Peridinium) und Cryptophyceen (Rhodomonas und Cryptomonas). Die Untersuchung der TU Cottbus bezeichnet die Struktur der Phytoplanktonzönose des Hauptbeckens im jahreszeitlichen Verlauf seit 1990 als stabil. Die Biomassen im flacheren Nordbecken liegen mit Spitzen (Messung April und August 2001) von 9,5 mm³/l und 10,9 mm³/l deutlich höher. Mit 83 % am Gesamtbiovolumen dominierten dabei im April Kieselalgen (Diatomeen) der Art Fragilaria ulna var. acus und im August mit 91 % Blaualgen (Cyanobakterien).
Im Zooplankton stellten quantitative Analysen im Mai 1995 und Juni 1996 unter den Wasserflöhen eine verstärkte Populationsentwicklung von Daphnia hyalina fest. Da diese nur 0,1 bis 0,5 cm großen Blattfußkrebse aus der Gattung Daphnia empfindlich auf Schadstoffe im Wasser reagieren, indiziert ihre Zunahme die Entwicklung zum klassischen sommerlichen Klarwasserstadium des Sees. Im Winter und Frühjahr herrschte im Crustaceenplankton die Form Eudiaptomus gracilis vor, während im August 1995 im Hauptbecken Ruderfußkrebse wie Thermocyclops oithonoides aus der Ordnung Cyclopoida dominierten. Herbivore Rädertierchen traten mit 1 % der Trockenmasse nur in geringer Dichte auf.
Weitere Pflanzen
Wasserpflanzen und Schilfgürtel
Vor den Schadstoffeinträgen in der DDR-Zeit bedeckten ausgedehnte Rasenteppiche aus Armleuchteralgen (Characeae) den Seeboden und ein breiter Röhrichtgürtel säumte das Ufer. Im Jahr 1996 stellten sich die Bestände wie folgt dar: für das Hauptbecken ergab sich ein Vordringen von Schilfrohr (Phragmites australis) bis in Tiefen von 1,50 Meter. Im flachen Verlandungsbereich der Prottenlanke fand sich landwärts eine Gesellschaft der Rauhen Armleuchteralge (Chara aspera).
Das Röhricht war in der Untersuchung von 1996 nahezu flächendeckend begleitet von einem Grundrasen der Gegensätzlichen Armleuchteralge (Chara contraria), der im brandungsbeeinflussten Ostteil des Sees ein Entfaltungsoptimum zwischen 1,7 und 3,0 Metern erreichte. In einer Tiefenstufe von 1 bis 2 Metern konnte in einigen windgeschützten Seebereichen eine Verdrängung der Gegensätzlichen Armleuchteralge durch die Geweih-Armleuchteralge (Chara tomentosa) festgestellt werden. In diesen Rasengesellschaften gab es den Nachweis einiger sehr kleiner Bestände der gefährdeten Kurzstacheligen Armleuchteralge (Chara intermedia).
In der Westbucht gingen die Geweih-Armleuchteralgen-Rasen ab einer Tiefe von 1,8 Metern in Gesellschaften der Steifhaarigen Armleuchteralge (Chara hispida) und der vom Aussterben bedrohten Faden-Armleuchteralgen (Chara jubata) über. Ab 3,4 Metern schlossen sich bis zur unteren Vegetationsgrenze, die bei rund 4,5 Metern liegt, Stern-Armleuchteralgen (Nitellopsis obtusa) an. Am Nordwestufer der Westbucht fand sich ein größerer Unterwasserrasen aus Glänzendem Laichkraut (Potamogeton lucens, auch Spiegelndes Laichkraut genannt). An den Uferbereichen der Hauptbecken-Südbucht, die häufig mit Faulschlamm durchsetzt sind, wies die Unterwasservegetation einige Bestände aus Mittlerem Nixenkraut (Najas marina L. subsp. intermedia) und Zerbrechlicher Armleuchteralge (Chara fragilis) auf.
Im flachen Nordbecken des Sees hingegen bestimmten in der Untersuchung von 1996 ausgedehnte Wiesen aus Spreizendem Wasser-Hahnenfuß (Ranunculus circinatus) die Makrophyten-Vegetation. Unklar blieb bei der Untersuchung, ob die seltene Wasserfalle (Aldrovanda vesiculosa) auch heute noch im Parsteiner See vorkommt.
Pflanzen der Umgebung
Die Umgebung des Sees besteht zu 78 % aus hügeligem Ackerland. Hinzu kommen Wiesen- und Waldflächen, die im Endmoränenbogen Chorin von Buchenwäldern geprägt sind. Größere alte Baumbestände in direkter Seenähe finden sich vor allem auf der Halbinsel Pehlitzwerder. Die bruchgefährdeten Kronen der Bäume wurden 1997 mit finanziellen Mitteln des Biosphärenreservats saniert und werden von Zeit zu Zeit weiter gepflegt. Dazu zählen bis zu 550 Jahre alte Winter-Linden, 500-jährige Stieleichen, eine 400-jährige Traubeneiche, eine 200-jährige Elsbeere und mehrere alte Rot- und Hainbuchen. Wildbirnen und weitere Birnbäume ergänzen die wertvollen Altbestände. Durch die ständige Beweidung des Pehlitzwerder entwickelten sich einige Bäume zu markanten Solitärbäumen.
Besondere Biotope wie das benachbarte Naturschutzgebiet Kleiner Rummelsberg ergänzen das Vegetationsbild der Umgebung. Der Hügel konnte sich mit einem kontinentalen Trockenrasen und einer reichen Bodenflora aufgrund seiner exponierten Lage „als westliche[r] Ausläufer der Steppenvegetation halten“. Auf den geschützten Feuchtwiesen und in den Sumpf- und Verlandungszonen der Prottenlanke finden sich Krautpflanzen wie Sumpfdotterblume (Caltha palustris), Wiesen-Schaumkraut (Cardamine pratensis), Blutweiderich (Lythrum salicaria), Gilbweiderich (Lysimachia) und die nach der Bundesartenschutzverordnung besonders geschützte Sumpf-Schwertlilie (Iris pseudacorus). Aus der Familie der Orchideen wachsen in diesen Bereichen verschiedene Knabenkräuter.
Weitere Tiere
Amphibien und Reptilien
Im Mittelpunkt der Artenschutzprogramme steht unter den Amphibien die Rotbauchunke (Bombina bombina, auch Tieflandunke oder Feuerkröte genannt). Die nach der Roten Liste der Bundesrepublik Deutschland vom Aussterben bedrohte Unke aus der Ordnung der Froschlurche pendelt, meist nachts, zwischen dem Parsteiner See und den umliegenden Kleinseen, da ihr Laichplatz und Sommerlebensraum nicht immer identisch ist. Für die Rotbauchunke, ferner für die nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) besonders geschützten Kammmolche (Triturus cristatus) und Laubfrösche (Hyla arborea) sowie vier weitere Amphibienarten wurden deshalb vor allem an der kleinen Verbindungsstraße zwischen Brodowin und Parstein, die am Pehlitzwerder vorbeiführt, umfangreiche Schutzvorkehrungen getroffen. Dazu zählen Schutzzäune, acht Amphibientunnel, Nachtfahrverbot während der Amphibienwanderung, Tempo-30-Zone und eine Tonnagenbeschränkung auf 2,8 t.
Trotz dieser Maßnahmen wurden an der Straße in einem Gutachten im Zeitraum April bis Oktober 2000 bei elf morgendlichen Begehungen insgesamt 1591 Amphibientotfunde registriert. Darunter waren die Rotbauchunke mit 25 Exemplaren und der Kammmolch mit 67 Exemplaren, deren Lebensraum auch als Anhang II-Arten der FFH-Richtlinie im FFH-Gebiet „Parsteinsee“ besonderer Schutz zukommt. Der Laubfrosch war mit 403 Totfunden betroffen.
Die umliegenden Agrarflächen, Weiden und Wiesen werden durch den Naturschutzhof Brodowin im Anbau und durch Mahd sowie Schutzzäune weitgehend naturnah bewirtschaftet. Zielart dieser Maßnahmen ist neben der Rotbauchunke und dem Laubfrosch die nach der BartSchV gleichfalls besonders geschützte Knoblauchkröte (Pelobates fuscus). Moorfrosch (Rana arvalis), Grasfrosch (Rana temporaria), Seefrosch (Rana ridibunda), Teichfrosch (Rana kl. esculenta), Erdkröte (Bufo bufo), Wechselkröte (Bufo viridis) und Teichmolch (Triturus vulgaris) ergänzen den Amphibienbestand am See.
Auch Reptilien nutzen Einrichtungen wie den Amphibientunnel an der Verbindungsstraße. Unter den Kriechtieren finden sich am See und in seiner Umgebung die Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis), die Glattnatter (Coronella austriaca) und die nach der Bundesartenschutzverordnung besonders geschützte Kreuzotter (Vipera berus).
Insekten und Spinnentiere
Einen bemerkenswerten Anteil an den zahlreichen Insektenarten hat die Gemeine Keiljungfer (Gomphus vulgatissimus). Die sandigen Brandungsufer im Ostteil des Sees und die Characeen-Grundrasen vor der Prottenlanke sind Lebensraum der Larven dieser gedrungenen, kräftig gebauten Großlibelle, die eine Flügelspannweite von 6 bis 7 cm und eine Körperlänge von etwa 5 cm erreicht.
Auf den umgebenden Wiesen und Feldern haben Naturschützer gezielt Hecken mit bis zu 10 Meter breiten Säumen angelegt, die mit oft zugehörigen Lesesteinhaufen einen bevorzugten Lebensraum verschiedener Käfer- und Spinnenarten bilden. Typische Heckenbewohner wie der Pflaumen-Zipfelfalter (Satyrium pruni), der seine Eier an Schlehenzweige (Prunus spinosa) legt, werden hier gezielt gefördert. Auf großen Feldern entstanden Ackerrandstreifen und als Blühstreifen 10 Meter breite Zonen aus mehrjährigen Kräutern, die als Nektarquelle für Tagfalter und zudem als Deckung für Feldhasen (Lepus europaeus) dienen. Weitere Tagfalter wie der Kleine Sonnenröschen-Bläuling (Aricia agestis, Polyommatus agestis), der in die brandenburgische Vorwarnliste aufgenommen wurde, und wärmeliebende Heuschrecken wie der Heidegrashüpfer (Stenobothrus lineatus), der im Monitoring des Naturschutzhofes Brodowin steht, leben im sonnenbeschienenen Saum auf den Südseiten der Hecken. Unter den Kurzfühlerschrecken sind ferner Feldgrashüpfer (Chorthippus apricarius), Verkannte Grashüpfer (Chorthippus mollis) und Braune Grashüpfer (Chorthippus brunneus) anzutreffen. An Langfühlerschrecken finden sich Roesels Beißschrecke (Metrioptera roeselii) und das Grüne Heupferd (Tettigonia viridissima) regelmäßig im Getreide.
Auf dem Kleinen Rummelsberg leben zwei Spinnenarten, die die Rote Liste Brandenburgs als gefährdet angibt und die laut Ulrich M. Ratschker als Leitarten für Sandtrocken- und Halbtrockenrasen gelten: Alopecosa schmidti, eine Wolfsspinne aus der Gattung Alopecosa (ähnlich der Alopecosa fabrilis), und die Laufspinne Thanatus arenarius. Unklar ist, ob die stark gefährdete Wasserspinne (Argyroneta aquatica) – die einzige Spinnenart, die nicht an Land, sondern unter Wasser lebt – im Parsteiner See heimisch ist.
Fische und Krebstiere
Bestand
Der Parsteiner See gilt als typisches Maränengewässer mit ursprünglich guten Erträgen an Kleiner Maräne (Coregonus albula, auch Zwergmaräne oder Kaisermaräne). Zu den Hauptfischarten im Jahr 2007 zählten Karpfenfische wie Bitterling (Rhodeus amarus), Karausche (Carassius carassius), Schleie (Tinca tinca) oder Brassen (Abramis), Barsche wie der Zander (Sander lucioperca) und verschiedene weitere Weißfische. Unter den Allesfressern kommen Welse (Silurus glanis) vor und als reine Raubfische Hechte (Esox lucius) und selten Aale. Sehr selten ist der stark gefährdete Steinbeißer (Cobitis taenia; auch Steinpicker oder Dorngrundel genannt).
Der See ist in verschiedene Angelreviere eingeteilt. Zur Stabilisierung der Biozönose vereinbarten Fischereiausübungsberechtigte und die Verwaltung des Biosphärenreservats eine Pflegefischerei „[…] mit dem Ziel, zusätzlich zu den vermarkteten Raub- und Feinfischen ca. 20 t Weißfische zu entnehmen..“ Heimisch im See ist ferner der Nordamerikanische Flusskrebs (Orconectes limosus, auch Kamberkrebs genannt), den der Sportfischer Max von dem Borne 1890 versuchsweise in das Gewässersystem der Oder eingeführt hatte.
Fischsterben im August 2014
Nach Angabe des Landesfischereiverbandes kam es im August 2014 zu einem Fischsterben, bei dem Tausende junger Fische der Kleinen Maräne tot auf dem See trieben. Der Verband führte das Fischsterben auf große Schwärme von bis zu 450 Kormoranen zurück, die die Kleinen Maränen bei ihren Beutezügen in tiefe, sauerstoffarme Seeregionen getrieben hätten, in denen die Fische erstickt seien. Aufgrund des Vogelschutzgebietes sei ein Abschuss der Kormorane nicht möglich. Das Institut für Binnenfischerei in Sacrow wollte einen Einfluss der Kormorane auf das Fischsterben nicht ausschließen, sah die Ursache allerdings eher in der ungewöhnlich starken Wassererwärmung im Sommer 2014. Der Stoffwechsel der sehr empfindlichen Kleinen Maräne komme mit derart hohen Temperaturen und ungewöhnlich lange andauernden Gewässeraufheizungen nicht zurecht. So könnten die Tiere vor dem Dilemma gestanden haben, entweder in den oberen warmen Wasserschichten zu kollabieren oder in tieferen Schichten an zu wenig Sauerstoff zugrunde zu gehen.
Vögel
Der Parsteiner See ist Nahrungs-, Brut- und Überwinterungsgebiet vieler Wasser-, Wat- und Greifvogelarten, für die in den Schonzonen und weiteren Uferbereichen vielfältige Brutplätze bestehen. „Bis zu 40 rastende Arten und über 10000 Vögel können an einem Zähltag auf dem […] See angetroffen werden.“ Das Gewässer und seine Umgebung sind seit 1997 als Europäisches Vogelschutzgebiet und seit 1999 im Rahmen der Tranche 2 als „Natura 2000“ Gebiet gemäß §3 der Richtlinie 92/43/EWG (FFH-Richtlinie) gemeldet. Die universitätseigene Humboldt-Innovations GmbH führt am Institut für Biologie der Humboldt-Universität eine Studie des Tierstimmen-Archivs durch, um die Vogelwelt der Röhrichtgesellschaften am Parsteiner See akustisch zu erfassen. Das automatisierte Monitoring gilt hauptsächlich nachtaktiven Tieren wie einigen Arten der Rallen, die bei herkömmlichen Erfassungsmethoden in der Regel unterrepräsentiert sind.
Im Mittelpunkt der Schutzmaßnahmen für Vögel steht unter anderem eine Kolonie der Trauerseeschwalbe (Chlidonias niger). Der Bestand des vom Aussterben bedrohten Vogels lag 1980 bei 10, stieg 1983 auf 25 und fiel 1988 wieder auf 10 Brutpaare. Seither haben sich die Bestände mit Maßnahmen wie Nisthilfen und Kunstinseln über 28 im Jahr 1995, 35 im Jahr 2000 und 54 im Jahr 2005 auf 69 Paare im Jahr 2007 erholt. Der See bildet zudem ein Jagdrevier für Greifvögel wie den gefährdeten Seeadler (Haliaeetus albicilla), der mit einzelnen Brutpaaren im Paarsteinbecken nachgewiesen wurde. Festgeschriebene Horstbetreuer unterstützen den Bestand der Seeadler und weiterer bedrohter Großvögel wie dem Fischadler (Pandion haliaetus) oder im Rahmen des EU-LIFE-Pprojekts „Förderung der Rohrdommel im Vogelschutzgebiet Schorfheide-Chorin“ der Großen Rohrdommel (Botaurus stellaris).
Am See und in seinem Einzugsbereich leben rund 60 weitere Vogelarten, die nach der Roten Liste Brandenburgs vom Aussterben bedroht (Gefährdungsstufe 1), stark gefährdet (2) und gefährdet (3) sind. Dazu gehören Schwarzstorch (Ciconia nigra) (Stufe 1), Eisvogel (Alcedo atthis) (2), Rothalstaucher (Podiceps grisegena) (1/2), Blaukehlchen (Luscinia svecica) (2), Fischadler (Pandion haliaetus) (3), Kranich (Grus grus) (3) und Schellente (Bucephala clangula) (3). Kormoran (Phalacrocorax carbo), Graureiher (Ardea cinerea), Haubentaucher (Podiceps cristatus) und verschiedene Tauchenten, Rallen, Schwimmenten, Schwalben, Möwen und Singvögel ergänzen die Vogelpopulation am See. Schutzmaßnahmen in den umliegenden Feldern gelten unter anderem den stark gefährdeten Grauammern (Emberiza calandra; Miliaria calandra) und Rebhühnern (Perdix perdix) sowie typischen Heckenvögeln wie der Sperbergrasmücke (Sylvia nisoria) und dem Vogel des Jahres 1985, dem Neuntöter (Lanius collurio), der 1997 aus der Roten Liste Brandenburgs entlassen werden konnte.
Säugetiere
Elbebiber (Castor fiber albicus) und Fischotter (Lutra lutra) sind im Einzugsbereich des Parsteiner Sees beziehungsweise im Vogelschutzgebiet Schorfheide-Chorin weitgehend flächendeckend verbreitet. Zudem konnten 13 Fledermausarten beobachtet werden. Auf den umliegenden Feldern gehört der in Brandenburg gefährdete Feldhase (Lepus europaeus) zu den Zielarten der Schutzmaßnahmen des Naturschutzhofes Brodowin, dessen Bestand mit optimierten Fruchtfolgen und durch ausreichende Deckungsmöglichkeiten wie Hecken und Knicks gefördert wird. „Auf den Flächen des Betriebes Ökodorf Brodowin wurde eine Feldhasendichte von 15 bis 27 Hasen pro 100 ha gezählt. Diese Dichte ist im Vergleich zu anderen Regionen Brandenburgs überdurchschnittlich hoch, was auf eine hohe Lebensraumqualität des Gebietes hinweist.“
Siedlungsgeschichte am Parsteiner See
Frühe Besiedlung, Germanen und Slawen
Der Raum um den fischreichen Parsteiner See war früh besiedelt. Funde auf dem Pehlitzwerder stammen aus der Jungsteinzeit, dem Übergang der Jäger- und Sammlerkulturen zu sesshaften Bauern mit domestizierten Tieren und Pflanzen. Nordöstlich des Sees befindet sich im Angermünder Ortsteil Mürow ein Großsteingrab aus der Megalithkultur. Der erweiterte Dolmen aus Granitfindlingen ist als Bodendenkmal geschützt und stammt aus der Zeit um 2600 vor Christus. Auf dem Koppelberg nördlich von Pehlitz sollen bis weit in die Neuzeit Dolmen gestanden haben, die angeblich als Steinbrüche genutzt wurden und inzwischen zerstört sind. Das bekannteste Zeugnis aus der Bronzezeit ist der Eberswalder Goldschatz, der 1913 einige Kilometer südwestlich in Finow ausgegraben wurde und auf das 10. oder 9. Jahrhundert vor Christus datiert wird. Nach der Abwanderung der elbgermanischen Semnonen Richtung Schwaben (ab dem 5. Jahrhundert n. Chr.) rückten in den weitgehend freien Raum slawische Stämme nach. Die slawische Zeit in der späteren Mark Brandenburg währte vom 6. / 7. Jahrhundert bis in die Periode des deutschen Landesausbaus nach der Gründung der Mark im Jahr 1157 durch den Askanier Albrecht den Bären. Für die Zeit bis zum 9. / 10. Jahrhundert gibt Johannes Richter eine hohe Siedlungskonzentration um den Parsteiner See an.
Starker anthropogener Einfluss durch die Zisterzienser
Große Bedeutung für die wirtschaftliche Nutzung des Parsteiner Sees und seiner Umgebung kam den Mönchen des Zisterzienserordens zu, die im 12./13. Jahrhundert in Techniken wie der Fischzucht oder dem Mühlenbau führend waren und den Landesausbau der askanischen Markgrafen missionierend und wirtschaftend unterstützten. Der größte Teil des Parsteiner Sees gehörte zu der Gründungsausstattung, mit der die Markgrafen die Mönche mit der Stiftungsurkunde vom 2. September 1258 bedachten. Durch Zukäufe, zuletzt 1431 das Dorf Bölkendorf und 1466 das Dorf Klein-Ziethen, war der gesamte See mit seinen Gemarkungen 1466 im Klosterbesitz und wurde von den Mönchen nach der Klosterverlegung von Chorin aus bewirtschaftet.
Klostergründung auf dem Pehlitzwerder
Im Zuge der anstehenden Erbteilung zwischen den gemeinsam regierenden Markgrafen Johann I. und Otto III. und auf ihre Veranlassung/Stiftung gründeten die Mönche 1258 auf der Halbinsel Pehlitzwerder das Kloster Mariensee. Das neue Kloster war eine Filiation des Klosters Lehnin und sollte als Grablege für die Johanneische Linie dienen. Johann I. wurde 1266 noch in dem im Bau befindlichen Kloster beigesetzt, obwohl die Arbeiten wahrscheinlich bereits 1266/67 eingestellt wurden und das Kloster 1273 noch vor seiner Fertigstellung nach Chorin verlegt wurde; Johann I. wurde daraufhin nach Chorin umgebettet.
Die 15 Hektar große Halbinsel Pehlitzwerder war zur Zeit der Klostergründung eine Insel, der Wasserspiegel lag zu dieser Zeit ein bis zwei Meter höher als heute. Auf der Kuppe befand sich ein slawischer Ringwall mit einer späteren Burg, die die Askanier sehr wahrscheinlich übernommen und als Turmburg zum Machtzentrum der Region ausgebaut hatten. Dass die Markgrafen dem Gründungskonvent einen Platz unterhalb der Burg für den Klosterbau zuwiesen, deutet nach Wolfgang Erdmann darauf hin, dass das Kloster aus „landesherrlich-machtpolitischem Kalkül“ die Mittelpunkts- und Herrschaftsfunktion übernehmen sollte. Der 1258 begonnene Klosterbau sollte direkt am Nordufer der Insel liegen. Die Mönche zogen zuerst die Klosterkirche hoch, deren Chor bereits um 1263 genutzt werden konnte.
Die Mauern des Erdgeschosses des Klosters Mariensee waren bis in die 1960er Jahre erhalten geblieben. Sie wurden dann von den Einwohnern von Brodowin zur Materialgewinnung abgetragen. Die heute sichtbaren Mauerreste sind später auf dem erhalten gebliebenen Kern der Fundamente aufgemauert worden.
Steigender Seepegel und Klosterverlegung
Ein steigender Seepegel und niederschlagsbedingte Schwankungen des Wasserspiegels veranlassten die Mönche vor 1266, die Arbeiten einzustellen und auf der Hügelkuppe neu zu bauen. 1266/67 wurden die Arbeiten auch hier, wahrscheinlich auf Sockelhöhe, beendet – erhalten sind von allen Bauten nur sehr geringe Mauerreste, zum Teil nicht mehr sichtbare, ergrabene Mauern. Einer der Gründe für die völlige Aufgabe des Standortes Pehlitzwerder war neben dem steigenden Seepegel die Insellage, die sich für die Zisterzienser zunehmend als unwirtschaftlich erwies. „ […] [S]teigende Wasserstände am Pehlitzwerder, mangelnde Wasserver- und Entsorgung sowie fehlende Wasserkraftausnutzung“ nennt Erdmann als Hauptgründe.
Noch 1266 beschlossen die Mönche im Einvernehmen mit den Landesherren die Verlegung um rund acht Kilometer nach Südwesten an die Südspitze des Choriner Sees, des heutigen Amtssees. Unmittelbar südlich des neuen Geländes befand sich der ehemalige Oberlauf der Ragöse (Mühlkanal), der sich aus dem Choriner See speiste. Hier besaßen die Zisterzienser sehr wahrscheinlich bereits zwei Mühlen: die Ragöser Mühle und die
Klostermühle. Die Verlegung erfolgte spätestens 1273. Die nebenstehende markgräfliche Urkunde gab als Verlegungsgrund an: propter incommoda plurima (wegen mehrerer Unbequemlichkeiten).
Bau des Seeabflusses Nettelgraben
Zwar waren die wasserwirtschaftlichen Voraussetzungen in Chorin deutlich besser als am Parsteiner See, dennoch sahen sich die Mönche gezwungen, mehr Wasser zuzuführen, da der Ragöseabfluss des Choriner Sees nicht genügend Wasser zum Betrieb der Mühlen und zur Versorgung des Klosters zuführte. Sie erreichten dies durch den Bau des knapp fünf Kilometer langen Nettelgrabens vom Choriner See/Amtssee zum höher gelegenen und heute isolierten Weißen See, der zur Bauzeit im 13. Jahrhundert eine Bucht des Parsteiner Sees bildete. Der Wassergraben, der zu den frühesten deutschen Kunstgräben zählt, sorgte zudem für die Melioration der umliegenden Gebiete und des Plagefenns.
Die im Mittelalter ständig weiter steigenden Wasserstände des Parsteiner Sees erreichten im 16. / 17. Jahrhundert den Höchststand. Dem allmählich unangenehm verstärkten Wasserandrang über den Nettelgraben begegneten die Mönche – wahrscheinlich schon im 15. Jahrhundert – mit einem direkten nördlichen Durchstich vom Amtssee zur Ragöse und dem Zuschütten des oberen südlichen Ragösebettes am Kloster. Nach den fallenden Wasserständen der folgenden Jahrhunderte und der Trennung des Weißen Sees vom Parsteiner Hauptbecken erfolgte eine künstliche Verbindung zwischen beiden Seen, über die der Parsteiner See auch heute über die Prottenlanke und den Weißen See in den Nettelgraben entwässert.
Überblick: anthropogene Einflüsse in den Siedlungsperioden
In den Siedlungsperioden bis ungefähr 950 war der Einfluss des Menschen auf den Parsteiner See gering. Für das Hochmittelalter und das Spätmittelalter (950–1550) stellte die Untersuchung der TU Cottbus aus dem Jahr 2003 einen mäßig bis starken anthropogenen Einfluss auf die brandenburgischen Gewässer fest. Die anthropogene Anbindung des ursprünglichen Binnenentwässerungsgebietes an das Flusseinzugsgebiet der Oder geht auf diese Periode der intensiven Bewirtschaftung durch die Zisterzienser zurück und führte in den folgenden Jahrhunderten zur Absenkung des Wasserspiegels. Die neuzeitliche vorindustrielle Periode (1500–1750) hatte, unter anderem wegen der Folgen der Pest und des Dreißigjährigen Krieges, allenfalls geringen anthropogenen Einfluss, während die Zeit der Industrialisierung mäßige bis starke Auswirkungen mit sich brachte.
Im Zweiten Weltkrieg schädigten Wehrmachtsflugzeuge das Gewässer mit Übungs-Bombenabwürfen (wahrscheinlich, zumindest zum Teil, mit Betonbomben); dicht am Ufer bei Bölkendorf befand sich ein Großbunker mit einer Außenstelle der Koralle, der zentralen Marine-Funkleitstelle für U-Boote. Die Intensivierung der Landwirtschaft in der DDR seit 1950 belastete mit der Zuführung von Schadstoffen das Ökosystem des Parsteiner Sees stark. Durch die Schutzmaßnahmen seit der deutschen Wiedervereinigung macht sich der menschliche Eingriff zugunsten einer Renaturierung geltend. Letztere wird auch dadurch unterstützt, dass direkt am See fast keine Siedlungsbereiche liegen. Dem See am nächsten kommt die Siedlung Pehlitz am südlichen Ufer.
Heutige Nutzung, Tourismus, Museum
Der Parsteiner See wird heute für die gewerbliche Fischerei, als Angelgewässer und für den umweltverträglichen Tourismus genutzt. Die Landwirte bewirtschaften die umgebenden Ackerbau- und Weideflächen im Einklang mit den Anforderungen des Landschaftsschutzgebietes überwiegend nach den Prinzipien der Ökologischen Landwirtschaft.
Es gibt keinen Schiffsausflugsverkehr und das Befahren mit Elektro- oder Motorbooten ist verboten – sowohl für die gewerbliche Fischerei wie auch für Angler und die touristische Nutzung. Auf dem Pehlitzwerder liegt nahe am See ein naturnaher Campingplatz, mit Badestelle (Hundeverbot), ein weiterer (ebenfalls mit Badestelle, Tauch- und Surfschulen) in der Südostecke des Sees, betrieben von der Gemeinde Parstein. Zu den Wassersportmöglichkeiten zählen neben Schwimmen Segeln und Surfen. Auf dem Campingplatz Parstein können Ruder- und Tretboote ausgeliehen werden. Das Tauchen ist verboten – allerdings existiert, auf dem Campingplatz Parstein, eine Tauchbasis mit einer Tauchschule, die eine Sondergenehmigung für Tauchgänge besitzt. Einen dritten Campingplatz betreibt am nördlichen Seeufer der „Sport- und FKK-Verein Herzsprung e. V.“ Die reich gegliederte Landschaft um den See durchzieht ein ausgedehntes und ausgeschildertes Wanderwegenetz. Am See selbst führen aufgrund der vielen Schonzonen nur wenige Wegabschnitte entlang.
Im Parsteiner Ortsteil Lüdersdorf stehen zwei historische Vorlaubenhäuser, darunter das denkmalgeschützte Loewinghaus, zu dessen Restaurierung die Deutsche Stiftung Denkmalschutz beigetragen hat. Die neugotische Dorfkirche Brodowin ist ein Werk des Baumeisters Stüler aus der Zeit um 1850 und wird 2007/2008 denkmalgerecht saniert. Mit Unterstützung des brandenburgischen Umweltministeriums hat der Öko-Dorf Brodowin e. V. in einem ehemaligen Neubauernhaus aus der Bodenreformzeit ein Informations- und Kommunikationszentrum eingerichtet, das „Haus Pehlitzwerder“. In dem zugehörigen Museum zeigt der Verein unter anderem die Dauerausstellung „Von der Eiszeit zum Ökodorf“ mit Informationen zur geologischen Entwicklung und Siedlungsgeschichte um den Parsteiner See.
Der See in der Literatur
Der Schriftsteller Theodor Fontane beschrieb den Parsteiner See im Band „Havelland“ der Wanderungen durch die Mark Brandenburg:
Siehe auch
Liste der Seen in Brandenburg
Literatur
Atlas zur Geologie von Brandenburg, Werner Stackebrandt und Volker Manhenke (Hrsg.), Landesamt für Geowissenschaften und Rohstoffe Brandenburg (heute Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe Brandenburg, LBGR) 2002, 2. Aufl., 142 S., 43 Karten, ISBN 3-9808157-0-6.
Wolfgang Erdmann: Zisterzienser-Abtei Chorin. Geschichte, Architektur, Kult und Frömmigkeit, Fürsten-Anspruch und -Selbstdarstellung, klösterliches Wirtschaften sowie Wechselwirkungen zur mittelalterlichen Umwelt. Unter Mitarbeit von Gisela Gooß, Manfred Krause, Gunther Nisch. Verlag Karl Robert Langewiesche Nachfolger Hans Köster Verlagsbuchhandlung KG, Königstein i. Ts. 1994 (Reihe: Die Blauen Bücher). ISBN 3-7845-0352-7.
Führer zur Geologie von Berlin und Brandenburg, Nr. 2, Bad Freienwalde – Parsteiner See, Johannes H. Schroeder (Hrsg.), Geowissenschaftler in Berlin und Brandenburg e. V., Selbstverlag Berlin, 2. verbesserte Auflage 1994, ISBN 3-928651-03-X,
L. Lippstreu, N. Hermsdorf, A. Sonntag: Geologische Übersichtskarte des Landes Brandenburg 1: 300.000 – Erläuterungen. – Potsdam 1997, ISBN 3-7490-4576-3.
Rüdiger Michels: Hydrologische Sanierung im Plagefenn. In: 100 Jahre Naturschutzgebiet Plagefenn. Eberswalder Forstliche Schriftenreihe Band XXXI. Hrsg.: MLUV des Landes Brandenburg Landesforstanstalt Eberswalde, Tagungsband zur Jubiläumsveranstaltung vom 11. bis 12. Mai 2007 in Chorin, Eberswalde 2007, S. 41–46 ().
Brigitte Nixdorf, Mike Hemm u. a.: Dokumentation von Zustand und Entwicklung der wichtigsten Seen Deutschlands, Teil 5, Brandenburg, Umweltforschungsplan des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Abschlussbericht F&E Vorhaben FKZ 299 24 274, im Auftrag des Umweltbundesamtes am Lehrstuhl Gewässerschutz der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, 2004. Kapitel 1.22 Parsteiner See S. 92–96 (PDF).
Brigitte Nixdorf, Ute Mischke u. a.: Endbericht. Untersuchungen zu Leitbild-Biozonösen in Gewässern des Landes Brandenburg anhand der Merkmalskomponente Phytoplankton. 3. Projektbericht: Teilobjekt 3 „Paläolimnologische Untersuchungen in Brandenburgischen Flachseen zur Ableitung eines Leitbildes“, im Auftrag des MLUR Brandenburg am Lehrstuhl Gewässerschutz der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, Juli 2003 ().
J. Schönfelder: Der Parsteiner See. In: Institut für angewandte Gewässerökologie in Brandenburg GmbH (Hrsg.): Seenberichte – Parsteiner See, Glindowsee, Großer Plessower See. Studien- und Arbeitsberichte 1–34, Seddin 1999.
Weblinks
Einzelnachweise
See in Europa
Gewässer im Landkreis Barnim
See in Brandenburg
Geographie (Chorin) |
3030951 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl%20in%20den%20Vereinigten%20Staaten%201916 | Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1916 | Die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1916 fand am 7. November 1916 statt – vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, in dem die USA bis dahin neutral geblieben waren. Kandidat der Demokratischen Partei war Amtsinhaber Woodrow Wilson, der insbesondere wegen seiner Antikriegshaltung sowie aufgrund einer Reihe von arbeitnehmerfreundlichen Reformen während seiner ersten Amtszeit populär war. Für die Republikanische Partei trat Charles Evans Hughes an, der von 1910 bis zu seiner Nominierung als Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten fungiert hatte. Der ehemalige US-Präsident Theodore Roosevelt verzichtete, anders als vier Jahre zuvor, zugunsten von Hughes auf eine eigene Kandidatur mit seiner Progressive Party.
Hauptthemen des Wahlkampfes waren innenpolitisch die progressiven Reformen von Amtsinhaber Wilson sowie außenpolitisch eine mögliche Kriegsbeteiligung der Vereinigten Staaten. Während Wilson die Aufrechterhaltung der amerikanischen Neutralität zu einem Kernthema seiner Kampagne machte, trat Hughes für eine bessere Vorbereitung auf ein mögliches Hineinziehen des Landes in den Konflikt ein, was teilweise zu seiner Wahrnehmung als „Kriegskandidat“ führte. Woodrow Wilson gewann die Wahl mit knappem Vorsprung und wurde damit für eine zweite Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten wiedergewählt.
Aus Sicht der Wahlforschung gilt insbesondere der starke Einfluss des Ersten Weltkrieges als mitentscheidend für den Wahlausgang. Motiviert durch Änderungen der deutschen Kriegspolitik Anfang 1917 kam es im April aber doch zum Kriegseintritt der USA auf Seiten der Triple Entente, mit vielfältigen und zum Teil langanhaltenden Auswirkungen auf das soziale und politische Leben des Landes. Die Innenpolitik während seiner zweiten Amtszeit war von der landesweiten Einführung des Frauenwahlrechts sowie dem Scheitern seiner Gesetzesinitiativen zum Verbot der Kinderarbeit gekennzeichnet. Im Jahr 1919 erhielt Woodrow Wilson, der turnusgemäß bis März 1921 amtierte, den Friedensnobelpreis „für seine Verdienste um die Beendigung des Ersten Weltkrieges und die Gründung des Völkerbunds“.
Ausgangssituation
Die politische Landschaft in den Vereinigten Staaten vor der Präsidentschaftswahl 1916 war geprägt von den Folgen der Wahl vier Jahre zuvor, in der sich der Demokrat Woodrow Wilson durchgesetzt hatte. Seine Gegner waren der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt, der sich mit der Progressive Party von den Republikanern abgespalten hatte, und der republikanische Amtsinhaber William Howard Taft. Roosevelt, der im Gegensatz zu Taft den liberalen Flügel innerhalb der Republikaner repräsentierte, hatte sich zuvor erfolglos um die Nominierung der Partei bemüht. Nachdem diese erneut an den konservativen Taft gegangen war, entschloss sich Roosevelt zur Kandidatur zusammen mit dem kalifornischen Gouverneur Hiram Johnson, mit dem er im selben Jahr die Progressive Party gründete. Dies führte zur Spaltung der Republikaner und ihrer potentiellen Wählerschaft, in deren Ergebnis Amtsinhaber Taft die Wahl gegen seinen demokratischen Herausforderer Wilson verlor und noch hinter Roosevelt, sowohl nach Wähler- als auch nach Wahlmännerstimmen, nur den dritten Platz belegte.
Innenpolitisch hatte Wilson nach seinem Amtsantritt mit Unterstützung eines mehrheitlich demokratisch besetzten Kongresses eine Reihe von Vorhaben umgesetzt, die unter dem Slogan „The New Freedom“ („Die neue Freiheit“) propagiert wurden und vor allem Änderungen im Bereich des Wettbewerbsrechts sowie des Zollwesens, des Bankensektors und der Währungspolitik umfassten. Zu den wichtigsten dieser Reformen zählten 1913 die Schaffung des Federal Reserve System als Zentralbanksystem der Vereinigten Staaten sowie ein Jahr später die Gründung der Federal Trade Commission mit dem Ziel der Verhinderung beziehungsweise Bekämpfung von wettbewerbswidrigen Trusts sowie Markt- und Produktionsmonopolen. Beide Institutionen sind bis in die Gegenwart von zentraler Bedeutung im Wirtschaftssystem der Vereinigten Staaten. Darüber hinaus verabschiedete die Regierung mehrere Gesetze, die zu einer Verbesserung der Arbeitssituation in verschiedenen Wirtschaftsbereichen führten. Hierzu gehörten beispielsweise die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden sowie der Seamen’s Act, der die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute in der amerikanischen Handelsflotte verbesserte. Die wirtschaftliche Situation in den Vereinigten Staaten, die während Wilsons erster Amtszeit zunächst durch einen Konjunkturrückgang gekennzeichnet war, hatte sich später aufgrund eines kriegsbedingten Nachfrageanstiegs erholt.
In außenpolitischer Hinsicht hatte Wilson eine Beteiligung der Vereinigten Staaten am Ersten Weltkrieg verhindert, der 1914 in Europa begonnen hatte. Er unternahm bei den Kriegsparteien verschiedene Vermittlungsinitiativen zur Beilegung des Konflikts, die allerdings erfolglos blieben. Von den Republikanern, insbesondere unter Führung von Theodore Roosevelt, wurde er für seine Weigerung kritisiert, die amerikanischen Streitkräfte auf eine mögliche Kriegsbeteiligung vorzubereiten. Seiner Meinung nach hätte dies einen Kriegseintritt forciert, eine Haltung, die ihm Unterstützung innerhalb der amerikanischen Friedensbewegung sicherte. Wilson war im Vorfeld der Wahl von 1916 aufgrund dieser Antikriegshaltung sowie wegen seiner innenpolitischen Reformen zugunsten von Arbeitnehmern in weiten Teilen der Bevölkerung sehr populär.
Die Wahl
Kandidaten
Innerhalb der Demokratischen Partei war Amtsinhaber Woodrow Wilson durch seine innen- und außenpolitischen Erfolge während seiner ersten Amtszeit nahezu unumstritten, nur wenige Präsidenten in der amerikanischen Geschichte galten in ihrer Partei als ähnlich dominierend. Auf der Democratic National Convention vom 14. bis zum 16. Juni 1916 in St. Louis wurde er deshalb mit überwältigender Mehrheit im ersten Wahlgang erneut nominiert. Einziger Gegenkandidat war der zu diesem Zeitpunkt nur wenig bekannte Delegierte Homer S. Cummings, der in den 1930er Jahren Justizminister unter Präsident Franklin D. Roosevelt wurde. Auch der amtierende Vizepräsident Thomas Riley Marshall wurde von den Demokraten ohne Gegenkandidat erneut aufgestellt.
In den Vorwahlen der Republikanischen Partei bewarben sich 13 Kandidaten um die Nominierung zum Herausforderer des amtierenden Präsidenten. Darunter waren unter anderem der frühere Vizepräsident Charles W. Fairbanks, der Automobilproduzent Henry Ford, der frühere Justiz- und Außenminister Philander C. Knox, der Verfassungsrichter Charles Evans Hughes, der Gouverneur des Staates Pennsylvania, Martin Brumbaugh, sowie sieben Senatoren aus verschiedenen Bundesstaaten. Während der Republican National Convention vom 7. bis zum 10. Juni 1916 in Chicago gewann Charles Evans Hughes die Nominierung im dritten Wahlgang. Hauptgrund war seine moderate politische Haltung, durch welche die republikanische Führung hoffte, einen Ausgleich zwischen dem liberalen und dem konservativen Flügel der Partei zu erreichen. Als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten wurde Charles W. Fairbanks ausgewählt, der dieses Amt bereits unter Präsident Roosevelt von 1905 bis 1909 ausgeübt hatte. Nach der Annahme seiner Nominierung trat Hughes am 16. Juni 1916 vom Amt des Richters am Obersten Gerichtshof zurück.
Theodore Roosevelt, der ursprünglich erneut für die Progressiven zur Wahl antreten wollte, zog seine Kandidatur zurück und unterstützte im Wahlkampf Charles Evans Hughes. Diese durch seine leidenschaftliche Ablehnung von Wilson beeinflusste Entscheidung, mit der er vor allem einen erneuten Wahlsieg der Demokraten verhindern wollte, führte zum Ende der Progressiven Partei und der Rückkehr ihrer meisten Mitglieder zu den Republikanern. Frank Hanly, der zuvor für die Republikaner von 1895 bis 1897 als Abgeordneter im Repräsentantenhaus gesessen und von 1905 bis 1909 als Gouverneur des Bundesstaates Indiana fungiert hatte, kandidierte für die Prohibition Party. Für die Sozialistische Partei Amerikas trat der Autor und Zeitungsherausgeber Allan Louis Benson an.
Wahlkampf
Der Wahlkampf wurde thematisch zunächst von innenpolitischen Themen und im weiteren Verlauf in immer stärkerem Maße vom Ersten Weltkrieg in Europa dominiert. Zu den innenpolitischen Vorhaben der Kampagne von Woodrow Wilson zählten unter anderem die Bekämpfung der Kinderarbeit, die landesweite Einführung des Frauenwahlrechts, Verbesserungen des Strafvollzugswesens sowie die Fortsetzung der progressiven Reformen aus seiner ersten Amtszeit, die zu seiner großen Popularität in der Bevölkerung beigetragen hatten. Diese Vorhaben sowie die bisherigen Ergebnisse seiner Politik brachten ihm auch die Unterstützung der American Federation of Labor (AFL) ein, der größten Gewerkschaftsvereinigung in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Darüber hinaus sprachen sich unter anderem auch die New York Times, der in den republikanischen Vorwahlen unterlegene Henry Ford sowie der Erfinder und Unternehmer Thomas Alva Edison, der für Roosevelt als Kandidaten der Republikaner votiert hatte, für Wilson aus. William Randolph Hearst, der als Besitzer des San Francisco Examiner und mehrerer anderer Tageszeitungen zu den führenden Medienunternehmern des Landes zählte, rief ebenfalls zur Wahl von Wilson auf, nachdem er zuvor erfolglos versucht hatte, Roosevelt von einer Kandidatur zu überzeugen. Obwohl er Wilson persönlich verachtete und dessen Politik ablehnte, konnte er sich als Mitglied der Demokratischen Partei nicht dazu durchringen, den Republikaner Hughes zu unterstützen, dem er zudem 1906 bei der Wahl zum Gouverneur von New York unterlegen war.
Wilsons außenpolitisches Kernthema war die Aufrechterhaltung der Neutralität und damit die Vermeidung einer Kriegsbeteiligung der Vereinigten Staaten. Dies kam im demokratischen Wahlkampfmotto „He Kept Us Out of War“ – „Er hat uns aus dem Krieg herausgehalten“ – zum Ausdruck, das auf die zwei Jahre seit Beginn des Krieges im Jahr 1914 Bezug nahm. Da er nicht davon überzeugt war, einen Eintritt der USA in den Krieg vermeiden zu können, war Wilson selbst allerdings mit diesem Slogan nicht zufrieden. Wilson, der im Wahlkampf nur wenig aktiv war, konzentrierte sich vor allem auf seine eigenen Themen und ignorierte den politisch als unerfahren geltenden Hughes nahezu vollständig. Er verzichtete darüber hinaus auch, mit Verweis auf die angespannte internationale Situation und die Notwendigkeit seines Verbleibs in Washington, auf eine Wahlkampftour durch das Land und trat nur als eingeladener Redner auf.
Charles Evans Hughes warb in seiner Kampagne, die im Gegensatz zu Wilsons Wahlkampf durch ausgedehnte Reisen gekennzeichnet war und als schwach organisiert galt, um eine bessere Vorbereitung auf mögliche Auswirkungen des Krieges und auf ein Hineinziehen der Vereinigten Staaten in den Konflikt. Dies wurde von einigen Zeitungen, die Woodrow Wilson unterstützten, als geheime Pläne für einen Kriegseintritt nach einer möglichen Wahl von Hughes interpretiert. Nachdem es Wilson gelungen war, durch diplomatischen Druck das Deutsche Reich von der Fortsetzung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges abzubringen, fiel es Hughes schwer, der Friedenskampagne seines Kontrahenten einen effektiven Wahlkampf entgegenzusetzen. Neben einer möglichen Beteiligung am Krieg in Europa als Hauptthema thematisierte er im Bereich der Außenpolitik außerdem die Verwicklung der Vereinigten Staaten in den mexikanischen Bürgerkrieg.
Auf innenpolitischer Ebene konzentrierte er sich darauf, einige von Wilsons Reformen im Bereich des Arbeitsrechts zu kritisieren, die er als nachteilig für die Interessen der Wirtschaft darstellte. Auch dies blieb jedoch weitestgehend ohne Erfolg, da diese Reformen die Arbeitsbedingungen für weite Teile der Arbeiterschaft verbessert hatten und somit zu Wilsons Popularität in diesen Bevölkerungsschichten beitrugen. Als vorteilhaft für Hughes erwies sich vor allem bei liberalen Anhängern der Republikaner die Unterstützung durch den noch immer außerordentlich populären früheren Präsidenten Theodore Roosevelt, auch wenn dessen Wahlkampfaussagen hinsichtlich einer eventuellen Kriegsteilnahme wahrscheinlich zur Wahrnehmung von Hughes als „Kriegskandidat“ beitrugen. Darüber hinaus positionierte sich auch Elihu Root, der von 1905 bis 1909 unter Roosevelt als Außenminister fungiert hatte und 1912 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, zugunsten von Hughes.
Da Hughes in seiner Kritik an Wilson einige zweideutige beziehungsweise sich widersprechende Aussagen machte, so zu Wilsons Vorgehen gegenüber dem Deutschen Reich, wurde er zum Teil als unentschlossen wahrgenommen, was ihm in Abwandlung seines zweiten Vornamens den Spottnamen „Charles Evasive Hughes“ (evasive, englisch für „ausweichend“) einbrachte. Darüber hinaus unterlief ihm am 21. August 1916 während einer Wahlkampftour im Bundesstaat Kalifornien ein möglicherweise wahlentscheidender Fauxpas. Während eines Aufenthaltes in Long Beach übernachtete er im selben Hotel wie Hiram Johnson, der damalige republikanische Gouverneur des Staates. Trotzdem kam es zu keinem Treffen zwischen beiden Politikern, was möglicherweise daran lag, dass Hughes nicht darüber informiert worden war, dass Johnson sich ebenfalls im Hotel aufhielt. Von diesem wurde der als forgotten handshake („vergessener Handschlag“) bezeichnete Vorfall jedoch als Brüskierung empfunden, so dass er Hughes in der Folge die volle Unterstützung im Wahlkampf in Kalifornien verweigerte.
Schwerpunkt der Kampagne von Frank Hanly war die Forderung nach einem Verbot von alkoholischen Getränken und Glücksspielen. Allan Louis Benson profilierte sich vor allem durch seine strikte Ablehnung des Krieges und die Befürwortung eines landesweiten Referendums über einen möglichen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten.
Ergebnis
Charles Evans Hughes lag am Wahltag, dem 7. November 1916, aufgrund von frühen Siegen in Staaten im Nordosten und im mittleren Westen des Landes in den ersten Zwischenergebnissen vorn, so dass ihn einige Zeitungen bereits zum Wahlsieger erklärten und Roosevelt ihm per Telegramm zum Wahlsieg gratulierte. Woodrow Wilson gelang es jedoch, vor allem in den Südstaaten und an der Westküste aufzuholen und schließlich die Führung zu übernehmen. Als Schlüsselstaat erwies sich letztendlich Kalifornien, in dem Wilson mit einem Vorsprung von nur etwa 3800 aus rund einer Million Stimmen gewann und sich damit den Wahlsieg sicherte.
Insgesamt wurden 18.536.585 Stimmen abgegeben, rund 3,5 Millionen mehr als 1912. Davon erhielt Wilson 9.126.868 Stimmen, was 49,2 Prozent entsprach, während auf Hughes 8.548.728 Stimmen und damit 46,1 Prozent entfielen. Wilson erhielt zwar rund 2,8 Millionen Stimmen mehr als bei seiner ersten Wahl, erreichte damit aber nur eine knappe relative Mehrheit bei den Wählern und verfehlte wie schon vier Jahre zuvor die absolute Mehrheit. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,3 Prozent. Im Electoral College fiel die Verteilung der Wahlmännerstimmen mit 277 zu 254 zugunsten von Wilson aus, der in 30 Staaten gewann, während Hughes die Wahl in 18 Staaten einschließlich seines Heimatstaates New York und Wilsons Heimatstaates New Jersey für sich entscheiden konnte. Dies war, bei einer Mindestzahl von 266 Stimmen, einer der knappsten Wahlausgänge im Electoral College in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Hätte Hughes beispielsweise auch in Kalifornien die Wahl gewonnen, wäre er mit den 13 zusätzlichen Wahlmännerstimmen des Staates zum Präsidenten gewählt worden.
Wie es sich bereits in den ersten Ergebnissen abgezeichnet hatte, konzentrierten sich die Siege von Hughes mit Ausnahme von Oregon ausschließlich auf die meist bevölkerungsreichen und dementsprechend mit einer vergleichsweise hohen Zahl an Wahlmännern im Electoral College vertretenen Staaten im mittleren Westen und im Nordosten des Landes. Die höchsten Stimmenanteile erreichte er in Vermont mit 62,4 Prozent und in New Jersey mit 54,4 Prozent. Wilson konnte hingegen im Nordosten nur in New Hampshire einen mit 56 Stimmen Vorsprung bei 89.127 abgegebenen Stimmen äußerst knappen Sieg verzeichnen. Er profitierte damit nicht vom traditionell starken Rückhalt der Demokratischen Partei unter den mehrheitlich katholisch geprägten Nachfahren der irischen Einwanderer, die vor allem im Nordosten der USA lebten. Hierzu trug insbesondere die Ablehnung der Politik Wilsons in Bezug auf Europa und Mexiko durch diese Bevölkerungsgruppe bei. Darüber hinaus waren die irischstämmigen Einwohner dieser Region in großen Teilen desillusioniert aufgrund kriegsbedingter sozialer Spannungen.
Im mittleren Westen, der zweiten Hochburg von Hughes, gewann Wilson die am Rand der Region gelegenen Staaten North Dakota, Nebraska, Kansas, Montana und Ohio. Er siegte außerdem mit großem Vorsprung in allen Südstaaten, so in South Carolina mit 96,7 Prozent und in Mississippi mit 92,8 Prozent der Stimmen, und abgesehen von Oregon auch im gesamten Nordwesten und Südwesten. Grundlage seines Wahlsieges war somit seine Dominanz im Süden und im Westen des Landes und damit in der Mehrzahl der Staaten mit einer geringen Einwohnerzahl und entsprechend wenig Wahlmännerstimmen, wodurch er von der als „Föderalismus-Bonus“ bezeichneten überproportionalen Repräsentation kleinerer Bundesstaaten im Electoral College profitierte. Vor allem Wilsons vollständiger Erfolg in den dünnbesiedelten Mountain States zwischen dem mittleren Westen und der Westküste galt als wahlentscheidend. In dieser Region, die zur damaligen Zeit eigentlich eine Hochburg der Republikanischen Partei war, gelang es ihm, sich aus der angestammten republikanischen Wählerschaft insbesondere Stimmen von progressiven Farmern sowie von Frauen, die sich von seiner Friedenskampagne angesprochen fühlten, zu sichern.
Die traditionell den Demokraten zugeneigten polnischstämmigen Amerikaner wählten mit deutlicher Mehrheit Wilson. Wesentlich dazu beigetragen hatte eine Änderung seiner Haltung zu Fragen der Einwanderung, die bei den Wahlen von 1912 zu seinem schlechten Abschneiden in dieser Bevölkerungsgruppe geführt hatte. Möglicherweise mitentscheidend waren die Stimmen der polnischen Einwanderer bei seinen knappen Siegen in Ohio, North Dakota und Missouri. Die Deutschamerikaner zeigten demgegenüber kein geschlossenes Wahlverhalten und wählten gleichermaßen beide Kandidaten. Da regionale Faktoren im Wahlverhalten der deutschstämmigen Amerikaner eine größere Rolle spielten, gewann Hughes in dieser Bevölkerungsgruppe in Oregon, Minnesota und Illinois, während die Mehrheit der deutschamerikanischen Wähler in deren traditionellen Hochburgen Milwaukee und St. Louis sowie in Maryland und Ohio für Wilson stimmte. Sowohl Wilson als auch Hughes hatten zuvor im Wahlkampf versucht, sich von den Deutschamerikanern zu distanzieren. Insbesondere Roosevelt stellte in seinem Wahlkampf für Hughes die Loyalität der deutschstämmigen Einwanderer in Frage, die andererseits aber auch Wilson skeptisch gegenüberstanden, da sie seine Neutralitätspolitik als eine versteckte Unterstützung Großbritanniens ansahen.
Allan Louis Benson mit 590.524 Stimmen beziehungsweise 3,2 Prozent und Frank Hanly mit 221.302 Stimmen beziehungsweise 1,2 Prozent erhielten im Electoral College keine Wahlmännerstimmen und hatten keinen Einfluss auf den Wahlausgang. Benson erzielte sein bestes Ergebnis in Oklahoma mit 15,5 Prozent, Hanly in Florida mit 5,9 Prozent. Mit seiner Kampagne war es Wilson somit gelungen, von den sozialistisch orientierten Wählern einen erheblichen Anteil zu überzeugen, für ihn, anstatt für Benson zu stimmen. Dessen Ergebnis lag jeweils mehr als 300.000 Stimmen und damit rund ein Drittel unter den Resultaten von Eugene V. Debs, dem Kandidaten der Sozialistischen Partei bei den Vor- und Nachkriegswahlen von 1912 beziehungsweise 1920. Diese Zahl entsprach etwa der Hälfte des Vorsprungs von Wilson vor Hughes.
Auswirkungen
Reaktionen im Ausland
Die deutsche Regierung interpretierte den Ausgang der Wahl als ein Mandat für Wilson zur Fortsetzung seiner Neutralitätspolitik. Dementsprechend richtete sie ihre Politik in der Folgezeit an der Annahme aus, den Krieg gewinnen zu können, bevor die Vereinigten Staaten die alliierten Mächte militärisch unterstützen würden. In der deutschen Presse, so in der Vossischen Zeitung, im Berliner Tageblatt und im Berliner Lokal-Anzeiger, wurde nach der Wahl jedoch auch die Befürchtung geäußert, dass Wilson infolge seiner Wiederwahl seine Position ändern und eine zunehmend feindliche Haltung gegenüber Deutschland einnehmen könnte. Dies wich von der Einschätzung aus der Zeit vor der Wahl ab, in welcher in der deutschen Presselandschaft allgemein die Auffassung verbreitet war, dass der Ausgang der Wahl wenig Einfluss auf Deutschland haben würde.
In Großbritannien wurde der Wahlsieg Wilsons von den Liberalen und den Vertretern der Labour Party mit Zustimmung aufgenommen. Insbesondere diejenigen britischen Politiker, die auf eine Beendigung des Krieges durch die Vermittlung Wilsons und auf die Fortsetzung seiner Abkehr von der traditionellen amerikanischen Politik des Isolationismus hofften, sahen in dem Ergebnis der Wahl den Beginn einer neuen Ära in der amerikanischen Geschichte. Der spätere Labour-Vorsitzende Harold Laski brachte beispielsweise im Daily Herald seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Wilson die Vereinigten Staaten zu mehr internationaler Kooperation führen würde. Die Daily News begrüßte ebenso wie der Daily Telegraph und eine Reihe anderer englischer Tageszeitungen die Wiederwahl von Wilson und bezeichnete sie als „Triumph seiner Persönlichkeit und seiner Politik“. Demgegenüber reagierten die britischen Konservativen auf den Wahlausgang mit Desinteresse beziehungsweise Unzufriedenheit.
Auch in Frankreich war das Wahlergebnis ein wichtiges Thema in den Tageszeitungen. Gleichwohl erschienen nur wenige Kommentare, in denen eine Bewertung zum Ausdruck kam. In den Beiträgen, welche den Sieg Wilsons kommentierten, überwogen positive Meinungen. So wurde betont, dass sein Erfolg die amerikanische Neutralität weiter beleben würde, und dass seine Außenpolitik in den folgenden vier Jahren frei von wahltaktischen Erwägungen sei, da er keine Wiederwahl mehr anstreben würde. Neben dem Hinweis darauf, dass sich offensichtlich eine deutliche Mehrheit der Wähler gegen den Krieg aussprach, wurde wie in der englischen Presse sein Ansehen als entscheidender Grund für seinen Erfolg bewertet. Demgegenüber hatten mehrere französische Zeitungen kurz vor der Wahl noch Hughes favorisiert, da einige Kommentare von Wilson zu den Ursachen des Krieges in Frankreich auf Kritik gestoßen waren.
In den russischen Medien wurde der Wahlausgang kurz und zurückhaltend kommentiert und die Erwartung geäußert, dass Wilson durch die weitere Entwicklung zu einer deutlicheren Positionierung und möglicherweise zu einer Aufgabe seiner Neutralitätspolitik gezwungen werden könnte. Die Presse in Japan begrüßte den Sieg Wilsons und lobte ihn für seine Friedensbemühungen. Darüber hinaus wurde das Wahlergebnis als positiv für die Weiterentwicklung der amerikanisch-japanischen Beziehungen angesehen, insbesondere in Wirtschaftskreisen, die bei einer Wahl von Hughes die Etablierung von Schutzzöllen und damit Nachteile für japanische Exporte in die USA befürchtet hatten. Die Präsidenten mehrerer lateinamerikanischer Länder, so Mario García Menocal aus Kuba, Alfredo González Flores aus Costa Rica, Manuel José Estrada Cabrera aus Guatemala und Emiliano Chamorro Vargas aus Nicaragua, gratulierten Wilson zu seinem Wahlsieg. Er erhielt jedoch keine entsprechenden Bekundungen aus einer der kriegsführenden Nationen.
Kriegsbeteiligung
Noch vor Wilsons zweiter Amtseinführung am 4. März 1917 erfolgten massive Änderungen in der deutschen Kriegspolitik, die ihn doch zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg motivierten. Am 1. Februar 1917 erfolgte die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges durch Deutschland. Ende Februar wurde Wilson die von den Briten abgefangene Zimmermann-Depesche des deutschen Staatssekretärs Arthur Zimmermann zugespielt. In dieser plante das Deutsche Reich für den Kriegsfall mit den USA ein militärisches Bündnis mit Mexiko, in dem auch Gebietsabtretungen der USA an Mexiko zugesagt wurden. Nach der Versenkung von inzwischen drei US-Handelsschiffen berief Wilson am 2. April 1917 eine Sitzung des Kongresses ein, um dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären; diese folgte am 6. April 1917, und damit der Kriegseintritt auf Seiten der Entente-Staaten Frankreich, Großbritannien und Russland. Die Kriegsziele der Vereinigten Staaten legte er am 8. Januar 1918 in einer als 14-Punkte-Programm bezeichneten programmatischen Rede vor dem US-Kongress dar, in der er mit Forderungen nach einer Verbreitung von Freihandel und Demokratie sowie dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wichtige Prinzipien des Progressivismus in die Außenpolitik des Landes einführte.
Auf die zunehmende Ablehnung der Kriegsbeteiligung der Vereinigten Staaten in der Bevölkerung reagierte Wilson mit dem Espionage Act von 1917, durch den die strafrechtliche Bedeutung des Begriffs Spionage deutlich ausgeweitet wurde, sowie dem ein Jahr später verabschiedeten Sedition Act zur Strafbarkeit von beleidigenden oder illoyalen Äußerungen über die amerikanische Regierung, die Flagge und die Streitkräfte. Beide Gesetze waren stark umstritten, da sie als Einschränkungen der Meinungsfreiheit und anderer Grundrechte betrachtet wurden. Bis zum Ende des Krieges verloren rund 117.000 US-Amerikaner durch die Kampfhandlungen ihr Leben, rund 206.000 wurden im Kriegseinsatz verwundet. Das Kriegsende führte in den USA zu massiven wirtschaftlichen und sozialen Problemen und einer Stimmung der Ernüchterung in der Bevölkerung.
Mit seiner Teilnahme an der Pariser Friedenskonferenz im Januar 1919 wurde Wilson der erste amerikanische Präsident, der während seiner Amtszeit eine Auslandsreise unternahm. Ein Jahr vor dem Ende seiner Präsidentschaft erhielt er 1919 „für seine Verdienste um die Beendigung des Ersten Weltkrieges und die Gründung des Völkerbunds“ als zweiter US-Präsident nach Theodore Roosevelt den Friedensnobelpreis. Robert Lansing, der seit 1915 als Außenminister fungiert hatte, trat im Februar 1920 auf Wilsons Wunsch von diesem Amt zurück, da er dessen Einsatz für den Völkerbund nicht unterstützte. Als sein Nachfolger amtierte bis zum Ende von Wilsons Amtszeit Bainbridge Colby. Kriegsminister war von 1916 bis 1921 Newton Diehl Baker.
Innenpolitische Folgen
Von seinen innenpolitischen Vorhaben, mit denen er vor der Wahl geworben hatte, setzte Wilson bereits während des Wahlkampfes mit dem Keating Owen Child Labor Act ein Verbot des Handels zwischen den Bundesstaaten mit Produkten aus Kinderarbeit im Kongress durch. Das Gesetz wurde jedoch zwei Jahre später mit der Entscheidung Hammer v. Dagenhart des Obersten Gerichtshofs für verfassungswidrig erklärt und damit außer Kraft gesetzt. Auch der Anfang 1919 vom Kongress verabschiedete Child Labor Tax Act, bei dem zur Bekämpfung der Kinderarbeit auf die Bundeskompetenz im Bereich der Steuergesetzgebung zurückgegriffen wurde, hatte vor dem Obersten Gerichtshof keinen Bestand. Zu einem erneuten Eingriff der Bundesregierung in den Bereich der Kinderarbeit kam es dann erst über zehn Jahre später in den 1930er Jahren mit Veränderungen des Arbeits- und Sozialrechts während der Großen Depression.
Im Gegensatz zum Scheitern seiner Initiativen zur Kinderarbeit gelang Wilson mit dem 1919 vom Kongress beschlossenen und ein Jahr später in Kraft getretenen 19. Verfassungszusatz die von ihm in Aussicht gestellte landesweite Durchsetzung des Frauenwahlrechts. Wilsons sozialpolitische Aktivitäten waren, in enger Zusammenarbeit mit dem Gewerkschaftsführer Samuel Gompers, insgesamt stark arbeitnehmerfreundlich ausgerichtet. Gompers fungierte darüber hinaus als Wilsons Berater in arbeitspolitischen Fragen während der Friedenskonferenz von Paris. In den letzten beiden Jahren bis zur Wahl 1920 amtierte Wilson gegen einen mehrheitlich republikanisch besetzten Kongress. Ein solches Erstarken der sich in Opposition zu einem Präsidenten befindenden Partei bei den in der zweiten Hälfte von dessen zweiter Amtszeit stattfindenden Kongresswahlen ist im politischen System der USA ein wiederholt aufgetretenes Szenario. Zu einer Neubesetzung von Richterstellen am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten kam es während Wilsons zweiter Amtszeit nicht, nachdem er zwischen 1914 und 1916 mit John Hessin Clarke, Louis Brandeis und James C. McReynolds drei Kandidaten erfolgreich nominiert hatte.
Für die Republikaner bedeuteten die Wahl und ihre Folgen trotz der Niederlage von Charles Evans Hughes die Überwindung der Spaltung der Partei zwischen den liberalen und den konservativen Kräften, die durch die Präsidentschaftswahl von 1912 entstanden war. Warren G. Harding, dem Kandidaten der wiedererstarkten Partei bei den Wahlen 1920, gelang in der Folge ein überwältigender Sieg gegen den Demokraten James M. Cox, der für eine Fortsetzung der Politik von Wilson stand. Mitentscheidend war dabei eine durch die Kriegsbeteiligung der Vereinigten Staaten sowie die damit verbundenen Verluste entstandene Stimmung in der US-Bevölkerung zugunsten einer Rückkehr zur Politik des Isolationismus. Ein stärkeres internationales Engagement der Vereinigten Staaten, beispielsweise durch einen von Wilson und Cox favorisierten Beitritt zum Völkerbund, lehnten die US-Bürger mehrheitlich ab.
Historische Einordnung
In der auf den Wahlforscher Angus Campbell zurückgehenden Typologie amerikanischer Präsidentschaftswahlen gilt die Wahl von 1916 wegen des Einflusses des Ersten Weltkrieges und der darauf aufbauenden wahlentscheidenden Friedenskampagne von Wilson als sogenannte deviating election (Ausnahmewahl), also eine Wahl, die aufgrund der Persönlichkeiten der Kandidaten oder anderer außergewöhnlicher Umstände durch ein vorübergehendes Abweichen von längerfristig bestehenden parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen und Wählerpräferenzen gekennzeichnet war. Demgegenüber stehen maintaining elections (machterhaltende Wahlen), deren Ergebnisse eine Fortführung der bestehenden politischen Situation zur Folge haben, sowie realigning elections (Neuausrichtungswahlen), die durch grundlegende und weitreichende Veränderungen der Wählerorientierung gekennzeichnet sind.
Den konservativen Kräften innerhalb der Republikanischen Partei gelang es nicht, den beiden entscheidenden Aspekten von Wilsons Kampagne – Frieden und Progressivismus – etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen. Die liberalen Republikaner, die sich mit Wilsons Aussagen identifizieren konnten, schafften es andererseits nicht, ihm diese Themen in glaubwürdiger Weise streitig zu machen und Hughes, den sie aus Loyalität gegenüber der Partei trotz ideologischer Differenzen größtenteils unterstützten, in der Öffentlichkeit als den progressiveren der beiden Kandidaten darzustellen. Die Präsidentschaft von Woodrow Wilson veränderte aufgrund seiner Reformen die Vereinigten Staaten im sozialen und im wirtschaftlichen Bereich grundlegend. Durch die Auswirkungen der Kriegsbeteiligung der Vereinigten Staaten verlor jedoch der Progressivismus, der zuvor in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu einer landesweiten Bewegung geworden war, noch während Wilsons zweiter Amtszeit seine Anziehungskraft und politische Bedeutung. Erst die Ära des „New Deal“ in den 1930er Jahren brachte dem Land erneut ähnlich weitreichende gesellschaftliche Veränderungen.
Woodrow Wilson, der seit einem Schlaganfall im Oktober 1919 halbseitig gelähmt war, starb rund drei Jahre nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit. Sein Vizepräsident Thomas Riley Marshall zog sich aus der Politik zurück und erlag 1925 einem Herzinfarkt. Charles Evans Hughes fungierte von 1921 bis 1925 als Außenminister im Kabinett Harding und nach Hardings Tod im Kabinett Coolidge sowie von 1928 bis 1930 als Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag. 1930 kehrte er an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zurück, an dem er bis 1941 als Vorsitzender Richter wirkte; sieben Jahre später verstarb er im Alter von 86 Jahren. Charles W. Fairbanks war bereits zwei Jahre nach der Wahl an den Folgen einer Nierenentzündung verstorben.
Einzelnachweise
Literatur
Donald Richard Deskins, Hanes Walton, Sherman C. Puckett: Presidential Elections, 1789-2008: County, State, and National Mapping of Election Data. University of Michigan, Ann Arbor 2010, ISBN 978-0-472-11697-3, S. 306–315 (= Kapitel 35: Woodrow Wilson’s Reelection.).
Paul F. Boller: Presidential Campaigns: From George Washington to George W. Bush. 2., verbesserte Auflage. Oxford University Press, New York 2004, ISBN 978-0-19-516716-0, S. 202–211 (= 1916–Wilson and the Great War).
Arthur S. Link: Wilson Campaigns for Progressivism and Peace 1916–1917. Princeton University Press, Princeton 1967.
S. D. Lovell: The Presidential Election of 1916. Southern Illinois University Press, Carbondale 1980, ISBN 0-8093-0965-3.
Weblinks
Dave Leip’s Atlas of U.S. Presidential Elections – 1916 Presidential Election Results Wahlergebnis und Statistiken (englisch)
1916
Vereinigte Staaten
Woodrow Wilson
Geschichte der Vereinigten Staaten (1865–1918) |
3204723 | https://de.wikipedia.org/wiki/Stachelpalmen | Stachelpalmen | Die Stachelpalmen (Aiphanes), auch Stilettpalmen, sind eine Pflanzengattung von 25 Arten der Palmengewächse (Arecaceae), die auf den Kleinen Antillen sowie von Venezuela bis Bolivien entlang der Anden verbreitet sind. Bis auf eine Art, die noch Panama erreicht, fehlen die Stachelpalmen in Mittelamerika. Sie fallen vor allem durch ihre bis über 25 Zentimeter langen Stacheln auf, die die Pflanzen fast komplett bedecken.
Beschreibung
Stachelpalmen sind ausdauernde, verholzende Pflanzen. Durch unterschiedliche Verzweigungsarten können die Palmen verschiedene Erscheinungsformen (Habitus) besitzen. So gibt es beispielsweise von Aiphanes erinaceae solitär stehende Einzelbäume, aber auch strauchartige Wuchsformen mit über 20 Stämmen, die auf offenen Ebenen stehen.
Charakteristisch sind die etwa einen Millimeter bis über 25 Zentimeter langen Stacheln, die fast die gesamte Pflanze bedecken. Bewehrt sind Stamm, Blätter sowie Blütenstiele und Tragblätter der Blütenstände. Die Stacheln sind grau bis schwarz, bei Aiphanes erinacea, Aiphanes simplex und Aiphanes tricuspidata aber gelb. Die Stacheln wachsen aus einer Gruppe runder, dickwandiger Zellen aus, die zunächst eine Verdickung (Pulvinus) bilden. Kleine Stacheln sind Einzelzellen, mit stark verdickter (sklerenchymatisierter) Zellwand. Große Stacheln bestehen aus äußeren Sklerenchymzellen und innerem Parenchym.
Die Chromosomenzahl ist umstritten, in der Literatur finden sich widersprüchliche Angaben, wie zum Beispiel für Aiphanes minima n = 15 oder n = 18, und für Aiphanes horrida n = 16 oder n = 15. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Unterschieden innerhalb einer Art aber um Artefakte. Wahrscheinlich, aber nicht überprüft, ist n = 15 für die ganze Gattung. Für die nahe verwandten Acrocomia, Gastrococcus und Astrocaryum gilt in jedem Fall n = 15.
Wurzeln
Fast alle Arten bilden oberirdische Adventivwurzeln aus, die manchmal dem unteren Teil des Stammes Kegelform verleihen. Sie sind zugleich auch Stützwurzeln und gleichen damit das fehlende sekundäre Dickenwachstum der Sprossachse aus. Die Adventivwurzeln sind gräulich bis rötlich braun und oft verzweigt. Sie erreichen einen Durchmesser zwischen fünf und 15 Millimetern. Sie sind mit weißlichen, warzenartigen Lentizellen übersät, die endogen entstehen und werden Pneumatophore oder Atemwurzeln genannt. Sie dienen dem Gasaustausch auf sehr feuchtem Boden.
Die Exodermis ist deutlich ausgeprägt. Die Rinde besteht hauptsächlich aus Parenchym mit unregelmäßigen luftgefüllten Interzellularräumen. Die Endodermis ist verholzt. Die Stele ist von Mark umgeben. Bislang konnten bei Aiphanes macroloba, Aiphanes ulei und Aiphanes weberbaueri Arbuskuläre Mykorrhizapilze in der Wurzelrinde nachgewiesen werden.
Sprossachse
Die Sprossachse ist verzweigt oder unverzweigt. Sie kann sehr kurz sein und bei Aiphanes acaulis und Aiphanes spicata komplett unterirdisch liegen. Bei Aiphanes grandis wird sie bis über 20 Meter hoch und erreicht einen Durchmesser bis zu 20 Zentimetern.
Der Stamm ist stets deutlich ringförmig durch Blattnarben gezeichnet und mit Stacheln bewehrt, die ring- oder spiralförmig um die Nodi stehen. Die Länge der Internodien variiert und spiegelt unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeiten wider. Bei den kleinen Arten wie Aiphanes chiribogensis sind sie üblicherweise zwischen ein und zwei Zentimetern, bei den großen Arten wie Aiphanes eggersii bis zu 15 Zentimeter lang.
Verzweigungen entstehen aus den basalen (unterirdischen oder knapp über der Erdoberfläche liegenden) Blattachseln, oder selten distal direkt aus der Sprossachse.
Der Querschnitt entspricht dem charakteristischen Bau der Einkeimblättrigen: außen liegt die Epidermis, die eine Schicht primärer Rinde umgibt. Diese Schicht ist üblicherweise sehr dünn oder kaum vorhanden, bei Aiphanes macroloba aber sehr ausgeprägt und etwa 5 Millimeter dick. Weiter im Inneren liegt ein Zylinder aus Parenchym, in dem verteilt die Leitbündel verlaufen (Ataktostele). Der äußere Teil des Zylinders besteht aus schwarzen Sklerenchymfasern.
Blätter
Fast alle Arten haben eine schraubige (disperse) Blattstellung (Phyllotaxis), nur bei Aiphanes linearis, Aiphanes verrucosa und Aiphanes lindeniana stehen die Blätter zweizeilig (distich). An Jungpflanzen stehen bei allen Arten die Blätter zweizeilig, was sich aber schnell verliert. Die Laubblätter sind große Fiedern (Palmwedel), deren Anzahl pro Krone von drei bis mehr als 20 variiert.
Die Jungblätter stecken in zylindrischen Blatthüllen, die bei allen Arten dicht mit Stacheln übersät sind. Die Blatthülle bricht dann an beiden Seiten auf und gibt das gestielte Blatt und ein deutlich sichtbares Blatthäutchen (Ligula) frei. Dieses bildet sich dann zurück, Reste bleiben aber auch an alten Blättern sichtbar. Die Blatthülle fällt bei allen Arten mit Ausnahme von Aiphanes hirsuta subsp. fosteriorum sauber ab. Die Jungblätter sind dicht mit vielverzweigten Blatthaaren (Trichomen) bedeckt.
Die Länge der Blattstiele variiert zwischen wenigen Zentimetern bis zu über einem Meter. Kurze Blattstiele sind oben eingekerbt, wohingegen lange rundlich ohne Kerbe sind. Die mittlere Hauptachse des Fiederblatts (Rhachis) verlängert sich distal in einen langen Faden (Filament), der dann mit der Zeit abbricht. Blattstiele und Rhachis sind oft dicht mit Stacheln übersät, bei wenigen Arten aber komplett unbewehrt.
Die Anordnung der einzelnen Fiederblättchen an der Blattspindel variiert zwischen den Arten stark. Sie reicht von komplett unregelmäßig über in Haufen gruppiert hin zu paarig gegenüberstehenden Blättchen.
Während des Wachstums wird das Blättchen zweimal von der Spitze abwärts (basipetal) eingeschnitten und bildet drei ungleichmäßige Lappen. Die Mittelrippe der Blattunterseite ist bei allen Arten mit einem oder mehreren Stacheln bewehrt. Bei einigen Arten, wie zum Beispiel Aiphanes ulei, ist aber auch die Blattoberseite mit Reihen von Stacheln besetzt. Bei Aiphanes minima können die Stacheln auch aus den Seitenrippen auswachsen.
Blattanatomie
Die Blattspreite ist dorsiventral. Die Epidermis ist nur eine Zelllage stark. Die Zellen sind rhomboedrisch oder spindelförmig. Die außen liegende Zellwand ist schwach bis stark cutinisiert. Die antiklinen, das heißt senkrecht zur Blattoberfläche stehenden, Zellwände sind periodisch verdickt. Die Verdickungen erinnern an auf eine Schnur aufgereihte Perlen. Die Spaltöffnungen (Stomata) liegen bevorzugt abaxial, das heißt an der Blattunterseite. Selten sind diese eingesunken oder herausgehoben.
Die Hypodermis, das heißt die Schicht direkt unter der Epidermis, ist ebenfalls nur eine Zelle stark. Die Zellen sind doppelt so breit wie die der Epidermis. Die Atemhöhlen unter den Spaltöffnungen sind von neun Zellen umgeben. Das Chlorenchym ist einheitlich und ein bis drei Zellen dick. Rhaphiden, Bündel aus nadelförmigen Calciumoxalat-Kristallen, sind häufig. Fasern, die nicht mit den Gefäßbündeln assoziiert sind, sind kleiner als fünf Mikrometer im Durchmesser dick und ohne Sklerenchym. Sie liegen in Strängen aus zwei bis vier Schichten.
Die Blattadern verlaufen im Mesophyll, sie bestehen aus einer äußeren Parenchymschicht, die vor allem größere Adern oft nicht vollständig umschließt, und einer inneren ein bis sieben Zellen starken Schicht aus Sklerenchym. Das Phloem der Hauptadern besteht aus zwei bis vier Strängen.
Blütenstände
Stachelpalmen blühen mehrmals im Leben, sie sind also ausdauernd (pollakanth). Die Blüten sind getrenntgeschlechtig einhäusig (monözisch).
Die Blütenstände stehen zunächst aufrecht und können während der Anthese, wenn sich die Blüten öffnen, kippen, bis sie herabhängen. Während der Fruchtreife werden sie häufig gebogen. Bei fast allen Arten entwickelt sich ein Blütenstand pro Blattachse, bei Aiphanes gelatinosa sind es jedoch häufig drei. Die Tragblätter (Brakteen) sind sehr variabel, sie können verdickt und holzig oder dünn und papierartig sein. Sie sind häufig mit Stacheln bewehrt, dünne Tragblätter fallen häufig ab, während holzige erhalten bleiben.
Der Blütenstand ist bei fast allen Arten kolbenartig, dabei aber einfach verzweigt. Die Blütenstandsachse besteht aus einem bewehrten Blütenstandsstiel (Pedunculus) mit einem Durchmesser von drei bis 50 Millimeter und einer Rhachis, von der Achsen erster Ordnung (Rhachillae) abzweigen, an denen dann die Blüten sitzen. Bei Aiphanes acaulis, Aiphanes spicata und Aiphanes macroloba, ist der Blütenstand jedoch immer, bei Aiphanes simplex meistens, unverzweigt. Am Blütenstiel sitzen flache, abgerundete und an den Seiten geflügelte Vorblätter (Brakteolen).
Die Blüten sitzen immer in Dreiergruppen aus zwei männlichen Blüten (mit Androeceum) und einer weiblichen Blüte (mit Gynoeceum). Selten ergeben sich an der Spitze der Blütenstände (distal) Zweiergruppen, bei denen die weibliche Blüte fehlt. Bei Aiphanes deltoidea und Aiphanes minima ergeben sich selten Vierergruppen, aus jeweils zwei Geschlechterpaaren.
Männliche Blüten
Die männlichen Blüten sind gestielt oder fast aufsitzend. Die Blütenhülle besteht aus drei freien, gekielten und häutchenartigen Kelchblättern (Sepalen) und drei freien oder an der Basis verwachsenen, fleischigen Kronblättern (Petalen). Beide sind spitz. Die Blütenfarbe variiert von cremefarben zu gelb-orange, oder von weiß ins purpurn oder violett. Häufig sind die Blüten vor der Anthese noch grün.
Die Kelchblätter bestehen nur aus ein bis zwei Schichten schmaler Zellen. Die Kronblätter sind deutlich dicker, neben der Epidermis bestehen sie aus fünf oder sechs Schichten von Parenchymzellen, mit vielen Rhaphiden und tanninhaltigen Zellen, und einer Schicht aus Fasern, die nicht mit den Gefäßbündeln assoziiert sind. Sie werden durch ein einzelnes Leitbündel mit zwei Tracheen aus Metaxylem versorgt. Die innere Epidermis besteht aus einer Schicht großer Zellen mit einem zähen Zytoplasma und großen Zellkernen.
Die sechs Staubblätter stehen in zwei Quirlen zu je drei. Sie werden durch ein einzelnes Leitbündel mit drei bis vier Tracheen aus Metaxylem versorgt. Die Staubfäden sind an der Basis verwachsen. Sie stehen aufrecht und sind nie länger als die Kronblätter. Im Durchmesser haben sie zehn bis 15 Zellen und bestehen aus Parenchym. Die Antheren öffnen sich zum Zentrum der Blüte hin (intrors) oder zur Seite hin (latrors). Sie sind abgerundet und gebogen, oder aufrecht – bei der Anthese neigen sie sich oft bis fast in die Horizontale. Die Länge variiert zwischen 0,3 und vier Millimetern und korreliert mit der Größe der Kronblätter. Die Pollensäcke sind reich an Raphiden. Es existieren kleine, drüsige Stempelrudimente, die zu Nektarien umgebildet sind.
Pollen
Die Pollenkörner sind monosulcat, das heißt, sie haben nur eine Keimfurche. Diese liegt häufig in der Südhälfte des Pollenkorns (meridionosulcat). Selten finden sich dreiarmige Keimfurchen (trichotomosulcat). Sie sind kugelförmig bis ellipsoid, selten dreieckig. Die Längsachse ist zwischen 20 und 30 Mikrometer lang. Der Durchmesser variiert zwischen 20 und 30 Mikrometer.
Die äußere Schicht der Pollenkörner (Exine) ist ganz oder zum Teil mit einem Tectum bedeckt, einer Schicht, die die Columellae genannten stäbchenförmigen Strukturen bedeckt. Auf dem Tectum sitzen häufig kurze oder lange Dornen, Warzen oder mehr oder weniger stark verwachsene zarte Auswüchse. Die Exinestruktur und Ornamentierung ist insgesamt sehr viel diverser als bei anderen Bactridinae-Gattungen.
Weibliche Blüten
Die Blütenhülle der weiblichen Blüten besteht aus drei freien, breit gekielten, dünnen, papierähnlichen Kelchblättern und drei gebogenen oder nur wenig gekielten, fleischigen Kronblättern. Letztere sind auf halber Länge basal verwachsen. Die Kelchblätter sind vier bis fünf Zellen stark und enthalten eine Schicht aus Fasern, die nicht mit den Gefäßbündeln assoziiert sind. Die Farbgebung der weiblichen Blüten scheint der der männlichen zu folgen. Bei Aiphanes deltoidea sind sie jedoch, im Gegensatz zu den männlichen orangefarbenen Blüten, grünlich.
Jede Blüte enthält sechs sterile Staubblätter, Staminodien. Sie sind zu einer spitz gelappten becherförmigen Hülle verwachsen, die wiederum mit der unteren Hälfte der Kelchblätter verwachsen ist. Die drei kugeligen Fruchtblätter sind verwachsen (synkarp) und der Griffel, dessen Länge etwa der der Staubfäden entspricht, trägt eine dreiteilige Narbe. Gerade unterhalb der Narben und an der Öffnung des zentralen Griffelkanals, zwischen den Narben, werden kleine Mengen Nektar sezerniert.
Früchte und Samen
Die Früchte der Stachelpalmen sind bei den meisten Arten runde rote, einsamige Steinfrüchte, mit einem dicken, harten, den Samen umgebenden verholzten Kern, (Endokarp). Das Endokarp ist zwischen 0,5 und zwei Millimeter dick und von brauner oder schwarzer Farbe. Es trägt drei distinkte Keimporen, die jeweils von runden, aufliegenden Fasern in einem sternförmigen Muster umringt sind. Die mittlere Fruchtwand (Mesokarp) ist fleischig und saftig. Der Durchmesser der Früchte schwankt zwischen fünf und 25 Millimetern und ist recht klein im Vergleich zu anderen Cocoeae.
Variationen ergeben sich zum Beispiel bei Aiphanes macroloba mit ellipsoiden Früchten, einige Arten, wie zum Beispiel Aiphanes grandis, bilden Früchte mit schnabelförmigen Auswüchsen. Auch die Farbe weicht bei einigen Arten von rot ab, so hat Aiphanes grandis mattgrüne, und andere Arten, wie zum Beispiel Aiphanes verrucosa, weiße Früchte. Purpurne Früchte finden sich zum Beispiel bei Aiphanes hirsuta.
Die Samenschale ist dünn. Das Nährgewebe (Endosperm) ist weiß und homogen, oft mit einer unregelmäßigen Höhlung im Inneren. Der Geschmack des Endosperms ist süß und erinnert an Kokos, der Ölgehalt schwankt innerhalb der Gattung stark und beträgt zum Beispiel bei Aiphanes horrida 37 %, bei Aiphanes minima aber 65 %. Wesentlicher Bestandteil des Öls ist Laurinsäure, bei Aiphanes horrida fast 63 %. Der Embryo ist von hellbrauner Farbe, hat eine umgekehrt konische Form und ist 0,5 bis ein Millimeter lang. Seine Spitze zeigt zu einer der drei Keimporen.
Aus den Früchten von Aiphanes horrida wurde neben iso-Rhapontigenin, Piceatannol und Luteolin, Aiphenol, eine neue Stilben-Verbindung isoliert, die als Inhibitor von Cyclooxygenase-Reaktionen fungiert.
Verbreitung
Stachelpalmen sind auf den Kleinen Antillen, sowie von Venezuela bis Bolivien entlang der Anden verbreitet. Aiphanes hirsuta subsp. hirsuta erreicht Panama, ansonsten fehlt die Gattung in Mittelamerika. Die Ostgrenze des Verbreitungsgebiets wird durch die Westgrenze des Amazonasbecken markiert und erreicht in einem sehr dünnen Streifen an der Grenze zu Peru Brasilien. Angebliche Funde in Guyana und aus dem Süden Venezuelas konnten nicht bestätigt werden.
Das Mannigfaltigkeitszentrum der Gattung, das heißt das Gebiet mit der größten Artenvielfalt, liegt in Westkolumbien und Ecuador, ein Unterzentrum findet sich im nordöstlichen Peru. Die am weitesten verbreitet Art ist Aiphanes horrida, die sich von Trinidad bis Bolivien, mit einer Lücke von Zentralkolumbien bis Zentralperu findet. Viele andere Arten besitzen nur ein kleines oder sehr kleines Verbreitungsgebiet.
In Tansania in Afrika existieren neophytische Vorkommen von Aiphanes horrida, die sich zwar wild verbreiten, aber nicht als invasiv eingestuft werden.
Stachelpalmen können Höhenlagen bis 2800 Meter bewohnen, wobei im Flachland andere Arten als im Hochland verbreitet sind. Auch haben sich die Aiphanes Arten an sehr verschiedene Standorte angepasst und es existieren sowohl auf sehr feuchte, als auch auf sehr trockene Bedingungen spezialisierte Arten. Auch verhalten sich die Pflanzen im offenen Gelände anders als in dichtbewachsenen Waldgebieten. Während zum Beispiel Aiphanes ulei, Aiphanes weberbaueri, Aiphanes parvifolia oder Aiphanes tricuspidata im offenen Gelände nicht überleben können, passen sich beispielsweise Aiphanes erinacea oder Aiphanes hirsuta an die veränderten Bedingungen an und bilden viele kurze Stämme, und viel mehr Blütenstände.
Gefährdung
Wie bei vielen Gattungen mit stark spezialisierten oder endemischen Arten sind viele Arten gefährdet. Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) listet sechs der 25 Arten in einer Gefährdungskategorie auf ihrer Roten Liste.
Drei Arten gelten als „stark gefährdet“ () (Aiphanes grandis, Aiphanes leiostachys und Aiphanes verrucosa) und weitere drei als „gefährdet“ () (Aiphanes chiribogensis, Aiphanes duquei, Aiphanes lindeniana). Bei drei Arten (Aiphanes chiribogensis, Aiphanes grandis, Aiphanes verrucosa) verschlechtert sich die Lage beständig und steht eine weitere Verschlechterung zu befürchten. Vor allem Aiphanes grandis ist stark gefährdet, da keine der verbliebenen Populationen in Ecuador sich innerhalb eines Schutzgebiets befindet. Zumindest Aiphanes erinacea ist ebenfalls stark gefährdet, auch wenn die Art nicht auf der Roten Liste gelistet wird.
Bei allen Arten ist Habitatzerstörung der Hauptgrund für die Gefährdung. Standorte werden vor allem durch Rodung und Urbarmachung des Landes zerstört. Für Aiphanes erinacea konnte gezeigt werden, dass die Art nur in unberührten Wäldern keimt, in auch nur leicht durchforsteten Wäldern aber eingeht, dies gilt wahrscheinlich auch für andere Stachelpalmenarten.
Ökologie
Die meisten Arten blühen das ganze Jahr über und in einer einzigen Population können Individuen in allen Stadien des Knospens, Blühens und der Fruktation zur selben Zeit gefunden werden, oft finden sich sogar an einem einzigen Individuum mehrere Stadien zur selben Zeit. Dies erklärt sich vor allem aus den relativ gleichmäßigen klimatischen Bedingungen in großen Teilen des Verbreitungsgebiets. Es existieren jedoch auch einzelne Populationen, die sich parallel saisonal entwickeln, wie eine Population von Aiphanes horrida bei Canavi in Bolivien oder Populationen in sehr großen Höhenlagen.
Die Anthese dauert mindestens 80 Tage, gemessen bei Aiphanes chiribogensis und eine neue Blüte entsteht binnen etwa 25 Tagen nach dem Ende der Anthese der alten Blüte, gemessen bei Aiphanes eggersii.
Bestäubung
Die Blütenstände sind nichtüberlappend proterandrisch, das heißt, dass die männlichen Blüten den Pollen zu einem Zeitpunkt entlassen, zu dem die Narben der weiblichen Blüten noch nicht belegungsfähig sind. Ein Individuum hat nur selten mehr als einen Blütenstand zur selben Zeit – so wird Selbstbestäubung verhindert.
Die Stachelpalmenarten werden von verschiedenen Insekten bestäubt (Entomophilie), bei einigen Arten spielt auch Windbestäubung (Anemophilie) eine Rolle. Finn Borchsenius untersuchte die Bestäubung von Aiphanes chiribogensis, Aiphanes eggersi und Aiphanes erinaceae in Westecuador. In den männlichen Blüten von Aiphanes eggersii fand er viele Larven von Kleinschmetterlingen (Microlepidoptera), er schloss jedoch auf Bestäubung durch Bienen (Apiformes) und Wind. Die Blüten von Aiphanes erinacea werden von hunderten von Fliegen, vor allem Taufliegen (Drosophilidae), Schwebfliegen (Syrphidae), Gnitzen (Ceratopogonidae) und Blattkäfern (Chrysomelidae) besucht, die wahrscheinlich auch die Bestäubung übernehmen. Bienen beobachtete er hier nicht. Die Blüten von Aiphanes chiribogensis werden von deutlich weniger Insekten besucht. Hier finden sich Taufliegen, Pilzmücken (Mycetophilidae), Trauermücken (Sciaridae), Gallmücken (Cecidomyiidae), Gnitzen und Kleinschmetterlinge. Bienen oder Schwebfliegen fehlen.
Die Blüten von Aiphanes grandis und Aiphanes minima duften süßlich, um Insekten anzulocken. Eine Analyse des Dufts der männlichen Blüte von Aiphanes minima ergab 15 Inhaltsstoffe. Die Hauptbestandteile sind Pentadekan (75,5 %), Tetradekan (3,9 %), 1,3,7-Nonatrien Linalool (1,2 %) und Dihydro-β-Jonon (1,2 %).
Aiphanes horrida wird von Stachellosen Bienen (Meliponini) und Schnabelkerfen (Hemiptera) besucht, die Bestäubung findet durch Bienen statt. Glanzkäfer (Nitidulidae) und Rüsselkäfer (Curculionidae) finden sich ausschließlich in männlichen Blüten.
Insgesamt werden wahrscheinlich die Arten mit großen, weißen oder gelben Blüten und linearen Antheren vor allem durch Bienen, und die Arten mit kleinen, zumeist weiß bis purpurnen Blüten mit kleinen, ovalen Antheren vor allem durch Fliegen bestäubt.
Samenausbreitung
Die reifen Früchte von Aiphanes horrida werden von Eichhörnchen (Sciurus) gefressen, die den Stamm trotz der vielen Stacheln ersteigen können. Die Früchte sind energiereich, enthalten viele Vitamine und werden wahrscheinlich auch von vielen anderen Tieren gerne konsumiert. Die Stacheln an der ganzen Pflanze dienen insgesamt dem Schutz vor Pflanzenfressern und Tieren, die die Stämme erklettern wollen, um an die Früchte zu gelangen. Die hellroten Früchte von Aiphanes horrida werden auch vom Fettschwalm (Steatornis caripensis) gefressen, der sie im ganzen verschluckt und die Samen ausbreitet (Endochorie).
Verwendung
Die Früchte von Aiphanes horrida werden unter dem Namen oder auf vielen Märkten in Kolumbien angeboten und finden sich sogar in Supermärkten in Medellín. Sie werden roh gegessen. Kandiert sind die Früchte als Süßigkeiten in den Anden sehr beliebt. Aiphanes horrida ist die einzige Art der Gattung, die wegen ihrer Früchte kultiviert wird; die Früchte der anderen Arten werden ausschließlich in der Natur gesammelt.
Die Früchte von Aiphanes linearis sind ebenfalls schmackhaft und werden in Kolumbien gegessen. Die Fruchtkerne von Aiphanes minima sind essbar und werden als Nüsse gehandelt.
Trotz der Stacheln werden Aiphanes horrida und Aiphanes minima gelegentlich als Solitärpflanze in Gärten verwendet. In botanischen Gärten sind die beiden Arten weit verbreitet. Das Holz von Stachelpalmen hat keinerlei wirtschaftliche Bedeutung.
Botanische Geschichte und Etymologie
Exemplare der Gattung Aiphanes wurden erstmals von Charles Plumier gesammelt, einem französischen Missionar und Botaniker, der zwischen 1689 und 1695 drei Reisen in die Karibik unternahm. Er fertigte Zeichnungen an und beschrieb zwei Arten, die er Palma dactylifera, aculeata, fructu corallino, major und Palma dactylifera, aculeata, fructu corallino, minor nannte. Beides waren Exemplare der heutigen Art Aiphanes minima. Dieselbe Art wurde dann nochmals im Jahr 1763 von Nikolaus Joseph von Jacquin als Palma grigri martinicensibus beschrieben.
1779 fertigte José Mutis eine sehr genaue Beschreibung der Art an, die heute als Aiphanes lindeniana bekannt ist. Im Jahr 1791 beschrieb der deutsche Botaniker Joseph Gärtner die Samen von Aiphanes minima in seinem Buch De fructibus et seminibus plantarum unter dem Namen Bactris minima – minima ist damit das älteste anerkannte Art-Epitheton einer Aiphanes-Art.
Der Gattungsname Aiphanes wurde erstmals 1801 in einer Vorlesung an der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin von Karl Ludwig Willdenow verwendet. Der Name setzt sich aus dem altgriechischen , ai (= immer) und , phaneros (= offenkundig, sichtbar, auffällig) zusammen. Ironischerweise sind Stachelpalmen üblicherweise nur schwierig in dichter Vegetation auszumachen und wurden aus diesem Grund auch nur selten in Herbarien gesammelt. Wahrscheinlich bezieht sich der Name eher auf die auffällige Erscheinung der Pflanzen.
Willdenow beschrieb nur eine Art der Gattung Aiphanes aculeata, was heute ein Synonym von Aiphanes horrida ist. Das holotypische Exemplar, war von Franz Bredemeyer in Caucagua, Venezuela gesammelt worden. Bredemeyer ging dann nach Schönbrunn und nahm entweder den Holotypus oder Samen dieses Exemplars mit. 1809 beschrieb Joseph Franz von Jacquin denselben Holotypus oder aber ein nachgezogenes Exemplar unter dem Namen Caryota horrida – heute ist das Epipheton horrida als das gültige anerkannt.
Zwischen 1794 und 1816 wurden mehrere Palmen unter dem Gattungsnamen Martinezia beschrieben – die Gattung war aber inkonsistent und wurde 1847 von Carl Friedrich Philipp von Martius mit Aiphanes synonymisiert. Da Martinezia der ältere Name war, wurde der Gattungsname Aiphanes bis 1932 nicht mehr verwendet. Die Gattung Martinezia enthielt aber viele Palmen, die nicht mit den Stachelpalmen gleichzusetzen sind. Carl Burret führte deswegen 1932 wieder den Namen Aiphanes ein. Der Großteil der Arten aus Martinezia wurde zur Gattung Euterpe gestellt, weshalb Martinezia heute als Synonym zu Euterpe gilt. Die meisten von Burret beschriebenen Arten wurden von Wilhelm Kalbreyer gesammelt, der zwischen 1877 und 1881 Nordkolumbien bereist hatte und eine umfangreiche Sammlung von Palmen mitbrachte, aus der 69 neue Palmenarten beschrieben werden konnten.
Zwischen 1932 und 1996 wurden 15 weitere Stachelpalmenarten beschrieben, was die Anzahl der Arten auf 47 steigerte. 1996 veröffentlichten Finn Borchsenius und Rodrigo Bernal eine umfangreiche Monographie über die Gattung, in der die Anzahl der Arten auf 22 gesenkt wurde. Seither wurden allerdings weitere neue Arten beschrieben.
Systematik
Äußere Systematik
John Dransfield und Kollegen ordnen die Gattung Aiphanes innerhalb der Familie Arecaceae in die Unterfamilie Arecoideae, Tribus Cocoseae, Subtribus Bactridinae ein. Zu dieser zählen noch die Gattungen Acrocomia, Astrocaryum, Desmoncus und Bactris. Innerhalb der Subtribus sind die Verwandtschaftsverhältnisse nicht eindeutig geklärt, verschiedene Arbeiten kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Gemeinsames Merkmal der Gattungen sind Stacheln an zumindest Teilen der Pflanzen und das neotropische Verbreitungsgebiet.
Neben den bestachelten Palmen dieser Tribus, existieren aber auch noch andere Gattungen bestachelter Palmen nicht nur in der Neotropis, diese sind mit der Gattung Aiphanes aber nicht näher verwandt.
Eine molekulargenetische Untersuchung aus dem Jahr 2002 ergab folgendes Kladogramm, das eines von mehreren vorgeschlagenen Verwandtschaftsverhältnissen innerhalb der Subtribus Bactridinae darstellt.
Innere Systematik
Heute gehören 25 anerkannte Arten zur Gattung (Stand 2007). Unklar ist die Stellung von Aiphanes leiospatha , die Art wird als geführt. Inzwischen ist die Zahl auf 32 angewachsen (Stand 2018).
Die Gattung Aiphanes ist eine morphologisch klar umrissene Einheit. Ihre Stellung als monophyletische Gruppe wird daher nicht angezweifelt.
Carl Burret teilte die Gattung 1992 in zwei Untergattungen Macroanthera und Brachyanthera. Er unterschied diese vor allem anhand von morphologischen Merkmalen der Blüten, vor allem der Länge der Antheren und der Stellung der Blütenstände. Diese Merkmale sind aber so vage, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist. Dennoch scheinen die drei Arten in der Untergattung Macroanthera nah verwandt zu sein, wobei aber nicht klar ist, ob diese Gruppe monophyletisch ist. Heute wird der Einteilung in der Regel nicht mehr gefolgt – in Ermangelung einer neueren Untergliederung wird sie hier dennoch verwendet.
Die Arten der Gattung sind:
Literatur
Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den folgenden Quellen:
Weblinks
Einzelnachweise
Palmengewächse |
3369883 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mogontiacum | Mogontiacum | Mogontiacum (auch Moguntiacum) ist der lateinische Name der heutigen Stadt Mainz, den diese während ihrer fast 500-jährigen Zugehörigkeit zum Römischen Reich trug. Seinen Ursprung hatte Mogontiacum in dem 13/12 v. Chr. von Drusus erbauten Legionslager, das strategisch günstig auf einer Anhöhe über dem Rhein und gegenüber der Mainmündung an der römischen Rheintalstraße lag.
Die sich rheinabwärts ausbreitenden Zivilsiedlungen (vici) im Umfeld des Lagers wuchsen schnell zu einer größeren, städtisch geprägten Siedlung zusammen. Allerdings war Mogontiacum im Gegensatz zu Colonia Claudia Ara Agrippinensium (Köln) oder Augusta Treverorum (Trier) bis in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts primär ein Militärstandort und war überdies offenbar auch keine colonia. Dies hatte zur Folge, dass die Stadt nie den urbanen Charakter der anderen großen Römerstädte in Deutschland aufwies. Dennoch wurden auch hier mehrere Monumentalbauten errichtet, denn Mogontiacum war spätestens ab dem Jahr 90 Provinzhauptstadt der römischen Provinz Germania superior mit Sitz des Statthalters. Nach der Mitte des 3. Jahrhunderts, als das Dekumatland geräumt wurde, wurde Mogontiacum wieder Grenzstadt und in den nächsten 150 Jahren mehrfach von Angehörigen verschiedener Germanenstämme verwüstet. Nach dem Ende der römischen Periode, spätestens aber um 470 gehörte Mogontiacum nach einer kurzen Übergangsphase zum Fränkischen Reich.
In der heutigen Stadt Mainz sind einige bedeutende Überreste von Mogontiacum erhalten geblieben, beispielsweise das römische Bühnentheater, die Große Mainzer Jupitersäule, der Drususstein und die Römersteine, Überreste des Aquäduktes des Legionslagers. Das Römisch-Germanische Zentralmuseum, das Landesmuseum Mainz und das Museum für Antike Schifffahrt bewahren eine Vielzahl von Funden aus der römischen Zeit von Mainz auf.
Namensgebung
Der Name Mogontiacum setzt sich aus dem keltischen Namen Mogo(n), dem keltischen Suffix -ontiu- (wie in Vesontio/Besançon) und dem Zugehörigkeitssuffix *-āko, latinisiert zu -(i)acum, zusammen. Er enthält somit als Bestandteil den Namen des keltischen Gottes Mogon. Namensgebend könnte hier eine der in direkter Nachbarschaft zum Legionslager liegende keltische Siedlung der Aresaken, eines Teilstamms der Treverer, gewesen sein. Diese befanden sich Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts im Gebiet des heutigen Mainz-Weisenau und Mainz-Bretzenheim. Mogontiacum wurde in der Historiographie erstmals von dem römischen Historiker Tacitus in seinen Anfang des 2. Jahrhunderts entstandenen Werk Historien im Zusammenhang mit dem Bataveraufstand schriftlich erwähnt. Ebenfalls verbreitet ist die abgeleitete Schreibweise Moguntiacum. Auch Abkürzungen und abweichende Schreibweisen waren zu Zeiten der römischen Herrschaft bereits geläufig. So wurde Moguntiacum in der Tabula Peutingeriana verkürzt als Moguntiaco geschrieben. Epigraphisch ist der Stadtname erstmals auf einem Meilenstein aus claudischer Zeit nachweisbar.
Geschichte
Die fast 500-jährige römische Geschichte Mogontiacums lässt sich vereinfacht in vier Abschnitte einteilen: Der erste Zeitabschnitt beginnt mit der Gründung der Stadt gegen Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. und endet mit der Einrichtung der Provinz Germania superior und der Ernennung von Mogontiacum zur Provinzhauptstadt. Der Zeitraum zwischen 90 n. Chr. und 260 n. Chr. umfasst die Blütezeit der Stadt bis zum Ende des Limes, mit dem Mogontiacum wieder zur Grenzstadt des römischen Imperiums wird. Im dritten Zeitabschnitt von 260 bis 350 kommt es angesichts innerer Wirren im Römischen Reich und der größer werdenden Bedrohung durch germanische Krieger zu tiefgreifenden Veränderungen in der Stadt. Die Endzeit von 350 n. Chr. bis 470 n. Chr. spiegelt den Niedergang der Stadt wider, die in diesem Zeitraum mehrfach geplündert und verwüstet wurde.
Gründung von Mogontiacum und Geschichte bis Domitian (13/12 v. Chr. bis 90)
Im Zuge der Expansionsbestrebungen des Augustus ab 16 v. Chr. drang sein Stiefsohn Nero Claudius Drusus auch an den Mittelrhein vor und sicherte das Gebiet für das römische Imperium. Spätestens 13/12 v. Chr., möglicherweise bereits früher, entstand auf einer Anhöhe über dem Rhein und gegenüber der Mündung des Mains ein Doppellegionslager. Die militärische Präsenz der Römer an dieser Stelle sicherte primär die Kontrolle über den Mittelrhein, die Mainmündung und generell über den Main als einer der Haupteinfallswege in das freie Germanien ab.
Zur gleichen Zeit entstand knapp vier Kilometer südlich beim heutigen Mainzer Stadtteil Weisenau ein weiteres Militärlager. Dies war überwiegend mit Auxiliartruppen belegt, wurde aber vorübergehend auch für die Stationierung weiterer Legionäre verwendet. Dort befand sich auch eine der spätlatènezeitlichen keltischen Siedlungen im Mainzer Raum. Die einheimische keltische Bevölkerung gehörte zu den Aresaken, einem Teilstamm der gallischen Treverer, die sich hier in ihrem am weitesten östlich gelegenen Siedlungsbereich befanden.
Bis zur Aufgabe der Annexionspläne im Jahr 16 diente Mogontiacum mehrfach als Ausgangsbasis für Militäroperationen im Rahmen der Drusus-Feldzüge (12 bis 8 v. Chr.), des Feldzuges gegen das Marbod-Reich (6 n. Chr.) und der Germanicus-Feldzüge (14 bis 16 n. Chr.) in das rechtsrheinische Germanien. Für den 9 v. Chr. verstorbenen Drusus errichteten Legionäre in Mogontiacum kurz danach ein Kenotaph in unmittelbarer Nähe des Legionslagers, der mit dem heute noch bestehenden Drususstein auf der Mainzer Zitadelle identisch sein dürfte. Bereits zu Zeiten des Drusus wurde oberhalb der Mainmündung eine Schiffbrücke als Rheinübergang eingerichtet. Noch im ersten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts v. Chr. wurde der rechtsrheinische Brückenkopf Castellum (Castellum Mattiacorum) gegründet und ausgebaut, der die Keimzelle des heutigen Mainz-Kastel (abgeleitet vom lateinischen castellum) wurde. Auf das Jahr 27 ist der Bau einer festen Holzbrücke (Pfahljochbrücke) zwischen Mogontiacum und Castellum datierbar.
Nach der Umstrukturierung der römischen Rheinarmee in ein ober- und ein untergermanisches Heer im Jahr 17 wurde Mogontiacum Sitz des Befehlshabers des obergermanischen Heeres. Neben den sich schnell bildenden Lagervorstädten (canabae legionis) im Süden und Südwesten des Legionslagers entstanden verschiedene zivil geprägte Siedlungen (vici), die sich ostwärts zum Rhein hinunterzogen und möglicherweise bereits im Laufe des 1. Jahrhunderts langsam zu einem zusammenhängenden Siedlungsgebilde verschmolzen. Bereits in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts wies Mogontiacum mit einer größeren öffentlichen Thermenanlage und einem bei dem römischen Schriftsteller Sueton erwähnten Theater zivile Großbauten auf. Die Große Mainzer Jupitersäule, datiert in das dritte Viertel des 1. Jahrhunderts, wurde von einer offenbar wohlhabenden größeren zivilen Gemeinschaft gestiftet und kann als Beleg für das schnelle Fortschreiten der zivilen Entwicklung Mogontiacums gelten. Trotz der nun beginnenden Ausbildung ziviler Strukturen blieb Mogontiacum einer der militärisch bedeutendsten Stützpunkte der römischen Armee am Rhein. Zwei Legionen mitsamt Auxiliartruppen und Tross waren permanent in Mogontiacum beziehungsweise in dem seit der Herrschaft Caligulas ausgebauten zweiten Militärlager in Weisenau stationiert. Dazu kamen je nach Bedarf weitere Truppenstationierungen – wie beispielsweise nach der Varusschlacht, als in Mogontiacum vorübergehend drei Legionen stationiert waren.
Während des Bataveraufstandes wurden die meisten Zivilbauten außerhalb des Legionslagers zerstört. Das Lager selbst wurde Tacitus zufolge erfolglos belagert. Unter der Herrschaft des flavischen Kaiserhauses kam es zu umfangreichen Baumaßnahmen in Mogontiacum. Das Legionslager wurde unter Vespasian in Steinbauweise neu errichtet, ebenso wurde die hölzerne Pfahljochbrücke durch eine Pfahlrostbrücke mit Steinpfeiler ersetzt. In der Regierungszeit des Kaisers Domitian ersetzte ein in Steinbauweise errichtetes Aquädukt einen hölzernen Vorgängerbau. Das Aquädukt führte über eine Strecke von neun Kilometer frisches Wasser aus den Quellen der entfernten heutigen Mainzer Stadtteile Finthen (Fontanetum) und Drais zum Legionslager auf den Kästrich.
83 war die Stadt Ausgangspunkt für den Chattenfeldzug Kaiser Domitians. Dieser versammelte zu diesem Zweck ein Heer aus fünf Legionen und Hilfstruppen in Mogontiacum. 88/89 kam es zum Aufstand des Statthalters Lucius Antonius Saturninus in Mogontiacum. Nach der raschen Niederschlagung erfolgte die schon vorher geplante und nun endgültig vollzogene Umwandlung des Militärterritoriums in die Provinz Germania superior mit Mogontiacum als Provinzhauptstadt (caput provinciae).
Provinzhauptstadt und wichtiger Militärstandort am Rhein (90 bis 260)
Der Umwandlungsprozess des Militärterritoriums in die Provinz Germania superior begann Mitte der 80er Jahre des 1. Jahrhunderts und war spätestens Mitte des Jahres 90 vollständig abgeschlossen. Ein auf den 27. Oktober 90 datiertes Militärdiplom gilt als frühestes epigraphisches Zeugnis der neu eingerichteten Provinz. Mit Lucius Iavolenus Priscus wurde der Provinz ein bereits als Suffektkonsul erfahrener konsularischer Statthalter gegeben, der die notwendigen zivilen Strukturen schnell ausbauen sollte. Beginnend unter Domitian und weiter fortgesetzt unter seinen Nachfolgern sicherten die Römer zum Schutz der neuen Provinzen und zur territorialen Arrondierung rechtsrheinische Gebiete. Mit der dauerhaften Besetzung des Neuwieder Beckens, des Taunus und der Wetterau entstand auch der Obergermanisch-Rätische Limes. Mogontiacum übernahm nun bis zu dessen Zusammenbruch die wichtige Aufgabe des militärischen Verwaltungszentrums für den obergermanischen Limesabschnitt.
Für Mogontiacum selbst gab es ebenfalls nachhaltige Veränderungen: So wurde aufgrund der Erfahrungen des Aufstandes des Saturninus die Anzahl der dauerhaft stationierten Legionen von zwei auf eine reduziert. Seit dem Jahr 92 war dies die Legio XXII Primigenia, die fortan bis zu ihrer Vernichtung Mitte des 4. Jahrhunderts alleinige Mainzer Hauslegion blieb. 96 bis 98 hatte der spätere Kaiser Trajan das Amt des Statthalters der Provinz inne; auch Hadrian, sein Nachfolger, war im Rahmen seiner zuvor absolvierten militärischen Laufbahn als Militärtribun in der Provinz stationiert gewesen. Für Mogontiacum brach eine Zeit des Friedens und des Aufschwungs an. Die Grenze zum freien Germanien war weit vorgeschoben und durch den immer aufwändiger ausgebauten Limes gesichert. Handel und Handwerk blühten in der Stadt und im gesamten Umland, in dem sich viele Veteranen der Militärtruppen niederließen. Der Einfall der Chatten in das Rhein-Main-Gebiet 162 und nochmals im Jahr 169 sowie die dabei erfolgte Überquerung des Rheins blieben vorerst einmalige Ereignisse ohne größere Auswirkung.
Es sollte bis zum 19.(?) März des Jahres 235 dauern, bis Mogontiacum wieder in den Fokus der römischen Weltgeschichte rücken sollte. Im Zuge der Vorbereitung zu einem Feldzug gegen die Alamannen versammelte der Kaiser Severus Alexander Truppen in Mogontiacum. Dort wurden er und seine Mutter Julia Mamaea in oder nahe bei Mogontiacum im vicus Britannicus (Bretzenheim?) bei Unruhen von römischen Legionären ermordet. Es folgte unmittelbar die Ausrufung des militärischen Befehlshabers Gaius Iulius Verus Maximinus (mit dem erst später erworbenen Beinamen Thrax) zum Nachfolger. Dies war der Beginn der Ära der Soldatenkaiser, in die auch die Zeit der Reichskrise des 3. Jahrhunderts fiel.
Um das Jahr 250 oder etwas später wurde die zivile Siedlung rheinwärts mit einer Stadtmauer umgeben. Diese schloss das komplette, bisher besiedelte Gebiet sowie das große Bühnentheater ein, nicht aber die südwestlich gelegenen Lagercanabae. Diese erste Stadtmauer reichte im Südwesten der Stadt an das befestigte Legionslager, das die Stadtmauer an dieser Stelle mit seiner eigenen Befestigung ergänzte. Da der so genannte Limesfall allgemein erst auf das Jahr 259/260 datiert wird, stehen beide Ereignisse nicht, wie früher vermutet, in direktem Zusammenhang zueinander. Vielmehr wurde wohl die Präsenz der römischen Truppen, die immer wieder größere Abteilungen für Feldzüge in weit entfernte Gebiete abstellen mussten und durch eine Reihe von Bürgerkriegen abgelenkt wurden, als nicht mehr als alleinig ausreichend zum Schutz der Stadt gegen Plünderer angesehen. Mit der Aufgabe des Obergermanischen Limes wurde Mogontiacum – trotz weiterer Inanspruchnahme rechtsrheinischer Gebiete wie beispielsweise des Brückenkopfes Castellum oder der Thermenanlagen im benachbarten Aquae Mattiacorum (Wiesbaden) – wieder Grenzstadt.
Mogontiacum als Grenzstadt nach dem Limesfall (260 bis 350)
Fast zeitgleich mit dem "Limesfall" gab es eine weitere wesentliche Veränderung der politischen Lage, die Mogontiacum direkt betraf. Nachdem es Marcus Cassianius Latinius Postumus 260 gelungen war, Teile des römischen Imperiums zu dem so genannten Imperium Galliarum (auch: Gallisches Sonderreich) zusammenzufassen, gehörte auch Mogontiacum bis 274 zu diesem Staatsgebilde. In Mogontiacum rief sich 269 der Legat Laelianus zum Gegenkaiser gegen Postumus aus. Postumus besiegte zwar Laelianus im folgenden Bürgerkrieg und eroberte Mogontiacum zurück, starb aber unmittelbar danach durch die Hand eigener Soldaten, da er die Stadt nicht zur Plünderung freigeben wollte. Ab 274 existierte das Imperium Galliarum nicht mehr: Mogontiacum gehörte wieder zum römischen Imperium.
Im Zuge der diokletianischen Reformen und dort insbesondere nach der ab 297 erfolgten Neugliederung der römischen Provinzen ging die Provinz Germania superior in der (verkleinerten) neuen Provinz Germania prima auf. Mogontiacum blieb Sitz des Provinzstatthalters. Zusätzlich fungierte die Stadt etwas später auch als Sitz zweier militärischer Befehlshaber, des Dux Germaniae primae und des Dux Mogontiacensis, denen das Grenzheer an diesem Abschnitt der Rheingrenze unterstand. Um das Jahr 300 datiert auch die erste bildliche Ansicht von Mogontiacum auf dem so genannten Lyoner Bleimedaillon. Dieses zeigt das mauerumwehrte Mogontiacum, die feste Rheinbrücke und den rechtsrheinischen Brückenkopf Castellum.
Niedergang der Stadt (350 bis 450)
Um 350 kam es infolge der immer instabiler werdenden politischen Lage zum Bau einer zweiten Stadtmauer. Das Militärlager lag nun ebenso wie das Bühnentheater außerhalb des so gesicherten Stadtgebietes, beide Anlagen wurden abgebrochen. Es kam in den darauf folgenden Jahren wiederholt zu Einfällen germanischer Gruppen, vor allem Alamannen, die sich sogar zeitweise auf dem linksrheinischen Gebiet festsetzen konnten. Hintergrund war wohl ein erneuter Bürgerkrieg im Römischen Reich: In den Kämpfen zwischen dem Kaiser Constantius II. und dem Usurpator Magnentius wurde 351 die 22. Legion in der blutigen Schlacht bei Mursa fast vollständig aufgerieben und danach nicht wieder aufgestellt. Den Schutz der Stadt und des Umlandes übernahmen nun die milites Armigeri, möglicherweise eine noch bestehende Einheit der weitgehend aufgeriebenen Legion. 368 kam es während eines großen christlichen Festes zur Einnahme und Plünderung der Stadt durch Alamannen unter ihrem Anführer Rando.
Von den Folgen der um 376 einsetzenden so genannten "Völkerwanderung" blieb auch Mogontiacum nicht verschont. Endlose Bürgerkriege führten erneut zu einer Vernachlässigung der Grenzverteidigung. Nach 400 wurden viele reguläre römische Truppen vom Rhein nach Italien abgezogen, um dort am Kampf gegen rebellierende westgotische Foederaten teilzunehmen. Vielleicht im Zusammenhang mit römischen Bürgerkriegen und wahrscheinlich noch in der Silvesternacht 406 überschritten dann Vandalen, Sueben und Alanen, mutmaßlich unter Benutzung der zu dieser Zeit wohl noch intakten Rheinbrücke, den Rhein bei Mogontiacum und plünderten und zerstörten die Stadt (siehe auch Rheinübergang von 406). Es kam zu einem vorübergehenden Zusammenbruch der römischen Grenzverteidigung, auch die römische Rheinflotte hörte zu diesem Zeitpunkt auf zu existieren.
Um 411 lag Mogontiacum im Einflussbereich des Kriegerverbandes der Burgunden, mit deren Unterstützung der Usurpator Jovinus zum römischen Kaiser erhoben wurde (möglicherweise in Mogontiacum), der sich aber nur kurze Zeit halten konnte. Die Burgunden selbst wurden 413 als römische foederati rheinaufwärts (mit Schwerpunkt Worms/civitas Vangionum) angesiedelt; gemeinsam mit regulären römischen Einheiten überwachten sie fortan die Grenze. Ihr Machtbereich wurde aber schon 436 von den Römern angegriffen und durch hunnische Hilfstruppen vernichtet, die Überlebenden wurden 443 in der Sapaudia (in etwa das heutige Savoyen) neu angesiedelt. Bei dem 451 erfolgten Einfall Attilas in Gallien überquerten die Hunnen bei Mogontiacum den Rhein. Die Stadt blieb zwar relativ unbeschadet zurück, jedoch endete nach diesem Ereignis, spätestens aber in den späten 460er Jahren, die offizielle römische Herrschaft über Mogontiacum. Zivile römische Strukturen blieben in der teilweise zerstörten Stadt aber bestehen, und kirchliche Vertreter des Bischofssitzes Mogontiacum übernahmen möglicherweise administrative Aufgaben. Spätestens nach der Schlacht von Zülpich 496 gehörte Mogontiacum nicht mehr zum Machtbereich der Alamannen. Die Stadt wurde nun Teil des Fränkischen Reiches unter Chlodwig I.
Militärische Bedeutung
In der historischen Betrachtung der Stadtgründung und -entwicklung von Mogontiacum ist man sich weitestgehend einig, dass die Gründung des Legionslagers im Jahr 13 v. Chr. sowohl Impuls als auch Keimzelle für die spätere zivile Siedlung gewesen war. Keltische Siedlungen der Spätlatènezeit, die in Mainz-Weisenau und Mainz-Bretzenheim existierten, waren für die Entstehung von Mogontiacum ohne weitere Bedeutung und entstanden entweder zeitgleich mit dem Beginn der römischen Präsenz oder bestanden erst kurze Zeit.
Die militärische Bedeutung Mogontiacums bestand bis in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts fort. Es war über 350 Jahre lang Standort römischer Legionen und bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts, teilweise auch noch im 4. Jahrhundert, Ausgangspunkt für Feldzüge in die Magna Germania. So begannen beispielsweise Feldzüge des Drusus, der Chattenfeldzug Domitians oder der geplante Feldzug des Severus Alexander gegen die Alamannen in Mogontiacum. Auch Maximinus Thrax führte nach seiner Ausrufung zum Kaiser 235 in Mogontiacum seine Truppen im Rahmen des Germanenfeldzugs 235/236 weit nach Germanien hinein und kämpfte dort gegen germanische Truppen (Harzhornereignis).
Ab dem Ende des 1. Jahrhunderts war Mogontiacum Verwaltungs- und Versorgungszentrum des Obergermanisch-Rätischen Limes. Nach dem Fall des Limes war Mogontiacum wichtige Grenzstadt und noch bis Mitte des 4. Jahrhunderts Standort einer römischen Legion und Sitz des dux Mogontiacensis. Die militärische Prägung Mogontiacums zeigt sich auch an dem fehlenden Stadtstatus der Zivilsiedlung. Trotzdem entwickelte sich diese ab dem Beginn des 1. Jahrhunderts relativ schnell und wies in den nächsten Jahrhunderten durch Bevölkerungszahlen, Handel und Dienstleistungen sowie offizielle Bauten eindeutig großstädtischen Charakter auf.
Legions- und Militärlager
Das von Drusus 13/12 v. Chr. gegründete Militärlager war eine der beiden Hauptausgangsbasen für die geplanten Feldzüge in das rechtsrheinische Magna Germania. Die Wahl des Standortes, heute als Kästrich bekannt (abgeleitet vom lateinischen castra), wurde ausschließlich von strategischen Gesichtspunkten bestimmt: Der Kästrich ist ein nach drei Seiten steil abfallendes, 120 m über Normalnull liegendes Hochplateau oberhalb des Rheinufers, das etwas versetzt gegenüber der Mündung des Mains in den Rhein liegt.
Das Legionslager war für die Aufnahme von zwei römischen Legionen (circa 12.000 Mann) der frühen Prinzipatszeit bestimmt. Aufgrund der großen Truppenmassierungen im Rahmen der Feldzüge entstand ein weiteres Militärlager in Mainz-Weisenau. Dort waren primär Auxiliartruppen stationiert, zeitweise auch weitere Legionstruppen.
Das Legionslager auf dem Kästrich wurde in Holz-Erde-Technik errichtet. Es war polygonal angelegt und umfasste eine Fläche von circa 36 Hektar. Bereits in augusteischer Zeit und wiederholt in nachfolgender Zeit wurde das Lager baulich verändert. Unter Vespasian wurde das Legionslager komplett in Steinbauweise neu errichtet. Insgesamt können heute fünf verschiedene Um- und Ausbauphasen archäologisch belegt werden. Nach Abzug der zweiten Legion ab 89 verblieb die 22. Legion nun allein in dem Legionslager. In Fachkreisen wird nach wie vor diskutiert, ob die freigewordene Fläche für den Bau des Statthalterpalastes und weiterer administrativer Gebäude genutzt wurde. Mit dem Bau der zweiten Stadtmauer um 350 und der gleichzeitigen zahlenmäßig immer geringer werdenden Präsenz römischer Truppen in Mogontiacum wurde das Legionslager aufgegeben. Es lag nun außerhalb des Stadtmauerringes und wurde abgebrochen. Spolien von Bauten aus dem Lager fanden sich in zahlreicher Form beim Abriss der Stadtmauerfundamente, so vor allem Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hierbei ist das so genannte „Mainzer Oktogon“ als repräsentatives Bauwerk zu nennen, das über umfangreiche Spolienfunde, die heute im Landesmuseum Mainz lagern, zumindest teilweise rekonstruiert werden kann. Es wird nach neueren Forschungen einem der Trierer Porta Nigra ähnlichen Torbau zugeordnet. Möglicherweise handelt es sich um die monumentale, der Rheinseite zugewandte Porta praetoria. Die Architekturteile lassen sich durch Bauinschriften in das letzte Viertel des 1. Jahrhunderts datieren. Gleiches gilt für eine große Pfeilerhalle mit Mitteldurchgang, die möglicherweise Bestandteil des Praetoriums war.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde im Grüngürtel der Mainzer Oberstadt das Thermenbad des Lagers ausgegraben und dokumentiert. Ebenfalls bekannt sind der Verlauf der Mauerumwallung sowie aufgrund der bekannten Straßenverläufe die Standorte der vier Tore des Lagers. Bei den Grabungen auf dem Gelände der heutigen Universitätskliniken (Bau 501) konnten im Jahr 2003 Teile der lagerinternen Fabrikationsstätten (fabrica) mit Großbauten, befestigten Zufahrtswegen und Schmelzöfen ergraben und dokumentiert werden. Südlich und südwestlich des Lagers schlossen sich zwei separate und später zusammengewachsene Lagerdörfer (canabae legionis) an.
Das zweite Militärlager in Mainz-Weisenau entstand ebenfalls auf einem Plateau oberhalb des Rheins, in etwa in Höhe des heutigen Steinbruchs der Heidelberger Zement-Werke. Es war aufgrund dort gemachter Funde mehrheitlich von Auxiliartruppen belegt, die zu den Legionen im Hauptlager gehörten. Das Lager wurde mehrfach ausgebaut, so beispielsweise unter Caligula, als dieser im Jahr 39 einen Feldzug ins rechtsrheinische Germanien plante. In seiner größten Ausbauphase wies das Lager eine Gesamtgröße von zwölf Hektar auf. Mit Abzug der zweiten Legion im Jahr 89 und bedingt durch die veränderte politische Lage wurde kein zweites Militärlager mehr in Mogontiacum benötigt und das Lager aufgegeben. Aufgrund der heutigen Situation – das in Frage kommende Gelände wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Steinbruch genutzt – sind keine Spuren des Lagers mehr nachweisbar.
Ein weiteres Militärlager für Auxiliartruppen auf dem Hartenberg wird vermutet, ist aber archäologisch noch nicht nachgewiesen worden.
Stationierte Truppen
Die in Mogontiacum stationierten römischen Truppen lassen sich größtenteils über epigraphische Hinterlassenschaften wie Ziegelstempel, Grabmäler (nur 1. Jahrhundert) oder Bauinschriften erschließen, in geringerem Umfang finden einzelne römische Truppenstationierungen auch in der Historiographie Erwähnung wie beispielsweise bei Tacitus oder in der spätantiken Notitia dignitatum.
Insgesamt waren in Mogontiacum in der Prinzipatszeit neun unterschiedliche Legionen stationiert. Zwischen den Jahren 9 und 17 erreichte die Truppenpräsenz mit vier gleichzeitig stationierten Legionen samt dazugehörenden Auxiliartruppen mit schätzungsweise knapp 50.000 Soldaten ihren Höhepunkt. Ab dem Jahr 93 besetzte die Legio XXII Primigenia Pia Fidelis (später mit den Ehrennamen Antoniniana, Severiana und Constantiniana Victrix) als einzige Legion das Legionslager bis Mitte des 4. Jahrhunderts, eventuell in Teilen auch bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts. Die Notitia dignitatum, welche in das erste Drittel des 5. Jahrhunderts datiert wird, nennt für die Endzeit des römischen Mogontiacum die milites Armigerie, vermutlich eine Art Bürgermiliz. Diese war innerhalb des Stadtgebietes stationiert und unterstand dem Dux Mogontiacensis beziehungsweise einem Praefectus militum armigerorum Mogontiaco.
Zusätzlich zu den Legionen waren in Mainz auch Auxiliartruppen stationiert. Bis Anfang des 5. Jahrhunderts sind 13 verschiedene Alen und 12 Kohorten bezeugt. Ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts sind für Mogontiacum zusätzlich vier verschiedene Numeri bekannt.
Stützpunkt der Rheinflotte
Bereits kurz nach der Gründung des Legionslagers und dem Beginn der zivilen Besiedlung des heutigen Stadtgebiets entstanden mehrere Hafenanlagen am Rheinufer. Historische Quellen und archäologische Funde belegen gleichermaßen die große Bedeutung von Mogontiacum als militärisch und zivil geprägte Hafenstadt am Rhein.
Erste archäologische Funde aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu militärischen Hafenanlagen wurden im Rahmen der Rheinufererweiterung und der Entstehung der Mainzer Neustadt gemacht. So wurden am „Dimesser Ort“, in der Nähe des heutigen Zoll- und Binnenhafens neben zahlreichen zivilen Funden auch Militärausrüstungsstücke gefunden. Reste einer massiv gebauten Mole aus Gussbeton und Baureste weiter rheinabwärts, die sich möglicherweise einem römischen Burgus zuordnen lassen könnten, wurden ebenfalls gefunden. Ähnliche bauliche Strukturen späterer Zeit sind anderen Ortes als Fluss-Kriegshäfen gedeutet worden. Zudem ließe sich das von einer massiven Mole und einem weiter entfernten, mitten im Rhein auf der Ingelheimer Aue stehenden Burgus geschützte Flussbecken als militärisches Hafengebiet dem bekannten Haupthafen der römischen Rheinflotte in Köln-Alteburg gleichstellen.
Ein zweiter römischer Militärhafen befand sich rheinaufwärts am Brand (Nähe Rathaus Mainz, Altstadt). Aufgrund der dort entdeckten baulichen Reste sowie der 1980/1981 gefundenen römischen Militärschiffe, unter anderem des Typs Navis lusoria, ist die Identifizierung als Kriegshafen eindeutig feststellbar gewesen. Auch hier wurden in mehreren Bauphasen vom Rhein abgetrennte Schiffsbecken lokalisiert, die der Verschiebung des Rheinufers ostwärts folgten. Die Hauptnutzung dieses Kriegshafens lag in der zweiten Hälfte des 3. und im 4. Jahrhundert, als der Rhein erneut Grenze der Provinz Germania superior/Germania prima wurde. Kriegsschiffe patrouillierten zu dieser Zeit von Mogontiacum aus auf dem Rhein, bis sich Anfang des 5. Jahrhunderts die römische Rheinflotte nach dem Germaneneinfall 406/407 auflöste.
Noch weiter rheinaufwärts wurden in Höhe der Neutorstraße/Dagobertstraße Reste von Uferbefestigungen und einer Werft aus den Jahren 5 bis 9 gefunden, die zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich militärisch genutzt wurde. Inschriften nennen zudem Angehörige (signifer/Fahnenträger) der 22. Legion als Aufseher von navalia genannten Schiffshäuser und erwähnen ein eigenes Stadtviertel der navalia.
Das zivile römische Mainz
Mogontiacum war ab der Gründung im 2. vorchristlichen Jahrzehnt bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts in erster Linie einer der größten und wichtigsten Militärstützpunkte am Rhein. Dies führte zu einer eindeutig militärischen Dominanz der zivilen Siedlungen, die rund um das Legionslager und um das zweite Militärlager in Weisenau entstanden. Trotzdem entstand im 2. und 3. Jahrhundert zwischen dem Legionslager und der Rheinbrücke eine immer mehr städtisch geprägte Infrastruktur durch das Zusammenwachsen einzelner vici und, spätestens nach dem ersten Stadtmauerbau in der Mitte des 3. Jahrhunderts, eine großstädtisch geprägte römische Zivilsiedlung.
Rechtlicher Status der Stadt im römischen Imperium
Trotz der Herausbildung städtischer Strukturen, unter anderem durch Großbauten und der Funktion als Provinzhauptstadt ab dem Jahr 90, besaß Mogontiacum keinen offiziellen Stadtrechtstitel wie Colonia, Municipium oder Civitas. Die Zivilsiedlung hatte nach wie vor den Status einer canabae legionis, war also keine Stadt im rechtlichen Sinn. Sie unterstand der Jurisdiktion des Legionslegaten beziehungsweise des Statthalters. Auch die Einwohner Mogontiacums bezeichneten sich in der Stiftungsinschrift zur Mainzer Jupitersäule als Canabarii. Gleiches galt offenbar auch für die Zivilsiedlungen bei dem Bonner, dem Straßburger und dem Regensburger Legionslager.
Eine Erwähnung als Civitas ist erstmals in die Jahre der ersten Tetrarchie (nach 293 bis 305) datiert, zu einer Zeit also, in der diese Differenzierungen der Stadtrechtstitel bereits durch die allgemeine Bürgerrechtsverleihung Caracallas (Constitutio Antoniniana im Jahr 212) mehr oder weniger aufgelöst worden waren. Unter Diokletian wird Mogontiacum als metropolis in der Provinz Germania prima erwähnt. Ammianus Marcellinus bezeichnete Mogontiacum 355 als municipium Mogontiacum.
Provinzhauptstadt Mogontiacum der Provinz Germania superior
Nach dem Verzicht des Tiberius auf die dauerhafte Besetzung der Magna Germania mit der gewünschten Elbgrenze verblieb die Organisation der linksrheinischen Gebiete in einem provisorischen Verwaltungsstadium. Es kam zu einer Zusammenlegung des Verwaltungsbezirkes des obergermanischen Heeres (exercitus superior) mit dem Verwaltungszentrum Mogontiacum. Die Administration und insbesondere die Finanzverwaltung unterstand der Verwaltung der Provinz Gallia Belgica.
Unter Domitian erfolgte sowohl eine größere und dauerhafte Gebietserweiterung auf rechtsrheinisches Gebiet (Agri decumates) als auch die Errichtung einer neuen Provinz, Germania superior. Sie gehörte zu den kaiserlichen Provinzen und war mit einer Fläche von 93.500 km² eine der mittelgroßen Provinzen des römischen Reiches. Die bereits bestehende Zivilsiedlung Mogontiacum wurde gleichzeitig zur Provinzhauptstadt erhoben, ohne dass sich der rechtliche Status der Siedlung änderte. Der bisherige Militärkommandeur der obergermanischen Heeresgruppe (legatus Augusti pro praetore), der auch für die Zivilverwaltung zuständig war, wurde konsularischer Statthalter der neu gegründeten Provinz, dem wie üblich zugleich weiterhin die dort stationierten Truppen unterstanden.
Bei der Neustrukturierung der römischen Provinzen unter Diokletian nach 297 ging aus Germania superior die deutlich kleinere Provinz Germania prima hervor. Mogontiacum blieb Sitz des Statthalters, wie eine Nennung von Mogontiacum als metropolis in der Notitia Galliarum zeigt. Auch der zu Regierungszeiten Diokletians neu erschaffene Posten des dux Mogontiacensis als Militärführer aller Truppen am Oberrhein residierte in Mogontiacum.
Lagerdorf und Zivilsiedlung
Zeitgleich zur Entstehung des Legionslagers auf dem Kästrich entstanden in augusteischer Zeit auf der südlich und südwestlich angrenzenden Hochebene vor dem Lager zwei vorerst getrennt angelegte canabae. Diese waren im Gegensatz zu den zivilen Siedlungsbereichen halbmilitärisch geprägt. In flavischer Zeit kam es wie in den zivilen vici zu einem umfangreichen Ausbau der canabae in Stein. Auch im 2. Jahrhundert wuchsen beide canabae und verschmolzen größtenteils, nur noch durch das Aquädukt an der südwestlichen Lagerecke getrennt, zu einer Siedlung. Bei der Erneuerung der Lagermauer in der Mitte des 3. Jahrhunderts nach dem Fall des Limes wurden auch die canabae mit einer Schutzmauer umgeben. Mit der Aufgabe des Legionslagers ein Jahrhundert später und nach den Zerstörungen der folgenden Jahre durch Chatten und Alamannen wurden auch die canabae aufgegeben und verlassen. Archäologisch sind Kellergruben und ein rechtwinkliges Straßensystem sowie zivile Bestattungen auf nahe liegenden Begräbnisstätten nachgewiesen.
Unterhalb des Legionslagers entstanden kurz darauf einzelne, voneinander getrennte, vici. Früheste archäologische Nachweise für eine zivile Besiedlung noch aus augusteischer Zeit finden sich direkt vor der Porta praetoria (heutige Emmerich-Josef-Straße). Entlang der von dort verlaufenden römischen Straße zum Rheinübergang (heute Emmeransstraße) breitete sich dieser vicus langsam in Richtung des heutigen Schillerplatzes und des Flachsmarktes aus. Am Flachsmarkt traf eine zweite Hauptstraße vom Militärlager in Weisenau kommend mit der erstgenannten Straße zusammen. Weitere unmittelbar nach dem Beginn der römischen Präsenz entstandene Zivilsiedlungen befanden sich vor dem Militärlager in Weisenau und am Dimesser Ort. Letztgenannter vicus gilt als bedeutendste Zivilsiedlung und als Mittelpunkt des Zivillebens in Mogontiacum im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Als vermutliche Siedlung der Fernhandelskaufleute scheinen die canabarii schnell einen gewissen Wohlstand erreicht zu haben, der verbunden war mit dem Wunsch nach rechtlicher Anerkennung der Zivilsiedlung. Die Stiftung der Großen Mainzer Jupitersäule im ersten Drittel des 1. Jahrhunderts wird verschiedentlich als Versuch der Zivilbevölkerung gedeutet, die rechtliche Anerkennung der Siedlung zu beschleunigen.
Mit dem Wiederaufbau der zerstörten zivilen Siedlungsbereiche nach dem Bataveraufstand und dem Ausbau der Infrastruktur in der folgenden Zeit verschmolzen auch die einzelnen vici langsam zu einer zusammenhängenden, städtisch geprägten Siedlungsfläche. Zudem konnte für die Zeit der flavischen Kaiser und nochmals verstärkt ab dem 2. Jahrhundert für den Weisenauer vicus und für den vicus am Dimesser Ort eine Siedlungsverlagerung in Richtung der heutigen Innenstadt nachgewiesen werden. Die nun zentral unterhalb des Legionslagers gelegene Zivilsiedlung erstreckte sich vom Fuß des Kästrichs bis zum Rhein. Da es keine zusammenhängende Bauplanung gab, wurde das bisher nachgewiesene Straßennetz nicht regelmäßig angelegt. Zentrale Bereiche der Innenstadt waren wahrscheinlich der Flachsmarkt, wo auch gelegentlich das Forum vermutet wird, der Schillerplatz als hochwassergeschützter Siedlungsbereich sowie der heutige Dombereich, in dem der zentrale Kultbezirk vermutet wird.
Das Stadtgebiet umfasste nach dem Bau der zweiten Stadtmauer in der Mitte des 4. Jahrhunderts 98,5 Hektar. Für die Zivilsiedlung ist ein größeres Thermengebäude in direkter Nähe des heutigen Staatstheaters aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts bekannt. Ein größeres administratives Bauwerk stand in direkter Nähe des heutigen Städtischen Altersheimes. Bei Bauarbeiten in den 1970er-Jahren wurden umfangreiche Architekturreste, ein Marmorbrunnen mit bronzener Fischfigur als Wasserspeier sowie Ziegel mit Stempel der Mainzer Legionen gefunden. Vermutet wird hier der Statthalterpalast, der ähnlich repräsentativ wie sein Kölner Gegenstück oberhalb des Rheinufers gestanden haben könnte. Luxuriöse Stadtvillen wurden im Bereich der Schillerstraße am heutigen Proviant-Magazin sowie in der Altstadt (Badergasse), teils mit Mosaikschmuck, freigelegt.
Über die Einwohnerzahl von Mogontiacum gibt es keine Angaben oder Schätzungen. Die flächenmäßig etwas kleinere zivile Colonia Claudia Ara Agrippinensium hatte um das Jahr 50 circa 30.000 Einwohner. Lediglich die Größe des Bühnentheaters, das circa 10.000 Zuschauer aufnehmen konnte, und die allgemeine Stadtentwicklung lassen gewisse Rückschlüsse auf eine mögliche zivile Einwohnerzahl zu, die im unteren fünfstelligen Bereich gelegen haben dürfte.
Die Topographie des zivilen Mogontiacums ist nur unzureichend archäologisch erschlossen und im Vergleich zu anderen bedeutenden Römerstädten in Deutschland wenig erforscht. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. So kam es ab dem frühen Mittelalter zu einer kontinuierlichen Wiederverwendung des qualitativ hochwertigen römischen Baumaterials für die baulich expandierende Stadt. Eine bewusste Zerstörung römischer Überreste gab es ebenfalls immer wieder. So beispielsweise die des Bühnengebäudes beim Bühnentheater während des Eisenbahnbaus am Ende des 19. Jahrhunderts oder die des Mithräums am Ballplatz, die noch 1976 trotz Proteste aus der Bevölkerung erfolgte. Generell erfolgte in dem heutigen Stadtgebiet eine intensive Überbauung des römischen Siedlungsgebietes ab dem Mittelalter.
Zivil genutzte Binnenhäfen
Der bereits genannte Dimesser Ort war nicht nur höchstwahrscheinlich ein militärisch genutzter Hafen, sondern scheint auch der Fernhandelshafen gallisch-italischer Handelskaufleute gewesen zu sein. Darauf deuten eine hohe Funddichte von Transportamphoren mediterraner Herkunft sowie weitere Importfunde aus Gallien und dem Mittelmeerraum. Die zudem gemachten baulichen Funde wie Steinpflaster (möglicherweise eine Laderampe für Plattbodenschiffe) und Kaianlagen unterstützen diese Vermutung. Im Zusammenhang mit den Handelstätigkeiten ist auch eine prosperierende Zivilsiedlung am Dimesser Ort entstanden, die bereits zur Mitte des 1. Jahrhunderts das zivile Zentrum von Mogontiacum gewesen sein muss.
Weitere zivil genutzte Häfen beziehungsweise Landungsstellen mit weniger aufwändigen Kaianlagen und Frachthäusern wurden auch rheinaufwärts in Höhe der Mainzer Altstadt (Dagobertstraße, Kappelhof, hier Fund zweier römischer Prahme aus dem 1. Jahrhundert) festgestellt. Hier dürften die kelto-romanischen einheimischen Rheinschiffer und -händler tätig gewesen sein, deren Existenz beispielsweise durch den Grabstein des Reeders und Händlers Blussus (datiert um das Jahr 50) gut nachgewiesen ist. Auch die römerzeitliche Floßschifffahrt hatte eine große Bedeutung und dürfte vor allem beim Holztransport auf dem Rhein nach Mogontiacum an erster Stelle gestanden haben.
Bühnentheater
Durch eine Erwähnung bei dem Schriftsteller Sueton ist bereits für das Jahr 39 ein Bühnentheater in Mogontiacum belegt. Die heute sichtbaren und freigelegten Überreste des Theaters stammen aus dem 2. Jahrhundert und folgte wahrscheinlich einem früheren, in Holz-Erde-Technik errichteten Theater. Mit einer Bühnenlänge von 41,25 m und einem Durchmesser des Zuschauerhalbrundes von 116,25 m ist es das größte römische Bühnentheater nördlich der Alpen. Es konnte damit über 10.000 Zuschauern Platz bieten. Das Bühnentheater, welches in direkter Nähe zum Drususstein südlich des Legionslagers stand, wurde sehr wahrscheinlich neben dem regulären Schauspielbetrieb auch im Zusammenhang mit kultischen Feierlichkeiten für Drusus genutzt, was den verhältnismäßig großzügigen Ausbau erklären könnte.
Das Theater war bis in das 4. Jahrhundert in Benutzung, lag nach dem zweiten Stadtmauerbau und der damit erfolgten Verkleinerung des Stadtgebietes aber außerhalb des geschützten Stadtgebietes. Bereits für den Bau dieser zweiten Stadtmauer wurden Spolien aus dem Theaterbereich verwendet. Das massive Gussmauerwerkgewölbe wurde ab dem 6. Jahrhundert als frühchristliche Begräbnisstätte benutzt. Noch im frühen Mittelalter gab es oberirdisch sichtbare Ruinen des Theaters, die in schriftlichen Zeugnissen Erwähnung fanden. Die letzten oberirdisch sichtbaren Reste des Theaters wurden in Mitte des 17. Jahrhunderts beim Ausbau der Zitadelle eingeebnet.
Römische Rheinbrücke
Bereits kurz nach der Lagergründung unter Drusus, spätestens aber vor seinem von Mogontiacum ausgehenden Feldzug im Jahr 10 v. Chr., dürfte eine Schiffbrücke (pons navalis) zum rechtsrheinischen Ufer bestanden haben. Ab dem Jahr 27 und damit in tiberischer Zeit ist ein erster fester Holzbrückenbau dendrochronologisch nachgewiesen. Es handelte sich hierbei höchstwahrscheinlich um eine Pfahljochbrücke. Unter Domitian entstand Anfang der 80er Jahre ein fester Brückenbau, der circa 30 m oberhalb der heutigen Theodor-Heuss-Brücke den Rhein überquerte. Die 420 m lange Brücke besaß mindestens 21 Steinpfeiler, davon 14 im Strombett archäologisch nachgewiesen, die jeweils auf aufwändig gesetzten Pfahlrosten ruhten. Auf den Steinpfeilern lag der hölzerne Brückenaufbau, der eine 12 m breite mehrspurige Fahrbahn trug. Eine Bauinschrift bei der linksrheinischen Brückenrampe stammt von der Legio XIIII Gemina Martia Victrix, die in den Jahren 70 bis 92 in Mogontiacum stationiert war. Die Rheinbrücke wurde mehrfach erneuert und repariert, so beispielsweise in den Jahren 100, 157, 213 sowie in den folgenden Jahrzehnten. Es wird angenommen, dass sie auch noch oder wieder zu Beginn des 5. Jahrhunderts in Funktion war und der Rheinübergang des Germaneneinfalls im Jahr 406 über sie erfolgte. Eine schematische Abbildung der Pfahlrostbrücke findet sich auf dem um 300 entstandenen Lyoner Bleimedaillon.
Die Brücke besaß aufgrund unterschiedlicher Pfeilerabstände eine gleichmäßig gewölbte Fahrbahn, so dass in der Strommitte die größtmögliche Durchfahrtshöhe für Rheinschiffe vorhanden war. Rechtsrheinisch führte die Brückenfahrbahn direkt in das Castellum Mattiacorum, die Brücke war somit auch militärisch gesichert.
Eine kleinere Brücke über den Main, die etwas oberhalb der Mainmündung lag, ist ebenfalls nachgewiesen. Möglicherweise gab es auch noch einen zweiten Rheinübergang in Form einer Schiffbrücke oder eines dauerhaften Fährübergangs. Dieser könnte unterhalb des Auxiliarlagers in Mainz-Weisenau gelegen haben, ist aber bislang in der Forschung nicht eindeutig nachweisbar.
Aquädukt
Zur Versorgung des Legionslagers auf dem Kästrich und später auch der Zivilsiedlung wurde bereits im 1. Jahrhundert eine aufwändige Wasserleitung, teilweise in Aquäduktbauweise, errichtet. Die Wasserversorgung des Lagers über Brunnen im inneren Lagerbereich scheiterte an dem in über 20 m Tiefe liegenden Grundwasserstand. Der Wassertransport für das in der Anfangszeit mit mindestens zwei Legionen belegte Lager aus dem benachbarten Zahlbachtal war auf Dauer ebenfalls nicht realisierbar.
Wahrscheinlich existierte deshalb bereits ab der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts ein Aquädukt in Holzbauweise, welches das Lager mit Frischwasser versorgte. Als Ausgangsort dieser Wasserleitung konnten die zahlreiche Quellen aufweisenden Gebiete der heutigen Mainzer Stadtteile Drais und vor allem Finthen lokalisiert werden. Bisher gibt es allerdings keinen gesicherten Nachweis eines hölzernen Vorgängerbaus.
Im Rahmen der großflächigen Baumaßnahmen der flavischen Kaiser kam es, wohl zeitgleich mit dem Ausbau des Legionslagers in Stein, auch zum Bau eines in Steinbauweise errichteten Aquäduktes. Am Bau beteiligt waren die Mainzer Legionen Legio XIIII Gemina Martia Victrix und Legio I Adiutrix, wie Ziegelstempel zeigen, die eine relativ genaue zeitliche Einordnung dieser Baumaßnahme zulassen. Das Aquädukt führte von den Quellen in Finthen zuerst unterirdisch, später in einer Fließrinne bis zur Kopfstation an der südwestlichen Ecke des Lagers. Die Wasserleitung war insgesamt fast neun Kilometer lang. Auf den letzten drei Kilometern wurde sie dann in Aquäduktbauweise ausgeführt und überquerte auf über 25 m hohen, wahrscheinlich zweigeschossigen, Bögen das Zahlbachtal. Der Achsabstand betrug dabei circa 8,50 m, das durchschnittliche Gefälle über die gesamte Leitungsstrecke 0,9 %. Berechnungen ergaben eine tägliche Wassermenge von mehreren 100 m³ Frischwasser, die über bleierne Druckwasserleitungen im Lager und auch in den canabae verteilt wurden.
Im Zahlbachtal sind heute noch die massiven Gussmauerkerne der Pfeiler auf einer Strecke von circa 600 m zu sehen. Die „Römersteine“ genannten Pfeilerstümpfe ragen teilweise noch mehrere Meter empor, sind aber fast vollständig ihrer ehemaligen Ummantelung beraubt.
Stadtmauer und Stadttor
Kurz nach der Mitte des 3. Jahrhunderts (der parallel zum Rhein verlaufende Mauerabschnitt konnte durch die Untersuchung hölzerner Pfahlroste auf den Zeitraum 251/253 datiert werden) wurde die zwischen Legionslager und Rhein gelegene Zivilsiedlung erstmals mit einer Stadtmauer umgeben. Die Stadtmauer schloss südwestlich auf einer Länge von 600 m an die Befestigungen des Legionslagers an, das aber eigenständig blieb. Sie besaß rechteckige, leicht vorspringende Türme und einen Graben. Die südwestlich vor dem Legionslager liegenden canabae legionis wurden ebenfalls befestigt, während die Zivilsiedlungen am Dimesser Ort und in Weisenau außerhalb des befestigten Stadtgebietes lagen und dadurch weiter an Bedeutung verloren. Gleichzeitig wurde auch die Steinmauer des Legionslagers erneuert, mittlerweile zum dritten Mal seit dem Bau der ersten steinernen Lagermauer unter dem flavischen Kaiser.
Nach Julians Sieg über die Alamannen 357 wurde, wahrscheinlich noch beginnend unter seiner Herrschaft, im Zeitraum 360–370 der Bau einer zweiten, verkürzten Stadtmauer begonnen. Zeitgleich wurde das Legionslager nach über 350 Jahren aufgegeben und die damit entstandene Lücke in der Befestigung durch ein neu errichtetes Mauerstück in diesem Bereich geschlossen. Dazu wurden Spolien aus den abgerissenen Großbauten des Legionslagers verwendet, die in großer Anzahl hier verarbeitet wurden. Der Abbruch dieses Mauerstücks im Zeitraum 1899 bis 1911 führte dementsprechend zu einer Vielzahl von qualitativ hochwertigen Architekturteilen, die unter anderem eine einigermaßen sichere Rekonstruktion des Praetoriums sowie weiterer Großbauten des Legionslagers und des Dativius-Victor-Bogens zuließen. Mit dem Bau der zweiten Stadtmauer wurde nun ein Stadtgebiet von etwa 118 Hektar umschlossen, womit der umwehrte Bereich gegenüber der Phase der ersten Stadtmauer um etwa ein Drittel schrumpfte.
Im Zuge von Baumaßnahmen auf dem Kästrich wurden 1985 Mauerreste dieser zweiten Stadtmauer sowie ein römisches Stadttor und das Pflaster der durchführenden Straße entdeckt. In die 2,70 m breite Stadtmauer wurde das Stadttor integriert und die noch aus dem Legionslager stammende via praetoria hindurchgeführt, die als strategisch wichtige Straße hinunter in die Zivilsiedlung führte. Eingeschliffene Fahrspuren auf der Torschwelle und dem gut erhaltenen Straßenpflaster aus Sandstein weisen mit 1,90 m Breite die typische Spurbreite römischer Fahrzeuge auf. Das Stadttor wurde mit einem zweiflügeligen Holztor verschlossen und wies zudem einen Torturm auf. Die gesamte Toranlage ist somit dem Typ „Andernach“ zuzurechnen und gehört zu den zeitlich spätesten Toranlagen, die im römischen Deutschland bekannt und erhalten sind.
Denkmäler
Das einzige heute noch am Originalstandort stehende und bedeutendste Denkmal aus der Zeit Mogontiacums ist der so genannte Drususstein. In der Wissenschaft gilt es mittlerweile, nach zwischenzeitlichen Zweifeln und Einordnungen in spätere Zeiträume, als mehr oder weniger erwiesen, dass es sich hier um das Kenotaph (tumulus honorarius) des römischen Feldherren Drusus handeln dürfte. Dieses wurde vom römischen Heer zu Ehren des 9 v. Chr. in Germanien tödlich verunglückten Feldherrn in Mogontiacum errichtet. Das Denkmal wurde später von Augustus gebilligt, der es mit einem eigens verfassten Grabgedicht bedachte. Auch römische Geschichtsschreiber wie beispielsweise Sueton oder Eutropius erwähnen explizit den Drususstein und das Kultzeremoniell zum Gedenken an Drusus.
Das Denkmal wurde außerdem Mittelpunkt von alljährlich stattfindenden Kult- und Gedenkfeiern (supplicatio) zu Ehren des Drusus, zu dem Abgeordnete des Landtages der drei gallischen Provinzen (concilium Galliarum) anreisten. Die römische Legionen aus Mogontiacum ehrten ihren ehemaligen Heerführer mit Paraden (decursio militum). Auch das nahe liegenden Theater mit seinen mehr als 10.000 Plätzen dürfte in diese Feierlichkeiten eingebunden worden sein.
Bei den heute noch sichtbaren Überresten des Kenotaphs handelt es sich um einen knapp 20 m hohen Steinbau aus massivem Gussmauerwerk mit darin eingebauten Werksteinen. Die ursprüngliche Höhe dürfte 30 m (dies entspricht 100 römischen Fuß) gehabt haben. Rekonstruktionen gehen von einem quadratischen Sockel und einem zylinderförmigen Geschoss (Tambour) aus, auf dem ein kegelförmiger Aufsatz saß, den ein Pinienzapfen krönte. Ähnliche Grabbauwerke aus der frühen Kaiserzeit finden sich auch an römischen Gräberstraßen in Italien.
Die Große Mainzer Jupitersäule ist ein in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts in Mogontiacum errichtetes Denkmal zu Ehren des römischen Gottes Jupiter. Sie gilt nicht nur als das früheste datierbare Denkmal dieser Art, sondern auch als die größte und aufwändigste Jupitersäule im deutschsprachigen Raum. Die Mainzer Jupitersäule war Vorbild für nachfolgende Jupiter(giganten)säulen, die vor allem im 2. und 3. Jahrhundert in den germanischen Provinzen errichtet wurden. Die 9,14 m hohe, reich skulpturierte, Säule krönte eine 3,36 m hohe Jupiterfigur samt Adler aus vergoldeter Bronze. Die erhaltene Stifterinschrift steht in Zusammenhang mit einer Treuebekundung zu Kaiser Nero und weist die canabarii, in diesem Fall die Bewohner der Zivilsiedlung Dimesser Ort am Rheinufer, als Stifter aus. Die aus über 2000 Einzelfragmenten zusammengesetzte Säule steht heute im Landesmuseum Mainz, von der Bronzefigur sind nur wenige Überreste erhalten geblieben. Eine originalgetreue Nachbildung der Großen Mainzer Jupitersäule steht heute vor dem Rheinland-Pfälzischen Landtag in Mainz.
Ein weiteres bedeutendes Denkmal aus der Mitte des 3. Jahrhunderts ist der Dativius-Victor-Bogen. Dieser Bogen diente im römischen Mogontiacum als Mitteldurchgang einer Säulenhalle eines öffentlichen Gebäudes, möglicherweise in Nähe des Legionslagers. Ein Großteil des Bogens (43 von insgesamt 75 einzelnen Sandsteinblöcken) wurde zwischen 1898 und 1911 bei der Niederlegung der mittelalterlichen Stadtmauer im unteren, spätrömischen Fundamentbereich als Spolien entdeckt. Auch dieser Bogen ist mit üppigem Reliefschmuck versehen, unter anderem mit einem teilweise erhalten Zodiakus, Weinranken und Jupiter/Juno. Die vollständig erhaltene Inschrift nennt Dativius Victor, decurio der civitas Taunensium (Ratsherr der Gebietskörperschaft der Taunenser in Nida) als Stifter. Dieser ließ sich möglicherweise infolge der zunehmenden Unruhen durch die ab 233 beginnenden Alamanneneinfälle in Mogontiacum nieder und stiftete aus Dankbarkeit den Bogen. Das Original steht ebenso wie die Mainzer Jupitersäule in der Steinhalle des Landesmuseums Mainz, ein Nachbau steht im direkten Umfeld des Kurfürstlichen Schlosses und des darin befindlichen Römisch-Germanischen Zentralmuseums.
1986 wurden in Mainz-Kastel Fundamente eines dreitorigen Großbauwerkes gefunden, bei dem es sich um einen Ehrenbogen gehandelt haben dürfte. Möglicherweise sind dies die Überreste des bei Tacitus, in der Tabula Siarensis und in der Tabula Hebana erwähnten Ehrenbogens für Germanicus, den Sohn des Drusus. Erwähnt wird die Errichtung von drei Ehrenbögen für Germanicus nach seinem Tod im Jahr 19. Einer davon stand in Mogontiacum apud ripam Rheni. Die zeitliche und personelle Zuordnung der aufgefundenen Fundamente ist allerdings strittig. Der vermutete Ehrenbogen könnte auch von Domitian während seiner Chattenkriege errichtet worden sein.
Heiligtümer und Kultstätten
Mogontiacum war Mittelpunkt des religiösen und kultischen Lebens des Umlandes. Dieses war in Mogontiacum aufgrund des Charakters der Stadt deutlich militärisch geprägt. So spielte der Kaiserkult in der Anlage rund um den Drususstein, beginnend mit den Kult- und Gedenkfeiern zu Ehren des Drusus und seines Sohnes Germanicus bereits in der Frühzeit Mogontiacums eine große und zentrale Rolle. Später entwickelte sich das einer Provinzhauptstadt entsprechende religiöse und kultische Leben, das auch auf das Umland ausstrahlte. Seitens der keltisch-romanischen Bevölkerung floss die Verehrung von einheimischen, relativ schnell auch romanisierten keltischen Gottheiten ein.
Aus Mainz und Umgebung sind bislang neun Kultplätze archäologisch erschlossen oder lassen sich aufgrund archäologischer Indizien vermuten. Weitere neun Kultstätten sind nur epigraphisch bezeugt. Dafür findet sich in Mogontiacum die größte Anzahl an Weihedenkmäler der gallischen und germanischen Provinzen, darunter alleine 272 Weiheinschriften. Diese stammen allerdings mehrheitlich als Spolienfunde aus dem Mauersockel der spätantiken-mittelalterlichen Stadtmauer und lassen so keinen Rückschluss auf die geographische Lage der Heiligtümer zu. Kultanlagen des Jupiter, der Juno und Minerva und vielleicht auch des Apollo lagen möglicherweise im Bereich des heutigen Dombezirks, wofür es aber keinen direkten archäologischen Nachweis gibt. Ob Mogontiacum, wie Trier oder Köln, ein Heiligtum der „Kapitolinischen Trias“ aufwies, ist aufgrund des fehlenden offiziellen Stadtcharakters fraglich. Zahlreiche Weihesteine ausschließlich von Legionslegaten deuten auf ein dem Militär zuzusprechenden Heiligtum des Apollo und einer weiteren unbekannten Gottheit im 3. Jahrhundert in direkter Nähe zur Rheinbrücke hin. Epigraphisch gesichert sind ein Heiligtum der Bellona in Castellum und ein Sacellum des Merkur zwischen Mainz und Mainz-Hechtsheim. Ebenfalls nur epigraphisch erschlossen, aber nicht lokalisierbar sind Heiligtümer des Genius Loci, Bonus Eventus oder der Fortuna Conservatrix.
Eine genauere Lokalisierung ist bei anderen Heiligtümern und Kultstätten möglich. Bereits 1976 wurde am Ballplatz und damit am Fuß des Kästrichs mit seinem Legionslager ein Mithräum ergraben, das allerdings im Zuge weiterer Bauarbeiten zerstört wurde. Ungewöhnlich ist hier die sehr frühe Verehrung des Mithras, die durch Keramikfunde in den Zeitraum zwischen 70 und 80 und somit in flavische Zeit datiert werden konnte. Mit einer Gesamtlänge von 30 m ist es das älteste und größte bislang nachgewiesene Mithräum des römischen Imperiums. Entstehungszeit, Größe und Ausstattung lassen auf ein großes Ansehen des Heiligtums und dessen große Rolle bei der Verbreitung des Kultes in den beiden germanischen Provinzen schließen.
Die 1999 gefundene gemeinsame Kultanlage der Isis und Mater Magna wurde hingegen unter archäologischer Aufsicht ausgegraben, konserviert und mitsamt einem Teil der reichhaltigen Funde aus dem religiös-kultischen Leben für Besucher museal aufbereitet. Wie bei dem Mithräum überrascht auch hier die frühe Datierbarkeit des Heiligtums in flavische Zeit, genauer in die Zeit Vespasians. Bis zur Entdeckung war nicht bekannt, dass der Isiskult bereits so früh in die Nordprovinzen des römischen Imperiums vorgedrungen war. Als Grund für die frühe Etablierung dieses orientalischen Kultes (ebenso des oben erwähnten Mithraskultes) nehmen Wissenschaftler die massive Militärpräsenz in Mogontiacum an.
Die vielfältig gemachten Einzelfunde geben detailliert Auskunft über die offiziell ausgeübten Kultpraktiken zu Ehren von Isis und Mater Magna in Mogontiacum. Weitere herausragende epigraphische Zeugnisse sind die in größerer Anzahl gefundenen bleiernen Fluchtäfelchen, die zusammen mit den aufgefundenen Zauberpuppen einen Einblick in die nach römischem Recht verbotene und illegal praktizierte magisch-rituelle Kultwelt der einfachen Provinzialrömer geben.
Nicht direkt in Mogontiacum lokalisiert, aber eindeutig in engerer Beziehung zu Siedlung und Militärlager stehen die außerhalb des damaligen Siedlungsgebietes gefundenen Heiligtümer des Merkurs und der Rosmerta in Finthen und des Mars Leucetius und der Nemetona in Klein-Winternheim. Bei dem ersten Götterpaar vermutet man einen größeren Umgangstempel nach gallischem Vorbild um das Jahr 100. Von dort stammt auch der 1844 gefundene lebensgroße Bronzekopf einer Göttin, der allgemein als Bildnis der keltischen Göttin Rosmerta angesprochen wird. Diese wurde häufig in Kultgemeinschaft mit dem römischen Gott Merkur beziehungsweise seinem keltischen Pedant verehrt. Die qualitativ hochwertig gearbeitete Bronze datiert auf den Anfang des 2. Jahrhunderts und zeigt deutliche Einflüsse römischen Stils, wurde aber wahrscheinlich vor Ort in Mainz hergestellt.
Das kleinere Heiligtum des Mars Leucetius und der Nemetona befand sich noch weiter außerhalb des Kernsiedlungsgebietes und geht wahrscheinlich, ebenso wie das Merkur-/Rosmerta-Heiligtum, auf ein aresakisches Heiligtum aus vorrömischer Zeit zurück. Eine bronzene Votivtafel des Senators Fabricius Veiento und seiner Frau für Nemetona aus flavischer Zeit belegt die Verehrung der keltischen Göttin auch in flavischer Zeit.
2020 fanden Archäologen bei Grabungsarbeiten im Bereich des Zollhafens die lebensgroße, aber kopflose Statue einer weiblichen Gestalt, deren Fuß auf einem Kalbskopf ruht. Diese 1,49 Meter hohe Figur wurde später als Heilgöttin Salus identifiziert. Daneben wurden die Fragmente einer weiteren Statue freigelegt, von der aber nur noch die Füße sowie der geschuppte Körper eines Ungeheuers erkennbar sind.
Handel und Handwerk
Die wirtschaftliche Bedeutung von Mogontiacum als Handelsplatz und Produktionsstätte stieg nach der Gründung des Legionslagers schnell an. Fundmaterial aus den Lagercanabae und den zivilen vici lassen auf eine stetig wachsende wirtschaftliche Prosperität vor allem ab der flavischen Zeit bis zur Aufgabe des Limes schließen.
Allein in Anbetracht der Anzahl der stationierten Soldaten von zeitweise bis zu vier Legionen samt Hilfstruppen kann angenommen werden, dass Mogontiacum schnell ein wichtiges Zentrum des Nah- und Fernhandels wurde. Im Nahverkehr dürfte die Lage am Mittelrhein und die Binnenschifffahrt zusätzlich eine wichtige Rolle gespielt haben, wie Funde von Last- und Transportkähnen oder das Grabmal des wohlhabenden romanisch-keltischen Binnenschiffers Blussus in Mainz beweisen. Auch die in der Folge aufblühenden Zivilsiedlungen, insbesondere die Zivilsiedlung am „Dimesser Ort“ mit ihren gallisch-italischen Fernhandelskaufleuten, profitierten vom Handel und vom Warenumschlag über die Rheinschifffahrt.
Auch aus dem umliegenden Land liefen die Handelsströme nun in Mogontiacum zusammen. Von Mogontiacum aus führten gut ausgebaute Straßen in Richtung Köln, Trier, Worms und darüber hinaus über Alzey nach Gallien. Mit dem Bau der festen Rheinbrücke zur Zeit der Flavier nahmen auch Handel und Warenaustausch mit rechtsrheinischen Siedlungsgebieten deutlich zu. Mit der zunehmenden Ansiedlung von Militärveteranen im Stadtgebiet oder im Umland von Mogontiacum (villae rusticae sind in allen Mainzer Vororten nachgewiesen worden) stieg auch die Zahl von Handwerks- und landwirtschaftlichen Betrieben zur Versorgung des Militärs und der Zivilbevölkerung an. In den einzelnen vici von Mogontiacum entstanden ganze Handwerkerquartiere, so beispielsweise eine durchaus bedeutende Ansammlung von Schustereibetrieben entlang der Lagerstraße zum Rhein hinab im Bereich der heutigen Emmeransstraße. Dazu kamen Töpfereibetriebe (beispielsweise im Bereich des heutigen Regierungsviertels), Metallwerkstätten oder Bein und Leder verarbeitende Betriebe am nördlichen Ende des Siedlungsgebietes sowie Waffenwerkstätten für die in Mogontiacum stationierten Soldaten.
In der Zivilsiedlung bei Weisenau florierte in den ersten Jahrzehnten nach Gründung des Legionslagers die in den Händen der keltischen Bevölkerung liegenden Binnenschifffahrt. Diese wurde dann zunehmend durch eine größere Anzahl von Töpfereibetrieben beziehungsweise durch eine regelrechte „Töpfereiindustrie“ ab der flavischen Zeit verdrängt, die fortan die Haupteinnahmequelle der dortigen Zivilbevölkerung wurde. Dort befand sich auch eine römische Lampenfabrik, datiert zwischen die Jahre 20 und 69, die möglicherweise ein Militärbetrieb war.
Thermen und Kastellbad
Ein größeres Thermengebäude wurde im Jahr 33 in direkter Nähe des heutigen Staatstheaters und somit an der Gabelung der vom Legionslager kommenden Hauptstraße gebaut. Aufgrund des zur damaligen Zeit schluffigen Unterbodens wurde der Bau auf eine Pfahlgründung gesetzt, deren Reste die exakte Datierung ermöglichten. Die Therme muss eines der ersten steinernen Großgebäude in dem ansonsten noch spärlich besiedelten Innenstadtbereich gewesen sein. Sie wurde bereits im zweiten Drittel des 1. Jahrhunderts zerstört, möglicherweise im Zusammenhang mit der Zerstörung ziviler Einrichtungen in Mogontiacum während des Bataverkrieges. Eine Nachfolgebau stand möglicherweise etwas versetzt und zentraler zu dem sich ab der flavischen Zeit herausbildenden innerstädtischen Zentrum am heutigen Flachsmarkt. Bei Bauarbeiten in den 1980er-Jahren wurde 200 m entfernt in der Hinteren Christofsgasse massive Baureste eines größeren Baukomplexes aus dem späten 1. Jahrhundert gefunden. Größere Mengen gestempelter Hypokaustenziegel und Teile eines marmornen Springbrunnens könnten möglicherweise für ein Thermengebäude sprechen.
Das zum Legionslager gehörende Kastellbad konnte als einziger größerer Gebäudekomplex des Lagers 1908 ausgegraben und kartographisch erfasst werden. Das Kastellbad war mit 69 × 50 m relativ groß und wurde wahrscheinlich erst nach Abzug der zweiten, in Mogontiacum stationierten, Legion nach dem Jahr 90 erbaut. Anhand der baulichen Überresten konnten zwei Bauphasen bestimmt werden: eine ältere und kleinere Badeanlage mit einem Rundsudatorium aus spätflavischer oder bereits frühtrajanischer Zeit und eine größere, vollständig umgebaute zweite Badanlage aus frühhadrianischer Zeit. Dieses Bad war bis zur Aufgabe des Lagers Mitte des 4. Jahrhunderts in Benutzung, wie ein Stempel der 22. Legion mit dem Zusatz C.V. für Constantiniana Victrix beweist. Diesen Namenszusatz führte die Legion erst seit konstantinischer Zeit.
Gräberfelder
In Mogontiacum gab es zahlreiche Gräberfelder, die bogenförmig das Siedlungsgelände umspannten. Sie entstanden im 1. Jahrhundert und wurden kontinuierlich bis in das 4. Jahrhundert, in einigen Fällen bis in das frühe Mittelalter genutzt. Ausgangspunkte für die entstehenden Gräberfelder waren üblicherweise die vom Legionslager ausgehenden Verkehrswege. Neben den zahlreichen kleineren Gräberfeldern rund um Mogontiacum lassen sich zwei größere Begräbnisstätten ausmachen, in der Oberstadt/Weisenau und in Bretzenheim am Hang des Zahlbachtals unterhalb des Lagers. Von diesen beiden Gräberfeldern stammen auch die meisten der bisher in Mainz gefundenen Grabsteine.
Eine italisch-römischen Vorbildern entsprechende Gräberstraße (via sepulcrum) gab es entlang der Verbindungsstraße zwischen dem Legionslager und dem Militärlager beziehungsweise dem Vicus in Weisenau. Hinweise auf römische Grabstätten sind dort seit Ende des 18. Jahrhunderts dokumentiert. Nach einer ersten Untersuchung durch Ernst Neeb 1912 wurden die dortigen Grabstätten erst in dem Zeitraum 1982 bis 1992 systematisch erforscht. Beginnend mit dem Ausgangspunkt der Straße am Legionslager und in der Nähe des Drusus-Kenotaphs konnten bereits für die augusteische Zeit Bestattungen entlang der Straße nachgewiesen werden. Eines der ersten Grabmonumente in direkter Lagernähe, das zeitgleich mit dem Drusus-Kenotaph entstand, ist das qualitativ hochwertige Grabmonument der ursprünglich aus Mailand stammenden Brüder Marcus und Caius Cassius, Angehörige der Legio XIIII Gemina, das als „Cassier-Denkmal“ bezeichnet wird. In Richtung Weisenau entstanden so bis weit in das 4. Jahrhundert und auf eine Länge von 2,5 km links und rechts der Straße und von ihr durch einen Graben getrennt immer mehr Grabmonumente und Grabeinfriedungen. Aufgrund des repräsentativen Charakters entlang der wichtigen Militärstraße und der anfänglichen Nähe zum Drusus-Kenotaph wurde diese Begräbnisstätte offenbar von Militärangehörigen sowie von hier ansässigen römischen Bürgern und der wohlhabenden römischen Oberschicht bevorzugt. Die militärischen und zivilen Bestattungen erfolgten teils nach italischem Brauch, teils nach einheimischen Bräuchen. Ab dem 2. Jahrhundert nahm die repräsentative Bedeutung der Gräberstraße langsam ab, teilweise wurden Steinbauten abgetragen und ihr Material zum Bau neuer Gräber wieder verwendet. Auch zum Bau der Stadtmauer im 3. und 4. Jahrhundert wurden Grabdenkmäler als Baumaterial abgetragen und in Form von Spolien eingebaut. Andere Gräberfelder, vor allem im nördlichen Siedlungsbereich, nahmen nun an Bedeutung zu.
Am Westhang des Zahlbachtals und damit unterhalb des Legionslagers lag ein großer augusteischer Militärfriedhof. Hier kam es im 1. Jahrhundert zu zahlreichen Militärbestattungen. Ein Großteil der in Mainz aufgefundenen, oft qualitativ und epigraphisch wertvollen, Militärgrabsteine stammt von diesem Gräberfeld. Im Laufe des 1. Jahrhunderts dehnte sich das Gräberfeld nach Süden über die Hochfläche weiter aus. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts nahm die Anzahl der Militärbestattungen drastisch ab und verlagerte sich südwärts in Theaternähe. Das Gräberfeld wurde nun zunehmend von der Zivilbevölkerung der an Bedeutung zunehmenden Lagercanabae genutzt, in dessen Richtung es sich noch während des 2. und 3. Jahrhunderts ausdehnte. Eine Begräbnistradition konnte bis weit in das 4. Jahrhundert festgestellt werden. Die Aufgabe dieses Begräbnisplatzes steht sicherlich in unmittelbaren Zusammenhang mit der Aufgabe des Legionslagers und der Lagercanabae um die Mitte des 4. Jahrhunderts.
Zahlreiche weitere kleinere Gräberfelder existierten beispielsweise in der heutigen Neustadt am Dimesser Ort oder im Gartenfeld, auf dem Gelände des Mainzer Hauptfriedhofes und der Johannes-Gutenberg-Universität und in fast allen weiteren Mainzer Vororten. Bei einigen der Gräberfelder entstanden in spätrömischer Zeit Coemeterialkirchen, die mit der vermehrten Anzahl christlicher Bestattungen bis in die Frankenzeit einhergingen.
Nicht lokalisierbare Großbauten
Im Gegensatz zu anderen größeren römischen Städten wie Trier oder Köln weist die Topographie von Mogontiacum nach wie vor größere Lücken auf. So verwundert es nicht, dass die Lage einiger größerer administrativer und ziviler Bauten und Plätze nach wie vor nicht bekannt sind. Der nach der Einrichtung der Provinz Germania superior ab Mitte der 80er Jahre des 1. Jahrhunderts errichtete Statthalterpalast gehört zu den noch nicht lokalisierten Großbauten. Mehrere mögliche Standorte wurden bisher in Betracht gezogen und in Fachkreisen diskutiert. Da das Legionslager nach Abzug der Legio XXI Rapax im Jahr 90 nur noch mit einer Legion belegt war und genug Platz bot, wird der Bau eines Statthalterpalastes sowie weiterer administrativer Gebäude im Innenbereich des Legionslagers in Betracht gezogen. Ein Graffito auf einer Tonscherbe aus dem 2. Jahrhundert gibt als Adresse des Statthalters „… praetorium … ad hiberna leg XXII P P F“ an und gilt als Indiz für diese Hypothese. Neuerdings neigt man allerdings wieder dazu, trotz dieser Inschrift den Standort des Statthalterpalastes außerhalb des Legionslagers zu suchen. Größere Bauüberreste mit gestempelten Ziegeln und marmorner Ausstattung in der Altstadt im Bereich der Hinteren Christofsgasse/Birnbaumgasse könnten Überreste des gesuchten Statthalterpalastes sein, der ähnlich dem Kölner Gegenstück damit oberhalb des Rheinufers und erhöht über diesem gestanden haben könnte. Auch wäre die Nähe zu dem ab flavischer Zeit entstehenden Mittelpunkt „Flachsmarkt“ der zusammenwachsenden Zivilsiedlung gegeben gewesen. Zukünftig geplante Ausgrabungen im Bereich der Birnbaumgasse sollen hier zur weiteren Aufklärung beitragen. Ein weiterer möglicher Standort wäre auch der Bereich in der Nähe des heutigen Staatstheaters gewesen, der ebenfalls als zentraler Platz im Bereich der Zivilsiedlung galt.
Das Forum von Mogontiacum ist nach einigen Wissenschaftlern am ehesten im Bereich des heutigen Schillerplatzes zu vermuten. Als Indiz für diese Lokalisierung gilt die zentrale und hochwasserfreie Lage in direkter Nähe zum Legionslager. Gleichzeitig ist der Schillerplatz der Mittelpunkt zahlreicher römischer Straßen, die hier zusammenliefen, womit eine gewisse verkehrstechnische Zentralität des Platzes gegeben war. Weitere mögliche Standorte sind, ähnlich wie bei dem Statthalterpalast, die Bereiche Flachsmarkt und das Stadtgebiet, auf dem heute der Baukomplex des Staatstheaters Mainz samt Anbauten steht.
Neben dem römischen Bühnentheater hat es in Mogontiacum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ein Amphitheater gegeben. Vor Ort gefundene Widmungen von Gladiatoren sind als Indiz für die Existenz anzusehen. Zu dem Standort gibt es lediglich vage Hinweise. So wäre ein möglicher Standort das Zahlbachtal in der Nähe des nicht mehr existierenden Dalheimer Klosters, für den auch die Nähe zum Legionslager sprechen würde. In den Aufzeichnungen des Mainzer Mönches Siegehard um 1100 ist die Rede von den Ruinen eines Theaters im Zahlbachtal, das für Gladiatoren- und Zirkusspiele angelegt worden sein soll. In seiner Alten Geschichte von Mainz (mehrbändig, ab 1771 erschienen) lokalisierte Pater Joseph Fuchs das Mainzer Amphitheater allerdings an einer anderen Stelle, nämlich zwischen der heutigen Innenstadt und dem Hechtsheimer Berg. Dort sei ein großer Halbzirkel, auf dessen Grund man Reste starker Pfeiler gefunden habe.
Ebenfalls unbekannt ist der Tempelbezirk für die Staatsgottheiten Jupiter, Juno und Minerva (Kapitolinische Trias). Aufgrund der Fundlage von Weiheinschriften kommt hier am wahrscheinlichsten der Dombezirk in Frage; archäologisch greifbar ist diese Hypothese allerdings nicht.
Vor den Toren von Mogontiacum
Im direkten Umland um Mogontiacum entstanden neben den zivilen Siedlungen in Weisenau und Bretzenheim mit der Zeit zahlreiche villae rusticae. Nachgewiesen wurde diese beispielsweise in Gonsenheim, Laubenheim, zwischen dem Lerchenberg und Ober-Olm und in fast allen weiteren Mainzer Vororten. Sie sorgten in zunehmendem Maße für die Versorgung Mogontiacums mit Nahrungsmitteln und weiteren landwirtschaftlichen Gütern, womit die Zivilsiedlung nach und nach die zentrale Marktfunktion für das Umland wahrnahm. Im Gonsbachtal, das zu dem Mainzer Vorort Gonsenheim gehört, wurden Ende 2013 bei Renaturierungsmaßnahmen überraschend größere Ruinenkomplexe und das hochwertig gearbeitete Relief eines gefesselten Germanen gefunden. Größe und bauliche Qualität der römischen Überreste lassen auf eine militärische Nutzung schließen. Eine größere Kreisstruktur mit 40 m Durchmesser gleicht dabei einer Ovalbahn oder einem Longierplatz im heutigen Pferdesport, so dass es sich hier – auch in Anbetracht der für Tierhaltung günstigen Bachlage samt Auwiesen – möglicherweise um eine Einrichtung für römische Kavalleristen und deren Ausbildung handelte. Mittlerweile wurde die Anlage von den zuständigen Archäologen der Direktion Archäologie Mainz, Marion Witteyer, in der Tat als Gestüt aus der Spätantike identifiziert, welches möglicherweise vom in Mogontiacum stationierten Militär betrieben wurde.
Die nächstgelegenen größeren Siedlungen waren linksrheinisch Bingium (Bingen), Altiaia (Alzey) und vor allem die Civitas Vangionum/Borbetomagus (Worms). Auch andere größere Städte wie beispielsweise Augusta Treverorum (Trier) oder die Colonia Claudia Ara Agrippinensium (Köln) waren über gut ausgebaute Straßen wie die römische Vorgängerstraße der heutigen Hunsrückhöhenstraße oder die Rheintalstraße schnell erreichbar. Rechtsrheinisch wurde im späten 1. Jahrhundert Aquae Mattiacorum (Wiesbaden) als nächstgelegener Nachbarort gegründet. Die dortigen heißen Quellen wurden von den Römern sehr geschätzt und blieben bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts in römischer Hand.
Bedeutende Einzelfunde
Im Laufe der Jahrhunderte wurden in Mainz sicherlich viele Funde aus der Zeit des antiken Mogontiacums gemacht. Finden sich im frühen und hohen Mittelalter darüber so gut wie keine Aufzeichnungen in der Geschichtsschreibung, so änderte sich dies spätestens mit der Renaissance und im folgenden Zeitalter der Aufklärung. Bedeutende Einzelfunde waren zum damaligen Zeitpunkt vor allem Steinfunde wie Grabsteine oder Denkmäler. Einen bedeutenden Zuwachs an Einzelfunden gab es dann vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als in der Stadt eine intensive Bautätigkeit begann und ältere Bauwerke wie beispielsweise die römisch-mittelalterliche Stadtmauer endgültig abgerissen wurden. Andere Kleinfunde wurden immer wieder im Rhein gemacht wie beispielsweise 1848 das „Schwert des Tiberius“. Dies ist ein sehr gut erhaltener Gladius mit reich verzierten Messingbeschlägen der Schwertscheide. Diese zeigen in qualitativ hochwertiger Ausführung Motive des offiziellen politischen und propagandistischen Bilderprogramms der Germanenpolitik des Tiberius. Beides befindet sich seit dem 19. Jahrhundert im British Museum in London, eine Kopie davon befindet sich im Römisch-Germanisches Zentralmuseum. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde eine Reihe von Einzelfunden gemacht, die heute zu den bedeutendsten Stücken der römischen Vergangenheit Mogontiacums zählen. 1962, im Jahr des vermeintlichen 2000-jährigen Jubiläums der Stadt Mainz, wurde ein Marmorkopf gefunden, der aus dem frühen 1. Jahrhundert stammt. Die dargestellte Person wird dem Julisch-Claudischen Kaiserhaus zugerechnet und wurde in einer italischen Werkstatt gearbeitet. In Mainz fand sich bisher kein qualitativ vergleichbares Gegenstück. Da der Fund ohne direkten Fundzusammenhang eher zufällig gemacht wurde, bezweifelte man anfangs die Echtheit des Stücks. Mittlerweile ist die Datierung des Marmorkopfes allerdings durch eingehende Untersuchungen gesichert.
1981 wurden in einer Baugrube in Rheinnähe insgesamt neun verschiedene Schiffsüberreste aus der frühen und späten Römerzeit gefunden. Bei den Mainzer Römerschiffen handelte es sich um die mehr oder weniger gut erhaltenen Überreste von insgesamt fünf Militärschiffen zweier unterschiedlicher Typen (Navis lusoria) sowie von zivil genutzten Frachtschiffen wie beispielsweise eines Lastkahns. Die besondere Bedeutung der Funde zog nicht nur eine aufwändige Restaurierung nach sich, sondern führte auch zur Gründung eines eigenen Forschungsschwerpunktes „Antike Schifffahrt“ in Mainz und der Einrichtung eines eigenen Museums.
1999 stieß man überraschend auf die baulichen Überreste eines Isis- und Mater-Magna-Heiligtums aus dem 1. Jahrhundert. Die dabei gemachten Funde geben einen detaillierten Einblick in den kultisch-religiösen Alltag der provinzialrömischen Bevölkerung von Mogontiacum. Von besonderer Bedeutung sind auch die hier gefundenen 34 unterschiedlichen Fluchtafeln, die den Bestand der in Deutschland bekannten Fluchtafeln nahezu verdoppelte.
Christentum in Mogontiacum
Wann das Christentum in Mogontiacum erstmals Fuß fasste, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Als derzeitiger Stand der Forschung gilt, dass es für die Zeit vor der Konstantinischen Wende weder definitive Hinweise auf ein wie auch immer organisiertes Christentum noch auf christliche Märtyrer in Mogontiacum gibt. Auch nach der Konstantinischen Wende in der Religionspolitik des Römischen Reiches kam es nur langsam zum Aufbau einer organisierten Kirchengemeinde. Aufgrund des jahrhundertelangen Status der Stadt als zentraler Militärstützpunkt dominierten noch lange andere religiöse Kulte wie der Kaiserkult und andere, beim Militär beliebte Kulte wie beispielsweise die Mithrasverehrung. Im Vergleich zu anderen, weniger militärisch geprägten Städten wie Trier oder Köln verzögerte dies insgesamt den Aufbau einer christlichen Gemeinde in Mogontiacum.
Der erste gesicherte Hinweis auf eine in Mogontiacum bestehende größere christliche Gemeinde datiert in das Jahr 368. Ammianus Marcellinus berichtete im Zusammenhang mit dem Einfall der Alamannen unter Rando von einer großen Anzahl von Christen, die sich zu einem Kirchenfest versammelten und teilweise von den Alamannen verschleppt wurden. Ammianus betont dabei ausdrücklich, dass unter den Gefangenen Männer und Frauen aller Stände waren, was auf eine bereits seit längerer Zeit etablierte christliche Gemeinde mit Gläubigen aus höheren Bevölkerungsschichten schließen lässt. Ein zweiter Hinweis auf eine große kirchliche Gemeinde in Mogontiacum liefert der spätantike Kirchenvater und Theologe Hieronymus in einem um 409 an die Gallorömerin Ageruchia geschriebenen Brief:
Hieronymus bezieht sich hier auf die Zerstörung von Mogontiacum (fälschlicherweise Mogontiacus geschrieben) im Rahmen des Rheinübergangs germanischer Völkerscharen 406/407 ebendort. Mit diesem Ereignis wird auch das Martyrium des Heiligen Alban von Mainz in Verbindung gebracht, das dieser in Mogontiacum erlitt. Zwei weitere christliche Märtyrer werden möglicherweise stattgefundenen Hunneneinfällen um 436 in Zusammenhang mit der Vernichtung des Burgunderreiches am Rhein oder später hunnischen Soldaten im Rahmen des Westfeldzuges von Attila im Jahr 451 zugeschrieben. Dabei soll es zum Martyrium des Bischofs von Mogontiacum Aureus und seiner Schwester Justina gekommen sein.
Bischöfe der Römerzeit
In der älteren Literatur wird als erster namentlich bekannter Bischof von Mogontiacum ein Mar(t)inus genannt. Als Beleg dafür gilt die Unterschrift eines Martinus episcopus Mogontiacensium auf einer Kölner Synode vom 12. Mai 346, bei der sich 14 gallische und germanische Bischöfe trafen, um den Kölner Bischof Euphrates abzusetzen und zu exkommunizieren. Mittlerweile gilt mehrheitlich die Meinung, dass die Akten dieser Synode auf eine Fälschung, wahrscheinlich aus dem 10. Jahrhundert, zurückgehen und es diese Synode, zumindest mit diesem Ziel, nicht gab. Ein Bischof Mar(t)inus ist zudem außerhalb seiner Erwähnung dort historisch nicht fixierbar.
Dies gilt auch für eine Reihe weiterer Bischofsnamen aus römischer Zeit, die in acht verschiedenen Fassungen mittelalterlicher Bischofslisten genannt werden. Beginnend mit einem Crescentius im 1. Jahrhundert, der als Schüler des Paulus von Tarsus galt, wird eine unterschiedliche Anzahl von Bischöfen bis zu dem Mitte des 6. Jahrhunderts historisch fassbaren Sidonius genannt. Als für die Mitte des 5. Jahrhunderts relativ gesichert gilt dabei nur Aureus. Möglicherweise gab es davor bereits römische Bischöfe mit den Namen Marinus, Theomastus/Theonest, Sophronius/Suffronius oder Maximus, die aber historisch nicht eindeutig, sondern allenfalls indirekt erschließbar sind. Ein Indiz für die frühere Existenz römischer Bischöfe in Mogontiacum ist der Hinweis in dem Grußwort des Kirchenlehrers Hilarius von Poitiers aus dem Jahr 358/359. Dieses widmet er unter anderen den „geliebten und seligen Brüdern und Mitbischöfen der Provinzen Germania prima und Germania secunda“.
Römische Kirchengründungen
Der Standort einer offiziellen römischen Bischofskirche sowie deren Entstehungszeit sind nach wie vor unklar und werden in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Relativ sicher ist, dass diese Kirche nicht unter dem heutigen Domgelände gelegen haben kann. Unter der nahe gelegenen evangelischen Kirche St. Johannis brachten Ausgrabungen in den Jahren 1950/51 (und 2013 bis 2017) Fundamente eines größeren spätrömischen Baus zum Vorschein. Diese wurden seitdem des Öfteren als Überreste der ersten Bischofskirche, die man sich als Kirchenfamilie mit einer Kathedrale vorzustellen hat, interpretiert. Als mögliche Entstehungszeit einer Bischofs- oder zumindest größeren Kirche wird mittlerweile der Zeitraum nach 350 und vor 368 (Erwähnung einer größeren christlichen Gemeinde durch Ammianus Marcellinus) angesehen.
Der einzige, 1907/10 archäologisch eindeutig nachgewiesene, spätrömische Sakralbau in Mogontiacum war die Basilika St. Alban. Diese Coemeterialkirche im Bereich des südlich gelegenen Gräberfeldes wurde in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts in qualitativ hochwertiger römischer Mauertechnik erbaut. Für eine Datierung in die Zeit kurz nach dem Germaneneinfall 406/407 spricht das Patrozinium des Alban von Mainz. Dessen Märtyrertod fand wahrscheinlich in Zusammenhang mit den dabei erfolgten Verwüstungen der Stadt statt. Möglicherweise gab es bereits in römischer Zeit einen Vorgängerbau, worauf vor Ort gefundene christliche Grabsteine des späten 4. Jahrhunderts hinweisen könnten. Die einschiffige apsidenlose Basilika wurde über dem Grab des Heiligen Albans erbaut und maß 15 × 30 m.
Die Entstehung weiterer Coemeterialkirchen im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert kann nur indirekt der römischen Zeit zugewiesen werden, gilt aber als wahrscheinlich. Die Kapelle und spätere Kirche St. Hilarius war bis in das 8. Jahrhundert Begräbniskirche der Mainzer Bischöfe, was für ihre frühe Bedeutung spricht. Sie entstand im Zahlbachtal, seit dem frühen 1. Jahrhundert Begräbnisstätte vorwiegend des Militärs und in der frühchristlichen Überlieferung die vallis sacra von Mogontiacum. Weiter im Norden kann für St. Theomast (namensgebend für den Dimesser Ort), St. Clemens und St. Peter (St. Peter ex muros oder auch Alt-Sankt Peter) ebenfalls eine Entstehungszeit in spätrömischer Zeit vermutet werden. Bei letzterer Kirche gilt das aufgrund der Kontinuität von Grabsteinen mit römischen und germanischen Namen als relativ sicher.
Forschungsgeschichte von Mogontiacum
Die Erforschung des römischen Mogontiacums begann im kurfürstlichen Mainz im Zeitalter der Renaissance und unter dem Einfluss des Humanismus. Immer wieder waren daran Wissenschaftler, Gelehrte aber auch Geistliche, Militärs oder Bauingenieure aus dem Umfeld des kurfürstlichen Hofes oder der Mainzer Universität beteiligt. Ein Vorreiter der Erforschung von Mogontiacum war Dietrich Gresemund, Doktor beider Rechte und Kanonikus von St. Stephan. Er sammelte römische Inschriften und verfasste bereits 1511 eine Abhandlung über seine Sammlung, die nach seinem plötzlichen Tod 1512 allerdings verloren ging. Ihm direkt nachfolgend publizierte Johannes Huttich mit Förderung durch Kurfürst Albrecht von Brandenburg 1520 sein Werk Collectana antiquitatum in urbe atque agro Moguntino repertarum. Weitere Erforscher der römischen Geschichte waren der Mainzer Domvikar Georg Helwich, dessen Werk Antiquitates Moguntiacenses ebenso verloren ging wie Schriften von Heinrich Engels, Dekan des Stiftes St. Peter oder von Johann Kraft Hiegell, seines Zeichens kurfürstlich mainzischer Militärmedicus. Auch der Kommandant der Festung Mainz, Johann Freiherr von Thüngen, reihte sich in den Kreis der Sammler römischer Denkmäler und Buchautoren ein. Aufgrund der intensiven Bautätigkeit in Mainz nach dem Dreißigjährigen Krieg, vor allem beim Ausbau der Festung Mainz, wurden viele römische Steindenkmäler gefunden, die Thüngen aus erster Hand begutachten und beschreiben konnte. Auch dieses Werk ist nicht mehr erhalten.
Ein wichtiger Zeitabschnitt in der Forschungsgeschichte der römischen Vergangenheit von Mainz war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Noch 1765 verschenkte der Mainzer Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim alle bisher gefundenen und gesammelten römischen Steindenkmäler an Kurfürst Karl-Theodor von der Pfalz. Nachdem er auf diese Weise der Bestand der römischen Steindenkmäler drastisch dezimierte (einige dieser Stücke finden sich noch heute in den Reiss-Engelhorn-Museen der Stadt Mannheim), beauftragte er im Gegenzug den Benediktinerpater Joseph Fuchs mit einer umfangreichen Schrift über die Mainzer Geschichte. Pater Fuchs’ Werk der Alten Geschichte von Mainz wurde von ihm großzügig gefördert und erschien 1771/72 mit den ersten beiden Bänden. Weitere Bände waren vorgesehen, teilweise existierten sogar schon Manuskripte, aber der Tod seines Mäzens 1774 unterbrach die Arbeit von Fuchs. Trotzdem gelten die beiden erschienenen Bände mit ihren zahlreichen Kupferstichen römischer Inschriften und Denkmäler und die Arbeit von Fuchs im Allgemeinen als bedeutender Durchbruch in der Erforschung und Dokumentation der römischen Vergangenheit von Mainz. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts begann auch die öffentliche Ausstellung gesammelter römischer Steindenkmäler. 1784 wurde unter Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal das erste kurmainzische Denkmalpflege-Gesetz erlassen und ein der Mainzer Universität zugeordnetes Münz- und Antiquitätenkabinett gegründet.
In den Jahren der Zugehörigkeit von Mainz zum französischen Reich (1792/93 und 1798 bis 1814) war es vor allem der Bibliothekar und Universitätsprofessor Friedrich Lehne, der sich in größerem Maße für die römische Vergangenheit von Mayence einsetzte. Begünstigt wurde sein Engagement durch die französische Administration, die bereits 1798 eine Commission pour la conservation des antiques einsetzte, und mit dem Conservatoire des antiques à Mayence ein „Altertümermuseum“ plante. Bei der 1802 gegründeten Société départementale, deren Sekretär Lehne war, spielte die römische Vergangenheit ebenfalls eine große Rolle. Lehne hielt zahlreiche Vorträge zur römischen Geschichte und schrieb zum gleichen Thema Abhandlungen, so beispielsweise über den Eichelstein. Mit Unterstützung des französischen Präfekten Jeanbon St. André führte er die ersten systematischen Ausgrabungen in Mainz durch. Bei dem ehemaligen Militärfriedhof am Hang des Zahlbacher Tals legte er eine große Anzahl Militärgrabsteine frei. Mit diesen und älteren Fundstücken richtete er in der ehemaligen Burse am Neubrunnenplatz eine öffentlich zugängliche Antiquitätenhalle ein. Deren Sammlung römischer Steindenkmäler nahm schnell an Bedeutung zu und zog auch bekannte Gäste wie Johann Wolfgang von Goethe an, der über sie mehrfach berichtete. Später ging diese Sammlung in das Mainzer Altertumsmuseum (das heutige Landesmuseum Mainz) über und wird heute dort in der so genannten Steinhalle, der ehemaligen Reithalle des Kurfürstlichen Marstalls, gezeigt.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren örtliche Honoratioren wie Karl Anton Schaab (Kurfürstlich-Mainzischer Hofgerichtsadvokat und später Vizepräsident des Kreisgerichts), Nikolaus Müller (Maler, Schriftsteller und Konservator der Gemäldegalerie) oder Ludwig Lindenschmit der Jüngere (Künstler, später Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums) die treibenden Kräfte bei der Erforschung der römischen Vergangenheit von Mayence/Mainz. 1841 wurde in Mainz die Gesellschaft der Freunde vaterländischer Geschichtsforschung und Altertumskunde gegründet, 1852 das Römisch-Germanische Zentralmuseum. Dieses sicherte erstmals die Bearbeitung, Auswertung und Erhaltung der römischen Funde wissenschaftlich ab. 1875 wurde die Arbeit Die römischen Inschriften und Steindenkmäler des Museums der Stadt Mainz von J. Becker publiziert, die bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt vier Mal ergänzt und erweitert wurde. Zwischen 1904 und 1907 wurden alle bis dahin bekannten römischen Inschriften im Corpus Inscriptionum Latinarum (Band XIII) publiziert. Seit den 1980er-Jahren liegt die Erforschung der römischen Vergangenheit von Mainz in den Händen des Landes Rheinland-Pfalz, die über die Außenstelle Mainz der Direktion Landesarchäologie Rheinland-Pfalz (Teil der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, GDKE) die archäologische Betreuung sicherstellt.
Museale Aufbereitung der römischen Geschichte von Mainz
Das 1803 gegründete heutige Landesmuseum Mainz beherbergte seit seiner Gründung eine bedeutende Sammlung römischer Steindenkmäler von Mogontiacum. Diese besteht aus circa 2000 Einzelstücken, davon knapp über 1000 vollständig erhalten. Enthalten sind unter anderem zivile und militärische Grabdenkmäler, Altäre, Inschriften, Architekturteile und bekannte Einzelfunde wie die große Mainzer Jupitersäule, der Dativius-Victor-Bogen, der Bronzekopf einer keltischen Göttin („Rosmerta“) oder der „Mainzer Marmorkopf“. Nach über 200 Jahren wurde die Sammlung 2010 ausgegliedert und dem Römisch-Germanischen Zentralmuseum (RGZM) zugeteilt, das diese ab 2024 in seinem zukünftigen Neubau am Bahnhof Mainz Römisches Theater zeigen wird. Des Weiteren weist das Museum eine umfangreiche römerzeitliche Sammlung bestehend aus Tonwaren, Gläsern, Militärausrüstung, Schmuck und anderen Kleinfunden auf.
Das RGZM wurde 1852 aufgrund der Aktivitäten von Ludwig Lindenschmit dem Älteren und anderen Mitgliedern des Mainzer Altertumsvereins gegründet und befindet sich derzeit noch im Kurfürstlichen Schloss Mainz. Ein Umzug in neue Gebäude am Südbahnhof Mainz ist allerdings geplant. Neben verschiedenen anderen Themenabteilungen widmet sich das RGZM in einer Abteilung der Provinzialrömischen Archäologie und stellt hier ebenfalls größtenteils in Mainz gemachte Funde aus. Das RGZM gibt mit dem Archäologischen Korrespondenzblatt, den Jahrbüchern des RGZM sowie weiteren monographischen Fachwerken eigene Publikationen heraus.
Zu dem Museum gehören außerdem die weltweit renommierten Restaurationswerkstätten des RGZM und das als Außenstelle ausgegliederte Museum für Antike Schifffahrt mit dem Forschungsbereich Antike Schifffahrt. Dieser Forschungsbereich entstand nach der Bergung und Restauration der Mainzer Römerschiffe. Nachfolgend kam es zur Gründung des Museums, das seit 1994 am Mainzer Südbahnhof (heute Bahnhof Mainz Römisches Theater) beheimatet ist. Hier werden neben weiteren Ausstellungsstücken zum Thema die restaurierten römerzeitlichen Schiffe der Schiffsfunde von 1981/82 und der Nachbau zweier Kriegsschiffe in Originalgröße ausgestellt.
Im Untergeschoss der Römerpassage in der Mainzer Innenstadt werden zusammen mit den baulichen Überresten des dort aufgefundenen Isis- und Mater-Magna-Heiligtums auch zahlreiche Kleinfunde ausgestellt, die bei den Ausgrabungen zu Tage kamen. Ebenfalls der römischen Vergangenheit widmen sich einige kleinere Ortsmuseen wie beispielsweise in Mainz-Kastel das Museum Castellum und lokale kleinere Ausstellungen in Banken, Ministerien oder anderen öffentlichen Gebäuden in Mainz.
Siehe auch
Chronologie von Mogontiacum
Liste der Kastelle des Donau-Iller-Rhein-Limes
Literatur
Übersichtswerke (Auswahl)
Ronald Bockius, Stephan Pelgen, Marion Witteyer: Streifzüge durch das römische Mainz. Philipp von Zabern, Mainz 2001; 2. Auflage 2003.
Heinz Cüppers (Hrsg.): Die Römer in Rheinland-Pfalz. Theiss, Stuttgart 1990; Lizenzausgabe Nikol Verlag, Hamburg 2005, ISBN 3-933203-60-0.
Karl-Viktor Decker, Wolfgang Selzer: Mainz von der Zeit des Augustus bis zum Ende der römischen Herrschaft. In: Hildegard Temporini, Wolfgang Haase (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt: Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II.5.1, Walter de Gruyter, Berlin 1976, ISBN 3-11006-690-4, S. 457–559.
Franz Dumont (Hrsg.), Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz: Mainz – Die Geschichte der Stadt. 2. Auflage. Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2000-0. Darin insbesondere:
Marion Witteyer: Mogontiacum – Militärbasis und Verwaltungszentrum. Der archäologische Befund. S. 1021–1059.
Gabriele Ziethen: Mogontiacum. Vom Legionslager bis zur Provinzhauptstadt. S. 39–71.
Karl Heinz Esser: Mogontiacum. In: Bonner Jahrbücher. Band 172, 1972, S. 212–227.
Thomas Fischer: Die Römer in Deutschland. 2. durchgesehene Auflage. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1325-9.
Hans Jacobi: Mogontiacum – Das römische Mainz. Regio Kunst-Verlag, Mainz 1996, ISBN 3-00-001115-3.
Michael J. Klein (Hrsg.): Die Römer und ihr Erbe. Fortschritt durch Innovation und Integration. Philipp von Zabern, Mainz 2003, ISBN 3-8053-2948-2. Darin insbesondere:
Rudolf Haensch: Mogontiacum als „Hauptstadt“ der Provinz Germania superior. S. 71–86.
Olaf Höckmann: Mainz als römische Hafenstadt. S. 87–106.
Leonhard Schumacher: Mogontiacum. Garnison und Zivilsiedlung im Rahmen der Reichsgeschichte. S. 1–28.
Ronald Knöchlein: Mainz – Zwischen Römern und Bonifatius. Siedlungsfunde der Merowingerzeit. Philipp von Zabern, Mainz 2004, ISBN 3-935970-01-3 (Archäologische Ortsbetrachtungen, Band 2).
Hans Werner Nopper: Die vorbonifatianischen Mainzer Bischöfe. Eine kritische Untersuchung der Quellen zu den Anfängen des Bistums Mainz und zur Zuverlässigkeit der Bischofslisten. Books on Demand GmbH 2002, ISBN 3-83112-429-9.
Stephan Pelgen: Mainz – Vom „elenden Steinklumpen“ zum Denkmal. Aus der Geschichte der Mainzer Römerruinen. Philipp von Zabern, Mainz 2003, ISBN 3-8053-3283-1 (Archäologische Ortsbetrachtungen, Band 3).
Gerd Rupprecht: Mogontiacum – Mainz als römische Provinzhauptstadt und Militärbasis. In: Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz. Band 2.2.: Stadt Mainz – Altstadt. In: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. 3. Auflage. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997, ISBN 3-88462-139-4, S. 11 ff.
Armin und Renate Schmid: Die Römer an Rhein und Main. Neu bearbeitet und aktualisiert von Andreas Möhn. Societäts-Verlag, Frankfurt 2006, ISBN 3-7973-0985-6.
Literatur zu speziellen Themen oder Aspekten (Auswahl)
Jürgen Blänsdorf: Die Defixionum Tabellae des Mainzer Isis- und Mater Magna-Heiligtums. Defixionum tabellae Mogontiacensis (DTM) (= Mainzer Archäologische Schriften. Band 9). Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Landesarchäologie, Mainz 2012, ISBN 978-3-935970-09-9.
Ronald Bockius: Die spätrömischen Schiffswracks aus Mainz. Schiffsarchäologisch-technikgeschichtliche Untersuchungen spätantiker Schiffsfunde vom nördlichen Oberrhein. Verlag des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz, Mainz 2006 / Schnell & Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-79541-965-4; ISBN 978-3-7954-1965-3 (Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz Band 67).
Walburg Boppert: Zur Ausbreitung des Christentums in Obergermanien unter besonderer Berücksichtigung der Situation in der Provinzhauptstadt Mogontiacum. In: Wolfgang Spickermann, Hubert Cancik, Jörg Rüpke (Hrsg.): Religion in den germanischen Provinzen Roms. Mohr Siebeck, Tübingen 2001, ISBN 3-1614-7613-1, S. 361–402.
Hans G. Frenz: Zum Beginn des repräsentativen Steinbaus in Mainz. In: Rudolf Aßkamp (Hrsg.): Die römische Okkupation nördlich der Alpen zur Zeit des Augustus (Kolloquium Bergkamen 1989). Aschendorff, Münster 1991, ISBN 3-402-05139-7, S. 85–96.
Alexander Heising: Die römische Stadtmauer am Eisgrubweg in Mainz. In: Mainzer Archäologische Zeitschrift 5/6, 1998/99 (2005), S. 163–216.
Alexander Heising: Figlinae Mogontiacenses. Die römischen Töpfereien von Mainz. BAG-Verlag, Remshalden 2007, ISBN 978-3-935383-82-0 (Ausgrabungen und Forschungen 3).
Alexander Heising: Die römische Stadtmauer von Mogontiacum – Mainz. Archäologische, historische und numismatische Aspekte zum 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. Verlag Dr. Rudolf Habelt, Bonn 2008, ISBN 978-3-7749-3606-5.
Alexander Heising: Mogontiacum-Mainz in der Spätantike – ein Forschungsbericht zur konstantinischen Epoche. In: Alexander Reis (Hrsg.): Das Rhein-Main-Gebiet in der Spätantike – Beiträge zur Archäologie und Geschichte. Akten der Tagung in Obernburg am Main vom 12.–13. April 2018. Verlag Dr. Faustus, Büchenbach 2022, ISBN 978-3-946387-39-8, S. 71–116.
Andreas Panter: Der Drususstein in Mainz und dessen Einordnung in die römische Grabarchitektur seiner Erbauungszeit. Archäologische Denkmalpflege Amt Mainz, 2007, ISBN 978-3-935970-03-7 (Mainzer Archäologische Schriften, Band 6).
Stephan Pelgen: Aquädukt-Ansichten – Aus der Denkmalgeschichte der Wasserversorgung für das römische Mainz. Philipp von Zabern, Mainz 2004, ISBN 3-8053-3452-4 (Archäologische Ortsbetrachtungen. Band 5).
Gerd Rupprecht (Hrsg.): Die Mainzer Römerschiffe – Berichte über Entdeckung, Ausgrabung und Bergung. Dr. Hanns Krach, Mainz 1982, ISBN 3-87439-078-0.
Gerd Rupprecht: Wo einst Gedenkfeier und Schauspiel stattfanden. Das römische Bühnentheater von Mogontiacum/Mainz. In: Antike Welt. Band 31, 2000, S. 157–161.
Ralf Scharf: Der Dux Mogontiacensis und die Notitia Dignitatum. de Gruyter, Berlin 2005, ISBN 3-11-018835-X.
Wolfgang Selzer, Karl-Victor Decker, Aníbal do Paço Quesado: Römische Steindenkmäler. Mainz in römischer Zeit. Philipp von Zabern, Mainz 1988, ISBN 3-8053-0993-7.
Wolfgang Spickermann: Mogontiacum (Mainz) als politischer und religiöser Zentralort der Germania superior. In: Hubert Cancik, Alfred Schäfer, Wolfgang Spickermann (Hrsg.): Zentralität und Religion. Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-1614-9155-6 (Studien und Texte zu Antike und Christentum. 39).
Marion Witteyer und Peter Fasold (Herausgeber): Des Lichtes beraubt. Totenehrung in der römischen Gräberstraße von Mainz-Weisenau. Ausstellungskatalog, Wiesbadener Graphische Betriebe, Wiesbaden 1995, ISBN 3-88270-327-X
Publikationsreihen (Auswahl)
Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Archäologie Mainz (Hrsg.): Mainzer Archäologische Zeitschrift. Philipp von Zabern, .
Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Archäologie Mainz (Hrsg.): Mainzer Archäologische Schriften. Philipp von Zabern.
Gerd Rupprecht (Hrsg.): Archäologische Ortsbetrachtungen. Band 1 bis 10, Philipp von Zabern, Mainz ab 2004.
Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Archäologie Mainz (Hrsg.): Archäologie in Rheinland-Pfalz 2002. Philipp von Zabern, Mainz 2003, ISBN 3-8053-3093-6 (Jahrgänge 2002 bis 2006 erschienen)
Stadtbibliothek Mainz, Stadtarchiv, Mainzer Altertumsverein, Landesmuseum Mainz, Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Archäologie Mainz, Stadtarchiv und Stadtbibliothek Mainz (Hrsg.): Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte. Philipp von Zabern, Mainz (erscheint seit 1845).
Sachbuch für Kinder und Jugendliche
Margot Klee: Linus aus Mogontiacum. Geschichten aus einer römischen Stadt für Kinder und Junggebliebene. Mit Zeichnungen von Lydia Schuchmann. 1. Auflage, Philipp von Zabern, Mainz 2005, ISBN 3-8053-3474-5.
Weblinks
Mainz in römischer Zeit (Stadt Mainz Online)
Generaldirektion Kulturelles Erbe – Direktion Archäologie Mainz
Theatrum Mogontiacensium – Römisches Bühnentheater Mainz (Webseite der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Landesarchäologie Mainz)
LINK 3D – Virtuelle Rekonstruktion Mogontiacum
Anmerkungen
Römische Stadt in Germanien
Archäologischer Fundplatz in Mainz
Römische Befestigungsanlage (Germania superior)
Ortsname keltischer Herkunft
Imperium Galliarum |
3394050 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gesundheitssystem%20der%20Vereinigten%20Staaten | Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten | Das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten umfasst alle Personen sowie alle staatlichen und privaten Organisationen und Einrichtungen, deren Aufgabe die Förderung und Erhaltung der Gesundheit sowie die Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen ist. Ebenso umfasst es alle Regelungen, welche die Beziehungen im Gesundheitswesen zwischen Versicherungen, Versicherten, Leistungserbringern und anderen eingebundenen Gruppen betreffen. Die einschlägigen Regelungen behandelten den Krankenversicherungsschutz der Einwohner bis zum Jahr 2014 grundsätzlich als private Angelegenheit, eine allgemeine Krankenversicherungspflicht war nicht vorgesehen. Eine staatliche Gesundheitsfürsorge gibt es für Einwohner, die jünger als 65 Jahre sind, nur in Ausnahmefällen. 2008 waren 45,7 Millionen oder 15,3 % der rund 300 Millionen Einwohner weder privat krankenversichert, noch konnten sie staatliche Hilfe beanspruchen. In medizinischen Notfällen sind Krankenhäuser unter dem Emergency Medical Treatment and Labor Act (EMTALA) gesetzlich verpflichtet, unversicherte oder nicht ausreichend versicherte Patienten auch dann in der Notaufnahme zu behandeln, wenn absehbar ist, dass diese die Rechnung nicht bezahlen können. Bei Gesundheitsproblemen, die (noch) nicht die Stufe eines medizinischen Notfalls erreichen, dürfen solche Patienten aber abgewiesen werden.
2008 waren 84,7 % der Einwohner der USA bei einer privaten Krankenversicherung leistungsberechtigt oder hatten Anspruch auf staatliche Gesundheitsfürsorge. Bei 59,3 % der Einwohner wird Krankenversicherungsschutz durch den Arbeitgeber vermittelt, 8,9 % der Einwohner haben sich selbst versichert (Direktversicherung) und 27,8 % haben einen Anspruch auf staatliche Gesundheitsfürsorge (bei den Prozentzahlen ist zu beachten, dass einige Personen im Jahresverlauf den Versicherungsstatus gewechselt haben und somit mehrfach erfasst sind).
Die Einwohner der Vereinigten Staaten gaben 2008 pro Kopf 7536 $ für das Gesundheitssystem aus, das ist rund doppelt so viel wie in Deutschland (3692 Int. $) oder Österreich (3836 Int. $) und immer noch deutlich mehr als in der Schweiz (4620 Int. $). Das US-Gesundheitssystem ist weltweit mit Abstand das teuerste.
Im Jahr 2010 wurde nach intensiver Reformdiskussion der Patient Protection and Affordable Care Act („Obamacare“) verabschiedet. Mit diesem wurde beginnend ab dem Jahr 2014 eine Versicherungspflicht für die meisten Einwohner eingeführt. Einkommensschwache Einwohner erhalten einen staatlichen Zuschuss zu den Krankenversicherungsbeiträgen, den Krankenversicherungsgesellschaften wird es verboten, Kunden mit Vorerkrankungen zu benachteiligen. Die Zahl der Bürger ohne einen privaten oder öffentlichen Krankenversicherungsschutz sank bis 2015 auf 29 Millionen oder 9,1 % der Bevölkerung.
Geschichte
Bei den amerikanischen Ärzten waren Krankenversicherungen zunächst nicht sehr beliebt, unter anderem auch weil befürchtet wurde, dass diese die Preise herunterhandeln könnten. Die American Medical Association formulierte 1919 die Forderung, dass nichts zwischen Arzt und Patient treten soll. Während der großen Depression in den 1930er Jahren erkannten aber viele Arbeiter und auch Ärzte und Krankenhäuser den Nutzen von Krankenversicherungen, da nur noch wenige Einwohner genug Geld besaßen, um im Ernstfall einen Arzt bezahlen zu können. Krankenversicherungen hingegen halfen den Einwohnern, das Geld für größere Gesundheitsleistungen nach und nach anzusparen. In dieser Zeit entstanden die ersten großen Krankenversicherungen. Dabei handelte es sich um unabhängige Versicherungen unter dem gemeinsamen Namen Blue Cross oder Blue Shield (Franchisenehmer), die ihre Versicherungsnehmer gegen monatliche Beitragszahlungen in vertraglich festgelegtem Umfang von den Kosten für Gesundheitsleistungen freistellten. Bis Ende der 1960er Jahre bestand eine unmittelbare Arzt-Patient-Beziehung, wobei der Arzt unbeeinflusst von Krankenversicherungen entscheiden konnte. Patienten reichten die Rechnungen an die Krankenversicherung ein, Zuzahlungen des Patienten waren unüblich. Für schwerere Krankheiten standen kleinere unabhängige Krankenhäuser zur Verfügung, die weit überwiegend in gemeinnütziger Form betrieben wurden.
Während des Zweiten Weltkrieges standen Löhne und Preise eine Zeit lang unter staatlicher Kontrolle. Die Gewerkschaften forderten daher anstelle von Lohnerhöhungen die Zusage von Gesundheitsleistungen durch den Arbeitgeber; dies gilt als Stunde Null des arbeitgebervermittelten Krankenversicherungsschutzes. 1960 betrugen die Kosten des Gesundheitssystems zwar nur 5,2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP); die Gesundheitsausgaben pro Einwohner lagen aber im weltweiten Vergleich bereits 20 % höher als im zweitteuersten Land. Dabei wurden nur 21 % aller Kosten für Gesundheitsversorgung von privaten Krankenversicherungen bezahlt, staatliche Gesundheitsfürsorgeprogramme gab es kaum; die meisten Einwohner verfügten also über keine Krankenversicherung, sondern bezahlten die Rechnungen selbst oder verzichteten auf die Inanspruchnahme von Ärzten. Aufgrund medizinischer Fortschritte in den 1950er Jahren wurden Operationen weniger riskant als früher und konnten häufiger eine Heilung herbeiführen. Dadurch wuchs die Nachfrage nach Krankenhausleistungen und auch die nach Krankenversicherungen.
Am 30. Juli 1965 führte Präsident Lyndon B. Johnson mit dem Social Security Act of 1965 Ergänzungen zur 1935 eingeführten Sozialversicherung ein. Der steuer- und beitragsfinanzierte Gesundheitsschutz umfasst
die Medicare, eine öffentliche und bundesstaatliche Krankenversicherung überwiegend für Rentenbezieher ab einem Alter von 65 Jahren, und
die Medicaid, eine Krankenfürsorge für besonders bedürftige Menschen. Diese wird nur durch Steuern des Bundes, der Bundesstaaten und der Gemeinden finanziert.
Ende der 1960er Jahre gingen immer mehr Versicherungen wie Kaiser Permanente dazu über, die Arztwahl zu beschränken. Festgelegte primary-care-Vertragsärzte übernahmen nicht nur die Grundversorgung, sondern entschieden als Gatekeeper auch darüber, ob ein Versicherungsnehmer zu (teureren) spezialisierten Ärzten oder in ein Krankenhaus überwiesen wird. Auch gingen viele Versicherungen dazu über, ihren Vertragsärzten Behandlungsanweisungen zu geben. Solche Krankenversicherungen entwickelten sich so zu Health Maintenance Organizations. Diese wurden mit dem Health Maintenance Organization Act von 1973 durch die Bundesregierung finanziell und rechtlich gefördert. Da die medizinischen Fortschritte größere Investitionen der Leistungserbringer erforderten, entstanden in den 1970er und 1980er Jahren große Krankenhausketten wie die Hospital Corporation of America (HCA); diese entwickelten ebenfalls Behandlungsanweisungen für Ärzte und Pflegekräfte, damit die Krankenhäuser effizienter arbeiteten.
In der staatlichen Krankenversicherung Medicare wurde 1983 das Prospective payment system eingeführt, um die Kosten von Behandlungen transparent und nachvollziehbar zu machen und um zu verhindern, dass unnötige Behandlungen (demand inducement) abgerechnet werden können. Danach werden die Patienten anhand der Diagnosen und der durchgeführten Behandlungen in Fallgruppen (Diagnosis Related Groups = Diagnosebezogene Fallgruppen) klassifiziert. Die Diagnosis Related Groups sind nach dem für die Behandlung erforderlichen ökonomischen Aufwand unterteilt.
1986 hatten zwischen 25 und 37 Millionen Bürger unter 65 Jahren keinen Krankenversicherungsschutz.
Private Krankenversicherungen
Verschiedene Arten privater Krankenversicherungen
Die meisten privaten Krankenversicherungen in den USA lassen nur eine beschränkte Arztwahl zu. Der Hintergrund ist, dass im Gesundheitswesen prinzipiell kein vollkommener Markt besteht. Versicherungsnehmer haben keinen Anreiz zu Sparsamkeit, da sie von den Kosten der Gesundheitsversorgung durch die Krankenversicherung freigestellt werden (Moral Hazard). Ebenso haben die Erbringer von Gesundheitsleistungen (Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie etc.) keinen Anreiz zu Sparsamkeit. Außerdem haben Patienten in der Regel nicht genug medizinische Kenntnisse, um selbst beurteilen zu können, welche Leistungen notwendig sind beziehungsweise von welcher Qualität die angebotenen Leistungen sind.
Managed-care-Modelle versuchen deshalb Angebot, Nachfrage und Finanzierung so miteinander zu verknüpfen, dass es nicht zu einer automatischen Kostenexplosion kommt. Dies soll hauptsächlich durch drei Strategien erreicht werden: Die erste Strategie beinhaltet, dass Verträge möglichst mit den Erbringern von Gesundheitsleistungen geschlossen werden, die bei hinreichender Qualität am billigsten sind (selective contracting). Anreize zur Sparsamkeit (innovative incentives) machen die zweite Strategie aus: So müssen Patienten häufig bei Behandlungen Zuzahlungen leisten, damit sie diese nicht leichtfertig in Anspruch nehmen. Ärzte und Nurse Practitioners bekommen häufig Bonuszahlungen, wenn sie möglichst wenig Patienten zu Spezialärzten oder in Krankenhäuser überweisen. Die dritte Strategie ist die Auswertung von Patientenhistorien dahingehend, dass die billigste Therapie gefunden werden kann (“utilization review”). Zu den Managed-Care-Modellen gehören neben den Health Maintenance Organizations auch Preferred Provider Organizations.
So genannte Health Maintenance Organizations (HMOs) sind vertraglich verpflichtet, ihre freiwilligen Mitglieder mit ambulanten, stationären und zum Teil auch zahnärztlichen Leistungen zu versorgen. Es werden auch die Kosten für Behandlungen durch Leistungserbringer übernommen, sofern diese zum Netzwerk der Vertragspartner dazugehören. Der monatliche Beitrag ist fix und unabhängig von der Inanspruchnahme der Leistungen. Selbstbeteiligung an den Kosten gibt es nur in Ausnahmefällen. Zu den großen Anbietern gehört beispielsweise Kaiser Permanente, die auch eigene Kliniken besitzt. Die HMOs haben ein Jahresbudget, nach dem sich die Beiträge für die Versicherungsnehmer richten. Der Vorteil dieses Geschäftsmodells ist, dass die Kosten aufgrund von Synergieeffekten geringer sind. HMOs erlassen gegenüber ihren Vertragspartnern Behandlungsgrundsätze, deren Einhaltung auch überwacht wird. Der Nachteil ist, dass ein Versicherter nur bei Ärzten und Kliniken behandelt wird, die dem jeweiligen Netzwerk angehören.
Seit den 1990er Jahren hat der Marktanteil von PPOs (Preferred Provider Organizations) deutlich zugenommen. Im Jahr 2002 hatten PPOs bereits einen Marktanteil von 52 Prozent erreicht. Bei diesem Geschäftsmodell werden auch Kosten erstattet, die nicht bei Vertragsärzten und Vertragskliniken entstanden sind. Bei der Behandlung durch Vertragsärzte oder Vertragskliniken trägt der Versicherte aber einen geringeren Eigenanteil.
Herkömmliche Krankenversicherungen kennen demgegenüber keine Beschränkung bei der Arztwahl. Bei diesen Krankenversicherungen ist die Kostenübernahme weniger stark reglementiert, allerdings sind die Versicherungsbeiträge höher als bei HMOs und PPOs. Klassische Krankenversicherungen haben noch einen Marktanteil von 3 % halten können.
Versicherungsschutz über den Arbeitgeber
Überblick
Die meisten Amerikaner erhalten Versicherungsschutz über ihren Arbeitgeber (59,3 %). Allerdings ist dies eine freiwillige Sozialleistung des jeweiligen Arbeitgebers, auf die kein Anspruch besteht, sofern sie nicht Teil eines Tarifvertrags ist. Die Zahl der Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten Krankenversicherungsschutz bieten, sinkt seit einiger Zeit. Im Jahr 2000 haben 68 % der kleinen Unternehmen mit 3 bis 199 Beschäftigten Krankenversicherungsprogramme angeboten, 2007 waren es nur noch 59 % der kleinen Unternehmen. Bei den großen Unternehmen mit mehr als 199 Beschäftigten dagegen boten 99 % der Unternehmen Krankenversicherungsprogramme an; diese Zahl ist im Jahr 2007 gleich geblieben. Als Hauptgrund wird angesehen, dass die Kosten für Krankenversicherungen stark gestiegen sind. So sind die durchschnittlichen Versicherungsbeiträge für eine Familienversicherung im Zeitraum zwischen 2001 und 2007 zum Beispiel um 78 % gestiegen, während die Durchschnittslöhne um 19 % gestiegen sind und die Inflation 17 % betrug.
Der Staat fördert Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Versicherungsschutz anbieten, mit einer Steuerbefreiung der Versicherungsbeiträge in der Einkommensteuer.
Gruppenversicherung
Die Absicherung der Angestellten durch Abschluss von Gruppenversicherungen bei einer oder mehreren Versicherungen ist eine Möglichkeit, den Arbeitnehmern Gesundheitsfürsorge zuzusagen. Ähnlich wie in Deutschland teilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer üblicherweise die Kosten. Die Arbeitnehmer zahlen durchschnittlich 17 % des Beitrags bei einer Single-Versicherung und 27 % des Beitrags bei einer Familienversicherung, den Rest zahlt der Arbeitgeber. Allerdings ist es üblich, dass Arbeitnehmer für in Anspruch genommene Leistungen Zuzahlungen leisten müssen. Anders als in Deutschland ist der Arbeitgeber für die Versicherung Vertragspartner, das heißt, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber wechselt, endet das alte Versicherungsverhältnis. Diese Art der Versicherung ist besonders bei kleineren Unternehmen beliebt, 85 % der Unternehmen mit bis zu 199 Mitarbeitern haben den Krankenversicherungsschutz über Gruppenversicherungen abgeschlossen. 43 % aller über den Arbeitgeber versicherten Arbeitnehmer sind auf diese Art versichert.
Eigenversicherung
Gemäß dem Employee Retirement Income Security Act haben Unternehmen auch die Möglichkeit, die Versicherungsleistung selbst zu erbringen, dies wird Self Insurance genannt. Sehr große Unternehmen erbringen die Versicherungsleistung häufig selbst. Bei Arbeitgebern mit Tausenden von Angestellten ist der Risikopool groß genug, um das Kostenrisiko versicherungsmathematisch zu kalkulieren. In diesem Fall schließt der Arbeitgeber häufig keinen Vertrag mit Versicherungsunternehmen ab, sondern verwaltet den Gesundheitsfonds selbst und spart sich entsprechende Versicherungsbeiträge. Wenn es die Versicherungsleistungen genauso gut verwaltet wie Versicherungsunternehmen, ergibt sich ein Sparpotential; insbesondere ergibt sich die Chance, den Gewinnzuschlag der Versicherungsunternehmen zu sparen. Weiterhin fällt in diesem Fall keine Versicherungssteuer an, die in den USA (je nach Bundesstaat) zwischen 2 und 3 % der Versicherungsbeiträge ausmacht. Ein weiterer Vorteil ist die größere Flexibilität, da in diesem Fall der gesetzliche Mindestumfang des Versicherungsschutzes nicht gilt und der Arbeitgeber (mit Wirkung für die Zukunft) frei entscheiden kann, welche Behandlungskosten übernommen werden. Der Umfang des vom Arbeitgeber zugesagten Versicherungsschutzes kann insbesondere bei einer sich verschlechternden Gewinnsituation jederzeit verringert werden.
Mittelgroße Unternehmen bevorzugen Self-Funded Health Care. Dies ist eine Variante der Self Insurance. Auch hier erbringt das Unternehmen die Versicherungsleistungen selbst. Das Unternehmen nimmt aber die Hilfe von Versicherungsunternehmen insoweit in Anspruch, als bestimmte Verwaltungsleistungen wie zum Beispiel der Zugang zu einem Preferred Provider Netzwerk mit dem Vorteil der Kostenkontrolle im Sinne der Managed care oder das Einziehen von Beiträgen durch Versicherungsunternehmen übernommen werden. Weiterhin wird häufig ein Stop-Loss-Vertrag mit Versicherungsunternehmen abgeschlossen, um die in einem kleineren Risikopool schlechter kalkulierbaren finanziellen Risiken zu begrenzen.
Eine Absicherung der Arbeitnehmer durch Self Insurance oder Self-Funded Health Care findet bei 48 % aller Firmen mit 200 bis 999 Mitarbeitern statt, bei Firmen mit mehr als 999 Mitarbeitern beträgt der Anteil bereits über 80 %. 57 % aller über den Arbeitgeber versicherten Arbeitnehmer sind auf diese Art versichert.
Übertragbarkeit der arbeitgebervermittelten Krankenversicherung
Wenn ein Arbeitnehmer von einem Arbeitgeber zum nächsten wechselt, so muss er auch zu der vom neuen Arbeitgeber abgeschlossenen Gruppenversicherung wechseln. Dabei muss er auch einen Gesundheitstest absolvieren, die rechtlichen Folgen von Vorerkrankungen (siehe Problematik der Vorerkrankungen) sind aber durch den Health Insurance Portability and Accountability Act (HIPAA) abgemildert.
Ein Arbeitnehmer, der sich selbständig macht, muss sich eine Direktversicherung suchen, da die über den Arbeitgeber vermittelte Versicherung mit dem letzten Arbeitstag ausläuft.
Verliert ein Arbeitnehmer hingegen seine Beschäftigung, so kann er sich gemäß dem Consolidated Omnibus Budget Reconciliation Act of 1985 (COBRA) in der arbeitgebervermittelten Krankenversicherung bis zu 18 Monate lang weiterversichern lassen. Voraussetzung dafür ist in den meisten Bundesstaaten aber, dass der ehemalige Arbeitgeber mindestens 20 Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt und dass der Arbeitgeber nicht in Insolvenz gefallen ist. Wenn COBRA in Anspruch genommen wird, muss 2 % der Versicherungsprämie als Verwaltungsgebühr zusätzlich abgeführt werden. Für den ehemaligen Arbeitnehmer ergibt sich eine erhebliche Kostensteigerung, denn ein durchschnittlicher Arbeitnehmer verfügt über eine Familienversicherung für 12.680 $ Jahresprämie. Solange er bei dem Arbeitgeber beschäftigt ist, zahlt er aber zumeist nur 27 % oder 3423,60 $ selbst, den Rest zahlt der Arbeitgeber. Im Falle der Arbeitslosigkeit muss er den gesamten Versicherungsbetrag zuzüglich 2 % COBRA-Gebühr jedoch selbst tragen. Wird beispielsweise eine alleinerziehende Frau mit einem Jahreseinkommen von 30.000 $ im Staat Colorado arbeitslos, so erhält sie aus der Arbeitslosenversicherung 1385 $ im Monat. Eine über COBRA weitergeführte durchschnittliche Familienversicherung kostet aber 1078 $ im Monat. Anstelle von COBRA kann unter Umständen auch Medicaid bzw. SCHIP geltend gemacht werden. Die Voraussetzungen für den Bezug sind in den einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedlich. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Medicaid für Arbeitslose (die Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten und keine Kinder haben) zumeist nicht in Betracht kommt. Arbeitslose mit Kindern hingegen können bei einem entsprechend niedrigen Einkommen zum Bezug von Medicaid berechtigt sein. Im Ergebnis sind 30 % der Arbeitslosen über COBRA oder eine Direktversicherung privat krankenversichert, 20 % sind über Medicaid oder ein anderes staatliches Sozialprogramm versichert und 50 % sind nicht versichert.
Problematik der Vorerkrankungen
Relevanz
Arbeitgeber, die ihren Arbeitnehmern Krankenversicherungsschutz zusagen (siehe Versicherungsschutz über den Arbeitgeber), schließen mit der jeweiligen Versicherungsgesellschaft einen Gesundheitsplan ab. In diesem Fall ist die Möglichkeit einer Ablehnung von Antragstellern wegen Vorerkrankungen (Pre-Existing Conditions) nach dem Health Insurance Portability and Accountability Act erheblich eingeschränkt. Dagegen haben 26,6 Millionen US-Bürger ihre Krankenversicherung (HMO, PPO oder klassische Krankenversicherung) selbst abgeschlossen (Direktversicherung). In diesem Fall sichern sich die Versicherungsgesellschaften gegen teure Risikopatienten dadurch ab, dass sie die Antragsteller einer Gesundheitsprüfung unterziehen und den Antrag im Falle von Vorerkrankungen ablehnen. Sowohl bei einer Direktversicherung als auch im Falle einer durch den Arbeitgeber vermittelten Krankenversicherung (Gruppenversicherung) führen pre-existing conditions regelmäßig zu einer Versagung der Übernahme der Behandlungskosten (siehe sonstige Auswirkungen).
Die Gesundheitsprüfung hat den Hintergrund, dass die Versicherungen bei Vorliegen bestimmter körperlicher Zustände den Abschluss eines Versicherungsvertrages verweigern können. Zu den Ablehnungsgründen gehören neben vielen schweren Vorerkrankungen wie Arthritis, Krebs, Herzkrankheiten und so weiter unter anderem auch weitverbreitete Unpässlichkeiten wie Akne, 10 kg Übergewicht und 10 kg Untergewicht. Der Antragsteller muss dabei versichern, keine der Vorerkrankungen oder gesundheitlichen Umstände zu haben, die den Versicherer berechtigen, ein Versicherungsverhältnis zu verweigern. Gegebenenfalls wird die Versicherung auch eine ärztliche Untersuchung anordnen. In der Anwendung dieser in den Vereinigten Staaten einheitlich geltenden Regelung gibt es innerhalb der Bundesstaaten verschiedene gesetzliche Handhabungen. In einigen Staaten gilt der objective standard, danach muss der Antragsteller alle Vorerkrankungen angeben, für die er medizinischen Rat oder Hilfe erhalten hat. In den meisten Staaten gilt hingegen der prudent person standard, danach muss der Antragsteller alle Vorerkrankungen angeben, für die er tatsächlich medizinischen Rat oder Hilfe erhalten hat, und darüber hinaus auch alle Vorerkrankungen, die soweit erahnbar waren, dass eine besonnene Person medizinischen Rat eingeholt hätte.
Eine Selbstauskunft und eine eventuelle medizinische Untersuchung sind üblicherweise nur zum Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages nötig. In den meisten Bundesstaaten haben die Versicherungen nicht das Recht, später eine erneute Gesundheitsprüfung zu verlangen, solange die festgesetzten Beiträge immer pünktlich bezahlt werden.
Dennoch ist ein Versicherter nicht selten gezwungen, nach einigen Jahren die Versicherung zu wechseln und damit erneut eine Gesundheitsprüfung zu bestehen, denn die Prämien können sich erheblich erhöhen, wenn sich die durchschnittliche Gesundheit der Versicherungsnehmer desselben Versicherungsprodukts verschlechtert. Dann entscheiden sich junge, gesunde Menschen für eine andere Versicherung mit niedrigeren Prämien, während die bestehenden Versicherungsnehmer älter und damit kostenträchtiger werden (adverse Selektion). Oftmals legt dieselbe Versicherung immer wieder neue Produkte auf, um mit niedrigen Prämien Kunden zu werben, während ältere Versicherungsprodukte nicht mehr aktiv verkauft werden. Im Durchschnitt steigen die Versicherungskosten in den ersten fünf Jahren erheblich an (um etwa 35 %).
Versagung eines Vertragsabschlusses
Mögliche Auswirkung einer Vorerkrankung ist die Versagung des Vertragsabschlusses. Im Jahr 2004 wurde zum Beispiel 13 % der Antragsteller Versicherungsschutz verwehrt. Dabei liegt die Ablehnungsquote für unter 18-Jährige bei lediglich 5 %, während sie bei 60- bis 64-Jährigen auf fast 33 % ansteigt.
Einige Bundesstaaten sehen die Situation, dass etliche Menschen keinen Versicherungsschutz erlangen können, als unbefriedigend an:
34 Bundesstaaten haben Risikopools gebildet, die dazu dienen, einigen wegen Vorerkrankungen nicht versicherbaren Menschen einen staatlichen Gesundheitsplan anzubieten. Diese Gesundheitspläne variieren in ihren konkreten Ausgestaltungen von Bundesstaat zu Bundesstaat erheblich. Häufig sind die von den Menschen zu zahlenden Versicherungsprämien trotz staatlicher Förderung erheblich höher als normale Prämien, in einigen Bundesstaaten sind sie doppelt so teuer wie normale Prämien. Insgesamt wurde 182.000 Menschen (Stand 2004) über solche Risikopools Krankenversicherungsschutz verschafft. Von 25 unversicherbaren Menschen wurde also Einem Krankenversicherungsschutz vermittelt. Eine Ausweitung der Risikopools ist wegen der schon jetzt hohen Kosten zurzeit nicht vorgesehen.
In den Bundesstaaten New York, New Jersey, Maine, Massachusetts und Vermont ist es den Versicherungsgesellschaften untersagt, Antragsteller aufgrund von Vorerkrankungen abzulehnen. Dort sind allerdings die Versicherungsprämien höher als in anderen Staaten.
Sonstige Auswirkungen
Anstelle einer völligen Versagung eines Vertragsabschlusses können die Versicherungen auch fordern, dass bestimmte Risiken aus dem Versicherungsschutz ausgeklammert werden:
Die Versicherung kann eine Untersuchung des Antragstellers verlangen. Alle Erkrankungen, die sich dabei zum Zeitpunkt der Antragstellung konkret abzeichnen, können bei Vertragsabschluss aus dem Versicherungsschutz ausgeklammert werden.
Erkrankungen, die nicht vom Versicherungsschutz ausgeschlossen wurden, können lange nach Abschluss der Versicherung noch einseitig ausgeschlossen werden. Voraussetzung ist, dass die Versicherung nachweisen kann, dass es sich um eine Vorerkrankung handelte, die, wenn auch damals noch nicht diagnostiziert, bereits bei Vertragsabschluss grundsätzlich bestand. Diese Rückschauperiode ist in den meisten Bundesstaaten begrenzt. Wenn zum Beispiel ein Versicherter mit einer im Bundesstaat Iowa abgeschlossenen Versicherung die Zahlung von Arztrechnungen verlangt, dann darf der Versicherer innerhalb der ersten 2 Jahre nach Abschluss des Vertrages die gesamte Krankengeschichte des Versicherungsnehmers innerhalb der letzten 5 Jahre untersuchen. In Iowa gilt der prudent person standard, findet der Versicherer heraus, dass die Erkrankung vor Vertragsschluss schon einmal so weit erkennbar war, dass eine besonnene Person schon damals eine ärztliche Untersuchung hätte machen lassen, so kann der Versicherungsschutz nachträglich versagt werden.
Die Höhe der Beiträge zu einer Krankenversicherung bemisst sich auch nach dem Gesundheitszustand des jeweiligen Antragstellers:
Diejenigen, die einen Versicherungsvertrag abschließen konnten, zahlten in 76 % der Fälle Standardraten. In 22 % der Fälle forderten die Versicherungen aber höhere Raten, die einen Risikozuschlag beinhalteten.
Staatliche Gesundheitsfürsorge
Medicare ist eine sozialstaatliche öffentliche Krankenversicherung für ältere (ab 65 Jahren) und behinderte Amerikaner, die 41,4 Millionen Bürger in Anspruch nehmen. Sie wurde am 30. Juli 1965 eingeführt.
Medicaid ist eine sozialstaatliche öffentliche Krankenversicherung für einkommensschwache Amerikaner, die 39,6 Millionen Bürger in Anspruch nehmen. Obwohl sich die Bundesstaaten und die Bundesregierung die Kosten teilen, legt jeder Bundesstaat selbst die Voraussetzungen für den Bezug von Medicaid fest. Neben Medicaid können weitere (kleinere) bundesstaatliche oder kommunale Hilfsprogramme für Arme bestehen. Wegen des bürokratischen Aufwands und der geringen Vergütung akzeptieren nicht alle Ärzte Medicaid-Patienten. Daher kommt es gelegentlich vor, dass sich Medicaid-Patienten wie Unversicherte in der Notaufnahme eines Krankenhauses (unter EMTALA) behandeln lassen.
Das State Children’s Health Insurance Program (SCHIP) ist ein sozialstaatliches Hilfsprogramm, das 1997 gegründet wurde. Anspruchsberechtigt sind Kinder, deren Eltern ein Einkommen haben, das für Medicaid zu hoch ist, aber zu niedrig, um eine private Krankenversicherung bezahlen zu können. Ebenso sind schwangere Frauen anspruchsberechtigt, deren Einkommen in diese Kategorie fällt. Dieses Programm nehmen mittlerweile 6,6 Millionen Kinder in Anspruch, sowie 0,6 Millionen Frauen.
TRICARE ist ein staatliches Gesundheitsprogramm für Soldaten und pensionierte Soldaten sowie deren unterhaltsberechtigte Angehörige. Die Veterans Health Administration erbringt gegenüber pensionierten Soldaten sowie kriegsverwundeten oder sozial bedürftigen Veteranen medizinische Hilfe.
Der Indian Health Service (IHS) erbringt gegenüber 1,8 der 3,3 Millionen Mitglieder der staatlich anerkannten Indianerstämme Gesundheitsleistungen. Hierfür bestehen vom IHS betriebene Hospitäler und Gesundheitsstationen in den Reservaten.
1986 wurde der Emergency Medical Treatment and Labor Act (EMTALA) verabschiedet. Nach diesem Gesetz müssen Krankenhäuser jeden Patienten akzeptieren, der als Notfall eingeliefert wird, auch wenn dieser keinen Versicherungsschutz hat und die Behandlung nicht bezahlen kann. Die Behandlung muss mit der nötigen Intensität erfolgen, bis sich der unmittelbar kritische Zustand stabilisiert. Die Kosten für diese Behandlung übernimmt der Staat nicht, die Krankenhäuser können diese Behandlungskosten lediglich als Spenden von der Einkommensteuer absetzen. Ein Notfall im Sinne des Emergency Medical Treatment and Labor Act liegt vor, wenn bei dem Patienten ein Zustand vorliegt, der sich durch akute, sehr schwerwiegende Symptome (auch schwerer Schmerz) äußert, und ohne medizinische Behandlung eine ernste Beeinträchtigung körperlicher Funktionen oder Organe zu erwarten ist. Darunter fällt beispielsweise eine gebärende Frau, bei der sich während der Geburt eine Komplikation ergibt, die das Leben der Frau oder des Kindes bedroht. Die Krankenhäuser sind unter Umständen auch zu einem Transport im Krankenwagen verpflichtet. EMTALA gilt für „teilnehmende Krankenhäuser“, das sind solche, die Medicare- oder Medicaid-Patienten behandeln möchten. Da Medicare und Medicaid nahezu die Hälfte aller im amerikanischen Gesundheitssystem anfallenden medizinischen Leistungen bezahlen, kann es sich praktisch keine Klinik erlauben, an EMTALA nicht teilzunehmen. Etwa 55 % der Behandlungen auf Intensivstationen fallen unter EMTALA und werden faktisch unentgeltlich erbracht. Da die Krankenhäuser die Kosten für unvermeidliche EMTALA-Behandlungen nicht erstattet bekommen, werden diese Verluste als versteckte Kosten an die anderen Patienten weitergegeben, was als ein Grund für die in den USA weit überproportional steigenden Krankenversicherungskosten gilt. Die Behandlung von illegalen Einwanderern, die ebenfalls unter das EMTALA-Gesetz fallen, wird in den USA sehr kontrovers diskutiert. Seit Erlass des Medicare Prescription Drug, Improvement, and Modernization Act im Jahre 2003 werden jährlich pauschal 250 Mill. $ für die Behandlung illegaler Einwanderer gezahlt.
Das Medical Expenditure Panel Survey schätzt, dass 56,1 % der Kosten aller in den USA erbrachten Gesundheitsleistungen von den hier beschriebenen staatlichen Hilfsprogrammen bezahlt werden.
Situation der Nichtversicherten
Es gibt drei Hauptgründe, weshalb 45,7 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung haben:
Sie sind zu arm, um sich eine private Krankenversicherung leisten zu können, aber zu einkommensstark, um über Medicaid abgesichert zu sein.
Aufgrund von Vorerkrankungen werden sie von den Versicherungen abgelehnt, können also keinen Krankenversicherungsschutz bekommen.
Sie wollen sich die Versicherungskosten sparen. Entweder halten sie sich für finanzkräftig genug, um auch größere Krankheitskosten selbst zu zahlen, oder sie nehmen bewusst die Notversorgung über EMTALA in Kauf.
Circa 19 % der Nichtversicherten haben ein ausreichendes Einkommen, um sich Versicherungsschutz leisten zu können. 25 % der Nichtversicherten erfüllen alle Voraussetzungen, um (bei Bedarf) ein staatliches Hilfsprogramm in Anspruch nehmen zu können. 56 % der Nichtversicherten können sich eine Krankenversicherung nicht leisten, erfüllen aber auch nicht die Voraussetzungen für ein staatliches Hilfsprogramm.
Der Bevölkerungsanteil derjenigen, die keine Krankenversicherung haben, variiert je nach Volksgruppenzugehörigkeit stark. Während nur 10,4 % der weißen Bevölkerung keinen Krankenversicherungsschutz haben, betrifft dies 19,5 % der Afroamerikaner, 16,8 % der Asiaten und 32,1 % der Hispanics.
Unter den Nichtversicherten sind 8,1 Mio. Kinder und 8,0 Mio. junge Erwachsene in einem Alter zwischen 18 und 24 Jahren. In dem Bevölkerungssegment der jungen Erwachsenen sind 28,1 % nicht versichert. Dieser hohe Prozentsatz kommt daher, dass sie bei der privaten oder staatlichen Krankenversicherung der Eltern mit Erreichen des 19. Lebensjahres nicht mehr mitversichert sind. In der privaten Krankenversicherung der Eltern besteht manchmal noch Versicherungsschutz bis zum Abschluss des College. Da diese Altersgruppe sich erst auf dem Arbeitsmarkt etablieren muss, schaffen es viele erst einmal nicht, bei einem Arbeitgeber angestellt zu werden, der ein Gesundheitsprogramm für seine Mitarbeiter anbietet. Da sie zunächst meist schlechter bezahlte Arbeit annehmen müssen, können sie sich keine eigene Krankenversicherung leisten.
Da Unversicherte nicht dieselbe Marktmacht haben wie Krankenversicherungen, sind sie nicht in der Lage, die Preise mit Ärzten oder Krankenhäusern so auszuhandeln, wie es Krankenversicherungen können. Sie müssen oftmals zweieinhalb Mal so viel für in Anspruch genommene Leistungen zahlen wie versicherte Patienten. Zwar haben auch zahlungsunfähige Unversicherte gemäß EMTALA Anspruch auf eine Notfallversorgung. Als ein großes Problem wird aber angesehen, dass die EMTALA nur medizinische Notfalldienste abdeckt, aber keine Nachsorge; die Krankheiten werden also zumeist nicht geheilt. Nach einer Studie der Harvard Medical School und der University of Washington School of Medicine haben Nichtversicherte gegenüber Versicherten ein um 25 % höheres Risiko, an einer Krankheit zu sterben. Nach dieser Studie sterben jedes Jahr 45.000 Nichtversicherte aufgrund der schlechteren medizinischen Betreuung, bei normaler medizinischer Behandlung seien diese Todesfälle vermeidbar. Die libertäre Denkfabrik National Center for Policy Analysis kritisiert die Studie, da bereits alle Menschen berücksichtigt wurden, die in den letzten Lebensjahren unversichert waren, und nicht nur solche Menschen, die über einen langen Zeitraum unversichert waren.
Unversicherte haben für Gesundheitsleistungen im Jahre 2008 circa 30 Milliarden $ selbst gezahlt und unbezahlte Leistungen im Wert von circa 56 Milliarden $ erhalten. Die unbezahlten Leistungen wurden zu 75 % durch pauschale, nicht konkret leistungsbezogene, Zahlungen von staatlichen Hilfsprogrammen finanziert. Die Kosten für unbezahlte Leistungen an Unversicherte werden zudem als versteckte Kosten auf versicherte Patienten abgewälzt. Es wird geschätzt, dass dieser Effekt die Jahreskosten für eine durchschnittliche Familienversicherung 2005 um 922 $ erhöht hat.
Neben der privaten und staatlichen Vorsorge existiert die Sonderform der Absicherung über religiöse Missionswerke. Dort schließen sich Angehörige einer Glaubensgemeinschaft zusammen und leisten einen monatlichen Beitrag, um Gesundheitskosten der Mitglieder bei Bedarf solidarisch zu bezahlen. Die Werke sind oft günstiger als reguläre Versicherungen, sind aber gesetzlich nicht verpflichtet, bestimmte medizinische Leistungen auch zu bezahlen, oder deckeln Erstattungen mit Obergrenzen. Sie stehen deshalb in der Kritik.
Leistungserbringer für Infrastruktur und Forschung
Die folgende Tabelle zeigt die Versorgung der Bevölkerung mit Erbringern medizinischer Leistungen und Infrastruktur im internationalen Vergleich:
Die relativ niedrige Zahl von Ärzten in den USA ergibt sich auch daraus, dass Nurse Practitioners (besonders ausgebildete Krankenpfleger) und Zahnhygieniker in größerem Umfang ärztliche Behandlungen übernehmen. Nurse Practitioners sind besser ausgebildet als Krankenpfleger, aber schlechter als Ärzte. Diese Fachkräfte werden hauptsächlich eingesetzt, um Kosten zu sparen, da ihre Gehälter geringer sind als die Honorare der Ärzte.
Bei niedergelassenen Ärzten ist ein Trend zur Bildung von größeren Gemeinschaftspraxen zu erkennen. Dies ergibt sich zum einen aus Effizienzgewinnen durch arbeitsteilige Spezialisierung, zum anderen aber auch aus dem erhöhten Verwaltungsaufwand, den die managed care (Health Maintenance Organizations, Preferred Provider Organizations) sowie das Prospective payment system (bei Medicare) verursachen. Die durchschnittliche Größe einer Gemeinschaftspraxis umfasst 14,5 Ärzte.
Die Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten erbringen insbesondere in den Notaufnahmen oder im Falle von Spezialkliniken auch ambulante Versorgung; in der überwiegenden Zahl der Fälle werden die Patienten aber stationär versorgt. Private Krankenhäuser werden entweder als profitorientiert oder gemeinnützig organisiert betrieben. Gemeinnützig organisierte Krankenhäuser sind bei der Grundsteuer, der Umsatzsteuer und der Einkommensteuer steuerbegünstigt, so dass nur ca. 13 % der Krankenhäuser in den USA profitorientiert betrieben werden. Acute care facilities sind Krankenhäuser, in denen Patienten weniger als 30 Tage behandelt werden, demgegenüber gibt es die long term care facilities wie Altenpflegeheime, Rehabilitationszentren und psychiatrische Anstalten. Universitätskliniken kombinieren Krankenpflege, ärztliche Ausbildung und Forschung; große Universitätskliniken sind zum Beispiel das Johns Hopkins Hospital oder das Massachusetts General Hospital.
Viele Städte, Countys oder Bundesstaaten besitzen eigene Krankenhäuser. Diese sind zumeist auf finanziell nicht rentable Gesundheitsleistungen spezialisiert. Zum Teil befinden sie sich in dünner besiedelten Gebieten, zum Teil sind sie auf kostenintensive Behandlungen wie Traumabehandlung, psychiatrische Notfallbehandlung, Behandlung von Alkohol- und Drogenmissbrauchsfällen und die Behandlung von Verbrennungsfällen spezialisiert. Bundesstaatliche Krankenhäuser sind nur für spezielle Zielgruppen geöffnet. Die Veterans Health Administration unterhält mehr als 150 Krankenhäuser, in denen ausschließlich Veteranen versorgt werden. Es ist damit der größte staatliche Erbringer von Gesundheitsleistungen. Das dem Verteidigungsministerium unterstellte Military Health System betreibt nicht nur Feldlazarette, sondern auch feste Hospitäler, in denen die aktiven Soldaten versorgt werden, darunter auch das sich in Deutschland befindliche Landstuhl Regional Medical Center. Der Indian Health Service betreibt Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen, die Angehörigen der staatlich anerkannten Indianerstämme offenstehen.
Eine relativ junge Institution sind Urgent-Care-Anbieter, das sind privatwirtschaftliche Unternehmen, die niederschwellig Notfallmedizin für leichte Fälle anbieten. Zur Zielgruppe zählen u. a. versicherte Patienten, die, wenn sie in den Emergency Room gingen, einen weitaus höheren Selbstkostenanteil zu tragen hätten als bei dem preiswert arbeiteten Privatdienstleister.
In den Vereinigten Staaten gibt es unzählige gemeinnützige Organisationen, die medizinische Leistungen kostenlos oder zu stark reduzierten Preisen anbieten. Oftmals handelt es sich um Organisationen, die Spenden sammeln, und bei denen sich Ärzte tageweise für einen freiwilligen unentgeltlichen Dienst melden. Obwohl diese Gesellschaften eine wichtige Rolle darin spielen, die Lücken des Sicherheitsnetzes des amerikanischen Gesundheitssystems zu füllen, wurde ihre Bedeutung lange Zeit unterschätzt. Die Organisation „Remote Area Medical“ wurde 2008 in der Fernsehsendung 60 Minutes vorgestellt. Diese Organisation wurde gegründet, um ärztliche Hilfsleistungen in der Dritten Welt zu erbringen. Vor einigen Jahren stellte Gründungsmitglied Stan Brock jedoch fest, dass Gesundheitsversorgung für einige Einwohner der Vereinigten Staaten (aus finanziellen Gründen) ebenso unerreichbar sei wie in Gegenden der Dritten Welt. Seitdem finden 60 Prozent der Einsätze in den USA statt. Das Amerikanische Rote Kreuz ist ebenfalls eine gemeinnützige Organisation, die sich wie das Deutsche Rote Kreuz durch Spenden und über den Verkauf von Blutprodukten finanziert. Neben der Erbringung von Gesundheitsleistungen an Bedürftige liegt der Tätigkeitsschwerpunkt in der Ausbildung von Ersthelfern und der Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung. Zudem ist das Amerikanische Rote Kreuz offiziell mit dem Katastrophenschutz beauftragt.
Die Vereinigten Staaten sind in der medizinischen Forschung führend. So werden 70 % der Medikamentenforschung von Organisationen mit Hauptsitz in den Vereinigten Staaten erbracht. Amerikanische Forscher haben insgesamt 53-mal einen Nobelpreis für Medizin erhalten. Im Jahr 2000 haben gemeinnützige Forschungsinstitute wie zum Beispiel das Howard Hughes Medical Institute 7 % der Forschungskosten getragen, profitorientierte Einrichtungen trugen 57 % der Kosten und das staatliche National Institutes of Health trug 36 % der Forschungskosten. Dabei wird Grundlagenforschung überwiegend von Universitäten und staatlichen Forschungseinrichtungen erbracht.
Kontrolle, Aufsicht und Transparenz
Eine Vielzahl öffentlich-rechtlicher Organisationen überprüfen Risiken für die öffentliche Gesundheit sowie die Qualität von Dienstleistungen im Gesundheitswesen. Die Centers for Disease Control and Prevention ist eine Behörde, die Risiken für die öffentliche Gesundheit erforscht. Die Food and Drug Administration (FDA) ist eine staatliche Behörde, bei der die Zulassung neuer Medikamente beantragt werden muss. Die Centers for Medicare and Medicaid Services (CMS) haben neben anderen Kompetenzen die Aufgabe, die Qualität der Pflegeheime zu überwachen und veröffentlichen zur Information der Bevölkerung ein Qualitätsranking für Pflegeheime. Es gibt eine staatliche Aufsicht über den Inhalt von Krankenversicherungspolicen, die von Bundes- und Landesbehörden gemeinsam ausgeübt wird. Niedergelassene Ärzte werden durch bundesstaatliche Gesundheitsämter überwacht.
Die Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations (JCAHO) ist eine private Non-Profit-Organisation, welche die Sicherheit und Qualität medizinischer Leistungen überprüft. Viele Organisationen im Gesundheitswesen lassen sich freiwillig durch Inspektionen von der JCAHO überwachen. Diese veröffentlicht auch ihre Ergebnisse. Das National Committee for Quality Assurance ist eine private Non-Profit-Organisation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1990 die Leistungen von Krankenversicherungen überprüft. Das so genannte Healthcare Effectiveness Data and Information Set (HEDIS) enthält eine detaillierte Bewertung von gut 90 % der amerikanischen Krankenversicherungen. Hintergrund ist, dass viele Amerikaner, insbesondere solche, die bei einer HMO versichert sind, misstrauisch sind, dass ihre Krankenversicherung im Ernstfall bereit ist, die gerade benötigte Gesundheitsleistung abzudecken. Das Healthcare Effectiveness Data and Information Set wird regelmäßig im Internet veröffentlicht und kann von jedem Nutzer kostenlos abgerufen werden. Allerdings wird dieses bisher nur von einer geringen Zahl von Versicherungsnehmern zu Vergleichszwecken herangezogen, da die Auswertungen schwer zu interpretieren sind. Das National Committee for Quality Assurance bemüht sich daher, den Vergleich noch weiter zu vereinfachen.
Finanzierung
Der größte Finanzierer von Gesundheitsleistungen ist auch in den Vereinigten Staaten der Staat. 46,2 % der gesamten Ausgaben werden durch den Staat gezahlt, hier sind sowohl die Gesundheitsleistungen erfasst, die direkt von staatlichen Einrichtungen erbracht werden, als auch solche, die auf staatliche Kosten von privaten Einrichtungen erbracht werden. Dabei trägt die Bundesregierung 33,7 % der gesamten Ausgaben und die Bundesstaaten, Countys und Gemeinden 12,6 %. Private Krankenversicherungen finanzieren 36 % der gesamten Ausgaben. Direkt von den Einwohnern werden 14 % der gesamten Ausgaben gezahlt. Ein kleinerer Teil von 3,8 % wird von Sonstigen finanziert, insbesondere von privaten gemeinnützigen Institutionen.
Von den gesamten Gesundheitsausgaben wurden 33 % für Leistungen der Krankenhäuser aufgewendet, 23 % für ärztliche Leistungen, 13 % für verschreibungspflichtige Medikamente, 7 % für Pflege in Altenheimen, 5 % für zahnärztliche Leistungen, 3 % für Leistungen der Gesundheitsämter, 7 % wurden für staatliche Verwaltungskosten und Verwaltungskosten der privaten Krankenversicherungen ausgegeben und 9 % wurden für sonstige Leistungen aufgewendet.
Internationaler Qualitätsvergleich
Die Bewertung von Gesundheitssystemen ist schon länger ein Forschungsgegenstand der Gesundheitswissenschaft. Im Jahr 2000 legte die Weltgesundheitsorganisation WHO Ziele fest, an denen sie nationale Gesundheitssysteme misst, und führte einen internationalen Qualitätsvergleich durch. Als Ziele, an denen die Gesundheitssysteme gemessen werden sollen, wurden definiert:
das Gesundheitsniveau der Bevölkerung,
die gerechte Verteilung der finanziellen Lasten (Finanzielle Fairness) und
das Eingehen auf Bedürfnisse der Bevölkerung in allgemeineren Fragen wie Würde, Selbstbestimmung, Datenschutz und Kundenorientierung (Umgang mit Patienten).
An diesen Zielen wurde auch das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten gemessen. In den folgenden Abschnitten werden die Hauptergebnisse dieser Studie dargestellt. Da die Datenbasis der World Health Report 2000 Studie aus 1997 stammt, werden diese Ergebnisse (soweit möglich) durch aktuellere Studien ergänzt. Weiterhin werden weitere themenverwandte Studien dargestellt.
Kosten des Gesundheitssystems
Laut World Health Report 2000 (auf Basis der Daten von 1997) ist das US-Gesundheitssystem das mit großem Abstand teuerste Gesundheitssystem der 191 Mitgliedsstaaten. Zum damaligen Zeitpunkt betrugen die Ausgaben für Gesundheitsversorgung 13,7 % des Bruttoinlandsprodukts oder $4187 pro Einwohner.
Nach der neuesten Studie der OECD (auf Basis der Daten von 2009) ist der Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts, der für Kosten des Gesundheitssystems aufgewendet wird, weiter angestiegen. Ebenso sind die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheitsversorgung erheblich gestiegen:
Zu den Faktoren, welche die Kosten in die Höhe treiben, gehören Rauchen und Fettleibigkeit: So steigen die Kosten bei Fettleibigkeit um 36 % bei Arzt- und Krankenhausausgaben und bei Medikamenten um 77 %; bei Rauchern steigen Arzt- und Krankenhauskosten um 21 % und Medikamentenkosten um 28 %. Die Zahl der erwachsenen Raucher ist in den Vereinigten Staaten mit 16,7 % der Bevölkerung im internationalen Vergleich mittlerweile sehr niedrig; nur in Schweden gibt es noch weniger erwachsene Raucher. Allerdings ist die Fettleibigkeitsrate unter Erwachsenen mit 34,3 % die mit Abstand höchste Rate unter den OECD-Ländern. Als weiterer Faktor wird Stress angesehen. Der durch Stress verursachte volkswirtschaftliche Schaden – stressbedingte Arbeits- und Produktionsausfälle sowie Ausgaben im Gesundheitssystem – wird auf jährlich 300 Milliarden US $ geschätzt.
Als ein weiterer Grund wird angeführt, dass Nichtversicherte und solche Versicherungsnehmer, die für medizinische Untersuchungen hohe Zuzahlungen leisten müssen, aufgrund der damit verbundenen Kosten oftmals akut notwendige Behandlungen hinauszögern oder Vorsorgeuntersuchungen nicht in Anspruch nehmen. Dadurch würden sie öfter schwerere Krankheitsformen und häufiger Komplikationen erleiden, was die Kosten für Heilbehandlung in die Höhe treibt. Fälle von Einweisung in ein Krankenhaus, die bei rechtzeitiger Behandlung vermeidbar wären, treten bei Unversicherten vier Mal häufiger auf als bei krankenversicherten Personen. Auch entfallen nach Schätzung der National Center for Health Statistics die Hälfte der Behandlungen in amerikanischen Notaufnahmen auf nicht notfallmedizinische Fälle. Dies beruht vor allem darauf, dass zahlungsunfähigen Patienten gemäß EMTALA nur die Behandlung in der Notaufnahme eines Krankenhauses offensteht, diese ist aber teurer als die Behandlung durch einen niedergelassenen Arzt oder Zahnarzt.
Nach einer Studie des McKinsey Global Institute sind die hohen Kosten nicht auf eine im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zurückzuführen. Danach nehmen die US-Bürger beispielsweise weniger Medikamente zu sich und haben kürzere Krankenhausaufenthalte als Europäer oder Kanadier. Die hohen Kosten seien einerseits auf höhere Preise für Gesundheitsleistungen und andererseits auf hohe Verwaltungskosten der privaten Krankenversicherungen zurückzuführen: Krankenversicherungen kalkulieren eine Gewinnspanne, haben hohe Werbungs- und Maklerkosten sowie einen hohen Verwaltungsaufwand für die Prüfung von Vertragsabschlüssen und von Versicherungsnehmeransprüchen. Amerikanische Ärzte und Krankenschwestern beziehungsweise Pflegekräfte erzielen im internationalen Vergleich ein überdurchschnittlich hohes Einkommen. Nach einer Studie sind die Krankenversicherungskosten, bezogen auf ein vergleichbares Niveau der medizinischen Leistungen, zwischen 1970 und 2000 in den privaten Krankenversicherungen deutlich stärker gestiegen als bei der staatlichen Medicare. Dies liegt zum Teil daran, dass Kostenkontrolle durch die Auswahl besonders effizienter Leistungserbringer (selective contracting) nicht in höchstmöglichem Umfang Anwendung findet, da die Health Maintenance Organizations gerade wegen der strikten Begrenzung der Arzt- und Krankenhauswahl gegenüber weniger strikten Versicherungsformen wie zum Beispiel Preferred Provider Organizations Marktanteile verloren haben.
Als ein weiterer Grund für die hohen Kosten wird das amerikanische Rechtssystem diskutiert. Aufgrund des amerikanischen Jury-Systems kommt es gelegentlich zu sehr hohen Schadensersatzverurteilungen, die sich weit überwiegend auf nichtphysische Schäden wie seelische Grausamkeit und Punitive damages beziehen. Es wird vermutet, dass viele Ärzte aus Angst vor Schadensersatzklagen sehr vorsichtig behandeln (defensive medicine), insbesondere mehr Radiologische- und Laboruntersuchungen in Auftrag geben als notwendig, oder sich häufiger für einen Kaiserschnitt entscheiden. Inwieweit sich dies finanziell auswirkt, ist aber umstritten. Die höchste Schätzung liegt bei $60–108 Milliarden. Eine andere Studie kommt zu dem Schluss, dass nur geringe finanzielle Auswirkungen in Höhe von $54 Millionen bestehen. Nach verschiedenen Studien haben sich Beschränkungen der Zivilklagemöglichkeiten in verschiedenen Bundesstaaten verglichen mit Bundesstaaten ohne Beschränkungen kaum (ca. 0,3 %) auf die Höhe der Krankenversicherungsbeiträge ausgewirkt.
Gesundheitsniveau der Bevölkerung
Der durchschnittliche Gesundheitszustand der Bevölkerung, den die WHO anhand der krankheitsverminderten durchschnittlichen Lebenserwartung (= bis 2001: disability-adjusted life expectancy, DALE; seit 2002: healthy life expectancy, HALE) bemisst, ist relativ gut, verglichen mit anderen entwickelten Industrienationen allerdings unterdurchschnittlich. Die krankheitsverminderte durchschnittliche Lebenserwartung lag nach der World Health Report 2000 Studie (auf Basis der Daten von 1997) bei 70,0 Jahren, damit rangierten die Vereinigten Staaten auf Platz 24 im internationalen Vergleich.
Nach der WHO-Studie (auf Basis der Daten von 2002) liegt die krankheitsverminderte durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung bei 69,3 Jahren. Die Vereinigten Staaten erreichten Platz 27:
Dabei ist festzustellen, dass eine regional und sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen besteht: So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb der USA bis zu 18 Jahre auseinander: In den zehn reichsten Gebieten haben weiße Männer eine Lebenserwartung von über 76,4 Jahren, in schlecht versorgten Gebieten liegt die Lebenserwartung von schwarzen Männern bei 57,9 Jahren. Außerdem besteht in vielen ländlichen Gegenden eine Unterversorgung mit Ärzten und Krankenhäusern, daher bestehen in diesen Gegenden erheblich höhere Krankheitsziffern und Sterblichkeitsziffer bei Babys und älteren Menschen als im Landesdurchschnitt. Nach einer Erhebung der WHO sterben überproportional viele Amerikaner an eigentlich beherrschbaren Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Lungenentzündungen.
Ein Grund für eine verkürzte Lebenserwartung des ärmeren Teils der Bevölkerung ist mangelhafter Krankenversicherungsschutz. Nichtversicherte und solche Versicherungsnehmer, die für medizinische Untersuchungen hohe Zuzahlungen leisten müssen, zögern aufgrund der damit verbundenen Kosten oftmals akut notwendige Behandlungen hinaus oder nehmen Vorsorgeuntersuchungen nicht in Anspruch. Da einige Krankheiten, wie beispielsweise Krebs, im fortgeschrittenen Stadium häufig bereits unheilbar sind, resultiert hieraus auch eine relativ niedrigere Lebenserwartung dieser Bevölkerungsgruppe. Darüber hinaus wird angenommen, dass das amerikanische Gesundheitssystem als ganzes zu sehr auf Heilung fixiert ist und zu wenig Geld für Krankheitsprävention ausgegeben wird.
Nicht nur für die Unversicherten, sondern auch für viele einkommensschwache Einwohner, die über eine Krankenversicherung verfügen, besteht eine Versorgungslücke bei zahnärztlichen Leistungen. Bei privaten Krankenversicherungen sind zahnärztliche Leistungen häufig nicht im Leistungsumfang inbegriffen. In den Fällen, in denen sie im Versicherungsumfang mit umfasst sind, müssen oft hohe Zuzahlungen vom Versicherungsnehmer geleistet werden. In vielen Bundesstaaten trägt auch Medicaid bei Erwachsenen Patienten keine zahnärztlichen Leistungen. Bei Kindern umfassen staatliche Krankenversicherungen wie Medicaid oder SCHIP zwar auch zahnärztliche Behandlungen, die Vergütung ist aber in vielen Bundesstaaten so niedrig, dass die Mehrzahl der Zahnärzte Medicaid oder SCHIP Patienten nicht akzeptieren. Als Folge davon leben 25 % der amerikanischen Kinder mit unbehandeltem Karies in den permanenten Zähnen.
Am 29. Juni 2016 erfolgte die letzte Aktualisierung der Healthy life expectancy (HALE) der WHO:
Kosteneffizienz bezogen auf den Gesundheitszustand
Bei der Bewertung der Kosteneffizienz des Gesundheitssystems gemessen am Gesundheitszustand der Bevölkerung kommen die USA in der World Health Report 2000 Studie (auf Basis der Daten von 1997) nur auf Platz 72:
Finanzielle Fairness
Nach der World Health Report 2000 Studie (auf Basis der Daten von 1997) kommt das US-Gesundheitssystem in der Bewertung der Fairness bei der Beteiligung an den Kosten des Gesundheitssystems sowie bei dem Schutz vor finanziellen Risiken, nur auf Platz 54–55 (diese beiden Plätze teilen sich die USA mit der Republik der Fidschi-Inseln). Zur Messung dieser Fairness wurde die Höhe des Durchschnittseinkommens eines Haushalts – abzüglich der Ausgaben zur Bestreitung des Existenzminimums – mit der Höhe seiner Gesundheitsausgaben verglichen. Zu den Gesundheitsausgaben eines Haushalts zählten sämtliche Beiträge, gleichgültig ob es sich dabei um Steuern, Sozialversicherungsbeiträge, Beiträge zu privaten Krankenversicherungen oder um Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen von Patienten handelte:
Als Grundproblem gelten die sehr hohen Prämien der privaten Krankenversicherungen in den USA. Sie machen es für Geringverdiener oft unmöglich, sich und ihre Familien zu versichern. Ebenso verhindern sie, dass kleine Unternehmen ihren Beschäftigten eine Krankenversicherung anbieten können. Dadurch sind gegenwärtig 40 Millionen US-Bürger nicht krankenversichert; nach Schätzungen ist der Versicherungsschutz für noch einmal so viele Menschen mangelhaft, da diese nur eine Versicherungspolice mit unzureichendem Leistungskatalog besitzen.
Aber auch US-Bürger mit umfassendem Krankenversicherungsschutz leben mit dem Risiko, im Falle einer schweren Krankheit insolvent zu werden. Zum einen gibt es im Falle krankheitsbedingter Berufsunfähigkeit, anders als etwa in Deutschland, kein Krankengeld. Zum anderen sind in den Versicherungspolicen häufig sehr hohe Zuzahlungen oder Selbstbehalte vereinbart. Daher waren in den USA im Jahr 2001 in 46,2 % aller Insolvenzfälle Rechnungen für medizinische Leistungen der Auslöser für Privatinsolvenzen. Im Jahr 2007 erhöhte sich die Zahl auf 62,1 %. Wenn jedoch der Versicherungsnehmer die Versicherungsprämien nicht mehr zahlen kann, haben die privaten Krankenversicherungen das Recht den Versicherungsvertrag zu kündigen. Auch bei Medicare sind hohe Zuzahlungen vorgesehen, so dass Arzt- und Medikamentenrechnungen auch nach Renteneintritt ein großes finanzielles Problem darstellen können.
Umgang mit Patienten
Nach der World Health Report 2000 Studie (auf Basis der Daten von 1997) ist das US-Gesundheitssystem weltweit führend im verantwortungsbewussten Umgang mit Patienten. Gemessen wurde dies an dem Respekt gegenüber dem Patienten (Würde, Autonomie, Vertraulichkeit), die Schnelligkeit in der Hilfe erlangt wird, Freiheit bei der Arzt- und Krankenhauswahl und anderen Kriterien:
Gesamtbewertung im WHO-Ranking
Die Gesamtbewertung erfolgte in der World-Health-Report-2000-Studie (auf Basis der Daten von 1997) zweigeteilt. In der ersten Auswertung wurde nur die Erreichung der definierten Ziele bewertet:
In der zweiten Auswertung wurde die Erreichung der definierten Ziele unter Berücksichtigung des finanziellen Aufwands bewertet:
Die Studie wurde in den USA dafür kritisiert, dass die Auswertung des Gesundheitszustandes und der Leistung keine Rücksicht darauf nimmt, dass in manchen Staaten wie den USA eine politisch gewollte Ungleichheit der Gesundheitschancen besteht. Auch sei nicht berücksichtigt worden, dass in den teureren Gesundheitssystemen eine größere Chance auf medizinische Fortschritte bestünde. Andere Stimmen wiesen darauf hin, dass Forschungsausgaben sowieso nur einen kleinen Teil der Kosten des Gesundheitssystems der Vereinigten Staaten ausmachen, und dass zukünftige medizinische Fortschritte nicht seriös voraussehbar seien. Auch sei eine möglichst große Gleichheit der Gesundheitschancen spätestens seit der Erklärung von Alma-Ata (1978) ein im internationalen wissenschaftlichen Diskurs allgemein anerkanntes Ziel. Kritisiert wurde auch die Auswertung zum Umgang mit Patienten, die hohe Platzierung der USA in diesem Bereich widerspreche der im internationalen Vergleich recht geringen Zufriedenheit der amerikanischen Bevölkerung. Nach einer Umfrage der American Hospital Association sieht die Mehrheit der Amerikaner ihr Gesundheitssystem als ein konsumentenunfreundliches an, bei dem sich die Krankenversicherungen vor allem durch Profitmaximierung durch Verweigerung von Kostenübernahmen und durch Qualitätsverringerungen auszeichneten.
Notfallversorgung
Die Überlastung der Notaufnahmen in amerikanischen Krankenhäusern gerät zunehmend in den Fokus der amerikanischen Öffentlichkeit. Nach einer Studie der Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations birgt der Zustand für Patienten die hohe Gefahr, nicht rechtzeitig oder nicht adäquat behandelt zu werden. Das zu den Centers for Disease Control and Prevention gehörende National Center for Health Statistics gab 2002 eine Studie heraus, nach der die Zahl der Krankenhäuser, die Notaufnahmen bereithalten, von 1997 bis 2000 um 2 % zurückgegangen ist, während die Anzahl der Notaufnahme-Fälle im selben Zeitraum um 16 % gestiegen ist. Die Wartezeit von Patienten, die sich in einem nicht unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand befinden, hat sich um 33 % verlängert. Für Patienten mit einem akuten Herzinfarkt hat sich die (durchschnittliche) Wartezeit von 8 Minuten auf 20 Minuten verlängert. Als Ursache für diese Situation gilt vor allem der Emergency Medical Treatment and Labor Act (EMTALA), der die Krankenhäuser verpflichtet, unversicherte Notfallpatienten kostenlos zu behandeln. Da es hierfür aber keine Kostenerstattung vom Staat gibt, nimmt die Zahl der Notaufnahmen stetig ab.
Anzahl der Betten auf Intensivstationen je 1000 Einwohner (Stand 2005):
Reform des Gesundheitssystems
Generelle Diskussionslinien
Allgemeine staatliche Krankenversicherung
Einige Amerikaner, wie beispielsweise die Physicians for a National Health Program, verweisen darauf, dass die Versicherungsbeiträge für private Krankenversicherungen mittlerweile so hoch sind, dass immer mehr Unternehmen die vereinbarten Krankenversicherungsprogramme für ihre Mitarbeiter kündigen. Sie propagieren die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung für die gesamte Bevölkerung nach europäischem beziehungsweise kanadischem Vorbild, das als „Universal Single-Payer Healthcare“ bezeichnet wird. Diese wäre als Single-Payer-System gegenüber dem jetzigen System billiger und es gäbe das Problem der nicht oder nur unzureichend Versicherten nicht mehr. Diese Diskussion hat auch Michael Moores Film Sicko aufgegriffen. In dem Film werden unter anderem Fälle von Leistungsverweigerungen durch private Krankenversicherungen dargestellt, die böswillig gewesen seien und nur der Profitmaximierung gedient hätten. So erzählt zum Beispiel eine Frau, dass sie mit ihrem fiebrigen Baby zum nächsten Krankenhaus gelaufen sei. Dort wurde sie aber abgewiesen, weil ihre Krankenversicherung (eine Health Maintenance Organization) nur die Behandlung in Vertragskrankenhäusern zahlt. Das Baby erlitt auf dem Weg zum nächsten Vertragskrankenhaus einen Herzstillstand und konnte nicht mehr gerettet werden. In einer weiteren Szene wird gezeigt, wie eine zahlungsunfähige Patientin nach einer Notoperation vor dem nächst besten Obdachlosenheim auf der Straße abgesetzt wird, wo sie stundenlang verwirrt und desorientiert auf und ab läuft. Kritiker, die den Republikanern nahestehen, halten der Idee einer allgemeinen staatlichen Krankenversicherung entgegen, dass dies eine kommunistische Idee sei, nämlich socialized medicine und deshalb nicht funktionieren würde. Der Fernsehmoderator John Stossel behauptete in seiner Fernsehproduktion „Whose Body is it Anyway? Sick in America.“, dass „socialized medicine“ dazu führe, dass die Menschen in Kanada stürben, während sie auf ärztliche Behandlung warteten und Menschen in Großbritannien sich die Zähne selbst zögen, weil Wartezeiten für Zahnärzte dort so lang seien.
Freier-Markt-Modell
Libertäre wie zum Beispiel John Stossel oder der ehemalige Präsidentschaftsbewerber Ron Paul erklären, dass Gesundheitsfürsorge kein Menschenrecht sei.
Die Lösung für die Probleme des amerikanischen Gesundheitssystems sei ein völliger Rückzug des Staates (Free-Market Health Care). Medicare, Medicaid, das State Children’s Health Insurance Program und alle anderen staatlichen Zuzahlungen bei Gesundheitsleistungen sollten beendet werden. Der Emergency Medical Treatment and Labor Act (EMTALA) soll aufgehoben werden. Jede staatliche Regulierung des Gesundheitswesens auch in Bezug auf die Qualität der Ausbildung der Ärzte und der Überwachung von Forschung und Produktion von Medikamenten soll aufgehoben werden.
Öffentliche und private Krankenversicherungen seien generell nutzlos. Krankenversicherungen verursachten Bürokratie, würden zum Betrug einladen und eine „Moral Hazard“ verursachen, indem die Versicherten alle Leistungen nutzen, ohne auf die Preise zu schauen. Stossel verweist auf die „wie Pilze aus dem Boden schießenden“ Arztstände in Supermärkten, wo Menschen, die über keine Krankenversicherung verfügen, gegen Bargeld kleinere ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen. Da es in den USA immer mehr Menschen ohne Krankenversicherung gibt, sind diese Arztstände zunehmend beliebt. Da die Leistungen nicht über eine Versicherung abgerechnet werden und somit keine Verwaltungskosten entstehen, sind sie etwas billiger als in regulären Arztpraxen. Dem wird entgegengehalten, dass Bürger ohne Versicherung im Falle einer teuren Operation oder einer langwierigen Behandlung (zum Beispiel bei chronischer Krankheit) regelmäßig finanziell überfordert sind. Ex-Präsident Barack Obama lehnte den unter anderem von Ron Paul favorisierten Ausstieg aus den sozialen Sicherungsprogrammen als Sozialdarwinismus ab: Es sei leicht daran zu glauben, dass der freie Markt alle Probleme besser löse, insbesondere erfordere diese Vorstellung keine Opfer von denen, die das große Los gezogen haben.
Single-Payer-Modell
Befürworter einer Krankenversicherung nach dem Single-Payer-Modell wie beispielsweise die Healthcare-NOW! oder die Progressive Democrats of America können auch Anhänger der Idee einer allgemeinen staatlichen Krankenversicherung sein. Einige lehnen die Idee einer Zwangsmitgliedschaft jedoch ab oder bevorzugen eine staatlich regulierte, aber privatwirtschaftlich geführte Versicherung. Sie sind sich hingegen darin einig, dass durch Einführung eines Single-Payer-Systems ein Großteil der Verwaltungskosten wegfallen würde. Aktuell entfallen 24 % der Ausgaben im US-Gesundheitssystem auf Verwaltungsaufwand. In europäischen Single-Payer-Systemen ist der Verwaltungsaufwand dagegen erheblich niedriger. Sie verweisen auch darauf, dass bereits jetzt 45 % der US-Gesundheitsausgaben durch Medicare und Medicaid aufgefangen werden und somit durch Steuern finanziert werden. Bei Abschaffung der privaten Krankenversicherungen zugunsten einer Single-Payer-Versicherung müssten die Bürger zwar höhere Steuern oder Sozialabgaben tragen, gleichzeitig würden aber die Zahlungen an private Krankenversicherungen wegfallen, unter dem Strich hätten die Bürger dann mehr Geld in der Tasche.
Public-Private-Modell
Wieder andere bevorzugen eine weniger radikale Änderung des Versicherungssystems, ein sogenanntes Public-Private-Modell. Sie verweisen darauf, dass beispielsweise in Deutschland staatliche und private Krankenversicherungen koexistieren können. Trotzdem sind die Kosten im deutschen Gesundheitssystem geringer. Dies beruhe zum einen darauf, dass die privaten Versicherungen in Deutschland weit weniger Freiheiten zur Ablehnung von Versicherungsanträgen oder zur Ablehnung von Leistungsansprüchen hätten und aufgrund dessen einen kleineren Verwaltungsapparat führen würden als amerikanische Versicherungen. Zum anderen würden private Krankenversicherungen in Deutschland davon profitieren, dass die staatlichen Krankenversicherungen die Preise für Gesundheitsleistungen drücken. Der prominenteste Befürworter dieses Modells ist der ehemalige Präsident Barack Obama.
Gesundheitsreform 2010 („Obamacare“)
Wahlkampfprogramm von Präsident Obama
Barack Obama hatte in seinem Wahlprogramm eine allgemeine Krankenversicherungspflicht abgelehnt. Eine Ausnahme wollte er nur für die Kinder: Diese sollten zukünftig ausnahmslos alle krankenversichert werden. Es sei den Eltern zumutbar, ihre Kinder versichern zu lassen, da Krankenversicherungen für Kinder sehr billig seien. Da jedoch manche Eltern eine Versicherung für ihre Kinder trotzdem nicht bezahlen können, sollte das State Children’s Health Insurance Program (SCHIP) ausgebaut werden.
Allerdings sollte die Zahl der Unversicherten durch eine Ausweitung staatlicher Hilfsprogramme und finanzieller Anreize sowie neuer Richtlinien verringert werden:
Kleinen Unternehmen sollte es durch die Einführung neuer Steuergutschriften erleichtert werden, ihren Arbeitern und Angestellten Krankenversicherungsschutz zu gewähren.
Gleichzeitig sollten größere Unternehmen, die ihren Arbeitern und Angestellten keinen oder nur einen geringen Krankenversicherungsschutz anbieten, durch eine Art Lohnsummensteuer an der Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens (zwangs-)beteiligt werden.
Krankenversicherungen sollte es zukünftig untersagt werden, sich auf Vorerkrankungen, sogenannte pre-existing conditions, zu berufen. Diese sollten unter dieser Begründung Zahlungen nicht mehr verweigern oder Beiträge erhöhen dürfen.
Zudem wollte Obama im Sinne des Public-Private-Modells eine staatliche Krankenversicherung als Ergänzung zu den privaten Krankenversicherungen einführen. Dieses war ähnlich der Medicare angedacht, sollte sich aber an Menschen richten, die noch keine 65 Jahre alt sind. Zielgruppe sollten vor allem solche Menschen sein, die keinen Krankenversicherungsschutz über den Arbeitgeber erhalten können und nicht bereits durch Medicaid oder SCHIP versichert sind.
Gesetzgebungsvorschlag der Führung der Demokratischen Partei
Der America′s Affordable Health Choices Act of 2009 wurde von John Dingell, Charles B. Rangel, Henry Waxman, George Miller, Pete Stark, Frank Pallone und Rob Andrews eingebracht. Er repräsentiert das Gesetzesvorhaben der Führung der Demokratischen Partei. Der Gesetzesvorschlag greift die Reformpläne von Präsident Obama auf.
Äußerst heftige Proteste von Seiten der Konservativen folgten auf die mit dem America′s Affordable Health Choices Act of 2009 vorgelegten Reformpläne. Ein Vorwurf mit großer Medienwirkung war die wiederholt erhobene Behauptung, dass durch die Reform „death panels“ („Todesausschüsse“) eingeführt würden. Der Hintergrund war, dass in dem umfangreichen Gesetzesvorschlag als ein Unterpunkt eine Änderung der Section 1861 des Social Security Act dergestalt vorgesehen war, dass sich Medicare-Patienten zukünftig auf Staatskosten unter anderem von ihrem Arzt über die (bereits bestehende) Möglichkeit einer Patientenverfügung informieren lassen dürften. Diese Idee wurde aus einer Gesetzesinitiative übernommen, die von dem republikanischen Kongressabgeordneten Charles Boustany miteingebracht worden war, dem Life Sustaining Treatment Preferences Act of 2009. Die rechtsgerichtete Tageszeitung Investor′s Business Daily meinte darin einen Plan zur Ergründung des Lebenswillens von älteren Mitbürgern zu erkennen, die durch ihren Arzt systematisch zu Sterbehilfe gedrängt werden sollen. Letztlich sei demnach Euthanasie an Senioren und Kranken geplant. Die Zeitung zog einen Vergleich mit dem staatlichen Gesundheitssystem in Großbritannien, dem National Health Service, und behauptete, dass Menschen mit einer schweren Behinderung wie zum Beispiel der berühmte Wissenschaftler Stephen Hawking dort keine Überlebenschance hätten. Das „death-panel“-Argument wurde von vielen Republikanern, insbesondere der vormaligen republikanischen Kandidatin um das Amt des Vizepräsidenten, Sarah Palin, aufgegriffen. Gemäßigte Republikaner wandten sich gegen diese Strategie. Palin und andere wurden von der republikanischen Senatorin Lisa Murkowski kritisiert: da es keinen Grund gebe, in der Bevölkerung absichtlich die Angst vor „death panels“ zu schüren, die der America′s Affordable Health Choices Act of 2009 überhaupt nicht vorsehe, solle man lieber seriöse und sachliche Kritik üben. Der Republikaner Charles Boustany stellte fest, dass die Diskussion über das Thema leider außer Kontrolle geraten sei. Stephen Hawking fühlte sich schließlich genötigt, klarzustellen, dass er seit seiner Geburt in Großbritannien lebe und nur aufgrund der sehr guten medizinischen Betreuung durch den National Health Service überhaupt noch am Leben sei.
Des Weiteren wurde die Option auf eine staatliche Krankenversicherung kontrovers diskutiert. Es besteht die Befürchtung, dass die privaten Krankenversicherungsgesellschaften in großem Ausmaß Kunden verlieren könnten und deshalb Mitarbeiter entlassen müssten. Überdies wurden die Kosten der Reform diskutiert, insbesondere die Situation kleinerer Unternehmen, die es sich nicht leisten könnten, ihre Arbeitnehmer zu versichern. Außerdem gibt es eine Kontroverse darüber, ob das Gesetzesvorhaben dazu führen könnte, dass illegale Einwanderer ebenfalls in den Genuss von Krankenversicherungsschutz kommen. Präsident Obama versuchte am 9. September 2009, in einer Rede vor dem Kongress bestehende Bedenken auszuräumen.
Verabschiedung der Gesundheitsreform 2010
Das Repräsentantenhaus hat am 8. November 2009 den Affordable Health Care for America Act, den Nachfolger des America′s Affordable Health Choices Act of 2009, verabschiedet.
Am 13. September 2009 hat der Finanzausschuss des Senats dem von Senator Max Baucus eingebrachten America’s Healthy Future Act zugestimmt. Dieser entspricht weitgehend den Reformplänen der Führung der demokratischen Partei, sieht allerdings anstelle einer optionalen staatlichen Krankenversicherung eine staatlich regulierte privatrechtliche Krankenversicherung vor. Am 21. November stimmte der Senat mit der Mehrheit der Demokraten dafür, den Patient Protection and Affordable Care Act, der eine Weiterentwicklung des America’s Healthy Future Act ist, auf die Tagesordnung zu setzen, um über diesen zu debattieren. Am 21. Dezember 2009 stimmte der Senat schließlich mit der notwendigen 3/5 Mehrheit für eine zeitliche Begrenzung der Debatten, dadurch konnte ein Filibuster verhindert werden. Eine Abstimmung über den Gesetzesentwurf fand am 24. Dezember 2009 statt, dabei wurde der Gesetzesvorschlag mit 60 zu 39 Stimmen angenommen.
Als weiterer Schritt mussten sich Senat und Repräsentantenhaus auf eine einheitliche Gesetzesvorlage einigen. Allerdings hatten die Demokraten durch eine Nachwahl ihre 3/5 Mehrheit im Senat verloren. Dadurch bekamen die Republikaner die Möglichkeit durch Filibustern den Gesetzgebungsprozess erheblich zu verzögern.
Daher wurde ein Weg beschritten, der die mögliche Blockade im Senat umgehen soll. Demgemäß stimmte das Repräsentantenhaus am 21. März 2010 mit 219 gegen 212 Stimmen dem Patient Protection and Affordable Care Act des Senats zu, wodurch dieser Gesetz wurde. Die Änderungswünsche der demokratischen Vertreter im Repräsentantenhaus am Patient Protection and Affordable Care Act enthält der Health Care and Education Affordability Reconciliation Act of 2010. Im zweiten Schritt wurde daher am selben Tag der Health Care and Education Affordability Reconciliation Act of 2010, mit 220 gegen 211 Stimmen verabschiedet. Über dieses Gesetz hat der Senat am 25. März 2010 im Reconciliation-Verfahren getagt und abgestimmt, in dem ein Filibuster nicht möglich ist. Der Health Care and Education Affordability Reconciliation Act of 2010 wurde im Senat mit 56 zu 43 Stimmen verabschiedet.
Bestätigung durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten
Einige Organisationen (wie die National Federation of Independent Business), Teile der Republikanischen Partei und einige Bundesstaaten hatten gegen die Gesundheitsreform Klage erhoben. Hauptstreitpunkt war die Einführung der allgemeinen Versicherungspflicht. Am 28. Juni 2012 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in einem Urteil (National Federation of Independent Business v. Sebelius) die Verfassungsmäßigkeit wesentlicher Teile des Patient Protection and Affordable Care Act. Das Gericht sprach dem Kongress zwar ein sich aus der Commerce Clause der Verfassung ableitbare Kompetenz ab, die Bürger zum Abschluss einer Krankenversicherung zu verpflichten. Die mit Verabschiedung der Gesundheitsreform ab 2014 wirksam werdende Geldstrafe für (nicht befreite) Nichtversicherte interpretierte die Mehrheit der Verfassungsrichter aber als eine Steuer, die von der Besteuerungskompetenz des Bundes gedeckt ist. Allein der im Gesetz vorgesehenen Macht der Bundesregierung, bei der anstehenden Erweiterung des Medicaid-Programms die Bundesstaaten bei ausbleibender Kooperation mit Entzug der gesamten Medicaid-Geldmittel abzustrafen, sprach der Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit ab.
Auswirkungen der Reform
Änderungen durch den Patient Protection and Affordable Care Act:
Änderungen, die innerhalb von sechs Monaten ab Verabschiedung in Kraft treten:
Krankenversicherungen ist es verboten, Patienten wegen Vorerkrankungen (preexisting conditions) abzulehnen.
Krankenversicherungen ist es verboten, für Kinder mit Vorerkrankungen erhöhte Versicherungsbeiträge zu verlangen.
Kinder dürfen bis zum 26. Lebensjahr in der Familienversicherung der Eltern versichert bleiben.
Krankenversicherungen müssen sich in allen neuen Versicherungspolicen verpflichten, die Kosten für Vorsorgeuntersuchungen zu übernehmen, ohne Zuzahlungen des Versicherten verlangen zu dürfen.
Alle Versicherungsunternehmen müssen ihre Bilanz im Internet veröffentlichen und dabei insbesondere die Verwaltungskosten detailliert aufgliedern.
Kleine Unternehmen können erhöhte steuerliche Abzüge geltend machen, wenn sie ihren Arbeitnehmern Krankenversicherungsschutz anbieten.
Änderungen, die bis 2014 greifen sollen:
Krankenversicherungen ist es auch bei Erwachsenen mit Vorerkrankungen verboten, erhöhte Versicherungsbeiträge zu verlangen.
Die Krankenversicherungsbeiträge von alten Menschen dürfen nicht mehr als dreimal so hoch sein, wie die Krankenversicherungsbeiträge junger Menschen bei derselben Versicherung.
Einwohner mit einem Einkommen von bis zu 133 %, gemessen an der staatlich festgelegten Armutsgrenze (2010: 11.344 USD Jahreseinkommen), werden durch die (sozialstaatliche) Medicaid versichert.
Bei Einwohnern mit einem Einkommen von bis zu 400 %, gemessen an der staatlich festgelegten Armutsgrenze, werden die Krankenversicherungsbeiträge staatlich bezuschusst.
Familien können Krankenversicherungskosten stärker als bisher steuerlich absetzen.
Einwohner, die keine Krankenversicherung abgeschlossen haben, müssen Strafzahlungen (von bis zu 2 % des Einkommens) leisten, es sei denn, sie sind sehr arm oder haben religiöse Gründe, keine Krankenversicherung abzuschließen.
Firmen mit mehr als 49 Vollzeitbeschäftigten müssen pro Mitarbeiter eine Strafe zahlen, wenn sie ihren Arbeitnehmern keinen (adäquaten) Krankenversicherungsschutz vermitteln.
Den Bundesstaaten wird erlaubt, staatliche geführte Krankenversicherungsbörsen einzurichten, so dass kleine Firmen (die für Self-Funded Health Care zu klein sind) und Einwohner ohne arbeitgebervermittelte Krankenversicherungen gemeinsam eine Gruppenversicherung bei privaten Krankenversicherungsanbietern abschließen können.
Einwohnern, die mehr als 9,5 % des Einkommens für Krankenversicherungsbeiträge ausgeben müssen, wird erlaubt, die Krankenversicherungspolice bei einer staatlichen Behörde abzuschließen. Diese Behörde soll in Zusammenarbeit mit privaten Krankenversicherungen mindestens zwei Gruppenversicherungen aufstellen, von denen mindestens eine gemeinnützig arbeitet.
Änderungen, die bis 2018 greifen sollen:
Krankenversicherungen sind auch gegenüber Versicherungsnehmern mit bereits länger bestehenden Versicherungspolicen verpflichtet, die Kosten für Vorsorgeuntersuchungen zu übernehmen, ohne Zuzahlungen des Versicherten verlangen zu dürfen.
Änderungen durch den Health Care and Education Affordability Reconciliation Act of 2010:
Die staatliche Bezuschussung der Krankenversicherungskosten für Einwohnern mit einem Einkommen von bis zu 400 %, gemessen an der staatlich festgelegten Armutsgrenze, wird gegenüber dem Patient Protection and Affordable Care Act noch ausgeweitet.
Medicare-Patienten erhalten die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente bis zu einer Höhe von $250 erstattet. (Damit soll das sogenannte „doughnut hole“ in der Versicherungsleistung von Medicare geschlossen werden).
Strafzahlungen von Einwohnern, die keine Krankenversicherung abgeschlossen haben, werden gegenüber dem Patient Protection and Affordable Care Act um weitere 0,5 % des Einkommens erhöht.
Die Zahlungen für Behandlungen von Medicaid-Patienten waren bisher 20 % niedriger als die Zahlungen für Behandlungen von Medicare-Patienten. Als Folge verweigerten viele Ärzte die Behandlung von Medicaid-Patienten. Die Zahlungen für Medicaid-Patienten sollen daher erhöht werden.
Firmen müssen ab dem 31. unversicherten Vollzeitbeschäftigten pro Mitarbeiter eine Strafe von $2000 zahlen, wenn sie ihren Arbeitnehmern keinen (adäquaten) Krankenversicherungsschutz vermitteln. Die Regelung des Patient Protection and Affordable Care Act wurde damit verschärft.
Nach Schätzungen des Congressional Budget Office ergeben sich dadurch folgende Auswirkungen:
Die Zahl der Unversicherten soll sich um insgesamt 32 Millionen verringern. Um 17 Millionen soll sich die Zahl der Unversicherten durch eine Ausweitung von Medicaid verringern. Weitere 17 Millionen Unversicherte und ca. 9 Millionen bereits Versicherte sollen durch staatliche Krankenversicherungsbörsen eine (bessere) private Krankenversicherung vermittelt bekommen, wobei der Staat in den meisten Fällen einen Teil der Versicherungsprämien zahlen wird.
Die Kosten der Reform sollen in den nächsten 10 Jahren $940 Milliarden betragen. Diese Ausgaben sollen durch Steuererhöhungen zu $400 Milliarden gegenfinanziert werden (hauptsächlich durch eine höhere payroll tax für Arbeitnehmer mit hohem Einkommen und eine höhere Einkommensteuer für Einwohner mit hohen Kapitaleinkünften und durch die sogenannte Cadillac tax auf besonders teure Krankenversicherungspolicen). Als weiterer großer Posten sollen die Ausgaben bei Medicare durch Effizienzsteigerungen um $483 Milliarden reduziert werden. Insgesamt soll das Haushaltsdefizit in den nächsten 10 Jahren durch die Reform um $130 Milliarden verringert werden.
Als Problem erweist sich, dass „Obamacare“ nur milde Strafzahlungen für nicht-Versicherte vorsieht. Deshalb bleiben viele junge gesunde Menschen unversichert, während vorwiegend ältere kranke Menschen an den Obamacare-Börsen eine Krankenversicherung abgeschlossen haben. Die Folge davon ist, dass die Obamacare-Policen nur noch die Notversorgung bezahlen. Trotzdem machen mehr als 75 Prozent dieser Versicherungen Verluste. Die Versicherungsbranche machte 2014 2,7 Milliarden Dollar Verlust durch Obamacare-Policen, 2015 war der Verlust beinahe doppelt so groß. 2016 haben viele Versicherer den Ausstieg aus „Obamacare“ angekündigt. Andere erwägen Prämienerhöhungen von bis zu 60 Prozent. Die Republikanische Partei kündigte einen Gesetzentwurf an, mit dem Teile von Obamacare, nämlich die Ansätze zu einer Pflichtversicherung abgeschafft werden sollen.
Reformpläne von Präsident Trump
Mit der Wahl von Donald Trump zum Präsident können die Republikaner theoretisch Obamacare abschaffen oder stark modifizieren. Allerdings gibt es verschiedene Strömungen: Libertäre wollen die ersatzlose Abschaffung von Obamacare. Andere wollen Obamacare stark modifizieren, aber nicht abschaffen. Der Gesetzgebungsvorschlag der Republikaner (Stand Mitte Juli 2017: Better Care Reconciliation Act) sieht folgende Änderungen an Obamacare vor:
Die Verpflichtung entweder eine Krankenversicherung abzuschließen oder eine moderate Strafe zahlen zu müssen soll entfallen.
Unternehmen sollen ihren Angestellten keinen Krankenversicherungsplan mehr anbieten müssen.
Steuern für Menschen, die mehr als 200.000 $ pro Jahr verdienen, die zur Finanzierung von Obamacare eingeführt wurden, sollen wieder abgeschafft werden.
Krankenversicherungen sollen Menschen mit Vorerkrankungen billigere Krankenversicherungen mit verringertem Leistungsspektrum anbieten dürfen.
Die Staatsausgaben für Medicaid sollen in den nächsten 20 Jahren um 35 % verringert werden.
Krankenversicherungen soll erlaubt werden, älteren Menschen, die zum ersten Mal eine Krankenversicherung abschließen oder die Krankenversicherung wechseln, fünf Mal so hohe Beiträge zu berechnen wie jungen Menschen (unter Obamacare dürfen sie höchstens dreimal so teuer sein).
Dadurch würden Krankenversicherungen im Durchschnitt etwas billiger. Allerdings könnten 22 Millionen Menschen ihren Krankenversicherungsschutz verlieren. Bislang sind die Gesetzesinitiativen an republikanischen Abweichlern gescheitert, denen die Pläne zu weit oder nicht weit genug gehen. Trump drohte im Mai 2017, die staatlichen Zuschüsse an private Krankenversicherungen einzustellen und Obamacare dadurch „verbrennen zu lassen“.
Am 25. Juli 2017 stimmte der US-Senat mit 50:50 Stimmen ab; Vizepräsident Mike Pence (der als amtierender Senatspräsident bei einem Patt das Stimmrecht hat) votierte dafür, eine Debatte über ein Alternativgesetz zu eröffnen. Einen Tag später votierten 55 von 100 Senatoren gegen den Plan von Mehrheitsführer Mitch McConnell, Obamacare abzuschaffen und erst später einen Ersatz dafür zu schaffen.
Am 25. September 2017 scheiterte der dritte Anlauf zur Änderung von Obamacare, nachdem die republikanische Senatorin Susan Collins bekannt gab, den jüngsten Gesetzentwurf ihrer Partei nicht mitzutragen. Zuvor hatten bereits die Senatoren Rand Paul und John McCain angekündigt, mit Nein zu stimmen. Zudem endete im September 2017 die Frist, innerhalb der ein Gesetzentwurf zur Abschaffung oder zur tiefgreifenden Änderung von Obamacare mit einer Mehrheit von 50 Stimmen im Senat hätte verabschiedet werden können. Seit Oktober 2017 werden 60 Stimmen benötigt, dadurch ist es unwahrscheinlich geworden, dass Obamacare noch abgeschafft wird.
Siehe auch
COVID-19-Pandemie in den Vereinigten Staaten#Behandlungskosten
Literatur
Weblinks
U.S. Department of Health & Human Services: Health Reform
Bundeszentrale für politische Bildung: (Dossier USA) Krankes Gesundheitssystem von Timothy Stoltzfus Jost
Einzelnachweise
Gesundheitspolitik (Vereinigte Staaten)
Vereinigte Staaten |
3816344 | https://de.wikipedia.org/wiki/Knochenmetastase | Knochenmetastase | Knochenmetastasen, auch Skelettmetastasen oder ossäre Metastasen genannt, sind durch die Absiedlung (Metastasierung) von Krebszellen eines Primärtumors gebildete bösartige sekundäre Knochentumoren. Es sind die mit Abstand am häufigsten auftretenden Knochentumore im Erwachsenenalter. Bei einigen Krebserkrankungen, wie beispielsweise Brust- oder Prostatakrebs, sind Knochenmetastasen eine häufig auftretende Komplikation, die einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der betroffenen Patienten sowie auf den Verlauf und die Prognose der Krankheit hat. Grundsätzlich kann jeder Tumor, der über die Blutbahn metastasiert, das Knochenmark infiltrieren.
Die dabei gebildeten Metastasen können knochenbildend (osteoblastisch) oder knochenabbauend (osteolytisch) sein oder beide Formen zugleich (gemischt) aufweisen. Knochenmetastasen bewirken Tumorosteopathien, das heißt tumorbedingte Knochenerkrankungen. Sie können dabei den Stoffwechsel der Knochen lokal oder systemisch beeinflussen.
Neben der Lunge und der Leber ist das Skelett am häufigsten von Krebsmetastasen betroffen. Knochenmetastasen führen in vielen Fällen zu erheblichen Schmerzen und Instabilitäten im betroffenen Knochen, so dass es auch ohne Unfall zu Knochenbrüchen kommen kann.
Die Diagnose „Knochenmetastase“ bedeutet bei den häufigsten Krebserkrankungen, dass keine Heilung mehr möglich ist. Der Schwerpunkt der Behandlung ist daher in den meisten Fällen rein palliativ, das heißt, dass die getroffenen Maßnahmen im Wesentlichen der Verbesserung der Lebensqualität des Patienten dienen. Durch die Verabreichung von Bisphosphonaten und die Strahlentherapie kann sie auch in den meisten Fällen erheblich verbessert werden.
Verbreitung und Verteilung
Knochenmetastasen sind wesentlich häufiger als primäre Knochentumoren, wie beispielsweise das Osteosarkom. In den Vereinigten Staaten rechnet man pro Jahr mit etwa 1,3 Millionen Krebsneuerkrankungen. Davon entwickeln etwa 50 % im Verlauf der Erkrankung Knochenmetastasen, die auch zu Lebzeiten nachgewiesen werden können. Dem stehen etwa 2000 Fälle primärer Knochentumoren gegenüber. Beim Beispiel Osteosarkom – dem häufigsten malignen primären Knochentumor – gibt es in Deutschland etwa 200 Neuerkrankungen pro Jahr. Dagegen lassen sich bei einer gründlichen Autopsie bei etwa 70 % aller Patienten, die an Krebs versterben, Knochenmetastasen nachweisen.
Bei 210.000 Krebstoten pro Jahr in Deutschland wären dies etwa 150.000 Fälle von Knochenmetastasen. Eine große Anzahl dieser Tumorabsiedlungen bleibt jedoch ohne Symptome und ist zu klein, um mittels bildgebender Verfahren detektiert zu werden. Klinisch und radiologisch bedeutsam sind Knochenmetastasen bei etwa 15 % der Krebspatienten. In vielen Fällen führen Knochenmetastasen zu den ersten Symptomen einer Krebserkrankung.
Knochenmetastasen konnten schon bei Mumien nachgewiesen werden; waren früher bei Menschen jedoch ausgesprochen selten, weil Krebs eine altersassoziierte Erkrankung ist, das heißt, es gibt einen Zusammenhang zwischen Krankheitswahrscheinlichkeit und Lebensalter. Nur ein kleiner Anteil unserer Vorfahren erreichte also ein Alter, bei dem eine hohe Wahrscheinlichkeit an Krebs zu erkranken gegeben ist.
Aufgrund des demographischen Wandels in den industrialisierten Ländern, der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung und der verbesserten medizinischen Versorgung nimmt die Inzidenz (Anzahl der Neuerkrankungen) von Knochenmetastasen stetig zu. Die Fortschritte in der Behandlung der meisten Krebserkrankungen haben zu einer Verbesserung der relativen Überlebenszeiten geführt, die ebenfalls mit einer Zunahme der Fälle von Skelettmetastasen korreliert. Die verbesserte Krebstherapie erhöht die statistische Wahrscheinlichkeit, Knochenmetastasen zu entwickeln.
Die Wahrscheinlichkeit einer Knochenmetastase ist sehr stark vom Primärtumor und seinem Stadium abhängig. Bei Männern mit der Todesursache „Prostatakrebs“ sind beispielsweise bei etwa 90 % der Betroffenen Knochenmetastasen nachweisbar. Auch bei Brustkrebs ist die Metastasierung in die Knochen ausgesprochen häufig. 90 % aller Knochenmetastasen stammen entweder von Brustkrebs, Prostatakrebs, Bronchialkrebs, Nierenkrebs oder multiplem Myelom. Knochenmetastasen sind bei Sarkomen und – bis auf bei den genannten Multiplen Myelomen – bei Lymphomen selten.
Das mittlere Alter der betroffenen Patienten liegt bei Männern im sechsten Lebensjahrzehnt und bei Frauen – bedingt durch Brustkrebserkrankungen – im fünften Lebensjahrzehnt.
Skelettale Metastasen treten etwa in 75 % der Fälle gehäuft (multipel) auf. In den übrigen Fällen sind sie einzeln (solitär) und können einen primären Knochentumor vortäuschen.
Pathogenese
Metastasierung
Wenn sich Krebszellen vom Primärtumor ablösen und über das Blut- oder Lymphsystem wandern, so kann sich ein kleiner Teil dieser Zellen in anderen Organen wieder ansiedeln („Kolonien bilden“) und sich dort vermehren. Im Fall von Knochenmetastasen erfolgt die Ausbreitung fast ausschließlich über die Blutbahn.
Als Zielorgane für die Besiedlung von Tumorzellen sind die – vom Primärtumor aus betrachtet – stromabwärts liegenden nächsten Organe relativ häufig betroffen. Zumeist siedeln sich die vom Primärtumor abgelösten Krebszellen im Knochenmark über deren jeweilige Arteria nutricia – das ist die blutversorgende Arterie eines Knochens – an. Das Prostatakarzinom hingegen metastasiert vor allem durch ein vor der Wirbelsäule liegendes Netzwerk aus Venen in die Wirbelsäule und befällt dabei mit absteigender Häufigkeit Lendenwirbelsäule, Oberschenkelknochen, Becken, Brustwirbelsäule und Rippen.
Die Bereiche der Knochen, in denen die Blutbildung stattfindet, bieten den Tumorzellen günstige Wachstumsbedingungen. Die geringe Strömungsgeschwindigkeit des Blutes in den Knochen erleichtert zudem das Anheften der Tumorzellen an die Gefäßwand. Dadurch erst kann die Proteinschicht um das Knochenmark mit Enzymen der Tumorzellen aufgelöst werden und so Tumorzellen in das Knochenmark eindringen. Knochenmetastasen entstehen fast ausschließlich im Markraum.
Anfänglich findet die Metastasierung in der mit rotem Knochenmark gefüllten Markhöhle im Inneren des Knochens statt. Danach werden die weiter außen liegenden Bereiche der Substantia spongiosa und letztlich der Substantia compacta befallen.
Bei manchen Patienten bilden sich Knochenmetastasen oft erst viele Jahre nach der Entfernung des Primärtumors. Man geht in solchen Fällen davon aus, dass die Krebszellen lange im Zustand der Tumor Dormancy verharren und jahrelang sich nicht vermehren, bevor sie klinisch relevant werden.
Welche Zielorgane Krebszellen bei der Metastasierung bevorzugen, ist in weiten Teilen noch nicht aufgeklärt; nach der Seed-and-Soil-Theorie kommt es zur Ansiedlung von Krebszellen, wenn die passende Tumorzelle (seed) eine besonders hohe Affinität zu dem das betroffene Organ umgebende Milieu (soil) aufweist. Proteine mit guten Haftungseigenschaften, wie beispielsweise die Cadherine, scheinen bei der Kolonialisierung eine wichtige Rolle zu spielen.
Osteolytische, osteoplastische und gemischt osteoplastische/osteolytische Knochenmetastasen
In den Knochen verursachen die Tumorzellen lokale Veränderungen der Knochenstruktur, die durch eine Störung des Gleichgewichts bei der Knochengeweberemodellierung hervorgerufen wird. Diese können entweder osteoplastisch (Knochen bildend) oder osteolytisch (Knochen abbauend) oder gemischt osteolytisch/osteoplastisch sein. Darüber hinaus können Knochenmetastasen verschiedene Botenstoffe freisetzen, die im gesamten Knochensystem zu einer Minderung der Knochendichte führen. Die Zellen der Knochenmetastasen sind selbst nicht direkt am Auf- und Abbau der Knochen beteiligt. Diese Prozesse laufen über Osteoklasten oder Osteoblasten – das sind die Zellen, die für den Ab- und Aufbau des Knochens bei der Knochengeweberemodellierung zuständig sind: diese werden von den Zellen der Knochenmetastasen über Signalproteine angesprochen. In seltenen Fällen, und nur bei sehr aggressiven Metastasen, kommt es zu einem direkten Abbau der Knochenmatrix durch die Tumorzellen, die auflösende Enzyme, wie lysosomale Hydrolasen, Peptidasen und Kollagenasen, ausschütten.
Osteolytische Knochenmetastasen sind mit einem Anteil von etwa 75 % die häufigsten Knochenmetastasen. Die Primärtumoren sind meist Nieren-, Lungen-, Brust- oder Schilddrüsenkarzinome. Das stark osteolytische multiple Myelom wird im deutschsprachigen Raum nicht zu den Knochenmetastasen gerechnet.
Osteoplastische Knochenmetastasen sind seltener als die osteolytische Variante. Ihr Anteil an den Knochenmetastasen liegt bei etwa 15 %. Osteoplastische Metastasen treten im Wesentlichen beim Prostatakarzinom, seltener bei anderen Krebserkrankungen, auf. In der Literatur wurden osteoplastische Metastasen bei Brustkrebs,
Myelom,
Kolorektalen Karzinom,
Astrozytom,
Glioblastom,
Thymom,
Karzinoid,
Nasopharynxkarzinom,
Zollinger-Ellison-Syndrom,
leptomeningeale Gliomatose
und Zervixkarzinom
beschrieben.
Osteolytische und osteoplastische Metastasen sind die beiden Extreme der Fehlregulation der Knochengeweberemodellierung. Von diesen beiden Extremen aus betrachtet sind in einem fließenden Übergang alle dazwischen liegenden Zustände möglich. Die Art der primären Krebserkrankung hat keinen Einfluss darauf, ob es sich um osteoplastische oder osteolytische Knochenmetastasen handelt, sondern kann von Patient zu Patient verschieden sein. Krebserkrankungen mit osteoplastischen Metastasen, wie die meisten Prostatakarzinome, haben auch osteolytische Anteile, die beispielsweise das Risiko einer pathologischen Fraktur erhöhen. Bei durch Brustkrebs verursachten Knochenmetastasen haben die meisten Patientinnen osteolytische Metastasen, bei 15 bis 20 % sind sie jedoch osteoplastisch.
Mit etwa 10 % Anteil an den Knochenmetastasen stellen die gemischt osteoplastischen/osteolytischen Metastasen die kleinste Gruppe der Knochenmetastasen dar. Prinzipiell können alle Primärtumoren Absiedlungen mit gemischten Knochenmetastasen bilden. Bevorzugt ist dies aber bei Brustkrebs und Bronchialkarzinom der Fall. Osteoplastische und osteolytische Metastasen können auch nebeneinander auf einem Knochen auftreten.
Als Reaktion auf die Osteolyse erfolgt immer ein Knochenaufbau, der beispielsweise im Röntgenbild als osteoblastischer Randsaum sichtbar ist, auch wenn der Knochenabbau überwiegt. Im Vergleich dazu ist das multiple Myelom – eine primäre Krebserkrankung des Knochens – immer rein osteolytisch.
Interaktion Krebszelle mit Knochen
Die Metastasierung in die Knochen ist also kein zufälliger Prozess, sondern das Ergebnis komplexer molekularer Interaktionen zwischen abgesiedelten Krebszellen und ihrer Umgebung: Diese Interaktionen ermöglichen es Tumorzellen, in die extrazelluläre Matrix des Knochens einzudringen und im Knochen zu wachsen.
Osteomimikry
Zellen, die die Fähigkeit erworben oder entwickelt haben, in Knochen metastasieren zu können, exprimieren besonders viele Gene, die mit dem Stoffwechsel der Knochen in Verbindung stehen, das heißt, sie haben die Fähigkeit Knochenmatrixproteine zu produzieren, mit denen sie das Erscheinungsbild einer Knochenzelle, speziell eines Osteoblasten, nachahmen. Dieser Vorgang wird als „Osteomimikry“ bezeichnet (von griech. osteo = ‚Knochen‘ und Mimikry). Zu den exprimierten Proteinen gehören unter anderem die alkalische Phosphatasen und Signalmoleküle, die den sogenannten Crosstalk (die Interaktion zwischen verschiedenen Transkriptionsfaktoren) zwischen Osteoblasten/Osteoklasten regulieren. Der Crosstalk zwischen Tumorzellen und Osteoblasten ist ein bisher noch nicht vollständig verstandener Abschnitt der Metastasierung. Er löst in den Tumorzellen eine veränderte Genexpression aus, die eine Besiedlung der Knochen mit Metastasen fördert. Diese Zell-Zell-Kommunikation ist ein wesentliches Element der Metastasierung.
Mit Hilfe der Osteomimikry sichert sich die Tumorzelle in ihrem Gastgewebe einen Überlebensvorteil. Dem Immunsystem entgehen einige dieser abgesiedelten Tumorzellen, weil diese Proteine bilden, die der Proteinstruktur normaler Knochenmarkzellen entsprechen. Ein sehr hoher Anteil der abgesiedelten Tumorzellen wird vom Immunsystem erkannt und beseitigt. Einige dieser Krebszellen können aber durch evolutionäre Prozesse (Immunoediting) in ihrem neuen Wirt unerkannt bleiben und so dem Immunsystem entkommen (Immunescape).
Die Hypothese der Osteomimikry wurde erstmals 1999 von einer Arbeitsgruppe um den US-amerikanischen Urologen Leland W. K. Chung aufgestellt und ist durch pathologische Untersuchungen gut abgesichert.
Hypoxie als begünstigender Faktor für Knochenmetastasen
Im Mikroumfeld der Knochen herrscht ein Sauerstoffmangel (Hypoxie). Der Partialdruck des Sauerstoffs pO2 liegt bei 1 bis 7 %. Dieser Sauerstoffmangel ist für das Wachstum der Tumorzellen in den Knochenmetastasen förderlich. Tumorzellen sind an hypoxische Bedingungen gut angepasst. Zudem begünstigt die sauerstoffarme Umgebung die Verbreitung der Tumorzellen und die Neubildung von Blutgefäßen (Neoangiogenese). Die Hypoxie hat außerdem zur Folge, dass die Knochenmetastasen eine hohe Resistenz gegenüber einer Strahlen- und Chemotherapie aufweisen, was mit ein Grund für die Unheilbarkeit vieler Knochenmetastasen ist. Eine wichtige Rolle bei der Hypoxie spielt der Hypoxie-induzierte Faktor HIF-1α. Bei einem hohen Sauerstoffpartialdruck ist HIF-1α hydroxyliert und so das Ziel für den enzymatischen Abbau durch den Hippel-Lindau-Tumor-Suppressor. Bei Sauerstoffmangel ist hingegen HIF-1α dehydroxyliert und kann im Zellkern zu HIF-1β dimerisieren, wo es die Transkription von hypoxiegeregelten Zielgenen vermittelt. Die Expression von HIF-1α korreliert direkt mit dem Grading des Tumors, der Invasivität und der Metastasierung.
Klinische Erscheinung
Schmerzen
In vielen Fällen sind Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, vor allem in den Lendenwirbeln, das erste Symptom für eine Krebserkrankung mit Knochenbeteiligung. Beim Auftreten von Schmerzen ist die Krebserkrankung in der Regel schon weit fortgeschritten. Von den Betroffenen wird der Schmerz, der sich auch in Phasen der Ruhe nicht bessert, oft als „tief bohrend“ und „schlecht lokalisierbar“ beschrieben. Diese Form der Schmerzen unterscheidet sich von den durch Instabilitäten der Wirbelsäule hervorgerufenen Schmerzen, die vor allem bei der Bewegung der Wirbelsäule auftreten und durch eine Quetschung der Spinalnerven hervorgerufen werden.
Schmerzen sind der wesentliche Faktor für die Abnahme der Lebensqualität bei Patienten mit Knochenmetastasen.
Verantwortlich für diese Schmerzen sind Nerveneinengungen, Minderdurchblutung und die Freisetzung von entzündungsfördernden Botenstoffen (proinflammatorische Mediatoren) durch die Knochenmetastasen oder von „normalen“ Zellen, die sich im Umfeld der Knochenmetastasen befinden. Die zellwandauflösenden Krebszellen greifen im letzteren Fall in die Selbstregulation des Knochens (hier: Gleichgewicht und Milieu des Knochens) ein, indem sie Stoffe (Zytokine) freisetzen, die wiederum die Osteoklasten aktivieren.
Neben dem Abbau des betroffenen Knochens führt die Aktivierung der Osteoklasten zu einem sauren Milieu (niedriger pH-Wert) in ihrem Umfeld, der Schmerzen im Knochen verursacht. Der dem Knochenabbau entgegenwirkende, aber weitgehend unkontrollierte Knochenaufbau durch die Osteoblasten führt zu einer Einengung der Nervenenden, die sich im Knochenmark, der Knochenhaut und in der Knochenmatrix befinden, was wiederum die Ursache für Schmerzen ist. Die Summe dieser Veränderungen am Knochen bewirkt einen einzigartigen mechanischen und neurochemischen Krankheitsprozess, der über eine reine Kombination neuropathischer und entzündlicher Schmerzen hinausgeht. Die neurochemischen Veränderungen führen dazu, dass erheblich höhere Dosen von Opioiden zur Schmerzbehandlung verabreicht werden müssen als beispielsweise bei Entzündungsschmerzen mit ähnlicher Intensität. Die Behandlung der Schmerzen ist eines der wesentlichen Ziele der palliativen Betreuung von Patienten mit Knochenmetastasen.
Pathologische Frakturen
Seltener wird eine Knochenmetastase durch eine pathologische Fraktur erstmals symptomatisch.
Pathologische Frakturen sind Knochenbrüche, die ohne äußere Einwirkungen aufgrund einer erkrankungsbedingten Schwächung der Knochenmatrix entstehen. Vor allem osteolytische, aber auch osteoplastische Knochenmetastasen schwächen den betroffenen Knochen, der dann unter Umständen schon durch leichte mechanische Belastungen überfordert ist und bricht. Diese Brüche können unter alltäglichen Situationen, wie beispielsweise dem Aufrichten aus einem Sessel oder dem Umlagern eines Patienten, auftreten. Bei den osteoplastischen Knochenmetastasen ist zwar die Knochendichte erhöht, die Knochenfestigkeit ist aber durch den völlig unstrukturierten Aufbau herabgesetzt. Im Bereich der Wirbelsäule können sie zu Versteifungen führen.
Pathologische Frakturen führen zu weitreichenden Komplikationen und haben einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität sowie die Prognose. Die mittlere Lebenserwartung kann um mehrere Monate sinken. Mit Bisphosphonaten lässt sich diese Form von Knochenbrüchen in vielen Fällen vermeiden.
Von Knochenbrüchen sind meist die Rippen oder Wirbelkörper betroffen. Brüche in den langen Röhrenknochen, insbesondere am Hals des Oberschenkelknochens („Oberschenkelhalsbruch“), haben eine besonders hohe Morbidität und sind der Hauptgrund für eine chirurgische Versorgung. Frakturen an Wirbelkörpern können zu spinalen Kompressionssyndromen führen.
Spinale Kompressionssyndrome
Kompressionsfrakturen eines oder mehrerer Wirbelkörper können zu einer Kompression des Rückenmarks oder der Cauda equina (Cauda-equina-Syndrom) führen und sind gefürchtete Komplikationen einer Knochenmetastasierung.
Diese spinalen Kompressionssyndrome (Querschnittsyndrome) äußern sich meist durch starke Rückenschmerzen sowie motorische und sensible Ausfälle in den unteren Extremitäten. Auch die Kontrolle der Harnblase und des Mastdarms kann durch die Kompression beeinträchtigt sein.
Bei etwa 5 % aller Krebspatienten tritt ein spinales Kompressionssyndrom in Erscheinung. Der ungefähre Anteil der betroffenen Wirbel liegt zu 70 % im Bereich der Brustwirbelkörper, zu 20 % bei den Lendenwirbelkörpern und zu 10 % bei den Halswirbelkörpern. In 4 bis 22 % der Fälle spinaler Kompressionssyndrome ist es das erste Symptom der ursächlichen Krebserkrankung. Dies ist insbesondere bei Lymphomen, dem Nierenzellkarzinom und Bronchialkarzinomen der Fall.
Die durchschnittliche Überlebenszeit der Patienten mit einem von Knochenmetastasen verursachten spinalen Kompressionssyndrom liegt bei zwei bis sechs Monaten.
Der Zeitraum zwischen dem Auftreten neurologischer Ausfälle und deren Behandlung sollte maximal 24 Stunden betragen. Behandelt wird rein palliativ, beispielsweise mit Strahlentherapie, hohen Dosen von Glucocorticoiden wie Dexamethason und operativer Fixierung mit Implantaten.
Hypercalcämie
Bei etwa 10 bis 20 % aller Patienten mit Knochenmetastasen kann sich eine Hypercalcämie einstellen. Diese haben eine erhöhte Anzahl an Osteoklasten, die einen verstärkten Knochenabbau bewirken, wodurch die in den Knochen gebundenen Calcium-Ionen freigesetzt werden und in das Blut übergehen. Die freien, nicht an Proteine gebundenen Calcium-Ionen im Plasma können akut lebensbedrohlich werden. Der erhöhte Blutkalziumspiegel kann durch Medikamente, wie beispielsweise Bisphosphonaten oder Glucocorticoiden, wirksam gesenkt werden. In akuten Fällen lässt sich mit dem Arzneistoff Calcitonin der Calciumspiegel rasch senken.
Knochenmarkkarzinose
Eine Knochenmarkkarzinose ist eine eher selten auftretende Komplikation als Folge von Knochenmetastasen. In der Literatur werden Häufigkeiten im Bereich von 8 bis 10 % für alle Fälle von Skelettmetastasen genannt. Die metastasierten Krebszellen durchdringen dabei die Markräume der Knochen, was eine Reduzierung oder gar einen Stopp der Bildung von blutbildenden Zellen zur Folge hat (terminale Myelosuppression). Entsprechend äußert sich eine Knochenmarkkarzinose durch Symptome wie Anämie, verminderter Blutgerinnung und gestörtem Immunsystem (erhöhte Infektionsneigung). Die Behandlung einer Knochenmarkkarzinose ist rein palliativ.
Diagnose
In den meisten Fällen werden Skelettmetastasen im Rahmen von Nachsorgeuntersuchungen von Tumorerkrankungen durch bildgebende Verfahren diagnostiziert.
Nach Anamnese, klinischer Untersuchung und Auswertung eines konventionellen Röntgenbildes kann eine erste Differenzialdiagnose erfolgen. Dabei ist es in vielen Fällen schon möglich zwischen Folgendem zu unterscheiden:
gutartigem Knochentumor ohne Wachstumstendenz, beispielsweise einem Hämangiom
gutartigem Tumor mit Wachstumstendenz, beispielsweise einem Riesenzelltumor
primärem bösartigem Knochentumor, beispielsweise einem Ewing-Sarkom
sekundärem bösartigem Knochentumor (Knochenmetastase), mit bekanntem Primärtumor oder unbekanntem Primärtumor (CUP-Syndrom)
Am Rumpfskelett ist die Differenzialdiagnose deutlich schwieriger, sodass oftmals ein zusätzliches bildgebendes Verfahren notwendig ist. Laboruntersuchungen können weitere wichtige Hinweise zur Klärung der Tumorart liefern. Eine mittels Biopsie entnommene Gewebeprobe (ein Bioptat) kann die Frage nach gut- oder bösartig sowie Typ und Ursprung des Primärtumors in den meisten Fällen sicher und abschließend beantworten.
In den anderen Fällen sind Knochenmetastasen das erste Symptom einer Krebserkrankung, das heißt, die Knochenmetastase wird vor dem Primärtumor entdeckt. Man spricht in diesen Fällen bis zur Klärung des Primärtumors, von einem CUP-Syndrom (engl. cancer of unknown primary origin, Krebs bei unbekanntem Primärtumor).
Ist der Primärtumor unbekannt, so erfolgt eine eingehende klinische Untersuchung des Patienten. Die Abklärung, welcher Primärtumor die Knochenmetastasen hervorgerufen hat, ist für die weitere Therapieplanung von entscheidender Wichtigkeit. Bei männlichen Patienten ist, rein statistisch betrachtet, die Wahrscheinlichkeit für ein Prostatakarzinom als Primärtumor sehr hoch, weshalb meist zuerst die Prostata intensiv untersucht wird. Die Blutspiegel des Tumormarkers prostataspezifischen Antigens (PSA) liefern zusätzliche Erkenntnisse. Ähnlich ist die Vorgehensweise bei weiblichen Patienten. Hier ist die Wahrscheinlichkeit eines Mammakarzinoms als Primärtumor besonders hoch, weshalb meist eine eingehende gynäkologische Untersuchung mit Mammografie oder Mammasonografie erfolgt. Hier kann der Tumormarker CA 15-3 weitere Informationen zur Diagnosestellung geben. Mit einer Skelettszintigrafie können eventuell vorhandene weitere Knochenmetastasen gesucht werden. Es ist möglich, dass trotz aufwändiger Diagnostik der Primärtumor nicht (mehr) lokalisiert werden kann.
Mit der Computertomografie (CT), der Magnetresonanztomografie (MRT) und der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) stehen weitere bildgebende Verfahren zur Suche nach dem Primärtumor zu Verfügung. Eine Vielzahl von Tumormarkern kann weitere Indizien liefern. In vielen Fällen bietet eine Biopsie die endgültige Diagnosesicherheit.
Labordiagnostik
Bei Patienten mit Knochenmetastasen weisen die osteoplastischen und osteolytischen Marker und die Marker für die Osteoklastogenese ein verändertes Expressionsmuster auf. Die Bestimmung der Plasmaspiegel dieser Marker kann als diagnostisches Hilfsmittel bei Knochenmetastasen eingesetzt werden. Die Untersuchung des Serums auf bestimmte, mit Knochenmetastasen assoziierte Marker liefert im Normalfall aber keinen eindeutigen Beweis für die Diagnose von Knochenmetastasen. Die meisten Laborparameter sind zu unspezifisch, da sie auch durch andere Erkrankungen verändert sein können.
Generell liefern chemische Messwerte keine Diagnosen. Sie bieten aber wichtige zusätzliche Informationen bei der Diagnosestellung und liefern als gewebe- und/oder prozessspezifische Indikatoren wertvolle Beiträge zum diagnostischen „Puzzle“. Da in vielen Fällen Knochenmetastasen die ersten Symptome einer Krebserkrankung sind, kann anhand der aus dem Patientenblut bestimmten endokrinologischen Parameter der Verdacht auf Knochenmetastasen bestätigt oder entkräftigt werden, bevor aufwändigere bildgebende Verfahren zum Einsatz kommen.
Bei anderweitig gesicherter Diagnose können die Marker als Indikatoren für den Status der Knochenmetastasierung dienen und so zur Therapiekontrolle genutzt werden. Die Marker können beispielsweise zur Kontrolle der Wirksamkeit und zur Optimierung einer Behandlung mit Bisphosphonaten herangezogen werden.
Für die Labordiagnostik sind das Osteocalcin, die alkalische Phosphatase, die N-terminale Form vom Prokollagen Typ I Propeptid (PINP) und die C-terminale Form vom Prokollagen Typ I (PICP) wichtige Marker, die eine vermehrte Knochenbildung anzeigen. Dagegen dienen die beiden Kollagenfragmente carboxyterminalen Typ-I-Kollagen-Telopeptide ICTP (engl. cross-linked C-terminal telopeptide of type I collagen) und β-CTX (engl. beta isomer of C-terminal telopeptide of type I collagen) sowie die Tartrat-resistente saure Phosphatase 5b (TRAcP5b) als Marker für die Knochenresorption bei Knochenmetastasen.
Die Spiegel der verschiedenen Marker für Knochenmetastasen zeigen keine Korrelation zum Schmerzgrad der Metastasen. Zwischen der Konzentration der Knochenmarker im Serum und dem Überleben der Patienten besteht eine negative Korrelation (hohe Markerspiegel bedeuten statistisch betrachtet eine kürzere Lebenserwartung).
PINP und PICP
Kollagen Typ I ist mit einem Anteil von über 90 % der Hauptbestandteil der organischen Knochenmatrix. Reifes Kollagen Typ I wird im Rahmen des normalen Knochenumbaus ständig abgebaut. Fragmente werden über die Blutbahn in die Nieren transportiert und dort ausgeschieden. Bei einem erhöhten Knochenabbau, wie er beispielsweise bei osteolytischen Knochenmetastasen vorliegt, steigt der Spiegel dieser Fragmente im Blutserum an. Um den Knochenabbau zu kompensieren, werden Reparaturmechanismen aktiviert, die eine ausreichende Knochenmasse gewährleisten sollen. Prokollagen Typ I, das amino- und carboxyterminale Präkursor-Proteine (Vorläufer-Proteine) enthält, wird von Osteoblasten und Fibroblasten sezerniert. Die carboxy- und aminoterminalen Propeptide PICP beziehungsweise PINP werden durch Proteasen bei der Umwandlung von Prokollagen in Kollagen abgespalten und danach in die Blutbahn abgegeben. Ihre dortige Konzentration korreliert mit dem Ausmaß an der Neubildung von Kollagen Typ I.
PINP kann als Marker bei Diagnose und Verlaufskontrolle skelettaler Metastasen, wie beispielsweise des multiplen Myeloms, des Prostatakarzinoms, oder des Mammakarzinoms verwendet werden. Die Korrelation zwischen Verlust an Knochenmasse und PINP-Konzentration konnte beispielsweise bei Patientinnen mit Brustkrebs nach der Menopause nachgewiesen werden.
Die Konzentration von PINP im Serum korreliert bei Patientinnen mit Brustkrebs mit der Anzahl an Knochenmetastasen.
ICTP
Der ICTP-Spiegel ist bei osteolytischen und gemischt osteolytisch/osteoplastischen Knochenmetastasen erhöht und relativ unempfindlich, was Schwankungen im normalen Knochenstoffwechsel betrifft. Bei Niereninsuffizienz mit einer glomerulären Filtrationsrate von weniger als 50 ml/min ist die Konzentration von ICTP, das über die Niere ausgeschieden wird, allerdings ebenfalls erhöht.
ICTP und β-CTX können als zusätzliche Indikatoren für Knochenmetastasen beim Bronchialkarzinom dienen.
Osteocalcin
Osteocalcin wird nur von aktiven Osteoblasten gebildet. Es kann sowohl im Blut als auch im Urin nachgewiesen werden. Osteolytische und osteoplastische Knochenmetastasen erhöhen die Spiegel von Osteocalcin. Erhöhte Werte dieses Peptidhormons sind allerdings nicht spezifisch nur bei Knochenmetastasen zu beobachten. Auch bei Hyperparathyreoidismus, High-Turnover-Osteoporose, Osteodystrophia deformans (Paget-Syndrom), Osteomalazie, Hyperthyreose oder Niereninsuffizienz werden erhöhte Werte im Serum gemessen. Osteocalcin kann beispielsweise bei differenzierten Schilddrüsenkarzinomen als Marker für den Nachweis von Knochenmetastasen dienen.
Beim Prostatakarzinom ist es als Marker dagegen weitgehend unbrauchbar.
Knochenspezifische alkalische Phosphatase
Die knochenspezifische alkalische Phosphatase (BAP, bone-specific alkaline phosphatase) ist ein Marker der mittleren Phase der Knochenbildung, der während der Reifung der Knochenmatrix freigesetzt wird. BAP ist ein spezifischer Marker für Osteogenese und osteoplastische Metastasen und zeigt diskrete bis deutlich ausgeprägte Anstiege der Serumspiegel. Speziell beim Prostatakarzinom ist bei einer Metastasierung in die Knochen ein derartiger Anstieg zu beobachten. Andere Erkrankungen mit ausgeprägter Osteogenese, wie Osteodystrophia deformans oder Osteomalazie, führen allerdings ebenfalls zu erhöhten BAP-Spiegeln im Serum.
Andere Marker
Über die Bestimmung von freien Calcium-Ionen im Serum können Hypercalcämien, als eine Folge von osteolytischen Knochenmetastasen, diagnostiziert werden. Außer durch osteolytische Knochenmetastasen können Hypercalcämien durch eine Vielzahl anderer Erkrankungen hervorgerufen werden. Auch der Primärtumor alleine kann durch Drosselung der Calcium-Ausscheidung über die Nieren den Calcium-Spiegel im Blut ansteigen lassen.
Bei Patienten mit osteolytischen Metastasen finden sich im Blut auch erhöhte Spiegel an Prostaglandin E2 (PGE2). Das Gleiche gilt für das Strukturprotein Osteopontin.
Bildgebende Verfahren
Röntgen
Für die initiale Diagnosestellung hat das konventionelle Röntgenbild eine zentrale Bedeutung. Die Indikation für Aufnahmen in zwei Ebenen ist bei dem Verdacht auf Knochentumoren immer gegeben.
Osteolytische Metastasen sind durch eine Abnahme der Knochendichte gekennzeichnet. Dies ist in der Röntgenaufnahme aufgrund der höheren Transparenz für Röntgenstrahlen, durch einen höheren Schwärzungsgrad zu erkennen. Umgekehrt zeigen osteoplastische Metastasen wegen der Zunahme der Knochendichte einen geringeren Schwärzungsgrad. Osteolytische Knochenmetastasen sind an der Wirbelsäule deutlich schwieriger zu erkennen; meist erst dann, wenn bereits etwa 50 % der Gesamtknochenstärke verlorengegangen ist.
Skelettszintigrafie
Die Skelettszintigrafie ist derzeit noch der Goldstandard für das Erkennen von Knochenmetastasen. Das Verfahren ist relativ aufwändig, kostenintensiv und unterliegt einigen diagnostischen Limitationen. Im Gegensatz zur Röntgendiagnostik kann bei der Skelettszintigrafie relativ einfach der gesamte Befall des Skeletts dargestellt werden. Eine Skelettszintigrafie ist für das Aufspüren von Knochenmetastasen normalerweise deutlich empfindlicher als eine Röntgenaufnahme. Die Sensitivität der Skelettszintigraphie ist mit 95 % recht hoch. Im Durchschnitt werden mit dieser Methode Knochenmetastasen sechs Monate vor ihrer Erkennung im Röntgenbild nachgewiesen. Dagegen ist die Spezifität wesentlich geringer, da nahezu alle tumorösen und inflammatorischen Veränderungen am Skelett zu einer Anreicherung des Radiotracers in diesen Arealen führt. Der erhöhte Knochenumsatz und Reparaturvorgänge im Randbereich von osteolytischen Knochenmetastasen hat eine erhöhte Speicherung des Radiotracers zur Folge, die als Hot Spot im Szintigramm sichtbar sind. Bei Knochenmetastasen von Lungen- oder Brustkrebs kann die reaktive Knochenneubildung in seltenen Fällen ausbleiben. Im Szintigramm ist dies dann als Cold Spot, ein Bereich mit reduzierter Nuklidaufnahme, zu erkennen.
Beim rein osteolytischen multiplen Myelom sind bei der Skelettszintigrafie dagegen keine Veränderungen zu erkennen. Während im Röntgenbild das Ergebnis der Aufsummierung von Stoffwechselvorgängen am Knochen über einen längeren Zeitpunkt zu sehen ist, stellt die Skelettszintigrafie eine Momentaufnahme der aktuellen Stoffwechselvorgänge an den Knochen dar. Deshalb können beispielsweise Knochenmetastasen mit osteoplastischen Prozessen, die mit einer sehr niedrigen Stoffwechselrate ablaufen, im Szintigramm unauffällig bleiben.
Die Skelettszintigrafie wird vor allem zur Therapiekontrolle der Chemo-, Strahlen- oder Radionuklidtherapie, für die Stadienbestimmung (engl. staging) beim CUP-Syndrom angewendet und zur Nachsorge bei Krebserkrankungen eingesetzt.
Computertomografie
Die Computertomografie (CT) erfolgt meist nach der konventionellen Röntgenaufnahme und der Skelettszintigrafie. In diesen der CT vorgeschalteten Untersuchungsverfahren werden die Bereiche lokalisiert, die dann mittels CT in erheblich höherer Auflösung und besserer Qualität dargestellt werden sollen. Die CT liefert Informationen über das Ausmaß der Knochenzerstörung und die Stabilität des von Knochenmetastasen betroffenen Bereiches. Diese Informationen sind für die Planung der Behandlung, insbesondere für etwaige chirurgische Interventionen, von großer Wichtigkeit.
Die Indikation für eine CT ist daher vor stabilisierenden operativen Eingriffen (beispielsweise eines Wirbelsäulenabschnittes), vor einer Nadelbiopsie (wenn die Läsion im Szintigramm sichtbar, aber in der Röntgenaufnahme nicht sichtbar ist) sowie bei drohenden oder bereits eingetretenen Frakturen gegeben.
Magnetresonanztomografie
Mit der Magnetresonanztomografie (MRT) können insbesondere Weichteilgewebe gut bildmäßig dargestellt werden. Sie gilt für die Diagnostik von spinalen Metastasen (Metastasen in der Wirbelsäule) als Goldstandard. Mit der MRT können darüber hinaus weitere Komplikationen im Bereich der spinalen Metastasen, wie beispielsweise Infektionen oder Verletzungen des Bandscheiben- und Ligamentkomplexes, Knochenmarködeme nach einer frischen Fraktur, oder Kompressionen neuraler Strukturen, sichtbar gemacht werden. Mit Hilfe der STIR-Sequenz (engl. short tau inversion recovery) ist es möglich, das Alter einer Fraktur zu ermitteln. Zum Aufspüren von Metastasen ist die T1-Wichtung mit Gadolinium-haltigen Kontrastmitteln, wie beispielsweise Gadotersäure, besonders gut geeignet. Das Kontrastmittel reichert sich in den Metastasen besonders stark an.
Für die Rezidivdiagnostik ist die MRT besser als die CT geeignet. So erzeugen Titanimplantate bei der MRT weniger Artefakte.
Positronen-Emissions-Tomografie
Knochenmetastasen unterschiedlicher Tumorerkrankungen können mit PET/CT sehr gut nachgewiesen werden. Das Verfahren ist sensitiver als die SPECT und erheblich sensitiver als die Skelettszintigrafie, jedoch auch aufwändiger und somit teurer. Je nach Tumorentität werden unterschiedliche Tracer verwendet, meist jedoch FDG und Natriumfluorid, beim Prostata-Krebs auch 18F-Cholin. Metabolische Aktivität des Tumors ist mit Hilfe des Tracers FDG, die Reaktion des Knochens auf den Tumor mit der Natriumfluorid-PET/CT meist gut darstellbar.
Knochenmarkbiopsie
Speziell bei einem unbekannten Primärtumor kann eine Knochenmarkbiopsie wesentliche Erkenntnisse über die Ätiologie der Knochenmetastase liefern. Aus den per Biopsie entnommenen Zellen der Metastase kann durch eine pathohistologische Untersuchung eine Zuordnung zum Primärtumor erfolgen. Auch bei bekanntem Primärtumor kann die Indikation für eine Knochenmarkbiopsie gegeben sein. Sie dient in diesen Fällen der Diagnosesicherung und dem Ausschluss eines Zweitkarzinoms.
Auch für die Differenzialdiagnose, ob es sich um eine Knochenmetastase oder einen primären Knochentumor handelt, liefert die Biopsie wichtige Informationen. Da eine Biopsie Artefakte bei einer nachfolgenden bildgebenden Diagnose liefern kann, erfolgt sie in der Regel immer nach Abschluss der bildgebenden Verfahren.
Bei stark entdifferenzierten Zellen kann auch histopathologisch keine Zuordnung zu einem Primärtumor erfolgen.
Therapie
Bei den häufigsten Knochenmetastasen, die durch Brust-, Prostata- oder Bronchialkarzinom verursacht werden, ist eine kurative (heilende) Behandlung in den meisten Fällen nicht mehr möglich. Zudem gibt es bisher keine effektive Behandlungsmethode für Knochenmetastasen. Bisphosphonate und der RANKL-Antikörper Denosumab erhöhen die Lebensqualität, verlängern aber nicht die Lebensspanne der Erkrankten.
Im Gegensatz zu Metastasen in Lunge oder Leber ist die Überlebenszeit bei Knochenmetastasen relativ lang. Sie können daher unter Umständen über viele Jahre durch ihre Symptome die Morbidität bei vielen Krebserkrankungen bestimmen. Die Behandlung der Knochenschmerzen ist eines der wesentlichen palliativen Therapieziele. In einigen Publikationen wird die Gabe von Calcitonin als schmerzlindernd beschrieben.
Dazu wird der Wirkstoff entweder unter die Haut gespritzt oder als Nasenspray verabreicht. Neuere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Calcitonin nicht zur Schmerztherapie von Knochenmetastasen geeignet ist.
Die Zellen von Knochenmetastasen verhalten sich weitgehend wie die Zellen des Primärtumors, aus dem sie hervorgegangen sind. Viele therapeutische Maßnahmen, die beim Primärtumor wirksam sind, zeigen auch eine Wirkung bei den Knochenmetastasen. Diese Form der Behandlung, zu der die „Hormontherapie“ (besser: Antihormontherapie) und die Chemotherapie gehören, ist gegen die Krebsart an sich und nicht speziell gegen Knochenmetastasen gerichtet. Andere Therapieformen werden gezielt zur Bekämpfung von Knochenmetastasen eingesetzt. Dazu gehören die Strahlentherapie, die Bisphosphonattherapie und chirurgische Eingriffe.
Strahlentherapie
Der Einsatz der Strahlentherapie zur Behandlung von Knochenmetastasen ist rein palliativ. Die Krebserkrankung wird nicht geheilt, aber bei etwa 70 % der so behandelten Patienten werden die Schmerzen deutlich gelindert. Einer Metastudie aus dem Jahr 2000 zufolge wird bei 41 % der behandelten Patienten eine Schmerzreduzierung um mindestens 50 % für mindestens einen Monat erreicht. Ein Drittel der Patienten war nach der Behandlung vollständig schmerzfrei. Etwa 70 % der osteolytischen Metastasen rekalzifizieren nach der Bestrahlung wieder. Die volle Belastbarkeit des Knochens wird bei größeren Läsionen nach etwa sechs Monaten wieder erreicht. Üblicherweise werden relativ niedrige Strahlendosen, im Bereich von 10 bis 40 Gray, verwendet. Diese Dosis wird üblicherweise auf 15 bis 18 kleinere Einzeldosen aufgeteilt. Die Bestrahlung kann täglich ambulant durchgeführt werden und dauert bis zu vier Wochen. Durch die niedrige Dosis sind ernsthafte Nebenwirkungen sehr selten. Das Privatleben wird nicht beeinträchtigt und die Behandlung ist nicht stigmatisierend. Nur in den direkt bestrahlten Bereichen fallen die Haare aus. Übelkeit und Schwäche treten normalerweise nur bei der Bestrahlung von multiplen Knochenmetastasen auf. Auf der Haut sind nur die Markierungen der Feldgrenzen sichtbar. Die relativ niedrige Dosis hemmt vor allem das Wachstum der Osteoklasten und reduziert die Entzündungen im Knochengewebe. Vor/während der Durchführung der Strahlentherapie soll auf jeden Fall ein Nephrologe begleitend zu Rate gezogen werden, um einen optimalen Schutz der Nieren zu gewährleisten, die durch einen erhöhten Anfall von Abbauprodukten aus der Strahlenbehandlung gerade bei älteren Menschen oft bis an die Leistungsgrenze gefordert sind. Bei Vernachlässigung des Nierenschutzes kann Nierenversagen und Abhängigkeit für den Rest des schon beschwerlichen Lebens von der Dialyse die Folge sein.
Palliative Radionuklidtherapie
Bei der palliativen Radionuklidtherapie werden dem Patienten Radiopharmaka injiziert. Wie bei der Strahlentherapie werden durch die Radionuklidtherapie der Knochenumbau und Entzündungen im Bereich der Knochenmetastasen gehemmt. In mehreren Studien konnte die Effektivität der Radionuklidtherapie für Knochenmetastasen bei Brustkrebs und Prostatakarzinom nachgewiesen werden. Die Ansprechrate liegt bei etwa 70 % der behandelten Patienten. Eine vollständige Schmerzfreiheit erzielt man bei etwa 30 % der Patienten. Die Schmerzlinderung setzt etwa 48 Stunden nach der Behandlung mit Rhenium-186 und Samarium-153 ein und hält zwischen einem und zwölf Monaten an. In den ersten zwei bis vier Tagen kommt es bei etwa 10 bis 30 % der Patienten zu einer durchschnittlich drei Tage andauernden Anfangsverschlimmerung der Schmerzen (engl. pain flare). Je nach Primärtumor können außer Rhenium-186 und Samarium-153 noch weitere Radiopharmaka eingesetzt werden. Mit 223Ra-Chlorid (Alpharadin, Handelsname: Xofigo®) ist ferner ein α-Strahler zur Behandlung von symptomatischen Knochenmetastasen kastrationsresistenter Prostatakarzinome zugelassen.
Bisphosphonate
Bisphosphonate sind – zusammen mit dem RANKL-Antikörper Denosumab – die einzigen Arzneimittel, die speziell zur Behandlung von Knochenmetastasen zum Einsatz kommen. Bisphosphonate galten bisher als „Goldstandard“. Ihre Anwendung ist allerdings rein palliativ und nicht kurativ.
Bisphosphonate wurden ursprünglich zur Behandlung von Osteoporose entwickelt. Sie stabilisieren brüchige Knochen, indem sie sich besonders eng mit dem Knochengewebe verbinden. Dies erschwert den Knochenabbau durch die Osteoklasten. Bisphosphonate sind im Allgemeinen gut verträglich und können zusammen mit einer Hormon- oder Chemotherapie verabreicht werden. Moderne Bisphosphonate, wie beispielsweise Zoledronat, sind schnell und lang anhaltend wirksam. Zoledronat wird per Infusion appliziert. Oral verfügbare Bisphosphonate sind beispielsweise Clodronat und Ibandronat. Sie können bequem in Tablettenform aufgenommen werden, sind sehr gut nierenverträglich und für eine Langzeittherapie gut geeignet. In ihrer Wirksamkeit unterscheiden sich die verschiedenen Bisphosphonate nur marginal. Bisphosphonate reduzieren außerdem die durch die Metastasen verursachten Knochenschmerzen.
Bisphosphonatassoziierte Knochennekrosen im Kieferbereich (engl. osteonecrosis of the jaw) sind eine seit 2003 beschriebene Nebenwirkung der Bisphosphonate. Diese Knochenveränderung ist durch eine avaskuläre Knochennekrose, die auf den Kieferknochen begrenzt ist, charakterisiert.
Kontrovers wird die Möglichkeit diskutiert, ob die Gabe von Bisphosphonate vor dem Nachweis von Knochenmetastasen eine präventive oder gar Anti-Tumor-Wirkung hat. Die bisher vorliegenden Studien ergeben noch kein einheitliches Bild. In vitro hat Zoledronat die Eigenschaft, Knochenmetastasen zu unterdrücken, die Zellproliferation herabzusetzen und die Apoptoserate zu erhöhen.
RANKL-Antikörper
Der vollhumane monoklonale Antikörper Denosumab bietet erstmals die Möglichkeit, ursächlich in den pathophysiologischen Mechanismus der Osteoklasten-vermittelten Knochenzerstörung einzugreifen, weshalb hier vom neuen „Goldstandard“ gesprochen wird. Denosumab u. a. ist zugelassen zur Prävention von skelettbezogenen Komplikationen (SRE) (pathologische Fraktur, Bestrahlung des Knochens, Rückenmarkkompression oder operative Eingriffe am Knochen) bei Erwachsenen mit Knochenmetastasen aufgrund solider Tumoren. Die mittlere Zeit bis zum Auftreten des ersten SRE betrug 27,6 Monate für Denosumab und 19,4 Monate für das Bisphosphonat Zoledronsäure. Denosumab unterbricht die Signalübermittlung zwischen Osteoblasten und den knochenabbauenden Osteoklasten. Dabei übernimmt es die Rolle des Osteoprotegerins, welches der natürliche Gegenspieler von RANKL ist. Dadurch wird die Signalübermittlung zum Osteoklasten und damit auch der Teufelskreis der Knochenzerstörung unterbrochen. Denn wenn der Osteoklast keine Befehle mehr empfängt, kann er den Knochenabbau nicht fortsetzen. Durch die Verminderung der Neubildung und Aktivierung der knochenabbauenden Zellen wird das Skelett, das von Metastasen befallen und bedroht wird, geschützt.
Denosumab ist ebenfalls zugelassen zur Behandlung der Osteoporose (Knochenschwund) bei postmenopausalen Frauen mit erhöhtem Frakturrisiko. Denosumab vermindert signifikant das Risiko für vertebrale, nicht-vertebrale und Hüftfrakturen. Die Behandlung von Knochenschwund im Zusammenhang mit Hormonablation bei Männern mit Prostatakarzinom mit erhöhtem Frakturrisiko ist auch Bestandteil der Zulassung. Prolia vermindert bei Männern mit Prostatakarzinom unter Hormonablationstherapie signifikant das Risiko für vertebrale Frakturen.
Antihormontherapie
Einige Tumorarten benötigen für ihr Wachstum bestimmte Sexualhormone. Die Produktion dieser Hormone kann durch eine Antihormontherapie beziehungsweise Hormonentzugstherapie gehemmt werden. Dabei wird das Wachstum des Primärtumors und seiner Metastasen ebenfalls gehemmt. Eine Heilung ist bei der Antihormontherapie nicht möglich. Bei Patienten mit Tumoren, die auf diese Therapieform ansprechen, kann allerdings ein Wachstumsstopp über längere Zeiträume (viele Monate bis Jahre) erzielt werden. Zudem werden die durch den Tumor verursachten Beschwerden gelindert. Mit dem Fortschreiten der Krebserkrankung benötigen nach einiger Zeit die meisten Tumorzellen nicht mehr die Sexualhormone für ihr weiteres Wachstum. Der Tumor ist dann „hormontaub“ (hormonrefraktär) und die Antihormontherapie wird therapeutisch unwirksam.
Chemotherapie
Bei einer Chemotherapie werden Zellen in ihrem Wachstum gehemmt. Stark proliferierende Zellen, zu denen auch die Krebszellen in den Knochenmetastasen gehören, werden besonders geschädigt – allerdings auch gesunde Zellen mit hoher Teilungsrate. So sind beispielsweise die Zellen in den Haarfollikeln in ihrer Proliferation und Differenzierung gestört, was zu einem Haarausfall (Alopezie) führen kann.
Die Wahl des Chemotherapeutikums wird im Wesentlichen von der Tumorart und dessen Wachstumsgeschwindigkeit sowie dem Allgemeinzustand des Patienten bestimmt. Zwischen Chemotherapie und Hormonbehandlung können sich positive synergistische Effekte einstellen.
Chirurgie
Chirurgische Eingriffe an von Metastasen befallenen Knochen sind Teil eines Gesamtkonzeptes. Neben einem oft nur palliativen Ansatz sind in vielen Fällen aber auch kurative Ansätze, z. B. beim Nierenzellkarzinom, möglich. Dem Allgemeinzustand des Patienten kommt dabei besondere Bedeutung zu. Nicht alles, was chirurgisch machbar ist, wird auch realisiert. Die operative Maßnahme sollte, bezogen auf die Gesamterkrankung, einen Gewinn bringen. So sollte die zu erwartende Überlebenszeit des Patienten über der durch die Operation bedingten Nachbehandlungszeit (Rekonvaleszenz) liegen. In vielen Fällen führt auch die bestmögliche Behandlung nicht zu einer Verlängerung der Lebenserwartung eines Patienten mit Knochenmetastasen. Der Allgemeinzustand der Patienten ist wegen der Erkrankung und den Folgen der Therapie ausgesprochen schlecht. Die Komplikationsrate und die Mortalität ist daher erheblich höher als bei anderen Patientengruppen. In Einzelfällen, so speziell bei Metastasen des Nierenzellkarzinoms, besteht bei der operativen Therapie auch eine kurative Chance.
Ein akuter Handlungsbedarf ist vor allem bei pathologischen Frakturen, das heißt Brüchen kranker Knochen ohne äußere Gewaltanwendung, gegeben, wenn es sich um die langen Röhrenknochen oder Bereiche des Beckens in der Nähe der Hüfte handelt. Auch bei einer durch Knochenmetastasen hervorgerufenen Instabilität der Wirbelsäule, die zu neurologischen Ausfällen führen kann, sowie bei spinalen oder radikulären Nervenkompressionen ist ein möglichst zeitnaher chirurgischer Eingriff angezeigt. Relativ einfach kann dabei dem Rückenmark von hinten (dorsal) Platz gegeben und die Wirbelsäule durch Metallimplantate stabilisiert werden. Im vorderen Abschnitt der Wirbelsäule ist auch die Entfernung von Wirbelkörpern und Wirbelkörperanteilen möglich. Meist kommen hier Metallkörbe zum Einsatz. Minimal invasive Verfahren, wie die Vertebro- oder Kyphoplastie, sind zudem möglich. Die Komplikationsrate bei operativen Eingriffen an der Wirbelsäule ist – im Vergleich zu denselben Eingriffen ohne Tumorerkrankung – vergleichsweise hoch. Bei 6 bis 9 % der Patienten kommt es zu Komplikationen. Ein erneuter Eingriff aufgrund eines Lokalrezidivs ist in mindestens 5 % der Fälle notwendig.
Knochen, bei denen eine Fraktur durch fortschreitende Osteolyse zu erwarten ist, bedürfen ebenfalls einer präventiven Operation. Ist die Osteolyse zu mehr als 50 % bei einem Röhrenknochen vorangeschritten, so ist eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine mögliche pathologische Fraktur gegeben. Speziell bei Metastasen im Trochantermassiv besteht eine hohe Frakturgefahr.
Bei einem chirurgischen Eingriff wird die Metastase wenn möglich vollständig vom betroffenen Knochen entfernt. Der gelenknahe Bereich der langen Röhrenknochen wird meist mit einer Tumorendoprothese zur Stabilisierung versehen. Ist die Metastase nicht in der Nähe eines Gelenkes, so kann der Röhrenknochen mittels Verbundosteosynthese oder durch Diaphysenprothese gefestigt werden.
Therapieperspektiven
Anfängliche Therapieerfolge resultieren nach einiger Zeit in therapieresistenten Knochenmetastasen. Verschiedene neue Therapieverfahren befinden sich derzeit in der Entwicklung beziehungsweise in der klinischen Erprobung, um diese Situation zu verbessern.
Ablative Verfahren
Bei offenen chirurgischen Eingriffen ist die Überlebensrate von alten Patienten und solchen mit einem schlechten Allgemeinzustand sehr gering. Kleine invasive Eingriffe verursachen demgegenüber in der Regel geringere Schmerzen und führen zu einer schnelleren Erholung des Patienten.
Verschiedene bildgeführte ablative Verfahren zur Behandlung von Knochenmetastasen wurden in den letzten Jahren entwickelt. Dazu gehören die Hochfrequenzablation (RFA), die Kryotherapie, hochintensiver fokussierter Ultraschall (HIFU) und die Laserablation. Diese Verfahren beruhen auf der lokalen Zerstörung von Tumorzellen durch rein physikalische Einwirkung, im Wesentlichen Hitze, beziehungsweise im Fall der Kryotherapie durch Kälte. Die Führung der Instrumente an den Ort der Metastasen erfolgt üblicherweise mit Hilfe bildgebender Verfahren, beispielsweise per Sonografie, CT, MRT oder Durchleuchtung (engl. image-guided percutaneous ablation). Diese Verfahren lassen sich auch mit minimalinvasiven Verfahren der Vertebroplastie – beispielsweise der Kyphoplastie – kombinieren, bei denen flüssiger Knochenzement zur Stabilisierung in die geschädigten Knochen gespritzt wird.
Bei Patienten, bei denen ein konventioneller chirurgischer Eingriff nicht möglich ist, bietet speziell die Hochfrequenzablation eine Alternative zur Behandlung von Skelettmetastasen.
Mit diesen Verfahren lässt sich nur eine begrenzte Anzahl von Knochenmetastasen behandeln, weshalb bei einer größeren Anzahl bevorzugt die besonders schmerzhaften Läsionen behandelt werden.
Diese Verfahren werden vereinzelt zur palliativen Behandlung von Knochenmetastasen eingesetzt. Über die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit gibt es bisher nur unzureichend aussagekräftige Daten aus kleineren klinischen Studien, deren Ergebnisse – speziell bei der Hochfrequenzablation – recht vielversprechend sind.
Auch Wirkstoffe können bildgeführt lokal an Knochenmetastasen gebracht werden. Ein Beispiel ist Ethanol in der perkutanen Ethanolablation.
Wirkstoffentwicklung
Mit dem besseren Verständnis der molekularbiologischen Zusammenhänge, die zur Metastasierung in den Knochen und den damit verbundenen destruktiven Prozessen führen, konnten einige potenzielle neue Wirkstoffe entwickelt werden, die möglicherweise auch die mittlere Überlebenszeit erhöhen. Diese Wirkstoffe befinden sich allerdings noch in der klinischen Erprobung.
Vielversprechende Ansätze liefert hierbei beispielsweise der monoklonale Antikörper Denosumab (s. 5.4 RANKL-Antikörper).
Andere potenzielle Wirkstoffe sind beispielsweise Odanacatib, Everolimus, Atrasentan und der gegen M-CSF (Makrophagen-koloniestimulierender Faktor, macrophages colony-stimulating factors) gerichtete monoklonale Antikörper MCS110.
Prognose
Wie bei allen streuenden (metastasierten) Krebserkrankungen ist die Gesamtprognose bei Knochenmetastasen schlecht. Die Krebserkrankung ist in der Regel nicht mehr heilbar. Grundsätzlich ist die Prognose bei Knochenmetastasen stark abhängig vom Primärtumor, weshalb dieser der wichtigste Prognosefaktor ist. Metastasen verhalten sich weitgehend wie der Primärtumor. Folglich haben schwierig therapierbare Primärtumoren schwierig therapierbare (Knochen-)Metastasen. Ein Beispiel hierfür ist das Bronchialkarzinom. Bei Tumoren mit sehr guten Therapieergebnissen, auch in fortgeschrittenen Stadien mit Fernmetastasen, lassen sich auch Knochenmetastasen in vielen Fällen kurativ behandeln, d. h., es führt zu einer vollständigen Genesung. Beispiele hierfür sind vor allem der Hodenkrebs und das follikuläre Schilddrüsenkarzinom.
Bei Patienten mit Brust- oder Prostatakrebs beträgt die mittlere Überlebenszeit nach der Erstdiagnose „Knochenmetastase“ 12 bis 18 Monate, während sie bei Patienten mit einem Bronchialkarzinom bei lediglich drei Monaten liegt. Patienten, bei denen sich nur in den Knochen Metastasen gebildet haben, können zehn und mehr Jahre damit überleben.
Auch die Anzahl der Knochenmetastasen, ob sie einzeln oder vielfach auftreten wirkt sich – zumindest bei Brustkrebs und dem Nierenzellkarzinom – signifikant auf die Prognose aus. Metastasiert der Tumor in weitere Organe, so wird die Prognose ausschließlich durch diese Tumorabsiedelungen bestimmt und insgesamt erheblich verschlechtert. Die Knochenmetastasen haben dann auf die Lebenserwartung kaum noch einen signifikanten Einfluss. Der Ort der Metastasierung im Skelett hat zwar keinen Einfluss auf die Prognose, aber einen erheblichen auf die Möglichkeiten chirurgischer Interventionen. Auch das Alter der Patienten beeinflusst die Prognose nicht signifikant.
Beim Prostatakarzinom sind Knochenmetastasen die primäre Todesursache.
Ein weiterer wichtiger Prognoseparameter ist der sogenannte Karnofsky-Index, der die allgemeine Leistungsfähigkeit von Krebspatienten beschreibt.
Knochenmetastasen in der Veterinärmedizin
Knochenmetastasen sind evolutionsgeschichtlich sehr alt. Sie lassen sich bereits in Fossilien, beispielsweise von Dinosaurierknochen, radiologisch nachweisen.
Das Auftreten von Knochenmetastasen ist beim Hund deutlich geringer als beim Menschen. Beim Mammakarzinom sind beispielsweise nur etwa 10 % der erkrankten Tiere mit Fernmetastasen in den Knochen betroffen. In diesen Fällen sind im Wesentlichen die Lendenwirbel und die Beckenknochen befallen. Andere Tumoren, die typischerweise die Knochen des Hundes wuchern (metastasieren), sind Prostata-, Harnröhren- und Blasenkrebs sowie Maligne Histiozytose. Die beim Hund – speziell bei großen Rassen – deutlich häufigeren primären Knochentumoren vom Typ Osteosarkom metastasieren häufig in die Knochen. Mit der zunehmenden Anwendung von Chemotherapeutika bei der Therapie von Krebserkrankungen beim Hund wird offensichtlich das Metastasierungsverhalten der Tumoren so verändert, dass vermehrt Knochentumoren gefunden werden.
Bei Katzen ist die Metastasierung von Tumoren in das Skelett extrem selten. Zu den Tumorerkrankungen, die dies gelegentlich tun, gehören das Hämangiosarkom, das Prostatakarzinom, das Osteosarkom und das Urothelkarzinom des Harnapparates.
Für die Erforschung der Metastasierung des Skelettsystems, seiner Vermeidung und seiner Therapie, wird vor allem der Modellorganismus Farbmaus, insbesondere die Nacktmaus, verwendet. Bei Mäusen mit einem Immundefekt lassen sich humane Krebszellen einbringen, die nach einigen Wochen zu Knochenmetastasen führen.
Weiterführende Literatur
Allgemein
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Weblinks
Knochenmetastasen. Deutsche Krebsgesellschaft
Knochenmetastasen: Informationen für Patienten und Interessierte – Hintergründe, Diagnose, Behandlung und Leben mit der Erkrankung, Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg. 6. September 2012. Zuletzt abgerufen am 4. September 2014.
www.leben-mit-knochenmetastasen.de Informationen für Patienten und Angehörige
Detaillierte Darstellung von operativer Therapie und Prognose der Knochenmetastasen
Zwiegespräche zwischen Knochen und Tumorzellen. Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie
Einzelnachweise
Metastasierendes Tumorleiden
Krankheitsbild in Orthopädie und Unfallchirurgie
Wikipedia:Artikel mit Video |
4002434 | https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BChl%20%28Leipzig%29 | Brühl (Leipzig) | Der Brühl ist eine der ältesten Straßen in Leipzig. Er hatte bis zum Zweiten Weltkrieg den Ruf als „Weltstraße der Pelze“, war die bedeutendste Straße der Stadt und trug wesentlich zu Leipzigs Weltruf als Handelsmetropole bei. Einige Zeit erwirtschafteten die dort ansässigen Unternehmen der Rauchwarenbranche den größten Anteil der Steuereinnahmen Leipzigs. Im Gebäude des Gasthofs „Zum roten und weißen Löwen“ wurde Richard Wagner geboren. Der Brühl wurde im Zweiten Weltkrieg größtenteils zerstört. In der DDR war er von Wohnhochhäusern in modernistischer Art und durch teilsanierte Altbauten geprägt. Nach der Wende erhielten einige Häuser ihre Jugendstilfassade zurück, es entstanden neue Gebäude in zeitgenössischer Postmoderne. Der Rückbau der Wohnhochhäuser am Brühl hatte eine erhebliche Bauwüste in der Innenstadt zur Folge. Anliegende Geschäfte beklagten hohe Umsatzeinbrüche, Immobilienbesitzer die zunehmende Entmietung. Im Herbst 2012 wurde durch die Höfe am Brühl die Baulücke geschlossen und die Straße erhielt ihre Bedeutung als zentrale Einkaufsstraße teilweise zurück, die sie schon einmal zwischen den Weltkriegen hatte.
Lage
Lage im Stadtraum
Der Brühl (amtlicher Straßenschlüssel 01009) ist eine Anliegerstraße in der nördlichen Leipziger Altstadt. Vom westlichen Richard-Wagner-Platz führt die Straße an den südlichen Querstraßen Große Fleischergasse, Hainstraße, Katharinenstraße, Reichsstraße, der kreuzenden Nikolaistraße und der Ritterstraße vorbei und mündet im Osten in die Goethestraße.
Vom Brühl in Richtung Norden abzweigende Nebenstraßen sind die den Brühl kreuzende Nikolaistraße, die Straße Am Hallischen Tor gegenüber der Reichsstraße und die Ritterpassage als Verlängerung der Ritterstraße. Der Brühl verläuft auf einer Länge von etwa 580 m von West nach Ost, knickt aber in Höhe Reichsstraße leicht nach Südost.
Die geradzahligen Hausnummern befinden sich auf der südlichen Straßenseite, die ungeraden auf der Nordseite.
Öffentliche Verkehrsmittel
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Brühl über die Straßenbahnhaltestellen am Tröndlinring im Nordwesten (Haltestelle „Goerdelerring“) und auf dem Willy-Brandt-Platz im Nordosten (Haltestelle „Hauptbahnhof“) zu erreichen; dahinter liegt der Leipziger Hauptbahnhof, der mit Zielen in ganz Deutschland verbunden ist.
Individualverkehr
Der Brühl kann über die Goethestraße mit dem Kraftfahrzeug befahren werden, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 20 km/h. Kostenpflichtige Kurzzeitparkplätze sind in begrenztem Umfang in der Zone mit eingeschränktem Haltverbot vorhanden. Im westlichen Verlauf der Straße ist der Brühl eine Fußgängerzone. Es gibt keinen Radweg.
Geschichte
Bedeutung als Pelzgroßhandelsstraße
Schon Friedrich Schiller wusste um die Vielfalt der Pelzangebote auf dem Brühl. In einem Brief an den Verleger Georg Joachim Göschen schrieb er im Februar 1791: „Mein Arzt will durchaus, dass ich diesen Winter nie ohne Pelz ausgehe, und noch besitze ich keinen. In Leipzig, vermute ich, kann ich am besten dazu gelangen, und Sie sind wohl so gut, dies zu besorgen. Am liebsten ist mir Fuchs, weil ich ihn weder zu gut noch zu schlecht haben möchte …“
Wann der Name „Brühl“ zum Inbegriff des Leipziger Pelzzentrums wurde, ist noch nicht untersucht worden. Fest steht, dass er in den 1920er Jahren längst allgemein gebräuchlich war. Im Katalog zur Internationalen Pelzfach Ausstellung IPA in Leipzig von 1930 hieß es: „Spricht man irgendwo in der internationalen Rauchwarenbranche vom „Brühl“, so meint man nicht etwa die altehrwürdige Straße in Leipzig, sondern den Rauchwarenhandel in seiner Gesamtheit. Man spricht von „Brühl-Usancen“, „Brühltendenzen“, vom „Eingreifen des Brühl“ oder von seiner zeitweiligen Zurückhaltung. Kurz, der „Brühl“ ist die Weltmacht in der Rauchwarenbranche seit unvordenklichen Zeiten. Er ist ein Wirtschaftsgebilde von ausgeprägter Eigenart und Geschlossenheit, wie es kaum eine andere Branche der Welt aufzuweisen hat.“
„Der Name der Leipziger Pelzgroßhandelsstraße – „der Brühl“ – ist in doppeltem Sinn zum Symbol geworden. Er umfasst zugleich die mit dem Wachstum von Handel und Gewerbe mit einbezogenen Nebenstraßen, insbesondere die Ritter-, Nikolai- und Reichsstraße und rückt überdies alles in den Blickpunkt dessen, der sich mit der Bedeutung des Wortes befasst, was zur Rauchwarenwirtschaft gehört.“ (Branchen-Fachverzeichnis, 1938)
Der unvergessene „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch beschreibt den Platz aus einem anderen, mehr satirischen Blickwinkel: „Der Inhaber des Höhlenlagers hat draußen im offenen Dschungel, auf dem Brühl, einen Fang zu erjagen versucht, nun hofft er in seinem Bau, die Beute zu erlangen …“ Sein Gast „kann nicht Deutsch (Das Menschenpack ist in Rudel geteilt, die verschiedene Sprachen reden) und kennt die Weidgründe von Leipzig, er hat sich einen Jagdfreund mitgebracht, den „Kommissionär“, damit ihm das Fell nicht über die Ohren gezogen werde.“
In einem Reiseführer von 1930 wird der Brühl als eine der merkwürdigsten Geschäftsstraßen einer Großstadt beschrieben: „Ein Pelzgeschäft liegt neben und über dem anderen, Lastauto nach Lastauto werden mit Pelzen beladen. Am sonderbarsten aber sind die Sitten …“, eine davon war das Auf dem Brühl stehen. Gründe dafür gab es viele: Geschäftsabschlüsse, Akquisition, Informationsaustausch oder einfach nur das Pflegen von sozialen Kontakten. Nicht nur mindestens ein Vertreter jeder Leipziger Rauchwarenhandlung fand sich bei schönem Wetter hier ein, auch Bevollmächtigte der Zurichtereien und Färbereien, Kürschnereien und der Pelzkonfektion kamen, um sich auf dem Laufenden zu halten.
Im Gegensatz zur Leipziger Messe, die sich zur Mustermesse entwickelt hatte, behielt der Rauchwarenhandel weitgehend die Warenmesse bei, bedingt durch seine durch die Natur vorgegebenen, individuell unterschiedlichen Produkte, kein Fell und damit auch kein Konfektionsteil gleicht genau dem anderen. Die Merkmale des Brühl waren: Er stellte einen Warenmarkt dar, auf dem dreimal jährlich – zu den alten Messeterminen Neujahr, Ostern und Michaelis (29. September) – die Rauchwarenmessen (Warenmessen) abgehalten wurden. Zur Ostermesse, jeweils acht Tage nach Ostern, fanden „Neuheitenausstellungen“ statt, es gab Auktionen und eine Pelzmodenschau, so dass fast das ganze Jahr ein Branchenereignis das andere ablöste. Als um 1900 die Kaufgewölbe in den Erdgeschossen der Häuser durch die Paläste der Mustermesse ersetzt wurden, blieb der Brühl als einziger Marktbetrieb bestehen.
Frühgeschichte und Mittelalter
Der Brühl, anfangs Bruel, war Teil der Via Regia und entstand an der Kreuzung mit der Via Imperii, beides waren besonders privilegierte Reichsstraßen. Schon die wichtige Straßenverbindung mit der Stadt Halle wirkte darauf hin, dass dort immer ein Handelsmittelpunkt war. Am Westende des Brühls, an der Stelle des heutigen Richard-Wagner-Platzes, bildete sich vermutlich im 7. Jahrhundert der erste slawische Markt (später Eselsmarkt genannt) sowie die slawische Siedlung Lipsk, aus welcher sich später die Stadt Leipzig entwickelte. Für das 10./11. Jahrhundert ist eine erste Kaufmanns- und Handwerkersiedlung im Bereich Brühl/Reichsstraße nachgewiesen. An der Ecke zur Katharinenstraße wurde 1233 die Katharinenkapelle geweiht, die dort bis 1546 stand.
Ursprünglich floss die Parthe durch das Gebiet des heutigen Brühl, sie wurde aber im Lauf der Zeit mehrmals verlegt. Mit dem Bau der Stadtmauer, also vermutlich zwischen 1265 und 1270, erhielt die Straße den Namen Brühl, was als Toponym so viel wie Moor oder Sumpfland bedeutet. Allerdings haben Grabungen gezeigt, dass nur nördlich der Straße sumpfiges Land zu finden war und damit die Bezeichnung „Am Brühl“ wohl zutreffender gewesen wäre. Schriftlich erwähnt wurde die Straße als „Brühl“ jedoch erstmals um 1420. Die Straße verlief im Norden der Stadt in Ost-West-Richtung und wurde durch den Bau der Stadtmauer an ihrem Ostende zur Sackgasse. Im Westen des Brühls lag damals das Ranstädter Tor, von dem die Hainstraße nach Süden führte, im Norden lag die Hallische Gasse, die zum Hallischen Tor, der Gerbervorstadt und zur Straße nach Halle führte. Etwas später, vermutlich im 16. Jahrhundert, entstand zwischen dem Ranstädter Tor und dem Hallischen Tor eine kleine Gasse, die zunächst für Fußgänger zum Hallesch Pförtlein führte. Daraus entwickelte sich später die Plauensche Straße.
Der Brühl wie die Reichsstraße waren noch bis nach 1284 Reichsgut, bis sie vermutlich nach 1350 in die Lehnshoheit des Bischofs von Merseburg gelangten. Einige Grundstücke in der Nähe der Kreuzung Brühl/Reichsstraße wurden in den Schöffenbüchern des 15./16. Jahrhunderts als „au dem Berge“ liegend geführt. Dies deutet auf einen Platz, an dem Recht gesprochen wurde, hin. Dabei handelte es sich um die Grundstücke Brühl 44 (später Standort des Brauhauses „Zum roten Adler“) und Brühl 34 bis 40, den 1542 die Ratsfamilie Breunsdorf besaß, auf dem im 15. Jahrhundert der große Ausspanngasthof „Zum roten Löwen“ stand, von dem das Haus weiterhin seinen Namen hatte.
Dem „Roten Löwen“ wurde mit dem abenteuerlichen Reiseroman Schelmuffsky ein literarisches Denkmal gesetzt. Wegen Prellen des Mietzinses und sonstiger Umtriebe hinausgeworfen, schrieb sich Christian Reuter seinen Ärger über die Gastwirtsfamilie Müller von der Seele. Günter Grass erinnert im 20. Jahrhundert noch mehrfach an das auf dem päpstlichen Index gestandene Werk, insbesondere in seinem Roman Die Blechtrommel.
Im Osten des Brühls stand eine Vogtei, ähnlich einem befestigten Wehrhof. 1262 wurde eine St. Maria geweihte Kapelle in dieser Vogtei erwähnt. Die Herren des Hauses, die von Schkeuditz, starben um 1263 aus. Danach fiel das Kammerlehn des Königs an den Bischof von Merseburg. Vermutlich wurde ein Teil des Grundes, der die heutigen Grundstücke Brühl 73, 75 und 77 umfasste, damals abgetrennt und an Privatpersonen als Lehn vergeben. Wenige Jahre nach der Gründung der Universität, bezog das Bernhardinerkolleg (eine Stiftung der Zisterzienser) das Gelände der Vogtei auf den Grundstücken 75/77 und errichtete neue Bauten.
Schon im 12. und 13. Jahrhundert gab es eine dichte Bebauung am Brühl. In Richtung der nördlich parallel zum Brühl verlaufenden Stadtmauer befanden sich Höfe und Stallungen für Pferde. Stadtbrände zerstörten 1498 und 1518 die Häuser am Brühl, die aber immer wieder aufgebaut wurden. Der Brühl war, bedingt durch seine Lage, Stauplatz für Waren und Reisende von und nach Norden. Die Häuser waren deshalb als Gast- und Lagerhäuser angelegt. Besonders die Nordseite bot durch ihre große Tiefe zur Stadtmauer hin vielen Hofbauten und Warenlagern Platz.
Der Handel mit Pelzen und Leder fand vorwiegend in der Nähe der Kreuzung Brühl/Reichsstraße statt, während Wolle, Tuch und Leinen mehr im westlichen Brühlteil (um den Eselsmarkt) gehandelt wurden. Diese Aufteilung blieb bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten.
Zwar war einer der ersten urkundlich genannten Handwerker in Leipzig ein gewisser Heinrich der Kürschner und es wird im Jahre 1335 der Kürschnermeister Andreas „pellifex“ als Ratsherr erwähnt, eine eigene Innung der Kürschner wurde erst 1423 auf Drängen der Stadt gegründet. Für den Handel in Leipzig gab es schon 1419 ein Pelzhaus am Naschmarkt. Viele der Rauchwarenhändler nutzten die zahlreichen Gasthäuser am Brühl, um dort ihre Geschäfte abzuwickeln. Bretter oder Heringstonnen in den Höfen am Brühl dienten als Ladentisch. Das Ratspatent vom 5. Oktober 1594 warnte vor unlauteren Geschäftsgebaren, „die geringsten Waren und Sorten … unter die besten … nicht verstecken“ erst nach dem „Einläuten“ durfte der Verkauf beginnen.
Im Rauchwarenhandel und in der Kürschnerei hatte Leipzig damals noch keine große Bedeutung, das schlesische Breslau und Straßburg im Elsass waren die führenden europäischen Fellhandelsplätze. Einen Aufschwung erfuhr der Handel am Brühl, nachdem Kurfürst Friedrich I. 1425 einen Schutzbrief für alle Leipziger Juden erlassen hatte. Insbesondere der Fernhandel mit Pelzen wurde bereits im Mittelalter häufig von Juden betrieben.
Frühe Neuzeit
Der Leipziger Rat gab 1501 die erste Wasserleitung (aus Kiefernstämmen) in Auftrag, die auch einen öffentlichen Brunnen auf dem Brühl versorgte.
Der als Baumeister zu Ruhm gekommene, aus Nürnberg stammende Leipziger Bürgermeister Hieronymus Lotter führte auf dem Brühl seinen ersten Auftrag für die Stadt Leipzig aus. Er errichtete 1546 ein Kornhaus (abgetragen 1702), an der Stelle des Gebäudes, in dem bis zur Einführung der Reformation 1543 das Bernhardinerkollegium untergebracht war. Die Stadt Leipzig hatte 1546 das Gelände für 20.000 Gulden vom Markgrafen gekauft, in dessen Besitz das Grundstück nach der Säkularisation gelangt war. Offenbar war der Rat mit der Arbeit Lotters zufrieden und man beauftragte ihn am westlichen Ende des Brühl/Ecke Fleischergasse die Rannische Badestube zu bauen. Die Badestube wurde 1825 abgebrochen, wodurch das dahinterliegende Haus Blumberg zum „Platz vor dem Ranstädter Thore“ mit einem Seitenflügel frei stand. 1832 wurde das Haus Blumberg erweitert und mit einer klassizistischen Fassade nach dem Entwurf von Albert Geutebrück versehen. Seinen Namen hat das Haus von seinem Erstbesitzer, Tiburtius Blumenberg. Das Attribut Groß wurde erst nach 1714 hinzugefügt, nachdem sein damaliger Besitzer auch ein Haus in der Fleischergasse 6 als „Kleiner Blumberg“ führte.
Von 1727 bis 1734 trat im Haus „Großer Blumberg“ die Neuberin mit ihrer Theatertruppe auf. Zusammen mit ihrem Mann Johann Neuber und Johann Christoph Gottsched betrieb sie dort die Neuber’sche Komödiantengesellschaft und führte Dramen in deutscher Hochsprache auf. Etwa 140 Jahre später kehrte der Philosoph Friedrich Nietzsche regelmäßig im Großen Blumberg ein, hier sei das Leipziger Essen „am wenigsten schlecht“.
1554 hielt die Hanse auf ihrer Lübecker Hansetagung den Rauchwarenhandel in Leipzig für gewichtiger als den in Nowgorod. Im 16. Jahrhundert erwähnten Quellen erstmals Häusernamen, darunter die Gasthäuser „Zum Roten Ochsen“ und die „Goldene Eule“ (Brühl 25, Gastwirt war 1532 Hans Fruben aus Schönau in Schlesien). Als die „Goldene Eule“ nach einem Neubau des Hauses im „sachlich-schlichten Eisen- und Betonstil“ im Februar 1920 wiedereröffnet wurde, wurde in den Wanddarstellungen an Goethe, Kätchen Schönkopf, an Schiller, Wagner und Napoleon erinnert und auch dem Pelzhandel mit Versen gehuldigt. Weitere bekannte Gasthäuser waren „Der Kranich“ und die „Grüne Tanne“ (ehemals auf Brühl 323/324 gelegen, heute Brühl 13). Bei Diamant- und Edelsteinhändlern war das Kaffeehaus im Haus „Goldener Apfel“ (Brühl 327 gegenüber dem Romanushaus) sehr beliebt.
1693 wurde am Brühl das erste Opernhaus eröffnet und wenige Jahre später 1704 das Romanushaus fertig gestellt.
Das Kornhaus am östlichen Ende des Brühls wurde 1700/1701 abgerissen, an seiner Stelle entstand das Georgenhaus als „Zucht- und Waisenhaus“. Ursprünglich befand sich das St.-Georgen-Hospital nach 1212 in der Rosentalgasse, später an anderen Standorten. Es diente zur Verwahrung und Versorgung Gefangener, Waisen und Geisteskranker.
1743 fanden sich in Leipzig sechzehn Kaufleute zusammen, um den Konzertverein „Großes Concert“ zu gründen. Sie finanzierten zunächst 16 Musiker, ihr erstes Konzert war am 11. März 1743. Ab 1744 fanden die Konzerte in den „Drey Schwanen“ statt, einem Gasthaus am Brühl 7, in dem schon im 16. Jahrhundert Fuhrleute aus Zwickau eingekehrt waren. Mit dem Umzug in das Messehaus der Tuchwarenhändler (Gewandhaus) im Jahre 1781 erhielt das Orchester den Namen „Gewandhausorchester“.
Der Rat zu Leipzig verbot 1752 das Auspacken der Ware eher als drei Tage vor Messebeginn. Rauchwarenhändler aus London, Koppigen, der Gegend um Brody, Hamburg, Königsberg und Breslau beschwerten sich, sie hätten keinen Handel mit Pfeffer oder Tonware und müssten ihre großen Pelzbündel nicht nur auspacken, sondern die Felle lüften, klopfen und sortieren. Nach langem Zögern gab der Rat nach: die Rauchwarenhändler durften ab Montag vor Messebeginn auspacken, jedoch noch nicht verkaufen.
Auf dem Brühl Nr. 326 (heute Nr. 19) hatte Johann Gottlob Schönkopf, Vater von Anna Katharina Schönkopf, der frühen Liebe Goethes (sie währte von 1766 bis Frühjahr 1768), sein Weinlokal, in dem Goethe während seiner Leipziger Studienzeit auch seinen Mittagstisch einnahm: „Ich blieb wirklich nach Schlossers Abreise bei ihnen, gab den Ludwigischen Tisch auf und befand mich in dieser geschlossenen Gesellschaft um so wohler, als mir die Tochter vom Hause, ein gar hübsches, nettes Mädchen, sehr wohl gefiel und mir Gelegenheit ward, freundliche Blicke zu wechseln, ein Behagen, das ich seit dem Unfall mit Gretchen weder gesucht noch zufällig gefunden hatte.“
Obwohl sich dreimal jährlich die deutschen und ausländischen Rauchwarenhändler zur Messezeit in Leipzig trafen, bestanden kaum Leipziger Rauchwarenfirmen. 1784 gab es in der Stadt nur neun Handlungen mit Rauchwaren und Leder, davon sollen am Ende der Napoleonischen Kriege nur zwei übrig geblieben sein. Um das nach den Kriegen daniederliegende Messegeschäft wiederzubeleben, wurden 1813 gegen den Widerstand der einheimischen Kaufmannschaft erstmals sechs „fremde Juden“ als Messmäkler zugelassen. Dieses Amt gewährte den Inhabern das dauernde Wohnrecht in Leipzig und war deshalb sehr geschätzt. Es dauerte dann noch einmal 42 Jahre, bis die Kramerinnung 1855 den ersten Juden als Mitglied aufnahm.
Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auf dem Brühl, insbesondere im östlichen Teil, neben den Rauchwarengeschäften noch Leinen, Darm- und Produktenhandlungen (landwirtschaftliche Erzeugnisse) in größerer Zahl. Auf dem Brühl waren damals die Hauptmessen an Pelzen, Hasenfellen, Schweinsborsten und Rosshaar zu finden.
Mit der Zeit spezialisierte sich der Brühl jedoch weiter auf den Rauchwarenhandel. Die oftmals jüdischen Händler fanden zunächst in der Judengasse in der Ranstädter Vorstadt eine Unterkunft. Als diese Ende des 17. Jahrhunderts abgerissen werden musste, gab es am Brühl besondere Judenherbergen. Seit 1687 übernachteten die jüdischen Messebesucher hauptsächlich in der „Bruel“, später Brühl genannten Straße, und man weiß, dass dort fast ausschließlich jüdische Kaufleute ihre Messelager hatten. Zu den Messen hat Leipzig offenbar den Eindruck einer Judenstadt erweckt, jedenfalls nennt Johann Gottfried Leonhardi sie 1799 in seiner Beschreibung Leipzigs so.
Bereits Ende des 17. Jahrhunderts hieß das Peißkerische Haus am Brühl „die alte Judenherberge“. 1753 entstand im Blauen Harnisch, heute Brühl 71, die „Brodyer Schul“ beziehungsweise „Tiktiner Synagoge“ für die in Leipzig Handel treibenden Juden. Die jüdischen Rauchwarenhändler kamen über die Hohe Straße meist aus Brody, Galizien, das Kürschnerzentrum Lissa (Leszno) und Sklow. Brody war neben Lemberg das wichtigste Handelszentrum Galiziens, die Kaufleute aus dem Pelzhandelszentrum Brody waren mit die wichtigsten Messebesucher und trugen nicht nur zur Schaffung einer bodenständigen Rauchwarenwirtschaft, sondern auch zur Neubelebung der jüdischen Gemeinde Leipzigs wesentlich bei. Zeitgenössischen amtlichen Berichten ist zu entnehmen, dass der Erfolg der Leipziger Messen vielfach geradezu davon abhing, in welchem Umfang sich die Brodyer Handelshäuser beteiligten.
Auf dem Gelände der mittelalterlichen St. Katharinen-Badestube, Brühl 23, befand sich später eine Herberge, in der vor allem Plauener Kauf- und Fuhrleute während der Messe ihr Quartier hatten. Ab 1804 durfte man sich auch offiziell „Plauenscher Hof“ nennen. Zwei Jahre lang wurde sie von Ernst Pinkert (1844–1909) geführt, der in den beiden von ihm betriebenen Gaststätten ständig exotische lebende Tiere präsentierte. 1878 gab er dieser Neigung völlig nach und gründete den Zoologischen Garten. Der Plauensche Hof bestand bis 1874, er wurde durch den Geschäftsbau der Plauenschen Passagen ersetzt. Hier befanden sich weiterhin Gastwirtschaften, unter anderem betrieb Louis Pfau hier nach 1900 das „Erste Wiener Café“.
Kurz nach 1900 entstand auf Brühl 74 die „Weissenfelser Bierhalle“ (Inhaber Wilhelm Moosdorf) mit einer aufwändigen dreigeschossigen Fassadenmalerei. Jedoch konnte sich das regionale Bier gegen die starke Konkurrenz vor allem aus Franken und Bayern nicht behaupten, bereits in den 1920er Jahren handelte man hier, wie zuvor schon im linken Nachbarhaus, mit Pelzen.
Einige Häuser weiter, Brühl 80/Goethestraße 8, erbaut 1857, ab 1859 Georgenhalle genannt, befanden sich die Fleischhallen (1943 zerstört). Nachdem Reichskanzler Bismarck dem Reichsgericht Leipzig als Standort zugewiesen hatte, tagte es vom Oktober 1879 bis 1895 in diesem Gebäude. Das Café, das sich ebenfalls dort etablierte, hieß „Fürst Reichskanzler“, das im Keller gelegene Weinlokal neben der dort befindlichen Weingroßhandlung mit hauptsächlich österreichischen und ungarischen Weinen „Esterházykeller“ (Inhaber August Schneider). Später wurde daraus der „Winzerkeller“, der um 1930 auch eine der Stadtküchen bewirtschaftete.
Industrialisierung
Der Brühl, der über lange Zeit die jüdischen Messegäste beherbergt hatte, wurde zum Mittelpunkt eines ganzjährigen Rauchwarenhandels. Dem Griechen Constantin Pappa (1819) folgten Kaufleute deutscher und anderer Nationalität. Trotzdem war weiterhin ein Großteil der damaligen Bedeutung des Brühls auf die internationalen Verbindungen der jüdischen Branchenmitglieder zurückzuführen. Während die Leipziger Messe sich immer mehr zur Mustermesse veränderte, war das für den Pelzhandel mit seinen individuellen Produkten kaum möglich, der Käufer wollte die Ware sehen und in die Hand nehmen, allenfalls der Konfektionär konnte eine annähernd gleichbleibende Ware anbieten. Damit war der Weg für den raschen Aufschwung des Brühl mit seinen großen Felllagern frei. Zu den Fellhändlern kamen nun auch die Kürschner und die Büros der Pelzveredler, die ihre Gerbereien und Färbereien alle außerhalb an fließenden Gewässern hatten. 1815 gab es nur zwei Rauchwarenhändler auf dem Brühl, 1875 aber schon 70, das waren mehr als der Brühl Häuser hatte.
Der erste jüdische Bankier Leipzigs war de facto Joel Meyer auf dem Brühl 25. Er hatte dort schon jahrzehntelang ein „Büro“, als sein Bankhaus 1814 durch den russischen Stadtkommandanten Oberst Prendel konzessioniert wurde. Diesem verdankte auch Isaak Simon auf Brühl 39 seine Zulassung. Offiziell gab es vor den Befreiungskriegen nur die jüdische Bank von Adolph Schlesinger & Jakob Kaskel, Brühl 34. Nach sieben Jahren trennten sich die Teilhaber; aus der Dresdner Niederlassung entstand die Dresdner Bank.
1820 wurde mit den Psalmen von Giacomo Meyerbeer der Tempel Beth Jacob im Leipziger Paulinum eingeweiht. Bis dahin hatten die Brodyer Juden eine Betstätte im Quartier des Messmaklers Marcus Harmelin im „Blauen Harnisch“, Brühl 71.
Mit dem Bau der ersten wirtschaftlich bedeutsamen Eisenbahnstrecke zwischen Dresden und Leipzig im Jahre 1837 wuchs Leipzigs Bedeutung als überregionaler Handelsplatz. Gleichzeitig expandierte die Pelzbranche und der ihr zuliefernde Großhandel rund um den Brühl. Möglich wurde dieser Aufschwung durch die zunehmende Spezialisierung und, sehr entscheidend, durch die Erfindung der Pelznähmaschine. Besonders Fellhändler, die sich auf den Fernhandel spezialisiert hatten, sowie Tuch- und Modehändler konnten in ihren Geschäftsräumen und -häusern am Brühl jetzt auch außerhalb der Messezeiten gute Geschäfte machen und zu Wohlstand oder sogar Reichtum gelangen. Zunehmend veränderte der Brühl sein Gesicht, alte Gasthöfe wichen Lagern der Pelzhändler sowie Werkstätten und Verkaufsräumen der Kürschner.
Für die ersten nennenswerten Veränderungen sorgte Moritz Schreber, bekannt geworden als „Vater der Kleingärten“. Er ließ 1844 auf Brühl 65 eine Rauchwarenhalle erbauen.
Nach 1860 änderte der Brühl sein Gesicht, er wurde zu einer modernen Ladenstraße umgebaut. Dabei wurde die für Leipzig typische Struktur mit ihren Innenhöfen und Durchgängen bewahrt. Nach Abschluss der Arbeiten vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Brühl in ein repräsentatives Geschäftsviertel verwandelt.
August Lieberoth gründete 1861 ein Bank- und Speditionsgeschäft (Bankhaus August Lieberoth) am Brühl 7–9. Beide Geschäfte blieben in Familienbesitz, bis 1947 das Bankhaus abgewickelt und 1953 der Speditionsbetrieb enteignet wurde.
Eine Begebenheit besonderer Art spielte sich am 20. März 1865 am Brühl ab. Dazu aus einem Polizeiprotokoll: „Der Kürschnergeselle Otto Erler sagt aus: Derselbe (gemeint ist Karl May, der spätere Autor von Winnetou und Old Shatterhand) sei (unter dem Namen Hermin) nachmittags in das Geschäftslokal, wo nur Erlers Schwiegermutter nachmittags anwesend gewesen, Brühl Nr. 73 gekommen, habe einen Biberpelz mit Biberfutter und desgleichen Aufschlag und schwarzem Tuchüberzug für 72 Taler gekauft und den Auftrag gegeben, den Pelz in seine Wohnung bei Frau Henning zu tragen. Dies habe Erler auch getan, habe den angeblichen Hermin angetroffen, demselben den Pelz übergeben und nun auf Zahlung gewartet. Hermin sei damit zur Stube hinaus gegangen, um den Pelz seinen Wirtsleuten zu zeigen, jedoch nicht wiedergekommen.“ Karl May versetzte den Pelzmantel auf dem Leihhaus für zehn Taler. Zusammen mit anderen Vergehen wurde er zu 49 Monaten Arbeitshaus verurteilt, von denen er dreieinhalb Jahre im Arbeitshaus Schloss Osterstein verbüßte.
Im Kellerlokal „Zur Guten Quelle“ am Brühl stand Mitte des 19. Jahrhunderts der sogenannte Verbrechertisch. Hier trafen sich Politiker und Gelehrte, die mit dem damaligen System in Konflikt geraten waren. Es galt in oppositionellen Kreisen jedoch durchaus als Ehre, dort eingeladen zu werden. Bedeutende Namen sind in die Tischplatte eingeritzt, die sich im Stadtgeschichtlichen Museum befindet. Es saßen dort unter anderem der Naturforscher Alfred Brehm und der Politiker August Bebel, vermutlich auch Wilhelm Liebknecht.
Errichtet wurde das offiziell ebenfalls „Gute Quelle“ genannte Geschäftshaus von den Pelzhändlern E. und G. Lomer (1876; s. Bild). Das Gebäude mit der neugotischen Fassade erhielt von den Leipzigern jedoch den Spitznamen „Pelzkirche“. Die Betreiber des Restaurants mit der dort befindlichen Bühne wechselten mehrfach, 1921 befand sich hier beispielsweise die „Blaue Maus“ (Inhaber Mielke), 1929 hieß es „Platz’l“ (Inhaber Max Schütze) und umfasste 900 Plätze.
Blütezeit und Krisen
1870 erwarb die Allgemeine Deutsche Creditanstalt (ADCA) das am Ost-Ende vom Brühl gelegene Waisenhaus St. Georg für 370.770 Goldmark. Das Gebäude befand sich in einem maroden Zustand und wurde 1872 abgerissen. Dadurch wurde der Brühl nach Osten hin geöffnet und an die Goethestraße angebunden. Die Hauptfront des von der ADCA errichteten Geschäftsneubaus lag auf der Goethestraße. Emil Franz Hänsel gewann 1933 zusammen mit J. Schilde die Ausschreibung für eine Überbrückung des Brühls. Die kastenförmige Brücke verband die Gebäude der Allgemeinen Deutschen Creditanstalt.
Durch die Leipziger Pferde-Eisenbahn wurde 1882 die Linie „Lindenauer Straßenbahntrasse“ über den gesamten Brühl verlegt. Ab 1897 wurde die Strecke dann durch das Nachfolge-Unternehmen, die „Große Leipziger Straßenbahn“, elektrifiziert. Die Strecke existierte bis 1964.
In den Jahren um 1900 konnte Leipzig als Mittelpunkt des Rauchwarenhandels der Erde bezeichnet werden, um 1913 wurde rund ein Drittel der „Welternte“ an Rauchwaren über Leipzig gehandelt. Typisch war der Geruch am Brühl, hervorgerufen durch Konservierungsmittel wie Campher und Naphthalin sowie den süßlichen Duft der rohen Felle. Charakteristisch für das Flair auf dem Brühlteil, auf dem der Fellhandel florierte, war auch das rege Treiben auf der Straße und in den Höfen. Die Höfe erstreckten sich in der Regel durch den ganzen Häuserblock, so dass die Pferdegespanne, ohne zu wenden, die Ware anliefern und auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinausfahren konnten. Einige der Hofetagen hinter dem Brühl und der Reichsstraße waren mit prächtigen hölzernen Galerien versehen. Nach 1900 dienten die Hofgalerien weniger der Entspannung, sondern wurden vor allem zum Ausklopfen der Pelze benutzt, um diese zu entstauben und vor allem vor Mottenbefall zu schützen. Die Wände der Höfe waren häufig blau gestrichen, die blaustichige, „blaue“ Winterware wird in der Pelzbranche höher bewertet als die vor- oder nach der Saison angefallenen „roten“ Felle.
Sogenannte Markthelfer schoben auf Stechkarren große, in Flechten (große Körbe) gepackte Warenmengen, von Hof zu Hof oder luden sie auf Lieferwagen, die sie zu den Veredlungsbetrieben in der Umgebung Leipzigs brachten. Händler in ihren typischen langen weißen Kitteln versuchten ihre potenziellen Kunden abzufangen, bevor sie womöglich in den Lagern der Konkurrenz verschwanden. Vor allem traf man sich dort zu einem Gespräch, dem „Stehkonvent“, allgemein herrschte ein freundschaftlicher Ton, schließlich machte man auch untereinander Geschäfte. Nicht nur bei schlechtem Wetter saß man in den umliegenden Cafés und Gaststätten, wie dem „Reichskanzler“ (Brühl/Ecke Goethestraße) und später in der „Goldenen Kugel“ und im „Café Küster“ (beide Richard-Wagner-Straße) sowie in dem koscheren „Restaurant Zellner“ (Nikolaistraße). Nachdem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Kürschnergeschäfte eröffnet hatten, ähnelte der Brühl einem Basar. Auf der Straße wiesen fast vor jedem Haus aufgehängte Fellbündel auf die Profession der Bewohner hin. In den 1860er und 1870er Jahren war zur Messezeit ein zeitweise als lebensgefährlich empfundener Verkehr, die Ostermesse dauerte beachtliche sechs Wochen. Wenn ein Wagen in der Nähe der Nicolaistraße den Brühl passieren wollte, musste oft ein Polizeidiener erst Platz schaffen. Besonders auffallend waren die damals noch „malerisch“ gekleideten Griechen und die „alttestamentarischen Kaftanträger“ aus Russland. Aber auch Armenier, Engländer, Franzosen und andere waren zahlreich vertreten.
Gloecks Haus entstand 1909/1910 auf dem Brühl 52, Ecke Nikolaistraße. Vorher stand an dieser Stelle das Gasthaus „Zum Walfisch“. Der Leipziger Architekt Otto Paul Burghardt errichtete das Haus für den Pelzhändler Richard Gloeck. Die Fassade aus Muschelkalk zieren Plastiken von Völkerschaften aller Erdteile als Symbole des weltweiten Rauchwarenhandels. Im Volksmund hatte das Haus den Namen „Chinchilla-Haus“. Das Gebäude wurde 1996 saniert.
1909 wurde der „Gasthof zum Strauß“ abgerissen. Die entstandene Lücke ermöglichte die Weiterführung der Nikolaistraße zum Hauptbahnhof.
Pfadfinder konnten 1914 ihre Pfadfinderausrüstung nur im Herren- und Knaben-Modehaus Hollenkamp & Co. (Brühl 32 /Ecke Reichsstraße) gegen Abgabe einer Bescheinigung kaufen.
Der Brühl war inzwischen nicht nur ein Großhandelsplatz für Pelzfelle, sondern auch ein Zentrum für den privaten Pelzeinkauf. In einer Londoner Fachzeitschrift findet sich 1926: „Den Brühl mit seinen schönen Pelzläden halte ich für das schönste Pelzviertel Europas“. Nachdem das Berliner Messeamt 1926 eine deutsche Pelz-Fachausstellung in der Funkhalle am Berliner Funkturm organisiert hatte, begannen Vertreter der Stadt Leipzig, vom Brühl und vom Leipziger Messeamt eine in der weltweiten Rauchwarenbranche nie vorher da gewesene Pelzschau zu planen. Im Brühl Nr. 70 bezog 1928 der „Verein für die Durchführung der Ausstellung“ Quartier. Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 wurde die Internationale Pelz-Fachausstellung (IPA) erst am 31. Mai 1930 eröffnet. Der Großteil der IPA lag zwar auf angemietetem Messegelände, aber auch der Brühl bot zahlreiche Attraktionen. Schauwerkstätten, historisch eingerichtete Hinterhöfe, Sonderausstellungen wie die von Valerian Tornius und Rudolf Saudek gestaltete Ausstellung Pelzmode im Wandel der Jahrhunderte begeisterten nicht nur das Fachpublikum. Bis zum 30. September 1930 war der Brühl eine naturgetreue Nachbildung längst vergangener Zeiten: „Der Rote Ochse“, die „Drei Schwäne“, ein Speditions- und Packhof, die alten Steinpflasterungen bis hin zum Markenzeichen der alten Pelzhändler und Fellbündel vor den Eingängen der Pelzhandelshäuser. Leider fiel die Ausführung voll in die schlimmste Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Besuch war mit etwa einer Million Besucher nur halb so hoch wie erwartet. Auch besuchten die Leipziger die Ausstellung nicht, „sie sagten ‚wenn mer Felle sähn wollen, gähn mer uff den Brühl, das kost’ gar nischt‘“.
Die größte Dichte erreichte der Brühl mit 794 Rauchwarenhandlungen im Jahr 1928, durchschnittlich sieben je Haus. Der sogenannte „Stumme Portier“ zeigte auf übereinander angebrachten Emailleschildern allein im „Blauen Hecht“, der postalisch zur Nikolaistraße zählt, 34 Pelzbetriebe an. Damit hielt dieses Haus zwar den Rekord, aber 20 Firmen und mehr unter einem Dach waren keine Seltenheit. Wohl kaum einer der kleinen Händler hatte hier auch gleichzeitig seine Wohnung. Die Familien der umsatzstärksten jüdischen Rauchwarenhändler lebten beispielsweise im südlichen Gohlis, im Waldstraßen- und im Musikviertel.
1926 bis 1930 hatte der Brühl seinen Weltruf nach den schweren Zeiten des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Inflation zurückerobert. Mit einem Rohwarenumsatz von 500 bis 600 Millionen Reichsmark beherrschte er in dieser Zeit etwa 30 bis 35 Prozent des Weltmarkts. Das Jahr 1931 jedoch wurde durch die anhaltende Weltwirtschaftskrise zu einem Pleitejahr für viele Pelzhändler. Mit Warenverlusten von 40 bis 50 Millionen Reichsmark mussten etwa 30 Prozent der Händler ihr Geschäft aufgeben. Besonders die Devisenkontrollen machten vielen Pelzhändlern zu schaffen. Schon 1930 erhielt die Gebrüder Assuschkewitz AG am Brühl 74 von der Deutschen Bank keine Kredite mehr ohne dingliche Absicherung. 1934 konnte die Firma einige Hypothekendarlehen aufnehmen, bis ihr 1935 kein Bankkapital mehr zur Verfügung stand. Die Firma von D. Biedermann, der als der bei weitem reichste Mann am Brühl galt, wurde nach seinem Tod 1931 liquidiert, die Chaim Eitingon AG nach dem Tod des Eigners 1932 aufgelöst. Der Firma Allalemjian & Mirham wurden 1934 alle Kredite bei der Deutschen Bank gekündigt. Selbst das alte, traditionsreiche Pelzhandelshaus Lomer musste die Liquidation anmelden. Trotzdem lauteten die Eingangsworte eines Berichts, in dem die Stabilität der Leipziger Pelzindustrie erhärtet wurde: Der Brühl im Sturm bleibt auch im Sturm der Brühl.
Zweiter Weltkrieg und DDR-Zeit
Am 4. Dezember 1943 brannte der Brühl nach dem schwersten Bombenangriff des ganzen Krieges britischer Flieger fast restlos nieder, obwohl es kaum Treffer in diesem Gebiet gab. Der Brand griff jedoch auf die Brühl-Höfe über und wütete bis zum 15. Dezember 1943. Nur neun Gebäude überstanden das Inferno. Die Nordseite zwischen Nikolaistraße und Goethestraße wurde ganz zerstört, die wenigsten Schäden gab es auf der Südseite. Die in den Kellern in Sicherheit gebrachten Warenvorräte wurden durch einen Rohrbruch vernichtet. Nach dem Ende des Krieges gab es von den ehemals 794 Rauchwarenhandlungen noch 170, die sich in der Nachbarschaft des Brühls, vor allem in Oelsners Hof auf der Nikolaistraße zusammendrängten.
Nachdem der Brühl baulich wie wirtschaftlich verwüstet war, schien ein Neuanfang zunächst unmöglich. Die neue politische Lage machte es notwendig, Beziehungen zu neuen Lieferanten und Kunden zu erschließen. Felle waren schwierig zu bekommen, da aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage mehr Wert auf die Fleischproduktion gelegt wurde. Seit 1946 wurde die Organisation des Rauchwarenhandels von der Deutschen Handelszentrale Textil-Niederlassung Rauchwaren in der Nikolaistraße 36 geleitet. VEB Stadtpelz, ein Kommunal-Wirtschafts-Unternehmen der Stadt Leipzig hatte 1950 seine Räume auf dem Brühl 54. Trotz aller Probleme kam es im Februar 1958 zur Gründung des Außenhandelsunternehmens Deutsche Rauchwaren-Export- und -Import-GmbH in der Nikolaistraße, später umbenannt in Interpelz. Schon vor dem Krieg gab es Überlegungen, den Brühl durch den Bau eines alle gemeinsame Funktionen aufnehmenden Gebäudes zu entlasten. Das zehngeschossige Haus der Interpelz am Brühl (Hochhaus Brühlpelz) wurde jedoch erst zu DDR-Zeiten verwirklicht und 1966 eingeweiht. Seit 1967 stellte die Rauchwarenindustrie der DDR in einem dahinterliegenden Messehaus, dem Kongressgebäude Brühlzentrum am Sachsenplatz, ihre Erzeugnisse aus. 1960 fand die erste Leipziger Rauchwarenauktion nach dem Zweiten Weltkrieg statt (ab 1968 im Brühlzentrum). Der Brühl hatte jedoch seinen Ruf als „Weltstraße der Pelze“ endgültig verloren.
Die meisten Pelzbetriebe gingen in die aufblühende Bundesrepublik, wo mit dem beginnenden Wirtschaftswunder der Pelzumsatz jährlich zweistellige Zuwachsraten erzielte und die Bundesrepublik für längere Zeit zum Pelzkonsumland Nr. 1 wurde (heute Russland). Insbesondere in Frankfurt am Main bildete sich rund um die Niddastraße ein neues Pelzzentrum mit beinahe ähnlicher Ausstrahlung, lange Zeit von der Branche und auch heute noch gelegentlich als der „Brühl“ bezeichnet. Das Charakteristische dort war lange noch der neu entstandene Dialekt des sächsischen „Frankforterisch“.
Ende der 1950er Jahre gab es Pläne, moderne Lückenbauten, die sich in ihrer Fassadenstruktur an die historische Bebauung anlehnten, zwischen die nach dem Zweiten Weltkrieg übriggebliebenen, teilweise bereits wiederhergestellten alten Gebäude einzufügen. Die Pläne wurden jedoch nicht verwirklicht und die Reste der Altbebauung, u. a. das Messehaus Union im nordwestlichen Teil abgebrochen.
Am östlichen Ende vom Brühl, wo bis 1943 das Geschäftshaus der ADCA gestanden hatte, entstand 1963 unter Hinzunahme weiterer Grundstücke in der Richard-Wagner-Straße 3–6 das Interhotel Stadt Leipzig. Das Hotel hatte seine Front in Richtung Hauptbahnhof. Der noch vom Krieg stark beschädigte „Große Blumberg“ wurde 1963/64 unter der Mitwirkung des Instituts für Denkmalpflege Dresden und Volker Sieg in seiner historischen Gestalt wiederhergestellt. Im Erdgeschoss wurde das „Cafe am Brühl“ (auch Gasthaus „Zur Neuberin“) eingerichtet.
In der Zeit von 1966 bis 1968 wurden drei zueinander parallele, aber zum Brühl querstehende zehngeschossige Wohnhochhäuser auf der nördlichen Seite vom Brühl errichtet, die durch eingeschossige Flachbauten miteinander verbundene kleine Innenhöfe bildeten. Die Anbindung zur Plauenschen Straße wurde dabei überbaut. Auf dem angrenzenden Sachsenplatz wurde 1969 das eigenwillig gestaltete Gebäude der Leipzig-Information eröffnet. In diesem Gebäude befanden sich neben gastronomischen Einrichtungen wie der „Mocca-Bar“ auch Räume für repräsentative und kulturelle Anlässe. Gegenüber auf dem Brühl wurde am 5. Februar 1969 das Polnische Informations- und Kulturzentrum eröffnet. Ziel derartiger Einrichtungen war neben dem Austausch der Kulturen die politische Bildung. Hier sollten sich DDR-Bürger davon überzeugen, dass die Volksrepublik Polen festes Mitglied des sozialistischen Staatenblocks war.
Nach der Wende
1993 sorgte in Leipzig die Diskussion um den Abgabepreis für Oelßners Hof (Ritterstraße, früher Quandts Hof), ehemals Mittelpunkt des Leipziger Pelzzentrums, für Schlagzeilen. Diese Passage mit 3400 Quadratmetern, die früher einmal der Rauchwarenhändlerfamilie Thorer gehörte, wollte die Familie der damaligen Besitzer neuerwerben. Der Stadtkämmerer vereinbarte einen Preis von 20,5 Millionen DM, Schätzungen des Marktwerts gingen bis zu 50 Millionen DM.
Das Gebäude der Leipzig-Information auf dem Sachsenplatz wurde nicht mehr genutzt, so dass man 1996 den Abriss und die Neubebauung des Platzes beschloss. Es entstand von 1999 bis 2004 ein kubusförmiger Neubau des Museums der bildenden Künste. Der Leipziger Pop-Art-Künstler Michael Fischer-Art verhüllte anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 die Wohnhochhäuser am Brühl mit einer bunten Pop-Art-Folie. Ein weiteres Kunstwerk von Michael Fischer-Art ist die etwa 3000 m² Wandbemalung an der Giebelwand der Brühl-Arkade.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg noch erhalten gebliebenen Gebäude auf der Südseite des Brühls zwischen Richard-Wagner-Platz, Katharinenstraße und Reichsstraße bis Ritterstraße, wurden in den 1990ern saniert und einige Baulücken durch Neubauten geschlossen. An der Ritterpassage entstand 1996 das „Forum am Brühl“. Der siebengeschossige Gebäudekomplex aus Sandstein und Granit bietet mit einer Gesamtfläche von circa 27.000 Quadratmetern Büros, Praxen und Geschäften mit über 11.000 Quadratmetern Platz. 1998 entstand auf dem Brühl 33 (ehemals Schwabes Hof), Ecke Am Hallischen Tor, das Marriott Hotel mit der Brühl-Arkade nach Entwürfen der Planungsgruppe Wittstock und Partner aus Hannover.
Nach dem Ende der DDR gab es neue Ideen, den Brühl umzugestalten. 1999 rief man eine „Planungswerkstatt“ ins Leben, bei der mehrere Architektenbüros Ideen und Konzepte entwickeln konnten. Ein Vorschlag des Architektur Raum e. V., die Wohnhochhäuser zu erhalten und modernen sozialen Wohnraum zu schaffen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Geplant wurde nun die Errichtung eines innerstädtischen Einkaufszentrums mit anteiligen Wohnnutzungen. Der westliche Bereich des neuen Gebäudekomplexes ist inzwischen wieder mit der denkmalgeschützten Aluminiumwaben-Fassade des Kaufhauses Brühl (der im Volksmund sogenannten Blechbüchse) verkleidet worden.
An der „Pelzecke“ vom Brühl wurde anlässlich des 575-jährigen Bestehens der Leipziger Kürschnerinnung am 28. August 1998 eine Gedenktafel angebracht: „Der Brühl war jahrhundertelang Zentrum des internationalen Rauchwarenhandels, geprägt auch durch jüdische Händler.“
2007 erfolgte der Abriss eines Großteils der Wohnblöcke und Geschäftsgebäude am nördlichen Brühl. 2010 wurde unter Protest von Denkmalschützern und Teilen der Bürgerschaft auch das Kaufhaus Brühl mit seiner, unter der Aluminiumfassade noch in Teilen erhaltenen, künstlerisch gestalteten ursprünglichen Fassade abgerissen. Für das Hochhaus „Brühlpelz“ war von November 2015 bis zum 15. April 2016, in der Zeit einer europäischen Flüchtlingskrise, eine Nutzung als Flüchtlingsunterkunft vorgesehen, anschließend sollte dort ein Hotel entstehen.
Archäologische Befunde
Bis 2008 war der Brühl nur wenig archäologisch erforscht. Leider wurde bei den Bauarbeiten 1966 bis 1968 am nordwestlichen Brühl keine archäologische Untersuchung durchgeführt. Stattdessen wurde beim Errichten der Hochhäuser ein großer Teil der archäologisch wertvollen Schichten bis in eine Tiefe von drei Metern zerstört. Erst nach dem Abriss der Hochhäuser im Juli 2008 konnte das Gebiet von einer Größe von 17.000 Quadratmetern untersucht werden. Nur wenige Abschnitte wiesen eine vollständig erhaltene Schichtenlage auf.
Torfschichten, welche durch regelmäßige Überflutungen entstanden, konnten bis zu einer Zeit zwischen 1290 und 1390 nachgewiesen werden. Bisher nahmen Historiker an, dass die Bebauung am Brühl gleichzeitig mit der Stadt Leipzig entstanden ist. Funde in Höhe Katharinenstraße/Plauensche Straße lassen jedoch eine lockere Bebauung schon vor der Stadtgründung vermuten, demnach wäre der Brühl neben der Hainstraße eine der ältesten Straßen Leipzigs.
Auf dem ehemaligen Grundstück Brühl 31–35 wurde neben den Resten des Hauses „Zum Heilbrunnen“ die Grundmauern eines älteren Steingebäudes aus dem 15. Jahrhundert mit den Ausmaßen von etwa 8 × 20 Metern gefunden. Dies kann durchaus als eine Sensation angesehen werden, da es in Leipzig und Umgebung kaum geeignete Steinbrüche gab und somit nur kleine Fachwerkhäuser aus Holz und Lehm üblich waren. Solche Fachwerkbauten konnten für den Brühl 27 (Lattermanns Hof) und Brühl 23 (Plauenscher Hof) nachgewiesen werden. Das Steinhaus am Brühl ist historisch nicht überliefert. Die Größe und das teure Baumaterial lassen darauf schließen, dass es sich um ein öffentliches Gebäude oder das private Haus eines wohlhabenden Leipzigers handelte.
Straßenbild
Westlicher Teil
Der nordwestliche Teil der Straße ist durch das komplexe Einkaufszentrum Höfe am Brühl geprägt. Auf einer Fläche von etwa 22.300 Quadratmetern sind eine Handelsfläche von etwa 45.000 Quadratmetern mit 130 Geschäften, 70 Wohnungen und bis zu 820 Parkplätzen untergebracht. Im Februar 2009 bekundete der Investor des Einkaufszentrums seinen Willen, das Projekt zu verwirklichen, nachdem er sein Finanzierungsangebot zum 200-Millionen-Euro-Bauvorhaben zuvor zurückgezogen hatte.
Im Vorfeld des Bauvorhabens gab es zunehmend Zweifel über den Sinn eines Großprojektes in der Leipziger Innenstadt, da bereits ein breites Angebot bestehe und alle größeren Handelsketten in Leipzig vertreten seien. Dennoch hoffen die Händler der Innenstadt auf eine künftige Belebung, nachdem die Großbaustelle am Brühl zu einem stetigen Umsatzrückgang führte.
An der Hainspitze, dem Standort der ehemaligen Großen Tuchhalle, wurde im April 2016 ein Kaufhaus der Primark-Kette errichtet. Damit wurde diese Baulücke nach über 70 Jahren wieder geschlossen.
Mittlerer Teil
Zwischen Reichsstraße und Katharinenstraße liegt das Museumsquartier Leipzig mit dem Museum der bildenden Künste in einem quaderförmigen Neubau. Davor steht eine das Museum umgebende Blockrandbebauung in der üblichen Traufhöhe, die den historischen Straßenverlauf des Brühl in diesem Abschnitt wiederhergestellt hat.
Das mit seiner barocken Fassade sanierte Romanushaus bildet das Eckhaus an der Katharinenstraße. Nach Südwesten binden neue oder sanierte Wohn- und Geschäftshäuser die Hainstraße an.
Östlicher Teil
Östlich der Nikolaistraße sind vor allem sanierte Jugendstilgebäude, wie etwa „Gloecks Haus“, erhalten. Daneben befinden sich Gebäude in zeitgenössischer Postmoderne, wie das Brühl-Forum im Nordosten mit dem hotel ibis oder der Komplex Brühl-Arkade mit dem Marriott Hotel an der Ecke zum Hallischen Tor.
Die Baulücke an der Ecke Ritterstraße gegenüber dem Haus Zur Heuwaage ist in den 2010er Jahren geschlossen worden, im Zusammenhang mit der Sanierung und Entwicklung von Oelßners Hof in der Ritterstraße. Links neben Zur Heuwaage schließt das denkmalgeschützte Haus Brühl 74, ehemals „Gebrüder Assuschkewitz“, an. Auf dem folgenden Grundstück stand bis zum Sommer 2009 ein Bürobau aus den 1970er Jahren, der sich in der Goethestraße fortsetzte. Er wurde abgerissen um Platz zu machen für den Neubau der Zentrale der Unister Holding GmbH. Unister wurde insolvent, das Grundstück wurde verkauft. Seit 2021 steht hier ein neu errichtetes Hotel.
Handel und Gastronomie
Auf dem Brühl sind neben wenigen gastronomischen Einrichtungen vorwiegend Einzelhändler, besonders an der Kreuzung zur Nikolaistraße sowie an der Südwestseite, angesiedelt. Im Nordwesten und Südosten gibt es keine oder nur wenige Geschäfte. Die Passantenströme verlaufen vorwiegend durch die Hainstraße zu den Straßenbahnhaltestellen am Tröndlinring und der Nikolaistraße Richtung Hauptbahnhof.
Richard Wagners Geburtshaus
Am 22. Mai 1813 wurde Richard Wagner im Brühl 3, im „Gasthof Roter und Weißer Löwe“, geboren. Der 1656 erstmals erwähnte Gasthof wurde nach dem rot über weiß quergestreiften Wappenlöwen des Landgrafen von Thüringen benannt und war Unterkunft der Fuhrleute aus Thüringen. Im Jahr 1882 nahm das Haus den Namen „Geburtshaus Richard Wagners“ an. Vier Jahre später wurde es abgerissen, der Folgebau jedoch weiter als „Wagnerhaus“ bezeichnet. 1913 erhielt der ehemalige „Platz am Ranstädter Thor“, später „Theaterplatz“, den Namen „Richard-Wagner-Platz“. 1914 wurde ein Neubau des „Kaufhauses Brühl“ auf den Grundmauern von Brühl 1 und 3 errichtet und 1928 erweitert. Das Gebäude hatte anfangs eine geschwungene Linienführung und eine Natursteinfassade. Erneute Umbauten zum „Konsument-Warenhaus am Brühl“ fanden 1964–66 statt. Dabei erhielt das Gebäude einen achtgeschossigen Anbau sowie eine vorgehängte Fassade aus hyperbolischen Aluminiumelementen ohne Fenster, die dem Kaufhaus den Spitznamen „Blechbüchse“ eintrug. Es war das größte und modernste Warenhaus der DDR. Die Fassade steht unter Denkmalschutz, sie wurde nach dem Abriss des Gebäudes an gleicher Stelle und in gleicher Form 2012 an seinem in die Höfe am Brühl integrierten Nachfolgebau angebracht. Seit 1937/1970 erinnerte eine Bronzetafel des Leipziger Bildhauers Fritz Zalisz am Kaufhaus Brühl an das Geburtshaus Richard Wagners.
Siehe auch
Liste der Hochhäuser in Leipzig
Museumsquartier Leipzig
Literatur
Bücher
Richard Küas: Kinder vom Brühl. Roman. Phönix-Verlag Carl Siwinna, Berlin 1919, Buchdeckel, Brief
J[acques] Adler: Der Brühl im Weltverkehr und Stadtverkehr. Nr. 17 in der Schriftenreihe Leipziger Verkehr und Verkehrspolitik. Leipzig 1930, Buchdeckel
Gustav Herrmann: Einer vom Brühl. Roman. Wilhelm-Goldmann-Verlag, Leipzig 1930, Buchdeckel, Inhaltsverzeichnis
Waltraud Volk: Historische Straßen und Plätze heute. Leipzig. Verlag für Bauwesen, Berlin 1981
Walter Fellmann: Der Leipziger Brühl. Geschichte und Geschichten des Rauchwarenhandels. Fachbuchverlag, Leipzig 1989, ISBN 3-343-00506-1
Birk Engmann: Bauen für die Ewigkeit: Monumentalarchitektur des zwanzigsten Jahrhunderts und Städtebau in Leipzig in den fünfziger Jahren. Sax-Verlag, Beucha 2006, ISBN 3-934544-81-9
Doris Mundus, Rainer Dorndeck: Pelze aus Leipzig, Pelze vom Brühl. Sax-Verlag, Beucha/Markkleeberg 2015, ISBN 978-3-86729-146-0
Zeitschriften
Putz und Pelz. Zeitschrift für das deutsche Kürschner- und Putzmacherhandwerk. Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1953–1959
Der Brühl. Fachzeitschrift für Rauchwarenhandel, Pelzkleidung, Rauchwarenveredlung und Pelztierzucht. Fachbuchverlag, Leipzig 1960–1990,
Modische Linie & Brühl. Fachzeitschrift für das Schneider-, Modisten- und Kürschnerhandwerk, für Rauchwarenhandel, Rauchwarenveredlung, Pelztierzucht. Fachbuchverlag, Leipzig 1990–1991,
Theater
S. E. Vengers (eigentlich Salomon Joel, genannt „Sally“, Grübel): Ultimo am Brühl. Volksstück, am 1. August 1931 uraufgeführt vom Leipziger Komödienhaus in der Tauchaer Straße (bis 1929 Battenberg-Theater). Das Manuskript scheint verschollen.
Regie und Bearbeitung: Frank Witt und R. A. Sievens; Hauptfigur Pelzhändler Stephan Gaborius: Herbert Schall (Gast); Frau und Mutter: Käte Frank-Witt; Sohn: Hans Flössel; Kommerzienrat: Joseph Firmans. Bühnenbilder: Joseph Firmans.
Aus der Kritik in einer Pelz-Fachzeitung: „[…] Wie Gustav Hermann, der im Ipa-Jahr den Roman eines Pelzhändlers »Einer vom Brühl« (Verlag Wilhelm Goldmann, Leipzig) veröffentlichte, ist wohl auch der Verfasser, der sich hinter dem Pseudonym verbirgt, ein Mann aus der »Branche«. Dafür spricht einmal die Naivität in der Dialogführung, zeitweise ein kunstloses Aneinanderreihen von Witzen und Belanglosigkeiten, zum andern die innige Vertrautheit mit den Usancen und gegenwärtigen großen und kleinen Sorgen des Brühls. […] Die Premiere war ein voller Publikumserfolg.“
Gustav Hermann, ehemaliger Inhaber von Rödiger & Quarch, der ältesten Pelzfärberei Leipzigs, schrieb auch jährlich die Texte und Couplets für die von 1921 bis 1926 im Rahmen der im Krystallpalast stattfindenden Pelzmodenschauen: „Fachkundig genug, um das rechte Milieu zu finden, und Kenner des Brühl, um mal eine Szene über seine Leute einzufügen. Unter dem Jubel der Branche und des Leipziger Publikums, das sich zu den Aufführungen drängte, ging die Aufführung vor sich, die stets mit einer großen Vorführung endete, zusammenfassend alle Neuheiten der Aussteller zu zeigen“.
Einzelnachweise
Weblinks
Forum zum Abriss und Neuplanung des Brühls
Bilder vom Bau Höfe am Brühl Leipzig auf baustellen-doku.info (Archivlink)
Bilder vom Abbruch der Wohnblöcke am Brühl auf bauforum24.biz
Bürgerinitiative Kaufhaus Brühl
Pelzhandel
Straße in Leipzig
Judentum in Leipzig
Fußgängerzone in Leipzig
Handelsgeschichte (Deutschland)
Straße in Europa
Fußverkehr (Leipzig) |
4184317 | https://de.wikipedia.org/wiki/Westm%C3%B6we | Westmöwe | Die Westmöwe (Larus occidentalis) ist eine an der Westküste Nordamerikas beheimatete Vogelart innerhalb der Möwen (Larinae). Unter den Möwen ist sie die einzige Art, die entlang des gesamten Abschnitts der Pazifikküste von Vancouver Island im Norden bis zur mexikanischen Halbinsel Niederkalifornien im Süden brütet.
Die Westmöwe gehört zu den großen Möwen und unterscheidet sich von der gemeinsam vorkommenden Beringmöwe (Larus glaucescens) durch ihren dunkleren Rücken, ihre schwarzen anstatt grauen Markierungen an den Flügelspitzen und ihre bernsteingelbe Iris mit einem orangegelben bis blassrosa Orbitalring anstelle einer braunen Iris mit einem rötlich-violetten Orbitalring. Im nördlichen Teil des Verbreitungsgebietes der Westmöwe kommt es zu einer intensiven Hybridisierung mit der Beringmöwe, was die Bestimmung erschwert.
Im Gegensatz zu anderen Möwenarten ist die Westmöwe nur äußerst selten im Inland anzutreffen. Sie brütet bevorzugt unweit der Pazifikküste auf felsigen Inseln wie Southeast Farallon Island, wo mehr als 30 % der Gesamtpopulation beheimatet ist.
Die Westmöwe ist wie die meisten Möwen ein Allesfresser, ernährt sich aber vor allem von Fischen und wirbellosen Tieren. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, ernährt sie sich auch von Aas und menschlichen Abfällen.
Aufgrund ihres ausgedehnten Verbreitungsgebietes und der großen Gesamtpopulation wird die Art von der IUCN als nicht gefährdet eingestuft. Da die Westmöwe ihre Nahrung hauptsächlich im Meer findet, ist sie potentiell durch Wetterphänomene wie El Niño und menschliche Einflüsse wie Ölverschmutzungen, Plastikabfälle sowie Belastungen durch Pestizide bedroht.
Merkmale
Körperbau und Farbgebung
Die Westmöwe gehört mit einer Länge von 62 bis 66 cm und einer Flügelspannweite von 135 bis 140 cm zu den größeren Möwenarten. Bei adulten Tieren sind Kopf, Hals und Unterseite sowie der Schwanz weiß; Kopf und Hals der Nominatform können im Winter mit grauen Stricheln durchsetzt sein. Oberseite und obere Flügeldecken sind bleigrau, die Flügel sind grau und haben schwarze Handschwingen. Die Spitzen der hintersten Armschwingen sind hellgrau bis weiß. Der gelbe Schnabel trägt einen roten Fleck am Gonyseck, dem Winkel an der Schnabelunterseite. Die Füße sind fleischfarben. Adulte Exemplare der beiden Unterarten L. o. occidentalis und L. o. wymani lassen sich am einfachsten anhand der Farbe ihres Mantels unterscheiden. Bei der Unterart occidentalis ist dieser schieferfarben, während derjenige der Unterart wymani dunkler ausfällt.
Bei Westmöwen dauert die Entwicklung zum adulten Tier – wie bei den meisten der größeren Möwen – vier Jahre. In dieser Zeit durchlaufen die jungen Möwen verschiedene Stadien der Farbgebung, was die exakte Altersbestimmung erschwert. Die Ausprägung der Farbgebung ist individuell sehr variabel und hängt unter anderem von dem Zeitpunkt der Mauser ab. Einige grobe idealtypische Merkmale umfassen:
Jugendkleid: Recht einheitlicher dunkelbrauner Kopf und Körper. Rücken und Flügel dunkel mit hellen Federrändern. Schwanz dunkelbraun. Schwungfedern auf der Oberseite der Flügel schwärzlich, auf den Unterseiten glänzend grau. Schwarzer Schnabel. Beine dunkelgrau und leicht rosa. Iris dunkelbraun.
Erster Winter: Das erste Schlichtkleid ähnelt dem Jugendkleid, weist aber – in stark unterschiedlichem Umfang – graue Federn auf Kopf, Hals, Brust und bei den Schulterfedern auf. Schwarzer Schnabel mit blasser Färbung unten. Iris dunkelbraun.
Zweiter Winter: Kopf und Unterseite mehr weiß, aber im Nacken immer noch graue Streifen. Rücken gescheckt und dunkelgrau. Unterseite weiß, Hals gestreift. Weiße Flügelspitzen. Dunkler Schwanz. Schnabel blass fleischfarben, mit schwärzlichem Streifen hinter den Nasenlöchern. Weiße Schnabelspitze. Iris blass strohfarben oder braun.
Dritter Winter: Nacken und Kopf mit einigen braunen Federn, ansonsten weiß. Rücken dunkelgrau mit nur wenigen braunen Federn. Unterseite weiß. Schwanz größtenteils weiß mit einigen dunklen Sprengseln. Handschwingen schwarz mit weißen Spitzen. Armschwingen dunkelgrau mit breiten weißen Spitzen. Schnabel gelblich mit schwärzlichem Streifen hinter den Nasenlöchern. Iris gelb oder gelbbraun.
Flugbild und Fortbewegung
An Land bewegen sich Westmöwen üblicherweise mittels Gehen oder Laufen fort. Um höhergelegene Plätze zu erreichen, stoßen sich die Tiere mit den Beinen vom Boden ab und sorgen gleichzeitig mit einem Flügelschlag für eine Aufwärtsbewegung. Bei der Auseinandersetzung mit Widersachern laufen Westmöwen mit teilweise aufgestellten Flügeln. Hüpfen wird nicht zur Fortbewegung eingesetzt.
Im Flug bewegen sich Westmöwen sehr häufig gleitend fort. Zum Sturzflug werden die Flügel angewinkelt. Bei der Annäherung an Gruppen von Seevögeln, die auf dem Wasser schwimmend nach Nahrung suchen, fliegen Westmöwen häufig in immer kleiner werdenden Kreisen bei gleichzeitigem schnellen Schlagen der Flügel. Eindringlinge in ihr Territorium vertreiben Westmöwen im Sturzflug, wobei sie ihre Feinde mit Flügelschlägen und mit den Füßen angreifen.
Beim Schwimmen auf dem Wasser setzen Westmöwen ihre Beine zur Fortbewegung ein. Das Tauchen nach Nahrung findet entweder von der Wasseroberfläche aus oder aus geringer Höhe statt. Beim Tauchen können die Tiere allerdings nur Tiefen von höchstens ein bis zwei Metern erreichen.
Lautäußerungen
Westmöwen verfügen über ein komplexes Repertoire von 12 bis 15 Rufen. Zwei dieser Rufe treten nur bei Jungvögeln auf und drei weitere nur in der Brutzeit.
Das Jauchzen der Westmöwe (engl. long call) ist eine lautstarke Rufreihe von mehr als sechs, in schneller Folge hintereinander erzeugten Tönen. Männliche Tiere verwenden das Jauchzen gegenüber Rivalen im Zuge der Revierbildung sowie vor der Brut. Im Vergleich zu artverwandten Möwen ist das Jauchzen der Westmöwe kürzer, tiefer und weniger klar.
Der „Katzenruf“ (engl. mew call) klingt wie das langgezogene Miauen einer Hauskatze. Er ist vor allem in Brutkolonien zu hören und wird von Westmöwen zumeist während der Partnerwerbung, der Interaktion mit ihren Jungen sowie in Konflikten mit benachbarten Brutpaaren geäußert.
Als „Stößellaut“ (engl. choking call) wird eine Reihe von gutturalen huo-huo-huo-Lauten bezeichnet, die bei aggressivem Verhalten gegenüber Artgenossen sowie bei der Auswahl des Nistplatzes auftreten.
Ihren Alarmruf (Eh-Eh, HaHaHa, oder Kek-Kek) verwenden Westmöwen, sobald sie einen Eindringling erspähen, dieser jedoch noch keine unmittelbare Bedrohung darstellt.
Lebensraum, Verbreitung und Wanderung
Das Verbreitungsgebiet der Westmöwe erstreckt sich von Vancouver Island bis zur Südspitze der mexikanischen Halbinsel Niederkalifornien. Die jeweils äußeren Abschnitte des Verbreitungsgebietes im Norden und im Süden dienen den Tieren lediglich als Winterquartier.
Dabei kommt die Westmöwe fast ausschließlich in Küstennähe vor und ist – anders als andere Möwenarten – nur äußerst selten im Inland zu finden. Eine Ausnahme bildet die Laichzeit der Lachse im Pazifischen Nordwesten, während der die Westmöwen den Lachsen für einige Kilometer flussaufwärts folgen. Im Winter suchen die Tiere in großen Buchten wie dem Puget Sound und der San Francisco Bay Schutz vor Stürmen.
Bei der Brut bevorzugt die Westmöwe vor allem Inseln und Felsen vor der Küste, häufig in der Nähe von Kolonien des Kalifornischen Seelöwen (Zalophus californianus). Die mit mehr als 13.000 Paaren größte Brutkolonie befindet sich auf Southeast Farallon Island, einer vulkanischen Felseninsel rund 43 Kilometer westlich des Golden Gate.
Tiere der Unterart L. o. occidentalis entfernen sich nur in begrenztem Umfang von ihrer Kolonie. Untersuchungen von auf South East Farallon Island beringten Vögeln in den 1970er und -80er Jahren ergaben, dass nur wenige Individuen dauerhaft die Insel verließen. Dabei bleiben ältere Vögel fast ganzjährig in ihrem Brutgebiet, während jüngere Individuen im Sommer nördlich in nahrungsreichere Gebiete wandern, um dann im Winter wieder nach Süden zurückzukehren.
Einige wenige Westmöwen der Unterart L. o. wymani ziehen bis an der Küste des mexikanischen Bundesstaates Sonora auf der östlichen Seite des Golfs von Kalifornien. Etwa 20.000 bis 30.000 Individuen überwintern in der Nähe der kalifornischen Stadt Santa Cruz.
Lebensweise
Nahrungserwerb und Nahrung
Wie die meisten Möwen sind auch Westmöwen Allesfresser. Sie ernähren sich vor allem von Fischen wie der Amerikanischen Sardelle (Engraulis mordax) und wirbellosen Tieren wie Krill, Tintenfischen, Quallen, Seesternen, Muscheln und Schnecken. Darüber hinaus ernähren sie sich von Eiern und Jungtieren von anderen Westmöwen und artverwandten Vögeln. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, ernähren sie sich auch von Aas und durchsuchen menschliche Abfälle nach brauchbaren Resten.
Untersuchungen auf Alcatraz Island haben gezeigt, dass die Nahrungswahl nicht allein von der Verfügbarkeit der unterschiedlichen Nahrungsquellen, sondern auch von anderen Faktoren abhängt. Westmöwen auf der kleinen Insel in der Bucht von San Francisco stellten ihre Nahrung von menschlichen Abfällen auf kleine Fische um, sobald im Juni die Brutsaison begann. Dies wird darauf zurückgeführt, dass der Nährwert – gemessen an enthaltenen Proteinen, Fett und Nahrungsenergie – pro Gramm Nahrung bei Fischen höher liegt als bei den auf Alcatraz Island vorhandenen Abfällen, die vor allem aus Hühnerfleisch bestanden. Eine Langzeitstudie zum Bruterfolg in Abhängigkeit von der Nahrungswahl ergab, dass bei der Brut besonders erfolgreiche Westmöwen sich und ihre Jungen zu über 60 % von Fisch ernährten.
Bei der Nahrungssuche auf offener See vereinen sich verstreute Gruppen von Westmöwen schnell zu großen Schwärmen, sobald sie Ansammlungen von Beutetieren ausmachen. Häufig folgen sie Futter suchenden Kalifornischen (Zalophus californianus) und Stellerschen Seelöwen (Eumetopias jubatus), Südlichen Seebären (Arctocephalus) sowie Delfinen. Darüber hinaus schließen sie sich Gruppen von Vögeln an, die ihre Nahrung tauchend erbeuten (insbesondere Pelikane, Kormorane, Lummen und Alkenvögel). Ebenso fungieren Westmöwen häufig als Katalysatoren, indem sie Fischschwärme als Erste erspähen und durch ihre Aktivität andere Arten anlocken.
Westmöwen erbeuten ihre Nahrung entweder dadurch, dass sie auf dem Wasser schwimmen und unterhalb der Wasseroberfläche befindliche Beutetiere mit ihrem Schnabel greifen, durch flaches Tauchen oder durch Landen und Greifen mit den Zehen. In Küstennähe erbeuten sie ihre Nahrung bei Ebbe auch laufend.
Fortpflanzung
Kolonien und Revierverhalten
Westmöwen brüten üblicherweise in Kolonien, wobei der Nestabstand zwischen 1,5 und 2,0 Meter auf Bird Rock (einer winzigen Insel nahe Santa Catalina Island) bzw. zwischen 1,75 und 21,0 Meter (ø 10,9 ± 4,9 Meter) auf Santa Barbara Island liegt. Die Größe des jeweiligen Territoriums ist dabei sowohl vom Untergrund als auch von der Heterogenität des Habitats abhängig, wobei heterogenere Habitate kleinere Territorien zur Folge haben. Das Revierverhalten variiert in Abhängigkeit von der Brutphase. Aggressives Verhalten tritt am schwächsten während der Bebrütung der Eier und am stärksten während der Aufzucht der Jungen auf.
Paarbildung und Kopulation
Bei der zwischen Januar und Juni erfolgenden Paarbildung nähert sich das Weibchen dem Männchen in demütiger „Buckelhaltung“, wirft den Kopf in den Nacken und lässt einen Bettelruf ertönen. Die Männchen reagieren darauf entweder mit einer aufrechten Haltung oder mit der „Katzenruf“-Haltung und dem Katzenruf. Daraufhin umkreist das Weibchen das Männchen und verstärkt seine Bemühungen, wenn das Männchen mit dem Katzenruf antwortet. Die Kopulation erfolgt, sobald das Weibchen vom Männchen hochgewürgtes Futter akzeptiert.
Nestbau, Bebrütung und Jungenaufzucht
Der Nestbau der Westmöwen beginnt in den letzten Wochen des Monats April und endet regelmäßig im Mai, selten erst im Juni. Während dieser Zeit graben sowohl das Männchen als auch das Weibchen bis zu drei Mulden in windgeschützter Lage, die sie mit Nistmaterial füllen. Beim Anlegen der durchschnittlich 15 cm im Innendurchmesser messenden Nestmulden lassen die Tiere einen gutturalen Laut, den „Stößellaut“ (engl. choking call), ertönen. Wenn beide Geschlechter gemeinsam an einer Mulde den Stößellaut erklingen lassen, ist dies ein Zeichen dafür, dass der Nistplatz gewählt ist. Die Entscheidung steht endgültig fest, sobald das Weibchen mit der Eiablage beginnt.
In Abständen von jeweils zwei Tagen legt das Weibchen üblicherweise drei Eier in die Nistmulde. Während dieser Zeit wird das Weibchen, das sich nur selten vom Nest fortbewegt, vom Männchen mit Futter versorgt. Die Eier werden von beiden Elterntieren etwa einen Monat lang bebrütet, wobei sich die Tiere jeweils alle zwei bis vier Stunden abwechseln. Die Eier sind zwischen 85 und 105 Gramm schwer, 67–75 mm lang, 47–52 mm breit sowie von helloliver, gelbbrauner oder grünlicher Farbe mit schwarzen, dunkelbraunen oder dunkeloliven Flecken.
Von dem Moment an, an dem das Küken die Eierschale erstmals mit dem Schnabel durchbricht, dauert das Schlüpfen insgesamt zwei bis drei Tage. In dieser Zeit lässt das Küken piepende Laute erklingen, die von den Elterntieren mit dem Katzenruf beantwortet werden. Nach dem Schlüpfen werden die Küken sieben bis zehn Tage lang intensiv gehudert.
Die Jungvögel bleiben im Nest bzw. in dessen unmittelbarer Nähe, bis sie nach etwa 40 bis 50 Tagen flügge sind. Während der nächsten drei Monate kehren sie immer wieder zum Nest zurück. Oft werden herumstreunende Jungtiere von Möwen der angrenzenden Brutreviere getötet. Elternlose Küken werden hingegen manchmal von anderen Paaren angenommen.
Sterblichkeit und Alter
Eine zwischen 1978 und 1986 auf South East Farallon Island durchgeführte Langzeitstudie zur Sterblichkeit von Westmöwen ergab, dass 50 % der Küken im Juni an Unterernährung starben, 54 % der Küken im Juli durch adulte Tiere getötet wurden und 91 % der Küken im August und September wiederum verhungerten. In Folge der Nahrungsknappheit im El-Niño-Jahr 1983 nahm die Bedeutung von Angriffen adulter Westmöwen auf Jungtiere als Mortalitätsursache zu. Im gesamten Untersuchungszeitraum starben 59 % der untersuchten einjährigen Westmöwen aufgrund mangelhafter Ernährung. Bei adulten Tieren stellten die Forscher eine je nach Jahreszeit variable Verteilung der Mortalitätsursachen Verhungern, Krankheiten und Unfälle fest. Westmöwen können bei einer typischen Lebenserwartung von 10 bis 15 Jahren ein maximales Alter von 20 bis 25 Jahren erreichen.
Taxonomie
Forschungsgeschichte
Erstbeschrieben wurde die Westmöwe von dem amerikanischen Ornithologen John James Audubon 1839 im fünften Band des Werkes Ornithological biography, das sich den Vögeln Nordamerikas widmet. Sein Kollege John Kirk Townsend (1809–1851) hatte ihm einen subadulten und einen adulten Vogel zugeschickt. Als Fundort dieser Typusexemplare gab Townsend Cape Disappointment an der Mündung des Columbia River im heutigen Bundesstaat Washington an. Townsend hatte in den 1830er Jahren an einer von dem amerikanischen Unternehmer Nathaniel Jarvis Wyeth (1802–1856) organisierten Expedition über die Rocky Mountains zur Küste des Pazifischen Ozeans teilgenommen und dabei nicht nur den bis dahin weitgehend unbekannten Pazifischen Nordwesten bereist, sondern – zusammen mit dem britischen Botaniker und Zoologen Thomas Nuttall – auch dessen Tier- und Pflanzenwelt erforscht. In seiner Erstbeschreibung wies Audubon darauf hin, dass die beiden am Cape Disappointment gefundenen Exemplare in ihrer Farbgebung der Silbermöwe (Larus argentatus) glichen, von dieser aber in einer Reihe von Merkmalen abwichen, woraus er schloss, dass es sich um eine neue und bisher unbeschriebene Art handelte.
Unter den 21 in Amerika brütenden Möwenarten gehört die Westmöwe zu den sechs Arten, die als am besten erforscht gelten. Die Ursache hierfür liegt in dem Umstand, dass bei Koloniebrütern statistisch relevante Daten grundsätzlich einfacher und schneller gesammelt werden können und die Brutkolonien der Westmöwen für Menschen zugleich relativ gut erreichbar sind. Besonders in den 1980er Jahren, also zu einem Zeitpunkt, als Möwen verstärkt als Konkurrenz für die Fischerei gesehen wurden, entstanden eine Reihe von Studien, die sich der Westmöwe widmeten. Die Forschungsschwerpunkte lagen dabei auf der ausgiebig von George L. Hunt, Jr. und Molly W. Hunt, Malcolm C. Coulter, Raymond Pierotti und anderen erforschten Brutbiologie sowie auf der Bestandsentwicklung und den Wanderungen der Art, zu denen auch Larry B. Spear eine Reihe von Studien beigesteuert hat. Weiter erleichtert wurde die Erforschung der Westmöwe durch den Umstand, dass ein signifikanter Teil der Gesamtpopulation ganzjährig auf South East Farallon Island lebt, wodurch Langzeitstudien möglich wurden, die erheblich zum heutigen Verständnis der Art beigetragen haben.
Äußere Systematik
Die Westmöwe wurde lange Zeit einer Gruppe von weißköpfigen Großmöwen zugeordnet, deren komplexe verwandtschaftliche Verhältnisse erst durch genetische Untersuchungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgedeckt werden konnten. Im Zuge eines Vergleichs der mitochondrialen DNA von Möwen des argentatus-fuscus-Formenkreises stellten Dorit Liebers, Peter de Knijff und Andreas Helbig im Jahr 2003 fest, dass sich der haploide Genotyp von Westmöwen deutlich von allen anderen Arten der weißköpfigen Großmöwen unterscheidet. Sie folgerten daraus, dass die Westmöwen – ebenso wie ihre nahen Verwandten, die Gelbfußmöwen (Larus livens) – bereits mindestens eine Million Jahre auf dem nordamerikanischen Kontinent lebten, bevor ihn andere weißköpfige Großmöwenarten erreichten. Obwohl sich die Westmöwen in ihren genetischen Anlagen klar von der Beringmöwe (Larus glaucescens) unterscheiden und keine jüngeren gemeinsamen Verwandten aufweisen, sind sie dennoch in der Lage, mit diesen zu hybridisieren.
Innere Systematik
Es treten zwei Unterarten auf, wobei sich die südlich von Monterey verbreitete Unterart L. o. wymani von der Nominatform vor allem durch ihre dunklere Oberseite und ihre hellere Iris unterscheidet. Im Winter weist L. o. occidentalis zudem schwache dunkle Markierungen am Kopf auf, während der Kopf bei der südlicheren Unterart ganzjährig weiß gefärbt ist. Das Artepitheton „occidentalis“ ist lateinischen Ursprungs und bedeutet „westlich“. „Wymani“ ist dem Ornithologen Luther Everet Wyman (1870–1928) gewidmet.
L. o. occidentalis Audubon, 1839 – Südwesten von British Columbia, Westen der USA bis ins zentrale Kalifornien
L. o. wymani Dickey & van Rossem, 1925 – Zentralkalifornien bis Baja California in Mexiko
Bis zur Reklassifizierung durch die American Ornithologists’ Union im Jahr 1982 wurde die Gelbfußmöwe (Larus livens) als Unterart der Westmöwe geführt. Dies ging auf den amerikanischen Ornithologen Jonathan Dwight zurück, der im Jahr 1919 L. o. livens anhand eines von der im Golf von Kalifornien gelegenen Insel San José stammenden Exemplars von L. o. occidentalis abgrenzte. Im Jahr 1925 fügten Donald Ryder Dickey und Adriaan Joseph van Rossem eine dritte Unterart L. o. wymani hinzu, wobei sie bereits festhielten, dass die als L. o. livens klassifizierten Westmöwen im Golf von Kalifornien gelbe anstatt rosafarbene Beine aufweisen. Durch die Arbeit der Biologin Judith Hand ist seit 1981 klar, dass sich die frühere Unterart L. o. livens nicht allein durch die Farbe ihrer Beine, sondern auch durch ihre Lautäußerungen von den Westmöwen unterscheidet, weshalb sie inzwischen als eigene Art Larus livens geführt wird.
Bestand und Gefährdung
Im Zuge des Kalifornischen Goldrausches wurde die Population der Westmöwen auf den Farallon-Inseln von Eiersammlern stark dezimiert. Nahrungsmittel in San Francisco waren knapp und Unternehmen wie die Pacific Egg Company konkurrierten mit den Leuchtturmwärtern der Farallon Island Light Station, die ebenfalls Profit aus dem Verkauf von Vogeleiern zu schlagen versuchten. Auch das Personal weiterer kalifornischer Leuchttürme beteiligte sich an der intensiven Jagd auf Seevögel. Raymond Pierotti und Cynthia Annett vermuten, dass die Automatisierung der Station auf Southwest Farallon sowie insbesondere der Leuchttürme von Anacapa Island und Año Nuevo Island in Verbindung mit der Schließung des Bundesgefängnisses auf Alcatraz positiven Einfluss auf die Bestandsentwicklung der Westmöwen im 20. Jahrhundert hatten.
Für den nördlichen Teil des Verbreitungsgebietes liegen Populationszahlen für die Jahre zwischen 1975 und 1980 vor. Speich und Wahl schätzten die Population an der Küste des Bundesstaats Washington auf rund 3.000 bis 4.000 Paare, wobei diese Zahlen aufgrund der Hybridisierung mit Larus glaucescens jedoch mit größter Vorsicht zu nutzen sind. Spendelow und Patton ermittelten rund 5.000 Brutpaare für Oregon sowie rund 2.500 Brutpaare für Kalifornien nördlich von Point Reyes.
Die in Zentralkalifornien zwischen Point Reyes und Point Conception beheimatete Population umfasste in den späten 1970er Jahren rund 17.000 Brutpaare und nahm bis in die 1990er Jahre – vermutlich infolge von ENSO-Phänomenen – auf rund 14.000 Paare ab. Die im Süden Kaliforniens – also südlich von Point Conception – beheimatete Population vergrößerte sich im selben Zeitraum von rund 5.500 auf etwa 14.000 Brutpaare.
In der roten Liste der IUCN wird die Westmöwe heute als least concern („nicht gefährdet“) eingestuft. Potentiell bedroht ist die Art durch Wetterphänomene wie El Niño und menschliche Einflüsse wie Ölverschmutzungen und Umweltbelastungen durch Pestizide. Pierotti und Annett weisen zudem darauf hin, dass Einrichtungen wie das Point Reyes Bird Observatory im Point Reyes National Seashore sowie der National Park Service die Westmöwe immer noch als potentiellen Störenfried gegenüber anderen Seevögeln Kaliforniens begreifen und ihren Schutz deshalb als nachrangig betrachten.
Menschen und Westmöwen
In San Francisco sind Westmöwen unter anderem dafür bekannt, dass sie gegen Ende der Spiele des Baseballteams San Francisco Giants in deren Stadion AT&T Park auftauchen, um dort nach Futter zu suchen. Während der letzten Innings kreisen sie in großen Schwärmen über dem Spielfeld und lassen sich nach dem Ende der Spiele auf den Zuschauertribünen nieder, um Essensreste wie Hotdogs und Pommes frites zu erbeuten. Woher die Tiere wissen, dass ein Spiel seinem Ende entgegengeht, ist bisher ungeklärt. In einem Gespräch mit der Zeitung San Jose Mercury News vermutete der Biologe Russ Bradley im Jahr 2013, dass sich die Westmöwen an den Fans orientieren könnten, die schon während der letzten Innings das Stadion verlassen. Möglich sei auch eine Erkennung der Melodie des Liedes Take Me Out to the Ball Game, das traditionell während des Seventh-inning stretch erklingt. Im Jahr 2011 sorgte das Auftauchen eines Rotschwanzbussards (Buteo jamaicensis) im AT&T Park für eine kurzfristige Lösung des Problems. Nachdem dieser vom Stadionpersonal „Bruce Lee“ getaufte Greifvogel jedoch verschwand, kehrten die Westmöwen in den AT&T Park zurück.
Literatur
Raymond J. Pierotti / Cynthia A. Annett: Western Gull (Larus occidentalis), in: Birds of the World, hrsg. von A. Poole, Ithaca 1995 (kostenpflichtiger Abruf; zuletzt abgerufen am 23. Mai 2020 mit Stand des Textes vom 1. Januar 1995)
Western Gull. Larus occidentalis, in: Klaus Malling Olsen / Hans Larsson, Gulls of Europe, Asia and North America, London 2004, S. 165–177 (Die erste Auflage aus dem Jahr 2003 war stark fehlerbehaftet und wurde vom Verlag zurückgezogen).
Weblinks
Anmerkungen
Möwen
Wikipedia:Artikel mit Video |
4271943 | https://de.wikipedia.org/wiki/Akt%2C%20eine%20Treppe%20herabsteigend%20Nr.%202 | Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 | Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 () ist der Titel eines Gemäldes von Marcel Duchamp aus dem Jahr 1912. Das Bild gilt als ein Schlüsselwerk der klassischen Moderne und zählt zu den bekanntesten Kunstwerken des 20. Jahrhunderts. Bei seiner Präsentation im Pariser Salon des Indépendants wurde es von den Salonkubisten abgelehnt und während seiner Ausstellung auf der Armory Show in New York 1913 im Zuge eines pressewirksamen Skandals mit Schmähungen überhäuft. Es befindet sich heute in der Louise and Walter Arensberg Collection des Philadelphia Museum of Art, Philadelphia.
Beschreibung
Das Ölgemälde auf Leinwand mit den Abmessungen 147 × 89,2 cm zeigt im Hochformat einen scheinbar abstrahierten Akt in Ocker- und Brauntönen, wobei der Bewegungsablauf der Figur als ineinander übergehende Einzelbilder dargestellt ist. Die „Körperteile“ sind dabei als verschachtelte, konische und zylindrische Elemente abstrahiert, die eine Rhythmik erkennen lassen. Dunklere Umrissstriche begrenzen die Konturen und dienen zugleich als Bewegungslinien, die die Dynamik der Figur unterstreichen. Mit punktierten Linien akzentuierte Kreisbögen deuten eine Art „Hüftschwung“ an. Der Akt scheint sich mit einer Drehung gegen den Uhrzeigersinn vom linken oberen zum rechten unteren Bildrand zu bewegen, wobei der Farbverlauf, der scheinbar eingefrorenen Sequenz entsprechend umgekehrt, von rechts unten nach links oben dunkler respektive transparenter wird, um ein Verblassen der scheinbar zeitlich „älteren“ Abschnitte zu simulieren. An den Bildrändern sind Treppenstufen in dunkleren Farben angedeutet; die Stufen sind zum Hintergrund kleiner werdend dargestellt, folgen allerdings – wie das gesamte Werk – keinem bestimmten perspektivischen Prinzip. Der Mittelteil des Bildes ist heller angelegt und zu den Rändern dunkler werdend. Die insgesamt warme, monochrom gehaltene Farbpalette reicht von hellem Gelb über Ocker hin zu dunklen, fast schwarzen Tönen. Die Farben sind lasierend aufgetragen. Am unteren Bildrand links platzierte Duchamp in Druckbuchstaben NU DESCENDANT UN ESCALIER den Titel des Werkes, der in keinem Zusammenhang mit der Abbildung zu stehen scheint, denn ob es sich bei diesem Akt überhaupt um einen menschlichen Körper handelt, bleibt offen.
Hintergrund
Das Gemälde vereint Elemente des Kubismus und des Futurismus und ist vom noch jungen Medium Film, von fotografischen Bewegungsstudien und von der Chronofotografie, mit der unter anderem Thomas Eakins, Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge experimentierten, beeinflusst. Die Arbeiten des französischen Forschers Marey, wie etwa die Darstellung von fechtenden Personen oder eines galoppierenden Pferdes, dienten ihm als Anregung. Weiterhin sind zu nennen Muybridges Serienfotografie Woman Walking Downstairs aus dessen 1887 veröffentlichter Bildserie The Human Figure in Motion und die Bewegungsstudie eines nackten Mannes, skizziert nach einer Chronofotografie von Albert Londe. Im Unterschied zum Futurismus, der sich mit der reinen Abbildung von Bewegungsabläufen, der „statischen Bewegung“, auseinandersetzte, wollte Duchamp allerdings „den visuellen Eindruck der Idee von Bewegung“ wiedergeben, ihm war es nicht wichtig, „ob es sich um eine reale Person, die eine reale Treppe herabsteigt, handelt oder nicht.“ In seiner Abhandlung Der kreative Akt von 1957 konstatierte er:
Geschichte
Nachdem sich Duchamp zunächst mit impressionistischen Ausdrucksformen befasst hatte, wandte er sich 1911 dem Kubismus zu, aus dem er einen eigenen Stil ableitete, den er „Elementarparallelismus“ nannte. Bekannte Werke aus diesem Jahr sind Jeune homme et jeune fille dans le printemps (Jüngling und Mädchen im Frühling), Portrait de joueurs d’échecs (Die Schachspieler), Dulcinée (Dulcinea), das im Dezember 1911 entstandene Gemälde Nu (esquisse), jeune homme triste dans un train (Akt (Studie), Trauriger Jüngling im Zug), das Duchamp als Selbstporträt definierte und das bereits die Manier des hier besprochenen Werkes vorgibt, sowie der Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 1, als erste, eher figurativ gehaltene Fassung.
Ablehnung durch die Kubisten
Im Folgemonat, im Januar 1912, entstand der Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2, den Duchamp im Pariser Salon des Indépendants zur Ausstellung vom 20. März bis 16. Mai 1912 einreichte. Die Künstler der kubistischen Puteaux-Gruppe, allen voran Albert Gleizes und Jean Metzinger, fassten Duchamps Werk als Verspottung ihres Stils auf, werteten bereits den Titel als Affront und kamen „zu dem Schluß, daß das Bild des jüngsten Duchamp-Bruders dem Anliegen des vernünftigen Kubismus abträglich sein würde.“ Duchamp wurde am Tag der Ausstellungseröffnung von seinen Brüdern Jacques und Raymond unterrichtet, dass die Jury das Werk „ein wenig daneben“ fand, es also abgelehnt hatte, und gefragt, ob er „nicht wenigstens den Titel des Bildes ändern könnte“. Als die beiden ihrem Bruder die Nachricht in dessen Atelier in Neuilly übermittelten, trugen sie Trauerkleidung. Marcel Duchamp reagierte dagegen relativ gelassen: Er stieg in ein Taxi, fuhr zur Ausstellung, holte sein Bild ab und ging in der Folgezeit auf Distanz zu den Kubisten: „Ich sah, daß ich mich danach nie mehr allzusehr für Gruppen interessieren würde.“ Nur einen Monat später stellte er den Akt bei einer Kubistenausstellung in Barcelona aus, wo das Bild kaum Aufmerksamkeit erregte, und im Herbst des Jahres zeigte er es noch einmal auf einer Schau der Section d’Or im Pariser Herbstsalon, wo es ebenfalls wenig Beachtung fand.
Die Armory Show
In den Fokus des öffentlichen Interesses geriet das Werk erst 1913, als sich Duchamp damit an der Armory Show, der ersten umfassenden internationalen Ausstellung moderner Kunst in New York, beteiligte. Die Ausstellung, die vom 17. Februar bis zum 15. März 1913 in einem ausrangierten Zeughaus der Nationalgarde stattfand, geriet zu einem öffentlichen Skandal und besonders Duchamps Gemälde wurde von Kunstkritikern und Publikum mit Schmähungen bedacht. Während die Ausstellungsbesucher vor dem ungewohnten Werk Schlange standen und darüber rätselten, was dort abgebildet sein könnte, überboten sich die Zeitungen mit abwertenden Superlativen. So sprach Julian Street, ein Essayist und Kunstkritiker der New York Times, von einer „Explosion in einer Ziegelfabrik“; sein Kollege Peyton Boswell vom New York Herald machte daraus einen „Zyklon in einer Schindelfabrik“; ein Cartoon des Evening-Sun-Karikaturisten J. F. Griswold, „der New York mit den Augen eines Kubisten sah“, geriet als The Rude Descending the Staircase (Rush Hour at the Subway) zum Tumult in der U-Bahn. Ein Preisrätsel zur Entschlüsselung des Werkes wurde ausgeschrieben. Man verfasste spöttische Gedichte und der die Ausstellung besuchende US-Präsident Theodore Roosevelt, der in einem Artikel seine generelle Ablehnung des Kubismus geäußert hatte, verglich das Werk schließlich „mit dem Navajo-Teppich in seinem Badezimmer“, wobei er dem Teppich den Vorzug gab. Die durch die Ausstellung entfachte öffentliche Diskussion über die europäische Avantgarde fasste schließlich John Nilsen Laurvik in seinem polemischen Essay Is it Art? zusammen.
Selbst die anwesende Avantgarde, überwiegend aus Kubisten und Futuristen bestehend, fühlte sich durch diesen „Akt verzerrter Formen“ brüskiert. Für Marcel Duchamp und seine ebenfalls teilnehmenden Brüder war die werbewirksame Ausstellung jedoch ein großer künstlerischer Erfolg, obwohl die Werke keine besonderen Preise erzielten: Ob der Polemik geriet der Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 zwar binnen kurzem zu einem der bekanntesten Gemälde der Neuzeit, verkauft wurde es jedoch für nur 324 US-Dollar.
Ähnliche Bildkompositionen
Im Entstehungsjahr des Aktes experimentierte Duchamp mit ähnlichen Kompositionen, so zeigt beispielsweise das Gemälde The King and Queen Surrounded by Swift Nudes von 1912, das bereits im Titel das Vorgängerwerk zitiert, eine ebenfalls dynamische Anordnung. In dem quadratischen Gemälde werden jedoch zwei statisch wirkende Figuren aus zylindrischen Stapeln von einem „Fluss“ ineinander verschmelzender geometrischer Formen unterbrochen. Wieder scheint ein zeitlicher Ablauf festgehalten zu sein, nicht jedoch so deutlich „fotografisch“ wie zuvor in dem Akt. Duchamp zeigte The King and Queen Surrounded by Swift Nudes ebenfalls in der Armory Show. In dem Gemälde Dulcinée (Dulcinea), das im September 1911 entstand, setzte sich Duchamp erstmals nachweislich mit dem Darstellungsproblem der Bewegung als zentrales Bildthema auseinander.
„Überdruß an ‚retinaler Kunst‘ “
Bald danach verspürte Duchamp jedoch „einen Überdruß an ‚retinaler Kunst‘ “ und begann mit der programmatischen Produktion von Objektkunst, wie beispielsweise dem in einem Pariser Warenhaus gekauften, mit weißer Farbe übermalten und schließlich signierten Flaschentrockner (Egouttoir/Portes-bouteilles) von 1914, seinem ersten „Ready-made“.
1916 fertigte Duchamp in New York mit dem Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 3 noch eine Version, die aus einer mit Bleistift, Kreide, schwarzer Tinte, Pastell- und deckenden Wasserfarben bearbeiteten Fotografie besteht. Auch dieses Werk befindet sich, wie seine beiden Vorgänger, in der Sammlung des Philadelphia Museum of Art. 1918 malte Duchamp schließlich sein letztes Gemälde auf Leinwand, mit dem sowohl programmatischen wie rätselhaften Titel Tu m’, Tu m’embetes oder auch Tu m’emmerdes („Du langweilst mich“ beziehungsweise „Du kannst mich mal“), gleichsam ein Fazit seiner bisherigen künstlerischen Tätigkeit.
Provenienz
Noch während Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 im Rahmen der Armory Show 1913 zusätzlich in Boston und Chicago gezeigt wurde, konnte sich der Anwalt und Kunsthändler Frederic C. Torrey aus San Francisco gegen das Gebot von Walter Arensberg durchsetzen und das Gemälde erwerben. Torrey hatte das Gemälde in seinem Privathaus in Berkeley, Kalifornien, hängen. Nachdem er eine originalgroße Farbkopie des Werkes hatte anfertigen lassen, veräußerte er es 1919 an das mit Duchamp befreundete Kunstsammler-Ehepaar Louise und Walter Conrad Arensberg. 1954 ging das Gemälde zusammen mit einer fotogetreuen Kopie, die Duchamp selbst für die Arensbergs gefertigt hatte, aus deren Nachlass in die Sammlung des Philadelphia Museum of Art über. Dort wird es, zusammen mit der Kopie und den Vorstudien von Duchamp, sowie dem Akt Nr. 1 und dem späteren Akt Nr. 3, in einer ständigen Ausstellung gezeigt.
Nachwirkungen
Im Jahr 1960 gestaltete Duchamp ein Schaufenster für das Warenhaus Bamberger in Newark, New Jersey, das er mit fünf armlosen, unbekleideten Schaufensterpuppen bestückte, die, auf Stufen nebeneinander gestellt, den Eindruck erweckten, als stiegen sie eine Treppe hinab. Eine Version des Gemäldes Akt, eine Treppe herabsteigend hing dabei neben der obersten Puppe. Duchamp zitierte sich hierbei selbst und spielte zugleich auf das Wechselverhältnis zwischen abstrakter und gegenständlicher Kunst an. In seinen Überlegungen zu Creative Act von 1957 hatte Duchamp dem Betrachter den gleichen Stellenwert wie dem Künstler zugeschrieben und dieses Verhältnis auf Käufer und Schaufenstergestalter übertragen.
Der katalanische Künstler Joan Miró schuf 1937 eine Kohlezeichnung mit dem Titel Nackte Frau, eine Treppe heraufsteigend und kehrte damit die Gehrichtung der Figur um.
Der Maler Gerhard Richter rezipierte Duchamps Meisterwerk mehrmals: so beispielsweise in dem 1965 entstandenen, fotorealistisch angelegten Ölgemälde Frau, die Treppe herabgehend (Woman Descending the Staircase) und im Folgejahr mit Ema (Akt auf einer Treppe). Angeblich wendete sich Richter in den Arbeiten „gegen Duchamps Ikone der Kunstgeschichte“, weil dieser damit die Malerei für tot erklärt habe. Statt einer kubistischen Verschachtelung arbeitete Richter mit Unschärfe. Richters Aktmodell von 1966 ist seine erste Ehefrau Marianne Eufinger, genannt Ema, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war. Das Gemälde befindet sich im Museum Ludwig in Köln.
Der Künstler Michael Somoroff reflektierte wiederum auf Richters Werk und fertigte mit der Mixed-Media-Siebdruckserie Query von 2004 unterschiedliche Interpretationen des Duchamp’schen Aktes.
1983 schuf der Künstler Wolf Vostell einen Zyklus von Gemälden mit dem Titel Akt, die Treppe herunter- und heraufkriechend.
Mathias Spahlinger, ein Vertreter der musique concrète, komponierte 1997 einen akt, eine treppe herabsteigend für Bassklarinette, Posaune und Orchester. Spahlinger übertrug dabei Duchamps Konzept der Abfolge von Momenten, der Geschwindigkeit und der Dynamik auf die Musik, um Abläufe der Zeit akustisch „sichtbar“ zu machen. Er sagte dazu: „Tonhöhen in kontinuierlicher Bewegung, Glissandi also, und deren Darstellung in Stufen ist das eigentliche Thema des Stückes […] mein Hauptinteresse ist die Gleichzeitigkeit (was immer das hier sein kann).“ Das Stück wurde während der Donaueschinger Musiktage 1998 aufgeführt.
Literatur
Marcel Duchamp: Der kreative Akt. Duchampagne brut. 2. Auflage. Edition Nautilus, Hamburg 1998, ISBN 3-89401-198-X. (= Kleine Bücherei für Hand und Kopf; Band 32) (Deutsche Übersetzung aus dem Französischen von Serge Stauffer; französische Originalausgabe: 1957)
Octavio Paz: Nackte Erscheinung. Das Werk von Marcel Duchamp. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-38333-7. (= Suhrkamp-Taschenbuch; Nr. 1833) (Deutsche Übersetzung aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf; Originaltitel: Apariencia desnuda)
Calvin Tomkins: Marcel Duchamp. Eine Biographie. Hanser, München u. a. 1999, ISBN 3-446-19669-2. (Deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius; Originaltitel: Duchamp)
Marcel Duchamp: Entretiens avec Pierre Cabanne. 4. Auflage. Éditions Sables/Allias, Paris 2014, ISBN 978-2-84485-894-8 (Online)
Weblinks
Marcel Duchamp: Nu descendant un escalier – Bildanalyse
Nude Descending a Staircase (No. 2) im Philadelphia Museum of Art (englisch)
Anmerkungen und Einzelnachweise
Abbildungen
Gemälde (20. Jahrhundert)
1912
Philadelphia Museum of Art
Weiblicher Akt
Marcel Duchamp
Frauendarstellung (Gemälde) |
4395722 | https://de.wikipedia.org/wiki/Parc%20des%20Buttes-Chaumont | Parc des Buttes-Chaumont | Der Parc des Buttes-Chaumont [] ist ein Landschaftsgarten englischen Stils im nordöstlichen 19. Arrondissement von Paris. 1867 zur Weltausstellung unter Napoleon III. eröffnet, zählt der von Jean-Charles Alphand konzipierte jardin public heute mit knapp 25 Hektar zu den großen Parks der Stadt.
Gebaut wurde der Park als Kunstlandschaft auf das steile Gelände eines Steinbruchs am Rande der ehemaligen Müllkippe von Paris. Er integriert die Geschichte seines Ortes in ein Bezugssystem von Technik, Kultur und Naturwahrnehmung und wird deshalb zur Avantgarde der Landschaftsarchitektur seiner Zeit gezählt. Seine Konzeption gilt als paradigmatisch für den Pariser Stadtumbau unter Baron Haussmann. Gartenhistoriker nennen ihn „pittoresque par excellence“.
Name
Butte bedeutet im Französischen eine Anhöhe, Chaumont gilt als Kompositum aus französisch chauve (kahl) und mont (Hügel). Der Name kam laut Georges-Eugène Baron Haussmann daher, dass die dortigen Böden aus Lehm, festem Mergel und Kalk sich „absolut jeder Vegetation verweigerten“.
Überliefert ist auch eine zweite mögliche Herkunft des Namens: Bereits knapp einhundert Jahre vor Haussmann wurde die butte auch Saint-Chaumont genannt, offenbar nach der Christengemeinde Filles de Saint-Chaumont aus Paris und dem nördlichen Saint-Denis. Ihr Gemeindehaus war das alte Pariser Stadthaus des als Marquis de Saint-Chaumont bekannten Staatsministers Melchior Mitte de Chevrières († 1649) aus Saint-Chamond. Bei der Pariser Stadterweiterung 1860 war die butte namensgebend für das neugegründete 19. Pariser Arrondissement des Buttes-Chaumont.
Geologie
Die Butte de Chaumont entstand – wie die Butte Montmartre – als Teil eines Lagunensystems während des oberen Paläogens (Priabonium). Vor etwa 35 Millionen Jahren wurde das Pariser Becken mehrfach durch tektonische Verschiebungen vom offenen Nordmeer abgeschnitten. Infolge des warmen Klimas verdampfte ein Großteil des zunehmend salzigen Wassers, das sich in kleine Lagunenareale zurückzog und dort Sedimente aus Gips bildete.
Erneute Meeresingressionen führten zur Bildung von Zwischenschichten aus Mergel, welche die Gipslager entwässerten und komprimierten (Diagenese) und sie vor neuer Lösung in Wasser schützten. Die Butte de Chaumont hat drei Gipslager mit einer Gesamtmächtigkeit von mehr als 25 Metern, wobei das jüngste mit 17 Metern das mächtigste ist. Sie blieben durch eine abschließende Überlagerung mit Ton und Mergel von Erosion im Quartär verschont. Die Pariser Buttes erheben sich heute etwa fünfundsiebzig Meter (Butte de Chaumont) bis einhundert Meter (Butte de Belleville und Butte Montmartre) über das Niveau der Seine (26 m ü. NN).
Geschichte
Die Butte de Chaumont vor 1860
Bis zum Mittelalter war die Anhöhe aufgrund ihrer unfruchtbaren Böden wenig genutzt. Vom 13. bis ins 18. Jahrhundert befand sich an ihrem westlichen Fuße der berüchtigte Galgenberg des Gibet de Montfaucon. Oben am Steilhang standen ab dem 17. Jahrhundert einige Windmühlen, darunter die Moulin de la Folie (Mühle des Wahnsinns) mit Blick auf Paris.
Am Ort des heutigen Parks befanden sich ab der Französischen Revolution eine Müllkippe (Grande Voirie), Abwassergruben (Fossés de la Grande Voirie) und Abdeckereien, deren „verpesteter Dunst“, so Alphand, sich je nach Wind über die ganze Stadt legte. Zwischen neun- und fünfzehntausend Pferde pro Jahr wurden hier abgedeckt, ausgenommen und ihre Kadaver unter freiem Himmel entsorgt. Es gab deswegen zahlreiche Berichte über schwere Rattenplagen bis in die Nachbargemeinden. Mit den Abdeckereien bei Montfaucon begann auch der Verzehr von Pferdefleisch im 18. Jahrhundert. Wenige Meter westlich des heutigen Parks wurden ab 1781 Tierkämpfe zwischen Stieren und Hundemeuten veranstaltet (Combat de Taureau), die dem heutigen Stadtviertel des Parks (Quartier du Combat) den Namen gaben. Besucher nannten die Gegend um die Butte de Chaumont „wild und scheußlich“.
Lokal berühmt wurde die Butte de Chaumont auch als Ort des Widerstands gegen die übermächtigen Koalitionstruppen in der Schlacht bei Paris während der Napoleonischen Kriege. Auf der Anhöhe waren Artilleriebatterien stationiert, die den preußischen Truppen bei ihrem Einmarsch in Paris am 30. März 1814 große Verluste zufügten. Auch bei den Abwassergruben fanden Gefechte statt. Im Andenken an die mutige Verteidigung wurde die Anhöhe in den folgenden Jahrzehnten vermehrt „heilige“ Butte Saint-Chaumont genannt.
Bergbau
Obwohl bereits die Römer Gips zum Anstrich der Häuser von Lutetia verwandten, diente die Butte de Chaumont erst seit dem 17. Jahrhundert und zunehmend ab dem späten 18. Jahrhundert als Steinbruch zur Gewinnung von Mergel, Ton und vor allem Gips. Dieser wurde aus bis zu 17 Meter dicken Sedimentschichten gewonnen und aufgrund seiner hohen Güte bis in die USA exportiert. Das Stadtviertel östlich des Parks erbte seinen Namen vom dortigen Steinbruch und heißt noch heute Quartier d’Amérique. Zunächst nur im Tagebau wurde der Gips ab 1810 auch unter Tage aus großen Kavernen und Stollen mit bis zu 61 Metern Tiefe gefördert. Um 1860 waren in den drei Steinbrüchen du Centre, Buttes-Chaumont und d’Amérique etwa 800 Bergleute beschäftigt. Sie förderten rund einhundertfünfzigtausend Kubikmeter Gips pro Jahr auf einer geschätzten Gesamtfläche von knapp einhundert Hektar, wovon sich ein Viertel unter Tage befand. Gipsbrenner verarbeiteten das Mineral vor Ort zu Baugips (plâtre). Die ansässigen Zementfabriken der Kompanien Schacher und Letellier genossen dank der Reinheit ihrer Produkte überregional einen guten Ruf. Neben Baumaterial war Gips damals gefragt als Werkstoff für Stuckaturen und Kunstplastiken sowie zur Herstellung von Farb- und Polierpulvern. Die letzten Bergstollen an der Butte de Chaumont, die Carrières d’Amérique, wurden in den 1870er Jahren zugeschüttet. Sie mussten der schnell wachsenden Stadt weichen.
Planung und Bau unter Napoleon III.
Im Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. wurde das Gebiet 1860 Teil von Paris. 1862 beschloss der Conseil d’État auf Anregung von Baron Haussmann den Erwerb des Steinbruchs Carrière du Centre. Im Jahr darauf wurde er der Betreibergesellschaft für rund 2,5 Millionen Francs abgekauft. Das steile Gelände galt als untauglich für jegliches Gewerbe und wegen der ausgehöhlten Böden für eine städtische Bebauung als zu gefährlich. Im Rahmen des Pariser Stadtumbaus wollte Haussmann das Gelände zu einer promenade public umbauen lassen, um die Wohnqualität in der Umgebung zu verbessern und, so die Stadtverwaltung, das „verruchte Viertel, Nährboden für Diebe, Bohémiens und Landstreicher“ zu „regenerieren“. Die Kosten des Parkes sollten nach seiner Fertigstellung durch einen Verkauf der anliegenden Grundstücke ausgeglichen werden. 1863 war geplant, den Park mit Prachtstraßen (voies de luxe) zu umgeben, um den Grundstein für ein neues Luxusquartier zu legen.
Mit der Konzeption betraute Haussmann den Ingenieur und Stadtplaner Jean-Charles Alphand, der bereits den Bois de Boulogne und den Parc Monceau gestaltet hatte. Unterstützt wurde Alphand vom Landschaftsgärtner und Jardinier en chef de la ville Jean-Pierre Barillet-Deschamps, den Ingenieuren Jean Darcel für die Felskonstruktionen und Eugène Belgrand für den Wasserbau sowie dem Generalinspektor der Pariser Architekten Gabriel Davioud, der die Bauwerke entwarf. Hauptakteur bei der Durchführung der Pläne war der Jardinier principal von Paris Édouard François André.
In den drei Jahren Bauzeit von 1864 bis 1867 wurden gewaltige Erdmassen bewegt und buchstäblich Berge versetzt. Bis heute werden die Arbeiten als „travaux titanesques“, als übermenschliches Werk bezeichnet. Rund eintausend Arbeiter, etwa einhundert Pferde sowie zwei Dampfmaschinen waren im Einsatz. Sie bewegten rund eine Million Kubikmeter Erde und Mutterboden mit hunderten Loren einer eigens konstruierten Eisenbahn. Auch das gerade erfundene Dynamit soll für Sprengungen benutzt worden sein. Bei einem großen Erdrutsch gingen sechzig- bis achtzigtausend Kubikmeter Erde zu Tal, die Baupläne mussten daraufhin geändert werden. Allein die groben Erdarbeiten dauerten ein Jahr: Im Süden des Parks wurde ein bestehender Hügel (Belvédère du Sud) aufgeschüttet und um zehn Meter erhöht. Die vom Bergbau zerfurchten Hänge wurden gleichmäßig ausgeformt; nur in den zentralen Felsen ließ Alphand nahezu senkrechte Wände schneiden und mit einem großen Durchbruch die Felsinsel Île du Belvédère entstehen. Anschließend wurde zwei Jahre an den Straßen und der Aufschüttung des Geländes mit Humus gearbeitet. Gleichzeitig begannen ab Ende 1865 die Pflanzungen.
Kaiser Napoleon besuchte die Großbaustelle im Juni 1865 sowie am 30. Januar 1867. Er äußerte sich kritisch zur Konzeption der Anlage, deren Bau immer neue Probleme bereitete. 13 Bergstollen unterhalb des geplanten Sees stürzten ein und hinterließen Senken. Die Brücke am Eingang Porte Secrétan kam ins Rutschen und musste ersetzt werden, Architekt Gustave Eiffel wurde beauftragt, eine stabilere zu bauen. Um vielerorts die Erosion der neuen Böden zu unterbinden, wurden zahlreiche, als Felsen kaschierte Mauern errichtet. Zur Befestigung der Wege und beim Ausbau der Grotte kam als Innovation Stahlbeton (beton armé) zum Einsatz, der 1867 vom Pariser Gärtner Joseph Monier patentiert wurde.
Mit den Problemen stiegen die Baukosten und heftige Kritik kam auf. 1866 musste Haussmann den Bau vor dem Conseil municipal verteidigen. Er betonte den städtebaulichen Stellenwert des Parks als verbindendes Element („trait d’union“) der nordöstlichen Stadtteile. Die „komplette Transformation“ dieses „heimgesuchten Ortes“ sei zwar beträchtlich teuer – aber hilfreich, „Wohlergehen“ und „Sitte“ der Pariser zu fördern. Nach Abschluss der Erdarbeiten und der Bepflanzung der neuen Landschaft mit knapp zwanzigtausend Bäumen wurden für die Pflege des Parks drei Dutzend Gärtner angestellt. Es dauerte allerdings noch bis zwei Jahre nach der Eröffnung, um die Arbeiten endgültig abzuschließen. André zufolge beliefen sich die Baukosten schließlich auf gut 3,4 Millionen Francs. Baron Haussmann bezeichnete die Gesamtkosten des Parks von fast sechs Millionen Francs als „relativ enorm“: für den Bau der monumentalen Pariser Opéra Garnier waren zu dieser Zeit 16 Millionen Francs veranschlagt.
Als Teil der Pariser Weltausstellung 1867 wurde der Parc des Buttes-Chaumont am 1. April eröffnet. Während auf dem Champ de Mars „die gesamte Welt“ ausgestellt wurde, konzentrierte sich im Park die Ausstellung der Stadt Paris: das Savoir-faire der städtischen Ingenieure mit ihren technischen Errungenschaften, die neuen Entwicklungen im Gartenbau sowie der Umbau von Paris unter Haussmann sollten mit dem Park einen repräsentativen Rahmen bekommen. Die Anlage erregte international Aufsehen und die Kritik war fast durchweg positiv, allein der populäre irische Botaniker und Autor von The Wild Garden William Robinson bezeichnete die Künstlichkeit der Felsen als „anmaßend und unnatürlich“. Der Park wurde zum Vorbild von Teilen des 1871 eröffneten Palmengartens in Frankfurt am Main und des Wiener Türkenschanzparks von 1888.
Während der Dritten Republik
Im Deutsch-Französischen Krieg, eine Woche nach Beginn der Belagerung von Paris im September 1870, gab es im Park ein sehr großes Feuer, dessen Qualm die Pariser Bevölkerung in Aufregung versetzte. Das Seebecken, in dem Ölfässer gelagert wurden, ging in Flammen auf. Mehr als eine halbe Million Liter Öl verbrannten.
1871, während der Pariser Kommune, war der Park eine der letzten Bastionen der Kommunarden, die von hier aus unter der Führung von Gabriel Ranvier Bomben gegen die einrückenden Truppen der Thiers-Regierung warfen. Erst zum Ende der blutigen Maiwoche wurde der Park am 27. Mai von den Truppen erobert. Mit großer Brutalität sollen die Soldaten hier achthundert Menschen füsiliert und in den verlassenen Schächten der benachbarten Carrières d’Amérique verscharrt haben. Im Wasser des Sees trieben rund dreihundert Leichen.
Mit dem Neubau des Rathauses 1878 an der Place Armand Carrel rückte der Park ins Zentrum des 19. Arrondissements. Der Bau, vis-à-vis dem Parkeingang und ebenfalls erbaut von Davioud im neugotischen style flamand, ist von vielen Stellen im Park aus zu sehen. An dem Rathaus und der angrenzenden Straße Rue Manin wurden um die Jahrhundertwende zahlreiche repräsentative Wohnhäuser mit Blick auf den Park errichtet. Am Eingang Porte Secrétan baute die Fondation Ophtalmologique Adolphe de Rothschild 1905 eine Klinik für Augenheilkunde. Ihr großer, rustikaler Backsteinbau des Architekten Léon-Maurice Chatenay galt als innovativ, die Behandlung in den ersten Jahrzehnten war gratis. Ungeachtet dieser Neubauten blieb die von Haussmann erhoffte bürgerliche Transformation des gesamten Viertels aus. Angrenzend an den oberen Teil des Parks wurde 1887 an der Rue Botzaris ein großes Wasserreservoir angelegt. Daneben entstanden ab 1895 die Studios des Filmpioniers Léon Gaumont. Um 1914 zählten die Gaumont-Studios Buttes-Chaumont mit etwa anderthalb Hektar Fläche zu den größten Filmstudios der Welt.
Nachdem die Witterung dem Kalkstein der Felsen zusetzte, wurden erste Renovierungen nötig. 1899 musste die brüchige Nordostwand der Île du Belvédère saniert werden. Neues Mauerwerk und ein grauer Zementputz überdecken hier seitdem den hellen Stein. Die Hängebrücke wurde 1892 (und ein zweites Mal 1972) rekonstruiert. 1901 wurde das Wegenetz mit seinen baufälligen Holztreppen und -zäunen saniert. Die Ingenieure Combaz et Chassin entwarfen auffällige rustikale Geländer aus armiertem Betonguss mit Holzstruktur, die bis heute das Parkbild prägen.
In die Schächte des alten Steinbruchs unterhalb des Parks wurde von 1910 bis 1912 eine Métrolinie gebaut. Die Station Buttes Chaumont an der Porte Fessart ist eine der tiefstgelegenen von Paris. Ihre Bahnsteige befinden sich rund dreißig Meter unter der Oberfläche. Während des Zweiten Weltkriegs soll die Métrostation als Operationssaal gedient haben.
Résistance und Rénovation (1940 bis heute)
1944, kurz vor der Befreiung von Paris, war der Ausgang des Eisenbahntunnels im Park Schauplatz einer erfolgreichen Widerstandsaktion der Résistance. Unter der Führung von Madeleine Riffaud und mit großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde am 23. August ein Munitions- und Materialzug der Wehrmacht am Tunnelausgang gestoppt. Zwei Dutzend Wehrmachtssoldaten wurden gefangen genommen.
Bei Kriegsende hinterließen deutsche Soldaten den Park stark beschädigt, auch eine Bronzestatue des Revolutionspolitikers Jean-Paul Marat von 1887 wurde zerstört. Der Kiosque à Musique war 1946 baufällig, die Wege zerfurcht, der See ausgetrocknet.
Zehn Jahre später, 1956, wurde ein „schlechter Allgemeinzustand“ des Parks festgestellt: Der See lag noch immer trocken, der Sibyllentempel war im Begriff einzustürzen, Grotte und Hängebrücke waren gesperrt. Nur knapp entging der Park damals einer geplanten Zerstörung. Ein Projekt, den Tempelbau abzureißen und den See zu einem Sportplatz umzubauen, konnte abgewendet werden. Per Ministerialerlass vom 23. Juni 1958 wurde der Park zum Landschaftsschutzgebiet (Site classé – Pittoresque) erklärt, was bauliche Veränderungen besonders streng reglementiert.
Die umliegenden Wohngebiete waren ab etwa 1990 „Vorposten“ einer anhaltenden Gentrifizierungswelle von den westlichen in die östlichen Pariser Stadtteile. Die alten Gaumont-Studios, seit den 1950er Jahren vom Fernsehen genutzt und ausgebaut, wurden 1996 abgerissen, um Wohnblöcken zu weichen.
Ein Orkan im Dezember 1999 richtete große Schäden im Park an. Hunderte Bäume knickten um. Vier Jahre später begann eine Reihe von Renovierungsarbeiten. Die Bepflanzung wurde dem originalen Zustand angeglichen, 2011 wurde Beton in den Kalkboden gespritzt, um den Untergrund zu festigen. Von Januar 2013 bis Ende 2014 liefen umfangreichere Arbeiten, bei denen die Parkstraßen in ihren anfänglichen Zustand mit Makadam-Belag versetzt und die Kanalisation und das originale Bewässerungssystem von 1867 renoviert wurden, um Wasser zu sparen. 2011 verbrauchte der künstliche Wasserfall mit 3,5 Millionen Litern so viel Wasser pro Tag wie eine größere Kleinstadt. Der Park wird von geschätzten drei Millionen Menschen pro Jahr besucht.
Der Park
Architektur
Knapp vier Kilometer nordöstlich des Pariser Rathauses Hôtel de Ville liegt der Parc des Buttes-Chaumont in asymmetrischer Nieren- oder Paisleyform am Nordwesthang von Belleville. Sein Umriss erinnert an ein Kurvenlineal (englisch: French Curve). Er bietet ein sehr hügeliges, bewegtes Landschaftsbild mit steilen Felsen, zahlreichen, teilweise recht abschüssigen Liegewiesen und altem Baumbestand. Seine Fläche von 24,7 Hektar ist durch ein verzweigtes und gewundenes Wegenetz erschlossen. Breite, sanft steigende Straßen („allées carrossables“) von gut fünf Kilometern Länge werden verbunden durch steilere, insgesamt zwei Kilometer lange Fußgängerwege, die als parcours angelegt eine „fließende Bewegung“ ermöglichen: Sackgassen gibt es nicht.
Der Schriftsteller Louis Aragon beschrieb den Park in „drei Sektoren“: einem nordöstlichen an der Straße Rue de la Crimée, einem mittleren um den See und einem sich verjüngenden, südlichen Teil, bestehend aus dem Aussichtshügel belvédère du sud. Weitaus am größten ist der mittlere Sektor, in seinem Zentrum liegt der „ungefähr viereckige“ See, eingeschlossen von drei Hügeln. Nach Norden flacht hier das Gelände ab und öffnet sich zum Haupteingang an der Place Armand Carrel. Der nordöstliche Teil besteht aus zwei Hügeln, die sich in einem Sattel über dem Eingang eines Eisenbahntunnels vereinen. Zwischen dem tieftst- und höchstgelegenen Punkt, dem See und der belvédère du sud mit 105 m ü. NN, liegen knapp fünfzig Höhenmeter.
In eine zentral im Park gelegene Kaverne des alten Steinbruchs wurde – „unvermeidlich“, so Haussmann – eine Grotte gebaut. 20 Meter hoch, hängen in ihr bis zu acht Meter lange Stalaktiten von der Decke. In die Grotte hinein fällt eine 32 Meter hohe Wasserkaskade, die von einer speziell konstruierten Pumpe aus dem rund einen Kilometer entfernten Canal de l’Ourcq gespeist wird. Ein weiterer künstlicher Bach fließt in einem Gebirgsfelsen nachempfundenem Bachbett einen Hang im westlichen Parkteil hinunter.
Das Wasser mündet in den etwa anderthalb Hektar großen, künstlichen See, über den sich eine Hängebrücke des Architekten Gustave Eiffel mit fast 65 Metern Länge spannt. Diese führt zur Insel Île du Belvédère, deren fast senkrechte Felswände der Falaise d’Aval an der Steilküste von Étretat nachgeformt sind. Auf der Felsspitze steht in 30 Metern Höhe der von Davioud erbaute Sibyllentempel, eine Replik der gleichnamigen Rotunde im italienischen Tivoli bei Rom. Von hier aus gibt es eine Sichtachse zur Sacré-Cœur de Montmartre. Eine zweite, 22 Meter hohe Steinbogenbrücke, genannt „Pont des Suicidés“ (Brücke der Selbstmörder), verbindet die Insel mit dem oberen Teil des Parks, von wo sich ein Aussichtspanorama bietet von der Butte Montmartre über die Hochhäuser des Quartier de la Villette bis nach Saint-Denis.
Der Park integriert die 1854 eröffnete und 1993 stillgelegte Eisenbahnringlinie Chemin de Fer de Petite Ceinture, im 19. Jahrhundert Symbol für Modernität und Fortschritt. Ihre Gleise durchqueren den Nordosten des Parks in einem steilen Taleinschnitt, um dann in einen Tunnel zu münden. Eine sehr ähnliche Topographie findet sich im südlichen Pendant des Parc des Buttes-Chaumont, dem von Alphand 1869 eröffneten Pariser Parc Montsouris, den dieselbe Bahnlinie ebenfalls durchquert.
Alphand konzipierte den Park in eine von Tagebau stark zerfurchte Industrielandschaft. Er exponierte den zentralen Felsen, vertiefte die Täler und formte eine Wasser- und Berglandschaft, die die natürliche Geologie ergänzt und die Geschichte des Ortes durchscheinen lässt. Seine Methode gilt als „Kunst, Übriggebliebenes unterzubringen“ („art of accommodating leftovers“). Sie schafft neue Ordnung, indem sie „gestaltenden Geist“ über ungeordnete Stadtlandschaften legt. Die überschriebene Topographie des Parks macht ihn zu einem Beispiel für einen Ort als Palimpsest. Landschaftsarchitekten sprechen auch von „superimposing recycled urban space“, der Neuprägung eines wiedergewonnenen Stadtraums.
Bauwerke
Architekt Gabriel Davioud ließ 1867 eine Reihe von Gebäuden im Parc des Buttes-Chaumont errichten. Auffälligstes ist die zentral auf der Felsspitze einer Insel, der Île du Belvédère, gelegene Rotunde, genannt „Sibyllentempel“ („Temple de la Sibylle“) mit etwa zwei Meter hohem Podium, acht korinthischen Betonsäulen und skulpturverziertem Kuppeldach, das mit einer neugotischen Kreuzblume mit Kiefernzapfen als Spitze abschließt. Innen von einem Akanthusfries verziert, umläuft das äußere Gesims ein gewellter Fries mit ornamentalen Volutenranken und Löwenköpfen.
Im Park verteilt sind drei mit rotem Ziegelstein verkleidete, sogenannte „Chalets-Restaurants“, die dem ländlichen Schweizer Haustyp Chalet ähneln sollen: der Pavillon du Chemin de Fer oberhalb des Eisenbahntunnels, später bekannt als Restaurant Weber, heute Guinguette Rosa Bonheur, der Pavillon Puebla nahe der Porte Bolivar und der Pavillon du Lac oberhalb des Sees, der allerdings mit einem knapp fünfzehn Meter breiten, von Steinsäulen getragenen Altan, Wintergarten und kleinem Türmchen dem Schweizer Vorbild einige Elemente hinzufügt. Er gilt mit dieser eklektizistischen Mischung als Vertreter des Second Empire genannten Architekturstils. Das Erscheinungsbild der Restaurant-Pavillons sollte, André zufolge, für die Besucher „erheiternd“ wirken („aspect riant“).
Sechs weitere kleinere Pavillons stehen als Wärterhäuser (Pavillons de gardes) an den Parkeingängen. Sie sind ebenfalls aus rotem Ziegelstein gefertigt, haben als Abschluss der Obergeschosse Friese aus bunter Fayence, rund eingefasste Stadtwappen unter den hölzernen Giebeln sowie hölzerne Altane. Ihr Baustil erinnert an die damalige Industriearchitektur. Als seien sie „Pförtnerhäuser von Fabriken“, stehen die Pavillons in „flagrantem Widerspruch“ zum antikisierenden Historismus der Rotunde. Ein weiteres, etwas größeres Gebäude gleicher Bauart wurde als Wohnhaus für das leitende Wachpersonal (Garde-General des Promenades Intérieures de Paris) im oberen Parkteil an der Rue Botzaris errichtet. Es wurde zuletzt als Sitz des Bezirksamts für Umwelt und Grünflächen (Direction des Espaces Verts et de l’Environnement) genutzt. Zu den nicht erhaltenen Gebäuden von Davioud zählen drei überdachte Aussichtsplattformen (belvédères / salles vertes) auf den Gipfeln der Hügel.
Vier Brückenbauten befinden sich im Park: Eine Betonbrücke über die Eisenbahnlinie; die zwölf Meter lange „Pont des Suicidés“ und zwei realisierte Entwürfe von Gustave Eiffel: die Hängebrücke (passerelle suspendue) über den See, die acht Meter über dem Wasser und mit einer Spannweite von 63,8 Metern zur Insel führt. Ihre Pylonen und Ankerblöcke sind in künstlichen Betonfelsen verborgen, die Fahrbahnplatte ist aus Holz. Nach langjähriger Renovierung zur Anpassung an geltende Sicherheitsstandards ist die Hängebrücke seit 2009 wieder begehbar. Die zweite Brücke wurde nach ihrem Architekten „Pont Eiffel“ benannt. Sie ist eine 18 Meter überspannende schräge Eisenbrücke auf gemauertem Widerlager über die Avenue des Marnes an der Porte Secrétan. Eine kleinere Drahtgitterbrücke über die Eisenbahnlinie ist nicht erhalten. 1878 wurde am See eine überdachte Musikbühne (kiosque á musique) eröffnet. Sie wurde nach 1978 abgerissen. Ringsum ist der Park von einem hohen Eisengitter und in Teilen der Rue Botzaris von einer hohen Mauer umgeben: er ist ein parc fermé.
Flora
Zu Beginn war der Park recht kahl. Deutsche Botaniker lobten 1869 die „äußerst gelungene Felslandschaft“, bemängelten aber: „Die Schattenseite der Buttes Chaumont ist allerdings gerade der Mangel an Schatten; die ohnehin erst seit wenigen Jahren angelegten Pflanzungen versprechen auf dem dürren Felsboden kein sonderliches Gedeihen.“
Die Schriftstellerin George Sand nannte den neuen Park einen „Steingarten“. Doch mit der Zeit, in der die „wahre Natur zu Werke geht“, werde man sich des jungen Parks erinnern als „zarter Pflanze, die gewachsen und erblüht“ sein wird. Sand behielt Recht:
Der Park enthielt 2012 zahlreiche botanische Raritäten und exotische Bäume. Unter anderem vier Baumdenkmäler (arbres remarquables): Ein zehn Meter hoher, weit ausladender Japanischen Schnurbaum von 1873 wächst am nordöstlichen Seeufer. An der gegenüberliegenden Seite des Sees, vor dem Pavillon du Lac, steht als Teil einer imposanten Dreiergruppe eine 1862 gepflanzte Orientalische Platane mit 34 Metern Höhe; etwas unterhalb davon befindet sich ein 33 Meter hoher Ginkgo von 1913. Ein Riesenmammutbaum, 35 Meter hoch, steht am Hang zwischen Avenue des Marnes und Avenue Alphand. Zu den weiteren seltenen oder großen Baumarten im Park gehören eine große Libanonzeder von 1880 an der Porte Fessart, ein Kakibaum an der Avenue Jaques de Linières, Himalayazedern, ein Tulpenbaum am Seeufer, eine große nordafrikanische Atlas-Zeder am Pont des Suicidés, Sibirische Ulmen sowie ein im Herbst früchtetragender Milchorangenbaum an der Avenue Marcel.
1867 waren insgesamt knapp zwanzigtausend Bäume im Park gepflanzt worden, darunter 400 größere, 13.000 Setzlinge (arbres tiges), 1800 „besondere“ Setzlinge (tiges extra), 1000 freistehende Nadelbäume und 2000 Nadelhölzer in Baumgruppen. Barillet-Deschamps wählte eine Mischung aus indigenen Pflanzen und Exotika aus den französischen Kolonien. Entlang der Bahnlinie imitierte er einen vogesischer Wald, an den Bächen Auenwälder.
Er ließ 108 Zonen verschiedener Baum- und Blumenbepflanzung angelegen und sehr detailliert veröffentlichen. Um 1900 wuchsen im Park Palmen. Die Blumenbepflanzung beschrieb William Robinson nach seinem Parkbesuch 1869 mit Indigofera und Mahonien an den Eingängen, „prahlerischem“ Blumenrohr und Gladiolen, „effektvoll“ gesetzten, einzelnen Artischocken sowie Steinbrech und kleinen Rhododendren nahe den Gewässern.
Barillet-Deschamps schrieb später, seine Kollegen Ingenieure hätten „verfälscht [dénaturé], was an Natürlich-Pittoreskem geplant war, indem sie die Bauten, Brücken und den parcours zu sehr in den Vordergrund stellten.“ Sechs Jahre nach seinem frühen Tod 1873 beschrieb sein Nachfolger André nicht ohne Bewunderung, dass die Natur „Fehler korrigiere“. So habe ein Efeu an der Wasserkaskade andere Kletterpflanzen verdrängt und eine „Szene der Schönheit, Einheit und Harmonie“ geschaffen, die den anfänglich „gesuchten Effekt bei Weitem übersteige“. 1882 beklagte die Fachpublikation Revue Horticole die Zerstörung der Anpflanzungen durch Besucher aus den angrenzenden Arbeitervierteln. Allsonntaglich würden „Menschenmassen einfallen“, um Früchte zu ernten, Kräuter für Tees zu sammeln sowie vor allem um Blumen zu pflücken oder auszugraben. Die Bäume dagegen seien im 15 Jahre alten Park gut gediehen.
Gut einhundert Jahre später war der „Steingarten“ verschwunden, und Bäume „überwucherten“ den Park. Verschiedene Moden des Gartenbaus hatten Sichtachsen zugepflanzt, Aussichtspunkte verdeckt und damit die „Lesbarkeit der Komposition des Gartens“ unmöglich gemacht, so die Stadtverwaltung. Allein die Strauchbepflanzungen (massifs arbustifs), Farbe und Textur des Blattwerks sowie die abgestufte Ordnung einiger Anpflanzungen entsprachen dem Stil des Haussmann’schen Gartens. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde die Bepflanzung sukzessive zurückgeschnitten. An zahlreichen Weggabelungen wurden nach 2003 wieder ovale Blumenbeete (corbeilles des fleurs) angelegt, die den originalen Plänen entsprechen. Seit 2009 trägt der Park dank seiner ökologischen Bewirtschaftung ein Ecocert-Label. Um die Biodiversität zu erhöhen, verzichten die Gärtner auf chemische Pflanzenschutzmittel und lassen einzelne Rasenflächen zu Wiesen heranwachsen.
Fauna
Unter den Säugetierarten im Park wurden die Arten Zwergfledermäuse, Igel, Hausmäuse und Steinmarder nachgewiesen. Am auffälligsten vertreten sind hingegen Sing- und Wasservögel. Am See gibt es neben Stockenten und zahlreichen Lachmöwen in den Wintermonaten verschiedene Gänsefamilien, Teichrallen sowie Graureiher. Auch Bachstelzen und Eisvögel wurden gesichtet. Die französische Vogelschutzorganisation Ligue pour la Protection des Oiseaux (LPO) organisiert monatlich Führungen, deren Teilnehmer Arten wie Kleiber, Amseln, Mittelspechte und Waldkauz im Park sichteten; ferner von Haubenmeisen, Singdrosseln und Sperbern. Die Stadt Paris lizenziert seit 2005 eine Fischaufzucht samt Angelerlaubnis an den Verein Les Bons Amis des Buttes. Zu den vom Verein im See ausgesetzten Fischarten zählten Hechte, Schleien, Rotaugen und Barsche.
Soziale Nutzung
Seit seiner Eröffnung nutzte die Bevölkerung den Parc des Buttes-Chaumont auf verschiedene Weise. Drei Phasen können unterschieden werden:
Von 1867 bis 1890 überwog die privat-familiäre Nutzung. Beliebt war der Spaziergang (promenade) ebenso, wie bei Kindern die Spazierfahrt in von Hunden oder Ziegen gezogenen Kutschen. Pferdekarossen verkehrten. Der Verkauf von Spielzeug sowie Fernrohren wurde genehmigt. Als „Hochburg des Pittoresken“ war der Park beliebt bei ausländischen Besuchern.
1890 bis 1940 wurde der Park zunehmend für öffentliche Versammlungen, Veranstaltungen und Feste genutzt. Ab 1896 wurden die Genehmigungen dafür streng reguliert, um die Gartenanlage zu schützen. Wöchentlich wurden Konzerte gegeben, am See gab es einen Angelwettbewerb und in der beleuchteten Grotte Tanzveranstaltungen mit großem Orchester. Auch wird von ersten Sportlern berichtet (Eislaufen wurde genehmigt, Vélocipèdes wurden untersagt). Als eine frühe Vertreterin des Base-Jumping sprang Germaine Granveaud 1924 mit einem Fallschirm vom Pont des Suicidés. Die kollektive, aktive Nutzung des Parks überwog, die promenade begann, aus der Mode zu kommen.
Ab 1940 folgte die Phase der Nutzung des Parks für Familie, Unterhaltung und Leibesübungen. Um die Kinder zu schützen, wurde das Autofahren im Park verboten, größere Spielplätze und Sportgelände wurden angelegt. Schulen nutzten den Park für den Sportunterricht. Weiterhin wurden Feste und Konzerte sowie Lichtinstallationen genehmigt. Mehr als die promenade wurde das Jogging en vogue. 1981 gründete sich die Association des Joyeux Trotteurs des Buttes, die bis heute mehrmals pro Woche Sportanimation anbietet. Der französische Wanderverband Fédération française de la randonnée pédestre ließ zwei seiner Paris-Wanderwege (TP2 und TP3) im Park sich kreuzen.
Es gilt die Parkordnung von 2018, die das Betreten der Rasenflächen erlaubt. Grillen dagegen ist ebenso untersagt wie das Mitbringen und der Konsum alkoholischer Getränke. Für alle Parkbesucher stellt die Stadt Paris seit 2007 einen kostenlosen WLAN-Internetzugang bereit. Die Sender (Points Wi-Fi von Orange) stehen an den Eingängen Porte Armand Carrel, Porte Botzaris, Porte Fessart und Porte Bolivar. Nachts wird der Park geschlossen.
Gastronomie und Veranstaltungen
Im Park finden sich heute drei größere Gastronomiebetriebe: das Restaurant Pavillon Puebla im Südwesten, das Restaurant im Pavillon du Lac bei der Hängebrücke und die Café-Tanzbar Guinguette Rosa Bonheur im alten Pavillon du Chemin de Fer nahe der Porte de la Villette. Außer diesen gibt es einige kleinere Café-Kiosks am See.
Für Kinder gibt es ein Karussell nordöstlich des Sees, einige kostenpflichtige kleine Schiffschaukeln aus dem 19. Jahrhundert sowie einige im Park verteilte Spielplätze. In den Schulferien und am Wochenende wird bei gutem Wetter Ponyreiten angeboten.
Bekannt ist der Park auch für seine beiden Guignol-Theater. Das ältere Guignol Anatole ist ein 1836 gegründetes, kleines Freilufttheater am Eingang Porte Armand Carrel. Auch im Winter bespielt wird Le Guignol de Paris nahe der Porte Bolivar.
Von 2002 bis 2012 war der Parc des Buttes-Chaumont jeden August/September der Austragungsort des internationalen Open-Air-Kurzfilm-Festivals Silhouette, bevor es in den nahegelegenen Parc de la Butte-du-Chapeau-Rouge verlegt wurde.
Im Juni 2011 und 2012 fand zudem das Festival für Photographie les nuits photographiques in und um den Pavillon du Lac statt.
In einem improvisierten Kiosque à Musique auf einer Hügelspitze im Süden des Parks werden im Sommer kleine Konzerte gegeben.
Rezeption und Wirkung
Die Naturlandschaft des Parks ist manufactum, vollständig von Hand gemacht. Als Meisterwerk („chef-d’œuvre“) der industrialen Ästhetik des Zweiten Kaiserreichs ist der Park Beispiel für einen kulturhistorischen Prozess der „Verstädterung der Natur“. Er nimmt, „was die Natur bietet, und erhöht es zur Kunst“, damit beides in der Wahrnehmung der Besucher verschwimmt. Der Park gilt als „œuvre éclectique“, als vielschichtiges Werk, in dem sich das „Schöne und Nützliche ebenso durchdringen wie das Pittoreske und das Mechanische, die Kultur und die Natur.“
Als Ausdruck einer „neopastoralen Lebensart“ spiegelte der Park die „Landschaften der damals beliebten Ausflugsziele“ wider und nahm dabei „ästhetische“ wie „erzieherische“ Aufgaben wahr. Er wurde zu einer Art „Museum der Landschaften“ und ermöglichte eine Reise, ohne die Stadt zu verlassen („voyage sur place“). Die Eisenbahnstrecke durch den Park machte die Vermischung und die Verbundenheit der Welten von Stadt und Land konkret.
Zur damals überwältigenden architektonischen Wirkung schrieb das Frankfurter Journal bald nach der Eröffnung im November 1867:
Für die Surrealisten André Breton und Louis Aragon manifestierte der Park in den 1920er Jahren die „moderne Mythologie“ der Großstadt.
Das „unvermittelte Beieinander von (heute kaum noch sichtbarer) technischer Modernität und Naturillusion“ machte den Park zu einer vieldeutigen, „heiligen Stätte“, in der „das Unbewusste der Stadt nistet“ und sich die „wilden Träume der Städter tummeln“. Das mythische „Naturgefühl“ in den Buttes-Chaumont war für Aragon der „Weg zum Bewußtsein“: Für ihn verwandelte sich im Park der sinnliche erfahrene Raum (espace) zu geometrisch beschriebenen Orten (lieux) einer mentalen Landkarte. Diese Karte ähnelte ihm einer „Nachthaube“, die, als Traumvorstellung, das Geometrisch-Rationale wieder durchbrach. Mit dieser im Surrealen endenden Denkbewegung machte Aragon die Buttes-Chaumont zu einem „Palast“, in dem der Mensch, als „große Denkmechanik“ erfährt, „wer er ist“:
Neben Aragon, der den Park zu einem zentralen Topos seines 1926 erschienenen, surrealistischen Hauptwerks Le paysan de Paris (Der Pariser Bauer) machte, regte der Park weitere künstlerische Produktionen an. Bereits 1909 malte Henri Rousseau das Bild La Promenade au parc des Buttes-Chaumont im Stil der Naiven Kunst, der Regisseur Éric Rohmer drehte im Park für seine Filme Nadja à Paris (1964) und Die Frau des Fliegers (1981) und Szenen des Films Das Leben ist ein Chanson (1997) von Alain Resnais spielen auf der Insel Île du Belvédère.
Auch zahlreiche akademische Publikationen thematisierten den Park. Der Architekturprofessor Antoine Grumbach verglich die verschlungenen Parkwege mit einem Möbiusband, einem „Universum der verheimlichten Grenzen“. Die übertriebenen Dimensionen der Felsen und der Kaskade ließen die „falsche Natur als die einzig wahre“ erscheinen. Elizabeth K. Meyer, renommierte US-Architekturtheoretikerin, zählte den Park zu einem frühen Vertreter der Avantgarde der Landschaftsarchitektur und verglich ihn mit dem benachbarten, dekonstruktivistischen Parc de la Villette: Bei aller Unterschiedlichkeit stellten sich beide Parks gegen „traditionelle Ideale von Schönheit und Gestaltung“.
Beide wollten die „kanonische Zweiteilung von Natur und Kultur unterwandern“ und die „Hässlichkeit des modernen Lebens in eine moderne Art Schönheit“ transformieren. Durch Wegenetz und Aussichtspunkte mit der Stadt verschmolzen und mittels eines „ästhetischen Systems von Zufall, Überlagerung und Montage“ würden beide Parks ein „cinematic panorama“, ein Filmpanorama ihrer Zeit bieten.
Der Parc des Buttes-Chaumont sei zusätzlich allerdings „site-conditioned“, also sensibel für die Gegebenheiten des Ortes konzipiert.
Park als Demonstration von Macht
Analog zu Meyer sprach H. M. Schenker, Professorin für Landschaftsarchitektur, von „melodramatischen Landschaften“, betonte aber auch die integrative Rolle des Parks im Zuge der Erweiterung der Pariser Stadtgrenzen nach 1860. Zugleich habe der Buttes-Chaumont Arbeit für das Proletariat und in seiner Umgebung Immobilienspekulationsfläche für das Bürgertum geschaffen. Er „verankerte“ das neue Viertel, schmiedete Zusammenhalt im Quartier und band es ein in das „Netz des gesellschaftlichen und politischen Einflusses“ von Haussmann und Napoleon III. Der Park diente als Komplement des Stadtumbaus:
Der von Alphand betont technische Aspekt des Parkbaus wurde auch als Ausdruck des Machtanspruchs des Zweiten Kaiserreiches interpretiert. In einem souveränen „Zusammenspiel von Kunst und Können“ („art and industry“) sollte der Park Zeichen der „Herrschaft der Ideen über die Topographie der Erde“ sein. Der Publizist Georg Stefan Troller nannte die Buttes-Chaumont schlicht „inkongruent“. Der „angestrengt-romantisierte Wildpark“ wirke allerdings „heute“, „in diesem Zeitalter der Virtualität schon fast wieder urig.“
Literatur
Alphand, Jean-Charles: Les Promenades de Paris. 2 Bände. Rothschild Éditeurs, Paris 1867–1873. S. 198–204 sowie Bildtafeln unter Les Promenades intérieures de Paris.
Neuauflage: Princeton Architectural Press, Princeton 1984.
Neuauflage: Connaissance et Mémoires, Paris 2003, ISBN 2-914473-04-4. (kleinformatiges Faksimile)
André, Édouard François: L’Art des jardins. Traité général de la composition des parcs et jardins. Paris 1879 (gallica.bnf.fr).
Boué, Germaine: Les squares et jardins de Paris: Les Buttes-Chaumont. Notice historique et descriptive. Paris 1867 (books.google.de).
Ernouf, Alfred-Auguste: L’art des jardins: histoire, théorie, pratique, de la composition des jardins, parcs, squares. Paris 1868, S. 206–224 (gallica.bnf.fr). (Detaillierter Bepflanzungsplan von 1867 mit Beschreibung aller 108 Blumenbeete, Baumgruppen und Felsbepflanzungen. Karte auf Seite 216.)
Freytag, Anette: When the Railway Conquered the Garden: Velocity in Parisian and Viennese Parks. In: Conan, Michel (Hrsg.): Landscape Design and the Experience of Motion. Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington D.C. 2003, ISBN 978-0-88402-293-0, S. 215–242, .
Grumbach, Antoine: Les Promenades des Paris. In: Architecture d’aujourd’hui. 185, Paris 1976, S. 97–106.
ders.: The Promenades of Paris. In: Oppositions. MIT Press, Cambridge (Massachusetts) Spring 1977, S. 49–67.
Hamon, Françoise: Les Buttes-Chaumont. In: Texier, Simon (Hrsg.): Les Parcs et Jardins dans l’Urbanisme Parisien. XIXe – XXe siècles. Paris 2001, ISBN 978-2-913246-32-4, S. 99–105.
Haussmann, Georges-Eugène: Mémoires du Baron Haussmann. Grands travaux de Paris. Paris 1890–1893, S. 232–239 (gallica.bnf.fr).
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Limido, Luisa: L’art des jardins sous le Second Empire: Jean-Pierre Barillet-Deschamps, 1824–1873. Seyssel 2002, ISBN 2-87673-349-8, S. 124–136.
Meyer, Elizabeth K.: The Public Parc as Avante-Garde (Landscape) Architecture: A Comparative Interpretation of Two Parisian Parks, Parc de la Villette (1983–1990) and Parc des Buttes-Chaumont (1864–1867). In: Landscape Journal. Vol.10, No.1. University of Minnesota 1991, S. 16–26 (lj.uwpress.org).
Plazy, Gilles: Le Parc des Buttes-Chaumont. Mit Photographien von Arnaud Legrain. Flammarion, Paris 2000, ISBN 978-2-08-012816-4.
Robinson, William: The parks, promenades & gardens of Paris. London 1869, S. 59–67 (books.google.de).
Schediwy, Robert und Baltzarek, Franz: Grün in der Großstadt. Wien 1982, ISBN 3-85063-125-7, S. 90.
Schenker, Heath Massey: Parks and Politics During the Second Empire in Paris. In: Landscape Journal. Vol. 14 No. 2, University of Minnesota 1995, S. 201–219 (lj.uwpress.org).
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Belletristik:
Aragon, Louis: Der Pariser Bauer. Frankfurt am Main 1996, ISBN 978-3-518-22213-3, Kapitel 2: Das Naturgefühl auf den Buttes-Chaumont, S. 125–215.
ders.: Le paysan de Paris. (1926) Gallimard, Paris 2004, ISBN 978-2-07-031463-8.
Gautier, Théophile: Voyage hors Barrières. In: ders.: Caprices et Zigzags. Paris 1852, Kapitel 1: Montfaucon, S. 272–281 (books.google.fr).
Reynaud, Marius: Les Buttes-Chaumont ou Saint-Chaumont. Les temps anciens et les temps modernes. Châtellerault 1870 (gallica.bnf.fr). (Geschichte in Versen)
Weblinks
Informationsseite der Stadt Paris (französisch)
Einzelnachweise
Landschaftsgarten
Buttes-Chaumont
19. Arrondissement (Paris)
Garten in Frankreich
Garten in Europa |
4397711 | https://de.wikipedia.org/wiki/Osteoderm | Osteoderm | Als Osteoderme (von altgriechisch ostéon ‚Knochen‘ und dérma ‚Haut‘), Osteodermata oder Hautknochenplatten werden bei Landwirbeltieren innerhalb der Lederhaut (Dermis) liegende und dort gebildete Knochen bezeichnet. Diese sind meist plattig, seltener kalottenförmig oder stachelförmig zugespitzt. Osteoderme sind Teil des sogenannten Dermalskeletts, dem auch alle weiteren Knochen, an deren Bildung die Haut Anteil hat, zugerechnet werden, so unter anderem das Schädeldach und die Schlüsselbeine. Benachbart liegende Osteoderme können in Abhängigkeit von ihrer Funktion durch Gelenke und Bänder miteinander verbunden sein (wie bei Krokodilen und ihren frühen Verwandten) oder entlang ihrer Kanten miteinander verzahnt oder verwachsen sein (wie bei Gürteltieren). Auf diese Art und Weise können Osteoderme zusammenhängende Knochenpanzer bilden.
Osteoderme kommen bei heutigen Kriechtieren, Amphibien sowie bei den Gürteltieren als einziger Säugetiergruppe vor. Sie sind in vielen miteinander nicht nah verwandten ausgestorbenen Gruppen nachgewiesen und waren bereits bei manchen frühen Landwirbeltieren des Karbon (vor ca. 360 bis 300 Millionen Jahren) vorhanden. Entgegen den Gemeinsamkeiten im Aufbau ihrer Knochengewebe weist das verstreute Auftreten der Osteoderme darauf hin, dass sie im Verlauf der Stammesgeschichte vielfach unabhängig voneinander durch konvergente Evolution entstanden sind und sich allenfalls eine bestimmte Veranlagung zur Bildung von Osteodermen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückführen lässt.
Lage und Ausmaß der Körperbedeckung mit Osteodermen stehen mit ihrer Funktion in Zusammenhang: Neben der Panzerung können Osteoderme Teil einer aktiven Abwehreinrichtung, zum Beispiel einer Schwanzkeule, sein, der Zurschaustellung dienen, einen Calcium-Vorrat für Zeiten erhöhten Calciumbedarfs bilden oder für die Regulierung des Wärmehaushalts von Bedeutung sein. Bei Tieren, die im Wasser leben, können Osteoderme zur Erhöhung der Körperdichte beitragen. Reihen von Rückenosteodermen verhindern in vielen Fällen zu extreme Rumpfbewegungen und können auf diese Weise schädigende Belastungen, die bei der Fortbewegung an Land auftreten, von der Wirbelsäule fernhalten.
Die wissenschaftliche Untersuchung der Osteoderme, unter anderem ihres Erscheinungsbildes (im Rahmen der Morphologie), ihrer Gewebestruktur (im Rahmen der Skelett-Histologie) und ihrer Entwicklungsvorgänge (im Rahmen der Entwicklungsbiologie), um daraus Schlussfolgerungen zur Funktion, Lebensweise und Stammesgeschichte ausgestorbener Tiere zu ziehen, ist gegenwärtig ein aktives Forschungsfeld der Paläobiologie.
Abgrenzung von anderen Skelettbestandteilen der Wirbeltiere
Osteoderme sind knöcherne Bestandteile der Haut von Landwirbeltieren, die, zusammen mit Knochen des Schädels und Schultergürtels, an deren Bildung die Haut beteiligt ist, das sogenannte Dermalskelett bilden. Sie unterscheiden sich von den Skelettelementen in der Haut mancher Fische durch das Fehlen von Zahnbein (Dentin), welches sich von Knochengewebe in seiner Zusammensetzung, Mikrostruktur und Art der Bildung unterscheidet.
Oftmals werden verknöcherte Hautschuppen, die sowohl bei landwirbeltierähnlichen Fischen (der Gruppe der Fleischflosser) als auch bei vielen urtümlichen Landwirbeltieren der Gruppe Temnospondyli auftreten, als ein weiterer von Osteodermen zu unterscheidender Typ der Hautverknöcherung aufgefasst. Die Abgrenzung beruht darauf, dass verknöcherte Hautschuppen im Unterschied zu Osteodermen wiederkehrende, auch für unverknöcherte Hautschuppen typische Überlappungsmuster zeigen, keine Ornamentierung der Außenseite aufweisen und weiter außen in der Lederhaut nahe der Grenze zur Oberhaut (Epidermis) gebildet werden. So gibt es unter den urtümlichen Landwirbeltieren manche, bei denen sowohl verknöcherte Schuppen als auch Osteoderme auftreten – manchmal übereinander liegend.
Manche Autoren hingegen verweisen auf die Verschiedenheit der Osteoderme hinsichtlich ihrer Lage, Form, Oberflächenstruktur, Kompaktheit, Gewebestruktur und Ontogenese und fassen verknöcherte Hautschuppen als Teil des Spektrums an Landwirbeltier-Hautverknöcherungen auf, für welche sie zusammenfassend den Begriff „Osteoderm“ verwenden. Hautverknöcherungen der Fische – auch solche ohne jeden Dentin-Anteil – und die Hautschuppen der Blindwühlen, die einen Dentin-Anteil aufweisen, definieren jedoch auch diese Autoren als nicht zu den Osteodermen gehörig. Im Folgenden wird der Begriff Osteoderm im engeren Sinne, das heißt ohne Einbezug verknöcherter Landwirbeltier-Hautschuppen, verwendet.
Skeletogenese und Knochenmikrostruktur
Die Bildung des Skeletts im Verlauf der Entwicklung eines Individuums vom Embryo zum erwachsenen Tier bezeichnet man auch als Skeletogenese. Osteoderme und andere Dermalknochen unterscheiden sich in ihrer Skeletogenese von vielen Knochen des Wirbeltier-Innenskeletts dahingehend, dass sie nicht als sogenannter Ersatzknochen aus einem Knochenvorläufer, der aus Knorpel besteht, hervorgehen. Die einzige Ausnahme stellten Osteoderme der ausgestorbenen Meeresreptiliengruppe Placodontia dar, die Anteile von Knorpel aufwiesen. Die meisten Osteoderme sind entweder Produkt einer (intra-)membranösen Verknöcherung oder einer Umwandlung von Hautgewebe in Knochen, die man auch als metaplastische Verknöcherung bezeichnet, oder einer Kombination von beidem.
Intramembranöse und metaplastische Verknöcherung
Bei der intramembranösen Verknöcherung bildet sich innerhalb der Dermis eine Verdichtung von Bindegewebszellen, die Osteoid abscheiden. Das Osteoid-Gewebe wird von knochenbildenden Zellen (Osteoblasten) und einer Knochenhaut (Periosteum) umlagert. Diese wandeln das Osteoid in echtes Knochengewebe um und lagern ähnlich wie beim Wachstum des Innenskeletts kontinuierlich von innen nach außen neues Knochengewebe an. Meist besteht das Knochengewebe derart gebildeter Osteoderme aus parallelfaserigem Knochen oder Lamellenknochen. In diesen Knochengewebetypen sind die Kollagen-Fasern, an denen sich das Mineral Hydroxylapatit in Form feiner Kriställchen (Kristallite) abscheidet, parallel zur Knochenoberfläche ausgerichtet. Unterschiede im Wachstum bewirken Unterschiede in der Dichte, Zellstruktur und Faserausrichtung aufeinanderfolgender Lagen, die unter dem Lichtmikroskop als Zonierung sichtbar sind.
Osteodermgewebe, das aus der Umwandlung (Metaplasie) von dichtem Hautgewebe hervorgegangen ist, fehlt diese Lagigkeit. Die metaplastische Verknöcherung führt zur Apatit-Mineralisierung von Bereichen der Lederhaut, ohne dass eine Knochenhaut vorliegt. Die oftmals in regelmäßiger Verflechtung angeordneten Bindegewebsfasern der Haut bleiben nach der Umwandlung als mineralisierte Strukturfasern im metaplastischen Knochen bestehen. Nach außen kann dieses Gewebe von Knochen, der durch eine Knochenhaut gebildet wurde, umlagert sein.
Knochenumbau und Sharpey-Fasern
Oftmals findet im Verlauf der Entwicklung des Osteodermträgers ein innerer Umbau der Osteoderme vergleichbar dem Umbau anderer Knochen statt. Dabei wird zuerst gebildeter Knochen (Primärknochen) durch Knochenfresszellen (Osteoklasten) aufgelöst und es entsteht eine schwammartige Mittelschicht, die der Spongiosa anderer Knochen gleicht und auch als Diploë bezeichnet wird. Hohlräume können wiederum mit neu gebildetem Knochen (Sekundärknochen) ausgekleidet sein. Die kompakteren Rindengewebe des Osteoderms, die die Mittelschicht umschließen, beinhalten oftmals senkrecht oder schräg zur Oberfläche einwachsende Fasern des angrenzenden Hautgewebes sowie von Muskeln oder Bändern, die als Sharpey-Fasern bezeichnet werden.
Timing der Osteoderm-Bildung im Verlauf der Individualentwicklung
Das Einsetzen der Osteoderm-Skeletogenese im Verlauf der Individualentwicklung ist bei vielen Osteodermträgern gegenüber der Bildung des übrigen Skeletts verzögert: Bei manchen osteodermtragenden Arten der Froschlurche weist das Fehlen von Osteodermen noch kurz nach der Metamorphose auf die späte Ausbildung dieser Hautverknöcherungen hin.
Beim Mississippi-Alligator setzt die Osteoderme-Bildung deutlich später als die des übrigen Skeletts (einschließlich der Dermalknochen des Schädels, dessen Verknöcherung besonders früh beginnt) nach dem Schlüpfen der Jungtiere ein. Dabei nimmt die Verknöcherung des Panzers seinen Anfang bei den Osteodermen im Bereich der Halswirbel und setzt sich von dort aus nach und nach seitlich und schwanzwärts fort.
Eine späte Bildung der Osteoderme im Verlauf der Individualentwicklung ist ebenfalls bei den Schuppenechsen zu beobachten: Die perlenförmigen Osteoderme der Krustenechsen gehören zu den Skelettelementen dieser Gruppe, deren Verknöcherung am spätesten erfolgt. Bei den Blindschleichen weisen sogar halbwüchsige (subadulte) Individuen noch keine Anzeichen für Hautverknöcherungen auf (wie sie bei ausgewachsenen Tieren vorliegen).
Beim Neunbinden-Gürteltier beginnt die Skeletogenese der Osteoderme zwar später als die des restlichen Skeletts, jedoch bereits vor der Geburt im Verlauf der Embryogenese. Die Bildung der Osteoderme läuft asynchron ab, das heißt zeitlich versetzt von Panzersegment zu Panzersegment sowie innerhalb jedes Panzersegments. Meist beginnt die Verknöcherung der einzelnen Segmente am mittleren vorderen Ende und setzt sich (auf ähnliche Weise wie beim Alligator-Rückenschild) seitlich und schwanzwärts fort.
Für ausgestorbene Gruppen osteodermtragender Tiere liegen nur manchmal Individuen unterschiedlicher Lebensalter und Entwicklungsstadien vor, so dass sich die Frage nach dem Timing der Osteoderm-Entwicklung nur selten so wie für die Stegosaurier-Osteoderme, deren Bildung und Wachstum wie bei heutigen Osteodermträgern deutlich verzögert ist, beantworten lässt.
Vorkommen, Ursprung und Evolution
Osteoderme liegen bei Vertretern der heutigen Froschlurche, Schildkröten, Echsen, Krokodile und Gürteltiere und somit in drei der vier konventionellen Klassen der Landwirbeltiere vor. Hinzu kommen zahlreiche Belege in vorzeitlich ausgestorbenen und nur durch Fossilien belegten Gruppen. Im folgenden Verzweigungsdiagramm sind die Verwandtschaftsverhältnisse der Landwirbeltiere vereinfacht dargestellt und, mit Ausnahme der wenig bekannten Reptiliengruppe Hupehsuchia, alle Gruppen, für die Osteoderme belegt sind, aufgeführt (Schema vereinfacht in Anlehnung an Ruta u. a. 2003 und Hill 2005):
Da die einzelnen hier aufgeführten Osteodermträger-Gruppen oft übergeordneten Gruppen angehören, deren letzter gemeinsamer Vorfahr keine Hautverknöcherung aufwies, so
bei den Nebengelenktieren, welche wie alle anderen heutigen Säugetiergruppen von einem Säugetier ohne Osteoderme abstammen, müssen Osteoderme im Verlauf der Stammesgeschichte der Landwirbeltiere vielfach unabhängig voneinander durch massive konvergente Evolution entstanden sein. So sind beispielsweise innerhalb der Archosaurier die Osteoderme der Krokodile, der thyreophoren Dinosaurier und der sauropoden Dinosaurier keine homologen Strukturen, das heißt, nicht auf einen gemeinsamen Vorläufer-Osteodermtyp zurückzuführen. Auch innerhalb der Froschlurche sind Osteoderme nach heutiger Kenntnis mehrfach parallel hervorgegangen.
Osteoderme als „Tiefenhomologie“?
Embryologische Studien belegen, dass die Bildung funktionsgleicher Organe im Verlauf der Embryonalentwicklung entfernt verwandter Gruppen – zum Beispiel die Bildung der Beine bei Gliederfüßern und Landwirbeltieren – auf der Wirkung der gleichen gestaltbildenden (morphogenen) Substanzen und der Aktivität der gleichen gestaltbildenden Gene beruht. Daher haben Evolutionsbiologen und Entwicklungsbiologen die Theorie der Tiefenhomologie (deep homology) begründet, die besagt, dass das unabhängige Auftreten ähnlicher Merkmale im Erscheinungsbild (Phänotyp) verschiedener Organismengruppen auf eine Homologie der Mechanismen, welche die Ausbildung dieser Merkmale im Verlauf der Entwicklung steuern, zurückgeführt werden kann.
Die Hypothese, Osteoderme seien „tiefenhomolog“, besagt, dass innerhalb der gemeinsamen Vorfahren aller Osteodermträger die Fähigkeit zur Bildung von Osteodermen erstmals aufgetreten ist und daraufhin an die Nachkommenschaft weitervererbt wurde. Danach kam es in manchen Nachfahren zur Einleitung der osteodermbildenden genetischen Steuerungsmechanismen und in vielen anderen Nachfahren nicht, obschon sie die dafür notwendigen genetischen Anlagen besitzen. In vergleichenden Studien zu den Osteoderm-Knochengeweben wird „Tiefenhomologie“ vielfach als Grund für Gemeinsamkeiten in der Struktur und Entwicklung der Osteoderme angeführt.
Älteste Belege und die Frage nach dem Ursprung der ersten Osteoderme
Bereits die ausgestorbenen Gruppen der Fleischflosser (Sarcopterygii) des Devon und Karbon, die den Landwirbeltieren (ihren Nachfahren) näher stehen als jeder heutigen Fischgruppe und die man auch als Stammgruppe der Landwirbeltiere oder „Stamm-Landwirbeltiere“ bezeichnet, tragen verknöcherte Schuppen, auf welche sich die verknöcherten Hautschuppen der frühen Landwirbeltiere zurückführen lassen.
Osteoderme im engeren Sinne sind erstmals für urtümliche Landwirbeltiere des Karbon und Perm belegt: Manche Vertreter der Temnospondyli, aus denen wahrscheinlich die heutigen Lurche (Lissamphibia) hervorgegangen sind, und Chroniosuchier, die wahrscheinlich der Stammgruppe der Amniontiere (Amniota) angehören, weisen vergleichsweise dicke Knochenplatten auf, die oftmals ähnlich wie Knochen des Schädeldachs eine skulpturierte Oberfläche mit ornamentartigem Relief zeigen. Für Osteoderme beider Gruppen wurde die Fähigkeit zur Hautknochenbildung durch Umwandlung von Hautgewebe (metaplastische Verknöcherung) nachgewiesen, die für fossile Fische nicht belegt ist.
Insofern die Osteoderme der Temnospondylen und heutigen Amphibien mit denen der Chroniosuchier, Reptilien und Säugetiere hinsichtlich der Osteoderm-Entwicklungsvorgänge und ihrer Steuerungsmechanismen homolog sind, muss der letzte gemeinsame Vorfahr all dieser Gruppen, der wahrscheinlich im frühen Karbon vor ca. 350 Millionen Jahren lebte, schon das Potential zur Ausbildung von Osteodermen besessen haben. Demnach wäre der Ursprung der Osteoderme womöglich mit der frühesten Evolution der Landwirbeltiere nach dem Landgang der Knochenfische im Devon verbunden gewesen. Ein später Vertreter der ursprungsnahen Gruppe Colosteidae weist Hautverknöcherungen auf, die manchmal als Osteoderme interpretiert werden.
Evolutionäre Trends innerhalb einzelner Osteodermträger-Gruppen
In mehreren Gruppen treten Osteoderme bei urtümlichen Vertretern zunächst als eine Reihe schmaler Schilde entlang der Rückenmittellinie auf, während spätere Vertreter eine ausgedehntere Osteoderm-Bedeckung oder einen Knochenpanzer aufweisen: Für Pareiasaurier wird solch ein Trend von großen urtümlichen Formen wie Bradysaurus mit mittiger Osteodermreihe zu kleineren Formen wie Anthodon, dessen Rücken vollständig mit Osteodermen bedeckt war, angenommen. Innerhalb der Placodontier, einer Gruppe von Meeresreptilien, liegt bei Placodus und anderen Placodontoidea eine Mittelreihe von Osteodermen vor, während die späteren abgeleiteten Cyamodontoidea schildkrötenähnliche Panzer aufweisen. Chroniosuchier zeigen verschieden breite Rückenosteoderm-Reihen, wobei jedoch sehr breite Osteodermsysteme wie bei Chroniosaurus mit zu den ältesten und möglicherweise urtümlichsten zählen, so dass ein Trend zu verstärkter Panzerung nicht deutlich ist.
Bei nahen Verwandten der Archosaurier wie Euparkeria und Proterochampsa sowie bei vielen urtümlichen triaszeitlichen Archosauriern der Krokodil-Linie (Crurotarsi) wie Phytosauriern, manchen Rauisuchiern, Ornithosuchiden und Sphenosuchiern treten ebenfalls zunächst einfache Osteodermsysteme auf, die aus ein oder zwei Reihen entlang der Rücken-Mittellinie bestehen. Aus solchen Formen gehen dann die umfangreicheren Schilde und Panzer der Aetosaurier und Krokodile hervor. Die Aetosaurier, die nur in der Trias auftraten, tragen eine mittig gelegene Doppelreihe stark verbreiterter Osteoderme, die durch Reihen seitlicher Osteoderme und einen Bauchpanzer ergänzt werden. Bei den späteren Krokodilen, besonders den Vertretern der Gruppe Eusuchia, zu der auch alle heutigen Krokodile zählen, liegen meist vier oder mehr Reihen von Osteodermen, die einen Großteil der Körperrückseite bedecken, vor. Oftmals kommt ein Bauchpanzer hinzu.
Innerhalb der Krokodile ist eine Flexibilisierung des Rücken-Osteodermsystems zu beobachten: Während bei urtümlichen Krokodilen die mit der Wirbelsäule durch Bänder verbundenen Schildsegmente entlang der Körperlängsachse eine deutlich Überlappung zeigen und durch zapfenförmige Fortsätze und seitlich angewinkelte Teilstücke nur wenig Bewegung gegeneinander zulassen, tritt bei den heutigen Krokodilen kaum Überlappung auf. Wahrscheinlich stand dieser Wandel mit dem Umbau der Wirbelsäule im Zusammenhang: Urtümliche Krokodile wiesen bikonkave (amphicoele) Wirbel auf und besaßen daher Wirbelgelenke, die anfällig gegenüber Knickbelastungen waren, welche jedoch von den miteinander in Verzahnung tretenden Osteodermen abgeblockt wurden. Vertreter der Eusuchia hingegen besitzen konvex-konkave (procoele) Wirbel und infolgedessen weniger belastungsanfällige Wirbelgelenke, die keine Abblockung durch das Osteodermsystem erforderlich machen.
Bei den schildtragenden Dinosauriern (Gruppe Thyreophora) zeigen die Osteoderme einen Trend zum extremen Dickenwachstum: Gegenüber den verhältnismäßig flachen Rückenplatten der ursprungsnahen Formen Scelidosaurus und Scutellosaurus weisen die abgeleiteten Ankylosaurier und Stegosaurier Sporne, lange Stacheln, aufgerichtete Rückenplatten und Schwanzkeulen auf. Diesen Änderungen liegt offenbar ein Funktionswandel oder eine Funktionserweiterung zugrunde.
Ursprung des Schildkrötenpanzers
Zum Ursprung des Knochenpanzers der Schildkröten werden zwei gegensätzliche Hypothesen diskutiert:
Da embryologischen Studien zufolge die plattigen Knochen, die den Panzer aufbauen, im Verlauf der Embryonalentwicklung aus Auswüchsen der Rippen und Wirbel hervorgehen, ist anzunehmen, dass es sich beim Schildkrötenpanzer um eine Neubildung innerhalb der Stammlinie der Schildkröten handelt, die sich nicht auf Hautknochen einer Vorläuferform zurückführen lässt.
Der Schildkrötenpanzer ist aus dem Zusammenwachsen vieler einzelner Osteoderme und schließlich aus dem Verwachsen des Osteodermschilds mit dem darunter liegenden Innenskelett hervorgegangen.
In Übereinstimmung mit der zweiten Hypothese, dass auch Hautknochen an der Bildung des Panzers beteiligt waren, wurden Strukturfasern verknöcherten Hautgewebes (Anzeichen metaplastischer Verknöcherung) in den Panzersegmenten früher Schildkröten nachgewiesen. Falls im Verlauf der Stammesgeschichte eine Verschmelzung der embryonalen Anlagen für die Knochen des Panzers und für die Rippen oder Wirbel stattgefunden hat, dann wäre das ein Grund dafür, warum in der Embryonalentwicklung der heutigen Schildkröten keine zusätzlichen Verknöcherungszentren in der Haut vorliegen, obwohl der Panzer ursprünglich tatsächlich aus den Osteodermen und nicht aus dem Innenskelett entstanden ist.
Der kürzlich veröffentlichte Fund von Chinlechelys tenerstesta aus der späten Trias der Chinle-Formation New Mexicos hat besonders zur Diskussion über den Ursprung des Schildkrötenpanzers beigetragen. Chinlechelys zeigt im Bereich des Brustkorbs Rippen, die kaum in Verbindung mit den darüber liegenden Costalknochen des Rückenpanzers stehen, was einer Interpretation dieser Panzersegmente als Rippenauswüchse gemäß der erstgenannten Theorie widerspricht. Das Vorliegen von Osteodermen entlang des Halses und Schwanzes von Chinlechelys deutet nach Ansicht der Autoren der Studie darauf hin, dass der Panzer lediglich eine Verwachsung eines Teils der Osteoderme, die die Körper ursprünglicher Schildkröten bedeckten, darstellt. Da es sich bei Chinlechelys und weiteren triaszeitlichen Schildkröten wie Proganochelys quenstedti und Proterochersis robusta nach Merkmalen der Gliedmaßen und der Knochengewebe des Panzers wahrscheinlich um Landbewohner handelt, könnte der Schildkrötenpanzer so wie die Osteodermsysteme der Krokodile und ihrer Verwandten an Land entstanden sein.
Zu beinahe gegensätzlichen Schlussfolgerungen gelangen die Autoren der 2008 veröffentlichten Erstbeschreibung von Odontochelys semitestacea aus der späten Trias der Falang-Formation von Südwest-China: Da dem Skelett Osteoderme fehlen und nur der Bauchpanzer (Plastron) als zusammenhängender knöcherner Schild vorliegt, während vom Rückenpanzer (Carapax) ähnlich wie in einem embryonalen Entwicklungsstadium heutiger Schildkröten nur die Mittelreihe der Neuralknochen vorhanden ist und die Rippen im Rumpfbereich verbreitet sind, sei Odontochelys ein Beleg für die evolutionäre Entstehung des Rückenpanzers nach der des Bauchpanzers und für ein Hervorgehen der Schildkrötenpanzerung ohne Osteoderm-Vorläufer aus den Rippen und Wirbeln des Innenskeletts. Da Odontochelys aus marinen Ablagerungen stammt und die (alleinige) Ausbildung eines Bauchpanzers am ehesten einem Bewohner der Meeresküsten genützt haben könnte, seien die ersten Schildkröten wahrscheinlich Wasserbewohner gewesen. Diese Interpretation wurde unter anderem in einem parallel zur Erstbeschreibung veröffentlichten Artikel in Zweifel gezogen: Ähnlich wie bei späteren im Wasser lebenden Schildkröten wie den Weichschildkröten sei ein Rückenpanzer bei Odontochelys vorhanden, aber nicht voll verknöchert gewesen. Dies zeige jedoch nicht den generellen Zustand des Panzers bei den ersten Schildkröten an, sondern nur die Rückbildung des Rückenpanzers in einer bereits spezialisierten, an das Wasser angepassten Form.
Funktion
Panzerung
Der Schutz vor Fressfeinden durch eine Osteoderm-Panzerung wird in vielen Gruppen als ein bedeutender Faktor angesehen, der die Evolution von Osteoderm-Systemen ausgelöst oder zu wesentlichen Anteilen beeinflusst hat. Dabei kann es wie bei vielen thyreophoren Dinosauriern und manchen Echsen zur Ausbildung von Feldern der Hautoberfläche kommen, die durch viele getrennte in meist kleinem Abstand liegende Hautknochenplatten bedeckt sind, oder aber zur flächenhafter Ausbildung von Osteodermen, die einander berühren und durch Bänder, Überlappungsflächen oder auch komplizierte Gelenke mehr oder weniger beweglich miteinander verbunden sind. Letzteres trifft unter anderem auf die Rückenpanzer vieler Krokodile, Aetosaurier, mancher Chroniosuchiden und mancher Pareiasaurier zu. Rückpanzerungen können durch einen Bauchpanzer ergänzt werden – so zum Beispiel bei manchen Krokodilen und Aetosauriern.
Starre Rücken- und/oder Bauchpanzer aus miteinander verzahnten oder verschweißten Osteodermen kommen bei den Placodontiern der Gruppe Cyamodontoidea, gepanzerten Nebengelenktieren (Cingulata) und wahrscheinlich bei Schildkröten (siehe Diskussion des Osteoderm-Ursprungs der Schildkrötenpanzer oben) vor, wobei unter anderem die Gürteltiere als überlebende Vertreter der Cingulaten mehrere zueinander bewegliche Schildsegmente aufweisen, die jeweils aus unbeweglich ineinander greifenden (jedoch selten verschweißten) Osteodermen bestehen.
Aktive Verteidigung
Keulenförmig verdickte oder stachelige Osteoderme nahe dem Schwanzende traten konvergent bei Stegosauriern, Ankylosauriden, urtümlichen Sauropoden wie Shunosaurus und Spinophorosaurus sowie gepanzerten Nebengelenktieren der ausgestorbenen Gruppe Glyptodontidae auf. Derartige Hautknochen fungierten nicht als Teil der Panzerung, sondern bildeten eine Schwanz-Schlagwaffe, wofür unter anderem die Struktur ihrer Knochengewebe und biomechanische Modellierungen möglicher Schlagabläufe sprechen.
Thermoregulation
Dass Osteoderme zur Thermoregulation beitrugen, indem sie den Wärmeaustausch mit der Umgebung beförderten, wurde unter anderem für die aufrecht stehenden Rückenplatten der Stegosaurier vorgeschlagen. Diese sind leicht gebaut und dicht von Gefäßen durchzogen, was dafür zu sprechen schien, dass sie anstelle einer Schutzfunktion eine Sonnenkollektor-ähnliche Funktionsweise innehatten. In einer neueren Studie zeigte sich allerdings, dass die Gefäße der Osteoderm-Innen- und Außenseiten nicht im Sinne eines Kreislaufsystems in Verbindung standen, sondern die dichte Gefäßführung eher ein „bautechnisches Artefakt“ darstellte, welches nicht auf eine thermoregulatorische Funktion im ausgewachsenen Tier zurückzuführen ist, sondern auf die zeitweilig hohen Wachstumsraten der Platten, die eine gute Durchblutung erforderte. Zwar könnte ein rein äußeres Gefäßsystem zum Wärmeaustausch bestanden haben, dafür gibt es jedoch keine Belege. Zudem erforderte auch die äußere Osteoderm-Hülle aus Horn eine Versorgung durch Blutgefäße. Daher sei eine thermoregulatorische Funktion, falls überhaupt, nur in einigen Stegosauriern vorgekommen und habe allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt.
Für das Osteodermsystem des heutigen Mississippi-Alligators wurde ebenfalls erwogen, dass es zur Regulation der Körpertemperatur beigetragen haben könnte. Auch für die leicht gebauten Platten und Stacheln mancher Ankylosaurier der Teilgruppen Ankylosauridae und Polacanthidae, welche Netzwerke pfeifenartiger Gefäße gleich denen der Alligator-Osteoderme aufweisen, wurde in einer neueren histologischen Studie Thermoregulation als mögliche Funktion vorgeschlagen.
Zurschaustellung
Für die hoch aufragenden Platten und seitlich abstehenden Stacheln mancher Stegosaurier, Ankylosaurier und Aetosaurier wird unter Berücksichtigung ihrer histologischen Merkmale in Betracht gezogen, dass sie nicht oder nicht nur als Verteidigungseinrichtungen oder Organe zur Thermoregulation dienten, sondern (auch) der Zurschaustellung im Rahmen des Imponierverhaltens gegenüber Geschlechtspartnern oder innerartlichen Konkurrenten.
Die Hypothese, die plattenförmigen Stegosaurier-Rückenosteoderme dienten hauptsächlich der Zurschaustellung, folgt besonders der Beobachtung, dass ihr Gefäßsystem kaum eine Flüssigkeitszirkulation wie bei einem Organ zur Thermoregulation unterstützte und dass sich diese Osteoderme im Vergleich zu Knochen des Innenskeletts sehr spät entwickelten und daher womöglich erst bei geschlechtsreifen Tieren eine Funktion innehatten. Hinzu kommt das Argument, dass besonders die Stegosaurier-Rückenplatten in seitlicher Ansicht die Körpersilhouette deutlich vergrößerten und dass aus diesem Grund Tiere mit verhältnismäßig großen Platten womöglich bei der sexuellen Selektion einen Vorteil hatten.
Auch die stachel- und plattenförmigen Osteoderme mancher Ankylosaurier könnten nur nachrangig eine Schutzfunktion gehabt haben. Besonders die Stacheln bei Angehörigen der Familie Polacanthidae und die Panzerplatten mancher Ankylosauriden weisen Knochengewebe von geringer Kompaktheit auf und haben möglicherweise ähnlich wie die Stegosaurier-Rückenplatten vor allem der innerartlichen Zurschaustellung gedient. Das Gleiche trifft möglicherweise auf manche Schwanzkeulen der Ankylosauriden zu, die nach biomechanischen Gesichtspunkten nicht alle gleichermaßen als Verteidigungswaffe geeignet waren.
Für die nah verwandten Aetosaurier Longosuchus meadei und Lucasuchus hunti, die sich in ihrer räumlichen und zeitlichen Verbreitung gleichen, wurde die Hypothese aufgestellt, dass es sich um Tiere unterschiedlichen Geschlechts derselben Art handle, deren Unterschiede in der Form des Osteoderm-Rückenpanzers als artspezifische Merkmale fehlinterpretiert worden seien. Solche Geschlechtsunterschiede würden wiederum auf den Einfluss der sexuellen Selektion bei der Evolution des Panzers und Osteoderme als Mittel der Zurschaustellung hinweisen. Nach derzeitigem Wissensstand sind die Belege für diese Hypothese jedoch nicht ausreichend.
Für die horn- und stachelbewehrten Schädel der ceratopsiden Dinosaurier wird gleichfalls eine Funktion bei der Zurschaustellung oder alternativ bei innerartlichen Rivalenkämpfen erwogen und es lassen sich für Triceratops Schädelverletzungen nachweisen, die auf Kämpfe mit Rivalen oder Fressfeinden zurückzuführen sind. Es ist allerdings nicht abschließend geklärt, inwiefern es sich bei den Hörnern, Stacheln und plattenförmigen Aufsätzen der Ceratopsiden-Schädel um Bildungen der Haut handelt, die mit Osteodermen zu vergleichen sind, oder um davon zu unterscheidende Skelettelemente.
Bestandteil des Rumpf-Tragesystems
Die Fortbewegung an Land erfordert einen anderen Körperbau als das Schwimmen im Wasser, da an Land der statische Auftrieb des Wassers als Gegenkraft zur Gewichtskraft fehlt und sich die Angriffspunkte der stattdessen wirkenden Stützkräfte und Schubkräfte der Gliedmaßen von denen der Gewichtskraft (siehe Lage des Körperschwerpunktes) unterscheiden. Bei vierbeinigen Läufern tragen besonders die Wirbelsäule und die Rückenmuskulatur zur Tragkonstruktion des Rumpfes, der den Bereich zwischen Vorder- und Hintergliedmaßen überwölbt, bei.
Eine Besonderheit des Rumpf-Tragesystems der Krokodile ist die überkreuzende Verspannung der Rückenmuskulatur zwischen den mittig gelegenen Rückenosteodermen, die mit jeweils einem Wirbel durch Knorpel und Bänder (Gürtelligamente) fest verbundenen sind, und den Querfortsätzen eines anderen entfernt liegenden Wirbels. Dabei werden in einem Winkel von weniger als 10° zur Körperlängsachse circa fünf Segmente der Wirbelsäule überspannt. Diese Konstruktionsweise ermöglichte im Verlauf der Stammesgeschichte der Krokodile auch großen Vertretern den Gang an Land ohne Bodenkontakt des Bauches und spielt besonders bei Landbewohnern und amphibisch lebenden Vertretern der Gruppe eine wichtige Rolle. Neben der Verankerung der Muskulatur schützt das Osteodermsystem die Wirbelsäule durch die Überlappung und Verkeilung benachbarter Osteoderme vor schädigenden Rumpfbiegungen und den dabei wirkenden Scherbelastungen und Torsionsbelastungen, was besonders für die anfälligeren Wirbelgelenke urtümlicher Krokodile von Bedeutung war.
Auch für die Rücken-Osteodermserien der Chroniosuchier und der Dissorophiden, einer Gruppe temnospondyler Amphibien, werden Funktionen im Zusammenhang mit der Fortbewegung an Land ähnlich denen der Krokodil-Osteoderme diskutiert.
Erhöhung der Dichte des Körpers bei Wasserbewohnern
Ebenso wie sich die Knochen des Innenskeletts in ihrer Kompaktheit unterscheiden, kann die Kompaktheit der Osteoderme, das heißt der Anteil des Knochenvolumens an ihrem Gesamtvolumen, in Abhängigkeit von der Lebensweise des Osteodermträgers variieren. Im Vergleich zu verwandten Landbewohnern zeigen Landwirbeltiere, die in höherem Maße an das Leben im Wasser angepasst sind, eine Reduzierung der Hohlräume im Inneren der Knochen (Kompaktheitszunahme durch Osteosklerose) oder eine Verdickung des Rindengewebes durch verstärkte äußere Anlagerung von Knochengewebe (Pachyostose) oder eine Kombination von beidem (Pachy-Osteosklerose). Hintergrund der höheren Kompaktheit und vermehrten Knochensubstanz bei Wasserbewohnern ist die Funktion des Skeletts als Hilfsmittel zur Erhöhung der Dichte des Gesamtkörpers, das heißt, es trägt dazu bei, das Tier unter Wasser zu halten.
Eine hohe Kompaktheit der Osteoderme, die mit der aquatischen Lebensweise in Verbindung steht, ist unter anderem bei manchen temnospondylen Amphibien, Placodontiern und ausgestorbenen Meereskrokodilen vorzufinden.
Schutz vor Flüssigkeitsverlust
Da Osteoderme den Flüssigkeitstransport durch die Haut verringern können, wurde für die Hautverknöcherungen der Froschlurche in Erwägung gezogen, dass sie dem Schutz vor Austrocknung gedient haben könnten. Diese Effekte spielen jedoch allenfalls eine untergeordnete Rolle, da bei osteodermtragenden Froschlurchen im Widerspruch zum Schutz vor Flüssigkeitsverlust das Gewebe zwischen Osteodermen und Epidermis oftmals stark durchblutet ist und andere Schutzmechanismen wie die Absonderung von Hautwachs bestehen.
Calcium-Reservoir
Die Ausbildung von Osteodermen aus Hydroxylapatit bietet die Möglichkeit, zeitweiligen Calcium-Mangel durch den Abbau der Osteoderm-Knochensubstanz auszugleichen, ohne auf die Substanz anderer Skelettteile zurückgreifen zu müssen. Für den wasserlebenden Temnospondylen Gerrothorax sind trogartige Einsenkungen an der Oberfläche der Osteoderme zu verschiedenen Zeitpunkten des Osteoderm-Wachstums belegt, die auf wiederkehrende Phasen der Resorption von Knochensubstanz hindeuten. Dieser histologische Befund lässt sich mit dem Lebensraum von Gerrothorax in Verbindung bringen: Der Temnospondyle bewohnte brackische Küstengebiete, die regelmäßigen Schwankungen des Salzgehaltes unterworfen waren, was sich auf den Calcium-Bedarf der Tiere auswirkte.
Studien zur Knochenhistologie von Gliedmaßenknochen und Osteodermen des heutigen Mississippi-Alligators belegen, dass der Knochenumbau in den Osteodermen der Weibchen besonders ausgeprägt ist, was mit dem erhöhten Calcium-Bedarf für die Bildung der Eierschale in der Zeit vor der Eiablage in Zusammenhang steht. Zudem weicht die Stickstoff- und Kohlenstoffisotopenzusammensetzung der Osteoderm-Knochensubstanz deutlich von derjenigen der Gliedmaßenknochen und der Kohlenstoff- und Stickstoffquellen im Lebensraum der Alligatoren ab, was ebenfalls auf den häufigen Wechsel von Knochensubstanzeinlagerung und -auflösung hindeutet.
Auch für ausgewachsene Titanosaurier, deren Osteoderme keine wirksame Schutzpanzerung gebildet haben, wird eine Funktion der Osteoderme als Calcium-Reservoir erwogen.
Osteoderme als Forschungsgegenstand
Geschichte der Erforschung
Der russische Paläontologe Alexei Petrowitsch Bystrow nahm Mitte des 20. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle in der histologischen Untersuchung fossiler Skelette ein und befasste sich unter anderem mit Hautknochen früher Landwirbeltiere. Während vormals Osteoderme meist nur bei der Beschreibung einzelner Arten und kleinerer Gruppen Berücksichtigung fanden, folgten in den 1960er bis 1980er Jahren mehrere Forschungsarbeiten, die sich zusammenfassend den Osteodermen verschiedener heute lebender Großgruppen widmeten.
Studien zur Mikrostruktur von fossilen Knochen, unter anderem die Untersuchung von Knochen-Dünnschliffen mit dem Polarisationsmikroskop, wurden in den 1980er und 1990er Jahren besonders durch die Forschungstätigkeit der Arbeitsgruppe um Armand de Ricqlès wiederbelebt und gehörten in der Folgezeit zu den Standardmethoden der Paläobiologie, die vielfach auch auf Osteoderme angewandt wurden. Viele Studien der 2000er Jahre widmeten sich den Osteodermen einzelner fossiler und heute lebender Gruppen und versuchten ihre Entstehung und Veränderung im Verlauf der Individualentwicklung, ihren stammesgeschichtlichen Wandel und ihre Funktion(en) aufzuklären. Sie führten besonders in den letzten zehn Jahren zu einem vielfältigeren Gesamtbild über die Biologie der Osteoderme.
Systematik und Phylogenetik
In manchen Gruppen ausgestorbener Osteodermträger wie den Chroniosuchiern, Aetosauriern und schildtragenden Dinosauriern gehören Osteoderm-Reihen und -Panzer zu den Skelett-Elementen, die sich im Verlauf der Evolution besonders schnell verändern und in denen sich Teilgruppen und Arten am deutlichsten voneinander unterscheiden. Daher können neue Fossilfunde dieser Gruppen aufgrund von Merkmalen der äußeren Form, der Knochengewebestruktur und der Anordnung der Osteoderme systematisch eingeordnet werden. Zudem werden Osteoderm-Merkmale dieser Gruppen für die Stammesgeschichtsforschung (Phylogenetik), welche die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse und des Ablaufs der Stammesgeschichte zum Ziel hat, herangezogen. Besonders die stammesgeschichtlichen Analysen der Aetosaurier beruhen meist in der Mehrzahl auf Merkmalen des besonders vielgestaltigen Osteodermpanzers.
In anderen Gruppen sind Osteoderm-Merkmale nur nachrangig von Bedeutung für die Erkennung von Verwandtschaftsverhältnissen, jedoch deshalb stammesgeschichtlich bedeutsam, da ihr Gestaltwandel mit einem Wandel in der Funktion einhergeht – so bei Krokodilen, deren Osteodermsystem eng mit der Funktionsweise des Bewegungsapparates in Zusammenhang steht – und sich daher Faktoren, welche die Evolution dieser Gruppen steuern, erkennen lassen.
Entwicklungsbiologie
Neuere Studien zur Osteoderm-Histologie sowie zur Haut heute lebender Osteodermträger versuchen meist Aussagen zur Anlage, Entstehung und Veränderung der Osteoderme im Verlauf der Individualentwicklung zu treffen. Dies ist deshalb geboten, da sich einerseits ein evolutionärer Wandel im Erscheinungsbild und in der Funktion der Osteoderme oftmals in Form von Änderungen der Bildungs- und Wachstumsvorgänge manifestiert und sich andererseits ein gemeinsamer Ursprung verschiedener Hautverknöcherungstypen anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Entwicklungsvorgängen belegen beziehungsweise widerlegen lässt. So konnten zum Beispiel anhand entwicklungsbiologischer Befunde die Osteoderme bestimmter ausgestorbener Reptiliengruppen als Vorläuferstrukturen des Schildkrötenpanzers ausgeschlossen werden. Im Hinblick auf das Anliegen der Aufklärung von Evolutionsprozessen unter Zuhilfenahme entwicklungsbiologischer Methoden und Daten sind Osteoderme ein typischer Forschungsgegenstand der Evolutionären Entwicklungsbiologie.
Literaturhinweise
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Einzelnachweise
>
Anatomie (Wirbeltiere)
Anatomie der Haut
Knochen |
4869932 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kettenschleppschiff | Kettenschleppschiff | Kettenschleppschiffe (auch Kettenschlepper, Kettendampfer, Kettenschiffe oder französisch toueur genannt) waren in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf vielen europäischen Flüssen eingesetzte Schiffe, die sich entlang einer längs im Flussbett verlegten stählernen Kette vorwärts zogen und die Kettenschifffahrt begründeten. Die durch je eine Dampfmaschine angetriebenen Flussschiffe zogen mehrere Lastkähne hinter sich her.
Die Kette wurde am Bug des Schiffes über eine Verlängerung (Ausleger) aus dem Wasser gehoben und über das Deck entlang der Schiffsachse zum Kettenantrieb in der Mitte des Schiffes geführt. Die Kraftübertragung von der Dampfmaschine auf die Kette erfolgte meist über ein Trommelwindwerk. Von dort führte die Kette über das Deck zum Ausleger am Heck und wieder zurück in den Fluss. Durch die seitliche Beweglichkeit des Auslegers und die beiden sowohl vorne als auch hinten angebrachten Ruder war es möglich, die Kette auch bei Flussbiegungen wieder in der Flussmitte abzulegen.
Geschichte
Die Kettenschifffahrt revolutionierte zu Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Binnenschifffahrt und löste das bis dahin übliche Treideln ab. Der Kettenantrieb der Kettendampfer nutzte die noch geringe Leistung der damaligen Dampfmaschinen optimal aus. Außerdem waren die Schiffe besonders an die schwierigen Bedingungen der Flussläufe dieser Zeit mit starker Strömung und geringer Wassertiefe angepasst. Dadurch kam es zur Verbreitung der Kettenschifffahrt auf vielen Flüssen in Europa. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdrängten die immer leistungsfähigeren Radschleppdampfer die Kettendampfer, zumal die Kanalisierung der Flüsse die Vorteile der Raddampfer weiter verstärkte.
Erste Entwicklungen und technische Vorstufen der Kettenschiffe gab es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Frankreich (→ Hauptartikel: Kettenschifffahrt). Zum Prototyp aller späteren Kettendampfer auf Elbe, Neckar und Main wurde der französische Kettendampfer „La Ville de Sens“, der von dem deutschen Ingenieur M. Dietz um 1850 in Bordeaux gebaut wurde und auf der oberen Seine zwischen Paris und Montereau zum Einsatz kam. Sein technisch sehr weit entwickeltes Funktionsprinzip und die maschinellen Einrichtungen sind zum Vorbild aller späteren europäischen Kettendampfer geworden.
Form des Schiffsrumpfes
Das Deck der symmetrisch aufgebauten Schiffe reichte am Bug und Heck des Schiffes nahezu bis zur Wasseroberfläche hinunter. Diese Bauart verringerte die notwendige Kraft zum Heben der Schleppkette am Bug des Schiffes, dadurch verringerte sich auch der Tiefgang am Bug des Schiffes. Die größere Höhe in der Mitte des Schiffes erlaubte gleichzeitig eine leichtere Unterbringung der Dampfmaschine. Diese Form des Schiffsdecks ist typisch für alle später gebauten Kettenschleppschiffe.
Kettenschleppschiffe wurden bevorzugt auf Flüssen mit geringer Wassertiefe und starker Strömung eingesetzt. Daraus resultiert der flache, ebene Boden der Schiffe. Für besonders geringe Wassertiefe optimierte Kettenschiffe hatten im unbeladenen Zustand einen Tiefgang von nur 40 bis 50 Zentimetern. Voll mit Kohle beladen, erhöhte sich der Tiefgang auf etwa 70 bis 75 Zentimeter. Dieser geringe Tiefgang erlaubte den Schiffstransport auch in trockenen Sommermonaten, in denen der Wasserstand der Flüsse sehr niedrig sein konnte.
Kürzere Kettenschiffe (Länge 30 bis 40 m, Breite 5 bis 6 m) waren wendiger und hatten Vorteile auf engen Flüssen mit vielen Biegungen, zum Beispiel auf der Saale. Längere Kettenschiffe (Länge 45 bis 55 m, Breite 7 bis 10 m) waren auf Flüssen von Vorteil, die eine relativ große Wassertiefe besitzen wie zum Beispiel die Elbe. Je tiefer ein Gewässer ist, umso größer ist der Anteil der Kraft, die zum Aufheben der schweren Kette aufgewendet werden muss. Der Bug des Schiffes wird stärker nach unten gezogen. Bei größeren Kettenschiffen ist dieser Effekt geringer.
Der Schiffsrumpf selbst war aus Eisen oder Holz gefertigt und konnte leichten Grundberührungen widerstehen. Kam es trotzdem zu einem Leck, so war der Rumpf im Inneren zusätzlich durch mehrere wasserdichte Schottwände in abgeschlossene Bereiche abgeteilt, die ein Sinken des Schiffes verhindern. Unter Deck befanden sich neben der Dampfmaschine und den Kohlenbunkern auch die Mannschaftsräume der Besatzung.
Steuerung und Navigation
Bei der Kettenschifffahrt lag die Kette über weite Strecken von mehreren hundert Kilometern nur ‚lose‘ im Flussbett. Allein das Eigengewicht der massiven Kette von etwa 15 Kilogramm pro Meter oder 15 Tonnen pro Kilometer und das natürliche Verhaken mit Sand und Steinen im Flussbett reichte als Gegenlager aus, damit sich der Kettenschlepper mit den angehängten Lastkähnen an der Kette entlangziehen konnte. Das Wasser trug das Gewicht der Schiffe, während die Kette nur die Vortriebskraft aufnehmen musste. Eine Verankerung der Kette erfolgte nur an den beiden äußersten Enden der Strecke, damit die Schiffe auch bis dorthin fahren konnten.
Ein Problem stellte eher die seitliche Verlegung der Kette dar. An Flussbiegungen besteht die Tendenz, die gekrümmt verlegte Kette immer weiter „gerade“ zu ziehen und damit weiter in Richtung Innenufer zu verschieben. Um dieses zu verhindern, waren die Kettenschiffe vorne und hinten mit großen, leistungsfähigen Steuerrudern versehen. Diese Ruder hatten zum Teil eine Länge von über vier Metern und wurden mit Hilfe an Deck befindlicher Steuerräder bedient.
An den Enden des Schiffes lief die Kette zur weiteren Führung über Ausleger, die weit über das Schiffsende hinausragten. Dieses verhinderte eine Kollision der Kette mit den langen Rudern. Die Ausleger waren beweglich gelagert und konnten über eine Handkurbel seitwärts geschwenkt werden. Dadurch konnte das Schiff schräg zur Kettenrichtung ausgerichtet werden. Auch dieses verbesserte die Möglichkeit, die Kette wieder in der Mitte des Flusses abzulegen.
Die Ausleger waren außerdem mit einer Kettenfangeinrichtung ausgerüstet, um bei einem Kettenbruch ein Ablaufen der Schleppkette zu verhindern. Konnte der Sperrhaken nicht schnell genug in die Kette eingehakt werden, lief die Kette ab und verschwand im Fluss. Sie musste dann mühselig mit einem Suchanker lokalisiert und geborgen werden.
Kettenantrieb
Bei den Kettenschleppern der ersten Generation lief die Kette über an der Seite des Schiffes angebrachte Kettentrommeln. Bei sehr starker Strömung oder bei Problemen beim Anheben der Kette wegen Versandung oder durch Hindernisse am Flussgrund wie großen Steinen, konnte das Schiff deutlich schwanken und Schlagseite bekommen. Bei späteren Kettenschleppern war der Kettenantrieb daher immer in der Schiffsmitte angeordnet.
Trommelwindwerk
Die älteren Kettenschleppschiffe auf der Elbe, die Kettendampfer auf dem Neckar und die drei zur hessischen Mainkette AG gehörenden Kettenschleppschiffe auf dem Main nutzten ein Trommelwindwerk zur Kraftübertragung. Um die notwendige Haftung der Kette auf den Antriebstrommeln zu gewährleisten, war die Kette in der Mitte des Schiffes mehrfach um zwei hintereinander angeordnete Zugtrommeln gewickelt. Die Kette lief in vier bzw. fünf Rillen und wurde abwechselnd über die vordere und die hintere Zugrolle geführt.
Nachteil dieser Methode waren zahlreiche Kettbrüche. Diese entstanden nicht etwa durch eine Überlast an der Wegkette durch die Größe der Schleppzüge. Diesbezügliche Berechnungen ergaben, dass selbst bei einer Abnutzung der Kettenglieder auf die Hälfte des ursprünglichen Querschnitts diese Kraft nicht zu einem Bruch geführt hätte.
Vielmehr nutzte sich die vordere Zugtrommel durch Reibung jeweils stärker ab. Sobald aber die Durchmesser der beiden Trommeln ungleich waren, wickelte sich auf der hinteren Trommel mehr Kette auf, als bei der vorderen abgewickelt werden konnte. Hierdurch entstanden auf den Trommeln und zwischen ihnen Spannungen, die so groß werden konnten, dass die Kettenglieder dieser Zugbelastung nicht mehr standhalten konnten und die Bruchgrenze überschritten wurde.
Besonders problematisch wurde dieser Effekt, wenn sich die Kette in sich verdreht hatte, d. h. zum Kanten kam oder sich sogar ein Knoten gebildet hatte. Dadurch vergrößerte sich der Umwicklungsradius um bis zu 25 %, wobei schon bei 5 % die Elastizitätsgrenze der Kette erreicht war.
Die Übertragung der Schleppkraft von den Trommeln auf die Kette erfolgte nur durch Reibung. Bei Reifbildung oder Eis konnte die Kette durchrutschen. Hier behalf man sich mit heißem Wasser, das über die Trommeln gegossen wurde.
Ein weiteres Problem der Trommelwindwerke war die relativ große Kettenlänge von 30 bis 40 Meter, die durch die mehrfache Umwicklung der beiden Trommeln notwendig war. Wurde der Kettenschlepper nur für die Bergfahrt genutzt, so konnte diese Kettenmenge nicht einfach abgeworfen werden, da sonst nach einer gewissen Betriebszeit die gesamte Kette oberhalb der eigentlichen Betriebsstrecke aufgehäuft läge und am Anfang fehlen würde. Diesen Übelstand versuchte man dadurch zu begegnen, dass der Kettenschlepper bei der Talfahrt immer ein entsprechendes Kettenstück talwärts mitnahm und am Anfang der Kette wieder einfügte. Dadurch ergab sich ein kontinuierliches Wandern der Kette, das eine Kontrolle der Abnutzung in besonders gefährdeten Flussabschnitten wie Stromschnellen schwierig machte. Insbesondere wanderten bewusst eingesetzte, verstärkte Kettenabschnitte immer weiter bergwärts. Auch ein Abwerfen der Kette bei der Begegnung zweier an der Kette fahrender Kettenschiffe war durch das mehrfache Umschlingen der beiden Trommeln relativ schwierig.
Viele der Kettendampfer ohne eigenen Zusatzantrieb besaßen für die Berg- und die Talfahrt eine unterschiedliche Übersetzung. Für die Bergfahrt war diese auf hohe Zugkraft ausgelegt, während bei der Talfahrt eine höhere Geschwindigkeit erzielt werden konnte.
Kettengreifrad
Das Kettengreifrad (auch Kettengreifrad nach Bellingrath genannt) wurde im Mai 1892 von Ewald Bellingrath, dem Generaldirektor der Deutschen Elbschifffahrtsgesellschaft „Kette“ in Übigau konstruiert, um das Problem der dauernden Kettenbrüche zu vermeiden. Dieses Prinzip fand Verwendung bei verschiedenen Kettenschiffen auf der Elbe, sowie bei den insgesamt acht Kettenschiffen der Königlich Bayerischen Kettenschifffahrtsgesellschaft auf dem Main.
Die Idee des Mechanismus war, zum eigentlichen Antrieb nur eine Trommel beziehungsweise ein Rad zu verwenden und die Kette nicht mehrfach herumzuwickeln, sondern nur teilweise zu umschlingen (Abbildung 1). Die Konstruktion sollte die Kette sicher erfassen, ohne dass diese anfing zu rutschen. Dieses sollte auch bei wechselnder Stärke der Kette sowie unterschiedlicher Länge der einzelnen Kettenglieder und unabhängig von deren Lage (z. B. schräger oder hochkantiger Lagerung) funktionieren. Selbst gegenüber einer vorkommenden Knotenbildung in der Kette sollte die Konstruktion ohne Fehler reagieren.
Die Kette war im Antriebsbereich über viele seitliche Stifte (Greifvorrichtung) fixiert, die als bewegliche Teile links und rechts in die Kette einhakten (Abbildung 2). Kritiker befürchteten zunächst, dass die vielen bewegten Einzelteile der „Greifvorrichtung“ rasch abgenutzt werden könnten. Diese Befürchtung konnte jedoch in einem dreijährigen Versuch (angefangen im Mai 1892) widerlegt werden. Durch die Verwendung der „Greifvorrichtung“ konnte im Gegenteil die Kraftübertragung verbessert werden, so dass mehr Schiffe in einem Schleppverband transportiert werden konnten. Als Konsequenz wurden sämtliche Neubauten von Kettenschleppschiffen der Gesellschaft Kette in Übigau mit Greifrädern ausgestattet.
Zumindest bei den Kettenschiffen auf dem Main wurden die Kettengreifräder ab 1924 wieder durch Trommelwindwerke ersetzt, da erstere zu störanfällig waren.
Elektromagnetische Trommel
Ein anderer Ansatz, das Ausmaß an Kettenbrüchen und das Wandern der Kette zu reduzieren, stammt aus Frankreich und wurde ab November 1892 auf der unteren Seine bei Paris eingesetzt. Der Erfinder de Bovet entwickelte eine Technik, um die Reibung der Kette auf der Antriebstrommel durch magnetische Kräfte zu erhöhen. Auch hier liegt die Kette nur mit einer dreiviertel Umwindung an der Zugrolle an. Die Fixierung der Kette auf der Zugrolle erfolgte durch magnetische Kräfte, hervorgerufen durch Elektromagnete, die in der Zugrolle eingebaut waren. Den dafür notwendigen Strom generierte ein durch einen eigenen Motor angetriebener ca. 3-PS-Dynamo.
Die Magnetkraft reichte trotz geringer Umschlingung der Zugrolle bei einem Versuch mit einer alten, 9 kg pro Meter schweren Kette aus, um eine Haltekraft von rund 6000 kg zu erzeugen.
Zusätzliche Antriebe
Neben dem Kettenantrieb besaßen die meisten der später gebauten Kettenschiffe einen zusätzlichen Antrieb. Dieser erlaubte die Fortbewegung der Schiffe auch ohne Kette, was vor allem während der Talfahrt genutzt wurde. Die talwärtige Fahrzeit reduzierte sich durch höhere Fahrgeschwindigkeiten und den Wegfall der zeitraubenden und komplizierten Begegnung zwischen bergwärts und talwärts an der gleichen Kette fahrenden Schiffen. Zusätzlich wurde die Kette geschont.
Wasserturbinen
Ab 1892 wurden bei Kettenschiffen auf der Elbe Wasserturbinen nach Zeuner eingesetzt. Sie sind ein Vorläufer des heutigen Wasserstrahlantriebs. Neben der schnelleren Talfahrt ermöglichte der zusätzliche Antrieb aber auch Richtungskorrekturen während der Fahrt an der Kette und erleichterte Wendemanöver. Kettenschiffe mit Wasserturbinen waren bei einigen Kettenschiffen der Elbe und bei den bayerischen Kettenschiffen auf dem Main im Einsatz.
Das Wasser wird über zwei rechteckige Einlassöffnungen in der Seitenwand des Kettendampfers angesaugt. Es strömt dann durch die im Inneren des Schiffrumpfes befindliche Turbine. Die Turbine beschleunigt das Wasser und drückt es durch die nach hinten weisenden Wasseraustrittsöffnungen in der seitlichen Schiffswand. Das ausströmende Wasser treibt das Schiff vorwärts (oberes Bild der Seitenansicht). Zum Wechseln der Fahrtrichtung wird der Umlenkbogen (Rückstrahler) eingeschwenkt und so das Wasser in die entgegengesetzte Richtung umgeleitet (unteres Bild der Seitenansicht). Die Pumprichtung der Turbine bleibt hingegen immer gleich.
Jeder Kettendampfer war mit zwei dieser Wasserturbinen ausgestattet, die sich an Backbord- und Steuerbordseite befanden. Bei einem Wendemanöver strahlte das Wasser auf einer Seite vorwärts und auf der gegenüber liegenden Schiffsseite rückwärts und sorgte so für die Drehung des Schiffes.
Schaufelrad- und Schraubenantrieb
Aufgrund der starken Strömung der Donau konnten hier die Kettenschiffe talwärts nicht an der Kette fahren. Sollte der Kettenschlepper gezwungen werden plötzlich zu halten (zum Beispiel durch einen Kettenbruch), so war die Gefahr groß, dass hintere Schiffe auf die vorderen auffuhren und es so zu einer Havarie kam. Sie hatten daher als zusätzlichen Antrieb für die Talfahrt große seitliche Schaufelräder, die von Dampfmaschinen mit einer Leistung von bis zu 300–400 PS angetrieben wurden.
Als dritte Art des Zusatzantriebs ist der Schraubenantrieb zu nennen. Diese Art des Zusatzantriebs wurde zum Teil auf der Donau zur Talfahrt eingesetzt, um auch in dieser Richtung den Schleppbetrieb zu ermöglichen.
Literatur
Sigbert Zesewitz, Helmut Düntzsch, Theodor Grötschel: Kettenschiffahrt. VEB Verlag Technik, Berlin 1987, ISBN 3-341-00282-0.
Kettenschleppschiffahrt. In: Otto Lueger: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften. Band 5, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Deutsche Verlagsanstalt: Stuttgart und Leipzig 1907, S. 460–462 (zeno.org).
Georg Schanz: „Studien über die bay. Wasserstraßen Band 1, Die Kettenschleppschiffahrt auf dem Main“, C.C. Buchner Verlag, Bamberg 1893 (Digitalisierter Text der Bibliothek des Seminars für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Köln).
Theodor Grötschel und Helmut Düntzsch: Betriebsmittelverzeichnis der KETTE – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft. In: Ewald Bellingrath: Ein Leben für die Schiffahrt, Schriften des Vereins zur Förderung des Lauenburger Elbschiffahrtsmuseums e. V., Band 4, Lauenburg 2003.
Carl Victor Suppán: Wasserstrassen und Binnenschiffahrt. A. Troschel: Berlin-Grunewald 1902, Abschnitt: Dampfschiffahrt. (Ketten- und Seiltauer. S. 261/262, Tauereibetrieb. S. 262–265, Auf- und Abnehmen der Kette. S. 265, Kettenrolle mit Fingerlingen. S. 266, Elektrische Kettenrolle. S. 266, Vor- und Nachtheile der Tauerei. S. 266–269, Versuche mittels endloser Kette. S. 269/270; ).
Weblinks
Video einer Fahrt mit einem elektrischen Kettenschlepper durch den Tunnel von Riqueval, abgerufen am 15. November 2010
Forum mit vielen alten Aufnahmen von Kettenschleppern aus Frankreich (französisch), abgerufen am 12. Juli 2013
Einzelnachweise
Kettenschifffahrt
Binnenschiffstyp |
5223253 | https://de.wikipedia.org/wiki/Francis%20Quarles | Francis Quarles | Francis Quarles (* 8. Mai 1592 in Romford, England; † 8. September 1644 vermutlich in London) war ein englischer Dichter und Emblematiker. Gemessen an der Auflagenzahl seiner Werke, besonders der beiden beliebtesten, des Gedichtbandes Emblemes und der Aphorismensammlung Enchyridion, gilt er seinem Biographen Karl Josef Höltgen zufolge als der „populärste englische Dichter des 17. Jahrhunderts“. Die Zeit seines Wirkens fällt größtenteils in die politisch und religiös unruhige Regierungszeit Karls I., mit dessen Politik und den daraus erwachsenden gesellschaftlichen Konsequenzen Quarles sich in seinen Werken kritisch auseinandersetzte.
Sein Werk umfasst verschiedene literarische Gattungen, sowohl Dichtung als auch Prosa. Inhaltlich beschäftigte Quarles sich vor allem mit religiösen Themen. Bereits in seinen frühen religiösen Dichtungen verwendete er an die antike Mythologie angelehnte Allegorien, um seine theologischen Anliegen auszudrücken. In seinen späteren Werken stellte er politische, gesellschaftliche und religiöse Missstände seiner Zeit oft satirisch dar und rief damit sowohl zur Hinwendung zu Gott als auch zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft auf. Zwar verteidigte er das Gottesgnadentum des Königs und stand somit den Royalisten politisch nahe, trat aber gleichzeitig für die religiösen und sozialen Anliegen der Puritaner ein. Seine Schriften waren daher bei Puritanern und Anhängern der anglikanischen Staatskirche gleichermaßen beliebt.
Als „Autor, der gerade die populären Stiltendenzen seiner Zeit in besonders charakteristischer Weise verkörperte“, galt er im Klassizismus und in der aufkommenden Aufklärung als „altmodischer Puritaner“. Für Alexander Pope war er gar der „Prototyp des schlechten Poeten“. Zwar wurden einige seiner Schriften, besonders die als Erbauungsbuch beliebten Emblemes, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein vielfach nachgedruckt und viel gelesen, mit der Ausbreitung des aufgeklärten Gedankenguts in großen Teilen der Gesellschaft und dem sich wandelnden Geschmack gerieten Quarles und seine Werke jedoch in Vergessenheit. Nur einzelne Gedichte wurden in Anthologien aufgenommen.
Leben
Familie
Quarles stammte aus einer dem niedrigen Adel zugehörigen Familie. Er wurde als dritter Sohn von insgesamt acht Kindern des Magisters und königlichen Marinebeamten James Quarles († 1599) und dessen Ehefrau Joan, geborene Dalton († 1606), in Romford (heute London Borough of Havering) in der Grafschaft Essex geboren und am 8. Mai 1592 getauft. Seine Mutter besaß ein Gut in Hertfordshire. Sie war eine überzeugte Puritanerin, die 1589 mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, weil sie eine Dienerin ohne die vorgeschriebenen Zeremonien der anglikanischen Staatskirche hatte bestatten lassen.
Sein ältester Bruder Robert (1580–1639) erbte den Herrensitz der Mutter, war als Friedensrichter und Parlamentsabgeordneter tätig und wurde um 1607 von König Jakob I. zum Ritter geschlagen. Seine Schwester Priscilla heiratete 1605 Baronet John Dryden, den Onkel des gleichnamigen Dichters, starb aber nicht lange danach. Dryden war ab 1640 Mitglied im Langen Parlament, ebenso wie der Sohn von Quarles’ Patenonkel Sir Francis Barrington, Thomas Barrington, mit dem Quarles zeitlebens ein gutes Verhältnis pflegte.
Jugend und erste Schaffensjahre
Ausgestattet mit Legaten aus dem Erbe seiner Eltern studierte der früh verwaiste Francis Quarles von 1605 bis zu seiner Graduierung im Januar 1609 zusammen mit seinem älteren Bruder James am Christ’s College der Universität Cambridge, dessen Lehre von Puritanismus und Ramismus geprägt war. Am 25. Juni 1610 trat er, wiederum zusammen mit James, in Lincoln’s Inn in London ein, wo er zusammen mit anderen Gentlemen eine juristische Ausbildung genoss, vor allem aber kulturelle und literarische Anregungen erhielt. Nach der Hochzeit der Prinzessin Elisabeth Stuart mit Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz begleitete er die junge Ehefrau im Frühjahr 1613 im Gefolge des königlichen Gesandten Thomas Howard, 21. Earl of Arundel, nach Heidelberg. Während Arundel eine Reise durch Europa anschloss, kehrte Quarles zusammen mit Robert Sidney und anderen Adligen im Sommer 1613 zurück. Sidney widmete er 1620 sein erstes Buch A Feast for Wormes. Möglicherweise war er es, der ihn ermutigte eine literarische Laufbahn einzuschlagen. Dafür spricht auch, dass Quarles für seine Versromanze Argalus and Parthenia als Vorbild Arcadia von Philip Sidney, dem 1586 jung verstorbenen Bruder des Earls von Leicester, wählte.
Wie Quarles die folgenden Jahre verbrachte, ist nicht bekannt. Ob er die 1615 erteilte Erlaubnis zu einer weiteren Auslandsreise nutzte, ist unsicher, denn sein Werk erlaubt keine Rückschlüsse auf Reiseerfahrungen.
Nachdem Quarles 1617 ein Haus im Londoner Kirchspiel St. Vedast gekauft hatte, heiratete er, inzwischen im Range eines Esquire, am 28. Mai 1618 in St. Andrews in Holborn die noch nicht ganz 17-jährige Ursula Woodgate († 1652). Ab etwa 1621 lebte das Ehepaar in Stapleford, Hertfordshire, wo zwischen 1622 und 1625 drei Kinder getauft wurden. Insgesamt hatten sie achtzehn Kinder, von denen mindestens die Hälfte in der Kindheit starb. Anstatt entsprechend seiner juristischen Ausbildung einem Beruf nachzugehen, lebte Francis Quarles vom Erbe seiner Eltern und den Erträgen seines Landbesitzes und widmete sein Leben seiner Frömmigkeit und der Bildung. In den Jahren nach der Eheschließung veröffentlichte er bis 1626 seine ersten fünf religiösen Dichtungen, Nacherzählungen biblischer Geschichten.
Am 22. April 1626 brachte er zusammen mit drei weiteren Geschäftsleuten, darunter William Luckyn (1594–1658/60), wie er Mitglied von Lincoln’s Inn, im Oberhaus einen Gesetzentwurf für ein Patent für eine neue Methode der Salpetergewinnung ein, mit dem der Aufbau gewinnträchtiger Salpeterfabriken ermöglicht werden sollte. Zwar scheiterte dieses Vorhaben, doch schloss Quarles etwa zur selben Zeit Bekanntschaft mit James Ussher, dem gelehrten Primas der protestantischen Kirche von Irland. Er trat als Sekretär in dessen Dienste und begleitete ihn mit seiner Familie nach Irland. Dabei profitierte er von Usshers umfassender Gelehrsamkeit und übernahm von ihm auch die Praxis der geistlichen Meditation, die für seine späteren Werke entscheidend wurde. In Dublin erschien 1629 die in Verse gebrachte Romanze Argalus and Parthenia, die im Gewande einer abenteuerlichen Geschichte den Sieg der Liebe und Treue über den Tod feierte. Gewidmet war das Werk Henry Rich, 1. Earl of Holland. Die von dem einflussreichen königlichen Günstling erhoffte Unterstützung blieb jedoch aus.
Erfolge und politische Wirren
Um 1630 kehrte Quarles mit seiner Familie nach England zurück und lebte zunächst an wechselnden Orten. Zwei 1630 und 1633 geborene Kinder sind in St Dunstan-in-the-West in London im Taufregister eingetragen. Offensichtlich litt Quarles unter finanziellen Schwierigkeiten, wie eine Petition an den König 1631 erahnen lässt. Diese und die Widmung der Divine Poems, einer Gesamtausgabe seiner geistlichen Dichtungen, an den König brachten ihm möglicherweise die Anwartschaft auf Einnahmen auf den Tabakimport nach Irland ein, wobei unklar ist, ob er die Pfründe wirklich bekam.
Spätestens 1633 ließ er sich mit seiner Familie in Roxwell in Essex nieder als Nachbar oder möglicherweise Mieter im Hause seines Geschäftsfreundes Baronet William Luckyn, der 1637/38 Sheriff von Essex war. Dort freundete er sich mit den Dichtern Phineas Fletcher und Edward Benlowes (auch Bendlowes, 1603–1676) an. Im Register der Kirche von Roxwell sind zwischen 1633 und 1638 die Taufe von vier und die Beerdigung von zwei Kindern verzeichnet.
1629 hatte König Karl I. das Parlament aufgelöst und regierte als absoluter Herrscher mit Unterstützung seiner Berater Thomas Wentworth, 1. Earl of Strafford, und William Laud, dem Bischof von London. Laud versuchte, in der anglikanischen Kirche eine strenge Hierarchie durchzusetzen und eine dem Katholizismus angenäherte einheitliche Liturgie einzuführen. Erstmals seit der Reformation wurden in England wieder Kirchen gebaut und bestehende Kirchen mit neuer Ausstattung versehen. Sowohl die einflussreichen Puritaner als auch die presbyterianische Kirche von Schottland lehnten Lauds Kirchenpolitik ab. Auch Quarles äußerte in seinen Divine Fancies von 1632 Kritik daran. Mit diesem Werk machte er sich einen Namen als Epigramm-Dichter. Offener gegen die Missstände in Land und Kirche sprach er sich in den um diese Zeit verfassten zehn Eklogen der Shepheards Oracles aus, in denen er die Schäferdichtung allegorisch und satirisch für politisch-kirchliche Zeitkritik verwendete. Die Shepheards Oracles wurden jedoch erst 1646, zwei Jahre nach seinem Tod, von dem Verleger John Marriot herausgegeben. Darin befürwortete Quarles ganz im Sinne von Ussher eine Kirchenreform, die einen Mittelweg zwischen hochkirchlichem Absolutismus und radikal sozialrevolutionärem Puritanismus nach frühchristlichem Vorbild darstellt.
In Roxwell verfasste Quarles mit Emblemes das Werk, das seinen dauernden Ruhm begründete. Das Buch erschien 1635 in erster Auflage. Den großen Erfolg dieses mit emblematischen Bildern versehenen Gedichtbandes setzte er 1638 mit Hieroglyphics of the Life of Man fort. Dieser schmale Band war „Mary, Countess of Dorset“ (1585–1645) gewidmet, der Ehefrau von Edward Sackville, 4. Earl of Dorset, Kammerherr der Königin Henrietta Maria, und Gouvernante der königlichen Kinder. In seiner Widmung dankte Quarles ihr für ihre großherzige Unterstützung.
Wirtschaftliche Probleme
Zwischen der Beerdigung des dreijährigen Sohns Edward in Roxwell am 26. Mai 1638 und der Taufe eines weiteren Sohns in Terling am 13. Januar 1640 verließ er mit seiner Familie Roxwell und zog nach Terling bei Chelmsford in Essex, wo die beiden jüngsten Kinder getauft wurden. Die dortige Gemeinde war auch nach Vertreibung zweier Pastoren nach Neuengland durch Lauds Kirchenpolitik dem Puritanismus treu geblieben, und der neue Pastor John Stalham entwickelte sich unter ihrem Einfluss zum Anhänger Oliver Cromwells. In der Umgebung führte der Zorn über die Auflösung des Kurzen Parlaments 1640 zur Zerstörung von als „papistisch“ angesehenen Büchern, darunter auch das Book of Common Prayer, von liturgischen Gewändern und den von Laud eingeführten Kircheneinbauten wie etwa Altarschranken. Quarles teilte zwar die Frömmigkeit der Puritaner, lehnte aber jede Auflehnung gegen die Obrigkeit ab. In Terling verfasste er 1639 die Aphorismensammlung Enchyridion, die er Usshers Tochter zur Hochzeit widmete. Auch dieses Werk erfreute sich großer Beliebtheit sowohl bei Puritanern als auch bei Royalisten.
Mit dem Druck einer Sammelausgabe seiner beliebtesten Schriften Emblemes und Hieroglyphikes hatte Quarles sich finanziell übernommen. Zudem zahlte sein Schwiegersohn Euseby Marbury ein Darlehen nicht zurück. Trotz einer kleinen Pfründe als Londoner Stadtchronist, die der König ihm 1639 verliehen hatte, war Quarles hoch verschuldet. Vergeblich versuchte er 1641 die Rechte an Emblemes und Hieroglyphikes zurückzuerhalten, nachdem seine Gläubiger die Druckplatten als Sicherheit für eine unbezahlte Schuld von 30 Pfund, was in etwa seinem jährlichen Einkommen als Stadtchronist entsprach, einbehalten hatten. Quarles verlor den Prozess. Die Verleger John und Richard Marriot konnten die Werke nun zu eigenem Vorteil herausbringen und warfen anschließend mit neuen Druckplatten eine ganze neue Auflage von dreitausend Exemplaren auf den Markt.
Wohl auch aus finanziellen Gründen verfasste er um 1640 sein einziges dramatisches Werk, die Komödie The Virgin Widow, in der er im Rahmen einer etwas verwirrenden höfischen Handlung für die Einheit von Kirche, Parlament und König warb, die durch die Vorgänge im Zusammenhang mit den Bischofskriegen in Frage gestellt wurde. Das Schauspiel wurde vermutlich privat im Hause der Quarles persönlich nahestehenden, mit Cromwell verwandten, puritanischen Familie Barrington in Hatfield Broad Oak aufgeführt, denn öffentliche Theateraufführungen waren bei den Puritanern verpönt und ab 1642 auch verboten. Weitere Aufführungen sind nicht dokumentiert.
Bürgerkrieg und Tod
1642 brach der Bürgerkrieg aus. Quarles, dessen Schriften sowohl bei Puritanern und Independents als auch bei Anhängern der episkopalen anglikanischen Kirche beliebt waren, stand nun als Freund führender Puritaner wie Thomas Barrington und gleichzeitig Verteidiger der gottgegebenen Stellung des Königs zwischen den Fronten. Dabei sprach er sich jedoch nicht für die Person und politischen Handlungen Karls I. aus, sondern verteidigte allein die Ordnungsfunktion der Monarchie gegen den Anarchismus. Mit dem zweiten, politischen Teil des Enchyridion (1641) und Observations concerning Princes and States upon Peace and Warre (1642) erteilte er dem König in allgemeine Weisheiten verpackt Ratschläge.
Aus dem puritanischen Terling begab er sich ins königliche Hauptquartier Oxford, wo er die drei 1644 publizierten Schriften The Loyall Convert, The Whipper Whipt und The New Distemper verfasste. Quarles stellte sich eindeutig auf die Seite des Königs, dessen gottgegebene Macht er biblisch begründete. Anders als die meisten anderen Verfasser royalistischer Propaganda diffamierte aber er nicht die Gegner, sondern kritisierte auch den König und dessen Ratgeber und warb um Verständigung der verfeindeten Parteien. Quarles veröffentlichte seine politischen Werke anonym und bezeichnete sich im Vorwort von The Loyall Convert, das am 1. April 1644 und damit als einzige der drei Streitschriften vor dem Tod des Verfassers im Druck erschien, als „no Papist, no Sectarie, but a true Lover of Reformation and Peace“. Trotz aller Bemühungen Quarles’, die Gemeinsamkeiten von Puritanern und Anglikanern herauszustellen, unterstellte eine puritanische Gegenschrift dem Verfasser gefährliche jesuitische Tendenzen und hielt ihn für die Inhaber einer kirchlichen Pfründe, dem es nur um den Erhalt seiner sicheren Einkünfte ginge. Die drei politischen Schriften wurden nach Quarles’ Tod als Sammelband unter dem Titel The Profest Royalist: His Quarrell with the Times herausgegeben.
Wohl im Mai 1644 verließ Quarles das belagerte Oxford und lebte entweder in Terling oder in London. Im Sommer desselben Jahres wurde er durch eine anonyme, vermutlich vom Terlinger Pastor Stalham verfasste Petition des Papismus verdächtigt. Gegen den fanatischen Puritaner Stalham und dessen Anhänger richtete sich The New Distemper, das aber erst nach Quarles’ Tod veröffentlicht wurde. Das Lange Parlament, zu dessen Mitgliedern auch Freunde und Verwandte von Quarles gehörten, ordnete die Durchsuchung seines Hauses an. Verdächtige Schriften wurden beschlagnahmt und verbrannt. Nach Aussagen seiner Witwe verursachte der Schock über diese Anklage seinen frühen Tod. In seiner letzten Krankheit lehnte er den Beistand eines katholischen Arztes ab, um jeden Verdacht von sich zu weisen. Drei Tage später wurde er auf dem Friedhof der St.-Olave-Church in London begraben.
Schicksal der Familie
Ursula Quarles, die mit neun Kindern mittellos zurückblieb, prozessierte vergeblich um die Rechte an den bereits veröffentlichten Schriften und den beschlagnahmten Manuskripten ihres Mannes. Der postumen Ausgabe von Solomon’s Recantation gab der Verleger Richard Royston eine von ihr verfasste Short Relation Of the Life and Death of Mr. Francis Quarles bei, in der sie auch darstellte, wie sein Glaube an Gott und seine Bemühungen um die Einheit der Church of England für ihn immer an erster Stelle gestanden hätten, noch vor der Liebe zu König und Vaterland und der erst an letzter Stelle stehenden Familie, die er durch die nachgelassenen Manuskripte hatte versorgen wollen. Die Einnahmen der aus den sich weiterhin sehr gut verkaufenden großen Auflagen behielten dann jedoch allein die Verleger. Ursula Quarles appellierte deshalb 1645 an den Court. Ihrer Petition ist eine Liste der Werke beigegeben, die ihr Mann zum Zeitpunkt seines Todes im Haus hatte. Sie starb Mitte November 1652 in Southwark und wurde am 22. November 1652 auf dem Friedhof der St.-Saviour-Kirche beigesetzt.
Nachkommen
Der 1625 geborene Sohn John, der seit 1643 in Oxford studierte, kämpfte 1646 bei der Belagerung der Stadt, in die König Karl II. sich zurückgezogen hatte, auf der Seite der Royalisten. Nach deren Niederlage wurde er aus England verbannt und ging nach Flandern, wo er 1648 sein erstes Buch Fons Lachrymarum, or, A fountain of tears from whence doth flow Englands complaint, Jeremiah’s lamentations paraphras’d, with divine meditations (Fons Lachrymarum oder Eine Quelle der Tränen, von der Englands Klage fließt, Jeremias' Klage paraphrasiert, mit göttlichen Meditationen) veröffentlichte. Im folgenden Jahr verfasste er einen Klagegesang auf den hingerichteten König. Zu seinen weiteren Werken gehörte eine Fortsetzung von Argalus and Parthenia und eine Totenklage auf Ussher. An den Erfolg seines Vaters konnte er nicht anknüpfen. Ab etwa 1650 lebte er, anfangs zusammen mit seiner Mutter, in Southwark, in dessen Kirche er in den 1650er Jahren mehrere Kinder taufen ließ, und starb 1665 an der Pest.
Die vermutlich älteste Tochter Frances (1619–1650) heiratete 1636 den Magister und Rektor Euseby (Eusebius) Marbury (* 1603), dessen nicht zurückgezahltes Darlehen Quarles in große Schwierigkeiten brachte. Sie lebte auch nach der Hochzeit bei oder in der Nähe ihrer Eltern, denn mehrere ihrer Kinder sind in den Kirchenbüchern in Roxwell bzw. Terling verzeichnet. Joanna (* 1633) schloss sich vermutlich nach dem Tod der Mutter auswandernden Puritanern an und heiratete 1654 in Boston. Über das Schicksal der übrigen Kinder ist nichts bekannt.
Werk
Quarles’ Werk umfasst sowohl inhaltlich als auch stilistisch ein weites Feld. Nachdem seine ersten Werke in den 1620er Jahren religiöse Dichtungen fast epischer Breite waren, wandte er sich zu Beginn der 1630er Jahre kürzeren Formen zu. Ab 1640 erstanden vor allem Prosawerke. Zwar behandelt der Großteil seiner Werke religiöse Themen, doch verfasste er auch mehrere Elegien über Verstorbene, darunter seinen Bruder Robert Quarles und seinen Taufpaten Francis Barrington, und am Ende seines Lebens mehrere politische Pamphlete. Aufgrund seines frühen Todes erschienen mehrere seiner Werke erst postum. Ein Teil seines Werkes, zumindest die bei der Hausdurchsuchung 1644 verbrannten Manuskripte und die von seiner Witwe genannte Londoner Chronik, wird als verloren anzusehen sein. Eine handschriftliche Abschrift einer nicht publizierten Nachdichtung der ersten acht Psalmen fand Höltgen 1992 in der Nottingham University Library, wohin sie aus der Bibliothek der Welbeck Abbey gelangt war, die zu Quarles’ Lebzeiten William Cavendish, 1. Duke of Newcastle, gehört hatte. Dabei handelt es sich möglicherweise um die Psalmendichtung, die Ursula Quarles in ihrer Petition von 1645 unter den beim Tod ihres Mannes vorliegenden Manuskripten aufzählte, oder zumindest um einen Teil davon.
Häufig verwendete Quarles die eigentlich dramatischen Stilelemente Monolog und Dialog auch in Werken anderer Stilgattungen. So diskutiert in Emblemes Eva im Gedicht zum ersten Emblem mit der Schlange, die Seele führt Selbstgespräche, und Whipper Whipt, eine der politischen Schriften seines letzten Lebensjahres, ist im Stil eines sokratischen Gesprächs gehalten.
Auch wenn sich bei Quarles Themen und Stilmittel der zu seiner Zeit beliebten Metaphysischen Dichtung des englischen Barocks finden, ist er nicht eindeutig den sogenannten metaphysical poets zuzurechnen, da bei ihm die Moral einen deutlich höheren Stellenwert einnimmt als das innerliche, mystische Element. Mit den cavalier poets wie Edmund Waller verbindet ihn vor allem die königstreue Haltung.
Divine Poems
Quarles’ erste Werke waren recht langatmige Nachdichtungen der biblischen Bücher Jona, Esther, Hiob, der Klagelieder Jeremias und des Hohelieds. Bereits in seiner ersten Dichtung von 1620, einer Paraphrase der Geschichte des Propheten Jona mit dem auf den ersten Blick makaber wirkenden, auf ein beliebtes Vanitas-Motiv verweisenden Titel A Feast for Wormes, verwendete er mit Metaphern, Bildern und allegorisch gedeuteter Mythologie dieselben Elemente, die auch seine späteren Werke bestimmten. Mit zahlreichen Anmerkungen und Zitaten antiker und christlicher Schriftsteller erörterte er dogmatische Fragen und diskutierte moralische Probleme wie beispielsweise, ob Jonas Aufforderung an die Seeleute, ihn über Bord zu werfen, als Selbstmord zu werten sei. Dabei stellte er nicht die Figur und das Schicksal des Propheten ins Zentrum, sondern Gottes Heilswillen gegenüber den bußfähigen Niniviten wie auch gegenüber den Lesern.
1630 brachte er die fünf ersten Gedichte in überarbeiteter Form in dem Sammelband Divine Poems heraus, den er 1632 um ein weiteres Gedicht zur Geschichte Simsons aus dem Buch der Richter erweiterte. Die Divine Poems erfreuten sich bis ins 18. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit und wurden mehrmals nachgedruckt. Durch puritanische Auswanderer fanden sie auch in Neuengland Verbreitung.
Versromanze
Mit der im mythischen Arkadien spielenden Versromanze Argalus and Parthenia veröffentlichte Quarles 1629 seine einzige weltliche Dichtung, eine Liebesgeschichte, in der er das beliebte Prosawerk Arcadia von Philip Sidney in Verse brachte. Wie die geistliche Dichtung war auch dieses Werk sehr erfolgreich und brachte es auf zwanzig Auflagen, ab der siebten Auflage 1656 sogar mit Illustrationen.
1659 verfasste sein Sohn John Quarles eine weniger erfolgreiche Fortsetzung. Das auf dem Bibelvers beruhende Vanitasgedicht Like to the Damask Rose you see, das Quarles der Romanze anfügte, wurde von Edward Elgar vertont.
Die Shepheards Oracles
Zu den erst postum veröffentlichten Werken gehören die Shepheards Oracles, die wohl 1632 entstanden. Das in zehn Eklogen aufgeteilte Gedicht behandelt satirisch die kirchlich-politischen Gruppen und Sekten aus dem Standpunkt eines königstreuen Anglikaners. In der Verwendung der Pastoralallegorie zur kritischen Abbildung zeitgenössischer Missstände folgte Quarles der auf das altkirchliche Motiv des Guten Hirten zurückgehenden Tradition der Renaissance. Die allegorische Handlung aller Eklogen folgt demselben Muster: Ein treuer Hirte hütet seine Schafe, während diverse falsche Hirten versuchen, diese vom rechten Weg abzubringen, worüber sich Diskussionen entspinnen, in denen alle Parteien zu Wort kommen. Die einzelnen Typen der Verführer zeichnet Quarles mit bissiger Ironie.
Die Verleger John und Richard Marriot gaben das Werk 1646 heraus, versehen mit einer kurzen Einleitung, die über den Tod des Verfassers informierte, und einem Titelkupfer mit der Darstellung des von einem die katholische Kirche symbolisierenden Jesuiten und einer Schar sektiererischer Puritaner angegriffenen und von Staatskirche, König und Gott selbst verteidigten Baums der Religion. Phineas Fletcher, auf dessen Piscatory Eclogues Quarles in den Shepheards Oracles mehrfach Bezug nahm, steuerte das Vorwort bei.
Epigramme
Mit Divine Fancies: Digested into Epigrammes, Meditations, and Observations wandte sich Quarles 1632 den zu seiner Zeit sehr beliebten epigrammatischen Kurzgedichten zu. Gewidmet war das Werk dem zweijährigen Prinzen, dem späteren König Karl II.
Inhaltlich reichte die Spannweite der insgesamt 419 kurzen Gedichte von satirischer Gesellschaftskritik zu Meditationen, in deren bild- und anspielungsreicher Sprache er die Embleme seines nächsten Werks in Worten vorausnahm. So beschrieb er den „Common-wealth“ als ein Musikinstrument, das der König spielt, wobei er an die als Notenbücher symbolisierten Gesetze gebunden sei. Und wie die Saiten eine feste Anordnung haben, ohne die kein Wohlklang möglich ist, so habe auch jeder Mensch seinen Platz im Leben. Aber auch Kritik an der Kirchenpolitik des Londoner Bischofs Laud, die den Ausverkauf kirchlichen Besitzes an Laien zur Folge hatte, und an übertriebener Frömmigkeitsdarstellung sowohl der Puritaner als auch besonders der unter der katholischen Königin Henrietta Maria von Frankreich geförderten Katholiken finden sich.
Emblemes
Den großen Erfolg seiner Epigramme übertraf Quarles mit Emblemes Divine and Moral, das Karl Josef Höltgen als das „einzige wirklich erfolgreiche englische Emblembuch“ bezeichnet. Der möglicherweise schon auf 1634 zu datierenden Erstausgabe folgte bereits 1635 eine Zweitauflage.
Die Embleme, größtenteils Werke des Kupferstechers William Marshall, entwickelte Quarles nicht selbst, sondern bediente sich dafür zweier nur wenige Jahre zuvor erschienener, von niederländischen Jesuiten in lateinischer Sprache verfasster Andachtsbücher. Die Darstellungen der ersten beiden von insgesamt fünf „Bücher“ genannten Abschnitte entstammen Typus Mundi, einem 1627 im Jesuiten-Kolleg in Antwerpen entstandenen Band mit Beiträgen der Rhetorik-Schüler, für die Philippe de Mallery die Abbildungen schuf. Für die drei weiteren Bücher kopierte Quarles die Embleme aus den Kupferstichen, die der aus Friesland stammende Boetius a Bolswert (1580–1633) für das erstmals 1624 erschienene Andachtsbuch Pia Desideria des flämischen Jesuiten Herman Hugo geschaffen hatte. Dieses Buch wurde nur wenige Jahre nach dem ersten Erscheinen in mehrere andere Sprachen übersetzt und erfreute sich bei katholischen wie evangelischen Lesern auf dem Festland großer Beliebtheit. Die erste englische Übersetzung von Hugos Pia Desideria erschien allerdings erst 1686 und erfuhr angesichts der Konkurrenz durch Quarles’ Emblemes keine große Verbreitung.
Die aus ursprünglich katholischen Andachtsbüchern entnommenen Embleme passte Quarles dem an, was er ausdrücken wollte. Beispielsweise ersetzte er die Figur des Adam im ersten, aus Typus Mundi entnommenen Emblem durch Eva, die bei ihm wie in der biblischen Geschichte vom Sündenfall das Gespräch mit der Schlange führt. Die die Embleme begleitenden Motti und Bibelverse sowie teilweise die erläuternden Zitate aus den Kirchenvätern übernahm er meist. Auch inhaltlich folgte er den Grundaussagen seiner Vorbildern, stellte aber anstelle der langen, predigtartigen lateinischen Texte ein mit zahlreichen mythologischen Anspielungen versehenes, deutlich kürzeres Gedicht und gab quasi als Zusammenfassung ein abschließendes Epigramm bei. Dabei verließ er gelegentlich den theologisch-moralischen Rahmen, um seine politische Ansicht einzubringen. So thematisiert das Epigramm zum ersten Emblem nicht allein den Sündenfall, sondern rechtfertigt zugleich die wenige Jahre zuvor stattgefundene Auflösung des ungehorsamen Parlaments durch den König:
Unluckie Parliament! Wherein, at last,
Both Houses are agreed, and firmely past
An Act of death, confirm’d by higher Powers:
O had it had but such successe as Ours.
In den drei von Hugo entnommenen Abschnitten wird der Weg der als kleines Mädchen dargestellten Anima, der menschlichen Seele, nachgezeichnet, die von der als Putto verbildlichten göttlichen Liebe durch die Versuchungen und Ängste des irdischen Lebens geführt wird. Dabei legt Quarles mehr Wert auf die moralischen Konsequenzen des frommen Lebens als auf die von Hugo betonte mystische Vereinigung mit Gott. In den Emblemen aus Typus Mundi steht die Weltkugel als Symbol des Irdischen, Vergänglichen im Zentrum, dargestellt als Reichsapfel, als Babyrassel und als riesige säugende Brust.
Quarles widmete Emblemes seinem Freund Edward Benlowes, dem er den Hinweis auf die seinem Buch zugrundeliegenden Werke verdankte. Im Gegenzug verfasste Benlowes ein den beiden ersten Ausgaben vorangestelltes siebenhundert Zeilen langes lateinisches Loblied Quarlëis, in dem er einerseits Werk und Autor pries und andererseits dem König huldigte.
Mit den fünfzehn Emblemen in Hieroglyphikes of the Life of Man verfasste Quarles 1638 eine Fortsetzung für sein erfolgreiches Werk. Das zentrale Bild ist hier eine auf einer Urne stehende Kerze, deren Niederbrennen den Ablauf des menschlichen Lebens symbolisiert. Alchemistische Symbole und die Tierkreiszeichen kennzeichnen die sieben Lebensalter. Daneben finden sich mythologische Elemente wie die Figur des Kairos und astronomische Geräte.
Nachdrucke der in einem Band zusammengefassten Emblemes und Hieroglyphikes erschienen mit fast unveränderten Emblemen bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die Beliebtheit dieses Werkes zeigt sich nicht nur in den mehr als fünfzig Neuauflagen, sondern auch in der Übernahme der Embleme in die Alltagskunst. So wurden einzelne Embleme auf Grabsteinen in Großbritannien und Neuengland abgebildet und auch Wände in Wohnungen damit dekoriert wie in York, wo 1998 ein auf etwa 1660 datierter, vermutlich unvollständig erhaltener Wandfries mit sieben Szenen und Texten aus den Emblemes entdeckt wurde.
Komödie
Quarles’ einziges dramatisches Werk, die vermutlich 1639/40 verfasste Komödie The Virgin Widow, vereint eine höfische Staatsaffäre mit amüsanten Nebenhandlungen. Die etwas verworrene Handlung dreht sich um die Liebe des Königs Evaldus zu Kettreena, der Ehefrau des Pertenax. Kettreena hatte sich, wie im ersten Akt dargestellt, vor ihrer Hochzeit mit Pertenax in den als Pilger verkleideten Evaldus verliebt und mit ihm Gelübde einer ewigen keuschen Liebe getauscht. Die eifersüchtige Königin Augusta will ihre Konkurrentin vergiften, doch Pertenax trinkt den angeblichen Heiltrank und stirbt. Augusta und ihre um das Erbe des Vaters konkurrierenden Zwillingssöhne sterben vor Entsetzen, als Apollos Orakel ein bisher ungeborenes Kind als Erben angibt. Kettreena erweist sich als die rechtmäßige Königin und heiratet Evaldus. Umrahmt wird diese höfische Haupthandlung durch humoristische Nebenhandlungen um Kettreenas Vater, den Arzt Dr. Artesio, seine Patientinnen und den Quacksalber Quack, der seine wohlhabenden Patienten tötet, ehe sie ihm genug eingebracht haben.
Meist wird das Drama allegorisch gedeutet, was beispielsweise Höltgen bereits im Titel angedeutet sieht: Die jungfräuliche Witwe war ein traditioneller Begriff für die Kirche, die bei Christi Himmelfahrt auf der Erde zurückgelassene „Braut Christi“. Dabei symbolisiert Evaldus Christus, Kettreena, deren Name Katharina traditionell auf zurückgeführt wird, die Kirche und der unbeherrschte Pertenax die „Begierden der Welt“. Somit soll vermittelt werden, wie die vorübergehend den radikalen Puritanern verfallene englische Kirche zum König als ihrem rechtmäßigen Oberhaupt zurückfindet. Deutlich wird dies laut Höltgen besonders in der Erweiterung von 1641, in der Quarles auf aktuelle kirchenpolitische Ereignisse anspielt, nämlich die Verhaftung des durch „Dr. Artesio“ verkörperten Bischofs Laud durch das Lange Parlament. Hier ist Kettreena die wahre Königin, die Artesio durch seine eigene Tochter Augusta ausgetauscht hat. Artesio und Augusta, die falsche Königin, stehen für die katholisierenden Tendenzen, die Laud im Sinne der Königin Henrietta Maria in der anglikanischen Kirche durchsetzen wollte. Auch die um mehr oder weniger erfolgreiche ärztliche Behandlungen kreisenden Nebenhandlungen sind allegorisch besetzt: Mit der Metapher „Krankheit“ werden Missstände in der Kirche und deren verhängnisvolle Behandlung durch die falschen „Ärzte“ dargestellt.
The Virgin Widow wurde höchstens einmal bei einer Privatvorstellung im Hause Barrington aufgeführt. Im Druck erschien das Werk erst nach dem Tod des Verfassers 1649.
Aphorismen
Um 1640 wählte Quarles wieder eine neue Textform, den Aphorismus. Dabei kommt besonders seinem ersten Prosawerk Enchyridion () eine bedeutende Rolle in der englischen Literaturgeschichte zu. Mit dem Titel stellte er sich in die Tradition der Weisheitsliteratur von der Antike (Epiktet) über Erasmus von Rotterdam bis zu Blaise Pascal. Während die Usshers Tochter gewidmete Erstauflage von 1640 sich weitgehend auf allgemeine Lebensregeln beschränkt, war die 1641 erschienene Neuauflage um einen politischen Teil mit Bezügen auf die aktuellen Zeitgeschehnisse erweitert. Seine Kritik an den Auseinandersetzungen zwischen König und Langem Parlament umschrieb er mit Metaphern wie Krankheit, die er auch in The Virgin Widow und seinen politischen Pamphleten verwendete. Besonders für die politischen Texte bediente er sich bis in den Wortlaut hinein älterer Texte wie beispielsweise Francis Bacons Essays, die 1632 neu herausgegeben worden waren, oder Machiavellis 1640 ins Englische übersetzten Fürst. Quarles selbst verwendete einen großen Teil der politischen Aphorismen aus dem Enchyridion im folgenden Jahr in Observations concerning Princes and States upon Peace and Warre wieder.
Das Enchyridion war bis ins 19. Jahrhundert sehr beliebt und wurde auch ins Niederländische, Dänische, Schwedische und Deutsche übersetzt.
Barnabas und Boanerges
Zu den nach Quarles’ Tod herausgegebenen Werken gehört das Prosawerk Barnabas and Boanerges. Es war eins der Manuskripte, die die Verleger Royston und Lowndes für sich beanspruchten. Daher erschienen noch im Sterbejahr des Verfassers 1644 zwei miteinander konkurrierende Ausgaben des zweiten Teils, eine von Lowndes und eine von Ursula Quarles veröffentlicht. Nachdem Ursula Quarles einen Prozess gegen die beiden Drucker verloren hatte, erschien 1646 der erste Teil bei Lowndes und Royston und 1651 die Gesamtausgabe bei Royston allein.
Das Buch enthält Meditationen in Form von Selbstgesprächen verschiedener Charaktere zwischen den Versuchungen der Welt und der zur Umkehr aufrufenden göttlichen Gnade. Dabei werden im ersten Teil die sozialen und geistlichen Folgen der Laster behandelt, während im zweiten Teil eher die Bedrängten und Angefochtenen zu Wort kommen. Zu den teilweise satirisch überzeichneten, aber durchweg lebendig und glaubhaft Porträtierten gehören der frühkapitalistische Ausbeuter, der Trinker und der heuchlerische Frömmler ebenso wie der Verfolgte. Bei letzterem Beispiel zeigt Quarles deutlich, dass er sich „als verfolgter Anglikaner und Royalist in einer die Parteigrenzen übersteigenden Solidarität des Leidens mit dem aufrichtigen, verfolgten Puritaner“ sah. Auch Barnabas and Boanerges erreichte bis ins 19. Jahrhundert hinein zwanzig Auflagen und wurde auch in mehrere andere Sprachen übersetzt.
Rezeption
Zu Lebzeiten galt Quarles als der englische Orpheus. Seine Werke, gelobt beispielsweise von Richard Baxter 1681 als gelungene Kombination von „competent Wit with Piety“, bedienten den Zeitgeschmack und erzielten mehr Auflagen und damit weitere Verbreitung als die seiner Zeitgenossen wie etwa John Milton. Besonders beliebt waren die Emblemes mit insgesamt fast sechzig Auflagen und das Enchyridion, das auch in andere Sprachen übersetzt wurde. Eine Zusammenstellung von Quarles’ Aphorismen erschien 1650 unter dem Namen des späteren Königs Jakob II. als Regales aphorismi.
Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde Quarles allerdings auch als „darling of our plebeian judgments“, also als Liebling der Ungebildeten bezeichnet. Wenn aus diesem Urteil von Miltons Neffen Edward Phillips zunächst vor allem Neid auf die größere Popularität sprach, so wurde in den kommenden Jahrzehnten daraus eine Geringschätzung von Quarles’ zumeist im traditionell religiösen Umfeld lokalisierten Leserschaft und damit auch seines Werks. Damit teilte er das Schicksal etlicher seiner Zeitgenossen, besonders der metaphysical poets, dass seine Werke im Zuge der aufkommenden Aufklärung als altmodisch und geschmacklos galten. Dazu kam, dass seine politischen Anliegen mit der Restauration der absoluten Monarchie durch Karl II. 1660 obsolet geworden waren. Trotzdem waren einige seiner Schriften bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als Erbauungsliteratur beliebt. So wurden mehr als dreißig der fast sechzig Auflagen der Emblemes erst nach 1800 gedruckt. Die Kupferstiche der Emblemes wurden bei der letzten Auflage 1861 dem Geschmack des Viktorianischen Zeitalters angepasst.
Die einzige Gesamtausgabe von Quarles’ Werken erstellte der schottische Geistliche Alexander Balloch Grosart 1880/81. Bis auf einige wissenschaftliche Ausgaben von Einzelwerken ist diese dreibändige, als Privatdruck erschienene Edition bis jetzt die einzige Edition des Gesamtwerks. In der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts erschienen einige Veröffentlichungen zu Quarles, darunter eine Bibliographie seiner Werke um 1800, vor allem aber Artikel zu Aspekten von Einzelwerken. Die erste Monographie über Quarles’ Leben und Werk verfasste 1966 mit Francis Quarles, a Study of His Life and Poetry Masoodul Hasan von der Aligarh Muslim University. Karl Josef Höltgen veröffentlichte 1978 mit Francis Quarles 1592–1644. Meditativer Dichter, Emblematiker, Royalist. Eine biographische und kritische Studie die bisher einzige deutschsprachige Monographie.
Werke (Auswahl)
In Klammern ist jeweils das Jahr der Erstausgabe angegeben:
A Feast for Wormes. Set forth in a Poeme of the History of Jonah (1620)
Job Militant, with Meditations Divine and Moral (1624)
Sions Elegies, wept by Jeremie the Prophet
Sions Sonets sung by Solomon the King
Alphabet of Elegies upon … Dr Aylmer (1625)
Argalus and Parthenia. The argument of ye history (1629)
Divine Poems (1630)
The Historic of Samson (1631)
Divine Fancies digested into Epigrams, Meditations and Observations (1632)
Alphabet of Elegies as Divine Poems (1633)
Emblemes (1635)
Hieroglyphikes of the Life of Man (1638)
Memorials Upon the Death of Sir Robert Quarles, Knight (1639); zu Ehren seines Bruders
Enchyridion, containing Institutions Divine and Moral (1640–41)
Observations concerning Princes and States upon Peace and Warre (1642)
The Loyal Convert, The Whipper Whipt, und The New Distemper (1644)
Barnabas and Boanerges, Judgement and Mercy: Or, Wine and Oyle for afflicted soules poured forth & applied in consolatory [brace] promises, prayers, and soliloquies (Gesamtausgabe 1651, Einzeldrucke der beiden Teile 1644 und 1646)
Solomons recantation, entituled Ecclesiastes paraphrased with a soliloquie or meditation upon every chapter: very seasonable and useful for these times (1645)
Shepheards Oracles delivered in certain eglogues (1646)
Hosanna, or, Divine poems on the passion of Christ (1647)
The Virgin Widow (1649)
Beispiel
(Aus dem Gedicht Delight In God Only („Freude nur an Gott“))
Literatur
Werkausgaben
Bd. 2; Bd. 3.
Sekundärliteratur
Weblinks
Einzelnachweise
Literatur (Englisch)
Literatur (17. Jahrhundert)
Engländer
Autor
Geboren 1592
Gestorben 1644
Mann
Aphoristiker
Erbauungsliteratur |
6223004 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mainzer%20Jakobinerklub | Mainzer Jakobinerklub | Der Mainzer Jakobinerklub wurde am 23. Oktober 1792 im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses in Mainz als Zusammenschluss deutscher Jakobiner gegründet. Der offizielle Gründungsname lautete Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit. Die Gründung erfolgte zwei Tage nach der Eroberung von Mainz durch französische Revolutionstruppen unter General Adam-Philippe de Custine. Vorbild des Mainzer Jakobinerklubs war die französische Gesellschaft der Freunde der Verfassung, die seit Dezember 1789 im Pariser Jakobinerkloster tagte und dadurch den geläufigen Namen Jakobinerklub bekam.
Der Mainzer Jakobinerklub gilt als erste demokratische Bewegung Deutschlands und war eine prägende politische Kraft der kurzlebigen Mainzer Republik. Mit knapp 500 Mitgliedern war er der größte der revolutionären Klubs, die 1792/93 während der französischen Besetzung Südwestdeutschlands gegründet wurden. Politisch waren die Mitglieder im Sinne der Ideale der Französischen Revolution bis zur endgültigen Auflösung im Mai 1793 aktiv.
Vorgeschichte
Nach der ersten Phase der Französischen Revolution 1789 bis 1791 wurden auf dem Fürstentag im Mainzer Lustschloss Favorite (19. bis 21. Juli 1792) die politischen Weichen für Gegenmaßnahmen gestellt. Der gerade gekrönte Kaiser Franz II., der preußische König Friedrich Wilhelm II., der gastgebende Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal sowie zahlreiche weitere Fürsten und Diplomaten beschlossen hier ein weiteres, auch militärisches, Vorgehen gegen das revolutionäre Frankreich. In der Folge kam es zum Ersten Koalitionskrieg. Nach der für Frankreich siegreichen Kanonade von Valmy am 20. September 1792 ging die französische Revolutionsarmee zum Gegenangriff über und eroberte unter General Adam-Philippe de Custine am 21. Oktober 1792 Mainz. Hier fand er bereits eine größere Anzahl von Bürgern vor, die mit den Ideen der Französischen Revolution sympathisierten. Dies waren zumeist Professoren und Studenten der Mainzer Universität aber auch Beamte der Kurfürstlichen Verwaltung.
Mögliche Vorgängereinrichtungen des Mainzer Jakobinerklubs
Die Frage, ob es zu dem Mainzer Jakobinerklub bereits zu kurfürstlichen Zeiten als Vorgängereinrichtungen zu interpretierende Institutionen gab, wird kontrovers diskutiert. Während dies unter anderem Historiker wie Heinrich Scheel, Walter Grab, Hans Grassl oder Jörg Schweigard eindeutig bejahen, spricht sich Franz Dumont dagegen aus.
Als Vorgängereinrichtung des Mainzer Jakobinerklubs könnte vor allem die Mainzer Gelehrte Lesegesellschaft gelten. Diese wurde 1781/82 mit dem Ziel gegründet, moderne Literatur zu erschwinglichen Preisen zugänglich zu machen und eine Diskussionsplattform zu aktuellen Themen zu bieten. Alleine die 24 politischen Zeitschriften im angebotenen Bestand und eine hohe Anzahl aufgeklärt-liberaler Intellektueller als Mitglieder der Gesellschaft sorgten für eine zunehmende Politisierung der Lesegesellschaft. Dafür spricht auch, dass mit Mathias Metternich, Felix Anton Blau, Anton Joseph Dorsch oder Andreas Joseph Hofmann, allesamt Professoren der kurfürstlichen Universität, spätere führende und als radikal geltende Jakobiner Mitglieder der Lesegesellschaft waren. Als diese sich 1791 aufgrund inhaltlicher Differenzen ihrer Mitglieder über Schriften zur Französischen Revolution spaltete, waren Metternich und sein Kollege Andreas Joseph Hofmann federführend bei der Aufteilung der Lesegesellschaft in eine Aristokratische und eine Demokratische Lesegesellschaft.
Die Mainzer Gruppe der 1785 verbotenen politisch aktiven Illuminatenbewegung war ebenfalls ein Sammelbecken für vorrevolutionäre Aktivitäten. Zahlreiche spätere Mainzer Jakobiner wie beispielsweise der kurfürstliche Polizeibeamte und spätere Maire Franz Konrad Macké hatten hier ihre ersten Kontakte zu den Ideen der Aufklärung. Nach der Aufhebung der Mainzer Illuminatenloge im Februar 1786 gründete sich bereits im Mai desselben Jahres eine geheime Gesellschaft der Propaganda, deren Mitglieder sich größtenteils aus ehemaligen Mainzer Illuminaten rekrutierten und deren Aktivitäten denen des sechs Jahre später gegründeten Mainzer Jakobinerklubs größtenteils glichen. So verwundert es auch nicht, dass drei der Gründungsmitglieder des Mainzer Jakobinerklubs aus den Reihen des „Propagandaklubs“ kamen und der Ausschuss für Geschäftsführung und Korrespondenz des Mainzer Jakobinerklubs bis auf eine Person mit denselben aktiven Mitgliedern aus den Kreisen der ehemaligen Illuminaten und Propagandisten besetzt war.
Bekannt ist auch, dass es in Mainz bereits vor 1792 zahlreiche private Zirkel und Kreise gab, in denen vor allem Intellektuelle, aber auch Studenten der kurfürstlichen Universität, die nicht in der Gelehrten Lesegesellschaft zugelassen waren, mehr oder weniger aktiv aufklärerisches und revolutionäres Gedankengut diskutierten.
Der Mainzer Jakobinerklub
Gründung
Mit der Machtübernahme durch General Custine und der damit beginnenden Zugehörigkeit von Mainz als Mayence zur Ersten Französischen Republik waren alle notwendigen Voraussetzungen für eine politische Betätigung im Sinne der neuen Herren von Mainz geschaffen. Der Wormser Theologe, Kirchenrechtler und ehemalige Universitätsprofessor Georg Wilhelm Böhmer, mittlerweile Custines Sekretär, war mit den französischen Truppen nach Mainz gekommen. Er rief bereits einen Tag später, am 22. Oktober 1792, öffentlich in der „Privilegirten Mainzer Zeitung“, deren Redakteur er gerade geworden war, zur Gründung einer dem Pariser Jakobinerklub gleichenden „Gesellschaft deutscher Freunde der Freiheit und Gleichheit“ auf:
Vorausgegangen war eine Besprechung am Vortag bei Custines Generaladjutant Stamm, die Böhmer leitete. Custine plante bereits während seines Feldzugs die Gründung revolutionärer Gesellschaften und suchte erfahrene Personen als geeignete Vermittler der Revolutionsideen in diesen Gremien. Ausdrücklich wurden die Aktivitäten Böhmers von ihm gefördert und unterstützt. Auch Geldzahlungen an die gründungswilligen Unterstützer der französischen Sache wurden von Custine über Böhmer veranlasst. Böhmer wiederum berief sich bei seinen Aktivitäten in Mainz mehrfach direkt auf General Custine und handelte offiziell in seinem Namen und Auftrag.
20 Personen, überwiegend aus dem Umfeld der Mainzer Universität, erschienen am Abend des 23. Oktobers 1792 im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses. Böhmer erschien in Begleitung des Arztes Georg von Wedekind und des Handelskaufmanns André Patocki. Er eröffnete die konstituierende Sitzung mit der Entschuldigung des Generals Custine, den „dringende Kriegsgeschäfte“ aufhalten würden, und ließ Propagandamaterial verteilen. Es folgte Reden des Hofgerichtsrats Kaspar Hartmann, der sich vom kurfürstlichen Hofbeamten zu einem der kompromisslosesten Mainzer Jakobiner entwickeln sollte, sowie der Professoren Georg Wedekind und Mathias Metternich, in denen vorrangig das alte Regime des Kurfürsten und dessen Aristokraten angegriffen wurden. Danach unterzeichneten die Anwesenden ein gemeinsames Protokoll. Man begrüßte in diesem die Befreiung und die Unterstützung durch die Franzosen, erklärte den förmlichen Zusammenschluss der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit und hielt fest, dass man den Straßburger Jakobinerklub um die Zusendung seiner Statuten bitten werde. Mit dem feierlichen Schwur des Aufnahmeeids Frei leben oder sterben! endete diese erste Sitzung des Mainzer Jakobinerklubs.
Zu den Gründungsmitgliedern des Mainzer Klubs gehörten neben Böhmer die Universitätsprofessoren Mathias Metternich, Georg Wedekind sowie Andreas Joseph Hofmann, weitere Professoren und Studenten der Universität, aber auch Kaufleute wie André Patocki oder Georg Häfelin oder Militärs wie Rudolf Eickemeyer. Zum Gründungspräsident wurde bei der nächsten Sitzung am folgenden Tag Georg Häfelin gewählt, sein Stellvertreter wurde Mathias Metternich.
Wachstum und Höhepunkt
Bereits bei der zweiten Sitzung am 24. Oktober, bei der auch General Custine teilnahm und zu den Besuchern sprach, war der Akademiesaal überfüllt. In der darauf folgenden, circa zweiwöchigen Gründungsphase nahm die Anzahl der Mitglieder schnell zu und erreichte bis Ende November 1792 den Höchststand von genau 492 eingetragenen Mitgliedern. In dieser Phase wurde das politische Programm des Klubs in seinen Grundzügen erstellt.
Der Versuch konservativer und gemäßigter Kräfte, den Jakobinerklub lediglich als im Rahmen der nun folgenden Veränderungen passives Diskussionsforum zu nutzen, wurde in dieser Zeit ebenfalls deutlich abgelehnt. Die meisten Mitglieder wollten aktiv an dem nun anlaufenden Demokratisierungsprozess beteiligt sein. Dass sich die Klubmitglieder tatkräftig und aus eigenem Antrieb an Aktionen im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen beteiligten, zeigte die öffentlichkeitswirksame Eigeninitiative zur Errichtung eines Freiheitsbaumes auf dem Höfchen und die Schaffung eines „Roten Buchs der Freiheit“ und eines „Schwarzen Buchs der Sklaverei“, in das sich die Mainzer Bevölkerung in freier Entscheidung eintragen und somit für oder gegen die Revolutionsideen der Franzosen stimmen sollte.
Zur weiteren Intensivierung der Klubarbeit trugen aus dem Elsass kommende Jakobiner wie beispielsweise Anton Joseph Dorsch, bis 1791 Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie an der Universität Mainz, aus Straßburg bei. Diese waren von Custine zu einem früheren Zeitpunkt zur Unterstützung der neugegründeten Jakobinerklubs im linksrheinischen Gebiet angeworben worden und prägten in der Anfangszeit nachhaltig Struktur, Organisation aber auch propagandistische Außenwirkung des Mainzer Jakobinerklubs. Popularität und Ansehen des Klubs stiegen zudem mit dem späteren Eintritt wichtiger und bekannter Mainzer Persönlichkeiten. Der Eintritt des beim Volk beliebten Polizeikommissars und später zum Maire gewählten Franz Konrad Macké hatte eine wichtige Signalfunktion für das noch wenig vertretene Zunftbürgertum. Der zwei Tage später – nach anfänglichen Vorbehalten und zögerndem Abwägen seiner zukünftigen politischen Haltung – erfolgte Eintritt des weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannten Forschers und Gelehrten Georg Forster wurde außerhalb von Mainz aufmerksam wahrgenommen.
General Custine berief Mitte November führende Mitglieder des Klubs wie Forster oder Dorsch in hohe Ämter der neu geschaffenen Zivilverwaltung. So wurde beispielsweise Dorsch Präsident der Allgemeinen Administration und damit höchster ziviler Repräsentant im gesamten französischen Besatzungsgebiet. Dieser Zuwachs an Autorität, Ordnungsmacht und Prestige und somit die Wertschätzung Custines für die im Klub aktiven Mainzer Jakobiner und der Höchststand der Mitgliederzahl Ende November mit knapp 500 Mitgliedern zeigen gleichzeitig den Höhepunkt des Wirkens des Mainzer Jakobinerklubs auf.
Ab Anfang Dezember 1792 kam es zu einer Stagnierung des bisher kontinuierlich verlaufenden Mitgliederzuwachses. Maßgeblich dafür verantwortlich waren die ersten militärischen Misserfolge der französischen Revolutionsarmee bei Frankfurt am Main gegen preußische und österreichische Truppen, verbunden mit der Rückeroberung von Frankfurt durch diese. Dazu kam am 13. Dezember 1792 die offizielle Ausrufung des Kriegszustandes für Mayence durch die französische Besatzungsmacht. Die Wahrnehmung der uneingeschränkten Machtbefugnisse durch den Militärrat unter Custine schränkte den Handlungsspielraum der zivilen Verwaltung drastisch ein. Der Mainzer Jakobinerklub wurde in seinen Möglichkeiten stark eingeschränkt und bisherige Sympathisanten und Mitglieder hielten wegen der unsicheren politischen Zukunft nun mehr Distanz zu den Mainzer Jakobinern. Eine weitere, für die Zukunft des Mainzer Jakobinerklubs äußerst negative Entwicklung, begann Ende Dezember 1792. Bereits ab Mitte November 1792 vorhandene unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft des linksrheinischen Territoriums und hier vor allem eines möglichen Zusammenschlusses mit Frankreich führten zu internen ideellen und programmatischen Streitigkeiten. Es kam in der Folge zu einer Lagerbildung zwischen einem gemäßigten und einem eher radikal orientierten Flügel der führenden Klubmitglieder. Diese traten nun öffentlich zutage.
Auflösung, Ende, Neugründung und endgültige Auflösung
Der Niedergang des Mainzer Jakobinerklubs setzte sich mit Beginn des Jahres 1793 fort. Es kam zu heftigen, diesmal öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten zwischen dem gemäßigten und dem radikalen Flügel des Jakobinerklubs. Die radikal orientierte Klubführung um Dorsch, Wedekind und Böhmer sah sich mit einer wachsenden Opposition bei der Frage über die weitere Vorgehensweise bei der „Revolutionierung“ der Bevölkerung konfrontiert. Bei der Klubsitzung am 10. Januar 1793 sollte deshalb das Thema Warum finden die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit so wenig Beifall? diskutiert werden. Es kam zu einem Eklat, als Andreas Hofmann, Sprecher der unzufriedenen Klubmitglieder, reihum Wedekind, Dorsch als Leiter der Allgemeinen Administration, Forster, dessen Stellvertreter, Friedrich Georg Pape, den Vorsitzenden des einflussreichen Korrespondenzausschusses und letztendlich auch die französische Besatzungsmacht scharf angriff. Andreas Hofmann vertrat mittlerweile im Mainzer Jakobinerklub die Interessen der Mainzer Bevölkerung und dort insbesondere die der sozialen Unterschichten. Er wurde am nächsten Tag im Gegenzug von Custine der Verleumdung angeklagt und mit Hinrichtung wegen Verrates bedroht. Die von ihm angegriffenen Klubisten warfen Hofmann postwendend die – allerdings frei erfundene – Kollaboration mit dem Koadjutor und Stellvertreter des Kurfürsten, Karl Theodor von Dalberg, vor. Die Verschärfung dieser internen Streitigkeiten, zunehmende Handlungsunfähigkeit des Klubs, die erstmals so öffentlich vorgetragene Kritik an dem, im deutlichen Gegensatz zum Herbst 1792 stehenden Verhalten der französischen Soldaten und ihrer Führung, all dies führte letztendlich zu einer weiteren Stagnation der „Revolutionierung“ der Bevölkerung, dem Hauptziel des Mainzer Jakobinerklubs.
Diese kam nicht so schnell und nachhaltig voran wie von den Franzosen (und den meisten der deutschen Jakobiner) immer noch gewünscht. Beide, deutsche Jakobiner und die französische Administration, waren enttäuscht von den „Befreiten“, die sich ihrer Ansicht nach zu phlegmatisch verhielten und nicht von sich aus die Initiative zum politischen Kurswechsel ergriffen. Vor allem Forster äußerte sich in privaten Briefen – aber nie öffentlich – über das Unvermögen des Volkes zur eigenen Freiheit: Ich bleibe dabei, daß Deutschland zu keiner Revolution reif ist. … unser rohes, armes, ungebildetes Volk kann nur wüten, aber nicht sich konstituieren.
Von dem am 26. Oktober 1792 durch Custine den Mainzern versprochenen Recht „Euer eigener, ungezwungener Wille soll euer Schicksal entscheiden. Selbst dann wenn ihr die Sklaverei den Wohltaten vorziehen werdet, mit denen die Freiheit euch winkt, bleibt es euch überlassen zu bestimmen, welcher Despot euch eure Fesseln zurückgeben soll.“ war bald nicht mehr die Rede. In einem Dekret des französischen Konvents vom 15. Dezember 1792 kam es zu einem sich bereits vorher schon abzeichnenden Paradigmenwechsel der bisherigen Revolutionspolitik in den besetzten linksrheinischen Gebieten. Das Selbstbestimmungsrecht der befreiten Bevölkerung wurde quasi außer Kraft gesetzt und der Konvent in Paris verstärkte nun seinen Druck in den besetzten deutschen Gebieten, die tatsächlich mehr und mehr den Status von „Kriegseroberungen“ bekamen. Urversammlungen zur Wahl und Einrichtung provisorischer Regierungen und Gerichte sollten durchgeführt werden, um endlich den Prozess der politischen Umbildung nach französischem Vorbild zu kontrollieren und beschleunigen. Der französische Konvent entsandte dazu die drei Konventsmitglieder Nicolas Haussmann, Merlin de Thionville und Jean François Reubell und zwei Nationalkommissare als direkte Abgesandte des Konvents und des Exekutivrats nach Mainz. Letztere vertraten vor Ort in Zusammenarbeit mit General Custine die Interessen der Besatzungsmacht Frankreich bei der zu wählenden provisorischen Regierung. Ihre vorab am gleichen Tag im Konvent beratenen und beschlossenen Instruktionen gaben ihnen weitreichende Vollmachten: die beiden Nationalkommissare sollten unverzüglich alle offen oder geheim agierende reaktionären und gegenrevolutionären Kräfte, insbesondere im Adel und im Klerus, beseitigen. Ihnen oblag die Kontrolle der französischen Besatzungsarmee und die Erforschung und Abstellung von Missständen bei Ausrüstung oder Verpflegung. Weitreichende Vollmachten hatten beide ebenfalls in politischen Fragen bei der noch zu wählenden und konstituierenden Administration in Mainz. Jean-Frédéric Simon, ein elsässischer Intellektueller, und Gabriel Grégoire, sein ebenfalls aus dem Elsass stammender Schwager, wurden am 13. Januar 1793 ernannt und trafen am 31. Januar in Mainz ein.
Zu dieser sich abzeichnenden deutlich strengeren Kontrolle durch Paris kamen zusätzlich militärische Niederlagen der französischen Truppen und das stetige Vorrücken alliierter Truppen (Preußen und Reichstruppen aus verschiedenen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches) in Richtung Mainz. All dies führte zu einem drastischen Rückgang der Mitgliedszahlen von 492 Mitgliedern Ende November 1792 bis auf etwa 150 im Februar 1793 und zu einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Klubs und seiner Aktivitäten.
Der französische Nationalkommissar des „Pouvoir exécutif“, Jean-Frédéric Simon, verkündete schließlich im März 1793 in Mainz die Schließung des Mainzer Jakobinerklubs sowie die gleichzeitige Neugründung einer „Société des Allemands libres“. Diese auf Deutsch Gesellschaft der Freunde der Republik benannte Nachfolgeeinrichtung sollte den bisherigen Klub bei gleichzeitigem Ausschluss der bisherigen gemäßigten Mitglieder ersetzen. Sie sollte, genauso wie ihr Vorbild, der Jakobinerklub in Paris, vornehmlich der inhaltlichen Vorbereitung der parlamentarischen Debatte im Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent dienen. Dieser „zweite Mainzer Jakobinerklub“ nahm seine Arbeit im März 1793 auf; ein letztes Lebenszeichen dieser bedeutungslosen Nachfolgeeinrichtung datiert Anfang Mai 1793. Spätestens mit der Einschließung von Mainz im Juni 1793 löste er sich in aller Stille auf. Unmittelbar nach der Rückeroberung von Mainz am 23. Juli 1793 waren viele Klubisten Repressalien der Bevölkerung ausgesetzt, es kam zu Misshandlungen und Plünderungen im Stadtgebiet und vor den Toren der Stadt. Goethe selbst war Augenzeuge solcher Misshandlungen von flüchtenden Klubisten und beschrieb diese später in seinem autobiografischen Werk Belagerung von Mainz:
Etwa hundert der aktivsten Klubisten, darunter beispielsweise Mathias Metternich oder Franz Macké, wurden als Geiseln auf die Festungen Königstein und Ehrenbreitstein verbracht und längere Zeit inhaftiert. Den letzten 39 ehemaligen, mittlerweile auf der Zitadelle Petersberg in Erfurt inhaftierten, prominenten Klubmitgliedern wurde Anfang 1795 die Auswanderung nach Frankreich erlaubt; im Gegenzug wurden dort 1793 deportierten Mainzer Einwohnern die Rückkehr erlaubt. Andere führende Klubisten wie beispielsweise Andreas Joseph Hofmann konnten unbehelligt aus der Stadt gelangen. Viele gingen ins Exil nach Straßburg oder Paris, wo es eine Societé des Refugiés Mayençais, eine Vereinigung von exilierten Mainzer Revolutionären gab.
Aber auch die weniger aktiven oder sogar nur passiven Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs waren betroffen. So wurden beispielsweise Handwerker, die Mitglied im Klub waren, auf Betreiben ihrer regimetreuen Kollegen aus ihren Zünften ausgeschlossen. Ehemalige kurfürstliche Beamte oder Inhaber öffentlicher Ämter, die sich im Rahmen der Klubmitgliedschaft öffentlich exponierten, wurden mit verschiedensten Strafen, von Geldstrafen über Suspendierung vom Amt bis hin zur Ausweisung aus dem Kurfürstentum Mainz bestraft. Trotzdem sollten viele dieser „Klubisten“ ab 1798 wieder eine führende Rolle im nunmehr dauerhaft zu Frankreich gehörenden Mayence spielen.
Organisation
Nach der Konstitution des Klubs wurden in der darauffolgenden Zeit – bis Anfang Dezember 1792 – Organisation und Reglement festgelegt. Diese orientierten sich im Wesentlichen am Vorbild des Pariser und des Straßburger Jakobinerklubs, dem viele deutsche Emigranten angehörten. In der Gründungssitzung wurde unter anderem beschlossen, die Straßburger Jakobiner um ihre Statuten zu bitten. In der zweiten Klubsitzung am 24. Oktober wurde das Präsidium mit dem Kaufmann Georg Häfelin als Präsidenten und Mathias Metternich als Vizepräsident gewählt und beschlossen, prinzipiell öffentlich zu tagen.
Das Präsidium bestand aus dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten sowie vier Sekretären, die in vierwöchigem Turnus neu gewählt wurden. Organe des Klubs waren das öffentliche Plenum sowie das nichtöffentliche „Comité général“. Dazu kamen weitere fünf Komitees, deren Installation sich von November 1792 bis Januar 1793 hinzog. Diese widmeten sich unterschiedlichen Aufgaben: der Unterrichts-, Sicherheits-, Ökonomie-, Wohltätigkeits- und Korrespondenzausschuss. Dem Unterrichts- oder auch Belehrungsausschuss („Comité d’instruction“) kam eine besondere Bedeutung zu. Der Ausschuss bestand aus insgesamt 21 Mitgliedern, welche nicht nur die Tagesordnung der Klubsitzungen festlegte, sondern auch eigenständig revolutionäre Propaganda betrieb. Die Bevölkerung sollte im Rahmen von öffentlichen Vorlesungen von Mitgliedern umfassend über Themen wie Verfassung, Recht, Finanzen, Wissenschaft oder Religion aufgeklärt werden. Der Sicherheitsausschuss wurde entsprechend dem Pariser Vorbild zur Bekämpfung von Konterrevolutionären eingerichtet, erwies sich aber auch als wirksames Instrument gegen Opposition inner- und außerhalb des Klubs. Der Wohltätigkeitsausschuss sollte bedürftigen Jakobinern helfen aber auch Personen außerhalb des Klubs, die man damit für die Mitgliedschaft gewinnen wollte. Ebenfalls große Bedeutung hatte der bereits unmittelbar nach Klubgründung eingerichtete Korrespondenzausschuss. Mit Metternich, Wedekind, Patocki, Hofmann, Westhofen und später auch Forster und Pape hochkarätig besetzt, widmete sich dieser Ausschuss in vielfältiger Weise der Korrespondenz auf nationaler und internationaler Ebene. Er war auch für die „Affiliation“, die Verbrüderung des Mainzer Jakobinerklubs mit den Klubs in Straßburg und insbesondere in Paris zuständig; ein Vorgang, der dem Mainzer Jakobinerklub zum einen großen Prestige- und Autoritätsgewinn bescherte und zum anderen psychologisch für die Mainzer Jakobiner sehr wichtig war.
Mitglieder konnten Männer ab dem 18. Lebensjahr, ab Anfang November ab dem 24. Lebensjahr werden. Von der Mitgliedschaft ausgenommen waren bestimmte soziale und Berufsgruppen wie Knechte, Tagelöhner und generell Frauen. Ein potentieller Aufnahmekandidat musste von einem Jakobiner „proporniert“ und von fünf weiteren Mitgliedern befürwortet werden. Erhoben dann in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen nicht mehr als elf Mitglieder des Jakobinerklubs Einspruch, galt der Kandidat als aufgenommen.
Ein wesentlicher Aspekt der Tätigkeit des Mainzer Jakobinerklubs war sein prinzipiell öffentliches Wirken. Alle Sitzungen des Klubs waren gemäß einem am zweiten Tag seines Bestehens gefassten Beschluss öffentlich. Tagte man anfangs jeden Abend im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses, traf man sich später nur noch an vier Abenden pro Woche. Als Anfang Dezember 1792 das Schloss zum Lazarett umfunktioniert wurde, zog der Klub in das „Comödienhaus“ um.
Größe und Zusammensetzung
Mit insgesamt 492 registrierten Mitglieder wies der Mainzer Jakobinerklub – auch im Vergleich zu später folgenden gleichartigen Einrichtungen in den ebenfalls französisch besetzten Städten Speyer und Worms – eine beachtliche Größe auf. Die etwa 450, in Mainz ansässigen, Klubmitglieder kamen aus dem Kreis der circa 7000 zum Eintritt berechtigten Mainzer Einwohner. Von den insgesamt 23.000–25.000 Einwohnern von Mainz im Jahr 1792 waren dies nur Männer über dem 18., später 24. Lebensjahr. Frauen und jüngeren Männern war der Eintritt in den Klub nicht erlaubt. Damit betrug der Grad der politischen Organisation innerhalb der Bevölkerung circa 6 %, ein Wert, den vergleichbare französische Organisationen oder heutige politische Parteien selten erreichen.
Die schriftlich registrierten Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs setzten sich aus fast allen Schichten der Mainzer Bevölkerung zusammen. Nach den Formalitäten, die der offiziellen Aufnahme vorausgingen, trugen sich die neuen Mitglieder in eine ausgelegte Mitgliederliste ein, die von dem Notar Johann Baptist Bittong für den Klub geführt wurde. Diese Mitgliederliste, später im Hauptstaatsarchiv in Darmstadt aufbewahrt, war bis zu ihrer Vernichtung im Zweiten Weltkrieg die einzige authentische Quelle über die Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs. 50 Mitglieder des Jakobinerklubs waren Franzosen. Das prominenteste Mitglied war General Custine selbst, der allerdings erst am 18. November 1792 – aus kriegsbedingten Gründen wie er angab – dem Klub beitrat.
Die mit circa 45 % zahlenmäßig größte, allerdings fast durchweg passive, Einzelgruppe bildeten kleinere Kaufleute und Handwerksmeister und -gesellen als Vertreter des Zunftbürgertums. Vertreter des Bildungsbürgertums und Intellektuelle wie Professoren, Geistliche, Ärzte, Juristen und Studenten folgten mit 21 %. Ihnen folgte mit gleicher Stärke die Gruppe der ehemals kurfürstlichen Beamten und der Französischen Bürger mit jeweils 10 %. 8 % der Klubmitglieder gaben bei ihrem Eintritt keine Berufsbezeichnung an, zu ihnen gehörten beispielsweise oft auch Bauern. Verschwindend gering war der Anteil der großbürgerlichen Handelskaufleute, die sich dem Mainzer Jakobinerklub fernhielten.
Professoren und andere Intellektuelle
Obwohl nur etwa jedes fünfte Mitglied des Jakobinerklubs zu dieser Gruppe gehörte, war ihr Einfluss auf dessen Aktivitäten überproportional groß. Fast alle der vor Oktober 1792 bereits politisch aktiven Professoren wie Wedekind, Metternich, Eickemeyer, Hofmann waren entweder direkt bei der Gründung des Jakobinerklubs beteiligt oder traten diesem bald bei. Mit dem international bekannten Forscher und Schriftsteller Georg Forster, der erst Anfang November dem Jakobinerklub beitrat, gewann die Institution zusätzlich an Renommee.
Bis auf wenige Ausnahmen stellte die Gruppe der Professoren und Intellektuellen, wie beispielsweise der Jurist, Verleger und Publizist Christoph Friedrich Cotta, den Präsidenten und Vizepräsidenten des Mainzer Jakobinerklubs.
Studenten der Universität Mainz
Mit der Gründung des Klubs traten auch zahlreiche Studierende aus dem Umfeld Metternichs, Wedekinds und Hofmanns in den Klub ein. Das Eintrittsalter dort betrug anfangs 18 Jahre und wurde auf Vorschlag Dorschs trotz heftiger Proteste der jüngeren, überwiegend studierenden, Mitglieder am 7. November 1792 auf 24 Jahre hochgesetzt. Damit wurden zahlreiche Studierende von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, die vorher eingetretenen konnten aber im Klub verbleiben.
Von diesen Studierenden sind vor allem Nikolaus Müller und Friedrich Lehne zu nennen, die bereits im Vorfeld politisch aktiv waren und schnell Karriere machten. Auch der Jurastudent Dominik Meuth war Gründungsmitglied und gab später zusammen mit dem ehemaligen Hofgerichtsrat Kaspar Hartmann den Fränkischen Beobachter heraus.
Kurfürstliche Beamte
Zu den Mitgliedern des Mainzer Jakobinerklubs zählten auch teils hohe kurfürstliche Hofbeamte. Der Anteil der Beamtenschaft bei der Gesamtzahl der Mitglieder betrug circa 11 %. So war der kurfürstliche Hofgerichtsrat Kaspar Hartmann bereits bei der Gründung des Klubs beteiligt und hielt bei dessen Gründungstreffen am 23. Oktober 1792 eine Rede für die „Wiederauferweckung der bisher unterdrückten Menschenrechte und (die) Einführung von Freiheit und Gleichheit“ und griff führende Mainzer Aristokraten an. Auch der frühe Eintritt des kurfürstlichen Mainzer Polizeikommissars Franz Konrad Macké wurde von der Mainzer Bevölkerung aufmerksam registriert.
Großkaufleute
Wie bereits geschrieben, war deren Anteil an den Mitgliedern äußerst gering. Einer der führenden Vertreter dieser kleinen Gruppe war allerdings der Handelskaufmann André Patocki. Er gehörte bereits in kurfürstlichen Zeiten zu dem prorevolutionären Kreis um Mathias Metternich und war Gründungsmitglied des Mainzer Jakobinerklubs. Zu dessen erstem Präsidenten wurde am 24. Oktober 1792, dem zweiten Tag seines Bestehens, bewusst der Kaufmann Georg Häfelin gewählt. Dieser hatte, zusammen mit Mathias Metternich als Vizepräsident, das Amt bis zum 24. November 1792 inne. Patocki und Häfelin spielten auch in der späteren Mainzer Munizipalität eine wichtige Rolle. Acht Tage nach der Konstituierung trat der 24-jährige jüdische Geldmakler Nathan Maas dem Jakobinerklub bei. Er begleitete auch den Zug, der vier Tage später, am 3. November 1792 den ersten Freiheitsbaum in Mainz auf dem Höfchen aufstellte. Am selben Tag, an dem er den Eid auf die revolutionäre Verfassung leistete, trat Maas im Frühjahr 1793 wieder aus dem Jakobinerklub aus. Für seine Unterstützung der revolutionären Umtriebe wurde er Ende 1794 auf kurmainzischem Gebiet verhaftet und eingekerkert und 1796 aus Mainz ausgewiesen.
Handwerker
Die noch in Zünften organisierten Handwerker stellten zusammen mit Kleinkaufleuten und niederen Beamten des kurfürstlichen Staates mit 45 % die größte Einzelgruppe der Klubmitglieder. In dieser Gruppierung waren die rund 200 jakobinischen Handwerker dominierend, in den organisierten Zünften repräsentierten sie jedoch lediglich 10 % der Zunftbürger. Die zahlenmäßige Dominanz der Handwerker schlug sich jedoch nicht in der Führungseben des Mainzer Jakobinerklubs nieder. Hier dominierten Intellektuelle wie Professoren, Publizisten, Studenten oder höhere Beamte des Kurfürstentums.
Politisches Wirken
Viele der führenden Klubmitglieder waren bereits im Vorfeld der Klubgründung im Sinne der französischen Revolution politisch engagiert. Mit der Gründung des Mainzer Jakobinerklubs und der Protegierung durch General Custine wurden diese Aktivitäten nun gebündelt, intensiviert und im weiteren Verlauf auch über die Stadtgrenzen hinausgetragen. Der Mainzer Jakobinerklub wurde zum wichtigsten Organ der Mainzer Jakobiner und das wichtigste Instrument der französischen Besatzungsmacht zur politischen Mobilisierung der Bevölkerung. Seine Hauptaufgabe sah dieser in der Aufklärung, Information und natürlich der Revolutionierung der Mainzer Bevölkerung. Dazu nutzten die aktiven Klubmitglieder vor allem die öffentlichen Versammlungsabende im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses. Dort wurden, vor Klubmitgliedern und – zu Hochzeiten des Klubs – bis zu 1000 Besuchern, politische Reden gehalten und diese teilweise auch gleich ausgedruckt kostenlos verteilt oder später verkauft.
Führende Mitglieder des Jakobinerklubs wie beispielsweise Mathias Metternich besuchten in ihrer Funktion als „Abstimmungskommissar“ (Sub-Commissair) Ende 1792/Anfang 1793 Ortschaften rund um Mainz und warben dort für die Ideen der Französischen Revolution sowie konkreter für die Errichtung einer Republik nach Pariser Vorbild und die Annahme der „fränkischen Konstitution“. Die von der Allgemeinen Administration, bestehend aus neun Mitgliedern des Klubs, initiierte Abstimmung über eine neue Konstitution und eine neue Staatsform („Mainzer Republik“) war der letzte und – bezogen auf die stimmfähigen Bürger – konkreteste Ansatz der Revolutionierung. Im Rahmen dieser Verfassungsabstimmung unterstützten die Mainzer Jakobiner massiv und mit persönlichem Einsatz die Aktivitäten vor Ort, dies allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
Bei den folgenden Wahlen der Ortsvorstände (in Mainz wurde ein Maire samt Stellvertreter gewählt) und Abgeordneten des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent, dem Parlament der angestrebten Mainzer Republik, vom 24. bis 26. Februar 1793 waren die Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs allerdings wenig vertreten. In den Namenslisten der Mainzer Wahlsektionen wurden insgesamt lediglich 168 Klubmitglieder und 15 vermutete Klubmitglieder verzeichnet, die in Summe 49 % der Gesamtwähler ausmachten. Da im gesamten Mainzer Stadtgebiet, gemessen an den 4626 stimmberechtigten Bürgern, nur 8 % (372 Bürger) zur Wahl gingen, ist es den aktiven Klubmitgliedern von ihrer Seite her nicht gelungen, ihre eigenen Mitglieder oder gar die stimmberechtigte Bevölkerung politisch zu mobilisieren. Im Gegenteil, die Wahlen wurden von dem größten Teil der wahlberechtigten Mainzer Bevölkerung – in deutlichem Gegensatz zu den anderen großen Städten Worms und Speyer – als Ausdruck einer bewussten politischen Demonstration boykottiert.
Die politische Arbeit des mittlerweile aufgelösten Klubs wurde von dessen führenden Mitgliedern später in anderen Bereichen des öffentlichen und politischen Lebens weitergeführt. In der Munizipalverwaltung waren von Maire Macké abwärts alle gewählten Personen ehemalige, in der Regel führende, Klubmitglieder. Im Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent wurden mit Andreas Joseph Hofmann als Präsident und Georg Forster als Vizepräsident führende Mitglieder des Klubs gewählt. Ebenso waren von 45 Kandidaten, die überhaupt Stimmen bekamen, alle bis auf zwei ehemalige Klubmitglieder.
Die politische Haltung des Mainzer Jakobinerklubs zu der Besatzungsmacht Frankreich und deren Zielen war während seiner aktiven Zeit durchaus ambivalent. War man anfangs noch in fast allen revolutionären Zielen mit den Franzosen einer Meinung, änderte sich dies zum Ende des Jahres 1792. Ein eher radikaler Flügel im Jakobinerklub um Wedekind, Dorsch, Pape und Metternich sah eine Verwirklichung der revolutionären Ideen und Ziele nur in unbedingter Zusammenarbeit mit den Franzosen zu erreichen. Ein möglichst enger Anschluss an Frankreich, aus dem nach der Gründung der Mainzer Republik eine Reunionsadresse mit Frankreich werden sollte, und der Rhein als Grenze der Republik gegenüber dem aristokratisch-despotischen Deutschland wurde von diesem Flügel verfochten. Der eher gemäßigte Teil des Mainzer Jakobinerklubs, zu denen beispielsweise Hofmann und Macké gehörte, dachte hier eher pragmatisch. Man sah einerseits die fehlende Unterstützung durch die Bevölkerung, insbesondere der Bauern und der Zunftbürger, andererseits die immer mehr zunehmende Gewalt und Restriktion durch die französische Besatzungsmacht, insbesondere auch durch die Armee. Hofmann und Macké vertraten in ihren jeweiligen Ämtern auch eher die Interessen der Mainzer Bevölkerung gegenüber der französischen Besatzungsmacht als ihre radikaleren Kollegen im Klub.
Trotz aller Querelen bildete die Arbeit der Mainzer Jakobiner und – zu einem späteren Zeitpunkt – die Zugehörigkeit von Mainz und Rheinhessen zu Frankreich einen Ansatzpunkt für die politische und gesellschaftliche Haltung der Bevölkerung im Südwesten Deutschlands in späteren Versuchen einer liberal-demokratischen Entwicklung Deutschlands. Das Hambacher Fest 1832 wurde nicht zufällig von Bürgern ausgerichtet, welche in einem deutlich liberaleren System als das übrige Deutschland politisch und gesellschaftlich aktiv waren oder aufwuchsen. Wichtige Bestandteile des Systems waren als Rheinische Institutionen bekannt und betrafen in erster Linie die aus der französischen Zeit übernommene liberale Gesetzgebung und Rechtsprechung. Teils waren Jakobiner der ersten Stunde wie Georg Friedrich Rebmann oder Franz Konrad Macké als Bürgermeister in Mainz zu dieser Zeit noch aktiv, teils waren es bereits Vertreter der nächsten oder übernächsten Generation wie Germain Metternich, Sohn von Mathias Metternich oder Franz Heinrich Zitz, Enkel des Klubisten Jakob Schneiderhenn. Und so konnte noch 1833, genau 40 Jahre nach der Auflösung des Mainzer Jakobinerklubs, der österreichische Staatskanzler und Namensgeber des Metternichschen Systems Klemens Wenzel Lothar von Metternich über Mainz sagen: „Mainz ist ein fürchterliches Jacobiner-Nest.“
Gegenrevolutionäre Publizistik zum Mainzer Jakobinerklub
Die zeitgenössische Betrachtung des Mainzer Jakobinerklubs durch die gegenrevolutionären Kräfte ist in der Regel gleichzusetzen mit der der Mainzer Jakobiner und oft auch verbunden mit dem Themenkomplex der Mainzer Republik. Konservative Kräfte im gesamten Reichsgebiet begannen eine „gegenrevolutionäre Publizistik“, die stark personalisiert war und oftmals direkt führende Jakobiner des Mainzer Klubs angriff. Diesen wurde Verrat, Undank und auch mangelnde Moral vorgeworfen. Die kampflose Übergabe der mächtigen Reichsfestung Mainz an die Franzosen konnte, so der Tenor der Publizistik, nur durch Verrat erklärt werden. Hier wurde vor allem Rudolf Eickemeyer in seiner Eigenschaft als Mitglied des Militärrats und Führer der Kapitulationsverhandlungen mit Custine angegriffen. Georg Wedekind beschuldigte man, die Pläne der Mainzer Festungswerke bei einem Besuch Custines in Nierstein verraten zu haben.
Dem am meisten verbreiteten Vorwurf des Undanks gegenüber dem kurfürstlichen Gönner waren Wissenschaftler wie beispielsweise Georg Forster oder der mittellos nach Mainz gekommene Mathias Metternich ausgesetzt. So wurde Georg Forster von dem unter dem Pseudonym Gottlob Teutsch schreibenden Franz Joseph von Albini, seines Zeichens kurmainzischer Hofkanzler und Minister, in einem gegenrevolutionären Pamphlet 1793 als „wahre Schmarotzerpflanze auf Mainzer Boden“ bezeichnet.
Mangelnde Moral und sittliches Fehlverhalten wurde vor allem den revolutionsbegeisterten und stark exponierten Klerikern wie Anton Joseph Dorsch oder Felix Anton Blau zuteil, da diese unter anderem das Zölibat gebrochen hatten. Bei der immer noch konservativen und streng katholischen Bevölkerung von Mainz und Rheinhessen fanden diese, oft voyeuristisch und exzessiv überzogenen und ausgeweiteten Vorwürfe durchaus Aufnahme und schwächten vor allem die Position des Politikers Dorsch. Weitere Motive der gegenrevolutionären Publizistik waren auch konfessionelle Vorurteile, die ebenfalls bei der katholischen Bevölkerung auf viel Akzeptanz stießen. Georg Forster und Georg Wedekind, beide Protestanten und führende Repräsentanten des Mainzer Jakobinerklubs, sind hier zu nennen. Ein antirevolutionäres Druckwerk brachte dies auf folgende Aussage: „Fremd sein und Protestant – das war die beste Empfehlung bei Hofe!“
Subtiler und weniger direkt waren die Vorwürfe, die Mainzer Revolutionsbegeisterung sei von – zumeist landfremden – Intellektuellen, allen voran Professoren und Studenten der kurfürstlichen Mainzer Universität, vorangetrieben worden. Diese hätten nicht nur den sie fördernden Kurfürsten ent- und getäuscht, sondern hätten als Fremde auch keinerlei Interesse an Mainz und dem Wohlergehen der Einwohner. Hier spielten die konservativen Publizisten erfolgreich auf die in Mainz des späten 18. Jahrhunderts verbreitete latente Xenophobie sowie auf den sozialen Neid der einfachen Stadtbevölkerung gegenüber diesen bis vor kurzem kurfürstlich ausgiebig protegierten Außenseitern an.
Eine umfangreiche Anzahl an konterrevolutionären Flugblättern speziell in den ländlichen Gebieten verunsicherte auch die Landbevölkerung. Ihnen wurde bei Kollaboration mit den Franzosen und Jakobinern der spätere Verlust ihres Eigentums angedroht; eine Drohung, die zusammen mit dem immer rigideren Vorgehen der französischen Armeeführung und ihrer Soldaten bei der Requirierung von Nahrungsmitteln durchaus Wirkung zeigte.
Rezeption
Die umfangreiche Gegenpublizistik konservativer Kräfte im Reich gegenüber den führenden Jakobinern des Mainzer Jakobinerklubs in den Jahren 1792 und 1793 sieht Franz Dumont gekennzeichnet durch „ein hohes Maß an Diffamierung, ja Dämonisierung der Gegner“ und durch „polemische Übertreibungen“. Die Bezeichnung von Menschen als „Klubisten“ wurde zu einem geflügelten, ausschließlich pejorativ verwendeten Begriff. Man bediente sich, der revolutionären Propaganda folgend, Flugblätter und gedruckter Schriften aller Art, die großzügig und in großen Mengen unter dem Volk, auch linksrheinisch, verteilt wurden.
Nach dem Ende der Mainzer Republik und des Klubs nahmen diese Aktivitäten ein schnelles Ende. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts und einige Zeit nach der Revolution von 1848/1849 beschäftigte man sich wieder mit diesem Kapitel der Mainzer und der gesamtdeutsch-französischen Vergangenheit. In der deutschen Historiographie dominierten über einen Zeitraum von fast 100 Jahren im Wesentlichen kritische Stimmen zur Mainzer Republik und deren Protagonisten, den Mainzer Jakobinern. Auch im Zuge der Deutsch-französischen Erbfeindschaft dominierten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Schlagworte wie „Franzosenherrschaft“, „Franzosenanhänglichkeit“ oder „Klubisterei“ die oft auch regionalgeschichtlichen Publikationen. Mainzer Historiker wie Karl Klein, der in seinem Werk Geschichte von Mainz während der ersten französischen Okkupation 1792–1793 1861 über die Zeit schrieb, in der „unser Land in die Hände des Erbfeindes geriet“ oder Karl Georg Bockenheimer unter anderem mit seiner Publikation von 1896 über Die Mainzer Klubisten der Jahre 1792 und 1793 sind hier zu nennen. Als Beispiel für die überregionale und negativ besetzte Bewertung der Mainzer Jakobiner sei auf die von Heinrich von Treitschke in seiner Deutschen Geschichte verwendete Formulierung und Reduzierung der Jakobiner auf „eine Handvoll lärmender Feuerköpfe“ verwiesen, die überdies Vaterlandsverrat begingen.
Die Stationen der deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1850 und 1945 und insbesondere die enge Verflechtung von Mainz und dem linksrheinischen Gebiet mit Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg (Französische Besetzung des Rheinlands, Rheinischer Separatismus) prägten auch weiterhin die Sicht und sorgten immer wieder für das Wiederaufleben negativ besetzter, von der ursprünglichen gegenrevolutionären Sicht geprägten Parallelen zur Mainzer Republik. Eine Ausnahme hierbei bildete das ab 1931 erschienene vierbändige Werk Quellen und Geschichte des Rheinlands im Zeitalter der Französischen Revolution von Joseph Hansen, das in seinem zweiten Band auch auf andere Quellen zur Mainzer Republik einging.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war das Bild der Mainzer Republik und ihren Protagonisten, den „Klubisten“ in der Historiographie und durch die konservativen Historiker eher negativ geprägt. In ersterem Fall wurde die revolutionärsgeschichtliche Episode der kurzlebigen Mainzer Republik mit ihrer Institution Jakobinerklub als unbedeutend und daher nicht erwähnenswert befunden. Auch die führenden Jakobiner in Mainz wurden entweder noch mit den herkömmlichen und unverändert übernommenen pejorativen Attributen der Gegenrevolution bezeichnet, so beispielsweise Helmut Mathy, der Anton Joseph Dorsch noch 1967 in seiner Arbeit Anton Joseph Dorsch (1758–1819). Leben und Werk eines rheinischen Jakobiners als „verstockt und selbstsüchtig in seinem Charakter“ beschreibt, oder waren kein Thema historischer Wissenschaftsarbeit. Erst mit Beginn der 1970er Jahre wurde auch der Mainzer Jakobinerklub mit seinen Mitgliedern Gegenstand der Forschung. In der DDR widmete man sich schon in den 1960er Jahren aus politisch-ideologischen Gründen dem Thema. Diese Arbeit gipfelte in dem dreibändigen Werk von Heinrich Scheel Die Mainzer Republik, deren zweiter Band sich unter anderem ausführlich den Protokollen der Sitzungen des Mainzer Jakobinerklubs widmet. Es ist heute weitgehend Konsens der Historiker, dass die Quellenarbeit Scheels, insbesondere in dem genannten Bereich, vorbildlich sei, viele der Schlussfolgerungen daraus allerdings gemäß der politisch-ideologischen Ausrichtung seiner Arbeit überholt sind.
Durch Anregungen aus dem Milieu der Intellektuellenszene der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung aber auch beispielsweise von dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der aufrief, nach den Wurzeln des deutschen Demokratismus zu suchen, beschäftigte man sich in der Zeit nach 1968 und mit Hilfe einer neuen und weniger konservativ geprägten Historikergeneration erneut mit dem Thema, diesmal aber aus einer eher sozial-liberalen und arbeiterhistorischen Perspektive. Diese neuen Forschungsarbeiten standen oft im Gegensatz zur klassisch-geprägten etablierten Forschung.
Ein weiteres Grundlagenwerk zu dem Themenkomplex ist das 1982 erstmals erschienene und 1992 überarbeitete und neu aufgelegte Buch von Franz Dumont Die Mainzer Republik von 1792/93. Dumont analysiert hier unter anderem auch ausführlich den Mainzer Jakobinerklub, seine Zusammensetzung und sein politisches Werk. Für ihn waren der Mainzer Jakobinerklub und seine Aktiven „das unbestrittene Zentrum aller Bemühungen um die Einführung der Demokratie“ und bei dem Prozess der durch die Franzosen angestoßenen politischen Mobilisierung der neuen Untertanen die „tragenden und gestaltenden, bisweilen auch die drängenden Kräfte“. Auch konstatiert Dumont dem Mainzer Jakobinerklub eine zum Ende des 20. Jahrhunderts (bei Historikern) kaum noch umstrittene Bedeutung als erste organisierte Gruppe deutscher Demokraten und Vorform einer politischen Partei. Gescheitert sei der Mainzer Jakobinerklub allerdings als Vertretung der „kleinen Leute“ oder der „werktätigen Masse“. Schuld daran waren zum einen die Diskrepanz zwischen der zahlenmäßig geringen aber politisch führenden Schicht der Intellektuellen einerseits und der im Verhältnis dazu deutlich größeren Anzahl der allerdings politisch nicht aktiven Handwerker andererseits. Und bei der Landbevölkerung war die Unterstützung des Klubs durch eine Mitgliedschaft mit 2 % (das heißt, weniger als zehn Mitglieder der Gesamtanzahl Mitglieder) bei der Gruppe der Bauern quasi nicht existent.
In größerem Umfang wurde über die Mainzer Republik und deren Protagonisten wieder 2013 diskutiert. Im Vorfeld der 220-Jahr-Feier der Ausrufung der Mainzer Republik am 17. März stellte der Ortsbeirat Altstadt in Mainz den Antrag zur Umbenennung des Deutschhausplatzes in „Platz der Mainzer Republik“. Dieser Antrag wurde in der Öffentlichkeit teilweise kontrovers diskutiert, wobei auch hier wieder die Frage der Legitimation und des Demokratieverständnisses der Mainzer Republik und ihrer Gründer, der Mainzer Jakobiner, diskutiert wurde. Nachdem der Mainzer Stadtrat mehrheitlich der Umbenennung zustimmte, wurde diese pünktlich zum 17. März 2013 und damit genau 220 Jahre nach Ausrufung der Mainzer Republik an gleicher Stelle vollzogen. Mit Franz Dumont fand sich ein prominenter Befürworter der Umbenennung, der kurz vor seinem Tod dazu in der Mainzer Tagespresse ausführlich Stellung nahm.
Quellen
Heinz Boberach: Deutsche Jakobiner. Mainzer Republik und Cisrhenanen 1792–1798. Band 1: Handbuch. Beiträge zur demokratischen Tradition in Deutschland. 2. Auflage. Hesse, Mainz 1982.
Franz Dumont: Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz (= Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderheft 9). 2., erweiterte Auflage. Verlag der Rheinhessischen Druckwerkstätte, Alzey 1993, ISBN 3-87854-090-6 (Zugleich: Mainz, Universität, Dissertation, 1978).
Joseph Hansen: Quellen und Geschichte des Rheinlands im Zeitalter der Französischen Revolution 1780 – 1801. Band 2. 1792–1793, Droste Verlag, Düsseldorf 1933, Nachdruck der Ausgabe Hanstein Verlag, Bonn 1933, 2004, ISBN 3-7700-7619-2.
Heinrich Scheel (Hrsg.): Die Mainzer Republik. Band 1: Protokolle des Jakobinerklubs (= Schriften des Zentralinstituts für Geschichte. Bd. 42, ). 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1984.
Literatur
Heinz Boberach: Deutsche Jakobiner. Mainzer Republik und Cisrhenanen 1792–1798. Band 1: Handbuch. Beiträge zur demokratischen Tradition in Deutschland. 2. Auflage. Hesse, Mainz 1982.
Franz Dumont: Mayence. Das französische Mainz (1792/98–1814). In: Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.): Mainz. Die Geschichte der Stadt. 2. Auflage. Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2000-0, S. 319–374.
Franz Dumont: Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz (= Alzeyer Geschichtsblätter. Sonderheft 9). 2., erweiterte Auflage. Verlag der Rheinhessischen Druckwerkstätte, Alzey 1993, ISBN 3-87854-090-6 (Zugleich: Mainz, Universität, Dissertation, 1978).
Franz Dumont: Die Mainzer Republik 1792/93. Französischer Revolutionsexport und deutscher Demokratieversuch (= Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz. Heft 55). Präsident des Landtags Rheinland-Pfalz, Mainz 2013, ISBN 978-3-9811001-3-6.
Walter Grab: Eroberung oder Befreiung? Deutsche Jakobiner und die Franzosenherrschaft im Rheinland 1792 bis 1799. In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. 10, 1970, , S. 7–94 (Auch Sonderabdruck: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen GmbH, Hannover 1970; auch: (= Schriften aus dem Karl-Marx-Haus. Bd. 4, ). Karl-Marx-Haus, Trier 1971), online.
Heinrich Scheel (Hrsg.): Die Mainzer Republik. Band 1: Protokolle des Jakobinerklubs (= Schriften des Zentralinstituts für Geschichte. Bd. 42, ). 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1984.
Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein. Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz. Casimir Katz, Gernsheim 2005, ISBN 3-925825-89-4.
Verein für Sozialgeschichte (Hrsg.): Rund um den Freiheitsbaum. 200 Jahre Mainzer Republik. (= Mainzer Geschichtsblätter. Heft 8, ). Verein für Sozialgeschichte, Mainz 1993.
Bernd Blisch, Hans-Jürgen Bömelburg: 200 Jahre Mainzer Republik. Von den Schwierigkeiten des Umgangs mit einer sperrigen Vergangenheit. S. 7–29.
Weblinks
mainzer-republik.de – Der Mainzer Jakobinerklub
mainz.de – Historisches Mainz: Die Mainzer Republik – Die politische und kulturelle Bedeutung der Stadt Mainz im ausgehenden 18. Jahrhundert
Anmerkungen
Organisation (Französische Revolution)
Koalitionskriege
Mainzer Republik
Organisation (deutsch-französische Beziehungen)
Gegründet 1792
Aufgelöst 1793 |
6813108 | https://de.wikipedia.org/wiki/24%20%28Fernsehserie%29/Staffel%204 | 24 (Fernsehserie)/Staffel 4 | Die vierte Staffel der US-amerikanischen Fernsehserie 24 wurde in den Vereinigten Staaten von Januar bis Mai 2005 erstmals ausgestrahlt, in Deutschland, Österreich und der Schweiz zwischen November 2005 und März 2006. Sie handelt im Wesentlichen von den Bemühungen der fiktiven US-Antiterrorbehörde CTU, arabischstämmige Terroristen aufzuspüren und von Terroranschlägen abzuhalten, zu denen Kernschmelzen in Atomkraftwerken und die Explosion eines Nuklearsprengkopfes gehören. Zur Handlung gehören zudem die Entführung und Befreiung des US-Verteidigungsministers und ein terroristischer Luftangriff auf das US-Präsidentenflugzeug Air Force One.
Vor Staffelbeginn wurde ein neues Innenset für die CTU geschaffen, die Hauptbesetzung außerdem zu einem großen Teil erneuert. Charakteristisch für die Staffel ist der verglichen mit anderen Staffeln häufigere Einsatz von Folter als Verhörmethode durch die CTU. Thematisierung und Darstellung von Folter wurden kontrovers diskutiert und kritisiert. Die Produzenten und der US-Fernsehsender FOX wurden von islamischen und türkischen Interessenvertretungen für die Porträtierung von Muslimen und Türken als Terroristen negativ kritisiert. Es gab elf Nominierungen und drei Prämierungen für den Primetime Emmy Award sowie – für den Hauptdarsteller Kiefer Sutherland – eine Golden-Globe-Nominierung.
Prequel
Das Prequel ist ein circa sechs Minuten langer, von Jon Cassar und Joseph A. Hodges inszenierter, titelloser Kurzfilm, der in der Zeit seit dem Ende der dritten Staffel spielt. Er wurde auf der am 7. Dezember 2004 erschienenen, US-amerikanischen DVD-Ausgabe der dritten Staffel erstveröffentlicht, später erschien er auch im Internet und auf der deutschen DVD-Ausgabe der vierten Staffel. Es existiert keine deutsche Synchronfassung.
Das Prequel beginnt mit einer der letzten Szenen der dritten Staffel, in der Jack Bauer wegen der Ereignisse der vergangenen Stunden in Tränen ausbricht. Drei Monate später wird er durch Erin Driscoll, die neue Chefin der Counter Terrorist Unit – der Antiterroreinheit – Los Angeles, wegen seiner Heroin-Abhängigkeit entlassen, die in ihren Augen eine Gefahr für seine Arbeit darstellt. Ein weiteres Jahr später überquert ein Mann, Thomas Sherek, die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko in Richtung USA. Anschließend ermordet er die Männer, die ihm bei der Überquerung geholfen haben. Sechs Stunden, bevor die Handlung der vierten Staffel einsetzt, ist Bauer beim Liebesspiel mit seiner für die Zuschauer neuen Freundin Audrey Raines zu sehen. Die Namen von Sherek und Raines erfährt der Zuschauer erst zu Beginn der vierten Staffel.
Handlung
Die Handlung spielt 18 Monate nach der dritten Staffel, beginnt um 7 Uhr morgens und dauert bis 7 Uhr des Folgetages. In diesem 24-stündigen Handlungszeitraum sterben 225 Personen; allein 39 davon werden durch Jack Bauer getötet, den Protagonisten. Die vierte Staffel ist die erste, die ohne die Ansage beginnt, der zufolge „Alles, was Sie sehen,“ in Echtzeit geschieht.
Zusammenfassung
Der arabischstämmige Terrorist Habib Marwan, der die USA für ihre Außenpolitik bestrafen will und der mehrere Terrorzellen kommandiert, lässt den US-Verteidigungsminister James Heller und dessen Tochter Audrey Raines entführen, um Heller in einem im Internet live übertragenen Schauprozess zum Tode zu verurteilen. Jack Bauer, der wieder für die CTU arbeitet, hilft beim Aufspüren und Befreien der Entführten. Die Entführung stellt sich für die CTU als ein von den Terroristen verwendetes Mittel zu dem Zweck heraus, bei der Übertragung des Schauprozesses das Internet und so die Sicherheitssysteme der US-Atomkraftwerke zu überlasten. Dadurch und mit einem gestohlenen Gerät, das der Fernsteuerung der Atomkraftwerke dient, gelingt es Marwan und seinen Komplizen, in einem der Atomkraftwerke eine Kernschmelze herbeizuführen; weitere Kernschmelzen in den übrigen Kraftwerken kann die CTU verhindern.
Bei einer von Marwans Terrorzellen handelt es sich um die Mitglieder der arabischstämmigen Familie Araz, die unerkannt als Schläfer in Los Angeles leben. Die CTU wird, ausgelöst durch einen innerfamiliären Streit, auf die Familie aufmerksam und setzt Mutter und Sohn dazu ein, Marwan aufzuspüren. Dennoch kann die CTU nicht verhindern, dass Marwan mit einem gestohlenen Tarnkappenbomber die Air Force One aus der Luft abschießen und mit den dabei gewonnenen Geheiminformationen einen Nuklearsprengkopf stehlen lässt. Weil der US-Präsident abschussbedingt ausfällt, übernimmt der Vizepräsident die Amtsgeschäfte, der sich aber wegen Überforderung alsbald vom Ex-Präsidenten Palmer bei der Bewältigung der terroristischen Bedrohung helfen lässt. Am Ende kann die CTU die mit dem Nuklearsprengkopf bestückte Rakete von ihrer Explosion abhalten und Marwan stoppen. Nicht zuletzt durch einen von Palmers Befehlen kommt es zu diplomatischen Verwicklungen mit China, in deren Folge Bauer seiner Ermordung nur entgehen kann, indem er mit Freunden seinen eigenen Tod vortäuscht.
Bei den Anti-Terror-Ermittlungen setzen Bauer und die CTU mehrfach Folter als Mittel zur Informationsgewinnung bei Verhören ein. In den meisten Fällen geben die Verhörten die gewünschten Informationen rasch preis, in manchen Fällen stellen sich die Gefolterten als unschuldig heraus. Als Foltermittel kommen vor allem Schussverletzungen, Elektroschocks und schmerzverursachende Injektionen zum Einsatz. Das Liebesverhältnis zwischen Bauer und Raines leidet schwer unter Bauers Folterhandlungen.
Ausführliche Wiedergabe
Vorgeschichte und Ausgangssituation
Nachdem sich Präsident David Palmer am Ende des dritten Tages gegen eine erneute Präsidentschaftskandidatur entschieden hatte, kam es nach dem dritten Tag zu einem Wechsel in der US-Regierung. Bauer wurde Angestellter des US-Verteidigungsministers James Heller, der zur Regierung des neu gewählten US-Präsidenten John Keeler gehört. Mit Hellers Tochter und Assistentin Audrey Raines, die zu Beginn des vierten Tages in Trennung von ihrem Ehemann, dem Geschäftsmann Paul Raines lebt, führt Bauer eine Liebesbeziehung. Bauer hat sich bei David Palmer erfolgreich dafür eingesetzt, dass sein Freund und ehemaliger Kollege Tony Almeida aus dem Gefängnis frei kommt. Dennoch hat sich Michelle Dessler von Almeida scheiden lassen.
7 bis 15 Uhr
Die arabischstämmige Familie Araz, die aus dem Ehepaar Navi und Dina sowie dem jugendlichen Sohn Behrooz besteht, wohnt in einem Vorort von Los Angeles. Die Familie, deren Herkunftsland nicht genannt wird, bereitet sich als Terrorzelle auf diesen Tag schon seit fast fünf Jahren vor. In Navis Auftrag lässt der türkische Verbrecher Tomas Sherek um 7 Uhr nahe Santa Clarita einen Sprengstoffanschlag auf einen Personenzug verüben – wobei mindestens 32 Menschen sterben –, um einem Fahrgast einen Koffer zu entwenden. Jack Bauer, wegen Budgetverhandlungen gerade in der CTU weilend, hilft beim Aufspüren Shereks.
Auch durch einen von Driscoll zunächst missachteten Hinweis von Chloe O’Brians Studienfreund Andrew Paige, der eine von türkischen Servern ausgehende Blockade zahlreicher Router im Internet bemerkt hat, verdichtet sich Bauers Verdacht, dass für 8 Uhr ein weiterer Anschlag geplant ist. Durch das eigenmächtige Foltern Shereks per Schussverletzung bringt Bauer Sherek kurz vor 8 Uhr dazu preiszugeben, dass für 8 Uhr ein Anschlag auf Heller geplant ist, er kann diesen aber nicht mehr rechtzeitig warnen. Um 7:59 Uhr werden Heller und – ungeplant – Audrey, während sie Hellers Sohn Richard in dessen Haus besuchen, im Auftrag von Navis Komplize Omar entführt und die meisten ihrer Secret-Service-Agenten erschossen.
Heller und seine Tochter werden durch Omar und dessen Komplizen in einem Versteck im Santa Clarita Valley gefangengehalten. Als Behrooz in Navis Auftrag den Koffer aus dem Zug dort abliefert, wird er durch seine nichtmuslimische Freundin Debbie beobachtet, zu der ihm seine Eltern längst den Kontakt verboten haben. Aus dem Versteck heraus lässt Omar online etwa 9 Uhr eine Videobotschaft mit dem gefesselten Heller und der Ankündigung übertragen, ihn in einem gegen 12 Uhr beginnenden Schauprozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen und zum Tode zu verurteilen. Bei einem erfolglosen Fluchtversuch kann Heller einen Wachmann erschießen, etwas später versuchen sie sich dem Schauprozess und ihrer Hinrichtung durch Suizid zu entziehen, allerdings ebenfalls erfolglos.
Unterdessen flieht Paige vor Navis Komplizen, die ihn wegen seines Zugriffs auf ihre Server fangen wollen und dabei auch seine Arbeitskollegen und seine Mutter ermorden. Um Heller und Audrey zu finden, lässt sich Bauer, Driscoll mit ihrem Fehlverhalten erpressend, aushilfsweise als CTU-Agent einstellen. Mit Ronnie Lobell, dem Nachfolger Bauers in dessen früherer CTU-Position, möchte er Paige am Treffpunkt in der Union Station in Sicherheit bringen. Navis Komplize Kalil Hasan kommt ihnen aber zuvor, entführt Paige und erschießt Lobell. Dadurch auf sich gestellt, verfolgt Bauer Hasan unbemerkt und entgegen Driscolls Befehl weiter, um sich zu Hellers Aufenthaltsort führen zu lassen. Die Ermordung des gefolterten Paiges verhindert Jack, indem er Hasans Komplizen erschießt. Da O’Brian, von der Bauer inoffiziell unterstützt wird, die Satellitenüberwachung Hasans nicht schnell genug bewerkstelligen kann, inszeniert Bauer in einer von Hasan gerade benutzten Tankstelle zwecks Zeitgewinn einen Raubüberfall, bei dem er auch Hasan als Geisel nimmt.
Als O’Brian den Satelliten zur Überwachung Hasans einsetzt, fällt ihre Unterstützung für Bauer auf, weshalb Driscoll sie verhaften lässt. Bauer lässt Hasan nach etwa 40 Minuten Geiselhaft wieder frei und verfolgt ihn im Straßenverkehr. Weil Bauer der einzigen Spur zum Aufenthaltsort Hellers nachgeht, lässt Driscoll ihn notgedrungen wieder unterstützen. Durch eine Polizeikontrolle auf seine Verfolgung aufmerksam geworden, begeht Hasan Sekunden, nachdem er sich von Omar per „Allahu akbar“ verabschiedet hat, Suizid. Mit einer Wärmebildabtastung der Umgebung findet die CTU kurz vor 12 Uhr das Versteck Omars, der dort gerade den Schauprozess beginnen lässt, in dem Heller unter anderem der Gotteslästerung für schuldig befunden wird. Auch, weil Keeler das Gebäude mit einer lasergesteuerten Rakete bombardieren möchte, um den USA die Schmach einer öffentlichen Hinrichtung Hellers zu ersparen, verbietet Driscoll es Bauer, Heller und Audrey selbst zu befreien. Bauer widersetzt sich dem Befehl und kann so Audrey und – kurz vor dessen Exekution vor laufender Kamera – Heller befreien. Zusammen mit hinzukommenden US-Marines töten Heller und Bauer die überwiegend arabischen Entführer. Keeler bricht die Bombardierung ab.
Die Karriere-orientiert auftretende Marianne Taylor, ehemalige CTU-Angestellte und damals Geliebte ihres Kollegen Curtis Manning, erpresst von Driscoll, wieder in der CTU zu arbeiten, indem sie mit dem Kundtun des einstigen Geheimnisverrats Mannings beim gemeinsamen Liebesspiel droht. Wenig später lässt sich Taylor von Edgar Stiles entgegen den Vorschriften eine umfassendere Sicherheitsfreigabe für die CTU-Software vergeben, indem sie Stiles damit droht, seine Unterstützung für O’Brian bei Driscoll zu melden.
Dina lädt unter einem Vorwand Debbie zu sich und Behrooz nach Hause ein. Da Dina ihrem Sohn die Ermordung Debbies nicht zutraut, vergiftet Dina sie als mutmaßliche Mitwisserin tödlich. Weil Navi und sein Auftraggeber, Habib Marwan, Behrooz als Sicherheitsrisiko für ihre terroristische Aktion betrachten, wollen sie seinen Tod. Behrooz möchte das vereiteln, weswegen er den auf ihn angesetzten Killer tötet und vor Navis Komplizen flieht. Um die Ermordung ihres Sohns zu verhindern, stellt sich auch Dina kurz darauf gegen Navi, indem sie Behrooz bei dessen Flucht unterstützt.
Nachdem Driscolls schizophrene Tochter Maya wegen ausgesetzter Thorazine-Einnahme gegenüber Nachbarn ausfällig geworden ist, lässt Driscoll Maya in der CTU-Krankenstation behandeln.
Am Ort von Hellers und Audreys Gefangenschaft findet die CTU den aus dem Zug gestohlenen, leeren Koffer. Er wurde im Zug von einem Kurier des fiktiven Rüstungskonzerns McLennen-Forster transportiert, dem drittgrößten US-Waffenhersteller, und enthielt den sogenannten „Dobson Override“, ein von dem Unternehmen zusammen mit der Nuclear Regulatory Commission entwickeltes, prototypisches Gerät zur Fernsteuerung von US-Atomkraftwerken. Nach einem Cyberangriff auf die Kernkraftwerk-Sicherheitssysteme lässt es sich zum Herbeiführen von Kernschmelzen missbrauchen. Die CTU ist deshalb überzeugt davon, dass die Terroristen eine nukleare Katastrophe herbeizuführen planen und ihnen die Übertragung des Schauprozesses lediglich zur Ablenkung, zur Überlastung des Internets und zur Schwächung der Firewalls der Atomkraftwerke diente. Die Terroristen kontrollieren nun mit dem Override alle 104 aktiven US-Atomkraftwerke. Davon kann Stiles gegen 13 Uhr 98 Stück mit einer riskanten Kombination aus Anweisungen herunterfahren und so die Kernschmelzen in den darin befindlichen Reaktoren verhindern.
Während ihrer Gefangenschaft hat Audrey einen für Omar arbeitenden Amerikaner wiedererkannt. Um ihn zu identifizieren, begeben sich Jack, von Driscoll indes wieder zum Leiter der Abteilung für Geheimoperationen berufen, und Audrey zu der Sicherheitsfirma, die die Videoaufnahmen für die Veranstaltung gespeichert hat, auf der Audrey ihn erstmals gesehen hatte. Dort angekommen, versuchen Killer, sie im Auftrag des Amerikaners zu ermorden, der Henry Powell heißt und für den Taylor in der CTU spioniert. Nach der Sicherstellung des Videos und mit dem von Bauer zu Hilfe gerufenen Tony Almeida können sie die Killer töten und, mit Unterstützung des US-Verteidigungsministeriums, Powell als einen für McLennen-Forster tätigen Softwareingenieur identifizieren. Als Bauer und Almeida ihn verhaften, wird Powell von einem Heckenschützen erschossen.
Weil die Attentäter in der Sicherheitsfirma Kenntnis von Jacks und Audreys Aufenthaltsort hatten, erkennt Jack, dass es in der CTU einen Maulwurf geben muss. Heller und Driscoll lassen daraufhin die CTU-Angestellte Sarah Gavin, durch Taylor insgeheim mit gefälschten Beweisen belastet, als Schuldige verhaften und, zwecks Preisgabe ihrer Kontaktleute, durch den Einsatz von Elektroschockpistole und Injektionen foltern. Nachdem Taylor von Stiles als die wahre Verräterin identifiziert wurde, versucht sie erfolglos zu fliehen; bei der Explosion einer für ihre Ermordung bestimmten Autobombe sterben mehrere CTU-Wachleute.
Als einziger Augenzeuge und wegen des Verdachts, für die Entführung mitverantwortlich zu sein, wird der US-regierungskritische Richard in der CTU mittels sensorischer Desorientierung verhört, auch mit dem späteren Einverständnis seines Vaters. Richard weigert sich dabei, Informationen aus seinem Privatleben preiszugeben, und wird von Heller schließlich mangels Beweisen freigelassen.
15 bis 23 Uhr
Gegen 15 Uhr kommt es im Atomkraftwerk auf der fiktiven Insel San Gabriel Island zu einer Kernschmelze; in den übrigen fünf, durch Marwan mit dem Override kontrollierten Anlagen steigen die Reaktorkerntemperaturen. Audrey Raines koordiniert die Abstimmung zwischen Polizei und Nationalgarde, die die Einwohner evakuieren. Indes fliehen Tausende Menschen vor der sich nähernden radioaktiven Wolke.
Nach der Auswertung von Powells Anrufliste findet die CTU die verletzte Dina in ihrem Hotelzimmer. Nachdem sie sich vom Präsidenten Straffreiheit für Behrooz hat zusichern lassen, hilft sie der CTU beim Auffinden von Navi. In einem Krankenhaus nimmt er Behrooz als Geisel; nach Jacks Eintreffen erschießt Behrooz seinen Vater hasserfüllt und in Notwehr. Da ihr Sohn unversehrt ist, gibt Dina der CTU die Adresse eines Gebäudes preis, das die Terroristen als Planungszentrale ihrer heutigen Aktivitäten nutzten und zu dessen Vermietern auch Pauls Firma gehört. Dadurch in den Verdacht der Mittäterschaft geraten, wird Paul von Jack zwecks Preisgabe weiterführender Informationen – in Audreys Beisein – mit Stromschlägen gefoltert. Aus Pauls Aussagen und aus CTU-Hinweisen ergibt sich, dass Marwan das Gebäude unter einem Decknamen angemietet hatte, unter dem er auch im Rockland-Gebäude arbeitet. Dorthin hat sich unterdessen Manning mit der verhafteten Taylor begeben, um Informationen über Powell sicherzustellen. Durch das Foltern Pauls verspürt Audrey zunehmend Abneigung gegenüber Jack.
Nachdem Manning im Rockland-Gebäude angelangt ist, werden die beiden ihn begleitenden CTU-Agenten und Taylor von Komplizen Marwans erschossen, die auch für Powells Tod und für die Bombe in Taylors Auto verantwortlich sind; sie verhören Manning zwecks Preisgabe des Ermittlungsstands der CTU, werden danach aber von ihm überwältigt. Währenddessen verhört Almeida, durch Bauers und Hellers Befürwortung wieder als CTU-Agent eingestellt, Dina Araz. Mit negativen Konsequenzen für ihren Sohn bedroht, gibt sie Informationen über Marwan, den Override und das Rockland-Gebäude preis.
Im Rockland-Gebäude entdecken Bauer und Manning kurz vor 17 Uhr Marwan und den Override. Mit dem Override kann die CTU die beginnenden Kernschmelzen in den fünf Atomkraftwerken abbrechen, Marwan flüchtet. Die CTU ermittelt, dass er jahrelang als Ingenieur bei McLennen-Forster tätig war und dabei den Override entwickelte, und befürchtet, dass er andere Schläfer-Zellen für weitere Terroranschläge rekrutieren könnte. Um Informationen über Marwans Tätigkeit zu sammeln, durchsucht Jack, unterstützt von Paul, Marwans Dateien in der Konzernzentrale von McLennen-Forster. Da die Firmenleitung schwerwiegende juristische Konsequenzen befürchtet, lässt sie dort zur Beweismittelvernichtung kurz vor 19 Uhr eine elektromagnetische Impulsbombe zünden, die alle elektronischen Geräte in dem Gebäude und dem 20 km² großen, umgebenden Stadtgebiet lahmlegt. Während des Stromausfalls kommt es in der Gegend rasch zu gewalttätigen Unruhen und Plünderungen.
Nachdem Maya Driscoll abermals ausfällig geworden ist und deshalb fixiert werden soll, begeht sie in der CTU-Krankenstation Suizid. Dadurch emotional schwer belastet, beendet Erin ihren Dienst. Als CTU-Leiter wird sie vorübergehend durch Almeida ersetzt, ehe dieser gegen 19 Uhr von seiner Ex-Frau Michelle Dessler abgelöst wird. Sie entlässt die rasch wieder zur Arbeit zurückgekehrte Sarah Gavin wegen ihrer Forderung nach der Gehaltserhöhung, die ihr Erin zuvor als Ausgleich für ihre Folterung genehmigt hatte.
Paul wird von Handlangern der Firmenleitung gefoltert, um von ihm die Informationen zu erhalten, die die Firma belasten, und kurz darauf von Jack befreit. Gemeinsam und mit einem verschlüsselten Dokument aus Marwans Dateibestand fliehen sie vor einem schwer bewaffneten Söldner-Kommando, das sie im Auftrag der Handlanger liquidieren will, bis in ein Waffengeschäft. Aus diesem heraus provozieren sie ein Feuergefecht, um die CTU auf sich aufmerksam zu machen. Zwar gelingt der Plan und die Söldner kommen zu Tode, allerdings wird dabei auch Paul, Jack schützend, angeschossen. Schwer verletzt, wird er in der CTU-Krankenstation behandelt, wo Audrey indes wieder Liebesgefühle für ihn bewusst werden. Es zeichnet sich ab, dass Paul nun wahrscheinlich querschnittsgelähmt ist.
Aus dem sichergestellten Dokument ergibt sich, dass es sich bei dem arabischstämmigen Professor Joseph Fayed um eine weitere von Marwans Terrorzellen handelt. Mit dem Versprechen von Straffreiheit und Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm für Dina und Behrooz erreicht Jack, dass sich Dina an einem Undercover-Einsatz zum Auffinden von Marwan beteiligt. Überwacht von der CTU, die Chloe O’Brian zur Verstärkung wieder eingestellt hat, und mit Jack als vorgeblicher Geisel, begibt sich Dina daraufhin zu Fayed. Dieser führt sie kurz darauf in Richtung eines Treffpunkts mit Marwan. Dorthin unterwegs, begeht Fayed auf Marwans Anweisung hin zwecks Spurenverwischung Suizid. Weil Marwan Dinas doppeltes Spiel durchschaut, lässt er Dina erschießen; Jack nimmt er als Geisel.
Unterdessen erpresst der für Marwan arbeitende, einst unehrenhaft entlassene Militärpilot Mitch Anderson den Air-Force-Piloten Hansen, von dem er sich auf einen US-Luftwaffenstützpunkt schmuggeln lässt. Mit der gestohlenen Identität des ermordeten Hansen, dessen Familie er mittlerweile ebenfalls hat ermorden lassen, verschafft er sich Zugang zum Hangar. Marwan möchte die CTU von der indes bei der Polizei eingegangenen Vermisstenmeldung über Hansens Familie und somit von der Entdeckung von Andersons Aktivität ablenken und organisiert deshalb mit der CTU den Austausch Jacks gegen Behrooz. Weil die CTU-Leitung über Marwans diesbezügliche Absichten skeptisch ist, lässt sie Behrooz mit einem Wahrheitsserum foltern. Der neu in der CTU L.A. eingetroffene CTU-Regionaldirektor Bill Buchanan überwacht die Durchführung des Austauschs. Dabei kommt kurz vor 22 Uhr Jack frei und Behrooz in Marwans Gewalt. Durch die Überwachung des Austauschs ist die CTU so überlastet, dass die Vermisstenmeldung liegenbleibt. Dadurch bleibt ihr auch unbemerkt, dass Anderson gegen 22 Uhr von dem Stützpunkt mit einem F-117A-Tarnkappenbomber startet.
Durch die Lokalisierung von Telefonleitungen, die Jack in seiner Gefangenschaft kurzgeschlossen hat, findet die CTU das Versteck von Marwan, das sie, Marwans Komplizen erschießend, stürmt. Marwan flüchtet vorher und zerstört die meisten Datenträger mittels ferngezündeter Bomben. Von einem sterbenden Komplizen Marwans erfährt Bauer von einem noch in dieser Stunde stattfindenden, weiteren Anschlag. In den Datenträgern findet er den Namen Anderson. In dessen Wohnung angelangt, wird er von einer als FBI-Agentin getarnten Komplizin Marwans eine Zeitlang am Auffinden von Informationen über den bevorstehenden Anschlag gehindert. Erst wenige Minuten vor 23 Uhr erkennen er und die CTU, dass Anderson einen Tarnkappenbomber gestohlen hat und die Air Force One mit Keeler an Bord sein Ziel ist. Um 22:59 Uhr wird sie, wenige Minuten vor der geplanten Landung in L.A., von einer durch Anderson abgeschossenen Luft-Luft-Rakete in mehreren Tausend Metern Höhe getroffen.
23 bis 7 Uhr
Durch den Raketentreffer ist die Air Force One schwer beschädigt und zur Notlandung gezwungen. Während Keeler schwer verletzt wird, sterben über 70 andere Passagiere. Bauer begibt sich in die Mojave-Wüste, wo der in der Air Force One transportierte Nuclear Football niedergegangen ist, der Koffer, der – in der Serienfiktion – Standorte und Aktivierungscodes des US-Nuklearwaffenarsenals enthält und den sich Marwan aneignen möchte. Auf Bauers telefonische Anweisungen hin flieht ein Liebespaar, das den Koffer in der Wüste gefunden hat, vor Marwan und dessen Komplizen in ein altes Kraftwerk, damit Marwan nicht an den Koffer gelangt. Dort foltert Marwan das Pärchen zwecks Herausgabe des Koffers, ehe es von Bauer gerettet wird. Mit wesentlichen Informationen aus dem Koffer flüchtet Marwan. Diese verwendend, lässt er in Iowa einen Militärkonvoi überfallen und dabei einen Nuklearsprengkopf stehlen.
Da Keeler nun amtsunfähig ist, kommt der 25. Verfassungszusatz zur Anwendung und der US-Vizepräsident Charles Logan wird im Weißen Haus kurz vor Mitternacht als neuer Präsident vereidigt. Sein Berater Mike Novick ist besorgt, weil sich Logan zögerlich und unsicher verhält. Aus Angst vor der Gefahr weiterer Terroranschläge für ihn persönlich regiert Logan fortan aus dem Luftschutzbunker unter dem Weißen Haus.
Buchanan entkräftet Almeidas Verdacht, er habe noch während Almeidas und Desslers gemeinsamer Ehe eine Liebesbeziehung mit Dessler geführt. Etwas später beschließen Dessler und Almeida, ihre Liebesbeziehung wieder aufzunehmen.
Insgeheim überwacht von der CTU, trifft sich Marwans Komplize Yosik Khatami, wegen Unachtsamkeit in den Fokus der CTU geraten, mit dem für Marwan arbeitenden Fluchthelfer Joe Prado. Kurz vor beider Verhaftung durch die CTU vereitelt Prado seine eigene Ermordung durch den auf die CTU aufmerksam gewordenen und deshalb misstrauischen Khatami, indem er diesen erschießt. Damit Prado von der CTU nicht gefoltert wird und so keine Aussagen über Marwan machen kann, beauftragt Marwan einen Anwalt der fiktiven Organisation Amnesty Global. Dieser erscheint etwa 20 Minuten später in der CTU und verbietet ihr mit einem richterlichen Beschluss das Foltern Prados. Nachdem auch Logan der CTU das Foltern Prados vorerst verboten hat, quittiert Bauer seinen Dienst bei der CTU. Weil der CTU, die Prado nun freilässt, keine juristischen Folgen für das Foltern Prados mehr drohen, foltert Bauer Prado in dessen Auto eigenverantwortlich, indem er ihm seine Finger einzeln bricht, wodurch Prado Informationen über Marwans Aufenthaltsort preisgibt.
Um Bauer wegen der Folterung Prados zu verhaften, schickt Logan den Secret Service aus. Die CTU inklusive des wiedereingestellten Bauer observiert Marwan in dem von Prado genannten Nachtclub, wo Marwan gerade eine an die US-Bevölkerung gerichtete Videobotschaft aufzeichnet, in der er ihr seine Motivation für die noch vor Beginn des nächsten Morgens geplante Explosion der Nuklearwaffe mitteilt. Mit diesem Anschlag und mit der Androhung weiterer Anschläge will er erreichen, dass die USA ihre seiner Ansicht nach imperialistische und interventionistische Außenpolitik beenden. Infolge des Erscheinens des Secret Service bei dem Nachtclub vorgewarnt, kann Marwan der CTU unterirdisch entkommen. Logan gesteht wegen dieses Fehlschlags die Verhaftung Bauers als eigenen Fehler ein und veranlasst deshalb umgehend Bauers Freilassung. Weil sich Logan mit der Amtsführung überfordert fühlt, holt er sich auf Novicks Vorschlag hin Ex-Präsident David Palmer zu Hilfe; ihm erteilt Logan eine Vollmacht zum Treffen sämtlicher Entscheidungen hinsichtlich der Suche nach dem Nuklearsprengkopf.
Die Freundin von Sabir Ardakani, der in Iowa in Marwans Auftrag an der Aktivierung des Nuklearsprengkopfs beteiligt ist, hat den Verdacht, Sabir stehe in Verbindung mit Terroristen. In ihrem Wohnhaus eingetroffen, stellt O’Brian Mikrochip-Pläne des Nuklearsprengkopfs sicher, wobei sie und die Frau – im Gegensatz zu zwei CTU-Agenten – einen in Marwans Auftrag verübten Mordanschlag überleben. Die Pläne wurden Sabir durch den kriminellen und staatlich unabhängig agierenden Chinesen Lee Jong verkauft, der, Ermittlungen gegen sich befürchtend, innerhalb der letzten Stunde im chinesischen Konsulat von L.A. Zuflucht gefunden hat. Den drängenden Bitten Palmers an den dortigen Konsul Koo Yin, Lee zwecks Preisgabe von Informationen über Marwans Aufenthaltsort zu verhören, kann Koo nicht rasch genug entsprechen. Mit Palmers Erlaubnis, inoffiziell und maskiert entführt deshalb Bauer Lee gewaltsam aus dem Konsulat. Bei der Aktion wird Lee schwer verletzt, Koo versehentlich durch einen Konsulatswachmann erschossen und der zu Bauers Team gehörige CTU-Agent Howard Bern von einer Überwachungskamera kurz unmaskiert gefilmt.
Kurz vor 3 Uhr wird Lee, in Lebensgefahr befindlich, in die CTU-Krankenstation eingeliefert, in der zudem Paul – mit dem sich Audrey zuvor versöhnt hatte – gerade in einer lebensbedrohlichen Situation ist. Um Lee verhören zu können, zwingt Bauer die Mediziner, Lee zu behandeln, wodurch Lee überlebt und Paul stirbt. Audreys Verhältnis zu Jack ist darüber erschüttert. Die Chinesen betrachten das Eindringen in ihr Konsulat und den vermeintlichen Mord an Konsul Koo als kriegerischen Akt. Gegenüber dem Konsulat streitet Palmer jede US-staatliche Beteiligung an der Entführung Lees und dem Tode Koos ab. Cheng Zhi, der Sicherheitschef des Konsulats, begibt sich, nachdem er Bern identifiziert hat, mit der Erlaubnis des US-Außenministers in die CTU, um dort die Verantwortlichen zu ermitteln. Cheng sieht seine Zweifel an der von Palmer und Novick zur Vertuschung erdachten Erklärung, der zufolge eine chinesische Terrororganisation für die Entführung verantwortlich sei, rasch bestätigt, als sich ihm Bauers Alibi für die fragliche Zeit als brüchig erweist. Bauer lässt Bern aus der CTU nach San Diego fliegen und damit vor der Entdeckung durch die Chinesen in Sicherheit bringen.
Mit dem Verweigern medizinischer Hilfe bedroht, gibt Lee die Adresse einer Fabrik als möglichen Aufenthaltsort Marwans preis. Die CTU verhaftet ihn dort, kann aber den um 3:59 Uhr in Iowa erfolgenden Start einer Rakete nicht verhindern, die Marwan indes mit dem Nuklearsprengkopf hat bestücken lassen. Wenige Minuten nach seiner Verhaftung wird Marwan durch Komplizen befreit. Die von der CTU durchgeführte Auswertung der Anrufe auf Marwans Handy ergibt, dass es einige Tage zuvor von Richard Hellers Handy aus angerufen wurde. Im Verhör durch Richards Vater, den Richard bislang noch nicht über seine Homosexualität informiert hatte, gesteht Richard, dass das Handy in der fraglichen Nacht durch ein Pärchen benutzt worden sein muss, das er zu sich nach Hause eingeladen hatte und mit dessen Mann er in der Nacht schlief. Bauer findet den Mann in einem Apartmenthaus erschossen durch die Terroristin Mandy vor, die indes den CTU-Agenten Castle tötet und Almeida als Geisel nimmt. Sie hatte vor Jahren ein Flugzeug zum Absturz gebracht und später das Säureattentat auf Präsident Palmer verübt.
Da die etwa 1000 km/h schnell fliegende Atomrakete eine Tarnvorrichtung besitzt, kann die CTU sie nicht orten. Bei einer Diskussion über Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen stellt Don Ashton, der Sprecher des Repräsentantenhauses, wegen Palmers Hilfe Logans Autorität in Frage. Daraufhin inszenieren Logan, Novick und Palmer eine Situation, in der Ashton davon überzeugt wird, Logan sei Herr der Lage.
Um flüchten zu können, inszeniert Mandy ihren und Tonys Tod unter Erpressung und Ermordung ihrer Nachbarn. Vor allem wegen der Hartnäckigkeit von Jack, der Zweifel an Mandys mutmaßlichem Suizid hat, kann die CTU Mandy ergreifen und Tony befreien. Nachdem sie sich von Logan Straffreiheit für alle früheren Verbrechen hat zusichern lassen, gibt sie Marwans Fluchtweg bekannt. Dadurch kann ihn die CTU in letzter Sekunde an der Flucht aus L.A. hindern. Vor der Ergreifung durch Bauer flüchtend, begeht Marwan durch Sturz von einem Hochhaus Suizid. Mit dem in seinem Hubschrauber sichergestellten Gerät kann die CTU die Rakete kurz vor ihrem mutmaßlichen Einschlag in L.A. lokalisieren und per Beschuss durch einen Kampfjet zerstören, ohne dass der Nuklearsprengkopf explodiert.
Unterdessen wird Bern in San Diego durch Cheng und die Androhung, ihn in ein chinesisches Arbeitslager zu deportieren, zu dem Geständnis gezwungen, dass Bauer den Einsatz im Konsulat geleitet hat. Logan, kurz darauf durch den chinesischen Vizekonsul mit diesem Geständnis konfrontiert, gibt deshalb der Forderung zur Auslieferung Bauers an China nach. Aus Sorge um die diplomatischen Beziehungen zu China ändert Walt Cummings, Stabschef des Weißen Hauses, den Befehl jedoch in einen Tötungsauftrag – ohne, dass Logan es verbietet. Um Bauers Ermordung zu vereiteln, inszenieren Almeida, O’Brien und Dessler mit der Unterstützung von Bauer und Palmer und zum Schein aller Anderen Bauers Tod; zudem verhelfen sie Bauer zur Flucht mit einer neuen Identität.
Entstehung
Konzeption
Für die Handlung der vierten Staffel verwendeten die Drehbuchautoren eine gegenüber den vorherigen Staffeln andere Erzählweise: Hatten sie sich zuvor auf drei, jeweils die ganze Staffel umfassende Handlungsbögen konzentriert, so konzipierten sie die vierte Staffel schrittweise mit mehr als drei aufeinanderfolgenden Handlungsbögen von jeweils geringerer Länge. Vor diesem Hintergrund sagte Showrunner Joel Surnow über die Staffel, dass die Drehbuchschreiber den Fokus bewusst stärker auf die Spannungserzeugung gelegt hätten als auf die Plausibilität der Echtzeit-Erzählweise.
Surnow sagte, dass die Drehbuchautoren die ersten vier, für eine besonders zeitnahe Ausstrahlung vorgesehenen Episoden vor ihrem Dreh stärker als den restlichen Teil der Staffel überarbeitet hätten.
Szenenbild
Für die vierte Staffel wurde die Produktion von Woodland Hills nach Chatsworth verlagert. Dort entstand in mehreren Monaten Bauzeit in einer Halle ein neues permanentes Set für das Gebäude-Innere der im Mittelpunkt der Handlung stehenden CTU-Zweigstelle von L.A.; es kam auch in den beiden folgenden Staffeln zum Einsatz. Das gegenüber dem vorherigen Set größere, sechs Meter hohe und zweistöckige Set diente einer bei den Dreharbeiten störgeräuschärmeren Akustik, der vereinfachten Wahl der Kamera-Winkel und bot mehr Platz für die Beleuchtung. Das Set diente auch der Einbettung thematischer Metaphern. Um eine solche Metapher handelt es sich etwa bei den Barcodes repräsentierenden Streifen auf Glasscheiben, unter anderem denen des Beratungsraums, die nach den Worten des Szenenbildners Joseph Hodges das Vorhanden- und Verborgensein von Dingen symbolisieren. Das Farbschema des Sets bestand nunmehr aus Rot, Weiß und Blau und ähnelte damit stark dem der Kurznachrichten, die FOX in den Werbepausen von 24 ausstrahlte. Deshalb lässt sich das neue Set zugleich als Raum zur Integration der Marke FOX in die Serie verstehen. Sie wird auch deutlich an den zahlreichen eingeblendeten Flachbildschirmen, auf denen imitierte FOX-Nachrichten zu sehen sind. Eine solche Integration des die Serie ausstrahlenden Networks hob die Wissenschaftlerin Jennifer Gillan in ihrem Buch Television and New Media als eine Neuheit hervor. Die Umgestaltung des Sets, so Gillan, „betont Markenkonsistenz und Marketing-Logik stärker als Story-Logik; der Raum ähnelt eher einem Loft im Dotcom-Stil als einem Regierungsbüro, vor allem, da es unwahrscheinlich ist, dass die Regierung schicke rote Schreibtische budgetieren würde […].“
Dreh und Widmung
Die Dreharbeiten begannen im Juli 2004.
Als Kulisse für den Terroristenstützpunkt, in dem der Verteidigungsminister und seine Tochter gefangen gehalten werden, diente das Fort MacArthur, im Stadtteil San Pedro von Los Angeles gelegen. Für den Sturmangriff auf diesen Ort, von dem die zweifach Emmy-prämierte, sechste Episode (Tag 4: 12:00 – 13:00 Uhr) handelt, kamen reale Marinesoldaten mit Kampfhubschraubern des Typs Bell AH-1 Cobra zum Einsatz. Die Soldaten gehörten der Einheit „Marine Light Attack Helicopter Squadron 775“ des United States Marine Corps an, die auch schon im Afghanistan-Krieg und im Irakkrieg eingesetzt worden war. Der zu der Einheit gehörende Lieutenant Colonel Dave Greene fiel im Irakkrieg in der Zeit zwischen den Dreharbeiten, die im Oktober 2004 stattfanden, und der US-Erstausstrahlung. Deshalb erhielt die Episode vor ihrem Abspann eine Widmung für Greene.
Schnitt
Zu den aus den finalen Fassungen der Episoden geschnittenen Szenen gehört eine Szene, in der Heller erfährt, dass durch die Kernschmelze im Kraftwerk zwölf Menschen gestorben sind. Geschnitten wurde auch eine Szene, in der Manning durch Marwans Komplizen verhört und mit einem starke Schmerzen verursachenden Mittel gefoltert wird. In einer anderen Szene verabschiedet sich Marwan von seiner Familie. Drei weitere entfernte Szenen spielen in dem Waffengeschäft, in dem sich Jack und Paul mit den beiden arabischstämmigen Brüdern verschanzen. Jack entdeckt dabei den angeschossenen Vater der Brüder und entfernt ihm die Kugel aus seinem Bauch. Eine Szene zeigt, wie Behrooz nach dem Gefangenenaustausch von der CTU befreit wird, kurz bevor er durch Marwans Komplizen exekutiert worden wäre. Drei Szenen, die für die zwischen 1 und 2 Uhr spielende Episode vorgesehen waren, spielen in der CTU und handeln von der muslimischen CTU-Agentin Azara. Sie nimmt von Sabir Ardakanis Freundin telefonisch deren Verdacht bzgl. Sabir entgegen. Nach einem Gespräch mit Edgar Stiles, bei dem sie sich durch ihn diskriminiert fühlt, reagiert sie auf Edgars Entschuldigung mit der Begründung abweisend, dass er sie wegen ihres Hidschāb vorverurteilt habe.
Besetzung und Synchronsprecher
Für den Staffelbeginn wurde die Hauptbesetzung zu einem großen Teil erneuert. Mit Ausnahme des Bauer-Darstellers Kiefer Sutherland kamen in der Staffel nur solche Hauptdarsteller zum Einsatz, die in den vorherigen Staffeln noch nicht mitgespielt hatten. Neben Sutherland war nur Kim Raver, Darstellerin der Audrey Raines, durchgängig Teil der Hauptbesetzung. Lana Parrilla, die die CTU-Angestellte Sarah Gavin spielt, wurde bis zur sechsten Episode als Nebendarstellerin und ab der siebten Episode als Hauptdarstellerin geführt, ehe sie nach der zwölften Episode ausschied. Roger Cross, Darsteller des Curtis Manning, begann ebenfalls als Nebendarsteller und rangierte ab der 14. Episode als Hauptdarsteller. Zur Hauptbesetzung gehörten zudem William Devane, Darsteller des James Heller, und Alberta Watson, Darstellerin der Erin Driscoll. Im Laufe der Staffel kehrten allerdings etliche Figuren, die in den vorherigen Staffeln zu den Hauptfiguren gehörten, in Nebenrollen zurück.
Die Oscar-nominierte, iranische Schauspielerin Shohreh Aghdashloo lehnte die Rolle der Dina Araz zunächst ab, weil sie die Darstellung als Terroristin mit nahöstlicher Herkunft als zu stereotyp beurteilte. Erst Wochen später ließ sie sich durch die Produzenten davon überzeugen, die Rolle zu spielen; in einem anlässlich des US-Erstausstrahlungsbeginns veröffentlichten Interview mit der New York Times charakterisierte sie nunmehr die Rolle als herausfordernd und die Figur als komplex.
Fernsehausstrahlung
Englischsprachige Länder
Als Werbung für die Staffel diente dem Network FOX, bei dem 24 beheimatet ist, das Onlinespiel 24 Countdown, das FOX ab Dezember 2004 auf seiner Internetseite offerierte. Es bot dem Spieler die Möglichkeit, die Rolle des Jack Bauer in Antiterror-Ermittlungen zu spielen, und enthielt Produktplatzierungen für LG-Mobiltelefone.
FOX strahlte die Staffel vom 9. Januar bis zum 23. Mai 2005 erstmals aus. Es begann die Erstausstrahlung im Gegensatz zu den vorherigen Staffeln nicht zu Beginn der Fernsehsaison im Herbst, sondern erst im Januar, um angesichts der stark zusammenhängenden und episodenübergreifenden Handlungsstruktur die Zuschauerakzeptanz zu erhöhen und die Episoden ohne Unterbrechung durch Wiederholungen bis zum Saisonende im Mai senden zu können. Um möglichst viele Zuschauer von Beginn an zu binden, wurden die ersten vier Episoden zeitnah in Form von zwei Doppelepisoden am Sonntag und – dem nunmehr zum regulären Sendeplatz bestimmten – Montag gezeigt. Am ersten Abend sahen etwa 15,3 Millionen Zuschauer zu, am zweiten 13,3 Millionen. Die durchschnittliche Reichweite aller 24 Episoden betrug 12,1 Millionen Zuschauer – eine andere Quelle nennt 11,9 Millionen – und damit 20 Prozent mehr als bei der dritten Staffel gemessen. Mit der Staffel platzierte sich 24 in der Rangliste der USA-weit meistgesehenen Programme der Fernsehsaison 2004/05 auf dem 31. Platz.
Im Vereinigten Königreich begann der Bezahlfernsehsender Sky One am 30. Januar 2005 mit der Erstausstrahlung. Die zum Auftakt gesendete Doppelepisode erreichte etwa 617.000 Zuschauer und damit circa 400.000 weniger als beim Auftakt der dritten Staffel im Vorjahr.
Deutschsprachige Länder
Im deutschsprachigen Raum strahlten der deutsche Privatsender RTL II, der schweizerische öffentlich-rechtliche Sender SF 2 und der österreichische Privatsender ATV+ die Staffel zwischen November 2005 und März 2006 zeitlich überlappend zueinander und zur Hauptsendezeit aus. Die beiden letztgenannten waren an der deutschsprachigen Erstausstrahlung beteiligt. SF 2 zeigte die Episoden im deutsch-englischen Zweikanalton und – laut Ankündigung – unzensiert. Mit einer durchschnittlichen Reichweite von 105.000 Zuschauern gehörte die Serie mit dieser Staffel zu den erfolgreichsten des Senders.
RTL II sendete sechs Episoden paarweise und die übrigen zu dritt. Die ersten und die vorletzten drei waren am Freitagabend zu sehen, die anderen am Samstagabend, jeweils ab 20:15 Uhr. Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen prüfte 22 Episoden der Staffel und band sechs davon für eine Ausstrahlung ab 20 Uhr an Schnittauflagen, die überwiegend für Szenen mit Folterungen durch CTU-Angestellte gelten. Zumindest die Episoden 8, 11 und 13 strahlte RTL II bei der Erstsendung geschnitten aus. Die beschnittenen Szenen, in denen unter anderem Sarah Gavin und Paul Raines durch Elektroschocks gefoltert werden, wurden von der FSF als „sozialethisch desorientierend“, „übermäßig ängstigend“ und „potentiell entwicklungsbeeinträchtigend“ eingestuft. Entfernt wurden bildliche Spitzen im Umfang von wenigen Sekunden.
Die durchschnittliche Reichweite der von RTL II erstausgestrahlten Episoden betrug 930.000 Zuschauer, was einem Marktanteil von 3 Prozent in der Gruppe der ab 3-Jährigen entspricht. In der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen betrug die durchschnittliche Reichweite 620.000, gleichbedeutend mit einem Marktanteil von 4,9 Prozent. Für den Sender waren die Einschaltquoten nicht zufriedenstellend, sie blieben unter dem bis dahin in der Fernsehsaison 2005/06 erreichten Gesamtdurchschnitt von RTL II.
DVD-Ausgabe
In der ersten Woche nach dem US-Verkaufsstart der DVD-Box am 6. Dezember 2005 wurde die Staffel um 56 Prozent häufiger verkauft als die dritte Staffel im äquivalenten Zeitraum des Vorjahres.
Die deutsche DVD-Box enthält 39 erweiterte und für den finalen Schnitt nicht berücksichtigte Szenen sowie – unter dem Titel Season 4 Director’s Cut Promo – das Prequel zur vierten Staffel. Enthalten sind zudem vier Dokumentarfilme: Breaking Ground thematisiert Konzeption und Bau des neuen CTU-Innensets; in Blood on the Tracks geht es um die Dreharbeiten zu dem Zugattentat in der ersten Episode; Lock and Load ist eine Dokumentation des Drehs der Befreiungsaktion in der sechsten Episode; außerdem gibt es einen Bericht über die Dreharbeiten zum Prequel zur fünften Staffel. Bei dem ebenfalls enthaltenen Musikvideo The Longest Day handelt es sich um einen von Armin van Buuren aufgeführten Remix des 24-Themas.
Darüber hinaus ist im DVD-Bonusmaterial 24: Conspiracy enthalten, eine 24-teilige Miniserie, deren Episoden je eine Minute lang sind und wegen ihrer Verbreitung über Mobiltelefone als Mobisodes bezeichnet werden. Die Miniserie diente der Werbung für die vierte Staffel und wurde ab 30. Januar 2005 Vodafone-Kunden mit 3G-Handys in Großbritannien angeboten, später auch Verizon-Kunden in den USA. Die Mobisodes handeln von Mordermittlungen der CTU-Zweigstelle in Washington, D.C. und enden ebenfalls mit Cliffhangern. 24: Conspiracy wurde in einer für mobile Inhalte neu geschaffenen Kategorie der Daytime Emmy Awards 2006 nominiert.
Episoden
Das Datum der deutschsprachigen Erstausstrahlung ist jeweils grün hervorgehoben.
Themen und Kontroversen
Muslime und Türken als Terroristen
Surnow betonte, dass die Staffel die Angst der US-Bevölkerung vor dem Islamischen Terrorismus aufgreift, den die Vereinigten Staaten bekämpfen. Dieses Motiv wurde auch auf Plakaten deutlich, die FOX anlässlich des Erstausstrahlungsbeginns zur Werbung verwendete und die die Familie Araz und den Hinweis zeigten: “They could be living right next door.” (deutsch etwa: „Sie könnten deine Nachbarn sein.“)
Öffentliche Diskussion
Nach der Sichtung der ersten vier Episoden sah der Rat für Amerikanisch-Islamische Beziehungen (CAIR) im Januar 2005 seine Bedenken dahingehend bestätigt, dass sich die Geschichte in eine gefährliche Richtung entwickele und gewöhnliche amerikanische Muslime als Verdächtige erscheinen lasse. Ein deswegen von Vertretern von CAIR und FOX durchgeführtes Treffen hatte zum Ergebnis, dass mehrere Episoden vor ihrer Ausstrahlung noch stellenweise überarbeitet wurden. Zudem entstand ein Spot mit der von Kiefer Sutherland gesprochenen Ansage, dass die in der Serie gezeigten Schurken nicht repräsentativ für alle Muslime seien. Der Rat bedankte sich bei dem Sender dafür, ernst genommen worden zu sein. FOX strahlte den Spot ab der achten Episode aus, allerdings nur so lange die Araz-Familie eine Rolle in der Handlung spielte. Eine weitere Reaktion von FOX auf die Kritik des Rates war seine Ankündigung, sowohl seinen eigenen Fernsehstationen als auch seinen Affiliates die Ausstrahlung zweier, von CAIR schon im Vorjahr produzierter Werbespots anzubieten, die Muslime in einem positiven Licht zeigen sollen.
Anlässlich des Erstausstrahlungsbeginns im Vereinigten Königreich kam vom Britischen Rat der Muslime die im Guardian sowohl publizierte als auch erwiderte Kritik, dass die Weise, mit der die Staffel den Islam porträtiere, negative Stereotype und Islamophobie fördere. Generalsekretär Iqbal Sacranie sagte in Bezug auf eine Vorschau auf die ersten fünf Episoden: „Wir sind höchst betroffen von der durchweg feindschaftlichen und unausgeglichenen Porträtierung von Muslimen in dieser Staffel“. Der Rat forderte die britische Medienaufsichtsbehörde zur Untersuchung der Serie auf, da sie durch Falschdarstellung ethnischer Minderheiten Ausstrahlungsvorschriften breche. Darauf reagierend, ließ der Sender Sky verlautbaren, dass die bisher bewerteten Episoden die Ausstrahlungsvorschriften der Behörde nicht verletzen. Terry Sanderson von der britischen National Secular Society kritisierte den Rat für dessen Einwände und sagte, dass niemand davon abgehalten werden dürfe, etwas über den Islam zu sagen.
Die für Türkisch-Amerikaner eintretende Organisation Assembly of Turkish Americans Associations brachte im Januar 2005 mit Blick auf die Staffel und auf die Resonanz auf den Film 12 Uhr nachts – Midnight Express (1978) die Angst zum Ausdruck, es könnten auch wegen 24 Türkisch-Amerikaner verfolgt werden. Basierend auf negativen Reaktionen von Zuschauern der US-Erstausstrahlung verzichtete der türkische Privatsender CNBC-e zunächst auf die ursprünglich für Herbst 2005 vorgesehene türkische Erstausstrahlung der Staffel. Nach Protesten von Fans gegen den Verzicht entschied sich der Sender aber um und strahlte die Staffel beginnend im März 2006 aus. Weil die Staffel den Verdacht aufkommen lasse, dass die Türkei das Ursprungsland der Terroristen sei, kritisierte die türkische Botschaft in den Vereinigten Staaten die 24-Produzenten negativ.
Als eine Reaktion auf die Kritik des CAIR sagte Dina-Darstellerin Aghdashloo in einem Zeitungsinterview im Januar 2005, dass in der heutigen Welt die meisten Terroristen unglücklicherweise Muslime seien, obwohl nicht alle Muslime Terroristen seien. Aghdashloos Reaktion wurde in einem Artikel, der auf der vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale betriebenen World Socialist Web Site im April 2005 erschien, als ignorant und unehrlich kritisiert. Derartige Stellungnahmen, so Debra Watson, die Autorin des Artikels, kämen direkt aus dem „Spielbuch von Zionisten, die für die ungezügelte Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung im Nahen Osten eintreten“. Watson sah sich damit wegen eines von Daniel Pipes, dem Direktor des konservativen Middle East Forum, geäußerten und von ihr als negativ kritisierten Kommentars bestätigt. Pipes rechtfertigte darin, eine „family next door“, eine „Nachbarfamilie“, als Terroristen zu benutzen, und lobte FOX dafür, die Ausstrahlung der Serie fortgesetzt zu haben. Zu einer gegenteiligen Meinung kam die ebenfalls konservative Washington Times nach dem Ende der Erstausstrahlung der Staffel; die Drehbuchautoren hätten unter der Kritik des CAIR nachgegeben. Marwan als leitender Dschihadist sei bis zur finalen Episode seiner religiösen Identität und Motivation “comic-stripped”, Deutsch etwa „beraubt“, und der von ihm bekämpften Seite moralisch gleichgestellt. Hollywood und die Medien, so das Blatt daraus schlussfolgernd, seien „kulturelle Feiglinge“, wenn es darum gehe, Probleme mit Krieg, Islam und Dschihad zu thematisieren. Der Meinung der Washington Times schloss sich auch eine Kolumne auf der von der konservativen Heritage Foundation betriebenen Website Townhall.com an.
Vor dem US-Erstausstrahlungsbeginn kündigte Surnow in der New York Times an, dass künftige Episoden auch positive muslimische Charaktere beinhalten werden. Um zwei solche, in positivem Licht erscheinende, Figuren handelt es sich bei den beiden Brüdern, die das Waffengeschäft führen, aus dem heraus sie Jack Bauer und Paul Raines bei der Bekämpfung der Söldner helfen.
Analyse und Interpretation
Bei ihrem ersten Auftritt zu Staffelbeginn erscheint die Familie Araz noch als gewöhnliche, durchschnittliche Familie. Nach und nach wird enthüllt, dass die Familie eine Terrorzelle aus Schläfern ist und in welcher Beziehung ihre Mitglieder zum Terrorismus stehen. Behrooz Araz wird als Teenager mit zunehmendem Bewusstsein für Menschlichkeit dargestellt, welches ihn davon abhält, so wie sein Vater ein Terrorist zu werden. Durch die Absicht des Vaters, Behrooz zu töten, ändert sich Dinas Loyalität zu ihrem Mann. Indem, wie in diesen Fällen, zwischenmenschliche Beziehungen und Motive der Terroristen dargestellt werden, wird ihnen ein menschliches Gesicht verliehen. Die US-Kulturwissenschaftlerin Evelyn Alsultany (2012) nannte diese Humanisierung als ein Beispiel für die nach 9/11 geänderte Darstellung von arabischen oder muslimischen Terroristen in Film und Fernsehen. Vorher seien sie meist nur aufgrund ihrer Ethnie oder Religion als böse und als eindimensionale Schurken dargestellt worden. Die US-Zeitschrift Jump Cut verglich 2008 die durch die Familie Araz zu Staffelbeginn vermittelte Andeutung, arabischstämmige Amerikaner seien wahrscheinlich Terroristen, mit der von NS-Propaganda erzeugten Angst, jüdische Nachbarn könnten im Auftrag der Sowjetunion Fuß in Deutschland fassen.
Der norwegische Medienwissenschaftler Rolf Halse (2011) kam zu dem Schluss, dass die Darstellung der Familie Araz in hohem Maße unausgeglichen und von in der Populärkultur der westlichen Welt existierenden Stereotypen über Muslime geprägt sei. Das werde vor allem an Navi Araz deutlich, der den Willen zum Ausdruck bringe, für das Gelingen der terroristischen Aktionen alles zu opfern, und der somit dem Klischee des fanatischen, zielgerichteten muslimischen Terroristen entspreche, der im Himmel für seinen Kampf gegen die „Ungläubigen“ geehrt wird. Seine Zustimmung zu Marwans Befehl zum Töten von Behrooz sei beispielhaft für sein primitives Wesen. Das Verhalten von Dina Araz sei vor allem wegen ihres heimtückischen Vorgehens bei der Ermordung von Behrooz’ Freundin übereinstimmend mit der Porträtierung von Muslimen im amerikanischen Fernsehen und insofern stereotyp. Halse interpretierte die Darstellung von Jack Bauer, der CTU und der Familie Araz insgesamt als orientalistisch: Bauer und die CTU würden, Werte der westlichen Welt repräsentierend, als rational, „entwickelt“ und überlegen porträtiert, die Araz-Familie hingegen als irrational, „primitiv“ und geringerwertig. Halse nutzte die in der Staffel erzählte Geschichte im Rahmen einer Studie für Fokusgruppen-Interviews, bei denen 28 16- bis 29-Jährige befragt wurden. Während ethnische Norweger, so Halse, die Geschichte als genugtuend beurteilt hätten, sei sie von einer Mehrheit der norwegischen Muslime als unerfreulich und beleidigend aufgefasst worden.
Folter
Zumindest unter den ersten sechs Staffeln ist die vierte Staffel diejenige mit den meisten Szenen, in denen gefoltert wird; in mehr als der Hälfte der Episoden der Staffel werden Folterungen thematisiert oder dargestellt. Charakteristisch für die Staffel ist, dass es verglichen mit den anderen Staffeln und zusätzlich zur Folter durch Schurken mehr Folterungen gibt, die von Jack Bauer und der CTU, das heißt vom Staat beziehungsweise von den Guten im Rahmen von Vernehmungen durchgeführt werden. Folter ist nach völkerrechtlichen Bestimmungen und nationalen Gesetzen verboten und dominierendes Thema der 24-Rezeption.
Zu den meistbeachteten Handlungsstellen der Staffel gehören Joe Prados Folterung durch Jack Bauer und der vorherige Versuch des Anwalts, sie zu verhindern, in der 18. Episode (Tag 4: 0:00 – 1:00 Uhr). Als Vorbild für die Organisation Amnesty Global, der der Anwalt angehört, diente den Drehbuchautoren die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Das von der US-amerikanischen Northwestern University herausgegebene Journal of International Human Rights beurteilte die Episode als exemplarisch für die Botschaft der Serie, dass Folter funktioniere, nötig sei und eher als „ein Akt rebellischen Heroismus“ denn als Werkzeug von Diktatoren und Tyrannen dargestellt werde. Von der Episode, so der britische Kunstwissenschaftler Downey (2009), gehe die Botschaft der Serie aus, dass im Ausnahmezustand stets der Zweck die Mittel heilige.
Debatte in den Vereinigten Staaten
In den Vereinigten Staaten wurden ab April 2004 Folterungen publik gemacht, die Mitglieder des US-Militärs an Insassen des Abu-Ghuraib-Gefängnisses im Irak verübt hatten (siehe Abu-Ghuraib-Folterskandal). Vor dem Hintergrund der dadurch ausgelösten öffentlichen Debatte über Folter wurde auch 24 rezipiert. Zu der Debatte gehörte auch der von Senator John McCain im Oktober 2005 in den Kongress eingebrachte Entwurf für ein Gesetz, das Folter verbietet und am Jahresende verabschiedet wurde.
Im März 2005 gab die Zeitung Baltimore Sun das Lob von Menschenrechtsorganisationen am Beispiel von Amnesty International wieder, der zufolge 24 dabei helfe, die Öffentlichkeit mit Blick auf die Gefahren von Folter zu erziehen. In den Fällen von Sarah Gavin und Richard Heller, die sich als unschuldig herausstellen, werde dem Zuschauer deutlich gemacht, dass Folter nicht immer erfolgreich ist.
Paul Raines solidarisiert sich, nachdem ihn Bauer gefoltert hat, zunehmend mit Bauer, hilft ihm bei der Beschaffung von Informationen und schützt ihn davor, von Kugeln getroffen zu werden. In Fällen wie diesen, meinte die linksliberale Wochenzeitschrift The Nation, werde Folter als Melodram eingesetzt, wodurch 24 die entmenschlichende Art tatsächlicher Folter umkehre und sie durch etwas Familiäres und Soziales ersetze. Zu einer ähnlichen Meinung kam ein Artikel in der New York Times: In solchen Situationen repräsentiere Folter nicht den Zusammenbruch einer Gesellschaft, sondern den Wendepunkt und teilweise sogar den Beginn für soziale Beziehungen. „Durch diesen kunstvollen Trick“ lasse die Serie Folter als normal erscheinen. Das linksliberale Politmagazin The Progressive wandte sich gegen diese Meinung: Folter sei in Teilen der US-Gesellschaft schon lange vor 24 normal geworden. Die Serie könne durch ihre „großmäuligen Darstellungen extremer Grausamkeit“ ihre Fans dazu anregen, die US-Regierung angesichts von Entscheidungen, durch die etwa Abu Ghuraib erst möglich wurde, in Aufregung zu versetzen. Das Magazin betonte die Widersprüchlichkeit der Botschaften, die die Serie in dieser Staffel in Bezug auf Folter aussende. Einerseits werde Jacks Verhalten als verwerflich dargestellt, etwa durch Audreys Reaktion beim Anblick des durch Folter verletzten Prado. Dabei sagt sie, dass er nicht Gesetze missachten könne, ohne dafür Konsequenzen zu erwarten. Eine solche Konsequenz ist im weiteren Handlungsverlauf, dass sich Audrey von Jack abwendet. Die Staffel lobend, betonte das Magazin darüber hinaus die Deutlichkeit, mit der die von der Folter verursachten Schmerzen gezeigt werden. Andererseits, so das Magazin, werde Jack als Held dargestellt, wie zum Beispiel durch Hellers Rechtfertigung, dass „wir“ Männer wie ihn brauchen.
Aus dem politisch konservativen Spektrum gab es Zuspruch. Die Washington Times lobte die Staffel, vor allem bezogen auf die Thematisierung von Folter, für entschlossenes Vorgehen bei der Terrorismusbekämpfung und wandte sich dabei gegen in der Hauptsendezeit gezeigte, „politisch korrekte Ausweichmanöver“. Ein Artikel des Magazins Townhall.com kritisierte die von der U.S. Army angekündigte, neue Version eines Vernehmungshandbuchs als zu wirkungslos, weil darin auf „harsche“, unter anderem im Militärgefängnis Abu Ghuraib angewendete, Verhörmethoden verzichtet werde, und schlug deshalb vor, das Handbuch lieber durch einen „Jack-Bauer-Typ“ verfassen zu lassen. Der Inhalt der Staffel wurde 2005 auch in den Radio-Talkshows der konservativen Moderatoren Laura Ingraham und Rush Limbaugh diskutiert.
Obwohl Serienmitschöpfer Surnow weiterhin an den Drehbüchern von 24 mitschrieb, übertrug er die Funktion des Showrunners vor Beginn der US-Erstausstrahlung der fünften Staffel an Howard Gordon. In dem Zusammenhang wurde Surnow damit zitiert, dass er der Folter überdrüssig geworden sei und er die Reaktionen auf die Folterdarstellungen in der Serie als übertrieben beurteilte: „Vielleicht hatte Bush-Müdigkeit – Kriegsmüdigkeit – eingesetzt und die Menschen suchten nach Wegen, ihren Protest gegen den Krieg auch auszudrücken, indem sie unsere Serie benutzten.“
Die beiden 24-Ausschnitte, die in dem oscarprämierten, folter-kritischen US-Dokumentarfilm Taxi zur Hölle enthalten sind, stammen aus der vierten Staffel (siehe Hauptartikel: 24); dazu gehört auch Bauers Elektroschockfolter an Paul Raines.
Kontroverse in Europa
Die FSF-Prüfer beurteilten die Thematisierung und Darstellung von Folter in der Staffel als ausgesprochen kontrovers. FSF-Prüferin Christina Heinen urteilte, dass die gesamte Staffel von einer unterschwelligen Legitimierung von Folter durchzogen sei, betonte aber, dass es in etlichen, Folter thematisierenden Episoden Situationen gebe, die einer Förderung gewaltbefürwortender Einstellungen entgegenwirkten, darunter die Aussage in der Handlung, „dass Folter illegal sei und die CTU sich schon durch ihre Methoden ins Unrecht setze“.
In mehreren, anlässlich der vierten Staffel erschienenen, deutschen Presseberichten wurde in Anbetracht der Gewalt- und Folterdarstellungen in 24 eine ähnliche, öffentliche Empörungswelle vermisst, wie es sie bei dem türkischen Film Tal der Wölfe – Irak (2006) gab. Bettina Gaus, politische Korrespondentin der taz, etwa glaubte die Ursache für das Fehlen einer öffentlichen Debatte darin zu erkennen, dass in der Serie, anders als in dem Film, „die subtile Lässigkeit ihre Wirkung tut, mit der Ungeheuerliches auf dem Bildschirm zur Normalität erklärt wird.“
Mehrere Rezipienten bescheinigten der Staffel, eine faschistische Botschaft zu vermitteln. Dietmar Dath zum Beispiel interpretierte in der FAZ das System, in dem Bauer agiert, als einen bürgerlichen Staat ohne bürgerliche Rechte, womit es Reinhard Kühnls Definition des Faschismus als Staats- und Gesellschaftsform entspreche. Verschiedene Plotelemente, darunter die „immer wahlloser“ eingesetzte Folter und der Überfall auf das chinesische Konsulat, würden dazu eingesetzt, Güter des „due process“ zu vernichten, der in der US-Verfassung enthaltenen Garantie, dass niemand ohne rechtsstaatliches Verfahren verurteilt werden darf. Der linksliberale Guardian verurteilte die Episode, in der der Amnesty-Global-Anwalt die CTU vom Foltern Prados abhält, als „beschämend“ und als Gipfel einer Entwicklung der Staffel hin zu einem „unhinged neo-con bullshit“, Deutsch etwa einem „völlig herausgelösten, neokonservativen Mist“.
Beispiele nur aus der vierten Staffel verwendend, verglich der Philosoph Slavoj Žižek im Guardian die in der CTU tätigen Folterer mit Heinrich Himmler und dessen Aufgabe bei der Organisation des Holocaust, „wie Menschen dazu zu bewegen seien, schmutzige Dinge zu erledigen, ohne sie in Monster zu verwandeln“. Der im Januar 2006, anlässlich des US-Erstausstrahlungsbeginns der fünften Staffel erschienene Artikel wurde in einer anderen Fassung zudem von der sozialistischen US-Zeitschrift In These Times und, davon ausgehend ins Deutsche übersetzt, von der Kölner SoZ – Sozialistische Zeitung veröffentlicht. Žižek glaubte in 24 die „ideologische Lüge“ zu erkennen, dass es nicht einfach möglich sei, beim Durchführen terroristischer Handlungen die menschliche Würde zu behalten. Führe dagegen eine ehrenwerte Person solche Handlungen als wichtige Pflicht aus, werde ihr dabei eine „tragisch-ethische Größe“ verliehen. Im Schweizer Tages-Anzeiger beurteilte der deutsche Filmkritiker Georg Seeßlen den Vergleich von Bauer mit Himmler als fatal. „Denn Bauer ist das tragische Subjekt der Gewalt, nicht sein Urheber; das Böse, das durch ihn hindurchgeht, bleibt eben nicht ohne Auswirkung auf seine bürgerliche Identität.“ Diese habe sich schon am Ende der ersten Staffel aufgelöst, das die Ermordung seiner Frau beinhaltet, durch die Bauer fortan emotional schwer belastet ist. Damit sprach Seeßlen auch eines der wesentlichen Motive der Drehbuchautoren an, nämlich dass niemand das von Bauer Gemachte, darunter die Folterungen, tun und dabei zugleich ein befriedigendes Privatleben führen kann. In der vierten Staffel zeigt sich diese Entwicklung daran, dass Bauer zum Schluss ein gebrochener Held ist, auch weil er Audreys Liebe verloren hat.
Das Schweizer Fernsehen berichtete im Januar 2007 in der Sendung Kulturplatz über Folterdarstellungen in den Medien als eine mögliche Reflexion des von den USA geführten Krieges gegen den Terror. Der Schwerpunkt des Beitrags lag auf 24; alle beispielhaft gezeigten 24-Ausschnitte stammen aus der vierten Staffel, ohne dass ihre Staffelzugehörigkeit genannt wurde. Die Serie sei die „fernsehngewordene Idee, dass Folter dann sinnvoll ist, wenn sie Unschuldige retten hilft; dass der Held dann foltern darf, wenn es anders nicht mehr geht“. Diesbezüglich sagte der in dem Beitrag interviewte österreichische Kulturwissenschaftler Thomas Macho, dass derartige Wenn-dann-Konstruktionen dazu dienten, das Folterverbot aufzuweichen und Folter zu legitimieren.
Wegen der Folterdarstellungen reichte der Schweizer Rechtsanwalt Claude Schönthal im Oktober und November 2006 bei der Ombudsstelle des Schweizer Fernsehens Beschwerde gegen die Ausstrahlung von 24 im SRF 2 ein. Sechs von sieben, durch Schönthal als Beispiele genannte Episoden, die nach seiner Ansicht Propaganda für Folter machten und dadurch Programmvorschriften und Verfassungsartikel verletzten, stammen aus der vierten Staffel. Dazu gehören auch die Episoden 3 und 6, in denen Richard Heller verhört wird. In seiner Reaktion auf die Beschwerde sagte Redaktionsleiter Michel Bodmer zu diesem Beispiel, dass die Sympathieführung des Publikums anders als von Schönthal dargestellt sei, weil es sich über das Vorgehen des selbstgerechten Verteidigungsministers empören und mit dem gepeinigten Sohn identifizieren würde und sein Bewusstsein für die Verwerflichkeit von Folter dadurch geweckt würde, dass sich schließlich Richards Unschuld herausstellt. Im Ergebnis der Beschwerde wurde eine Richtlinie des Schweizer Fernsehens ergänzt (siehe Hauptartikel: 24).
Weitere Aufnahme durch Öffentlichkeit und Kritik
Nach der Einführung des „Dobson-Overrides“ in die Handlung wandten sich zahlreiche Zuschauer, besorgt über die Funktion des Geräts, an die Kernenergie-Aufsichtsbehörde Nuclear Regulatory Commission. Sie veröffentlichte daraufhin die Erklärung, dass kein Gerät alle 104 US-Atomkraftwerke via Internet steuern könne. Nach der Erstausstrahlung der Episode, in der die Kernschmelze in dem Reaktor auf San Gabriel Island erstmals geschildert wurde, gab die Behörde eine weitere Erklärung bekannt, in der sie auf die Systeme und Maßnahmen zur Wahrung der Sicherheit in den Atomkraftwerken hinwies.
Das US-Internetmagazin Salon.com beurteilte, Experten zitierend, etliche Elemente der Handlung als unrealistisch. So sei es pure Fantasie, dass man aus dem Nuclear Football Informationen über tagesaktuelle Bewegungen und Standorte von Nuklearwaffen gewinnen könne. Unmöglich sei es, einen US-Nuklearsprengkopf ohne die Eingabe der PAL-Codes scharf zu machen. Dass sich Marwan als Kopf der Terroristen auch der Dienste von Personen wie etwa Mitch Anderson bedient, die selbst keine Dschihadisten sind, sei vor allem wegen der dadurch gefährdeten Geheimhaltung überaus unrealistisch. Verglichen mit den Sicherheitsvorkehrungen, die die Attentäter bei der Planung der Terroranschläge vom 11. September 2001 ergriffen haben, sorge Marwan etwa bei der Kommunikation mit den Terrorzellen nicht für genügend Sicherheit, um vor der CTU unentdeckt zu bleiben.
Die New York Times befand, dass die Staffel zwar viele Handlungswendungen und falsche Fährten wiederhole, aber dennoch einige Überraschungen parat halte und aufregend sei, auch, wenn sich die Neuheit des Echtzeit-Countdowns abgenutzt habe. Die Einführung neuer Hauptdarsteller sei zwar eine gute Idee, aber William Devane etwa sei „mehr eine Ablenkung als ein Gewinn“ und Kim Raver bringe nichts Besonderes in die Rolle der Audrey. Die australische Zeitung The Age schloss sich dem Lob der New York Times an. Die US-Zeitschrift National Review lobte die dramatische Komplexität der Staffel – mit Blick auf Terrorismus und die teilweise Überlappung von Familiengeschichten – als bemerkenswert für eine Fernsehserie.
Metacritic berechnete für die Staffel, basierend auf englischsprachigen Kritiken, einen Metascore von 79 %.
Die deutsche Funkkorrespondenz lobte die um Dina Araz kreisende Handlung und fragte, in welchem Kinofilm oder in welcher Serie je eine Terroristin zu sehen gewesen sei, „die größte Seelenqualen leidet, weil sie zwischen ihrem aus fehlgeleiteter religiöser Überzeugung übernommenen Auftrag und der Liebe zu ihrem heranwachsenden Sohn hin und her gerissen wird“. Die FAZ beanstandete, dass die Handlung der ersten Staffelhälfte „zähflüssig“ sei und „stocken“ und „stottern“ würde. In der Rolle des Ex-Präsidenten David Palmer bestehe ein gravierender Widerspruch, denn er begehe genau die „Verschleierungsuntaten“, gegen die er in den vorherigen Staffeln angekämpft habe.
Auszeichnungen
Bei den Emmy-Awards 2005 war die Staffel dreimal für den besten Bildschnitt sowie je einmal in acht weiteren Kategorien nominiert, darunter für die beste Dramaserie und für den besten Hauptdarsteller in einer Dramaserie. Insgesamt drei Prämierungen gab es, davon je eine für die Stunt-Koordination und für den Tonschnitt in der sechsten Episode sowie eine für die Tonmischung in der finalen Episode.
2006 gab es eine Golden-Globe-Nominierung für Sutherland als besten Hauptdarsteller in einer Drama-Fernsehserie.
Literatur
Judith Arnold: Folterszenen im Schweizer Fernsehen. Kontroverse um die US-Serie „24 – Twenty Four“ (PDF; 100 KB), in: medienheft () vom 29. Oktober 2007
Tara DiLullo: 24: The Official Companion – Seasons 3 & 4. Titan Books, London 2007, ISBN 1-84576-463-3.
Rolf Halse: The Muslim-American Neighbour as Terrorist: The Representation of a Muslim Family in 24. In: Marc Ouellette (Hrsg.): reconstruction: studies in contemporary culture (), Nr. 4/2011 (11. Jg.)
Englischsprachige Kritiken
Spencer Ackerman: How real is “24”?. In: Salon.com. 16. Mai 2005
Anne-Marie Cusac: Watching Torture in Prime Time. In: The Progressive. 16. August 2005
Jamie Doward: Muslim anger at terror plot in TV drama 24. In: The Guardian. 30. Januar 2005
Adam Green: Normalizing Torture on ‘24’. In: The New York Times. 22. Mai 2005
Thomas S. Hibbs: , in: National Review Online vom 21. Februar 2005
Bill Keveney: Fictional '24' brings real issue of torture home. In: USA Today. 14. März 2005
Richard Kim: Pop Torture. In: The Nation. 7. Dezember 2005
Alessandra Stanley: New Web of Fear, Same Secret Agent. In: The New York Times vom 7. Januar 2005
Slavoj Žižek: The depraved heroes of 24 are the Himmlers of Hollywood. In: The Guardian vom 10. Januar 2006
‘24’: An hour of realism. In: The Washington Times. 27. April 2005
Deutschsprachige Kritiken
Dietmar Dath: Rechtsstaat war gestern. „24“ geht weiter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 11 vom 13. Januar 2006, S. 36.
Christina Heinen, Bettina Gaus: Folterdarstellungen in der Fernsehserie 24 (PDF; 195 kB), in: tv diskurs Nr. 36 (= 2/2006), S. 70–75.
Matthias Kalle: Der schmutzige Held. In: Der Tagesspiegel. 13. Januar 2006
Stefan Kuzmany: Brich ihnen einfach ihre verdammten Knochen, Jack!. In: taz. 13. Januar 2006
André Mielke: Brennende Nerven. In: Die Welt. 24. Februar 2006
Georg Seeßlen: Bauer im Schachspiel des Terrors. In: Tages-Anzeiger vom 30. Januar 2006
Weblinks
Episodenführer bei fernsehserien.de
Transkripte aller Episoden (englisch)
Fotos vom neuen Set auf der Webpräsenz des Produktionsdesigners Joseph Hodges
Thorsten Stecher: Der Schatten von Guantánamo – Film- und TV-Helden foltern im Dienst des Rechtsstaats – Video des Beitrages in der kulturplatz-Sendung vom 10. Januar 2007, 12 Uhr, SRF 1
Einzelnachweise
Staffel einer Fernsehserie
24 (Fernsehserie) |
6953292 | https://de.wikipedia.org/wiki/Elektrische%20Stra%C3%9Fenbahn%20Spandau%E2%80%93Nonnendamm | Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm | Die Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm GmbH (SpN) – umgangssprachlich Nonnendammbahn genannt – war ein zwischen 1909 und 1914 bestehendes Straßenbahnunternehmen, das aus einer 1908 von errichteten Straßenbahnlinie hervorging. Drei Monate nach ihrer Gründung erwarb die damals selbstständige Stadt Spandau alle Anteile an der Bahn, deren Betriebsführung im Folgejahr von der Städtischen Straßenbahn Spandau übernommen wurde. Mit der Löschung der Nonnendammbahn aus dem Handelsregister im Jahr 1914 erfolgte die vollständige Eingliederung in die Spandauer Straßenbahn.
Die von der Nonnendammbahn betriebene Strecke zwischen der Spandauer Altstadt und Siemensstadt befuhr zuletzt die Linie 55 der Berliner Straßenbahn, die die Berliner Verkehrsbetriebe am 2. Oktober 1967 als letzte Straßenbahnlinie West-Berlins einstellten.
Geschichte
Im Jahr 1897 erwarb ein rund 21 Hektar großes Gelände am Nonnendamm, auf dem in den nächsten Jahren ein neues großes Werksgelände entstehen sollte, das später unter dem Namen Siemensstadt bekannt wurde. Zur gleichen Zeit entstand im nahegelegenen Haselhorst unter anderem eine Wohnkolonie des preußischen Militärfiskus zur Unterbringung der Arbeiter der Armee-Konservenfabrik. Die Stadt Spandau verfolgte mit diesen Neuansiedlungen von Betrieben das Ziel, ihr Steueraufkommen zu erhöhen. Zur Unterstützung dieser Aktivitäten schlug 1899 der Spandauer Oberbürgermeister Koeltze den Bau einer Güterbahn vor, die von der Spandauer Militärbahn abzweigend den Nonnendamm erschließen sollte. Im Jahr darauf beauftragte der Spandauer Senat eine Eisenbahnbaufirma mit den Vorarbeiten für eine normalspurige Güter- und Straßenbahn Spandau – Haselhorst – Nonnendamm – Charlottenburg. Während der bis 1902 andauernden Verhandlungen konnten mehrere technische und rechtliche Fragen geklärt werden, die Finanzierung des 530 000 Mark teuren Vorhabens blieb dagegen offen. Die Stadt verfolgte das kostspielige Projekt deshalb zunächst nicht weiter. Auch schien das Vorhaben nicht sonderlich vielversprechend, denn die fraglichen Stadtviertel erhielten 1905 mit dem Bahnhof Fürstenbrunn eine Verbindung zum öffentlichen Nahverkehr. Allerdings war der Bahnhof über einen Kilometer von den Werkhallen entfernt.
Ab 1904 dehnten sich die Siemenswerke über die administrativen Grenzen der Spandauer Exklave Nonnendamm hinaus auf die benachbarten Kreise Niederbarnim und Osthavelland aus. In der Folge gab es Anstrengungen sowohl seitens der Stadt Spandau als auch der Stadt Charlottenburg, das Gebiet unter die eigene Hoheit zu bringen. Allerdings wünschte die Residenzstadt Charlottenburg keine weitere Ausdehnung von Industrieanlagen, weil das nicht ihren städtebaulichen Vorstellungen entsprach. Die Stadt Spandau war hingegen bemüht, das zwischen Kernstadt und Exklave liegende Gebiet einzugemeinden, was ihr in den Jahren 1908 und 1910 gelingen sollte. Einhergehend mit der Ausweitung des Werkgeländes griff Siemens die Pläne der Stadt Spandau wieder auf und nahm die Realisierung von Güter- und Straßenbahn selbst in die Hand. 1906 kam es zum Vertragsabschluss mit dem Militärfiskus über den Bau der Güterbahn, 1907 schloss das Unternehmen einen Vertrag mit der Stadt über den Bau der Straßenbahn. Darin wurde auch die Übergabe an die Stadt im Jahr 1909 geregelt.
Der Regierungspräsident in Potsdam erteilte am 24. Februar 1908 der Firma die Konzession zum Betrieb der Straßenbahn Spandau – Nonnendamm. Der Bau der Siemens-Güterbahn hatte zunächst Vorrang, sie nahm am 16. März 1908 ihren Betrieb auf. Der Bau der Straßenbahn fand überwiegend im Sommer 1908 statt. Nachdem der Eröffnungstermin auf Grund von Gleisbauarbeiten auf der Berliner Brücke mehrmals nach hinten verschoben werden musste, erfolgte zum 30. September 1908 die Betriebsaufnahme der Straßenbahn von der Kreuzung Nonnendamm Ecke Reisstraße über Haselhorst zur Kreuzung Breite Ecke Havelstraße in Spandau. Zum Einsatz kamen zwei von vier Triebwagen, die im Abstand von 30 Minuten auf der eingleisigen Strecke verkehrten. Da die Endstelle in der Spandauer Altstadt keine Umsetzmöglichkeit besaß, konnten vorerst keine Beiwagen eingesetzt werden. Ab dem 27. Oktober 1908 setzte die Bahn für den Arbeiterverkehr zur Armee-Konservenfabrik einen dritten Triebwagen zwischen Spandau und Haselhorst ein, ab Anfang Dezember fuhr in den Abendstunden zusätzlich der vierte Triebwagen.
Im März 1909 wurde am Nonnendamm Ecke Grenzstraße ein neuer Betriebshof errichtet, zuvor kamen die Wagen in der Siemens-Bahnhalle am Rohrdamm unter. Der Bau war nötig, da einerseits der Fuhrpark vergrößert wurde, andererseits eine Unterbringung im Betriebshof der Städtischen Straßenbahn vorerst nicht möglich gewesen wäre, da selbiger bereits an seine Kapazitätsgrenzen stieß. Zu Ostern 1909 fuhr die Bahn erstmals mit Beiwagen. Dafür war eine Weichenverbindung zum Streckennetz der Spandauer Straßenbahn hergestellt worden, die als provisorisches Wendedreieck genutzt werden konnte. Da diese Betriebsform nicht genügte, durchfuhren die Züge ab dem 2. Mai 1909 die Blockschleife aus Havelstraße, Potsdamer Straße, Markt und Breite Straße.
Zur Übergabe der Straßenbahn an die Stadt Spandau gründeten und die Siemens-Schuckertwerke am 23. März 1909 die Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm GmbH. Die Stadt Spandau erwarb am 1. Oktober 1909 deren Gesellschaftsanteile in Höhe von 300.000 Mark zum Preis von 463.000 Mark. Die Konzessiosübertragung auf die Stadt war am 16. Februar 1910. Es gingen dabei nur die ausschließlich für den Personenverkehr verwendeten Gleise über. Die von der Straßenbahn mitbenutzten Gleise der Siemens-Güterbahn im Nonnendamm und dem Schwarzen Weg verblieben bei Siemens. Ab dem 1. April 1910 übernahm dann die Spandauer Straßenbahn die Betriebsführung der Bahn.
Infolge des stetigen Ausbaus der Siemenswerke stieg die Nachfrage auf der Nonnendammbahn ebenfalls an. In den Morgen- und Abendstunden fuhren die Züge teilweise mit drei Wagen. Die bereits von Siemens verfolgte Verlängerung der Strecke um 800 Meter durch die Reisstraße und den Rohrdamm bis zum Bahnhof Fürstenbrunn konnte am 1. November 1911 eröffnet werden. Die Strecke führte über die Reisstraße und den Rohrdamm bis zum Bahnhof an der Hamburger Bahn.
Zu Beginn des Jahres 1912 ging zwischen der Armee-Konservenfabrik und Gartenfeld, wo Siemens sein Kabelwerk errichtete, eine 700 Meter lange Zweigstrecke in Betrieb. Die Strecke war nur für Arbeiterzüge vorgesehen, die jeweils zu Betriebsbeginn und -ende verkehrten. Die Stadt Spandau bezuschusste den Bau mit 250.000 Mark. Siemens beteiligte sich ebenfalls am Streckenbau, da auch hier ein Gemeinschaftsbetrieb mit der Güterbahn bestand.
Im Jahr 1913 stand die Linie N trotz des starken Pendlerverkehrs zu den Siemenswerken erst an dritter Stelle der Spandauer Linien. Während die Linien P nach Pichelsdorf und H nach Hakenfelde 3,26 Millionen beziehungsweise 2,55 Millionen Fahrgäste aufweisen konnten, waren es auf der Nonnendammbahn 1,865 Millionen Fahrgäste. Die beiden übrigen Linien B und J nach dem Spandauer Bock und Johannesstift folgten in geringem Abstand. Trotz der Erweiterungen blieb die Nonnendammbahn zeit ihres Bestehens defizitär. Die Einnahmen fielen vergleichsweise gering aus, da die Bahn zwischen Spandau und Haselhorst durch noch vorwiegend unbebautes Gelände führte und die meisten Fahrgäste die nicht kostendeckenden Arbeiterkarten in Anspruch nehmen konnten. Dem gegenüber standen die hohen Betriebsausgaben, zu denen auch die Verzinsung und Amortisation des Anlagekapitals von 780.000 Mark gehörten. Für den sich auf wenige Stunden konzentrierenden Pendlerverkehr mussten zusätzliche Wagen bereitgestellt werden, die den Rest des Tages keine Verwendung fanden. Zu guter Letzt bezog die Straßenbahn auch nach der Übernahme durch die Stadt ihren Strom aus dem firmeneigenen Kraftwerk, was Siemens mit 12 Pfennig pro Kilowattstunde in Rechnung stellte. Die Städtische Straßenbahn führte 1910–1913 jährlich zwischen 42.000 und 71.371 Mark an die Nonnendammbahn ab, um deren Verluste auszugleichen. 1912 reichten die Mehreinnahmen nicht aus, um den Fehlbetrag zu decken, weshalb die Stadt weitere 11.000 Mark beisteuerte. Erst um 1914 schien sich die Lage zu entspannen. Da das Unternehmen inzwischen vollständig der Spandauer Straßenbahn angegliedert war, gab es ab 1911 Überlegungen, die Gesellschaft aufzulösen. Den Beschluss fällten die Stadtverordneten am 3. April 1914. Am 1. Oktober 1914 wurde die Elektrische Straßenbahn Spandau–Nonnendamm GmbH aus dem Handelsregister gelöscht.
Am 8. Dezember 1920 ging die Städtische Straßenbahn Spandau in der Großen Berliner Straßenbahn auf, die kurz darauf in der Berliner Straßenbahn (BSt) aufging. Am 21. April 1921 wurden die Spandauer Linien vollständig in das Berliner Netz integriert. Die Strecken blieben mit teilweisen Unterbrechungen bis in die 1960er Jahre in Betrieb. Den Anschluss nach Gartenfeld legten die Berliner Verkehrsbetriebe am 1. Oktober 1960 still, die Stammstrecke der Nonnendammbahn war bis zum 2. Oktober 1967 als Abschnitt der letzten West-Berliner Straßenbahnlinie 55 in Betrieb.
Streckenbeschreibung
Die Strecke war zur Eröffnung etwa 3,2 Kilometer lang und überwiegend eingleisig. Sie führte von der Kreuzung Breite Straße Ecke Havelstraße in der Spandauer Altstadt über die Berliner Straße und Berliner Chaussee, Gartenfelder Straße, Schwarzer Weg und Nonnendamm zur Ecke Reisstraße, wo sich eine Umsetzendstelle befand. Auf dem Nonnendamm zwischen Grenzstraße und Reisstraße war die Strecke auf 1250 Meter Länge zweigleisig. Die Gleise befanden sich in Straßenmitte oder, sofern vorhanden, auf dem Mittelstreifen. Im Schwarzen Weg war es seitlich der Fahrbahn angeordnet. Ausweichen befanden sich in der Berliner Chaussee und in der Gartenfelder Straße Höhe Küsterstraße. Auf der Nonnendammallee und dem Schwarzen Weg fand anfänglich noch Mischbetrieb mit der Siemens-Güterbahn statt.
1909 wurde mit der Herstellung einer Gleisverbindung der Anschluss an das Spandauer Straßenbahnnetz hergestellt. In Siemensstadt wurde 1911 die Strecke eingleisig über die Reisstraße, das Siemens-Werksgelände und den Rohrdamm zum Bahnhof Fürstenbrunn verlängert; die Endstelle lag nördlich der Spree.
Mit dem Bau der Anschlussstrecke nach Jungfernheide wurde die Endstelle am Nonnendamm auf insgesamt vier Gleise erweitert. Die von der Spandauer Straßenbahn und der Güterbahn genutzten Anlagen lagen im südlichen Teil des Mittelstreifens, die von der BCS und GBS genutzten nördlich dazu. Vor der Ecke Rohrdamm führten zwei Gleise von der Nonnendammbahn auf die Anschlussstrecke.
Bis April 1923 baute Siemens die Abschnitte von der Berliner Chaussee Ecke Gartenfelder Straße bis zur Reisstraße einschließlich der Stichstrecke nach Gartenfeld auf eigene Kosten zweigleisig aus. Die Gütergleise waren damit vollständig von der Straßenbahn getrennt. Die doppelte Endstelle an der Reisstraße wurde zu einer dreigleisigen Aufstellanlage für die Straßenbahnen sowie ein getrenntes Gütergleis für die Anschlussbahn zurückgebaut. Die Wendeschleife für die aus Jungfernheide kommenden Züge ging an der Wagenhalle Grenzstraße neu in Betrieb. Die Anordnung blieb im Wesentlichen bis zur Einstellung der Straßenbahn 1967 erhalten, die Gleisanlagen wurden danach teilweise von der Güterbahn weiter genutzt. Der verbliebene Abschnitt zwischen Gartenfelder Straße und der Berliner Brücke wurde bis 1927 zweigleisig ausgebaut.
Betrieb
Betriebshof
Die Fahrzeuge waren zunächst in der Bahnhalle im Rohrdamm untergebracht, bevor am 1. Mai 1909 ein neuer Betriebshof am Nonnendamm Ecke Grenzstraße dem Betrieb übergeben werden konnte. Dieser Betriebshof Grenzstraße wurde 1912 erstmals erweitert und bot auf einer Fläche von 1380 Quadratmetern Platz für 18 Wagen. 1920 übernahm die Berliner Straßenbahn der Hof als Außenstelle des Betriebshofs Pichelsdorfer Straße unter der Nummer 28a. 1923 wurde die Halle um 35 Meter verlängert. 1944 wurden die Hallen infolge der Kampfhandlungen schwer beschädigt. Nach einer notdürftigen Instandsetzung stellte die BVG vorübergehend kriegszerstörte Wagen ab. 1951 erfolgte die Beseitigung der Gebäudereste, 1954 die Stilllegung der Gleisschleife und die anschließende Rückgabe des Geländes an Siemens.
Fahrzeuge
Die Straßenbahn bestellte anfangs je sechs Trieb- und Beiwagen. Zur Betriebseröffnung standen erst vier Triebwagen zur Verfügung, die übrigen Fahrzeuge wurden Anfang 1909 ausgeliefert. Zu Ostern 1909 setzte die Bahn erstmals planmäßig Beiwagen ein. 1911 bestellte die Bahn sieben weitere Trieb- sowie zehn Beiwagen. Die Spandauer Straßenbahn übernahm diese Wagen 1914 und reihte sie in ihr Nummernschema ein. Mit dem Übergang zur Berliner Straßenbahn erfolgte eine erneute Umnummerierung.
Die Wagen hatten offene Einstiegsplattformen und sechs beziehungsweise acht Fenster je Seite. An den Wagenenden sowie unterhalb der Fensterreihe war die Wagennummer mittig angeschrieben, darunter der Schriftzug STRASSENBAHN SPANDAU – NONNENDAMM. Über den Fenstern waren Linienverlaufsschilder angebracht. Die Stromentnahme aus der Oberleitung erfolgte über Rollenstromabnehmer. Obwohl Siemens zu dieser Zeit bei seinen Straßenbahnen den Bügelstromabnehmer bevorzugte, war von Beginn an ein Übergang zur Spandauer Straßenbahn, die ebenfalls Rollenstromabnehmer nutzte, vorgesehen. Die Triebwagen boten 18 Sitz- und 16 Stehplätze, die Beiwagen 24 Sitz- und 20 Stehplätze.
Die Triebwagen erhielten nach 1920 die Wagennummern 4156 bis 4168. Die Berliner Straßenbahn musterte sie bis 1929 aus.
Die Beiwagen der ersten Lieferung liefen nach 1920 unter den Nummern 1487 bis 1492. 1927 erhielten sie geschlossene Plattformen und die Nummern 1471II bis 1476II. Bei der Verwaltungstrennung der BVG kamen Wagen 1471II und 1475II zur BVG-West, die diese bis 1954 ausmusterte. Die Wagen 1472II bis 1474II kamen zur BVG-Ost. Diese baute die Wagen äußerlich um, wobei diese Tonnendächer erhielten und teilweise eine veränderte Fensteranordnung. 1969 zog die BVG-Ost die drei Wagen in das Rekoprogramm ein. Wagen 1476II musterte die BVG vor 1949 ausgemustert.
Die Beiwagen der zweiten Lieferserie erhielten nach 1920 die Wagennummern 1523 bis 1532. Wagen 1526 bis 1530 kamen ab 1923 auf der Linie 120 vom Bahnhof Spandau West nach Hennigsdorf zum Einsatz. Sie erhielten 1927 wie die anderen Beiwagen geschlossene Plattformen. Wagen 1527 war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgemustert. Die auf der Überlandlinie verkehrenden Wagen hatten im Gegensatz zu den normalen Wagen längere Plattformen sowie breitere Radreifen für den Einsatz auf Eisenbahnstrecken erhalten. Ferner erhielten sie zusätzliche Sicherungseinrichtungen und verschließbare Plattformtüren. Nach dem Umbau liefen die Wagen unter den Nummern 1477II bis 1485II. Wagen 1478II sowie Wagen 1481II bis 1484II verblieben nach 1949 bei der BVG-West, wo sie 1954 ausgemustert wurden. Wagen 1477II und 1485II blieben im Ostteil der Stadt und wurden 1969 ebenfalls ins Rekoprogramm einbezogen. Auf den Untergestellen der Wagen 1479II und 1480II wurden vor 1949 die Güterloren G337 und G338 aufgebaut, die in den Bestand der BVG-Ost übergingen.
An Arbeitsfahrzeugen standen dem Unternehmen ein Sprengwagen und ein weiterer Wagen zur Verfügung.
Fahrplan
Die Linie fuhr zunächst mit zwei Triebwagen halbstündlich zwischen Spandau und Nonnendamm, da durch noch weitgehend unbebautes Gelände führte und ein Großteil der Siemens-Mitarbeiter aus Berlin und Charlottenburg kam. Nach 20 Uhr wurde die Wagenfolge auf eine Stunde ausgedehnt und mit einem Pendelwagen gefahren. Ab dem 27. Oktober 1908 pendelte ein dritter Triebwagen zwischen Spandau und Haselhorst. Wegen der begrenzten Ausweichmöglichkeiten fuhr er in der Regel unmittelbar nach einem der beiden anderen Triebwagen und war dementsprechend spärlich besetzt. Ab Anfang November 1908 dehnte man den Halbstundentakt bis 21.30 Uhr aus.
Steigende Fahrgastzahlen führten im Mai 1909 zur Einführung des Viertelstundentaktes bis etwa 21 Uhr, danach fuhren die Züge Halbstundentakt. Am 2. oder 3. Mai 1909 verlängerte man die Linie in die Spandauer Altstadt hinein. Nach der Übernahme der Betriebsführung durch die Städtische Straßenbahn erhielten die Nonnendammbahn im Mai 1910 die Liniensignale N (für Züge nach Nonnendamm) und K (für Züge zur Armee-Konservenfabrik) zugeteilt. Die Linie K fuhr überwiegend sonntags, da die Linie N an diesen Tagen halbstündlich verkehrte und durch die zweite Linie der Viertelstundentakt zwischen Spandau und Haselhorst beibehalten werden konnte. Ab dem 1. Mai fuhren die Linien westwärts weiter bis zum Bahnhof Spandau West an der Seegefelder Straße. Am 1. Oktober 1913 wurde die Linie K wieder eingestellt.
Als Zubringer für das in Gartenfeld errichtete Kabelwerk fuhren vereinzelte Züge während des Berufsverkehrs ab dem 8. Januar 1912 als Linie G zwischen Gartenfeld und Bahnhof Fürstenbrunn. Infolge der Inbetriebnahme der Straßenbahnstrecke vom Ringbahnhof Jungfernheide nach Nonnendamm durch die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn im Jahr 1913 ergab sich eine Konkurrenzsituation in der Siemensstadt. Die überwiegend in Berlin und Charlottenburg wohnhafte Bevölkerung nutzte bis dato die Vorortzüge bis Bahnhof Fürstenbrunn und ab dort die Nonnendammbahn bis Siemensstadt. Nach der Inbetriebnahme stiegen die meisten Arbeiter bereits in Jungfernheide um, da bis hier der günstigere Stadt- und Ringbahntarif galt, und fuhren von dort aus mit der Linie der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn. Die Mitarbeiter des Kabelwerks nahmen für die günstigere Verbindung auch einen rund einen Kilometer langen Fußmarsch in Kauf. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges stellte die Spandauer Straßenbahn daher die wenig gefragte Linie G wieder ein. Ab dem 9. Juni 1914 bestand eine Anschlussverbindung zum Bahnhof Jungfernheide. Die von Siemens & Halske sowie den Siemens-Schuckertwerken erbaute Strecke bediente zunächst die Pendellinie der BCS (Linie V), später die Linie 164 der Großen Berliner Straßenbahn (GBS).
Die Linie N erhielt am 29. Juni 1917 im Zuge der Nummernvergabe bei der Spandauer Straßenbahn die Liniennummer 5. Am 21. Januar 1918 wurde sie zusammen mit einer neu eingerichteten Verstärkerlinie 8, die ab Haselhorst verkehrte, über die Anschlussstrecke zum Bahnhof Jungfernheide verlängert; die Strecke zum Bahnhof Fürstenbrunn ging am gleichen Tag außer Betrieb.
Tarif
Der Fahrpreis betrug für die Gesamtstrecke anfänglich 10 Pfennig. Ferner wurden Schülerkarten für 15 Fahrten zum Preis von 1 Mark ausgegeben. Ab Mai 1909 gab die Bahn auch Lochkarten zum Preis von 1 Mark aus, die zu zwölf Fahrten berechtigten. Ab Herbst 1909 gab die Bahn zudem Arbeiterwochenkarten zum Preis von 60 Pfennig aus, diese berechtigten zu zwei Fahrten je Werktag. Die Hinfahrt hatte bis 8 Uhr, die Rückfahrt zwischen 11 und 20 Uhr zu erfolgen. Ihr Preis wurde 1912 auf 80 Pfennig und 1913 auf eine Mark angehoben. Die Ausgabe erfolgte an „einheimische“ Arbeiter, die Invalidenmarken klebten und ein Jahreseinkommen bis 2100 Mark hatten.
Ab dem 15. August 1909 bestand in Richtung des Spandauer Hauptbahnhofs eine Umsteigeberechtigung zu den Linien der Spandauer Straßenbahn, in entgegengesetzter Richtung war dieser Vorgang nicht zugelassen. Fahrgäste, die umsteigen wollten, hatten den Weichensteller am Markt unter Vorlage ihres Fahrscheins davon in Kenntnis zu setzen. Spätestens mit der Umstellung der Spandauer Straßenbahn von Zahlkasten- auf Schaffnerbetrieb am 1. Januar 1911 bildeten beide Bahnen eine Tarifeinheit.
Anmerkungen
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Spandau-Nonnendamm
Spandau-Nonnendamm
Siemens-Unternehmen
Berlin-Haselhorst
Berlin-Siemensstadt
Berlin-Spandau
Gegründet 1909
Aufgelöst 1914 |
9321857 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bogen%20von%20Orange | Bogen von Orange | Der Bogen von Orange (auch Triumph- oder Augustusbogen von Orange) ist ein dreitoriger Ehrenbogen wohl spätaugusteisch-frühtiberischer Zeit, der dem nördlichen Stadteingang in das antike Arausio, das heutige Orange im südfranzösischen Département Vaucluse, vorgelagert war und etwa 110 Meter außerhalb der Stadt lag.
Nahezu alle Flächen des Bogens sind mit Reliefs überzogen, unter denen die Darstellungen von Waffen und Tropaia überwiegen. Hinzu kommen Schlachtenreliefs siegreicher Römer im Kampf gegen unterlegene Gallier, zudem untergeordnete Reliefs aus dem Bereich der römischen Religion. Befestigungslöcher für die Anbringung metallener Buchstaben, die Anlass und Zeitpunkt der Errichtung des Bauwerks ungefähr bestimmen, lassen die Inschrift rekonstruieren, auch wenn ihre Deutung diskutiert wird.
Der Bogen wurde im 13. Jahrhundert zu einer Festung umgebaut und mit einem acht Meter hohen Turm versehen. Er war damals im Besitz von Raymond I. des Baux, dem prince d’Orange, und gehörte bis 1725 dem Fürstentum Orange. Eine im 19. Jahrhundert behutsam vorgenommene Restaurierung wurde in den 1950er Jahren dem Zeitgeist folgend überarbeitet, so dass für den Laien eine optische Trennung zwischen antikem Befund und Restaurierung kaum mehr möglich ist.
Im Jahr 1840 wurde der Bogen zum monument historique erklärt und damit als bemerkenswertes Bauwerk unter Denkmalschutz gestellt. Seit 1981 ist das Monument zudem Weltkulturerbe der UNESCO.
Lage
Der Bogen erhob sich über der Straße, die von Norden kommend die bald nach 36 v. Chr. gegründete colonia Firma Iulia Secundanorum Arausio, kurz Arausio genannt, erreichte und als Teil der Via Agrippa Arausio mit Lugdunum, dem heutigen Lyon, verband. Die Verlängerung der Straße bildete als Cardo maximus eine der städtischen Hauptachsen. Reste der etwa 10 v. Chr. errichteten und in Teilen nachvollziehbaren Stadtmauer sind im Bereich des Bogens nicht nachweisbar. Man geht deshalb davon aus, dass sich der Bogen außerhalb der Stadt befand und dem eigentlichen Zugang deutlich vorgelagert war. Hierfür sprechen auch die nördlich des Bogens gefundenen Fragmente von Gräbern, die sicher zu einer außerhalb der Befestigung angelegten Nekropole gehörten.
Ilse Paar und Hans G. Frenz schlugen daher vor, in dem Monument einen in augusteischer Zeit entstandenen „Stadtgründungsbogen“ zu sehen. Dieser durch Almut von Gladiß geprägte Begriff soll Bögen bezeichnen, die auf dem durch die Auguren festgelegten Pomerium, der rituell gepflügten Stadtgrenze, errichtet wurden. Schon Arthur Lincoln Frothingham sah 1905 in den einer Stadtmauer vorgelagerten Bögen Markierungen des Pomeriums. Für den Bogen von Orange hat diese Interpretation nur bedingt Aufnahme gefunden. Unter der griffigen Bezeichnung „Stadtgründungsbogen“ wird das Monument seither gleichwohl verbreitet in Reiseführern vermarktet.
Das Wesen dieser nicht als Triumphmonument dienenden Bögen ging deutlich über das Markieren eines Pomeriums – eine Aufgabe, die viel offensichtlicher durch eine Stadtmauer erfüllt werden konnte – hinaus. Ähnlich wie der Bogen von Glanum war der Bogen in Orange schon von weitem in der Ebene sichtbar. Er kennzeichnete als Landmarke den Eingang zur römischen Stadt und zeugte in deren Vorfeld von der Großartigkeit und Überlegenheit römischer Zivilisation und Kultur, die sich innerhalb der Stadtmauer durch Theater, Tempelbauten und öffentliche Plätze Ausdruck verschaffte.
Architektur
Der dreitorige, aus lokalem Kalkstein der Brüche bei Sérignan errichtete Bogen hat eine erhaltene Höhe von 18,60 Metern, eine Breite von 19,56 Metern und eine Tiefe von 8,40 Metern. Der für Fuhrwerke und Wagen taugliche mittlere Durchgang erreicht bei einer Breite von 5,02 Metern eine lichte Höhe von 8,87 Metern, die 2,92 Meter breiten seitlichen Durchgänge für die Fußgänger waren 6,48 Meter hoch.
Die Bogenpfeiler sind an den Fronten mit je zwei kannelierten Halbsäulen zwischen den Durchgängen versehen, Dreiviertelsäulen als Ecksäulen greifen auf die äußeren Schmalseiten des Bogens um. Die Halbsäulen stehen auf Postamenten, besitzen attische Basen mit Plinthen und werden von Kapitellen korinthischer Ordnung bekrönt. Es folgt ein über den Seitendurchgängen verkröpftes Gebälk, dessen Architrav durch drei horizontale, mittels Astragalen voneinander abgesetzte Bänder gegliedert ist. Während der Architrav über den Seitendurchgängen als Wandarchitrav Teil der Bogenpfeiler ist und entsprechend zurückspringt, überspannt er im Bereich des Mitteldurchgangs frei die mittleren Halbsäulen. Ein Eierstab schließt als bekrönendes Profil den Architrav ab. Es folgt ein figurenreicher, nur noch an Süd- und Ostseite in Teilen erhaltener Fries mit hin und her wogenden Kampfszenen. Auf der Nordseite wurde der Fries hingegen glatt belassen und nicht plastisch ausgearbeitet. Dem Fries folgt nach einem Zahnschnitt und einer Abfolge weiterer Profile ein an seiner Unterseite mit Konsolen verziertes Geison. Eine reiche Profilabfolge vermittelt zur abschließenden blattverzierten Sima. Der zentrale Durchgang wird an beiden Fassaden durch Dreiecksgiebel betont, die den vorspringenden Gebälkbereich überspannen.
Diese Dreiecksgiebel sind der oberhalb des Gebälks folgenden, doppelten Attika vorgeblendet. Während die untere Attika die Vor- und Rücksprünge der Blendarchitekur im Bereich der Durchgänge aufnimmt, wurde die obere durch weitere vorspringende Elemente in Form von Postamenten oberhalb der Seitendurchgänge bereichert.
Die Pilaster, auf denen die Archivolten der Durchgänge ruhen, sind mit zarten Rankenornamenten überzogen und weisen filigran gearbeitetes Blattwerk und Stängel auf. Im Gegensatz zum sonst oft flächenfüllenden Ornament des Bogens haben die Pilasterreliefs großzügige Freiflächen, wodurch die detailreiche, feine Qualität der Rankenbestandteile besonders gut zur Geltung kommt. Die Archivolten selbst sind mit üppig gefüllten Girlanden aus Früchten und Blättern geschmückt, ihre Unterseiten tragen ein Netz aus quadratischen und rhombenförmigen flachen Feldern. Wabenförmige, reich mit wechselnden Profilen dekorierte und mit zentralen Blüten versehene Kassettenfelder zieren die Bogenunterseite im Bereich der Durchgänge.
Die Schmalseiten des Bogens wurden mittels zweier Halbsäulen zwischen den Dreiviertelsäulen der Ecken in drei Felder gegliedert. Der Aufbau der Blendarchitektur folgt jener der Fassaden, weist aber ein anderes Schema der Verkröpfungen auf. Das Gebälk tritt nun lediglich oberhalb des mittleren Feldes zurück, kehrt also die Abfolge der Fassaden um und wird in ganzer Breite von einem Dreiecksgiebel bekrönt. Den mittleren Bereich des Giebelfeldes nimmt oberhalb der Verkröpfung eine Konche ein.
Bildschmuck
Neben der reichen Ornamentierung ist der Bogen über und über mit Reliefs unterschiedlicher Inhalte verziert. So weisen die Wandflächen über den seitlichen Durchgängen Waffenreliefs auf, auf denen unter anderem Schilde, Helme, Vexilla, Schwerter und Lanzen dargestellt sind. Die je drei Bildfelder zwischen den Blendsäulen der Außenseiten sind gefüllt mit Tropaia, ursprünglich auf dem Schlachtfeld aufgestellten Zeichen des Sieges, vor denen gefesselte, kriegsgefangene Barbaren stehen.
Der im Verhältnis zu diesen großformatigen Reliefs kleine Fries zeigt eine Aneinanderreihung von Zweikampfszenen zwischen nackten, langhaarigen Galliern und in Tuniken gekleideten Römern. Da sich unter den zu Boden gestürzten Kämpfern nur nackte Gestalten befinden, wird die Sieghaftigkeit der Römer deutlich.
Sind die Relieffelder oberhalb der Durchgänge mit Waffen des Landkrieges gefüllt, so zeigen die entsprechenden Reliefs der ersten Attika Waffen des Seekriegs: Rammsporne, Maste, Anker, Dreizacke, Taue. Maritim sind auch die Darstellungen im Bereich der Attikaschmalseiten, deren Zwickel oberhalb der Giebeldreiecke mit an Tritone erinnernden Meerwesen gefüllt sind. Demgegenüber werden die Zwickel der seitlichen Giebeldreiecke selbst von Füllhörnern eingenommen, eine Büste des Sol erscheint in der Giebelnische.
Die Mittelpostamente der oberen Attika sind mit Schlachtenreliefs dekoriert. Berittene und mit Kettenhemden gepanzerte Römer sowie einfache Legionäre kämpfen gegen die unterlegenen, nackten oder in Hosen kämpfenden Gallier. Zahlreiche Bohrlöcher umgeben die Szene der Südseite und dienten wohl der Anbringung weiterer, in Bronze ausgeführter Darstellungselemente. Auch auf den Seitenwänden der Mittelpostamente sind Kampfszenen angebracht. Ob sie ursprünglich die gesamten Seiten einnahmen oder nur bis zu den Stoßkanten der die Seitenpostamente anbindenden Bauglieder ausgeführt wurden, ist ungeklärt.
Gegenüber diesen zumeist kriegerischen Reliefinhalten sind die Darstellungen des östlichen Postaments auf der oberen Attika einem ganz anderen Themenkreis verpflichtet. So zeigt dessen Nordseite eine Reihe von Kultgeräten, nämlich von links nach rechts Aspergillum, Guttus, Patera, Simpulum und Lituus. Die Darstellung solcher Kultgeräte weist insgesamt in die Sphäre der römischen Pietas. Während Guttus, Patera und Simpulum ganz allgemein Pietas ausdrückende Kultgeräte sind, stehen Aspergillum und Lituus mit ganz bestimmten Priesterschaften und deren Funktion in Verbindung. So ist der Lituus das Kultgerät der bei Stadtgründungen wichtigen Auguren, die für die Abgrenzung des Gebietes, das durch die anzulegende Stadt oder Kolonie der Natur entrissen wurde, zuständig waren.
Das südliche Relief des östlichen Postaments entzieht sich ganz einer Deutung. Dargestellt ist ein weibliches Brustbild, von einem aufgebauschten Mantel umgeben. Diese velificatio genannte Drapierung des Gewandes kennzeichnet in der römischen Kunst das Erscheinen von Gottheiten, unter den weiblichen insbesondere von Luna, Venus und Aura. Als Aura wird die Göttin am Bogen zumeist angesprochen, ohne sich auf eine Interpretation festzulegen.
Inschriften
Architravinschrift
Erst 1811 entdeckte man, dass Löcher am Architrav der Nordseite zu einer Inschrift gehörten und der Befestigung metallener Buchstaben dienten. Nach den Restaurierungen des Bauwerks und der Befreiung von neuzeitlichen Bauteilen in den Jahren von 1950 bis 1955 fand man am südlichen Architrav ebenfalls zu einer Inschrift gehörende Befestigungslöcher. Damit wurden ältere Lesungen der Inschrift zwar hinfällig, Unsicherheiten bestehen aber weiterhin nicht nur bezüglich der Schlussformel:
Die an Tiberius gerichtete Inschrift ließe sich in dieser Lesung aufgrund der genannten Titulatur in das Jahr 26/27 n. Chr. datieren. Doch passen insbesondere die Schreibweisen der Zahlen und die Abkürzungen der Titel nicht unbedingt zu den in der frühen Kaiserzeit zu erwartenden Formeln. Zudem müssen für die rekonstruierte Lesung oft ganz verschiedene Lochmuster für denselben Buchstaben vorausgesetzt werden. Allein für die Buchstaben A und E gab es demnach je sechs unterschiedliche Fixierungsmuster, für R und V je fünf, für das O allein sieben. Deswegen wurde die Richtigkeit der zumeist akzeptierten Lesung nicht nur in Zweifel gezogen, sondern ganz verworfen. Für die Rekonstruktion der Schlussformel zu restitutori coloniae, „dem [gemeint ist Tiberius] Wiederhersteller der Kolonie“, ist ein Anlass nur sehr gewollt zu rekonstruieren; eine besondere Zuwendung seitens des Tiberius gegenüber der Kolonie ist nicht überliefert. Man glaubte, in der Niederschlagung der von Iulius Sacrovir 21 n. Chr. in Nordfrankreich geführten Unruhen und in einer anschließend einsetzenden Stärkung der Veteranenkolonien ein passendes Ereignis gefunden zu haben. Nimmt man hingegen eine Wiederherstellung des Bogens durch die Kolonie an, könnte sich das restituit sowohl auf Restaurierungsarbeiten als auch auf eine Umwidmung des Bogens an Tiberius beziehen. Der bei einer baulichen Restaurierung zu fordernden und auch vertretenen Trennung verschiedener Bauphasen an dem Bogen wurde die mit nur einer frühen Bauphase auskommende Annahme entgegengesetzt, die Inschrift künde von einer Umwidmung des ursprünglich postum dem 19 n. Chr. verstorbenen Germanicus bestimmten Bauwerks an Tiberius. Doch wird die Inschrift auch als für die Datierung des Bogens gänzlich unerheblich eingeschätzt. Unabhängig von ihrer Datierung gilt es als sicher, dass sie erst nachträglich auf dem durchdekorierten Architrav angebracht wurde.
Reliefinschriften
Verteilt über den Bogen sind auf den Schilden der Waffenreliefs und der Tropaia zahlreiche Namen eingraviert, unter anderem MARIO, DACVRDVS, SACROVIR(US), BODVACVS.
Bereits die älteste erhaltene Beschreibung des Bogens aus dem Jahr 1535 von Aymar du Rivail (1491–1558) erwähnt die Aufschriften:
Der Name Boduacus ist von zwei weiteren Inschriften aus Nîmes und Verona bekannt, Iulius Sacrovir aus dem von Tacitus überlieferten Aufstand in Ostgallien aus dem Jahr 21. Ob die Schildaufschriften auf historische Persönlichkeiten Bezug nehmen, einfach nur Künstlerinschriften oder gar Waffenproduzenten darstellen, ist nicht zu entscheiden. Ein Mitglied aus der Familie eines Sacrovirus (ex Sacroviri gente) ist aus einer in Orange gefundenen Grabinschrift der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts bekannt, ohne dass ein Bezug zur Inschrift auf dem Bogen hergestellt werden kann.
Datierung
Die Datierung des Bogens ist Gegenstand anhaltender Diskussion. Grundlage dieser Diskussion sind:
Inhalt und Interpretation der Architravinschrift sowie deren Einschätzung als datierungsrelevantes Kriterium;
die Beurteilung von Bauformen und -ornamentik als Ausdruck eines datierbaren Baustils;
der sich in den Reliefs widerspiegelnde Kunststil und deren damit verbundene Zeitstellung;
die konzeptionelle Geschlossenheit des architektonischen Befundes.
Das Spektrum der heute noch vertretenen Datierungsansätze reicht vom 2. Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts, wobei ein Großteil der Forscher von einer Datierung des Bogens in das 3. Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts ausgeht. Doch bleibt die Datierung unsicher und erheblich davon abweichende Ansätze sind als Teil der Diskussion ernstzunehmen.
Hatte der erste Bearbeiter der Inschrift, Pierre Herbert, 1862 den Anfang der ersten Zeile noch als IMP CAIO I CÆ AVGVSTO DIVI I FIL gelesen und hierin eine Widmung an Augustus, den Sohn des vergöttlichten Gaius Iulius Caesar, gesehen, so erbrachte eine neuerliche Bearbeitung durch Félicien de Saulcy im Jahr 1866 TI CAESARI DIVI AUGUSTI FIL DIVI IULI NEP als Widmung. Diese Lesung datierte das Monument in die Zeit des Tiberius. Sie schien die bereits zuvor von Charles Lenormant anhand der Sacrovir-Beischrift der Reliefs vorgetragene Datierung zu bestätigen. Im Jahr 1880 fertigte Alexandre Bertrand einen Abdruck der Fixierungslöcher an und kam im Ergebnis zur Lesung TI CAESARI DIVI AUGUSTI F DIVI IULI NEPOTI AUGUSTO, was die Lesung von Félicien de Saulcy verfeinerte und ergänzte, zudem grundsätzlich bestätigte. In dieser Form, ergänzt um weitere Elemente der Titulatur, welche die Inschrift konkret in das Jahr 24/25 datierten, fand die Inschrift Eingang in Band 12 des Corpus Inscriptionum Latinarum unter der Nummer 1230 und kam der aktuellen Lesung sehr nahe. Nach weiteren Modifikationen durch André Piganiol und Robert Amy, die zur Datierung in das Jahr 26/27 führten, galt der Bogen als festdatiertes Monument, errichtet in tiberischer Zeit.
Zweifel ergaben sich aus der unsicheren Lesung der Schlussformel und dem Umstand, dass die Inschrift auf dem für eine Anbringung nicht vorbereiteten Architrav befestigt worden war. Damit bot die Inschrift nur noch einen terminus ante quem für die Datierung. So schlugen Ilse Paar und Hans G. Frenz ihrer Deutung als „Stadtgründungsbogen“ folgend vor, in dem Monument einen augusteischen Bau zu sehen.
Gegen eine Datierung auch nur in der Nähe der um 35 v. Chr. erfolgten Koloniegründung in früh- oder mittelaugusteische Zeit sprachen hingegen alle Bauformen und Dekorationselemente des Bogens. Daher schlug Pierre Gros vor, der Bogen sei für den verstorbenen Germanicus bestimmt gewesen und im Jahr 26/27 umgewidmet worden, der Bau mithin in den Jahren 20–26/27 ausgeführt worden. Eine differenziertere Betrachtungsweise stellte Annette Küpper-Böhm zur Diskussion. Nach einem Vergleich mit anderen Monumenten der Region, etwa den Bögen von Cavaillon und Glanum, dem Theater von Arles, kommt sie zu dem Ergebnis, dass der Bau in Orange im zweiten Jahrzehnt errichtet wurde. Ein Umbau in tiberischer Zeit, bei dem eine erste obere Attika aufgesetzt wurde, führte zur Umwidmung und Anbringung der Inschrift auf dem Architrav. Im 2. Jahrhundert schließlich sei die obere Attika erneut umgestaltet und in ihre heute bekannte Form gebracht worden. Wichtigstes Indiz hierfür seien die Reliefs der oberen Attika. Bereits im 19. Jahrhundert erkannte man – allerdings ohne Konsequenzen für die Datierung des Bauwerks –, dass die Kampfreliefs der oberen Attika nicht recht zu einer frühkaiserzeitlichen Zeitstellung passen mochten. Kompositionsschema und Ausführung erinnern vielmehr an Schlachtensarkophage, wie man sie seit trajanischer Zeit kennt.
James C. Anderson jr. schließlich, der der Rekonstruktion der Inschrift keinerlei Wert beimisst, den Ansatz von Küpper-Böhm aber für ingenious hält, bricht gänzlich mit der gängigen Datierung des Bogens in das frühe 1. Jahrhundert. Ausgehend von den Schlachtenreliefs der oberen Attika kommt er zu einer Datierung in die Zeit des Septimius Severus am Ende des 2. Jahrhunderts, sieht allerdings keine Notwendigkeit für die Trennung verschiedener Bauphasen und verwirft eine hypothetische erste Phase der oberen Attika. Eine Datierung ins spätere 2. Jahrhundert wurde bereits von Paolino Mingazzini vertreten. Für Anderson sind die Rankenmotive der Archivoltenpilaster mit julisch-claudischer Bauornamentik nicht vereinbar, vielmehr wären solche Elemente frühestens in flavischer Zeit, also etwa ab dem Jahr 70 in Mode gekommen. Die Betonung der Halbsäulen durch auf den Boden durchgezogene Einzelpostamente sei vor dem Septimius-Severus-Bogen nicht nachweisbar. Als Grund für die Anbringung der Inschrift auf dem Architrav stellt er die damnatio memoriae Getas im Jahr 211 zur Diskussion, denn Geta wäre auf der ursprünglichen und unter Caracalla eradierten Inschrift des glatten, abgearbeiteten Nordfries genannt worden. Da dieser Zeitansatz sich mit dem, was man über die Entwicklung römischer Dekorformen, insbesondere des korinthischen Kapitells, aber auch anderer Elemente wie der Ranken und Girlanden bislang herausgearbeitet hat, nicht in Einklang bringen lässt, ist Anderson gezwungen, die bisherigen Datierungen der meisten römischen Bauten nicht nur in der Gallia Narbonensis, sondern auch in den westlichen Provinzen in Frage zu stellen. Dies konnte sich bislang nicht durchsetzen.
Nachantike Nutzung
Der prince d’Orange, Raymond I. des Baux (gestorben 1282) baute den Bogen von Orange im 13. Jahrhundert zu einer Festung um. Auffälligste Neuerung war hierbei ein rund acht Meter hoher, zinnenbewehrter Turm, der auf der oberen Attika platziert wurde. Um den durch diesen massiven Aufbau entstandenen Druck, dem der Bogen nun ausgesetzt war, abzuleiten, wurden Nord-, West- und Ostseiten bis zur Höhe der Kämpferkapitelle mit schräg ansteigenden Stützmauern versehen. Diese Maßnahmen konnten dennoch nicht verhindern, dass sich im Laufe der Jahrhunderte den Bogen durchziehende Risse bildeten. Die Südseite wurde „geglättet“, indem die Profile der Gesimse abgearbeitet wurden, die Blendarchitektur der Westseite wurde weitgehend zerstört.
Die Durchgänge wurden in ihrer Höhe geteilt, im östlichen Bereich wurden Wohnräume eingerichtet. Ein Durchgang wurde zwischen mittlerem und östlichem Durchgang geschaffen. Mittels einer Öffnung, die von der südlichen Außenseite in die untere Attika durch den vorgeblendeten Giebel geschlagen wurde, gelangte man in den oberen Bereich des Bogens und auf den Turm. Die im Bereich der Attika durchgeführten Arbeiten, zum Beispiel das Einziehen von später wieder entfernten Gewölben, verunklärten den antiken Befund nachhaltig.
Von Thomas Platter dem Jüngeren stammt die älteste ausführlichere Beschreibung des Bogens. In seinem Tagebuch vermerkt er unter dem Datum vom 23. Februar 1597:
In diesem bald darauf von Joseph de La Pise im Jahr 1640 beschriebenen und gezeichneten Zustand blieb der Bogen bis zu seiner Restaurierung im frühen 18. Jahrhundert.
Restaurierungen
Der scheinbar gute Erhaltungszustand des Bogens von Orange, der sich in weiten Teilen für den Laien als intaktes Zeugnis antiker Architektur darstellt, ist das Ergebnis von über 200 Jahren der Restaurierung und Erneuerung.
Bereits 1721 veranlasste ein prince de Conti, wohl Louis Armand II. de Bourbon, den Abbruch des im 13. Jahrhundert auf dem Bogen errichteten Turms. Weitere Sicherungsmaßnahmen zu treffen, war dem Fürstentum Orange zu kostspielig. Nachdem daher der Bogen 1725 in den Besitz der arbalétiers, der Gesellschaft der Armbrustschützen von Orange, übergegangen war, wurden die Pilaster im westlichen und mittleren Durchgang sowie die westliche Archivolte der Südseite erneuert, ebenso die linke Halbsäule der Südseite. Um das Bauwerk zu sichern, wurde 1772 der obere Teil der Westseite aufgemauert.
In den Jahren 1808/09 führte Alexandre Reux, Départementsarchitekt von Vaucluse, Sicherungs- und Erhaltungsarbeiten am Bogen durch. Im Rahmen dieser Arbeiten wurden die Pilaster sowie Kämpferkapitelle und die Archivolte des westlichen Durchgangs der Südseite ergänzt, die Südostecke in Gänze wiederhergestellt. Zudem wurden die Pilaster der Nordseite ergänzt und die Anbauten, die sich an die westliche Fassade lehnten, abgebrochen. Als 1809 die Route nationale 7 ausgebaut wurde, schuf man eine Platzanlage mit dem Bogen in der Mitte, um die die Straße beidseitig herumgeführt wurde. Beauftragt mit den weiteren Arbeiten am Bogen wurde Auguste Caristie, unter dessen Leitung 1810/11 die letzten Anbauten entfernt und der Sockelbereich des Bogens freigelegt wurden.
Ab 1825 begann Auguste Caristie mit der umfangreichen Restaurierung und der Bauaufnahme des Bogens. Unter Verwendung lediglich zweier antiker Bauteile wurde die gesamte, stark zerstörte Westseite des Bogens völlig neu gestaltet. Die Ergänzungen der Nordseite umfassten die Ecksäulen, Teile des über dem westlichen Durchgang befindlichen Waffenreliefs, die Eckpilaster der unteren und das westliche Postament der oberen Attika. An der stark in Mitleidenschaft gezogenen Südseite ließ er die westlichen Halbsäulen und sämtliche Profile erneuern. Mit Ausnahme der noch am besten erhaltenen Ostseite wurde am Bogen das komplette Gebälk oberhalb der Blendsäulen erneuert. Caristie achtete darauf, die Ergänzungen und Erneuerungen als solche kenntlich zu lassen, und verzichtete auf die Ausarbeitung der Ornamentik.
Dieser geradezu moderne denkmalpflegerische Ansatz wurde bei den Restaurierungen in den Jahren von 1950 bis 1957 verworfen. Nun wurden die als modern zu erkennenden Ergänzungen nachträglich ornamentiert und mittels Sandstrahlen künstlich verwittert. Seither ist eine Unterscheidung des antiken Bestandes von den modernen Ergänzungen kaum mehr möglich.
Literatur
Auguste Nicolas Caristie: Monuments antiques à Orange. Arc de triomphe et théâtre. Firmin Didot, Paris 1856.
André Piganiol: L’inscription de l’arc de triomphe d’Orange. In: Comptes rendus des séances de l'Académie des inscriptions et belles-lettres. 1954, S. 20–21 ( Digitalisat).
Robert Amy, Paul-Marie Duval, Jules Formigé, Jean-Jacques Hatt, Gilbert Charles-Picard, André Piganiol: L’Arc d’Orange (= Gallia. Supplementband 15). Centre national de la recherche scientifique, Paris 1962.
Ilse Paar: Der Bogen von Orange und der gallische Aufstand unter Führung des Julius Sacrovir 21 n. Chr. In: Chiron. Band 9, 1979, S. 215–236.
Pierre Gros: Pour une chronologie des arcs de triomphe de Gaule Narbonnaise (à propos de l’arc de Glanum). In: Gallia. Band 37, Heft 1, 1979, S. 55–83 (Digitalisat).
Pierre Gros: Une hypothèse sur l’arc d’Orange. In: Gallia. Band 44, Heft 2, 1986, S. 191–201 (Digitalisat)
Hans G. Frenz: Zur Datierung des Bogens von Orange. In: Mihály Praznovszky (Hrsg.): 2. Internationales Kolloquium über Probleme des Provinzialrömischen Kunstschaffens. Vorträge der Tagung in Veszprém, 14. Mai–18. Mai 1991. Laczkó Dezső Múzeum, Veszprém 1991, S. 83–89.
Annette Küpper-Böhm: Die römischen Bogenmonumente der Gallia Narbonensis in ihrem urbanen Kontext (= Kölner Studien zur Archäologie der römischen Provinzen. Band 3). Verlag Marie Leidorf, Espelkamp 1996, ISBN 3-89646-131-1, S. 86–109. 184 f. Taf. 21–23.
James C. Anderson: Roman Architecture in Provence. Cambridge University Press, Cambridge 2013, S. 81–93.
Florian Stilp: L’Arc d’Orange. Origine et Nachleben. Les Belles Lettres, Paris 2017, ISBN 978-2251446165.
Weblinks
Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts im Projekt GALLIA ROMANA der Universität Tours
Anmerkungen
Orange
Erbaut im 1. Jahrhundert
Monument historique in Orange (Vaucluse)
Tor in Frankreich
Orange, Bogen
Orange, Bogen
Bauwerk aus Stein
Denkmal in Frankreich
Bauwerk in Orange (Vaucluse)
Monument historique seit 1840
Orange
Orange |
9678857 | https://de.wikipedia.org/wiki/Karr%C4%81m%C4%ABya | Karrāmīya | Die Karrāmīya () war eine religiöse Strömung des Islam, die zwischen dem 9. und dem frühen 13. Jahrhundert existierte und ihre Hauptverbreitungsgebiete in Chorasan, Transoxanien und den östlichen Randzonen Irans hatte. Sie geht auf den sīstānischen Asketen Abū ʿAbdallāh Muhammad ibn Karrām (gest. 869) zurück, der im Umland von Nischapur predigte und später mit vielen seiner Anhänger nach Jerusalem auswanderte. Nach ihm wurden die Karrāmiten auch als die „Anhänger von Abū ʿAbdallāh“ (aṣḥāb Abī ʿAbdallāh) bezeichnet. Die frühen Ghaznawiden und die frühen Ghuriden gewährten der Karrāmīya herrscherliche Unterstützung. Wichtigstes Zentrum der Gemeinschaft blieb bis zum Ende des 11. Jahrhunderts Nischapur. Nach ihrem dortigen Niedergang überlebte die Karrāmīya nur noch in Ghazna und Ghor auf dem Gebiet des heutigen Afghanistans bis ins 13. Jahrhundert.
Die Karrāmiten fielen in der Anfangszeit vor allem durch ihre betont nach außen getragene Frömmigkeit und Askese auf. Später profilierten sie sich auch durch eigene theologische Lehren. Hierzu gehörte, dass sie Gott einen Körper und einen Ort zuschrieben und den Schöpfungsprozess als Geschehen betrachteten, das sich in Gott selbst abspielt und nur durch sein Schöpfungswort kun („Sei!“) auf die Welt übertragen wird. Ein weiteres Merkmal der karrāmitischen Lehre war, dass sie das Bezeugen des Glaubens auf ein einmaliges verbales Bekenntnis beschränkte. Im Bereich der Normenlehre folgten die Karrāmiten dem hanafitischen Madhhab, doch besaßen sie einige Sonderlehren, so dass die Karrāmīya auch als eigenständiger Madhhab galt. Die karrāmitischen Regeln im Bereich der gottesdienstlichen Pflichten waren für ihre Laxheit berüchtigt. Aus dem 10. bis 12. Jahrhundert haben sich verschiedene koranwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, häresiographische und hagiographische Werke karrāmitischer Autoren erhalten. Da diese Autoren ihre eigene konfessionelle Identität darin nicht offenlegen, ist der karrāmitische Charakter der betreffenden Texte lange verborgen geblieben.
Geschichte
Der Gründer
Leben
Gründer der Karrāmīya war Abū ʿAbdallāh Muhammad ibn Karrām as-Sidschistānī, der aus dem arabischen Stamm der Banū Nizār stammen soll. Er wurde um 806 in der Nähe von Zarang geboren, der damals wichtigsten Stadt von Sīstān, die einige Kilometer nördlich der heutigen Stadt Zabul lag. Der Biograph as-Samʿānī erklärt, dass er deswegen Ibn Karrām hieß, weil sein Vater Weingärten (karm) hütete und von daher Karrām genannt wurde. Ibn Karrām reiste von Sīstān aus zum Studium nach Chorasan und schloss sich zunächst dem großen Asketen von Nischapur Ahmad ibn Harb (792–849) an. Danach verbrachte er einige Zeit bei Ibrāhīm ibn Yūsuf al-Mākiyānī in Balch, bei ʿAlī ibn Hudschr in Merw und bei ʿAbdallāh ibn Mālik ibn Sulaimān in Herat. Ahmad ibn Harb war so wichtig für die weitere Entwicklung Ibn Karrāms, dass die Karrāmiten ihre Bewegung mit ihm beginnen ließen und ihn als einen der ihren betrachteten.
Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Mekka als „Nachbar“ (muǧāwir) des Heiligtums kehrte Ibn Karrām über Jerusalem nach Nischapur und dann nach Sīstān zurück, wo er seinen Besitz verkaufte, um ein Leben in Armut zu führen. Fortan kleidete er sich nur noch in grobe Felle. Nach der Aussage des ismāʿīlitischen Häresiographen Abū Tammām legte Muhammad ibn Karrām Selbstkasteiung (taqaššuf) und Weltverzicht (zuhd) an den Tag und übte das Prinzip des Gottvertrauens (tawakkul), d. h., er begab sich mit einer Anzahl seiner Anhänger ohne Proviant, Wasser und Reittiere in die Wüste.
Nachdem er viele Menschen für seine Lehren gewonnen hatte, ließ ihn der tahiridische Statthalter von Sīstān Ibrāhīm ibn Husain Qusi, der ab 840 amtierte, festnehmen und befragen. Aufgrund der Frömmigkeit und Askese, die Ibn Karrām zeigte, scheute sich der Statthalter, ihn hinzurichten, und beschränkte sich darauf, ihn aus Sīstān auszuweisen. So begab sich Ibn Karrām mit seinen Anhängern nach Ghur, Ghardschistān und in die ländlichen Gebiete von Chorasan, um dort zu predigen. In Ghardschistān gelang es ihnen, die Bevölkerung zur karrāmitischen Lehre zu bekehren. Anschließend begab er sich nach Nischapur, wo zu dieser Zeit der Tahiride ʿAbdallāh ibn Tāhir (reg. 828–845) als Statthalter von Chorasan herrschte. Im fruchtbaren Umland von Nischapur konnte Ibn Karrām ebenfalls eine Anzahl von Dorfbewohnern zu seiner Lehre bekehren.
Schon zu Ibn Karrāms Lebzeiten gab es zwei Theologen, die sich dezidiert gegen seine Lehre wandten, nämlich der Herater Hadith-Gelehrte ʿUthmān ibn Saʿīd ad-Dārimī (gest. 894) und der Hanafit Abū Bakr Muhammad ibn al-Yamān as-Samarqandī (gest. 881/82). Letzterer verfasste eine Widerlegung der Karrāmiten, die sich allerdings nicht erhalten hat. ʿAbdallāh ibn Tāhirs indirekter Nachfolger Muhammad ibn Tāhir (reg. 862–873) ließ Ibn Karrām für mehrere Jahre gefangensetzen.
Nach seiner Freilassung verließ Ibn Karrām im Schauwāl 251 (= Oktober/November 865) Nischapur und zog nach Jerusalem. Der jemenitische Häresiograph as-Saksakī spricht davon, dass er von „800 Schwadronen aus der Menge“ (ṯamānimiʾat katība min ǧull an-nās) begleitet wurde, als er aus Nischapur auszog. Ibn Karrāms Auswanderung nach Jerusalem hatte eine große religiöse Bedeutung für seine Anhänger, die einen Hadith überlieferten, wonach der Prophet Mohammed vorausgesagt hatte, dass am Ende der Zeit ein Mann namens Muhammad ibn Karrām auftreten werde, der die Sunna und die Gemeinschaft der Gläubigen wiederbeleben und eine Hidschra von Chorāsān nach Jerusalem vollziehen werde, so wie er selbst eine Hidschra von Mekka nach Medina vollzogen habe.
Ibn Karrāms Predigten auf dem Vorplatz des Felsendoms zogen große Menschenmengen an, die den Ausgangspunkt der dortigen karrāmitischen Gemeinde bildeten. Er starb im Safar 265 (= Januar/Februar 870) und wurde beim Jericho-Tor (= Löwentor) in Jerusalem begraben.
Werke
In der häresiographischen Literatur werden zwei Bücher von Muhammad ibn Karrām erwähnt und teilweise zitiert. Das eine Buch hat den Titel Kitāb ʿAḏāb al-qabr („Buch der Grabesstrafe“) und behandelt verschiedene theologische Themen. Aus ihm werden einige Stellen in ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādīs al-Farq baina al-firaq zitiert. Das andere Buch wird von dem imamitischen Häresiographen Ibn ad-Dāʿī ar-Rāzī (gest. nach 1132) erwähnt und hat den Titel Kitāb as-Sirr („Buch des Geheimnisses“). Die Zitate, die Ibn ad-Dāʿī aus dem Buch bewahrt hat, zeigen, dass es sich mit der Frage der göttlichen Weisheit befasste. Mit einem Katalog verschiedener Fragen werden Unstimmigkeiten im göttlichen Schöpfungsplan und im geoffenbarten Gesetz aufgezeigt und damit die muʿtazilitische Aslah-Theorie, wonach die Welt die beste aller möglichen Welten ist, ad absurdum geführt.
Adh-Dhahabī behauptet, dass die meisten von Ibn Karrāms Büchern nicht von ihm selbst verfasst worden seien, sondern von seinem Gefolgsmann Ma'mūn ibn Ahmad as-Sulamī. As-Saksakī meint, dass Ibn Karrām sogar Analphabet gewesen sei und deshalb seine Bücher seinen Anhängern diktiert habe.
Ausbreitung der Bewegung im 9. und 10. Jahrhundert
Noch während des neunten Jahrhunderts verbreitete sich die Karrāmīya über viele Gebiete der zentralen und östlichen islamischen Welt. Der Damaszener Gelehrte Taqī ad-Dīn al-Hisnī (gest. 1425) spricht davon, dass es 70.000 Anhänger Ibn Karrāms im Osten gebe. Das Hauptverbreitungsgebiet der Bewegung war Chorasan, Transoxanien und die östlichen Ränder von Iran. Die Karrāmiten übten in Nischapur, Herat und Ghartschistān einigen Einfluss aus und hatten auch in Ferghana, Chuttal, Dschuzdschan, Marw ar-Rūdh und Samarkand eigene Gemeinden. Dort, wo die Karrāmiten sich niederließen, gründeten sie Chanqāhs. Der Chanqāh war eine neue Art von Einrichtung, die gleichzeitig zur Versammlung, zur Unterbringung von Gästen und für die Predigt verwendet wurde. Anfangs war diese Einrichtung so kennzeichnend für die Karrāmīya, dass ihre Anhänger auch einfach nur als „die Bewohner der Chanqāhs“ (sukkān al-ḫāniqah) bezeichnet wurden. Später wurde der Chanqāh als Einrichtung aber auch von den Sufis übernommen.
Am meisten ist über die Karrāmīya in Nischapur bekannt, wo sie unter der Führung der Banū Mahmaschādh eine starke und streitlustige Fraktion darstellte. Der aus dieser Familie stammende Asket Abū Yaʿqūb Ishāq ibn Mahmaschādh (gest. 993) war eine der wichtigsten karrāmitischen Persönlichkeiten überhaupt. Durch seine Predigt soll er mehr als 5000 Männer und Frauen der Ahl al-kitāb und Madschūs auf dem Gebiet von Nischapur zum Islam bekehrt haben. Der persische Geschichtsschreiber ʿAbd al-Ghāfir al-Fārisī berichtet, dass unter seiner Führung die Karrāmīya in Nischapur aufblühte.
Ein weiteres Zentrum der Gemeinschaft war Jerusalem. Schon Muhammad ibn Karrām soll mehr als 5000 Familien aus Chorasan und Umgebung nach Jerusalem gebracht haben. Dies hatte mit der karrāmitischen Lehre zu tun, der zufolge die Menschen am Tag der Auferstehung in Jerusalem versammelt werden sollten. Der Umzug nach Jerusalem sollte ihre Position am Tag der Auferstehung verbessern, weil sie dann näher am Versammlungsort sein würden. Der Geograph Schams ad-Dīn al-Muqaddasī, der um 985 ein Werk über die verschiedenen Regionen der islamischen Welt erstellte, berichtet, dass es in Jerusalem eine große Anzahl von Karrāmiten gab, die dort ihre eigenen Chanqāhs hatten, in denen sie Dhikr-Sitzungen abhielten. In anderen Quellen wird mitgeteilt, dass sich eine Gruppe von Karrāmiten ununterbrochen an Ibn Karrāms Grab aufhielt. Die lokale Bevölkerung soll wegen ihrer Bemühungen im Gottesdienst große Sympathie für sie gehabt haben.
In Fustāt hatten die Karrāmiten im 10. Jahrhundert sogar ein eigenes Viertel. Außerdem lebten im Libanon etwa 4000 Anhänger Ibn Karrāms als Einsiedler. Al-Muqaddasī berichtet, dass er in dem Buch eines karrāmitischen Autors aus Nischapur gelesen habe, dass die Karrāmiten 700 Chanqāhs im Maghreb besäßen, doch stellte er selbst fest, dass es dort keinen einzigen gab. Der andalusische Gelehrte Ibn Hazm (gest. 1064) will allerdings in Almería einen Sufi kennengelernt haben, der karrāmitische Lehren vertrat.
Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen während der Samanidenzeit
Im 10. Jahrhundert wurde die Karrāmīya immer stärker zur Zielscheibe interkonfessioneller Polemik. Abū l-Qāsim as-Saffār (gest. 938), das Oberhaupt der Hanafiten in Balch, warf den Karrāmiten vor, mit ihrer Askese das Volk zu falschen theologischen Lehren (maqālāt) zu verleiten. In der persischen Version des Kitāb as-Sawād al-aʿẓam von Abū l-Qāsim as-Samarqandī (gest. 953), das auf dem Gebiet der Samaniden die Funktion eines offiziellen Katechismus hatte, wird die Karrāmīya unter den 72 irrenden Sekten des Islams aufgeführt und ausgesagt, dass sie „schlechter und unwissender“ als alle anderen Sekten sei. Außerdem wird im Namen von ʿAbdallāh ibn ʿUmar ein Hadith angeführt, wonach der Prophet Mohammed das Auftreten der Karrāmiten in Chorasan vorhergesagt und sie verflucht haben soll. In dem Hadith werden die muslimischen Gläubigen angewiesen, Karrāmiten nicht zurückzugrüßen, nicht nach ihnen zu fragen, wenn sie erkranken, und nicht zu ihrem Begräbnis zu gehen, wenn sie sterben.
Der samanidische Heerführer in Chorasan, Muhammad ibn Ibrāhīm ibn Sīmdschūr, ließ im Jahre 370 d. H. (= 980/81 n. Chr.) den aschʿaritischen Theologen ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1037) und den karrāmitischen Theologen Ibrāhīm ibn Muhādschir in einer öffentlichen Disputation gegeneinander antreten. Wie diese Disputation ausging, ist nicht bekannt. Al-Baghdādī hatte ein sehr schlechtes Bild von den Karrāmiten. Er meinte, dass man sie zum einen wegen ihres Gottesbildes für ungläubig erklären müsse, zum anderen aber auch, weil nach ihrer Lehre für das Pflichtgebet keine Nīya notwendig war, eine Lehre, die, wie al-Baghdādī meinte, „im Widerspruch zur Auffassung der gesamten Umma steht“. Wie er selbst berichtet, hatte er ein eigenständiges Buch über die „Schändlichkeiten“ (faḍāʾiḥ) der Karrāmiten zusammengestellt. Große Anstrengungen, um die karrāmitischen Lehren zu widerlegen, unternahm auch der aschʿaritische Gelehrte Ibn Fūrak (gest. 1015).
Al-Muqaddasī nennt in seinem Werk Aḥsan at-taqāsīm fī maʿrifat al-aqālīm eine ganze Anzahl von Orten, an denen die Karrāmīya in Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen verwickelt war. So berichtet er für Dschurdschān von wilden Kämpfen und Streitereien zwischen Karrāmiten und Hasaniden. In Nischapur lag die Karrāmīya im Streit mit der Schia, wobei sich dieser Streit aus einem Konflikt zwischen zwei fanatischen Gruppen, die in verschiedenen Stadtvierteln wohnten, entwickelt hatte. Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass sich die Karrāmīya in diese Streitereien hineinziehen ließ. Nach al-Muqaddasī gehörte Parteigeist (ʿAsabīya) zu den vier grundlegenden Eigenschaften, die die Karrāmīya auszeichneten. In Herat stand die Karrāmīya im Streit mit der sogenannten ʿAmalīya. Diese Gruppe wurde deswegen so genannt, weil sie im Gegensatz zur Karrāmīya lehrte, dass der Glaube nicht aus der Schahāda besteht, sondern aus dem Werk (ʿamal), womit insbesondere die fünf Säulen des Islams gemeint waren. Ein weiterer Ort, an dem man fanatisch gegen die Karrāmiten vorging, war Biyār in der Nähe des heutigen Ortes Schahrūd. Al-Muqaddasī war diesem Ort besonders verbunden, weil seine mütterliche Familie von dort zwei Generationen früher nach Jerusalem ausgewandert war.
Al-Muqaddasī selbst verteidigte in seinem Werk die Karrāmiten gegen den Vorwurf der Ketzerei. Er verweist darauf, dass sie „Leute des Weltverzichts und des Gottesdienstes“ (ahl az-zuhd wa-taʿabbud) seien, die sich an Abū Hanīfa ausrichteten, und meint, dass man sie deswegen nicht als „Ketzer“ (mubtadiʿūn) bezeichnen könne. Das Verhältnis zwischen Karrāmiten und Hanafiten ist allerdings nicht ganz leicht zu bestimmen, denn al-Muqaddasī vermerkt auch, dass die Karrāmīya als Lehrrichtung neben Kalām auch Fiqh umfasst. Dies lässt sich nur so deuten, dass die Karrāmiten grundsätzlich der Lehre Abū Hanīfa folgten, aber im Fiqh einige Sonderlehren vertraten.
Verteidigung der karrāmitischen Lehren durch Ibn al-Haisam
Eine Quelle des 10. Jahrhunderts berichtet, dass die Karrāmiten es für zulässig hielten, bei Disputen mit religiösen Gegnern, die die Richtigkeit ihrer Lehre bezweifelten und einen Hadith zu ihrer Bestätigung verlangten, spontan Hadithe zu erfinden und dem Propheten zuzuschreiben. Sie sollen dies damit begründet haben, dass ihr Madhhab die Wahrheit sei und der Prophet ja auch nur die Wahrheit verkündet haben könne. Wenn sie nun von ihm überlieferten, dass er dieses oder jenes gesagt habe, woran sie glaubten, dann müssten sie die Wahrheit sprechen.
In der Auseinandersetzung mit den anderen islamischen Lehrrichtungen griffen die Karrāmiten bald aber auch auf die Methoden des Kalām zurück. Hierbei trat insbesondere Abū ʿAbdallāh Muhammad Ibn al-Haisam (gest. 1019) hervor, der von asch-Schahrastānī als der Mutakallim der Karrāmīya beschrieben wird, wie man diejenigen nannte, die sich an dieser Art von „Rede“ beteiligten. Asch-Schahrastānī beschreibt, dass sich „Ibn al-Haisam darum bemühte, die Lehrmeinung Abū ʿAbdallāhs bei jedem Punkt in der Weise auszubessern, dass er sie von einer anstößigen Absurdität (muḥāl fāḥiš) auf eine Art zurückführte, die auch unter den Einsichtigen verstanden wird, so zum Beispiel die Lehre von der Körperhaftigkeit Gottes“. Von Ibn al-Haisam ist auch bekannt, dass er den Namen Karrāmīya für die eigene Gemeinschaft ablehnte und die Lesungen Karāmīya oder Kirāmīya bevorzugte, um damit diese Gemeinschaft zum Begriff der „Ehre“ (arab. karāma), bzw. der „Ehrwürdigen“ (arab. kirām von sg. karīm) in Beziehung setzen zu können. Den Namen Karrām mied man wahrscheinlich auch deswegen, weil er die Gemeinschaft zur Weinproduktion in Beziehung setzte.
Wie Ibn Abī l-Hadīd berichtet, vertrat Ibn al-Haisam die Meinung, dass die Grundlage von Lehre und Bekenntnis der Karrāmiten letztlich auf ʿAlī ibn Abī Tālib zurückgehe. Er gab dafür zwei verschiedene Überlieferungswege an. Der eine davon führte über Sufyān ath-Thaurī und Zaid ibn ʿAlī, der andere über die schiitischen Gelehrten von Kufa. Möglicherweise spielte Ibn Karrāms Lehrer Ahmad ibn Harb eine Rolle in diesem Versuch der Rückführung der karrāmitischen Lehre auf ʿAlī. Ahmad ibn Harb überlieferte über Sufyān ath-Thaurī von ʿAlī ein Bittgebet, das dieser angeblich an der Kaaba von al-Chidr erhalten hatte.
Herrscherliche Patronage unter den frühen Ghaznawiden
Ihren größten politischen Einfluss erlangten die Karrāmiten während der Zeit der frühen Ghaznawiden gegen Ende des 10. Jahrhunderts. Dies hatte damit zu tun, dass Sebüktigin (reg. 977–997), der Begründer dieser Dynastie, ihnen seine Unterstützung gewährte. Nach adh-Dhahabī folgte Sebüktigin selbst der karrāmitischen Lehre. Auch sein Sekretär und Kanzleivorsteher Abū l-Fath Bustī soll Karrāmit gewesen sein. Er schrieb in einem Doppelvers, der auch Aufnahme in die offizielle Chronik der ersten Ghaznawiden, das Taʾrīḫ al-Yamīnī von ʿUtbī (gest. zwischen 1036 und 1040), gefunden hat:
Al-Fiqhu fiqhu Abī Ḥanīfata waḥda-h
wa-d-dīnu dīnu Muḥammadi bni Karām
inna llaḏīna arā-hum lam yuʾminū
bi-Muḥammadi bni Karām ġairu kirām
Das einzig wahre Rechtssystem ist dasjenige von Abū Hanīfa,
und die einzig gültige Religion diejenige von Muhammad ibn Karām.
Diejenigen, die, wie ich sehe, nicht glauben
an Muhammad ibn Karām, sind nicht ehrenwert.
Das Versmaß erfordert, dass man den Namen des Gründers der Gemeinschaft nicht mit Taschdīd als Ibn Karrām, sondern als ibn Karām oder ibn Kirām liest. Dies zeigt, dass man den Namen am Hof Sebüktigins so aussprach, wie es der karrāmitische Theologe Ibn al-Haisam lehrte. Nach einem Bericht, den adh-Dhahabī unter Berufung auf den persischen Geschichtsschreiber Dschaʿfar al-Mustaghfirī (gest. 1042) anführt, zeigte sich Sebüktigins karrāmitische Orientierung auch bei seiner Einnahme von Balch im Jahre 997. Bei dieser Gelegenheit soll er den Qādī und die Gelehrten der Stadt mit karrāmitischen Asketen konfrontiert und sie nach ihrer Meinung über sie befragt haben. Als der Qādī antwortete, dass diese Männer ihrer Meinung nach Ungläubige seien, fragte Sebüktigin zurück, was sie denn von ihm selbst hielten. Als der Qādī erwiderte, dass im Falle, dass er der karrāmitischen Lehre folge, er nicht anders zu beurteilen sei, ließ Sebüktigin dem Qādī den Schädel zertrümmern und die übrigen Gelehrten einsperren.
Sebüktigins Sohn Mahmūd (reg. 998–1030) setzte die Förderung der Karrāmīya in den ersten Jahren seiner Herrschaft fort. Er machte den Prediger und Asketen Abū Bakr Muhammad ibn Ishāq Ibn Mahmaschādh, Führer der Karrāmiten von Nischapur, zu seinem Vertrauten und ließ ihm auf dem Weg nach Sarachs einen Ribat errichten. Der persische Lokalhistoriker ʿAbd al-Ghāfir al-Fārisī (gest. 1134/5) schreibt, dass „mit ihm die Herrschaft der Karrāmiten offen zu Tage trat“ (wa-ẓaharat bi-hī daulat al-Karrāmīya). Ibn Mahmaschād rief in Nischapur die Menschen zur Sunna und zerstörte eine neue Moschee, die die Schiiten erbaut hatten. Sein erbarmungsloses Vorgehen gegen wirkliche und angebliche Häretiker und seine Erpressung von Schutzgeldern riefen in Nischapur jedoch allgemeine Unzufriedenheit hervor.
Nach dem Jahre 402 d. H. (= 1012 n. Chr.) entzog Maḥmūd den Karrāmiten seine Protektion. Die Hintergründe dieser religionspolitischen Wende werden in einem Bericht des ghaznawidischen Hofchronisten al-ʿUtbī beleuchtet. Demnach ging in diesem Jahr ein Qādī aus Ghazna namens Abū l-ʿAlā' auf Wallfahrt nach Mekka. Auf dem Rückweg traf er in Bagdad mit dem Kalifen al-Qādir bi-Llāh (reg. 991–1031) zusammen, der ihm einen Brief und eine geheime mündliche Botschaft für Sultan Mahmūd mitgab. Nachdem der Qādī nach Ghazna zurückgekehrt und dem Sultan die Botschaft des Kalifen überbracht hatte, kam es an dessen Hof zu einem Gespräch über die Karrāmīya, bei dem deren Lehren über die Körperhaftigkeit Gottes und die Zugehörigkeit des Gottesnamen Allāh zu den Akzidentien besonders negativ dargestellt wurden. Der Sultan drückte daraufhin seine Verachtung für diese Lehren aus, ließ Abū Bakr Ibn Mahmaschādh kommen und stellte ihn deswegen zur Rede. Ibn Mahmaschādh konnte sich dadurch retten, dass er sich von allen Lehren, die ihm unterstellt wurden, lossagte. Anschließend übersandte der Sultan Briefe an seine Statthalter, in denen er diese aufforderte, die karrāmitischen Geistlichen zu überprüfen. Diejenigen, die sich von ihren Lehren abwandten, wurden in Ruhe gelassen und durften ihre Posten behalten. Diejenigen, die aber auf ihren Lehren beharrten, wurden inhaftiert und erhielten Lehrverbot.
Auch nach der religionspolitischen Wende Mahmūds scheinen die Karrāmiten bei ihren theologischen Auseinandersetzungen noch weiter auf Rückendeckung von seiten des Herrschers gehofft zu haben. Tādsch ad-Dīn as-Subkī berichtet, dass die Karrāmiten ihren Gegner, den aschʿaritischen Gelehrten Ibn Fūrak, bei Mahmūd wegen Ketzerei und Unglaubens denunzierten. Mahmūd ließ daraufhin Ibn Fūrak nach Ghazna kommen und befragte ihn zu seinen Lehren. Da sich Ibn Fūrak erfolgreich verteidigen konnte, durfte er bald in seine Heimatstadt zurückkehren. Die Karrāmiten, so behauptet jedenfalls as-Subkī, ließen daraufhin Ibn Fūrak vergiften.
Abū l-Muzaffar al-Isfarā'īnī (gest. 1078) berichtet über ein theologisches Streitgespräch zwischen dem aschʿaritischen Theologen Abū Ishāq al-Isfarā'īnī (gest. 1027) und einem Karrāmiten im Kreise Mahmūds. Da die Karrāmiten am Ende nichts mehr zu sagen wussten, sollen sie den Pöbel gegen al-Isfarā'īnī aufgehetzt haben, bis sich der Sultan selbst ihnen entgegenstellte und ihn verteidigte. Er soll nach dem Streitgespräch seinem Wesir gegenüber geäußert haben, dass al-Isfarā'īnī „den Karrāmiten ihren Gott um die Ohren gehauen habe“ (ḫudā-yi Karrāmiyān rā ba-sar-i īšān ba-zad).
Schicksal der Karrāmiten in Chorasan während der Seldschukenzeit
Die Karrāmiten blieben bis zum Ende des 11. Jahrhunderts ein wichtiges soziales Element in Chorasan. Abū ʿAbdallāh al-Fārisī, der um 1124 eine Geschichte von Nischapur abfasste, erwähnt in diesem Werk drei karrāmitische Madrasas, die sich innerhalb der Stadt befanden. Die Stadt hatte mit Abū Bakr ʿAtīq ibn Muhammad as-Sūrābādī (gest. 1101) auch einen bedeutenden karrāmitischen Koranexegeten aufzuweisen. In der Stadt Baihaq, das dem modernen Ort Sabzevar entspricht, stiftete ein reicher Bürger kurz vor 1023 vier Madrasas, eine für die Hanafiten, eine für die Karrāmiten, eine für die Schafiiten und eine für die Zaiditen, womit er zum Ausdruck brachte, dass er diese vier Gruppen als ebenbürtig betrachtete. Die karrāmitische Madrasa befand sich in der Mahalla Schādrāh.
Die Stiftung in Baihaq zeigt, dass eine Kombination zwischen karrāmitischer Theologie und hanafitischer Normenlehre, wie sie der ghaznawidische Dichter Abū l-Fath al-Bustī empfohlen hatte, keineswegs selbstverständlich war. Nach dem imamitischen Häresiographen Ibn Dāʿī Rāzī (gest. nach 1132) hatten die meisten Karrāmiten ihr eigenes Normensystem, nur eine Minderheit folgte in den Rechtsanwendungen (furūʿ) der Lehrrichtung Abū Hanīfas. Im Februar 1096 kam es in Nischapur sogar zu heftigen Kämpfen zwischen den Karrāmiten auf der einen und den Hanafiten und Schafiiten auf der anderen Seite, bei denen zahlreiche Menschen zu Tode kamen. Die Schafiiten wurden bei diesen Kämpfen von Abū l-Qāsim, dem Sohn al-Dschuwainīs, angeführt, die Hanafiten von dem Qādī Muhammad ibn Ahmad Ibn as-Sā'id, und die Karrāmiten von Mahmaschādh. Schafiiten und Hanafiten forderten Hilfe aus Baihaq an, wodurch die Gewalt auch auf diesen Ort übergriff. Die Auseinandersetzungen endeten schließlich mit einem Sieg der Schafiiten und Hanafiten gegen die Karrāmiten. Die karrāmitischen Medrasas wurden zerstört, und viele Karrāmiten getötet.
Nach diesen Ereignissen scheint die Karrāmīya in Nischapur an Bedeutung verloren zu haben. Abū Saʿd as-Samʿānī (gest. 1166) berichtet, dass er zu seiner Zeit in der Stadt keine Karrāmiten mehr finden konnte. Und Ibn Funduq (gest. 1169) teilt mit, dass zu seiner Zeit in Baihaq im Gegensatz zu den anderen Madrasas von der karrāmitischen Madrasa keine Spur mehr übriggeblieben war. Allerdings hat sich die Karrāmīya auf den Dörfern wohl noch eine Zeitlang gehalten. Yāqūt ar-Rūmī erwähnt in seinem geographischen Lexikon, dass es in Bidschistān, einem Dorf im Umland von Nischapur, einen karrāmitischen Gelehrten namens Abū l-Qāsim Muwaffaq al-Bidschistānī gab, der bei der Volksmenge sehr beliebt war. Er hatte um 520 d. H. (= 1126 n. Chr.) bei einem gewissen Abū l-Qāsim ibn al-Husain Unterricht, war also wahrscheinlich in der Zeit danach als Gelehrter tätig. Die Schriften von Ahmad-i Dschām (1049–1141), der zu seiner Zeit einer der bedeutenden Mystiker Ostirans war, lassen erkennen, dass auch er in einem engen Verhältnis zur karrāmitischen Gemeinschaft stand, ihr möglicherweise sogar selbst angehörte.
Es scheint auch weiterhin noch möglich gewesen zu sein, karrāmitische Theologie und hanafitische Normenlehre miteinander zu kombinieren, denn der imamitische Autor ʿAbd al-Dschalīl Qazwīnī (ca. 1165) berichtet, dass man zu seiner Zeit auf der Ebene der Theologie zwischen vier Arten von Hanafiten unterschied:
solchen, die Karrāmiten waren,
solchen, die Muʿtaziliten waren,
solchen, die Naddschāriten waren und
solchen, die der Lehrrichtung Abū Hanīfas nicht nur in den Rechtsanwendungen der Scharia folgten, sondern auch in den „Grundlagen der Religion“ (uṣūl ad-dīn).
Neuerliche Patronage durch die Ghuriden und Niedergang
Zahlreich blieben die Karrāmiten weiterhin in Ghor, der Bergregion in Zentralafghanistan, und in Herat. Auch die Angehörigen der im 12. Jahrhundert ihren Aufstieg erlebenden Ghuriden-Dynastie waren allesamt Karrāmiten. Nach Minhādsch ad-Dīn Dschūzdschānī waren die ghuridischen Sultane Ghiyāth ad-Dīn Muhammad (gest. 1202/03) und sein Bruder Muʿizz ad-Dīn Muhammad (gest. 1205/06) ursprünglich ebenfalls Anhänger der Karrāmīya. Allerdings ging Muʿizz ad-Dīn, als er 1173 den Thron von Ghazna bestieg, in Übereinstimmung mit den Anschauungen der Bewohner dieser Stadt und des von ihm beherrschten Gebietes zum hanafitischen Madhhab über. Ghiyāth ad-Dīn blieb zunächst der Karrāmīya treu. 1189 gab er eine monumentale vierbändige Koranhandschrift in Auftrag, die er mit dem Kommentar des karrāmitischen Gelehrten Abū Bakr as-Sūrābādī versehen ließ. F. B. Flood vermutet, dass er diese Handschrift einer karrāmitischen Madrasa stiftete. Später wechselte Ghiyāth ad-Dīn jedoch zur schafiitischen Lehrrichtung über.
Ibn al-Athīr, der Ghiyāth ad-Dīns Konversion zur schafiitischen Lehrrichtung auf das Jahr 595 d. H. (= 1198/99 n. Chr.) datiert, berichtet, dass diese erfolgte, nachdem ihm ein schafiitischer Rechtsgelehrter namens Wadschīh ad-Dīn Abū l-Fath Muhammad ibn Mahmūd al-Marwadhī die schafiitische Lehrrichtung dargelegt und die „Unvollkommenheit“ der karrāmitischen Lehre aufgezeigt hatte. Dieser Rechtsgelehrte war von dem Hofdichter Fachr ad-Dīn Mubārakschāh eingeladen worden. Nachdem der Herrscher konvertiert war, versuchten die Karrāmiten, Wadschīh ad-Dīn zu schaden, vermochten dies jedoch nicht. Ibn al-Athīr gibt noch eine andere Erklärung dafür, dass sich die beiden Brüder von der karrāmitischen Lehre lösten. Man soll ihnen nämlich bei der Eroberung von Chorasan gesagt haben, dass die Karrāmiten im ganzen Land verachtet würden, und ihnen empfohlen haben, sich von ihren Lehren loszusagen.
Ghiyāth ad-Dīn baute nach seiner Konversion eigene Schulen für die Schafiiten, errichtete für sie in Ghazna eine Moschee und nahm auch sonst große Rücksicht auf sie. Besonders große Ehre erwies er dem schafiitischen Gelehrten Fachr ad-Dīn ar-Rāzī, dem er in Herat in der Nähe der Freitagsmoschee eine Madrasa errichtete. Sie entwickelte sich zum Anziehungspunkt von Rechtsgelehrten aus verschiedenen Ländern. Ar-Rāzī hatte eine sehr schlechte Meinung von der Karrāmīya. Er meinte, dass sich ihre ganze Angelegenheit um „Aufschneiderei, Verfälschung und das Zeigen von asketischen Übungen“ drehe.
Für die Karrāmiten war die Zurücksetzung durch den Herrscher Ghiyāth ad-Dīn ein harter Schlag. Sadr ad-Dīn ʿAlī Haisam Nischāpūrī, der Leiter der karrāmitischen Madrasa in Afschīn in Ghardschistān, schrieb ein Gedicht, in dem er die Abwendung des Sultans von der Karrāmīya heftig kritisierte. Dieses Gedicht brachte ihm jedoch nur den Ärger des Herrschers ein und zwang ihn, das Gebiet von Ghūr für ein Jahr zu verlassen. Die Karrāmiten in Herat beneideten Fachr ad-Dīn wegen seiner Vorzugsstellung bei Ghiyāth ad-Dīn und hassten ihn, insbesondere Diyā' ad-Dīn, der Neffe von Ghiyāth ad-Dīn, der mit dessen Tochter verheiratet war.
Nach Ibn al-Athīr kam es noch im Jahre 595 d. H. bei Ghiyāth ad-Dīn in der ghuridischen Hauptstadt Fīrūzkūh zu einer großen Disputation zwischen karrāmitischen, hanafitischen und schafiitischen Gelehrten, an der auch Fachr ad-Dīn ar-Rāzī und der karrāmitische Qādī Madschd ad-Dīn ʿAbd al-Madschīd ibn ʿUmar Ibn Qudwa teilnahmen. Letzterer war wegen seiner Askese, seines umfassenden Wissens und seines familiären Hintergrunds bei den Karrāmiten sehr populär. Fachr ad-Dīn ar-Rāzī griff Ibn al-Qudwa während der Disputation mehrfach persönlich an. Letzterer hielt am nächsten Tag eine Predigt, in der er Fachr ad-Dīn beschuldigte, die Lehre des Aristoteles, blasphemische Aussprüche von Ibn Sīnā und die Philosophie von al-Fārābī zu verbreiten und die Religion Gottes und die Sunna des Propheten anzugreifen. Die Karrāmiten sollen durch diese Predigt so gerührt gewesen sein, dass sie weinten. Anschließend brachen Unruhen aus, bei denen mehrere Menschen zu Tode kamen. Um die Bevölkerung zu beruhigen, musste der Herrscher versprechen, Fachr ad-Dīn ar-Rāzī aus der Stadt auszuweisen. Dieser kehrte anschließend nach Herat zurück. Ibn al-Qiftī berichtet, dass man erzählte, ar-Rāzī sei an einem Gift gestorben, das ihm die Karrāmiten verabreicht hatten.
Im 13. Jahrhundert geriet die Karrāmīya auch in ihren Kerngebieten immer mehr in eine Randposition. Der hanafitische Gelehrte Masʿūd ibn Schaiba, der um diese Zeit aktiv war, berichtet, das es sich nur noch um ein kleines Häuflein (širḏima) in den Bergen von Ghūr und dem Umland von Ghazna handle, das von den Hanafiten verschmäht und gelegentlich von manchen von ihnen sogar verflucht werde. Allerdings hat es nach Angabe des jemenitischen Häresiographen as-Saksakī (gest. 1284) noch bis in seine Zeit Anhänger Ibn Karrāms in Chorasan und an anderen Orten gegeben. Nach der mongolischen Invasion scheint die Karrāmīya dann aber endgültig verschwunden zu sein, denn es existieren keine weiteren Berichte über Begegnungen mit ihren Anhängern. Spätere Autoren, die über die Karrāmīya schreiben, wie Ibn Taimīya wiederholen nur das, was sie in der älteren Literatur gefunden haben.
Frömmigkeit und Askese
Schon seit Muhammad ibn Karrām waren stetiger Gottesdienst (taʿabbud), Weltverzicht (zuhd) und Selbstkasteiung (taqaššuf) wichtige Prinzipien in der Karrāmīya. Von Gegnern wurden die Karrāmiten häufig auch nur als die „Selbst-Kasteienden“ (al-mutaqaššifa) bezeichnet. Nach al-Muqaddasī gehörten Gottesfurcht (tuqā), Demut (ḏull) und Bettelei (kudya) zu den vier grundlegenden Eigenschaften, die die Karrāmīya auszeichneten. Offensichtlich waren die Karrāmiten auch an ihrer speziellen Kleidung erkennbar. Der Literat Abū Haiyān at-Tauhīdī (gest. 1023) beschreibt sie in einem seiner Werke als die „Burnus-Träger“ (aṣḥāb al-barānis). Der schafiitische Häresiograph as-Saksakī beschreibt, dass sie Burnusse trugen und in ihren Händen Gebetsketten zu haben pflegten.
Die Karrāmiten waren außerdem für ihre Ablehnung der Erwerbstätigkeit (inkār al-kasb) bekannt. In dem Kitāb as-Sawād al-aʿẓam von Abū l-Qāsim as-Samarqandī wird diese Haltung kritisiert und als unrechtmäßige Neuerung eingestuft. Die karrāmitische Ablehnung der Erwerbstätigkeit (kasb) spielt auch eine wichtige Rolle in dem Kommentar von as-Sarachsī zu dem Kitāb al-Kasb von asch-Schaibānī. As-Sarachsī referiert dort die karrāmitische Lehrauffassung, wonach Erwerbsarbeit nur als Ruchsa erlaubt sei, als ausnahmsweise Entbindung von der Einhaltung bestimmter Gebote und Verbote also, und weist darauf hin, dass diese Auffassung im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung der sunnitischen Rechtsgelehrten stehe, der zufolge die Erwerbstätigkeit zum eigenen Überleben religiöse Pflicht sei.
Viele Menschen, die außerhalb der Gemeinschaft standen, empfanden jedoch die karrāmitische Askese als aufgesetzt und kritisierten sie. Ein Beispiel ist Abū l-Hasan Silm ibn al-Hasan al-Bārūsī, ein Scheich aus einem Dorf bei Nischapur, von dem berichtet wird, dass ihn Ibn Karrām nach der Meinung über seine Anhänger fragte. Er soll darauf geantwortet haben: „Wenn sie das Begehren in ihrem Inneren nach außen kehrten, und die Askese in ihrem Äußeren nach innen kehrten, dann wären sie echte Männer.“ Außerdem soll er geäußert haben, dass er bei den Anhängern Ibn Karrāms viel Gebet, viel Fasten und viel Demut (ḫušūʿ) sehe, nicht aber das „Licht des Islams“ (nūr al-islām). In einer Überlieferung, die der imamitische Häresiograph Ibn Dāʿī ar-Rāzī anführt, wird den Karrāmiten nachgesagt, dass sie zur Beeindruckung der Menschen am Tag das Fasten hielten und in der Nacht beteten, darüber hinaus alte Kleidung trügen, aber in Wirklichkeit nur danach trachteten, sich den Bauch vollzuschlagen.
Theologische Lehren
Die theologischen Lehren der Karrāmīya sind hauptsächlich durch die Darstellung andersgläubiger Autoren bekannt, die diese Gemeinschaft in ihren eigenen theologischen bzw. häresiographischen Werken behandelt haben. Hierzu gehören insbesondere die Aschʿariten Abū l-Hasan al-Aschʿarī, ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1037), Abū l-Muzaffar al-Isfarā'īnī (gest. 1078), al-Dschuwainī (gest. 1085) und Fachr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209), die Ismāʿīliten Abū Tammām (10. Jahrhundert) und Nāsir-i Chusrau (gest. 1072), der Zaidit al-Hākim al-Dschuschamī (gest. 1101) und der Imamit Ibn Dāʿī Rāzī (gest. nach 1132). Bei ihnen muss berücksichtigt werden, dass sie der Karrāmīya ablehnend gegenüberstanden und sie zum Teil sogar für eine außerhalb des Islams stehende Gruppierung hielten.
Gotteslehre
Gott als Körper
Nach übereinstimmenden Berichten lehrten die Karrāmiten, dass Gott Körper und Substanz (ǧauhar) wäre. Wie sehr sich Ibn Karrām Gott als körperhaftes Wesen vorstellte, lässt sich daran erkennen, dass er seinen eigenen Sohn ʿAbd al-Dschasīm (Knecht des Körperhaften) nannte. Al-Maqrīzī zählte die Karrāmīya deshalb zu den Korporealisten (muǧassima) und beschrieb sie als eine Gegenbewegung zur Muʿtazila. Abū l-Qāsim as-Samarqandī behauptet, dass die Karrāmiten behaupteten, dass Gott „eine Person sei wie die Menschen und eine Gestalt habe wie die Menschen“, doch wird dies durch keine andere Quelle bestätigt.
Vielmehr verfolgten die Karrāmiten ein ganz bestimmtes Anliegen, wenn sie den Begriff „Körper“ (ǧism) auf Gott anwendeten. Ar-Rāzī zitiert sie mit den Worten: „Wir meinen damit nicht, dass Gott aus Teilen zusammengesetzt ist, sondern wir meinen damit, dass er keines Substrates (maḥall) bedarf und für sich allein stehend (qāʾim bi-n-nafs) ist.“ Al-Dschuwainī (gest. 1085) erklärt, dass die Karrāmiten, wenn sie „für sich allein stehend“ sagten, damit meinten, dass Gott „einen Raum einnehmend“ (mutaḥaiyiz) sei. Nach Fachr ad-Dīn ar-Rāzī sprachen die Karrāmiten Gott eine Richtung (ǧiha) und einen Ort zu. Abū l-Qāsim an-Nīsābūrī (gest. 1157) zitiert sie mit der Aussage, dass Gott als das Vorgängige (al-qadīm) einer Richtung zugehörig und von der Welt von jeher getrennt sei. Dasjenige, was ihn einer Richtung zugehörig machte, nannten sie Trennung (bainūna).
Die Auffassung vom „Körper“ als demjenigen, das „für sich allein stehend“ (al-qāʾim bi-nafsi-hī) ist, wurde aber offenbar nie von allen Karrāmiten geteilt. Al-Dschuwainī berichtet, dass eine kleine Gruppe von ihnen meinte, dass der Körper „das Existente“ (al-mauǧūd) sei, andere meinten, dass der Körper das ist, das für sich allein stehend ist, die meisten jedoch die Auffassung vertraten, dass der Körper etwas ist, das an einer seiner Seiten etwas anderes berührt. Der etwas später schreibende Abū l-Qāsim an-Nīsābūrī gibt andere Mehrheitsverhältnisse an. Nach ihm wurde die Auffassung vom Körper als dem „Für-sich-allein-Stehenden“ von den meisten Karrāmiten vertreten. Andere hätten gelehrt, dass der Körper das sei, das Attribute annehmen könne, und wiederum andere, dass es das sei, was an einer seinen Seiten etwas anderes berührt.
Abū Tammām zählte die Karrāmīya wegen ihres Gottesbildes zu den Muschabbiha, denjenigen religiösen Gruppen, die Gott mit diesseitigen Dingen vergleichen. Weitere Richtungen, die er dieser Gruppe zurechnete, waren die Kullābīya, die Aschʿarīya, die Hischāmīya, die Muqātilīya und die Mughīrīya. Nāsir-i Chusrau dagegen berichtet, dass die Karrāmiten jegliche Art des Taschbīh, also des Vergleichs mit diesseitigen Dingen, bei Gott ablehnten. Seinem Bericht zufolge gab es zumindest eine Gruppe karrāmitischer Theologen, die die Unvergleichlichkeit Gottes mit den diesseitigen Dingen bekräftigten. Sie sagten, dass Gott „ein Körper“ sei, aber „nicht wie [andere] Körper“. Das scheint die Lehre von Ibn Haisam widerzuspiegeln. Er soll sich darum bemüht haben, aufzuzeigen, dass sich die karrāmitische Lehre von derjenigen der Muschabbiha unterscheidet. Dabei argumentierte er damit, dass die Karrāmiten anders als die Muschabbiha Gott keine Form und Gestalt, kein Hohl- oder Rundsein und auch keine Haarfülle oder Berühren mit der Hand zuschrieben. Sie hielten sich vielmehr nur an das, was der Koran über Gott aussage, ohne das Wie zu bestimmen. Abū Tammām berichtet, die Karrāmiten lehrten, dass Gott im Jenseits auch gesehen werden könne.
Das Verhältnis Gottes zu seinem Thron
Besonders viele Gedanken machten sich die Karrāmiten über das Verhältnis zwischen Gott und seinem Thron. Dies hat mit ihrer Ablehnung der dschahmitischen Theologie zu tun, die Gott als ein unbegrenztes Wesen auffasste.
Koranische Grundlage für die karrāmitischen Aussagen zum Verhältnis zwischen Gott und seinem Thron war Sure 20:5: „Der Barmherzige setzte sich auf seinem Thron zurecht“ (ar-Raḥmān ʿalā l-ʿarš istawā). Nach al-Baghdādī lehrten die Karrāmiten, dass Gott von unten her eine Begrenzung hat und dort seinen Thron berühre. Abū Tammām berichtet, die Karrāmiten lehrten, dass Gott ein Körper sei, der in Verbindung zum Gottesthron stehe (mulāṣiq li-l-ʿarš). Nach al-Maqrīzī glaubten sie, dass Gott ein Körper sei, der nur von unten begrenzt sei. Dieser Körper könne mit Körpern, die unter ihm sind, zusammentreffen. Er befinde sich auf dem Gottesthron (ʿarš) und der Gottesthron berühre ihn.
Offensichtlich waren aber einige Karrāmiten daran interessiert, den Eindruck zu vermeiden, dass das Verhältnis zwischen Gott und seinem Thron als echte Berührung verstanden wurde. Al-Baghdādī zitiert einen von ihnen mit der Aussage: „Ich sage nicht, dass er seinen Thron berührt (anna-hū mumāss bi-ʿarši-hī), sondern ich sage, dass er in der Weise mit ihm zusammentrifft, dass nichts zwischen ihnen sein kann, es sei denn, dass der Thron hinabgeht, so dass zwischen ihnen ein Körper eintreten kann.“ An einer anderen Stelle äußert al-Baghdādī, die Karrāmiten insgesamt hätten bei dieser Frage den Begriff „Berührung“ (mumāssa) durch „Zusammentreffen“ (mulāqāt) ersetzt.
Die Vorstellung, dass Gott seinen Thron berührt, hat wahrscheinlich mit dem speziellen Raumverständnis der Karrāmiten zu tun. Al-Dschuwainī berichtet, dass einige von ihnen meinten, dass bei einer Entfernung der Materieteilchen (wasāʾiṭ) die Gestirne zusammenstoßen müssten. Diese Auffassung soll sie dazu gebracht haben, zu lehren, dass in dem Falle, dass Gott die Luft zwischen Himmel und Erde entfernen würde, der Himmel sich senken und die Erde sich heben würde, bis beide zusammenstießen.
Der innerkarrāmitische Dissens über die Größe Gottes
Bei dem Streitgespräch zwischen Abū Ishāq al-Isfarā'īnī und dem Karrāmiten am Hof von Mahmūd von Ghazna soll der Karrāmit al-Isfarā'īnī gefragt haben, ob man sagen könne, dass Gott sich auf dem Thron befinde und der Thron ein Ort für ihn sei. Al-Isfarā'īnī soll daraufhin verneint und die Unmöglichkeit dadurch veranschaulicht haben, dass er seine Handflächen aufeinanderlegte und sagte: „Wenn eine Sache so auf einer anderen liegt, dann kann sie nur größer, gleich groß oder kleiner im Vergleich zu ihr sein. Dann muss es irgendetwas Festlegendes geben, das es festlegt. Jedes Festgelegte ist aber begrenzt, und das Begrenzte kann kein Gott sein, weil es etwas Festlegendes und eine Grenze erfordert.“ Diese Argumentation soll die Karrāmiten in Verwirrung gestürzt haben. Einige sollen gesagt haben, dass er größer sei als der Thron, andere, dass er gleich groß sei. Der karrāmitische Gelehrte Ibrāhīm ibn al-Muhādschir habe die Meinung vertreten, dass er genauso breit sei wie der Thron.
Dieser innerkarrāmitische Dissens wird noch von mehreren anderen Autoren erwähnt. Al-Baghdādī berichtet, dass einige von den Karrāmiten annahmen, dass der gesamte Thron von Gott ausgefüllt werde und in dem Falle, dass ihm gegenüberliegende Throne erschaffen würden, er sie ebenfalls alle ausfüllen würde, weil er größer sei als sie alle zusammen. Andere nahmen dagegen an, dass Gott an der Seite der Berührung seinen Thron nicht überrage. Diese Auffassung wurde vor allem von Ibrāhīm ibn Muhādschir vertreten und verteidigt.
Nach Abū l-Qāsim an-Nīsābūrī lehrte eine Gruppe der Karrāmiten, dass die „Erhabenheit“ (ʿaẓama) Gottes bedeute, dass er trotz seiner Einheit auf allen Teilen des Throns ist, der Thron unter ihm ist und er über allem ist, wie er über dem Wort „gegenüber“ (ḥaḏwa) ist. Eine andere Gruppe von ihnen dagegen lehrte, seine Erhabenheit bedeute, dass er trotz seiner Einheit von einer Seite mit mehr als einem zusammentreffe und mit allen Teilen des Throns zusammentreffe.
Al-Dschuwainī berichtet, dass sich die Gruppe unter den Karrāmiten, die die Auffassung vertrat, dass der Körper etwas sei, das an einer seiner Seiten etwas berühre, wiederum in zwei Untergruppen aufgliederte: die einen hielten eine Berührung von unten für zulässig, schlossen diese jedoch bei den übrigen Seiten aus, andere hielten dagegen eine Berührung auch von den anderen Seiten her für möglich und stellten sich Gott als von den Körpern umgeben vor, die er erschaffen hatte.
Gottes Attribute und Namen
Nach Nāsir-i Chusrau bezeichneten die Karrāmiten Gott als wissend, mächtig und lebendig und schrieben ihm andere lobenswerte Attribute zu, die auch Menschen haben können, meinten aber, dass „Wissen“, „Macht“ und „Leben“ bei Gott etwas anderes seien als in anderen Zusammenhängen. Leben, Macht, Wissen, Gehör und Sehkraft waren nach karrāmitischer Ansicht anfangsewige Wesensattribute (ṣifāt aḏ-ḏāt) Gottes. Alles, was darüber hinausgeht, betrachteten sie nicht als Attribute, sondern als Prädikate (nuʿūt), die erschaffen sind. Eine Gruppe unter den Karrāmiten soll die Meinung vertreten haben, dass Gott zwei Wissen habe, eines, mit dem er die gewussten Dinge wisse, und ein anderes, mit dem er ebendieses Wissen wisse. Wissen, Wille und Wahrnehmungen konnten nach karrāmitischer Ansicht auch bei Toten vorhanden sein, die Existenz von Macht hielten sie dagegen nur beim Lebenden für möglich.
Die Macht, die sich auf das Sprechen bezieht, nannten die Karrāmiten die Rede Gottes (kalām Allāh).
Nach der karrāmitischen Lehre hatten auch diejenigen Gottesnamen eine ewige Existenz, die von seinem Handeln abgeleitet sind. Gott soll also bereits vor der Existenz der Schöpfung (ḫalq) und des Lebensunterhalts (rizq) ein Schöpfer (ḫāliq) und Ernährer (rāziq) gewesen sein. Al-Baghdādī zitiert die Karrāmiten mit den Worten: „Wir sagen: Gott war schon vorher Schöpfer und Ernährer in absoluter Weise. Wir sagen aber nicht mit Genitiv: er war schon Schöpfer der Geschöpfe und Ernährer der Ernährten. Wir setzen diesen Genitiv nur bei Existenz von Geschöpfen und Ernährten.“ Nach karrāmitischer Lehre war Gott Schöpfer durch sein „Schöpfertum“ (ḫāliqīya) und Ernährer durch sein „Ernährertum“ (rāziqīya). Schöpfertum erklärten sie hierbei als „die Macht zur Erschaffung“ (al-qudra ʿalā at-taḫlīq).
Von dem Karrāmiten Ibrāhīm ibn Muhādschir wird allerdings berichtet, dass er die Namen Gottes als Akzidentien in ihm betrachtete, so wie er auch meinte, dass jeder Name ein Akzidens in dem Benannten sei. Er behauptete, dass Allāh ein Akzidens sei, das in einem anfangsewigen Körper Platz nehme, und auch alle anderen Namen Gottes wie Rahmān, Rahīm, Chāliq unterschiedliche Akzidentien in Gott seien.
Der Schöpfungsprozess als Geschehen in Gott
Ein besonderes Merkmal der karrāmitischen Lehre war, dass ihr zufolge in Gott selbst Dinge geschehen können. Nach Fachr ad-Dīn ar-Rāzī glaubten die Karrāmiten, dass Gott „Substrat der Geschehnisse“ (maḥall al-ḥawādiṯ) sei. Al-Baghdādī und al-Isfarāʾīnī nennen als die Geschehnisse (ḥawādiṯ), für die nach karrāmitischer Lehre Gott Substrat ist, sein Zusammentreffen mit dem Thron, seine Worte, sein Wille, seine Wahrnehmung der hörbaren Dinge und seine Wahrnehmung der sichtbaren Dinge. Diese fünf Dinge sind nach karrāmitischer Ansicht Akzidentien, die in Gottes Wesen geschehen.
Die fünf Geschehnisse in Gottes Wesen geschehen nach karrāmitischer Lehre allein durch Gottes Macht (qudra). Dies trifft auch für seine Aussagen über Vergangenheit und Zukunft in den geoffenbarten Büchern zu. Die Körper und Akzidentien der Welt sind dagegen nicht Objekte von Gottes Macht (maqdūrāt), weil er sie nur mit seinen Worten und seinem Willen erschafft. Die Karrāmiten lehrten nämlich, dass alles, was in der Welt entsteht, nur dadurch entsteht, dass Gott das Wort „Sei!“ (kun) ausspricht und seine Entstehung will. Auf die gleiche Weise soll alles, was in der Welt zunichtegeht, nur dadurch zunichtegehen, dass Gott das Wort „Verschwinde!“ (ifna) zu ihm sagt und seinen Untergang will. Und wenn er einen Körper oder ein Akzidens erschaffen hat, müssen sie so lange bestehen bleiben, bis Gott zu ihnen sagt, dass sie verschwinden sollen, und er ihren Untergang will. So wie Gott nichts in der Welt erschaffen kann, ohne dass zuvor viele Akzidentien in ihm eingetreten sind, kann auch Gott nichts aus der Welt verschwinden lassen, ohne dass in ihm Akzidentien eingetreten sind, darunter sein Wille dazu, dass das Verschwindende verschwindet. Allerdings berichtet al-Baghdādī an anderer Stelle, dass sich die Karrāmiten uneinig darüber waren, ob auch das Nichts (al-ʿadm) zu den Geschehnissen gehört, die im Wesen Gottes geschehen können. Während ein Teil von ihnen dies für möglich hielt, schloss die Mehrheit von ihnen dies aus.
Nach der karrāmitischen Lehre ist Gott zweifellos derjenige, der alle Dinge durch seine Macht hervorbringt, allerdings ist das Hervorbringen (īǧād) nicht etwas, was zum Geschehen gebracht wird, sondern geschieht. Diese Auffassung begründeten die Karrāmiten damit, dass sonst ein unendlicher Rekurs auf eine letzte Ursache notwendig wäre. Abū l-Muzaffar al-Isfarā'īnī meint, dass die Karrāmiten bei ihrer Lehre, wonach die Geschehnisse im Wesen Gottes geschehen, von den Madschūs beeinflusst waren. Diese hätten nämlich behauptet, dass Yazdān bei sich darüber nachgedacht habe, dass ihm ein Widersacher entstehen könne, der ihn in seinem Reich bekämpfen könnte. Er habe sich daraufhin Sorgen gemacht, und es sei aufgrund dieses Gedankens in seinem Wesen Fäulnis entstanden, aus der er den Satan erschaffen habe. Als die Karrāmiten davon hörten, sollen sie ihre Lehre von Gott als dem Substrat der Geschehnisse darauf gestützt haben. Al-Dschuwainī zufolge waren die Karrāmiten die einzige religiöse Gruppe nach den Madschūs, die einen Ablauf von Geschehnissen in Gott für möglich hielt.
Eine weitere Besonderheit der Lehre der Karrāmiten war, dass sie zwischen der Rede (kalām) und dem Wort (qaul) Gottes unterschieden. Während sie erstere als Attribut für anfangsewig (qadīm) hielten, sagten sie von letzterem, dass es „geschehend“ (ḥādiṯ) und „in Gott vor sich gehend“ (qāʾim bi-Llāh), nicht aber „zum Geschehen gebracht“ (muḥdaṯ) sei. Diese Lehre bezogen sie auch auf den Koran: Nach ihrer Auffassung war er nicht erschaffen, sondern „geschehend“. Dass die Karrāmiten im Koran nicht die Rede Gottes, sondern das „Wort Gottes“ (qaul Allāh) sahen, hob sie von allen anderen islamischen Gruppen ab.
Propheten, Imame und Gottesfreunde
Wie Ibn Hazm berichtet, lehrten die Karrāmiten, dass Propheten große und kleine Sünden begehen können, sie jedoch gegen Lüge in der Übermittlung der religiösen Botschaft durch die ʿIsma geschützt sind. Nach al-Baghdādī lehrten sie, dass Gottesgesandtentum und Prophetentum zwei Bedeutungen sind, die im Rasūl und Propheten von Anfang an bestehen, anders als seine ʿIsma, seine Wunderhaftigkeit und seine Aussendung durch Gott. Sie unterschieden nämlich zwischen dem Rasūl-Gesandten und dem Mursal-Gesandten, indem sie sagten, dass der Rasūl derjenige sei, in dem sich diese Bedeutung befinde, und derjenige, in dem sich diese Bedeutung finde, von Gott ausgesandt werden müsse. Der Mursal-Gesandte sei dagegen derjenige, den der Aussendende bereits ausgesandt habe.
Weiter lehrten sie, dass im Falle des Auftretens eines Propheten, der zu seiner Religion ruft, derjenige, der diesen Ruf hört oder davon hört, verpflichtet sei, ihn für wahr zu erklären und ihn zu bestätigen, ohne über seinen Beweis belehrt worden zu sein. Al-Baghdādī meinte, dass die Karrāmiten diese Idee von den Ibaditen übernommen hatten, die lehrten, dass schon die Behauptung eines Propheten, dass er ein Prophet sei, ein ausreichender Beweis (ḥuǧǧa) sei. Derjenige, den der Ruf der Propheten nicht erreiche, müsse das glauben, was die Vernunft erforderlich mache, nämlich dass Gott Gesandte zu seinen Geschöpfen gesandt habe. Sie glaubten nämlich, dass in dem Falle, dass sich Gott vom ersten Zeitpunkt der Verpflichtung bis zur Auferstehung nur auf einen Rasūl-Gesandten beschränkt hätte, er nicht vernünftig (ḥakīm) gewesen wäre. Nach Abū Tammām dagegen lehrten die Karrāmiten, dass der Prophet Mohammed kein Beweis gewesen sei, weil er starb, während der Beweis Gottes nicht sterben könne.
Wie die Imamiten meinten die Karrāmiten, dass der Imam durch Designation (naṣṣ) bestimmt wird, allerdings hingen sie der Auffassung an, dass der designierte Imam nach dem Propheten Mohammed nicht ʿAlī ibn Abī Tālib war, sondern Abū Bakr. Sie leiteten dies aus dem Koranwort in Sure 48:16 ab: „Sag zu denjenigen Wüstenarabern, die zurückgelassen worden sind: Ihr werdet zu einem Volk von gewaltiger Macht gerufen werden, gegen die ihr kämpfen müsst, wenn sie sich nicht ergeben“. Dieses Koranwort bezogen sie auf Abū Bakr, der als Erster nach dem Tod des Propheten zum Kampf gegen die „abgefallenen arabischen Stämme“ aufgerufen hatte. Die Karrāmiten meinten außerdem, dass es zwei Imame zur gleichen Zeit geben könne. Eine Gruppe unter ihnen soll gelehrt haben, dass ʿAlī ibn Abī Tālib und Muʿāwiya I. zur selben Zeit Imame gewesen seien. Nur habe sich ʿAlī im Gegensatz zu Muʿāwiya an die Sunna gehalten. Dennoch hätten die Anhänger eines jeden von ihnen die Pflicht gehabt, ihrem Imam zu gehorchen. Ibn Dāʿī ar-Rāzī berichtet, dass einige Karrāmiten sogar das Imamat von Yazīd ibn Muʿāwiya anerkannten, obwohl dieser zu Unrecht das Blut des Prophetenenkels al-Husain ibn ʿAlī vergossen hatte. Sie sollen das damit begründet haben, dass das Blutvergießen des von Gott eingesetzten Kalifen bereits im Koran (Sure 2:30) vorausgesagt und dort gebilligt werde.
Wie al-Hakīm at-Tirmidhī benutzten die Karrāmiten für Mystiker bzw. Heilige das Wort Walī („Gottesfreund“). Al-Baghdādī sagt den Karrāmiten nach, dass sie manche Gottesfreunde sogar für besser hielten als manche Propheten. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass auliyāʾ („Gottesfreunde“) auch der übliche Name für die karrāmitischen Asketen und Chanqāh-Bewohner war. Einige Karrāmiten sollen auch behauptet haben, dass ihr Gründer Ibn al-Karrām besser sei als ʿAbdallāh ibn Masʿūd und viele Sahāba, die Gefährten und Begleiter des Propheten. Al-Baghdādī meint, sie hätten nur deswegen nicht gewagt, ihn auch dem Propheten Mohammed vorzuziehen, weil sie sich vor dem Schwert fürchteten. Anderes berichtet dagegen Ibn Dāʿī ar-Rāzī. Ihm zufolge sollen einige Karrāmiten Ibn Karrām auch für besser und bedeutender als den Propheten Mohammed gehalten haben.
Der Glaube
Nach Abū l-Hasan al-Aschʿarī behaupteten die Karrāmiten, dass der Glaube das Bekenntnis (iqrār) lediglich mit der Zunge, nicht mit dem Herzen sei. Sie sollen darauf beharrt haben, dass Glaube nur Für-Wahr-Erklären mit der Zunge sei, nicht aber Erkenntnis im Herzen. Sie sollen auch gelehrt haben, dass die Munāfiqūn zur Zeit Mohammeds wirkliche Gläubige gewesen seien und dass Kufr in Bezug auf Gott daraus bestehe, ihn zu verleugnen und in Abrede zu stellen. Niemand, so referiert Abū Tammām die Auffassung der Karrāmiten, habe den Glauben an Gott im Herzen, nicht einmal Gottesfreunde oder Propheten. Noch Extremeres berichtet al-Maqrīzī von den Karrāmiten: Sie sollen gelehrt haben, dass der Glaube nur aus der Formel Lā ilāha illā Llāh („Es gibt keinen Gott außer Gott“) bestehe, ganz gleich, ob man davon überzeugt sei oder nicht.
Besonders ausführliche Erklärungen zur Glaubenslehre der Karrāmiten gibt al-Baghdādī. Demnach meinten sie, dass der Glaube ein einmaliges Bekenntnis sei, nämlich das „Doch“ (balā) der Geschöpfe bei der Schließung des Urvertrags, als Gott „aus der Lende der Kinder Adams deren Nachkommenschaft zog“ (Sure 7:172) und diese bezeugen ließ, dass er ihr Herr sei. Die Karrāmiten behaupteten, dass die Wirkung dieses „Dochs“ unter den Menschen bis zum Tag der Auferstehung anhalte. Alle Menschen, ganz gleich, ob sie gläubige oder ungläubige Eltern haben, sollen aufgrund ihres früheren Bekenntnisses beim Urvertrag als Gläubige zur Welt kommen. Da die Kinder durch ihr „Doch“ beim Urvertrag Gläubige sind, sollen sie im Falle des Todes auch allesamt in das Paradies kommen. Wenn aber dann der Mensch erwachsen wird und sich bei ihm Kufr zeigt, wird er je nach Status der Eltern unterschiedlich beurteilt. Wenn seine Eltern Ungläubige waren, dann gilt auch er als Ungläubiger. Wenn aber nur einer von ihnen gläubig war, dann gilt er als Apostat. Wenn aber derjenige, der vom Islam abgefallen ist, erneut bekennt, dann soll sein erstes Bekenntnis nach der Apostasie als Glaube gelten. Nicht aber gilt die Wiederholung des Bekenntnisses als Glaube.
Wie al-Baghdādī berichtet, stellten die Karrāmiten den Glauben der Munāfiqūn dem Glauben der Propheten, der Engel und der übrigen Gläubigen gleich. Die Munāfiqūn hielten sie für wahre Gläubige, aber sie hielten es auch für möglich, dass ein Gläubiger auf alle Ewigkeit in der Hölle sei, wie ʿAbdallāh ibn Ubaiy, der Anführer der Munāfiqūn, so wie sie es für möglich hielten, dass ein Ungläubiger ins Paradies kommt, wie ʿAmmār ibn Yāsir, dann nämlich, wenn er vor seinem Tod zu einem blasphemischen Ausspruch gezwungen worden ist. Al-Hākim al-Dschuschamī referiert von den Karrāmiten die Lehre, dass Gott die Ungläubigen aus dem Höllenfeuer herausholen könne. Ibn Hazm berichtet hinsichtlich der Munāfiqūn allerdings von einem Dissens unter den Karrāmiten: Während die einen sagten, dass sie Gläubige seien und als solche ins Paradies kämen, meinte eine andere Gruppe, dass sie zwar Gläubige seien, gleichzeitig aber auch Beigeseller, und als solche in die Hölle kämen.
Mehrere Gelehrte betrachteten die Karrāmīya wegen ihrer Auffassung vom Glauben als eine Untersekte der Murdschi'a, so Abū l-Hasan al-Aschʿarī und Abū Nuʿaim al-Isfahānī. Abū Tammām sah hinsichtlich der karrāmitischen Lehren über die Handlungen der Menschen eine Nähe zwischen ihnen und der Gruppe der Naddschārīya, die ebenfalls zu den Murdschi'a gehörte. Die Karrāmiten selbst sahen sich dagegen nicht als Murdschi'a an, sondern verwendeten den Begriff für solche Gruppen, die den Pflichtencharakter der Werke verleugneten.
Verbreitung der theologischen Lehren und Geheimhaltung
Die Lehren von der Körperlichkeit Gottes und von Gott als dem Substrat der entstehenden Dinge scheinen unter den einfachen Anhängern der Karrāmīya nicht sehr bekannt gewesen zu sein. ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī berichtet, dass er selbst eine Gruppe von einfachen Anhängern der Karrāmīya getroffen hatte, die nur dem Namen nach von der Körperlichkeit Gottes gehört hatten und auch nicht wussten, dass ihre Geistlichen die Lehre von der Entstehung der Geschehnisse im Wesen Gottes vertraten.
Möglicherweise galt bei den Karrāmiten eine Art Arkandisziplin. Wie Ibn ad-Dāʿī berichtet, hatte Muhammad ibn Karrām auf den Rücken seines „Buches des Geheimnisses“ mit eigener Hand den Koranvers geschrieben: „Nur die Gereinigten sollen es berühren“ (Sure 56:79). Al-Hākim al-Dschuschamī sagt den Karrāmiten nach, dass sie Geheimlehren hätten, die von ihnen „Grundsätze“ (aḥkām) genannt würden und den Geheimnissen der Bātinīya ähnelten. Auch Fachr ad-Dīn ar-Rāzī verdächtigte die Karrāmiten der Geheimhaltung. So war er fest davon überzeugt, dass sie in Wirklichkeit glaubten, dass Gott ein zusammengesetzter Körper sei, dass sie dies aber aus Taqīya, also der Vorstellung, es sei erlaubt, bei Gefahr für Leib und Leben den eigenen Glauben zu verheimlichen, und aus Furcht nicht offen sagten.
Normenlehre
Die meisten Besonderheiten der Karrāmīya in der Normenlehre betrafen die Durchführung der religiösen Riten. Sie zeichneten sich in diesem Bereich durch eine gewisse Nachsichtigkeit aus. Al-Muqaddasī nennt vier Punkte, in denen sich die Karrāmiten von allen anderen islamischen Gruppen unterschieden: die Nachsichtigkeit (musāmaḥa) hinsichtlich der Nīya bei den rituellen Pflichten, ihre Erlaubnis, das Pflichtgebet auf dem Rücken eines Reittiers zu sprechen, ihre Anerkennung der Gültigkeit des Fastens einer Person, die aus Versehen nach dem Sonnenaufgang gegessen hat, und die Gültigkeit eines Morgengebets, das beim Sonnenaufgang noch nicht beendet ist. In einer Handschrift des Werks wird noch ein fünfter Punkt genannt, dass nämlich die Karrāmiten es für zulässig hielten, das Freitagsgebet außerhalb einer Stadt (miṣr ǧāmiʿ) mit weniger als vierzig Personen abzuhalten. Wie die Ashāb al-hadīth erlaubten es die Karrāmiten auch, beim Wudū' lediglich über den Turban zu streichen.
Weitere Besonderheiten werden bei al-Maqrīzī genannt. Demnach lehrte Ibn Karrām zum Beispiel, dass es für den Reisenden ausreiche, nur die beiden Takbīre des Furcht-Gebets (ṣalāt al-ḫauf) zu sprechen. Außerdem hielt er es für zulässig, in einem Gewand zu beten, dass in eine unreine Flüssigkeit getaucht worden war. Gebet, Fasten, Zakāt, Haddsch und die übrigen gottesdienstlichen Übungen waren nach seiner Meinung auch dann gültig, wenn ihnen keine Absichtserklärung vorausgegangen war. Die Absichtserklärung war ihm zufolge nur bei den supererogatorischen Handlungen (nawāfil) notwendig, also dann, wenn jemand mehr tat, als seine Pflicht verlangte. Das rituelle Gebet konnte man seiner Meinung nach auch mit Essen, Trinken oder mit Geschlechtsverkehr beenden.
Andere Besonderheiten der Karrāmiten im Bereich der Normenlehre betrafen den Bereich der Sexualität. Nach Abū Tammām lehrten sie, dass es dem Mann verboten sei, eine Frau zu heiraten, wenn er zuvor mit ihrer Mutter sexuell verkehrt hatte. Ibn al-Karrām soll außerdem gelehrt haben, dass der Geschlechtsverkehr mit Knaben oder jungen Männern von den Ungläubigen Gottesdienst sei, ganz gleich ob es sich um Muschrikūn, Madschūs, Juden oder Christen handele. Er leitete das aus Sure 9:120 ab, wo es heißt: „sie machen keinen Einfall (lā yaṭiʾūna mauṭiʾan), der den Groll der Ungläubigen hervorruft, und erlangen nichts von einem Feind, ohne dass ihnen dafür eine rechtschaffene Tat gutgeschrieben würde.“ Ein karrāmitischer Dichter soll zu dieser Regel gedichtet haben:
wa-kam min Yahūdīyin malīḥin ʿalautu-hū
wa-aḥsanu šai'in Muslimun fauqa kāfirin
Wie viele hübsche Juden habe ich bestiegen,
ein Muslim über einem Ungläubigen ist doch die beste Sache.
Auch in den Usūl al-fiqh scheinen die Karrāmiten einzelne Sonderlehren vertreten zu haben. So wird ihnen nachgesagt, dass sie bei der Beurteilung menschlicher Handlungen keine Mitteldinge kannten, sondern nur Verdienste und Sünden, die sich jeweils zu Gunsten oder zu Lasten der Menschen auswirken. Das leiteten sie aus dem Koranwort in Sure 10:32 ab: „Was kann es nach der Wahrheit denn anderes als Irrtum geben?“
Von einer Gruppe von ihnen wird berichtet, dass sie hinsichtlich der Beurteilung des Idschtihād-Ergebnisses dem Grundsatz kull muǧtahid muṣīb („Wo immer jemand ein selbständiges Urteil fällt, trifft er etwas Richtiges“) folgte, und zwar sowohl bei den Rechtsanwendungen (furūʿ) als auch bei den Grundlagen (uṣūl). Eine Ausnahme machten sie nur bei Häretikern (zanādiqa). Bei dieser Lehre, die al-Muqaddasī als murdschi'itisch kennzeichnet, berief sich die Gruppe auf den angeblichen Ausspruch des Propheten, wonach sich seine Gemeinschaft in 73 Sekten aufspalten soll, von denen 72 in das Paradies kommen und eine in die Hölle.
Untersekten
In den islamischen häresiographischen Werken werden verschiedene karrāmitische Untersekten erwähnt. Sie sollen unterschiedliche Ansichten vertreten, sich aber gegenseitig anerkannt haben. Die Anzahl dieser Untersekten wird unterschiedlich angegeben: al-Baghdādī nennt drei, Fachr ad-Dīn ar-Rāzī sieben, und asch-Schahrastānī zwölf. Informationen liegen nur über die folgenden Sekten vor:
Hīdīya Sie führt sich auf Hīd ibn Saif, einen Schüler Ibn Karrāms, zurück. Die Angehörigen dieser Untergruppe sollen ganz offen gelehrt haben, dass Gott ein Körper sei.
Razīnīya Sie führt sich auf Razīn, einen anderen Schüler Ibn Karrāms aus Gardschistān, zurück.
Muhādschirīya Sie führte sich auf Ibrāhīm ibn Muhādschir, einen Schüler von ʿAmr al-Mazūlī zurück. Dieser al-Mazūlī war Schüler von ʿAbdān as-Samarqandī, ʿAbdān von Muhammad as-Sidschzī und dieser wiederum von Ibn Karrām.
ʿĀbidīya Sie führte sich auf ʿUthmān al-ʿĀbid zurück, der von Abū l-Fadl al-ʿĀbid übernahm, jener wiederum von ʿAmr al-Mazūlī.
Tūnīya Sie führte sich auf Abū Bakr ibn ʿAbdallāh, einen anderen Schüler von ʿAmr al-Mazūlī zurück.
Haisamīya Sie geht auf den bereits genannten Kalām-Gelehrten Abū ʿAbdallāh Muhammad ibn al-Haisam zurück, der als eine der angesehensten Persönlichkeiten der Karrāmīya gilt. Er hatte bei Muhammad ibn Dschaʿfar gelernt, der ein weiterer Schüler von al-Mazūlī war. Ein Unterschied zwischen ʿĀbidīya und Haisamīya bestand darin, dass erstere die Entfernung zwischen Gott und dem Gottesthron für endlich hielt, während letztere sie als unendlich betrachtete. Madschd ad-Dīn ʿAbd al-Madschīd ibn ʿUmar Ibn Qudwa, der am Hof des ghuridischen Herrscher Ghiyāth ad-Dīn mit Fachr ad-Dīn ar-Rāzī disputierte, gehörte dieser Untersekte der Karrāmīya an. Al-Bazdawī beschreibt die Haisamīya als eine Synthese aus Karrāmīya und Qadarīya.
Ishāqīya Sie bezieht sich wahrscheinlich auf Abū Yaʿqūb Ishāq ibn Mahmaschādh (gest. 993), dessen Familie die tragende Säule der Karrāmīya in Nischapur war.
Tarā'ifīya Gründer dieser Untersekte war der Gelehrte Ahmad ibn ʿAbdūs at-Tarā'ifī (gest. 958).
Weitere Untersekten, die in den arabischen Quellen genannt werden, sind die Haqā'iqīya, die Nūnīya, die Zarībīya, die Wāhidīya, die Hamāqīya, die Sūrmīya, die Sauwāqīya, die Maʿīya und die Dhammīya.
Karrāmitische Gelehrsamkeit
Koranwissenschaften
Die eigentliche Stärke karrāmitischer Gelehrsamkeit lag in den Koranwissenschaften. Zu den koranwissenschaftlichen Werken, die heute als karrāmitisch eingeordnet werden, gehören:
Das Kitāb al-Mabānī li-naẓm al-maʿānī. Hierbei handelt es sich um die Einleitung zu einem Korankommentar, die seit dem 19. Jahrhundert eine wichtige Quelle westlicher Koranstudien ist und 1954 von Arthur Jeffery herausgegeben wurde. Da die einzige Handschrift, in der das Werk überliefert ist, im Maghribi-Duktus geschrieben ist, ging man früher davon aus, dass das Werk nordafrikanischer oder andalusischer Herkunft ist. Die karrāmitische Herkunft des Werks, das im Jahre 425 (= 1033 n. Chr.) begonnen wurde, wurde erst in den 1980er Jahren von A. Zysow entdeckt. Der wichtigste Beweis für die karrāmitische Ausrichtung des Textes ist eine Passage, in der der Autor den Gründer der Gemeinschaft als den „rechtleitenden Imam (al-imām al-hādī) Abū ʿAbdallāh Muhammad ibn Karrām“ zitiert. An mehreren Stellen wird auch der bekannte karrāmitische Theologe Muhammad ibn al-Haisam erwähnt. Der Autor des Werks wird nicht genannt, doch nimmt Zysow an, dass er den Kreisen des bekannten karrāmitischen Theologen Muhammad ibn al-Haisam angehörte. Aufgrund einer ausführlichen Analyse der Überlieferungsketten in dem Werk und verschiedener kodikologischer Indizien vertritt der iranische Gelehrte Hasan Ansārī Qummī die Auffassung, dass es sich um den karrāmitischen Koran-Gelehrten Abū Muhammad Hāmid ibn Ahmad Ibn Bastām (gest. 1038) aus Nischapur handelt.
Der persische Korankommentar Tafsīr at-tafāsīr von Abū Bakr ʿAtīq ibn Muhammad as-Sūrābādī (gest. 1100), in dem vier Generationen von Karrāmiten mit ihrer Interpretation verschiedener Koranverse zitiert werden. Eine monumentale Koranhandschrift mit as-Sūrābādīs Kommentar wurde 1189 von dem ghuridischen Sultan Ghiyāth ad-Dīn in Auftrag gegeben. Die Handschrift befindet sich heute im Iranischen Nationalmuseum. Der Kommentar selbst wurde 2002/03 in Teheran in fünf Bänden ediert.
Das Werk al-Fūṣūl von Abū Hanīfa ʿAbd al-Wahhāb ibn Ahmad (10./11. Jahrhundert), in dem verschiedene Koranverse kommentiert werden. Der Text, der in einer Mischung aus Persisch und Arabisch gehalten ist, enthält zahlreiche Aussprüche, die von Muhammad ibn Karrām tradiert werden. Das Werk ist in vier Handschriften überliefert, von denen drei in iranischen Bibliotheken liegen und eine sich im British Museum befindet. Letztere ist allerdings unvollständig.
Das Qisas-al-Anbiyā'-Werk von Abū l-Hasan al-Haisam ibn Muhammad al-Būschandschī (gest. 1075), einem Enkel von Abū ʿAbdallāh Muhammad ibn al-Haisam. Es ist in der Handschrift Princeton Yahuda 439 erhalten. Sein erster Teil wurde 2006 in Amman ediert.
Häresiographie
Auch das häresiographische Kitāb ar-Radd ʿalā ahl al-bidaʿ wa-l-ahwāʾ („Buch der Widerlegung der Anhänger unrechtmäßiger Neuerungen und Irrlehren“) von Abū Mutīʿ Makhūl an-Nasafī (gest. 930) hat eine karrāmitische Ausrichtung. In diesem Werk werden die Lehren der Harūrīya, Rawāfida, Qadarīya, Dschabrīya, Dschahmīya und Murdschi'a einer umfassenden Kritik unterzogen. Jede Gruppe wird dabei noch einmal in zwölf Untergruppen unterteilt. Auf diese Weise erreicht der Autor die Zahl der 72 Sekten, die nach einem Prophetenwort in die Irre gegangen sein sollen. Die eigene theologische Identität legt der Autor nicht offen. Wenn er von der eigenen religiösen Richtung spricht, bezeichnet er diese immer nur als die Position der „Gemeinschaft“ (ǧamāʿa). Während Marie Bernand das Buch in ihrer Edition als hanafitisch eingestuft hatte, hat Ulrich Rudolph aufgezeigt, dass der Autor, ohne diese Abhängigkeit offensiv darzustellen, der Theologie Ibn Karrāms folgt.
Traktat an-Nutaf fī l-fatāwā
Mit dem Traktat an-Nutaf fī l-fatāwā, der dem hanafitischen Ober-Qādī Abū l-Hasan ʿAlī ibn Husain as-Sughdī (gest. 1068) zugeschrieben wird, hat sich wahrscheinlich auch ein eigenständiges karrāmitisches Werk zur islamischen Normenlehre erhalten. Der Traktat, der vergleichend angelegt ist, hat keinen offen zu Tage tretenden karrāmitischen Charakter, doch werden in ihm die rechtswissenschaftlichen Ansichten eines Abū ʿAbdallāh übermittelt, der nach A. Zysow mit Muhammad Ibn Karrām zu identifizieren ist. Zysow leitet das daraus ab, dass die Lehren, die in dem Text Abū ʿAbdallāh zugeschrieben werden, große Übereinstimmung mit dem aufweisen, was al-Muqaddasī und die Häresiographen über die karrāmitische Normenlehre berichten. Er hält es für eine Möglichkeit, dass der Text eine Reformulierung der karrāmitischen Lehre bietet, die sie von ihren anstößigeren Zügen befreite, so wie zuvor Ibn al-Haisam die karrāmitische Theologie reformuliert hatte. Die Hanafiten werden in dem Werk als eine eigenständige Gruppe präsentiert, der der genannte Abū ʿAbdallāh nicht zugehört.
Für die Zugehörigkeit des Autors zur Karrāmīya spricht nach Zysow auch, dass er zum einen meistens nur dann Regeln begründet, wenn er sie auf Abū ʿAbdallāh zurückführt, und zum anderen die karrāmitische Lehrposition manchmal ohne klare Zuschreibung als die akzeptierte Lehre präsentiert. Er vermutet, dass an-Nutaf für karrāmitische Rechtsstudenten verfasst wurde, von denen einige Hanafiten waren und andere Ibn Karrām und seinen Nachfolgern wie Muhammad ibn Sāhib folgten. Das Werk sei wegen seiner klaren Darstellung des hanafitischen Rechts im Lehrbetrieb geschätzt worden, seine karrāmitische Herkunft später in Vergessenheit geraten, so die Vermutung Zysows.
Hagiographie
Ursprünglich existierten auch mehrere karrāmitische Werke hagiographischen Charakters. So haben zum Beispiel die beiden karrāmitischen Gelehrten Ishāq ibn Mahmaschādh (gest. 993) und Muhammad ibn al-Haisam Werke über die Fadā'il bzw. die lobenswerten Eigenschaften (manāqib) von Muhammad ibn Karrām zusammengestellt.
Erhalten hat sich lediglich die persische Anekdotensammlung Raunaq al-maǧālis (in einigen Handschriften ist der Titel abweichend Raunaq al-qulūb) von Abū Hafs ʿUmar ibn Hasan an-Naisābūrī as-Samarqandī, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts abgefasst worden ist. Sie stellte eine der ältesten religiös-ethischen Erzählsammlungen in persischer Sprache überhaupt dar. Das Buch enthält auf 25 Seiten Anekdoten aus dem Leben Ibn al-Karrāms. Hatoum liefert in seiner Dissertation von einigen repräsentativen Anekdoten englische Übersetzungen. An einer Stelle wird ein Kitāb Manāqib al-ustāḏ Isḥāq („Buch über die lobenswerten Eigenschaften des Ustādh Ishāq“) zitiert, bei dem es sich wahrscheinlich um ein hagiographisches Werk über Ishāq ibn Mahmaschādh handelt. Eine anonyme gekürzte Version von Raunaq al-maǧālis wurde 1975 von ʿAlī Radschā'ī veröffentlicht. Das Buch war auch in einer arabischen Übersetzung populär, von der mehrere Handschriften existieren. Später erstellte davon ʿUthmān ibn Yahyā al-Mīrī eine Kurzfassung.
Karrāmitischer Einfluss auf das Minarett von Dschām
Nach der Interpretation von Finbarr B. Flood zeigt sich karrāmitischer Einfluss auch in der Gestaltung des Minaretts von Dschām, des wichtigsten Denkmals ghuridischer Baukunst. Am unteren Schaft dieses Minaretts verläuft eine Reihe von schmalen arabischen Schriftbändern, die sich überlappen und überkreuzen und auf diese Weise Paneele bilden, die mit geometrischen Ornamenten gefüllt sind. In diesen Schriftbändern wird der gesamte Text von Sure 19 wiedergegeben. Da Form und Inhalt dieses Inschriftenbandes ungewöhnlich sind, gab es mehrfach Versuche, sie zu bestimmten historischen Umständen der Erbauung des Minaretts in Bezug zu setzen. Ralph Pinder-Wilson zum Beispiel setzte sie 2001 zu den Siegen der Ghuriden in Indien in Beziehung und vertrat die Auffassung, dass sich die in Sure 19 enthaltenen Angriffe gegen den Götzendienst (Vers 49 und 81) auf die neuen polytheistischen Untertanen der Ghuriden beziehen. Da die Erbauung des Minaretts in der neuesten Forschung jedoch auf das Jahr 570 d. H. (= 1174/75 n. Chr.) datiert wird und somit in die Zeit vor die ghuridische Expansion nach Indien fällt, hält Flood eine solche Interpretation für ausgeschlossen.
Flood weist darauf hin, dass an der östlichen Seite des Minaretts, auf die der Blick fällt, wenn sich der Betende nach der Qibla ausrichtet, das dichteste und am aufwändigsten ausgestattete Ornament erscheint. Dieses befindet sich oberhalb eines bogenförmigen Paneels, das einen Mihrab zu bilden scheint, und besteht aus einem rautenförmigen Knoten, der von dem Schnittpunkt verschiedener Schriftbänder gebildet wird, die die Verse 34 und 35 von Sure 19 enthalten. Sie lauten in der deutschen Übersetzung: „Das ist Jesus, Marias Sohn, als Wort der Wahrheit (qaul al-ḥaqq), über das sie uneins sind. Es steht Gott nicht an, einen Sohn anzunehmen – das sei ferne! Beschließt er eine Sache, so spricht er nur zu ihr ‚Sei!‘ und dann ist sie (kun fa-yakūn).“ Flood meint, dass diese koranische Aussage deswegen für das zentrale Dekorelement am Minarett ausgesucht wurde, weil sie zur Bestätigung der Lehrauffassung der Karrāmīya dienen konnte, nach der die Dinge der Welt nicht durch Gottes ewiges Attribut der Allmacht, sondern nur durch sein zu den Akzidentien gehörendes Schöpfungswort kun erschaffen werden.
Literatur
Arabische und persische Quellen
Abū Tammām: Kitāb aš-Šaǧara. Ediert und ins Engl. übersetzt von Wilferd Madelung und Paul E. Walker unter dem Titel: An Ismaili heresiography: “Bāb al-shayṭān” from Abū Tammām’s Kitāb al-shajara. Brill, Leiden 1998 (Islamic History and Civilization. Studies and Texts 23).
ʿAbd al-Qāhir al-Baġdādī: Al-Farq baina l-firaq. Ed. Muḥammad ʿUṯmān al-Ḫišn. Maktabat Ibn Sīnā, Kairo o. D., S. 189–197. Digitalisat.
ʿAbd al-Qāhir al-Baġdādī: Kitāb al-Milal wa-n-niḥal. Ed. A.N. Nader. Dar el-Machreq, Beirut 1970. S. 149–154. Digitalisat.
ʿAbd al-Qāhir al-Baġdādī: Uṣūl ad-Dīn. Maṭbaʿat ad-Daula, Istanbul 1928. Digitalisat.
Abū l-Yusr al-Bazdawī: Kitāb Uṣūl ad-Dīn. Ed. Hans Peter Linss und Aḥmad Ḥiǧāzī as-Saqqā. Al-Maktaba al-Azharīya li-t-Tūrāṯ, Kairo 2003. Digitalisat.
Al-Ǧuwainī: aš-Šāmil fī uṣūl ad-dīn. Ed. ʿAlī Sāmī an-Naššār u. a. Munšaʾāt al-Maʿārif, Alexandria 1969. Digitalisat.
Minhāǧ ad-Dīn Ǧūzǧānī: Ṭabaqāt-i Nāṣirī. Ed. William Nassau Lees. Calcutta 1864. S. 77–80. Digitalisat. – Engl. Übers. Major H. G. Raverty. Gilbert & Rivington, London 1881. Bd. I, S. 384 f. Digitalisat.
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Saiyid Murtaḍā Ibn Dāʿī Ḥasanī Rāzī: Kitāb Tabṣirat al-ʿawāmm fī maʿrifat maqālāt al-anām. Ed. ʿAbbās Iqbāl. Maǧlis, Teheran 1313hš. S. 64–74. Digitalisat.
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Einzelnachweise
Islamische Richtung
Islam im Iran
Islam in Afghanistan
Chorasan
Askese |
10729500 | https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdrussische%20Tarantel | Südrussische Tarantel | Die Südrussische oder Russische Tarantel (Lycosa singoriensis, Syn.: Allohogna singoriensis) ist eine Spinne innerhalb der Familie der Wolfspinnen (Lycosidae). Das Verbreitungsgebiet der Art umfasst weite Teile der Eurasischen Steppe und reicht westlich bis in den Seewinkel im Osten Österreichs. Mit einer Körperlänge von bis zu 40 Millimetern bei den Weibchen ist die Südrussische Tarantel nicht nur die größte in Mitteleuropa vorkommende Spinnenart, sondern zugleich eine der größten Europas.
Die nachtaktive Südrussische Tarantel gräbt sich wie einige andere Wolfspinnen Wohnröhren, in denen sie den Großteil des Tages verbringt und die sie in der Nacht zur Nahrungssuche verlässt. Die Art jagt wie die meisten Vertreter der Familie freilaufend als Lauerjäger, also ohne ein Spinnennetz. Dabei erbeutet sie sowohl andere Gliederfüßer als auch kleinere Wirbeltiere. Das Fortpflanzungsverhalten der Art ist ebenfalls mit dem anderer Wolfspinnen identisch, wozu auch die familientypische Balz seitens des Männchens gehört. Das Weibchen trägt dann seinen einige Zeit nach der Paarung angefertigtem Eikokon ebenfalls wie bei anderen Wolfspinnen an den Spinnwarzen angeheftet mit sich herum und die Jungtiere klettern nach dem Schlüpfen auf das Opisthosoma (Hinterleib) der Mutter, wo sie für einige Zeit verbleiben, ehe sie selbstständig heranwachsen.
Die Südrussische Tarantel hat wie die anderen als „Tarantel“ bezeichneten größeren Spinnenarten (vorwiegend andere Wolfspinnen und einzelne Vogelspinnen (Theraphosidae), fälschlicherweise durch die fehlerhafte Übersetzung des englischsprachigen Wortes tarantula für „Vogelspinne“ die gesamte letztere Familie) eine gewisse Prominenz. Sie wird überdies gefürchtet, jedoch bei weitem nicht so stark wie etwa die zur gleichen Gattung zählende Apulische (L. tarentula) oder die Schwarzbäuchige Tarantel (Hogna radiata). Wie bei diesen ist der Biss der Südrussischen Tarantel und dessen Wirkung für den Menschen nicht von medizinischer Relevanz.
Merkmale
Das Weibchen der Südrussischen Tarantel erreicht eine Körperlänge von 18 bis 40 (zumeist 35±6) Millimetern und ein Gewicht von 2,6 bis 7 Gramm. Damit ist die Art nicht nur die größte in Mitteleuropa vorkommende Spinne, sondern zusammen mit der ebenfalls zu den Wolfspinnen zählenden Deserta-Tarantel (Hogna ingens) und der zur Familie der Röhrenspinnen (Eresidae) zählenden Griechischen Röhrenspinne (Eresus walckenaeri), deren weibliche Tiere die gleiche Körperlänge erreichen können, einer der größten Vertreter dieser Ordnung in Gesamteuropa. Das Männchen der Südrussischen Tarantel bleibt mit einer Körperlänge von 14 bis 27 Millimetern zumeist kleiner als das Weibchen. Die Beinspannweite der Art kann bis zu 70 Millimeter betragen.
Der Carapax (Rückenplatte des Prosomas, bzw. Vorderkörpers) ist olivbraun gefärbt. Sein vorderer Teil verfügt über eine undeutliche Bindenzeichnung. Wie bei Wolfspinnen üblich bestehen die acht Augen der Südrussischen Taranteln aus den zwei großen Haupt- und den sechs kleineren Nebenaugen. Letztere dienen wahrscheinlich der Wahrnehmung von Licht, während die Hauptaugen dem eigentlichen Sehsinn dienen. Die Augen sind wie für Spinnen der Überfamilie Lycosoidea üblich in zwei übereinander befindlichen Reihen angeordnet, die je vier Augen umfassen. Die vordere Reihe ist dabei leicht gebogen. Der Abstand zwischen den unteren Mittel- und Seitenaugen zueinander ist kleiner als der der unteren Mittelaugen zueinander. Die unteren Mittelaugen sind dabei größer als die unteren seitlichen. Letztere werden außerdem durch einen schwarzen Ring eingefasst. Der Abstand zwischen den hinteren Mittelaugen, bzw. den Hauptaugen ist kleiner als deren eigener Durchmesser. Der Abstand zwischen den oberen Seitenaugen ist deutlich größer als der zwischen den unteren Seitenaugen. Die cephale (zum Kopf hin befindliche) Region der Fovea (Apodem) ist höher als die thorakale (im Brustbereich gelegene). Die Fovea verfügt außerdem über einen konfluenten (zusammenfließenden) Winkel und einen sternförmigen, hellgrau-weißen Fleck. Aus dem Bereich der Fovea entspringen offene Streifen. Auf dem Carapax befindet sich überdies ein helles und schmales sowie verschwommenes Medianband, das zwei längliche dunkle Flecken aufweist. Geziert wird der Carapax außerdem von mehreren schmalen, weißgrauen Seitenstreifen, die recht zahlreich und verstreut angelegt sind und schwarz gefärbt oder als kleine Flecken ausgebildet sein können.
Die Cheliceren (Kieferklauen) sind robust gebaut und besitzen eine kräftige Basis. Das apikale (an der Spitze gelegene) Segment, die eigentliche und nadelförmige Klaue einer Chelicere ruht auf einer Rille im Basalsegment, die von Setae (Haaren) verschiedener Eigenschaften bedeckt ist. Die Klaue wird von dessen Grund an immer schmaler und mündet in ein ziemlich scharfes Ende. Die Pore, aus der das Gift ausgestoßen wird, befindet sich auf dem subterminalen (am Ende auf der Unterseite gelegenen) Abschnitt der Klaue. In Längsrichtung verlaufen auf der Fangfläche parallel angelegte Rillen und bilden einen kammartigen Aufbau, der wiederum eine klingenartige Struktur formt. Auf beiden Seiten der Fangrillen verläuft auf marginaler Ebene außerdem je eine Reihe von vier Zähnen, die kegelartig aufgebaut sind. Die basalen Bereiche der Cheliceren sind gelb oder orangebraun gefärbt. Sie sind außerdem stark behaart. Das Sternum (Brustplatte des Prosomas) erscheint vollkommen schwarz.
Die Beine sind kräftig und dick sowie gräulich olivbraun gefärbt. Sie sind außerdem gefleckt oder geringelt und behaart. Dies trifft besonders auf die Femora (Schienen) zu, die ventral und lateral gelb-ockerfarben gefärbt sind. Dorsal (oben) sind die Beine mit Stacheln versehen. Die Trochanter (Schenkelringe) sind auf der Ventralseite (Unterseite) schwarz gefärbt, obgleich die Trochanter auch gänzlich schwarz gefärbt sein können. Ebenso können sie auf der Ventralseite einen gelben Farbton aufweisen. Wie bei den Cheliceren verfügen die basalen Abschnitte der Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) über eine gelbe oder orangebraune Färbung.
Das Opisthosoma (Hinterleib) weist eine dunkel olivbraune Grundfärbung auf. Es verfügt in der Mitte über einen lanzettenförmigen Fleck, der kräftig schwarz ist. Dieser wird von runden oder sternenförmigen weißen Punkten flankiert. Diesen folgen sechs Paare kleiner weißer Flecken und Winkelflecken. Auch die Flanken des Opisthosomas sind mit kleinen weißen Punkten versehen. Die Ventralseite des Opisthosomas ist wie das Sternum bei den ausgewachsenen Spinnen schwarz und bei Jungtieren gelb gefärbt. Die auffälligen und kontrastreichen Färbungen an den Beinen, dem Sternum und der Ventralseite des Opisthosomas dienen der Drohgebärde, die die Spinne im Falle einer Begegnung mit einem möglichen Prädatoren (Fressfeind) einnimmt.
Genitalmorphologische Merkmale
Die Bulbi (männliche Geschlechtsorgane) verfügen, wie für die Gattung üblich, über je eine teguläre (rückseitige) Apophyse (chitinisierter Fortsatz), die sich in Richtung ihres Endes verengt und klingenartig geformt ist. An ihrem Ende bildet sie jedoch keine Spitze, sondern erscheint wie abgeschnitten. Das Tegulum (mittleres Sklerit, bzw. Hartteil eines Bulbus) weist chitinisierte und rippenartige Erhebungen auf. An der Endapophyse des fingerförmigen Leiters hat gelegentlich die Spitze einen kleinen und scharfen Fortsatz. Die Cymbiii (letzte Sklerite der Bulbi) und die Tibien der Pedipalpen sind reichlich behaart.
Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) ist ebenfalls fast vollständig von einer dichten Behaarung bedeckt. Sie besteht aus einer Chitinplatte, die breiter als hoch ist und eine rote Farbe hat. Die Epigenyngrube ist vollständig von einer eiförmig-konvexen chitinösen Formation bedeckt. Unterteilt wird sie durch ein spiegelverkehrt erscheinendes T-förmiges Septum (Trennwand) mit einem kurzen und breiten Stiel. Der transversale (quer verlaufende) basale (die Basis bildende) Teil ist breit und groß, während der apikale (an der Spitze gelegene) einen chitinisierten Rand besitzt. Die Spermatheken (Samentaschen) sind klein und rundlich. Basal besitzen sie ei- und divertikelförmige Gebilde.
Ähnliche Arten
Verwechslungen der Südrussischen Tarantel mit anderen Spinnen sind aufgrund der beachtlichen Größe vergleichsweise unwahrscheinlich. Eine sehr ähnliche Art ist die gleichfalls zu den Wolfspinnen (Lycosidae) gehörende Geolycosa vultuosa, deren Verbreitungsgebiet von Südosteuropa bis nach Zentralasien reicht und sich somit mit dem der Südrussischen Tarantel großflächig überschneidet. Beide Arten kennzeichnet eine ähnliche Lebensweise und im Falle einer Bedrohung weisen sie markante Drohgebärden auf. Von der Südrussischen Tarantel lässt sich G. vultuosa, abgesehen von der geringeren Körpergröße, die hier höchstens 24 Millimeter beim Weibchen beträgt, durch die ventral gelb-orange gefärbten Patellae und die ventral-proximal (proximal = zur Körpermitte gelegen) sowie distal schwarz gefärbten Tibien unterscheiden. Beide Arten bevorzugen flache Lebensräume, wobei G. vultuosa zusätzlich auch Wiesen im Hügelland, kleinere Erhebungen und darüber hinaus größere Städte bewohnt. Zusätzlich benötigt G. vultuosa eine geringfügig höhere Luftfeuchtigkeit und neigt im Gegensatz zur Südrussischen Tarantel eher dazu, Kolonien zu bilden.
Es kann außerdem zu Verwechslungen mit anderen Arten der Gattung Lycosa, beispielsweise der im Mittelmeerraum verbreiteten Apulischen Tarantel (L. tarantula) kommen. Von dieser lässt sich die Südrussische Tarantel abgesehen von ihrer geringer ausfallenden Endgröße (max. 30 Millimetern beim Weibchen der Art) und den genitalmorphologischen Merkmalen auch sicher durch ihre Färbung unterscheiden. Die Grundfärbung der Apulischen Tarantel fällt beim Weibchen eher gelblich oder orange und beim Männchen weißgrau aus. Der Carapax der Apulischen Tarantel trägt ein helleres Längsband im Zentrum und an den Flanken je ein weiteres pro Seite. Diese werden wiederum von je einem weiteren dunklen Band auf der Innenseite flankiert. Auf dem Opisthosoma der Apulischen Tarantel ist dorsal ein Längsfleck vorhanden, der auf beiden Seiten in zwei Zacken übergeht, an denen dunkle Winkelflecken münden. Auch die Apulische Tarantel verfügt über Warnfarben, die bei Gefahr präsentiert werden. Bei dieser Art bestehen diese u. a. aus einem schwarzen Querband und der darum herum verlaufenden orangen Färbung. Für den gleichen Zweck sind die Beine der Apulischen Tarantel ventral schwarz-weiß geringelt, dorsal jedoch ziemlich einheitlich grau gefärbt.
Ferner besteht eine Verwechslungsmöglichkeit mit der ebenfalls im Mittelmeerraum vertretenen Schwarzbäuchigen Tarantel (Hogna radiata), die bleibt jedoch mit einer maximalen Körperlänge von 25 Millimetern bei weiblichen Tieren meistens deutlich kleiner als die Südrussische Tarantel bleibt. Auch sie zählt zur Familie der Wolfspinnen. Außerdem ist die Schwarzbäuchige Tarantel deutlich kontrastärmer gezeichnet. Ihr Carapax ist dorsal hellbraun gefärbt und weist zwei schwarze Längsbinden auf, die wiederum über helle Radiärstreifen verfügen. Das Opisthosoma trägt einen dunkleren Lanzettenfleck und auch Winkelflecken, die jedoch wesentlich undeutlicher als bei der Südrussischen Tarantel ausgeprägt sind. Für die Drohgebärde ist die Ventralseite der Schwarzbäuchigen Tarantel gänzlich schwarz gefärbt. Von dieser Eigenschaft rührt der Trivialname der Art.
Toxikologie
Die Toxikologie (Giftkunde) befasst sich mit der Zusammensetzung von Giftstoffen. Das Gift der Südrussischen Tarantel enthält 0,659 Milligramm an Proteinen pro Milligramm Spinnengift. Darunter befinden sich hochmolekulare Proteine, deren Molekülmassen hauptsächlich im Bereich von 14 bis 31 Kilodalton verteilt sind. Die breitesten Banden, die etwa 80 % der Proteine des Giftes ausmachen, liegen bei etwa 14 bzw. 20 Kilodalton.
Mithilfe der MALDI-TOF-Analyse konnte die Molmassenverteilung der Proteine zwischen 1 und 10 Kilodalton bestimmt werden. Die so erfassten Peptide lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe enthält Peptide mit einem Molekulargewicht von etwa 2 bis 2,5 Kilodalton, also etwa 20 Aminosäuren. Aus cDNA Analysen geht hervor, dass in diesen Proteinen kein Cystein zu finden ist. Dies gilt auch für die linear gebauten Lycoticine 1 und 2 mit Molekularmassen von 1960,49, bzw. 1988,86 Dalton. Beide Peptide weisen eine ähnliche Sequenz auf, lediglich die zweite Aminosäure unterscheidet sich (Lysin bzw. Arginin). Während der Bereich zwischen 2 und 2,5 Kilodalton überdurchschnittlich viele Proteine aufweist, ist der Gewichtsbereich von 3 bis 5 Kilodalton im Gift der Südrussischen Tarantel kaum vertreten. Jedoch findet sich bei 3149,75 Dalton ein weiteres Lycoticin, das Lycoticin 3. Die zweite identifizierte Gruppe umfasst hauptsächlich Peptide mit Molekülmassen im Bereich von 4,8 bis 5,5 Kilodalton. Sie bestehen demnach aus etwa 50 Aminosäureresten und enthalten vier oder fünf Disulfidbrücken. Die dritte Gruppe besteht aus Peptiden in einem Massenbereich von 7 bis 8 Kilodalton, also mehr als 60 Aminosäureeinheiten und mit mehr als 5 Disulfidbrücken. Das Gift der Südrussischen Tarantel unterscheidet sich von dem vieler anderer Spinnen dadurch, dass dieses vergleichsweise wenig Peptide mit Molekularmassen zwischen drei und fünf Dalton aufweist. Bei den Giften anderer Spinnen bilden Peptide in diesem Massenbereich den Hauptbestandteil ihrer Gifte. Jedoch hat das Lycoticin 3 eine strukturelle Verwandtschaft zum Lycotoxin II der Lycosa carolinensis.
Aus Analysen von cDNA-Bibliotheken aus den Giftdrüsen der Südrussischen Tarantel geht hervor, dass das Gift mehr als 200 toxinähnliche Peptid- bzw. Aminosäuresequenzen verfügt.
Pharmakologische Charakterisierung des Gifts
Die Pharmakologie befasst sich mit der Wechselwirkung zwischen Stoffen und Lebewesen. Als man bei Versuchen Labormäusen eine Menge von 200 µg Toxinen pro Milliliter verabreichte, konnte die elektrisch stimulierte Kontraktion der Zwerchfellpräparation des phrenischen (im Zwerchfell gelegenen) Nervs der Mäuse nicht blockiert werden. Bei weiteren Versuchen mit Ratten zeigte das Gift eine geringe Wirkung auf die Zuckungsreaktion von deren Samenleitern. Auch eine an Ratten verabreichte Konzentration von 200 µg pro Milliliter Gift resultierte nur in einer teilweise stattfindenden und 20 Minuten andauernden Hemmung der Zuckungsreaktion der Versuchstiere. Anders verhielt es sich bei Mäusen und Ratten, denen das Gift der Vogelspinnenart Ornithoctonus huwena in der gleichen Konzentration verabreicht wurde. Das Ergebnis hier war, dass die Zuckungsreaktion des Nerven-Zwerchfell-Präparats der Mäuse oder der Samenleiter der Ratten viel schneller blockiert wurden. Die Versuchstiere waren mit denen, denen das Gift der Südrussischen Tarantel verabreicht wurden, identisch. Deutlich aussagekräftigere Resultate erzielten Versuche mit Kröten, denen Gift der Südrussischen Tarantel injiziert wurde. Hier übte das Gift einen großen Einfluss auf die bei den Herzen der Kröten stattfindende Muskelkontraktion, bzw. bei einer Verabreichung von 100 µg Toxinen pro Milliliter des Spinnengifts wurden Rate und Stärke des Herzschlags der Kröten stark erhöht. Deshalb wird vermutet, dass das Gift der Südrussischen Tarantel kardiotonisch (den Herzschlag betreffend) wirkende Bestandteile enthält.
Gegenwärtig werden kardiotonische Mittel auf der Grundlage ihrer subzellulären Wirkmechanismen in drei Klassen eingeteilt. Bei diesen handelt es sich um Mittel, die über vorgeschaltete Mechanismen (Calcium-Mobilisatoren) sowie zentrale und nachgeschaltete Mechanismen (Calcium-Sensibilisatoren) Wirkung erzielen. Es wird durch diese Mittel ein positiver inotropen Effekt induziert, indem sie intrazelluläres Calcium sowie die Calcium-Ionenkonzentration erhöhen. Die hämolytische Aktivität (Auflösung von roten Blutkörperchen, bzw. Erythrozyten) des Spinnengiftes konnte unter Verwendung frischer menschlicher Erythrozyten bestätigt werden. Dazu muss die die mittlere effektive Konzentration (EC50) an Peptiden 1,25 Milligramm pro Milliliter Gift betragen.
Seit 2004 ist bekannt, dass das Gift der Südrussischen Tarantel antimikrobielle (gegen bakterielle Erreger wirkende) Peptide, die sogenannten Lycocitine 1, 2 und 3 enthält, die demzufolge Wachstum von grampositiven und gramnegativen Bakterien sowie Pilzen in mikromolaren Konzentrationen hemmen können. 2009 wurde außerdem bei Versuchen, die sich diesem Thema widmeten, festgestellt, dass von diesen Peptiden die Zellstämme beeinflusst werden, dafür am anfälligsten sind. Davon betroffen sind besonders Bacillus subtilis (Heubazillus) und verschiedene Staphylokokken (Staphylococcus), bei denen das Wachstum bei einer Zugabe von drei Milligram an Peptiden pro verabreichten Milliliter Gift stark gehemmt wurde. Zusätzlich wirkte das Gift effektiv gegen Corynebacterium glutamicum und Micrococcus luteus, allerdings schwach gegen den Hefepilz Candida albicans. Im Gegensatz dazu hat das Gift schon bei einer hohen Konzentration von 12 Milligramm an Peptiden je verabreichten Milliliter Gift keine nachweisbare Wirkung auf die Bakterien Escherichia coli (Kolibakterium) und die Backhefe (Saccaromyces cerevisae).
In der Vergangenheit wurden viele antimikrobielle Peptide aus Spinnengiften identifiziert, darunter Lykotoxine I und II aus dem der Art Hogna carolinensis, die wie die Südrussische Tarantel ebenfalls zur Familie der Wolfspinnen zählt. Bei beiden Toxinen handelt es sich um lineare antimikrobielle Peptide, die eine für porenbildende Peptide typische amphipathische α-Helix-Struktur besitzen. Ihr Porenbildungsmechanismus wurde weiter durch ihren fördernden Ausfluss von Calcium-Ionen aus Synaptosomen (isolierte Strukturen vom Neuronen, bzw. Nervenzellen) bestätigt. Eine gleiche Wirkung erzielen die Cupiennine aus dem Gift der zu den Fischerspinnen (Trechaleidae) zählenden Großen Wanderspinne (Cupiennus salei) und die im Gift der zur Familie der Luchsspinnen (Oxyopidae) zählenden Art Oxyopes kitabensis enthaltenen Oxyopinine. Sieben neue kurze lineare antimikrobielle und zytolytisch wirkende (zellauflösende) Peptide, sogenannte Latarcine wurden aus dem Gift der Spinnenart Lachesana tarabaevi, die zur Familie der Ameisenjäger (Zodariidae) gezählt wird, entdeckt. Fünf neue Peptide, die eine große strukturelle Ähnlichkeit mit den analysierten Latarcinen aufweisen, konnten überdies mithilfe von Expressed Sequence Tags (kurze DNA-Sequenzen) für die Giftdrüse der Art vorhergesagt werden.
Diese Peptide aus Spinnengiften zählen zu den linearen, kationischen (die positiv geladenen Kationen enthaltenden), α-helikalen und antimikrobiellen Peptiden. Gemeinsamkeiten dieser antimikrobiellen Peptide sind die Hemmung des mikrobiellen Wachstums bei niedrigen mikromolaren Konzentrationen und die Bildung einer amphipathischen (sowohl wasserliebende genauso wie lipophile, d. h. in Ölen und Fetten lösliche) und kationische helikale (spiralförmige) Bildung in hydrophoben bzw. wasserabweisenden Umgebungen. Mittlerweile wurde eine große Anzahl von antimikrobiellen Peptiden, einschließlich linearer kationischer α-helikaler antimikrobieller Peptide, sowohl bei Tieren als auch bei Pflanzen entdeckt. Diese meistens aus 12 bis 45 Aminosäuren bestehenden Peptiden nehmen eine wichtige Rolle im angeborenen Immunsystem der meisten lebenden Organismen ein. Der Großteil von ihnen kann Mikroorganismen mit den folgenden vier Merkmalen abtöten:
Selektive Toxizität
Schnelles Abtöten
Breite antimikrobielle Spektren
Keine Resistenzentwicklung
Aufbau der Giftdrüsen
Der allgemeine Aufbau der Giftdrüsen der Südrussischen Tarantel entspricht denen anderer Spinnen. Die beiden paarweise angelegten Drüsen befindet sich im in dorsaler Lage vorderen Teil des Prosomas und sind durch schlauchartige Kanäle mit den Cheliceren verbunden. Dabei verfügt jede der beiden Drüsen über einen Kanal. Die Giftdrüsen weisen ähnliche Größen auf und haben eine langgestreckte sowie sackförmige Gestalt. Ihre Länge beträgt etwa vier Millimeter, womit sie sich vom Zentralbereich des Prosomas bis zum basalen Bereich der Cheliceren erstrecken. Der distale Teil einer einzelnen Giftdrüse ist breiter als der proximale und in der Mitte befindet sich ein großes Lumen (Hohlraum). Die Giftdrüsen sind von einer dicken Muskelschicht umgeben, deren Bündel unregelmäßig angelegt und deutlich erkennbar sind. Diese Muskelbündel bedecken in spiral verlaufender Formation die Drüsen und enden im ersten Teil der Giftgänge. Durch sie wird die Entladung von Gift und somit auch die Nutzung der Cheliceren seitens der Spinne möglich.
Vorkommen
Das Verbreitungsgebiet der Südrussischen Tarantel erstreckt sich größtenteils über die Eurasische Steppe. Es beginnt demzufolge im Westen Mitteleuropas, wo die Art in Österreich, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, und Slowenien nachgewiesen wurde. In Osteuropa kommt die Spinne nachweislich in der Ukraine, in Belarus und in dem zentralen, dem südlichen und dem östlichen europäischen Teil Russlands vor. In Südosteuropa konnten Funde der Südrussischen Tarantel bisher in den Staaten Bosnien und Herzegowina, Serbien, Bulgarien, Rumänien und in der Republik Moldau verzeichnet werden.
Dem Verlauf der Steppe folgend kommt die Südrussische Tarantel auch im asiatischen Teil der Türkei und in Kaukasien vor, wobei aus Armenien keine Nachweise vorliegen. Auch in den Teilen Zentralasiens, dem Iran und Chinas, durch die die Eurasische Steppe verläuft, ist die Art präsent. Ihr Vorkommen endet östlich in Korea.
Lebensräume
Die Südrussische Tarantel bewohnt als Steppenart schwach bewachsene, sandige Gebiete mit wenig Vegetation und bevorzugt dabei solche mit salzhaltigen Böden. Darüber hinaus existieren Sichtungen der Art aus Agrarflächen.
Von der Südrussischen Tarantel werden Wälder hingegen gänzlich gemieden. Gleiches trifft auf ansonsten geeignete Flächen mit einem zu großen Schottergehalt im Bodengrund zu. Flächen, deren Salzgehalt abnimmt oder wo ein starke Zunahme der Vegetation zu vermerken ist, weisen eine geringere Besiedlung auf.
Ausbreitung in Mitteleuropa
Der erste Nachweis der Südrussischen Tarantel in Mitteleuropa erfolgte im Jahr 1888. Seitdem verbreitete sich die Art bis in die 1940er Jahre in Richtung Nordwesten, insbesondere in den Flussregionen. Seither trat jedoch ein bis heute anhaltender erheblicher Rückgang der Art in diesen Gebieten ein. So waren etwa im Gebiet der einstigen Tschechoslowakei 1992 nur noch zwei Fundstellen belegt. Allerdings hat sich zumindest im heutigen Tschechien die Gesamtsituation verbessert. Als Ursache für den Rückgang der Art in Mitteleuropa werden Begradigungen von Flüssen und das Schwinden von geeigneten Biotopen an den Ufern in Betracht gezogen.
Vorkommen in Österreich und Schutzmaßnahmen
Die Südrussische Tarantel kommt im Seewinkel im österreichischen Burgenland vor, wobei das Gebiet auch ihre belegte westliche Verbreitungsgrenze ist. Berichten zufolge wurde die Art allerdings auch weiter westlich im niederösterreichischen Marchfeld, in Bad Vöslau und im Tullnerfeld gefunden. Ihr Vorkommen soll angeblich bis nach Krems an der Donau reichen. In Wien gibt es Funde von wärmeren Standorten auf der Simmeringer Haide und am Laaer Berg.
Das Vorkommen der Art am Seewinkel wird durch zwei unterschiedliche Habitate bestimmt. Diese befinden sich einerseits an den Ufern der in diesen Gebieten befindlichen Salzlacken, die einen großen Salzgehalt aufweisen. Zusätzlich kommt die Art auf beweideten Trockenrasen vor. Aufgrund ihrer Bedeutung und der Aufmerksamkeit, die sie auf die Spinnenfauna lenkt, wird sie als Flaggschiff-Art im Seewinkel betrachtet.
Der Hauptverbreitungsschwerpunkt im Seewinkel liegt am Geiselteller, am Zicksee und am Kirchsee. Diese bei der Marktgemeinde Illmitz gelegenen Biotope gehören zur Kulturlandschaft Fertő/Neusiedler See und zeichnen sich durch eine Vielzahl an Trocken-, Steppen- und Salzflächen aus. Bedingt durch die eher geringen Eingriffe in diese Lebensräume durch Menschenhand und durch den gegebenen Schutzstatus ist die Fundrate der Südrussischen Tarantel dort hoch.
Ein weiterer Verbreitungsschwerpunkt ist nahe der Legerilacke nördlich von Podersdorf am See, der das dichteste Vorkommen aufweist. Dieses verteilt sich auf drei Kolonien, die weiter entfernt von den übrigen Vorkommen der Südrussischen Tarantel im Seewinkel liegen. Die dort von der Spinne bewohnten Gebiete, die aus mit Soden bewachsenen Flächen bestehen, sind aber von dichten Beständen von Schilfrohr und Arten der Straußgräser umgeben. Das Befahren mit Schilfschneidemaschinen und der fehlende Schutzstatus allgemein sind Probleme für die Bestände der Südrussischen Tarantel an diesem Standort.
Der dritte Verbreitungsschwerpunkt befindet sich im Zentrum des Seewinkels, umgeben von der Birnbaumlacke, der Ochsenbrunnlacke und der Großen Neubruchlacke. Die Birnbaumlacke und die Ochsenbrunnlacke waren einst die Salzlacken im Seewinkel mit dem höchsten Salzgehalt. Gerade in der Birnbaumlacke lässt sich aber, bedingt durch einen in den 1970er-Jahren errichteten Damm im Gewässer, eine Minderung des Salzgehaltes an dessen Ufern feststellen. Die Grundwassersituation im Zentrum des Seewinkels begünstigt allgemein eine Entsalzung der dortigen Salzlacken. Die Große Neubruchlacke ist die einzige dort befindliche Salzlacke, die noch einen hohen Salzgehalt aufweist. Die wachsenden Flächen an Schilfrohr und Straußgräsern, zusätzlich zu den bereits sehr hohen Beständen des Neusiedlersee-Salzschwaden (Puccinellia peisonis), führen zu schwindenden Beständen verschiedener Laufkäfer und anderer Gliederfüßer, einschließlich der Südrussischen Tarantel. Diese Zusammenhänge weisen darauf hin, dass wie bei anderen Salzlacken des Seewinkels hier die Salzkonzentration im Wasser der Großen Neubruchlacke abnimmt. Die bereits kleinen Bestände der Südrussischen Tarantel bei den östlichen Salzlacken mindern sich weiterhin und ein endgültiges Verschwinden der Art in diesem Gebiet ist nicht auszuschließen. Das Vorkommen der Südrussischen Tarantel ist hier nur durch die landwirtschaftliche Bewirtschaftung dieser Habitate durch Menschenhand gesichert. An der Birnbaumlacke und Ochsenbrunnlacke werden die Uferwiesen im Frühjahr gemäht, während an der Großen Neubruchlacke eine Beweidung stattfindet.
Einstige Funde am Albersee, südwestlich der Birnbaumlacke, am Oberen Stinkersee und am Xixsee ließen sich im Nachhinein nicht bestätigen. Dies kann daran liegen, dass an diesen Gewässern mittlerweile keine für die Art geeigneten Habitate durch menschliche Einwirkung zurückgingen. Außerdem sind einige der Salzlacken mittlerweile gänzlich verschwunden und mit ihnen vermutlich Populationen der Südrussischen Tarantel. Genaue Analysen zur Etablierung der Art im Seewinkel sind allerdings schon mangels Kenntnissen über das Ausbreitungsverhalten der Südrussischen Tarantel nicht möglich. Außerdem wurden oft aus anderen Gebieten eingewanderte Individuen und Jungtiere gesichtet. Ein Näherrücken in den Uferbereich der Salzlacken ist ebenfalls ungünstig, da dort durch Wasserübertritt die Unterschlüpfe der Spinnen überflutet werden können.
Als Schutzmaßnahme der Art im Seewinkel wird neben der Erweiterung von Schutzzonen in geeigneten Habitaten eine Beweidung und das Zurückdrängen von massenhaften Beständen des Schilfrohrs und der Straußgräser empfohlen.
Lebensweise
Die Lebensweise der Südrussischen Tarantel entspricht der anderer Arten der Gattung Lycosa und ähnelt somit der der nah verwandten Apulischen Tarantel (L. tarantula). Wie diese gräbt die Südrussische Tarantel Wohnröhren, die als Aufenthaltsort der nachtaktiven Spinne am Tag dienen und in dieser Zeit selten verlassen werden. Sollte die Spinne am Tag unterwegs sein, was bei den ausgewachsenen Spinnen selten der Fall ist, zieht sie sich schon bei leichten Erschütterungen wieder in ihren Unterschlupf zurück. Im Frühjahr ist die Art aber vermehrt tagsüber am Ausgang der Röhrenmündung vorfindbar, wo sie sich dann sonnt. In der Nacht verlässt sie die Wohnröhre und begibt sich auf die Suche nach Beutetieren. Jungtiere halten sich tagsüber häufiger außerhalb ihrer Unterschlüpfe auf.
Die Südrussische Tarantel ist wie einige andere Wolfspinnen dank ihrer dichten Haarpolster, die der Spinne hydrophobe (wasserabweisende) Eigenschaften verleihen, in der Lage zu schwimmen. Sie kann damit auch problemlos größere Flüsse überqueren. Es wurde festgestellt, dass die Art bis zu einer Woche auf der Wasseroberfläche verweilen kann. Ebenso ist es der Südrussischen Tarantel möglich, selbst dann für längere Zeit in ihrer Wohnröhre zu verweilen, wenn diese überschwemmt wird.
Röhrenbau
Die selbstgegrabene und mit einem Gespinst ausgekleidete Wohnröhre der Südrussischen Tarantel kann eine Tiefe von bis zu maximal 60 Zentimetern aufweisen. Bedingt durch verschiedene Hindernisse im Bodengrund wie Steine und Wurzeln kann die Röhre einen gekrümmten Verlauf aufweisen. Im Bereich der Öffnung beträgt der Durchmesser maximal 3,5 Zentimeter. Die Mündung ist kragenförmig ausgelegt, stark mit Spinnseide verwoben und mit Gräsern und Erdklumpen versehen.
Der Aufbau ist sowohl vom Stadium der Spinne als auch von der Jahreszeit abhängig. Bereits die Jungtiere graben Wohnröhren, die aufgrund der geringeren Größe der Tiere flacher ausfallen und einen geringeren Durchmesser (anfangs von 8 bis 12 Millimetern) aufweisen. Im Herbst bauen die jungen ausgewachsenen Spinnen eine Wohnröhre mit einem Durchmesser von zwei und einer Tiefe von rund 15 Zentimetern. Vor der Überwinterung wird die Mündung mit Erde vollständig verschlossen. Außerdem wird die Röhre in dieser Zeit vertieft. Im darauf folgenden Frühjahr wird die Erdröhre wieder freigelegt und teilweise erneuert. Bei Kälteperioden wird sie aber ebenfalls wieder verschlossen, obgleich dann der obere Teil anders als bei der für die Überwinterung durchgeführten Verschließung freibleibt. Der Durchmesser der Röhre beträgt in dieser Zeit 1,5 bis 3,5 Zentimeter. Trächtige Weibchen verschließen die Mündung kurz vor dem Kokonbau erneut, was in diesem Fall mit einem kuppelartigen Gebilde aus Spinnseide, Erdpartikeln und Pflanzenmaterial geschieht. Nach der Kokonherstellung wird sie wieder geöffnet.
Jagdverhalten und Beutespektrum
Die Südrussische Tarantel jagt entsprechend ihrer Aktivitätszeit nachts, bevorzugt aber in der Dämmerung. Wie der Großteil der Wolfspinnen jagt auch diese Art ohne ein Spinnennetz, sondern freilaufend als Lauerjäger. Nach dem Verlassen des Unterschlupfes sucht die Spinne Stellen auf, die sich für die Lauer auf Beutetiere eignen. Diese werden wie bei Wolfspinnen üblich mithilfe der gut entwickelten Augen wahrgenommen und, sobald diese in Reichweite gelangen, direkt angesprungen, was aus wenigen Zentimetern Abstand geschehen kann. Ein mittels der Cheliceren versetzter Giftbiss macht das Beutetier flucht- und wehrunfähig.
Das Beutespektrum der Südrussischen Taranteln setzt sich überwiegend aus anderen Gliederfüßern zusammen, darunter viele Käferarten, die ebenfalls in Steppen leben. Auch größere, wehrhafte Vertreter dieser Ordnung, etwa verschiedene Blatthornkäfer (Scarabaeidae) oder Sandlaufkäfer (Cicindelinae) fallen der Spinne regelmäßig zum Opfer. Außerdem zählen Heuschrecken zu den häufigeren Beutetieren der Art. Ferner ist es der Art aufgrund ihrer für Spinnen großen Dimension möglich, kleinere Wirbeltiere zu erbeuten. So wurde schon der Fang von Jungtieren der Zauneidechse (Lacerta agilis) dokumentiert.
Reste von verspeisten Beutetieren, vorzugsweise die Exoskelette der von der Spinne ausgesogenen Gliederfüßer, sind oftmals an der Röhrenmündung zu finden und deuten auf eine von einem Individuum der Südrussischen Tarantel genutzten Wohnröhre hin.
Lebenszyklus und Phänologie
Der Lebenszyklus gliedert sich wie bei anderen Spinnen in mehrere Abschnitte, deren Auftreten von den Jahreszeiten bestimmt wird. Gleiches trifft auf die Aktivitätszeit der jeweiligen Stadien zu.
Balz und Paarung
Die Paarungszeit der Art liegt in den Monaten September und Oktober. Zu dieser Zeit sind oftmals auch tagsüber freilaufende Männchen auffindbar, die die Unterschlüpfe von Weibchen aufsuchen. Das Finden eines Weibchens wird für ein Männchen vermutlich über arteigene Pheromone (Botenstoffe) ermöglicht, die von paarungswilligen Weibchen ausgesondert und von geschlechtsreifen Männchen wahrgenommen werden können. Hat ein Männchen den Unterschlupf eines Weibchen ausfindig machen können, beginnt es wie bei Wolfspinnen üblich einen Balztanz, während das Weibchen in seiner Wohnröhre reglos verharrt. Das Balzverhalten kann eine beliebige Dauer aufweisen.
Erwidert das Weibchen die Paarungsbereitschaft des Männchens, kommt es zur eigentlichen Paarung, die in der Wohnröhre des Weibchens stattfindet und die in der für die Überfamilie der Lycosoidea typischen Stellung geschieht. Das Männchen steigt frontal auf das Weibchen, sodass sich beide Geschlechtspartner übereinander befinden. Mit dem zweiten und dritten Beinpaar ergreift das Männchen den Carapax des Weibchens und die eigentliche Paarung beginnt, bei der das Männchen für die Spermienübertragung abwechselnd seine Bulbi in die Epigyne des Weibchens einführt. Die Paarung kann ein bis zwei Stunden andauern, ehe sich beide Partner voneinander trennen.
Kokonherstellung und Eiablage
Während das Männchen kurz nach der Paarung im Zeitraum zwischen November und Dezember stirbt, überwintert das nun befruchtete Weibchen, das die Spermien des Männchens in seinen Spermatheken gespeichert hat. Dazu verschließt es die nachträglich vertiefte Wohnröhre vollends und zieht sich auf deren Grund zurück. Ab März oder April wird die Röhre vom Weibchen wieder geöffnet und erneuert. Ab Mai beginnt es mit der Herstellung des Eikokons, was ebenfalls in der Wohnröhre geschieht und wozu diese erneut, dieses Mal mit der charakteristischen Röhrenkuppel verschlossen wird.
Der Kokon besitzt anfangs eine blaue Färbung, die allmählich in einen weißlichen Farbton übergeht. Überdies hat der Eikokon einen Durchmesser von 8 bis 12 Millimetern, ein Gewicht von etwa sechs Gramm und er enthält insgesamt etwa 300 Eier. Nach der vollendeten Herstellung des Kokons wird die Wohnröhre wieder geöffnet. Der Eikokon wird anschließend nach Charakterart der Wolfspinnen vom Weibchen an den Spinnwarzen angeheftet mit sich geführt. Er wird zumeist in der Röhre aufbewahrt und an sonnigen Tagen der Sonne entgegengehalten. Findet die Entwicklung der Jungspinnen nicht statt, verzehrt das Weibchen seinen Eikokon. Verliert es diesen, versucht das Weibchen den Kokon wiederzufinden. Dabei nimmt die Spinne genauso fremde Eikokons oder sogar Objekte an, die einem Kokon ähneln. Ein Weibchen kann nacheinander bis zu zwei Kokons herstellen.
Inkubation und Schlupf
Im Zeitraum zwischen Juni und Juli (bei günstigen Witterungsverhältnissen schon im Mai) und somit einer Dauer von 30 bis 70 Tagen nach der Kokonherstellung schlüpfen die etwa 100 Jungtiere und klettern ebenfalls nach Art der Wolfspinnen auf das Opisthosoma der Mutter, von der sie sich dann tragen lassen. Dabei bilden die Jungtiere zwei übereinander liegende Schichten. Dort verbleiben sie, bis alle Nährmittel des einstigen Eikokons aufgebraucht sind und sie die erste Häutung vollzogen haben. Dies dauert bis zu vier Tage und das Muttertier nimmt in dieser Zeit keine Nahrung zu sich, verteidigt aber vehement seinen Nachwuchs. Zwischen der Trennung der Jungtiere aus dem ersten Kokon und dem Bau des zweiten hingegen widmet sich die Spinne wieder der Nahrungsaufnahme.
Bei dem zweiten Eikokon geschieht der Schlupf dann bereits nach kürzerer Zeit (in Gefangenschaft bereits nach zwei Wochen). Die Schlupfquote betrug ebenfalls unter Laborbedingungen 60. Ebenso konnte bei selbigen Untersuchungen nach der Trennung der Jungtiere von ihrer Mutter der Tod der Mutter dokumentiert werden.
Heranwachsen der Jungtiere
Nachdem sich die Jungtiere von ihrer Mutter getrennt haben, beginnen sie nach einiger Zeit eigene Wohnröhren anzulegen. Im Gegensatz zu den adulten Tieren sind heranwachsende Individuen der Südrussischen Taranteln aber noch weniger standorttreu und besiedeln in der Zeitspanne zwischen Juli und September über weite Streifzüge neue Lebensräume und legen immer wieder neue Röhren an. Insgesamt sind die Wohnröhren von Jungtieren oftmals in hoher Individuendichte vorfindbar. Dabei sind die Abstände der Röhren zueinander eher gering.
Die Jungtiere wachsen wie bei Gliederfüßern üblich über mehrere Häutungen heran und durchleben mehrere Fresshäute (Häutungsstadien von Spinnen). Während dieser Phase können auch beschädigte oder verloren gegangene Gliedmaßen regeneriert werden. Vor einer Häutung stellt die Spinne die Nahrungsaufnahme ein. Die Häutung dauert ein bis zwei Tage, das neue Exoskelett benötigt dann zumeist fast 30 Minuten (maximal eine Stunde) um auszuhärten. Zwei Tage nach einer abgeschlossenen Häutung widmet sich die Spinne wieder dem Beuteerwerb. Zusätzlich zu den Resten von Beutetieren, die bereits von der Spinne verzehrt wurden, können die nach einer Häutung abgestreiften Exoskelette der Spinne ein Indiz für eine bewohnte Röhre der Südrussischen Tarantel sein.
Erlangen der Geschlechtsreife und Lebenserwartung
Die Jungtiere durchleben im Zeitraum zwischen September und Oktober die letzte Häutung, die sog. Reifehäutung, nach der dann die Geschlechtsreife eintritt. Dies geschieht zeitgleich mit dem Beginn der Paarungszeit und der Lebenszyklus wiederholt sich. Das Weibchen erreicht eine Lebensdauer von zwei Jahren, das Männchen lediglich eine einjährige.
Systematik
Die Systematik befasst sich im Bereich der Biologie sowohl mit der taxonomischen (systematischen) Einteilung als auch mit der Bestimmung und mit der Nomenklatur (Disziplin der wissenschaftlichen Benennung) von Lebewesen einschließlich der Südrussischen Tarantel.
Der Artname singoriensis ist eine Abwandlung des lateinischen Nomens Singoria, das gleichbedeutend mit der Dsungarei ist, in der die Südrussische Tarantel zahlreich vorkommt.
Beschreibungsgeschichte
Die Südrussische Tarantel wurde 1770 im Jahre ihrer Erstbeschreibung vom Autor Erich G. Laxmann wie damals für Spinnen üblich in die Gattung Aranea eingeordnet und erhielt die Bezeichnung A. singoriensis. Danach erhielt sie von verschiedenen Autoren vermehrt taxonomische Umbenennungen und -stellungen. Bereits unter Feliks Paweł Jarocki wurde die Art 1825 unter der Bezeichnung L. ucrainensis in die Gattung Lycosa eingeordnet. Ludwig Koch erwähnte die Südrussische Tarantel 1897 erstmals unter der heute noch gültigen Bezeichnung L. singoriensis, die seit 1956 als gängigste Bezeichnung für die Art angewandt wird und noch heute als gültige zählt.
Umstrittene Gattungszugehörigkeit
Die Südrussische Tarantel wurde vermehrt neben der Gattung Lycosa der Gattung Allohogna unter der heute als Synonym betrachteten Bezeichnung Allohogna singoriensis untergeordnet. Auch heute ist die genaue Zugehörigkeit umstritten, zumal der taxonomische Status beider Gattungen ebenfalls unklar ist. Seit 1971 gilt die Gattung Allohogna als Synonym der Gattung Lycosa. Diese Synonymisierung wird allerdings mehrfach angezweifelt. Neben der Südrussischen Tarantel wurde früher die Art Lycosa shansia, die alle unten aufgelisteten Gemeinsamkeiten mit der Südrussischen Tarantel teilt, als der Gattung Allohogna zugehörig erklärt.
Der Carapax der Südrussischen Tarantel und anderer der Gattung Allohogna als unterstellt betrachteten Arten weist im Gegensatz zu den anderen Lycosa-Arten einen deutlicher gekennzeichneten Abstieg im Brustbereich auf. An den Tarsen finden sich hier außerdem keine spinulenförmigen Setae, sondern lediglich eine dichte Scopula (Beinbehaarung). Die untere Augenreihe ist außerdem bei den restlichen Lycosa-Arten leicht lateral nach oben gekurvt, bei der Südrussischen Tarantel jedoch graduell ausgeprägt. Der Abstand der oberen und unteren Mittelaugen beträgt im Verhältnis zueinander 1,5 bis 1,7, bei den anderen Lycosa-Arten 2,5 bis 2,9. Der Abstand der unteren Mittelaugen zum Clypeus beträgt im Verhältnis zueinander bei der Südrussischen Tarnatel 1,3 bis 1,6, bei den weiteren Vertretern der Gattung Lycosa hingegen eins bis 1,2.
Wesentliche Unterscheidungsmerkmale liegen auch in den genitalmorphologischen Merkmalen. Die Bulbi der Südrussischen Tarantel werden durch die Form der medianen Abophyse, die einer verlängerten Klinge ähnelt, und den daran befindlichen Vorsprüngen (ähnlich wie bei den Scheintaranteln (Alopecosa)) charakterisiert. Außerdem ist der Ursprung der Emboli bei den beiden Arten lateral-apikal gelegen. Die Emboli verfügen hier über klingenförmige Lamellen. Bei den meisten anderen Arten der Gattung Lycosa sind die Medianabophysen hakenartig nach hinten ausgebildet. Ähnlich wie bei der Südrussischen Tarantel verfügen die Emboli dieser Arten über geschärfte Lamellen, die Emboli entspringen hier aber in gänzlich apikaler Lage.
Den anderen Lycosa-Arten fehlen die Seitentaschen bei der Epigyne. Genauso fehlt ihr die für die anderen Arten typische anterior gelegene Erhöhung in der Epigyne. Das Septum der Südrussischen Tarantel lässt sich durch seine T-förmige Ausrichtung sicher von denen der anderen Arten unterscheiden, die länger als breit und üblicherweise mit den Epigynalgrupen verwachsen sind. Die Spermatheken der anderen Lycosa-Arten verfügen ferner über S-förmige Spermatheken mit sehr langen und dünnen Einfuhrschläuchen.
Südrussische Tarantel und Mensch
Die Südrussische Tarantel hat beim Menschen einen unterschiedlich ausfallenden Ruf. Ihr wird mitunter eine hohe Gefährlichkeit für den Menschen nachgesagt, wie auch anderen als „Tarantel“ bezeichneten Wolfspinnenarten (sowie den ebenfalls fälschlicherweise als „Taranteln“ bezeichneten Vogelspinnen). Obgleich der Biss der Art für den Menschen mit unangenehmen Komplikationen einhergehen kann, ist die Spinne für den Menschen dennoch deutlich ungefährlicher als oftmals angenommen.
In ihrem Verbreitungsgebiet wird die Südrussische Tarantel aber, anders als die Apulische Tarantel (Lycosa tarantula) oder die Schwarzbäuchige Tarantel (Hogna radiata), von der heimischen Bevölkerung kaum gefürchtet. Aus der Ukraine existieren sogar Berichte, dass sich Kinder zum Zeitvertreib mit ihnen beschäftigen.
Bissunfälle und Symptome
Bedingt durch ihre Größe einschließlich der ihrer Cheliceren ist es der Südrussischen Tarantel möglich, den Menschen zu beißen. Dies passiert insbesondere bei Tieren, die in ihren Wohnröhren bedrängt werden. Ansonsten gilt die Art nicht als aggressiv. Bei Bedrohung nimmt die Südrussische Tarantel die für einige Arten der Überfamilie der Lycosoidea und auch vielen Vogelspinnenartigen (Mygalomorphae) typische Drohgebärde ein, bei der sich die Spinne aufrichtet, die vorderen Beinpaare erhebt und die Cheliceren spreizt, wobei dann die Signalfarben auf den Extremitäten, den Cheliceren und auf der Ventralseite des Körpers der Spinne zur Geltung kommen.
Der Biss der Südrussischen Tarantel gilt als schmerzhaft, was auch auf den Einstich selber zutrifft, da dessen Spürbarkeit durch die Zähnung der Cheliceren erhöht wird. Ein weiteres typisches Symptom ist eine starke Schwellung und Rötung der Bisswunde, begleitet von einem Schmerz an selbiger Stelle, der 24 Stunden anhalten kann. Kurz darauf verschlechtert sich laut Berichten das Allgemeinbefinden des Bissopfers, was als Folge einer eintretenden Apathie (mangelnde Erregbarkeit) und Schlafbedürfnis sowie dem Gefühl einer Ankylose (vollständige Gelenksteife) gesehen wird. Ein Bissopfer berichtete, dass es nach etwa einer Stunde und fünfundvierzig Minuten sein ganzes Körpergewicht verstärkt spürte und sich neben dem Bedürfnis nach Schlaf auch leichte Schmerzen im unteren Bereich des Brustkorbs und vermehrt eine Dyspnoe (erschwerte Atmung) bemerkbar machte. Selbiger Patient verspürte fünf Stunden nach dem Biss ein Schwinden dieser Empfindungen. Lediglich der lokale Schmerz an der Bisswunde war noch spürbar.
Terraristik
Die Art erscheint gelegentlich als Heimtier in der Terraristik. Für eine Haltung eines oder mehrerer Exemplare der Art (diese sind dann, um Kannibalismus zu verhindern, einzeln zu halten) sollte dann das trockene und warme Klima des natürlichen Verbreitungsgebiets der Art so gut wie möglich simuliert werden. Als geeigneter Bodengrund für die Haltung hat sich trockener Sand, in dem die Spinne Wohnröhren anlegen kann, bewährt. Nachzuchten der Südrussischen Tarantel existieren in Gefangenschaft ebenfalls, was die Haltung vereinfacht und natürliche Bestände nicht bedroht.
Gefährdung und Schutz
Der Gefährdungsgrad variiert je nach Region. Der globale Gefährdungsgrad der Art wird von der IUCN nicht erfasst. Im östlichen Teil des Verbreitungsgebiets bestehen keine Bestandsbedrohungen.
In Tschechien wird die Südrussische Tarantel von der Tschechischen Arachnologischen Gesellschaft in die Gefährdungskategorie „Almost threatened“ (übersetzt „fast gefährdet“) eingestuft. Von der dort dennoch als sehr selten geltenden Art konnten mittlerweile 34 Individuen in 26 verschiedenen Fundgebieten ausgemacht werden. In der benachbarten Slowakei erfasst die IUCN die Südrussische Tarantel in die Kategorie „E“ („Endangered“), was auf größere Gefährdungen der Art in diesem Land hindeutet.
Insbesondere an den westlichen Vorposten ihres Verbreitungsgebietes wird um eine Erhaltung der dort zurückgehenden Bestände der Art gekämpft. In Österreich wird die Südrussische Tarantel in der Rote Liste gefährdeter Arten in die Kategorie 1 („vom Aussterben bedroht“) aufgelistet. Aus diesem Grunde unterliegt sie dort gesetzlichem Schutz.
Siehe auch
Tarantismus
Liste der größten Spinnen Europas
Einzelnachweise
Literatur
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Weblinks
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) bei Global Biodiversity Information Facility
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) bei Fauna Europaea
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) beim Naturhistorischen Museum Wien
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) bei der Czech Arachnological Society
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V.
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) bei araneae - Spiders of Europe
Lycosa singoriensis (Laxmann, 1770) beim Nationalpark Donau-Auen
Zoologie Romania: Lycosa singoriensis sau Tarantula romaneasca (rumänisch) von Isohob Gabriel Alin
Wolfspinnen |
538 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bielefeld | Bielefeld | Bielefeld (ostwestfälisch und plattdeutsch Builefeld, Bielefeld, Beilefeld oder Builefeild) ist eine kreisfreie Großstadt im Regierungsbezirk Detmold im Nordosten Nordrhein-Westfalens. Mit rund 338.000 Einwohnern (Stand 31. Dezember 2022) ist sie die größte Stadt der Region Ostwestfalen-Lippe und deren wirtschaftliches Zentrum. In Nordrhein-Westfalen ist Bielefeld die achtgrößte Stadt. In der Landesplanung ist Bielefeld als Oberzentrum eingestuft. Auf der Liste der Großstädte in Deutschland steht es der Bevölkerung nach an 18. Stelle und der Fläche nach an 11. Stelle.
Die erste Erwähnung lässt sich auf den Anfang des 9. Jahrhunderts datieren, als Stadt wird sie erstmals 1214 bezeichnet. Am Nordende eines Quertals des Teutoburger Waldes gelegen, sollte die Kaufmannsstadt den Handel in der Grafschaft Ravensberg fördern, deren größter Ort sie wurde. Bielefeld war lange Zeit das Zentrum der Leinenindustrie. Heute ist die Stadt vor allem Standort der Nahrungsmittelindustrie, von Handels- und Dienstleistungsunternehmen, der Druck- und Bekleidungsindustrie und des Maschinenbaus. Überregional bekannt sind ihre Universität, die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die Dr. August Oetker KG und die Fußballmannschaft von Arminia Bielefeld.
Geographie
Geographische Lage
Bielefeld liegt auf der Wasserscheide zwischen Weser und Ems. Das Stadtgebiet gehört drei unterschiedlichen Naturräumen an. Der Norden und Nordosten einschließlich des Stadtzentrums sind in die Hügellandschaft der Ravensberger Mulde eingebettet. Unmittelbar südlich schließt sich der Gebirgszug des Teutoburger Waldes an, der Bielefeld von Westnordwest nach Ostsüdost durchzieht. Eine wichtige Verkehrsader war seit jeher der Bielefelder Pass, von dem aus sich der Stadtbezirk Gadderbaum mit Bethel in die Längstäler des Kammgebirges hinein erstreckt. Der Süden gehört zur Münsterländer Bucht, deren Randbereich westlich des Bielefelder Passes das Sandgebiet der Senne bildet, in der neben Teilen des Stadtbezirks Brackwede die Stadtbezirke Senne und Sennestadt liegen.
In der Innenstadt fließt der Lutterbach. In der Literatur wird Bielefeld deshalb auch ab und an als am Lutterbach liegend beschrieben. Dieser Bachlauf wurde im 15. Jahrhundert von der im Stadtteil Quelle entspringenden, Richtung Gütersloh fließenden Lutter abgezweigt. Seit 2004 erfolgt eine sukzessive Freilegung des bislang verrohrten Baches vom Park der Menschenrechte am Gymnasium am Waldhof bis zum Stadtbezirk Heepen. Die nördlichen Stadtteile Bielefelds liegen in einer sanft welligen Landschaft des Ravensberger Hügellandes mit Feldern, Wiesen, Bächen sowie kleinen Flüssen. Hier befindet sich der künstlich angelegte Obersee, der die größte Wasserfläche der Stadt darstellt und zur Regulierung des Johannisbaches angelegt wurde. Der nordöstliche Teil der Stadt entwässert über die Bielefelder Aa in die Weser, während das Wasser aus dem südwestlichen Teil der Ems zufließt. Die Wasserscheide bildet der fast völlig bewaldete Höhenzug des Teutoburger Waldes. Er dient als Naherholungsgebiet für die Bevölkerung der Großstadt. Durch den Teutoburger Wald führen zahlreiche Wanderwege inmitten des Bielefelder Stadtgebiets. Der bekannteste unter ihnen ist der Hermannsweg, der vom Hermannsdenkmal bei Detmold über die Sparrenburg nach Rheine führt. Die südlich des Teutoburger Waldes liegende Senne ist aus eiszeitlichen Sandablagerungen entstanden, von deren Heideflächen nur noch Reste im Stadtgebiet von Bielefeld erhalten sind. Heute wird dieses Gebiet von Äckern, Grünland und kleinen Wäldern, jedoch auch von Trockenrasen, Bruchwäldern und Feuchtwiesen geprägt.
Der höchste Punkt im Stadtgebiet liegt auf der Bergkuppe Auf dem Polle im Stadtteil Lämershagen auf 320 m NHN, der niedrigste im Stadtteil Brake an der Aa an der Grenze zu Herford auf 71 m NHN. Das Rathaus steht auf einer Höhe von 114 m NHN. Bielefeld hat daher – nach dem Höhenprofil geschieden – Anteil an zwei Landschaftsformationen, dem höheren Hügelland des Ravensberger Berglandes im Norden und dem Flachland der Westfälischen Bucht im Süden. Durch das Stadtgebiet führt der 52. nördliche Breitengrad. Er wird am Hermannsweg durch einen Markierungsstein gekennzeichnet.
Bielefeld ist die nördlichste Großstadt in Nordrhein-Westfalen. Die nächstgelegenen Großstädte sind Gütersloh (18 Kilometer südwestlich), Paderborn (40 Kilometer südöstlich), Osnabrück (45 Kilometer nordwestlich), Hamm (60 Kilometer südwestlich), Münster (65 Kilometer westlich), Hannover (100 Kilometer nordöstlich), Hildesheim (100 Kilometer östlich), Siegen (140 Kilometer südlich) und Bremen (200 Kilometer nördlich). Bielefeld liegt in einer Agglomeration, die sich entlang der Bahnstrecke Hamm–Minden und der parallel verlaufenden Autobahn 2 von Gütersloh über Bielefeld und Herford bis Minden erstreckt.
Stadtgliederung
Gemäß der Hauptsatzung der Stadt Bielefeld gliedert sich das Stadtgebiet in zehn Stadtbezirke. Die einzelnen Stadtbezirke werden für statistische Zwecke in 72 Statistischen Bezirke unterteilt, die aus 170 Statistischen Raumeinheiten bzw. über 2.800 Baublöcken bestehen. Alle Einheiten der Gliederung sind durch eine eindeutige Nummerierung identifizierbar. Die Neugliederung der Stadt erfolgte zur besseren Statistikerhebung und aus Datenschutzgründen.
Die politische Vertretung eines jeden Stadtbezirkes besteht je Bezirk aus einer von der Bevölkerung gewählten Bezirksvertretung, die aus bis zu 19 Mitgliedern besteht. Vorsitzender der Bezirksvertretung ist der Bezirksbürgermeister (bis 2010 Bezirksvorsteher).
Informelle Stadtgliederung
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird für Ortsangaben in Bielefeld üblicherweise eine informelle Einteilung in Stadtteile verwendet. Diese Stadtteile entsprechen oftmals den ehemals selbstständigen Gemeinden, die bei den Gebietsreformen von 1930 und 1973 nach Bielefeld eingemeindet wurden.
Ausdehnung und Nutzung des Stadtgebiets
Bielefeld ist als „Kleine Großstadt“ klassifiziert und bedeckt eine Fläche von 258,83 Quadratkilometern. Die größte Ausdehnung des Stadtgebiets beträgt in Nord-Süd-Richtung 22 und in West-Ost-Richtung 19 Kilometer. Für Siedlung und Verkehr werden 43,7 % der Fläche genutzt, Vegetations- und Gewässerfläche nehmen 56,3 % ein, die detaillierte Flächennutzung in Bielefeld ist der folgenden Tabelle zu entnehmen. Der Anteil an der Landwirtschaftsfläche ist um etwa vier Prozentpunkte höher als bei vergleichbaren Städten in NRW. Rund 7,5 % der Stadtfläche sind als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Von den Waldgebieten gehören 2363 ha zum Bielefelder Stadtwald.
Nachbargemeinden
Bielefeld grenzt an folgende Städte und Gemeinden (im Uhrzeigersinn, beginnend im Norden):
Spenge, Enger und Herford (alle Kreis Herford), Bad Salzuflen, Leopoldshöhe und Oerlinghausen (alle Kreis Lippe) sowie Schloß Holte-Stukenbrock, Verl, Gütersloh, Steinhagen, Halle (Westf.) und Werther (Westf.) (alle Kreis Gütersloh).
Geologie
In geologischer Hinsicht ist das Stadtgebiet dreigeteilt in einen südlichen Teil, der in der Westfälischen Bucht liegt, das Gebiet des Teutoburger Waldes und einen nördlichen Teil, der im Ravensberger Hügelland liegt.
Das Hügelland besteht im Wesentlichen aus 1000 bis 2000 Meter mächtigen Schichten von Tonmergel-, Kalk- und Sandsteinen des Erdmittelalters (Trias, Jura und Kreide). Charakteristisch für das Hügelland sind die zahlreichen Sättel, Mulden, Horste und Gräben. Im Teutoburger Wald, auch Osning genannt, wurden diese Gesteine in geomorphologischen Prozessen besonders deutlich herausgehoben und dann wie auch im Ravensberger Hügelland in die bereits genannten zahlreichen Sättel, Mulden, Horste und Gräben zerlegt. Der Osning wird daher auch als Bruchfaltengebirge charakterisiert. Die ehemals ungestört übereinander folgenden Gesteinsschichten sind im Osning daher heute nebeneinander oder gar in überkippter Lagerung anzutreffen. Von diesen Prozessen unbeeinflusst lagern im tieferen Untergrund die Gesteine des Erdaltertums (Devon, Karbon und Zechstein).
Die Oberfläche des gesamten flacheren Stadtgebiets ist durch Lockergesteine des Eiszeitalters (Sand, Kies, Löss, Geschiebemergel) bestimmt. Während allerdings im verglichen mit dem nördlichen Hügelland eher flachen Süden (insbesondere in der Senne) die Sande und Kiese dominieren und nur am Rand des Teutoburger Waldes Löss zu finden ist, gibt es im Ravensberger Hügelland insbesondere in den Tälern eine fast durchgehende Bedeckung mit einer fruchtbaren, etwa 1 Meter mächtigen Lössschicht. Dieser Löss wurde im Quartär angelagert und verwitterte im Laufe der Zeit zu fruchtbaren Parabraunerden. Da sich unter dem Löss wasserundurchlässige Schichten befinden, sind insbesondere die Täler des Hügellandes feucht. Die hier vorherrschenden staunassen Pseudogleyen, die oft in den charakteristischen Sieken zu finden sind, eignen sich vielfach nur als Grünland.
An der Grenze zum Münsterland haben sich aus den Schmelzwassersanden des Eiszeitalters Podsole entwickelt. Wie auch im Ravensberger Hügelland mit seinen Sieken und Plaggeneschen hat die historische Landbautechnik Einfluss auf die Böden im südlichen Stadtgebiet. Durch landwirtschaftliche Nutzung (teilweise auch Plaggenauftrag) haben sich teilweise tiefreichende Humusböden gebildet.
In den Hanglagen des Osnings konnte sich eine tiefgründige Bodenbedeckung nicht halten. Hier dominieren die Festgesteine, die überwiegend eine dünne Humusschicht tragen und nur an wenigen Stellen direkt an die Oberfläche treten. Eine Bedeckung dieser Gesteine ist im Kammbereich nur flachgründig. Im nordöstlichen Kammbereich und in einigen dem Kamm südwestlich vorgelagerten Kuppen, wie dem Käseberg und dem Bokelberg, finden sich vorwiegend flachgründige, steinige, tonig-lehmigen Kalkstein-Verwitterungsböden (Rendzinen). Im Bereich des südwestlichen Kammes finden sich eher flachgründige nährstoffarme, saure und steinige Heideböden (Podsole), die durch Verwitterung der Sandsteine des Erdmittelalters entstanden sind.
Klima
Das Klima in Bielefeld wird durch die Lage im ozeanisch-kontinentalen Übergangsbereich Mitteleuropas und durch seine Lage am Teutoburger Wald bestimmt. Das Gebiet liegt überwiegend im Bereich des subatlantischen Seeklimas mit teils temporären kontinentalen Einflüssen. Die Winter sind unter atlantischem Einfluss meist mild, die Sommer mäßig warm, die Niederschläge relativ gleichmäßig verteilt. Die Jahresmitteltemperatur in der Mitte liegt bei etwa 8,5 °C und im in der Westfälischen Bucht liegenden Süden des Stadtgebiets bei etwa 9 °C. In den Höhenlagen des Osnings ist sie deutlich niedriger und liegt bei etwa 7,5 bis 8 °C.
Die Niederschläge sind maßgeblich durch die Lage am Teutoburger Wald beeinflusst. Insgesamt ist Bielefeld neben den Städten im Bergischen Land und im Siegerland eine der niederschlagsreichsten Großstädte Nordrhein-Westfalens. Die Jahresniederschläge liegen in allen Monaten deutlich über dem Landesschnitt. Die Niederschlagsmengen schwanken jedoch je nach Lage jährlich meist zwischen etwa 800 und 1000 Millimeter. Im Bereich des Stadtzentrums liegt der Jahresniederschlag bei etwa 890 Millimetern. Da die vorherrschenden Winde meist aus Richtung Südwesten wehen und dabei feuchte Luft vom Atlantik mitbringen, kommt es an der Luvseite des Teutoburger Waldes, der die erste Barriere am Rand des Weserberglandes darstellt, zu ausgeprägtem Steigungsregen. Daher erreichen die Jahresniederschläge im und am Südrand des Osning Werte bis deutlich über 1000 Millimeter. Die weiter in der Westfälischen Bucht gelegenen Orte im südlichen Stadtgebiet sind regenärmer. Hier beträgt der Jahresniederschlag nur noch etwa 750 Millimeter. Niedriger sind die Jahresniederschläge mit etwa 800 Millimetern auch in den geschützten Lagen im Aatal im Ravensberger Hügelland und im Lee des Osning.
Geschichte
2017 wurden Reste eines vermutlich 2000 Jahre alten römischen Militärlagers in einem Waldgebiet von Bielefeld-Sennestadt entdeckt.
Außerdem wurde 1988 ein Ringwall entdeckt, der auf eine römische Baustelle um 32/31 v. Chr. schließen lässt.
Bereits zur Mitte des 9. Jahrhunderts wurde der Ort erwähnt, als dem Kloster Corvey ein Mansus in Bylanuelde übertragen wurde. Die erste Erwähnung der Stadt Bielefeld stammt aus dem Jahr 1214. Bielefeld gehörte zu den zahlreichen Stadtgründungen des Hochmittelalters und entstand mit der Absicht, die Herrschaft des Landesherrn zu sichern, da sie an der Südgrenze der Grafschaft Ravensberg lag. Die Landesherren wollten den Ort als Kaufmannsstadt und Hauptstadt der Grafschaft ausbauen.
Aufgrund seiner Lage an der Kreuzung mehrerer alter Handelswege und an einem wichtigen Pass durch den Teutoburger Wald entwickelte sich Bielefeld schnell zum Wirtschafts- und Finanzzentrum der Grafschaft Ravensberg. Um 1240 begann der Bau der Sparrenburg, die nach ihrer Fertigstellung als Wohnsitz des Landesherrn und seines Gefolges diente. Außerdem sollte die Burg die Stadt und den Pass über die Berge des Teutoburger Waldes schützen. Ab 1293 entstand die Neustadt. Bei den Bewohnern, überwiegend Kaufleute und Handwerker, wuchs der Wohlstand, nicht zuletzt durch den Beitritt zur Hanse im 15. Jahrhundert.
Im Vorfeld und im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) wurde die Sparrenburg nacheinander von holländischen, spanischen, schwedischen und französischen Truppen besetzt. In den Jahren 1636 und 1637 wütete die Pest in Bielefeld und forderte rund 350 Opfer. Im 17. Jahrhundert begann die Entwicklung Bielefelds zur „Leinenstadt“, was in der damaligen Zeit vor allem Leinenhandel bedeutete. Die Bauern des Ravensberger Landes bauten auf ihren Ackerflächen anstatt Korn vorzugsweise den staatlich subventionierten Flachs an und verarbeiteten diesen in Heimindustrie zu Leinen. Der Leinenhandel führte zu einem gewissen Wohlstand in der Stadt. Um 1830 geriet das Bielefelder Leinenhandwerk in eine schwere Krise, da in Irland, England und Belgien mit der Produktion maschinell gewebter Stoffe begonnen wurde. Die wirtschaftliche Not vieler Bielefelder führte zu Unruhen während der Revolution von 1848. Darüber hinaus verließen viele Menschen ihre Heimat in Ostwestfalen und wanderten nach Amerika aus.
Um 1860 entwickelte sich die Tabakproduktion im Ravensberger Land. Die Tabakfabrik Gebr. Crüwell in Bielefeld, eine der bedeutendsten ihrer Art in Deutschland, vergab bestimmte Arbeiten in Heimproduktion, so dass die Landbevölkerung neue Verdienstquellen fand. Als 1847 die Anbindung an die Cöln-Mindener Eisenbahn fertiggestellt war, entwickelten sich alsbald Fabriken. Mit der Ravensberger Spinnerei entstand ein Unternehmen, das sich zur größten Flachsspinnerei Europas entwickelte. Schon im Jahr 1870 war Bielefeld das Zentrum der Textilindustrie in Deutschland.
1867 wurden die Von Bodelschwingh’schen Anstalten Bethel im heutigen Stadtteil Gadderbaum gegründet. Neben der Textilindustrie entwickelte sich der Maschinenbau. Heute ist Bielefeld der fünftgrößte Maschinenbaustandort Deutschlands. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Nahrungsmittelindustrie für Bielefeld bedeutsam. Mit dem Oetker-Konzern beherbergt die Stadt einen der europaweit größten Vertreter dieser Branche.
1938 wohnten in Bielefeld rund 900 Bürger jüdischen Glaubens. Die jüdische Gemeinde verfügte über eine prächtige, im Jahr 1905 eingeweihte Synagoge in der Turnerstraße. Sie wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten ausgeraubt und niedergebrannt. Kurz darauf, am 12. November 1938, wurden 406 Männer aus Bielefeld und Ostwestfalen-Lippe nach Buchenwald verschleppt. Im Herbst 1939 wurde den jüdischen Menschen in Bielefeld das Recht auf eigenen Wohnraum genommen, sie wurden in sogenannte Judenhäuser eingewiesen. Im Schlosshof errichtete man ein Zwangsarbeitslager. In der Folgezeit wurden jüdischen Menschen immer mehr Rechte genommen. Am 13. Dezember 1941 folgte dann die erste von insgesamt acht weiteren Deportationen. Für die meisten der Deportierten bedeuteten sie den Tod. Bisher konnten 1604 Menschen jüdischer Herkunft ermittelt werden, die zwischen 1941 und 1945 von Bielefeld aus verschleppt wurden. Die Gesamtzahl der Holocaust-Opfer liegt deutlich höher.
Der schwerste Luftangriff auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg erfolgte am 30. September 1944. Er kostete 649 Menschen das Leben und zerstörte den größten Teil der Altstadt sowie viele historische Bauten. Am 4. April 1945 wurde die „Festung“ Bielefeld durch amerikanische Truppen eingenommen. Vorausgegangen waren zweitägige schwere Kämpfe in den Waldgebieten südlich der Stadt. Dem Mut einiger Bielefelder Bürger ist es zu verdanken, dass bei dem Vormarsch der amerikanischen Truppen weiteres Blutvergießen verhindert wurde. Der Brackweder Bürgermeister Hermann Bitter öffnete am 3. April 1945 den Amerikanern die Panzersperren und wurde daraufhin vom NSDAP-Kreisleiter erschossen. Als die amerikanischen Verbände am 4. April 1945 Richtung Innenstadt vorrückten, fuhr der evangelische Pastor Karl Pawlowski auf seinem Fahrrad die kampfbereiten deutschen Abwehrstellungen entlang und bewog die Soldaten zum Abzug. Daraufhin wurde Bielefeld ohne Gegenwehr eingenommen. Als die ersten amerikanischen Jeeps durch Bielefeld fuhren, wehte schon eine weiße Fahne vom Rathaus. Während des Krieges kamen in Bielefeld mehr als 1300 Menschen durch Bomben ums Leben.
Zerstörte historische Bausubstanz wurde nach dem Krieg durch moderne Bauten ersetzt. Die Industrie wurde binnen weniger Jahre wieder aufgebaut und der Wirtschaftsaufschwung begann. Die Textilindustrie verlor jedoch immer mehr an Bedeutung, während sich die Stadt zu einem Dienstleistungszentrum entwickelte.
Eine städtebauliche Besonderheit der Nachkriegszeit bildet die Planstadt Sennestadt.
Die Universität Bielefeld wurde 1969 gegründet.
Eingemeindungen
Im Jahr 1828 wurde das Gut Niedermühlen in die Feldmark der Stadt Bielefeld eingegliedert. Am 1. April 1900 wurden Teile der Gemeinde Gadderbaum sowie das Gebiet der Sparrenburg nach Bielefeld eingegliedert. Am 31. Januar 1907 folgten Teile der Gemeinde Quelle sowie der Hof Meyer zu Olderdissen und der Schildhof. Am 1. Oktober 1930 kamen die Gemeinden Schildesche Dorf, Sieker und Stieghorst sowie Teile der Gemeinden Gellershagen, Großdornberg, Heepen, Hoberge-Uerentrup, Oldentrup, Schildesche Bauerschaft und Theesen aus dem Kreis Bielefeld zur Stadt Bielefeld. 54 ha der Gemeinde Babenhausen kamen am 31. Dezember 1961 und 56 ha der Gemeinde Brake am 1. Januar 1965 hinzu.
Die bislang umfangreichste Gebietsreform, geregelt im Gesetz zu Neugliederung des Raums Bielefeld, trat zum 1. Januar 1973 in Kraft. Aus dem Kreis Bielefeld kamen die Städte Brackwede und Sennestadt sowie die Gemeinden Gadderbaum, Senne I, Babenhausen, Großdornberg, Hoberge-Uerentrup, Kirchdornberg, Niederdornberg-Deppendorf, Altenhagen, Brake, Brönninghausen, Heepen, Hillegossen, Lämershagen-Gräfinghagen, Milse, Oldentrup, Ubbedissen, Jöllenbeck, Theesen und Vilsendorf zu Bielefeld; außerdem aus dem Kreis Halle (Westf.) die Gemeinde Schröttinghausen. Der Kreis Bielefeld wurde aufgelöst.
Einwohnerentwicklung
Um das Jahr 1800 hatte Bielefeld rund 5.500 Einwohner. Durch die Industrialisierung stieg diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten stetig an und lag 1900 bei über 60.000 Einwohnern. Die Bevölkerungszahl Bielefelds überschritt 1930 in den damaligen Grenzen die Marke von 100.000 und machte die Stadt damit zur Großstadt. In der Nachkriegszeit stieg die Bevölkerungszahl bis 1961 auf über 175.000, von denen etwa 60.000 als Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bielefeld gekommen waren. Nach einem leichten Rückgang bis 1972 wuchs die Einwohnerzahl 1973 durch die Eingemeindung fast aller zum Kreis Bielefeld gehörenden Orte, darunter Brackwede mit 39.856, Sennestadt mit 20.187 und Senne I mit 17.421 Einwohnern (Bevölkerungszahlen von 1970), auf mehr als 320.000. Mit 321.200 Einwohnern zum Jahresende 1973 wurde ein zwischenzeitlicher Höchststand erreicht, der erst seit 1991 dauerhaft überboten wurde. Bielefeld steht unter den deutschen Großstädten an 18. und in Nordrhein-Westfalen an achter Stelle.
Politik
Kommunalpolitik
1994 wurde in Bielefeld die Doppelspitze in der Stadtverwaltung aufgegeben. Seitdem gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister. Dieser ist oberster Repräsentant der Stadt, Vorsitzender des Rates und Leiter der Stadtverwaltung. Er wird seit 1999 direkt von den Wahlberechtigten gewählt. Seit 2009 bekleidet Pit Clausen von der SPD das Amt. Er wurde zuletzt am 27. September 2020 in einer Stichwahl mit 56,09 Prozent der gültigen Stimmen als Oberbürgermeister bestätigt, sein Herausforderer Ralf Nettelstroth (CDU) erhielt 43,91 %. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,69 %. In seiner repräsentativen Funktion wird er durch die ehrenamtlichen Bürgermeister Andreas Rüther (CDU), Karin Schrader (SPD) und Christina Osei (Grüne) vertreten. In seiner Funktion als Verwaltungschef vertritt ihn der Beigeordnete Moss (CDU).
Der Rat der Stadt Bielefeld hat unter Einbeziehung des Oberbürgermeisters, der von Amts wegen eine Stimme besitzt, in der neuen Wahlperiode 67 Mitglieder. Die Schulden der Stadt Bielefeld, ihrer Eigenbetriebe und ihrer Beteiligungen betrugen Ende 2012 1,639 Milliarden Euro. Das sind pro Einwohner 5004 Euro.
Im März 2021 vereinbarten SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die LINKE eine Koalition für die laufende Wahlperiode einzugehen.
Wappen
Blasonierung: Das Stadtwappen zeigt im goldenen Feld unter einem roten, zinnenbewehrten und mit zwei Mauertürmchen bestandenen offenen Mauerbogen einen silbernen Schild mit drei roten Sparren.
In der Grundform gibt es dieses Wappen seit 1263; damals galt es als Wappen der Altstadt. Als 1520 die Alt- mit der Neustadt vereinigt wurde, wurde das Wappen offizielles Wappen der nun vereinigten Stadt. Bis ins 19. Jahrhundert hat sich daran nichts geändert, doch dann kamen Löwen innerhalb von Wappen immer mehr in Mode, so dass das Wappen von da an von zwei Löwen getragen wurde. Seit 1973 ist das Wappen in Schildform und ohne Löwen das offizielle Wappen der Stadt Bielefeld. Der Schild mit den Sparren entspricht dem Wappen der Grafschaft Ravensberg, deren Hauptstadt Bielefeld einst war. Die Türme zeigen einen äußeren Teil der Außenmauer.
Städtepartnerschaften
Bei einem Besuch von Bildungsfachleuten aus dem englischen Rochdale bei Gewerkschaftsvertretern in Bielefeld kam den Beteiligten die Idee einer Städtepartnerschaft, die 1953 eingegangen wurde. Als Symbole der Partnerschaft sind in Rochdale eine Brücke und in Bielefeld der Park vor der Ravensberger Spinnerei nach der jeweiligen Partnerstadt benannt. An der Nicolaikirche in Bielefeld steht darüber hinaus eine englische Telefonzelle.
Der Stadtbezirk Brackwede unterhält seit 1958 eine Partnerschaft mit Enniskillen in Nordirland. Ausgangspunkt der Partnerschaft war der Auftritt der Royal-Inniskilling-Dragoon-Guards auf dem Brackweder Schützenfest 1957. Zum Zeichen der Freundschaft wurde eine Straße in Brackwede nach der Partnerstadt benannt. Regelmäßige Schüleraustausche des Brackweder Gymnasiums mit der Portora Royal School gehören zum Partnerschaftsprogramm.
Die Folklore-Gruppe Cercle Celtic aus dem französischen Concarneau hatte 1967 einen Auftritt in der damals noch eigenständigen Gemeinde Senne. 1973 entwickelten sich die geschlossenen Freundschaften zu einer festen Partnerschaft mit dem heutigen Stadtbezirk. In den Städten sind heute Straßen nach der jeweiligen Partnerstadt benannt.
Der Bielefelder Gerhard Hoepner pflegte privat Kontakt zu Andreas Meyer, der ins israelische Nahariya ausgewandert war. Daraus entwickelte sich 1980 eine Städtepartnerschaft. Heute gibt es in Bielefeld ein Fenster zwischen den beiden Rathäusern und eine Straße, die nach der Partnerstadt benannt sind. In Nahariya konnte eine Kirche aus dem 6. Jahrhundert mit Spenden aus Bielefeld restauriert werden. Daher wird sie heute Bielefelder Kirche genannt. Das Gymnasium Heepen und die Amalschule in Nahariya pflegen ebenfalls eine Partnerschaft.
Als Folge eines Beschlusses des Bundestages zur militärischen Nachrüstung im Winter 1983/84 nahm Bielefeld Kontakt zur russischen Stadt Weliki Nowgorod auf. Aus dem Briefkontakt entwickelte sich eine Städtepartnerschaft, die 1987 eingegangen wurde. Eine Straße im neuen Bahnhofsviertel und eine Eiche an der Sparrenburg wurden nach der Partnerstadt benannt. In den 1990er-Jahren wurden viele Hilfstransporte in die russische Partnerstadt unternommen. Noch heute werden soziale Projekte in Weliki Nowgorod finanziell unterstützt. Regelmäßig tauschen sich Schulen und Universitäten aus.
Die Deutsch-Polnische Gesellschaft in Bielefeld initiierte 1991 eine Partnerschaft mit der polnischen Stadt Rzeszów. Schulen und Universitäten der Städte tauschen sich regelmäßig aus.
Seit 1984 pflegt Bielefeld Kontakte mit Estelí in Nicaragua, die 1995 zu einer festen Städtepartnerschaft ausgebaut wurden. Die Stadt wurde 1998 durch einen Hurrikan verwüstet und konnte mithilfe von Spendengeldern aus Bielefeld und anderen Partnerstädten wieder aufgebaut werden. Die Partnerschaft wird von den Bielefelder Schulen gestützt, die mit den Schulen in Estelí gemeinsame Projekte durchführen. Nachdem Berichten vom Welthaus Bielefeld zufolge im April 2018 Scharfschützen vom Dach des Rathauses in Estelí auf Demonstranten schossen, wohl mit Wissen des Bürgermeisters, legte die Bielefelder Stadtverwaltung die Partnerschaft mit Estelí vorerst auf Eis. Die zivilgesellschaftlichen Projekte laufen indes weiter.
Bielefeld hat Patenschaften für die ehemals ostdeutschen Städte Gumbinnen/Ostpreußen (Gussew, Oblast Kaliningrad, Russland), Wansen/Schlesien (Wiązów, Polen) und Münsterberg/Schlesien (Ziębice, Polen) übernommen. Den heimatvertriebenen Bewohnern dieser Städte gewährte Bielefeld nach dem Zweiten Weltkrieg Hilfe bei der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung.
Bundespolitik
Bielefeld befindet sich im Bundestagswahlkreis 132 Bielefeld – Gütersloh II. Bei der Bundestagswahl 2021 konnte Wiebke Esdar (SPD) das Direktmandat gewinnen. Über die Landeslisten ihrer Partei zog außerdem aus Bielefeld Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) in den Bundestag ein.
Landespolitik
Bei Wahlen zum Landtag von Nordrhein-Westfalen bilden die Stadtbezirke Mitte, Schildesche und Gadderbaum den Wahlkreis 92 Bielefeld I sowie die Stadtbezirke Heepen, Brackwede, Stieghorst, Sennestadt und Senne den Wahlkreis 93 Bielefeld II. Die Stadtbezirke Dornberg und Jöllenbeck gehören zusammen mit Borgholzhausen, Halle, Steinhagen, Versmold und Werther zum Wahlkreis 94 Gütersloh I – Bielefeld III. Die Direktmandate bei der Landtagswahl 2022 gewannen Christina Kampmann (SPD) im Wahlkreis 92, Tom Brüntrup, (CDU) im Wahlkreis 93 und Thorsten Klute (SPD) im Wahlkreis 94. Außerdem zog aus Bielefeld Christina Osei (Bündnis 90/Die Grünen) über die Landesliste ihrer Partei in den Landtag ein.
Sehenswürdigkeiten
Sakralbauten
Die Altstädter Nicolaikirche ist die älteste der Bielefelder Stadtkirchen. Sie war ursprünglich eine dreischiffige gotische Hallenkirche, die Anfang des 14. Jahrhunderts vergrößert und zur Bürger-/Kaufmannskirche ausgebaut wurde. Zuvor wurde sie 1236 vom Paderborner Bischof Bernard zur eigenständigen Pfarrkirche erhoben. Viermal täglich (um 9:58, 12:58, 15:58 und 18:58 Uhr) erklingt ein Glockenspiel. Der wertvollste Besitz dieser Kirche ist ein Antwerpener Retabel, das mit neun geschnitzten Szenen und über 250 Schnitzfiguren verziert ist. In ihrer heutigen Form ist die Kirche bis auf den unteren Teil des Turmes ein Neubau, der in Anlehnung an die am 30. September 1944 zerstörte Vorgängerkirche entstanden ist. Die Kirche verfügt über ein kleines Museum, in dem unter anderem Überbleibsel aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sowie alte Fotografien gezeigt werden.
Die Neustädter Marienkirche ist eine hochgotische Hallenkirche mit zwei Türmen aus dem Jahr 1293. Die Türme wurden jedoch erst Anfang des 16. Jahrhunderts mit gotischen Turmhelmen ergänzt und damit vollendet. Die gotischen Turmhelme wurden später bei einem Sturm zerstört und durch barocke Hauben ersetzt. Diese Kirche ist aus kunsthistorischer Sicht das wertvollste Baudenkmal Bielefelds und hat eine Länge von 52 Metern sowie eine Höhe von 78 Metern. Im Jahr 1553 war sie Ausgangspunkt der Reformation in Bielefeld. Im Gotteshaus befindet sich ein wertvoller Flügelaltar mit 13 verschiedenen Bildern, der sogenannte Marienaltar. Die Bilder wurden von einem anonymen Maler im Jahr 1400 geschaffen. Auf ihnen sind Situationen wie Himmel und Erde, Gott und Mensch oder Christus und Maria zu sehen. Die Kirche diente eine Zeit lang als Grablege der Grafen von Ravensberg. An der Nordseite des Chores befindet sich die Tumba des Grafen Otto III. von Ravensberg und seiner Gemahlin Hedwig zur Lippe, die wohl kurz nach 1320 entstanden ist. Auf der Südseite ist die Tumba des Grafen Wilhelm II. († 1428) und seiner Gemahlin Adelheid von Tecklenburg († 1429). Zur weiteren Ausstattung gehören ein spätgotisches Kruzifix vom Anfang des 16. Jahrhunderts und eine geschnitzte Kanzel, die von 1681 bis 1683 vom Bielefelder Meister Bernd Christoph Hattenkerl geschaffen wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche schwer beschädigt. Unter anderem wurden bei einem Luftangriff die bis dato barocken Turmhelme zerstört. Nach dem Krieg wurden diese 1965 in gotischer Form neu errichtet und erhielten ihre extrem spitze Form.
Mitten in der Altstadt steht die im 16. Jahrhundert entstandene Süsterkirche. An dieser Stelle wurde es im Jahr 1491 zwölf Augustinerinnen gestattet, ein eigenes Kloster zu gründen. Sie widmeten sich der Kranken- und Armenversorgung. Im Jahr 1616 wurde das Kloster jedoch aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit aufgegeben und an die Stadt übergeben. Heute ist sie die Kirche der einzigen evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Bielefelds. Von den sich anschließenden Gebäuden des ehemaligen Klosters zum Marienthal blieb nur das Haus Süsterplatz 2 erhalten. Der quadratische zweigeschossige Bau mit Satteldach entstand im Kern bereits zwischen 1500 und 1600 und dient heute als Pfarrhaus. Im 18./19. Jahrhundert wurde er unter Veränderung der Geschosshöhen durchgreifend umgebaut. Der Vordergiebel zum Süsterplatz wurde dabei in neugotischen Formen dekoriert.
Die katholische Pfarrkirche St. Jodokus war ursprünglich die Kirche eines Franziskanerklosters und wurde 1511 erbaut. Zunächst (ab 1498) befand sich dieses Kloster am Jostberg, wurde dort jedoch schon 1507 aufgrund von Schwierigkeiten bei der Wasserversorgung wieder aufgegeben und an den heutigen Klosterplatz verlegt. Von dem alten Kloster am Jostberg sind noch Ruinen erhalten. Das Franziskanerkloster in der Altstadt blieb auch nach der Reformation bestehen. Als die übrigen Kirchen in der Stadt die Reformation annahmen, versahen die Franziskaner die Seelsorge für die wenigen im Ravensberger Land verbliebenen Katholiken. Das Kloster wurde 1829 aufgelöst, die Pfarrseelsorge übernahmen Diözesanpriester. Im Innern der Kirche, die bis heute Pfarrkirche ist, befinden sich die „Schwarze Madonna“ von 1220, eine Holzplastik des heiligen Jodokus von 1480 sowie die Ikonenwand von Saweljew aus dem Jahr 1962.
Die Kirche Heilig Geist an der Spandauer Allee im Bielefelder Ortsteil Dornberg gilt als ein Kleinod unter den modernen Kirchen im ostwestfälischen Raum. Sie wurde Anfang der 1990er-Jahre in Bielefeld-Dornberg als Nachfolgekirche der beiden für die wachsende Gemeinde zu klein gewordenen Kirchen Heilig Geist im Wellensiek und Heilige Familie, Bielefeld-Uerentrup, erbaut.
Profanbauten
Der Alte Markt bildet das Herzstück der Bielefelder Altstadt. An seiner Nordseite befindet sich das Theater am Alten Markt. Der äußerlich unscheinbare Bau lässt kaum erahnen, dass in ihm noch umfangreiche Reste des mittelalterlichen Rathauses stecken. Das Altstädter Rathaus wurde 1424 erstmals urkundlich erwähnt. Der erste Rathausbau ist an dieser Stelle vermutlich bereits im 13. Jahrhundert entstanden. Von ihm dürften noch Teile im jetzigen Kellergeschoss vorhanden sein. 1538 wurde mit einem Neu- bzw. Erweiterungsbau begonnen, der spätestens 1569 vollendet war. Dabei handelte es sich um einen zweigeschossigen Bruchsteinbau über hohem Sockelgeschoss mit zwei in Werkstein ausgeführten Schaugiebeln. Der auf einer Zeichnung des 19. Jahrhunderts überlieferte westliche Staffelgiebel war in Anlehnung an das Münsteraner Rathaus und das nahe gelegene Crüwellhaus noch in spätgotischen Formen gestaltet. Über dem schon Renaissanceformen aufweisenden Hauptportal an der Niedernstraße war ein 1562 bezeichnetes Adam-und-Eva-Relief (jetzt im Foyer des Neuen Rathauses) angebracht.
1820–1821 erfolgte ein durchgreifender Umbau und die Erhöhung des Wandkastens, um das Innere besser nutzen zu können. Dabei wurden die beiden Giebel abgebrochen. Anschließend wurde der Außenbau in klassizistischen Formen dekoriert und der Haupteingang mit Freitreppe an die Marktseite verlegt. Das hohe Satteldach wurde außerdem durch ein niedriges Krüppelwalmdach ersetzt. Nach der Erbauung des Neuen (heute „Alten“) Rathauses am Niedernwall im Jahre 1904 diente es nur noch als Sitz untergeordneter Behörden und der Stadtbibliothek. 1906 wurde ein Arkadengang an der Niedernstraße, der sogenannte Hochzeitsbogen, für den Fußgängerverkehr eingebaut. Am 30. September 1944 wurde der Bau mehrfach von Brandbomben getroffen und ist völlig ausgebrannt.
Ab 1949 wurde das Alte Rathaus von Hanns Dustmann unter weitgehender Verwendung des spätmittelalterlichen Wandkastens wiederaufgebaut. Seitdem wird es als „Theater am Alten Markt“ und als Volkshochschule „Die Brücke“ genutzt. Um beide Einrichtungen unterbringen zu können, wurde im Norden ein niedrigerer Erweiterungsbau angefügt. Bei der Wiederherstellung der Fassaden wurde das klassizistische Dekor entfernt und das Äußere in schlichten Formen gestaltet, so dass das noch weitgehend aus dem Spätmittelalter stammende Gebäude heute wie ein Nachkriegs-Neubau erscheint, der noch deutliche Anklänge an die so genannte Heimatschutzarchitektur zeigt.
Der jetzige Bau ist ein zweigeschossiger Putzbau von sieben Achsen mit hohem, von zahlreichen Gauben belebtem Walmdach. An der zur Niedernstraße hin orientierten Schmalseite befindet sich der als Laubengang gestaltete Hochzeitsbogen und an der Marktseite ein schlichtes Portal mit doppelläufiger Freitreppe. Die östlichen drei Joche des Kellergewölbes wurden 1995 saniert und dienen seitdem als Weinstube. Die Kreuzgratgewölbe sind noch zum Teil mit den Schlusssteinen von 1538 versehen, die sich allerdings nicht mehr an ursprünglicher Stelle befinden.
Bürgerliche Wohnbauten
Von den zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch in größerer Zahl vorhandenen bürgerlichen Wohnbauten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sind nur wenige erhalten, jedoch befinden sich noch zahlreiche Villen und Straßenzüge der Gründerzeit und der Wende zum 19. Jahrhundert in der Stadt, auch in den Stadtteilen ist die Bebauung in Teilen älter als in der Innenstadt.
Das derzeit älteste bekannte Bürgerhaus ist das Haus Müller in der Obernstraße. Es wurde nach dendrochronologischer Datierung 1485 errichtet. 1592 kam es zu einem umfassenden Umbau, bei dem es unter anderem mit einem neuen reich beschnitzten Fachwerk-Giebel versehen wurde. Von 1991 bis 1993 wurde das Gebäude durchgreifend erneuert und durch einen modernen Anbau ergänzt. Obwohl auch historische Befunde beseitigt wurden, ist die ursprüngliche Aufteilung des Inneren mit Diele, den seitlichen Stubeneinbauten und dem unterkellerten Saal bis heute nachvollziehbar geblieben. Das zugehörige Hinterhaus Welle 55, das mit dem Vordergebäude durch eine hölzerne Brücke verbunden ist, dürfte im 17. Jahrhundert errichtet worden sein.
Ebenfalls noch aus dem Spätmittelalter stammt das Haus Obernstraße 32. Das schlichte zweigeschossige Giebelhaus mit Krüppelwalmdach wird im Äußeren wesentlich durch einen Umbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Die ältesten Teile entstanden bereits im frühen 16. Jahrhundert.
Einer der bekanntesten Wohnbauten ist das ab 1530 errichtete Crüwell-Haus (Obernstraße 1). Der spätgotische Stufengiebel entstand nach dem Vorbild Münsteraner Bauten. Ähnliche, jedoch später entstandene Beispiele gibt es in Herford (Bürgermeisterhaus, bezeichnet 1538) und Lemgo (Haus Wippermann 1576). Die Front wurde 1901 erneuert und im Erdgeschoss mit Ladeneinbauten versehen. Im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt, wurde das Haus 1948/49 von Paul Griesser unter Erhaltung der historischen Fassade neu errichtet. Beim Wiederaufbau wurden anstelle der großen Schaufenster kleinere Kreuzstockfenster eingesetzt. Im Treppenhaus befinden sich etwa 7000 historische Delfter Kacheln aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Es handelt sich wohl um die größte Sammlung dieser Art in Nordwestdeutschland.
Vom Battig-Haus (Alter Markt 3) blieb nach schwerer Kriegszerstörung nur der 1680 bezeichnete Volutengiebel erhalten, der in den von Paul Griesser errichteten Komplex der Lampe-Bank einbezogen wurde. Die Schaufront ist noch stark von der so genannten „Weserrenaissance“ beeinflusst, die Art der Staffelfüllungen ist jedoch schon dem Barock verpflichtet. Beim Wiederaufbau nach 1945 wurde die Fassade erhalten, wobei die Schaufenster durch kleinere Öffnungen ersetzt wurden.
An der Obernstraße 38 befindet sich ein Fachwerkbau mit klassizistischer Fassade, die dem älteren Hauskörper in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgeblendet wurde. Die Erdgeschosszone ist in jüngerer Zeit durch Ladeneinbauten verändert worden.
Wesentlich mehr Wohngebäude haben den Krieg außerhalb der Innenstadt überdauert. So liegen westlich des Ostwestfalendamms einige Straßenzüge mit nahezu durchgängiger denkmalgeschützter Bebauung aus Villen und Bürgerhäusern. Zu nennen sind hier vor allem die Große-Kurfürsten-Straße, der Goldbach sowie Werther- und Dornberger Straße. Häufig handelt es sich dabei um Wohnstätten ehemaliger Unternehmer wie die Villa Bozi. Ebenso befinden sich in sogenannten Musikerviertel zwischen Detmolder Straße und Sparrenburg zahlreiche Gebäude gleicher Art. Im Osten der Innenstadt befinden sich Ensembles aus der Zeit um 1900, so zum Beispiel an der Diesterweg- und Fröbelstraße. Teilweise bis ins Mittelalter zurückgehende Bebauung findet sich in den Kernen der Stadtteile Heepen und Schildesche.
Adelshöfe
Von den im Jahre 1718 genannten 17 Adelshöfen sind noch einige erhalten:
Als Keimzelle der Stadt gilt der an der Welle gelegene Waldhof. Er soll aus einem der Höfe hervorgegangen sein, die bereits vor der Stadtgründung bestanden. Das lang gestreckte Gebäude stammt im Kern sicher noch aus dem Mittelalter und wurde im 16. Jahrhundert umgebaut. Damals entstand die 1585 bezeichnete Utlucht mit Volutengiebel. Der östliche Gebäudeteil besaß bis zum Zweiten Weltkrieg ein Fachwerk-Obergeschoss.
Am Klosterplatz befindet sich der auch als Woermanns Hof bezeichnete Korff-Schmisinger Hof. Das mit Fächerrosetten versehene und reich beschnitzte Fachwerk-Obergeschoss soll um 1640 entstanden sein. Beim Bau der Klosterplatzschule wurde der ehemals etwa doppelt so lange Bau erheblich verkürzt.
In unmittelbarer Nähe liegt der Wendtsche Hof. Der zweigeschossige Bau entstand im 16. Jahrhundert und wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrfach verändert. Die rückwärtigen Teile wurden weitgehend in Fachwerk erneuert. Im Innenhof befindet sich ein polygonaler Treppenturm.
Der 1540 bezeichnete Spiegelshof ist ein zweigeschossiger verputzter Bruchsteinbau im Stil der so genannten Weserrenaissance. Die Schmalseiten werden von Radzinnengiebeln geschmückt. Das Treppenhaus wurde 1682 angefügt. Das Innere wurde im Laufe der Zeit immer wieder verändert; im hinteren Teil des Gebäudes blieb dennoch ein unterkellerter Saal mit Balkendecke erhalten. Heute beherbergt Spiegels Hof das Naturkunde-Museum.
Eine noch aufwendigere Fassade besitzt der Grestsche Hof. Er wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vielleicht auf den Fundamenten eines Stadtmauerturmes erbaut. Der prachtvolle Renaissancebau bildet seit 1870 den Nordflügel des Ratsgymnasiums. Zu dieser Zeit wurde der Dachbereich verändert.
Als zweigeschossiger Putzbau präsentiert sich Meinders Hof (Obernstraße 40). Das originelle barocke Eingangsportal ist mit der Jahreszahl 1669 beschriftet. Weitere Veränderungen erfolgten im 19. Jahrhundert. Im Inneren des Erdgeschosses blieben ein 1670 datierter Kamin und Reste von barocken Stuckdecken erhalten.
Wiederverwendete Reste zerstörter Bauten
Alter Markt 5. Den schlichten Nachkriegsbau ziert ein 1593 bezeichneter Volutengiebel in Formen der Weserrenaissance, der ursprünglich zu Obernstraße 29 (Brünger) gehörte. Der kriegsbeschädigte Ursprungsbau wurde 1962 unter Sicherstellung des Giebels abgebrochen. Zunächst auf den städtischen Bauhof verbracht, wurde er 1976 an seinem jetzigen Standort aufgestellt. Er ist in Einzelformen mit Markt 32 in Bad Salzuflen verwandt.
Niedernstraße 3. In den schlichten Nachkriegsbau wurde ein mittelalterlicher Keller mit Tonnengewölbe integriert.
Obernstraße 36 (Sparkasse). Dem 1975 entstandenen Gebäude wurde ein Dreiecksgiebel (bezeichnet 1606) vom ehemaligen Haus Obernstraße 9 vorgeblendet.
Die 55er-Kaserne an der Hans-Sachs-Straße wurde 1775/77 auf dem Gelände des Hatzfeldschen Adelshofes errichtet. Dabei wurden Verblendsteine von den Festungsmauern der Sparrenburg verwendet. Es ist ein lang gestreckter Massivbau, dessen Mittelrisalit ein Wappen krönt. Bei der Erweiterung von 1850 wurde der Hauptflügel um ein Mezzaningeschoss erhöht.
Stadtmauer
Von der im 13. Jahrhundert errichteten Stadtmauer der Altstadt sind Fundamentreste als Inszenierung im sogenannten Welle-Haus zu besichtigen. Die Reste wurden im Rahmen des Projekts Archäo Welle freigelegt und museal aufbereitet. Im ehemaligen Grestschen Hof (siehe dort) sind Teile eines sehr starken viereckigen Mauerturmes verbaut. In der seit dem frühen 14. Jahrhundert befestigten Neustadt ist außerdem der Stumpf eines mittelalterlichen Schalenturmes im Garten eines Hauses an der Kesselstraße vorhanden. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen kam es zur Anlage eines einheitlichen Befestigungssystems um Alt- und Neustadt mit mehreren Rondellen zwischen 1539 und 1545. Ein mehrere Meter langes Mauerstück davon, das die Einmündung von Vossbach und Lutter in den Stadtgraben sichern sollte, ist hinter dem Haus Kreuzstraße 38 (derzeit Verwaltungsgebäude des Naturkundemuseums) erhalten. Auf der Mauerkrone stehen die zwei letzten Exemplare der ab 1856 installierten Gaslaternen.
Weitere Bauten
Die Sparrenburg ist das bekannteste Baudenkmal und Wahrzeichen der Stadt. Sie wurde neuesten Erkenntnissen zufolge um 1200 erbaut und verfügt über einen 37 Meter hohen Burgturm sowie über unterirdische Gänge, die im Rahmen einer Führung besichtigt werden können. Der Turm kann von April bis Oktober von 10 bis 18 Uhr bestiegen werden. Am 22. September 2006 belegte die Sparrenburg Platz 17 bei einem vom ZDF ausgelobten Wettbewerb, in dem die beliebtesten deutschen Plätze gewählt wurden.
Unweit entfernt befindet sich die Römische Kreisgrabenanlage auf der Sparrenberger Egge.
Im Jahr 1535 wurde Niemöllers Mühle, eine oberschlächtige Wassermühle im Bielefelder Stadtteil Quelle, erstmals erwähnt. Sie ist seit der Restaurierung 1994 wieder funktionstüchtig.
Im Ravensberger Park steht die Weiße Villa. Das Gebäude erinnert an die zahlreichen Potsdamer Turmvillen im italienischen Landhausstil, zum Beispiel die Villa Schöningen. Wenige Schritte daneben befindet sich die ehemalige Direktorenvilla der Ravensberger Spinnerei, die heute das Museum Huelsmann beherbergt.
In den Nordpark wurde ein heute als Café genutzter kleiner Pavillon umgesetzt, der um 1830 errichtet wurde und einem Schüler des berühmten Baumeisters Karl Friedrich Schinkel zugerechnet wird.
Das Alte Rathaus wurde 1904 erbaut und ist heute repräsentativer Sitz des Bielefelder Oberbürgermeisters. Der größte Teil der Verwaltung befindet sich im Neuen Rathaus, das direkt daneben liegt. An der Fassade des Alten Rathauses finden sich verschiedene Baustile, unter anderem Elemente der Gotik und der Renaissance.
Das Stadttheater bildet baulich eine Einheit mit dem Alten Rathaus. Es wurde ebenfalls im Jahr 1904 eingeweiht und verfügt über eine bemerkenswerte Jugendstilfassade des Architekten Bernhard Sehring. Es ist das größte Theater der Stadt. 2005–2006 wurde es von Grund auf renoviert.
Auf dem Altstädter Kirchplatz befindet sich das 1909 von Hans Perathoner geschaffene Leineweberdenkmal, eine Brunnenanlage, die an Bielefelds wirtschaftliche Anfänge in der Leinenverarbeitung erinnern soll.
An ein Schloss erinnert die Architektur der von 1855 bis 1857 erbauten Ravensberger Spinnerei, die im 19. Jahrhundert Europas größte Flachsspinnerei war. Heute sind die Volkshochschule, das Historische Museum Bielefeld, ein städtisches Medienzentrum und eine Diskothek in ihr untergebracht. Ihr vorgelagert befinden sich der Rochdale- und der Ravensberger Park, die als Open-Air-Bühne dienen.
Ehemalige Werkkunstschule, Am Sparrenberg 2. 1913 von Stadtoberbaurat Friedrich Schultz im Sinne der Reformschulbauten des Henry van de Velde errichtet.
Von 1926 bis 1927 entstand das von Friedrich Schultz entworfene Freibad an der Wiesenstraße. Neben der großen zentralen Tribüne und der 100-m-Bahn weist es eine besondere Achsensymmetrie auf. Dazu gehörte seinerzeit auch ein Casinogebäude als Gartenrestaurant an der Bleichstraße. Zufahrt, Sprungturm und Casino liegen in einer eigenen Symmetrieachse. Wegen dieser Besonderheiten sind die historischen Teile des Wiesenbades heute als Denkmal geschützt.
Haus der Technik (Stadtwerke), Jahnplatz 5. Der Stahlskelettbau in Backsteinverblendung wurde 1929 von dem Berliner Architekten Heinrich Tischer als erstes „Hochhaus“ der Stadt im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Der flach gedeckte, turmartige Hauptbau wurde ursprünglich von einem gläsernen Aufsatz bekrönt. Bei einem Luftangriff am 24. Februar 1945 wurde das Gebäude stark in Mitleidenschaft gezogen. Die oberen Geschosse des Turmbaus wurden wegen Einsturzgefahr wenige Wochen später gesprengt. Beim Wiederaufbau bis 1950 wurde in Anlehnung an die ursprüngliche Form auf den gläsernen Turmaufsatz verzichtet. Der obere Abschluss wurde leicht verändert und um ein Geschoss erhöht. 2012 wurde schließlich der für das Gebäude so charakteristische Lichtturm wiederhergestellt.
Gloria-Palast, Niedernstraße 12. Ehemaliges Filmtheater, 1927–1928 von Wilhelm Kreis im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Das Gebäude wurde 1944 bei der Bombardierung stark beschädigt. Bei der Wiederherstellung 1948 wurde das große Milchglasfenster über dem Eingang durch drei Fenstertüren mit vorgelegtem Balkon ersetzt. Das Innere wurde später in mehrere Kinosäle unterteilt, dabei ging die qualitätsvolle Innenausstattung verloren. Im Jahr 2000 wurde das Kino geschlossen und das Gebäude nochmals für die anschließende Nutzung als Ladengeschäft umgebaut, wobei die Fassade in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurde. Der Palast ist einer der wenigen Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Bielefeld und zudem der erste Kinobau der Stadt, dessen Zweckbestimmung äußerlich klar erkennbar ist.
Die Kunsthalle wurde von 1966 bis 1968 nach den Plänen des amerikanischen Architekten Philip Johnson erbaut. Das Gebäude selbst ist ein roter Sandsteinkubus. Der Eigenbesitz der Kunsthalle zeigt die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, daneben finden regelmäßig Wechselausstellungen zu den verschiedensten Themen statt. Der Kunsthalle vorgelagert ist der Skulpturenpark mit Wasserbecken und Werken unter anderem von Henry Moore, Ólafur Elíasson und Sol LeWitt. Es gibt auch ein Café mit einer Außenterrasse.
Der denkmalgeschützte Ostmannturm ist ein heute als Studentenwohnheim genutzter Rest der industriellen Bebauung im nach ihm benannten Ostmannturmviertel.
Grünflächen und Naherholung
Teile Bielefelds liegen im Naturpark TERRA.vita sowie im Naturpark Teutoburger Wald/Eggegebirge. Der sich über das Stadtgebiet erstreckende Höhenzug bietet viele Möglichkeiten der Naherholung. Hier liegt gleichzeitig der höchste Flächenanteil der Naturschutzgebiete, weitere wesentliche Teile liegen besonders in den angrenzenden Gebieten von kleinen Bachläufen und in Teilen der Senne. Bezogen auf das ganze Stadtgebiet hat Bielefeld unter den deutschen Städten mit mehr als 250.000 Einwohnern den größten Anteil an Grünfläche. Vergleicht man alle deutschen Großstädte, das heißt Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, so liegt Bielefeld auf Platz 11.
Im oder am Teutoburger Wald liegen der Botanische Garten Bielefeld mit Alpinum, Bambusgärten, einem Steingarten, einer Rhododendron- und Azaleensammlung, einem Arznei- und Gewürzgarten, einem Heidegarten, Buchenwaldflora und rund 200 Arten der roten Liste sowie der 1928 gegründete Heimat-Tierpark Olderdissen, der über 430 Tiere aus 100 heimischen Tierarten beherbergt.
Der Obersee ist ein Stausee im Ortsteil Schildesche im Norden der Stadt. Rund um diesen See befindet sich eine 80 Hektar große Grünanlage. Die aus historischen Gebäuden bestehende Gaststätte Seekrug ist ein beliebtes Ausflugsziel. Geplant war auch ein Untersee auf der östlichen Seite des Eisenbahnviadukts als Freizeitanlage. Diese Planungen werden zurzeit unter anderem aus Kosten- und Naturschutzgründen nicht weiter verfolgt.
Als größere Parks in der Innenstadt sind der Bürgerpark in direkter Nachbarschaft zur Rudolf-Oetker-Halle, der Ravensberger Park und der – der englischen Partnerstadt gewidmete – Rochdale Park rund um die Ravensberger Spinnerei sowie der Nordpark mit altem Baumbestand zu nennen. In diesen Park wurde nach dem Krieg aus einem Privatgarten das heutige Gartenhaus versetzt, das von einem Schüler Schinkels 1830 errichtet wurde. Seit 2014 ist der Winzersche Garten am Johannisberg wieder zugänglich.
Seit 2003 gibt es einen Japanischen Garten im Stadtbezirk Gadderbaum.
Rund um die Stadtgrenzen von Bielefeld schlängelt sich der 88,8 km lange Wappenweg, ein Wanderweg, der als Markierungszeichen einen Ausschnitt des Stadtwappens trägt.
Der 1912 eröffnete Sennefriedhof gehört mit knapp 100 ha Fläche zu den größten Friedhöfen Deutschlands. Durch seine besondere Lage in der Naturlandschaft Senne und die außergewöhnliche Größe sind in vielen Bereichen des Sennefriedhofes ökologische Nischen entstanden. So stehen hier 20 der 98 kartierten Moosarten der Roten Liste des Landes Nordrhein-Westfalen. Grabmäler, die von Künstlern wie Käthe Kollwitz, Georg Kolbe, Peter August Böckstiegel und Hans Perathoner gestaltet wurden, deuten auf den kulturellen Wert der Anlage hin. Der Johannisfriedhof wurde 1874 angelegt. Hier sind bedeutende Persönlichkeiten aus Bielefeld und Umgebung wie August Oetker und Carl Bertelsmann begraben. In der Innenstadt befindet sich der 1808 eröffnete Alte Friedhof am Jahnplatz.
Unter den Naturdenkmälern sind vor allem die im Jahr 1648 am Papenmarkt gepflanzte Friedenslinde mit einem Stammumfang von nahezu sechseinhalb Metern, eine Höhle (Zwergenhöhle) im Stadtteil Senne und ein Findling von vier Metern Höhe und einem Gewicht von einhundertsiebzehn Tonnen an der Straße Am Wellbach zu nennen.
Kultur
Religionsgemeinschaften
Konfessionsstatistik
In Bielefeld waren im Mai 2002 insgesamt 152.092 Personen evangelisch, 52.965 römisch-katholisch, und 117.556 gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos.
Laut dem Zensus 2011 waren 59.030 Einwohner Bielefelds römisch-katholisch (18,2 %), 136.780 evangelisch (42,3 %), 9.310 evangelisch-freikirchlich (2,9 %) und 7.510 orthodox (2,3 %). 110.590 Einwohner (34,2 %) gehörten einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft an. Nach einer Berechnung aus den Zensuszahlen für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Bielefeld 2011 bei 10,2 % (rund 33.300 Personen).
Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem gesunken. Am Jahresende 2020 waren von den Einwohnern insgesamt 33,2 % evangelisch, 14,7 % katholisch und 52,0 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder war konfessionslos.
2021 wurden 2606 Kirchenaustritte (1 % der Gesamtbevölkerung) beim Amtsgericht registriert. Zum Stichtag 31. Dezember 2022 waren in Bielefeld von den 343.771 Einwohnern insgesamt 30,8 % evangelisch, 13,7 % katholisch. Die größte Gruppe mit 190.631 oder 55,5 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos.
Christentum
Bielefeld gehörte seit seiner Gründung zum Bistum Paderborn und war dem Archidiakonat in Lemgo unterstellt. Pfarrkirche war seit der Abpfarrung von der Peter-und-Pauls-Kirche in Heepen 1236 die Altstädter Nicolaikirche, seit Ende des 13. Jahrhunderts entstand eine weitere Pfarrgemeinde in der Neustadt unterhalb der Sparrenburg. In der Nachbarschaft bestanden in Dornberg (St. Peter) und bei der Stiftskirche Schildesche noch ältere Kirchspiele.
Protestantismus
Ausgehend von der Neustädter Marienkirche verbreitete sich um 1553 Luthers Reformation in der Stadt und der gesamten Grafschaft Ravensberg. 1649 fiel die Grafschaft endgültig an das Haus Brandenburg, und nach dem geltenden Gesetz Cuius regio, eius religio mussten die Untertanen die Religion des Landesherrn übernehmen. Bis auf das Franziskanerkloster wurden alle Pfarr- und Stiftskirchen protestantisch. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620–1688) war Anhänger des Calvinismus und verfügte durch eine Verordnung, dass in Stadt und Land reformierter Gottesdienst zu halten sei. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der Reformierten stark zu. Nachdem in ganz Preußen 1817 die Union der lutherischen und reformierten Gemeinden vollzogen war, vereinigten sich auch in Bielefeld beide protestantischen Gemeinden zu einer evangelischen Gemeinde. Die Industrialisierung Bielefelds zog viele Menschen aus dem reformierten Lippe in die Stadt, wo sie eher Arbeit fanden als in ihrer bäuerlichen Heimat.
Die Stadt wurde im 19. Jahrhundert Sitz einer Kreissynode mit einem Superintendenten innerhalb der Evangelischen Kirche in Preußen beziehungsweise deren westfälischer Kirchenprovinz. Daraus entstand der heutige Kirchenkreis Bielefeld. 1949 wurde die Verwaltung der nunmehr als Evangelische Kirche von Westfalen bezeichneten Landeskirche von Münster nach Bielefeld verlegt. Heute umfasst der Kirchenkreis Bielefeld 33 evangelische Kirchengemeinden innerhalb der Stadt. Einige Gemeinden im südlichen Stadtgebiet Bielefelds (Brackwede, Senne und Sennestadt) gehören jedoch zum Kirchenkreis Gütersloh. Die meisten Gemeinden des Kirchenkreises Bielefeld verstehen sich als evangelisch-lutherisch, eine Ausnahme ist die evangelisch-reformierte Gemeinde in der Süsterkirche.
Neben den Gemeinden der evangelischen Landeskirche besteht auch eine Gemeinde der altkonfessionellen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie Gemeinden evangelischer Freikirchen. So gibt es mehrere mennonitische Gemeinden, eine Adventistengemeinde, mehrere Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden (Baptisten) sowie eine Evangelisch-methodistische Kirche.
Katholizismus
Die Zahl der Katholiken war infolge der Reformation auf ganz wenige zurückgegangen, die hauptsächlich in den adeligen Häusern in Tatenhausen und Holtfeld lebten. Die Franziskaner an St. Jodokus in Bielefeld waren jetzt Seelsorger für das gesamte Ravensberger Land; 1696 gründeten sie eine Außenstelle (Residenz) in Stockkämpen. Nach der Aufhebung des Klosters Bielefeld 1829 wurde die Seelsorge von Weltpriestern übernommen.
Im 19. Jahrhundert zogen infolge der Industrialisierung wieder Angehörige der römisch-katholischen Konfession in nennenswerter Anzahl in die Stadt. 1890 waren von den rund 40.000 Einwohnern Bielefelds etwa 4600 katholisch. Sie gehören bis heute zum Bistum Paderborn, das 1930 zum Erzbistum erhoben wurde. 1908–1910 wurde die St.-Joseph-Kirche neu errichtet, 1933–1934 die Liebfrauenkirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen weiteren Zuwachs an Katholiken, die Mehrzahl davon waren Kriegsflüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten. In den 1950er-Jahren wurden rund zehn neue Pfarrkirchen gebaut. Bielefeld wurde Sitz eines Dekanats, zu dem bis 2006 alle Pfarrgemeinden der Stadt gehörten. Am 1. Juli 2006 wurden die bisherigen Dekanate Bielefeld und Lippe zum neuen Dekanat Bielefeld-Lippe mit Sitz in Bielefeld zusammengelegt.
Andere Konfessionen
Heute gibt es eine Vielfalt weiterer christlicher Konfessionen und Religionsgemeinschaften in der Stadt. Dazu gehören mehrere neuapostolische Kirchengemeinden, eine griechisch-orthodoxe Gemeinde, zwei russisch-orthodoxe, davon eine im Stadtbezirk Sennestadt und eine in Schildesche, zwei serbisch-orthodoxe Gemeinden (in Sennestadt und in Dornberg), eine ukrainische griechisch-katholische Gemeinde im Ortsteil Hillegossen und die Zeugen Jehovas.
Die ehemals evangelische Martini-Kirche war ab 1975 knapp 30 Jahre lang an die griechisch-orthodoxe Gemeinde verpachtet und wurde dann in ein Restaurant umgewandelt.
Judentum
Der erste dokumentarische Nachweis über die Ansiedlung von Juden in der Stadt stammt von einer Urkunde aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Während der Pestepidemie von 1348 bis 1350 wurden die Juden in Deutschland verfolgt, weil sie angeblich die Brunnen vergiftet hätten, und wie in zahlreichen anderen Städten aus Bielefeld vertrieben. Der Graf von Ravensberg, Wilhelm von Jülich, gestattete den Juden 1370 die Rückkehr und verbürgte sich für ihre Sicherheit. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde den Juden abermals der Aufenthalt in der gesamten Grafschaft verboten. Erst am Ende des Jahrhunderts durften sich jüdische Kaufleute gegen Zahlung einer Gebühr wieder in Bielefeld niederlassen.
Als 1649 die Hohenzollern, Landesherren in Brandenburg, die Grafschaft Ravenberg in Besitz nahmen, gab es keine Judenverfolgungen mehr. Um 1720 bestand die jüdische Gemeinde der Stadt aus 30 Personen, und 1723 wurden alle Juden verpflichtet, vom Land in die Städte zu ziehen. Für das Wohnrecht in Bielefeld mussten die Juden in jedem Quartal sogenannte Schutz- oder Rekrutengelder bezahlen. Blieb die Zahlung aus oder wurde ein Jude mittellos, so konnte er nach preußischem Recht aus dem Land gewiesen werden. Die Zahlungen waren für die Landesherren so wichtig, dass sie die den Juden gestatteten Handelssparten schützten. Unter Napoleon im Jahr 1808 bekamen die Juden im Königreich Westphalen die gleichen Bürgerrechte wie die Christen, außerdem sollten sie ihrem Namen einen Beinamen hinzufügen. Die mit dem Bürgerrecht verbundene Freizügigkeit bewog viele Juden, in das Ravensberger Land zu ziehen. So wuchs die jüdische Gemeinde bis 1825 auf 134 Personen. Nach dem Ende von Napoleons Herrschaft wurden einige Rechte der Juden wieder eingeschränkt. Erst mit der Reichsgründung 1871 wurden alle Beschränkungen der Juden im Norddeutschen Bund aufgehoben. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Bielefeld eine jüdische Volksschule, und ab 1876 durften die jüdischen Kinder die öffentlichen städtischen Schulen besuchen.
Die erste Synagoge wurde 1847 am Klosterplatz errichtet, erwies sich aber schon bald als zu klein. Die Gemeinde zählte 1874 rund 350 Mitglieder und um die Jahrhundertwende fast 1000 Personen. Im Herbst 1905 wurde eine neue Synagoge an der Turnerstraße fertiggestellt, die 450 Männern und 350 Frauen Platz bot. Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie von den Nationalsozialisten ausgeraubt und niedergebrannt. Dem Holocaust fielen insgesamt 460 der rund 900 Juden in Bielefeld zum Opfer. Vom Bielefelder Hauptbahnhof wurden insgesamt 1849 Juden deportiert. Mit einem Mahnmal auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof wird seit August 1998 ihrer namentlich gedacht.
Bielefeld hat heute wieder eine jüdische Gemeinde mit rund 320 Mitgliedern, die größtenteils aus Staaten der ehemaligen UdSSR zugewandert sind (Stand: 2018). Seit September 2008 verfügt die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld K.d.ö.R. über eine neue Synagoge (Beit Tikwa). Sie ist durch den Umbau der ehemaligen evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche an der Detmolder Straße entstanden. Der Friedhof der Gemeinde befindet sich in Gadderbaum.
Islam
Die meisten Muslime in Bielefeld sind türkischer Herkunft. Während der Wirtschaftswunderzeit wurden in Deutschland dringend Arbeiter gesucht. Nach Anwerbevereinbarungen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) schloss die Bundesrepublik 1961 ein entsprechendes Abkommen mit der Türkei. Seitdem leben viele türkeistämmige Menschen hier schon in der dritten oder vierten Generation.
Im Jahr 2004 wurde im Stadtteil Brackwede die Vatan-Moschee fertiggestellt. Der Gemeinde gehören hier rund 350 Mitglieder an.
Jesidentum
In Bielefeld gibt es eine jesidische Gemeinde mit einem Gemeindezentrum im Stadtteil Baumheide.
Museen
Die rund 20 Museen in Bielefeld zeigen neben der Kunst und den Historischen Sammlungen auch die Industriekultur; ebenso greifen sie andere Themen auf. Das Historische Museum zeigt die Geschichte der Stadt Bielefeld und der Region Ostwestfalen-Lippe, insbesondere die Industriegeschichte. Es ist in einigen Hallen der ehemaligen Ravensberger Spinnerei untergebracht, wodurch es den Besucher in die Zeit der Industrialisierung eintauchen lässt. Es wurde hier 1994 eröffnet, die Sammlung greift auf Vorläuferinstitutionen bis auf die Zeit von 1867 zurück. Die Kunsthalle Bielefeld wurde 1966–1968 durch den Amerikaner Philip Johnson erbaut, da es in Bielefeld kein Gebäude für ein reines Kunstmuseum gab. Die Kunsthalle ist der einzige europäische Museumsbau des bekannten Architekten; sie zeigt vorwiegend moderne Kunst aus dem 20. und 21. Jahrhundert.
Des Weiteren finden sich in Bielefeld das Kunstforum Herman Stenner und das Museum Huelsmann. Es ist ein Museum für Kunstgewerbe, wurde 1995 eröffnet und zeigt unter anderem Porzellan und Schmuck, bis hin zu wissenschaftlichen Geräten, wie Sonnenuhren. Zeitgenössische Kunst zeigt der Kunstverein Bielefeld in seinem Museum Waldhof in Form von Malerei, Bildhauerkunst, Fotografie und Zeichnungen. Das Deutsche Fächermuseum zeigt Fächer sowie entsprechende Accessoires und beherbergt eine Fachbibliothek.
Im Spiegelshof ist das Naturkunde-Museum Bielefeld (namu) untergebracht und zeigt den Aufbau der Erdkruste, einheimische Minerale, Fossilien und vieles mehr. Das Bauernhausmuseum im Teutoburger Wald westlich der Innenstadt (nahe Tierpark Olderdissen) ist das älteste Freilichtmuseum Westfalens und zeigt einige gut erhaltene Bauerngebäude aus der Region Ostwestfalen-Lippe und eine Bockwindmühle. Das Hauptgebäude des Museums brannte 1995 vollständig ab und wurde 1998 durch den historischen Hof Möllering ersetzt.
Das Museum Wäschefabrik befindet sich in einer im Original erhaltenen Wäschefabrik. Die Wäschefabrik Juhl & Helmke wurde 1913 errichtet und 1938 unter dem Druck der Judenverfolgung an die Gebrüder Winkel aus Dresden verkauft. Bis 1980 wurde hier von den Wäschefabrik Gebr. Winkel Aussteuerwäsche (Tischwäsche, Leibwäsche, Hemden, Blusen) produziert. Die mit der gesamten Inneneinrichtung und der Unternehmerwohnung erhaltene Fabrik wurde 1987 unter Denkmalschutz gestellt. 1997 wurde das Gebäude als Museum wieder geöffnet.
Der Museumshof Senne besteht aus fünf Fachwerkhäusern, die zusammen eine alte westfälische Hofanlage bilden. Das älteste Gebäude stammt aus dem Jahre 1607, das jüngste aus dem Jahr 1903.
Das Pädagogische Museum ist in der Universität untergebracht. Es enthält unter anderem viele historische Schulmöbel, Lehrer- und Schülerarbeitsgeräte und Anschauungsobjekte. Außerdem befindet sich in ihm eine historische Schulbuchsammlung. Das Museum Osthusschule ist in einer ehemaligen Schule aus dem Jahr 1895 im Stadtbezirk Senne untergebracht. Es verfügt über einen kompletten historischen Klassenraum aus der Zeit um 1900.
Die Historische Sammlung gehört zu den von Bodelschwinghschen Anstalten und verdeutlicht die Baugeschichte und Entwicklung Bethels. Ferner gibt es in Bielefeld ein Krankenhausmuseum.
Die Ausstellung Archäo Welle zeigt ein Bodendenkmal mit Resten der Stadtmauer, Brunnen und Häusern. Es handelt sich dabei um einen ständig offenen Ausstellungsraum in einem Neubau an der Welle.
Im Januar 2022 wurde im Osten von Bielefeld ein Filmmuseum, das MuMa-Forum, eröffnet, das den in Bielefeld geborenen Filmpionieren Friedrich Murnau und Joseph Massolle gewidmet ist.
Theater
Das städtische Theater Bielefeld bietet Musiktheater, Tanztheater und Schauspiel. Spielstätten sind das 1904 eingeweihte Stadttheater des Architekten Bernhard Sehring mit einer bemerkenswerten Jugendstilfassade und das Theater am Alten Markt (TAM). Im ersten und zweiten Stock des TAM befinden sich das TAM zwei und das im Februar 2011 eröffnete TAM drei, dort werden hauptsächlich Stücke zeitgenössischer Autoren aufgeführt. An der Ritterstraße befindet sich die Komödie Bielefeld.
Vorwiegend an Kinder und Jugendliche richten sich das Alarmtheater, das Theaterhaus an der Feilenstraße und das Zentrum Bielefelder Puppenspiele. Das Alarmtheater im westlichen Teil des Zentrums spielt seit 1993 Stücke für Kinder und Jugendliche; es werden aber auch andere Stücke präsentiert. Überregional bekannt geworden ist das Alarmtheater durch seine Aufsehen erregenden Inszenierungen mit großen Gruppen von Jugendlichen zu den Themen Sucht- und Gewaltprävention und Migration. Das Theaterhaus in der Feilenstraße bietet anspruchsvolle Stücke für Kinder und Jugendliche, aber auch Stücke für Erwachsene. Es wird neben Gastauftritten von zwei Theatergruppen bespielt, dem Mobilen Theater und dem Trotz Alledem Theater. Im Zentrum Bielefelder Puppenspiele finden Aufführungen für Kinder statt. Die Bühne wird von zwei Theatergruppen bespielt. Zudem existiert mit den Kammerpuppenspielen im Kamp ein weiteres Puppenspieltheater.
Das Theaterzentrum Tor 6 im ehemaligen Dürkopp-Werk ist seit 2000 Heimat des Theaterlabors, das seit 1983 eigenständig Theaterstücke entwickelt.
Kabarett
Musik
Es gibt drei sinfonische Orchester: die 1901 gegründeten Bielefelder Philharmoniker mit Sitz im Theater Bielefeld, das Anfang 2003 gegründete unabhängige und selbstverwaltete Freie Sinfonieorchester Bielefeld und die Jungen Sinfoniker, das Jugendsinfonieorchester der Region Ostwestfalen-Lippe. Die 1989 gegründete Cooperative neue Musik organisiert Konzerte mit der Musik des 20. Jahrhunderts.
Der Feuerwehr-Musikzug der Stadt Bielefeld, welcher 1956 gegründet wurde und als eines der musikalisch vielseitigsten Orchestern von moderner Unterhaltungs – bis traditioneller Blasmusik spielt, ist neben dem Stadtorchester Brackwede eines der zwei traditionellen Blasorchestern.
Das Orchester Drei Sparren Bielefeld e. V. ist ein modernes symphonisches Blasorchester mit etwa 45 Holz- und Blechbläsern. Es hat eine über 60-jähriger Tradition.
Überregionale Bekanntheit besitzt der Bielefelder Kinderchor. Der 1932 gegründete Chor ist besonders für seine Weihnachtskonzerte und -aufnahmen bekannt. Das unter Mitwirkung des Chors entstandene Weihnachtsalbum der Mannheim Steamroller, Christmas In The Aire, erzielte Platz 3 der US-Billboardcharts.
Die Musik- und Kunstschule der Stadt Bielefeld (MuKu) zählt mit ihren 7.500 Schülern zu den größten ihrer Art in Deutschland. Sie wurde 1956 gegründet und ist heute in der einem Jugendstilgebäude (1913) am Fuße der Sparrenburg beheimatet, das für die 1906 gegründete staatlich-städtische Handwerker- und Kunstgewerbeschule erbaut wurde.
Der Musikverein der Stadt Bielefeld wurde 1820 gegründet. Dreimal pro Saison tritt er mit europäischen Oratorien in der Rudolf-Oetker-Halle auf. Der 1890 gegründete Oratorienchor der Stadt Bielefeld (bis 1978 Volkschor Bielefeld) führt etwa zweimal im Jahr Konzerte in der Rudolf-Oetker-Halle auf. Neben den großen Standardwerken der kirchlichen und weltlichen Chormusik kommen dabei auch immer wieder Stücke etwas abseits des in heutigen Konzertsälen Gewohnten zur Aufführung. Der 1977 von Werner Hümmeke gegründete Universitätschor Bielefeld der Universität Bielefeld inszeniert überwiegend Chor- und Solowerke mit orchestraler Begleitung. Seit einigen Jahren finden etwa zweimal im Jahr Konzerte in der Rudolf-Oetker-Halle statt. Von ehemaligen Mitgliedern des Universitätschors wurde 2006 der Konzertchor Bielefeld gegründet. Ein weiterer Bielefelder Chor sind die Young Voices Bielefeld mit einer Altersspanne zwischen 6 und 34 Jahren. Zum Repertoire gehören geistliche und weltliche Lieder, Rock und Popsongs.
Veranstaltungsorte
Bielefeld verfügt über mehrere moderne Veranstaltungshallen. Diese werden vielfältig genutzt, zum Beispiel für Konzerte, Messen, Ausstellungen oder Opern. Die größte ist die Seidensticker Halle mit einem Fassungsvermögen von 7500 Zuschauern. Sie wurde 1993 als moderne Großsporthalle eröffnet und bietet neben diversen Sportveranstaltungen (Hallenfußball, Handball etc.) auch Platz für größere Konzerte.
Eine der modernsten Hallen ihrer Art ist die Stadthalle Bielefeld mit Platz für bis zu 4500 Zuschauer. Sie bietet sich durch ihre Multifunktionalität für Veranstaltungen jeglicher Art an. Von Konferenzen über Messen und Kabarettveranstaltungen bis hin zu Konzerten findet hier fast jede Veranstaltungsart statt.
Im Westen Bielefelds liegt die Rudolf-Oetker-Halle. Diese Veranstaltungs- und Konzerthalle wurde 1929–1930 nach Plänen der Düsseldorfer Architekten Hans Tietmann und Karl Haake erbaut und am 31. Oktober 1930 eingeweiht. Die Halle verfügt über 1561 Plätze im Großen Saal und 300 Plätze im Kleinen Saal.
Der unter Denkmalschutz stehende Lokschuppen, der 2003 unter dem Namen Ringlokschuppen eröffnet wurde, hat seit vielen Jahren seinen festen Platz als multifunktionale Location im Konzert- und Eventbetrieb Ostwestfalens und darüber hinaus. Das 1905 bis 2007 errichtete Gebäude diente ursprünglich als Wartungsschuppen für Dampf- und später auch Diesellokomotiven. Gerade das macht das Flair der Halle aus, denn sie verbindet alte mit moderner Baukunst. Die Zuschauerkapazität beträgt bis zu 3.000 Personen.
Unter der Kreuzung Detmolder Straße/Niederwall befindet sich der Bunker Ulmenwall; er war 1939 als Sanitätsbunker eingerichtet worden. In der Nachkriegszeit betrieb das Jugendamt bis 1996 dort ein Kulturzentrum, das sich zunehmend in einen Jazzkeller verwandelte. Seit 1996 ist der Veranstaltungsort in der Trägerschaft des eigens dafür gegründeten Vereins. In dieser einzigartigen intimen Atmosphäre, wo die Zuschauer bis auf Tuchfühlung an die Künstler herankommen, haben viele international berühmte Musiker Konzerte vor kleinem Publikum gegeben, beispielsweise Archie Shepp, John Surman, Gunter Hampel, Albert Mangelsdorff, aber auch unbekannte und lokale Künstler finden hier eine ideale Plattform. Außerdem ist der Bunker Ulmenwall seit 1987 Veranstaltungsort für Vorträge des Datenschutzvereins Digitalcourage (vormals FoeBuD) zu gesellschaftlichen und technischen Themen.
Das Jugend- und Kulturzentrum Niedermühlenkamp, kurz KAMP, war ein beliebter Veranstaltungsort für Konzerte, Partys und ähnliche Veranstaltungen. Das Musikmagazin Intro zeichnete es 2004 als siebtbesten Musikclub Deutschlands aus. Der Nutzungsvertrag mit dem Kulturkombinat Kamp e. V. wurde 2013 nicht vom Hausträger, den Falken Bielefeld, verlängert, was das Aus für die Kulturarbeit bedeutete. Das Kulturkombinat veranstaltet seitdem in größeren Abständen Konzerte und Partys an wechselnden Bielefelder Veranstaltungsorten, vor allem im Forum Bielefeld und im Bunker Ulmenwall. Als das Ende der Kulturarbeit im KAMP abzusehen war, gründete sich die Initiative Bielefelder Subkultur, kurz IBS und forderte von der Stadt Räume für nichtkommerzielle Kultur. Die IBS war eigentlich als Unterstützer für den Erhalt des KAMP gedacht, entwickelte sich aber schnell zum Mieter eigener Räumlichkeiten. Das von der IBS betriebene Nummer zu Platz (Nr. z. P.) befindet sich in einem Parkhaus in den Räumlichkeiten der alten KFZ Zulassungsstelle. Der Betrieb der Einrichtung wird ausschließlich durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen gewährleistet. Seit 2013 hat die Bielefelder Subkultur nun nach dem Aus des KAMP wieder einen Platz für Konzerte, Partys und ähnliche Veranstaltungen.
Für Lesungen, Ausstellungen und die Bielefelder Literaturtage werden auch die Räumlichkeiten der Stadtbibliothek genutzt.
Kinos
Bielefeld besitzt außer einem Multiplex-Kino nur noch wenige kleinere Kinos. Die „traditionellen“ Filmtheater haben inzwischen allesamt geschlossen, so z. B. das Movie im Leineweberhaus am Bahnhofsvorplatz, in dem sich heute eine Diskothek mit demselben Namen befindet. Die Kamera, die 1950 von Carl Aul im Haus der Technik gegründet wurde und 1957 in die Feilenstraße umzog, besitzt drei Säle und ist eines der höchstdekorierten Programmkinos der Republik. Ein weiteres Programmkino ist das Lichtwerk im Ravensberger Park mit drei Sälen und Freilichtkino-Veranstaltungen im Sommer. In der Aula der Realschule Brackwede finden an zwei Tagen der Woche Filmvorführungen des Melodie-Filmtheaters statt. Das kleinste Kino ist das aus der ehemaligen Kinogruppe des Arbeiterjugendzentrums hervorgegangene Offkino in den ehemaligen Räumen des Lichtwerks im Filmhaus.
Kulturpreis der Stadt Bielefeld
Zu den Ehrungen der Stadt Bielefeld gehört der Kulturpreis der Stadt Bielefeld: „Mit dem Kulturpreis werden alle zwei Jahre Persönlichkeiten geehrt, die sich durch ihr kulturelles Engagement für die Stadt Bielefeld in hervorragender Weise verdient gemacht oder durch ihre innovativen Aktivitäten das kulturelle Angebot in Bielefeld bereichert haben. […] Die Verleihung des Kulturpreises erfolgt durch den Rat auf Vorschlag des Kulturausschusses.“
Preisträger seit 2009:
2009 Sigurd Prinz (Bildende Kunst), Sigrid Lichtenberger (Literatur), Gerd Lisken (Musik)
2011 Anke Koster (Darstellende Kunst)
2013 Christiane Heuwinkel (Filmkunst)
2015 Veit Mette (Fotokunst)
2017 Offene Ateliers e. V. (verschiedene Kunstrichtungen)
2019 Verein „Bunker Ulmenwall“ (Bildungs- und Musikveranstaltungen)
2021 Dhélé Agbetou (Tänzer und Choreograph)
Sport
Das sportliche Aushängeschild der Stadt ist der DSC Arminia Bielefeld. Die Fußballer des 1905 gegründeten Vereins stiegen 1970 erstmals in die Bundesliga auf und gehörten der höchsten deutschen Spielklasse insgesamt 17 Jahre lang an. Durch seine zahlreichen Ab- und Aufstiege gilt Arminia Bielefeld als Fahrstuhlmannschaft, zuletzt stieg man 2022 in die 2. Bundesliga und 2023 in die Dritte Liga ab. Der DSC trägt seine Heimspiele in der SchücoArena aus. Bis 2004 offiziell und im Volksmund auch weiterhin Alm genannt, verfügt das am westlichen Rand der Innenstadt gelegene reine Fußballstadion über 26.515 Plätze. Ein weiterer traditionsreicher Fußballverein ist der VfB Fichte Bielefeld, dessen Stammverein VfB 03 bis in die 1950er-Jahre ein ebenbürtiger Lokalrivale des DSC Arminia war. Der VfB Fichte spielt in der Westfalenliga und trägt seine Heimspiele im Stadion Rußheide aus. Dieses Multifunktionsstadion mit 12.000 Plätzen wird auch für die Leichtathletik und von den Bielefeld Bulldogs, einem American-Football-GFL2-Club (German Football League 2) genutzt. Mit Arminia Bielefeld und dem VfL Theesen besitzt die Stadt zwei Fußballvereine in der U-19-Bundesliga (Staffel West).
Jedes Jahr im Januar veranstaltet der TuS Jöllenbeck unter dem Motto „Weltklasse in Jöllenbeck“ das Internationale Frauen-Hallenfußball-Turnier, eines der bestbesetzten Hallenfußballturniere Europas, an dem nationale und internationale Spitzenvereine des Frauenfußballs teilnehmen. Der VfL Theesen im Bielefelder Norden sorgt mit der größten Fußball-Jugendabteilung im Kreis für den Nachwuchs. Beachtenswert ist dort das regelmäßige internationale Pfingst-Jugendturnier, zu dem Jugendmannschaften aus Bundesligavereinen und sogar Jugend-Nationalmannschaften aus der ganzen Welt anreisen.
Siehe auch: Fußball in Bielefeld
Der Radsport hat in Bielefeld eine lange Tradition. Das zeigt unter anderem die häufige Rolle als Etappen- (elfmal), Start- (einmal) oder Zielort (zehnmal) der Deutschland Tour. Auf der Bielefelder Radrennbahn, an der Heeper Straße im Stadtbezirk Mitte gelegen, werden unter anderem regelmäßig Steherrennen veranstaltet.
Die höchstklassigen Bielefelder Handballteams sind das Herren- sowie Damenteam des TuS 97 Bielefeld-Jöllenbeck sowie die Herren der TSG Altenhagen-Heepen (zuvor 2014 aus der 3. Liga abgestiegen), die jeweils in der Oberliga Westfalen antreten. Die TSG trägt die Heimspiele in der Sporthalle am Gymnasium Heepen oder in der Seidensticker Halle und der TuS 97 in der Sporthalle der Realschule Jöllenbeck aus.
Die Damen der TSVE Dolphins Bielefeld spielen in der Saison 2008/09 in der 2. Basketball-Bundesliga. Die TSVE-Herren spielen Basketball in der Regionalliga West. Beide Teams tragen ihre Heimspiele in der Sporthalle I der Carl-Severing-Schulen an der Heeper Straße aus.
Die Herren des Telekom Post SV Bielefeld spielen in der Saison 2008/09 in der Volleyball-Regionalliga. Die Heimspiele finden in der Almhalle an der Melanchthonstraße statt.
Der bedeutendste Schachverein der Stadt ist der Bielefelder SK, der in den 1990er-Jahren der Schachbundesliga angehörte. In der Saison 2008/09 spielt der Verein in der NRW-Klasse.
Die Eishockey-Damen des SV Brackwede spielen in der 2. Liga Nord und tragen ihre Heimspiele auf der Oetker-Eisbahn an der Duisburger Straße in Brackwede aus. Dort trainiert auch die Eiskunstlaufabteilung des DSC Arminia.
An der Eckendorfer Straße im Stadtbezirk Heepen befindet sich der Leineweberring, hier veranstaltet der DMSC Bielefeld internationale Motorrad-Grasbahnrennen.
Bielefeld besitzt mehrere Schwimmsportstätten, so u. a. das Freibad Jöllenbeck, das Freibad Schröttinghausen, die Ishara Bade- & Saunawelt, das AquaWede, das Freibad Hillegossen, das Freibad Brackwede, das Freibad Dornberg, das Senner Waldbad sowie das Wiesenbad.
Der 1. Snooker & Billard Club Bielefeld e. V., gegründet 1989, hat sein Vereinsheim in Bielefeld-Stieghorst. Das Vereinsheim gilt mit einem Spielbereich von 450 m² und zurzeit 12 Profi-Snooker-Tischen als das größte private Vereinsheim in Europa.
2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Irland ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
Regelmäßige Veranstaltungen
Volks- und Straßenfeste, Märkte
Im Mai findet in der Altstadt der Leinewebermarkt statt, ein großes mehrtägiges Volksfest mit umfangreichem kulturellen Programm auf mehreren Bühnen.
Beim Carnival der Kulturen (Anfang Juni, seit 1997) studieren viele in- und ausländische Künstlergruppen Choreographien ein und ziehen durch die Straßen der Stadt.
Der Christopher Street Day findet seit 1994 zu wechselnden Terminen von Ende Juni bis Mitte August statt.
Jedes Jahr im Juli ist die Sparrenburg Schauplatz des mittelalterlichen Sparrenburgfestes.
Von der ersten Adventswoche bis zum 30. Dezember findet in den Einkaufszonen der Innenstadt ein Weihnachtsmarkt statt. Weitere Veranstaltungen des Einzelhandels in der Altstadt sind ein Autosalon La Strada im Mai und ein Weinmarkt im September.
In den einzelnen Stadtteilen finden darüber hinaus ebenfalls regelmäßige Veranstaltungen statt, zum Beispiel der Weihnachtsmarkt am Siegfriedplatz, der Stiftsmarkt in Schildesche oder der Schweinemarkt in Brackwede.
Kunst, Musik, Film, Literatur
Die Nachtansichten sind die Nacht der Museen, Kirchen und Galerien. In dieser einen Nacht Ende April haben diverse Museen, Galerien und Kirchen geöffnet. Dazu gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm.
Jährlich im Sommer (zum 25. Mal im Jahr 2015) wird das Tanzfestival Bielefeld durchgeführt, bei dem über zwei Wochen Tanzkurse mit öffentlichen Ergebnisvorführungen und professionelle Tanzveranstaltungen geboten werden.
Am zweiten Wochenende nach den Sommerferien finden alljährlich die Offenen Ateliers Bielefeld statt, an denen die Künstler ihre Ateliers für Besucher öffnen.
Die Nacht der Klänge bietet seit 2004 eine Vielzahl an unterschiedlichen Klangerlebnissen an teilweise außergewöhnlichen Orten des Gebäudes der Universität Bielefeld.
In der Stadtbibliothek Bielefeld finden seit 1996 die Bielefelder Literaturtage statt.
Seit 1989 veranstaltet die hier ansässige Murnaugesellschaft das Film- und Musikfestival, bei dem eine Woche lang Stummfilme und Live-Musik an verschiedenen Spielorten aufgeführt werden.
Zu wechselnden Terminen im Jahr fand bis in die 2010er Jahre der Kneipenkult statt, bei dem eine einwöchige Konzertreihe lokaler Bands nacheinander in mehreren Bielefelder Gaststätten durchgeführt wurde.
Seit 2005 gibt es in Bielefeld unregelmäßig das Honky Tonk Festival.
Gesellschaft und Wissenschaft
Die deutschen Big Brother Awards, Negativpreise zu den Themen Überwachung, Freiheitsrechte und Datenschutz, werden seit 2000 jährlich in Bielefeld vom Verein Digitalcourage vergeben. Da der Verein außerdem seit seiner Gründung 1987, damals noch unter dem Kürzel FoeBuD, selbst in der Stadt ansässig ist und hier viele weitere Aktionen getragen hat, ist Bielefeld in den Medien des Öfteren mit dem Thema Datenschutz in Verbindung gebracht worden. Auch die erste Freiheit-statt-Angst-Demonstration fand 2006 hier statt.
Seit 2008 transportiert im mehrjährigen Rhythmus das Wissenschaftsfest Geniale akademische Fragen und Forschungsfelder aus den Bielefelder Hochschulen auf Straßen und Plätze der Stadt.
Spiel- und Kinderveranstaltungen
Seit 2002 ist das Kinderkulturfest Wackelpeter im Ravensberger Park Teil des Veranstaltungsangebots in den Sommerferien.
Seit 1995 findet jedes Jahr im November die Spielewelt in Bielefeld, eine der größten deutschen Messen für Brett- und Gesellschaftsspiele zum Mitmachen und Ausprobieren, statt.
Sportveranstaltungen
Der Hermannslauf ist ein traditioneller Volkslauf vom Hermannsdenkmal in Detmold über die Höhen des Teutoburger Waldes bis zur Sparrenburg in Bielefeld.
Eine weitere jährliche und noch jüngere Veranstaltung ist im Spätsommer der Stadtwerke Run & Roll Day, eine Laufveranstaltung für Läufer und Rollerskater auf der Stadtautobahn Ostwestfalendamm.
In der Regel im Mai findet im Stadtteil Brackwede der Große Preis der Sparkasse (Radrennen) statt.
Regionale Spezialitäten
In Bielefeld gibt es traditionell westfälische Spezialitäten. Dazu gehört zum Beispiel Pumpernickel, ein Roggenbrot, das nicht gebacken, sondern im Dampf gegart wird. Weitere typisch westfälische Spezialitäten sind der westfälische Pickert, westfälischer Schinken und Weizenkorn. Eine Bielefelder Spezialität ist die Bielefelder Luft, ein Schnaps aus Korn und Pfefferminz.
Bielefeld-Verschwörung
Der Informatiker Achim Held veröffentlichte im Jahr 1994 im Usenet einen satirischen Beitrag mit dem Titel Die Bielefeld-Verschwörung, in dem er die Existenz Bielefelds anzweifelte und deren Vortäuschung als Verschwörung bezeichnete. Im Internet hält sich dieser Scherz bis heute in Form der darauf formulierten Antwort von Joerg Pechau: „Bielefeld gibt es nicht“. Die Stadt nahm anlässlich ihrer 800-Jahr-Feier im Jahr 2014 darauf Bezug, indem sie die Feierlichkeiten unter das Motto stellte: „800 Jahre Bielefeld – Das gibt's doch gar nicht!“ Anlässlich des 25-jährigen „Jubiläums“ der Bielefeld-Verschwörung rief die Stadt Bielefeld im Rahmen eines Wettbewerbs dazu auf, einen unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz Bielefelds zu erbringen. Das Preisgeld betrug 1 Million Euro.
Am 17. September wurde der Wettbewerb für beendet erklärt: kein Teilnehmer hätte eine Nichtexistenz der Stadt beweisen können und das Geld bleibt daher unangetastet.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft
Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung in Bielefeld ist die seit dem 9. Jahrhundert hier nachweisbare Leinenweberei. 1309 schlossen sich die Kaufleute der Wollweber und Tuchhändler zur „Johannisbrüderschaft“ zusammen.
Mit dem Eisenbahnanschluss im Jahr 1847 begann die Industrialisierung Bielefelds. Der Hauptgrund war die jetzt mögliche preisgünstige Lieferung von Kohle aus dem Ruhrgebiet, die für den Betrieb der Dampfmaschinen benötigt wurde. Die erste Fabrik gründeten 1851 die Gebrüder Bozi mit der Spinnerei Vorwärts direkt an der Linie der Köln-Mindener-Eisenbahn. 1854 wurde die Ravensberger Spinnerei von Hermann Delius gegründet, die danach eine Zeit lang zur größten Maschinenspinnerei Europas aufstieg. Das Unternehmen zog sich später vom Markt zurück, der stadtbildprägende Bau steht heute unter Denkmalschutz. 1862 entstand die Mechanische Weberei, in der die erzeugten Garne zu hochwertigen Stoffen weiterverarbeitet wurden. 1870 liefen rund 11 Prozent aller Spindeln und Webstühle Deutschlands in Bielefeld.
Der nächste Schritt war um 1900 die industrielle Fertigung von Tisch- und Bettwäsche, Oberhemden und Blusen. Inzwischen waren metallverarbeitende Firmen entstanden, in denen die benötigten Maschinen entwickelt und gefertigt wurden, dazu gehören unter anderen die Dürkopp-Werke und die Kochs Adler Nähmaschinen Werke. Bei Dürkopp wurden zunächst Nähmaschinen und später Fahrräder, Motorräder, Autos, Lastwagen und Autobusse hergestellt.
Der Apotheker August Oetker hatte Ende des 19. Jahrhunderts die Idee, abgepacktes Backpulver industriell herzustellen. Sein Konzept war so erfolgreich, dass aus seiner Apotheke im Laufe der Zeit ein Unternehmen von Weltruf wurde. Im Jahr 1900 baute Oetker die erste Fabrik und verkaufte 1906 bereits 50 Millionen Päckchen Backin.
Heute wird die Wirtschaft der Stadt durch das verarbeitende Gewerbe mit den Sparten Nahrungs- und Genussmittel, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Chemie und Bekleidung bestimmt. Die wichtigsten Firmen sind August Oetker, Böllhoff, Dürkopp Adler, Dürkopp Fördertechnik, DMG Mori, Möller Group, Thyssenkrupp, Droop & Rein (Starrag Group), Schüco, Goldbeck und Seidensticker. Der Handel ist unter anderen mit Marktkauf Holding, JAB Anstoetz und EK/servicegroup vertreten und im Dienstleistungssektor sind Kühne + Nagel, Piening Personalservice, TNS Emnid, TNS Infratest, Itelligence und ruf zu nennen. Bedeutende Arbeitgeber sind darüber hinaus die Bereiche Bildung und Erziehung, die Universität, Fachhochschulen und Schulen, sowie das Gesundheits- und das Sozialwesen, hier vor allem die Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel mit 18.449 Arbeitsplätzen in Bielefeld größter Arbeitgeber der Stadt.
Im Jahre 2016 erbrachte Bielefeld innerhalb der Stadtgrenzen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 12,860 Milliarden € und belegte damit Platz 28 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 38.588 € pro Kopf (Nordrhein-Westfalen: 37.416 €/ Deutschland 38.180 €) und damit leicht über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt gibt es 2017 ca. 202.300 Erwerbstätige. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,7 % und damit leicht über dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 %.
Von den rund 126.000 sozialversicherten Beschäftigten in der Stadt pendeln rund 40 Prozent aus dem Umland nach Bielefeld ein.
Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Bielefeld Platz 163 von 402 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „ausgeglichenem Chancen-Risiko Mix“.
Seit 2013 ist Bielefeld als Fair-Trade-Stadt ausgezeichnet. In fast 200 Bielefelder Einzelhandelsgeschäften, Cafés, Kirchengemeinden, Schulen, Vereinen und weiteren Organisationen kann man fair gehandelte Produkte erwerben.
Verkehr
Schienen- und Busverkehr
Bielefeld liegt an der elektrifizierten Hauptbahn Köln–Dortmund–Hannover (viergleisige Bahnstrecke Hamm–Minden) der ehemaligen Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft. Im Stadtteil Schildesche überquert die Strecke auf dem nördlichsten Viadukt Deutschlands (Schildescher Viadukt) das Tal des Johannisbachs. Die Strecke trifft in Löhne auf die internationale Bahnstrecke Richtung Amsterdam (Bahnstrecke Löhne–Rheine, Anschlussgleis ab Herford). Am Hauptbahnhof zweigt eine Nebenbahn nach Lemgo bzw. Altenbeken (ehemalige Bahnstrecke Bielefeld–Hameln „Begatalbahn“) ab. Am Bahnhof Brackwede zweigen eingleisige Nebenstrecken in Richtung Osnabrück (Bahnstrecke Osnabrück–Brackwede „Haller Willem“) und Paderborn („Senne-Bahn“ über Hövelhof) ab. Im Stadtgebiet gibt es elf Bahnhöfe beziehungsweise Haltepunkte: Bielefeld Hbf, Bielefeld-Brackwede, Bielefeld-Senne, Bielefeld-Sennestadt, Bielefeld-Windelsbleiche, Bielefeld Ost, Bielefeld-Ubbedissen, Bielefeld-Oldentrup, Bielefeld-Quelle, Bielefeld-Quelle/Kupferheide, Bielefeld-Brake. Stillgelegte Bahnhöfe auf Stadtgebiet sind Bielefeld-Ummeln, Bielefeld-Brackwede Süd und Bielefeld-Hillegossen.
Östlich des Stadtzentrums an der Bahnstrecke nach Lemgo liegt der stillgelegte Containerbahnhof Bielefeld Ost.
Am Bahnhof Brackwede gibt es einen internationalen Busbahnhof für Fernbuslinien. Von hier bestehen zahlreiche Fernbusverbindungen mit Zielen innerhalb Deutschlands und Europas.
Den öffentlichen Personennahverkehr bedienen vier Stadtbahnlinien, Regionalbahnen und Busse. Die Stadtbahn Bielefeld fährt im Innenstadtbereich unterirdisch. Alle Stadtbahnen halten an den U-Bahnhöfen Hauptbahnhof und Jahnplatz sowie am Rathaus. Am Wochenende (Freitag/Samstag, Samstag/Sonntag) und vor Feiertagen fahren Nachtbusse auf einem besonderen Nacht- und Frühverkehrsnetz (sonntags bis 8:30 Uhr). In allen Stadtbahnen, Regionalbahnen und Bussen (ausgenommen Nachtbusse) gilt der Westfalentarif im Netz TeutoOWL.
Bielefeld ist heute die größte Stadt Deutschlands, die in kein S-Bahn-Netz eingebunden ist. Bis 2030 soll die Stadt allerdings in das geplante S-Bahn-System S-Bahn Münsterland sowie bis 2040 in das geplante S-Bahn-System S-Bahn OWL eingebunden werden. Dann wird Augsburg die größte Stadt ohne S-Bahn sein.
Straßenverkehr
Durch das Stadtgebiet Bielefelds führen die Bundesautobahnen A 2 und A 33 sowie die Bundesstraßen B 61 und B 66.
In den 1950er-Jahren wurden für die Hauptverbindungen in Richtung Gütersloh, Herford, Lippe und Werther leistungsfähige Straßen geplant, die zum Teil bestehende Straßenzüge verwenden und zum Teil über neue Trassen verlaufen sollten. Die Neubaustücke waren weitgehend anbaufrei vorgesehen.
Etwa ein Jahrzehnt später wurden die geplanten Straßenzüge als Autobahn vorgesehen. Bislang wurde davon lediglich der Ostwestfalendamm im Zuge der B 61 zwischen den Stadtbezirken Brackwede und Mitte verwirklicht (B 61n), der als Autobahnzubringer zur A 33 dient. Immer noch vorgesehen, aber durchaus umstritten, sind Schnellstraßen im Zuge der B 66 im Osten und der Ostwestfalenstraße (L 712) im Nordosten der Stadt. Weitergehende Planungen wurden verworfen und sollen in der nächsten Zeit aus dem Flächennutzungsplan gestrichen werden.
Flugverkehr
Der nächstgelegene internationale Flughafen ist der Flughafen Paderborn/Lippstadt, der in 45 km Entfernung südwestlich von Bielefeld liegt und über die A 33 zu erreichen ist.
Im Süden der Stadt im Stadtteil Buschkamp liegt in der Nähe der A 2 der Flugplatz Bielefeld. Er verfügt über eine 1256 m lange, befestigte Start-und-Lande-Bahn sowie über eine Startstrecke für den Segelflug. Der Flughafen wird für den Geschäftsflugverkehr sowie von mehreren Luftsportvereinen genutzt.
Fahrradverkehr
Die Stadt ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und hat einen Fahrradbeauftragten. Am Hauptbahnhof befinden sich eine Fahrradstation mit Parkhaus, ein Rad-Center mit Werkstatt und Verkauf. In der Stadt sind der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club und der Verkehrsclub Deutschland mit je einer Geschäftsstelle vertreten. Die Aktionsform Critical Mass findet regelmäßig am letzten Freitag im Monat statt und startet um 19 Uhr auf dem zentralen Platz Kesselbrink.
Öffentliche Einrichtungen
In der Stadt befinden sich die Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe und die Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld.
Zu den elf Krankenhäusern der Stadt gehören unter anderem das Klinikum Bielefeld einschließlich der dazugehörigen Kliniken an der Rosenhöhe und das Evangelische Klinikum Bethel, das aus dem Johanneskrankenhaus und den Kliniken Gilead und Mara besteht. Das Klinikum Bielefeld und das Evangelische Klinikum Bethel sind Teil des Universitätsklinikums OWL. Weitere evangelische Einrichtungen sind die Von Bodelschwinghschen Stiftungen mit dem Hauptsitz im Stadtteil Bethel und das Evangelische Johanneswerk. In katholischer Trägerschaft besteht weiter das Franziskus Hospital Bielefeld. Darüber hinaus ist Bielefeld der Hauptsitz des Arbeitskreises Down-Syndrom e. V., der seit mehr als 30 Jahren bundesweite Beratung und Information zum Thema Trisomie 21 anbietet.
Mehrere überörtliche Behörden haben eine Niederlassung in Bielefeld:
An der Stapenhorststraße befindet sich ein Standort der Bezirksregierung Detmold.
An der Ravensberger Straße hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben eine Niederlassung.
1945 wurde die Sammelstelle für Nachrichten über Führer von Kraftfahrzeugen von Berlin nach Bielefeld verlegt, eine Vorgängerbehörde des Kraftfahrt-Bundesamtes. Als Verkehrsbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen verwaltet eine Regionalniederlassung von Straßen.NRW die Verkehrswege in Ostwestfalen und Lippe.
Die Niederlassung des Bau- und Liegenschaftsbetriebs NRW (BLB.NRW) betreut sämtliche Landesimmobilien in Ostwestfalen-Lippe.
In Bielefeld befinden sich in einem Gerichtszentrum das Amtsgericht Bielefeld, das Arbeitsgericht Bielefeld und das Landgericht Bielefeld.
Die örtliche Filiale der Deutschen Bundesbank ist an der Kavalleriestraße. Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk ist an der Friedrich-Hagemann-Straße in Heepen mit der Regionalstelle Bielefeld vertreten.
Medien
Das Studio Bielefeld ist eines von elf Regionalstudios des Westdeutschen Rundfunks in Nordrhein-Westfalen. Hier werden die Regionalprogramme in Radio und Fernsehen für Ostwestfalen-Lippe produziert und ausgestrahlt. Im Gebäude finden auch wechselnde Kunstausstellungen statt. Es wurde als eins der ersten Regionalstudios 1962 gegründet, um die Region Ostwestfalen-Lippe zu bedienen.
Als Tageszeitungen erscheinen in Bielefeld die Neue Westfälische und das Westfalen-Blatt. Seit dem 2. Juni 1991 ist das Lokalradio Radio Bielefeld in der ganzen Stadt auf 98,3 MHz und 97,6 MHz zu empfangen. Mit 50 Watt sendet außerdem das Campusradio Hertz 87.9 in weite Teile der Stadt und das nichtkommerzielle Einrichtungsradio Antenne Bethel ist im Stadtteil Gadderbaum werktäglich von 18 bis 19 Uhr auf 94,3 MHz zu hören.
Am 17. November 2005 startete der lokale Fernsehsender Kanal 21, der sein Programm seit Juli 2009 beim landesweiten TV-Lernsender nRWision ausstrahlt. nrwision bündelt in seiner Mediathek diese und viele weitere Fernsehsendungen aus Bielefeld bzw. von Fernsehmachern aus Bielefeld.
Im Ortsteil Brackwede befindet sich das Medienarchiv Bielefeld, das sich zum Ziel gesetzt hat, Spiel- und Dokumentarfilme sowie Tondokumente für spätere Generationen zu erhalten. Der Bestand des Archivs umfasst 2015 etwa 9100 Filme auf ca. 45.000 Rollen und mehrere tausend Magnetbänder.
Es erscheinen in Bielefeld regelmäßig verschiedene Anzeigenblätter, darunter im Panorama-Verlag des Westfalen-Blattes OWL am Mittwoch und OWL am Sonntag. Deren Gesamtdruckauflage beträgt – gemeinsam mit Schwesterblättern im Raum Ostwestfalen – knapp eine Million Exemplare. Seit 1989 erscheint alle 14 Tage die Stadtillustrierte ULTIMO, seit 1996 auch in Form einer Internetausgabe.
Seit 1998 hat die Redaktion der wöchentlich erscheinenden Zeitung Sixth Sense der Britischen Streitkräfte in Deutschland ihren Sitz in Bielefeld. Die etwa 80 Seiten starke Zeitung hat eine Auflage von 9000 bis 12.000 Exemplaren.
Im Jahr 2000 startet das Internetangebot WebWecker, das ebenfalls Themen rund um das Bielefelder Stadtleben behandelt. Auch einige Blogs befassen sich mit dem Bielefelder Stadtgeschehen, etwa das hauptsächlich auf Themen rund um den Fußballverein Arminia Bielefeld spezialisierte blog5.
Bildung
Schullandschaft
Bielefeld verfügt über 105 Schulen im primären und sekundären Bildungsbereich (in städtischer oder privater Trägerschaft), die gemeinsam ca. 50 000 Schüler unterrichten. En détail existierten im Jahr 2023 in Bielefeld 48 Grundschulen (davon vier nicht-städtische), 13 Förderschulen (davon neun nicht-städtische), neun Berufskollegs (davon drei nicht-städtische), fünf Gesamtschulen (davon eine nicht-städtische), elf Gymnasien (davon vier nicht-städtische), acht Realschulen und drei Sekundarschulen (davon eine nicht-städtische). Mit der Baumheideschule schloss im Jahr 2022 Bielefelds letzte Hauptschule. Darüber hinaus finden sich in Bielefeld eine nicht-städtische Waldorfschule, zwei öffentliche Versuchsschulen (Oberstufen-Kolleg und Laborschule), eine nicht-städtische Klinikschule, eine nicht-städtische Förderschule Berufskolleg sowie vier Weiterbildungskollege (davon zwei nicht-städtische).
Im Zuge der Inklusion im nordrhein-westfälischen Schulsystem wurden vom Bielefelder Schulamt verschiedene Schulen als Standorte des Gemeinsamen Lernens ausgewiesen, darunter 21 Grundschulen und verschiedene weiterführende Schulen.
Zu den weiteren Bildungseinrichtungen gehören ein Tagesgymnasium für Erwachsene, eine griechische Ergänzungsschule, eine Diätlehranstalt, verschiedene Pflegeschulen sowie außerschulische Bildungsangebote wie etwa die städtische Musik- und Kunstschule.
Hochschulen
An der 1969 gegründeten Universität Bielefeld sind circa 22.000 Studenten eingeschrieben. Das 1972 fertiggestellte Hauptgebäude ist nach dem Parlamentspalast in Bukarest das flächenmäßig zweitgrößte Gebäude in Europa. Zurzeit entstehen mehrere Ersatz- und Erweiterungsbauten. Vorgesehen ist eine Grundsanierung des Uni-Hauptgebäudes in den nächsten 10 Jahren.
Die Fachhochschule Bielefeld besitzt Abteilungen in Bielefeld, Minden und Gütersloh. Am Standort Bielefeld werden zahlreiche Studiengänge aus den Feldern Ingenieurwissenschaften, Gestaltung, Soziales/Pflege/Gesundheit und Wirtschaft angeboten. An der 1971 gegründeten Fachhochschule sind circa 6600 Studenten eingeschrieben. Die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen hat seit 1976 in Bielefeld eine Abteilung für die Studiengänge Kommunaler Verwaltungsdienst, Staatlicher Verwaltungsdienst und Polizeivollzugsdienst.
Der Standort Bielefeld der 2007 gegründeten Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel wurde am 13. Februar 2009 geschlossen. Dort wurde der Studiengang Evangelische Theologie angeboten. Der Standort Wuppertal blieb erhalten. Vorgängereinrichtung war die 1905 gegründete Kirchliche Hochschule Bethel, die auf die Ideen Friedrich von Bodelschwinghs zurückging. Die Fachhochschule der Diakonie wurde 2006 von den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, dem Johanneswerk sowie weiteren diakonischen Trägern gegründet. Sie bietet Studiengänge im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie eine Ausbildung zum Diakon an.
Die Fachhochschule des Mittelstands (FHM) wurde im Jahr 2000 in privater Trägerschaft gegründet und bietet speziell auf den Mittelstand ausgerichtete, staatlich anerkannte Studiengänge aus den Bereichen Medien, Journalismus, Marketing, Informatik und Wirtschaft an. Die FHM hat ihren Sitz in Bielefeld mit Niederlassungen in Bamberg, Düren, Hannover, Köln, Frechen, Rostock, Berlin, Waldshut-Tiengen.
Die private und staatlich anerkannte Fachhochschule der Wirtschaft hat seit 2001 einen Standort mit dem Fachbereich Wirtschaft in Bielefeld.
Wasserversorgung
Das Trinkwasser in Bielefeld wird ausschließlich aus Grundwasser gefördert. Das erste Wasserwerk wurde 1890 im Sprungbachtal in der Senne in Betrieb genommen. 1906 folgte ein zweites Wasserwerk. Das dritte Wasserwerk mit zwölf Brunnen wurde 1929 am späteren Flugplatz Windelsbleiche errichtet. Zehn Jahre später folgte der Bau des Wasserwerkes 4 in Lipperreihe. Weitere Maßnahmen folgten. Die Wassergewinnung und -versorgung wird durch die Stadtwerke Bielefeld übernommen. Aktuell fördern sie in 15 Wasserwerken und 154 Brunnen knapp 20 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr. Von den Wasserwerken wird das Wasser in Hochbehälter auf den Kamm des Teutoburger Waldes gepumpt.
Open Innovation City
Open Innovation City ist ein von der Landesregierung NRW und dessen Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart gefördertes Projekt, das den Offene-Innovation-Ansatz in die Stadt Bielefeld implementieren soll. Das im Jahr 2019 begonnene Projekt wird mit 5,4 Millionen Euro gefördert. Bielefeld ist die erste „Open Innovation“-Stadt Deutschlands. Zu den bislang realisierten Projekten gehörten unter anderem der BIE-City-Hackathon.
Die Initiatoren des Projekts sind die Fachhochschule des Mittelstands, die Founders Foundation, Maschinenbau OWL und der Pioneers Club.
Persönlichkeiten
Ehrenbürger
Die Stadt Bielefeld hat seit 1856 zehn Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen. Es wurde dem Unternehmer Rudolf-August Oetker verliehen, dem Leiter der Oetker-Gruppe und Stifter der Kunsthalle der Stadt Bielefeld. Hermann Delius, der ein Pionier in der technologischen Entwicklung der Leinenweberindustrie war und den mechanisierten Webstuhl sowie andere Verarbeitungsmaschinen einführte, wurde ebenfalls zum Ehrenbürger. Er war lange Jahre der größte Arbeitgeber Bielefelds und begründete ihren Ruf als Leineweberstadt. Gerhard Bunnemann, der als Bürgermeister die Stadt durch zahlreiche Neubauten und einen wirtschaftlichen Aufschwung prägte, erhielt ebenfalls den Status als Ehrenbürger. Alexander Funke, der langjährige Leiter der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel gehört ebenfalls zu den zehn Ehrenbürgern.
Söhne und Töchter der Stadt
Bekannte Bielefelder sind (nach Geburtsjahr geordnet):
Hermann von Schildesche (ca. 1290–1357), Augustiner-Eremit, theologischer Schriftsteller
Johannes Friedrich Ludwig Schröder (1774–1845), lutherischer Theologe und Mathematiker
Wilhelm Jokusch (1867–1945), Oberbürgermeister der Stadt Lüdenscheid
Otto Jacobi (1803–1855), Pseudonym Otto vom Ravensberg, Jurist und Dichter
Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere (1877–1946), Leiter der Von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel ab 1910
Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931), Filmregisseur
Hermann Stenner (1891–1914), Maler und Grafiker
Charlotte Houtermans (1899–1993), geborene Johanne Auguste Charlotte Riefenstahl, Physikochemikerin
Heinrich Teitge (1900–1974), Mediziner, Hochschullehrer und SS-Führer
Erich Consemüller (1902–1957), Architekt und Fotograf am Bauhaus
Horst Wessel (1907–1930), Nationalsozialist, Verfasser des späteren Horst-Wessel-Liedes
Martin Goldstein (1927–2012), Psychotherapeut, bekannt als Dr. Sommer
Erich Engelbrecht (1928–2011), Bildhauer
Horst Weber (Anglist) (* 1933), Hochschullehrer, Publizist und Buchautor
Rüdiger Nehberg (1935–2020), Menschenrechtsaktivist und Überlebenskünstler
Reiner Uthoff (* 1937), Theaterleiter und Autor
Hannes Wader (* 1942), Liedermacher
Bernhard Schlink (* 1944), Schriftsteller, Verfasser des Weltbestsellers Der Vorleser
Irmgard Möller (* 1947), ehemaliges Mitglied der Rote Armee Fraktion
Hans-Werner Sinn (* 1948), Ökonom, ehemaliger Präsident des ifo
Thomas Meyer-Fiebig (* 1949), Komponist
Thomas Wilbrandt (* 1952), Komponist und Dirigent
Volkhard Knigge (* 1954), Historiker, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von September 1994 bis April 2020
Christoph Grohmann (1955–2023), Kirchenmusiker, Orgeldozent und Konzertorganist
Gustav Peter Wöhler (* 1956), Schauspieler
Christina Rau (* 1956), Politologin, Witwe des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, „First Lady“ der Bundesrepublik (1999–2004)
Hera Lind (* 1957), Schriftstellerin
Ingolf Lück (* 1958), Schauspieler, Komiker und Moderator
Rena Tangens, Mitbegründerin von Digitalcourage und Trägerin der Ehrennadel der Stadt
Lars-Olav Beier (* 1965), Journalist, Filmkritiker und Sachbuchautor
Oliver Welke (* 1966), Komiker und Moderator
Sebastian Hellmann (* 1967), Fernsehmoderator und -kommentator bei Sky
Ingo Oschmann (* 1969), Komiker
Ralph Ruthe (* 1972), Cartoonist, Autor und Musiker
Susanne Wolff (* 1973), Schauspielerin
Abdelkarim (* 1981), Komiker, Kabarettist und Fernsehmoderator
Marc Wübbenhorst (* 1981), Pädagoge, Heimatpfleger (Sennestadt) und „Deutschlands durstigster Mann“
Christian Akber-Sade (* 1982), Fernsehmoderator und -reporter bei Sky
Can Fischer (* 1984), Schauspieler, Regisseur, Autor und Theatermacher
Anja Blacha (* 1990), Ausdauer- und Extremsportlerin sowie Abenteurerin
Björn Ingmar Böske (* 1991), Schauspieler
Mieke Kröger (* 1993), Radrennfahrerin, u. a. Olympiasiegerin in der Mannschaftsverfolgung
Jasmin Minz (* 1993), Schauspielerin
Weitere Persönlichkeiten
Weitere Persönlichkeiten sind zwar nicht in der Stadt geboren, aber durch ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Wirken eng mit Bielefeld verbunden:
Reinhard Selten erhielt als bisher einziger Deutscher den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, war am Zentrum für mathematische Wirtschaftsforschung der Universität Bielefeld tätig und war Mitglied des Beirates des Zentrum für interdisziplinäre Forschung.
Friedrich von Bodelschwingh der Ältere (1831–1910), Leiter der später ihm zu Ehren benannten Von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (ab 1872), prägend für den Aufbau von Bethel
Altbundeskanzler Gerhard Schröder legte 1966 am Westfalen-Kolleg Bielefeld sein Abitur ab.
Der Soziologe Norbert Elias lehrte an der Universität Bielefeld und ist ihr Ehrendoktor.
Niklas Luhmann, ebenfalls Soziologe, wurde 1968 der erste Professor der Universität Bielefeld, wo er die erste soziologische Fakultät im deutschsprachigen Raum mitprägte, dort lehrte und bis zu seiner Emeritierung 1993 forschte.
Franz-Xaver Kaufmann, Soziologe, war Mitbegründer der Fakultät für Soziologie und wirkte dort von 1969 bis zu seiner Emeritierung (1997) als Professor für Sozialpolitik und Soziologie. Von 1979 bis 1983 war er Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, von 1980 bis 1992 am von ihm gegründeten Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik.
Helmut Schelsky, auch Soziologe, gründete das Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld.
Hartmut von Hentig, Erziehungswissenschaftler und Reformpädagoge, war Professor für Pädagogik, gründete und leitete die Laborschule Bielefeld.
Eike von Savigny, Sprachphilosoph, war von 1977 bis 2006 Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld.
Der Rechtswissenschaftler und ehemalige Bundesinnenminister Werner Maihofer lehrte an der Universität Bielefeld.
Auch Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, war Dozent an der Universität Bielefeld.
Der Fernsehjournalist Friedrich Nowottny arbeitete als Lokalreporter in Bielefeld.
Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen volontierte bei der Freien Presse, einer Vorgängerzeitung der Neuen Westfälischen in Bielefeld.
Kai Diekmann, Journalist, wuchs in Bielefeld auf.
Auch Philipp Köster, Chefredakteur und Herausgeber des Fußballmagazins 11 Freunde, wuchs hier auf.
Der Ingenieur und Unternehmer Ernst Rein gründete gemeinsam mit dem damaligen Sekretär der Bielefelder Handelskammer Theodor Droop die Droop & Rein Werkzeugmaschinenfabrik.
Der Rapper Casper lebte einige Jahre in Bielefeld und versteht Bielefeld als seine Heimat.
Der Profiboxer Marco Huck wuchs in Bielefeld-Brackwede auf.
Alexander Gruber war Chefdramaturg der Bühnen der Stadt Bielefeld, Initiator des Bielefelder Opernwunders.
Der Unternehmer und Mechaniker Nikolaus Dürkopp gründete in Bielefeld die Dürkoppwerke A.G., einer der beiden Vorläufer der heutigen Dürkopp Adler AG.
Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer war vor ihrer ersten Wahl in den Bundestag 1983 als Dozentin in der Evangelischen Heimvolkshochschule bei den Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel in Bielefeld tätig.
Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und MdB für den Bundestagswahlkreis Bielefeld, studierte und lebt in der Stadt.
Aylin Tezel, deutsche Schauspielerin u. a. Tatort, wuchs in Bielefeld-Sennestadt auf.
Christina Kampmann, SPD, ehemalige Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen.
Torsten Albig, SPD, ehemaliger Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, studierte an der Universität Bielefeld.
Der Sozialpsychologe und Schriftsteller Hans Dieter Mummendey lehrt an der Universität Bielefeld.
Heiner Bielefeldt lehrte an der Universität Bielefeld, Philosoph und ehem. Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats
Die Kulturwissenschaftlerin Ingrid Hentschel lehrt am Fachbereich Sozialwesen der FH Bielefeld.
Der Rapper Timi Hendrix lebt und arbeitet in Bielefeld.
Gerd Lisken war von 1972 bis 1993 Professor für Musikpädagogik, erst an der Pädagogischen Hochschule, danach an der Universität Bielefeld. 2009 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Bielefeld.
Der Künstler und Bürgerrechtler padeluun gründete in Bielefeld gemeinsam mit Rena Tangens und anderen den Verein Digitalcourage, der die BigBrotherAwards ausrichtet. Er ist Träger der Ehrennadel der Stadt Bielefeld.
Die Schriftstellerin und Krimiautorin Mechtild Borrmann lebt in Bielefeld.
Der Chemiker Adolf Klenk arbeitet seit 1990 in Bielefeld und erlangte ab 2007 als Testimonial für unter seiner Leitung entwickelte Haarwaschmittel bundesweite Bekanntheit.
Der Unternehmer und Schlosser Heinrich Koch gründete zusammen mit Carl Baer zur Jahreswende 1860/1861 die erste Bielefelder Nähmaschinenfabrik unter dem Namen C. Baer & Koch.
Siehe auch
Literatur
Andreas Beaugrand (Hrsg.): Stadtbuch Bielefeld, Tradition und Fortschritt in der ostwestfälischen Metropole. Westfalen Verlag, Bielefeld 1996, ISBN 3-88918-093-0
Doris Bergs, Philipp Sondermann: Bielefeld. Der neue Stadtführer von A bis Z. Bremen/Boston 2000, ISBN 3-927155-72-1.
Friedrich W. Bratvogel: Stadtentwicklung und Wohnverhältnisse in Bielefeld unter dem Einfluß der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Ardey-Verlag, Dortmund 1989, ISBN 3-925227-29-6
Jörg Koch: Bielefeld vor 100 Jahren, Sutton Verlag, Erfurt 2013, ISBN 978-3-95400-287-0
Hans-Jörg Kühne: Bielefeld von A bis Z. Wissenswertes in 1.500 Stichworten über Geschichte, Kunst und Kultur. Aschendorff, Münster 2007, ISBN 978-3-402-00233-9.
Roland Siekmann: Stadtführer Bielefeld – Ein Wegweiser zu Plätzen und Parks, durch Geschichte, Kultur und Landschaft. tpk-Regionalverlag, Bielefeld 2008, ISBN 978-3-936359-09-1.
Susanne Tatje: Unsere Zukunft – Meine Stadt. KunstSinn-Verlag, Ein Buch über den demographischen Wandel für junge Menschen von 10 bis 100. KunstSinn-Verlag, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-939264-07-1.
Magistrat der Stadt Bielefeld (Hrsg.): Bielefeld – Das Buch der Stadt. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1926. Weidlich, Frankfurt 1978, ISBN 3-8128-0016-0.
Heinz Stoob: Westfälischer Städteatlas. Band: I, 3 Teilband. Im Auftrage der Historischen Kommission für Westfalen und mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, hrsg. von Heinz Stoob und Wilfried Ehbrecht. Stadtmappe Bielefeld, Dortmund-Altenbeken 1975, ISBN 3-89115-330-9.
Arne Thomsen: Bielefeld so wie es war. Droste Verlag, Düsseldorf 2014, ISBN 978-3-7700-1516-0
Roland Linde, Lutz Volmer (Hrsg. Landwirtschaftlicher Kreisverband Bielefeld): unglaublich bodenständig. Das ländliche Bielefeld und seine Geschichte. Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld 2014, ISBN 978-3-89534-898-3.
Weblinks
Bielefeld bei stadtpanoramen.de
Fußnoten
Einzelnachweise
Regiopolregion
Ort in Nordrhein-Westfalen
Kreisfreie Stadt in Nordrhein-Westfalen
Gemeinde in Nordrhein-Westfalen
Hansestadt
Teutoburger Wald
Deutsche Universitätsstadt
Ersterwähnung 1214 |
2658 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt%20Tucholsky | Kurt Tucholsky | Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er veröffentlichte unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel.
Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik). Er verstand sich selbst als linker Demokrat, Sozialist, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus.
Leben
Kindheit, Jugend, Studium
Kurt Tucholskys Elternhaus steht in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Stettin, wohin sein Vater aus beruflichen Gründen versetzt worden war. Der jüdische Bankkaufmann Alex Tucholsky (1855–1905) hatte 1887 seine Cousine Doris Tucholski (1861–1943) geheiratet, mit der er drei Kinder hatte: Kurt, ihren ältesten Sohn, sowie Fritz und Ellen. 1899 kehrte die Familie nach Berlin zurück.
Während Tucholskys Verhältnis zu seiner Mutter zeitlebens getrübt war, liebte und verehrte er seinen Vater sehr. Alex Tucholsky starb bereits 1905. Doris Tucholski wurde im Mai 1943 in einem sogenannten Alterstransport in das KZ Theresienstadt deportiert und dort ermordet.
Der Vater hatte seiner Frau und den Kindern ein beachtliches Vermögen hinterlassen, das es Kurt ermöglichte, frei von finanziellen Sorgen zu studieren. Kurt Tucholsky wurde 1899 im Französischen Gymnasium Berlin eingeschult. 1903 wechselte er auf das Königliche Wilhelms-Gymnasium, das er 1907 verließ, um sich mit einem Privatlehrer auf das Abitur vorzubereiten. Nach dem Externen-Abitur im Jahre 1909 begann er im Oktober desselben Jahres in Berlin ein Jurastudium, dessen zweites Semester er im Frühjahr 1910 an der Universität Genf absolvierte.
Tucholskys Interesse galt auch während des Studiums vor allem der Literatur. So reiste er mit seinem Freund, dem Zeichner Kurt Szafranski, im September 1911 nach Prag, um den von ihm geschätzten Schriftsteller und Kafka-Freund Max Brod mit einem Besuch und einer selbst gebastelten Miniaturlandschaft zu überraschen. Nach einer Begegnung mit Tucholsky notierte Franz Kafka über ihn am 30. September 1911 in seinem Tagebuch:
Zu einer juristischen Karriere kam es jedoch nicht. Da Tucholsky gegen Ende seines Studiums bereits sehr stark journalistisch engagiert war, verzichtete er 1913 darauf, die erste juristische Staatsprüfung abzulegen. Dies kam einem Verzicht auf eine mögliche Karriere als Anwalt gleich. Um dennoch einen Studienabschluss zu erlangen, bat er im August 1913 bei der Universität Jena um Zulassung zur Promotion zum Dr. iur. Seine im Januar 1914 eingereichte Dissertation zum Hypothekenrecht wurde zunächst abgelehnt, nach mehrfacher Überarbeitung dann aber doch angenommen. Sie trägt den Titel „Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen“. Tucholsky verteidigte sie am 19. November 1914 und bestand cum laude. Nach Druck und Auslieferung der Pflichtexemplare wurde ihm am 12. Mai 1915 die Promotionsurkunde ausgehändigt.
Erste Erfolge als Schriftsteller
Bereits während seiner Zeit als Schüler hatte Tucholsky seine ersten journalistischen Arbeiten verfasst. Die satirische Wochenzeitschrift Ulk hatte 1907 den kurzen Text Märchen gedruckt, in dem sich der 17-Jährige über den Kunstgeschmack Kaiser Wilhelms II. lustig gemacht hatte. Während des Studiums intensivierte er seine journalistische Tätigkeit, unter anderem für das sozialdemokratische Parteiorgan Vorwärts. Für die SPD zog er 1911 in den Wahlkampf.
Mit Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte (kurz: Rheinsberg) veröffentlichte Tucholsky 1912 eine Erzählung, in der er einen für die damalige Zeit ungewohnt frischen, verspielt-erotischen Ton anschlug und die ihn erstmals einem größeren Publikum bekannt machte. In diesem Buch verarbeitete er ein gemeinsames Wochenende mit Else Weil im August 1911. Um den Absatz des Buches zu fördern, eröffnete Tucholsky zusammen mit Szafranski, der die Erzählung illustriert hatte, auf dem Berliner Kurfürstendamm eine „Bücherbar“: Jeder Käufer eines Buches bekam dort als Zugabe einen Schnaps eingeschenkt. Der Studentenulk wurde jedoch nach wenigen Wochen wieder eingestellt.
Langfristiger wurde ein Engagement, das Tucholsky Anfang 1913 begann. Am 9. Januar 1913 erschien sein erster Artikel in der linksliberalen Theaterzeitschrift Die Schaubühne, dem 1918 in Die Weltbühne umbenannten Wochenblatt des Publizisten Siegfried Jacobsohn, der bis zu seinem Tod Tucholskys Mentor und Freund blieb. Das enge Verhältnis zu ihm beschrieb Tucholsky 1933 in einem selbst verfassten Lebenslauf für den Einbürgerungsantrag in Schweden: In jeder Ausgabe der Schaubühne erschienen üblicherweise zwei bis drei Artikel, Kritiken oder Satiren von Tucholsky.
Soldat im Ersten Weltkrieg
Der Beginn der journalistischen Karriere wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Von August 1914 bis Oktober 1916 erschien nur ein einziger Artikel von Tucholsky. Im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern und Dichtern ließ er sich nicht von der patriotischen Hurra-Stimmung zu Beginn des Krieges anstecken. Nach seiner Promotion Anfang 1915 wurde er bereits am 10. April desselben Jahres eingezogen und an die Ostfront nach Polen geschickt. Dort erlebte er zunächst Stellungskämpfe mit und diente als Armierungssoldat, dann als Kompanieschreiber. Von November 1916 an brachte er die Feldzeitung Der Flieger heraus. In der Verwaltung der Artillerie-Fliegerschule in Alt-Autz in Kurland (heute Auce, Lettland) lernte er seine spätere zweite Frau Mary Gerold kennen. Die Posten als Schreiber und Feldzeitungs-Redakteur sah Tucholsky als gute Möglichkeiten an, einen Dienst im Schützengraben zu umgehen. Rückblickend schrieb er:
Diese Mittel entbehrten zum Teil nicht einer gewissen Komik, wie aus einem Brief an Mary Gerold hervorgeht:
Während des Krieges schloss Tucholsky eine enge, lebenslange Freundschaft mit Erich Danehl und Hans Fritsch. Beide verewigte er später als „Karlchen“ und „Jakopp“ in den Reiseberichten Das Wirtshaus im Spessart und Denkmal am Deutschen Eck, in dem Roman Schloss Gripsholm und in weiteren Texten.
Der Jurist Danehl verhalf Tucholsky 1918 zur Abkommandierung als Vizefeldwebel und Feldpolizeikommissar nach Rumänien. Dort, in Turnu Severin, ließ er sich im Sommer 1918 protestantisch taufen. Aus der jüdischen Gemeinde war er bereits am 1. Juli 1914 ausgetreten.
Obwohl Tucholsky sich noch im August 1918 an einem Preisausschreiben zur 9. Kriegsanleihe beteiligt hatte, kehrte er im Herbst 1918 als überzeugter Antimilitarist und Pazifist aus dem Krieg zurück.
Kampf um die Republik
Schon im Dezember 1918 übernahm Tucholsky die Chefredaktion des „Ulk“, die er bis zum April 1920 innehatte. Ulk war die wöchentliche satirische Beilage des liberalen Berliner Tageblatts des Verlegers Rudolf Mosse.
Auch für die Weltbühne arbeitete er nun wieder regelmäßig. Um das linksdemokratische Wochenblatt nicht allzu „Tucholsky-lastig“ erscheinen zu lassen, hatte er sich bereits 1913 drei Pseudonyme zugelegt, die er bis zum Ende seines publizistischen Wirkens beibehielt: Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panter. Da Theobald Tiger zeitweise für den Ulk reserviert war, erschienen in der Weltbühne im Dezember 1918 erstmals Gedichte unter einem vierten Pseudonym, Kaspar Hauser. Sehr selten, insgesamt nur fünf Mal, veröffentlichte er Texte unter den Namen Paulus Bünzly, Theobald Körner und Old Shatterhand, wobei die Zuschreibung des letztgenannten Pseudonyms in der Forschung umstritten ist. Die Entstehung seiner Pseudonyme erklärte Tucholsky rückblickend:
Die vielen Pseudonyme waren nötig geworden, weil es kaum eine Rubrik gab, zu der Tucholsky nichts beizutragen hatte: von politischen Leitartikeln und Gerichtsreportagen über Glossen und Satiren bis zu Gedichten und Buchbesprechungen. Zudem dichtete er Texte, Lieder und Couplets für das Kabarett – etwa für die Bühne Schall und Rauch – und für Sängerinnen wie Claire Waldoff und Trude Hesterberg. Im Oktober 1919 erschien Tucholskys Gedichtsammlung Fromme Gesänge.
In die unmittelbare Zwischenkriegszeit fällt ein Engagement Tucholskys, das er im Rückblick bereute: seine von Juli 1920 bis April 1921 währende, sehr gut bezahlte Tätigkeit für das Propagandablatt Pieron. Im Auftrag der Reichsregierung sollte die Zeitschrift vor der Volksabstimmung über die endgültige deutsch-polnische Grenzziehung in Oberschlesien anti-polnische Stimmung machen. Die von anderen Zeitungen stark kritisierte Demagogie und Hetze des Pieron hatten schließlich zur Folge, dass Tucholsky nicht mehr für Blätter der USPD schreiben durfte. Zwar sprach ihn im Juni 1922 eine USPD-Schiedskommission vom Vorwurf frei, gegen die Bestrebungen der Partei gearbeitet zu haben. Tucholsky urteilte über sein Verhalten jedoch später:
Als politischer Autor hatte Tucholsky bereits im Januar 1919 in der Weltbühne die anti-militaristische Artikelserie Militaria gestartet, ein Angriff auf den wilhelminischen Geist der Offiziere, den er durch den Krieg zusätzlich verroht sah und der in der Republik weiterlebte. Seine eigene Haltung als Soldat während des Krieges soll sich aber nicht wesentlich von derjenigen unterschieden haben, die er am deutschen Offizierskorps so scharf kritisierte. Biografen sehen daher in den „Militaria“-Artikeln . Im ersten Artikel der Serie heißt es unter anderem:
In ebenso heftiger Weise prangerte Tucholsky auch die zahlreichen politischen Morde an, die die Weimarer Republik in den ersten Jahren erschütterten. Immer wieder wurden Anschläge auf linke, pazifistische oder liberale Politiker und Publizisten verübt, zum Beispiel auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Walther Rathenau, Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Maximilian Harden. Als Prozessbeobachter in Verfahren gegen rechtsradikale Fememörder musste er feststellen, dass die Richter in aller Regel die monarchistischen und nationalistischen Ansichten der Angeklagten teilten und mit ihnen sympathisierten. In seinem Artikel Prozeß Harden schrieb er 1922:
Tucholsky sparte auch nicht mit Kritik an demokratischen Politikern, die seiner Meinung nach zu nachsichtig mit ihren Gegnern umgingen. Nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 richtete er in einem Gedicht einen Appell an die Selbstachtung der Republik:
Tucholsky beließ es daher nicht bei seiner publizistischen Tätigkeit, sondern betätigte sich auch direkt politisch. So wirkte er unter anderem im Oktober 1919 an der Gründung des Friedensbundes der Kriegsteilnehmer mit und engagierte sich in der USPD. Die Mitgliedschaft in einer Partei hielt Tucholsky aber nie von der Kritik an ihren Mitgliedern ab. So urteilte er zum Beispiel über die Leistung von Rudolf Hilferding als Chefredakteur der USPD-Zeitung Freiheit:
Besonders hart ging er mit der SPD ins Gericht, deren Führung er ihr Versagen, ja Verrat an den eigenen Anhängern während der Novemberrevolution vorwarf. Über Friedrich Ebert schrieb er 1922 in Prozeß Harden:
In der Hochphase der Inflation sah Tucholsky sich gezwungen, seine publizistische Arbeit zugunsten einer Tätigkeit in der Wirtschaft zurückzustellen. Doch nicht nur finanzielle Gründe sollen für diesen Schritt eine Rolle gespielt haben. Im Herbst 1922 hatte er eine schwere Depression, zweifelte am Sinn des Schreibens und soll sogar einen ersten Selbstmordversuch begangen haben. Am 1. März 1923 trat er schließlich in das Berliner Bankhaus Bett, Simon & Co. ein, wo er als Privatsekretär des Seniorchefs Hugo Simon arbeitete. Aber bereits am 15. Februar 1924 schloss er erneut einen Mitarbeitervertrag mit Siegfried Jacobsohn. Als Korrespondent der Weltbühne und der angesehenen Vossischen Zeitung ging er im Frühjahr 1924 nach Paris.
Auch in privater Hinsicht gab es 1924 große Veränderungen im Leben Tucholskys. Im Februar 1924 ließ er sich von der Ärztin Else Weil, die er im Mai 1920 geheiratet hatte, wieder scheiden. Am 30. August 1924 heiratete er schließlich Mary Gerold, mit der er seit seiner Abkommandierung von Alt-Autz weiter in Briefkontakt gestanden hatte. Bei ihrem Wiedersehen in Berlin, im Frühjahr 1920, hatten die beiden noch festgestellt, dass sie sich einander entfremdet hatten. Im Jahr 1926 bezogen Kurt und Mary Tucholsky ein Haus in der Avenue des Pages im Pariser Vorort Le Vésinet. Allerdings sollte sich auch in Paris zeigen, dass sie es nicht über längere Zeit miteinander aushielten.
Zwischen Frankreich und Deutschland
Wie sein Vorbild Heinrich Heine lebte Tucholsky seit der Übersiedelung nach Paris die meiste Zeit im Ausland und kehrte nur noch sporadisch nach Deutschland zurück. Die Distanz schärfte aber eher noch sein Wahrnehmungsvermögen für die Angelegenheiten Deutschlands und der Deutschen. Er beteiligte sich über die Weltbühne weiter an den politischen Debatten in der Heimat. Darüber hinaus versuchte er, wie Heine im 19. Jahrhundert, das gegenseitige Verständnis von Deutschen und Franzosen zu fördern. In Le Vésinet entstand 1926 die essayistische Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch, die nach ihrem Erscheinen 1927 völkische Kreise veranlasste, ihn als „Franzosenliebling“ und „Undeutschen“ zu denunzieren. Tucholsky, der am 24. März 1924 in die Freimaurerloge Zur Morgenröte in Berlin – zum Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne gehörig – aufgenommen worden war, besuchte Logen in Paris und wurde im Juni 1925 Mitglied in den beiden Logen L'Effort und Les Zélés Philanthropes in Paris (Grand Orient de France).
1926 wurde Tucholsky in den Vorstand der von Kurt Hiller gegründeten Gruppe Revolutionärer Pazifisten gewählt.
Als Siegfried Jacobsohn im Dezember 1926 starb, erklärte sich Kurt Tucholsky sofort bereit, die Leitung der Weltbühne zu übernehmen. Da ihm die Arbeit als „Oberschriftleitungsherausgeber“ aber nicht behagte und er dafür dauerhaft nach Berlin hätte zurückkehren müssen, übergab er das Blatt schon bald seinem Kollegen Carl von Ossietzky. Als Mitherausgeber sorgte er immer auch für den Abdruck unorthodoxer Beiträge, wie sie z. B. Kurt Hiller lieferte.
In den Jahren 1927 und 1928 erschienen seine essayistische Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch, die Textsammlung Mit 5 PS (womit sein Name und die vier Pseudonyme gemeint waren) und Das Lächeln der Mona Lisa. Mit den literarischen Figuren des Herrn Wendriner und des Lottchen beschrieb er typische Berliner Charaktere seiner Zeit.
Gleichzeitig blieb er ein kritischer Beobachter der Zustände in Deutschland. So prangerte er im April 1927 in dem dreiteiligen Artikel Deutsche Richter in der Weltbühne die in seinen Augen reaktionäre Justiz der Weimarer Republik an. Nach Tucholskys Überzeugung war eine zweite, diesmal erfolgreiche Revolution nötig, um eine grundlegende Änderung der undemokratischen Verhältnisse herbeizuführen. Er schrieb:
Ganz ähnlich argumentierte er 1928 in dem Artikel November-Umsturz, einer Bilanz von zehn Jahren Republik: Vorübergehend näherte sich Tucholsky der KPD an und veröffentlichte klassenkämpferische Propaganda-Gedichte in der parteinahen A.I.Z. Das Gedicht Asyl für Obdachlose! endet mit dem einprägsamen Vers:
Auch während seiner Zeit im Ausland musste sich Tucholsky in Prozessen mit politischen Gegnern auseinandersetzen, die sich von seinen Äußerungen beleidigt oder attackiert fühlten. Wegen des Gedichts Gesang der englischen Chorknaben wurde 1928 gar ein Prozess wegen Gotteslästerung gegen ihn eingeleitet.
Im selben Jahr trennten sich Kurt und Mary Tucholsky endgültig – die Scheidung erfolgte 1933. Tucholsky hatte bereits 1927 Lisa Matthias kennengelernt, mit der er 1929 einen Urlaub in Schweden verbrachte. Dieser Aufenthalt inspirierte ihn zu dem 1931 im Rowohlt Verlag erschienenen Kurzroman Schloß Gripsholm, in dem noch einmal die jugendliche Unbeschwertheit und Leichtigkeit von Rheinsberg anklang.
Der Kontrast zu dem 1929 gemeinsam mit dem Grafiker John Heartfield veröffentlichten gesellschaftskritischen Werk Deutschland, Deutschland über alles könnte kaum größer sein. Darin bringt Tucholsky das Kunststück fertig, die schärfsten Attacken auf alles, was er am Deutschland seiner Zeit hasst, mit einer Liebeserklärung an das Land zu verbinden. Im letzten Kapitel des Buches heißt es unter der Überschrift Heimat:
Prozesse gegen die Weltbühne und Ossietzky
Unter dem Titel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“ brachte die Weltbühne im März 1929 einen Artikel des Journalisten Walter Kreiser, der sich unter anderem mit der verbotenen fliegerischen Aufrüstung der Reichswehr befasste. Aufgrund dieser Veröffentlichung ermittelte seit August 1929 der Oberreichsanwalt gegen Kreiser und Carl von Ossietzky wegen Landesverrats und des Verrats militärischer Geheimnisse. Obwohl der Artikel lediglich bereits bekannte Tatsachen wiedergab, wurde Ossietzky 1931 im Weltbühne-Prozess wegen Spionage zu 18 Monaten Haft verurteilt.
Auch wegen des berühmt gewordenen Tucholsky-Satzes „Soldaten sind Mörder“ war Ossietzky verklagt, im Juli 1932 jedoch freigesprochen worden, da das Gericht den Satz nicht als Verunglimpfung der Reichswehr ansah. Tucholsky selbst hatte man nicht angeklagt, da er im Ausland lebte. Er hatte überlegt, zu diesem Prozess nach Deutschland zu kommen, da Ossietzky wegen des Luftfahrt-Artikels bereits im Gefängnis saß, aber letztlich erschien ihm die Situation als zu riskant. Er befürchtete, den Nationalsozialisten in die Hände zu fallen. Allerdings war ihm klar, dass seine Abwesenheit keinen guten Eindruck machen würde. „Nach außen bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich. Es hat so etwas von Desertion, Ausland, im Stich lassen, der Kamerad Oss im Gefängnis“, schrieb er an Mary Gerold, die ihn „… so nett aufmerksam gemacht hat, daß von Seiten der Nazis Lebensgefahr bestehe.“
Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er noch einmal, dass er die Entscheidung vom Sommer 1932 bereut habe:
Publizistisches Verstummen und Exil
Seit den Ermittlungen und den Prozessen gegen Ossietzky sah Kurt Tucholsky die Möglichkeiten zu kritischer Publizistik in Deutschland stark eingeschränkt. 1929 verlegte er seinen Wohnsitz dauerhaft nach Schweden. In Hindås bei Göteborg mietete er die Villa „Nedsjölund“ an. Es traf ihn tief, als ihm in dieser Zeit klar wurde, dass alle seine Warnungen ungehört verhallten und sein Eintreten für die Republik, für Demokratie und Menschenrechte offenbar ohne jede Wirkung blieb. Als klarsichtiger Beobachter der deutschen Politik erkannte er die mit Hitler heraufziehenden Gefahren. , schrieb er schon Jahre vor der Machtübergabe, und er machte sich keine Illusionen, wohin eine Reichskanzlerschaft Hitlers das Land führen würde. Das bezeugte Erich Kästner rückblickend im Jahre 1946, als er den Schriftsteller als bezeichnete, der wollte.
Seit 1931 verstummte Tucholsky publizistisch zunehmend. Das Ende seiner Beziehung zu Lisa Matthias, der plötzliche Tod seines engen Freundes Hans Fritsch und ein chronisches Atemwegs- und Nasenleiden, das fünf Operationen erforderlich machte, hatten seine resignative Stimmung verstärkt. Tucholskys letzter größerer Beitrag erschien am 8. November 1932 in der Weltbühne. Es waren nur noch Schnipsel, wie er seine Aphorismen nannte. Am 17. Januar 1933 meldete er sich in der Weltbühne noch einmal mit einer kleinen Notiz aus Basel. Zu größeren literarischen Formen fehlte ihm zusehends die Kraft. Zwar legte er dem Rowohlt Verlag ein Exposé für einen Roman vor, die politische Entwicklung in Deutschland verhinderte jedoch dessen Realisierung. 1933 verboten die Nationalsozialisten die Weltbühne, verbrannten Tucholskys Bücher und erkannten ihm die deutsche Staatsangehörigkeit ab.
Über Tucholskys letzte Jahre und seine Gedanken über die Entwicklungen in Deutschland und Europa geben seine Briefe Auskunft, die seit Beginn der 1960er Jahre publiziert wurden. Sie waren unter anderem an Freunde wie Walter Hasenclever oder an seine letzte Geliebte, die Zürcher Ärztin Hedwig Müller, die er „Nuuna“ nannte, gerichtet. Den Briefen an Nuuna legte er zudem lose Tagebuchblätter bei, die heute als Q-Tagebücher bekannt sind. Darin und in den Briefen bezeichnete sich Tucholsky gelegentlich als „aufgehörter Deutscher“ und „aufgehörter Dichter“. An Hasenclever schrieb er am 11. April 1933:
Er gab sich auch nicht der Illusion vieler Exilanten hin, dass die Diktatur Hitlers bald zusammenbrechen werde. Mit realistischem Blick stellte er fest, dass sich die Mehrheit der Deutschen mit der Diktatur arrangierte und selbst das Ausland Hitlers Herrschaft akzeptierte. Er rechnete mit einem Krieg innerhalb weniger Jahre.
Tucholsky lehnte es strikt ab, sich an der entstehenden Exilpresse zu beteiligen. Zum einen verstand er sich nicht als Emigrant, da er Deutschland schon 1924 verlassen hatte, und erwog, sich um die schwedische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Seine tieferen Gründe, warum er sich nicht mehr öffentlich mit Deutschland beschäftigte, schilderte er in einem bewegenden Brief an Mary Gerold:
Innerlich aber war er noch nicht mit allem fertig, und er nahm sehr wohl Anteil an den Entwicklungen in Deutschland und Europa. Um dem inhaftierten Ossietzky beizustehen, dachte er auch daran, wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Kurz vor seinem Tod plante er, in einem scharfen Artikel mit dem einst von ihm verehrten norwegischen Dichter Knut Hamsun abzurechnen. Hamsun hatte sich offen für das Hitler-Regime ausgesprochen und Carl von Ossietzky angegriffen, der, ohne sich wehren zu können, im KZ Esterwegen einsaß. Hinter den Kulissen unterstützte Tucholsky auch die Verleihung des Friedensnobelpreises des Jahres 1935 an den inhaftierten Freund. Tatsächlich erhielt Ossietzky die Auszeichnung im folgenden Jahr rückwirkend für 1935. Den Erfolg seiner Bemühungen erlebte Kurt Tucholsky jedoch nicht mehr.
In seinem letzten Brief an den nach Palästina emigrierten Schriftsteller Arnold Zweig vom 15. Dezember 1935 setzte er sich vor allem kritisch mit dem ausgebliebenen Widerstand der deutschen Juden gegen das NS-Regime auseinander. Er zog darin resigniert Bilanz aus seinem politischen Engagement in und für Deutschland:
Tod
Vom 14. Oktober bis zum 4. November 1935 war Tucholsky wegen ständiger Magenbeschwerden in stationärer Behandlung. Seit diesem Krankenhausaufenthalt konnte er nicht mehr ohne Barbiturate einschlafen. Am Abend des 20. Dezember 1935 nahm er in seinem Haus in Hindås eine Überdosis von Schlaftabletten der Marke Veronal. Tags darauf wurde er, im Koma liegend, aufgefunden und ins Sahlgrensche Krankenhaus nach Göteborg gebracht. Dort starb Kurt Tucholsky am Abend des 21. Dezember. Es galt lange als gesichert, dass Tucholsky Suizid begehen wollte – eine These, die jedoch 1993 von Tucholskys Biographen Michael Hepp angezweifelt wurde. Hepp fand Anhaltspunkte für eine versehentliche Überdosierung des Medikaments, also eine unbeabsichtigte Selbsttötung.
Die Asche Kurt Tucholskys wurde im Sommer 1936 unter einer Eiche nahe Schloss Gripsholm im schwedischen Mariefred beigesetzt. Die Grabplatte mit der Inschrift aus Goethes Faust II wurde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf das Grab gelegt. Tucholsky selbst hatte 1923 in der Satire Requiem folgenden Grabspruch für sich vorgeschlagen:
Rezeption und Einzelaspekte
Tucholsky gehörte zu den gefragtesten und am besten bezahlten Journalisten der Weimarer Republik. In den 25 Jahren seines Wirkens veröffentlichte er in fast 100 Publikationen mehr als 3.000 Artikel, die meisten davon, etwa 1.600, in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne. Zu seinen Lebzeiten erschienen bereits sieben Sammelbände mit kürzeren Texten und Gedichten, die zum Teil dutzende Auflagen erzielten. Manche Werke und Äußerungen Tucholskys polarisieren bis heute, wie die Auseinandersetzungen um seinen Satz „Soldaten sind Mörder“ bis in die jüngste Vergangenheit belegen. Seine Kritik an Politik, Gesellschaft, Militär, Justiz und Literatur, aber auch an Teilen des deutschen Judentums, rief immer wieder Widerspruch hervor.
Im Schloss Rheinsberg befindet sich heute das Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum, das sein Leben und Wirken ausführlich dokumentiert. Ein großer Teil von Tucholskys Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Stücke davon sind im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar in der Dauerausstellung zu sehen.
Der politische Schriftsteller
Tucholskys Rolle als politischer Journalist wurde von jeher kontrovers beurteilt. Sein Selbstverständnis als liberaler, linker Intellektueller legte er im programmatischen Text „Wir Negativen“ dar, in dem er schon im März 1919 zu den Vorwürfen Stellung beziehen musste, die junge Republik nicht positiv genug zu sehen. Sein Fazit lautete damals:
Tucholsky stand der Weimarer Republik zunehmend kritisch gegenüber. Die Novemberrevolution hatte in seinen Augen keine wahren Fortschritte gebracht:
In Schulen, Universitäten, Verwaltungen und Gerichten herrsche noch derselbe Ungeist, und die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg werde weiterhin geleugnet. Statt eine echte Friedenspolitik zu treiben, werde heimlich schon der nächste Krieg vorbereitet. Aus all diesen Zuständen zog er im Frühjahr 1928 den Schluss:
Trotz dieser Enttäuschung hatte Tucholsky nicht aufgehört, in linken Blättern die erklärten Feinde der Republik und der Demokratie in Militär, Justiz und Verwaltung, in den alten monarchistisch gesinnten Eliten und in den neuen, antidemokratischen völkischen Bewegungen scharf anzugreifen. Zeitweilig näherte sich Tucholsky, der von 1920 bis 1922 Mitglied der USPD gewesen war, auch der KPD an, wobei er als bürgerlicher Schriftsteller stets auf Distanz zu den kommunistischen Parteifunktionären blieb.
Angesichts seiner kompromisslosen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten war es auch folgerichtig, dass Tucholsky seinen Namen auf der Ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933 wiederfand und dass seine Werke nach 1933 verboten wurden. Bei den Bücherverbrennungen durch Studenten in Berlin und anderen Städten am 10. Mai wurden er und Ossietzky explizit genannt: „Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!“ Tucholsky kommentierte entsprechende Nachrichten nur noch gleichgültig, etwa in einem Brief an Walter Hasenclever vom 17. Mai 1933:
In der Nachkriegszeit wurden aber auch in der Bundesrepublik Stimmen laut, die linken Literaten wie Tucholsky und Bertolt Brecht eine Mitschuld am Scheitern der Weimarer Republik gaben. Mit ihrer unbarmherzigen Kritik hätten Zeitschriften wie die Weltbühne letztlich den Nationalsozialisten in die Hände gespielt, lautete der Tenor der Vorwürfe. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Auffassung war der Historiker Golo Mann. Er schrieb 1958:
Sein Kollege Heinrich August Winkler meint, die bevorzugte Zielscheibe von Tucholskys Spott sei die Sozialdemokratie mit ihren notwendigen Kompromissen gewesen:
Tucholsky selbst sah seine Kritik immer als konstruktiv an: In seinen Augen hatte das Scheitern von Weimar nichts damit zu tun, dass Autoren wie er zu viel, sondern damit, dass sie zu wenig Wirkung erzielten. Im Mai 1931 schrieb er an den Publizisten Franz Hammer:
Wie eine vorweggenommene Antwort auf die Kritiker der Nachkriegszeit liest sich auch eine Stelle aus dem bereits zitierten Brief an Hasenclever vom 17. Mai 1933:
Tucholsky und die Arbeiterbewegung
Tucholsky verstand sich als linker Intellektueller, der für die Arbeiterbewegung eintrat. Er engagierte sich vor dem Ersten Weltkrieg für die SPD, ging aber seit der Novemberrevolution 1918 zunehmend auf Distanz zu dieser Partei, deren Führung er Verrat an ihrer Basis vorwarf. Der Parteivorsitzende Friedrich Ebert hatte damals mit General Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung, ein geheimes Übereinkommen zur Niederschlagung der Revolution geschlossen, die in den Augen der SPD-Parteiführung zu eskalieren drohte. Ebert hatte Groener dafür zugesagt, die aus dem Kaiserreich stammenden Strukturen in Militär, Justiz und Verwaltung auch in der Republik zu bewahren.
Tucholsky war zwischen 1920 und 1922 Mitglied der USPD. Nachdem sich diese linkssozialdemokratische Partei 1922 erneut gespalten und mit einem großen Teil ihrer verbliebenen Anhänger wieder der SPD angeschlossen hatte, war auch Tucholsky kurzfristig SPD-Mitglied. Über die Dauer dieser Mitgliedschaft besteht in den Quellen Unklarheit. Gegen Ende der 20er Jahre näherte er sich der KPD an, legte aber Wert darauf, kein Kommunist zu sein. Insgesamt beharrte er gegenüber allen Arbeiterparteien auf einem unabhängigen Standpunkt abseits der Parteidisziplin.
Dass er die Weltbühne nicht als dogmatisches Verkündigungsorgan, sondern als Diskussionsforum für die gesamte Linke betrachtete, brachte ihm 1929 folgende Kritik der kommunistischen Zeitschrift Die Front ein:
Tucholsky antwortete darauf in seinem Artikel „Die Rolle des Intellektuellen in der Partei“:
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man in der DDR – anders als in der Bundesrepublik – Tucholsky in die eigene Traditionsbildung einzubeziehen. Dabei wurde jedoch unterschlagen, dass er den moskauhörigen Kurs der KPD, den er für die Zersplitterung der Linken und den Sieg der Nationalsozialisten mit verantwortlich machte, aufs Schärfste abgelehnt hatte. In einem Brief an den Journalisten Heinz Pol schrieb er kurz nach Hitlers Machtübernahme am 7. April 1933, als in ganz Europa Boykott-Maßnahmen gegen Deutschland diskutiert wurden:
In einem Schreiben an denselben Adressaten heißt es am 20. April 1933:
Der Literaturkritiker und Dichter
Als Literaturkritiker gehörte Kurt Tucholsky zu den einflussreichsten deutschen Publizisten seiner Zeit. In seiner festen, mehrseitigen Rubrik „Auf dem Nachttisch“, die in der Weltbühne erschien, besprach er oft ein halbes Dutzend Bücher auf einmal. Insgesamt rezensierte er mehr als 500 literarische Werke. Tucholsky sah es aber als das „erste Bestreben“ seiner Buchkritik an, „nicht das Literaturpäpstlein zu spielen“. Seine politischen Ansichten flossen regelmäßig in seine Literaturkritiken mit ein: „Wie kein zweiter verkörpert Kurt Tucholsky den politisch engagierten Typus des linksintellektuellen Rezensenten.“
Zu seinen Verdiensten auf diesem Gebiet gehört es, als einer der ersten auf das Werk Franz Kafkas aufmerksam gemacht zu haben. Als „tief und mit den feinfühligsten Fingern gemacht“ beschrieb er bereits 1913 Kafkas Prosa in dessen erster Buchveröffentlichung Betrachtung; das Romanfragment Der Process bezeichnete er in seiner Rezension als „das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre“.
Kritisch beurteilte er dagegen Ulysses von James Joyce: „Ganze Partien des ‚Ulysses‘ sind schlicht langweilig.“ Über einzelne Passagen schrieb er aber auch: „Wahrscheinlich ist das mehr als Literatur – auf alle Fälle ist es die allerbeste“ und zog abschließend einen Vergleich mit „Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.“
Als Dichter von Chansons und Couplets trug Tucholsky dazu bei, diese Genres für die deutsche Sprachwelt zu erschließen. , klagte er im Text „Aus dem Ärmel geschüttelt“. Als Lyriker verstand er sich jedoch nur als „Talent“, im Gegensatz zum „Jahrhundertkerl“ Heinrich Heine. Das Gedicht „Mutterns Hände“, das 1929 in der AIZ erschien, ist ein typisches Beispiel seiner „Gebrauchslyrik“, wie Tucholsky diese poetische Richtung, deren Hauptvertreter Erich Kästner war, in einem gleichnamigen Artikel bezeichnete. Zum Tucholsky-Repertoire in Schullesebüchern gehören Gedichte wie „Augen in der Großstadt“, das von so unterschiedlichen Künstlern wie Udo Lindenberg, Jasmin Tabatabai und Die Perlen vertont wurde.
Tucholsky und das Judentum
Kontrovers wird auch Tucholskys Einstellung zum Judentum gewertet.
Der jüdische Wissenschaftler Gershom Scholem bezeichnete ihn als einen der „begabtesten und widerwärtigsten jüdischen Antisemiten“. Grundlage für dieses Urteil waren unter anderem die „Wendriner“-Geschichten, die nach Ansicht Scholems die jüdische Bourgeoisie in „erbarmungslosesten Nacktaufnahmen“ darstellten. Dagegen wurde vorgebracht, dass Tucholsky in der Figur des „Herrn Wendriner“ nicht den Juden bloßstelle, sondern den Bourgeois. Ihm ging es darum, die gesinnungslose Mentalität eines Teils des konservativen jüdischen Bürgertums anzuprangern, das seiner Meinung nach selbst die größten Demütigungen durch eine nationalistische Umwelt hinnehme, so lange es seinen Geschäften nachgehen könne.
Die Rückseite einer um 1908 entstandenen Photographie aus dem Atelier Kaufhaus des Westens in Berlin versah der darauf porträtierte Tucholsky mit der Widmung „Außen jüdisch und genialisch / innen etwas unmoralisch / nie alleine, stets à deux: – / der neveu! – K.“
Wolfgang Benz hält den Satz Tucholskys „und eben das ist Ghetto: daß man das Ghetto akzeptiert“ für den Schlüssel zum Verständnis von Tucholskys Abneigung und Ressentiment gegenüber den deutschen Juden: Tucholsky habe die zunehmende Diskriminierung und Entrechtung der Juden in Deutschland als eigene Niederlage und Verletzung begriffen, die er durch Distanzierung abzumildern versucht und daher den Juden in Deutschland vermeintliche Passivität, Anpassungsgesinnung und fehlende Bereitschaft zu demonstrativen Gegenreaktionen vorgeworfen habe. Bereits früh in Tucholskys Karriere gibt es derartige reservierte Urteile gegenüber dem deutschen Judentum. In seinem Abschiedsbrief an seinen Bruder Fritz behauptet er sogar, das jahrhundertelange Leben im Ghetto sei keine „Erklärung“ oder „Ursache“, sondern „ein Symptom“.
Aus der Sicht der Konservativen und Rechtsextremen – auch der deutschnationalen Juden – stellte Tucholsky indes das geradezu perfekte Feindbild vom „zersetzenden, jüdischen Literaten“ dar. Dass Tucholsky 1914 aus dem Judentum ausgetreten war und sich protestantisch hatte taufen lassen, spielte für diese Kritiker keine Rolle. Auch das heute noch gegen Juden vorgebrachte Argument, dass sie mit ihren Äußerungen selbst den Antisemitismus provozierten, wurde schon gegen Tucholsky ins Feld geführt. In seiner Literaturgeschichte des deutschen Volkes brachte Josef Nadler 1941 den Hass der Nationalsozialisten gegen den bereits Verstorbenen aufs Deutlichste zum Ausdruck: „Kein Volk dieser Erde ist jemals in seiner eigenen Sprache so geschmäht worden wie das deutsche durch Tucholsky.“
Seinen letzten langen Brief widmete Tucholsky erstaunlicherweise vollständig der Situation des deutschen Judentums. An den nach Palästina emigrierten Arnold Zweig schrieb er: „Es ist nicht wahr, daß die Deutschen verjudet sind. Die deutschen Juden sind verbocht.“
Tucholsky und die Frauen
Spätestens seit dem Erscheinen von Lisa Matthias’ Autobiografie Ich war Tucholskys Lottchen ist über Tucholskys Verhältnis zu Frauen viel spekuliert worden. Matthias schildert ihn in ihren Erinnerungen als einen beziehungsunfähigen Erotomanen, der sie, selbst eine Geliebte, mit mehreren Frauen gleichzeitig betrogen habe. Die Veröffentlichung der Memoiren wurde 1962 als Skandal empfunden, weil Matthias nach Auffassung der Literaturkritiker zu sehr die Sexualität Tucholskys zum Thema gemacht habe. Dass sie Tucholsky „in noch weniger als Unterhosen“ (Walther Karsch) geschildert habe, trifft allerdings nicht zu. Auch Tucholskys erste Frau Else Weil bestätigte, dass er es mit der Treue nicht sehr genau genommen habe. Von ihr ist der Satz überliefert: „Als ich über die Damen wegsteigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.“ Tucholskys zweite Frau Mary Gerold äußerte sich dagegen nie über das Privatleben ihres Mannes.
Lange war die Identität von Tucholskys Jugendliebe Kitty Frankfurther unklar. Die Autorin Bettina Müller recherchierte ihren bürgerlichen Namen: Katharina Liefmann. Sie war am 1. Januar 1890 in Hamburg als Tochter eines Großkaufmanns zur Welt gekommen. Ihre Mutter stammte ebenfalls aus einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie. Nach dem Tod ihres Mannes 1892 heiratete sie Adolph Frankfurther und ging mit ihren beiden Töchtern nach Berlin. Tucholskys Verlobung mit Kitty Frankfurther, alias Katharina Liefmann, währte von 1911 bis 1918. Zusammen mit ihrer Mutter gelang ihr 1937 die Flucht nach London. Sie blieb unverheiratet und wurde 1948 britische Staatsbürgerin.
Für das Scheitern der beiden Ehen Tucholskys machen Biografen meist sein schlechtes Verhältnis zu seiner Mutter verantwortlich, unter deren Regiment er nach dem frühen Tod des Vaters gelitten habe. Tucholsky und seine beiden Geschwister beschrieben sie übereinstimmend als tyrannischen Typus der „alleinstehenden Hausmegäre“. Dies habe es dem „erotisch leicht irritierten Damenmann“ (Raddatz) unmöglich gemacht, auf Dauer die Nähe einer Frau zu ertragen. Kurz vor seinem Tod, als er noch mit Hedwig Müller und Gertrude Meyer liiert war, bekannte sich Tucholsky allerdings wieder zu seiner zweiten Frau Mary Gerold, die er zu seiner Alleinerbin machte. In seinem Abschiedsbrief an sie schrieb er über sich selbst: „Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt; hat nicht verstanden und hat Dummheiten gemacht, hat zwar nicht verraten, aber betrogen, und hat nicht verstanden.“
Gerhard Zwerenz vertritt in seiner Biografie die These, Tucholsky sei nicht in der Lage gewesen, „intellektuelle Fähigkeiten beim Weib zu akzeptieren, ohne die Frau zugleich zu maskulinisieren“. Als Belege dafür führt er Aussagen an wie: „Frankfurt hat zwei große Männer hervorgebracht: Goethe und Gussy Holl“, oder die Tatsache, dass er Mary Gerold in seinen Briefen meist mit „Er“ angesprochen habe. Letztlich bleiben nachträgliche psychologische Betrachtungen dieser Art immer Spekulation. Fest steht, dass Tucholsky in seinen Erzählungen Rheinsberg und Schloß Gripsholm ein für damalige Verhältnisse fortschrittliches Frauenbild propagierte. Zudem unterstützte er mit Beiträgen in der sexualreformerischen Zeitschrift Die Neue Generation die Arbeit der Feministin Helene Stöcker.
Positiv dargestellte Frauengestalten in seinen Werken wie etwa Claire, die Prinzessin und Billie sind selbstständige Charaktere, die ihre Sexualität nach eigenen Vorstellungen ausleben und sich nicht überkommenen Moralvorstellungen unterwerfen. Dies gilt auch für die Figur des flatterhaften Lottchens. Seine Abneigung gegen asexuelle Intellektuelle im Reformkleid brachte Tucholsky in der Figur der Lissy Aachner in Rheinsberg zum Ausdruck. Die bösartige Direktorin des Kinderheims in Schloß Gripsholm entspricht dagegen eher dem Typus, den Tucholsky in seiner Mutter Doris gesehen haben könnte.
Siehe auch
Kurt Tucholsky-Gesellschaft mit dem Kurt-Tucholsky-Preis (Deutschland)
Tucholsky-Preis (Schweden), vergeben von der schwedischen Sektion des P.E.N.
Der Graben, Chanson (1926)
Werke
Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte. Bilder von Kurt Szafranski. Axel Juncker Verlag, Berlin 1912. Aktuelle Ausgabe: Anaconda, Köln 2010, ISBN 978-3-86647-498-7. Hörbuch: Hörspiel mit Kurt Böwe u. a., Der Audio Verlag, 2001, ISBN 3-89813-158-0; gelesen von Anna Thalbach, Argon Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-86610-746-5.
Der Zeitsparer. Grotesken von Ignaz Wrobel. Reuß & Pollack, Berlin 1914. Faksimile: Herausgegeben von Annemarie Stoltenberg, Verlag am Galgenberg, Hamburg 1988, ISBN 3-925387-13-7.
Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen. Dissertation, Universität Jena 1915. Neuausgabe: Verlag consassis, Berlin 2015, ISBN 978-3-937416-60-1.
Fromme Gesänge. Von Theobald Tiger mit einer Vorrede von Ignaz Wrobel. Felix Lehmann Verlag, Charlottenburg 1919 (= Ausgewählte Werke. Band 1)- 4. Auflage. Verlag Berlin, Berlin 1979, .
Träumereien an preußischen Kaminen. Von Peter Panter, mit Bildern von Alfons Wölfe. Felix Lehmann Verlag, Charlottenburg 1920. Neuausgabe: WFB Verlagsgruppe, Bad Schwartau 2009, ISBN 978-3-86672-300-9.
Tamerlan. Aus der Revue Wir steh’n verkehrt von Carl Rössler. Gesangstext von Theobald Tiger. Musik von Rudolph Nelson. Drei Masken Verlag, Berlin/München/Wien 1922.
als Peter Panter: Ein Pyrenäenbuch. Verlag Die Schmiede, Berlin 1927. Aktuelle Ausgabe: Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-458-34993-8.
Mit 5 PS. Rowohlt Verlag, Berlin 1928. Aktuelle Auflage: 1985, ISBN 3-499-10131-9.
Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1929. Aktuelle Ausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996, ISBN 3-499-14611-8.
Das Lächeln der Mona Lisa. [1928] Rowohlt, Berlin 1929; 5. Auflage: Verlag Volk und Welt 1985.
Lerne lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931. Originalgetreuer Nachdruck: Olms Verlag, Hildesheim u. a. 2008, ISBN 978-3-487-13618-9 oder im Marixverlag, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-0980-3; Hörbuch: gelesen von Jürgen von der Lippe, Bell-Musik, Aichtal 2008, ISBN 978-3-940994-01-1.
Schloß Gripsholm. Rowohlt Verlag, Berlin 1931. Aktuelle Ausgabe: Greifenverlag, Rudolstadt/Berlin 2009, ISBN 978-3-86939-239-4.
Walter Hasenclever, Kurt Tucholsky: Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas. Komödie in einem Vorspiel und sechs Bildern. Von Walter Hasenclever und Peter Panter (1932). Ms. Neuer Bühnenverlag, Zürich 1935 / Das Arsenal, Berlin 1985, ISBN 3-921810-72-8.
Berlin! Berlin! Über dieser Stadt ist kein Himmel. Berlinica, Berlin 2017 (aktuelle Ausgabe), ISBN 978-3-96026-023-3.
Werkausgaben
Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996 ff., ISBN 3-498-06530-0 ff.
Gesammelte Werke. Bände 1–3, 1907–1932. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1960.
Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1975, ISBN 3-499-29011-1.
Deutsches Tempo. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 1. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985, ISBN 3-498-06483-5.
Republik wider Willen. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 2. Hrsg. von Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-498-06497-5.
Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roland Links, Volk und Welt, Berlin 1969–1973.
Kurt Tucholsky – Werke – Briefe – Materialien, Dritte, unveränderte Ausgabe, Directmedia • Berlin 2007, Digitale Bibliothek 15, CD-ROM, Einrichtung, Redaktion: Mathias Bertram, Redaktionelle Mitarbeit: Martin Mertens, Sylvia Zirden, Copyright 1998/2007 Directmedia Publishing GmbH, Berlin, ISBN 978-3-89853-415-4.
Notizen, Briefe und Tagebücher
Ausgewählte Briefe 1913–1935. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1962.
Briefe an eine Katholikin. 1929–1931. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1969, 1970, ISBN 3-498-06463-0.
Briefe aus dem Schweigen. 1932–1935. Briefe an Nuuna. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Gustav Huonker. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1977, 1990, ISBN 3-499-15410-2.
Die Q-Tagebücher. 1934–1935. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Gustav Huonker. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978, 1985, ISBN 3-499-15604-0.
Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. Hrsg. von Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1982, 1990, ISBN 3-499-12752-0.
Ich kann nicht schreiben, ohne zu lügen. Briefe 1913 bis 1935. Hrsg. von Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-498-06496-7.
Sudelbuch. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993, ISBN 3-498-06506-8.
Werke nach seinen Vorlagen
Verfilmungen (Auswahl)
Einige Filme sind nach seinem Tod nach Tucholskys Werken entstanden. Die bekanntesten sind:
1963: Schloß Gripsholm, von Kurt Hoffmann nach Drehbuch von Herbert Reinecker, unter anderen mit Walter Giller und Nadja Tiller.
1967: Rheinsberg, von Kurt Hoffmann nach Drehbuch von Herbert Reinecker, mit Cornelia Froboess und Christian Wolff.
1969: Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas mit Karl-Michael Vogler, Hans Clarin und Hannelore Elsner.
2000: Gripsholm, nach Schloß Gripsholm, von Xavier Koller, mit Heike Makatsch, Ulrich Noethen.
Hörspiele und Tonträger (Auswahl)
1964: Schloß Gripsholm, Bearbeitung: Horst Ulrich Wendler, Regie: Hans Knötzsch, mit Fred Düren, Ursula Karusseit, Angelica Domröse u. a., Rundfunk der DDR
1973: Schloß Gripsholm – Eine Sommergeschichte, Bearbeitung: Horst Ulrich Wendler, Musik: Wolfgang Bayer, Regie: Hanns Anselm Perten, mit Ralph Borgwardt, Ursula Figelius, Hans Rohde, Tina van Santen, Langspielplatte, Litera 860 067, VEB Deutsche Schallplatten Berlin DDR, als Hörbuch bei BMG Wort 2001, ISBN 3-89830-137-0.
1982: Lottchen wird saniert, Lottchen beichtet 1 Geliebten, Es reut das Lottchen, Lottchen besucht einen tragischen Film, Kurzhörspiel-Reihe: Bearbeitung: Matthias Thalheim, Regie: Achim Scholz, mit Jutta Wachowiak, Klaus Piontek, Rundfunk der DDR.
1985: Rheinsberg, Bearbeitung: Matthias Thalheim, Musik: Thomas Natschinski, Regie: Barbara Plensat, mit Kurt Böwe, Ulrike Krumbiegel, Gunter Schoß, Dagmar Manzel u. a., Rundfunk der DDR; Der Audio Verlag 2001, ISBN 3-89813-158-0, Nachauflage 2012, ISBN 978-3-86231-157-6.
1992: Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas, Regie: Gottfried von Einem mit Kurt Ackermann, Maud Ackermann, Matthias Fuchs, Gert Haucke, Ben Becker, Hans Paetsch, Ilja Richter u. a., Radio Bremen
1990: Alle Macht geht aus, Erfolg, Jenseits, Löcher im Käse, Kurzhörspiel-Reihe, Regie: Christian Gebert, hr
1992: Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas, Bearbeitung: Heidemarie Böwe, Musik: Mario Peters, Regie: Walter Niklaus mit Eberhard Esche, Annekathrin Bürger, Hans-Joachim Hegewald, Otto Mellies, Martin Seifert, Rolf Hoppe u. a., MDR
2014: Ja, Das Möchste, Sprecherin: Katharina Thalbach, Audiobuch Verlag, Freiburg im Breisgau 2014, ISBN 978-3-89964-782-2.
2014: Schloß Gripsholm, Sprecher: Manfred Zapatka, Argon Verlag, München 2014, 4 CDs + MP3-Version, 4 Std. 31 Min., ISBN 978-3-8398-9193-3.
Werke über Kurt Tucholsky
Dokumentarfilm
Die wilden Zwanziger – Berlin und Tucholsky. Dokumentarfilm mit Spielszenen und Archivaufnahmen, Deutschland, 2015, 52:00 Min., Buch und Regie: Christoph Weinert, Produktion: C-Films, NDR, arte, Reihe: Die wilden Zwanziger, Erstsendung: 11. Januar 2015 bei SRF 1, Inhaltsangabe von ARD, online-Video, mit Bruno Cathomas als Tucholsky.
Radio-Sendungen
1985: Mich haben sie falsch geboren, Biographisches Hörspiel von Irene Knoll, Regie: Wolfgang Schonendorf, Rundfunk der DDR
Zwei Wege, ein Ziel: Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky 1932 – 1935. Radio-Feature, BR Deutschland, 1985, 56 Min., Manuskript: Elke Suhr, Sprecher: Wolf-Dietrich Berg, Hans-Helge Ott, Produktion: Radio Bremen, Ursendung: 20. Dezember 1985, Datensatz der UB Oldenburg.
Seifenblasen oder Wie Kurt Tucholsky ein Drehbuch schrieb. Hörspiel von Christa Maerker, Regie Stefanie Lazai, Produktion: Deutschlandradio 2002, Erstsendung: 20. Dezember 2002. Hörspiel des Monats Dezember 2002.
Kurt Tucholsky – Lerne lachen, ohne zu weinen. Radio-Feature, Deutschland, 2014, 22:04 Min., Manuskript: Brigitte Kohn, Redaktion: radioWissen, Produktion: Bayern 2, Ursendung: 29. April 2014, Audio-Datei, Manuskript und Artikel.
Darstellung Tucholskys in der bildenden Kunst (Auswahl)
Emil Stumpp: Kurt Tucholsky (Kreide-Lithographie, 1929)
Literatur (Auswahl)
Irmgard Ackermann (Hrsg.): Tucholsky heute. Rückblick und Ausblick. Iudicium, München 1991, ISBN 3-89129-091-8, (mit Würdigungen von Christoph Hein, Gert Heidenreich, Günter Kunert, Walter Jens und Eberhard Lämmert zum 100. Geburtstag Tucholskys).
Klaus Bellin: Es war wie Glas zwischen uns: Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2010, ISBN 978-3-86650-039-6; Neuauflage, Klappenbroschur, Berlin 2011, ISBN 978-3-942476-19-5.
Helga Bemmann: In mein’ Verein bin ich hineingetreten. Kurt Tucholsky als Chanson- und Liederdichter. Lied der Zeit Musikverlag, Berlin 1989, ISBN 3-7332-0037-3.
Helga Bemmann: Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Verlag der Nation, Berlin 1990, ISBN 3-373-00393-8; Ullstein, München 1994, ISBN 3-548-35375-4.
Antje Bonitz, Thomas Wirtz: Kurt Tucholsky. Ein Verzeichnis seiner Schriften. Band 1–3. (= Deutsches Literaturarchiv: Verzeichnisse, Berichte, Informationen, Band 15) Marbach am Neckar 1991.
Sabrina Ebitsch: Die größten Experten der Macht. Machtbegriffe bei Franz Kafka und Kurt Tucholsky. Tectum, Marburg 2012, ISBN 978-3-8288-2813-1, (Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München 2011, 310 S.), Inhaltsangabe.
Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993, 1999, ISBN 3-498-06495-9.
Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Rowohlt Monographie, Reinbek bei Hamburg 1998, 2002, ISBN 3-499-50612-2, (Taschenbuch mit Kurzfassung der obigen Biographie).
Rolf Hosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben. Siedler, München 2012, ISBN 978-3-88680-974-5.
William John King: Kurt Tucholsky als politischer Publizist. Eine politische Biographie. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Band 579). Lang, Frankfurt am Main/Bern 1983, ISBN 3-8204-7166-9.
Mario Kramp: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29. Greven Verlag, Köln 2022, ISBN 978-3-7743-0952-4.
Dieter Mayer: Kurt Tucholsky – Joseph Roth – Walter Mehring. Beiträge zu Politik und Kultur zwischen den Weltkriegen. Peter Lang, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-631-60893-7, online-Datei, registrierungspflichtig.
Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Ein Pseudonym. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, 1993, ISBN 3-499-13371-7.
Marcel Reich-Ranicki: Kurt Tucholsky – Der nervöse Genießer. In: Die Anwälte der Literatur. dtv, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-423-12185-8, S. 217–226.
Günther Rüther: Wir Negativen. Kurt Tucholsky und die Weimarer Republik. Marix Verlag, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-7374-1101-1.
Regina Scheer: Kurt Tucholsky. „Es war ein bisschen laut“. Hentrich & Hentrich, Berlin 2008, ISBN 978-3-938485-57-6.
Renke Siems: Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys. Synchron, Heidelberg 2004, ISBN 3-935025-34-3, Dissertation der Carl v. Ossietzky-Universität Oldenburg, online-Datei.
Richard von Soldenhoff (Hrsg.): Kurt Tucholsky – 1890–1935. Ein Lebensbild. Quadriga, Berlin 1985, ISBN 3-88679-138-6.
Gerhard Zwerenz: Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen. Bertelsmann, München 1979; Goldmann, München 1986, ISBN 3-442-06885-1.
Weblinks
Werke von Kurt Tucholsky
Bestand von: Kurt Tucholsky. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach
Kurt-Tucholsky-Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin
Kurt Tucholsky im Internet Archive
Werke von Kurt Tucholsky bei textlog.de
Eigenhändige Vita Tucholskys 1934
Kostenlose Hörbücher mit Gedichten und Texten Tucholskys
Sudelblog.de – Das Weblog zu Kurt Tucholsky
Über Kurt Tucholsky
Kurt Tucholsky-Gesellschaft – Biografie, Bibliografie und Texte
Xlibris: Leben und Werk von Kurt Tucholsky – Biographie, Interpretationen, Kurzinhalte, Bibliographie
Lebenslauf, Sammlung seiner Werke, Hintergrundinformationen. In: Kurt-Tucholsky.info
Kurt Tucholsky in: Who’s Who
Linksammlung zu Tucholsky-Texten In: tucholsky.org
Kurt Tucholsky (italienisch) auf ti.ch/can/oltreconfiniti (abgerufen am: 3. August 2016.)
der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
Artikel
Christoph Schottes: Tucholsky und Ossietzky nach 1933. (PDF; Quelle), ISBN 3-8142-0587-1.
Erich Kuby: Kein Tucholsky heute, 1989, ISBN 3-446-15043-9, (Tucholsky-Rezeption im Nachkriegsdeutschland)
Herbert Riehl-Heyse: „So tief kann man nicht schießen“. In: SZ, 17. Mai 2010, SZ-Serie: Große Journalisten
Ausstellungen
Kurt Tucholsky Literatur Museum im Schloss Rheinsberg
70. Todestag von Kurt Tucholsky. In: Bundesarchiv, 2005, virtuelle Ausstellung von Manuskripten
Katalog einer Ausstellung mit vielen Originaldokumenten. In: Kurt Tucholsky-Gesellschaft, 2005/06, (PDF; 4 MB)
Kurt Tucholsky: Nie wieder Krieg! Botschaften des Pazifismus, 2013, Internet-Ausstellung zu seinem 123. Geburtstag.
Radio-Sendungen
Brigitte Kohn: Kurt Tucholsky – Lerne lachen, ohne zu weinen. In: radioWissen, Bayern 2 vom 29. April 2014, 22:04 Min.
Monika Buschey: 09.01.1890 – Geburtstag des Schriftstellers Kurt Tucholsky. In: WDR ZeitZeichen vom 9. Januar 2015, 14:47 Min.
Kurt-Tucholsky-Podcast. Wöchentliche Hörstücke von Texten, die vor 100 Jahren erschienen sind (seit Jahrgang 1919).
Einzelnachweise
Autor
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch)
Publizist
Roman, Epik
Lyrik
Reiseliteratur
Satire
Aphoristiker
Dichterjurist
Freimaurer (20. Jahrhundert)
Freimaurer (Deutschland)
Journalist (Deutsches Reich)
Zeitungsjournalist
USPD-Mitglied
Person der Friedensbewegung
Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft
FdK-Mitglied
NS-Opfer
Schriftsteller (Berlin)
Deutscher
Geboren 1890
Gestorben 1935
Mann |
9263 | https://de.wikipedia.org/wiki/Osterinsel | Osterinsel | Die Osterinsel (, rapanui Rapa Nui) ist eine isoliert gelegene Insel im Südostpazifik, die politisch zu Chile gehört, geographisch jedoch zu Polynesien. Sie liegt südlich des südlichen Wendekreises. Der Hauptort Hanga Roa ist 3526 km von der chilenischen Küste (oder 3833 km in genauer Ostrichtung bis zur Küste) und 4251 km von Tahiti entfernt. Das nächstgelegene bewohnte Eiland ist Pitcairn im Westen, in einer Entfernung von 2078 Kilometern. 2017 lebten laut Volkszählung 7750 Menschen auf der Osterinsel.
Bekannt ist die Insel vor allem wegen der monumentalen Steinskulpturen, der Moai. Seit 1995 ist die Osterinsel als Nationalpark Rapa Nui Teil des UNESCO-Welterbes.
Geographie
Geologie
Die Osterinsel ist ein vulkanischer Gipfel, der dem Salas-y-Gómez-Rücken aufsitzt, einem 2500 km langen, submarinen Höhenzug im Südostpazifik. Sie ist, neben der Insel Salas y Gómez, der einzige Berg dieser unter dem Ozean liegenden, aus zahlreichen Vulkanen bestehenden Kette, der über die Meeresoberfläche hinausragt.
Das für viele pazifische Inseln charakteristische Korallenriff fehlt, die Küste fällt steil bis zu einer Meerestiefe von 3000 Metern ab. Der Küstensaum ist steinig und zerklüftet, kleine Sandstrände sind nur an zwei Stellen zu finden: in der Anakena-Bucht und in der Bucht von Ovahe an der Nordküste. An der Südwestspitze sowie im Osten, an der Halbinsel Poike, ragen steile, bis zu 300 m hohe Kliffe empor.
Die Osterinsel hat etwa die Form eines gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecks mit einer maximalen Länge von 24 km, einer maximalen Breite von 13 km und einer Fläche von 162,5 km². Die Landschaft ist durch ihren vulkanischen Ursprung geprägt und besteht im Wesentlichen aus den drei Vulkanen Rano Kao im Südwesten, dem Poike mit seinem Hauptgipfel Maunga Puakatiki im Osten und Maunga Terevaka im Norden sowie deren über 70, teils bis zur Unkenntlichkeit erodierten Nebenkratern. Der Maunga Terevaka ist mit 507,41 Metern die höchste Erhebung der Osterinsel. Die Vulkane sind erloschen, es sind weder Aktivitäten in jüngerer Zeit beobachtet worden, noch sind solche in den Sagen und Mythen überliefert.
Im Südwesten sind der Osterinsel die kleinen, unbewohnten Nebeninseln Motu Nui (3,9 ha), Motu Iti (1,6 ha) und Motu Kau Kau (0,1 ha) vorgelagert, im Westen Motu Ko Hepoko (0,1 ha) und Motu Tautara (0,1 ha), und vor der Halbinsel Poike Motu Marotiri (0,2 ha).
Klima
Das Klima ist subtropisch warm, die Jahreszeiten sind nur gering ausgeprägt. Starke Passatwinde herrschen vor. Die Niederschläge betragen etwa 1150 mm im Jahr. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 21 °C. Die kältesten Monate sind Juli und August, die wärmsten Januar und Februar. Die regenreichsten Monate sind der April und Mai, die regenärmsten Oktober, November und Januar. Die durchschnittliche Wassertemperatur beträgt 18 °C.
Klimawandel
Wie die meisten pazifischen Inseln ist auch die Osterinsel von den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels betroffen. So zeigt eine Studie von Karnauskas et al. (2016) in der Fachzeitschrift Nature Climate Change auf, dass ein fortschreitender Klimawandel bis zum Jahr 2090 zu einer bedrohlichen Dürre auf der Insel führen könnte.
Einschneidende Klimaänderungen im Südostpazifik sind jedoch kein neues Phänomen. In den letzten 35 000 Jahren war das Klima der Osterinsel, wie man aus palynologischen Untersuchungen schließen kann, nicht immer so wie heute. Das hatte entscheidende Auswirkungen auf die Vegetation. Das Klima vor rund 35 000 Jahren war warm und trocken und förderte den Bewuchs mit krautigen Pflanzen. Von 35 000 bis 26 000 vor unserer Zeitrechnung gab es eine feuchtere und deutlich wärmere Periode, die dichte Palmenwälder und buschige Vegetation gedeihen ließ. Anschließend, bis etwa 12 000 v. Chr., kühlte es ab und es wurde wieder trockener, was das Wachstum der Wälder reduzierte und die Entwicklung von Grasland begünstigte. Von 12 000 v. Chr. bis zur Ankunft der ersten polynesischen Siedler erholten sich die Palmenwälder und bildeten wieder dichte Bestände. Um 4500 v. Chr., noch vor der menschlichen Besiedlung, scheint es eine mehrjährige Trockenperiode gegeben zu haben, Sedimentproben zeigen, dass der Kratersee des Rano Raraku um diese Zeit ausgetrocknet war.
Für die Menschen der Osterinsel blieben die klimatischen Veränderungen nicht ohne Folgen. Der Anthropologe Grant McCall von der University of New South Wales ist der Meinung, dass anhaltende Dürren in der Kleinen Eiszeit wesentlich häufiger waren als heute. Für die Zeit um 1466 n. Chr. haben Sedimentproben aus dem Krater des Rano Kao eine Trockenperiode bestätigt. McCall nimmt an, dass der Klimawandel in der Kleinen Eiszeit mitverantwortlich für die Destabilisation und den Umbruch der Gesellschaft im 17. Jahrhundert war. Die schwieriger werdenden Lebensbedingungen könnten zu Unzufriedenheit, Unruhen und damit zum gesellschaftlichen Wandel beigetragen haben.
Flora
Die Osterinsel gehört zu den artenärmsten Inseln des Südpazifiks. Es sind weniger als 30 indigene Samenpflanzen (Spermatophytina) bekannt. Die Flora wird von vier spezifischen Faktoren geprägt, die sie von den übrigen, weiter westlich gelegenen Inseln Polynesiens unterscheidet:
der isolierten Lage am äußersten östlichen Ende der biogeografischen Region Indo-Pazifik
der relativen Nähe zum südamerikanischen Kontinent
dem erdgeschichtlich sehr geringen Alter der Osterinsel und
der für das Pflanzenwachstum nicht besonders günstigen klimatischen und topografischen Beschaffenheit.
Die Osterinsel gehört zum subtropischen Klimabereich. Ständig wehende Winde bei relativ kühlen Temperaturen und das Fehlen schützender Waldflächen verhindern das Wachstum empfindlicher Pflanzen, deshalb ist die Biodiversität beschränkt.
Vögel, Wind und ozeanische Strömungen konnten nur in weit geringerem Maße als bei anderen Inseln Samen eintragen. Der erfolgreichste Überträger von Pflanzenmaterial dürfte daher der Mensch gewesen sein. Die ersten Siedler haben Nutzpflanzen auf die Insel gebracht, wie die Legende von Hotu Matua berichtet. Roggeveen, Forster und andere frühe Entdecker berichteten unter anderem von Papiermaulbeerbaum, Süßkartoffel, Yams, Taro und dem Flaschenkürbis. Auch die Europäer trugen in umfangreichem Maße Pflanzen ein, zum Beispiel verschiedene Grasarten als Weidepflanzen für die Schafe und Rinder.
Die heute vorherrschende Vegetation entspricht nicht der ursprünglichen. Sie ist das Ergebnis massiver menschlicher Eingriffe in das Ökosystem. Archäobotanische Befunde belegen, dass die Insel einst dicht mit Palmwäldern einer Art bedeckt war, die eng mit der Honigpalme (Jubaea chilensis) verwandt ist. In Proben von Rano Kao wurde nachgewiesen, dass eine Entwaldung über einen längeren Zeitraum ab dem Jahr 1010 (± 70 Jahre) stattfand. Man schätzt, dass mehr als zehn Millionen Palmen auf der Insel gefällt wurden. Der Verlust des Palmenwaldes, der die Kulturpflanzen vor dem ständig wehenden Wind und vor Austrocknung geschützt hatte, führte zu einer umfangreichen Bodenerosion, die entscheidende Auswirkung auf die Nahrungsmittelversorgung und damit auf den rapiden Rückgang der Bevölkerung gehabt haben dürfte.
Das Totora-Schilf (Scirpus californicus) ist als Rest der ursprünglichen Vegetation in den Kraterseen des Rano-Kao und des Rano Raraku erhalten. In der Osterinsel-Kultur wurde Totora-Schilf vielfältig genutzt. Nach einem Bericht von William Thomson waren die runden, an umgedrehte Boote erinnernden Paenga-Häuser mit gebündelten Totora-Stängeln eingedeckt. Man verflocht sie zu Sitzmatten, Körben, wasserabweisenden Capes und kleinen, dreieckigen Hüten für die Frauen. Die von Luftkammern durchzogenen Halme sind schwimmfähig. Aus den Berichten von James Cook und Reinhold Forster ist bekannt, dass getrocknetes und gebündeltes Totora-Schilf als Schwimmhilfe (pora) diente.
Von großer ritueller Bedeutung war der Toromiro (Sophora toromiro), ein in der freien Natur ausgestorbener Schmetterlingsblütler. Das harte und feinporige Holz wurde vielfältig genutzt, insbesondere für kultische Schnitzereien. Exemplare dieser endemischen Baumart haben lediglich in botanischen Gärten (u. a.: Göteborg, Bonn, London, Viña del Mar) überlebt.
Auffallend ist der geringe Bestand an Farnen. Lediglich 15 Arten wurden entdeckt, davon sind vier – Diplazium fuenzalidae, Doodia paschalis, Elaphoglossum skottsbergii und Polystichum fuentesii – endemisch. Letztere wurde nur einmal im Jahr 1911 gesammelt und gilt als vermutlich ausgestorben. Im Vergleich zu anderen Inseln des Südpazifiks (beispielsweise Marquesas mit 27 Familien, 55 Gattungen und 117 Arten von Farnen) ist das sehr wenig.
Eine weitere indigene Pflanze, die auf der Osterinsel nur noch in wenigen Exemplaren als kleinwüchsiger Busch vorkommt, ist die zu den Lindengewächsen (Tiliaceae) gehörende Triumfetta semitriloba. Pollenanalysen haben ergeben, dass die Pflanze bereits seit 35.000 Jahren auf der Insel wächst. Aus den Fasern der Rinde knüpften die Rapanui Fischernetze und möglicherweise die Transportseile für die Moai.
Heute ist die Landschaft der Osterinsel von ausgedehnten Grasflächen geprägt. Die häufigsten Pflanzenfamilien sind Süßgräser (Poaceae), von denen nur vier Spezies indigen sind, und Sauergrasgewächse (Cyperaceae). Eine weitere häufige Pflanzenfamilie ist die der Korbblütler (Asteraceae) mit ausschließlich anthropochoren Pflanzen. Über größere Bereiche im Südwesten haben sich eingeführte Guavenbüsche ausgebreitet. In den letzten Jahren hat es Aufforstungen mit schnell wachsendem Eukalyptus und der Monterey-Kiefer gegeben. Die Maßnahmen sind problematisch, da beide Arten ursprünglich nicht auf der Insel vorkamen. Eukalyptuswälder sind anfällig für Großfeuer, außerdem verrotten die abgefallenen Blätter schlecht. Bei Anakena ist 1961 aus importierten Pflanzen ein Hain mit der nicht autochthonen Kokospalme entstanden.
Als Nutzpflanzen werden heute für den Eigenbedarf Süßkartoffeln, Taro, Yams, Zuckerrohr sowie subtropische Früchte angebaut. Eine sehr wichtige Nahrungspflanze, oft in einem Erdofen (umu) zubereitet, ist die ursprünglich aus Mittelamerika stammende Süßkartoffel. Sie ist bereits seit Jahrhunderten in der gesamten Südsee und im südasiatischen Raum verbreitet.
Der Anbau von Kulturpflanzen in historischer Zeit erfolgte nach Berichten der europäischen Entdecker in sorgfältig bearbeiteten und abgegrenzten Feldern. La Pérouse schätzte 1787, dass etwa ein Zehntel der Insel, insbesondere die tiefer gelegenen Bereiche der Küstenregion, mit Nutzpflanzen bebaut war. Diese etwa 20 km² Anbaufläche würden ausreichen, um eine Bevölkerung von mehreren Tausend Menschen zu ernähren. Der Ackerbau erfolgte mit dem Grabstock bzw. aus Mangel an Holz mit einem entsprechend hergerichteten Stein.
Probleme mit zeitweise mangelnder Wasserversorgung und Feuchtigkeitsverlust durch Sonneneinstrahlung und die ständig wehenden Winde lösten die Rapanui auf zweierlei Weise, nämlich auf größeren, zusammenhängenden Anbauflächen durch Abdecken mit Steinmulch sowie mit der Anlage von geschützten Kleingärten (Manavai) in der Nähe der Wohnsiedlungen im Küstenbereich. Diese umhegten Areale, deren Überreste man heute noch zu Hunderten auf der Osterinsel sehen kann, sind von runder oder ovaler Form und haben meist einen Durchmesser von 2 bis 3 Metern. Steinwälle von etwa einem Meter Höhe schützten den mit Humus angereicherten und bepflanzten Innenraum vor Wind. Außerdem sorgten die Mauern für ein günstiges Kleinklima. Oft sieht man Manavai, die in Clustern zu drei bis zehn Stück zusammengefasst sind. Manche werden bis heute für den Anbau von Nahrungspflanzen genutzt.
Den vulkanischen Boden der Osterinsel durchziehen zahlreiche Lavaröhren. Durch Erosion stürzte an manchen Stellen die Decke ein, sodass sich dolinenartige Spalten bildeten, die sich allmählich mit Humus füllten. Die Bodensenken nutzte man als ertragreiche Tiefbeete, eine Art natürlicher Manavai, für die Kultivierung größerer Pflanzen, insbesondere von Bananen. Einige werden heute noch kultiviert, so zum Beispiel in der Nähe des Ahu Vinapu.
Fauna
Archäologische Grabungen belegen, dass auf der Osterinsel vor der polynesischen Besiedlung 25 Spezies von See- und sechs Spezies von Landvögeln heimisch waren. Davon sind heute auf der Insel selbst (ohne vorgelagerte Motus) nur drei Seevogelarten (darunter der Rotschwanz-Tropikvogel) und vier Landvogelarten verblieben (darunter das Chilesteißhuhn, der Chimangokarakara, der Diuca Fink aus der Familie der Neuweltammern), keine davon indigen oder endemisch.
An Säugetieren kommen heute lediglich eingeführte Haustiere – Pferde, Schafe, Rinder, Schweine – und Ratten vor. Die ausgewilderten Pferde haben sich mittlerweile zu einem Problem entwickelt. Sie verbreiten die Guavenbüsche, indem sie die Früchte fressen und die Samen an anderer Stelle ausscheiden. Außerdem reiben sie sich an den Statuen und leisten so der Erosion Vorschub. Die Pazifische Ratte (Rattus exulans), die vermutlich als Nahrung von den ersten Siedlern mitgeführt wurde, ist inzwischen ausgestorben bzw. von Haus- (Rattus rattus) und Wanderratte (Rattus norvegicus) verdrängt worden. Auf der Osterinsel gibt es keine für den Menschen unmittelbar gefährlichen Tiere oder Überträger von Infektionskrankheiten.
Unter den Reptilien ist der Skink Cryptoblepharus poecilopleurus erwähnenswert. Sein Name auf Rapanui ist moko uri uri. Das etwa 12 cm lange Tier von goldbrauner Farbe genoss offenbar religiöse Verehrung, denn es sind mehrere, sorgfältig aus Toromiro-Holz geschnitzte, anthropomorphe Figuren als Zeremonialobjekte erhalten (beispielsweise Musées royaux d’art et d’histoire in Brüssel).
Auf den vorgelagerten Motus nisten zahlreiche Seevögel, darunter Fregattvögel, Sturmtaucher, Tölpel sowie Ruß- und Feenseeschwalben.
Ebenso wie das Land wirkt das die Insel umgebende Meer kahl und lebensfeindlich. Die Sicht unter Wasser ist außergewöhnlich gut, ein Zeichen für den relativ geringen Gehalt an Nährstoffen. Große Basaltblöcke, auf denen nur wenige Korallen wachsen, bedecken den zerklüfteten Meeresboden. An dem steil abfallenden Lavasockel der Insel konnte sich kein Korallensaum bilden. Das vielfältige Ökosystem eines tropischen Korallenmeeres mit seiner artenreichen Population von Meereslebewesen hat sich nicht entwickelt. In der Umgebung der Osterinsel wurden 164 Fischarten gezählt, davon 107 Spezies von Küstenfischen. Das ist vergleichsweise wenig, in den Gewässern rund um die Fidschi-Inseln gibt es mehr als 1000 Fischarten. James Cook schrieb dazu in seinem Logbuch:
Nicht selten sind Pottwale zu beobachten. Man vermutet, dass in den Tiefen auch der Riesenkalmar vorkommt. Die Tiefsee weist die bisher dichteste bekannte Konzentration von Schwarzen Rauchern auf, aktive Vulkanschlote, aus denen heißes, mineralreiches Wasser aus dem Erdinneren sprudelt und um die sich bizarre Lebensgemeinschaften gebildet haben. Im Jahr 2005 wurde 1500 km südlich der Osterinsel eine neue Spezies entdeckt, die sogenannte Yeti-Krabbe (Kiwa hirsuta).
Von besonderem Interesse ist eine endemische Kaurischnecken-Art, die nach Pater Englert benannte Erosaria englerti, die nur vor der Osterinsel und der unbewohnten Insel Salas y Gómez, 400 km östlich, vorkommt.
Geschichte
Besiedlung
Die Frühgeschichte der Osterinsel ist schwierig zu rekonstruieren, da schriftliche Aufzeichnungen völlig fehlen. Bereits die Besiedlungsgeschichte ist umstritten. Sowohl eine Mono- als auch eine Multibesiedlungsthese wurden vertreten.
Thor Heyerdahl teilte die Inselgeschichte in eine frühe Periode im 1. Jahrtausend n. Chr. und eine mittlere Periode zwischen 1100 und 1600 n. Chr. In beiden Perioden gab es seiner Ansicht nach Einwanderungen aus Südamerika. Eine weitere Besiedlung soll in der Spätperiode ab 1680 von Polynesien aus erfolgt sein. Diese Theorie war so nicht haltbar und ist mit modernen Untersuchungsmethoden, insbesondere aus der Genetik, widerlegt worden.
Ausgehend von der Legende von Hotu Matua und gestützt auf archäologische, genealogische und sprachwissenschaftliche Befunde war lange Zeit die Annahme einer Besiedlung im Rahmen der Polynesischen Expansion von Westen populär. Sie soll relativ spät in zwei Wellen erfolgt sein: Die Erstbesiedlung im 5. oder 6. Jahrhundert, die zweite Besiedlungswelle im 14. Jahrhundert. Heute ist in der Anthropologie allgemein akzeptiert, dass die Osterinsel von Westen besiedelt wurde, im Rahmen der Polynesischen Völkerwanderung und zwar mit nur einer Siedlungswelle aus dem Großraum Mangareva, Henderson, Pitcairn. Den Beweis lieferte die moderne Genforschung in den 1990er Jahren. Erika Hagelberg von der University of Cambridge untersuchte die mitochondriale DNA (mtDNA) von zwölf Schädeln, die aus Gräbern im Ahu Vinapu und Ahu Tepeu stammten und sich im Depot des Naturhistorischen Museums in Santiago de Chile befanden. Der Vergleich mit der mtDNA von historischen Knochenfunden anderer polynesisch besiedelter Inseln einerseits sowie mit der südamerikanischer Völker andererseits bewies unzweifelhaft die polynesische Abstammung der Rapanui. Es ergaben sich auch keinerlei Hinweise auf einen weiteren Gentransfer, etwa verursacht von einer zweiten Siedlungswelle aus Südamerika und die Vermischung mit der Urbevölkerung, wie Thor Heyerdahl in späteren Jahren vermutet hatte. Wann die Initialbesiedlung erfolgte, ist umstritten, doch da die Osterinsel am äußersten Rand des Polynesischen Dreiecks liegt, darf man unterstellen, dass sie erst relativ spät besiedelt wurde. Linguistische Vergleiche haben ergeben, dass sich das Rapanui von der östlichen Untergruppe der protopolynesischen Sprachfamilie abgespalten hat. Nach dem Zeitpunkt der Abspaltung ist eine Besiedlung im ersten Jahrtausend n. Chr. anzunehmen. Basierend auf palynologischen Untersuchungen am Rano Kao darf man annehmen, dass Eingriffe in die Ökologie der Insel, die von Menschen verursacht sein könnten, keinesfalls früher als 500 n. Chr. anzusetzen sind. Das bislang früheste mit der Radiokarbonmethode ermittelte Datum, das mit einer Bautätigkeit und damit einer bereits etablierten Zivilisation in Verbindung zu bringen sein könnte, ist das Jahr 690 n. Chr. (± 130 Jahre). Weitaus häufiger sind Radiokohlenstoffdatierungen in einem Zeitfenster von 800 bis 1000 n. Chr., sie sind außerdem breiter gestreut und fallen sowohl in Zeremonialkomplexen als auch in Siedlungsresten an. Der Anthropologe Terry L. Hunt von der University of Hawaii nimmt – gestützt auf stratigraphische Grabungen bei Anakena – an, die Initialbesiedlung der Osterinsel habe erst um 1200 n. Chr. stattgefunden.
Inzwischen gibt es weitere genetische Studien, die die Herkunft der Rapanui aus dem polynesischen Siedlungsraum bestätigten. Allerdings weisen sie bei einem sehr geringen Prozentsatz der untersuchten Proben auch DNA amerikanischen (oder europäischen) Ursprunges auf. Diese Untersuchungen beruhen auf Blutentnahmen lebender Rapanui. Selbst bei sorgfältiger Auswahl der Probanden belegen sie daher nur den Ist-Zustand und nicht die Verhältnisse in voreuropäischer Zeit. Doch erhärtet auch dieses Ergebnis letztlich die bisherigen Erkenntnisse über den polynesischen Ursprung der Rapanui, denn in jeder der Proben ließen sich die für Polynesier typischen Y-Chromosom-Marker nachweisen. Die Theorie, dass Völker des amerikanischen Kontinentes die Osterinsel besiedelt haben, ist mit den Mitteln moderner genetischer Forschung unzweifelhaft zu widerlegen. Der Nachweis genetischer Spuren amerikanischen Ursprunges lässt jedoch die Möglichkeit zu, dass ein Kontakt in voreuropäischer Zeit zwischen dem Kontinent und der Osterinsel bestanden haben könnte, doch wahrscheinlich nur als gelegentliches oder sogar einmaliges Ereignis.
Auch die Verbreitung der Süßkartoffel (Kumara) als Hauptnahrungsmittel auf der Osterinsel lässt Kontakte zwischen Polynesien und dem Kontinent möglich erscheinen. Die Süßkartoffel stammt ursprünglich aus Südamerika. Sie war (und ist) eine häufige Nahrungspflanze in den Trockenregionen Südamerikas vom Golf von Guayaquil bis Zentralchile. Die Knolle überlebt keinen längeren Aufenthalt im Meerwasser, sodass der natürliche Transport durch Wind und Wellen zu den pazifischen Inseln ausscheidet. Sie kann nur mithilfe des Menschen dorthin gelangt sein. Der Anbau der Kumara auf der Osterinsel wurde lange Zeit als Beweis für die Erstbesiedlung vom Kontinent angesehen. Dem steht entgegen, dass sie auch auf anderen polynesischen Inseln vorkommt, die weit von Südamerika entfernt liegen und ohne Zweifel nicht von dort besiedelt wurden. Vermutlich wurde die Süßkartoffel zuerst im Großraum der Cookinseln, der Gesellschaftsinseln und der Marquesas eingeführt. Sie taucht in dieser Region schon vor dem Jahr 1000 n. Chr. auf. Zwischen 1000 und 1200 n. Chr. ist die Süßkartoffel auch in den Randregionen des Polynesischen Dreiecks, in Neuseeland und Hawaii, verbreitet. Bemerkenswert ist, dass zwar die Pflanze, nicht jedoch die Anbaumethode importiert wurde. Südamerikanische Völker bauten die Batate ursprünglich in künstlich bewässerten Feldern oder in angehäuften, mit Humus versetzten Hügeln an, einer Art Hochbeet, die Polynesier jedoch in Gruben.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Süßkartoffel schon von den ersten Siedlern von einer anderen polynesischen Insel mitgebracht worden ist. Aber auch der spätere Import ist möglich, denn die Polynesier waren exzellente Seefahrer und verfügten über hochseetüchtige Boote sowie ausgeklügelte Navigationskenntnisse. Eine Fahrt zwischen den polynesischen Inseln über hunderte, ja tausende von Kilometern offenen Ozeans war keine Seltenheit. Ein florierendes, über Jahrhunderte bestehendes Handelsnetz über weit auseinanderliegende Inseln im Pazifik ist nachgewiesen. Bei Te Niu an der Nordwestküste der Osterinsel entdeckte Pflanzgruben für Süßkartoffeln datieren auf das 13. Jahrhundert n. Chr.
Frühgeschichte
Es entwickelte sich eine streng stratifizierte Gesellschaft mit zehn unabhängigen Stämmen (máta), die mit verschiedenen Teilen der Insel assoziiert waren, obwohl es keine definierten Grenzen gab. Nachdem sich die Neusiedlung konsolidiert hatte, nahm die Bevölkerungszahl rasch zu. Besiedelt wurde zunächst nur die Küstenregion. Das Nahrungsangebot der Rapanui stellte sich grundlegend um, weg von der Nutzung der allmählich sich erschöpfenden, natürlichen Ressourcen und hin zur intensiven Produktion von Nahrungsmitteln. Das lässt sich archäologisch durch Analyse des Inhaltes von ausgegrabenen Abfallgruben beweisen. Brandrodung war das geeignete Mittel zur Erschließung neuer Anbauflächen, die zudem die Bodenfruchtbarkeit mit der gewonnenen Asche und Holzkohle steigerte, wenn auch nur vorübergehend. Intensivanbau von Nahrungsmitteln setzt mit der Zeit einen Überschuss frei. Das verschaffte die Mittel, privilegierte Personen – Adel, Priester und Spezialisten für Kunst und Handwerk – von der täglichen Nahrungsproduktion freizusetzen.
Die statistische Auswertung der Radiokarbondaten aus den Osterinsel-Ahu zeigt, dass ab dem 11. bis 12. Jahrhundert n. Chr. eine rege Bautätigkeit einsetzte, die bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts andauerte. Das Volk der Rapanui errichtete in diesem halben Jahrtausend mehr als 300 Zeremonialplattformen entlang der gesamten Küste und (schätzungsweise) rund 1000 große Steinfiguren. Mit der Zeit wurden die Bauwerke anspruchsvoller und die Statuen größer.
Ihren Zenit erreichte die inselweite Bautätigkeit in der Zeit vom 15. bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts n. Chr. In diesen 250 Jahren entstanden die meisten und auch die größten und aufwändigsten Zeremonialbauten. Ältere und kleinere Ahu wurden überbaut und vergrößert, oft mehrfach, sowie kleinere Statuen profaniert, als Füllmaterial in den neuen Bauten verwendet und durch größere Moai ersetzt. Diese das gesamte Inselleben umfassenden Aktivitäten gingen einher mit der höchsten Produktivität in der Landwirtschaft und der größten Bevölkerungszahl.
Die Religion war von der Ahnenverehrung dominiert. Macht und Einfluss der Vorfahren durchdrang jeden einzelnen Aspekt der Kultur und das gesamte Alltagsleben. Die Ariki, die Stammesführer, legitimierten sich durch ihre lange, nicht unterbrochene Ahnenreihe. Deren Vorfahren manifestierten sich in den steinernen Moai, die mit Blick auf die vor dem Ahu liegende Ansiedlung eine permanente Wächterfunktion ausübten. Die Autorität der Ariki war absolut und umfassend und wurde nicht infrage gestellt.
Doch gegen Ende dieser Periode kam es zu radikalen gesellschaftlichen Veränderungen, die mit einem religiösen Wandel einhergingen. Es etablierte sich eine neue Kaste, die der Krieger (matatoa), die mehr und mehr auch politische Macht anstrebte. Die Autorität der Ariki schwand und damit einhergehend der allgegenwärtige Einfluss der Ahnen. Eine andere Religion, der Vogelmannkult und damit verbunden die Verehrung von Makemake als einziger Gottheit, gewann immer mehr an Bedeutung.
Gegen Ende der Periode sind zunehmend Anzeichen der Degeneration erkennbar:
Nachdem der Boden bis zum Ende des 13. Jahrhunderts oberflächenschonend bearbeitet wurde, ist spätestens ab 1300 n. Chr. eine radikale Entwaldung mit zunehmender Bodenerosion nachgewiesen. Dies führte zur Aufgabe von Siedlungen.
Ab dem 13. Jahrhundert wird vermehrt auch das Inselinnere besiedelt, ohne Zugang zu der wichtigen Nahrungsquelle Meer.
Nach 1425 ist ein höchst intensivierter Landbau unter Nutzung innovativer Möglichkeiten (mit Mauern geschützte Kleinstanbauflächen, Steinmulch) feststellbar, der aber mit dem Zusammenbruch der Stammesgesellschaft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wieder aufgegeben wird.
Ab etwa 1500 bis zum Eintreffen der Europäer kommt es zu vermehrten Überfällen und Stammeskriegen unter Anwendung neuartiger Waffen (mata’a = mit scharfen Obsidianspitzen versehene Kurzspeere). Wahrscheinlich breitet sich auch Kannibalismus aus. Die Kriegerkaste gewinnt an Einfluss.
Wie aus archäo-biologischen Untersuchungen von Abfallhaufen der Siedlungen erkennbar ist, nimmt die Zahl und Artenvielfalt der Seevögel nach 1650 n. Chr. als Nahrungsquelle rapide ab. Stattdessen werden vermehrt steinerne Hühnerställe gebaut.
Ab Mitte des 17. Jahrhunderts kommt der Bau monumentaler Bildwerke zum Erliegen.
Ab dem Ende des 17., spätestens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, werden die Kultplattformen durch die Insulaner systematisch zerstört und die Statuen umgeworfen. Es kommt zu einem völligen Verfall der tradierten, auf der Ahnenverehrung fußenden Kultur.
Es ist heftig umstritten, wo die Wurzeln für diesen Kulturverfall zu suchen sind. Die Mehrzahl der Forscher geht heute davon aus, dass die Probleme von den Insulanern selbst verursacht wurden. Populär ist die von Jared Diamond publizierte These des Raubbaus an den natürlichen Ressourcen, der zur Störung des ökologischen Gleichgewichtes auf der isolierten Insel geführt hat.
Es ist unstrittig, dass es in der Osterinselgeschichte blutige Stammeskonflikte gab, die zu tiefgreifenden gesellschaftlichen, religiösen und ökonomischen Veränderungen führten. Zahlreiche archäologische Grabungsergebnisse weisen darauf hin: Einführung und Verbreitung von Obsidian-Speerspitzen, Zerstörung von Häusern der Stammeselite, Zuflucht in Wohnhöhlen, Simplifizierung der Begräbnisriten und ein Wechsel in der Religion mit der Abkehr von der Ahnenverehrung und Hinwendung zum Vogelmannkult. Hinsichtlich des Zeitpunktes herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Es wird kontrovers diskutiert, ob dieser Umbruch schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eingesetzt hat (das Jahr 1680 wird häufig als Wendepunkt für den demografischen und gesellschaftlichen Kollaps genannt), demzufolge von den Rapanui selbst verursacht wurde, oder ob erst das Eintreffen der Europäer zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Anstoß gegeben hat.
Andere Theorien gehen davon aus, dass eine mehrjährige Dürre und die Kleine Eiszeit die Ursache für den Niedergang waren oder die von den ersten Siedlern eingeschleppte Polynesische Ratte, die die für die Ökologie der Insel wichtigen Palmenwälder vernichtete.
Einfluss der Europäer
Der erste Europäer, der vermutlich die Osterinsel sah, war der Pirat Edward Davis, der mit seinem Schiff Bachelors Delight 1687 von den Galápagos-Inseln kommend Kap Hoorn umsegeln wollte. Er sichtete die Insel eher zufällig und glaubte, den sagenhaften Südkontinent gefunden zu haben, landete jedoch nicht.
Ihren heutigen Namen erhielt die Osterinsel von dem Niederländer Jakob Roggeveen, der im Auftrag der Westindischen Handelskompanie am Ostersonntag, dem 5. April 1722, mit drei Schiffen dort landete. Er nannte sie Paasch-Eyland (Osterinsel), nach dem Tag ihrer Entdeckung. An der Expedition nahm der Mecklenburger Carl Friedrich Behrens teil, dessen in Leipzig verlegter Bericht die Aufmerksamkeit Europas auf die bis dahin unbekannte Insel lenkte.
Der Katalane Manuel d’Amat i de Junyent, Gouverneur von Chile und Vizekönig von Peru, hatte die Bestrebung, den Einfluss Spaniens in Südamerika (gegen England) zu festigen und nach Ozeanien zu erweitern. Er beauftragte Don Felipe González, bis zur Magellanstraße zu segeln und dabei u. a. die „Erde Davis“ für die spanische Krone zu annektieren. González landete am 15. November 1770 mit dem Linienschiff San Lorenzo und der Fregatte Santa Rosalia auf der Osterinsel, errichtete als Zeichen des spanischen Anspruches mehrere Kreuze an markanten Punkten und gab ihr den Namen San Carlos. Spanien verlor allerdings in den Folgejahren das Interesse an den ozeanischen Visionen Amats und erneuerte seinen Anspruch auf die Osterinsel nicht.
Während seiner zweiten Südseeexpedition besuchte James Cook vom 13. bis 17. März 1774 die Osterinsel. Er war von der Insel nicht begeistert und schrieb in sein Logbuch:
Dennoch brachte der Aufenthalt wesentliche Erkenntnisse über die geologische Beschaffenheit, die Vegetation, die Bevölkerung und die Statuen (die in der Mehrzahl bereits umgeworfen waren). Wir verdanken sie dem deutschen Naturforscher Johann Reinhold Forster und seinem Sohn Johann Georg Adam Forster, die an der Cook-Expedition teilnahmen. Reinhold Forster fertigte auch erste Skizzen der Moais, die, als Kupferstiche in damals typischer romantischer Überhöhung veröffentlicht, in den Salons Aufsehen erregten.
Im Jahr 1786 landete der Franzose Graf Jean-François de La Pérouse auf der Osterinsel. Er hatte im Rahmen seiner Weltumsegelung von Ludwig XVI. den Auftrag, genaue Karten zu zeichnen und mit der Erforschung der Völker der Südsee zur Bildung des französischen Thronfolgers (Dauphin) Louis Joseph Xavier François de Bourbon beizutragen.
Weitere europäische Besucher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren: Otto von Kotzebue am 28. März 1816, Frederick William Beechey am 16. und 17. November 1825 und Abel Aubert Dupetit-Thouars am 25. Februar 1838, der die Insel jedoch nicht betrat, sowie mehrere Walfänger.
Die von den europäischen Entdeckern eingeschleppten Krankheiten wie Grippe und Syphilis bewirkten einen stetigen Bevölkerungsrückgang auf der Osterinsel.
Ab 1862 überfielen peruanische Blackbirder auf der Suche nach billigen Arbeitskräften die Insel in mehreren Wellen. Die vorwiegend jüngeren Insulaner beiderlei Geschlechts wurden nach Peru verschleppt, dort mussten sie auf den großen Haziendas unter sklavenähnlichen Bedingungen auf den Feldern und in den Haushalten arbeiten. Die meisten starben an Infektionskrankheiten, gegen die sie auf ihrer isolierten Insel keine Abwehrkräfte entwickelt hatten. Die seriösen Schätzungen über die Gesamtzahl der Personen, die von der Osterinsel entführt wurden, differieren. Sie reichen von 900 bis zu 1400.
Da die Blackbirder auch Mangareva sowie einige Inseln der Marquesas und des Tuamotu-Archipels heimgesucht hatten, die zum Protektorat Frankreichs gehörten, sah sich die französische diplomatische Vertretung in Peru zum Handeln genötigt und insistierte auf ein Ende des Menschenhandels und eine Rückführung der Polynesier in ihre Heimat. Hinzu kam, dass sich inzwischen die öffentliche Empörung in Europa und Peru artikuliert hatte. Außerdem erwies sich die Zwangsarbeit als unwirtschaftlich, da die polynesischen Arbeitskräfte sehr bald erkrankten und starben. So hörten die Anwerbungen schließlich auf, und im Herbst 1863 wurden die noch lebenden Polynesier auf Weisung der peruanischen Regierung in ihre Heimat zurückgebracht.
Die wenigen Rückkehrer zur Osterinsel, etwa ein Dutzend Personen, schleppten die Pocken ein, und an den nachfolgenden Epidemien – etwa zeitgleich grassierte auch die Tuberkulose – starb ein großer Teil der Bevölkerung. Der französische Ethnologe Alphonse Pinard (1852–1911) zählte 1877 nur noch 111 lebende Rapanui.
Mission
Als Gegengewicht zur anglikanischen London Missionary Society hatte sich mit französischer Unterstützung die katholische Ordensgemeinschaft Congrégation des Sacrés-Cœurs de Jésus et de Marie (Ordenskürzel: SS.CC.) in der Südseemission etabliert.
Der erste Missionar, der am 2. Januar 1864 mit dem chilenischen Schiff La Suerte auf der Osterinsel eintraf, war Bruder Eugène Eyraud SS.CC. (* 5. Februar 1820; † 19. August 1868). Er baute aus mitgebrachten Materialien eine Holzhütte an der Stelle, an der später der Ort Hanga Roa entstehen sollte. Eyraud hatte unter den Belästigungen der Einwohner zu leiden und blieb nur bis zum 10. Oktober 1864. Dennoch schrieb er einen enthusiastischen Bericht an die Ordensleitung, der den Orden ermutigte, die Missionsarbeit auf der Osterinsel erneut aufzunehmen.
Als Leiter bestimmte man Pater Hippolyte Roussel SS.CC., einen energischen und erfahrenen Priester, der zuvor auf dem Tuamotu-Archipel und auf Mangareva lange Jahre erfolgreich als Missionar tätig gewesen war. Am 23. März 1866 kamen Roussel und Eyraud mit vier einheimischen Helfern aus Mangareva auf der Osterinsel an. Ein halbes Jahr später, am 6. November 1866, erhielten sie Verstärkung von dem deutschstämmigen Pater Kasper (Gaspard) Zumbohm SS.CC. und von Bruder Théodule Escolan, die auf dem Schoner Tampico, Kapitän war der Franzose Jean-Baptiste Dutrou-Bornier, ankamen. Trotz anfänglicher Widerstände war ihre Arbeit erfolgreich, denn 1866 oder 1867 fand die letzte Vogelmannzeremonie an der Kultstätte Orongo statt. Alle der rund 650 Rapanui wurden zwischen Februar und August 1868 getauft. An Mariä Himmelfahrt, dem 15. August 1868, fand eine letzte große Taufzeremonie statt. Fünf Tage später starb Bruder Eyraud an Tuberkulose. Pater Roussel blieb bis zum Jahr 1871.
Der ehemalige französische Offizier Jean Baptiste Dutrou-Bornier, ein Nachfahre von Jean-Félix Dutrou de Bornier (1741–1816), einem Abgeordneten der französischen Generalstände von 1789, hatte 1866 auf seinem Schoner Tampico die Missionare Zumbohm und Escolan auf die Osterinsel gebracht. Bei dieser Gelegenheit lernte er die dortigen Verhältnisse kennen und plante auf diesem dünn besiedelten, grasbedeckten Eiland, fernab der europäischen Verwaltung und Jurisdiktion, eine Viehzucht anzusiedeln. Als solventen Partner hatte er den Schotten John Brander gewonnen, einen Großgrundbesitzer auf Tahiti, der mit der Herrscherfamilie Pomaré verschwägert war. Im April 1868 kehrte Dutrou-Bornier zur Osterinsel zurück. In seiner Begleitung war ein Deutscher namens Christian Schmidt und sie brachten zwei Kisten mit Feuerwaffen mit. Zunächst bemühte sich Dutrou-Bornier um gute Beziehungen zu den Missionaren und den Häuptlingen und baute sich ein Haus auf den Grundmauern einer mit der Christianisierung bedeutungslos gewordenen Zeremonialstätte bei Mataveri. Mit 450 aus Australien importierten Schafen sowie Kühen, Ziegen und Pferden begründete er seine Viehzucht. Parallel dazu warb er Arbeitskräfte für die Firma von John Brander auf Tahiti an. Geschätzte 200 Rapa Nui folgten seinen Versprechungen und die Auswanderer bewog er dazu, ihm ihr Land zu verkaufen. Auf diese Weise plante er, nach und nach die gesamte Insel in seinen Besitz zu bringen. Einige der nach Tahiti ausgewanderten Rapanui konnten 1880 bei Pamatai, in den Hügeln oberhalb des heutigen Flughafens Tahiti-Faa, einige Stücke Land erwerben und gründeten dort eine Kolonie, die bis Ende der 1960er Jahre bestand.
Dutrou-Bornier heuerte den Rapanui Torometi an, der mit weiteren Gehilfen eine bewaffnete „Schutztruppe“ organisierte und die übrigen Inselbewohner einschüchterte und terrorisierte. Es kam zu Überfällen, es fielen Schüsse, Hütten wurden in Brand gesetzt und auch die Missionare bedroht. Ob und wie viele Tote und Verwundete es während dieser Unruhen gab, in die sicherlich auch alte Stammesrivalitäten einflossen, ist nicht bekannt. Die Rapanui wurden aus ihren Siedlungen vertrieben und in ein kleines Gebiet an der Westküste (im Bereich des heutigen Hangaroa) verbannt, das sie unter Strafandrohung nicht verlassen durften. Der Rest der Insel war unbewohntes Weideland für Schafe und Rinder. Als die Verhältnisse schließlich unerträglich wurden, ermordeten die Insulaner 1876 den Despoten Dutroux-Bornier, ein Jahr später starb John Brander eines natürlichen Todes. Die Osterinsel blieb nach einem längeren Rechtsstreit der Erben vor französischen Gerichten im Besitz der Familie Brander.
Vom 20. bis 25. September 1882 besuchte das deutsche Kanonenboot SMS Hyäne im Rahmen einer ausgedehnten Südseeexpedition die Osterinsel. Kapitänleutnant Wilhelm Geiseler hatte den Auftrag der Kaiserlichen Admiralität, wissenschaftliche Untersuchungen für die ethnologische Abteilung der königlich preußischen Museen in Berlin vorzunehmen. Die Expedition lieferte u. a. detailgenaue Beschreibungen der Sitten und Gebräuche, Sprache und Schrift der Osterinsel, außerdem exakte Zeichnungen verschiedener kultischer Objekte, von Moais, von Hausgrundrissen sowie einen detaillierten Lageplan der Kultstätte Orongo.
Am 1. November 1868 kam die H.M.S. Topaze unter Kommodore Richard Ashmore Powel vor der Osterinsel an und blieb bis zum 6. November 1868. Landungsgruppen unter Führung der Schiffsoffiziere und unter Teilnahme des Schiffsarztes John Linton Palmer unternahmen in den nächsten Tagen Ausflüge in verschiedene Regionen der Insel, begleitet von Einheimischen. Sie gelangten nach Vinapu, zum Rano Raraku, zum Ahu Tongariki und zur Kultstätte Orongo. In Orongo brachen sie eines der Steinhäuser auf und entfernten mit der Hilfe von Insulanern den Moai mit dem Namen Hoa Hakananaia, eine der bedeutendsten Kultstatuen der Osterinsel. Sie befindet sich heute im British Museum in London. Palmer legte der Royal Geographical Society einen Bericht über seine Erkenntnisse vor.
Im Jahr 1886 besuchte die erst ein Jahr zuvor in Dienst gestellte USS Mohican, ein Dampfschiff der U.S. Pacific Squadron unter dem Befehl von Commander Benjamin F. Day, die Osterinsel mit einem Forschungsauftrag der Smithsonian Institution. Die Mohican traf am 18. Dezember 1886 vor der Osterinsel ein und ankerte in der Bucht von Hanga Roa. Sie blieb bis zum 30. Dezember 1886, und vor allem der Zahlmeister William J. Thomson und der Schiffsarzt George Cooke erkundeten die Insel. Thomsons ausführlichen Bericht kann man durchaus als wissenschaftliche Dokumentation bezeichnen. Er erschien im Jahre 1891 und ist illustriert mit zahlreichen, detailgenauen Zeichnungen und den ersten Fotos von der Insel. Zudem enthält er im Anhang ein mehrseitiges Vokabularium Rapanui-Englisch. Die Mohican brachte zahlreiche Relikte in die Vereinigten Staaten. Das Verzeichnis umfasst 44 Positionen mit z. T. mehreren Einzelstücken. Sie befinden sich heute im National Museum of Natural History, Washington, D.C. Die spektakulärsten Mitbringsel dürften zwei Rongorongo-Schrifttafeln, ein kleiner Moai aus Basalt und ein Moai-Kopf vom Ahu O Pepe sein.
Chilenische Annexion und Verwaltung
Vor dem Hintergrund ihrer territorialen, ökonomischen und militärischen Expansion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts annektierte die Republik Chile die Insel am 9. September 1888. Die chilenische Regierung war dem Vorschlag des Korvettenkapitäns Policarpo Toro (1856–1921) gefolgt, der aus den Erfahrungen des Salpeterkrieges glaubte, sie sei als Marinestützpunkt und Versorgungsbasis von strategischem Wert.
Es wurde ein Vertrag in Spanisch und in Rapanui geschlossen, den Toro und 20 Stammeshäuptlinge an Bord des Kriegsschiffes Angamos unterzeichneten. Die Textversionen des Vertrages in beiden Sprachen differieren und werden heute unterschiedlich interpretiert. Aus Sicht der Rapanui lag die Absicht der Häuptlinge darin, die Souveränität über die Insel zu behalten, gleichwohl aber den Chilenen zu erlauben, das Land für die Viehzucht und –haltung zu nutzen. Als Gegenleistung erwarteten sie, dass die Chilenen sich um die Insel kümmern, Wohlstand bringen und das Land und seine Menschen gegen Übergriffe schützen. Es war nicht gewollt, die Souveränität oder den Besitz über das Land aufzugeben. Allerdings gab es keinerlei amtliche Registrierung des Landbesitzes, lediglich Überlieferungen und mündliche Absprachen.
1895 verpachtete die chilenische Regierung die Insel an den Geschäftsmann Enrique Merlet, der die Viehzucht weiter betrieb. 1903 verkaufte er seine Besitzansprüche an das britische Handelshaus Balfour Williamson. 1911 erreichte eine wissenschaftliche Kommission unter der Leitung des Deutsch-Chilenen Walter Knoche die Insel, um dort eine meteorologische und seismische Station zu errichten und erstmals fächerübergreifend biologische, ethnologische und archäologische Forschungen zu betreiben.
Die verschiedenen europäischen Besucher, aber insbesondere die Rückkehrer aus peruanischer Sklaverei, brachten Infektionskrankheiten auf die Insel, die sich rasch verbreiteten und die Bevölkerung dezimierten. Ab etwa 1900 breitete sich auch die Lepra, vermutlich von Tahiti eingeschleppt, auf der Osterinsel aus. Abseits von Hangaroa wurde daher eine Leprakolonie errichtet, in der – nach Erzählungen der Einwohner – die Firma auch missliebige Personen isolierte, die sich dort erst mit der Krankheit ansteckten.
Im Ersten Weltkrieg spielte die Insel eine nicht unbedeutende Rolle im Seekrieg. Von Tahiti kommend traf sich ein Geschwader mit den Panzerkreuzern SMS Scharnhorst und SMS Gneisenau, dem Kleinen Kreuzer SMS Leipzig sowie Begleitschiffen mit aus dem Atlantik kommenden Transportschiffen, um Brennstoff und Lebensmittel zu übernehmen. Der Aufenthalt vor der Insel dauerte vom 12. bis 19. Oktober 1914. Am 23. Dezember 1914 versenkte der deutsche Hilfskreuzer SMS Prinz Eitel Friedrich das französische Handelsschiff Jean unmittelbar vor der Bucht von Hangaroa. Die Mannschaft des versenkten Schiffes wurde auf der Insel zurückgelassen. Als der deutsche Hilfskreuzer SMS Seeadler des „Seeteufels“ Felix Graf von Luckner 1917 vor Mopelia (Gesellschaftsinseln) sank, segelte die Mannschaft mit dem gekaperten britischen Schiff Fortuna zur Osterinsel. Das Schiff trieb beim Versuch des Anlandens auf die Klippen und sank. Die Besatzung rettete sich auf die Insel und lebte dort vier Monate, bis sie schließlich im neutralen Chile interniert wurde.
Als die angeblich seherisch begabte, betagte Insulanerin Angata, die dem führenden Miru-Clan entstammte, 1914 träumte, Gott habe die gesamte Insel wieder den Rapanui zugesprochen, brach ein Aufstand aus. Die Insulaner wollten nicht länger hinnehmen, dass ihnen das Betreten des größten Teils der Insel untersagt war. Als Angata zudem behauptete, dass Gott die Aufständischen kugelfest gemacht habe und ihnen daher nichts geschehen könne, eskalierte der Konflikt. Der Aufstand wurde mit dem Eintreffen der chilenischen Korvette General Baquedano am 5. August 1914 beendet und vier führende Aufständische vorübergehend in Gewahrsam genommen, aber bald wieder freigelassen. Nur Daniera Teave Korohua, Angatas Sohn, wurde nach Chile deportiert. Comandante Almanzor Hernández erkannte die unerträglichen Verhältnisse und übte Kritik an der Verwaltung der Schaffarm. An den räumlichen Beschränkungen für die Rapanui änderte sich nichts, die Regierung setzte aber einen von der Firma unabhängigen Verwalter ein.
Bis zum Jahr 1967 herrschte auf der Insel das chilenische Kriegsrecht. Die Bewohner der Insel unterstanden einer restriktiven militärischen Verwaltung mit einem von Chile eingesetzten Militärgouverneur an der Spitze. Obwohl chilenische Staatsbürger, hatten die Insulaner kein Anrecht auf einen chilenischen Pass und durften die Osterinsel nicht verlassen. Ihr Aufenthalt war auf ein umzäuntes und bewachtes Gebiet um Hangaroa beschränkt, der übrige Teil der Insel durfte nur mit Erlaubnis des Gouverneurs betreten werden. Eigenständige, demokratische Strukturen in der lokalen Verwaltung wurden erst Ende der 1960er Jahre zugelassen.
Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Chile kam 1935 der deutschstämmige Kapuzinerpater Sebastian Englert auf die Osterinsel. Er blieb dort als Seelsorger bis zu seinem Tod auf einer Vortragsreise im Jahr 1969. Pater Englert sah seine Aufgabe nicht ausschließlich in der Missionierung, er kümmerte sich auch um soziale Belange, Gesundheitsvorsorge und Bildung der Insulaner. Auf den vielseitig Interessierten gehen bedeutende Aufzeichnungen archäologischer, linguistischer, kulturgeschichtlicher und botanischer Erkenntnisse zurück. Seine systematische Sammlung von Artefakten bildet heute den Grundstock des nach ihm benannten Museums in Hanga Roa.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Forschungsexpeditionen zur Osterinsel. Erwähnenswerte Forscher sind die Engländerin Katherine Routledge, der Franzose Alfred Métraux und der Deutsche Thomas Barthel von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, der die wesentlichen Ansätze zur Entschlüsselung der geheimnisvollen Osterinsel-Schrift fand.
Thor Heyerdahl hielt sich von 1955 bis 1956 auf der Osterinsel auf. Er führte Ausgrabungen und praktische Experimente durch und richtete den ersten Moai wieder auf.
Am 22. Mai 1960 verwüstete das Erdbeben von Valdivia, das eine Stärke von 9,5 hatte, die Stadt Valdivia auf dem chilenischen Festland. Das Beben löste einen Tsunami aus, der auf die Südostküste der Osterinsel traf, die dem Kontinent zugewandt ist. Da die Bevölkerung sich bei Hangaroa auf der Westseite konzentriert, kam es zu keinen Personenschäden. Die sechs Meter hohe Flutwelle drang stellenweise bis zu 500 Meter in das Land ein und zerstörte den erst einige Jahre zuvor restaurierten Ahu Tongariki völlig. Die tonnenschweren Moai wurden 50 bis 150 Meter ins Landesinnere geschleudert. Mit technischer, logistischer und finanzieller Unterstützung aus Japan konnte der Ahu in den Folgejahren restauriert werden, sodass sich die Anlage heute wieder im ursprünglichen Zustand präsentiert.
1967/68 errichtete das US-Militär am Rano Kao eine geheime Station, die angeblich den Zustand der Ionosphäre aufzeichnen und, wie einige auf der Insel vermuteten, französische Atomtests im Pazifik überwachen sollte. Die amerikanischen Militärangehörigen, 45 Offiziere und Mannschaften, sorgten für einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung und es entstanden Arbeits- und Ausbildungsplätze für die Rapanui. Der von dem Kraftwerk des US-Militärs produzierte Strom stand den damals 1600 Inselbewohnern kostenlos zur Verfügung. Unter dem sozialistischen Präsidenten Allende musste die Basis 1970 aufgegeben werden, was nicht von vielen Insulanern begrüßt wurde.
Die stufenweise Entwicklung zur Eigenständigkeit der Osterinsel begann mit dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Pinochet zeigte ein besonderes Wohlwollen für die Osterinsel. Er war 1974 der erste chilenische Präsident, der die Insel besuchte, und er kehrte zweimal, 1980 und 1987, zurück. Unter seiner Regierungszeit wurden erhebliche Mittel in die Verbesserung der Infrastruktur investiert, und er ernannte 1984 den ersten ethnischen Rapanui, den in den USA ausgebildeten Archäologen Sergio Rapu, zum Gouverneur der Osterinsel.
Als Interessenvertretung des indigenen Volkes der Osterinsel gründete sich 2001 das „Rapa Nui Parlament“, eine nichtstaatliche Organisation ohne offiziellen Status, die sich in den Folgejahren zunehmend radikalisierte. Am 29. Dezember 2010 vertrieben aus Chile eingeflogene Polizisten Mitglieder des Rapanui-Parlaments gewaltsam aus deren Hauptquartier im Zentrum von Hanga Roa sowie mehrere Hausbesetzer aus einem seit Monaten besetzten Hotel. Mitglieder des Hito-Clans hatten das neu erbaute Luxushotel „Hangaroa Eco Village & Spa“ besetzt, weil sie behaupteten, das Land gehöre ihnen und der Verkauf seitens der Regierung an die chilenische Investorenfamilie sei illegal.
Ein von der Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeiteter Vorschlag zu einer neuen Verfassung für die Republik Chile (siehe Plebiszit in Chile 2022) sollte u. a. zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der indigenen Gemeinschaften, darunter auch der Rapanui, führen. Bei der Volksabstimmung am 4. September 2022 wurde die Verfassungsänderung bei hoher Wahlbeteiligung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.
Die weltweite COVID-19-Pandemie hat im März 2020 auch die abgelegene Osterinsel erreicht. Der erste Fall trat am 24. März 2020 auf. Die Insel wurde abgeriegelt und LANTAM-Airlines angewiesen, alle Touristen zu evakuieren. Die Quarantäne dauerte bis zu August 2022. Erst am 5. August 2022 durften die ersten Touristen wieder einreisen.
Kunst und Kultur
Die Bewohner der Osterinsel haben Kultobjekte sowohl aus Stein als auch aus Holz hergestellt. Die erhaltenen Holzschnitzereien gelangten durch Kauf oder Tausch mit den europäischen Expeditionen in den Bestand der weltweiten Sammlungen.
Die Moai
Die weltbekannten, kolossalen Steinstatuen der Osterinsel werden Moai genannt. Pater Sebastian Englert nummerierte und katalogisierte 638 Statuen, das Archaeological Survey and Statue Projekt von 1969 bis 1976 ermittelte 887, vermutlich waren es jedoch ursprünglich über 1000.
Trotz umfangreicher Forschungen sind ihr eigentlicher Zweck und die genaue Zeit ihrer Errichtung unter den Experten immer noch umstritten. Man geht heute davon aus, dass sie berühmte Häuptlinge oder allseits verehrte Ahnen darstellen, die als Bindeglied zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt fungierten.
Im Oktober 2022 entstand nach einer längeren Trockenperiode ein Großfeuer am Rano Raraku, das einige der am Berghang stehenden Moai beschädigte. Das Feuer brachte aber auch einen 1,60 m großen Moai zutage, der im Schilf des Kratersees verborgen und zuvor nicht bekannt war.
Rongorongo-Schrift
Die Osterinselkultur verfügt als einzige im Pazifik über eine eigene Schrift, die Rongorongo-Schrift. Es ist eine mit Lautzeichen durchsetzte Bilderschrift. Geschrieben wird in Zeilen in einer Variante des Bustrophedon: Jede Zeile steht gegenüber der vorhergehenden auf dem Kopf und ist gegenläufig geschrieben. Es wird von links nach rechts gelesen und am Ende der Zeile wird die Tafel um 180 Grad gedreht. Der Beginn ist links unten. Die durchschnittlich einen Zentimeter hohen Schriftzeichen zeigen grafische Symbole, Vogelmänner, Menschen, Tiere, Körperteile, astronomische Symbole und Geräte des täglichen Gebrauchs (Boot, Haus, Speer, Steinbeil, Paddel). Die Bilderschrift setzt sich jedoch nicht aus Piktogrammen, die unmittelbar reale Objekte abbilden, zusammen. Thomas Barthel, der wohl profundeste Kenner der Osterinsel-Schrift, hält sie lediglich für eine Gedächtnisstütze, d. h., es sind Kernbegriffe abgebildet, um die herum Wörter und Sätze aus dem Gedächtnis zu ergänzen sind.
Der Archäologe Kenneth P. Emory vom Bishop Museum in Hawaii vertritt eine völlig andere Auffassung. Aus der Tatsache, dass die wenigen erhaltenen Rongorongo-Tafeln nachweislich zwischen 1722 und 1868 aufgefunden wurden, zieht er den Schluss, bei der Schrift handele es sich lediglich um eine Nachahmung europäischer Schriftzeugnisse.
Die vollständige Entzifferung der Osterinsel-Schrift galt lange als ungelöstes Problem, insbesondere, da die Schriftkultur im Südseeraum keine Parallelen hat. Erst der systematische Vergleich mit Kalenderwissen und die Einbeziehung mündlicher Überlieferungen brachte erste Ansätze zur inhaltlichen Deutung. Bereits Thomas Barthel vermutete zumindest in Teilen in einer Schrifttafel, genannt Tablet Mamari (heute im Archiv der Congregazione dei SS Cuori in Grottaferrata bei Rom), einen Mondkalender, da die Zeilen 6 bis 9 der Vorderseite auffallend viele astronomische Zeichen und Mondsymbole zeigen. Diese Ansicht wurde inzwischen bestätigt.
Weltweit sind nur 25 als authentisch geltende Schriftzeugnisse auf Holztafeln, den Rongorongo-Tafeln, aber auch auf anderen Kultgegenständen (Rei-Miro in London, Vogelmann in New York und Zeremonialstab in Santiago de Chile) bekannt. Die erhaltenen Rongorongo-Tafeln sind überwiegend aus Toromiro-Holz geschnitzt. Die Schriftzeichen wurden vermutlich mit Obsidiansplittern oder Haifischzähnen eingraviert, Kenneth P. Emory behauptet, mit eisernen Werkzeugen europäischen Ursprunges. Die Schrifttafeln sind heute über Museen und Sammlungen der ganzen Welt verstreut.
Die Deutungsversuche sind zahllos, insbesondere seit sich Laienforscher daran versuchen. Die seriösen Erklärungen für die aufgezeichneten Texte reichen von Genealogien bis zu rituellen Gesängen. Bislang ist es jedoch immer noch nicht gelungen, die Texte Zeile für Zeile zu übersetzen.
Orongo und der Vogelmann-Kult
Am Hang des Rano Kao, gefährlich nah an einer 300 Meter abfallenden Klippe, befinden sich die bekannten Orongo-Petroglyphen. Das Hauptmotiv ist das des Vogelmannes (polynesisch: Tangata Manu), ein Mischwesen aus Mensch und Fregattvogel. Der Kult um den Vogelmann erlangte ab etwa 1500 n. Chr. zunehmende Bedeutung. Die Gründe für die Abkehr von der alten Religion der Ahnenverehrung, die letztendlich auch das spätere Umstürzen der Moais zur Folge hatte, sind unbekannt. Die Archäologin Georgia Lee, Herausgeberin des Rapa-Nui-Journals, vertritt die Auffassung, dass dies mit der Machtübernahme durch eine Kriegerkaste als Folge der ökologischen Zerstörung in Zusammenhang zu bringen ist. Andere, zum Beispiel Alfred Métraux, nehmen an, dass Ahnenverehrung und Vogelmann-Kult zumindest eine Zeitlang parallel bestanden haben.
In jedem Frühjahr schwammen junge Männer von Orongo aus zum vorgelagerten Motu Nui, um das erste Ei der Rußseeschwalbe (Sterna fuscata) zu finden. Wer als erster ein unbeschädigtes Ei zurückbrachte, wurde zum Vogelmann erklärt, stand rituellen Opfern vor und erfreute sich besonderer Privilegien.
Vogelmannfiguren sind in der gesamten Südsee (Samoa, Sepik-Region in Neuguinea) verbreitet.
Ein weiteres Motiv der Felsritzungen bei Orongo ist Makemake, ein maskenhaftes Gesicht mit großen, eulenartigen Augen, das den Schöpfergott darstellt. Es sind auch Tierdarstellungen zu finden (Vögel, Wale, Haie, Schildkröten) sowie grafische Motive.
Zur Kultstätte Orongo gehören sorgfältig errichtete steinerne Hütten, mit einem Dach aus Grassoden, die nicht ständig bewohnt, sondern nur zu kultischen Zwecken genutzt wurden.
Rei-Miro
Rei Miro ist ein nur in der Kultur der Osterinsel bekanntes hölzernes Pektoral, vorwiegend aus Toromiro-Holz geschnitzt. Es hat eine mondsichelartige Form, die aber auch als Bootskörper gedeutet werden kann. Die beiden Enden sind häufig als menschliche oder tierische Köpfe mit feinen Gesichtszügen ausgebildet. An den oberen Enden befinden sich Löcher für eine Umhängeschnur. Einige Pektorale sind mit Schriftzeichen versehen. Rei Miro von der Osterinsel finden sich in den verschiedensten Museen der Welt. Ihre Bedeutung (Kultgegenstand, Schmuck oder Rangabzeichen) ist unbekannt.
Ao und Rapa
Ao und Rapa sind paddelförmige, aus Holz geschnitzte Ritualobjekte, die als Rangabzeichen hoher Würdenträger, aber auch bei rituellen Tänzen verwendet wurden.
Kulthöhlen
Der vulkanische Ursprung der Insel hat zur Folge, dass sich im Gestein zahlreiche Höhlen und Klüfte gebildet haben. Die Höhlen wurden als Kultstätten genutzt, wie zahlreiche Felsmalereien beweisen. Die Motive haben ihren Ursprung überwiegend im Vogelmann-Kult. Thor Heyerdahl fand in den Höhlen noch zahlreiche steinerne Kleinplastiken mit den unterschiedlichsten Motiven: Vogelmanndarstellungen, Moais, Kopfplastiken, anthropomorphe und zoomorphe Figuren bis hin zu Darstellungen von Segelschiffen. Die geheimen Höhlen sind einzelnen Familien zugeordnet. Das Wissen darüber wurde mündlich an besonders ausgesuchte Mitglieder der Nachfolgegeneration vermittelt. Knochenfunde beweisen, dass die Höhlen auch als Begräbnisstätten genutzt wurden, jedoch vermutlich nur in der Spätperiode. Der Überlieferung der Inselbewohner nach dienten die Höhlen in der Zeit des Kulturverfalls und der nachfolgenden Bürgerkriege auch als Zufluchtsstätten. Eine von Touristen häufig besuchte Kulthöhle mit zahlreichen Felsbildern ist Ana Kai Tangata, die sogenannte „Menschenfresserhöhle“, bei Mataveri an der Westküste.
Die Osterinsel heute
Verwaltung
Die Osterinsel ist eine von acht Provinzen der chilenischen Región de Valparaíso (). Sie wird nicht wie die meisten übrigen Departamentos Chiles weiter in Gemeinden untergliedert, sondern entspricht einer Gemeinde.
Infrastruktur
Den Mataveri International Airport (IATA-Flughafencode IPC) gibt es seit den 1950er Jahren, ursprünglich nur als unbefestigte Graspiste. Am 19. Januar 1951 flog der chilenische Militärpilot Roberto Parragué Singer mit einem Catalina-Flugboot vom Flughafen La Florida in 19 Stunden und 20 Minuten zur Osterinsel und landete auf einem notdürftig hergerichteten Landestreifen bei Mataveri. In den 1960er Jahren erkannte Chile die Bedeutung der Insel als Zwischenstation in einem transpazifischen Luftnetzwerk, nicht zuletzt unter militärischen Gesichtspunkten. Nachdem Pläne für einen Neubau bei Anakena als zu teuer verworfen wurden, erweiterte und asphaltierte man den vorhandenen Landestreifen. Am 5. April 1967 landete die erste Passagiermaschine, eine Douglas DC-6, mit vierzig US-amerikanischen Touristen auf dem Flughafen Mataveri. Doch der Hauptzweck des von der chilenischen Luftwaffe betriebenen Flugplatzes war die Versorgung der amerikanischen Basis. Als der Mataveri International Airport 1984 von der NASA als Notlandeplatz für die Raumfähren ausgebaut wurde, konnten dort Großraumflugzeuge landen. Das hat zu einem deutlichen Anstieg des Tourismus geführt, heute die Haupteinnahmequelle der Insel. Vor der Corona-Pandemie führte LATAM Airlines täglich Flüge von und nach Santiago de Chile durch, die Flugzeit beträgt rund viereinhalb Stunden. Zweimal pro Woche gab es eine Flugverbindung von und nach Papeete auf Tahiti, die Flugzeit beträgt rund sechs Stunden.
Seit 1967 gibt es ein zentrales Wasserleitungssystem mit Tiefbrunnen; bis dahin war die Bevölkerung auf die Vorräte in den Kraterseen bzw. an der Küste aussickerndes Grundwasser angewiesen. An das mit Dieselgeneratoren betriebene Stromversorgungsnetz sind auch im Außenbereich liegende Anwesen angeschlossen. Befestigte Straßen findet man im unmittelbaren Bereich von Hanga Roa und Mataveri. Auch die Strecken von Hanga Roa zum Strand von Anakena und entlang der Südküste zur Halbinsel Poike sind inzwischen asphaltiert. Alle Straßen in Hangaroa haben einen Namen, doch sind sie nicht auf Straßenschildern angegeben. In der Nähe des Flughafens befindet sich die einzige Tankstelle, es gibt jedoch keinen Autohändler. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es ebenfalls nicht. Einige Taxis, Mietwagen und Mietfahrräder stehen zur Verfügung. Manche der einheimischen Familien halten Pferde, die als alltägliches Fortbewegungsmittel dienen, oder fahren mit dem Motorrad.
An den fünf Schulen in Hangaroa können alle Bildungsabschlüsse bis zur Hochschulreife (Enseñanza Media, entspricht dem deutschen Abitur und der österreichischen/schweizerischen Matura) erworben werden. Ein Fach- oder Hochschulstudium ist jedoch nur auf dem Festland möglich. Als Ergebnis eines von der UNESCO unterstützten Schulversuches bilingualen Unterrichts mit Rapanui und Spanisch wird mittlerweile in den Vor- und Grundschulen der Insel zweisprachig unterrichtet. Dadurch erhöht sich die Zahl der Muttersprachler. Seit 2010 gibt es auch eine lokale Zeitung in Rapanui: Tāpura Reꞌo.
Die Gesundheitsversorgung ist weitaus besser als in anderen abgelegenen Regionen von Chile. 1964 kam eine kanadische wissenschaftliche Kommission (Medical Expedition to Easter Island – METEI) im Auftrag der UN auf die Osterinsel, um in einem Pilotprojekt den Zusammenhang zwischen Vererbung, Umwelt und Krankheiten zu untersuchen. Als sie 1964 die Insel verließ, blieben die in einigen Containern untergebrachten modernen medizinischen Einrichtungen zurück. Sie bildeten den Grundstock für die Gesundheitsversorgung der Insel nach neuzeitlichem Standard. 1975 wurde das kleine Krankenhausgebäude errichtet, das heute einen Arzt, einen Zahnarzt, eine Hebamme sowie einen Pflegedienst beherbergt. Dort ist auch ein Ambulanzwagen stationiert. Ein Augenarzt kommt regelmäßig vom chilenischen Festland und hält Sprechstunden ab.
Die weitere Infrastruktur mit Kirche, Post, Bank, Apotheke, kleinen Geschäften, einigen kleinen Supermärkten, Snack-Bars und Restaurants hat sich seit den 1960er Jahren erheblich verbessert, nicht zuletzt zur Befriedigung der Bedürfnisse des Tourismus. Die meisten Geschäfte befinden sich in der Avenida Atamu Tekena, der Hauptstraße des Dorfes. Am Hafen wird morgens frischer Fisch verkauft, doch sind Auswahl und angebotene Menge gering. Vor einigen Häusern sind Stände aufgebaut, an denen Einheimische selbstgezogenes Obst und Gemüse feilbieten. Satellitentelefon, Internet und E-Mails sind selbstverständlich. Mobiltelefone funktionieren derzeit nur in Hangaroa und Umgebung (mehr oder weniger störungsfrei), das Netz wird aber kontinuierlich erweitert. Inzwischen gibt es auch eine Diskothek für die jüngeren Inselbewohner.
Bevölkerungsentwicklung
Der erste amtliche Zensus auf der Osterinsel fand im Jahr 1922 statt. Die Insel hatte damals 298 Einwohner, sechs davon waren keine Rapanui. Alle veröffentlichten Einwohnerzahlen vor dieser Zeit sind nur bedingt zuverlässig, die Angaben in den Berichten der europäischen Entdecker sind nichts weiter als grobe Schätzungen.
Um die tatsächliche Anzahl der Bewohner in der Blütezeit der Osterinselkultur – d. h. vor Ankunft der Europäer – zu ermitteln, sind wir auf indirekte Methoden angewiesen. Einen hinreichenden Anhaltswert kann die Multiplikation der Gebäudeüberreste mit der mutmaßlichen Anzahl der jeweiligen Hausbewohner ergeben. Eine erste Berechnung auf dieser Basis veröffentlichte der Archäologe Patrick McCoy im Jahr 1976 in seiner Dissertation. Er ermittelte eine Einwohnerzahl von rund 7000 Personen um das Jahr 1600 n. Chr.
Die Archäologin Jo Anne Van Tilburg kommt anhand ähnlicher Daten auf eine Gesamtzahl von 7000 bis 9000 Inselbewohnern zur Zeit der Kulturblüte. Das entspräche einer Bevölkerungsdichte von etwa 50 Einwohnern pro km², kein besonders hoher Wert. Die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Nutzfläche dürfte mehr als ausreichend gewesen sein, um alle Menschen zu ernähren.
Als Folge der von politischen und religiösen Umwälzungen verursachten Unruhen und Konflikte des 17. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung beträchtlich ab, einige Forscher vermuten auf etwa 3000 Personen vor Ankunft der Europäer. Die Deportation als Zwangsarbeiter nach Peru und die von den Rückkehrern eingeschleppten Krankheiten führten zu einem weiteren Bevölkerungsrückgang.
Der Interessenkonflikt zwischen den Ureinwohnern und der Schafzucht führte dazu, dass 168 Bewohner im Jahr 1871 mit Hilfe der Missionare auswanderten, vorwiegend nach Mangareva. 1877 betrug die Einwohnerzahl nur noch 111. Danach erholte sich die Bevölkerung langsam. 1882 ermittelte Wilhelm Geiseler in einer nichtamtlichen, aber wahrscheinlich zuverlässigen Zählung insgesamt 159 Einwohner, davon 67 Männer, 39 Frauen und 44 Kinder.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es insbesondere unter der jungen Bevölkerung den verbreiteten Wunsch auszuwandern. Entsprechende Bestrebungen wurden jedoch von der chilenischen Militärverwaltung unterbunden. 1934 zählte der argentinisch-israelische Arzt und Anthropologe Israel Drapkin (1906–1990) 469 Einwohner, davon 456 ethnische Rapanui, und erfasste deren Namen und Familienzugehörigkeit.
Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl deutlich an. Thor Heyerdahl registrierte 1955 insgesamt 842 Rapanui.
Vorwiegend durch Zuwanderung nahm die Bevölkerung von 3952 im Jahr 2002 auf 8601 im Jahr 2022 erheblich zu. Der Zuwachs ist der höchste der chilenischen Provinzen. Viele Aussteiger vom chilenischen Festland erhofften sich größere Freiheiten auf der Osterinsel. In der Folge veränderte sich die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung zu Ungunsten der polynesischen Ureinwohner. 1982 waren 70 % der Bewohner ethnische Rapanui, im Jahr 2002 betrug ihr Anteil nur noch 60 Prozent. Im Jahr 2012 waren die Rapanui mit weniger als 50 Prozent schon eine Minderheit. Nach Protesten der Rapanui, die sich zunehmend von den Zuwanderern „überrannt“ fühlten, wurde daher mit Verordnung des Innen- und Sicherheitsministeriums vom 7. März 2018 der Zuzug in das „Sondergebiet Osterinsel“ beschränkt und strengen Regeln unterzogen. Touristen dürfen nur noch mit Reisepass für maximal 30 Tage einreisen, müssen ein Rückflugticket vorweisen sowie die persönliche Einladung eines Residenten oder eine Hotelbuchung.
Aber es gab nicht nur Zuwanderungen. Rapanui sind auch zum Festland emigriert. Bei der Volkszählung 2002 wurde festgestellt, dass 2269 Rapanui außerhalb der Osterinsel in Chile lebten.
Tourismus
Tourismus in nennenswertem Umfang gibt es erst seit 1967, als die erste Passagiermaschine auf der Insel landete. Auch heute noch ist die Osterinsel per Flugzeug ausschließlich mit der Fluggesellschaft LATAM Airlines von Santiago de Chile oder von Tahiti aus zu erreichen. Die Zahl der Touristen war vor der Covid-19-Pandemie erheblich angestiegen, blieb allerdings im Vergleich zu anderen Urlaubsinseln immer noch gering. Die chilenische Regierung senkte 2018 die maximale Aufenthaltsdauer von Touristen und Nicht-Einheimischen von 90 auf 30 Tage und begründete dies mit dem Schutz der Insel und deren begrenzten Ressourcen.
Die Osterinsel verfügt nur über einen Hafen für kleine Boote. Eine regelmäßige Schiffsverbindung gibt es nicht. Kreuzfahrtschiffe liegen vor Hanga Roa auf Reede. Die Passagiere werden ausgebootet, was bei der häufig rauen See unangenehm sein kann.
Das Angebot für Touristen reicht von Privatquartieren bis hin zu Luxushotels. Eines der Häuser gehört zu den „Leading Hotels of the World“. Die Mehrzahl der Touristen bleibt im Rahmen von Rundreisen nur zwei oder drei Tage auf der Insel. Das hohe Preisniveau ist darauf zurückzuführen, dass alles – einige landwirtschaftliche Produkte ausgenommen – zu hohen Preisen vom Festland importiert werden muss.
Da die Bevölkerung heute überwiegend vom Tourismus lebt, gibt es kundige einheimische Reiseführer für alle gängigen Sprachen, auch für Deutsch. Die Sehenswürdigkeiten sind mit dem Geländewagen, zu Pferd und für geübte Wanderer auch zu Fuß erreichbar.
Der Rano Raraku, die „Geburtsstätte“ der Moai, ist der für den Touristen wohl interessanteste Punkt der Insel. An den Hängen des Vulkanes und rund um den Kratersee stehen oder liegen über 300 Statuen in unterschiedlicher Größe und verschiedenen Stadien der Fertigung. Unweit davon steht an einer Meeresbucht der Ahu Tongariki, die größte Zeremonialplattform Polynesiens mit 15 wieder aufgerichteten Statuen von imponierender Größe.
Bei Anakena befindet sich der einzige nennenswerte Strand der Insel aus feinem, weißen Korallensand. Hier ist Baden möglich. In dem Kokoswäldchen werden Picknicks für Touristen veranstaltet. Bei Anakena liegen zwei interessante Zeremonialplattformen, der Ahu Naunau und der Ahu Ature Huki. In den Ahu Naunau ist ein kleinerer Moai eingebaut, sozusagen recycelt.
Te Pito o Te Henua (Der Nabel der Welt) (gelegentlich auch: Te Pito Kura) ist eine zeremonielle Anlage rund um einen kugelförmigen Stein, der vermutlich natürlichen Ursprungs ist. Von Esoterikern werden dem Ort ungewöhnliche Eigenschaften zugesprochen.
Vom Kraterrand des Rano Kao bietet sich ein spektakulärer Ausblick auf die drei der Südwestküste vorgelagerten Motus. Unmittelbar dort liegt auch die Zeremonialanlage Orongo.
Puna Pau im Westen ist der Steinbruch am Hang eines Nebenvulkans des Rano Kao, in dem die Kopfaufsätze der Moai aus roter Vulkanschlacke hergestellt wurden.
Das Museo Antropologico Padre Sebastian Englert, etwas außerhalb von Mataveri gelegen, ist im Vergleich zu manch anderem Völkerkundemuseum in Europa oder Amerika bescheiden ausgestattet. Dennoch ist der Besuch wegen des 1978 bei Anakena gefundenen Original-Auges eines Moai empfehlenswert.
Rezeption
1989 veranstaltete das Senckenbergmuseum in Frankfurt am Main eine richtungweisende Ausstellung, in der erstmals einige der über die ganze Welt verstreuten Relikte der Osterinsel-Kultur zusammengeführt wurden.
Die Insel war Handlungsort einer Reihe von Filmen. 1994 rückte die Osterinsel mit dem Kinofilm Rapa Nui – Rebellion im Paradies, produziert u. a. von Hollywood-Star Kevin Costner, in die weltweite Aufmerksamkeit. Der Film zeigt, eingebettet in viele Landschaftsaufnahmen, in spielfilmtypisch dramatischer Zuspitzung den Transport und die Aufrichtung der Moai, die Eingriffe der Menschen in die Natur und die damit verbundenen negativen Folgen.
Die Folge 42: Chile und die Osterinsel (Erstausstrahlung am 1. Januar 2002), der Fernsehserie des ZDF Das Traumschiff, die seit 1981 nach einer Idee von Wolfgang Rademann produziert wird, hat die Osterinsel zum Thema.
Ein weiteres Filmprojekt, eine Seifenoper von Chiles nationaler Fernsehstation Televisión Nacional de Chile mit dem Titel: „Iorana, Bienvenido al Amor“, machte die Osterinsel in Chile bekannt. Seit der Ausstrahlung 1997/98 (mit mehreren Wiederholungen) hat sich die Zahl der chilenischen Touristen vervielfacht.
Der deutsche Komponist Valentin Ruckebier schrieb eine Ballettsuite mit dem Titel Osterinsel, die Worte aus dem Rapanui vertont.
Siehe auch
Rapa Iti (pazifische Insel mit einer ähnlich hohen Abgeschiedenheit und ähnlicher Besiedlungsgeschichte)
Literatur
William Churchill: Easter Island: The Rapanui Speech and the Peopling of Southeast Polynesia. Washington 1912 (online).
Karlo Huke Atán: Mündliche Überlieferungen der Osterinsel. Eine Botschaft der Maoris von Rapa Nui. Freiburg/ Köln 1999, ISBN 3-932248-08-2 (Sagen und Mythen der Osterinsel).
Thomas Barthel: Grundlagen zur Entzifferung der Osterinselschrift. Cram/ de Gruyter, Hamburg 1958 (Grundlagenwerk zur Osterinselschrift).
Sebastian Englert: Das erste christliche Jahrhundert der Osterinsel (1864–1964). Neu herausgegeben von Karl Kohut. Mit einer ethnologischen Einführung von Horst Cain, einer Lebensskizze Sebastian Englerts von Ludwig B. Riedl und einem missionstheologischen Nachwort von Johannes Meier. Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-89354-973-0 (Missionsgeschichte).
Heide-Margaret Esen-Baur: Untersuchungen über den Vogelmann-Kult auf der Osterinsel. Wiesbaden 1983, ISBN 3-515-04062-5 (Dissertation über den Vogelmannkult und die Kultstätte Orongo).
Heide-Margaret Esen-Baur: 1500 Jahre Kultur der Osterinsel – Schätze aus dem Land des Hotu Matua. Ausstellung veranstaltet von der Deutsch-Ibero-Amerikanischen Gesellschaft Frankfurt am Main, 5. April bis 3. September 1989. Mainz am Rhein 1989, ISBN 3-8053-1079-X (Katalog zur Ausstellung im Naturmuseum Senckenberg mit wissenschaftlichen Informationen).
Fritz Felbermayer: Sagen und Überlieferungen der Osterinsel. Carl, Nürnberg 1971 (Sagen und Mythen der Osterinsel).
Hermann Fischer: Schatten auf der Osterinsel – Plädoyer für ein vergessenes Volk. Oldenburg 1998, ISBN 3-8142-0588-X (Neuere Geschichte).
Thor Heyerdahl: Aku-Aku. Das Geheimnis der Osterinsel. Ullstein, 1957; Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien 1974, ISBN 3-550-06863-8 (populärwissenschaftliches Werk, veraltet).
Walter Knoche: Die Osterinsel. Die chilenische Osterinsel-Expedition von 1911. Harrassowitz, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-447-10478-4 (Kommentierte Neuausgabe).
Henri Lavachery: Île de Pâques. Une expédition belge en 1934. Grasset, 1935, (Bericht der belgisch-französischen Osterinsel-Expedition von 1934).
Alfred Métraux: Ethnologie de l’île de Pâques. 1935 (Grundlagenwerk zur Ethnologie).
Alfred Métraux: Die Oster-Insel. Stuttgart 1957 (deutschsprachige, gekürzte Version des Grundlagenwerkes von Alfred Métraux: L’île de Pâques).
Anne Reichardt, Ingo Reichardt: Die Osterinsel. Heidelberg 2000, ISBN 3-925064-27-3 (Ein Reiseführer).
Anne Reichardt, Ingo Reichardt: Die Osterinsel – Destination IPC – Impressionen und Reiseführer, Bildband. Verlagspräsentation auf Frankfurter Buchmesse 2016, Berlin 2017, ISBN 978-3-7418-3369-4.
Peter Burghardt: Der Nabel der Welt. Abgelegener als auf der Osterinsel kann man kaum leben. Dennoch wären ihre Bewohner, die Rapa Nui, gerne unabhängiger. Über eine kleine Revolte im Pazifischen Ozean.. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 299, 30. Dezember 2014, Die Seite Drei.
Robert W. Williamson: The social and political systems of central Polynesia. Band 1, S. 384–409, Cambridge University Press 1924 (online/commons).
The Voyage of Captain Don Felipe Gonzalez to Easter Island 1770-1. 1903 (Volltext als PDF; 6,5 MB).
Dokumentationen
Aufgedeckt: Geheimnisse des Altertums - Die Steinskulpturen der Osterinsel. TV-Dokumentation in HD von Anna Thomson; CDN/ GB 2014 (BBC); deutsche Synchronfassung: ZDFinfo 2015; mitwirkend: Patricia Vargas Casanova (Archäologin), Edmundo Edwards (Ärchäologe), Alexandra Edwards (Archäologin), Paul Bahn (Ärchäologe), Claudio Christino (Anthropologe), Mike Pitts (Journalist/ Archäologe), Jan j. Boersema (Umweltwissenschaftler), Candace Gossen (Umweltarchäologin), James Miles (Computerarchäologe).
Weblinks
Schätze der Welt: Osterinsel. In: swr.de, mit RealVideo (14 Min.)
Das Eiland am Ende der Welt. In: Die Zeit.
Warnung an die Welt. In: Die Zeit.
Nicht kommerzielle Wissenssammlung von Freunden der Osterinsel
Einzelnachweise
Insel (Pazifischer Ozean)
Insel (Australien und Ozeanien)
Insel (Chile)
Insel (Polynesien)
Umweltgeschichte |
17489 | https://de.wikipedia.org/wiki/Russischer%20B%C3%BCrgerkrieg | Russischer Bürgerkrieg | Der Russische Bürgerkrieg (/) wurde zwischen den kommunistischen Bolschewiki (den „Roten“ beziehungsweise der von Leo Trotzki gegründeten Roten Armee) einerseits und einer heterogenen Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten und der Weißen Armee andererseits ausgetragen. Beide Gruppen bekämpften zudem die Anarchisten der Machnowtschina und die Grüne Armee. Der genaue Zeitpunkt seines Beginns ist unter Historikern umstritten; er wird entweder auf die Oktoberrevolution im November 1917 oder aber auf das Frühjahr 1918 gelegt.
Der Krieg wurde erbittert und brutal besonders auch gegen die Zivilbevölkerung geführt; etwa 8 bis 10 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Das Eingreifen der Entente und der Mittelmächte in den Konflikt trug maßgeblich zu seiner Länge und Heftigkeit bei. Sowjetrussland erreichte durch ihn zwar die Herrschaft über einen Großteil der Fläche des früheren Russischen Reichs. Allerdings erlangten neben dem schon seit 1918 unabhängigen Polen, das auch westliche Gebiete der heutigen Ukraine und Belarus umfasste, auch die baltischen Staaten, Finnland und die Tuwinische Volksrepublik die Unabhängigkeit.
Der Kriegsverlauf wurde mehrmals durch ausländische Interventionen beeinflusst. Vor der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg gerieten das Baltikum, Belarus und die Ukraine 1918 nach dem Waffenstillstand und schließlichen Frieden von Brest-Litowsk kurzzeitig unter Besatzung der Mittelmächte (→Unternehmen Faustschlag). Die siegreichen Verbündeten des Weltkriegs unterstützten die antikommunistische Bewegung und besetzten einzelne Städte und Stützpunkte an der Peripherie Russlands. Der Konflikt mit Polen mündete 1920/21 im Polnisch-Sowjetischen Krieg als eigenständige Auseinandersetzung während des Bürgerkriegs.
Der Konflikt endete in Europa mit dem Sieg der Roten Armee über die letzten weißen Truppen auf der Krim im November 1920, im Kaukasus mit der Einnahme von Batumi 1921 und in Ostasien mit der Einnahme von Wladiwostok 1922. Am Ende dieses Jahres wurde die Sowjetunion gegründet.
Zeitliche Eingrenzung
Die zeitliche Eingrenzung des Bürgerkrieges ist in der westlichen wie in der russischen Geschichtsschreibung umstritten. Eine Lehrmeinung sieht den Beginn des Bürgerkriegs in der Oktoberrevolution im November 1917, die andere setzt den Beginn im Mai 1918 an, als sich die Tschechoslowakischen Legionen gegen die Rote Armee erhoben. Die zweite Position stellt die Auswirkungen ausländischer Einflüsse auf den Bürgerkrieg heraus und vernachlässigt die vorherigen Erhebungen gegen die neu entstandene Sowjetmacht. Der Artikel folgt in seiner Darstellung der ersten Meinung, um einen vollständigen Überblick zu geben.
Der Krieg verlief chaotisch, weil beide Seiten meist ohne ausgearbeitete Strategie handelten und ihre Kampagnen als Reaktionen auf kurzfristige Entwicklungen führten. Kompliziert wurde der Verlauf der Kampfhandlungen durch ausländische Interventionen und den Polnisch-Sowjetischen Krieg.
Auch das Ende des Krieges wird unterschiedlich angegeben: entweder November 1920 (kriegsentscheidender Sieg der Roten Armee auf der Krim) oder 1922/1923, je nachdem, welche nachfolgenden Kampfhandlungen in Sibirien noch hinzugerechnet werden. Letzte Kämpfe fanden im Juni 1923 im Fernen Osten statt: am 6. Juni bei Ochotsk und am 16. Juni bei Ajan.
Revolutionsjahr 1917
Im Winter 1916/17 wurde die Versorgung der Bevölkerung russischer Städte mit Brennstoffen und Nahrungsmitteln immer schlechter, eine Hungersnot zeichnete sich ab. Von der Hauptstadt Petrograd ausgehend kam es landesweit zu Streiks und Demonstrationen. Der Versuch des Zaren Nikolaus II., die Bewegung gewaltsam zu zerschlagen, schlug fehl, weil Garnisonssoldaten größtenteils die Aufständischen unterstützten und auch gegen die zaristische Polizei vorgingen. Die zaristische Regierung trat geschlossen zurück, der Zar wurde zur Abdankung gezwungen. Eine Doppelregierung aus der bürgerlichen provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski einerseits und den basisdemokratischen Arbeitersowjets andererseits kam an die Macht. Mit der nach ihm benannten Kerenski-Offensive scheiterte im Juli 1917 die letzte große Angriffsoperation des russischen Heeres im Ersten Weltkrieg.
Die Bolschewiki versuchten bereits im Juli 1917 (Juliaufstand) ohne Erfolg die in Lenins Aprilthesen propagierte sozialistische Revolution in die Tat umzusetzen. Sie konnten allerdings durch ihre Forderungen nach der Beendigung des Krieges gegen Deutschland und der Enteignung der Großgrundbesitzer in den Räten mehr und mehr an Einfluss gewinnen und forderten alle Macht im Staate auf diese zu übertragen. Der Putschversuch des Generals Kornilow im August 1917 spielte ihnen durch die Angst vor einer neuen Autokratie noch mehr in die Hände. Mit der Oktoberrevolution stürzten die Bolschewiki am 7. November (25. Oktober nach julianischem Kalender) die aus der Februarrevolution hervorgegangene Regierung unter Kerenski. Bereits drei Tage später am 10. November (28. Oktober nach julianischem Kalender), versuchten sowohl Offiziersschüler in Petrograd als auch eine von außen kommende improvisierte Kosakeneinheit unter Ataman Krasnow die Revolution niederzuschlagen. Diese Versuche scheiterten an der Mobilisierung der bewaffneten Arbeiter und Matrosen der Stadt, die beide Angriffe zurückschlugen.
Nachdem die Kommunisten in der Hauptstadt ihre Macht gesichert hatten, ergab sich für die Führer der Partei ein durchaus positives Bild. Die Partei der Bolschewiki hatte gegenüber den anderen politischen Organisationen als Kaderpartei wichtige strukturelle Vorteile. Die Industriestädte Zentral- und Südrusslands sowie des Baltikums verfügten über gut organisierte Parteiapparate, die das Rückgrat der Machtausweitung der Bolschewiki bilden sollten. Als Manövriermasse dienten hierbei bewaffnete Verbände aus Arbeitern, Matrosen und rückkehrenden Frontsoldaten. So konnte die Parteiführung bis zum Jahresbeginn 1918 das russische Kernland unter ihre Kontrolle bringen. Nach dieser Konsolidierung erfolgte der endgültige Schlag der Bolschewiki gegen den Parlamentarismus. In der Nacht vom 5. zum 6. Januar 1918 wurde die von Sozialrevolutionären beherrschte Russische konstituierende Versammlung in Petrograd durch Rotgardisten aufgelöst.
Von der Oktoberrevolution 1917 bis zur Militärintervention der Mittelmächte Anfang 1918
Nachdem die Bolschewiki ihre Macht im Kerngebiet des ehemaligen Zarenreiches politisch und militärisch gefestigt hatten, begannen sie, diese Macht auch an der Peripherie zu sichern. Hierbei ergaben sich bereits erste Widerstände gegen den Umsturz, die die Konfliktlinien des Bürgerkriegs vorzeichneten. Sie verliefen entlang sozialen, regionalen und nationalen Grenzen innerhalb des Vielvölkerstaats. Diese Periode des Bürgerkrieges wird als „Eisenbahnkrieg“ bezeichnet, da sich die militärischen Aktionen der Bolschewiki vor allem auf Verschiebung von improvisierten, revolutionären Verbänden über das auf Petrograd und Moskau zentrierte Eisenbahnnetz an die verschiedenen Krisenherde stützten. Sie verlief für die Revolutionäre ausgesprochen erfolgreich und dauerte bis zum Eingreifen der Mittelmächte im Februar 1918 an.
Widerstand der Kosaken
Die Kosaken waren unter dem Zaren eine staatstragende Minderheit. Ethnisch gesehen russisch, stellten sie eine spezielle soziale Schicht im Reich dar. Sie wurden in den Grenzregionen des Romanowstaates als Wehrbauern angesiedelt und stellten als Kavallerietruppen eine militärische Elite des Landes. Im Gegenzug für ihre Leistungen erhielten sie das Privileg der weitgehenden Selbstverwaltung und Landbesitz, den sie zum Teil selbst bearbeiteten oder an nichtkosakische Bauern verpachteten. Aufgrund ihrer gefestigten inneren Sozialstruktur, ihres monarchistischen Ethos und auch ihrer Sonderrechte, die sie durch die Bolschewiki in Gefahr sahen, waren diese Bauernsoldaten für den Kommunismus wenig empfänglich und der gewaltsamen Machtergreifung der Partei Lenins feindlich gesinnt.
Noch im Jahr 1917 versuchte der Ataman der Kosakenregion Orenburg südwestlich des Ural, Dutow, den bewaffneten Widerstand gegen die Bolschewiki zu organisieren. Er scheiterte allerdings an der Kriegsmüdigkeit der aus dem Weltkrieg heimkehrenden Wehrbauern. So konnte er keine schlagkräftige Truppe aufbauen. Orenburg wurde am 31. Januar 1918 von Rotgardisten erobert.
Gefährlicher für den sowjetischen Staat war die Erhebung der Kosaken im Dongebiet. Hier versuchte der Ex-General und Ataman Kaledin, eine Streitmacht zur Restauration des Reiches aufzustellen. Er versuchte auch, durch eine „Vereinigte Regierung der Region“ die nichtkosakische Bevölkerung für sein Vorhaben zu mobilisieren. Allerdings scheiterte er wie der Anführer der Orenburger Kosaken an der Kriegsmüdigkeit der Frontheimkehrer. Außerdem gelang es ihm nicht, die sonstige Bevölkerung der Region für seine Sache zu gewinnen. Die nichtkosakischen Bauern erhofften sich von der Sowjetmacht die Auflösung der Privilegien der Kosaken und somit Landgewinn für ihre Höfe. Die Reaktion der Roten ließ nicht auf sich warten, denn das Dongebiet blockierte die Eisenbahnen in den Kaukasus und der dortige Aufruhr konnte eine Bedrohung für das wichtige Industriegebiet des Donezbeckens bedeuten. Bereits im November 1917 wurde der Volkskommissar des Kriegsministeriums, Antonow-Owsejenko, beauftragt, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Durch das Heranbringen von Arbeitern aus Petrograd, die Rekrutierung von Frontheimkehrern aus der Kaukasusfront und die Mobilisierung von Arbeitern aus dem Donezbecken gelang es ihm über den Winter, eine schlagkräftige rote Streitmacht in Stellung zu bringen. Die schwachen Kosakentruppen waren dieser nicht gewachsen; mit der Eroberung der Hauptstadt der Donregion Nowotscherkassk am 25. Februar 1918 war die Revolte beendet. Kaledin beging wegen seines Versagens und der mangelnden Unterstützung der Kosaken Selbstmord.
Nachdem der Aufstand am Don gescheitert war, wurde nun auch die letzte Kosakenregion am Kuban von der Roten Armee unterworfen. Dort hatten sich die örtlichen Kosaken ohne einen populären Anführer von außen gegen die Sowjetmacht gewandt. Am 13. März wurde ihre Hauptstadt Jekaterinodar von roten Verbänden erobert, und somit war auch die Gegenrevolte am Kuban vorerst gescheitert.
Entstehung der Freiwilligenarmee
Entscheidend für den weiteren Verlauf des Krieges war die Bildung der Freiwilligenarmee unter den Generälen Kornilow und Alexejew, Ersterer hatte durch seinen gescheiterten Militärputsch im Juli 1917 entscheidend den Bolschewiki in die Hände gespielt. Dieser Verband verfügte zwar zur Zeit der Donkampagne nur über 4.000 Soldaten, entwickelte sich jedoch zur Keimzelle der späteren Weißen Armee in Südrussland. Zunächst sah sich die Truppe, nach dem die Lage um Rostow immer aussichtsloser wurde, gezwungen, sich in die Steppe südlich des Dongebietes abzusetzen. Ziel war es, sich zu den Kosakengebieten am Kuban durchzuschlagen. Während dieses taktischen Rückzuges, der als „Eismarsch“ bekannt wurde, war die Freiwilligenarmee immer wieder in Kämpfe mit der Roten Armee verwickelt. Während des erfolglosen Angriffes auf Jekaterinodar starb ihr Oberbefehlshaber Kornilow am 10. April 1918 durch einen Artillerietreffer. Sein Nachfolger General Denikin brach den Angriff auf Jekaterinodar ab. Militärisch war der Eismarsch damit zwar gescheitert; trotzdem führte er zur Konsolidierung der Weißen Armee in Südrussland. Denikin bestimmte die Geschicke der konterrevolutionären Kräfte in Südrussland für den Großteil des weiteren Bürgerkrieges. Nach der Niederlage vor Jekaterinodar befahl er den erneuten Rückzug zum Don.
Erhebungen nationaler Minderheiten
Ukraine
Die Ukrainer stellten die größte nationale Minderheit im Zarenreich und lebten auch in einem „geschlossenen“ Territorium. Schon ab dem 19. Jahrhundert hatte sich ein ukrainischer Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit herausgebildet. Mit der Schwäche der Zentralmacht verfestigte sich dieser Anspruch 1917 in einer eigenen parlamentarischen Regierung, der Ukrajinska Narodna Respublika. Diese wurde zwar von ukrainischen Sozialrevolutionären und Marxisten dominiert, behielt aber trotzdem den Wunsch nach nationaler Eigenständigkeit.
Die Regierung Lenins wollte allerdings eine nationale Unabhängigkeit der Ukraine im Zeichen des Parlamentarismus nicht dulden, insbesondere da Russland von ukrainischer Nahrungs- und Rohmaterialproduktion abhängig war. Der Versuch einer politischen Lösung des Problems konstituierte sich am . In Kiew wurde auf Befehl aus Petrograd ein „Allukrainischer Sowjetkongress“ gebildet, der als Gegenregierung zur Zentralna Rada, dem Parlament der Ukraine, fungieren sollte. Am gleichen Tag stellten die Bolschewiki dem ukrainischen Parlament das Ultimatum, den Sowjetkongress anzuerkennen. Andernfalls wurde mit Anwendung militärischer Gewalt gedroht.
Ein Versuch, die parlamentarischen Strukturen wie in Russland zu beseitigen, scheiterte an mangelnder Unterstützung der Bevölkerung. Lenins Partei war in der Ukraine eher unpopulär, nur 11 % der Bevölkerung des Landes hatte bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1917 für sie gestimmt. Dies führte dazu, dass sich die bolschewistischen Abgeordneten des Sowjetkongresses noch am selben Tag aus Kiew nach Charkow zurückziehen mussten. Unter der dortigen, mehrheitlich russischen Bevölkerung fanden sie größeren Anklang.
Deshalb wurde der ehemalige zaristische Offizier und Sozialrevolutionär Michail Murawjow von Lenin beauftragt, die Angelegenheit militärisch zu bereinigen. Die Rada verfügte zwar über die Unterstützung der städtischen Intelligenzija, aber sie schaffte es nicht, leistungsfähige militärische Strukturen aufzubauen. Die Gegenwehr der improvisierten ukrainischen Einheiten brach schnell zusammen und schon am wurde Kiew von Rotgardisten erobert.
Finnland
Finnland hatte sich unter zaristischer Herrschaft eine weitgehende politische Selbstbestimmung bewahrt. Ein eigenes Parlament verwaltete das Land und war das politische Zentrum der Nation, auch im Zarenreich. Ebenso waren die Finnen von der allgemeinen Wehrpflicht entbunden. Doch auch in Finnland, dessen Parlament am 6. Dezember 1917 die Unabhängigkeit erklärt hatte, gewannen die Bolschewiki Einfluss auf die Arbeiterbewegung. Eine Verfassungskrise, Lebensmittelknappheit und hergebrachte soziale Spannungen führten zusammen mit diesem Einfluss zum revolutionären Umsturzversuch am 27. Januar 1918. Dieser gelang in Südfinnland, während der Norden von den „weißen“ Regierungstruppen behauptet wurde. Es kam zum Bürgerkrieg zwischen den „Roten“ und den „Weißen“. Während die Gegner zahlenmäßig in etwa gleich stark waren, konnten sich die Weißen im Verlaufe des Krieges durch bessere Ausbildung der Truppen und vor allem durch die Heimkehr von in Deutschland ausgebildeten Jägern in Verbindung mit einer deutschen Intervention einen Vorsprung in der Qualität der Kampfverbände verschaffen.
Lenin, der die finnische Unabhängigkeit im Januar anerkannt hatte, war durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk an groß angelegter Hilfe für die Roten gehindert. Bis zum 5. Mai 1918 konnten die Weißen unter der Führung von General Mannerheim den roten Widerstand brechen und den Aufstand niederschlagen. Das bürgerliche System blieb damit erhalten, und Finnland wurde in der Folge eine demokratische Republik.
Bessarabien
Einen weiteren Rückschlag für die Bolschewiki stellte die Abspaltung der 1,5 Millionen Rumänen in Bessarabien dar. Schon im Januar 1918 bildete sich hier eine Gegenregierung, und die Moldauische Demokratische Republik wurde ausgerufen. Eilig herangebrachte Rotgardisten aus Odessa wurden mit Hilfe von Truppen aus Rumänien zurückgeschlagen. Im April 1918 erfolgte die Vereinigung Bessarabiens mit Großrumänien. Die Regierung in Petrograd begnügte sich damit, den rumänischen Botschafter als Geisel zu nehmen und die Petrograder Goldreserve des Landes zu beschlagnahmen. Sie unternahm keine weitere Anstrengung, das verlorene Gebiet zurückzuerobern.
1918 – Intervention der Mittelmächte
Operation Faustschlag
Die Administration der Bolschewiki war bezüglich des Weiteren Vorgehens gegenüber den Mittelmächten gespalten. Nur ein kleiner Teil der Partei, allerdings inklusive Lenins, sprach sich für einen Frieden um jeden Preis aus. Die Mehrheit der Kommunisten hielt es für unannehmbar, weite Teile des Landes an die „Imperialisten“ abzutreten. Die Konsequenz war die durch Leo Trotzki aufgestellte Formel, dass man mit dem Deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn weder Krieg noch Frieden anstrebe. Dies verlautbarte Trotzki auch bei den Waffenstillstandsverhandlungen und verließ diese im Eklat.
Die OHL unter Erich Ludendorff zog daraufhin eine Fortsetzung des Krieges in Betracht, um die kommunistische Regierung in Petrograd zum Friedensschluss zu zwingen. Die „Operation Faustschlag“ sah ein Vorrücken der deutschen und k.u.k.-Truppen auf der gesamten Breite der Ostfront vor. Am 18. Februar 1918 begann diese Operation und es zeigte sich rasch, dass der Widerstand der irregulären Einheiten aus revolutionären Arbeitern und Bauern wirkungslos war. Bereits drei Tage später fiel Minsk, am 24. Februar Schitomir und am 3. März schließlich die ukrainische Hauptstadt Kiew. Einen Tag darauf willigte die Delegation unter Leitung Trotzkis in den Friedensvertrag von Brest-Litowsk ein. Lenin war es gelungen, die Partei angesichts der militärischen Niederlage von seinem Standpunkt zu überzeugen. Dieser Vertrag brachte den Deutschen die Kontrolle über die Ukraine, die Krim und Teile von Belarus und Südrussland ein. Der Vormarsch der Mittelmächte ging allerdings auch nach Vertragsabschluss weiter.
Die Sowjetregierung zog infolge der Bedrohung Petrograds Anfang März 1918 nach Moskau um. Zudem führte sie während der Militäroperation aus Unsicherheit, ob die Deutschen einen politischen Umsturz in Russland beabsichtigten, Gespräche mit den Alliierten, die zu britischen Truppenlandungen in Murmansk führten.
Politische Wirkung der Besatzung
Das Vorgehen der Mittelmächte hatte die Wirkung eines Katalysators auf die politischen Spannungen zwischen den Bürgerkriegsparteien. Die Macht der Bolschewiki wurde überall dort gebrochen, wo deutsche Soldaten einmarschierten. Die Besetzung gab den Fraktionen, die gerade während der Konsolidierungsphase der Roten an den Rand gedrängt worden waren, neues Potential. So kam es beim deutschen Vormarsch auf der Krim zu einer Erhebung der muslimischen Krimtataren. Diese gipfelte in der Ermordung des Rates der Volkskommissare der örtlichen Sowjetrepublik.
In der Ukraine lebte der Nationalismus mit dem Einmarsch der Deutschen wieder auf. Die vorrückenden deutschen Truppen hatten schon bei der Eroberung Schitomirs Unterstützung durch ukrainische Eisenbahnarbeiter bekommen. So kehrte auch kurz nach der Eroberung Kiews die Rada wieder in die Hauptstadt zurück. Ihr parlamentarisches Wirken währte nur kurz. Sie wurde am 29. April 1918 gestürzt, da den deutschen Besatzern ein marxistisch dominiertes Parlament gefährlich erschien. Die Macht erhielt der konservative Nationalistenführer Pawlo Skoropadskyj, der fortan unter dem Titel Hetman als Diktator des Landes fungierte. Er konnte seine Herrschaft bis zur deutschen Niederlage im Weltkrieg aufrechterhalten. Danach übernahm das ebenso nationalistische Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik die Macht in der ukrainischen Hauptstadt Kiew; zwei Monate nach dem deutschen Abzug verloren die ukrainischen Nationalisten diese wieder an die Sowjetmacht.
Im Baltikum hatte die deutsche Besetzung weitergehende Folgen. In Estland war die Popularität der Bolschewiki sehr gering und den Revolutionären misslang unter der deutschen Besatzung der Aufbau einer politischen Organisation, die dies hätte ändern können. Ebenso konnten die Konservativen die Bauernschaft durch die Enteignung deutschstämmiger Gutsbesitzer auf ihre Seite ziehen. Infolgedessen bildete sich eine nationalistische Regierung unter der Führung der estnischen Sozialdemokraten, die sich auch militärisch im Folgejahr gegen die Roten behaupten konnte. Lenin versuchte, Litauen noch durch die Bildung einer lokalen Sowjetrepublik an die Überreste des russischen Reiches zu binden. Dieser Versuch scheiterte an einer Militärintervention Polens und am Widerstand der bürgerlichen Kräfte des Landes. In Lettland erwies sich die Situation als komplexer. Dort herrschte ein labiles Gleichgewicht zwischen nationalistischen und kommunistischen Gruppen. Im Januar 1919 versuchte die Parteiführung, dies durch den Einmarsch der Roten Armee zu ihren Gunsten ausschlagen zu lassen. Die nationalistischen Kräfte gewannen jedoch nach anfänglichen Niederlagen die Oberhand. Dies war durch den Brückenschlag zwischen den nationalen Politikern und den hiesigen Deutsch-Balten möglich geworden. Bis zum Mai 1919 hatten die deutsch-lettischen Freikorps unter dem Kommando des ehemaligen deutschen Generals von der Goltz die Hauptstadt Riga unter ihre Kontrolle gebracht und somit den letzten sowjetischen Einfluss aus dem Baltikum verdrängt.
Aufbau der Roten Armee
In der Führung der Bolschewiki gab es zwei Lehrmeinungen, wie die Rote Armee aufgebaut werden sollte. Die Position der marxistischen Ideologie, unter anderem vertreten durch Stalin oder den ersten Oberkommandierenden Krylenko, verlangte nach einer „revolutionären Armee“. Diese sollte eher die Form einer Miliz erhalten, ohne militärische Ränge auskommen und nur durch von den Soldaten gewählte Offiziere geführt werden. So war auch der Aufbau der roten Truppen seit der Revolution erfolgt. Die deutsche Offensive zeigte eindeutig das Scheitern dieser Politik. Die improvisierten Einheiten unter dem roten Stern erwiesen sich als unfähig, Gelände selbst gegen schwache deutsche Landwehrtruppen zu behaupten. Krylenko wurde als Oberbefehlshaber abgesetzt und Trotzki beauftragt, nach seinen Prämissen die Rote Armee aufzubauen. Er sah dafür den Aufbau einer regulären Armee vor, die zwar ideologisch indoktriniert, aber trotzdem nach den Maßgaben des Gehorsams und der Disziplin aufgebaut werden müsse. Die Führungspositionen sollten hauptsächlich durch ehemalige zaristische Offiziere besetzt werden, die in großer Zahl unter Androhung schwerer Strafen und von Sippenhaftung zwangsverpflichtet wurden. Für die politische Zuverlässigkeit sollten ihnen zur Seite gestellte Politkommissare bürgen. Das ursprünglich anvisierte Ziel war die Aufstellung einer Armee von 700.000 Soldaten bis Ende 1918. Währenddessen sollten die verbliebenen irregulären Verbände als „Vorhänge“ vor den deutschen Truppen wenigstens einen symbolischen Schutz vor einer möglichen weiteren deutschen Intervention bieten. Schon bald ging man aber davon aus, eine Armee von drei Millionen Mann zu benötigen.
1918 – Konsolidierung der antibolschewistischen Kräfte und Reformierung der Roten Armee
Aufstand der Sozialrevolutionäre
Die junge Sowjetmacht hatte zwar die Eisenbahnfeldzüge für sich entschieden, doch durch die Invasion der Deutschen war ihre Macht zu Jahresende ebenso unsicher und fragil wie nach der Revolution. Als bestimmender Faktor, der die Reihe der antibolschewistischen Erhebungen des Jahres 1918 einleitete, fungierte wiederum ein externes Element. Die Tschechoslowakischen Legionen, noch unter dem Zaren vor allem aus k.u.k.-Kriegsgefangenen aufgestellt, erwiesen sich als erste ernste militärische Bedrohung der bolschewistischen Herrschaft. Sie sollten in Abstimmung mit der Entente über den russischen Pazifikhafen Wladiwostok wieder nach Europa zurückgeführt werden. Das Korps, insgesamt rund 40.000 Soldaten, war aufgrund der Widrigkeiten des Transports entlang der Transsibirischen Eisenbahn über weite Distanzen verteilt. Am 14. Mai kam es zu einem Zusammenstoß zwischen tschechischen Soldaten und ungarischen Kriegsgefangenen in Tscheljabinsk, bei dem es Tote gab. In seiner Funktion als Kriegskommissar gab Trotzki daraufhin den Befehl, die fremden Truppen zu entwaffnen. Die Tschechoslowaken, die durch die Appeasementpolitik der Bolschewiki gegenüber den Mittelmächten immer misstrauischer wurden, verweigerten die russische Order. Daraufhin gab Trotzki den Schießbefehl auf jeden bewaffneten Angehörigen der Legionen. Dies erwies sich allerdings als Fehleinschätzung, denn die wenigen Roten im Gebiet der Wolga und in Sibirien waren den regulär ausgebildeten Tschechen keineswegs gewachsen.
Infolgedessen gelang es einer anderen politischen Gruppe, die Tschechen für sich zu instrumentalisieren. Die Sozialrevolutionäre des Gebiets Samara konnten durchziehende Teile der ausländischen Truppe für eine Rebellion gegen die Bolschewiki gewinnen. So wurde im Juni 1918 in Samara das „Komitee der Mitglieder der konstituierenden Versammlung“ (KOMUTSCH) gegründet. Damit versuchten die Sozialrevolutionäre, an den durch die Bolschewiki unterdrückten demokratischen Prozess der russischen Konstituante anzuknüpfen, in der sie selbst die Mehrheit gestellt hatten.
Mit Hilfe der Tschechen gelang es ihnen, die Kontrolle über die Gebiete Samara und Ufa zu gewinnen und teilweise auf benachbarte Oblaste auszudehnen. Aus diesem Gebiet versuchte die sozialrevolutionäre Gegenregierung eine „Volksarmee“ von 30.000 Mann zu rekrutieren. Da nur ca. 10.000 Freiwillige zur Verfügung standen, wurden Soldaten zwangsweise ausgehoben. Dies machte die Sozialrevolutionäre unpopulär, vor allem da die Bolschewiki bisher nur auf Freiwillige zurückgegriffen hatten, und minderte die Kampfmoral der Truppen erheblich. Des Weiteren vermochte das Komitee es nicht, seine anfängliche Popularität unter den Bauern in politisches Kapital umzumünzen. Andere Schichten standen ihr nicht zur Verfügung. Die marxistischen Menschewiki waren gegen eine Rebellion gegen die Sowjetmacht. Die Arbeiter konnten nicht gewonnen werden. Die Schicht der städtischen Gebildeten und des Bürgertums war den sozialistischen Tendenzen des KOMUTSCH abgeneigt. So konnte man angesichts der politischen und militärischen Schwäche nur auf die Reaktion der roten Zentralregierung warten. Trotzki zog während des Sommers möglichst viele Soldaten aus den „Vorhängen“ gegenüber den Mittelmächten ab. Bis zum Oktober 1918 verfügte die rote Armeegruppe Ost unter Tuchatschewski über mehr als 100.000 Mann. Dieser rote Kommandeur wollte allerdings nicht bis zur vollen Stärke warten und schlug bereits im August in Richtung Simbirsk los. Trotzki gelang es zur selben Zeit, die völlig chaotische 5. rote Armee vor Kasan zu disziplinieren und gleichzeitig den Versuch der Volksarmee unter Wladimir Kappel abzuwehren, die Bahnlinie nach Moskau zu unterbrechen. Nach dem misslungenen Vorstoß waren die Streitkräfte der KOMUTSCH weitgehend demoralisiert. Noch im September gelang den von Trotzki geführten Teilen der Roten Armee die Eroberung von Kasan und Simbirsk, und am 7. Oktober fiel schließlich Samara. Die tschechoslowakischen Einheiten waren durch die Ereignisse soweit entmutigt worden, dass sie sich kampflos nach Osten zurückzogen. Der örtliche Kommandant der Legionen Svec beging darüber hinaus nach dem Fall der Hauptstadt der Bewegung Selbstmord.
Erneute Erhebung im Don-Gebiet
Nur einen Monat nachdem die Bolschewiki das Rückgrat der Kosakenrevolte gebrochen hatten, erhoben sich die ehemaligen Wehrbauern des Zaren erneut. Am 6. Mai wurde die Hauptstadt des Kosakenstammlandes am Don, Nowotscherkassk von den Weißen erobert und die noch schwache rote Administration überrumpelt. Grund hierfür war die Erbitterung unter den Kosaken und auch der nichtkosakischen Bevölkerung, die ein Monat Herrschaft der Roten hervorgerufen hatte. Einerseits sorgte die Zwangsrequirierungspolitik von Nahrungsmitteln der Zentralregierung für einen Konflikt mit der Obrigkeit. Andererseits wirkten sich die drakonischen Methoden der roten Einheiten, die Geiseln nahmen und sie erschossen, auf die Volksmeinung aus.
Als maßgebliches Element erwies sich allerdings wiederum ein externer Faktor. Durch den Einmarsch deutscher Soldaten in die umliegenden Gebiete wurde die Sowjetmacht aus den Orten zurückgedrängt, an denen sich die Invasoren befanden. Die Rebellion der Kosaken erhielt auch in der Anfangsphase Schützenhilfe von ihren einstigen Feinden. Deutsche Truppen blockierten die Eisenbahnen ins Don-Gebiet und verlangsamten so die Heranbringung roter Truppen. Ebenso wurden erbeutete russische Waffen an die Aufständischen weitergegeben. So konnte sich die Aufständischenarmee unter der Führung des Generals Krasnow bereits im Juni auf 40.000 Bewaffnete stützen.
Diese Vorteile münzte Ataman Krasnow auch in militärische Aktionen um. Im August 1918 begann General Mamontow eine Kavallerieattacke gegen Zarizyn. Dies war der erste massierte Einsatz von Kavallerie im Bürgerkrieg und er sollte die Rote Armee veranlassen, selbst auch berittene Truppen aufzustellen. Nachdem sich Mamontow zeitweise zurückziehen musste, gipfelte ein weiteres Vorrücken der Weißen in einer Belagerung der Stadt. Die Schlacht um Zarizyn dauerte bis Oktober an und wurde aufgrund der Verteidigungsanstrengungen in der kommunistischen Propaganda zum Roten Verdun verklärt. Als sich Mamontow endgültig zurückzog, verfügte er nur noch über einen Bruchteil seiner Soldaten, denn die Mehrheit der Kosaken hatte sich ausgiebigen Plünderungen hingegeben und desertierte mit ihrer Beute in ihre Heimatregionen. Die Rolle Josef Stalins in diesem Kampf wurde während seiner Zeit als sowjetischer Staatschef stark glorifiziert. Zu Jahresende hatte die Armee der Donkosaken zwar nur geringe Teile außerhalb ihres Stammlandes halten können, doch keimte im Kubangebiet noch ein weiterer militärischer Kern des Widerstands gegen die Sowjetmacht.
Als zweitgrößte Kosakenpopulation erhob sich 1918 auch die Kubanregion gegen die neuen Herrscher des ehemaligen Reiches. Die Blockade des südlichen Kubangebiets durch die Deutschen gab auch hierbei den entscheidenden Ausschlag. Somit war der Kuban und die Nordkaukasische Sowjetrepublik von Nachschub und Verstärkungen aus dem sowjetischen Zentralrussland abgeschnitten. Diesen Schwachpunkt versuchte der Kommandeur der Freiwilligenarmee Denikin zu nutzen. Allerdings standen den 9.000 weißen Freiwilligen zwischen 80.000 und 100.000 Soldaten der Bolschewiki entgegen. Die Truppen Denikins wurden von Berufsoffizieren geführt, und fast alle Soldaten hatten im Weltkrieg gedient. Die noch ohne militärisches Training irregulär aufgestellten kommunistischen Truppen wurden von einem früheren Unteroffizier geführt und hatten der Professionalität ihrer Gegner wenig entgegenzusetzen. Am Ende der im Mai begonnenen Kampagne eroberten die Weißgardisten die Hauptstadt der kurzlebigen Sowjetrepublik Jekaterinodar am 18. August 1918.
Weiße Bewegung in Sibirien
Sibirien bot schon ohne die Anwesenheit antibolschewistischer Kräfte einen eher schwachen Boden für die revolutionäre Ideologie Lenins. Der Gegensatz zwischen Großgrundbesitzern und Pachtbauern war schwächer, da es weit weniger große Anwesen als in anderen Teilen Russlands gab. Ebenso stand eine größere Arbeiterschaft nicht zur Verfügung, die für die Sache des Kommunismus hätte gewonnen werden können. Gemessen an den Wahlen zur konstituierenden Versammlung waren die Sozialrevolutionäre die dominante politische Partei, während in den Städten eher konservative Elemente Rückhalt besaßen. Mit der Wendung der Tschechoslowakischen Legionen gegen die Sowjetmacht wurde die dünne Patina der Parteiherrschaft über Sibirien vollends hinweggewischt. Das nichtrussische Korps brachte mit der Transsibirischen Eisenbahn die einzige Transportachse innerhalb des riesigen Landes unter seine Kontrolle.
Nach einwöchiger Belagerung eroberten die Tschechoslowaken am 25. Juni 1918 Jekaterinburg, das örtliche Verwaltungszentrum der Bolschewiki. Die vom sowjetischen Zentralrussland abgeschnittenen roten Truppen zogen sich daraufhin so weit wie möglich nach Westen zurück. Zwei Tage später konstituierte sich in Omsk eine „Provisorische Regierung Sibiriens“ unter Pjotr Wassiljewitsch Wologodski, die aus Regionalisten und Sozialrevolutionären bestand.
Neben den zivilen Intellektuellen der Städte und ausländischen Kräften ruhte die antibolschewistische Bewegung aber noch auf zwei weiteren Säulen. Einerseits lehnten die Kosaken Sibiriens, die ebenfalls in Omsk ihr Zentrum besaßen, die Revolution ab. Andererseits befanden sich in Sibirien mehr als 8.000 entlassene Offiziere der ehemaligen Zarenarmee. Als Anhänger eines ungeteilten russischen Nationalstaats lehnten sie aber sowohl die Sezessionsbestrebungen der Regionalisten als auch die Ideen der sozialen Umwälzungen der Sozialrevolutionäre ab. Die Provisorische Regierung schaffte es den Sommer über nicht, einen Apparat aufzubauen, der die gewaltige Fläche Sibiriens administrativ durchdrang, noch konnte sie die politischen Gegensätze zu den Konservativen überbrücken. Angesichts der Schwäche der Regierung und aus Opposition gegen ihre politischen Positionen führten die konservativen Militärs am 17. November 1918 einen Putsch durch, der zwar unblutig ablief, aber die parlamentarische Phase des Widerstands gegen die Bolschewiki endgültig beendete. An die Stelle der Provisorischen Regierung trat Admiral Koltschak, der auf ein Direktorium von Zivilisten eine Militärdiktatur gründete. Er sollte sich als „Oberster Regent Russlands“ vor den anderen Hauptführern der weißen Bewegung, die ihn trotz gewisser Differenzen als solchen anerkannten, hervorheben und das folgende Kriegsjahr weitgehend prägen. Sein Programm hat er selbst wie folgt zusammengefasst:
Diese Ablehnung des Anbietens einer politischen Vision, durch die Ablehnung der Parteipolitik, sollte sich später als einer der Gründe des Scheiterns der Militärregierung erweisen, doch über den Winter 1918 kamen die Operationen auf beiden Seiten einstweilig zum Stillstand. Rote wie Weiße bereiteten sich auf das kommende Jahr vor.
Intervention der Entente-Mächte
Die Entscheidung Lenins, durch die Annahme des Friedensvertrag von Brest-Litowsk ein bedingungsloses Appeasement gegenüber den Mittelmächten durchzuführen, führte zur Abwendung der militärischen Bedrohung, die die deutschen und k.u.k.-Truppen für die junge Sowjetmacht darstellten. Allerdings wurde durch diese Politik das russische Verhältnis zu den bisher alliierten Mächten sehr belastet. Zur Sicherung ihrer Interessen in Russland und um einer weiteren deutsch-sowjetrussischen Annäherung entgegenzuwirken, wurden noch während des Weltkriegs Truppen nach Russland entsandt.
Da die europäischen Häfen Russlands an der Ostsee für die Alliierten noch nicht erreichbar waren, landete das erste britische Kontingent aus 600 Soldaten im Juni 1918 in Murmansk am Arktischen Ozean. Die Briten besetzten den Hafen, fernab vom russischen Kernland, und das Umland. Vor Ort agierten die britischen Truppen wie auf Kolonialschauplätzen, indem sie lokale Hilfstruppen aushoben und indirekt regierten. Im Laufe der Zeit sahen sich die Briten immer mehr mit Meutereien konfrontiert und zogen wieder ab.
Ein weiteres Landungsunternehmen fand im August 1918 in Archangelsk statt. Hier landeten zuerst 600 britische und französische Soldaten. Sie wurden durch ein US-Kontingent von 5.000 Mann der Polar Bear Expedition verstärkt. Anlass war die Sicherung der dortigen Waffendepots, die weder in die Hände der Deutschen noch der Bolschewiki fallen sollten. Ebenso betonten amerikanische Politiker die Verpflichtung, der Tschechoslowakischen Legion zu Hilfe zu eilen, was allerdings aufgrund der enormen Distanz zwischen Archangelsk und den Tschechoslowaken in Sibirien eher den Charakter eines Vorwandes hatte. Die Expeditionstruppe konnte mehrere hundert Kilometer in das Landesinnere vorstoßen. Vereinzelte Kämpfe zwischen den Alliierten und roten Truppen zogen sich durch das ganze folgende Jahr, ohne dass eine strategisch bedeutsame Entscheidung herbeigeführt werden konnte. Im Juli 1919 verließen die verbliebenen ausländischen Einheiten Nordrussland in Richtung Heimat. In den Ententeländern stand die durch den Ersten Weltkrieg ohnehin kriegsmüde öffentliche Meinung der Intervention immer ablehnender gegenüber.
Im Dezember 1918 landete ein französisch-griechisches Kontingent von 5.000 Mann in Odessa und besetzte die Krim. Unterstützt wurde es von einem französischen Flottenverband. Die nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 noch in der Südukraine befindlichen deutschen Verbände, deren Abtransport durch den in Sewastopol stationierten deutschen Vizeadmiral Albert Hopman als Waffenstillstandskommissar für das Schwarze Meer und das Mittelmeer mit den Alliierten ausgehandelt wurde, fungierten hier teilweise – widerwillig – als „Vorposten der Entente“ (Hopman). Als sich das Kriegsgeschehen näherte, kam es zu einem Aufstand in der französischen Schwarzmeerflotte, bei der die rote Fahne gehisst wurde; die Meuterer erzwangen im April 1919 den Rückzug Frankreichs. Die letzten Ententetruppen verließen Odessa am 7. April 1919.
Am längsten währte die ausländische Präsenz im größten Pazifikhafen des ehemaligen Zarenreiches, Wladiwostok. Schon im April des Jahres 1918 waren einzelne japanische und britische Verbände hier an Land gegangen. Ihnen folgte auch hier ein amerikanisches Expeditionskorps, die American Expeditionary Force Siberia in Stärke von 8.000 Soldaten. Wladiwostok sollte als Nachschublinie für die sibirischen Truppen Koltschaks dienen. Dieser war aufgrund seiner antideutschen Haltung von der Entente als legitimes Staatsoberhaupt Russlands anerkannt worden. Bis zum Niedergang der weißen Bewegung 1920 blieben die alliierten Soldaten in Sibirien. Die Bolschewiki gründeten 1920 in Tschita die Fernöstliche Republik. Als Gegengewicht gegen diese gründeten die 70.000 Mann starken japanischen Interventen 1921 die Küstenrepublik (siehe Sibirische Intervention). Im Kampf zwischen beiden Staaten setzten sich schließlich die Roten durch. Sie erreichten Wladiwostok allerdings erst im Dezember 1922, nach der Integration der Fernöstlichen Republik in die Sowjetunion.
Auch wenn die Bedeutung der Invasionstruppen von sowjetischen Historikern oft herausgestellt wurde, so war ihr militärischer Einfluss auf die Entscheidung des Bürgerkrieges eher geringfügig. Die deutsche Besetzung bis zum Kollaps des Kaiserreichs im November 1918 war in der frühen Periode dieses Krieges eine größere Bedrohung für den Sowjetstaat als die an der Peripherie eingreifenden kleinen Kontingente der ehemaligen Bündnispartner.
Weitaus wichtiger für das Bürgerkriegsgeschehen waren alliierte Lieferungen und Hilfsleistungen an die Weiße Armee in Sibirien und in Südrussland. So schrieb Winston Churchill in einem Memorandum vom 15. September 1919, dass im Jahr 1919 England 100 Millionen Pfund und Frankreich zwischen 30 und 40 Millionen Pfund für die weißen Truppen in Russland ausgegeben hätten.
1919 – Die Niederlage Koltschaks
Militärischer Verlauf
In Sibirien und dem Ural hatte sich unter Admiral Koltschak als nominell höchstes Organ der weißen Bewegung eine Militärdiktatur herauskristallisiert. Über den Winter 1918/19 hatte sie ihre Herrschaft festigen können, da die sowjetische Regierung sich außenpolitischen Zielen zuwandte. Die kommunistische Führung erwartete die Weltrevolution. Diese Erwartung wurde durch die Novemberrevolution in Deutschland noch verstärkt. So verfasste im Mai 1919 die zwei Monate zuvor gegründete Komintern Aufrufe, die den proletarischen Aufstand in Europa propagierten. Ein weiterer Faktor für die Passivität der Bolschewiki gegenüber der Bewegung Koltschaks war die Verkennung der Lage durch die Führer der Roten Armee. Trotzki schilderte zu Jahresbeginn 1919 die Lage an den Bürgerkriegsfronten als beruhigt und für die Kommunisten vorteilhaft.
In diesem Klima erwies sich die am 4. März 1919 begonnene Offensive der Weißen Armee Koltschaks als überraschender Schlag gegen die Sowjetmacht. Die Operation zielte auf Ufa, den zentralen Eisenbahnknotenpunkt im Ural ab. Durchgeführt wurde sie von zwei Armeen. Die Westliche Armee unter General Chanschin stieß direkt in Richtung Ufa vor. Die Sibirische Armee unter dem tschechischen General Gajda befand sich 200 km nördlich und sollte von Perm aus vorstoßen. Der Sibirischen Armee gelang zwar ein Vorstoß über fast 300 Kilometer ins rote Gebiet. Dies war jedoch strategisch zweitrangig, da sich in dem vor ihr liegenden Gebiet keine wichtigen Städte oder Transportknotenpunkte befanden. Das Vordringen der Westlichen Armee war ein Schock für die rote Militärführung. Der Westlichen Armee gelang es am 28. April 1919, Ufa zu erobern und somit den zentralen Eisenbahnzugang zum Ural für die Roten zu sperren. Die Rote 5. Armee, die Ufa verteidigte, verlor dabei zwei Drittel ihrer Ausgangsstärke von 30.000 Soldaten. Die Eroberung der Stadt erwies sich allerdings als Pyrrhussieg. Nun hielt die Armee Chanschins einen 150 Kilometer tiefen und knapp 300 Kilometer langen Gebietsvorsprung in der Roten Front, dadurch wurden ihre Flanken exponiert. Die nördliche Armee Gajdas war zu weit entfernt, um der Armee Chanschins Hilfe leisten zu können. Am 28. April begannen die Rote 1. Armee von Süden und die Rote 2. Armee von Norden einen Gegenangriff an den Flanken. Ende März hatte die, nun wieder verstärkte, Rote 5. Armee unter dem Kommando von Michail Tuchatschewski Ufa zurückerobert, und die weißen Truppen standen wieder an ihren Ausgangsstellungen.
Nun hatte auch die politische Führung der Bolschewiki die Wichtigkeit der östlichen Bürgerkriegsfront erkannt. Lenin proklamierte am 29. Mai 1919: „Wenn wir vor dem Winter nicht den Ural einnehmen, so wird die Niederlage der Revolution unvermeidlich sein.“ Die bis zur Ufa-Offensive Koltschaks materiell vernachlässigte Östliche Armeegruppe der Roten wurde nun unter Sergei Kamenews Befehl gestellt und personell rasch aufgestockt. Zu Jahresbeginn umfasste sie 84.000 Mann, bis Mitte Mai hatte sich ihre Stärke auf 360.000 Mann vervierfacht. Die Gesamtzahl der kämpfenden Truppe Koltschaks belief sich zu Beginn seiner Operation auf etwa 100.000 Bewaffnete. Entsprechend erfolgreich zeigte sich die Sommeroffensive der Roten Truppen. Am 1. Juli wurde Perm zurückerobert, die Sibirische Armee der Weißen trat daraufhin einen ungeordneten Rückzug nach Osten an. Zwei Wochen später fiel mit Jekaterinburg das wichtigste Industriezentrum des Urals an die Roten. Am 24. Juli wurde Tscheljabinsk von der Roten 5. Armee erobert. Damit waren Koltschaks Einheiten aus dem Uralgebirge verdrängt worden. Der Verlust dieser Verteidigungslinie erwies sich als Desaster für die antibolschewistische Bewegung des Admirals. Seine dritte Großformation, die Südliche Armee unter Below, die im Raum Orenburg stand, wurde dadurch von Sibirien abgeschnitten und musste mangels Nachschub am 14. September 1919 kapitulieren. Doch auch den beiden anderen Armeen erging es nicht besser. Nach den verlustreichen Schlachten im Ural konnte der Vormarsch der bolschewistischen Truppen nicht mehr aufgehalten werden. Bis zum Oktober war die rote Armeegruppe bis auf 200 Kilometer an Koltschaks Regierungssitz Omsk herangerückt. Die Stadt fiel am 14. November kampflos an die Truppen der Bolschewiki.
Koltschak wurde von der tschechoslowakischen Legionen gefangen genommen und unterkorr. Sicherheitsgarantien der Roten Armee ausgeliefert und im Februar 1920 in Irkutsk erschossen.
Militärische Gründe für das Scheitern
Koltschak vermochte es nicht, die Qualität seiner Armee auf ein den Roten überlegenes Niveau zu heben. Er bemängelte selbst die geringe Verbindung zwischen Mannschaften und Offizieren. Zwar verfügte er mit 17.000 Offizieren über eine beachtliche Anzahl an militärischem Führungspersonal, es waren aber nur 1.000 Offiziere durch eine reguläre Kaderausbildung gegangen. Die Mehrheit seiner Truppenführer bestand aus im Weltkrieg in Unteroffiziersränge beförderten Wehrdienstleistenden. Auch die Mannschaften selbst stellten ein Problem dar. Während die Bolschewiki auch aus dem Reservoir der Weltkriegsveteranen schöpften und somit bereits ausgebildete Soldaten mit Gefechtserfahrung hatten, war Koltschak gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe sehr reserviert. Die weiße Administration zog fast ausschließlich die Jahrgänge heran, die nicht im Weltkrieg gedient hatten, da Koltschak die Durchdringung der Veteranen mit revolutionärer Propaganda, noch aus der Zeit des Krieges, fürchtete. Die Ausbildung der Eingezogenen war mangelhaft und verlief zu langsam. Als Omsk an die Roten fiel, befanden sich in der Stadt annähernd 30.000 junge Wehrpflichtige, die nie ein militärisches Training erhalten hatten.
Zudem verfügten die Sowjets mit den rund 60 Millionen Menschen Zentralrusslands über ein größeres Bevölkerungsreservoir als die Weißen mit dem dünn besiedelten Sibirien. Die Territorien, welche von der Weißen Bewegung kontrolliert wurden umfassten knapp unter acht Millionen Einwohner. So hatte die Rote Armee bereits zum Jahreswechsel 1918/19 eine Stärke von fast 800.000 Soldaten. Dies übertraf die Gesamtstärke aller weißen Armeen in Russland bei weitem. Die zahlenmäßige Unterlegenheit führte dazu, dass die weißen Truppen ohne Ruhepause an der Front standen, während die Rote Armee ihre Truppen aus der Kampflinie ziehen konnte, um sie in der Etappe zu regenerieren. Dies erklärt den Zusammenbruch der weißen Kampfmoral nach dem Scheitern der Verteidigung des Urals.
Ein weiteres Problem der weißen Truppen war die Versorgung der Truppen mit Munition und Nahrungsmitteln. Weder der Ural noch Sibirien verfügten im Jahr 1919 über eine intakte Kriegsindustrie und der größte Teil der ehemals zaristischen Waffen- und Munitionsreserven befand sich im nun sowjetischen Zentralrussland. Die weißen Truppen mussten daher auf die Hilfe der Entente, allen voran Großbritanniens zurückgreifen, die über den sibirischen Hafen Wladiwostok eintraf. Zwar wurden bis Jahresende auch große Mengen an Material bereitgestellt, darunter eine Million Gewehre, 15.000 Maschinengewehre und 700 Geschütze. Doch der Transport durch ganz Sibirien über mehrere tausend Kilometer erwies sich als gewaltiger Nachteil. Zur Zeit der Ufa-Offensive und der Kämpfe im Ural hatte der Großteil der ausländischen Hilfe die Truppe noch nicht erreicht. Als sie dann verfügbar war, befanden sich die Weißgardisten bereits auf dem Rückzug. Große Teile des gelieferten Nachschubs fielen auch der Korruption des Regimes zum Opfer und wurden unterschlagen und an Zivilisten verkauft. Dieses Problem wurde auf dem Nahrungssektor noch verschärft, da die weiße Armee für viele Zivilisten sorgte, die als Familienangehörige von Soldaten und Offizieren Rationen in Anspruch nahmen. So hatten zu Jahresbeginn bei einer Kampfstärke von 100.000 Mann mehr als 800.000 Personen Anspruch auf Versorgung durch die Armee. Die Ressourcen dafür wurden auf Kosten der örtlichen Bevölkerung requiriert, was die Popularität der Weißen in der Bevölkerung entscheidend minderte.
Politische Gründe für das Scheitern
Koltschaks politisches Programm zeichnete sich während seines ganzen Wirkens durch Unbestimmtheit aus. Einerseits lehnte er zwar die Wiedererrichtung der Monarchie ab, allerdings gab er auch keine politische Vision für die Zukunft Russlands vor. Er betrachtete eine Militärdiktatur als optimale Lösung für den Übergangszustand des Bürgerkriegs. Dadurch schreckte er die Schicht der städtischen Gebildeten ab, die ein Wiedererstehen der russischen Autokratie fürchtete. Die linken Intellektuellen hatte er schon durch seinen Putsch gegen die Provisorische Regierung Sibiriens 1918 weitgehend gegen seine Bewegung aufgebracht. Gegenüber den Arbeitern blieb sein Programm vollkommen gleichgültig, was der bolschewistischen Propaganda nur noch mehr Vorschub leistete. Auch die Bauernschaft, der größte Teil der russischen Bevölkerung, konnte er nicht für sich gewinnen. In den Wirren der Revolution hatte auf dem Land eine „schwarze Umverteilung“ stattgefunden. Die Bauern hatten sich gewaltsam das Land der Gutsbesitzer angeeignet. Dies war durch Dekrete der Bolschewiki und der Sozialrevolutionäre im Nachhinein legalisiert worden. Koltschak nahm zu dieser Frage keine Stellung, und oft führte der Einmarsch seiner Truppen zu einer Wiedererlangung des Großgrundbesitzes durch die Adligen. Durch die Beschlagnahmung von Nahrungsmitteln verspielte die Weiße Armee noch den letzten Kredit, den sie bei den Bauern besessen hatte.
Diese politische Selbstisolierung machte einerseits selbst die Truppen für die rote Propaganda empfänglich, was sich in einer hohen Zahl von Desertionen zeigte. Andererseits verhinderte es, dass die weiße Propagandaarbeit die antibolschewistische Sache zu einer Massenbewegung machen konnte.
Noch größer waren die Folgen der politischen Isolation für die Administration Koltschaks selbst. Er regierte mit Hilfe eines „Rates des Obersten Herrschers“ in Omsk, der sich vorwiegend aus Armeeoffizieren und ehemaligen Politikern der Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) zusammensetzte. Diese liberale Partei war maßgeblich an der Februarrevolution beteiligt gewesen und hatte die Regierung Kerenski unterstützt. Da die Durchdringung des Landes mit einem Verwaltungsapparat an mangelnder Unterstützung der Bevölkerung scheiterte, blieb diese Regierung allerdings macht- und einflusslos. Der weiße General Alexei Budberg fasste die Situation des Rates wie folgt zusammen: „Das Regime war nur eine Hülse ohne Inhalt. Die Ministerien können mit riesigen, eindrucksvollen Windmühlen verglichen werden. Sie drehen geschäftig ihre Segel, aber ohne Mühlsteine und mit einer größtenteils kaputten oder fehlenden Maschinerie.“
1919 – Die weiße Bewegung im europäischen Russland
Offensive Denikins
Die Situation der weißen Bewegung in Südrussland war Anfang 1919 ambivalent. Abgeschnitten von ihrem nominellen Oberhaupt Koltschak verfolgten die südlichen Einheiten der Weißen eine vollkommen eigene militärische Strategie. Die Freiwilligenarmee hatte im Kaukasus einen durchschlagenden Erfolg erzielt. Die unter dem Kommando des Kosakenführers Pjotr Krasnow stehende Donarmee stand jedoch nördlich von Rostow in einem Abnutzungskampf mit der roten Südlichen Armeegruppe unter General Wladimir Gittis. Die 117.000 Rotarmisten waren den 38.000 Mann der Don-Armee kräftemäßig weit überlegen. Den Mangel an Ausbildung und Disziplin versuchte die rote Militärführung durch Aktionen der Tscheka und der Militärtribunale auszugleichen. So wurden allein in einer Armee während der Kämpfe 2.000 Todesurteile ausgesprochen, von denen 150 vollstreckt wurden. Bis zum Februar 1919 war die Kosakenarmee infolge der Überlegenheit ihrer Gegner auf 15.000 Bewaffnete zusammengeschmolzen. Damit war Krasnows politisches Schicksal besiegelt. Auf Druck der eigenen Leute trat er am 15. Februar von allen Posten zurück. Er wurde durch Bogajewski ersetzt, einen Kosakenführer mit engen Beziehungen zu General Anton Denikin. Der neue Chef der Don-Armee erkannte den militärischen wie politischen Oberbefehl des weißen Generals über die Kosaken auch an. Der Abtritt Krasnows war außenpolitisch von Vorteil für Denikin. Krasnow hatte vor dem Ende des Weltkriegs versucht, seiner Bewegung Hilfe aus dem Deutschen Reich zu verschaffen und hatte sogar versucht, diplomatische Beziehungen zu Wilhelm II. aufzunehmen. Dies hatte ihn in den Augen Großbritanniens desavouiert und somit Denikins Position noch mehr gestärkt.
Als nun unumstrittener Anführer der Weißen in der Don-Region fasste Anton Denikin sowohl die Kosaken wie auch seine eigenen Soldaten in den Streitkräften Südrusslands zusammen und wies die Freiwilligenarmee an, der bedrängten Don-Armee Hilfe zu leisten. Die siegreiche Formation wurde daraufhin aus dem Kaukasus per Eisenbahn in das Donezkbecken verlegt und deckte nun die westliche Flanke der angeschlagenen Don-Armee. Das Kräfteverhältnis zwischen Roten und Weißen hatte sich allerdings nochmals verschärft. Beide weiße Armeen verfügten über etwa 50.000 Soldaten. Die kommunistische Südliche Armeegruppe war bis Anfang März auf über 200.000 Mann gebracht worden. Bis zum Mai war die Freiwilligenarmee unter dem General Wladimir Mai-Majewski auch durch die Roten in die Defensive gedrängt worden. Dieser General vermochte aber die zahlenmäßige Unterlegenheit durch die Zuhilfenahme des dichten Eisenbahnnetzes des Donez-Industriegebiets auszugleichen. Seine Truppen pendelten zwischen gut vorbereiteten Verteidigungsstellungen und schlugen die roten Angriffe bis zum Mai zurück. Im Juni ging die Freiwilligenarmee zum Gegenangriff über und konnte sich gegen die geschwächte 2. Ukrainische Armee und die 13. Armee der Bolschewiki durchsetzen. Die beiden Armeen wurden in einen ungeordneten Rückzug getrieben, und schon Ende Juni besetzten die weißen Truppen das Zentrum des russischen Teils der Ukraine, Charkow.
Im Osten der Freiwilligenarmee wurde die angeschlagene Don-Armee mit Truppen Denikins verstärkt. Das Kommando übernahm der weiße General Pjotr Wrangel, der schon in der Kaukasuskampagne siegreich eine Kavalleriedivision befehligt hatte. Wrangel gelang es, seine Truppen gegenüber den Angriffen der 10. Armee der Roten unter Alexander Jegorow zu konsolidieren. Im Mai 1919 griff er durch geschickten Einsatz seiner Kavallerie die gegnerische Armee überraschend an ihren Flanken an. Dadurch wurden die Bolschewiki in die Defensive gedrängt, und auch hier löste sich der Zusammenhalt der roten Truppen auf. Wrangel verstärkte die Offensive und eroberte am 30. Juni 1919 das „Rote Verdun“ Zarizyn. Mit dem Vormarsch der Don-Armee, die wenige Monate zuvor vor einer militärischen Katastrophe gestanden hatte, hatten die Bolschewiki vollkommen die Initiative an ihrer Südfront verloren, und Denikin bereitete sich auf größere Unternehmungen vor.
Der Zusammenbruch der roten Südfront war, vor allem nach den Kräfteverhältnissen zu urteilen, außergewöhnlich. Er kam auch für das sowjetische Oberkommando unter Trotzki überraschend. Ein Faktor für die Niederlage war, dass alle drei Armeen der Roten vor unsicherem Hinterland kämpften. Im Rücken der 2. Ukrainischen Armee und der 13. Armee sorgte der Anarchistenführer Nestor Machno für Unsicherheit. Er war im Jahr 1918 mit der Zentralregierung Lenins verbündet und sollte für sie einen Puffer zur Ukraine schaffen, doch er hatte sich zum Jahreswechsel gegen seine einstigen Verbündeten erhoben. Die 8. Armee ging auf dem Gebiet des Territoriums der Donkosaken vor. Noch Anfang März waren diese durch die Abnutzungsschlacht demoralisiert und kriegsmüde, was es Krasnow schwer machte, neue Reserven zu mobilisieren. Doch mit dem Einmarsch der Roten Armee erhoben sie sich erneut. Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei als höchstes Parteiorgan hatte noch im Februar verlangt, dass gegen die Kosaken mit aller Härte durchgegriffen werden solle. Ebenso beschloss die Regierung am 24. Januar 1919 ein „Entkosakisierungsprogramm“; durch das die nichtkosakische Bevölkerung der Region zur politischen Macht gelangen und die ehemaligen, bis dahin privilegierten und steuerbefreiten Wehrbauern als eigenständige Schicht ausgelöscht werden sollten. Unter anderem verbot man das traditionelle Kosakengewand und setzte örtliche Komitees ein, die diese Politik überwachen sollten. Dies gipfelte in Terror und Schauprozessen gegenüber wirklichen und vermuteten Gegnern des Regimes. Anstatt die Kosaken also ins politische System zu integrieren, gab man ihnen zahlreiche Gründe, sich erneut gegen die Sowjetmacht zu wenden.
Doch die Rote Armee selbst war nur bedingt einsatzfähig. Die Reformen Trotzkis steckten noch in den Anfängen. Der Oberkommandeur der Roten Armee richtete ein System ein, das auf ehemalige Offiziere der Zarenarmee zurückgriff, die von Politkommissaren überwacht wurden. Ihre Loyalität wurde auch durch die von Trotzki angeordnete Sippenhaftung im Falle des Überlaufens gesichert. Bis zum Ende des Bürgerkriegs wuchs ihre Zahl in den Reihen der Roten Armee auf rund 75.000 an. Dieses System war Mitte 1919 noch nicht eingespielt. Man war nicht in der Lage, die bäuerlichen Rekruten, die nunmehr eingezogen wurden, an die Roten Streitkräfte zu binden. Dies äußerte sich unter anderem in einer hohen Rate von Desertionen. Ebenso gab es trotz der Zwangsrekrutierung ehemaliger Truppenführer des Weltkriegs einen großen Mangel an ausgebildetem Personal, und die Rote Armee griff oft weiterhin auf Unteroffiziere der radikalisierten Soldatenmassen von damals zurück, was sich in großen organisatorischen Problemen äußerte. Die Führung der Roten Armee reagierte auf die geringere Kampfkraft ihrer Truppen gegenüber den Weißen mit Terror. Im August 1919 schuf Trotzki spezielle Sperrabteilungen, die hinter der Front Deserteure jagen sollten. Es sind Fälle überliefert, bei denen Reserveeinheiten befohlen wurde, auf ihre zurückweichenden Kameraden zu schießen. Nach Aussage des ehemaligen Oberkommandeurs der Roten Armee Jukums Vācietis waren diese Maßnahmen eher kontraproduktiv: „Die auf strengen Bestrafungen basierende Disziplin, die in unserer Roten Armee durchgesetzt wurde und wird, hat nur zu Furcht und zur mechanischen Ausführung von Befehlen ohne Inspiration und Pflichtbewusstsein geführt.“
Judenitsch-Offensive
Während Denikins Truppen große Teile der Roten Armee im Süden banden, erwuchs dem kommunistischen Regime an der nordwestlichen Grenze des ehemaligen Reichs eine neue Gefahr. Unter der Protektion der deutschen Besatzer hatten sich im russisch-estnischen Grenzgebiet bereits 1918 weiße Militäreinheiten formiert. Mit der Revolution in Deutschland übernahmen die Roten wieder das Territorium und die Weißen zogen sich nach Estland zurück. In diesem Staat, der seine neugewonnene Eigenstaatlichkeit durch den Kommunismus bedroht sah, „überwinterte“ die weiße Nordwest-Armee. Im Mai 1919 überschritt sie mit 6.000 Soldaten unter General Judenitsch die Grenze. Ihr gelang es binnen weniger Wochen, ein 18.000 km² großes Territorium um die Stadt Pskow zu besetzen. Ende September erneuerte die weiße Armee ihre Offensive in Stoßrichtung Petrograd. Bis zum 21. Oktober 1919 waren Judenitschs Soldaten bis auf 30 Kilometer an die ehemalige Hauptstadt Russlands herangerückt.
Angesichts der Bedrohung und der ökonomischen und propagandistischen Bedeutung der Stadt zog die Sowjetregierung Truppen aus der Front gegen Denikin ab. Kurz nachdem Leo Trotzki den Befehl über die Verteidigung der Stadt übernommen hatte, waren die beiden Roten Armeen im Raum Petrograd auf über 70.000 Soldaten angewachsen. Die Nordwest-Armee war zwar mittlerweile auf rund 15.000 Mann verstärkt worden, doch waren ihre Ressourcen beschränkt. Der Hauptteil der personellen Verstärkungen bestand aus desertierten Rotarmisten, war wenig motiviert und wenig zuverlässig. Da Judenitsch, wie seine damaligen weißen Kampfgenossen, kein politisches Programm vorstellte, blieb auch die Unterstützung der Bevölkerung der eroberten Gebiete gering. Die materielle Lage war noch hoffnungsloser. Die Nachschubsituation war schlecht, da zu den estnischen Versorgungsbasen der Weißen kaum leistungsfähige Eisenbahnverbindungen bestanden. Generell war die Armee schlecht bewaffnet, so hatte sie den 581 Geschützen der Roten nur 44 Stück entgegenzusetzen. Bereits im November standen die Weißgardisten wieder an der estnischen Grenze. Die Regierung des baltischen Landes erlaubte ihnen die rettende Einreise, entwaffnete und internierte die Russen jedoch bereits Tage nach ihrer Ankunft. Somit hatte die sowjetische Regierung Reserven für den Kampf gegen Denikin zur Verfügung, und Estland schloss im Dezember 1919 als erster Nachbarstaat Russlands einen Waffenstillstand mit den Bolschewiki.
Denikins Marsch auf Moskau
Nach den überraschenden Gewinnen des Frühsommers 1919 setzte Denikin im Juli die Strategie seiner Verbände fest. Er plante, seine drei Hauptgruppen – die Kaukasus-Armee unter Wrangel im Osten, die Don-Armee unter Sidorin im Zentrum und die Kiewer Armee Dragomirows in der Ostukraine – in einer keilförmigen Bewegung auf die Hauptstadt Moskau marschieren zu lassen. Der Hauptstoß sollte im Zentrum erfolgen, hier sollte die Freiwilligenarmee unter Wladimir Mai-Majewski die Speerspitze des Angriffs bilden.
Im August kam es zum 9.000 Mann umfassende Vorstoß des Mamontow-Korps der die Nachschublinien der Roten Armee nachhaltig störte. Dabei erlangten die Kosakentruppen des Korps kurzzeitig die Kontrolle über Tambow und besetzten kurzzeitig Woronesch, bevor sie sich wieder an den Don zurückzogen. Dabei verübten die Soldaten des Korps zahlreiche Racheakte gegen tatsächliche und vermeintliche Unterstützer der Bolschewiki und Plünderungen der Zivilbevölkerung.
Der Freiwilligenarmee, die als Eliteverband der Weißen angesehen werden muss, gelang im Herbst bei der folgenden Kromy-Orjoler Operation greifbare Erfolge. Am 20. September eroberte sie Kursk, die beiden örtlichen Roten Divisionen lösten sich fast vollständig auf. Am 14. Oktober marschierte die Freiwilligenarmee in Orjol ein und befand sich nun 400 km südlich von Moskau. Auch Dragomirows Truppen gelang mit der Eroberung von Tschernigow ein Erfolg, der die Ukraine noch weiter dem Einfluss der Sowjets entzog. Mit dem Verlust von Orjol machte sich zeitweilig Panik im Roten Oberkommando breit, doch es gelang ihm schließlich wiederum, offensiv zu werden.
Gleichzeitig verschafften sich die Bolschewiki durch Verhandlungen eine Atempause an der polnisch-sowjetischen Front. Es gelang durch großzügige Territorialversprechungen im September mit Polen einen Waffenstillstand auszuhandeln. Die polnische Armee war bislang erfolgreich in Belarus vorgerückt. Dem Waffenstillstand lagen auf polnischer Seite politische Überlegungen zugrunde. Das Prinzip eines „einigen und unteilbaren Russlands“ der Weißen Bewegung, stand den eigenen geopolitischen Zielen des Międzymorze entgegen. Entsprechend kritisch sah Józef Piłsudski den erfolgreichen Vormarsch der Südrussischen Streitkräfte. Der Waffenstillstand erlaubte der Roten Armee größere Truppenverlegungen. Zehntausende Rotarmisten konnten in Folge nach Moskau verlegt werden.
Niederlage Denikins
Im September hatte das Oberkommando der Roten Armee begonnen, eine Stoßgruppe aus loyalen Kosaken, Kavallerie und der Lettischen Schützendivision zu bilden. Diese Einheit schaffte es, Orjol, sechs Tage nachdem es an die Weißen gefallen war, wieder einzunehmen. Damit wäre ein fragiles Patt erreicht gewesen, hätte nicht eigenmächtiges Handeln des roten Kavalleriekommandeurs Budjonny die Lage entscheidend verändert. Er stand mit der 1. Roten Reiterarmee östlich des Keils, den die Weißen bildeten. Seinen Befehlen nach sollte er östlich gegen die Kaukasus-Armee Wrangels vorgehen, doch er entschied sich, westlich Sidorins Truppen anzugreifen. Am 24. Oktober nahmen seine Reitertruppen Woronesch ein. Durch den Verlust dieses Eisenbahnknotenpunkts war die „Freiwilligenarmee“ als Speerspitze der Weißen vom Nachschub abgeschnitten und trat den Rückzug an. Denikin hatte die Initiative verloren, und seine Offensive war somit gescheitert. Er konnte den Rückzug seiner Armee, deren Moral zusammengebrochen war, nachdem Moskau unerreichbar wurde, auch nicht mehr stoppen. Am 13. Dezember 1919 eroberten die roten Truppen Kiew zurück; bis Anfang Januar verlor Denikin das Territorium des Don-Gebiets. Rostow, die Hauptstadt des Kosakenterritoriums, fiel am 7. Januar 1920. Seine letzten Truppen zogen sich fluchtartig in das Kubangebiet zurück. 37.000 Mann wurden auf englischen Schiffen von Noworossijsk auf die Krim evakuiert. 60.000 blieben zurück und gingen in Gefangenschaft. Denikin selbst wurde ebenfalls evakuiert, doch angesichts seiner Niederlage hatte er jede Legitimität als Anführer der weißen Bewegung verloren. Er verließ Russland im April 1920 und starb 1947 im amerikanischen Exil.
Denikins Offensive war der Punkt des Bürgerkrieges, an dem die Rote Zentralmacht am meisten gefährdet war. Mit seiner Niederlage war allerdings die letzte Möglichkeit der Weißen, den Widerstand gegen die Bolschewiki in das russische Kernland zu tragen, vertan.
Die Gründe für das Scheitern der Weißen Offensive lagen sowohl im militärischen wie auch im politischen Bereich. Denikins Truppen kämpften an einer fast 1.000 Kilometer langen Front zu jeder Zeit gegen zahlenmäßig überlegene Kräfte. Er hatte höchstens 99.000 Soldaten zur Verfügung. Demgegenüber standen 150.000 Rotarmisten an der Front, und über 677.000 Mann als Reserven. Als Oberbefehlshaber war er sich dieser Faktoren sicher bewusst, seine Planung stützte sich auf die Annahme, breite Unterstützung aus der Bevölkerung zu bekommen. Denikin hoffte, mit seinem Vormarsch einen Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft auszulösen. So schlecht die Situation im sowjetischen Territorium auch war, Denikin konnte die Bevölkerung nicht auf seine Seite ziehen. Ein Faktor, der die weiße Bewegung aus der Sicht der Bauern desavouierte, war die Versorgungspraxis der Armee. Denikin hatte nicht die Ressourcen und Logistik, seine Soldaten über Hunderte von Kilometern aus seinen Nachschubbasen am südlichen Don zu versorgen. Als Reaktion darauf erlaubte er den Truppen die „Selbstversorgung“ – also Zwangsrequirierung – von Nahrungsmitteln und anderen Gütern. Dies artete zu regelrechten Plünderungen aus. Wrangel beschwerte sich in einem Brief bei Denikin, worin nun noch der Unterschied zwischen den Weißen und den Bolschewiki liege, die seit 1918 im großen Stil und unter Strafandrohung zur Versorgung der Städte Nahrung konfiszierten. Der Feldgeistliche Georgi Schawelski äußerte sich folgendermaßen über die Übergriffe der „Freiwilligenarmee“: „Raub, Spekulation, Frechheit und Schamlosigkeit zersetzen den Geist der Armee. Eine räuberische Armee ist keine Armee, sie ist eine Bande.“ Infolgedessen hatte Denikin ab Januar 1920 noch mit den „Grünen“ zu kämpfen. Dies waren kleine Einheiten aus Bauern und Deserteuren, die das Hinterland der bereits in Auflösung befindlichen weißen Armee unsicher machten.
Generell machte Denikin denselben Fehler wie sein nominell übergeordneter Befehlshaber Koltschak. Er stieß weder Reformen an, noch stellte er ein detailliertes politisches Programm auf. Im Gegensatz zu den Bolschewiki formulierte er nicht einmal eine Vision, die seine Bewegung auf eine breite emotionale Basis hätte stellen können. Er versuchte, die von ihm kontrollierten Gebiete – auf dem Höhepunkt des Vormarsches umfassten sie 42 Millionen Menschen – mit einer Militärdiktatur als „Übergangslösung“ zu regieren. Doch selbst dieser bescheidene Anspruch schlug fehl. Durch Plünderungen, den Mangel an politischem Programm und die diktatorische Regierungsstruktur entfremdeten die weißen Generäle die gebildete Schicht der Städte von ihrer Bewegung. Infolgedessen waren sie selbst personell nicht in der Lage, einen tragfähigen Verwaltungsapparat aufzubauen, da ihnen die Intelligenzija die Zusammenarbeit verweigerte. Die Administration der Antikommunisten blieb auch in Südrussland ineffizient und ohne breite Unterstützung. Dadurch verstärkten sich natürlich die Versorgungsprobleme der Truppen an der Front noch mehr, und die Plünderungen nahmen weiter überhand.
Folgen für Transkaukasien
Die Region Transkaukasien war durch die Weißen Truppen in Südrussland dem Einfluss der sowjetischen Regierung entzogen, da die Rebellen die Verkehrsverbindungen größtenteils blockieren konnten. 1918 erklärten sich die Armenier, Aserbaidschaner und Georgier vom Rumpfstaat unabhängig. Sie gingen zunächst als Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik eine kurzlebige Föderation ein, die allerdings bald an internen Streitigkeiten zerbrach. Im Mai 1918 wurden die drei Staaten Demokratische Republik Armenien, Demokratische Republik Aserbaidschan und Demokratische Republik Georgien unabhängig. In Georgien bestand die Regierung aus Menschewiki, Armenien und Aserbaidschan wurden von nationalistischen Parteien regiert. Den Bolschewiki gelang es nur im Mai 1918, im aserbaidschanischen Ölzentrum Baku Fuß zu fassen. Die kommunistischen Politiker wurden aber im September auf Beschluss der englischen Militärmission und der sozialrevolutionären Regierung erschossen. Die Toten von Baku (darunter auch Linke Sozialrevolutionäre und Daschnaken) wurden im Folgenden als die „26 Kommissare“ in der Sowjetunion verehrt. Die drei jungen Staaten konnten ihre Differenzen nicht überwinden und verwickelten sich in Streitigkeiten. Armenien und Aserbaidschan lieferten sich sogar einen Grenzkrieg. Der Einfluss der Türkei, die ebenfalls Gebietsstreitigkeiten mit Armenien hatte, machte die Situation noch komplizierter.
Eine Allianz mit der weißen Bewegung kam für die transkaukasischen Staaten auch nicht in Frage, da diese Russland in seinen alten Grenzen wiederherstellen wollten. Alle drei Republiken wurden aber vom westlichen Ausland anerkannt. Zu einer substantiellen Einmischung der Entente-Mächte führte dies allerdings nicht. Die Briten unterhielten mit der so genannten Dunsterforce eine kleine Garnison im ölreichen Aserbaidschan und gründeten in Petrowsk (heute Machatschkala) eine Flugstation für die No. 266 Squadron RAF der Royal Air Force. In Baku wurde außerdem die British Caspian Flotilla der Royal Navy aufgestellt, die vor allem die britisch-weißrussische Seeherrschaft auf dem Kaspischen Meer sichern sollte, um den Bolschewiki den Erdölnachschub aus Baku abzuschneiden. In diesem Kontext fand am 21. Mai 1919 das Seegefecht von Fort Alexandrowsk statt, bei dem die britische Flottille den Versuch der Kaspi-Flottille der Roten Arbeiter- und Bauernflotte verhinderte, nach Petrowsk und Baku vorzustoßen. Die britischen See-, Luft- und Landstreitkräfte zogen jedoch vor dem Einmarsch der roten Truppen in den Kaukasus ab. Die Eroberung durch die Rote Armee erfolgte kurz nachdem die Verkehrswege nach der Niederlage Denikins freigeworden waren. Am 28. April 1920 eroberten die Roten Baku und riefen die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik aus.
Im September 1920 marschierten türkische Truppen in Armenien ein. Die ins Chaos gestürzte Regierung bat die Bolschewiki um Hilfe, und im November wurde die Armenische SSR ausgerufen. Auf den größten Widerstand stieß die Sowjetisierung in Georgien. Die sowjetische Regierung hatte 1920 einen Nichteinmischungspakt mit dem Land vereinbart. Im Februar 1921 marschierte allerdings die Rote Armee in Georgien ein. Nach einer wochenlangen Schlacht um die Hauptstadt Tiflis wurde auch in diesem Land eine Sowjetrepublik errichtet. Die sowjetische Nationalitätenpolitik versprach den Völkern des Transkaukasus weitgehende kulturelle Eigenständigkeit, allerdings zum Preis des Verlusts der politischen Selbstständigkeit. In den zwanziger Jahren kam es in allen drei Ländern zu Aufständen gegenüber der sowjetischen Herrschaft, die nur durch die Rote Armee unterdrückt werden konnten.
1920 – Die Weiße Armee auf der Krim
Nach der Niederlage am Don und in Sibirien erwies sich die Halbinsel Krim als letzte Basis der weißen Bewegung. Dort formte General Wrangel aus dem Kern der aus Noworossijsk evakuierten Truppen die Russische Armee mit 37.000 Soldaten. Der Polnisch-Sowjetische Krieg verschaffte Wrangel in der strategisch günstigen Lage der Halbinsel Zeit, seine Verbände bis April 1920 neu zu formieren. Bereits im Juni starteten seine Streitkräfte die erste Offensive mit einem Ausbruch aus der Landenge von Perekop nach Norden. Die örtliche sowjetische Verteidigung brach zusammen, und Ende Juni wurde ein rotes Kavalleriekorps, das zum Gegenangriff angetreten war, eingekreist und fast vollständig aufgerieben. Als die Rote 13. Armee endlich reagierte, waren Wrangels Truppen bereits bis an den Dnjepr herangerückt. Beim Gegenangriff der Bolschewiki gelang es den Rotarmisten zwar, einen Brückenkopf nördlich von Perekop zu halten und somit die Verbindung der vorstoßenden Weißen zur Krim einzuengen, dies hinderte Wrangels Truppen jedoch nicht, im Laufe des Sommers Mariupol und Alexandrowsk an den Ufern des Asowschen Meeres einzunehmen. Wrangel war sich aber sehr wohl bewusst, dass diese begrenzten Erfolge in der Peripherie des Reiches nur zweifelhaften Wert hatten. Seine im Herbst gestartete Offensive in die Kubanregion schlug fehl. Der Versuch, zu den ehemals weißen Kosakengebieten durchzubrechen, war damit gescheitert. Mit der Überquerung des Dnjepr in Richtung Westen durch die ehemalige Freiwilligenarmee (jetzt das I. Korps der neuen Russischen Armee) unter Kutepow versuchte Wrangel im Oktober die Initiative zu behalten. Nach einer Woche mussten sich seine Soldaten aber wieder östlich über den Fluss zurückziehen.
Am 12. Oktober 1920 schloss Polen mit dem Sowjetstaat einen Waffenstillstand, der nun Truppen zum Kampf gegen Wrangel freimachte. Unter Michail Frunse wurde eine neue Südliche Armeegruppe aufgestellt. Bis Ende Oktober konnten die Roten sechs Armeen mit 133.000 Mann zusammenziehen. Diese zahlenmäßige Überlegenheit von vier zu eins konnte Frunse ausnutzen. Die Hauptlast der Kämpfe trugen die ukrainischen Partisanen von Nestor Machno, die vorher gegen Weiße wie Rote gekämpft hatten. Frunse trieb die Weißen Truppen von seinen Stellungen am westlichen Ufer des Dnjepr immer weiter auf die Krim zurück. Dabei verloren die Weißen mit mehr als 20.000 Soldaten den Großteil ihrer Armee. General Wrangel hatte allerdings die Aussichtslosigkeit der Lage erkannt und eine Evakuierung vorbereitet. Bis zum 16. November wurden 146.000 Menschen, mehrheitlich Zivilisten, mit Schiffen der ehemals zaristischen Schwarzmeerflotte vor den heranrückenden Roten Richtung Türkei in Sicherheit gebracht.
Bemerkenswert an Wrangels kurzer Aktivität als Führer der weißen Bewegung war seine Flexibilität. Während seine Vorgänger Koltschak und Denikin an ihrer politischen Apathie scheiterten, führte Wrangel auf der Krim eine Bodenreform durch. Er enteignete die Großgrundbesitzer unter Gewährung von Entschädigungen. Ebenso strebte er Bündnisse mit allen politischen Parteien an, er versuchte sogar den Anarchisten Nestor Machno für einen antikommunistischen Feldzug zu gewinnen. Wrangel hielt zwar an der Militärdiktatur fest, doch versuchte er, auch die städtische Intelligenzija in sein System einzubinden. Seine Zugeständnisse sorgten für ein sicheres Hinterland seiner Front, ein Vorteil, den kein weißer General vor ihm genossen hatte. Wrangel fasste seinen Strategiewechsel öffentlich wie folgt zusammen: „Nicht mit einem Triumphmarsch von der Krim nach Moskau kann Rußland befreit werden, sondern nur durch die Schaffung einer Regierung – auf einem wie kleinen Stückchen russischen Bodens auch immer – mit solchen Lebensbedingungen, daß das russische Volk, das jetzt unter dem roten Joch ächzt, unweigerlich seiner Anziehungskraft nachgeben wird“.
Wrangels Position hatte gegenüber anderen weißen Bewegungen den Vorteil eines sicheren Hinterlandes. Die Krimtataren, welche rund 1/4 der Bevölkerung stellten standen dem Kommunismus feindlich gegenüber. Im April 1918 löste das Nahen der deutschen Truppen im Rahmen des Unternehmens Faustschlag einen Aufstand der Krimtataren gegen die Sowjetherrschaft aus, bei der örtliche Rat der Volkskommissare ermordet wurde. Als eine der produktivsten Agrarregionen des Landes erlaubte sie auch eine gute Versorgung der Truppen und Bevölkerung. Die Halbinsel selbst bot mit der Landenge von Perekop eine günstige Verteidigungsposition. Wrangels Kräfte waren aber bereits zu gering, um sich militärisch gegen die Rote Armee zu behaupten. Einen generellen Aufstand zugunsten der weißen Bewegung konnte sein politisches Programm auch nicht entfalten. Es stellte diejenigen zufrieden, die unter weißer Herrschaft lebten. Doch seine Maßnahmen, vor allem in der Landfrage, waren effektiv schon Jahre zuvor von den Kommunisten überholt worden. Effektiv erntete er unter der bäuerlichen Bevölkerung Indifferenz. In den frontnahen Gebieten, wo der Bevölkerung zur Kriegsführung Requisitionen und Arbeitsleistung abverlangt wurden, schlug die Stimmung alsbald dann doch in Feindseligkeit um. Hierzu trug der Umgang der Offiziere mit der Bevölkerung bei, die keine Verbindung zur Krim und ihren Bewohnern hatten und in deren Augen wie Besatzer agierten.
Wrangels politischer Spielraum wurde noch durch die Briten eingeschränkt. Nach der Niederlage Denikins war die britische Regierung überzeugt, dass die Roten den Bürgerkrieg für sich entscheiden würden. Sie entzogen daraufhin der Weißen Armee ihre Unterstützung, rieten Wrangel von einer Offensive ab und versuchten schon während des Bürgerkriegs, diplomatische Beziehungen zur neuen Regierung im Kreml aufzunehmen.
Innenpolitik der Bolschewiki
Die Innenpolitik der kommunistischen Führung während des Bürgerkriegs wurde im Nachhinein von der offiziellen Parteilinie als Kriegskommunismus bezeichnet. Lenin selbst verwendete den Begriff erst 1921 im Zuge der NEP. Der allgemeine Kurs der Politik des jungen Sowjetstaates wurde schon vor der akuten Phase des Bürgerkriegs eingeschlagen. Das Grundproblem der russischen Wirtschaft war der Zusammenbruch der Nahrungsmittelverteilung innerhalb des Landes. Das Handelssystem selbst war zusammengebrochen und es standen zu wenig industrielle Güter bereit, um die Bauern zum Verkauf ihrer Überschüsse zu motivieren. Bereits im Mai 1918 verkündete die Regierung die Einführung einer „Nahrungsdiktatur“. Diese radikale Politik umfasste das vollkommene Verbot des Privathandels im Agrarbereich und ein System festgeschriebener Preise. Das Hauptwerkzeug der Politik bestand allerdings in der oft gewaltsamen Zwangseinziehung bäuerlicher Erzeugnisse ohne Gegenleistung. Durch dieses System konnten in den ersten beiden Bürgerkriegsjahren pro Jahr maximal ein Drittel der Vorkriegsmenge an Getreide in die Städte verbracht werden. Die Maßnahme hatte eine Mangelsituation auf dem Land wie im urbanen Bereich zur Folge. Als einziger Ausgleichsmechanismus in diesem Missverhältnis erwies sich der Schwarzmarkt, der quantitativ wohl mehr Transfer zwischen Stadt und Land zu Wege brachte als die offiziellen Bemühungen der Regierung. Nach zwei Jahren der Beschlagnahmungen ohne Gegenleistung reduzierten auch viele Bauern ihre Anbauflächen. Dieses Problem wurde im November 1920 in gleicher Weise angegangen, man richtete einfach Parteikomitees ein, welche die Bauern zu einer maximalen Aussaat und damit zur Überschussproduktion zwingen sollten. Diese Methoden stießen von Anfang an auf Widerstand seitens der Bauern. Insgesamt wurden von 1918 bis einschließlich 1920 rund 15.000 Mitglieder der Beschaffungsbrigaden durch revoltierende Bauern umgebracht. Während und nach dem Krieg folgte dieser Politik des Zwanges eine katastrophale Hungersnot. Diese Hungersnot war so gravierend, dass es in einigen Regionen Russlands sogar zu Kannibalismus kam. 1921 litten rund ein Viertel der russischen Bauern Hunger. Die am schwersten betroffenen Gebiete waren die Wolgaregion, Kasachstan, die Südukraine, Westsibirien und der Don.
Auch auf kulturellem Sektor wandte die Sowjetregierung zunehmend Zwang an. Bereits im Februar 1919 hatte die Führung durch die Schaffung von Bildungseinrichtungen nur für Arbeiter und Bauern den Versuch gestartet, sich eine loyale Elite heranzuziehen, welche die bürgerliche Bildungselite verdrängen sollte. Des Weiteren wurden ab Dezember 1919 für alle Analphabeten verpflichtende Kurse im Schreiben und Lesen eingeführt. Noch im selben Monat wurde der erste Angriff auf die Orthodoxe Kirche geführt. Agitation gegen den Klerus gehörte schon vor der Revolution zum Programm der Bolschewiki. Nach der Machtergreifung kam es auch zu Übergriffen gegen kirchliches Eigentum und Priester. Der erste Versuch, das Christentum in Russland mittels administrativer Maßnahmen zurückzudrängen war das Verbot, religiöse Gemeinschaften durch Spenden zu finanzieren. Sie wurden damit von ihrer primären Geldquelle abgeschnitten. Weitere Eskalationsschritte dieser Politik fanden jedoch erst nach dem Bürgerkrieg statt.
Dieselbe Gangart betrieben die Bolschewiki in der Industrie. Per Dekret wurden im Juni 1918 sämtliche größeren Betriebe verstaatlicht. Zunächst wurden Fabriken unter die Aufsicht gewählter Arbeiter gestellt. Dieses Vorgehen erwies sich oft als ineffizient und wurde vor Jahresbeginn 1919 größtenteils aufgegeben. Die staatlichen Zwangsmaßnahmen konnten den Niedergang der Industrie nicht aufhalten. 1920 wurde der Druck noch verstärkt, als selbst Kleinstunternehmen verstaatlicht wurden und eine allgemeine Militarisierung der Arbeit verlautbart wurde. Dies brachte die Einschränkung grundlegendster Freiheiten der Bevölkerung mit sich. Es herrschte staatlicher Arbeitszwang. Versäumnisse in Ausübung des Berufes konnten nach dem Kriegsrecht abgeurteilt werden. Die Radikalität ihrer Aktionen erwies sich als politischer Gewinn für die Bolschewiki, da sie mit der Enteignung der alten Elite das Wohlwollen der weniger wohlhabenden Gesellschaftsschichten fanden. Ökonomisch jedoch brachten die Maßnahmen keine Erfolge, sondern verstärkten die Krise. Nach dem Sieg der Roten im Bürgerkrieg war die russische Wirtschaft auf einen Bruchteil der Vorkriegsleistung zusammengeschrumpft. Das durch die Enteignungen erzielte politische Kapital wurde im Laufe des Krieges durch die Bürokratisierung der Partei und des Staats wieder verspielt. 1921 war die Staatsbürokratie bereits auf das Zehnfache des Personalstands der zaristischen Verwaltung von 1917 angewachsen. Sämtliche Streikresolutionen während des Krieges klagen örtliche Parteimitglieder, die fast alle Verwaltungsstellen innehatten, an, sich auf Kosten der Arbeiter zu bereichern.
Auf politischem Gebiet zeichnete sich eine radikale Entwicklung sogar noch früher ab. Der Geheimdienst Tscheka wurde bereits im Dezember 1917 gegründet. Unter ihrem Gründer Felix Dserschinski erhielt die Tscheka weitgehende Befugnisse, auch das Recht, Menschen ohne Gerichtsverfahren hinzurichten. Der Massenterror wurde als legitimes Mittel der Politik verbrämt und auch angewandt. Er betraf allerdings nicht nur politische Gegner, sondern diente auch der Lösung ökonomischer Probleme. Im Februar 1919, als das Transportsystem des Staates weitgehend darniederlag, wurden Bauern als Geiseln genommen. Ihre Erschießung wurde angedroht, falls die verbliebenen Dorfgenossen nicht die Eisenbahnstrecken vom Schnee räumen würden. Das System expandierte rasch und nach offiziellen Zahlen befanden sich 1919 in Russland 4.100 Personen in Arbeitslagern und weitere 7.500 in Konzentrationslagern. Zwar wurde die Todesstrafe im Januar 1920 formal abgeschafft, was aber von der Geheimpolizei weitgehend ignoriert wurde.
Lage der Bevölkerung
Oktoberrevolution und Bürgerkrieg lösten eine Migrationsbewegung aus. Angehörige der ehemaligen Oberschicht des Reiches flohen aus den städtischen Zentren des durch die Revolutionäre kontrollierten Zentralrusslands an die Peripherie. Unter der Herrschaft der Deutschen, nationaler Minderheiten oder der Weißen Armee versuchten sie sich dem Zugriff von Enteignungen und politischer Verfolgung durch die neuen Machthaber zu entziehen. Die verbliebenen Angehörigen der ehemaligen Oberschicht waren Ziel staatlicher Zwangsmaßnahmen, Enteignungen griffen ihre wirtschaftliche Basis an und das Regime der Bolschewiki benutzte die Lebensmittelzuteilungen gezielt, um weiteren Druck auf sie auszuüben. Doch nicht nur Adlige und das Besitzbürgertum trafen diese Maßnahmen. Ebenso wurde der städtischen Intelligenzija die ökonomische Basis durch Entlassung und mangelhafte Zuteilung entzogen. Ausgenommen waren Intellektuelle, wie etwa Maxim Gorki, die als der Ideologie der Partei konform galten.
Die Situation der arbeitenden Bevölkerung gestaltete sich kaum einfacher. Das Zwangssystem der Lebensmittelbeschlagnahmung genügte nicht, um die Städte zu versorgen. Als Folge davon versuchten täglich tausende Arbeiter als sogenannte „Sackleute“ auf dem Lande durch Schwarzhandel ihren Bedarf zu decken. Dadurch blieben 1918 je nach Industriezweig pro Tag zwischen 30 % und 80 % der Belegschaften ihren Arbeitsplätzen fern. Die Arbeiter versuchten den Tauschhandel durch Diebstähle und Demontagen aus den eigenen Fabriken zu decken, was die Wirtschaft noch weiter schädigte. Um dieses System für ihre Leute zu nutzen, gingen viele lokale Parteimitglieder und Arbeitervertreter dazu über, diesen Tauschhandel in „Kooperativen“ zu institutionalisieren und somit wenigstens eine minimale Produktion aufrechtzuerhalten. Dieser Versuch wurde allerdings bereits im Mai durch Lenin ausgehebelt, der jeden Privathandel und auch die kooperativen Tauschabkommen zwischen einzelnen Fabriken und Dörfern verbot. Zur Durchsetzung dieser Entscheidung ging die Regierung dazu über, durch Sperrkommandos militärische Gewalt einzusetzen. Da sie allerdings über die allein legale Methode der zentralisierten Requirierung die Bedürfnisse der Städte nicht befriedigen konnte, hielt das Phänomen während des gesamten Bürgerkriegs an. In den von den Weißen kontrollierten Gebieten war dieses Problem weniger akut, da hier das private Handelssystem von staatlicher Seite nicht unterbunden wurde. Doch besonders in kürzlich eroberten Städten trafen Terror und Erschießungen Sympathisanten und verdächtigte Sympathisanten der roten Zentralregierung.
Die ländlichen Regionen litten noch mehr unter dem Bürgerkrieg. Sowohl die Weißen wie auch die Roten deckten ihren Nahrungsmittelbedarf durch zwangsmäßige Einziehung. Auf Seiten der weißen Armeen artete dies, vor allem in den Reihen der „Freiwilligenarmee“, zu regelrechten Plünderungsexzessen aus. Die sowjetische Führung hingegen unterhielt bis zu 76.000 Bewaffnete in sogenannten „Beschaffungstribunalen“. Diese Ad-hoc-Einheiten zogen durch das Land und pressten nach willkürlichen Quoten Getreide von den Bauern. Geiselnahmen und Geiselmorde unter der Dorfbevölkerung waren bei Nichterfüllung der Forderungen eine gängige Praxis. Besonders drückend war die Situation für die Landbevölkerung in den umkämpften Gebieten Südrusslands und des Urals. Oft wurden Dörfer mehrmals von den jeweiligen Fronten überrollt und waren damit den Repressionen beider Seiten in verschärftem Maße ausgesetzt. Je weiter die Versorgungskrise der Städte sich verschlimmerte, desto mehr Druck lastete auf der Bauernschaft. Im Sommer 1918 leitete Lenin den Klassenkampf auf dem Dorf ein: „Diese Blutegel haben sich mit dem Blut der Werktätigen vollgesaugt und wurden umso reicher, je mehr der Arbeiter in den Städten und Fabriken gehungert hat. […] Schonungsloser Krieg diesen Kulaken! Tod den Kulaken!“. Die Ideologie der Kommunisten versuchte die Dorfgemeinschaften in eine Klasse der wohlhabenderen Bauern, die sogenannten Kulaken, und eine Mehrheit aus armen Bauern zu spalten. Den Kulaken sollte durch Enteignung, Freiheitsentzug und Erschießungen ihre angeblich beherrschende Stellung im dörflichen Leben entzogen werden. Dieser Bestrebung wurde 1919 mit der von oben verordneten Gründung örtlicher „Komitees der Dorfarmut“ mit Unterstützung der Tscheka Nachdruck verliehen. 1919 wurde die Aktion abgebrochen, da sich dadurch die Nahrungssituation noch weiter verschlimmerte. Die Propaganda der Roten konzentrierte sich von nun auf den „Mittelbauer“ und versuchte, die Dorfgemeinschaft als Ganzes anzusprechen.
Kriegsopfer
Nach den Schäden und Verlusten des Ersten Weltkriegs erwies sich der Bürgerkrieg für Russland als noch größere Katastrophe. Insgesamt starben rund 770.000 Soldaten beider Seiten im Gefecht. Nach heutigen Schätzungen entfielen 80 % dieser Verluste auf die Rote Armee. Weitere rund 700.000 Kombattanten verloren während ihres Dienstes durch Seuchen ihr Leben. Die Zahl der getöteten Zivilisten durch den Terror beider Seiten ist nicht annähernd festgestellt. Die Zahl der Exekutionen durch die „Roten“ wird in der westlichen Literatur auf zwischen 50.000 und 200.000 beziffert. Wie viele Menschen infolge staatlicher Repressionen ohne Todesurteil ihr Leben verloren, ist vollkommen unbekannt.
Der Terror seitens der Weißen ist ebenfalls ungenügend dokumentiert. Heutige Schätzungen gehen von 20.000 bis 100.000 Morden an Sympathisanten der Gegenseite aus.
Hinzu kommen noch 50.000 bis 150.000 Opfer jüdischer Herkunft, die bei Judenpogromen umgebracht wurden. Die Juden waren unter der Zarenherrschaft von der Beamtenlaufbahn ausgeschlossen. Beim Neuaufbau der Verwaltung unter den Bolschewiki bildeten sie somit ein Reservoir an meist gebildeten Fachkräften, die nicht im Dienst des vorherigen Regimes gestanden hatten. Dieser Einstrom von jüdischen Bürgern in die öffentlichen Ämter wurde in der weißen Propaganda durch antisemitische Parolen ausgenutzt. Insbesondere in der Ukraine häuften sich während des Bürgerkriegs Pogrome und Übergriffe gegen die jüdische Minderheit. Die Pogrome wurden oft seitens weißer Befehlshaber bei Einnahme einer Stadt als Gratifikation der eigenen Soldaten für einen militärischen Sieg toleriert. In mindestens zwei Fällen wurden von den Generälen Mamontow beziehungsweise Mai-Majewski die Übergriffe sogar explizit befohlen. Auch ukrainische Freischärler unter Petljura oder Nestor Makhno und polnische Truppen beteiligten sich an Übergriffen gegenüber der jüdischen Bevölkerung.
Der Zusammenbruch des Wirtschaftssystems und das Chaos des Krieges forderten Millionen Opfer unter der Zivilbevölkerung durch Hunger und die Ausbreitung von Seuchen. Anhand von Bevölkerungszählungen, die bis 1923 durchgeführt wurden, lässt sich feststellen, dass im Russland des Jahres 1920 neun bis zehn Millionen Menschen weniger lebten als im selben Gebiet zum Ende des Weltkrieges. Nach der Berücksichtigung der Emigration von ca. zwei Millionen Menschen und der Hungersnot von 1921 führt dies zu einer Zahl von rund acht Millionen zivilen Opfern. Dies entspricht dem Vierfachen der Verluste des Zarenreichs im Ersten Weltkrieg.
Nach Krieg und Hungersnöten lebten auf sowjetischem Territorium rund sieben Millionen Waisenkinder auf der Straße. Diese hielten sich durch Betteln und Kriminalität über Wasser. Nach einer sowjetischen Erhebung von 1920 gingen 88 % der weiblichen Straßenkinder der Prostitution nach. Für die Jungen ist keine Erhebung verfügbar, aber auch unter ihnen sind Fälle von Prostitution berichtet. Nur ein kleiner Teil der Kinder konnte in Waisenhäusern untergebracht werden. Ein anderer Teil wurde als Kinderarbeiter beschäftigt und somit wenigstens von der Straße weggebracht. Ältere Kinder wurden mitunter auch in Einheiten der Roten Armee aufgenommen.
Weitergehende politische Folgen
Durch den Sieg der Roten im Bürgerkrieg änderten auch die ausländischen Mächte ihre Haltung zu Sowjetrussland. Großbritannien ging schon 1920 dazu über, Handelsbeziehungen mit dem sowjetischen Regime aufzubauen.
Frankreich gab die kurzlebige Politik der Intervention ab dem Frühjahr 1919 auf und befürwortete die Bildung einer Pufferzone aus unabhängigen Staaten, die Europa vom kommunistischen Staat abschirmen sollten (Cordon sanitaire). Diese Eindämmungspolitik wurde aber nur halbherzig betrieben, selbst während der internationalen Hochspannung des Polnisch-Sowjetischen Krieges (1920). Ansonsten blieb das kommunistische Russland weitgehend isoliert und konnte erst durch den Vertrag von Rapallo 1922 mit Deutschland wieder einen bedeutenden Partner finden. Allerdings war Deutschland damals selbst ein Außenseiter auf dem internationalen Parkett.
Gewichtiger waren die politischen Folgen innerhalb des Sowjetstaates. Der Bürgerkrieg wurde zu einem Gründungsmythos der totalitären Diktatur. So war seine Darstellung den jeweiligen Machtverhältnissen unterworfen. Generell wurden in der orthodoxen Geschichtsschreibung der Sowjetunion die ausländischen Interventionen als Hauptfaktoren gesehen. Die inner-russischen Bruchlinien des Krieges, die die Weißen Armeen hervorbrachten, wurden in der marxistischen Ideologie aufgrund ihres angeblichen Klassencharakters mit den ausländischen Mächten gleichgesetzt. Während des Stalinismus wurde die Geschichte des Bürgerkrieges so interpretiert, dass die Rolle Stalins zu Ungunsten seines politischen Rivalen Trotzki hervorgehoben wurde. Der Nationalismus der Kriegsgegner der Weißen Armeen verstärkte noch den Drang der Bolschewiki, jede Form des Patriotismus in Russland zu unterdrücken. Dieser Begriff wurde erst mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Großen Vaterländischen Krieg (russ. Великая Отечественная война), in das Arsenal der Staatsideologie aufgenommen.
Andere Kriegsparteien
Neben den beiden oben genannten Bürgerkriegsparteien der Weißen und der Roten gab es noch eine dritte Gruppe, die sogenannten „Grünen“. Bei ihnen handelte es sich meist um Bauern, die sich den Beschlagnahmungen ihrer Ernten und des Saatguts durch die (rote) Versorgungsarmee widersetzten oder desertierten, sich ins Umland zurückzogen und von dort aus einen Partisanenkrieg gegen die Rote Armee führten. In der Ukraine kämpfte außerdem eine anarchistische Partisanenarmee, ein Arm der nach ihrem Anführer Nestor Machno benannten Machnotschina oder auch Machno-Bewegung. Die Machnotschina kämpfte zunächst gemeinsam mit den Kommunisten gegen die weiße Armee, wurde später jedoch von den Bolschewiki bekämpft und brutal niedergeschlagen.
Erst nach Ende des Bürgerkrieges 1920 konnte die bolschewistische Regierung den umfassenden Widerstand unter der Landbevölkerung durch Erschießungen und Verbringung von Geiseln in Lager brechen: „Ende Juni 1921 befanden sich über 50.000 Bauern in den Konzentrationslagern von Tambov. Am Ende setzte die Rote Armee Flugzeuge und Gasbomben gegen die aufständischen Bauern ein, um sie in den Sümpfen, in die sie geflüchtet waren, ‚auszuräuchern‘.“
Künstlerische Verarbeitungen
Literatur
Die Ereignisse des Bürgerkrieges schlugen sich in zahlreichen Werken der Literatur nieder. Viele der Autoren waren selbst Veteranen des Bürgerkrieges und verarbeiteten autobiographische Elemente in ihren Werken. Romane wie Der stille Don und Doktor Schiwago erregten internationales Aufsehen.
Der stille Don von Michail Scholochow. Mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt.
Der Leidensweg von Alexej Tolstoj. Mit dem Stalinpreis gewürdigt.
Doktor Schiwago von Boris Pasternak. Mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt.
Die Reiterarmee von Isaak Babel. In seinem Erzählband gibt Babel vor allem das Geschehen des Polnisch-Sowjetischen Krieges von 1920 in ungeschönter Form wieder, doch wurde sein Werk als exemplarisches Beispiel für die sowjetische Literatur jener Tage in den 1930er Jahren von der Sowjetregierung zensiert und geriet in Vergessenheit.
Studenten, Liebe, Tscheka und Tod von Alja Rachmanowa. Rachmanowa veröffentlichte 1931 in Österreich ihr Tagebuch aus der Zeit des Bürgerkrieges, das die Leiden der Bevölkerung und das Wüten der Tscheka im Bereich ihrer Heimatstadt Kasli schildert.
Die weiße Garde von Michael Bulgakow. Im zum Teil autobiographischen Roman wird das Kriegsgeschehen in der Ukraine aus weißer Sicht behandelt. Bulgakow war als Arzt während der Kriegsjahre sowohl auf Seiten der ukrainischen Separatisten, der Bolschewiki und der Weißen Armee im Einsatz.
Ich habe getötet, Eine chinesische Geschichte und Die rote Krone von Bulgakow. Es handelt sich um drei teilweise autobiographisch gefärbte Kurzgeschichten.
Blut und Feuer (Russland in Blut gewaschen) von Artjom Wesjoly. Der Roman führt den Leser an verschiedene Schauplätze des Bürgerkriegs, vom Kuban Gebiet und den Kaukasus über die Ukraine bis zur Wolgaregion. Die dabei wechselnden Protagonisten kämpfen für die verschiedenen Fraktionen des Bürgerkrieges. Wesjoly selbst kämpfte auf Seiten der Roten Armee im Bürgerkrieg.
Das schwarze Pferd von Boris Sawinkow. Der Roman beschreibt den Bürgerkrieg aus Sicht eines Weißen Offiziers im Westen Russlands. Nach der Niederlage der Weißen schließt sich dieser den Grünen Partisanen an. Der Autor kämpfte selbst auf Seiten der Weißen Bewegung gegen die Bolschewiki.
Wie der Stahl gehärtet wurde von Nikolai Ostrowski.
Ein Abend bei Claire und Das Phantom des Alexander Wolf von Gaito Gasdanow. Gasdanow kämpfte während des gesamten Bürgerkrieges in den Reihen der Weißen Armee.
Zwischen Weiß und Rot von Edwin Erich Dwinger. Der Zweite Band der Sibirischen Trilogie behandelt in autobiographischer Form den Bürgerkrieg in Sibirien aus der Sicht eines ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen der sich gezwungen sah in die Reihen der weißen Koltschak Armee einzutreten. Der deutsch-russische Schriftsteller Dwinger war als deutscher Kriegsgefangener aus einen Lager geflohen und hatte sich der Weißen Bewegung angeschlossen.
Filme
Filmisch umgesetzt wurde der Bürgerkrieg unter anderem in dem noch heute in Russland populären sowjetischen Werk Tschapajew (1934). Im Westen erreichte die Verfilmung Doktor Schiwago (1965) von Pasternaks Roman ein großes Publikum.
Sorok Perwy = Der Einundvierzigste (UdSSR 1927), Regie: Jakow Alexandrowitsch Protasanow nach der gleichnamigen Novelle von Boris Lawrenjow, 1956 neu verfilmt als Der letzte Schuß (siehe unten).
Tommi (UdSSR 1931), Regie: Jakow Protasanow. Mit A. Schutajew, Michail Kedrow, Wassili Kowrigin.
Гвоздь в сапоге (Nagel im Stiefel) (UdSSR 1931), Regie: Michail Kalatosow
Tschapajew (UdSSR 1934), Regie: Georgi Wassiljew/Sergei Wassiljew. Mit Boris Babotschkin, Leonid Kmit, Warwara Mjasnikowa.
British Agent (USA 1934), Regie: Michael Curtiz. Mit Leslie Howard, Kay Francis.
Henker, Frauen und Soldaten (D 1935), Regie: Johannes Meyer. Mit Hans Albers, Charlotte Susa, Jack Trevor.
Menschen ohne Vaterland (D 1937), Regie: Herbert Maisch. Mit Willy Fritsch, Mária Tasnádi Fekete, Willy Birgel, Grethe Weiser.
Die Dreizehn, OT: Trinadzat (UdSSR 1937), Regie: Michail Romm. Mit Iwan Kusnezow, Andrei Dolinin, Iwan Nowosselzew.
Die Verteidigung von Wolotschajewsk, OT: Wolotschajewskije dni (UdSSR 1937), Regie: Georgi Wassiljew/Sergei Wassilew. Mit Warwara Mjasnikowa, Nikolai Dorochin, Lew Swerdlin.
Lenin im Oktober, OT: Lenin w oktjabre (UdSSR 1939), Regie: Michail Romm. Mit Boris Schtschukin, Nikolai Ochlopkow, Semjon Leontjewitsch Goldschtab.
Lenin 1918, OT: Lenin w 1918 godu (UdSSR 1939), Regie: Michail Romm. Mit Boris Schtschukin, Nikolai Ochlopkow.
Schtschors (UdSSR 1939), Regie: Oleksandr Dowschenko. Mit Jewgeni Samoilow, Iwan Skuratow.
Die Verteidigung von Zarizyn, OT: Oborona Zarizyna (UdSSR 1942), Regie: Georgi Wassiljew. Mit Micheil Gelowani, Nikolai Bogoljubow.
Perwaja konnaja = Die erste Reiterarmee (UdSSR 1941), Regie: Efilm Dzigan, mit Semjon Leontjewitsch Goldschtab, 1984 neu verfilmt (siehe unten).
Das unvergeßliche Jahr 1919, OT: Nesabywajemy god 1919 (UdSSR 1951), Regie: Micheil Tschiaureli. Mit Pawel Molchanow, Micheil Gelowani.
Feindlicher Wirbelwind (UdSSR 1953/1956), Regie: Michail Kalatosow.
Der letzte Schuß, OT: Sorok Perwy = Der Einundvierzigste (UdSSR 1956), Regie: Grigori Tschuchrai
Der stille Don, OT: Tichi Don (UdSSR 1957), Regie: Sergei Gerassimow. Mit Pjotr Glebow, Elina Bystrizkaja, Sinaida Kirijenko.
Kotschubej (UdSSR 1958), Regie: Juri Oserow. Mit Jefim Kopeljan, Nikolai Rybnikow, Pawel Usownitschenko.
Helden der Tscheka, OT: Sotrudnik Tschek (UdSSR 1963), Regie: Boris Woltschok. Mit Walentina Maljawina, Wladimir Kenigson, Oleg Jefremow.
Doktor Schiwago, OT: Doctor Zhivago (USA 1965), Regie: David Lean. Mit Omar Sharif, Julie Christie, Alec Guinness, Klaus Kinski, Geraldine Chaplin.
Bürgerkrieg in Rußland (BRD 1967), Fernsehfilm in fünf Teilen, Regie: Wolfgang Schleif. Mit Nikolai Rytkow, Friedrich G. Beckhaus, Friedrich Schütter.
Teil I: Revolutionsjahr 1917, Teil II: Der Kampf um die Macht, Teil III: Die Konterrevolution, Teil IV: Das Ende in Sibirien, Teil V: Die verratene Revolution
Hochzeit in Malinowka, OT: Swadba w Malinowke (UdSSR 1967), Regie: Andrei Tutyschkin. Mit Wladimir Samojlow, Ljudmila Alfimowa, Walentina Lysenko.
Die Kommissarin (UdSSR 1967/1988), Regie: Alexander Askoldow.
Der rote Reiter (DDR 1970), Regie: Walter Beck. Mit Burkhard Mann, Gerhard Lau, Klaus Pönitz.
Unterwegs zu Lenin (DDR/UdSSR 1970), Regie: Günter Reisch, Co-Regie: Lucia Ochrimenko. Mit Gottfried Richter, Michail Uljanow, Helmut Habel.
Die Flucht, OT: Beg (UdSSR 1970), Regie: Aleksandr Alow/Wladimir Naumow. Mit Ljudmila Saweljewa, Aleksei Batalow, Michail Uljanow.
Weiße Sonne der Wüste, OT: Beloje solnze pustyni (UdSSR 1970), Regie: Wladimir Motyl. Mit Anatoli Kusnezow, Spartak Mischulin, Kakhi Kavsadze.
Fremd unter seinesgleichen, OT: Swoj sredi chuschich, chuschoj sredi swoich (UdSSR 1974), Regie: Nikita Michalkow. Mit Juri Bogatyrjow, Nikita Michalkow.
Der Fangschuß (BRD/F 1976), Regie: Volker Schlöndorff. Mit Margarethe von Trotta, Matthias Habich, Rüdiger Kirschstein.
Bolschaja-malaja woina (Der große kleine Krieg) (UdSSR 1980), auch unter dem Titel Banda Machno (Die Machno-Bande), Regie: Vasile Pescaru. Mit Wiktor Saitow, Gennadi Sajfulin, Jewgeni Lasarow.
Die erste Reiterarmee, OT: Perwaja konnaja (UdSSR 1984), Regie: Wladimir Ljubomudrow. Mit Wadim Spiridonow, Jewgeni Scharikow.
Admiral, OT: Admiral (Russland 2008), Regie: Andrej Krawtschuk. Mit Konstantin Chabenski, Elisaweta Bojarskaja, Sergej Besrukow.
Siehe auch
Geschichte der Sowjetunion
Geschichte Russlands
Fernöstliche Republik
Roter Terror
Weißer Terror
Literatur
In der Datenbank RussGUS werden nachgewiesen:
zum Bürgerkrieg über 40 Publikationen (dort Suche – Formularsuche – Sachnotation: 12.3.4.2.2.2)
zur Intervention über 20 Publikationen (dort Suche – Formularsuche – Sachnotation: 12.3.4.2.3.2)
Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Berlin-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-8270-0243-5.
Manfred Hildermeier: Russische Revolution. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2004, ISBN 3-596-15352-2.
Nikolaus Katzer: Die Weiße Bewegung in Rußland. Böhlau Verlag, Köln 1999, ISBN 3-412-11698-X.
Evan Mawdsley: The Russian Civil War. Birlinn Limited, Edinburgh 2005, ISBN 1-84341-024-9.
Richard Pipes: Russia under the Bolshevik Regime. Random House, New York 1994, ISBN 0-394-50242-6.
Weblinks
Nikolaus Katzer: Russischer Bürgerkrieg auf dekoder.org
Russische Geschichte, Russische Revolution, Russischer Bürgerkrieg (russisch)
Einzelnachweise
Geschichte (Sowjetunion)
Krieg (20. Jahrhundert)
Bürgerkrieg
Krieg (Europa)
Krieg (Asien)
Konflikt 1917
Konflikt 1918
Konflikt 1919
Konflikt 1920
Konflikt 1921
Konflikt 1922 |
23723 | https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A4rtierchen | Bärtierchen | Bärtierchen (Tardigrada) – auch Wasserbären genannt – bilden einen Tierstamm innerhalb der Häutungstiere (Ecdysozoa). Die meistens weniger als einen Millimeter großen achtbeinigen Tiere erinnern durch ihr Aussehen und ihre tapsig wirkende Fortbewegungsweise etwas an Bären, was zu ihrer Bezeichnung im deutschen Sprachraum führte. Auch ihr wissenschaftlicher Name (von , zusammengesetzt aus und ) geht auf die langsame Fortbewegung zurück.
Sie leben weltweit im Meer, Süßwasser oder in feuchten Lebensräumen an Land; besonders häufig findet man sie dort in Mooskissen. Eine Eigenschaft der Tiere ist die Kryptobiose, ein todesähnlicher Zustand, in dem sie extreme Umweltbedingungen überdauern können. Bärtierchen können sich sowohl vom Inhalt von Pflanzenzellen ernähren als auch räuberisch von kleinen Tieren wie Fadenwürmern (Nematoda) oder Rädertierchen (Rotifera), die sie dazu anstechen und aussaugen. Bärtierchen pflanzen sich meistens geschlechtlich fort. Manche Arten vermehren sich aber auch parthenogenetisch, das heißt ohne Beteiligung von Männchen; die Eier der Weibchen entwickeln sich in diesem Fall ohne Befruchtung.
Die nächsten rezenten Verwandten der Bärtierchen sind vermutlich Glieder- (Arthropoda) und Stummelfüßer (Onychophora), mit denen sie das Taxon Panarthropoda bilden.
Aufbau
Die Größe von Bärtierchen liegt zwischen 50 Mikrometern bei einigen Jungtieren und 1,5 Millimetern bei einer Art der Gattung Macrobiotus, beträgt aber meist etwa 100 bis 500 Mikrometer, so dass die Tiere zur Meiofauna gezählt werden. Sie haben einen relativ plumpen, zylindrisch geformten Körper, der bauchseitig abgeflacht ist und oberflächlich gesehen aus vier Körpersegmenten mit je einem Beinpaar und einem Kopfsegment zu bestehen scheint. Dieser äußere, durch Querfalten in der äußersten Hautschicht hervorgerufene Eindruck ist allerdings irreführend: Der nur wenig vom Rest des Körpers abgesetzte und differenzierte Kopf besteht wahrscheinlich nicht aus einem, sondern aus drei miteinander verwachsenen Segmenten, der Körper könnte dagegen nicht aus vier, sondern möglicherweise aus fünf Teilen zusammengesetzt sein.
Meereslebende Arten sind meistens farblos oder unauffällig weiß bis grau gefärbt, während sich bei land- und süßwasserlebenden Formen oft Farben wie Rot, Gelb, Grün, Rosa, Lila oder Schwarz finden. Die Färbung wird entweder durch Pigmente in der Außenhaut, der Cuticula, oder durch den farbigen Inhalt der Leibeshöhle, des Hämocoeloms, oder des Darms hervorgerufen. Oft wandern auch Farbstoffe aus dem Darm in das Hämocoelom und werden von dort aus in der Cuticula abgelagert.
Charakteristischerweise sind viele Gewebe der Bärtierchen eutelisch, das heißt, die Zahl der Zellen, aus denen sie bestehen, ist genetisch festgelegt. Größenwachstum kann daher nicht durch eine Vermehrung der Zellenanzahl, sondern nur durch ein Wachstum der individuellen Zellen selbst stattfinden. Wird (durch experimentellen Eingriff) nach der ersten Zellteilung eine der beiden Tochterzellen abgetötet, entwickelt sich dennoch ein anatomisch vollständiges und lebensfähiges Tier, das dann nur halb so viele Zellen enthält wie normal.
Extremitäten
An vier Rumpfsegmenten entspringt am linken und rechten Rand der Bauchseite (ventrolateral) je ein „Stummelbein“, eine gelenklose Ausstülpung des Rumpfes, wie sie sich auch bei der verwandten Gruppe der Stummelfüßer findet. Gelegentlich werden einzelne Regionen des Beines unterschieden, die man dann als Coxa ("Hüfte"), Femur ("Oberschenkel"), Tibia ("Schienbein") oder Tarsus ("Fuß") bezeichnet. Da die Beine nur wenig differenziert sind, ist die anatomische Grundlage dieser Begriffe fraglich; in jedem Fall sind sie jedoch rein deskriptiv zu verstehen, deuten also nicht auf eine evolutionäre Verwandtschaft mit den entsprechenden Beinbestandteilen der Gliederfüßer hin.
Viele im Meer lebende Arten sind in der Lage, ihre Beine teleskopartig ineinanderzuschieben; dabei helfen ihnen die bei allen Bärtierchen innerhalb des Beines verlaufenden kurzen Muskeln. Am Beinende sitzen meistens vier bis acht, seltener bis zu dreizehn einziehbare Klauen, die manchmal an dünnen Beinauswüchsen, den „Zehen“, sitzen und von speziellen Drüsen, den „Klauendrüsen“, sezerniert werden. Bei einigen Arten sind die Klauen sekundär zu Haftscheiben abgewandelt; bei der Gattung Apodibius sind keine Klauen vorhanden. Oft zeigen die Klauen des vierten Beinpaares in die umgekehrte Richtung wie diejenigen der ersten drei Paare.
Haut
Nach außen wird der Körper durch eine nicht-zellige Außenschicht, die Cuticula, und eine darunterliegende, aus individuellen Zellen bestehende Innenschicht, die Epidermis, begrenzt. Begeißelte Zellen treten in der Bärtierchen-Haut grundsätzlich nicht auf.
Die Cuticula ist 0,5 Mikrometer dick und besteht aus drei Schichten, der äußeren Epicuticula mit einer Stärke von etwa 0,1 Mikrometern, einer darunterliegenden Intracuticula mit einer Dicke von ungefähr 0,2 Mikrometern und einer abschließenden Procuticula, die eine Stärke von etwa 0,25 Mikrometer aufweist. Sie setzt sich aus Chitin, verschiedenen Glykoproteinen, Polysacchariden, Mucopolysacchariden, Lipiden und Lipoproteinen zusammen und enthält bei vielen land- und süßwasserlebenden Arten auch Pigmente. Oft ist sie durch Höcker, Dornen oder Grübchen ornamentiert und bei manchen Arten rückseitig (dorsal), seltener seitlich (lateral), sehr selten auch bauchseitig (ventral) zu dicken Panzerplatten, den Skleriten verhärtet; diese sind dann wie bei den Gliederfüßern gelenkig verbunden. Die Cuticula wird zusammen mit den Beinklauen und der Auskleidung des Vorder- und Hinterdarms einschließlich der in Ersterem enthaltenen Mundwerkzeuge, der Stilette, regelmäßig gehäutet.
Die Epidermis besteht aus einer eutelischen, also innerhalb einer Art immer aus der gleichen Zellzahl bestehenden, einfachen Zellschicht, welche die darüberliegende Cuticula sezerniert. Sie ist von der Leibeshöhle nur durch eine dünne extrazelluläre Trennschicht, die sogenannte Basallamina, abgeteilt.
Hämocoelom
Die Leibeshöhle ist kein echtes Coelom, das heißt, sie ist nicht von einem auf embryonales Mesoderm zurückführbaren Gewebe ausgekleidet. Alle Organe sind von ihr lediglich durch die dünne Basallamina getrennt. Man bezeichnet die Leibeshöhle daher als Pseudo- oder, da sie mit „Blut“ gefüllt ist, als Hämocoelom. Ein echtes Coelom findet sich nur um die einzige Keimdrüse (Gonade) herum.
Das Blut ist farblos und dient nicht dem Sauerstofftransport. Es zirkuliert durch Körperbewegungen; ein eigentlicher Blutkreislauf existiert aber ebenso wenig wie separate Blutgefäße oder ein Herz. Dafür ist es mit bis zu 200 frei schwebenden oder an der Basallamina verankerten Zellen, den Hämozyten, gefüllt, deren erste Aufgabe die Nährstoffspeicherung zu sein scheint; möglicherweise spielen sie auch bei der Bakterienbekämpfung eine Rolle.
Muskulatur
Anders als bei den nahe verwandten Stummelfüßern treten Muskeln bei den Bärtierchen niemals in dicken Muskelschichten auf. Stattdessen besteht die Muskulatur des Rumpfs und der Gliedmaßen aus vereinzelten, dünnen, an der Cuticula befestigten Längsmuskeln, die aus nur wenigen, manchmal sogar nur aus einer einzigen Muskelzelle bestehen. Sie arbeiten entweder gegen das Hämocoel, das wie ein flüssigkeitsgefüllter Ballon als Hydroskelett wirkt, oder antagonistisch gegeneinander wie die Armbeuge- und -streckmuskulatur des Menschen. Ringmuskulatur findet man bei Bärtierchen nicht. Die Muskelzellen sind meistens glatt, selten quergestreift, wobei Letzteres vermutlich der ursprüngliche Zustand ist; glatte Muskulatur ist bei vielen Arten nach einer verbreiteten Hypothese erst sekundär als Anpassung an das Landleben entstanden.
Atmung
Muskeln benötigen für ihre Arbeit Sauerstoff, dessen durchschnittlicher Konsum bei Bärtierchen auf zwischen 0,05 und 0,1 Kubikmillimeter pro Stunde und Milligramm Körpergewicht geschätzt wird. Aufgrund des sehr günstigen Verhältnisses von Körperoberfläche und -volumen sind jedoch keine separaten Atmungsorgane notwendig und dementsprechend auch nicht vorhanden. Der gesamte Gasaustausch kann durch einfache Diffusion über die Haut stattfinden, die dazu allerdings von einem dünnen Wasserfilm bedeckt sein muss.
Verdauungsorgane
Der Verdauungstrakt besteht aus einem langen, von der Vorder- zur Hinterseite des Körpers laufenden Schlauch, der sich in Mundhöhle, Schlund (Pharynx), Speiseröhre, Mitteldarm und Enddarm (Rektum) gliedern lässt. Die ersten drei Abschnitte werden als Vorderdarm (Oesophagus) zusammengefasst, weil ihre aus Cuticula bestehende Auskleidung zusammen mit der cuticulären Hinterdarmauskleidung bei jeder Häutung abgestoßen wird.
Die Mundöffnung befindet sich bei fleisch- oder allesfressenden Arten (Carnivoren und Omnivoren) meistens endständig am Vorderende des Körpers (terminal), bei Arten, die sich von Pflanzen oder organischem Abfall ernähren (Herbivoren und Detritivoren), dagegen oft etwas hinter dem Vorderende auf der Bauchseite (ventral-subterminal). Sie ist vielfach von einem Kranz aus 10 bis 30 harten, quaderförmigen Vorsprüngen, den sogenannten Lamellen (Lamellae) umgeben und sitzt manchmal auf einem Mundkegel, der teleskopartig ausgefahren werden kann.
In die sich anschließende röhrenförmige Mundhöhle mündet links und rechts je eine Speicheldrüse, die nicht nur Verdauungssekrete absondert, sondern auch die für Bärtierchen charakteristischen Stilette synthetisiert. Dieses sind harte, meistens gerade, gelegentlich aber auch gekrümmte Nadeln, die normalerweise im Innenraum (Lumen) der jeweiligen Speicheldrüse liegen, aber mit ihrer scharfen Spitze in die Mundhöhle vorragen können. Durch Pro- und Retraktormuskeln, die an ihrem verdickten Hinterende ansetzen, können sie vorgestreckt oder eingezogen werden. Querverlaufende Stiletthalter verbinden sie mit der Mundhöhle, während ihr Vorderende im eingezogenen Zustand in eigenen Stilettscheiden ruht. Bei carnivoren Arten sind sie meistens etwas kräftiger ausgeprägt als bei herbivoren Formen.
Der Schlund besteht aus radial nach außen laufenden quergestreiften Epithelmuskelzellen, die von der Leibeshöhle durch eine Basallamina abgetrennt sind. Der Schlundinnenraum, das Lumen, ist dagegen von Cuticula ausgekleidet und durch seinen Y-förmigen, triradiaten Querschnitt ideal zum effizienten Erzeugen von Unterdruck geeignet, der dazu genutzt wird, flüssige Nahrung in den Darm einzusaugen. Dieses Pumpenprinzip hat sich unabhängig auch bei anderen, nicht näher verwandten Tieren wie etwa den Rädertierchen entwickelt.
Eine aus würfelförmigen Zellen bestehende kurze Speiseröhre, die vermutlich Schleim sezerniert, stellt die Verbindung zum Mitteldarm her, der aus einschichtigem Epithelgewebe besteht, das manchmal seitliche Ausstülpungen (Mikrovilli) besitzt, die vermutlich dazu dienen, die Oberfläche zu vergrößern. Beim Eintritt in den Darm wird die Nahrung oft durch eine peritrophe Membran eingehüllt, deren Funktion es ist, das empfindliche Darmgewebe vor der Beschädigung durch Fremdkörper zu schützen. Der Mitteldarm sezerniert hydrolytische Enzyme, nimmt Nährstoffe aus der Nahrung auf, speichert diese in Form von Fetten oder Polysacchariden und hat vermutlich auch eine Funktion bei der Ausscheidung von Abfallstoffen. Bei vielen Arten findet sich hier eine umfangreiche Bakterienflora, die vermutlich kommensal, also ohne Beeinflussung ihres Wirts, lebt, teils aber wohl auch als Nahrungsquelle dient.
In einem kurzen, von Cuticula ausgekleideten Enddarm werden die Nahrungsreste gesammelt, möglicherweise auch noch einmal modifiziert und dann durch den bauchseitig, etwas vor dem letzten Beinpaar auf der Mittellinie (medial-ventral) gelegenen Anus an die Außenwelt abgegeben. Bei vielen Arten münden nicht nur die nachfolgend näher beschriebenen Malpighischen Drüsen in den Enddarm ein, sondern auch der Eileiter der Weibchen; man bezeichnet den letzten Darmabschnitt in diesem Fall als Kloake.
Ausscheidungsorgane
Unverdauliche Reste, Abfallprodukte des Stoffwechsels oder Schadstoffe können auf verschiedenem Wege an die Außenwelt abgegeben werden. Zum einen werden von der Epidermis viele Schadstoffe in die darüberliegende Cuticula eingebaut und dann bei der nächsten Häutung zusammen mit dieser abgestoßen. Daneben übernehmen die Speicheldrüsen während der Häutung anscheinend eine Ausscheidungsfunktion. Auch der Darm nimmt nicht nur Nährstoffe auf, sondern gibt wohl auch Schadstoffe aus der Leibeshöhle an das Darmlumen, den Darminnenraum, ab.
Viele Arten, die der Klasse Eutardigrada zugeordnet werden, verfügen daneben noch über drei, sehr selten vier spezialisierte Organe, die man als Malpighische Drüsen bezeichnet. Zwei von ihnen liegen seitlich (lateral), eine liegt rückseitig (dorsal) des Darms. Sie münden an der Verbindungsstelle von Mittel- und Enddarm und dienen sehr wahrscheinlich der Ausscheidung stickstoffhaltiger Abfallstoffe. Obwohl sie strukturell den gleichnamigen Drüsen der Insekten ähneln, handelt es sich wahrscheinlich nicht um homologe Organe, das heißt, sie gehen evolutionsgeschichtlich nicht auf eine gemeinsame Vorgängerstruktur zurück. Da sie bei den als ursprünglich geltenden meereslebenden Arten der zweiten großen Klasse, der Heterotardigrada, nicht vorhanden sind, gelten sie als evolutionäre Anpassung an das Leben im Süßwasser und an Land.
Einige landlebende Formen der Heterotardigrada verfügen an Stelle von Malpighischen Drüsen über spezielle bauchseitig gelegene Organe, die am Ansatz des zweiten und dritten Beinpaares münden und vermutlich eine Ausscheidungsfunktion innehaben. Echte Nephridien, hochentwickelte Ausscheidungsorgane, kommen dagegen bei Bärtierchen grundsätzlich nicht vor.
Nervensystem
Das Nervensystem der Bärtierchen besteht aus einem um den Vorderdarm laufenden Nervenring im Kopf und zwei paarig auf der Bauchseite nach hinten verlaufenden Nervensträngen, die durch Querverbindungen in jedem Rumpfsegment ein sogenanntes Strickleiternervensystem bilden.
Der vordere Nervenring besteht aus einem oberhalb der Mundhöhle gelegenen Oberschlundganglion und einem unterhalb derselben befindlichen Unterschlundganglion, zwei Ansammlungen von Nervenzellen, die durch seitlich des Verdauungstrakts verlaufende Nervenbänder miteinander zu einem Ring verbunden sind und als primitives „Gehirn“ angesehen werden können. Das Oberschlundganglion besteht aus zwei Paaren rückseitig gelegener und zum Hinterende (caudal) ausgerichteter Gehirnlappen, einem inneren und einem äußeren, sowie einem weiteren seitlich der Stilette gelegenen Paar. Das äußere rückseitige Paar innerviert, falls diese vorhanden sind, die Augen und versorgt auch weitere am Kopf befindliche Sinnesorgane, die Cirri und Clavae, mit Nerven. Es ist außerdem in ungewöhnlicher Weise mit den Ganglien des ersten Rumpfsegments verbunden. Diese sind jedoch wie auch bei den verwandten Gliederfüßern in erster Linie durch breite Nervenbänder an das Unterschlundganglion angeschlossen.
Das Bärtierchengehirn entsteht aus der Fusion mehrerer, ursprünglich unabhängiger Ganglien, was als Hinweis auf die Entstehung des Kopfes aus der Verschmelzung mindestens dreier Segmente gewertet werden kann. Auch das Gehirn der eng verwandten Gliederfüßer setzt sich aus mehreren Ganglien zusammen, welche dort die drei Gehirnregionen Proto-, Deuto- und Tritocerebrum bilden. Deswegen wird manchmal vermutet, dass es sich bei den entsprechenden Strukturen um Homologien handelt, also Gewebe, die auf gemeinsame Vorfahren von Bärtierchen und Gliederfüßern zurückgehen. Neuere elektronenmikroskopische Untersuchungen widersprechen dieser Ansicht und kommen stattdessen zu dem Ergebnis, dass das gesamte Gehirn der Bärtierchen evolutionsgeschichtlich dem Protocerebrum der Gliederfüßer entspricht.
Zwei bauchseitig verlaufende Nervenstränge bilden das Rumpfnervensystem. Sie entspringen am Unterschlundganglion und verlaufen parallel zueinander zum Hinterende des Tieres. Jeder Nervenstrang weist vier oder fünf Ganglien auf, die den vier beintragenden Segmenten und vielleicht einem weiteren, beinlosen Genitalsegment entsprechen. Die zwei Ganglien eines Beinsegments sind miteinander durch querlaufende Nervenverbindungen verknüpft.
Sinnesorgane
Viele, aber nicht alle Bärtierchen verfügen über punktförmige, entweder rot oder schwarz gefärbte Augen. Sie sind als sogenannte Pigmentbecherocelli ausgeführt, das heißt, jedes Auge besteht aus einer von zwei Photorezeptorzellen umschlossenen, becherförmigen Pigmentzelle, deren konkave Seite der Körperoberfläche und damit dem Licht zugewandt ist. Sie werden durch die äußeren, rückseitigen Gehirnlappen mit Nerven versorgt und sind in ihrer speziellen Form nur bei Bärtierchen anzutreffen.
Daneben finden sich bei manchen Arten auf den Rumpfsegmenten borstenförmige Sensillen, die vermutlich auf chemische oder Berührungsreize reagieren. Fadenförmige Sensillen, die Cirri, befinden sich besonders bei vielen meereslebenden Arten auf der Kopfrückseite und sind wahrscheinlich Tastsinnesorgane, während Clavae, etwas dickere und von innen hohle Fäden, vermutlich Chemorezeptoren darstellen. Bei vielen Arten finden sich um die Mundöffnung herum angeordnete warzenförmige Erhebungen, die Papillen, die wahrscheinlich ebenfalls eine Funktion bei der Wahrnehmung der Umgebung innehaben.
Fortpflanzungsorgane
Bärtierchen besitzen grundsätzlich nur eine, unpaarig angelegte und von echtem Coelomgewebe umgebene Keimdrüse (Gonade), die oberhalb des Verdauungstrakts gelegen und durch Bänder am Vorderende der rückseitigen Körperwand befestigt ist.
Im Hoden der Männchen werden die begeißelten Spermien gebildet. Von ihm gehen zwei Spermienleiter aus, die sich bauchseitig an der vor dem Anus auf der Körpermittellinie gelegenen, oft röhrenartig vorstehenden Geschlechtsöffnung, der Gonopore, vereinigen und zur Umwelt nach außen öffnen. Die funktionell nicht erklärbare Dopplung der Spermienleiter wird als Hinweis auf den evolutionsgeschichtlichen Verlust einer Keimdrüse gewertet.
Der Eierstock der Weibchen besitzt hingegen nur einen Eileiter, der je nach Art entweder rechts oder links vom Darm liegt. Seine Mündung liegt bei den Arten einer Klasse, den Heterotardigrada, in einer separaten, meistens vor dem Anus gelegenen, Gonopore, bei den Arten der anderen Klasse, den Eutardigrada, dagegen im Hinterdarm, der damit zur Kloake wird. Viele Weibchen besitzen ein bis zwei Samenbläschen, die bei einer Kopulation die Spermien der Männchen aufnehmen und bis zur Eiablage speichern.
Zwittrige Individuen besitzen eine als Ovotestis bezeichnete Keimdrüse, in der sowohl Spermien- als auch Eizellen heranreifen, die durch einen gemeinsamen Ei- bzw. Samenleiter freigesetzt werden können.
Verbreitung
Bärtierchen leben weltweit auf allen Kontinenten einschließlich Antarktika und in allen Ozeanen. Sie finden sich sowohl in mitteleuropäischen Regenrinnen als auch in regelmäßig vereisten arktischen Tümpeln oder tropischen Regenwäldern, in mehr als 6000 Metern Höhe im Himalaja-Gebirge, auf abgelegenen Inseln wie den Südsandwich-Inseln, in der 4690 Meter tief gelegenen abyssalen Zone auf dem Boden des Indischen Ozeans oder mitten im Atlantik auf treibenden Braunalgen. Obwohl sie in allen Klimazonen vorkommen, besteht ein Verbreitungsschwerpunkt in polaren und gemäßigten Breiten.
Erst auf Familien- und Gattungsebene lässt sich eine biogeografische Struktur erkennen, die mit der Trennung des Urkontinents Pangaea in Gondwana und Laurasia in Verbindung gebracht werden kann. Insgesamt zehn Gattungen und 22 Arten sind aber selbst Kosmopoliten, das heißt, auf der ganzen Welt zu finden. Sie gelten als Überbleibsel einer vor der erdgeschichtlichen Epoche der Trias bestehenden Pangaea-Fauna. Die meisten anderen Arten besitzen ein räumlich eingeschränktes Verbreitungsgebiet.
Lebensraum
Nach ihrem Lebensraum (Habitat) lassen sich Bärtierchen grundsätzlich als meeres- (marin), süßwasser- (limnisch) oder landlebend (terrestrisch) beschreiben, wobei die Trennung zwischen den letzten beiden Kategorien nur unscharf ist, weshalb auch der zusammenfassende Begriff limnoterrestrisch häufig Verwendung findet. Alle Bärtierchen sind, obwohl teilweise hochgradig austrocknungsresistent, zum aktiven Leben auf einen dünnen Wasserfilm angewiesen.
Lebensraum Meer
Die marinen Arten leben sowohl in Salz- als auch in Brackwasser und finden sich von der Gezeitenzone hinab über die Flachwasserzone bis in die abyssalen Tiefebenen der Ozeane; mindestens eine Art ist in der Lage, den Wasserdruck zu überstehen, der auf dem Boden des Marianengrabens herrscht. Ist der Meeresgrund schlammig ausgebildet, haben sich die dortigen benthischen Bärtierchen meistens durch einen starken wurmförmigen Körper mit verkürzten Extremitäten an ihre Umgebung angepasst; in sandigem oder gerölligem Untergrund, der Spalten und Ritzen bietet, finden sich dagegen eher Tiere mit kräftig ausgebildeten Stummelbeinen. Eine Art hat sich anscheinend auf Manganknollen als Lebensraum spezialisiert, während andere in ausgedehnten Algenteppichen oder auf Tieren wie Steinkorallen (Scleractinia), Moostierchen (Bryozoa), Muscheln (Bivalvia), Asseln (Isopoda), Rankenfußkrebsen (Cirripedia), Seeigeln (Echinoidea) oder Seewalzen (Holothuroidea) leben, teils kommensal, also ohne Beeinflussung des Wirts, teils aber auch parasitär. Mindestens eine Art lebt auf treibenden Sargassum-Algen mitten auf dem offenen Ozean in der Sargassosee. Zum Land hin findet sich an fast allen Stränden eine ausgeprägte Sandlückenfauna in den obersten Zentimetern des Bodens, wo die Tiere zwischen einzelnen Sandkörnern leben. Sind mehrere Arten vorhanden, verteilen sie sich meistens auf unterschiedliche Mikrolebensräume, die sich durch Feuchtigkeits- oder Temperaturunterschiede voneinander abgrenzen lassen. Den Übergang zu den terrestrischen Formen bilden diejenigen Bärtierchen, die in marinen Flechten leben, welche sich oberhalb des bei Flut gewöhnlich erreichten Wasserspiegels auf Felsgeröll angesiedelt haben und normalerweise nur von der salzigen Gischt erreicht werden.
Lebensraum Süßwasser
Die im eigentlichen Sinne limnischen Arten leben sowohl in Fließgewässern als auch in Seen, Teichen, Tümpeln oder auch einzelnen Pfützen. Innerhalb eines Sees bilden Bärtierchen meistens einen Bestandteil der bodenlebenden Sandlückenfauna; Funde aus bis zu 150 Metern Tiefe sind bekannt. Die Tiere leben meistens in den obersten, sauerstoffhaltigen Zentimetern des Bodens, finden sich zum Seeufer hin, wo lockerer Sand die Tiere ernsthaft verletzen könnte, aber meistens etwas tiefer. Daneben werden auch Algen oder Wasserpflanzen besiedelt, an der Seeoberfläche finden sich Bärtierchen gelegentlich in Seerosen.
Oft lassen sich einzelne Individuen in Regenrinnen aufspüren; die Tiere werden vermutlich von Moosen des Dachs gewaschen, sodass sie als terrestrisch gelten. Schließlich bilden auch heiße Quellen einen von manchen Arten besiedelten Süßwasser-Lebensraum.
Lebensraum Land
Die wichtigsten terrestrischen Habitate sind Moosrasen; die dort lebenden Arten werden als moosliebend oder bryophil bezeichnet. Weil Moose in den Zwischenräumen Wasser speichern, können sie allerdings auch als aquatische Lebensräume angesehen werden. Oft finden sich unterschiedliche Arten in den verschiedenen Zonen des Mooses; die Bärtierchen-Faunen der Rhizoidschicht, mit der die Moose im Boden verwurzelt sind, und der photosynthetisch aktiven, aber austrocknungsgefährdeten Außenschicht sind zum Beispiel nicht identisch. Daneben finden sich die Tiere auch in Flechten oder geeigneten Blütenpflanzen wie etwa Bromelien (Bromeliaceae), Kannenpflanzen (Nepenthaceae), in Steinbrech (Saxifraga), Mannsschild (Androsace) oder Karden (Dipsacus). Bei all diesen Pflanzen sammelt sich etwa in den Blattansätzen oder anderen becherförmigen Pflanzenteilen Wasser; sie werden damit für Bärtierchen zu einem Miniaturlebensraum.
Daneben finden sich Bärtierchen häufig in der Laubstreu von Wäldern oder im Boden selbst, wobei Buchenwälder anscheinend besonders beliebt sind. Ein etwas ausgefalleneres Habitat sind die Gletscher der Hochgebirge: Dort können dunkle Ablagerungen von Staub oder feinkörnigem Geröll tagsüber zur Wärmeabsorption und damit zum vorübergehenden Antauen der Oberfläche führen; in der dabei entstehenden, wässrigen Kryokonit-Schicht lassen sich ebenfalls Bärtierchen finden. Städtische Lebensräume wurden bisher noch kaum untersucht.
Bärtierchen sind nur dann aktiv, wenn sie selbst in ihrem jeweiligen Substrat zumindest von einem dünnen Wasserfilm bedeckt sind, so dass sie in ariden Gebieten wie etwa Wüsten nicht leben können. Viele terrestrische Arten sind allerdings extrem austrocknungsresistent und können daher regelmäßige Trockenperioden und auch Temperaturextreme gut überstehen. Diesen grundlegenden ökologischen Vorteil, den sie mit manchen Rädertierchen (Rotifera) teilen, können sie gegenüber konkurrierenden Tieren wie etwa Fadenwürmern (Nematoda) dort am besten ausspielen, wo der Feuchtigkeitsgehalt der Umgebung starken Schwankungen unterworfen ist, was zumindest teilweise die große Vorliebe vieler Bärtierchenarten für Moose und Flechten erklärt, die in sehr kurzer Zeit austrocknen oder mit Wasser geflutet werden können. Die Besiedlung dieser Lebensräume, zu denen wenige andere Tiere Zugang haben, gilt als ein wichtiger Grund für den großen evolutionären Erfolg der Bärtierchen.
Populationsdichten
Genaue Angaben über Populationsdichten liegen nur für wenige Arten und auch dort bisher nur in Stichproben vor: An Sandstränden fanden sich so pro Kubikzentimeter Sand bis zu 35 Individuen, in Böden wurden bis zu 30 Individuen pro Quadratzentimeter Oberfläche gezählt, während Mooskissen mit etwa 200 Individuen pro Quadratzentimeter erwartungsgemäß einen sehr eng besiedelten Lebensraum darstellen. In der Regel liegen die Populationsdichten jedoch deutlich unter diesem Höchstwert. Soweit es sich aufgrund der bisher noch unzureichenden Datenlage sagen lässt, sind die Individuenzahlen meereslebender Arten meistens wesentlich kleiner als diejenigen der land- oder süßwasserlebenden Formen.
Populationsdichten können durch Temperatur und Feuchtigkeit, das Nahrungsangebot, die Zahl der Parasiten und Fressfeinde oder durch Umweltschadstoffe beeinflusst sein und schwanken bei den limnoterrestrischen Arten meistens jahreszeitbedingt, wobei sich oft im Frühjahr und Frühsommer ein erster und im Herbst ein zweiter Höhepunkt feststellen lässt.
Transport und Fortbewegung
Die Verbreitung von Bärtierchen erfolgt nur in sehr untergeordnetem Maße durch aktive Fortbewegung; die meisten Tiere werden stattdessen durch Wind, Wasser oder Tiere in neue potentielle Lebensräume verbracht. Dieser passive Transport betrifft in erster Linie die Eier der Tiere sowie Zysten und Tönnchen – gegenüber Umweltextremen in größerem oder extremem Maße unabhängige Lebensstadien.
Marine Arten lassen sich in Ozeanströmungen treiben, wobei ihnen vermutlich spezielle segelartige Auswölbungen ihrer Außenhaut helfen. Limnoterrestrische Arten werden auf dieselbe Weise manchmal von über die Ufer tretenden Fließgewässern oder von Schmelzwasser transportiert. Zeitweilig ausgetrocknete Habitate erlauben eine Verbreitung von Eiern oder Cysten mit dem Wind (Anemochorie), während kleinere Strecken in Wasserspritzern überbrückt werden können. Während eines Unwetters vor Grönland konnten sogar ausgewachsene Tiere in fallenden Regentropfen nachgewiesen werden, die wahrscheinlich zuvor vom Sturm aufgewirbelt wurden. Vermutlich bringen auch Insekten oder Vögel, an denen die Eier oder Zysten haften bleiben, Bärtierchen in neue Habitate (Zoochorie).
Zur aktiven Fortbewegung benötigen alle Arten einen dünnen umgebenden Wasserfilm. Sie nutzen dann die Beine der ersten drei Rumpfsegmente, die im Gegensatz zu den verwandten Stummelfüßern nicht nur paarweise, sondern auch einzeln bewegt werden können, um etwa über Sandkörner zu krabbeln oder in Mooskissen herumzuklettern. Die an den Beinen sitzenden Klauen oder Haftscheibchen werden dazu eingesetzt, das jeweilige Substrat zu ergreifen. Anders als die ersten drei Beinpaare dienen die hinteren beiden Gliedmaßen dazu, sich am Untergrund festzuhalten, bei manchen Arten auch zur Rückwärtsbewegung; an diese abgewandelte Funktion sind sie durch die unterschiedliche Klauenausrichtung angepasst. Die größte experimentell gemessene Laufgeschwindigkeit liegt bei 17,7 Zentimetern pro Stunde; der Wert lässt den lateinischen Namen der Gruppe, Tardigrada, der sich aus dem Lateinischen ‚langsam‘ und ‚Schritt‘ ableitet, also „Langsamschreiter“ bedeutet, angebracht erscheinen.
Phototaxis, also die Hin- oder Wegbewegung zu und von Lichtquellen, ist noch sehr unzureichend untersucht. Jungtiere reagieren anscheinend negativ photokinetisch, das heißt, sie reagieren auf Lichteinstrahlung mit schnelleren Bewegungen und spontanen Richtungsänderungen, ohne dass sich eine gezielte Vermeidungsreaktion feststellen ließe. Da Lichteinstrahlung oft mit Wärmestrahlung und nachfolgender Wasserverdunstung verbunden ist, hängt dieses Verhalten vielleicht mit der für Jungtiere bedrohlicheren Austrocknungsgefahr zusammen.
Eine marine Art ist in der Lage, aktiv zu schwimmen; ihre Cuticula ist glockenförmig ausgedehnt und kann durch Kontraktion einen gerichteten Wasserstrahl ausstoßen; die Tiere bewegen sich also wie Quallen nach dem Rückstoßprinzip.
Ernährung
Die meisten Bärtierchen ernähren sich vegetarisch, hauptsächlich von Algenzellen, die sie entweder freilebend oder in Flechten finden. Die pflanzlichen Zellen der Moose gehören dagegen selbst bei den permanent dort lebenden Tieren nur selten zum Nahrungsspektrum. Bodenbewohnende Arten nehmen neben Algen zusätzlich auch organische Abfälle mitsamt den darin enthaltenen Bakterien und Pilzsporen auf; manche Formen leben aber auch ganz oder teilweise räuberisch. Zu ihrem Beutespektrum gehören Protozoen, Rädertierchen (Rotifera) und Fadenwürmer (Nematoda), aber auch andere Bärtierchen. Einige marine Arten leben als Ectoparasiten auf der Haut von Seewalzen oder Rankenfußkrebsen. An Land sind Bärtierchen wegen der beständig existierenden Austrocknungsgefahr an eine parasitische Lebensweise nur schlecht angepasst; eine einzige Art ist hier bekannt, die möglicherweise endoparasitisch in Landlungenschnecken lebt.
Zum Fressen pressen Bärtierchen ihren Mundkegel gegen die betroffene Pflanzenzelle, die Haut ihrer Beute oder die Körperwandung ihres Wirts. Durch Vorschieben der nadelscharfen Stilette werden diese dann angestochen und der Zell- oder Körperinhalt ausgesaugt. Besonders große Arten können dagegen nicht nur flüssige Nahrung aufnehmen, sondern ihre Beute auch als Ganzes einsaugen; davon sind insbesondere kleinere Räder- und Bärtierchen betroffen.
Fressfeinde, Parasiten und Kommensalen
Die wichtigsten Fressfeinde von Bärtierchen sind andere Bärtierchenarten, Rädertierchen (Rotatoria) und Fadenwürmer, daneben auch Milben (Acari), Spinnen (Araneae), Springschwänze (Collembola), verschiedene Insektenlarven, aber auch in unspezifischer Weise „grasende“ Organismen wie Regenwürmer (Lumbricidae) oder diverse Süßwasserkrebse.
Einige Bärtierchen fallen fleischfressenden Pilzen zum Opfer, deren feine Zellfäden (Hyphen) zu Schlingen verflochten sind, in denen sich ihre Beute verfängt, und die daraufhin in die gefangenen Tiere einwachsen. Andere Pilze wie etwa Harposporium, das ungeschlechtliche Stadium der Schlauchpilzgattung Atricordyceps, geben Konidien, asexuelle Sporen, ab, die vermutlich, sobald sie von Bärtierchen gefressen werden, im Darm auskeimen und ihre Opfer von innen verdauen. Möglicherweise penetriert der Pilz aber auch von außen die Cuticula der Tiere. Weitere wichtige Pilzparasiten von Bärtierchen sind die Töpfchenpilzart Sorochytrium milnesiophthora und die Jochpilze Ballocephala sphaerospora und Ballocephala verrucospora.
Vermutlich gibt es eine ganze Reihe von Parasiten unter den Protozoen; näher untersucht wurde bisher aber erst das Wimpertierchen Pyxidium tardigradum, das bevorzugt Bärtierchen befällt. Es lebt vermutlich als Symphoriont, das heißt, es lässt sich von seinem Wirt nur verbreiten, wird ihm aber selbst anscheinend nicht gefährlich.
In marinen Bärtierchen finden sich oft zahlreiche symbiotische Bakterien; auch die landlebenden Formen besitzen meistens eine reiche bakterielle Darmflora. Das Proteobakterium Xanthomonas campestris, ein wichtiger Pflanzenschädling, wird vermutlich von Bärtierchen übertragen.
Häutung
Größenwachstum ist bei Bärtierchen nur durch regelmäßige Häutungen möglich. Dabei wird die nicht-zellige Außenhaut (Cuticula) mitsamt den Stiletten, der Auskleidung des Vorder- und Hinterdarms und den Beinklauen abgestoßen. Die Häutung beginnt immer am Vorderende der Tiere, und zwar damit, dass die alten Stilette und die Cuticula von Mundhöhle und Vorderdarm ausgestoßen werden. Dadurch, dass sich der Körper zeitweilig zusammenzieht, löst er sich von der alten Haut, die dann abgestreift und als leeres Häutungshemd (Exuvium) zurückgelassen wird. Während dieses normalerweise etwa 5 bis 10 Tage dauernden Vorgangs befinden sich die Tiere im stilettlosen Simplexstadium, in dem sie keine Nahrung aufnehmen können. Bereits während der Häutung wird neue Cuticula von der unterliegenden Epidermis gebildet, während die neuen Stilette in den Speicheldrüsen synthetisiert und die Klauen von speziellen Klauendrüsen aufgebaut werden.
Bei einzelnen Individuen konnten bis zu 13 Häutungen im Laufe ihres Lebens nachgewiesen werden; sie dienen, abgesehen davon, dass sie lebenslanges Wachstum erst möglich machen, auch dazu, den Körperinnendruck zu verringern, in der Cuticula gespeicherte Abfallstoffe abzustoßen oder Parasiten zu entfernen. Viele Arten legen ihre Eier in die Häutungshemden ab.
Resistenzstadien
Viele Bärtierchen haben einzigartige Anpassungen entwickelt, um Trockenheitsperioden, Kälteeinbrüche, starke Schwankungen im Salzgehalt des Wassers oder Sauerstoffmangel überstehen zu können. Ein Beitrag zur Robustheit ist ihre Eutelie: Nach der Embryonalentwicklung findet Zellteilung mit ihren empfindlichen Phasen kaum mehr statt (außer in der Keimbahn). Daraus folgt bereits eine sehr hohe Strahlenresistenz (abgesehen von Sterilität), zum Vergleich siehe die Tabelle in →Strahlenschäden. Zudem passen sich einige Arten den Jahreszeiten durch morphologische Umstellungen an, andere können dickwandige Zysten bilden. Die extreme Form der Anpassung ist jedoch die sogenannte Kryptobiose, bei der die Tiere in einen todesnahen Zustand übergehen, in dem sich keinerlei Stoffwechselaktivität mehr registrieren lässt. Alle Resistenzstadien dienen dem Überstehen widriger Umweltbedingungen und verschaffen Bärtierchen dadurch einen evolutionären Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Tiergruppen. Sie spielen daneben auch eine Rolle beim passiven Transport der Tiere in neue potentielle Lebensräume. Das Bärtierchen ist auch das erste Tier, von dem bekannt wurde, dass es im Weltall überleben kann.
Cyclomorphose
Als Cyclomorphose bezeichnet man die regelmäßige Änderung der Körperform in Reaktion auf zyklisch auftretende Veränderungen der Umweltbedingungen. Meistens wandeln sich die als Morphe bezeichneten Lebensstadien der Tiere jahreszeitlich bedingt ineinander um. Cyclomorphose ist bis jetzt nur von meereslebenden Bärtierchen aus den Gattungen Halobiotus, Amphibolus und Hypsibius bekannt. Das bisher am besten untersuchte Beispiel findet sich bei der Art Halobiotus crispae, die in der Gezeitenzone Grönlands lebt: Hier lässt sich eine Pseudosimplex genannte Wintermorphe von einer Sommermorphe unterscheiden. Erstere ist in der Lage, Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt zu überstehen, und bleibt auch bei niedrigen Temperaturen beweglich, sie ist dafür aber steril; nur die weitaus weniger resistente Sommermorphe ist fortpflanzungsfähig.
Zysten
Besonders in Süßwasser lebende Arten, aber auch solche, die Moose oder Laubstreu besiedeln, sind in der Lage, als Zysten bezeichnete Resistenzstadien zu bilden. Dazu ziehen sich die Tiere auf 20 bis 50 Prozent ihrer ehemaligen Körpergröße zusammen, reduzieren ihren Stoffwechsel und bauen teilweise auch ihre inneren Organe ab. Dieser Vorgang wird von bis zu drei unvollständigen, unmittelbar aufeinanderfolgenden Häutungen begleitet, an deren Ende das Tier von einer mehrwandigen Umhüllung aus Cuticula-Schichten umgeben ist. In diesem Zustand können die Tiere mehr als ein Jahr überleben. Sobald sich die Umweltbedingungen geändert haben, können sich die Tiere innerhalb von 6 bis 48 Stunden wieder aus ihrer Umhüllung befreien.
Zysten bilden sich grundsätzlich nur im Wasser; sie sind bei weitem nicht so widerstandsfähig wie die weiter unten erwähnten Tönnchen und im Gegensatz zu diesen aufgrund ihres Wassergehalts auch nicht hitzeresistent.
Anoxybiose
Als Anoxybiose bezeichnet man die Toleranz gegenüber Sauerstoffmangel. Wenn die Konzentration dieses Atemgases zu niedrig liegt, bricht die Osmoregulation zusammen, die Tiere nehmen Wasser auf und schwellen deutlich an. Der gesamte Stoffwechsel muss nun anaerob stattfinden, giftige Abfallprodukte sammeln sich in der Leibeshöhle an. Die meisten Bärtierchen sind dennoch in der Lage, einen solchen Zustand für 3 bis 5 Tage zu überstehen; es wird sogar berichtet, dass einzelne Individuen aus der Gattung Echiniscoides in der Lage waren, bis zu 6 Monate in einem verschlossenen Reagenzglas mit verwesenden Rankenfußkrebsen zu überleben. Die Rückkehr in den Normalzustand dauert abhängig von der Zeitdauer des anoxybiotischen Stadiums einige Minuten bis wenige Stunden.
Anoxybiose ist besonders in Lebensräumen wichtig, in denen die Sauerstoffkonzentration zeitweilig stark abfallen kann, etwa in großen statischen Wassermassen. Bärtierchen, die in der Gezeitenzone auf Algenteppichen leben, sind bei Ebbe ebenfalls extremem Sauerstoffmangel ausgesetzt und gehörten vielleicht evolutionsgeschichtlich zu den ersten, die diese Anpassung erworben haben.
Osmobiose
Osmobiose ist die Fähigkeit, Schwankungen im Salzgehalt des Wassers zu tolerieren. Bärtierchen sind wie die meisten Tiere nur dann lebensfähig, wenn die Ionenkonzentration des Wassers innerhalb gewisser Grenzen liegt. Dennoch können vor allem solche Arten, die in der Gezeitenzone leben, für einen kurzen Zeitraum erstaunlich große Schwankungen in der Salzkonzentration überleben. Viele Arten bilden in sehr salzigem Wasser die unten näher beschriebenen Tönnchen; dieses ist jedoch ein Sonderfall der unten erläuterten Anhydrobiose und eine direkte Antwort auf die mit dem hohen Salzgehalt der Umgebung einhergehende innere Austrocknung. Tönnchenbildung wird daher formal nicht als eigentlich osmobiotisches Phänomen angesehen.
Kryobiose
Als Kryobiose bezeichnet man die Fähigkeit, niedrige Temperaturen überstehen zu können. Sie ist eine Erscheinungsform der Kryptobiose, die durch eine nahezu totale Beendigung des Stoffwechsels charakterisiert ist. Es tritt ein sogenannter Dormanzzustand ein. Die unten näher beschriebene Bildung von Tönnchen ist dabei möglich, aber nicht zwingend.
Bei einem langsamen Abfall der Temperatur findet eine allmähliche Umstellung des Stoffwechsels statt, weil die meisten Enzyme ihre Aktivität verlieren und stattdessen tieftemperaturaktive Katalysatoren wirksam werden, die den Zucker Trehalose und andere kryoprotektive Substanzen synthetisieren: Diese schützen die empfindlichen Biomembranen und ersetzen das an die lebenswichtigen Moleküle gebundene Wasser. Besonders in der extrazellulären Körperflüssigkeit wird durch bislang unidentifizierte mittelschwere Moleküle, die als Gefrierkeime wirken, ein kontrolliertes Wachstum von Eiskristallen angeregt, die durch Antigefrierproteine bei geringer Größe stabilisiert werden.
Auf diese Weise ist es den Tieren möglich, Temperaturen bis weit unterhalb des Gefrierpunkts zu überstehen. Diese Fähigkeit erlaubt erst eine Besiedelung der Polarregionen und Hochgebirgsgletscher, wo die Umgebungstemperaturen regelmäßig unter den Gefrierpunkt fallen. Die Unterart Echiniscus sigismundi groenlandicus überdauert zum Beispiel 6 bis 8 Monate eingefroren im Wintereis und toleriert in der Übergangszeit regelmäßiges Tauen und Gefrieren im Wechsel der Gezeiten.
Bärtierchen überstanden sogar zehn Tage im freien All. Mit dem Satelliten FOTON-M3 hatte die ESA 2007 mehrere Proben mit Bärtierchen im All dem Vakuum, der Kälte und UV-Strahlung ausgesetzt. Nach ihrer Rückkehr fanden die Wissenschaftler selbst unter denjenigen Bärtierchen Überlebende, die den extremsten Bedingungen ausgesetzt waren.
Weil Bärtierchen bei genügend langsamem Abkühlen Extremtemperaturen von −273 Grad Celsius überstehen können, wurde vereinzelt vermutet, dass sie außerirdische Lebensformen seien. Solche Temperaturen wurden in ihrem natürlichen Lebensraum niemals auch nur annähernd erreicht, und die Fähigkeit könne somit nicht auf der Erde durch natürliche Selektion entstanden sein. Gegen diese Auffassung spricht, dass ein Lebewesen, das auf der Erde Minusgrade überdauert, indem es Wasser in seinem Gewebe durch schützende Substanzen wie Trehalose ersetzt und den Gefrierprozess selbst kontrolliert, ohne weitere evolutionäre Anpassungen auch Temperaturen von −273 Grad Celsius potentiell überdauern kann. Bärtierchen sind multizelluläre Polyextremophile.
Anhydrobiose
Anhydrobiose ist die Fähigkeit, eine Austrocknung des Körpers durch starke Wasserverluste überstehen zu können. Sie findet sich bei fast allen landlebenden Arten und ist mit der Bildung walzenförmiger, unbeweglicher Resistenzstadien, der Tönnchen, verbunden. Weil im anhydrobiotischen Zustand bei Tönnchen kein Stoffwechsel mehr nachweisbar ist, fällt auch die Anhydrobiose unter den Oberbegriff Kryptobiose.
Bei manchen Arten sammeln sich zahlreiche Individuen vor der eigentlichen Tönnchenbildung und bilden ein loses Knäuel. Diese Aggregation wird als Verhaltensanpassung gewertet und schirmt wohl insbesondere die innenliegenden Tiere etwas stärker von Umwelteinflüssen ab, so dass der Austrocknungsprozess bei ihnen etwas langsamer vor sich geht – eine zu schnelle Dehydrierung kann auch bei Bärtierchen zum Tod führen.
Die Tönnchenbildung beginnt mit morphologischen Reaktionen: Die Beine werden eingezogen und die Körperoberfläche insgesamt stark verkleinert. Durch Poren in der Cuticula werden zunehmend Lipide, fettlösliche Substanzen, abgegeben, die unter anderem vor Pilzangriffen schützen sollen. Durch einen Phasenwechsel dieser Lipide wird die Cuticula zu einem spezifischen Zeitpunkt abrupt wasserundurchlässig. Dieses verringert die Wasserverdunstung und erlaubt eine erneute Verlängerung der Vorbereitungszeit auf den anhydrobiotischen Zustand, während deren schützende Verbindungen synthetisiert werden müssen.
Das Hauptproblem bei der Anhydrobiose besteht darin, dass die strukturelle Integrität von wichtigen Makromolekülen wie Proteinen, Phospholipiden oder Nukleinsäuren um jeden Preis erhalten bleiben muss, da ansonsten in den Zellen irreversible Schäden entstehen würden. Die meisten dieser Verbindungen sind von lose angebundenen Wassermolekülen umgeben, deren Verlust unkontrollierte Reaktionen zwischen ihnen auslösen würde. Die von den Bärtierchen im Verlauf ihrer Evolutionsgeschichte gefundene Lösung des Problems besteht darin, das gebundene Wasser während einer Dehydrierung (Austrocknung) durch andere Verbindungen zu ersetzen, die bei einer Rehydrierung (Benetzung durch Wasser) leicht wieder abgebaut werden können. Die wichtigste dieser Verbindungen ist der Zucker Trehalose, der während der Vorbereitung auf den anhydrobiotischen Zustand in großen Mengen produziert und manchmal um den Faktor 23 gegenüber dem Ausgangszustand angereichert wird. Er schützt nicht nur die Biomembranen und unterbindet Reaktionen zwischen den entwässerten Proteinen und anderen Zellbestandteilen wie Kohlenhydraten, sondern verhindert auch unkontrollierte Oxidationen, die ebenfalls wichtige Makromoleküle zerstören könnten. Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Bärtierchen einen neuen Typ ungeordneter Proteine besitzen, die bei Austrocknung vermehrt produziert werden und vitrifizieren, das heißt ein glasähnliches, schützendes Material bilden. Neben dieser Proteinfamilie und Trehalose spielt vermutlich auch Glycerin eine Rolle bei diesen Vorgängen. Lipidtröpfchen fällt unterdessen die Aufgabe zu, Körpergewebe voneinander getrennt zu halten, die im normalen Zustand nicht Gefahr laufen, sich zu nahe zu kommen, im Tönnchenzustand jedoch in Kontakt geraten und unerwünschte Vernetzungsreaktionen auslösen könnten. Bis die Tiere aus dem Normalzustand ein stabiles Tönnchenstadium erreicht haben, dauert es etwa 5 bis 7 Stunden.
Sobald die Tiere den anhydrobiotischen Zustand erreicht haben, ist zumindest in trockener Umgebung keinerlei Stoffwechselaktivität mehr nachweisbar; insbesondere fällt der Sauerstoffverbrauch auf Null. In diesem Stadium können die Tiere extreme Austrocknung, das Einbringen in Salzlake, Äther, reines Ethanol oder flüssiges Helium, Temperaturen zwischen −196 °Celsius und +90 °Celsius, großen hydrostatischen Druck und Vakuum überstehen.
Sobald wieder genügend Wasser vorhanden ist, findet die Rücktransformation in den Normalzustand, die Restitution, statt. Dazu wird die Trehalose aerob, also unter Nutzung von Luftsauerstoff, abgebaut und wieder durch Wasser ersetzt. Die Erholungszeit ist abhängig von der Temperatur, dem Sauerstoffgehalt und dem pH-Wert der Umgebung sowie von der im kryptobiotischen Zustand verbrachten Zeit und schwankt darüber hinaus auch von Art zu Art etwas. In den meisten Fällen liegt sie zwischen zehn Minuten und mehreren Stunden, bei sehr lange andauerndem Tönnchenzustand auch bei einigen Tagen.
Ob die Rückkehr in ein aktives Lebensstadium erfolgreich ist, hängt in erster Linie vom korrekten Ablauf der Tönnchenbildung und vom Ernährungszustand der Tiere ab. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Lipidreserven, die nicht nur wie oben erwähnt selbst eine Rolle im kryptobiotischen Zustand spielen, sondern auch in Glycerin und Trehalose umgewandelt werden können und darüber hinaus auch Energie für den Restitutionsvorgang bereitstellen. Solange die Tiere die Möglichkeit haben, diese Reserven in regelmäßigen Abständen aufzufrischen und darüber hinaus jede Austrocknung nur langsam stattfindet, können sie in regelmäßigen Abständen aus dem aktiven in den anhydrobiotischen Zustand übergehen und umgekehrt. Individuen aus der Gattung Echiniscoides, die in der Gezeitenzone leben, können zum Beispiel experimentell in einen Zyklus mit sechsstündlicher Periode versetzt werden.
Bärtierchen im kryptobiotischen Zustand werfen Fragen nach der Definition von Leben auf: So werden als charakteristische Merkmale eines lebenden Organismus häufig Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung angeführt. Keine dieser Eigenschaften findet sich jedoch im Tönnchenstadium, so dass man die Rückkehr in den aktiven Zustand mit den Worten von Lazzaro Spallanzani, einem italienischen Naturforscher des 18. Jahrhunderts, als „Wiederauferstehung von den Toten“ bezeichnen könnte. Andererseits kehren zwar viele, aber nicht alle Bärtierchen aus dem anhydrobiotischen Stadium wieder in einen aktiven Zustand zurück, was den Tardigradologen John H. Crowe 1975 zu der Frage veranlasste:
Does this then mean that they "died" while they were "dead"?
Bedeutet das dann, dass sie „gestorben“ sind, während sie „tot“ waren?
Nach Crowes Auffassung kann die Definition von Leben nicht auf einzelne Merkmale reduziert werden; er sieht stattdessen das Fortbestehen der strukturellen Kontinuität und Integrität eines lebenden Systems als im Wortsinne „lebensnotwendig“ an.
Fortpflanzung und Lebenszyklus
Bärtierchen können sich sowohl ungeschlechtlich als auch auf geschlechtliche Weise vermehren. Die meisten Arten pflanzen sich aber ausschließlich sexuell fort.
Asexuelle Fortpflanzung
Asexuelle Fortpflanzung ist nur durch Parthenogenese möglich, also die Reifung unbefruchteter Eier, die sich anschließend zu Weibchen entwickeln. Sie kommt bei einer Reihe von Arten, unter anderem aus den Gattungen Echiniscus und Pseudoechiniscus vor. Männliche Tiere sind oft nicht bekannt, auch wenn in manchen Fällen nachträglich Zwergmännchen beschrieben werden konnten. Bei diesen und anderen Arten lässt sich ein Nebeneinander von parthenogenetischer und sexueller Fortpflanzung feststellen; die Männchen sind dabei grundsätzlich in der Lage, geeignete, sexuell aktive, von ungeeigneten, sich parthenogenetisch reproduzierenden Weibchen zu unterscheiden. Ein wichtiger Vorteil, der mit Parthenogenese einhergeht, ist der fehlende Aufwand für die Partnersuche, ein gravierender Nachteil die Verringerung der genetischen Vielfalt. Die negativen Folgen davon werden allerdings teilweise durch die Fähigkeit, widrigen Umwelteinflüssen durch Kryptobiose einfach auszuweichen, kompensiert.
Sexuelle Fortpflanzung
Sexuelle Fortpflanzung bedingt bei Bärtierchen meistens, allerdings nicht immer, die Existenz zweier getrennter Geschlechter. Einige hermaphroditische (zwittrige) Arten sind bekannt, die zur Selbstbefruchtung in der Lage sind; Ei- und Samenzellen reifen bei ihnen in derselben Keimdrüse heran. Auch sie haben den Vorteil, keine Energie auf die Partnersuche aufwenden zu müssen, unterscheiden sich aber von parthenogenetischen Individuen, die sich letztlich klonen, durch die Möglichkeit genetischer Rekombination.
Für die überwiegende Mehrzahl der Arten existieren hingegen getrennte Geschlechter, die sich allerdings äußerlich nicht immer leicht unterscheiden lassen. Wo detaillierte Untersuchungen zur Populationsstruktur vorliegen, lässt sich fast immer ein deutliches Übermaß an Weibchen konstatieren.
Die Befruchtung kann sowohl außer- als auch innerhalb des Körpers der Weibchen stattfinden, die Eiablage ist für die Weibchen meistens mit einer Häutung verbunden. Die Einzelheiten beider Vorgänge hängen unter anderem vom Lebensraum der Tiere ab.
Bei marinen Arten werden die Spermien der Männchen meistens in den Samenbläschen der Weibchen deponiert, die ihre Eier dann frei ablegen und am Substrat wie zum Beispiel Algenzellen anheften. Daneben kommt es aber auch vor, dass das Weibchen seine unbefruchteten Eier unmittelbar nach der Häutung in die abgestoßene Cuticula legt, wo sie dann extern von den Männchen befruchtet werden.
Bei limnoterrestrischen Arten werden die Spermien gelegentlich noch vor oder während der stattfindenden Häutung des Weibchens in den entstehenden Spalt zwischen der alten und neuen Haut injiziert; sobald das Weibchen seine Eier in das abgelegte Häutungshemd legt, findet die Befruchtung statt. Besonders bei landlebenden Arten kommt es häufig zur Kopulation, wozu sich das Männchen an einem Weibchen festklammert; eine solche Verbindung wird auch bei äußeren Störungen des Geschlechtsakts nicht aufgegeben. Das Männchen führt nun sein Sperma in den Geschlechtstrakt des Weibchens ein und zwar, bevor dieses seine Häutung abgeschlossen hat. Alternativ können die Spermien auch in Samenbläschen deponiert oder auch direkt durch die Außenhaut hindurch in die Leibeshöhle injiziert werden; in letzterem Fall findet die Befruchtung in der weiblichen Keimdrüse statt.
Die Zahl der abgelegten Eier schwankt je nach Art zwischen 1 und 35, wobei sich mit zunehmendem Lebensalter eine stetige Zunahme dieser Zahl beobachten lässt. Über die gesamte Lebenszeit gesehen können einzelne Weibchen über 100 Eier produzieren. Bei meereslebenden Arten fallen sie je nach Umgebungsbedingungen dünn- oder dickschalig aus, während sich bei landlebenden Arten unterschiedliche Eiformen beobachten lassen: Glatte Eier werden meistens in den Häutungshemden der Weibchen deponiert, während Eier mit dicker, aufwendig ornamentierter und vermutlich austrocknungsresistenter Schale frei an Moospflanzen oder Rindenstückchen angeklebt werden. Einige süßwasserlebende Arten nutzen die abgestoßenen Exoskelette von Insekten oder anderen Gliederfüßern als Ablageort.
Besondere Verhaltensanpassungen bei der Fortpflanzung finden sich nur in seltenen Fällen: So wurde bei einigen Arten ein primitives „Paarungsritual“ beobachtet. Das Männchen streichelt dazu sein Weibchen mit den am Kopf befindlichen Cirri. Das Weibchen legt, in dieser Weise stimuliert, nach einiger Zeit seine Eier auf einem Sandkorn ab, auf dem das Männchen dann sein Sperma deponiert. Die Tatsache, dass manche Weibchen die Häutungshemden, in denen sie ihre Eier abgelegt haben, für eine Weile mit sich schleppen, wird gelegentlich als einfacher Fall von „Brutpflege“ interpretiert.
Bei günstigen Bedingungen schlüpfen die Jungtiere nach etwa 5 bis 40 Tagen. Sie absorbieren dazu aus der Umgebung solange Flüssigkeit, bis ihr sich ausdehnender Körper die Eischale sprengt. Manche Arten setzen auch ihre Mundstilette zum Aufbrechen der Eihülle ein. Der gesamte Vorgang dauert meistens nur wenige Minuten.
Die Jungtiere sind meistens ungefärbt und besitzen weniger Borsten, Cirri oder Klauen als die erwachsenen Tiere. Ansonsten sind sie diesen aber schon sehr ähnlich, so dass ihre Entwicklung direkt, also ohne Larvenstadium verläuft. Bei einigen Arten aus der Klasse Heterotardigrada bilden sich der Anus und die Geschlechtsöffnung erst nach ein beziehungsweise zwei Häutungen; dies wird gelegentlich als Hinweis auf eine indirekte Entwicklung gedeutet. In den meisten Fällen wachsen die Jungtiere nur durch eine Vergrößerung des individuellen Zellvolumens, nicht aber durch eine Vermehrung der Zellenanzahl, so dass viele Gewebe bereits nach dem Schlüpfen die endgültige Zellenzahl der Erwachsenenform aufweisen. Allerdings lassen sich auch in späteren Stadien gelegentlich noch Mitosen (Zellteilungen) nachweisen, die vermutlich dem Zweck dienen, abgestorbene Zellen zu ersetzen. Die Geschlechtsreife wird in jedem Fall erst nach mehreren Häutungen erreicht.
Die normale Lebensdauer von Bärtierchen liegt zwischen drei Monaten und zweieinhalb Jahren; sie entspricht der tatsächlichen Lebenszeit der meisten marinen Arten. Bei den limnoterrestrischen Arten wird das Leben der Tiere jedoch manchmal oder oft durch kryptobiotische Zustände unterbrochen, während deren die betroffenen Individuen nicht altern. Mooslebende Arten erreichen auf diese Weise häufig eine reale Lebensdauer von vier Jahren oder mehr; in Einzelfällen können sie auch Jahrzehnte überdauern. In ausgetrocknetem Moos eines botanischen Museums wurde ein Bärtierchen entdeckt, das nach 120 Jahren im anhydrobiotischen Zustand „wiederbelebt“ werden konnte.
Bärtierchen und der Mensch
Bärtierchen finden sich zwar in fast allen menschlichen Lebensräumen, fallen aber wegen ihrer geringen Größe und ausgefallenen Lebensweise kaum auf. Da sie zudem keine unmittelbare wirtschaftliche, medizinische oder tiermedizinische Bedeutung besitzen, sind sie den meisten Menschen unbekannt. Jene, die sie das erste Mal sehen, beschreiben sie oft als „süß“, ein Adjektiv, das sich selbst in seriösen zoologischen Publikationen finden lässt und wohl nicht nur durch die bärenähnliche Körperform, sondern auch durch die tapsige Fortbewegungsweise der Tiere inspiriert ist. Eine Haltung in monoxenischer Kultur, also zusammen mit mindestens einer weiteren Art, ist möglich.
Angaben zur Gefährdung liegen nicht vor; eine Art, Thermozodium esakii, ist allerdings möglicherweise ausgestorben. Da Bärtierchen sehr empfindlich auf Umweltgifte, insbesondere Schwefeltrioxid, reagieren, gibt es Ideen, die Tiere als Indikatoren für die Umweltqualität eines Standorts einzusetzen. Untersuchungen zur Schädigung von Tardigrada durch Schwermetallbelastung von Moosen wurden von ungarischen Forschern vorgelegt. Untersuchungen zu städtischen Lebensräumen liegen aber noch nicht vor.
Stammesgeschichte
Moderne Formen
Die engsten Verwandten der Bärtierchen finden sich in zwei sehr unterschiedlichen Gruppen: Die Gliederfüßer (Arthropoda), die unter anderem Krebstiere (Crustacea), Spinnentiere (Arachnida), Tausendfüßer (Myriapoda) und Insekten (Insecta) umfassen, sind der umfangreichste Tierstamm überhaupt, während die Stummelfüßer (Onychophora), die sich als Würmer mit Beinen beschreiben lassen, ein eher obskures Taxon bilden. Bärtierchen, Glieder- und Stummelfüßer bilden sehr wahrscheinlich zusammen eine natürliche Verwandtschaftsgruppe, ein sogenanntes monophyletisches Taxon, das als Panarthropoda bezeichnet wird. Als gemeinsames abgeleitetes Merkmal kann die bei allen Tieren dieser Gruppe auftretende Segmentierung des Körpers sowie das Auftreten paariger Körperanhänge angesehen werden; auch der Aufbau der Cuticula wird von allen drei Taxa geteilt.
Innerhalb der Panarthropoda werden Bärtierchen traditionell mit den Stummelfüßern als Protoarthropoda zusammengefasst:
Dabei spielte ursprünglich die Vorstellung eine Rolle, dass Stummelfüßer und Bärtierchen noch nicht die volle Organisationshöhe der Gliederfüßer erreicht haben. Evolutionstheoretisch gilt die Unterscheidung mehr oder weniger hoch entwickelter Formen jedoch mittlerweile als veraltet; moderne Klassifikationen sollen ausschließlich die tatsächlichen stammesgeschichtlichen Beziehungen der Taxa zueinander wiedergeben.
Als gemeinsame Merkmale der Protoarthropoda werden dann die sowohl bei Stummelfüßern als auch bei Bärtierchen zu findenden sackartigen Körperanhänge, die Stummelbeine, angeführt. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Homologien, also Merkmale, die sich auf eine gemeinsame Vorläuferstruktur zurückführen lassen. Insbesondere entspricht der vermutlich aus drei Segmenten bestehende Bärtierchen-Kopf sehr wahrscheinlich den ersten drei Einheiten des Stummelfüßer-Körpers. Ihre Stilette können dementsprechend als stark abgewandelte Körperanhänge des zweiten Segments angesehen werden und wären somit den Kiefern der Stummelfüßer homolog. Auch die Klauenstruktur ist bei Bärtierchen und Stummelfüßern sehr ähnlich. Trotz dieser ins Auge springenden Gemeinsamkeiten ist es umstritten, ob die Protoarthropoda eine natürliche Verwandtschaftsgruppe bilden, da vermutlich alle angeführten Merkmale Symplesiomorphien sind, das heißt, schon bei den Vorfahren aller Panarthropoda zu finden waren. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich daher stattdessen eine Präferenz für eine Schwestergruppenbeziehung zwischen Bärtierchen und Gliederfüßern herauskristallisiert:
Die weitere Verwandtschaft der Bärtierchen wird traditionell in den Ringelwürmern (Annelida) gesehen. Mit ihnen teilen sie unter anderem weiche, nicht gelenkige Körperanhänge mit abschließenden verhärteten „Klauen“ und eine terminale, den Körper nach vorne abschließende Mundstellung. Diese auf den französischen Naturforscher Georges Cuvier zurückgehende Articulata-Hypothese hat auch zu Anbeginn des 21. Jahrhunderts noch viele Anhänger, wurde aber gegen Ende der 1990er Jahre aufgrund morphologischer und molekulargenetischer Erkenntnisse zunehmend in Frage gestellt. An ihre Stelle trat ein Konzept, das die nächsten Verwandten der Panarthropoda in einer Gruppe wurmartiger Tiere, der Cycloneuralia, sieht: Zu diesem Taxon zählt man Faden- (Nematoda) und Saitenwürmer (Nematomorpha), aber auch drei eher obskure Tiergruppen, Priapswürmer (Priapulida), Hakenrüssler (Kinorhyncha) und Korsetttierchen (Loricifera). Alle diese Taxa zeichnen sich wie auch die Panarthropoda dadurch aus, dass sie ihre nicht-zellige Außenhaut oder Cuticula zumindest während einzelner Stadien ihres Lebenszyklus abstoßen; sie werden daher als Häutungstiere (Ecdysozoa) bezeichnet:
Ausgestorbene Formen
Bärtierchen-Fossilien sind ausgesprochen rar und tragen daher nur wenig zum Verständnis der Entwicklung dieser Tiergruppe bei. Neben einigen Funden aus dem frühen Erdaltertum sind nur einige in Bernstein erhaltene Individuen aus dem späten Erdmittelalter bekannt.
Als mögliche Stammlinienvertreter der Tactopoda, des Taxons aus Gliederfüßern und Bärtierchen, werden zunehmend die Lobopoden gesehen, eine Gruppe wurmähnlicher Tiere aus den erdgeschichtlichen Epochen des Kambriums und Ordoviziums, die ihren Ursprung allerdings wohl schon im vorhergehenden Ediacarium hatte. Sie liefen ähnlich wie die Stummelfüßer auf nichtgelenkigen, sackartigen Stummelbeinen und werden daher traditionell diesem Tierstamm zugeordnet. Einige moderne kladistische Untersuchungen halten diese Einschätzung für unbegründet und sehen die Lobopoden stattdessen als nicht natürliche Verwandtschaftsgruppe, aus der sowohl Stummelfüßer als auch die Tactopoda hervorgegangen sind. Eine vorgeschlagene Variante, die diese Alternativsicht zum Ausdruck bringt, ist in dem folgenden Diagramm dargestellt:
Die Gattung Aysheaia, die noch sehr viele ursprüngliche Merkmale wie eine einfache Reihung unspezialisierter langer Beine oder eine feine, nicht mit der unauffälligen Körpersegmentierung übereinstimmende oberflächliche Ringung aufweist, bildet demnach die evolutionäre Schwestergruppe aller anderen Panarthropoda, die sich sodann in die Stummelfüßer und alle weiteren Gruppen aufteilen. Eine Reihe von Lobopoden wie die schwer gepanzerten Gattungen Cardiodictyon, Hallucigenia oder Paucipodia bildet vermutlich einen ausgestorbenen Seitenast, welcher der nicht zugeordneten Gattung Luolishania einerseits und einem unbenannten Taxon aus der Art Kerygmachela kierkegaardi und den Tactopoda andererseits gegenübersteht.
Kerygmachela kierkegaardi, nach dieser Hypothese die unmittelbare Schwestergruppe der Tactopoda, ist aus dem frühen Kambrium Nordgrönland bekannt und ähnlich wie Bärtierchen und Gliederfüßer auch äußerlich deutlich segmentiert. Ob auch die mysteriösen Anomalocaris-Fossilien in die Stammlinie der Tactopoda gehören oder wie oben dargestellt näher mit den Gliederfüßern als mit den Bärtierchen verwandt sind, ist unklar.
Die ersten eindeutig den Bärtierchen zuzuordnenden Fossilien entstammen der sibirischen Kuonamka-Formation. In 530 Millionen Jahre altem Kalkstein aus dem mittleren Kambrium haben sich dort vier Individuen erhalten, die nach Körperform und -größe als Bärtierchen identifizierbar sind. Die noch unbeschriebene Art verfügte anscheinend über drei, vielleicht auch vier Beinpaare, die in einem Paar ungleicher Klauen abschlossen und besaß eine Cuticula-Struktur, die jener der heutigen Tiere schon sehr ähnlich war. Die bereits sehr stark spezialisierten Tiere können womöglich sogar einer der modernen Klassen, den Heterotardigrada, zugeordnet werden.
Wie sich der Übergang von den robusten Lobopoden zu den nur submillimetergroßen Bärtierchen vollzog, ist unbekannt. Ein möglicher Mechanismus wäre Progenese, ein Vorgang, bei dem sich die Keimdrüsen in der Embryonalentwicklung vorzeitig ausbilden und die Geschlechtsreife daher im Vergleich mit dem Ausgangszustand früher eintritt. Diese arrestiert nun die weitere Entwicklung und Differenzierung des Körpers, so dass Larven- oder Jungtiermerkmale wie eine wesentlich geringere Größe beim erwachsenen Tier auftreten, ein Phänomen, das man als Pädomorphose bezeichnet.
Auch wann Bärtierchen erstmals terrestrische Lebensräume erobert haben, lässt sich mangels Fossilfunden nicht mit Gewissheit sagen. Da Bärtierchen heute häufig in Mooskissen zu finden sind, Moose sehr wahrscheinlich die ersten Pflanzen waren, die das Land besiedelten und dabei hinsichtlich der Austrocknungsgefahr ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt waren wie die Bärtierchen selbst, ist es sehr gut möglich, dass Moose und Bärtierchen den Schritt an Land zusammen mit den dazu notwendigen Anpassungen gemeinsam vollzogen haben.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss sich bei den Tieren die einzigartige Anpassung an Trockenheitsperioden, die Kryptobiose, herausgebildet haben. Sie erlaubte ihnen, widrigen Umweltbedingungen durch vorübergehendes Abschalten des Stoffwechsels einfach auszuweichen. Dieses hat zur Folge, dass zumindest die umweltbedingte Selektion nur verhältnismäßig schwach ist, und erklärt so die sehr langsame, bradytelische Evolutionsrate der körperlichen Erscheinungsform, des Phänotyps.
Es überrascht daher nicht, dass die späteren, aus der Kreidezeit erhaltenen Bärtierchen-Fossilien gegenüber den heutigen Arten kaum eine Änderung der Körperform erkennen lassen. Beorn leggi etwa, eine aus kanadischem Bernstein erhaltene Art, lässt sich bereits der Klasse Eutardigrada zuordnen; ein nur sehr schlecht erhaltenes unbenanntes Jungtier vom selben Fundort gehört möglicherweise in die Klasse Heterotardigrada. Aus dem US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey sind weitere Bernsteinfossilien bekannt, die vermutlich aus der Turonian genannten Epoche der späten Kreidezeit stammen. Auch sie sind vermutlich bereits den Eutardigrada zuzuordnen und lassen keine weitergehenden Schlüsse zu, als dass diese Entwicklungslinie schon seit mehr als 65 Millionen Jahren existiert.
Die einzigen weiteren Bärtierchenfossilien sind etwas mehr als 7000 Jahre alte Eier, die sich in subantarktischen Torfmooren erhalten haben. Da verschiedene Bärtierchenarten unterschiedliche Temperatur- und Feuchtigkeitsvorlieben haben, gibt es Überlegungen, die in den verschiedenen Moorschichten auftretenden Eier ähnlich wie Pflanzenpollen zur Bestimmung des damaligen Klimas heranzuziehen.
Systematik
Es besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass Bärtierchen ein monophyletisches Taxon bilden, also auf eine gemeinsame Stammart zurückgehen und alle Nachfahren dieser Art umfassen. Wichtige Synapomorphien, gemeinsame, abgeleitete Merkmale, sind etwa die teleskopartig einziehbaren Beine und die Mundstilette.
Bis zum Jahre 2005 wurden etwa 930 Arten beschrieben, darunter 160 marine Formen. Die tatsächliche Artenzahl ist naturgemäß unbekannt, wird aber auf etwa 10.000 geschätzt. Hinzu kommt, dass sich vermutlich hinter vielen nach morphologischen Kriterien abgegrenzten „Arten“ stattdessen Gruppen kryptischer Arten verbergen, die nur molekulargenetisch auseinanderzuhalten sind, was die Biodiversität des Taxons nochmals erhöhen würde.
Man unterscheidet drei verschiedene Klassen, deren Verwandtschaftsverhältnisse zueinander noch unklar sind:
Als Heterotardigrada bezeichnet man die „gepanzerten“ Bärtierchen, auch wenn nicht alle Arten tatsächlich eine rückseitig verhärtete und in einzelne Panzerplatten (Skleriten) geteilte Cuticula besitzen. Bei vielen Formen lassen sich auffällige Kopfanhänge wie Cirri und Clavae beobachten; die Beine können sowohl in Klauen als auch in Haftscheiben enden. Die Geschlechtsöffnung liegt immer direkt auf der Körperoberfläche, Malpighische Drüsen zur Ausscheidung und Osmoregulation treten nicht auf. Heterotardigrada finden sich sowohl in marinen als auch in limnoterrestrischen Lebensräumen.
Als Eutardigrada bezeichnet man die „nackten“ Bärtierchen, ihre Außenhaut ist dünn und nicht verhärtet. Auffällige Sinneshärchen am Kopf finden sich in dieser Gruppe nie; die Beine enden grundsätzlich in Klauen. Anders als bei den Heterotardigrada mündet der Eileiter in den Enddarm ein, der dadurch zur Kloake wird; zur Ausscheidung dienen die spezialisierten Malpighischen Drüsen. Die meisten Eutardigrada leben im Süßwasser oder an Land, obwohl auch einige marine Arten existieren.
Die Mesotardigrada sind nur durch eine einzige, verschollene Art, Thermozodium esakii bekannt, die formell in eine Familie Thermozodiidae gestellt wird. Der Beschreibung nach besitzt sie am Kopf je einen seitlichen Cirrus, aber keine Clavae; der Mund ist von vier warzenähnlichen Vorsprüngen (Papillen) umgeben. Auch am Beinansatz befinden sich demnach Papillen, während das Beinende in 6 bis 10 einfache Klauen übergeht; Malpighische Drüsen sind vorhanden. Die Art wurde auf Algenpolstern in einer nahe der japanischen Stadt Nagasaki gelegenen heißen Quelle, der Typ-Lokalität, gefunden, die jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein Erdbeben zerstört wurde. Da sich auch kein Typmaterial erhalten hat und die Art bis heute nicht mehr wieder aufgefunden werden konnte, gilt ihre Existenz heute als zweifelhaft und ihr Name entsprechend als Nomen dubium.
Oft wird angenommen, dass eine Ordnung der Heterotardigrada, die mehrheitlich marinen Arthrotardigrada, die ursprünglichsten Bärtierchenarten umfasst, aus denen sich dann zunächst die Formen der anderen Heterotardigrada-Ordnung Echiniscoidea und dort insbesondere der limnoterrestrischen Familie Echiniscidae entwickelt haben, bevor diese wiederum die andere Bärtierchenklasse Eutardigrada hervorbrachte, deren Arten sich hauptsächlich im Süßwasser und an Land finden:
Diese Hypothese konnte jedoch bislang nicht bestätigt werden; vorläufige molekulargenetische Daten sprechen dafür, dass sowohl Hetero- als auch Eutardigrada natürliche Verwandtschaftsgruppen bilden:
Forschungsgeschichte
Die Tardigradologie oder Bärtierchenforschung reicht in ihren Anfängen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Der deutsche Naturforscher Johann Conrad Eichhorn war vermutlich am 10. Juni 1767 der erste Mensch, der die Tiere beobachtete. Da er seine Entdeckung in seinem Werk Beyträge zur Naturgeschichte der kleinsten Wasserthierchen die mit blossem Auge nicht gesehen werden und die sich in den Gewässern in und um Danzig befinden erst 1775 und damit Jahre später veröffentlichte, gilt aber heute zumeist der Quedlinburger Pastor Johann August Ephraim Goeze als Entdecker der Gruppe. Er konnte nach eigenen Angaben seine erste Beobachtung am 10. Dezember 1772 machen und veröffentlichte seine Beschreibung der Tiere in einem selbst verfassten Anhang der von ihm aus dem Französischen übersetzten und im Jahre 1773 erschienenen Schrift Herrn Karl Bonnets Abhandlungen aus der Insektologie. Dort schrieb er unter anderem:
Bereits ein Jahr später wurde erstmals die Rückkehr aus dem anhydrobiotischen Zustand beobachtet, die der italienische Naturforscher Lazzaro Spallanzani kurz darauf als „Wiederauferstehung von den Toten“ beschrieb. Er war es auch, der im zweiten Band seines 1776 in Modena erschienenen Buchs Opuscoli di Fisica animale e vegetabile der Gruppe den Namen Il Tardigrada gab. 1790 wurden die Tiere in das Werk Systema Naturae des schwedischen Naturforschers und Systematikers Carl von Linné aufgenommen.
Die erste wissenschaftliche Monographie erschien im Jahre 1840, neun Jahre später wurde das erste marine Bärtierchen entdeckt; die wissenschaftliche Beschreibung der ersten fossilen Art, Beorn leggi, musste hingegen bis 1964 noch mehr als ein Jahrhundert warten.
Die systematische Stellung der Tiere war von Anbeginn unklar; während des gesamten 19. Jahrhunderts wurden sie taxonomisch wahlweise mit den Rädertierchen (Rotifera) oder Asselspinnen (Pycnogonida) gruppiert oder zu den Gliederfüßern (Arthropoda) gestellt. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieben ihre genauen stammesgeschichtlichen Beziehungen umstritten, so dass schließlich der italienische Tardigradologe Giuseppe Ramazzotti die Gruppe in den Rang eines eigenen Tierstamms erhob. Die weitere Klassifikation des Taxons geht auf den deutschen Biologen Ernst Marcus zurück, der 1929 alle Bärtierchen in die Untergruppen der Hetero- und Eutardigrada einteilte; 1937 wurden durch Gilbert Rahm die Mesotardigrada als dritte Gruppe eingeführt.
Diverses
Durch die missglückte Landung des israelischen Mondlandegerätes Beresheet wurden 2019 einige Tausend Bärtierchen verstreut. Da sie ohne Sauerstoff auskommen und sich nach dem Aufwärmen aus dem tiefgekühlten Zustand wieder zum Leben erwecken lassen, wurden sie für diese Mondmission ausgewählt. „Wie totes Material können sie jahrelang im ausgetrockneten Zustand überdauern. Auch den Absturz auf dem Mond dürften sie überstanden haben“, versicherte Nova Spivack dem US-Magazin Wired. Nova Spivack ist Leiter der Stiftung „Arch Mission“.
Literatur
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D. R. Nelson, N. J. Marley: The biology and ecology of lotic Tardigrada. In: Freshwater Biology. Blackwell, Oxford 44.2000, , S. 93.
Joh. August Ephraim Goeze: Herrn Karl Bonnets Abhandlungen aus der Insektologie. (PDF; 31,2 MB). Supplement by the translator J.A.E. Goeze, Halle 1773. (Originaltext: Seltsam ist dieses Thierchen, weil der ganze Bau seines Körpers ausserordentlich und seltsam ist, und weil es in seiner äusserlichen Gestalt, dem ersten Anblicke nach, die grösste Ähnlichkeit mit einem Bäre im Kleinen hat. S. 367–375)
Weblinks
Tardigrada Astronomy Picture of the Day der NASA vom 6. März 2013 ()
Tardigrada Newsletter (engl.)
Bärtierchen: Fotos und Videos (engl.)
Umfangreiche Sachtexte, Fotogalerien und Kurzfilme zu Bärtierchen
Taxonomie bis auf Gattungsebene
Microscopy UK (engl.)
Forschung mit Bärtierchen im Weltall
Schweizer Forschungsstelle für Ökologie, Physiologie und Evolutionsbiologie von Tardigraden
A recent claim that tardigrades got a sixth of their DNA from microbes is starting to unravel (engl.)
Claudia Ruby: Bärtierchen - Die knuffigen Überlebenskünstler Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 25. Juli 2019 (Podcast)
Doch nicht unverwüstlich – das ist der Schwachpunkt von Bärtierchen
Lars Fischer: Blaues Leuchten schützt Bärtierchen vor Strahlung, auf: spektrum.de vom 15. Oktober 2020
Peter Dockrill: We Just Found Another Trick Tardigrades Use to Be Basically Indestructible, auf: sciencealert vom 14. Oktober 2020 (engl.)
Einzelnachweise
Wikipedia:Artikel mit Video |
28868 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pyrit | Pyrit | Pyrit, auch als Schwefelkies oder Eisenkies sowie Katzen- oder Narrengold bekannt, ist ein sehr häufig vorkommendes Mineral aus der Klasse der „Sulfide und Sulfosalze“. Chemisch gesehen ist es die kubische Modifikation des Eisen(II)-disulfids mit der chemischen Zusammensetzung FeS2, besteht also aus Eisen und Schwefel im Stoffmengenverhältnis von 1 : 2.
Pyrit ist in jeder Form undurchsichtig (opak) und entwickelt überwiegend idiomorphe Kristalle in der Form von Würfeln oder Pentagondodekaedern. Auch Oktaeder und Disdodekaeder sind verbreitet sowie Kombinationen zwischen diesen Formen. Die Kristallflächen zeigen oft eine charakteristische Streifung und im frischen Zustand einen lebhaften Metallglanz.
Mit einer Mohshärte von 6 bis 6,5 gehört Pyrit zu den harten Mineralen, die sich ähnlich wie das Referenzmineral Orthoklas (6) gerade noch mit einer Feile ritzen lassen.
Etymologie und Geschichte
Der Name Pyrit stammt aus dem Altgriechischen: Von für „Feuer“ leitet sich für „Feuerstein“ ab. Der Hintergrund dessen ist, dass sich mit einem harten Feuerstein Pyrit-Splitter abschlagen lassen, die sich an der Luft selbst entzünden und verbrennen:
Diese Eigenschaft wurde bereits in steinzeitlichen Schlagfeuerzeugen genutzt, um Feuer zu entfachen.
So wurden an verschiedenen Fundstellen Schwefelkiesknollen mit Bearbeitungsspuren entdeckt, die verschiedenen Epochen der Steinzeit zugeordnet werden konnten.
Fundorte sind unter anderem:
Vogelherdhöhle bei Niederstotzingen (Baden-Württemberg) in Deutschland
eine Grotte bei Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil
Grand Abri bei Laussel im französischen Département Dordogne,
Grotte du Bois Laiterie in der Gemeinde Profondeville
Trou de Chaleux bei Hulsonniaux (Gemeinde Houyet) in Belgien aus dem Jungpaläolithikum
Trou al’Wesse in der belgischen Gemeinde Modave aus dem Mesolithikum
Robenhausen, Feldmeilen-Vorderfeld und Wollishofen-Haumesser (Kanton Zürich)
Muntelier (Kanton Freiburg)
Lac de Chalain (Département Jura)
nahe Gisement des Baigneurs in der Gemeinde Charavines (Département Isère)
bei Beg-er-Goalennec auf der Halbinsel Quiberon (Département Morbihan) in Frankreich aus dem Neolithikum.
Im Altertum umfasste der Begriff pyrítes allerdings nicht nur das heute als Pyrit bekannte Mineral, sondern auch andere „Feuer in sich bergende“ Steine. So beschrieb Plinius beispielsweise in seinem 36. Band der Naturalis historia zur Beschaffenheit der Steine zwei Arten von metallisch aussehendem Pyrit von silberner beziehungsweise goldener Farbe aus den Gruben Zyperns. Es wird vermutet, dass es sich beim goldfarbigen um den heutigen Pyrit (möglicherweise einschließlich Kupferkies) und beim silberfarbigen um ein anderes, bisher nicht identifiziertes Sulfid handelt.
Der umgangssprachliche Name Katzengold leitet sich vom althochdeutschen ab, was „goldgelbes Kirschharz“ bedeutet. Diese Bezeichnung tauchte schon in Handschriften aus dem 12. Jahrhundert auf mit der Vorstellung von etwas Falschem oder Unechtem (im Gegensatz zu echtem Gold). Meist wird der Begriff Katzengold zwar im Zusammenhang mit Glimmer im Allgemeinen beziehungsweise verwitterten Biotit im Besonderen verwendet, findet sich aber auch als Bezeichnung für den Pyrit.
Im englischen Sprachraum wird Pyrit fool’s gold genannt, also „Narrengold“. Diese Bezeichnung findet sich zwar auch im Deutschen, allerdings weitaus seltener. Möglicherweise wurde der Begriff aus dem Englischen übernommen. Völlig davon zu unterscheiden ist das aus Messing bestehende Rauschgold.
Lange wurden Pyrit und Markasit für das gleiche Mineral (zum Teil in unterschiedlichen Erscheinungsformen) gehalten; beide wurden in der Literatur oft als Schwefelkies oder auch Eisenkies, parallel auch als Markasit bezeichnet und noch bis ins 18. und 19. Jahrhundert galt Markasit als Trivialname. Erst Wilhelm von Haidinger stellte 1845 klar, dass der Eisenkies tatsächlich aus zwei verschiedenen, wenn auch sehr ähnlichen Mineralen bestand und bezeichnete den hexaedrischen (kubischen) als Pyrit und den „prismatischen“ (rhombischen) als Markasit.
Da Pyrit bereits lange vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt und als eigenständige Mineralart anerkannt war, wurde dies von ihrer Commission on New Minerals, Nomenclature and Classification (CNMNC) übernommen und bezeichnet Pyrit als sogenanntes grandfathered Mineral.
Klassifikation
Bereits in der veralteten [[Systematik der Minerale nach Strunz (8. Auflage)#II/C. Sulfide mit M : S < 1 : 1|8. Auflage der Mineralsystematik nach Strunz]] gehörte der Pyrit zur Mineralklasse der „Sulfide und Sulfosalze“ und dort zur Abteilung der „Sulfide mit [dem Stoffmengenverhältnis] M : S < 1 : 1“, wo er als Namensgeber die „Pyrit-Reihe“ mit der System-Nr. II/C.05 und den weiteren Mitgliedern Aurostibit, Cattierit, Geversit, Hauerit, Laurit, Michenerit, Penroseit, Sperrylith, Trogtalit, Vaesit und Villamanínit bildete.
Im Lapis-Mineralienverzeichnis nach Stefan Weiß, das sich aus Rücksicht auf private Sammler und institutionelle Sammlungen noch nach dieser alten Form der Systematik von Karl Hugo Strunz richtet, erhielt das Mineral die System- und Mineral-Nr. II/D.17-30. In der „Lapis-Systematik“ entspricht dies ebenfalls der Abteilung „Sulfide mit [dem Stoffmengenverhältnis] Metall : S,Se,Te < 1 : 1“. Hier bildet Pyrit namensgebend die „Pyritgruppe“ mit den weiteren Mitgliedern Aurostibit, Cattierit, Changchengit, Dzharkenit, Erlichmanit, Fukuchilit, Geversit, Hauerit, Insizwait, Kruťait, Laurit, Maslovit, Mayingit, Michenerit, Padmait, Penroseit, Sperrylith, Testibiopalladit, Trogtalit, Vaesit und Villamanínit (Stand 2018).
Die seit 2001 gültige und von der International Mineralogical Association (IMA) bis 2009 aktualisierte 9. Auflage der Strunz'schen Mineralsystematik ordnet den Pyrit zunächst in die allgemeinere Abteilung der „Metallsulfide mit [dem Stoffmengenverhältnis] M : S ≤ 1 : 2“. Diese ist allerdings weiter unterteilt nach dem genauen Stoffmengenverhältnis und den in der Verbindung vorherrschenden Metallionen, so dass das Mineral entsprechend seiner Zusammensetzung in der Unterabteilung „M : S = 1 : 2, mit Fe, Co, Ni, PGE usw.“ zu finden ist, wo es ebenfalls Namensgeber der nach wie vor existierenden „Pyritgruppe“ mit der System-Nr. 2.EB.05a und den weiteren Mitgliedern Aurostibit, Cattierit, Dzharkenit, Erlichmanit, Fukuchilit, Gaotaiit, Geversit, Hauerit, Insizwait, Iridisit (von der IMA aktuell nicht anerkannt), Kruťait, Laurit, Penroseit, Sperrylith, Trogtalit, Vaesit und Villamanínit ist.
Auch die vorwiegend im englischen Sprachraum gebräuchliche Systematik der Minerale nach Dana ordnet den Pyrit in die Klasse der „Sulfide und Sulfosalze“ und dort in die Abteilung der „Sulfidminerale“ ein. Hier bildet er ebenfalls namensgebend die „Pyrit-Gruppe (Isometrisch: Pa)“ mit der System-Nr. 02.12.01 und den weiteren Mitgliedern Aurostibit, Cattierit, Dzharkenit, Erlichmanit, Fukuchilit, Gaotaiit, Geversit, Hauerit, Insizwait, Kruťait, Krutovit, Laurit, Mayingit, Penroseit, Sperrylith, Trogtalit, Vaesit und Villamanínit innerhalb der Unterabteilung „Sulfide – einschließlich Seleniden und Telluriden – mit der Zusammensetzung AmBnXp, mit (m+n) : p = 1 : 2“.
Chemismus
Pyrit besteht theoretisch, also bei idealer Zusammensetzung (Stoffreinheit), aus Eisen (Fe) und Schwefel (S) im Verhältnis von 1 : 2, was einem Massenanteil (Gewichts-%) von 46,55 % Fe und 53,45 % S entspricht. Natürliche Pyrite mit der fast stoffreinen Zusammensetzung von 46,49 % Fe und 53,49 % S und lediglich Spuren von 0,04 % SiO2 konnten unter anderem auf der italienischen Insel Elba nachgewiesen werden.
In vielen Mineralproben finden sich allerdings teilweise erhebliche Anteile anderer Elemente. So wurden beispielsweise in Proben aus der Millclose Mine nahe South Darley in der englischen Grafschaft Derbyshire ein Nickelanteil von 16,69 % gemessen und in Proben aus dem Kupfer- und Cobaltgebiet Gladhammar bei Västervik in der schwedischen Provinz Kalmar län ein Cobaltanteil von 13,90 %.
Des Weiteren wurden in Mineralproben aus anderen Fundorten unter anderem Fremdbeimengungen von Arsen, Antimon und Thallium sowie seltener auch mechanische Beimengungen wie Kupfer, Gold, Silber und Zink gefunden. Von den genannten Elementen können allerdings nur Anteile von Nickel, Cobalt und Arsen als möglicher diadocher Ersatz für einen Teil des Eisens und Schwefels dienen, während die übrigen auf mechanischen Beimengungen unter anderem von Chalkopyrit (Kupferkies, CuFeS2) beruhen.
Pyrit zeigt aufgrund des hohen Anteils an homöopolaren, kovalenten Bindungen mit entsprechend hoher Bindungsenergie im Allgemeinen eine eher geringe Neigung zur Bildung von Gitterfehlern und Mischkristallen. Einzig mit Cattierit (CoS2) ist Pyrit unbeschränkt mischbar. Mischkristalle mit Hauerit (MnS2) kommen praktisch nicht vor. Die Löslichkeit von Vaesit (NiS2) in Pyrit ist eher gering. Nach den von L. A. Clark und G. Kullerud 1963 durchgeführten Analysen beträgt die maximale Löslichkeit von NiS2 in FeS2 7,7 % bei 729 °C und sinkt bei 700 °C auf 6,8 %, konnte jedoch bei niedrigeren Temperaturen nicht mehr bestimmt werden. Die meisten nickelhaltigen Pyrite werden allerdings bei relativ niedrigen Temperaturen abgeschieden, wobei die Gleichgewichtslöslichkeit von Nickel deutlich unter 1 % liegt (alle Angaben in Gew.-%). Die nickelhaltige Pyrit-Varietät Bravoit kann sich nur unter 137 °C bilden und der größte Teil des Nickels liegt bei diesen Pyriten in metastabiler fester Lösung vor.
Kristallstruktur
Pyrit kristallisiert in der kubisch-disdodekaedrischen Kristallklasse in der mit dem Gitterparameter a = 5,42 Å (542 pm) sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle.
Strukturell ähnelt der Pyrit sehr stark dem Halit (auch Natriumchlorid, NaCl), wobei allerdings die einfach positiv geladenen Natriumionen durch Eisenionen und die einfach negativ geladenen Chloridionen durch hantelförmige S2-Gruppen, ein Disulfid-Ion, das strukturell dem Peroxid-Ion entspricht, ersetzt sind. Die Hantelachsen sind jeweils parallel zu den 3-zähligen Drehachsen ausgerichtet, jedoch in unterschiedlicher Orientierung, was zu einer Erniedrigung der Symmetrie führt. Innerhalb der „Schwefelhantel“ herrscht kovalente Bindung, zwischen Schwefel und Eisen dagegen Ionenbindung.
Gelegentlich lässt sich die geringere Symmetrie der disdodekaedrischen gegenüber der höchstsymmetrischen hexakisoktaedrischen Klasse anhand der Flächenstreifen von würfeligen Pyritkristallen erkennen. Nur bei den jeweils gegenüberliegenden Würfelflächen zeigt die Streifung in die gleiche Richtung. Die Drehachsen senkrecht auf den Würfelflächen sind also nicht wie bei einem geometrisch exaktem Würfel vierzählig, sondern nur zweizählig.
Auch die beim Pyrit häufig auftretende Kristallform des Pentagondodekaedern ist eine charakteristische Form der disdodekaedrischen Klasse.
Eigenschaften
Morphologie
Pyrit kommt für gewöhnlich in derben, körnigen Massen vor oder bildet kugel- bis himbeerförmige, konzentrisch schalige Aggregate. Scheibenförmig radialstrahlige Aggregate (Pyritsonnen) bilden sich sedimentär.
Gut ausgebildete Kristalle sind häufig und können über 25 cm groß werden. Bisher sind mehr als 60 Kristallformen bekannt. Die häufigsten Formen mit ihren Millerschen Indizes sind der Würfel {100}, das Pentagondodekaeder {210} und das Oktaeder {111} sowie deren Kombinationen. Das Pentagondodekaeder findet sich vorwiegend bei Pyritkristallen und daher wird diese Form auch Pyritoeder genannt. Seltener und meist nur in Kombination mit anderen Formen findet man das Rhombendodekaeder {110}, Trapezoeder {221} und das Disdodekaeder (Diploid) {321}. Sehr selten sind gebogene, leistenförmige Kristalle.
Bekannt sind auch Epitaxien, das heißt gesetzmäßige Verwachsungen zwischen Pyrit und seinem orthorhombischen Verwandten Markasit. Bei dieser Verwachsungsform sind jeweils zwei Würfelflächen von Pyrit parallel zu einer Basis- und einer Prismenfläche von Markasit ausgerichtet.
Physikalische Eigenschaften
Aufgrund seines metallischen Glanzes und seiner goldenen Farbe wurde und wird Pyrit häufig mit Gold verwechselt. Anders als echtes Gold ist Pyrit allerdings nicht formbar und wesentlich härter als das Edelmetall. Zudem hinterlässt Pyrit auf der Strichtafel einen deutlichen schwarzen Strich (mit gelegentlichem Stich ins Grünliche oder Bläuliche), Gold dagegen einen goldfarbigen. Allerdings kann Pyrit an einigen Fundstätten tatsächlich winzige Mengen Gold enthalten, die es zu einem wirtschaftlich abbaubaren Golderz machen können. Gelegentlich zeigt Pyrit eine bräunliche oder bunte Anlauffarbe.
Die für ein Sulfid ungewöhnlich hohe Mohshärte von 6 bis 6,5 beim Pyrit hat ihre Ursache in dem hohen Anteil an kovalenten Bindungen.
Pyrit zeigt nur eine undeutliche Spaltbarkeit nach den Würfelflächen {001}. Auf mechanische Beanspruchung reagiert er aber insgesamt spröde und bricht muschelig wie Glas.
Chemische Eigenschaften
Pyrit ist löslich in Salpetersäure, konzentrierter Salzsäure sowie in heißer konzentrierter Schwefelsäure. Beim Erhitzen auf über 743 °C zersetzt sich das Mineral. Ab einer Temperatur von 570 °C wandelt sich Pyrit in Pyrrhotin um.
Vor dem Lötrohr brennt Pyrit mit bläulicher Flamme und unter Abgabe von Schwefeldioxid (SO2). Als Schmelzprodukt entsteht eine schwarze, magnetische Kugel.
Elektrische Eigenschaften
Pyrit ist ein natürlicher Halbleiter, dessen Energielücke zwischen Valenzband und Leitungsband durch Einbau von Fremdatomen herabgesetzt ist. Eine Dotierung mit Arsen führt zu einem p-Halbleiter.
Die Bandlücke liegt zwischen 0,8 und 1,8 eV. Ob es sich dabei um direkte oder indirekte Bandkantenübergänge handelt, ist noch unklar. Für den indirekten Übergang wird meist eine Energie von 0,95 eV angegeben. Die Dielektrizitätskonstante von Pyrit beträgt 20,8.
Aufgrund ihrer halbleitenden Eigenschaft wurden natürliche Pyrit-Stücke früher in Detektorempfängern (Detektorradio) als Kristalldetektor zur Demodulation verwendet. Durch Kontaktierung von Hand nach dem Prinzip einer Spitzendiode suchte man mit einer Nadel eine als Diode geeignete Region auf dem Stein. Dass Pyrit noch im Ersten Weltkrieg (bis 1918) militärisch auch für die drahtlose Telegrafie gebraucht wurde, ist anhand eines Briefs vom 2. Februar 1918 im Archiv der Mineralogischen Staatssammlung München nachweisbar. Die Firma Dr. F. Krantz. Rheinisches Mineralien-Kontor (Inhaber zu dieser Zeit war Friedrich Krantz, ein Neffe von Adam August Krantz) bittet darin den damaligen Leiter der Mineralogischen Staatssammlung um den Verkauf von Pyrit zu einem Preis von 12 Mark pro 100 g mit der Aussicht, dass es nach Kriegsende nicht schwer sein dürfte, diese Pyrite zu ersetzen.
Magnetische Eigenschaften
Im Jahr 2020 gelang es Wissenschaftlern der University of Minnesota, das eigentlich nicht für Magnetismus bekannte Pyrit in einen Eisenmagneten zu transformieren. Hierzu wurde das Material in Kontakt mit einer Elektrolytlösung gebracht und anschließend eine schwache Spannung von einem Volt angelegt. Nachdem die Spannung wieder getrennt wurde, kehrte das Pyrit wieder in seinen nicht-magnetischen Urzustand zurück.
Modifikationen und Varietäten
Die Verbindung FeS2 ist dimorph, das heißt, sie kommt neben der kubisch kristallisierenden Modifikation Pyrit noch als orthorhombisch kristallisierende Modifikation Markasit vor.
Bisher sind folgende Pyrit-Varietäten bekannt:
Der nickelhaltige Bravoit (auch Mechernichit nach dessen Fund am Mechernicher Bleiberg bei Mechernich, NRW) wurde zuerst in Vorkommen der Ragra Mine (Minasragra), Junín, Cerro de Pasco, Alcides Carrión Province, Pasco, Peru entdeckt und beschrieben. Benannt wurde er nach dem peruanischen Wissenschaftler Jose J. Bravo (1874–1928).
Hengleinit ist eine cobalt- und nickelhaltige Varietät, die zuerst in Gesteinen aus Müsen, Siegerland, Nordrhein-Westfalen beschrieben wurde.
Für den arsenhaltigen „Gelpyrit“ (auch Melnikovitpyrit) lässt sich keine exakte Formel angeben, da er aus einem gelartigen Gemenge aus FeS und FeS2 auskristallisiert. Er besteht dann zwar überwiegend aus Pyrit, enthält jedoch auch geringe Anteile an FeS und möglicherweise zusätzlich Wassereinschlüsse. Auch Gelreste sind gelegentlich erhalten.
Bildung und Fundorte
Pyrit ist ähnlich wie sein weniger stabiler Verwandter Markasit und das Bleisulfidmineral Galenit ein sogenannter „Durchläufer“, der unter magmatischen wie unter sedimentären und metamorphen Bildungsbedingungen beständig ist. Aufgrund seines weiten Stabilitätsbereichs ist Pyrit eines der am weitesten verbreiteten Minerale und das weitaus häufigste Sulfidmineral, das oft mächtige Pyritlager bildet. Weltweit konnte Pyrit bisher an über 44.000 Fundorten nachgewiesen werden (Stand: 2021).
Auch wenn Pyrit in fast allen Lagerstättentypen vorkommt, ist allerdings immer die wichtigste Voraussetzung für dessen tatsächliche Entstehung das weitgehende Fehlen von Sauerstoff. Das in der chemischen Formel nötige zweiwertige Eisen (Fe2+) kann nur unter sauerstoffarmen bis -freien Bedingungen existieren. Dies ist auch der Grund für den Hauptbildungsbereich von Pyrit aus hydrothermalen Lösungen, da in diesem Bereich der Sauerstoffpartialdruck bis über 300 °C (im sauren Milieu) so gering ist, dass Eisen nur als Fe2+ vorliegt. Unter den Bedingungen in der sauerstoffreichen Atmosphäre an der Erdoberfläche kann Pyrit also nicht entstehen. Einmal gebildet, ist Pyrit allerdings metastabil wie Diamant, wenn auch weniger beständig als letzterer.
Als Durchläufermineral kann Pyrit mit vielen anderen Mineralarten vergesellschaftet vorkommen, wobei allerdings die Sulfide und Sulfosalze überwiegen. Häufige Bildungspartner sind neben Galenit und Markasit unter anderem Arsenopyrit, Chalkopyrit, Pyrrhotin und Sphalerit. Hinzu kommen noch Baryt, Calcit, Fluorit, Hämatit und Quarz.
Magmatische Bildung
In magmatischen Gesteinen ist Pyrit als akzessorischer Bestandteil verbreitet, wobei die Bildungsobergrenze in Abhängigkeit von Druck und Temperatur durch den Zerfall in Pyrrhotin (Fe1−xS) und Schwefel (S) bestimmt wird. In intramagmatischen Nickel-Pyrrhotin-Lagerstätten bildet sich Pyrit zunächst nur untergeordnet und entsteht erst bei tieferen Temperaturen. So findet sich Pyrit beispielsweise in dem zum südafrikanischen Bushveld-Komplex gehörenden Merensky Reef in größeren Mengen. Des Weiteren ist er in Granit-Pegmatiten, wenn auch in eher geringen Mengen, zu finden.
Hydrothermale Bildung
Der Hauptbildungsbereich von Pyrit ist hydrothermalen Ursprungs, wobei das Mineral in allen hydrothermalen Gang- und Verdrängungslagerstätten sowohl in derben Massen, als auch in perfekt ausgebildeten Kristallen auftreten kann. Große Verdrängungslagerstätten wurden unter anderem in der Toskana bei Gavorrano, Niccioleta und Boccheggiano bekannt. Eine weitere bekannte Massivsulfid-Verdrängungslagerstätte ist Madem-Lakkos etwa 3,5 km entfernt von Stratoni und etwa 100 km südöstlich von Thessaloniki auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki.
Einen Übergangsbereich bilden submarine sedimentär-exhalative Lagerstätten, in denen Pyrit neben anderen Sulfiden zu den wichtigsten Erzmineralen gehört. So entsteht das Mineral beispielsweise seit rund 25.000 Jahren aus teilweise mehr als 60 °C heißen Salzlösungen und sammelt sich zusammen mit anderen Sulfiden in tiefen Becken des Roten Meeres. Dort bildeten sich im Lauf der Zeit mächtige, metallreiche Lagerschichten aus Sulfidschlamm. Die größte bekannte Ablagerung dieser Art ist das „Atlantis-II-Tief“ in rund 2000 Metern Tiefe mit einer Ausdehnung von rund 90 km², was etwa der Größe Manhattans entspricht. Von Schwarzen Rauchern am Grund der Tiefsee ist ebenfalls bekannt, dass sie große Mengen Pyrit ausstoßen können, das im kalten Meerwasser ausfällt.
Zu den bekannten Lagerstätten dieses Typs gehören auch das Bergwerk Rammelsberg im niedersächsischen Landkreis Goslar (Deutschland), das ehemalige Bergwerk Drei Kronen & Ehrt (vormals Grube Himmelsfürst bzw. Grube Einheit) bei Elbingerode im Landkreis Harz (Sachsen-Anhalt) und der Hüttenberger Erzberg im Nordosten von Kärnten in Österreich.
Sedimentäre Bildung
In Sedimenten wird Pyrit durch die Stoffwechseltätigkeit von sulfatreduzierenden Bakterien zunächst immer als amorphes Eisenmonosulfid (FeS) ausgefällt. Unter anoxischen Bedingungen, etwa in Meeresbecken wie dem Schwarzen Meer kann es auch direkt, schon in der Wassersäule, ausfällen. Gelöste Sulfationen sind im Meerwasser grundsätzlich immer in ausreichender Konzentration vorhanden. Der Prozess kann aber auch im Boden ablaufen, sofern sulfatreiches Grundwasser, beispielsweise in der Nähe von Gipsablagerungen, vorhanden ist. Das überwiegend amorphe Eisenmonosulfid reagiert, unter anderem durch ebenfalls mikrobiell gefällten Schwefel zu Eisendisulfid (FeS2) weiter, welches als Pyrit oder Markasit kristallisiert. Andere Eisensulfidphasen wie Mackinawit und Greigit werden ebenfalls gebildet, sind aber in der Regel nicht langfristig stabil, sondern werden durch den von den Bakterien produzierten Schwefelwasserstoff weiter zu Pyrit umgewandelt.
Diese Reaktion kann im Wasser direkt ablaufen (unter Bildung von Framboiden genannten konzentrischen rundlichen Aggregaten), in Sedimenten meist im Verlauf von Jahrzehnten bis Jahrhunderten. Thermodynamisch (wie im Pourbaix-Diagramm dargestellt) ist Pyrit unter anoxischen Bedingungen im Meerwasser die einzige stabile Phase. Markasit kann nur in sauren Wässern, also in limnischen Sedimenten, nicht aber im alkalischen Meerwasser, abgeschieden werden. Pro Jahr werden hauptsächlich in marinen Sedimenten auf diese Weise mindestens fünf Millionen Tonnen Pyrit gebildet.
Während der Diagenese der Sedimente kommt es in der Regel zu einer Kornvergröberung durch Sammelkristallisation, wobei Pyrit die Fähigkeit hat, fast alle in Sedimenten auftretenden gesteinsbildenden Mineralien zu verdrängen und sich so Platz zu schaffen. Ein bevorzugter Ort für die Abscheidung von Pyrit sind Hohlraumstrukturen, wie innerhalb von im Sediment eingebetteten Weichtierschalen (Ammonitengehäuse und ähnliche). Hier kann durch die oben dargelegten Prozesse über lange Zeiträume hinweg so viel Pyrit akkumuliert werden, dass die Kammern der Ammonitengehäuse manchmal vollständig ausgefüllt werden und ein Steinkern aus Pyrit gebildet wird. Bei stärkerer Komprimierung kann Pyrit zu größeren Kristallen wachsen und sogar Muschelschalen oder Knochen ersetzen. Auf diese Weise können Fossilien komplett umgewandelt werden. Ein Beispiel hierfür sind die als „Goldschnecken“ (mundartlich auch Goldschneckli) bezeichneten Ammoniten des Jura der Fränkischen Alb und Württemberg.
Schließlich kommt Pyrit auch in Braun- und Steinkohle sowie in sauerstofffreien Grundwasserleitern vor. Er ist in dieser Umgebung meist schlecht kristallisiert und sehr oxidationsempfindlich.
Metamorphe Bildung
Unter dem Einfluss regionalmetamorpher Kräfte kann Pyrit bis in die Katazone (über 500 °C) hinein erhalten bleiben, wo es schließlich zur Umwandlung in Pyrrhotin kommt. Allerdings beginnt bereits bei deutlich niedrigeren Temperaturen in der Epizone eine Re- und Sammelkristallisation, bei der aus winzigen, im Gestein verteilten Pyritkörnchen große Kristalle wachsen. Sehr häufig findet sich diese Form der Kristallbildung im festen Zustand bei Gneisen und Grünschiefern (auch Chloritschiefer). Bekannte Fundorte dieses Typs waren und sind unter anderem die Smaragd-Lagerstätte im Habachtal in den Hohen Tauern im Salzburger Land (Österreich) mit Funden von zentimetergroßen Pyritwürfeln sowie als ehemals wirtschaftlich bedeutende Pyrit-Erzlagerstätte die Grube Bayerland in der Oberpfälzer Gemeinde Leonberg (Bayern) und als eine der bekanntesten, weil mineralreichsten Fundstätte die Grube Lengenbach im Binntal im Schweizer Kanton Wallis.
Bis Anfang der 1980er Jahre gehörte auch der Schwefelkiesbergbau bei Meggen im Sauerland (Nordrhein-Westfalen) zu den wirtschaftlich bedeutenden Vorkommen in Deutschland mit einer Jahresproduktion von rund 450.000 t Pyrit.
Weitere bekannte Fundorte dieses Typs sind unter anderem die ehemalige Fluorit-Grube Hohe Warte bei Gernrode in Sachsen-Anhalt (Deutschland) mit Hornfels- und Skarngesteinen, wo neben dezimetergroßen Pyritkristallen und -Aggregaten auch das seltene Mineral Cronstedtit auftritt, der zur Ankogelgruppe gehörende Plattenkogel mit seinen aplitischen Gneisen in Kärnten an der Grenze zu Salzburg sowie die Gneise und Glimmerschiefern des Schwarzkopfs bei Bad Gastein im Salzburger Bezirk St. Johann im Pongau in Österreich, wo bis zu 9 cm große Pyritkristalle geborgen werden konnten
Bekannte Eisen- und Kupfer-Lagerstätten vom Skarn-Typ sind die Trepča Stan Terg Mine im Trepča-Komplex nordöstlich von Mitrovica im Kosovo mit mehrere Zentimeter großen Pyritkristallen und -Aggregaten sowie Pseudomorphosen nach Pyrrhotin, das Bergwerk Nikolaevskiy bei Dalnegorsk im Fernen Osten Russlands mit allgemein sehr gut ausgebildeten Sulfidmineral-Stufen (Arsenopyrit, Chalkopyrit, Galenit, Pyrit, Pyrrhotin, Sphalerit) sowie die Grube Fengjiashan nahe Daye in der chinesischen Provinz Hubei, wo Pyrit meist vergesellschaftet mit Quarz in teilweise dezimetergroßen Kristall-Aggregaten auftritt.
Bedeutende Pyritfunde
Die größten Pyritwürfel mit einer Kantenlänge von bis zu 50 cm wurden in den Bergwerken auf Chalkidiki in Griechenland gefördert. Bis zu 30 cm große Pyrite kennt man aus der Erzlagerstätte Climax (hauptsächlich Molybdänit, aber auch Kassiterit, Hübnerit und Pyrit) nahe dem gleichnamigen Ort im Lake County des US-Bundesstaates Colorado. Bis zu 35 kg schwere und bis zu 22 cm große Kristalle traten in der Gold-Lagerstätte Berjosowski (englisch Berezovsk) in der russischen Oblast Swerdlowsk zutage. Gut kristallisierter Pyrit mit bis zu 20 cm Durchmesser trat unter anderem in Rio Marina auf der Insel Elba in Italien sowie in der Sámo-Mine bei Hnúšťa in der Slowakei auf. Immerhin bis zu 15 cm große Kristalle fanden sich in Huallanca (Huánuco) und Santiago de Chuco in Peru, wobei Ausnahmefunde allerdings immer möglich sind.
Die Kupfererzgrube Cakmakkaya bei Murgul (bis 1987 Göktaş) in der Türkei bringt zwar weniger große, dafür aber außergewöhnlich formenreiche Pyritkristalle hervor. Neben mehrere Zentimeter großen Oktaedern fanden sich hier auch Kombinationen von Pentagondodekaedern (Pyritoeder) und Ikosaeder. Entstanden sind diese Pyrite in einer Kombination aus vulkano-sedimentären und hydrothermalen Erzabsätzen. Nebengesteine der Erzgänge sind Kalkstein sowie rhyolithische, trachytische, andesitische und basaltische Brekzien.
Berühmtheit besitzen auch die als „Eisernes Kreuz“ bezeichneten Kristallzwillinge, zwei nach dem Pyritgesetz verwachsene Pentagondodekaeder, aus dem Weserbergland, der Umgebung von Vlotho und im Extertal in Ostwestfalen, Deutschland. Ebenfalls bekannt ist das Ross County im US-Bundesstaat Ohio mit seinen teilweise bizarren Pyrit-Konkretionen, die sogenannten „Pyrit-Schlangen“.
Mit zu den größten sedimentär-exhalativen Vorkommen und ältesten Bergbaugebieten Spaniens gehören die Minen von Riotinto im Pyritgürtel der südiberischen Halbinsel (auch Rio Tinto, spanisch Faja Pirítica Ibérica), wo der Pyrit in Form feinkörniger Ablagerungen mit einer geschätzten Masse von etwa einer Milliarde Tonnen vorliegt, sowie der ebenfalls in Spanien gelegene Ort Navajún (La Rioja) mit den meisten Funden an perfekten und hochglänzenden Pyritwürfeln weltweit. Kristallgruppen können hier bis zu 30 cm aufweisen und die größten Würfel eine Kantenlänge von bis zu 6 cm (anderen Quellen zufolge auch bis 8 cm) Länge.
Weitere bekannte Fundgebiete
Neben den beispielhaft genannten Lager- und Fundstätten der verschiedenen Bildungstypen waren und sind folgende Fundorte aufgrund außergewöhnlicher Pyritfunde bekannt:
Frankreich
Steinbruch La Lande bei Plumelin in der Bretagne
Steinbruch Aigue Bonne bei Saint-Raphaël an der Côte d’Azur im Département Var
Irland
Die Silbergruben Ballygown South, Ballynoe und Mogul im Bezirk Silvermines, County Tipperary
Kanada
Nanisivik auf der Baffininsel im Territorium Nunavut mit dem gleichnamigen, silberreichen Blei- und Zinkbergwerk, wo sehr gut ausgebildete Markasit- und Pyritkristalle, komplexe Kristallkombinationen sowie Zwillinge nach dem Eisernen Kreuz, Pseudomorphosen nach Markasit und epitaktische Verwachsungen der beiden gefunden wurden.
Elizabethtown-Kitley in den United Counties of Leeds and Grenville in Ontario mit dem Eisenbergwerk Shipman (auch Billings Mine) und bis zu 9 cm großen Pyritfunden
Der inzwischen verlassene Ort Elsa im Territorium Yukon, wo vor allem Silber, Blei und Zink abgebaut wurden, sich aber auch gut ausgebildete Pyrite und Markasite neben außergewöhnlichen, teilweise buntfarbig angelaufenen Polybasit- und Stephanitkristallen fanden
Norwegen
Die Kommune Evje og Hornnes mit mehreren Feldspat-Steinbrüchen und gut ausgebildeten, zentimetergroßen Pyritwürfeln
USA
Das Zn-Pb-Ag-Cu-Au-Mn-Bergwerk New Jersey Zinc Eagle Mine (kurz Eagle Mine oder auch Gilman Mine) bei Gilman im Eagle County von Colorado mit teilweise über 20 cm großen Pyritstufen
Die Roxbury-Eisengrube im Litchfield County von Connecticut ist zwar hauptsächlich als größtes Sideritvorkommen in Nordamerika bekannt, liefert aber auch hervorragende Pyritkristalle
Sonstige
Auch in Gesteinsproben aus den Hydrothermalfeldern des Mittelatlantischen Rückens, des Zentralindischen Rückens, des Ostpazifischen Rückens (Chinesisches, Japanisches und Ochotskisches Meer) sowie außerhalb der Erde auf dem Mond im Mare Crisium, dem Landegebiet der Luna-24-Mission fand man Pyrit.
Verwitterung
In sauerstoffreicher Umgebung z. B. in der Oxidationszone von Sulfidlagerstätten ist Pyrit der Verwitterung ausgesetzt und wandelt sich daher langsam um. Dabei wird zunächst der Schwefel durch Oxidation von S2− in (SO4)2− überführt und es entstehen Eisensulfate wie beispielsweise Melanterit (Eisenvitriol) oder Copiapit. Durch Abtransport des Schwefels in Lösungen bleibt das nun dreiwertige Eisen übrig und bildet mit Sauerstoff Oxide und Hydroxide wie unter anderem Limonit (Gemenge aus hauptsächlich Goethit und Lepidokrokit) und schließlich Hämatit durch Dehydratisierung von Limonit.
Bei entsprechend langsamer Umwandlung entstehen auf diese Weise auch Pseudomorphosen von Goethit beziehungsweise Limonit nach Pyrit, die im Kern unter Umständen noch Reste von Pyrit enthalten können. Die Oxidation von Pyrit setzt allerdings so viel Energie frei, dass er sich vor allem bei feinkörniger Ausbildung selbst entzünden und dabei Grubenbrände auslösen kann. So wurde unter anderem ein Brand von Kohleflözen bei Ravat am Jaghnob-Fluss (auch Yagnob) in Tadschikistan ausgelöst, der bereits seit über 2000 Jahren wütet (also bereits zu Zeiten Alexanders des Großen).
Auch Pyrite in häuslichen oder musealen Sammlungen zerfallen unter dem Einfluss von Luftsauerstoff und -feuchtigkeit mit der Zeit. Die sogenannte „Pyritkrankheit“ (englisch pyrite disease) beginnt mit Ausblühungen (siehe auch Mineral-Aggregat, Krusten, Effloreszenz), wodurch Risse entstehen, entlang derer die Proben schließlich zerbröseln und zerfallen. Am stabilsten sind dabei gut ausgebildete Kristalle und Stufen mit glatten Kristallflächen, die teilweise Jahrhunderte überdauern können. Durch Oberflächenbehandlung lässt sich der verwitterungsbedingte Zerfall zusätzlich verlangsamen. Beschleunigend wirkt dagegen zu hohe Luftfeuchtigkeit.
Biologische Bedeutung
Einer Theorie des Biochemikers Günter Wächtershäuser zufolge kann der Beginn der für das Leben notwendigen chemischen Prozesse auf Pyrit entstanden sein. Das Leben entstand unter anaeroben Bedingungen wie sie auch für die Entstehung von Pyrit nötig sind. Um einfachste chemische Stoffwechselvorgänge in Gang zu bringen und zu erhalten, bietet Pyrit mehrere Voraussetzungen. Einerseits wirkt die positive Ladung der Kristalloberflächen von Pyrit günstig auf den Zusammenhalt der überwiegend negativ geladenen Bausteine zur Synthese organischer Moleküle ein. Andererseits liefert das Pyritwachstum genug Energie und Dynamik, um Synthesereaktionen von Biomolekülen anzutreiben und aufrechtzuerhalten (siehe auch Chemische Evolution#Eisen-Schwefel-Welt).
Als Indiz für diese Möglichkeit der Entstehung von Lebensprozessen kann nach Wächtershäuser unter anderem die Tatsache dienen, dass auch heute noch in zahlreichen biochemischen Vorgängen Eisen und Schwefel eine wichtige Rolle spielen; grundlegend z. B. als Eisen-Schwefel-Cluster in Enzymen anaerober Lebensformen.
Verwendung
Als Rohstoff
Pyrit ist neben elementarem Schwefel der wichtigste Schwefel-Rohstoff zur Herstellung von Schwefelsäure. Durch oxidierendes Rösten erfolgt dabei zunächst die Umwandlung des Eisensulfids mithilfe von Sauerstoff in Eisen(III)-oxid und Schwefeldioxid. Letzteres wird weiter zu Schwefeltrioxid und schließlich zu Schwefelsäure verarbeitet.
Das bei der Schwefelsäuregewinnung übrigbleibende Eisen(III)-oxid (auch Purpurerz oder Kiesabbrand, Fe2O3) wird in Hochöfen zu Eisen verarbeitet. Des Weiteren findet Kiesabbrand auch als Poliermittel und Farbengrundstoff Verwendung. Ein bekanntes Poliermittel war das in Bodenmais im Bayerischen Wald durch vorsichtige Oxidation von Pyrit und Pyrrhotin hergestellte Polierrot.
Im Jahr 1999 wurden in Europa nur noch ca. drei Millionen Tonnen Pyrit zur Schwefelsäuregewinnung geröstet, der größere Anteil Schwefelsäure wird inzwischen aus der Entschwefelung fossiler Brennstoffe und anderer Abgase erhalten.
Historisch wurden Pyrit und Markasit zur Vitriolgewinnung verwendet. Diese wurden auf Halden der Verwitterung ausgesetzt – dem Pyrit musste dazu vorher ein Teil des Schwefels mithilfe von speziellen „Schwefelöfen“ ausgetrieben werden, während Markasit von allein verwitterte (daher auch dessen Synonym Vitriolkies) – und wandelten sich dabei langsam in Vitriol (hier: Eisenvitriol) um. Die Sickerwässer wurden aufgefangen und das enthaltene Vitriol ausgelaugt.
Neben der Herstellung von Vitriol wurde Pyrit auch zur Gewinnung von Alaun gebraucht, das heißt aus geröstetem und ausgelaugtem, pyrithaltigem Alaunschiefer gewonnen. Pyrit bildete dabei während der Herstellung die Grundlage der zur Bildung von Aluminiumsulfat nötigen Schwefelsäure, das zusammen mit Kaliumsulfat zu Kalialaun weiterverarbeitet wurde.
Bei örtlicher Anreicherung mit Kupfer z. B. durch Beimengungen an Chalkopyrit wird Pyrit auch als Kupfererz und durch Beimengungen an Gold auch als Golderz gewonnen.
Bei der Herstellung von hochwertigem Stahl wie beispielsweise rostfreiem Stahl wird Pyrit zur Verbesserung der Bearbeitbarkeit beigefügt. Ursache dafür ist die Eigenschaft des Schwefels, im Stahl eine Schwefelmatrix zu bilden.
Forscher der Empa und der ETH entwickelten 2015 auf der Suche nach einer kostengünstigen Alternative für Lithium-Ionen-Akkus eine sogenannte „Katzengold-Batterie“, bei der die Anode (Pluspol) aus Magnesium und die Kathode (Minuspol) aus Pyrit besteht. Das zugehörige Elektrolyt besteht aus Magnesium- und Natriumionen. Die Vorteile dieser neuen Batterie sind neben den gegenüber Lithium wesentlich günstigeren Rohstoffpreisen von Magnesium (15-mal günstiger) und Pyrit, dass sie nicht explodieren kann, da Magnesium als Anode sicherer als Lithium ist. Hinzu kommt nach bisherigen Forschungsergebnissen, dass der Katzengold-Akku langlebiger zu sein scheint, da er auch nach 40 Lade- und Entladezyklen kaum an Leistungsfähigkeit verloren hatte. Der einzige Nachteil sei nur die Leistung insgesamt, die noch eher niedrig ist, was die Nutzung in mobilen Geräten und Elektroautos bisher ausschließt.
Schmuckstein und Sammelobjekt
Pyrit gehört zwar zur Gruppe des Trauerschmucks, wird aber auch bei anderen Gelegenheiten getragen und zu Schmucksteinen meist in natürlicher Form als Anhänger oder Brosche verarbeitet, aber auch geschliffen unter anderem als Ringstein oder an Halsketten. Bei den Maya war Pyrit im 9. Jahrhundert zudem neben Jade, Cinnabarit, Hämatit, Quarz, Serpentinit und Türkis ein beliebter Zahnschmuck, für die passgenau Löcher in die Frontzähne gebohrt wurden.
Allerdings ist Pyrit als Trageschmuck nicht besonders geeignet, da er empfindlich gegenüber Wärmeeinwirkung ist, was schon beim Fassen Probleme bereitet. Aufgrund seiner Empfindlichkeit gegenüber Säuren „erblinden“ die Kristallflächen mit der Zeit. Da Pyrit dem Markasit sehr ähnlich ist, gelangt er oft unter dieser fälschlichen Bezeichnung in den Handel. Markasit ist allerdings noch empfindlicher und zerfällt nach einigen Jahren.
Als Sammelobjekt sind Pyrite vor allem als gut ausgebildete Kristalle und Stufen sowie als pyritisierte Fossilien begehrt. Berühmte Fundstellen waren und sind hier unter anderem Elba in Italien für bis zu 15 cm große, scharfkantige und hochglänzende Pyritoeder, Zentral-Peru (Cerro de Pasco, Chungar und andere) für teilweise zentnerschwere Kristallstufen mit bis zu 10 cm großen Würfeln und Kombinationen, Navajún in Nordspanien für die weltweit meisten und perfektesten Würfel sowie bis zu 30 cm großen Kristallgruppen, Stratoni auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki mit hochglänzenden Stufen, Würfeln, Oktaedern und Pyritoedern sowie häufiger Riesenkristallbildung von bis zu 50 cm Kantenlänge sowie das sächsische und böhmische Erzgebirge für mehrere zentimetergroße Pseudomorphosen von Pyrit und Markasit nach Pyrrhotin.
Bedeutung für die Umwelt
Der in Braunkohle und Steinkohle enthaltene Pyrit und andere Schwefelverbindungen geben im Verbrennungsprozess den enthaltenen Schwefel als Schwefeldioxid (SO2) an die Rauchgase ab. Wenn dieses Gas in die Atmosphäre gelangt, bildet sich in Wassertröpfchen Schweflige Säure, die wesentlich zum Entstehen des „sauren Regens“ beiträgt. Durch Maßnahmen der Rauchgasentschwefelung kann das Schwefeldioxid weitgehend zurückgehalten werden.
Auch der in grundwasserführenden Schichten enthaltene Pyrit kann in Gegenwart von Sauerstoff oxidiert werden. Diese Oxidation wird überwiegend durch Bakterien katalysiert. Eine große Bedeutung hat die Oxidation des Pyrits durch denitrifizierende, eisen- und schwefeloxidierende Bakterien mit Nitrat als mittelbarem Oxidationsmittel. Dies ist ein aus mehreren abiotischen und bakteriellen Redoxreaktionen bestehender Prozess, bei dem letztlich der Sulfidschwefel des Pyrits zu Sulfat (SO42−) oxidiert und Nitrat zu elementarem, molekularem Stickstoff (N2) reduziert wird. Man bezeichnet diesen Vorgang als „Denitrifikation“ durch Pyrit. In den Wassergewinnungsgebieten der Stadtwerke Hannover AG werden auf diese Weise jährlich größenordnungsmäßig 1000 Tonnen Pyrit umgesetzt.
Da nach der Trinkwasserverordnung der Grenzwert für Nitrat mit 50 mg/l niedriger ist als der für Sulfat mit 240 mg/l, bedeutet die Denitrifikation durch Pyrit im Hinblick auf die Einhaltung des Nitratgrenzwertes eine Entlastung. Das im Pyrit enthaltene Eisen und andere metallische Begleitelemente wie Mangan oder Nickel können teilweise in das Wasser übertreten und müssen bei der Trinkwasseraufbereitung eliminiert werden.
Der in der Braunkohle enthaltene Pyrit ist eine der Quellen für die Übersäuerung von Restlöchern.
Esoterik
Von Esoterikern wird Pyrit als Heilstein gegen Arthritis und Ischiasschmerzen eingesetzt. Radialstrahlig gewachsener Pyrit – eine sogenannte „Pyritsonne“ – soll als Amulett-Anhänger am Hals getragen zum einen gegen Magen- und Verdauungsstörungen wirken und zum anderen das Immunsystem stärken. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit liegen jedoch nicht vor.
Siehe auch
Liste der Minerale
Systematik der Minerale
Literatur
Monographien:
Jürgen Weiner und Harald Floss, Eine Schwefelkiesknolle aus dem Aurig nacien vom Vogelherd, Baden-Württemberg -- Zu den Anfängen der Feuererzeugung im europäischen Paläolithikum, 2004 (Download).
Kompendien:
Weblinks
Mineralienatlas: Pyrit und Mineralienportrait Pyrit (Wiki)
Einzelnachweise
Schmuckstein
Grandfathered Mineral
Eisenmineral
Sulfide und Sulfosalze
Kubisches Kristallsystem
Schwefelmineral
Erz
Verbindungshalbleiter |
41798 | https://de.wikipedia.org/wiki/Essigs%C3%A4ure | Essigsäure | Essigsäure (systematisch Ethansäure, ) ist eine farblose, ätzende, hygroskopische, brennbare Flüssigkeit aus der Gruppe der Carbonsäuren. Es handelt sich um eine einfache Carbonsäure der Zusammensetzung C2H4O2 und der Halbstrukturformel CH3COOH. Sie weist einen charakteristischen sauren Geschmack und Geruch auf. Sie ist eine schwache Säure, die in wässriger Lösung nur teilweise dissoziiert.
Essigsäure ist eine wichtige Industriechemikalie zur Herstellung von Polymeren wie Polyvinylacetat oder Celluloseacetat. Der globale Bedarf betrug 2014 etwa zehn Millionen Jahrestonnen. Essigsäure für industrielle Zwecke wird meist durch die Carbonylierung von Methanol oder durch die Oxidation von Acetaldehyd gewonnen.
Die im Haushalt verwendete Essigsäure, in verdünnter wässriger Lösung als Essig bezeichnet, wird ausschließlich durch Essigsäuregärung von Ethanol gewonnen. Als Lebensmittelzusatzstoff trägt sie die E-Nummer E 260. Neben der Verwendung als Lebensmittel wird verdünnte Essigsäure als Entkalkungsmittel eingesetzt.
Nomenklatur
Die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC), eine Institution, die unter anderem Empfehlungen zur Nomenklatur und Terminologie von chemischen Verbindungen vergibt, bevorzugt den Trivialnamen Essigsäure als Standardnamen. Zugleich hat die IUPAC den Namen Ethansäure als systematischen Namen festgelegt, der sich aus der substitutiven Nomenklatur ergibt.
Der englische Namensbestandteil acetic, der deutsche Name des Essigsäure-Anions, Acetat, und die veralteten Namen Acetylsäure und Acetoxylsäure leiten sich vom lateinischen Wort für Essig, acetum, ab. In den chemischen Kurzbezeichnungen AcOH oder HAc steht das Ac für die Acetylgruppe respektive die Acetoxygruppe, OH steht für die OH-Gruppe der Carboxygruppe und H für das Proton der Säure.
Die Bezeichnung Eisessig bezieht sich auf die Eigenschaft von wasserfreier Essigsäure, bei einer Temperatur von 16,6 °C oder niedriger zu eisähnlichen Kristallen zu gefrieren. Der Name Holzessig bezieht sich auf Essigsäure, die aus der trockenen Destillation von Holz gewonnen wurde. Die Namen Methylameisensäure, Methancarbonsäure und Methylcarbonsäure stammen aus älteren substitutiven Nomenklaturen.
Geschichte
Die europäische und die asiatische Küche nutzen Essig seit vielen Jahrhunderten als Würzmittel zur Säuerung und zur Konservierung von Lebensmitteln. Auch die Verwendung als Ingredienz kosmetischer Mittel im alten Ägypten ist belegt. In Europa geht die Verwendung als Lebensmittel bis in die Antike zurück. Posca, ein Getränk aus Essigwasser, war ein nichtalkoholisches Getränk im Römischen Reich. Der antibakteriell wirkende Essig erlaubte den Genuss von möglicherweise mikrobiologisch belastetem Wasser. Bekannt war damals bereits die chemische Verwendung der Essigsäure. Die reine bzw. konzentrierte Essigsäure gab es jedoch erst ab etwa 1800. Im dritten Jahrhundert vor Christus beschrieb der griechische Philosoph und Naturforscher Theophrastos von Eresos die Einwirkung von Essig auf Blei zur Herstellung von Bleiweiß, ein im Altertum bedeutendes Weißpigment. Noch zu Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte die Meinung, Essigsäure sei die einzige pflanzliche Säure und alle anderen beständen aus ihren zusammengesetzten Formen. Carl Wilhelm Scheele widerlegte dies 1786 durch die Isolierung der Gallussäure. Es brauchte jedoch lange, bis sich die Erkenntnis allgemein durchsetzte. 1814 ermittelte Jöns Jakob Berzelius die Zusammensetzung der Essigsäure. Im 18. Jahrhundert galt die Anwendung von „Pestessig“ oder „Vierräuberessig“, ein Kräuterauszug auf Essigbasis, als Schutz vor ansteckenden Krankheiten. Vor dem Kontakt mit Kranken sollten damit der Mund und die Nase ausgespült und die Hände gewaschen werden.
Fermentation von Wein
Wie bei dem bekannten Aceto balsamico in der italienischen Region Modena gewannen die Hersteller den Essig traditionell aus Wein, der offen stehengelassen wurde und dabei vergor. Das im Mittelalter in Frankreich entwickelte Orléans-Verfahren (Offene Gärung) gewann den Essig aus Wein, der in große und flache Bottiche gefüllt und offen hingestellt wurde. Taufliegen, auch als Frucht- oder Essigfliegen bekannt, trugen Essigsäurebakterien ein, die eine Kahmhaut auf der Weinoberfläche bildeten, die sogenannte Essigmutter. Nach diesem Verfahren werden heute noch hochwertige Weinessige hergestellt.
Eine Weiterentwicklung erfolgte im 19. Jahrhundert durch das Schüzenbach-Verfahren, auch Schnellessig- oder Fesselverfahren genannt, und dem Rundpumpverfahren mit den ersten Oberflächenfermentern. Eine Weiterentwicklung war das Großraumbildnerverfahren. Dabei wurde beim Fessel-, Generator- oder Spanbildnerverfahren die wein- beziehungsweise alkoholhaltige Lösung durch große Holzgeneratoren gerieselt, die beispielsweise mit Buchenspänen gefüllt waren und als natürlicher Träger für die Ansiedlung der Bakterien dienten. Die von der freiwerdenden Reaktionsenthalpie angetriebene Luftzirkulation gewährleistete die Sauerstoffzufuhr über eine Belüftung am Boden der Behälter. Ähnliche Verfahren zur Herstellung von Essig sind bis in die heutige Zeit im Einsatz.
Der französische Wissenschaftler Louis Pasteur entdeckte 1856 die Rolle der Bakterien bei der Essigherstellung. 1868 arbeitete er erstmals selektive Wachstumsbedingungen für die Essigsäurebakterien aus und setzte diese ein. Damit legte er den Grundstein für die kontrollierte Herstellung von Essig in Form von Weinessig mit einem Essigsäureanteil von etwa 6 %. Das Verfahren und die Ausbeute verbesserten sich erst 1949 durch die Einführung eines Submersverfahrens in Form des „Frings-Acetators“, benannt nach dem Unternehmen Heinrich Frings GmbH & Co KG in Bonn, das maßgeblich an der Entwicklung beteiligt war. Das Submersverfahren ist die häufigste Produktionsform für biogene Essigsäure.
Trockene Destillation von Holz
Um 1800 begann die Herstellung von Essigsäure aus Holzessig nach Lowitz. Dabei lieferte Buchenholz etwa 6 % der Trockenmasse an Essigsäure. Der Holzessig, der billiger herzustellen war als der durch Fermentation gewonnene Essig, reagierte mit Kalk zu Calciumacetat, dem Graukalk. Aus diesem konnte durch Reaktion mit Mineralsäuren Essigsäure in hoher Konzentration gewonnen werden, die durch Destillation weiter aufkonzentriert wurde. Die deutsche Industrie stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach diesem Verfahren etwa 35.000 Jahrestonnen Essigsäure her.
Industrielle Herstellung
Dem deutschen Chemiker Hermann Kolbe gelang 1845 die Synthese von Essigsäure aus anorganischen Verbindungen. Die photochemische Reaktion von Tetrachlorethen in Gegenwart von Wasser und Chlor führte zu Trichloressigsäure, einer starken Säure (pKS-Wert: 0,65), die sich mit Natriumamalgam in Essigsäure überführen ließ. Die Reaktion fand indes keine technische Anwendung.
Die erste großtechnische Herstellung erfolgte im Ersten Wacker-Verfahren durch die Hydratisierung von Acetylen unter Quecksilbersulfat/Schwefelsäure-Katalyse zu Acetaldehyd. Dieser wurde unter Mangankatalyse weiter zu Essigsäure oxidiert. Die Wacker Chemie entwickelte dieses Verfahren 1913.
Nachdem in den 1960er Jahren große Mengen an Ethylen zur Verfügung standen, löste das Wacker-Hoechst-Verfahren das Erste Wacker-Verfahren ab. Dabei entsteht der Acetaldehyd durch Oxidation von Ethylen. Die installierte Produktionskapazität betrug in den 1970er Jahren etwa 2,6 Millionen Jahrestonnen.
Mit dem Ausbau der Erdölverarbeitung fielen in den Raffinerien große Mengen von gasförmigen Kohlenwasserstoffen an, die zunächst weder als Kraftstoffe noch in der chemischen Industrie verwendet wurden. Das anfallende Butan und die Butene wurden ab 1952 in der Butanoxidation, die bereits seit 1884 bekannt war, großtechnisch genutzt. Es entstanden Essig-, Ameisen-, Propion- und Buttersäure sowie neutrale Produkte wie Ketone, Aldehyde, Ester und Alkohole.
Der BASF-Chemiker Walter Reppe zeigte 1941 die Wirksamkeit der Carbonyle als Katalysatoren für die Herstellung von Carbonylverbindungen. Basierend auf diesen Arbeiten entwickelte die BASF einen Prozess, mit dem unter hohem Druck und Temperaturen Methanol und Kohlenstoffmonoxid zu Essigsäure umgesetzt wurden. Das Methanol selbst stellte einen Rohstoff dar, der nicht primär auf Erdöl basierte, sondern über Synthesegas aus verschiedenen Rohstoffquellen wie Erdgas und Kohle gewonnen wurde. 1960 wurde der BASF-Prozess erstmals großtechnisch in einer Anlage in Ludwigshafen am Rhein umgesetzt. Die BASF steigerte die Kapazität von anfänglich 3600 Jahrestonnen kontinuierlich auf 45.000 Jahrestonnen im Jahr 1981. 1966 baute die amerikanische Borden Chemical Co. eine weitere Anlage auf der Basis des BASF-Prozesses mit einer Kapazität von 45.000 Jahrestonnen in Geismar in Louisiana, die bis 1981 auf 64.000 t/a aufgestockt wurde.
In den späten 1960er Jahren entwickelte Monsanto den Monsanto-Prozess, in dem Essigsäure ebenfalls durch Carbonylierung von Methanol mit Kohlenstoffmonoxid hergestellt wird, jedoch ein anderer Katalysator zum Einsatz kommt. 1970 baute Monsanto die erste Anlage in Texas City mit einer Startkapazität von 135.000 Jahrestonnen, die bis 1975 auf 270.000 Jahrestonnen erhöht wurde. Bereits kurze Zeit nach diesem Start wurde der BASF-Prozess im Vergleich unwirtschaftlicher und konnte nicht mehr konkurrieren. 1978 baute Celanese die Clear Lake Plant in Seabrook in Texas auf der Basis des Monsanto-Prozesses mit einer Startkapazität von 27.000 Jahrestonnen. Prozessverbesserungen steigerten die Kapazität auf 900.000 Jahrestonnen.
1986 kaufte BP chemicals die Rechte am Monsanto-Prozess ohne die Modifikationen von Celanese und modifizierte ihn mit einem Iridium-Katalysator. Dieser als Cativa-Prozess bezeichnete Weg wurde in den frühen 1990er Jahren weiterentwickelt und ersetzte und verbesserte den Prozess in der Monsanto-Fabrik in Texas City.
Vorkommen und biologische Bedeutung
Freie Essigsäure
Essigsäure ist ein Bestandteil von Pflanzensäften und ätherischen Ölen. Alkoholische Getränke, die für längere Zeit der Luft ausgesetzt sind, bilden durch Oxidation des Ethanols Essigsäure. Die in der Umwelt weit verbreiteten Essigsäurebakterien treten fast überall dort auf, wo Hefepilze Glucose oder andere Zucker zu Ethanol vergären. Die Bakterien oxidieren das entstehende Ethanol weiter zu Essigsäure. Im Darmtrakt von Insekten, die sich von Kohlenhydraten ernähren, bilden Essigsäurebakterien einen Teil der Darmflora. Die Assimilation der Essigsäure ergänzt gegebenenfalls die Bienenernährung. Die Herstellung von Essigsäure durch Bakterien tritt bei der Erzeugung von Silagen wie Maissilage als unerwünschte Nebenreaktion auf; ein zu hoher Essigsäureanteil in der Silage macht diese für das Vieh nicht mehr zuträglich.
Acetobacter aceti, ein Gram-negatives Bakterium, sowie das Bakterium Clostridium acetobutylicum scheiden Essigsäure als Teil ihres Stoffwechsels aus. Diese Mikroorganismen treten überall dort auf, wo Ethanol als Teil der Zuckerfermentation vorkommt. Acetobacter aceti wächst am besten bei Temperaturen von 25 bis 30 °C und einem pH-Wertbereich von 5,4 bis 6,3. Essigsäure ist auch Bestandteil der Vaginalschmierung des Menschen und anderen Primaten, wo es als ein mildes antibakterielles Mittel dient.
Bei der Propionsäuregärung zur Reifung von Hartkäse fermentieren Streptokokken und Milchsäurebakterien Lactose zu Milchsäure; im weiteren Verlauf setzen Propionsäurebakterien die Milchsäure zu Essigsäure und Propionsäure um, die Komponenten des Käsearomas sind.
Ein Teil der globalen Methanproduktion stammt aus dem Acetatstoffwechsel von Archaeen wie Methanosarcina thermophila. Im Fermentationsweg unterliegt Essigsäure einer Decarboxylierung zu Methan und Kohlenstoffdioxid:
CH3COO- + H+ -> CH4 + CO2
Organische Säuren wie Ameisen- und Essigsäure sind Bestandteile der globalen Troposphäre und tragen zum Ansäuern von Niederschlägen bei. Essigsäure gelangt etwa bei Waldbränden in die Atmosphäre. Ameisen- und Essigsäure repräsentieren etwa ein Viertel der atmosphärischen Nicht-Methan-Kohlenwasserstoffe. Neben Emissionen aus Biomasse tragen photochemische Reaktionen zur Bildung von Essigsäure in der Atmosphäre bei.
Interstellares Vorkommen von Essigsäure wurde zuerst 1996 in der molekularen Wolke von Sagittarius B2 Nord, genannt die Heimat der großen Moleküle, ungefähr 390 Lichtjahre vom Milchstraßenzentrum und etwa 25.000 Lichtjahre von der Erde entfernt, entdeckt. Unter Laborbedingungen wurde nachgewiesen, dass Kohlenstoffdioxid und Methan bereits bei 12 K unter dem Einfluss energiereicher Strahlung über einen Radikalmechanismus zu Essigsäure reagieren.
CH4 + CO2 -> CH3COOH
Dieser Mechanismus könnte die Bildung der interstellaren Vorkommen erklären.
Salze der Essigsäure
Die natürlich vorkommenden, aber sehr seltenen Mineralien wie Hoganit [Cu(CH3COO)2·H2O] oder Paceit [CaCu(CH3COO)4·6 H2O] sind Beispiele für Acetatvorkommen in der unbelebten Natur. Die Mineralien entstanden vermutlich durch die Reaktion von Erzen mit Essigsäure pflanzlichen Ursprungs. Ein weiterer Vertreter der Acetatmineralien ist das Calclacit [Ca(CH3COO)Cl·5 H2O]. Dieses entsteht durch die Reaktion von calciumhaltigem Material mit Essigsäure, die aus pflanzlichem Material wie Holz freigesetzt wurde.
Organische Essigsäureverbindungen
Acetylierte Verbindungen, das heißt Austausch von einem Wasserstoffatom durch die Acetylgruppe der Essigsäure an den funktionellen Gruppen –OH, –SH und –NH2, aber auch direkt an einer –C–H-Bindung, sind in der Natur weit verbreitet und haben vielfältige Funktionen.
Acetyl-Coenzym A (Acetyl-CoA), die Acetylgruppe als Thioester an Coenzym A gebunden, ist zentral für den Stoffwechsel von Kohlenhydraten und Fetten und essenziell bei der Synthese und Oxidation von Fettsäuren und der Oxidation von Pyruvat im Citratzyklus. Die Thioesterbindung ist eine sehr reaktive Bindung, die Hydrolyse ist mit −31,5 kJ/mol exergonisch. Konrad Bloch und Feodor Lynen, dem 1951 die Isolierung aktivierter Essigsäure, Acetyl-Coenzym A, aus Hefezellen gelang, erhielten 1964 für ihre Entdeckungen, die den Acetyl-CoA- und den Fettsäuremetabolismus verknüpften, den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
Acetylcholin, ein Ester der Essigsäure und des Aminoalkohols Cholin, ist einer der wichtigsten Neurotransmitter in vielen Organismen, so auch im Menschen. Er spielt eine wichtige Rolle bei Lern- und Gedächtnisprozessen.
Die synthetische Acetylsalicylsäure (Markenname: Aspirin) und das synthetische Acetylcystein werden als Medikamente verwendet.
Bei Biopolymeren modifiziert Acetylierung die Polymereigenschaften. Peracetylierte Polymere haben eine sehr geringe Löslichkeit:
Chitin (Acetylglucosamin) ist das in der Natur am weitesten verbreitete Aminozucker-Polymer. Bei Pilzen ist es der Hauptbestandteil der Zellwand und bei Gliederfüßern die Hauptkomponente des Exoskeletts.
Acetylierung ist – nach Phosphorylierung – die zweithäufigste selektive, posttranslationale Modifikation in eukaryontischen Zellen. Acylierung (oder nachfolgende Deacetylierung) sorgt für biologisch unterschiedlich aktive Populationen:
N-Acetylierung von Lysin in Histonen reduziert die positiven Oberflächenladungen dieser Proteine und somit auch ihre Bindungen an die DNA.
N-terminale Acetylierung von Proteinen spielt eine wichtige Rolle bei der Synthese, Stabilität und Lokalisierung von Proteinen.
Herstellung
Weltweit bestehen Produktionskapazitäten für Essigsäure in Höhe von etwa 7 Mio. Tonnen pro Jahr. Zwischen 1998 und 2006 gab es weltweit ein durchschnittliches Wachstum der Produktion von 3 % bis 4 % pro Jahr, wobei etwa 70 % der Jahresproduktion in den USA (1996: 36 %; 2006: 32 %), Westeuropa (1996: 24 %; 2006: 17 %) und Japan (1996: 16 %; 2006: 11 %) hergestellt werden. Die ostasiatische Produktion stieg im Vergleich zu diesen Regionen von 1996 mit 14 % auf etwa 18 % im Jahr 2006. Die katalytische Oxidation von Leichtbenzin sowie die Rektifikation von Holzessig wird nur noch selten genutzt. Etwa 190.000 Tonnen werden jährlich weltweit fermentativ hergestellt, wobei etwa 70 % des Weltbedarfs an Speiseessig im Submersverfahren in etwa 700 Bioreaktoren produziert werden.
Biotechnische Herstellung
Die biotechnische, fermentative Herstellung von Essigsäure ist die Oxidation („Veratmung“) von Ethanol durch Bakterien der Gattungen Acetobacter und Gluconobacter. Es handelt sich biochemisch betrachtet um eine partielle Oxidation und nicht, wie es irrtümlich beschrieben wird, um eine Gärungsform. Die Bakterien wandeln etwa durch Gärungsprozesse entstandenes Ethanol durch eine „subterminale Oxidation“ über Acetaldehyd in Essigsäure um.
C2H5OH + 1/2 O2 -> CH3CHO + H2O
CH3CHO + 1/2 O2 -> CH3COOH
Die Oxidation erfolgt durch membranassoziierte Alkoholdehydrogenasen (ADH) und Aldehyddehydrogenasen (ALDH), die als prosthetische Gruppe Pyrrolochinolinchinon (PQQ) und bei den ADH zusätzlich Häm c enthalten. Die bei der Oxidation freiwerdenden Elektronen werden über Ubichinon auf eine ebenfalls membrangebundene Oxidase übertragen.
Ausgangsstoffe für die Essigsäurebildung können Wein, Bier oder Malz sein. Dabei sind die Bakterien von einer ausreichenden Sauerstoffversorgung abhängig und reagieren auf sauerstoffarme Bedingungen sehr empfindlich. Bereits bei einer Unterbrechung der Sauerstoffversorgung von wenigen Minuten kommt es zu einer signifikanten Abnahme der Ethanoloxidation. Steht Ethanol als Substrat nicht zur Verfügung, kommt es zu einem oxidativen Abbau der Essigsäure zu Kohlenstoffdioxid und Wasser. Die Bakterien bauen Kohlenhydrate sowohl über die Glykolyse als auch über den Entner-Doudoroff-Weg zu Pyruvat ab, das im Citratzyklus weiter verstoffwechselt wird.
Manche Arten von anaeroben Bakterien, etwa einige der Gattung Clostridium, können Zucker ohne die Zwischenstufe Ethanol nach folgender chemischer Reaktionsgleichung direkt in Essigsäure umwandeln:
C6H12O6 -> 3 CH3COOH
Durch den Mangel an Säureresistenz der Bakterien liegt die Konzentration der so erzeugten Essigsäure jedoch unter der Konzentration von Ethanol metabolisierenden Stämmen und macht eine Anreicherung durch Destillation notwendig. Die Essigsäuregärung von Ethanol ist daher die kostengünstigere Herstellungsform.
Butan- und Butenoxidation
Für die C4-Kohlenwasserstoffe Butan, 1-Buten und 2-Buten, die in verschiedenen Raffinerieprozessen anfallen, gab es anfangs weder Verwendung als Kraftstoff noch als Rohstoff für die chemische Industrie. Dass die Oxidation von Butan zu Essigsäure möglich ist, war lange bekannt. Verschiedene Firmen wie die Chemischen Werke Hüls entwickelten technische Prozesse zur Butan- und Butenoxidation. Ab den frühen 1950er Jahren wurden Anlagen für die Flüssigphasenoxidation von Butan bei etwa 170 bis 200 °C und 60 bis 80 bar im Hüls-Butan-Prozess gebaut; ein analoges Verfahren geht von Buten aus.
CH3-CH2-CH2-CH3 + 5/2 O2 -> 2 CH3COOH + H2O
Der Celanese-n-Butan-LPO-Prozess arbeitet bei 54 bar und 175 °C mit Cobaltacetat als Katalysator.
Der Anfall von Nebenprodukten wie anderen niedermolekularen Säuren, Ketonen und anderen Oxidationsprodukten erschwerte die Aufarbeitung des Reaktionsgemischs. Durch die komplexe Aufarbeitung und alternative Verwendungen für den C4-Schnitt wurde der Betrieb dieser Anlagen unwirtschaftlich.
Wacker-Hoechst-Verfahren
Große Mengen an Essigsäure werden mittels des Wacker-Hoechst-Verfahrens über die Oxidation von Ethylen erzeugt. Dabei entsteht durch Oxidation von Ethylen in Gegenwart von Palladium(II)-chlorid als Katalysator Acetaldehyd. Der Sauerstoff der Oxidationsreaktion stammt dabei aus dem als Lösungsmittel verwendeten Wasser. Der im Verfahren verwendete Sauerstoff dient der Reoxidation des Katalysators mittels Kupfer(II)-chlorid. Die folgenden Bilanzgleichungen fassen den ablaufenden katalytischen Kreisprozess zusammen:
(a) [PdCl4]^2- + C2H4 + H2O -> CH3CHO + Pd + 2 HCl + 2 Cl-
(b) Pd + 2 CuCl2 + 2 Cl- -> [PdCl4]^2- + 2 CuCl
(c) 2 CuCl + 1/2 O2 + 2 HCl -> 2 CuCl2 + H2O
mit der Gesamtbilanz:
C2H4 + 1/2 O2 -> CH3CHO
Die Teilreaktionen (a) bis (c) lassen sich als gekoppelte Reaktionen darstellen:
Der als Zwischenprodukt entstehende Acetaldehyd wird durch Oxidation mit Luft oder Sauerstoff unter Verwendung von Mangan(II)-acetat als Katalysator zur Essigsäure oxidiert. In einer Zwischenstufe entsteht Peressigsäure, die durch den Katalysator zur Essigsäure reduziert wird.
2 CH3CHO + O2 -> 2 CH3COOH
Ein älteres Verfahren gewann Acetaldehyd aus Ethylen über die säurekatalysierte Hydratisierung zum Ethanol, welches bei höheren Temperaturen im Lebedew-Prozess zu Acetaldehyd dehydriert wurde.
Monsanto- und Cativa-Prozess
Neuere Anlagen für die industrielle Synthese der Essigsäure arbeiten mit der katalytischen Umsetzung von Methanol mit Kohlenmonoxid unter einem Druck von 30 bis 60 bar und bei Temperaturen von 150 bis 200 °C im Monsanto-Prozess.
CH3OH + CO -> CH3COOH
Der Prozess verwendet einen Rhodium-Katalysator und hat eine Selektivität von über 99 % bezogen auf Methanol. Als aktive Katalysator-Spezies gilt der anionische Komplex cis-[Rh(CO)2I2]−. Der Prozess ist ein Beispiel für ein homogenkatalytisches Verfahren und besteht aus mehreren Teilreaktionen.
Als Nebenreaktion wird die Wassergas-Shift-Reaktion katalysiert, wobei geringe Mengen an Kohlenstoffdioxid und Wasserstoff entstehen. Weiterhin fällt durch Carbonylierung von Ethanol, das als Verunreinigung des Methanols in den Prozess gelangt, Propionsäure an.
Eine Verfahrensvariante entwickelte BP Chemicals 1966. Mittels eines Iridium(III)-iodid-Katalysator-Präkursors im Cativa-Prozess konnte ein höherer Umsatz sowie ein geringerer Kapitaleinsatz beim Bau neuer Anlagen erreicht werden; als aktive Spezies gilt der Iridium-Komplex [Ir(CO)2I2]−. Im Jahr 2000 wurde die erste Anlage nach diesem Verfahren in Malaysia in Betrieb genommen.
Eigenschaften
Molekulare Eigenschaften
Die Bindungslänge der Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindung beträgt 154 pm, die der Kohlenstoff-Sauerstoff-Doppelbindung 124 pm, die der Kohlenstoff-Sauerstoff-Einfachbindung 129 pm und die der intermolekularen Wasserstoffbrücke 261 pm.
Die Bindungswinkel der Carboxygruppe betragen 120°, wobei die Kohlenstoff-Sauerstoff-Einfachbindung einen partiellen π-Charakter aufweist. Die Bindung des Sauerstoffatoms der Hydroxygruppe zum Carboxykohlenstoffatom erfolgt über sp2-Orbitale. Die Struktur kann durch zwei mesomere Grenzstrukturen mit einer negativen Partialladung an einem Sauerstoffatom und einer positiven am partiell doppelgebundenen Sauerstoff der Hydroxygruppe dargestellt werden.
Physikalische Eigenschaften
Essigsäure kristallisiert in der orthorhombischen
mit den Gitterparametern a = (1332 ± 2) pm, b = (408 ± 1) pm und c = (577 ± 1) pm. Die Moleküle sind über Wasserstoffbrückenbindungen zu endlosen Ketten verbunden.
Essigsäure besitzt mit 118 °C eine relativ hohe Siedetemperatur gegenüber polaren Stoffen mit etwa gleicher molarer Masse; beispielsweise beträgt der Siedepunkt von 1-Propanol 97 °C. Die Ursache dafür ist die Fähigkeit der Essigsäure-Moleküle, über ihre Carboxygruppen Wasserstoffbrückenbindungen auszubilden. In der Flüssigphase bilden die Essigsäuremoleküle Kettenstrukturen aus. In der Gasphase stellt das Dimer aus zwei Essigsäure-Molekülen, die sich wie ein Molekül doppelter molarer Masse verhalten, die stabilste Form dar. Das Aufbrechen der Kettenstrukturen und der Übergang der Dimere in die Gasphase erfordert einen höheren Energieaufwand, erkennbar an der „erhöhten“ Siedetemperatur.
Die Dampfdruckfunktion ergibt sich nach der Antoine-Gleichung entsprechend log10(P) = A−(B/(T+C)) (P in bar, T in K) mit A = 4,68206, B = 1642,540 und C = −39,764 im Temperaturbereich von 290,26 bis 391,01 K.
Die Temperaturabhängigkeit der Verdampfungsenthalpie lässt sich entsprechend der Gleichung ΔVH0=A·exp(−αTr)(1−Tr)β (ΔVH0 in kJ/mol, Tr =(T/Tc) reduzierte Temperatur) mit A = 22,84 kJ/mol, α = 0,0184, β = −0,0454 und Tc = 592,7 K im Temperaturbereich zwischen 298 und 392 K beschreiben.
Reine Essigsäure hat als potentieller Elektrolyt eine, nur auf der Autoprotolyse beruhende, sehr geringe Leitfähigkeit für elektrischen Strom. Die Leitfähigkeit reiner Essigsäure beträgt bei 25 °C 6·10−7 S·m−1. Erst bei Zugabe von Wasser tritt Dissoziation und die Erhöhung der Leitfähigkeit ein. Wasserfreie Essigsäure erstarrt schon bei 16,6 °C zu eisähnlichen Kristallen.
Chemische Eigenschaften
Flüssige Essigsäure ist ein polares, hydrophiles und protisches Lösungsmittel. Die Dielektrizitätskonstante ε beträgt 6,2 (bei 25 °C). Sie mischt sich leicht mit polaren und unpolaren Lösungsmitteln wie Wasser, Chloroform und Hexan. In einem Zwei-Phasen-System aus Wasser und Ethylacetat verteilt sich Essigsäure so, dass nur wenige Prozent in der organischen Phase gefunden werden. Essigsäure löst sowohl polare Verbindungen wie anorganische Salze und Zucker, als auch unpolare Verbindungen wie niedermolekulare Alkane. Mit höheren Alkanen wie Octan ist Essigsäure nicht mehr vollständig mischbar; die Mischbarkeit nimmt mit zunehmender Kettenlänge der Alkane ab.
In wässriger Lösung reagiert Essigsäure als mittelstarke Säure; der pKS-Wert beträgt 4,76. In einer protolytischen Reaktion stellt sich ein Gleichgewicht zwischen der Essigsäure und dem Acetat-Ion ein, das stark auf Seiten der Säure liegt. Wie bei allen Carbonsäuren ist die Carboxylatgruppe des Acetat-Ions durch Mesomerie stabilisiert, was wesentlich zur sauren Reaktion der Carbonsäuren beiträgt:
Der Dissoziationsgrad der Säure liegt in verdünnten Lösungen nur im Bereich einiger Prozente. In einer 1-molaren Lösung beträgt er nur etwa 0,5 %. Das dabei entstehende Oxoniumion (H3O+) führt zu einer sauren Lösung (pH-Wert < 7). Bei einer 30%igen Lösung, entsprechend einer 5-molaren Lösung, beträgt der pH 1,7, bei einer 40%igen Lösung 1,53 und bei einer 50%igen Lösung 1,31.
Wird der pH-Wert einer Essigsäurelösung durch Zusatz einer starken Base oder durch Zusatz von Acetaten erhöht, wird eine Pufferlösung gebildet. Ist der pH-Wert der Lösung gleich dem pKS-Wert der Essigsäure, liegen Essigsäure und Acetat-Ion in derselben Konzentration vor. Dies ist der optimale Punkt eines Essigsäure-Acetat-Puffers, an dem die Änderung des pH-Werts beim Zusatz von Säuren oder Basen maximal abgepuffert wird. Dieses im Sauren effektive Puffersystem ist bedeutend für biochemische Systeme, da es einen günstigen pKS-Wert hat und die beteiligten Komponenten die meisten Organismen und Biomoleküle nicht negativ beeinflussen. Er ist ein stabiles Puffersystem, das heißt, das konjugierte Säure-Base-Paar verbleibt in Lösung und kann nicht wie beim Hydrogencarbonatpuffer aus dem System entweichen.
Essigsäure oxidiert an der Luft vollständig unter Hitzeentwicklung zu Wasser und Kohlenstoffdioxid. Dies geschieht bei Raumtemperatur jedoch nur extrem langsam.
Die Salze der Essigsäure werden als Acetate bezeichnet. Es sind zumeist kristalline Salze, die in ihren Kristallgittern (Ionengittern) das Acetat-Anion (CH3COO−) enthalten. Unedle Metalle wie Magnesium, Calcium, Zink oder Eisen lösen sich in verdünnter Essigsäure unter Bildung wasserlöslicher Acetate und Freisetzung von Wasserstoff auf. Mit Kupfer reagiert die Essigsäure in Gegenwart von Sauerstoff zu Kupferacetat, einem grünen, gesundheitsschädlichen Salz, das besser unter dem Namen „Grünspan“ bekannt ist. Essigsäure wird in verdünnter Form zum Kalklösen verwendet gemäß folgender Reaktionsgleichung:
2 CH3COOH + CaCO3 -> Ca^2+_{(aq)} \ + 2 CH3COO^{-}_{(aq)} \ + CO2 + H2O
Essigsäure reagiert mit Ethanol säurekatalysiert zu Essigsäureethylester, einem vielverwendeten Lösungsmittel. Wird 1-Pentanol statt Ethanol verwendet, entsteht Essigsäureamylester, eine stark riechende Verbindung. Mit Glycerin setzt sich Essigsäure zu Triacetin um, das als Weichmacher für Lacke und Klebstoffe dient. Allylacetat findet als Riechstoff Verwendung.
Essigsäure reagiert bei 800 °C unter Dehydratisierung zu Keten. Dieses wiederum reagiert mit überschüssiger Essigsäure zu Essigsäureanhydrid.
Mit Thionylchlorid lässt sich Essigsäure in Acetylchlorid überführen, das für Veresterungsreaktionen verwendet wird. Die Chlorierung führt zu Chloressigsäure, die zur Herstellung von Carboxymethylcellulosen, Mercaptoessigsäure, Pflanzenschutzmitteln, Farbstoffen oder Arzneimitteln verwendet wird. Mit Ammoniak entsteht zunächst Ammoniumacetat, das durch Erhitzen in Acetamid überführt wird.
CH3COONH4 -> CH3-CO-NH2 + H2O
Verwendung
Ernährung
Essigsäure hat eine große Bedeutung als Geschmacksstoff. Essigsäure (E 260) und ihre Salze Kaliumacetat (E 261), Natriumacetat (E 262) und Calciumacetat (E 263) werden als Säuerungsmittel für Obst und Gemüse in Dosen und Gläsern (0,5–3 % Essigsäure) oder als Teigsäuerungsmittel verwendet. Die Essigsäure im Sauerteig wird durch heterofermentative Sauerteigbakterien gebildet. Außerdem wird Essigsäure bei Fisch in allen Variationen, Konserven, verschiedenen Marinaden, Feinkostsalaten, Mayonnaisen und Salatsoßen zusammen mit Sorbinsäure (E 200) oder Benzoesäure (E 210) verwendet. Sauergemüse sind Gemüse, die unter anderem durch Essigsud haltbar gemacht werden.
Auch verschiedene Milchprodukte werden unter Verwendung von Essigsäure hergestellt: Mascarpone wird aus Rahm hergestellt, der mit Essigsäure eingedickt wird, ebenso Ziger, ein Molkenkäse, der aus Molke durch Ausfällung von Resteiweiß durch Essigsäure gewonnen wird. Bleiacetat, auch als Bleizucker bekannt, wurde bis in die Neuzeit als Zuckerersatz zum Süßen von Wein genutzt, die Giftigkeit des Bleizuckers war lange Zeit nicht bekannt. Der Geruch von Wein nach Essig, der sogenannte Essigstich, gilt als Weinfehler.
Das Einlegen und Abwaschen von frischem Fleisch geschieht ebenfalls mit Hilfe von Essigsäure. Der bakterizide Effekt der Essigsäure besteht darin, dass durch den erniedrigten pH-Wert physiologische Prozesse unterbunden werden und Eiweiße denaturieren. Haushaltsessig besteht aus biogenem Essig und enthält 5 % Essigsäure.
Essigessenz ist eine 25%ige Essigsäurelösung in Wasser, riecht stark stechend, und darf nur verdünnt in Speisen verwendet werden. Essigessenz wird gern als biologischer Haushaltsreiniger verwendet. Wässrige Lösungen der Essigsäure mit einem Säuregehalt größer als 15,5 % dürfen offiziell nicht mehr als Essig bezeichnet werden.
Folgeprodukte
Für die stoffliche Nutzung wird fast ausschließlich großtechnisch hergestellte Essigsäure genutzt. Dabei werden mehr als 65 % der Weltproduktion für Polymere auf der Basis von Vinylacetat (43 %) und Celluloseacetat (25 %) aufgewendet. Vinylacetat ist die Grundlage für Polyvinylacetat (PVAc), das unter anderem in Farben und Klebstoffen verwendet wird, in geringerem Umfang in Vinylacetat-Copolymeren wie Ethylenvinylacetaten und Polyvinylalkohol. Celluloseacetat wird vor allem zur Produktion von Zigarettenfiltern, Folien und Kunststoffprodukten verwendet. Essigsäure dient als Lösungsmittel bei der Herstellung von Terephthalsäure mittels Flüssigphasenoxidation. Sie ist ein wichtiges Zwischenprodukt zur Herstellung von Riechstoffen und Medikamenten.
Weitere Verwendungen umfassen verschiedene Ester wie Essigsäure-n-butylester und Essigsäureisopropylester, zusammen etwa 11 %, die als Lösungsmittel für Kosmetika und Parfüms verwendet werden. Weitere 10 % werden für die Herstellung von Essigsäureanhydrid, Acetanilid, Essigsäurechlorid und Ammoniumacetat genutzt. Salze wie Aluminiumdiacetat sind Hilfsmittel in der Textil- und Lederindustrie und dienen dort zur Imprägnierung.
Bei der Umsetzung von Organochlorsilanen wie Dichlordimethylsilan mit Essigsäure entstehen Acetoxysilane. In Reaktion mit Silanolen reagieren diese unter Kondensation und Freisetzung von Essigsäure zu Silikonen.
Essigsäure reagiert mit Wasserstoffperoxid unter Bildung von Peroxyessigsäure. Industriell entsteht sie bei der Oxidation von Acetaldehyd mit Luft. Peroxyessigsäure ist ein starkes Oxidationsmittel, das antimikrobiell wirkt und zur Desinfektion eingesetzt wird. Außerdem epoxidiert Peroxyessigsäure verschiedene Alkene zu Epoxiden.
Sonstige Verwendung
Die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation führt Essigsäure als ein für die Behandlung von HNO-Erkrankungen des Kindesalters angewandtes Mittel.
Essigsäure wird beim Screening für die Erkennung von Gebärmutterhalskrebs in Subsahara-Afrika angewendet. Die Essigsäure wird dazu auf den Gebärmutterhals aufgetragen. Färbt sich der Bereich nach etwa einer Minute weiß, gilt der Test als positiv.
Essigsäure wird zum Ansäuern von Hygiene- und Kosmetikprodukten verwendet, etwa zum Peeling. Die Essigsäure lässt die obere Schicht abgestorbener Hautzellen abblättern und hinterlässt eine glattere Oberfläche. Der Effekt wurde schon von der ägyptischen Herrscherin Kleopatra genutzt, deren Milchbäder ebenfalls hautglättende Essigsäure enthielten.
Essigsäure beziehungsweise Essig wird als eine der ersten Maßnahme beim Kontakt von Menschen, insbesondere Badenden, mit Quallen empfohlen, um noch nicht ausgelöste Nesselzellen zu inaktivieren.
In der Fotolaborpraxis der „nassen“ oder analogen Fotografie wird verdünnte Essigsäure (3–5 %) zur Neutralisation der Entwicklerbäder als sogenanntes „Stoppbad“ eingesetzt. Vielfach wird die Lösung mit einem Indikatorfarbstoff versetzt, der anzeigt, wann das Stoppbad alkalisch und somit unwirksam wird.
Latex, eine Suspension von Naturkautschuk im wässrigen Medium, wird mit Essigsäure in geringer Konzentration koaguliert. Die geladenen Latexpartikel stoßen einander ab, durch Zugabe von Essigsäure wird diese Ladung neutralisiert und der Latex gerinnt.
Eisessig kann zur Präparation von kalkigen Fossilien in Kreide verwendet werden. Dabei wird das Gestein mit der Säure übergossen. Eine Reaktion kann nicht stattfinden, da sich das entstehende Calciumacetat nicht lösen kann. Erst nach dem Verdünnen findet eine Reaktion im gesamten Gestein statt.
Gefahrenhinweise
Die Einstufung und Kennzeichnung nach den Gefahrgutvorschriften hängt von der Konzentration ab. Eisessig oder Lösungen mit mehr als 80 Masse-% Säure werden der Gefahrgutklasse 8 (Ätzende Stoffe) mit der Verpackungsgruppe II (Stoffe mit mittlerer Gefahr) zugeordnet. Als Nebengefahr muss die Gefahrgutklasse 3 (Entzündbare Flüssigkeiten) mit gekennzeichnet werden (Gefahrzettel 8/3). Lösungen mit mindestens 50 Masse-% und höchstens 80 Masse-% Säure werden nur noch der Klasse 8 (Ätzende Stoffe) mit der Verpackungsgruppe II (Stoffe mit mittlerer Gefahr) zugeordnet (Gefahrzettel 8). Für Lösungen mit mehr als 10 Masse-% und weniger als 50 Masse-% Säure gilt die Klasse 8 (Ätzende Stoffe) mit der Verpackungsgruppe III (Stoffe mit geringer Gefahr) (Gefahrzettel: 8).
Reine Essigsäure gilt als entzündliche Flüssigkeit. Oberhalb des Flammpunktes können sich entzündliche Dampf-Luft-Gemische bilden. Die Verbindung hat einen Flammpunkt bei 38,5 °C. Der Explosionsbereich liegt zwischen 6 Vol.‑% (148 g/m³) als untere Explosionsgrenze (UEG) und 17 Vol.‑% (430 g/m³) als obere Explosionsgrenze (OEG). Der maximale Explosionsdruck beträgt 6,3 bar. Die Sauerstoffgrenzkonzentration liegt bei 200 °C bei 10,6 Vol-%. Die Grenzspaltweite wurde mit 1,69 mm bestimmt. Es resultiert damit eine Zuordnung in die Gasgruppe IIA. Die Zündtemperatur beträgt 485 °C. Der Stoff fällt somit in die Temperaturklasse T1. Der Heizwert beträgt 14,49 MJ/kg. Die Geruchsschwelle liegt bei 8–10 ppm. Bei etwa 80%iger Konzentration entspricht die Ätzwirkung der von konzentrierter Salzsäure.
Nach dem Global harmonisierten System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (GHS) gilt Essigsäure als entzündbare Flüssigkeit der Kategorie 3 mit Ätzwirkung auf die Haut (Kategorie 1A). Die anwendbaren H- und P-Sätze sind H314 (verursacht schwere Verätzungen der Haut und schwere Augenschäden), H226 (Flüssigkeit und Dampf entzündbar) sowie P280 (Schutzhandschuhe/Schutzkleidung/Augenschutz/Gesichtsschutz tragen), P305+P351+P338 (Bei Kontakt mit den Augen: Einige Minuten lang behutsam mit Wasser spülen. Vorhandene Kontaktlinsen nach Möglichkeit entfernen. Weiter spülen) und P310 (Sofort Giftinformationszentrum oder Arzt anrufen).
Toxikologie
Essigsäure kann über den Verdauungstrakt, die Atemluft und die Haut aufgenommen werden. Essigsäure wird über den Citratzyklus und die Atmungskette in allen Zellen des Körpers unter Energiegewinnung zu Kohlenstoffdioxid (CO2) und Wasser (H2O) als letztendliche Stoffwechselprodukte veratmet. Essigsäure kann über die Lungen ausgeatmet werden. Konzentrierte Essigsäure wirkt stark reizend auf die Haut und die Schleimhäute. Nach körperlichem Kontakt mit der Säure muss daher mit angemessener Sorgfalt gehandelt werden, um Verätzungen, Augenschäden und Reizungen der Schleimhäute zu vermeiden; Hautblasen treten zum Teil erst Stunden nach der Einwirkung auf. Längerer Hautkontakt mit Eisessig führt zur Gewebezerstörung der betroffenen Partien.
Eine Exposition in der Atemluft über acht Stunden bei einer Konzentration von 10 ppm kann zu Reizungen der Augen sowie der Nasen- und Mundschleimhäute sowie Reizungen des Luftwegs im Hals führen. Konzentrationen über 1000 ppm führen zu starken Reizungen und können nicht über einen längeren Zeitraum ertragen werden. Als letale Dosis gelten 20 bis 50 Gramm Essigsäure, bei Kindern liegt der Wert bei 5 bis 10 Gramm.
Längerfristiger Kontakt mit Essigsäure entfettet die Haut und führt gegebenenfalls zu Ekzemen. Ein direkter Kontakt der Essigsäure mit den Augen, etwa durch Spritzer, führt möglicherweise zur Erblindung. Eine Sensibilisierung gegenüber Essigsäure ist selten, ist aber aufgetreten.
Essigsäure ist im Wasser leicht biologisch abbaubar und ist nicht bioakkumulativ. Als Acetat ist es nicht akut fischgiftig bis zu Konzentrationen von 1000 mg/l. Auf Insekten wie den Kupferfarbenen Buntgrabläufer wirkt es nicht toxisch bis zu einer Austragsrate von 1000 l/ha. Bei Ratten wurde als mittlere letale Dosis (LD50-Wert) 3310 mg je kg Körpergewicht festgestellt.
Nachweis
Essigsäure lässt sich durch den Eisenchloridtest nachweisen. Dabei bildet Essigsäure mit einer Eisen(III)-chlorid-Lösung eine intensive Rotfärbung.
Im 13C-NMR, gemessen in Deuterochloroform, liefert der Carbonylkohlenstoff einen Peak bei einer chemischen Verschiebung von 178,12 ppm und der Kohlenstoff der Methylgruppe einen Peak bei einer chemischen Verschiebung von 20,8 ppm. Im 1H-NMR, gemessen in Deuterochloroform, liefert der Wasserstoff der Säurefunktion einen Peak bei einer chemischen Verschiebung von 11,42 ppm und die Wasserstoffe der Methylgruppe einen Peak bei 2,098 ppm.
Gängige und quantitative Bestimmung von Essigsäure wird mittels Gaschromatographie durchgeführt.
Literatur
Hosea Cheung, Robin S. Tanke, G. Paul Torrence: Acetic Acid. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2005, .
Weblinks
Einzelnachweise
Arzneistoff
Säuerungsmittel
Kaffeeinhaltsstoff
Lebensmittelzusatzstoff (EU)
Aromastoff (EU)
Futtermittelzusatzstoff (EU) |
51610 | https://de.wikipedia.org/wiki/Montreal | Montreal | Montreal ( []) bzw. Montréal ( [], []) ist eine Millionenstadt in Kanada. Sie liegt im Südwesten der überwiegend französischsprachigen Provinz Québec auf der Île de Montréal, der größten Insel im Hochelaga-Archipel, die vom Sankt-Lorenz-Strom und von Mündungsarmen des Ottawa umflossen wird. Die Nachbarprovinz Ontario liegt knapp 60 Kilometer westlich, die Grenze zu den USA etwas mehr als 50 Kilometer südlich. Das Stadtbild wird vom Mont Royal geprägt, einem 233 Meter hohen Hügelzug vulkanischen Ursprungs im Zentrum der Insel, von dem sich der Name der Stadt ableitet.
Als der französische Seefahrer Jacques Cartier im Jahr 1535 als erster Europäer die Gegend erforschte, lebten Sankt-Lorenz-Irokesen auf der Insel. 1642 gründeten Paul Chomedey de Maisonneuve und Jeanne Mance das Fort Ville-Marie, eine katholische Missionsstation. Daraus entwickelte sich in der Folge die Siedlung Montreal, die 1760 unter britische Herrschaft kam. Montreal erhielt 1832 die Stadtrechte. Die Stadt wuchs rasch und entwickelte sich zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Landes, verlor aber im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts diese führende Rolle an Toronto. Bedeutende Ereignisse mit weltweiter Ausstrahlung waren die Weltausstellung Expo 67 und die Olympischen Sommerspiele 1976, die in Montreal abgehalten wurden.
Die Wirtschaft Montreals ist stark diversifiziert. Wichtige Pfeiler des Dienstleistungssektors sind Finanzdienstleistungen, Medien, Handel und Design. Von großer Bedeutung ist auch der Tourismus, dies aufgrund der Sehenswürdigkeiten und des vielfältigen kulturellen Angebots, das neben Museen auch zahlreiche Festivals in den Bereichen Film, Theater und Musik umfasst. Mehr als 60 internationale Organisationen haben ihren Sitz in Montreal. Im Industriesektor sind Luftfahrt-, Pharma- und Spitzentechnologieunternehmen vorherrschend. Mit vier Universitäten und mehreren weiteren Hochschulen ist Montreal ein wichtiger Bildungsstandort von internationaler Bedeutung. Außerdem ist die Stadt ein Knotenpunkt im nordamerikanischen Schienen- und Straßennetz und verfügt darüber hinaus über den größten Binnenhafen auf dem amerikanischen Kontinent.
Mit einer Bevölkerungszahl von 1.762.949 Einwohnern (Stand 2021) ist Montreal die zweitgrößte Stadt Kanadas nach Toronto und die größte der Provinz Québec. Die Verwaltungsregion, die alle Gemeinden auf der Insel umfasst, zählt 1.942.044 Einwohner (Stand 2016). Der Ballungsraum Communauté métropolitaine de Montréal, der urbane Gebiete im näheren Umkreis einbezieht, zählt 4.291.732 Einwohner (Stand 2021). Französisch ist Montreals Amtssprache und die Hauptsprache von 56,9 % der Bevölkerung, während 18,6 % hauptsächlich Englisch sprechen. Der Rest entfällt auf verschiedene Sprachen von Einwanderern, womit Montreal eine multikulturelle Bevölkerung aufweist.
Montreal gilt als zweitgrößte französischsprachige Stadt der Welt nach Paris, wenn man nur die Muttersprachler berücksichtigt. Montreal gehört auch weltweit zu den größten Städten, in denen Französisch die offizielle Sprache ist. Die Stadt hat in dieser Kategorie den zweiten Rang an Kinshasa verloren.
Geographie
Lage
Montreal liegt im Südwesten der Provinz Québec, knapp 60 Kilometer östlich der Nachbarprovinz Ontario und etwas mehr als 50 Kilometer nördlich der Grenze zu den USA. Die Provinzhauptstadt Québec ist 233 Kilometer entfernt im Nordosten, die Bundeshauptstadt Ottawa 166 Kilometer entfernt im Westen. In südwestlicher Richtung sind es 504 Kilometer nach Toronto, in südöstlicher Richtung 404 Kilometer nach Boston und in südlicher Richtung 533 Kilometer nach New York.
Topografie und Geologie
Der überwiegende Teil des Stadtgebiets befindet sich auf der Île de Montréal, der mit Abstand größten Insel im Hochelaga-Archipel. Die 499 km² große Insel, die annähernd die Form eines Bumerangs aufweist, ist 50 Kilometer lang und bis zu 16 Kilometer breit. Auf ihrer Süd- und Ostseite wird die Île de Montréal vom Sankt-Lorenz-Strom (frz. Fleuve Saint-Laurent) umflossen, einem der mächtigsten Flüsse Nordamerikas. Die westliche und nördliche Begrenzung bildet der Rivière des Prairies, einer von drei Mündungsarmen des Ottawa (frz. Rivière des Outaouais). Die großen Flüsse verbreitern sich an zwei Stellen zu Seen, der Ottawa im Westen zum Lac des Deux Montagnes, der Sankt-Lorenz-Strom im Süden zum Lac Saint-Louis. Eine weitere bedeutende Wasserstraße ist der 14,5 Kilometer lange Lachine-Kanal im Süden der Insel, der zur Umgehung der Lachine-Stromschnellen gebaut wurde. Der Sankt-Lorenz-Seeweg, der den Lachine-Kanal 1959 überflüssig machte, erstreckt sich knapp außerhalb der Stadtgrenze dem Sankt-Lorenz-Strom entlang.
Ein kleiner Teil des Stadtgebietes erstreckt sich über mehrere vorgelagerte Inseln. Die wichtigsten sind die Île Sainte-Hélène, die Île Notre-Dame und die Île des Sœurs im Osten sowie die Île Bizard im Westen. Knapp außerhalb der Stadtgrenzen befinden sich unter anderem die Île Jésus im Nordwesten sowie die Île Sainte-Thérèse und die Îles de Boucherville im Nordosten. Auf dem Festland besitzt Montreal keine Gebiete.
Im Zentrum der ansonsten überwiegend flachen Île de Montréal ragt der Mont Royal auf, ein aus vulkanischem Gabbrogestein bestehender Hügelzug mit drei Gipfeln auf einer Höhe von 233, 211 und 201 Metern. Der westlichste der Montérégie-Hügel entstand in der Kreidezeit vor rund 125 Millionen Jahren durch Intrusion von magmatischem Gestein und Hornfels. Durch Erosion wurden die umliegenden, bis zu zwei Kilometer dicken Schichten aus Sedimentgesteinen im Laufe der Jahrmillionen abgetragen. Westlich und nördlich des Mont Royal lagerten sich auf dem Grund von Urmeeren mächtige Kalksteinschichten ab. Diese wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in zahlreichen Steinbrüchen abgebaut und überwiegend für den Häuserbau verwendet. Ansonsten herrscht Geschiebemergel vor, den vorstoßende und zurückweichende Gletscher während der Wisconsin Glaciation ablagerten. In der Schlussphase der Kaltzeit, vor rund 13.000 bis 10.000 Jahren, lag das Sankt-Lorenz-Tal unter dem Meeresspiegel im Champlainmeer. Dieser seichte Meeresarm des Atlantiks verschwand allmählich aufgrund der postglazialen Landhebung.
Nachbargemeinden
Das Stadtgebiet ist zu mehr als drei Vierteln von Wasserflächen umgeben. Nachbargemeinden im Südwesten der Île de Montréal sind Dollard-Des Ormeaux, Dorval, Kirkland, Sainte-Anne-de-Bellevue und Senneville. Innerhalb des Stadtgebietes gibt es sechs Enklaven. Es sind dies die Gemeinden Côte-Saint-Luc, Hampstead, Montréal-Est, Montréal-Ouest, Mont-Royal und Westmount.
Im Nordwesten, auf der anderen Seite des Rivière des Prairies auf der Île Jésus, liegt die Stadt Laval, im Norden die Gemeinde Charlemagne. Westlich der Île Bizard, am gegenüberliegenden Ufer des Lac des Deux Montagnes, liegen Deux-Montagnes, Sainte-Marthe-sur-le-Lac und Pointe-Calumet. Im Osten und Süden, entlang dem Sankt-Lorenz-Strom, reihen sich folgende Gemeinden aneinander: Varennes, Boucherville, Longueuil, Saint-Lambert, Brossard, La Prairie, Candiac, Sainte-Catherine und Kahnawake (ein Reservat der Mohawk).
Klima
Montreal liegt im Übergangsbereich verschiedener klimatischer Regionen. Üblicherweise wird das Klima als boreal und humid bezeichnet, was der effektiven Klimaklassifikation Dfb entspricht. Die Sommer sind kurz und feuchtheiß mit einer durchschnittlichen Höchsttemperatur von 26 °C. Dabei können die Temperaturen an einzelnen Tagen auch weit über 30 Grad Celsius steigen, wobei durchgehend eine relativ hohe Luftfeuchtigkeit vorherrscht. Der Winter ist von sehr kaltem, schneereichem und windigem Wetter geprägt, bei länger anhaltenden Frostperioden bis unter −20 °C. Der Frühling und der Herbst sind mild, es können aber starke Temperaturschwankungen auftreten. Bekannt sind Montreal und die Umgebung für den Indian Summer, der vor allem an warmen, sonnigen Herbsttagen mit frostigen Nächten zum Ausdruck kommt.
Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt rund 980 mm. In den Monaten November bis April fällt durchschnittlich etwa 220 cm Schnee, wobei an 33 Tagen die Schneedecke mehr als 20 cm dick ist. Gewitter können vom späten Frühling bis zum frühen Herbst auftreten, Ausläufer von Tropenstürmen bringen starke Regenfälle mit sich. Die Sonnenscheindauer beträgt jährlich über 2000 Stunden. Die tiefste jemals gemessene Temperatur betrug −37,8 °C am 15. Januar 1957, die höchste 37,6 °C am 1. August 1976. Die größte Regenmenge an einem Tag war 94 mm am 8. November 1996, die größte Neuschneemenge 102 cm am 12. März 1971.
Fauna und Flora
In der Stadt gibt es zahlreiche Grünflächen, insbesondere in den Uferzonen, auf der Île Bizard und auf dem Mont Royal. Sie weisen einen bedeutenden Baumbestand auf, der überwiegend aus Laubwald besteht. Am häufigsten kommen Spitzahorne, Silber-Ahorne, Zucker-Ahorne, Amerikanische Linden, Winterlinden, Gleditschien, Rot-Eschen, Weiß-Eschen, Sibirische Ulmen und Zürgelbäume vor. Die Stadt verfügt seit 1948 über eine eigene Baumschule für die Aufzucht von Jungbäumen und Sträuchern, die später in den Parks und Straßen gepflanzt werden. Sie befindet sich in L’Assomption, etwa 30 Kilometer nördlich des Stadtzentrums.
Verschiedene Tierarten haben sich an das Leben in urbaner Umgebung und an die harten Winter angepasst. Zu den am häufigsten vorkommenden Arten gehören Waschbären, Streifenskunks, Grauhörnchen und Waldmurmeltiere. Darüber hinaus werden vermehrt Rotfüchse und Kojoten beobachtet.
Die 17 bedeutendsten Grünflächen Montreals werden unter der Bezeichnung Grands parcs de Montréal zusammengefasst. Dazu gehören Parkanlagen und Naturparks, die zusammen knapp 1800 Hektar groß sind. Hinzu kommen Dutzende kleinere Parkanlagen und Grünflächen, die von den Stadtbezirken verwaltet werden. Ein bedeutendes Naturreservat knapp außerhalb des Stadtgebietes ist der Parc national des Îles-de-Boucherville auf der gleichnamigen Inselgruppe im Sankt-Lorenz-Strom.
Geschichte
Herkunft des Namens
Der Name der Stadt Montreal leitet sich vom Mont Royal (französisch: „königlicher Berg“) ab. Die Benennung des Höhnezugs auf der Insel im Sankt-Lorenz-Strom nahm Jacques Cartier 1535 zu Ehren von König Franz I. von Frankreich vor. Als der venezianische Kartograf Giacomo Gastaldi 1556 für die von Giovan Battista Ramusio herausgegebene Buchreihe Delle navigationi et viaggi eine auf Cartiers Aufzeichnungen basierende Karte anfertigte, gab er dem Hügelzug die Bezeichnung Monte Real. François de Belleforest verwendete in La Cosmographie universelle de tout le monde, seiner 1575 erschienenen Kosmografie, als erster die davon abgeleitete Namensform Montréal. Nach Erscheinen einer 1612 von Samuel de Champlain angefertigten Karte übertrug sich der Name auf die gesamte Insel. Die 1642 gegründete erste französische Siedlung auf der Insel hieß Ville-Marie. Dieser Name wurde allmählich durch Montréal verdrängt und fiel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts außer Gebrauch.
Nach dem Ende der französischen Herrschaft 1760 behielt die Stadt ihren Namen bei, die englische Schreibweise kommt jedoch ohne Akut aus. Die Stadtbewohner werden auf Englisch als Montrealers bezeichnet, auf Französisch als Montréalais (maskulin) bzw. Montréalaises (feminin), wobei ursprünglich die Form Montréalistes geläufig war. In den irokesischen Sprachen heißt die Stadt Tiohtià:ke, in den Algonkin-Sprachen Moniang. Der ursprüngliche Stadtname wird heute für den zentralen Bezirk Ville-Marie verwendet.
Frühgeschichte und Entdeckung
Die frühesten Hinweise auf die Anwesenheit von Menschen auf dem Gebiet der heutigen Provinz Québec sind rund zehn Jahrtausende alt. Bereits um 5000 v. Chr. lassen sich die Schwerpunkte der kulturellen Entwicklung an den Großen Seen und am Sankt-Lorenz-Strom fassen (Proto-Laurentian). Daraus entwickelte sich eine weiträumige Regionalkultur, die als Middle Great Lakes-St. Lawrence-Kultur bezeichnet wird. Die ältesten Spuren auf dem Gebiet von Montreal stammen aus der Zeit um 2000 v. Chr. Zwischen 1000 v. und 500 n. Chr. spricht man von der Frühen Woodland-Periode, die durch Tongefäße und den Gebrauch von Pfeil und Bogen gekennzeichnet ist. Der Anbau von Kürbissen prägte zunehmend die Kultur und ermöglichte eine sesshaftere Lebensweise von Gruppen, die als Vorgänger von Algonkin und Irokesen gelten. Im Stadtteil Lachine kamen 2009 an der Fundstelle LeBer-LeMoyne rund 32.000 Artefakte zum Vorschein, die auf zwei Siedlungsphasen hinweisen. Die ältere dauerte von etwa 500 bis 1200, die jüngere setzte zwischen 1200 und 1350 ein. Im Jahr 2010 gab es auf dem Stadtgebiet Montreals insgesamt 125 archäologische Fundstellen, die vom Bureau du patrimoine betreut werden.
Entlang dem Sankt-Lorenz-Strom siedelten die Sankt-Lorenz-Irokesen, die zusammen mit den Huronen und den Irokesen einer gemeinsamen Sprachfamilie angehörten. Um das Jahr 1000 begannen sie verstärkt von Gartenwirtschaft zu leben, vor allem von Kürbis, Mais und Bohnen. Sie erbauten mit Palisaden befestigte und von Feldern umgebene Dörfer, von denen einige über tausend Einwohner zählten. Dabei bevorzugten sie erhöhte Standorte, um vor Überschwemmungen geschützt zu sein. Ließ die Fruchtbarkeit der Böden nach, zerlegten sie ihre aus Langhäusern bestehenden Dörfer und bauten sie andernorts wieder auf. Südwestlich von Montreal wird ein Dorf der Sankt-Lorenz-Irokesen ausgegraben, das aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammt.
Der erste Europäer, der in die Gegend der heutigen Stadt gelangte, war der französische Seefahrer Jacques Cartier. Am 2. Oktober 1535 entdeckte er am Fuße des Mont Royal, in einiger Entfernung vom Flussufer, das befestigte Dorf Hochelaga, dessen Name in der Sprache der Einheimischen (Laurentisch) „Biberdamm“ bedeutete. Im Jahr 1603 begab sich Samuel de Champlain auf Cartiers Spuren. Die Sankt-Lorenz-Irokesen und ihre Siedlungen waren jedoch mittlerweile verschwunden, wofür es mehrere Theorien gibt: Konflikte mit benachbarten Stämmen, die Auswirkungen der von Europäern eingeschleppten Epidemien oder eine Wanderungsbewegung in Richtung der Großen Seen. Archäologische Anhaltspunkte und der historische Kontext deuten am ehesten auf kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Irokesenstämmen hin, insbesondere den Mohawk. Die wenigen Überlebenden scheinen von diesen oder den Algonkin assimiliert worden zu sein.
Nach weiteren Erkundungsreisen in Neufrankreich kehrte Champlain im Juni 1611 zurück und richtete einen temporären Pelzhandelsposten ein. Als Standort wählte er eine Landzunge an der Mündung des Flüsschens Petite Rivière in den Strom, die Pointe-à-Callière. Die vorgelagerte Île Sainte-Hélène merkte er als geeigneten Standort für eine allfällige Stadtgründung vor, aus diesen Plänen ergab sich jedoch letztlich nichts.
Französische Besiedlung
Die Compagnie de la Nouvelle France, die das Handelsmonopol in Neufrankreich besaß, übertrug 1636 die Grundherrschaft (Seigneurie) über die Île de Montréal an Jean de Lauzon, einen späteren Gouverneur von Neufrankreich. Er nutzte sein Vorrecht aber nicht, weshalb die Seigneurie an die Société Notre-Dame de Montréal übertragen wurde. Diese 1639 gegründete religiöse Laiengemeinschaft wollte im Rahmen eines idealistisch-utopischen Siedlungsprojekts eine katholische Missionsstation aufbauen, um die Indianer zu bekehren. Im Auftrag der Gemeinschaft segelten der Offizier Paul Chomedey de Maisonneuve und die Krankenpflegerin Jeanne Mance mit rund 40 Kolonisten nach Neufrankreich. Sie gründeten am 17. Mai 1642 an der Pointe-à-Callière das Fort Ville-Marie, benannt nach der Jungfrau Maria.
In den ersten Jahren ihres Bestehens war die Kolonie häufig Angriffen der Irokesen ausgesetzt, die die Pelzhandelswege unter ihre Kontrolle bringen wollten. Die Bewohner waren gezwungen, fast ständig hinter der Befestigung zu leben, weshalb die Landwirtschaft sich kaum entwickelte. Zudem gelang es der Société Notre-Dame de Montréal entgegen ihrer Absicht kaum, Indianer zu bekehren. Erst als Maisonneuve 1653 und 1659 in Frankreich rund zweihundert weitere Kolonisten anwarb, konnte das langfristige Überleben von Ville-Marie gesichert werden. Zu den Neuankömmlingen gehörte Marguerite Bourgeoys, die 1982 heiliggesprochene Begründerin der ersten Schule und der Congrégation de Notre-Dame de Montréal.
König Louis XIV. unterstellte Neufrankreich 1663 direkt der französischen Krone. Im selben Jahr löste sich die Société Notre-Dame de Montréal auf, und ihre Grundherrschaftsrechte gingen an die Sulpizianer über. Der Orden nutzte seine größeren Ressourcen, um die Infrastruktur der Stadt auszubauen und die Insel für die Landwirtschaft zu erschließen. Weitere Orden von Bedeutung für die Entwicklung der Stadt waren die Jesuiten und die Franziskaner-Rekollekten. Militärische Interventionen des nach Neufrankreich entsandten Carignan-Salières-Regiments drängten 1665/66 die unmittelbare Gefährdung durch die Irokesen vorläufig zurück. Montreal entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum des Pelzhandels, denn die Stadt lag strategisch günstig am Ausgangspunkt verschiedener Handelsrouten, die über die Großen Seen bis ins Tal des Mississippi und die westliche Prärie reichten. 1687 wurde die Stadt mit einer Holzpalisade befestigt.
Trotz militärischer Präsenz drangen die Irokesen im Verlaufe der Biberkriege immer wieder in Richtung Montreal vor. Mehrere Dutzend Siedler kamen ums Leben, als am 5. August 1689, kurz nach Beginn des King William’s War, das nahe gelegene Dorf Lachine überfallen wurde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die Indianer nicht nur durch Kriege und Epidemien stark dezimiert, sondern infolge der übermäßigen Bejagung der Pelztiere auch wirtschaftlich geschwächt. Im August 1701 unterzeichneten Vertreter von 39 Stämmen den Großen Frieden von Montreal, mit dem sie die Einstellung aller Feindseligkeiten untereinander und gegen die Franzosen vereinbarten.
Im Queen Anne’s War (1702–1713) und dem King George’s War (1744–1748) gelang es Großbritannien unter Ausnutzung der höheren Einwohnerzahl und Produktionskapazität seiner Kolonien, die Machtverhältnisse in Nordamerika zu seinen Gunsten zu verschieben. In diesem Zusammenhang errichteten die Franzosen zwischen 1717 und 1738 die Stadtmauern von Montreal. In den 1730er Jahren, als Montreal mehr als 3.000 Einwohner zählte, entstanden die ersten Vororte. Der 1737 fertiggestellte Chemin du Roy ermöglichte einen intensiveren Warenaustausch mit der Stadt Québec, da nun der im Winter nicht schiffbare Sankt-Lorenz-Strom keine Behinderung mehr darstellte.
Beginn der britischen Herrschaft
Im Siebenjährigen Krieg setzten sich die Briten endgültig gegen Frankreich durch. Nach der Schlacht auf der Abraham-Ebene und der Eroberung Québecs am 13. September 1759 war Montreal isoliert. Die dort stationierte Garnison ergab sich am 8. September 1760 kampflos den zahlenmäßig überlegenen britischen Truppen. Der Frieden von Paris (1763) besiegelte das Ende Neufrankreichs und den Beginn der britischen Herrschaft über dessen Gebiete. Der 1774 in Kraft getretene Quebec Act garantierte die Religionsfreiheit und stellte den französischen Code civil im Privatrecht wieder her. Auf diese Weise sicherten sich die Briten die Loyalität der französischstämmigen Großgrundbesitzer und des frankophonen katholischen Klerus.
Am 13. November 1775 nahm die Kontinentalarmee Montreal im Zuge der (letztlich erfolglosen) Invasion Kanadas ein. Die Montrealer feierten die aufständischen Amerikaner zunächst als Befreier. Doch die Besatzer machten sich mit umstrittenen Maßnahmen, darunter die Bezahlung von Gütern und Dienstleistungen mit Papiergeld anstatt mit Gold sowie ein Verbot des Handels mit Indianern, unbeliebt. Eine Delegation des Kontinentalkongresses unter der Leitung von Benjamin Franklin versuchte im April/Mai 1776 vergeblich, die Montrealer Bevölkerung für ihre Sache zu gewinnen. Am 15. Juni 1776 zog die Kontinentalarmee ab. Zwei Tage später brachten die Briten die Stadt wieder unter ihre Kontrolle.
Montreal blieb unter britischer Herrschaft organisatorischer Mittelpunkt des Pelzhandels. Die frankokanadischen Händler wurden allmählich an den Rand gedrängt, da ihnen kaum noch Transportverträge und Expeditionsfinanzierungen erteilt wurden. An ihre Stelle traten überwiegend Schotten. Diese bündelten ihre Interessen in der 1779 gegründeten North West Company, die zur Hudson’s Bay Company (HBC) in Konkurrenz trat. Zwischen 1804 und 1817 wurden die Stadtmauern abgerissen, da immer mehr Bewohner aus dem ummauerten Teil in die Vororte zogen. Ab 1815 setzte eine Einwanderungswelle von Engländern und Iren ein, die eine Stimulierung und Diversifizierung der Wirtschaft bewirkte. 1817 nahm die Bank of Montreal, die älteste Bank Kanadas, ihre Tätigkeit auf. Die Bedeutung des Pelzhandels nahm hingegen ab, und 1821 fusionierte die North West Company mit der HBC. Die Montrealer Handelshäuser setzten zunehmend auf den Weizenexport und den Import von Konsumgütern. Zur Umgehung der für Frachtschiffe unpassierbaren Lachine-Stromschnellen wurde der Lachine-Kanal erbaut, der von 1825 an den Handel mit Oberkanada erleichterte.
Von den frühen 1830er Jahren hatte Montreal vorübergehend eine englischsprachige Bevölkerungsmehrheit. Engländer und Schotten lebten überwiegend im Westen, Frankokanadier im Osten, die Iren waren in den ärmlichen Arbeitervierteln im Südwesten konzentriert. Als Verkehrssprache dominierte das Englische. 1832 erhielt Montreal das Stadtrecht und somit die Berechtigung, sich mit einem Stadtrat und einem Bürgermeister selbst zu verwalten. Ab 1844 war Montreal Hauptstadt der Provinz Kanada, einem Zusammenschluss der Kolonien Ober- und Niederkanada. Wegen der Aufhebung von Schutzzöllen auf Exporte nach Großbritannien herrschte eine Wirtschaftskrise, zudem waren die politischen Verhältnisse instabil. Als das Parlament im März 1849 beschloss, sämtliche Geschädigten der Rebellionen von 1837, also auch die damaligen Aufständischen, für ihre Verluste zu entschädigen, kam es zu Protesten von anglophonen Konservativen. Eine aufgebrachte Menge steckte am 25. April 1849 nach zweitägigen Straßenkämpfen den Marché Sainte-Anne, das provisorische Parlamentsgebäude, in Brand, das vollständig zerstört wurde. Aufgrund der unsicheren Lage beschloss die Regierung, Toronto zur neuen Provinzhauptstadt zu erheben.
Montrealer Geschäftsleute finanzierten den Bau der ersten Eisenbahnlinie auf kanadischem Boden: Die 1836 eröffnete Champlain and St. Lawrence Railroad führte vom Südufer des Sankt-Lorenz-Stroms nach Saint-Jean-sur-Richelieu. Die erste kurze Bahnlinie auf dem Stadtgebiet, die 1847 eröffnete Montreal and Lachine Railroad, diente als Ergänzung zum Lachine-Kanal. Ab 1853 verband die Atlantic and St. Lawrence Railroad Montreal mit Portland (Maine), 1856 nahm die Grand Trunk Railway die Hauptstrecke nach Toronto in Betrieb. Mit der Inbetriebnahme weiterer Strecken in den folgenden Jahren entwickelte sich Montreal zu einem bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt.
Bis in die 1850er Jahre war die rasch wachsende Stadt wiederholt von Cholera- und Typhus-Epidemien betroffen, die zahlreiche Tote forderten. Der folgenschwerste Brand ereignete sich im Jahr 1852, als 1.200 Häuser zerstört und 9.000 Menschen obdachlos wurden. Wohlfahrtsverbände, Stiftungen und Hospize konnten gegen die zunehmende Verarmung zunächst kaum etwas ausrichten.
Industrialisierung und rasches Wachstum
Um 1860 war Montreal die größte Stadt in Britisch-Nordamerika, im 1867 gegründeten Bundesstaat Kanada das unumstrittene Zentrum von Wirtschaft und Kultur. Die sieben Jahrzehnte zwischen 1860 und 1930 werden bisweilen als „goldenes Zeitalter“ bezeichnet. In diesem Zeitraum nahm die Einwohnerzahl um das Neunfache zu, von rund 90.000 auf knapp 820.000. Ursache dieser Entwicklung war die rasch voranschreitende Industrialisierung. Insbesondere entlang dem Lachine-Kanal und dem Sankt-Lorenz-Strom ließen sich unter anderem folgende Wirtschaftszweige nieder: Metallverarbeitung, Maschinenbau, Lebensmittelindustrie, Brauereien, Schuhindustrie und Textilindustrie. Von großer Bedeutung für den Transportsektor waren der Hafen von Montreal sowie die Güterbahnhöfe der Grand Trunk Railway und der Canadian Pacific Railway.
Nach 1866 war die Bevölkerung Montreals wieder mehrheitlich französischsprachig: Die prosperierende Industrie benötigte viele Arbeitskräfte, was wiederum zahlreiche Bewohner ländlicher Gegenden der Provinz Québec dazu bewog, in die Stadt zu ziehen, da sie sich hier bessere Verdienstmöglichkeiten erhofften. Die städtische Gesellschaft war zweigeteilt. Das anglophone Bürgertum kontrollierte die bedeutendsten Konzerne Kanadas und unterhielt enge Beziehungen zu Großbritannien. Der wirtschaftliche Einfluss der frankophonen Mittelschicht beschränkte sich weitgehend auf kleine und mittelständische Unternehmen. Die Zweiteilung manifestierte sich ebenso in einem getrennten Bildungs- und Gesundheitswesen. Während die anglophonen Institutionen weitgehend säkular waren, übte die katholische Kirche in den frankophonen Institutionen großen Einfluss aus. Ab den 1880er Jahren ließen sich osteuropäische Juden in großer Zahl nieder. Mit weiteren Flüchtlings- und Einwanderungswellen kamen insbesondere Italiener, Polen und Russen in die Stadt, aber auch Chinesen.
Durch die Eingemeindung zahlreicher Vororte in den Jahren 1883 bis 1918 erweiterte sich das Stadtgebiet um das Fünffache. Dabei handelte es sich allerdings überwiegend um Gemeinden mit ärmlichen Arbeitervierteln, die sich beim Ausbau der Infrastruktur finanziell übernommen hatten. Verbunden mit den sozialen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs bürdete sich die Stadt Montreal eine derart große Schuldenlast auf, dass die Provinzregierung sie von 1918 bis 1921 unter Treuhandverwaltung stellen musste. Die 1920er Jahre waren vom Aufschwung des Dienstleistungssektors geprägt.
Relativer Bedeutungsverlust und Strukturwandel
Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte für Montreal schwerwiegende Auswirkungen. Besonders stark betroffen war die Industrie, die zu einem großen Teil auf der Verarbeitung von natürlichen Rohstoffen basierte und vom Export abhängig war. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant, worauf die Stadtverwaltung mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu reagieren versuchte. Sinkende Steuereinnahmen und stark steigende Sozialausgaben belasteten das Stadtbudget; erschwerend kam hinzu, dass religiöse, soziale und erzieherische Institutionen von Grundsteuern befreit waren. Die Stadt widerstand Forderungen von Geschäftsleuten, die Steuern zu senken, und führte 1935 stattdessen die erste Umsatzsteuer in der Provinz ein. Dennoch verschlechterte sich die finanzielle Situation zusehends, sodass die Stadt von 1940 bis 1944 erneut unter Treuhandverwaltung gestellt werden musste. Die Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs sorgte vorübergehend für Vollbeschäftigung; aufgrund steigender Steuereinnahmen konnte die Schuldenlast rasch abgebaut werden.
Dennoch verlor Montreal allmählich seine wirtschaftliche Vorrangstellung in Kanada. Der Außenhandel war nicht mehr auf Europa ausgerichtet, sondern auf die Vereinigten Staaten; im Binnenhandel spielte Westkanada eine immer größere Rolle. Das zentral gelegene Toronto profitierte davon und stieg zum neuen Wirtschaftszentrum auf. Nach der Eröffnung des Sankt-Lorenz-Seewegs 1959 konnten hochseetaugliche Schiffe vom Atlantik über Montreal bis zu den Großen Seen verkehren. Mit der ökonomischen Neuausrichtung verbunden war auch ein Bedeutungsverlust der anglophonen Montrealer Elite. Während der Stillen Revolution in den 1960er Jahren erlebte die frankophone Gesellschaft eine durchgreifende Modernisierung. Sie drängte den Einfluss der katholischen Kirche zurück, übernahm die Kontrolle über die eigene Wirtschaft und trat selbstbewusster auf. Dabei bildete sich eine separatistische Bewegung heraus. Die linke terroristische Gruppierung Front de libération du Québec verübte im Großraum Montreal zahlreiche Anschläge, bis sie 1970 im Zuge der Oktoberkrise zerschlagen wurde. Gemäßigte separatistische Kräfte sammelten sich nun im Parti Québécois, der bei den Wahlen 1976 erstmals mehrheitsfähig wurde und die Regierung der Provinz Québec bildete. Im Jahr 1977 setzte die Provinzregierung die Charta der französischen Sprache in Kraft, die dem Französischen Vorrang in sämtlichen Lebensbereichen garantiert. Daraufhin verlegten einige bedeutende Unternehmen ihren Hauptsitz von Montreal nach Toronto, da die politische und ökonomische Zukunft in Québec als unsicher galt.
Mit der Verdrängung der Industrie durch den Dienstleistungssektor wandelte sich das Stadtbild Montreals grundlegend. Es entstanden zahlreiche Wolkenkratzer und das Stadtzentrum verlagerte sich weg von der am Flussufer gelegenen Altstadt (Vieux-Montréal) näher an den Mont Royal. Neue Autobahnen und Brücken ermöglichten schnellere Verbindungen in die Vororte, wobei sich der Siedlungsgürtel über den Hochelaga-Archipel hinaus auszubreiten begann. Die Fertigstellung des Grundnetzes der Metro Montreal in den Jahren 1966/67 ermöglichte einerseits das Entstehen der weit verzweigten Untergrundstadt (Ville intérieure), andererseits wurde mit dem Aushubmaterial eine neue Insel im Sankt-Lorenz-Strom aufgeschüttet, die Île Notre-Dame. Auf dieser und der benachbarten Île Sainte-Hélène fand 1967 die Weltausstellung Expo 67 statt, die zugleich das Hauptereignis der Hundertjahrfeier Kanadas war.
Als Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1976 stand Montreal ein weiteres Mal im Fokus der Weltöffentlichkeit. Ein Boykott zahlreicher afrikanischer Staaten überschattete die Veranstaltung. Massive Kostenüberschreitungen beim Bau des Olympischen Dorfes und der Sportstätten im Olympiapark führten zur Anhäufung eines Schuldenbergs in der Höhe von 1,5 Milliarden kanadischer Dollar. Zur Begleichung der Schulden musste die Provinz eine Sondersteuer auf Tabakwaren erheben. Das zum Zeitpunkt der Spiele noch fehlende Dach des Olympiastadions wurde mit elfjähriger Verspätung fertiggestellt, die Schulden waren erst 2006 abbezahlt.
Das Wirtschaftswachstum fiel in den 1980er Jahren geringer aus als in anderen kanadischen Großstädten. In den 1990er Jahren hatte sich das ökonomische Umfeld Montreals jedoch erheblich verbessert, da neue Unternehmen und Institutionen die traditionellen Wirtschaftszweige abzulösen begannen. 1992 feierte die Stadt ihr 350-jähriges Bestehen mit vielen kulturellen Ereignissen. Die Eröffnung der zwei höchsten Wolkenkratzer der Stadt im selben Jahr symbolisierte augenfällig den Wiederaufschwung Montreals. Im Zuge eines umfangreichen Stadterneuerungsprojekts zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnten mehrere internationale Organisationen dazu bewogen werden, ihre Hauptsitze nach Montreal zu verlegen.
Fusionen und Abspaltungen
2001 beschloss die Provinzregierung der Parti Québécois zahlreiche Gemeindefusionen; vorgesehen war unter anderem der Zusammenschluss sämtlicher Gemeinden auf der Île de Montreal. Die Regierung argumentierte, größere Städte seien effizienter und könnten besser gegen andere kanadische Metropolen bestehen, die ihr Territorium bereits vergrößert hatten. Besonders im überwiegend anglophonen Gebiet West Island regte sich heftiger Widerstand gegen die erzwungenen Fusionen. Die Gegner äußerten die Besorgnis, die Eigenständigkeit der Vororte ginge verloren, die Steuerlast würde sich erhöhen und die Sprachminderheiten würden in der mehrheitlich frankophonen Stadt an Einfluss verlieren.
Trotz der Bedenken setzte die Regierung die Vereinigung von 27 Gemeinden mit Montreal am 1. Januar 2002 durch. Bei den Provinzwahlen im April 2003 siegte die Parti libéral du Québec, die traditionell den Anglophonen nahesteht. Eines ihrer Wahlversprechen lautete, in ganz Québec die Fusionen nachträglich einem Referendum zu unterstellen. Die neue Regierung legte aber schwierig zu erfüllende Bedingungen fest. Erstens mussten ein Zehntel aller registrierten Wähler eine Petition unterschreiben, um eine Abstimmung herbeizuführen. Zweitens mussten mindestens 35 % aller registrierten Wähler zustimmen, eine einfache Mehrheit reichte somit nicht für die Abspaltung.
In 22 ehemaligen Gemeinden fanden am 20. Juli 2004 Abstimmungen statt. Sämtliche Gemeinden stimmten der Loslösung von Montreal zu, doch Anjou, LaSalle, L’Île-Bizard, Pierrefonds, Roxboro, Sainte-Geneviève und Saint-Laurent verfehlten das Quorum, weshalb diese Gemeinden endgültig bei der Stadt verblieben. Keine Abstimmungen gab es in Lachine, Montréal-Nord, Outremont, Saint-Léonard und Verdun. Die übrigen 15 Gemeinden wurden am 1. Januar 2006 neu gegründet, mussten aber zahlreiche ihrer früheren Kompetenzen an den Gemeindeverband abtreten. Ungeachtet der Abspaltungen resultierte für Montreal letztlich eine Verdoppelung des Stadtgebiets und eine Erhöhung der Bevölkerungszahl von einer Million auf 1,6 Millionen Einwohner.
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung
Am Stichtag 10. Mai 2011 ermittelte Statistics Canada folgende Einwohnerzahlen: Die Stadt Montreal zählte 1.649.519 Einwohner, die Verwaltungsregion Montreal (entspricht dem Gebiet der Stadt und von 15 weiteren Gemeinden auf der Île de Montréal) 1.886.481 Einwohner und die Metropolregion Communauté métropolitaine de Montréal 3.824.221 Einwohner. Somit ist Montreal die bevölkerungsreichste Gemeinde der Provinz und hinter Toronto die zweitgrößte Stadt Kanadas.
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Bevölkerungsentwicklung gemäß den Ergebnissen der kanadischen Volkszählungen, wobei wiederum die Stadt, die Verwaltungsregion und die Metropolregion miteinander verglichen werden. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl kontinuierlich an. Die Volkszählung von 1966 ergab ein vorläufiges Maximum von 1.293.992 Einwohnern. Bis Ende der 1970er Jahre sank die Einwohnerzahl auf knapp über eine Million und stagnierte die folgenden zwei Jahrzehnte. Die Zunahme um rund 600.000 Einwohner zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist auf verschiedene Eingemeindungen zurückzuführen. Weitaus größere Zuwachsraten sind in der Metropolregion feststellbar: Lebten 1901 noch 82,7 % aller Einwohner auf dem Gebiet der Metropolregion in Montreal, so waren es hundert Jahre später nur noch 30,3 %. Die Eingemeindungen bewirkten eine Zunahme auf 44,6 %. Gemäß Einschätzungen von Statistics Canada werden im Jahr 2030 für die gesamte Metropolregion 4,9 Millionen Einwohner erwartet.
Sprachen
Die wichtigste Sprache Montreals ist Französisch. Ab etwa 1760 kam Englisch hinzu, das ab den 1830er Jahren vorübergehend eine dominierende Position einnahm. Zugleich ist der Gebrauch verschiedener Sprachen vielfach ein Signum gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Ungleichheit. Das galt bis in die 1980er Jahre für die beiden Hauptsprachen und gilt bedingt noch heute für die weniger häufig gebrauchten Sprachen.
Der Anteil der Einwohner französischer Muttersprache beträgt 53,6 %, jener englischer Muttersprache 12,8 %. Mit einem Anteil von 33,1 % bilden die Allophonen (Anderssprachige), deren Muttersprache weder Französisch noch Englisch ist, die zweitgrößte Gruppe. Die bedeutendste Sprache unter Einwanderern ist Italienisch (5,6 %), gefolgt von Arabisch (4,3 %), Spanisch (3,7 %), Chinesisch (2,3 %), Haitianisch (2,1 %) und Griechisch (1,3 %).
Die Verteilung der Sprachgruppen auf die Arrondissements der Stadt ist sehr verschieden. Der Anteil der Frankophonen reicht von 25,8 % in Côte-des-Neiges–Notre-Dame-de-Grâce bis 80,4 % in Mercier–Hochelaga-Maisonneuve. Am kleinsten ist der anglophone Anteil in Rosemont–La Petite-Patrie mit 3,7 %, am größten in Pierrefonds-Roxboro mit 33,7 %. Auffallend ist der hohe Anteil von Italienisch in Saint-Léonard (30,7 %), von Arabisch in Saint-Laurent (13,9 %) und von Jiddisch in Outremont (10,1 %). In den 15 Gemeinden, die sich 2006 von Montreal abspalteten, ist der Anteil der englischen Muttersprachler bedeutend höher als in der Stadt (einzige Ausnahme ist das überwiegend frankophone Montréal-Est). Hier stellen die Anglophonen einen Anteil von 47,5 %, die Frankophonen kommen lediglich auf 24,7 %. Den höchsten anglophonen Anteil weist Montréal-Ouest mit 67,6 % auf, den kleinsten frankophonen Anteil Hampstead mit 14,3 %.
Eine Besonderheit Montreals im Vergleich zu anderen kanadischen Großstädten ist, dass über die Hälfte der Bevölkerung (56,0 %) sowohl Französisch als auch Englisch versteht. 33,5 % verstehen ausschließlich Französisch, 10,0 % ausschließlich Englisch und 2,7 % keine dieser Sprachen. Für 71,6 % der Erwerbstätigen ist Französisch die vorherrschende Sprache am Arbeitsplatz, der Anteil des Englischen beträgt in diesem Bereich 26,7 %.
Die „sichtbaren“ Minderheiten
Die überwiegende Mehrheit der europäischstämmigen Bevölkerung ist französischer, britischer, irischer oder italienischer Herkunft. Als „sichtbare Minderheiten“ (französisch minorités visibles, englisch visible minorities) werden von den kanadischen Statistikbehörden jene Einwohner bezeichnet, die nicht-europäischer Herkunft sind (davon ausgenommen sind die Ureinwohner). In Montreal gehören 26,0 % der Bevölkerung einer sichtbaren Minderheit an. Den größten Anteil stellen Afrokanadier mit 7,7 %; es folgen Araber mit 4,3 %, Lateinamerikaner mit 3,4 %, Südasiaten und Chinesen mit je 3,2 % sowie Südostasiaten mit 1,9 %. Der Anteil der Ureinwohner an der Bevölkerung beträgt weniger als ein halbes Prozent. Im Jahr 2006 bezeichneten sich 4.285 Personen als Angehörige einer indianischen First Nation, 2.650 als Métis und 205 als Inuit.
Seit 1835 nimmt sich die Deutsche Gesellschaft zu Montreal der Migranten aus Deutschland an.
Religionen
Montreal ist ein bedeutendes Zentrum der römisch-katholischen Kirche. Mit einem Anteil von 65,9 % der Bevölkerung (letzte Erhebung 2001) ist sie die dominierende christliche Konfession. Seit der Stillen Revolution hat sie aber markant an sozialem und politischem Einfluss verloren. Darüber hinaus ist der Anteil der regelmäßigen Kirchgänger in der Provinz Québec zwischen 1960 und 2008 von 90 % auf 6 % geschrumpft und ist somit der tiefste in der westlichen Welt.
Während die katholische Kirche überwiegend Frankokanadier sowie Einwanderer aus Irland, Polen, Italien und Lateinamerika verbindet, sind bei den Anglophonen die Protestanten überproportional vertreten. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt 6,0 %, wobei hier aufgrund der britischen Kolonialtradition die Anglican Church of Canada vorherrscht, gefolgt von der United Church of Canada. Der Anteil der Orthodoxen beträgt 3,5 % (überwiegend griechische und russische Einwanderer). 1,4 % gaben die Zugehörigkeit zu einer nicht näher definierten christlichen Konfession an, 5,4 % zum Islam (vor allem Einwanderer aus Nordafrika und dem Libanon), 2,1 % zum Buddhismus und 1,5 % zum Hinduismus. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung beträgt 2,4 %, wobei starke regionale Unterschiede bestehen. In den Arrondissements Outremont, Côte-des-Neiges–Notre-Dame-de-Grâce und Saint-Laurent stellen sie über ein Zehntel der Bevölkerung, in den benachbarten Gemeinden Côte-Saint-Luc und Hampstead sogar mehr als zwei Drittel.
Sichtbare soziale Probleme
Das Problem der Obdachlosigkeit kam spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als der Wechsel von Wirtschaftskrisen und Zuwanderungswellen die Zahl der Menschen auf der Straße anwachsen ließ. Anfangs reagierten Wohltätigkeitsorganisationen und Kirchen darauf, indem sie Armenküchen, Unterkünfte und Betreuung anboten. In den 1890er Jahren bestanden mehr als ein Dutzend Obdachlosenasyle. In den 1970er Jahren wies Montreal die höchste Obdachlosenrate im Land auf. Mitte der 1980er Jahre schätzte man die Zahl der Obdachlosen auf 10.000 bis 15.000. Obwohl das Problem für jeden sichtbar wurde, stieg ihre Zahl bis 2000 auf über 28.000, von denen mehr als 12.000 seit über einem Jahr kein Dach über dem Kopf hatten. Dabei nahm der Anteil der Frauen allein zwischen 1989 und 1996 von 15 auf 20 % zu. Inzwischen sind 150 bis 200 Vollzeitkräfte angestellt, um den Obdachlosen zu helfen. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen waren viele drogen- und alkoholkrank, sie litten erheblich häufiger unter Hepatitis und anderen typischen Krankheiten. Seit 1992 erhielt die Frage der Obdachlosigkeit Priorität und das Montreal model wurde entwickelt. Zum Kern wurde das Réseau d'aide aux personnes seules et itinérantes de Montréal (RAPSIM), zu dem 60 Hilfsorganisationen zählen. Hinzu kamen ein Forschungsinstitut und die Fédération des organismes sans but lucratif d'habitation de Montréal (FOHM), der 1995 bereits 60 Häuser zur Verfügung standen.
Politik und Verwaltung
Übergeordnete Verwaltung
Die Communauté métropolitaine de Montréal (CMM) ist ein übergeordneter Zweckverband, dem 82 Gemeinden im Hochelaga-Archipel und in den angrenzenden Regionen Rive-Nord und Rive-Sud angehören, darunter die Großstädte Laval, Longueuil und Terrebonne. Die CMM besitzt Planungskompetenzen in den Bereichen Raumplanung, Wirtschaftsentwicklung, Kunst- und Kulturförderung, öffentlicher Nahverkehr, Hauptstraßennetz, Sozialwohnungsbau, Infrastruktur und Dienstleistungen von regionaler Bedeutung, Abfallentsorgung, Naturschutz und Luftqualität.
Die Verwaltungsregion Montreal besteht aus der Stadt selbst sowie jenen 15 Gemeinden, die von 2002 bis 2006 mit ihr fusioniert waren. Geleitet wird sie von einem Regionalrat (conférence régionale des élus) mit 31 Mitgliedern, von denen 16 Montreal vertreten. Die Verwaltungsregion ist für die Bereitstellung folgender interkommunaler Dienstleistungen verantwortlich: Polizei, Feuerwehr, Trinkwasserversorgung, Wasserleitungen, Abwasserreinigung, öffentlicher Nahverkehr und Unterhalt von Hauptstraßen.
Städtische Behörden
Die städtische Charta (Charte de la ville de Montréal) regelt die Zuständigkeiten der verschiedenen Aufgabenträger auf kommunaler Ebene. Der alle vier Jahre im Mehrheitswahlverfahren gewählte Stadtrat (Conseil municipal) ist die Legislative. Ihm gehören 45 Stadträte, 19 Bezirksbürgermeister und der Bürgermeister an, insgesamt 65 Personen. Er ist zuständig für öffentliche Sicherheit, Vereinbarungen mit Regierungsbehörden, Subventionen, Umwelt, Gebietsentwicklungsplan und Baufinanzierung. In Kanada sind Parteien auf Bundes- und Provinzebene in der Regel voneinander getrennt (Mitglieder der einen Partei müssen nicht zwingend der anderen angehören). In Montreal setzt sich dieses System auch auf lokaler Ebene fort. Die letzten Stadtratswahlen fanden am 3. November 2013 statt. Derzeit vertreten sind die Équipe Denis Coderre pour Montréal (27 Sitze), der Projet Montréal (20 Sitze), die Coalition Montréal (6 Sitze), Vrai changement pour Montréal (4 Sitze), verschiedene lokale Gruppen (7 Sitze) und ein Unabhängiger.
Aus den Reihen des Stadtrates wird das zwölfköpfige Exekutivkomitee (Comité exécutif) bestimmt, das die Exekutivgewalt ausübt und dessen Mitglieder für einzelne Abteilungen der Stadtverwaltung zuständig sind. Vorsitzender des Stadtrates und des Exekutivkomitees ist der Bürgermeister, der als Erster unter Gleichen gilt; er ist zugleich Vorsitzender des CMM und des Agglomerationsrates. Seit dem 3. November 2013 hat Denis Coderre dieses Amt inne.
Montreal ist weiter in 19 Arrondissements unterteilt. Diese Stadtbezirke sind auf lokaler Ebene für bestimmte zugewiesene Aufgaben verantwortlich. Jedes Arrondissement hat einen eigenen Bezirksbürgermeister (zugleich Mitglied des Stadtrates) und einen Bezirksrat (Conseil d’arrondissement) mit drei bis sieben gewählten Mitgliedern. Beschlüsse der Bezirksräte unterstehen der Kontrolle des Stadtrates und benötigen dessen Zustimmung.
Stadtgliederung
Von 2002 bis 2006 war Montreal in 27 Arrondissements unterteilt. Seit der Abspaltung einiger zuvor fusionierter Gemeinden sind es noch 19:
Ahuntsic-Cartierville (1)
Anjou (2)
Côte-des-Neiges–Notre-Dame-de-Grâce (3)
Lachine (4)
LaSalle (5)
Le Plateau-Mont-Royal (6)
Le Sud-Ouest (7)
L’Île-Bizard–Sainte-Geneviève (8)
Mercier–Hochelaga-Maisonneuve (9)
Montréal-Nord (10)
Outremont (11)
Pierrefonds-Roxboro (12)
Rivière-des-Prairies–Pointe-aux-Trembles (13)
Rosemont–La Petite-Patrie (14)
Saint-Laurent (15)
Saint-Léonard (16)
Verdun (17)
Ville-Marie (18)
Villeray–Saint-Michel–Parc-Extension (19)
Wappen und Flagge
Das Wappen von Montreal besteht seit 1833 und wurde von Jacques Viger, dem ersten Bürgermeister der Stadt, entworfen. Die heute verwendete Version stammt aus dem Jahr 1938 und wurde zuletzt 2017 geändert. Der unten spitz zulaufende und von einem Ahornkranz umgebene Wappenschild wird durch ein breites rotes Kreuz in vier silberne Felder unterteilt. Diese enthalten Blumensymbole, die für die wichtigsten historischen Bevölkerungsgruppen Montreals stehen: eine blaue Fleur-de-Lys für die Franzosen bzw. Frankokanadier, eine rote Rose für die Engländer, eine purpurne Distel für die Schotten und ein grüner dreiblättriger Shamrock für die Iren. Die Weymouth-Kiefer im Zentrum des Wappens repräsentiert die fünf Stämme der Irokesen-Konföderation. Die im Jahr 1939 eingeführte Flagge von Montreal basiert auf dem Wappenschild. Ein rotes Georgskreuz teilt die Flagge in vier weiße Felder mit den Blumensymbolen. Für den alltäglichen Behördenverkehr verwendet die Stadt seit 1981 ein Logo.
Städtepartnerschaften
Seit 1979 unterhält Montreal offizielle bilaterale Beziehungen mit anderen Städten. Diese Kooperationen haben zum Ziel, den Austausch von Informationen und Fachwissen in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu ermöglichen. Mit den sechs nachfolgenden Städten pflegt Montreal besonders enge Beziehungen. Hinzu kommen rund ein Dutzend weitere Städte, mit denen ein begrenzter Austausch auf einzelnen Gebieten erfolgt.
Lyon, Frankreich (1979)
Shanghai, China (1985)
Port-au-Prince, Haiti (1995)
Hiroshima, Japan (1998)
Paris, Frankreich (2008)
Bamako, Mali (2008)
Stadtbild und Architektur
Das Stadtbild ist vom Nebeneinander einer Vielzahl historischer und moderner Baustile geprägt, wobei die französische, die britische und die amerikanische Architekturtradition aufeinandertreffen. Mehr als anderthalb Jahrhunderte lang war Montreal das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Aus diesem Grund gehören nicht nur Wohnhäuser und Geschäftsbauten zum architektonischen Erbe, sondern auch Fabriken, Silos, Lagerhäuser, Mühlen und Raffinerien. Die Stadt zählt 49 historisch bedeutende Stätten (National Historic Sites), mehr als jede andere Stadt Kanadas.
Das Arrondissement Ville-Marie, zwischen dem Mont Royal und dem Sankt-Lorenz-Strom gelegen, umfasst das Stadtzentrum mit den wichtigsten Institutionen, öffentlichen Einrichtungen und Sehenswürdigkeiten. Um das Kerngebiet mit Altstadt und Geschäftszentrum liegen mehrere dicht besiedelte Wohnviertel. Typisch für die älteren Viertel sind zwei- oder dreistöckige Reihenhäuser, deren Treppen außen an der Vorderfassade angebracht sind. An den Hängen des Mont Royal erstrecken sich repräsentative Villenviertel. Das übrige Stadtgebiet ist, von verdichteten Stadtteilzentren abgesehen, suburban geprägt.
Vieux-Montréal (Altstadt)
Vieux-Montréal, am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms gelegen, ist der älteste Stadtteil. Seine Grenzen entsprechen im Wesentlichen dem früheren Verlauf der Montrealer Stadtmauer. Ein rund 250 Meter langes Teilstück wurde in der Parkanlage Champ-de-Mars, dem ehemaligen Exerzierplatz, freigelegt. Die Hauptverkehrsachse der Altstadt ist die Rue Notre-Dame, die parallel dazu verlaufende Rue Saint-Jacques war bis in die 1950er Jahre das Finanzzentrum. Der Alte Hafen (Vieux-Port) umfasst ehemalige Pieranlagen, die durch eine Uferpromenade verbunden sind, sowie den Uhrenturm Tour de l’Horloge.
Das vorherrschende Baumaterial der Altstadthäuser ist grauer Kalkstein. Ältestes Bauwerk in Montreal ist das Seminar des Sulpizianerordens (Vieux Séminaire de Saint-Sulpice), erbaut von 1684 bis 1687. Rund zwanzig Jahre jünger ist das Château Ramezay, die ehemalige Gouverneursresidenz. Weitere herausragende Bauwerke sind das Rathaus (Hôtel de Ville) und die Markthalle Marché Bonsecours. Von wenigen Ausnahmen abgesehen stammen die meisten übrigen Gebäude der Altstadt aus dem 19. Jahrhundert, dabei handelt es sich in der Regel um Wohn-, Geschäfts- und Lagerhäuser.
Mit der Verlagerung des Geschäftszentrums geriet die Altstadt allmählich in eine Krise und wies Ghettoisierungsanzeichen auf. Zu Beginn der 1960er Jahre gab es Pläne, weite Teile von Vieux-Montréal abzureißen. Der niederländische Stadtplaner Sandy van Ginkel konnte die Behörden davon überzeugen, die an dieser Stelle vorgesehene Stadtautobahn in den Untergrund zu verlegen. 1964 wurde die Altstadt als arrondissement historique (historischer Bezirk) unter Schutz gestellt, was in den folgenden Jahren zahlreiche Restaurierungen nach sich zog. Aufgrund der gut erhaltenen Kolonialarchitektur ist Vieux-Montréal heute eine beliebte Touristendestination; kopfsteingepflasterte Straßen und darauf verkehrende Kaleschen heben das historische Flair zusätzlich hervor.
Centre-Ville (Downtown)
Die Centre-Ville ist die Downtown und der wirtschaftliche Mittelpunkt Montreals. Hier befinden sich die meisten Hochhäuser und alle Wolkenkratzer der Stadt. Dieses Gebiet am Fuße des Mont Royal wird begrenzt von der Rue Sherbrooke im Nordwesten, dem Boulevard Saint-Laurent im Nordosten, der Rue Guy im Südwesten und der unterirdisch verlaufenden Autoroute 720 im Südosten. Zentrale Längsachsen sind die Rue Sainte-Catherine (die bedeutendste Einkaufsstraße der Stadt) und der Boulevard René-Lévesque. Gemäß städtischer Bauordnung darf kein Gebäude den 233 Meter hohen Gipfel des Mont Royal überragen. Darüber hinaus sind Gebäude von mehr als 120 Metern Höhe auf bestimmte Parzellen beschränkt. Mit diesen Maßnahmen soll erreicht werden, dass der Hügelzug eine bedeutende Landmarke bleibt.
Eine Besonderheit ist die Ville intérieure, die weit verzweigte Untergrundstadt. Dabei handelt es sich um ein System von Ladenpassagen und Fußgängertunneln, das sich über eine Fläche von zwölf Quadratkilometern erstreckt. Es verbindet zehn U-Bahn-Stationen und zwei Bahnhöfe mit Hunderten von Läden, Restaurants und Kinos, mit zahlreichen öffentlichen Einrichtungen sowie mit 35 % der Wohn- und 80 % der Büroflächen der Centre-Ville. Fußgänger können sich auf diese Weise vor allem im strengen Winter vor klimatischen Einflüssen geschützt in der Innenstadt bewegen. Mit einer Gesamtlänge von 32 Kilometern ist die Ville intérieure das längste Tunnelnetzwerk dieser Art weltweit.
Bis Ende der 1920er Jahre war die Höhe von Gebäuden auf elf Stockwerke beschränkt. Die Aufhebung dieser Regelung ermöglichte den Bau der ersten Wolkenkratzer, wobei Architekten die Baustile Beaux-Arts und Art déco bevorzugten. Herausragende Bauwerke jener Epoche sind der Tour de la Banque Royale von 1928 (121 m) und das Édifice Sun Life von 1931 (122 m). Im Britischen Empire waren sie zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung das höchste Gebäude bzw. das Gebäude mit der größten Geschossfläche. Die meisten Wolkenkratzer entstanden in den 1960er Jahren, wobei damals der Internationale Stil vorherrschte. Zwischen 1962 und 1964 lösten sich drei Bauten als höchstes Gebäude der Stadt ab: der Tour CIBC (187 m), der Place Ville-Marie (188 m) und der Tour de la Bourse (190 m). Nachdem die Hochbautätigkeit in den zwei folgenden Jahrzehnten merklich abflaute, kam es in den 1990er Jahren zu einer dritten Phase mit vorwiegend postmodernen Bauten. 1000 de La Gauchetière (205 m) und 1250 René-Lévesque (199 m), die zwei höchsten Gebäude Montreals, wurden beide 1992 eröffnet.
Urbane Freiräume
Als Hausberg Montreals ist der Mont Royal ein beliebtes Ausflugsziel für Einwohner und Touristen. Am Osthang, der dem Stadtzentrum zugewandt ist, erstreckt sich der Parc du Mont-Royal. Diese bewaldete Parkanlage mit einer Fläche von 190 Hektar wurde von Frederick Law Olmsted, dem Planer des New Yorker Central Park, entworfen und 1876 eröffnet. Von zwei Aussichtsterrassen aus kann die Stadt überblickt werden. Am südlichen Ende des Parks befindet sich der künstliche See Lac aux Castors („Bibersee“), am nördlichen Ende das George-Étienne-Cartier-Monument. Nahe dem Gipfel stehen das Mont-Royal-Kreuz und der Sendeturm Mont Royal. Zwei ausgedehnte Friedhöfe liegen auf der Westseite des Mont-Royal, der Friedhof Notre-Dame-des-Neiges und der Friedhof Mont-Royal.
Der Parc Jean-Drapeau, der den größten Teil der Inseln Île Sainte-Hélène und Île Notre-Dame umfasst, ist das ehemalige Ausstellungsgelände der Weltausstellung Expo 67. Nur wenige der damaligen Bauten stehen noch, darunter der amerikanische Expo-Pavillon Biosphère, eine von Richard Buckminster Fuller entworfene geodätische Kuppel. Eine weitere bedeutende Parkanlage ist der Parc Maisonneuve im Arrondissement Rosemont–La Petite-Patrie. An dessen Südrand befindet sich der Botanische Garten Montreal, der mit über 22.000 verschiedenen Pflanzenarten, 30 Themengärten und einem Arboretum zu den umfangreichsten Einrichtungen dieser Art weltweit gehört.
Mehrere Plätze sind fußgängerfreundlich gestaltet: der Place d’Armes mit dem Maisonneuve-Denkmal und der Place Jacques-Cartier in der Altstadt sowie der Square Victoria, der Square Dorchester und der Place du Canada in der Centre-Ville.
Sakralbauten
Montreal zählt über 600 Sakralbauten verschiedener Glaubensrichtungen. Es handelt sich dabei überwiegend um christliche Kirchen, von denen die große Mehrheit der römisch-katholischen Konfession dient. Montreal wird häufig als „Stadt der hundert Kirchtürme“ (Ville aux cent clochers) bezeichnet. 1881 sagte der amerikanische Schriftsteller Mark Twain: „Dies ist das erste Mal, dass ich jemals in einer Stadt war, wo man keinen Ziegel werfen könnte, ohne ein Kirchenfenster zu zerbrechen“ (This is the first time I was ever in a city where you couldn’t throw a brick without breaking a church window).
Vier römisch-katholische Kirchengebäude tragen den Ehrentitel einer Basilica minor. Das St.-Josephs-Oratorium, an exponierter Stelle am Südwesthang des Mont Royal gelegen, ist eine bedeutende Wallfahrtskirche. In den Jahren 1924 bis 1967 erbaut, wird sie von zwei Millionen Menschen jährlich besucht. Mit einer Höhe von 97 Metern ist der markante Kuppelbau die größte Kirche Kanadas. Die Basilika Notre-Dame de Montréal, erbaut von 1823 bis 1843, ist 69 Meter hoch und war bis 1928 das höchste Gebäude der Stadt. Sitz des römisch-katholischen Erzbistums Montreal ist die Kathedrale Marie-Reine-du-Monde de Montréal. Sie wurde von 1875 bis 1894 erbaut und ersetzte die Kathedrale Saint-Jacques de Montréal, die 1852 durch einen Brand zerstört worden war. Die Basilika Saint-Patrick de Montréal entstand von 1843 bis 1847 als Hauptkirche der Einwohner irischer Herkunft.
Das älteste erhaltene Kirchengebäude im Stadtzentrum ist die Wallfahrtskapelle Notre-Dame-de-Bon-Secours (erbaut 1771–1773). Der Sitz des anglikanischen Bistums Montreal ist die von 1857 bis 1860 erbaute Christ Church Cathedral; sie ist zugleich die bedeutendste protestantische Kirche der Stadt. Vier weitere Konfessionen verfügen ebenfalls über eine Kathedrale: die Melkitische Griechisch-katholische Kirche (Saint-Sauveur), die Syrisch-Maronitische Kirche von Antiochien (Saint-Maron), die Russisch-Orthodoxe Kirche (Saints Pierre et Paul) und das ukrainisch-orthodoxe Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel (Sainte-Sophie).
Weitere Sehenswürdigkeiten
Die Architektur einiger Stadtteile ist von ethnischen Minderheiten geprägt. Am Übergang zwischen Centre-Ville und Altstadt befindet sich die Chinatown (Quartier chinois), deren Grenzen von vier Scheintoren (Pailou) markiert werden. Dieser Bereich war bis in die 1920er Jahre die bevorzugte Wohngegend von Juden. Danach übernahm das Arrondissement Outremont diese Rolle; vor allem im nördlichen und östlichen Teil Outremonts gibt es Synagogen sowie jüdische Schulen und Geschäfte. Das Zentrum der italienischen Gemeinschaft ist Petite Italie im Arrondissement Rosemont–La Petite-Patrie; dort befindet sich auch der Marché Jean-Talon, ein überdachter Marktplatz.
Das Arrondissement Mercier–Hochelaga-Maisonneuve ist Standort des Olympiaparks mit dem Montrealer Olympiastadion von 1976. Es bietet Platz für 66.000 Zuschauer und ist das größte Stadion Kanadas. Eine architektonische Besonderheit ist der 175 Meter hohe Stadionturm, der einen Neigungswinkel zwischen 22,5 und 81 Grad aufweist und mit einer Zahnradbahn erklommen werden kann. Habitat 67, ein Wohnkomplex auf einer Halbinsel im Sankt-Lorenz-Strom, ist ein weiteres Beispiel futuristischer Architektur. Er besteht aus 354 stufenförmig aufgeschichteten Betonquadern mit 158 Wohneinheiten. An die landwirtschaftliche Vergangenheit der Île de Montréal erinnern zwei Windmühlen, die 1719 erbaute Windmühle Pointe-aux-Trembles und die Fleming-Windmühle aus dem Jahr 1827.
Wirtschaft und Infrastruktur
Die Wirtschaft Montreals zeichnet sich durch einen hohen Grad an Diversifikation aus. Im Jahr 2010 betrug das in der Verwaltungsregion Montreal erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt (BIP) 102,986 Milliarden kanadische Dollar, was 34,5 % der Wirtschaftsleistung der Provinz Québec entspricht. Mit einem Pro-Kopf-BIP von 50.012 Dollar im Jahr 2009 nahm Montreal unter den 17 Verwaltungsregionen Québecs den zweiten Platz ein, hinter der rohstoffreichen Region Nord-du-Québec. Bedeutendster Wirtschaftssektor ist mit großem Abstand der Dienstleistungssektor mit einem Anteil von 86 % der Beschäftigten, der Rest entfällt auf Industrie und Bauwirtschaft. Zwischen 2000 und 2010 betrug die Arbeitslosenquote im Durchschnitt 10,1 %.
Industrie
Mehrere bedeutende Industriekonzerne haben ihren Hauptsitz in Montreal. International am bekanntesten sind Bombardier, das auf den Bau von Flugzeugen und Schienenfahrzeugen spezialisiert ist, sowie Rio Tinto Alcan, einer der größten Hersteller von Aluminium. Die staatliche Hydro-Québec mit Sitz im Édifice Hydro-Québec versorgt die Provinz Québec und den Nordosten der USA mit elektrischer Energie. SNC Lavalin ist in den Bereichen Industrie- und Anlagenbau tätig. Im Bereich der Nahrungsmittelindustrie sind insbesondere Molson und Saputo zu nennen; ersterer ist der kanadische Teil des fünftgrößten Brauereikonzerns Molson Coors Brewing Company, letzterer Kanadas größter Hersteller von Milchprodukten.
Neben Seattle und Toulouse gehört die Region Montreal zu den bedeutendsten Zentren der Luftfahrtindustrie. Nach den USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland gilt Québec als fünftgrößter Exporteur in dieser Branche. 80 % aller Erzeugnisse werden exportiert. Neben 15 Großunternehmen haben sich über 200 kleine und mittlere Zulieferbetriebe angesiedelt. Die Unternehmen Bombardier Aerospace (Geschäfts- und Regionalflugzeuge), Bell Flight (Hubschrauber), Pratt & Whitney Canada (Motoren) und CAE (Flugsimulatoren) sind in ihren Bereichen Weltmarktführer. Ihren Hauptsitz in Montreal haben die Fluggesellschaften Air Canada und Air Transat, während die Raumfahrtorganisation Canadian Space Agency im benachbarten Longueuil domiziliert ist.
Montreal gehört neben Edmonton und Sarnia zu den Zentren der kanadischen Mineralölindustrie. Im Nordosten des Stadtgebiets und in der Enklave Montréal-Est befinden sich mehrere Erdölraffinerien und petrochemische Betriebe. Vertreten sind unter anderem die Unternehmen Suncor Energy, Gulf Oil, NOVA Chemicals, Shell Canada, Petro-Canada, Basell Polyolefins und Ultramar. Die benötigten Rohstoffe werden über Pipelines und Erdölterminals im nahen Hafen angeliefert. Verschiedene Unternehmen der Papierindustrie sind ebenfalls in Montreal ansässig. Dazu gehören Resolute Forest Products, Domtar, Kruger und Tembec. Darüber hinaus ist die Pharmaindustrie mit Zweigstellen von über 20 verschiedenen Unternehmen präsent. Zu diesen gehören Pfizer, MSD Sharp & Dohme, Novartis, AstraZeneca, Sanofi, Bristol-Myers Squibb, GlaxoSmithKline und Boehringer Ingelheim.
Dienstleistungen
Mit über 100.000 Beschäftigten in mehr als 3000 Unternehmen ist die Finanzdienstleistungsbranche ein wichtiger Pfeiler der wirtschaftlichen Aktivitäten. Unter den internationalen Finanzzentren belegt Montreal den 13. Platz, in Nordamerika den fünften Platz und in Kanada hinter Toronto den zweiten Platz (Stand: 2018). Ihren Hauptsitz haben hier unter anderem die Großbanken Bank of Montreal und National Bank of Canada, die Beteiligungsgesellschaft Power Corporation of Canada, der Versicherungskonzern Standard Life Canada und der Pensionsfonds Caisse de dépôt et placement du Québec. Bedeutende Niederlassungen betreiben die Genossenschaftsbank Caisses Desjardins, die Royal Bank of Canada sowie die französischen Geschäftsbanken Société Générale und BNP Paribas. Die 1874 gegründete Börse von Montreal ist auf Termingeschäfte spezialisiert und wurde 2007 von der Toronto Stock Exchange übernommen.
Wichtige Medienunternehmen aus Montreal sind Astral Media, Quebecor und Transcontinental. Größter Telekommunikationsanbieter im Osten Kanadas ist die von hier aus operierende Bell Canada, während die CGI Inc. führend im Informations- und Prozessmanagement ist. Im Lebensmittel-Einzelhandel sind die Unternehmen Metro Inc. und Provigo tätig, im Pharmagroßhandel die Drogeriekette Uniprix. Eine hohe Wertschöpfung generiert die Computerspielbranche. Am Anfang des Booms stand 1997 die Gründung von Ubisoft Montreal, heute eines der weltweit größten Entwicklerstudios (das Unternehmen beschäftigte 2014 bereits über 2.700 Mitarbeiter in Montreal). Steuererleichterungen der Provinzregierung und das Vorhandensein zahlreicher Fachkräfte vor Ort bewogen mehrere weitere Spieleentwickler dazu, hier ebenfalls Niederlassungen zu gründen. Dazu gehören Behaviour Interactive, BioWare, Eidos Interactive, Electronic Arts, Strategy First, THQ und Warner Bros. Ebenfalls in Montreal ansässig sind zahlreiche Unternehmen im Bereich Design. Die Stadt wurde aus diesem Grund im Jahr 2006 von der UNESCO zur City of Design ernannt und in das Creative Cities Network aufgenommen.
Montreal ist Sitz von mehr als 60 internationalen Organisationen, die überwiegend im Quartier international angesiedelt sind. Zu den bekanntesten gehören die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation ICAO, die internationale Flugtransportvereinigung IATA, die Welt-Antidoping-Agentur WADA und das statistische Institut der UNESCO. Diese Organisationen erzeugen einen regen Konferenzverkehr; es finden zahlreiche Konferenzen und Kongresse statt, beispielsweise im Palais des congrès de Montréal. Die zahlreichen Sehenswürdigkeiten und kulturellen Angebote beleben die Tourismusbranche zusätzlich. Im Jahr 2012 hielten sich 8,4 Millionen Besucher mehr als 24 Stunden in der Stadt auf.
Medien
Eine Vielzahl von Medien ist von Montreal aus tätig, wozu Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Zeitschriften gehören. Der frankophone Teil der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt CBC/Radio-Canada hat seinen Sitz im Maison de Radio-Canada, in dem auch die wichtigsten Fernseh- und Radioprogramme produziert werden. Weitere französischsprachige Fernsehsender sind TVA, V, Télé-Québec und Canal Savoir. In englischer Sprache werden Programme von CBC/Radio-Canada, CTV und Global Montreal ausgestrahlt, während CJNT sich an ein multikulturelles Publikum wendet.
In Montreal erscheinen die französischsprachigen Tageszeitungen La Presse, Le Journal de Montréal und Le Devoir sowie die englischsprachige Tageszeitung Montreal Gazette. Ergänzt wird das Angebot durch die Gratiszeitungen 24 heures und Metro sowie durch diverse Wochenzeitungen, Studentenzeitungen und Lokalblätter.
Versorgungsbetriebe und öffentliche Einrichtungen
Die Wasserversorgung wird vom Service de l’eau sichergestellt, einem Gemeinschaftsbetrieb der Verwaltungsregion. Das Trinkwasser stammt überwiegend aus dem Sankt-Lorenz-Strom. 1853 ließ die Stadt den acht Kilometer langen Canal de l’Aqueduc von den Lachine-Stromschnellen ins Stadtzentrum errichten. Die daran angeschlossenen Wasserwerke Atwater und Charles-Jules Des Baillets stellen zusammen 88 % des Trinkwasserbedarfs bereit. Vier kleinere Werke beziehen Wasser aus dem Rivière des Prairies und dem Lac Saint-Louis. Die gesamten Abwässer der Insel werden in der Station J.-R. Marcotte, der drittgrößten Kläranlage Nordamerikas, gereinigt. Seit 1837 bzw. 1884 besteht die Gas- und Stromversorgung, die zunächst in privater Hand war. Aus der Fusion zweier Unternehmen entstand 1901 die Montreal Light, Heat and Power (MLH&P), die in der Region das Energiemonopol besaß. 1944 verstaatlichte die Provinz Québec die MLH&P und übertrug die Gas- und Elektrizitätswerke der neu gegründeten Hydro-Québec. 1957 wurde die Gasversorgung an die halbstaatliche Gaz Métro übertragen.
In der Stadt gibt es vier Gerichte, die bei Verstößen gegen das Provinzrecht von Québec zuständig sind. Das Munizipalgericht (Cour municipale) behandelt vor allem Verkehrsdelikte. Im Palais de Justice sind die erstinstanzlichen Gerichte für Straf-, Privat- und Jugendrecht sowie das Obergericht (Cour supérieure) untergebracht, im Édifice Ernest-Cormier eines von zwei Appellationsgerichten der Provinz. Montreals Polizei besteht seit 1843; der Service de police de la ville de Montréal zählt rund 4400 Polizeibeamte und ist seit 2002 für die gesamte Verwaltungsregion zuständig. Im selben Gebiet tätig ist die Montrealer Feuerwehr, der 1863 gegründete Service de sécurité incendie de Montréal mit über 2700 Bediensteten.
Montreals Krankenhäuser werden in drei Gruppen unterteilt. Das McGill University Health Centre ist ein Zusammenschluss von Krankenhäusern, die mit der McGill University verbunden sind. Im Verbund mit der Université de Montréal stehen die Krankenhäuser des Centre hospitalier de l’Université de Montréal; dazu gehört auch das 1645 von Jeanne Mance gegründete Hôtel-Dieu de Montréal, das älteste Krankenhaus auf kanadischem Boden. Die dritte Gruppe umfasst allgemeine Krankenhäuser, die von der Provinz Québec betrieben werden.
Verkehr
Brücken und Straßen
Aufgrund der Insellage ist Montreal auf dem Landweg nur über Brücken und Tunnel erreichbar, was im Straßenverkehr häufig zu Überlastungen führt. Die älteste Brücke wurde 1847 über den Rivière des Prairies zur benachbarten Île Jésus errichtet, sieben Jahre später folgte die erste Brücke über den Ottawa zum Festland. 1859 konnte mit der Pont Victoria, der damals längsten Brücke der Welt, erstmals auch der Sankt-Lorenz-Strom überbrückt werden. Heute stehen 24 Brücken und drei Tunnel zur Verfügung, die von Straßenfahrzeugen, Eisenbahnen und U-Bahnen genutzt werden.
Montreal ist der wichtigste Autobahn-Knotenpunkt der Provinz Québec. Die Autoroute 40 durchquert die gesamte Île de Montréal von Südwest nach Nordost und bildet eine Art Rückgrat des Straßennetzes. Dem Südufer der Insel folgt die Autoroute 20. Von dieser zweigen die Autoroute 520 und die Autoroute 720 ab, wobei letztere das Stadtzentrum zum Teil unterirdisch erschließt. Vom Stadtzentrum aus in östlicher Richtung führt die Autoroute 10. Querverbindungen stellen die Autoroute 13, die Autoroute 15 und die Autoroute 25 her. Seit 2012 umfährt die Autoroute 30 das Stadtgebiet weiträumig im Süden. Das innerstädtische Straßennetz ist im Grundsatz gitterförmig angelegt, aufgrund der unregelmäßigen Topografie ergeben sich jedoch zahlreiche Abweichungen. Im Gegensatz zum Rest der Provinz Québec ist es auf der Île de Montréal nicht gestattet, an Ampelkreuzungen bei Rotlicht rechts abzubiegen. Ausgangspunkt der meisten Fernbuslinien ist der Gare d’autocars de Montréal.
Flugverkehr
Der 1941 eröffnete Flughafen Pierre-Elliott-Trudeau (früherer Name: Montréal-Dorval) liegt in der Nachbargemeinde Dorval. Er ist ein Drehkreuz von Air Canada und mit fast 13 Millionen Fluggästen jährlich der am drittmeisten frequentierte Passagierflughafen Kanadas. Aufgrund des starken Wachstums des Flugverkehrs beschloss die Bundesregierung 1969 den Bau des Flughafens Mirabel, der Dorval vollständig ersetzen sollte. Die stadtferne Lage (55 Kilometer entfernt), das Fehlen leistungsfähiger Verkehrsanbindungen und die Konkurrenz Torontos hatten jedoch eine geringe Auslastung zur Folge. Seit 2004 wird Mirabel ausschließlich für den Frachtverkehr genutzt. Ältester Flughafen der Region ist der 1928 eröffnete Flughafen Saint-Hubert. Er liegt 16 Kilometer östlich des Stadtzentrums in der Nachbarstadt Longueuil und dient der allgemeinen Luftfahrt. Trotz fehlendem Passagierverkehr ist er gemessen an den Flugbewegungen der fünftwichtigste Flughafen des Landes.
Schifffahrt
Der Hafen erstreckt sich nördlich des Stadtzentrums entlang dem Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms. Im Jahr 2010 fertigte er 28 Millionen Tonnen Güter und 46.000 Kreuzfahrtpassagiere ab. Gemessen an der Gütermenge ist er der zweitgrößte Hafen Kanadas und der größte Binnenhafen auf dem amerikanischen Kontinent. Aufgrund des geringen Höhenunterschieds bis zum Atlantik und der Breite des Stroms können auch hochseetaugliche Frachtschiffe den Hafen ansteuern. Eisbrecher sichern im Winter den Zugang, während der zum Ontariosee führende Sankt-Lorenz-Seeweg jeweils während rund drei Monaten zugefroren ist.
Eisenbahn
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Montreal ein bedeutender Knotenpunkt im kanadischen Eisenbahnnetz. Die staatliche Bahngesellschaft Via Rail, die hier ihren Hauptsitz hat, bietet mehrmals täglich Zugverbindungen nach Québec, Ottawa, Toronto und anderen Städten im Québec-Windsor-Korridor an. Weniger regelmäßig (drei- bis sechsmal wöchentlich) verkehren Züge nach Gaspé, Halifax, Saguenay und Senneterre. Einmal täglich verkehrt der Amtrak-Schnellzug Adirondack nach New York.
Die Bahngesellschaften Canadian Pacific Railway (CPR) und Canadian National Railway (CN) traten 1978 den Personenverkehr an Via Rail ab und konzentrieren sich seither auf den Güterverkehr. Industriebetriebe vor Ort, Rangierbahnhöfe und der Hafen sorgen für ein hohes Verkehrsaufkommen. Die CPR verlegte 1996 ihren Hauptsitz nach Calgary, die CN ist weiterhin in Montreal ansässig. Weitere im Güterverkehr tätige Bahngesellschaften, die Montreal bedienen, sind die Delaware and Hudson Railway, die Chemins de fer Québec-Gatineau und die Central Maine and Quebec Railway. Ausgangspunkt sämtlicher Fernverkehrszüge ist der Gare Centrale, der 1943 mehrere Bahnhöfe der CN ersetzte. Die Zufahrt von Westen her erfolgt durch den 5,2 Kilometer langen Mont-Royal-Tunnel. Der Gare Windsor, der 1889 eröffnete CPR-Hauptbahnhof, wurde 1993 geschlossen.
Öffentlicher Nahverkehr
Die staatliche Behörde Autorité régionale de transport métropolitain (ARTM) ist für die Planung des gesamten öffentlichen Personennahverkehrs in der Metropolregion Montreal zuständig. Sie beauftragt das Verkehrsunternehmen exo mit dem Betrieb von Buslinien und eines S-Bahn-ähnlichen Eisenbahnverkehrs in die Vororte: Die Trains de banlieue verkehren auf fünf Linien und verbinden Montreal mit verschiedenen Städten in der Region. Endstationen im Stadtzentrum sind der Gare Centrale und der Gare Lucien-L’Allier.
Für den Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs innerhalb der Stadt und in einigen Nachbargemeinden auf der Île de Montréal ist die Verkehrsgesellschaft Société de transport de Montréal (STM) verantwortlich. Wichtigstes Verkehrsmittel ist die Metro Montreal, ein 69 Kilometer langes U-Bahn-Netz mit vier Linien, von denen je eine nach Laval und Longueuil führt. Die Metro wird täglich von mehr als 1,1 Millionen Fahrgästen genutzt und ist somit die meistfrequentierte U-Bahn Kanadas. Besonderheiten der Metro sind die Gestaltung zahlreicher Stationen mit Kunstwerken und der Einsatz gummibereifter Züge. Im Bau ist zurzeit das Réseau express métropolitain (REM), ein 67 km langes Streckennetz, auf dem ab 2022 eine fahrerlose Leicht-U-Bahn verkehren soll; das REM wird Montreal mit Brossard, Deux-Montagnes, Sainte-Anne-de-Bellevue und dem Flughafen verbinden. Für die Feinerschließung sorgt das STM-Busnetz mit 197 Tages- und 23 Nachtlinien, auf dem täglich durchschnittlich 1,4 Millionen Fahrgäste befördert werden. Der mit Abstand größte Busbahnhof auf Stadtgebiet ist der von der AMT betriebene Terminus Centre-ville, Endstation zahlreicher Buslinien in die südlichen und östlichen Vororte.
Die Geschichte des öffentlichen Nahverkehrs in Montreal reicht bis ins Jahr 1861 zurück, als die Montreal Street Railway Company die erste Pferdebahn eröffnete. Von 1884 bis 1918 fuhr eine Standseilbahn auf den Mont Royal, 1892 verkehrte die erste elektrische Straßenbahn. Die erste Buslinie nahm 1919 ihren Betrieb auf, das rasch wachsende Netz wurde von 1937 bis 1966 durch Trolleybusse ergänzt. Nachdem die Stadt 1950 die privaten Straßenbahngesellschaften übernommen hatte, legte sie bis 1959 sämtliche Strecken still. Das erste Teilstück der Metro wurde 1966 eröffnet.
Fahrradverkehr
Im Vergleich zu anderen nordamerikanischen Städten ist der Fahrradverkehr bedeutend. Das Radwegenetz auf der Île de Montréal ist über 530 Kilometer lang und wird laufend ausgebaut. Darüber hinaus ist Montreal an die Route Verte angebunden, ein über 4300 Kilometer langes Radwanderwegnetz. Seit 2009 stellt das Fahrradverleihsystem Bixi an über 400 Verleihstationen mehr als 5000 Fahrräder bereit.
Bildung
Älteste Universität der Stadt ist die 1821 gegründete englischsprachige McGill University, die bisher zehn Nobelpreisträger hervorbrachte. McGill gehört zu den renommiertesten Universitäten weltweit und ist in verschiedenen Hochschulrankings regelmäßig auf vorderen Plätzen zu finden. Die englischsprachige Concordia University entstand 1974, als die Sir George Williams University und das jesuitische Loyola College säkularisiert wurden und sich zusammenschlossen.
Älteste französischsprachige Universität Montreals und mit 55.000 Studenten die zweitgrößte Kanadas ist die Université de Montréal (UdeM). 1878 als Zweigstelle der in Québec beheimateten Université Laval gegründet, machte sie sich 1920 selbständig. Die Säkularisierung der UdeM erfolgte 1967. Ebenfalls französischsprachig ist die Université du Québec à Montréal (UQAM), die dem Verbund der Université du Québec angehört. Sie besteht seit 1969, als die Provinzregierung vier Hochschulen und ein säkularisiertes Jesuitenkollegium zusammenschloss.
Neben den vier Universitäten gibt es mehrere Hochschulen. Mit der UdeM verbunden sind die Wirtschaftshochschule École des hautes études commerciales und die technische Hochschule École polytechnique de Montréal. Im Verbund mit der Concordia University ist die John Molson School of Business, im Verbund mit der UQAM sind unter anderem die Ingenieurhochschule École de technologie supérieure, die Verwaltungshochschule École nationale d’administration publique und das Forschungsinstitut Institut national de la recherche scientifique.
Auf der Mittelschulstufe gibt es in Montreal elf Cégeps (Collège d’enseignement général et professionnel), welche die Vorbereitung auf die universitäre Bildung und die technische Berufsschule vereinen. Von diesen sind neun französisch- und zwei englischsprachig. Hinzu kommen mehrere private Mittelschulen. Traditionell war das Schulwesen in Québec konfessionell getrennt. Im Rahmen einer laizistischen Schulreform erfolgte eine Neuaufteilung nach sprachlichen Kriterien. Seit 1998 sind in der Verwaltungsregion Montreal fünf neue Schulbehörden tätig, die für Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen, Erwachsenenbildung und Berufsbildung zuständig sind. Frankophone Schulbehörden sind die Commission scolaire de Montréal, die Commission scolaire Marguerite-Bourgeoys und die Commission scolaire de la Pointe-de-l’Île. Anglophone Schulbehörden sind das English Montreal School Board und das Lester B. Pearson School Board. Die Aufsicht erfolgt durch Schulräte, die von den Einwohnern der betreuten Gebiete gewählt werden.
Die Bibliothèques publiques de Montréal sind ein Verbund von 43 öffentlichen Bibliotheken in der Verwaltungsregion Montreal. Größte Bibliothek der Stadt ist die Grande Bibliothèque, die Haupteinrichtung der Bibliothèque et Archives nationales du Québec. Die Jewish Public Library besitzt Nordamerikas umfangreichste Sammlung an Judaica.
Kultur
Montreal ist für seine vielfältige kulturelle Szene bekannt und gilt als „Kulturhauptstadt Kanadas“. Die Präsenz einer bedeutenden frankophonen Bevölkerung verleiht der Stadt unter den nordamerikanischen Metropolen einen besonderen Charakter. Französische, britische und amerikanische Einflüsse verbinden sich, zusätzlich bereichert durch kulturelle Einflüsse verschiedener Einwanderergruppen. Eine weitere Besonderheit Montreals ist die (für Nordamerika untypische) belebte Innenstadt. Dies kommt besonders im Sommer mit zahlreichen Festivals sowie anderen kulturellen und sozialen Veranstaltungen zum Ausdruck. Als Zentrum des kulturellen Lebens gilt das Quartier des Spectacles.
Museen
In Montreal gibt es über drei Dutzend Museen, von denen die meisten dem Interessenverband Société des directeurs des musées montréalais angehören. Größtes Museum der Stadt ist das Musée des beaux-arts de Montréal mit diversen Kunstausstellungen. Auf zeitgenössische Kunst spezialisiert sind das Musée d’art contemporain de Montréal und die DHC/ART Foundation for contemporary art. Mit Forschung und Technik befassen sich das Wissenschaftsmuseum Centre des sciences de Montréal, das Umweltmuseum Biosphère und das Biodôme Montréal im früheren olympischen Radstadion. Das Insectarium de Montréal ist das größte Insektarium Nordamerikas.
Das McCord Stewart Museum befasst sich mit der Geschichte Kanadas, das Redpath-Museum mit Naturgeschichte, Ethnologie und Archäologie. Am einstigen Standort des Fort Ville-Marie steht das Musée Pointe-à-Callière, ein Museum über die Geschichte und Archäologie der Stadt Montreal. Weitere stadtgeschichtliche Ausstellungen bietet das Centre d’histoire de Montréal. Das Château Ramezay dient als ethnologisches Museum und Porträtgalerie. In der Fabrikantenvilla Château Dufresne finden zeitgeschichtliche Ausstellungen statt. An die Opfer des Holocausts erinnert das Centre commémoratif de l’Holocauste à Montréal.
Mehrere Museen befassen sich mit dem Kulturerbe. Das Musée Marguerite-Bourgeoys erläutert Leben und Wirken der Heiligen Marguerite Bourgeoys. Im Maison Saint-Gabriel, dem ältesten erhalten gebliebenen Bauernhaus Montreals, wird die Lebensweise der frühen französischen Siedler präsentiert. Das Musée des maîtres et artisans du Québec widmet sich dem Kunsthandwerk, das Centre canadien d’architecture der Architekturgeschichte, das Pelzhandelsmuseum Lachine dem nordamerikanischen Pelzhandel.
Das Musée des ondes Emile Berliner bietet einen Einblick in die Geschichte der Schallplattenindustrie.
Theater und Film
Es bestehen zahlreiche Theater, wobei französischsprachige Produktionen überwiegen. Der Place des Arts im Quartier des Spectacles ist das bedeutendste Zentrum für darstellende und bildende Künste und umfasst unter anderem fünf Theatersäle. Besonders hoch ist die Dichte an Theatern im angrenzenden Universitätsviertel Quartier Latin. Als bekannteste Häuser gelten das Théâtre Saint-Denis, das Théâtre du Rideau Vert und das Théâtre du Nouveau Monde. Englischsprachige Produktionen werden vor allem im Centaur Theatre, dem ehemaligen Börsengebäude, aufgeführt. Mehrere Theater dienen gemeinsam als Austragungsort des Comedy-Festivals Juste pour rire.
Das Montreal World Film Festival ist das einzige Filmfestival mit Wettbewerb in Nordamerika, das beim internationalen Filmproduzentenverband FIAPF akkreditiert ist. Daneben finden weitere kleinere Filmfestivals statt: Das Festival du Nouveau Cinéma ist auf Independentfilme spezialisiert, die Cinemania auf französischsprachige Filme, das Rendez-vous du cinéma québécois auf Filme aus Québec und die FanTasia auf Filme in den Bereichen Fantasy, Science-Fiction und Horror. Das Filmarchiv Cinémathèque québécoise konserviert und dokumentiert Filme und Fernsehsendungen. Montreal ist auch Sitz der staatlichen Filmbehörde National Film Board of Canada.
Musik und Tanz
Das Kulturzentrum Place des Arts bietet auch Konzertsäle für klassische Musik. Ihr Domizil haben dort die beiden Sinfonieorchester Orchestre symphonique de Montréal und Orchestre Métropolitain sowie die Opéra de Montréal. Aus Montreal stammen ebenfalls die Kammerorchester I Musici de Montréal und Orchestre classique de Montréal. Die Stadt verfügt über eine lange Tradition in der Jazzmusik, verkörpert durch bekannte Musiker wie Maynard Ferguson, Oliver Jones und Oscar Peterson. Das Festival International de Jazz de Montréal gehört mit über 3.000 beteiligten Musikern, 800 Konzerten und 2,5 Millionen Besuchern zu den führenden Jazzfestivals der Welt.
Zahlreiche Vertreter der örtlichen Rock- und Popszene haben Bekanntheit erlangt, sei dies in französischer oder englischer Sprache. Dazu gehören die Solokünstler Isabelle Boulay, Leonard Cohen, Robert Charlebois, Céline Dion, Diane Dufresne und Marie-Mai sowie die Bands Arcade Fire, A Silver Mt. Zion, Beau Dommage, Bran Van 3000, Godspeed You! Black Emperor, Les Cowboys Fringants, Offenbach, Simple Plan, The Dears, The Sainte Catherines und Wolf Parade. Montreal ist Austragungsort mehrerer jährlich wiederkehrender Musikfestivals. Auf über fünfzig Standorte verteilt ist das Festival Pop Montréal mit rund 400 Konzerten. Das FrancoFolies de Montréal ist auf Chansons spezialisiert und einer der größten Anlässe dieser Art weltweit. Mehrere Zehntausend Besucher zählen ebenfalls die Openair-Festivals Heavy MONTRÉAL (Metal, Hardrock) und Osheaga (Rock, Pop). An Sonntagnachmittagen im Sommer versammeln sich am George-Étienne-Cartier-Denkmal mehrere hundert Trommler und Tänzer zu den Tam-Tams.
Montreal ist Hauptsitz des Zirkusunternehmens Cirque du Soleil, dessen Produktionen auf artistischen und theatralischen Elementen basieren. Das TOHU ist ein vom Cirque du Soleil unterstütztes Ausbildungszentrum für Zirkusartisten und -produzenten. Die Grands Ballets Canadiens sind eine Ballettkompanie mit internationalem Ensemble. Weitere Tanz- und Theaterproduktionen bieten die Agora de la danse und das Segal Centre for Performing Arts.
Freizeitaktivitäten
Die Stadt besitzt ein vielfältiges Nachtleben mit den längsten Öffnungszeiten Kanadas. Die internationale Ausstrahlung wurde in den 1920er Jahren begründet, als die Prohibition in den Vereinigten Staaten in Kraft war. Zahlreiche Amerikaner kamen damals nach Montreal, um sich bei Alkohol und Glücksspiel sowie in Nachtclubs und Bordellen zu vergnügen. Der Ruf, eine Sin City („Stadt der Sünden“) zu sein, blieb bis heute bestehen. Heute konzentriert sich das Nachtleben überwiegend an sechs Orten: Le Plateau-Mont-Royal, Rue Crescent, Boulevard Saint-Laurent, Rue McGill, Quartier Latin und Village gai (Schwulen- und Lesbenviertel).
An der Nordspitze der Île Sainte-Hélène befindet sich La Ronde, ein von Six Flags betriebener Freizeitpark mit mehreren Achterbahnen. Im Sommer ist er auch Austragungsort des Feuerwerkwettbewerbs L’International des Feux Loto-Québec. Dessen Hauptsponsor, die Lotteriegesellschaft Loto-Québec, betreibt seit 1993 in den ehemaligen Expo-Pavillons von Frankreich und Quebec auf der Île Notre-Dame die Spielbank Casino de Montréal, die zu den zehn größten weltweit gehört und eines von vier Casinos in der Provinz darstellt.
Sport
Die McGill University spielte bei der Entwicklung mehrerer moderner Sportarten eine führende Rolle. Das erste Rugbyspiel mit festen Regeln auf nordamerikanischem Boden fand 1865 in Montreal zwischen britischen Offizieren und McGill-Studenten statt. 1874 traten die Universitäten McGill und Harvard in zwei fußballähnlichen Spielen mit unterschiedlichen Regeln aufeinander. Die sich daraus ergebenden Kompromissregeln bildeten die Grundlage für American Football und Canadian Football. Der Student James Creighton organisierte 1875 das erste Eishockeyspiel in einer Halle und entwickelte die Eishockey-Regeln weiter. 1877 folgte die Gründung des ersten Eishockeyvereins. James Naismith, ein McGill-Absolvent, erfand 1891 die Basketball-Regeln und wird oft auch als Erfinder der Footballhelms bezeichnet.
Das Interesse an Eishockey in Montreal seitens der Öffentlichkeit war stets sehr hoch, so dass die Stadt auch als „Welthauptstadt des Eishockey“ bezeichnet wird. Sechs verschiedene Teams konnten zusammen 41 Mal den Stanley Cup, die wichtigste Trophäe in dieser Sportart, gewinnen. Rekordmeister mit 24 Titeln sind die Canadiens de Montréal. Sie gehören der nordamerikanischen Profiliga National Hockey League an und tragen ihre Heimspiele im Centre Bell aus. Die Montreal Alouettes in der Canadian Football League gewannen bisher siebenmal den Grey Cup, den Canadian-Football-Meisterpokal. Ihr Heimstadion ist das Stade Percival-Molson, für Playoff-Spiele nutzen die Alouettes das Olympiastadion. Ein bedeutender Nutzer des Olympiastadions war auch das Baseball-Team Montreal Expos, ein Franchise der Major League Baseball, das 2005 nach Washington D.C. umzog. Montreal Impact spielt derzeit in der höchstklassigen Fußballprofiliga Major League Soccer.
Der Circuit Gilles-Villeneuve, eine rund 4,4 Kilometer lange temporäre Motorsport-Rennstrecke auf der Île Notre-Dame, ist seit 1978 Schauplatz des Großen Preises von Kanada der Formel 1. Seit 2007 finden dort auch NASCAR-Rennen der Xfinity Series statt. Ein international bedeutendes Tennisturnier ist das gemeinsam mit Toronto ausgetragene Canada Masters (auch als Rogers Cup bekannt), wobei die Städte sich jährlich in der Organisation des Männer- und des Frauenturniers abwechseln; Spielort in Montreal ist das Stade IGA. Der Royal Montreal Golf Club organisiert gelegentlich das RBC Canadian Open, ein Golfturnier im Rahmen der PGA Tour. Jährlich wiederkehrende Sportveranstaltungen sind außerdem der Montreal-Marathon und das Straßenradrennen Grand Prix Cycliste de Montréal. Das Sportereignis mit der international größten Ausstrahlung waren die Olympischen Sommerspiele 1976. In Montreal fanden unter anderem auch die die Straßen-Radweltmeisterschaften 1974, die Turn-Weltmeisterschaften 1985, die Schwimmweltmeisterschaften 2005 und die Outgames 2006 statt.
Für den Amateur- und Breitensport können zahlreiche städtische Sportanlagen genutzt werden, darunter der Complexe sportif Claude-Robillard, das CEPSUM und das Centre Pierre-Charbonneau. Daneben gibt es mehrere Dutzend Hallenbäder und Freibäder. Im Winter stehen zahlreiche Eisbahnen sowie 170 Kilometer Skilanglauf-Loipen zur Verfügung. Die Lachine-Stromschnellen verursachen mehrere permanente stehende Wellen. Insbesondere die Welle Habitat 67, nahe bei dem gleichnamigen Wohnviertel gelegen, erfreut sich bei Wildwasserpaddlern, Raftern und Flusssurfern großer Beliebtheit.
Persönlichkeiten
Montreal ist der Geburts- und Wirkungsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten, beispielsweise der Schriftsteller Saul Bellow, Naomi Klein und Mordecai Richler. Als bekanntester Montrealer Schauspieler gilt William Shatner und als bekanntester Montrealer Sänger gilt Leonard Cohen. Unter den bekanntesten Sportlern sind hauptsächlich Eishockeyspieler zu finden, die mehrmals den Stanley Cup gewinnen konnten. Zu diesen gehören Mike Bossy, Scotty Bowman, Doug Harvey, Mario Lemieux und Maurice Richard. Ihre Kindheit in Montreal verbracht haben die deutsche Komikerin Anke Engelke und die französische Popsängerin Mylène Farmer.
Aufgrund der kurzen Amtszeiten hatten bis ins 20. Jahrhundert hinein nur wenige Bürgermeister einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt. Einige von ihnen wurden vor allem durch andere Tätigkeiten bekannt, beispielsweise der spätere Premierminister Kanadas John Abbott sowie der Journalist und Schriftsteller Honoré Beaugrand. Vier Amtszeiten von insgesamt 18 Jahren Länge hatte Camillien Houde zwischen 1928 und 1954. Er führte Montreal durch die Weltwirtschaftskrise und wurde von 1940 bis 1944 ohne Anklage inhaftiert, nachdem er sich öffentlich gegen die Einführung der Wehrpflicht ausgesprochen hatte. Am längsten im Amt war Jean Drapeau, von 1954 bis 1957 und von 1960 bis 1986. In diese Zeit fallen der Bau von Wolkenkratzern und Métro sowie die Ausrichtung der Weltausstellung Expo 67 und der Olympischen Spiele 1976.
Ebenfalls aus Montreal stammen Pierre Trudeau (Premierminister Kanadas), Georges Vanier (Generalgouverneur Kanadas) sowie Charles-Eugène Boucher de Boucherville, Robert Bourassa und Jacques Parizeau (alle Premierminister Québecs). Zu den bedeutendsten Wirtschaftsvertretern gehören der Reeder Montagu Allan, der Pressemagnat Conrad Black und der Brauereiunternehmer John Molson. Das Testament des Pelzhändlers James McGill ermöglichte die Gründung der nach ihm benannten McGill University. Zwei aus Montreal stammende Chemiker, Sidney Altman und Rudolph Arthur Marcus, erhielten den Nobelpreis. Der kanadische Richter bei den Tokioter Prozessen, Edward Stuart McDougall stammt ebenso aus Montreal.
Literatur
Serge Jaumain, Paul-André Linteau: Vivre en Ville. Bruxelles et Montréal aux XIXe et XXe siècles, Brüssel 2006, ISBN 1-55071-058-3.
Weblinks
Website der Stadt Montreal (französisch, englisch)
Website von Montreal Tourismus (französisch, englisch)
Historische Fotos aus den Jahren 1920 bis 1960 (französisch)
Touristische Informationen zu Montreal (englisch, auch französisch)
Commission de toponymie du Québec: Montréal (Stadt)
Historische Karte von Montreal, 1777 beim Digitalen Archiv Marburg (Hessisches Staatsarchiv Marburg)
Einzelnachweise
Ort in Québec
Ort mit Seehafen
Millionenstadt
Ehemalige Hauptstadt (Kanada)
Ort als Namensgeber für einen Asteroiden
Hochschul- oder Universitätsstadt in Kanada
Ort am Sankt-Lorenz-Strom |
61926 | https://de.wikipedia.org/wiki/James%20Monroe | James Monroe | James Monroe (* 28. April 1758 in Monroe Hall im Westmoreland County, Kolonie Virginia; † 4. Juli 1831 in New York) war ein amerikanischer Politiker und von 1817 bis 1825 der fünfte Präsident der Vereinigten Staaten.
Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs diente er nach Abbruch seines Studiums am College of William & Mary als Offizier in der Kontinentalarmee. Danach begann seine politische Laufbahn, die ihn über das Abgeordnetenhaus von Virginia in den Konföderationskongress führte. Zu dieser Zeit erhielt er seine Anwaltszulassung und befreundete sich mit Thomas Jefferson und James Madison, mit denen er später als Virginia-Dynastie maßgeblich die Politik der Demokratisch-Republikanischen Partei bestimmte. Nach der Teilnahme an der Ratifizierungsversammlung von Virginia und mehreren Mandatszeiten im Senat der Vereinigten Staaten wurde er 1794 von George Washington zum Botschafter in Frankreich ernannt. Obwohl er ein überzeugter Anhänger der Französischen Revolution war, gelang es ihm nach dem Jay-Vertrag nicht, die Ängste der Ersten Republik vor einer britisch-amerikanischen Annäherung zu zerstreuen. Nach seiner Abberufung, die zum Bruch mit Präsident Washington führte, wurde er ab 1799 Gouverneur von Virginia. Im Jahr 1803 schickte Präsident Jefferson Monroe auf eine mehrjährige diplomatische Mission nach Europa, wo er den Louisiana Purchase aushandeln konnte, während seine Aufenthalte in London und Madrid enttäuschend verliefen. Er kandidierte erfolglos bei der Präsidentschaftswahl 1808 gegen Madison. Nach einiger Zeit im politischen Abseits wurde er im Frühling 1811 als Außenminister in das Kabinett Madison berufen und übernahm während des Britisch-Amerikanischen Kriegs phasenweise zusätzlich das Amt des Kriegsministers.
1816 wurde Monroe als Letzter aus der Generation der Gründerväter zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Ein Schwerpunkt seiner Präsidentschaft war in enger Abstimmung mit Außenminister John Quincy Adams die Klärung von Grenzdisputen mit Großbritannien, Spanien und dem Russischen Kaiserreich. Trotz der Invasion von Andrew Jackson in die Spanische Kolonie Florida kam es 1819 zum Adams-Onís-Vertrag, in dem Madrid West- und Ostflorida an Amerika abtrat. Ein weiteres zentrales Anliegen Monroes war es, die Streitkräfte und Küstenbefestigungen zu stärken, was ihm insbesondere für die United States Navy gelang. Das bestimmende Thema seiner Amtszeit waren die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege, wobei er wie sein gesamtes Kabinett mit der antikolonialen Freiheitsbewegung sympathisierte. Nach Ratifizierung des Adams-Onís-Vertrags gab Monroe gegenüber den jungen Republiken in Lateinamerika die wohlwollende Neutralität auf und erkannte sie diplomatisch an. Am 2. Dezember 1823 erklärte er öffentlich mit der Monroe-Doktrin, weitere koloniale Bestrebungen europäischer Mächte in der westlichen Hemisphäre als unfreundlichen Akt zu betrachten. Obwohl nie kodifiziert, wurde die Monroe-Doktrin zur wirkungsmächtigsten außenpolitischen Erklärung eines Präsidenten in der amerikanischen Geschichte. Innenpolitisch trieb Monroe die Westexpansion voran und unterstützte den Missouri-Kompromiss, der die Spaltung der Vereinigten Staaten in der Sklavenfrage nicht überbrücken konnte, aber die amerikanische Union bis zum Sezessionskrieg zusammenhielt.
Als Elder statesman saß er nach dem Ende der Präsidentschaft im Board of Visitors der University of Virginia und führte Ende 1829 den Vorsitz der Virginia Convention. Im Ruhestand drückten Monroe erhebliche finanzielle Sorgen, nicht zuletzt, weil ihm seine Ausgaben als Botschafter vom Kongress erst kurz vor seinem Tod erstattet wurden. Zuvor hatte er wegen Geldnot seinen verbliebenen Landbesitz veräußern müssen. Er starb verarmt und in Obhut seiner jüngeren Tochter am Unabhängigkeitstag 1831 in New York City.
Leben
Familie und Ausbildung
James Monroe wurde in Monroe Hall in der Kolonie Virginia als Sohn des Zimmermanns Spence Monroe (1727–1774) und seiner Frau Elizabeth Jones (1730–1772) geboren. Er hatte eine Schwester und war der älteste von vier Brüdern. Monroes Vater war ein Patriot und an Protesten gegen den Stamp Act beteiligt. Da sein Landbesitz von 200 Hektar gegen die Konkurrenz der großen, von Sklaven bewirtschafteten Plantagen kaum bestehen konnte, arbeitete er als Handwerker und Baumeister, womit er zum unteren Ende der Gentry zählte. Spence Monroes Urgroßvater stammte aus Schottland und war als Royalist nach der Niederlage Karls I. im Englischen Bürgerkrieg in die anglikanische Kolonie Virginia geflohen. Die Mutter war Tochter eines walisischen Zuwanderers, dessen Familie eine der wohlhabendsten im King George County war. Sie erbte mit ihrem Bruder, Joseph Jones, beträchtlichen Besitz. Jones war Richter und einer der einflussreichsten Abgeordneten im House of Burgesses sowie später Delegierter im Kontinentalkongress. Jones war mit George Washington befreundet und ein enger Bekannter von Thomas Jefferson und James Madison.
Wie damals in den Dreizehn Kolonien üblich, brachten die Eltern Monroe das Lesen und Schreiben bei. Im Alter von elf Jahren schickte ihn der Vater auf die einzige Schule des Countys, die Campbelltown Academy. Diese galt als die beste der Kolonie Virginia, weshalb Monroe später auf dem College of William & Mary in Latein und Mathematik sofort die Kurse für Fortgeschrittene belegen konnte. Wie seine Mitschüler besuchte er die Academy nur zwölf Wochen pro Jahr, um die restliche Zeit auf der väterlichen Farm zu helfen. Auf der Schule schloss er Freundschaft mit dem späteren Außenminister und obersten Bundesrichter John Marshall. Im Jahr 1772 starb Monroes Mutter nach der Geburt ihres jüngsten Kindes und bald darauf sein Vater, sodass er als ältester Sohn die Verantwortung als Familienoberhaupt innehatte und die Schule verließ. Monroes wohlhabender Onkel Jones kümmerte sich nun um sie und bezahlte die Schulden seines Schwagers. Er übernahm die Patronage von Monroe, prägte seine politische Bildung und meldete ihn am College of William & Mary in Williamsburg an, wo er sein Studium im Juni 1774 begann.
Fast alle von Monroes Kommilitonen stammten aus wohlhabenden Tabakpflanzerfamilien, die die herrschende Klasse der Kolonie Virginia bildeten und im Falle einer Besteuerung durch das Königreich Großbritannien am meisten zu verlieren hatten. In dieser Phase der Amerikanischen Revolution ergriff das Mutterland als Reaktion auf die Boston Tea Party harte Maßnahmen gegenüber den Dreizehn Kolonien. In Williamsburg löste der britische Gouverneur John Murray, 4. Earl of Dunmore, nach Protesten der Abgeordneten die Assembly auf, woraufhin diese beschlossen, eine Delegation zum Ersten Kontinentalkongress nach Philadelphia zu entsenden. Als der Gouverneur die Abwesenheit der nach Richmond ausgewichenen Burgesses ausnutzen wollte und von Soldaten der Royal Navy die Waffenbestände der virginischen Miliz beschlagnahmen ließ, versammelten sich alarmierte Milizionäre und Studenten des College of William & Mary, darunter Monroe. Sie marschierten unter Waffen zum Governor’s Palace und forderten von Dunmore die Rückgabe des konfiszierten Schießpulvers. Als unter Führung von Patrick Henry weitere Milizionäre in Williamsburg eintrafen, erklärte sich Dunmore bereit, eine Entschädigung für die beschlagnahmten Güter zu zahlen. Monroe und seine Kommilitonen waren über das Vorgehen des Gouverneurs so erbost, dass sie danach auf dem Campus täglich militärische Drills durchführten. Bald nach den Gefechten von Lexington und Concord, die den Beginn des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs markieren, floh Dunmore im Juni 1775 aus der Stadt auf eine Fregatte der Royal Navy. Am 24. Juni stürmte Monroe mit 24 Milizionären den Governor’s Palace und erbeutete dort einige hundert Musketen und Schwerter.
Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg
Am 1. Januar 1776 stürmten unter Führung von Dunmore britische Marinesoldaten Norfolk und brannten die Stadt nieder. Als Monroe davon erfuhr, meldete er sich trotz der Trauer um seinen kurz zuvor gestorbenen Bruder Spence gemeinsam mit Marshall und dem Kommilitonen und engen Freund John F. Mercer als Freiwilliger bei der Infanterie Virginias. Aufgrund seines Bildungsstands wurde Monroe im Offiziersrang eingestellt. Der Diensteintritt erfolgte als Second Lieutenant im 3. Virginia Regiment, das kurz danach von Colonel George Weedon kommandiert wurde. Nach einer militärischen Grundausbildung in Williamsburg marschierte das Regiment am 16. August 1776, knapp sechs Wochen nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, nordwärts, um sich am 12. September der Kontinentalarmee unter George Washington in Manhattan anzuschließen. Hier sammelte Monroe bei der Schlacht von Harlem Heights erste Gefechtsfelderfahrung. Knapp sechs Wochen später konnte Monroes Regiment zwei Tage vor der Schlacht von White Plains einen feindlichen Überfall in der Nacht abwehren und dem Gegner einen Verlust von 56 Mann zufügen, ohne einen Gefallenen zu beklagen. Beim Rückzug der Kontinentalarmee am 7. Dezember über den Delaware River, der eine Reaktion auf den Verlust von Fort Washington war, spielte das Regiment Monroes eine zentrale Rolle. Am 26. Dezember gehörte er zu den ersten, die unter dem Kommando von Captain William Washington den Delaware überquerten und die Schlacht von Trenton eröffneten. In Trenton erlitt Monroe eine schwere Verwundung an der Schulter, die die Arterie beschädigte, und überlebte nur dank einer sachgerechten Erstversorgung durch den Arzt John Riker, der sich erst wenige Stunden zuvor der Kompanie Monroes angeschlossen hatte. Noch am gleichen Tag wurde Monroe wegen seiner Tapferkeit von George Washington zum Captain befördert.
Nach zweimonatiger Genesung kehrte Monroe nach Virginia zurück, um unter seinem Kommando Truppen für die Kontinentalarmee zu werben. Ohne Erfolg diesbezüglich schloss er sich im August 1777 wieder der Kontinentalarmee an und wurde General William Alexander, Lord Stirling, als Hilfsoffizier zugeteilt. In der Schlacht von Brandywine am 11. September 1777 versorgte er den verwundeten Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette, mit dem ihn fortan eine enge Freundschaft verband. Im folgenden Monat nahm er an der Schlacht von Germantown teil. Bis zum 20. November 1777 wurde er zum Major befördert und diente als Aide-de-camp Lord Stirlings. Während der Schlacht von Monmouth am 28. Juni 1778 wurde er zu Lord Stirlings Adjutant General ernannt und half, eine britische Attacke auf seine Division zurückzuwerfen. Monroe diente bis zum Herbst weiter und kehrte wahrscheinlich aus finanziellen Gründen im Frühjahr 1779 nach Virginia zurück. Dort wurde ihm von der Virginia General Assembly der Dienstgrad eines Lieutenant Colonel übertragen, ohne ihn mit ausreichend Haushaltsmitteln auszustatten, ein eigenes Regiment auszuheben. Stattdessen wurde er als Hilfsoffizier dem Gouverneur von Virginia, Thomas Jefferson, zugeteilt und begann auf den Rat Jeffersons hin am College of William & Mary ein Studium der Rechtswissenschaften. Jefferson, mit dem Monroe bald eine enge und lebenslange Freundschaft verband, riet seinem Protegé zu einer politischen Laufbahn und stellte ihm seine Bibliothek zur Verfügung, wobei vor allem die Werke Epiktets großen Einfluss auf Monroe entfalteten. Im Juni 1780 ernannte ihn Jefferson, der seit dieser Zeit sein lebenslanger Mentor war, zu einem Militärbeauftragten mit der Aufgabe, Verbindung zur südlichen Kontinentalarmee zu halten, die unter dem Kommando von General Johann von Kalb in South Carolina stand. Ende 1780 rückten die Briten in Virginia ein und Monroe, der in der Zwischenzeit Colonel war, bekam erstmals den Befehl über ein Regiment, ohne entscheidend zur Verteidigung beitragen zu können. Weitere Führungsverwendungen blieben ihm trotz umfangreicher Bemühungen verwehrt. Nach der Schlacht bei Yorktown schied Monroe im November 1781 aus dem aktiven Dienst aus.
Frühe politische Stationen
Im Jahr 1782 wurde Monroe für das King George County in das Abgeordnetenhaus von Virginia gewählt. Kurz darauf kandidierte er in ungewöhnlich jungen Jahren erfolgreich für den achtköpfigen Governor’s Council. Im Juni 1783 folgte die Wahl in den vierten Konföderationskongress. Diesen Sitz konnte er bei den nächsten beiden Wahlen verteidigen. Im Konföderationskongress profilierte er sich an vorderster Front derjenigen Delegierten, die eine nationale Perspektive einnahmen und sich nicht nur als Bürger ihres jeweiligen Bundesstaats betrachteten. Monroe entwickelte ein reges Interesse an der amerikanischen Außenpolitik und erkannte mit militärischem Blick das Grundproblem der Vereinigten Staaten, das später seine Präsidentschaft bestimmte: Die Konflikte, die entstanden, wenn die natürliche Expansion der jungen Nation mit den Gebietsansprüchen europäischer Mächte in Nordamerika kollidierte.
Er unterstützte Washington und die Society of the Cincinnati in ihrem Vorhaben, weniger begüterte Veteranen des Unabhängigkeitskriegs mit Grenzland zu entschädigen. In diesem Zusammenhang bereiste er in den Jahren 1784 und 1785 das Ohio Country und spätere Kentucky. Die Frage der Grenzverschiebung nach Westen, die er als existenziell für die Zukunft der Vereinigten Staaten ansah, beschäftigte Monroe während seiner gesamten politischen Laufbahn. Er setzte sich dafür ein, den rechtlichen Status der Gebiete zu klären, die Amerika im Frieden von Paris zur Nutzung überlassen worden waren. Ein weiteres Ziel Monroes im Konföderationskongress war die freie Schifffahrt auf dem Mississippi. Sein Interesse an der ökonomischen Erschließung des amerikanischen Westens, in dem ihn Jefferson bestärkte, war auch persönlicher Natur, da er wie andere Gründerväter an Landspekulationen beteiligt war und für seinen Dienst in der Kontinentalarmee Landrechte in Höhe von 2000 Hektar in Kentucky erhalten hatte. Anders als Madison und Washington, die diese Territorien in bestehende Bundesstaaten integrieren wollten, befürworteten Monroe und Jefferson die Aufnahme als neue Bundesstaaten in die Vereinigten Staaten. Womöglich mehr als jeder andere politische Führer seiner Generation erkannte er, dass der nationale Drang nach Westexpansion, der zuerst durch die Siedler und später durch europäische Zuwanderer getragen wurde, nicht mehr einzugrenzen war.
In dieser Frage geriet er mit Außenminister John Jay in Konflikt. Dieser stammte aus New York City und vertrat die Interessen Neuenglands, dem an guten Handelsbeziehungen zu den Königreichen Frankreich und Großbritannien gelegen war, die durch die Gebietsansprüche Virginias und North Carolinas westlich des Mississippis und im späteren Nordwestterritorium potenziell gefährdet wurden. Zudem sah Jay in der Expansion nach Westen und dem Erschließen der dortigen Wasserwege, insbesondere den Hafen von New Orleans betreffend, eine ernstzunehmende wirtschaftliche Konkurrenz für den Westindienhandel Neuenglands. Im Jahr 1787 setzte Monroe im Konföderationskongress die Northwest Ordinance durch, die die gesetzliche Grundlage für die Schaffung des Nordwestterritoriums war. Von dieser Zeit an wurde Monroe bis in die 1810er-Jahre von der Öffentlichkeit als der einzige Politiker nationaler Bedeutung wahrgenommen, der sich für die Interessen der westlichen Grenzgebiete einsetzte. Während der Zeit im Konföderationskongress begann durch Jeffersons Vermittlung die Freundschaft zu James Madison.
Monroes Privatleben war in dieser Lebensphase von zwei Themen bestimmt, die immer wiederkehrten: gesundheitliche Einschränkungen, die ihn regelmäßig ans Bett fesselten, und Geldnot. Er war nach dem Dienst in der Kontinentalarmee direkt in die Politik gewechselt und hatte noch immer keine Anwaltszulassung, weshalb eine wichtige Einkommensquelle fehlte. Am 16. Februar 1786 heiratete er Elizabeth Kortright, die der feinen Gesellschaft New York Citys entstammte und der Episkopalkirche angehörte, in der Trinity Church in Manhattan. Sie hatten sich kennengelernt, als der Konföderationskongress in der Federal Hall in Manhattan tagte. Monroes Schwiegervater war ein ehemals wohlhabender westindischer Pflanzer, der durch die Amerikanische Revolution verarmt war. Die Bindung zwischen Monroe und seiner Gattin war sehr eng und sie wurden als ein sich gut ergänzendes Paar wahrgenommen. Später als First Lady machte sie auf die Gäste aufgrund ihrer Anmut und natürlichen Schönheit einen bezaubernden Eindruck, allerdings schränkte sie aufgrund schwacher Gesundheit die Gesellschaften im Weißen Haus im Vergleich zu ihrer Vorgängerin Dolley Madison deutlich ein. Aus der Ehe entstanden drei Kinder, von denen die Töchter Eliza (1787–1835) und Maria (1803–1850) das Erwachsenenalter erreichten. Obwohl Monroe im anglikanischen Glauben aufgewachsen war, wurden die Kinder gemäß der Lehren der Episkopalkirche erzogen.
Im Herbst 1786 zogen die Monroes in das Haus seines Onkels Jones nach Fredericksburg, wo er erfolgreich die Anwaltsprüfung ablegte. Monroe blieb der Politik treu und wurde bald in den Stadtrat von Fredericksburg gewählt und bald darauf in das Abgeordnetenhaus von Virginia. Im Juni 1788 war er Teilnehmer an der Ratifizierungsversammlung von Virginia, die über die Annahme der Verfassung der Vereinigten Staaten abstimmte. Monroe nahm eine neutrale Position zwischen den Lagern der Befürworter um Madison und Gegner der Constitution ein. Er forderte, in die Verfassung Garantien bezüglich freier Schifffahrt auf dem Mississippi aufzunehmen und der Bundesregierung im Verteidigungsfall direkte Kontrolle über die Milizen zu geben. Damit wollte er die Schaffung eines stehenden Heers verhindern, was sich als ein kritischer Streitpunkt zwischen den Föderalisten und den Anti-Föderalisten erwies, die als Keimzelle der Demokratisch-Republikanischen Partei eine zu starke Zentralregierung ablehnten. Monroe opponierte außerdem gegen das Wahlmännerkollegium, das er als zu bestechlich und anfällig für die Interessen der Einzelstaaten ansah, und sprach sich für eine Direktwahl des Präsidenten aus. Am Ende stimmte Monroe mit den Anti-Föderalisten gegen die Ratifizierung der amerikanischen Verfassung, wobei möglicherweise die Sorge ausschlaggebend war, dass die künftige Bundesregierung die Interessen des Westens denen der Ostküstenstaaten opfern werde. Ein Zugeständnis an die Anti-Föderalisten, die bei der Abstimmung am 27. Juni 1788 mit 79–89 Stimmen unterlagen, war dem Kongress die Aufnahme von 20 Verfassungszusätzen zu empfehlen, von denen zwei auf Monroe zurückgingen. Bei der anschließenden Wahl zum 1. Kongress der Vereinigten Staaten überredete der Anti-Föderalist Henry Monroe dazu, gegen Madison anzutreten. Madison gewann schließlich den Sitz im Repräsentantenhaus, was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat.
Nach dieser Niederlage zog Monroe mit seiner Familie aus Fredericksburg in das Albemarle County um, erst nach Charlottesville und später in die unmittelbare Nachbarschaft von Monticello, wo er ein Landgut kaufte und ihm den Namen Highland gab. Einige Historiker sehen in diesem Wohnortwechsel in das waldreiche Landesinnere Virginias einen symbolischen Bruch mit der Pflanzerelite des Ostens, die einen europäischen Lebensstil pflegte, und eine Hinwendung zu den Siedlern am Fuße der Allegheny Mountains.
Im Dezember 1790 wurde Monroe für Virginia in den amerikanischen Senat gewählt, der zu dieser Zeit in der Congress Hall der damaligen Hauptstadt Philadelphia tagte. Da der Senat im Unterschied zum Repräsentantenhaus hinter verschlossenen Türen tagte, schenkte ihm die Öffentlichkeit kaum Beachtung und fokussierte sich auf das Unterhaus. Monroe beantragte daher im Februar 1791, die Sitzungen des Senats öffentlich abzuhalten, was jedoch anfangs abgelehnt und erst ab Februar 1794 umgesetzt wurde. In der Bundesregierung, die zu großen Teilen unter dem Einfluss der Föderalisten um den Finanzminister Alexander Hamilton stand, entstanden bald zwei Fraktionen: die Anti-Administration Party oder Republikaner und die Pro-Administration Party oder Föderalisten. Der Konflikt kreiste vor allem um die Frage, ob die Rechte der einzelnen Bundesstaaten oder die der Nation vorrangig seien, äußerte sich aber auch außenpolitisch im Streit darum, inwieweit das revolutionäre Frankreich im Ersten Koalitionskrieg zu unterstützen sei. Dieser Streit dominierte die nächsten zwei Jahrzehnte das politische Geschehen und brach zuerst bei der Diskussion über die Einrichtung der First Bank of the United States offen zutage. Bei der Abstimmung war Monroe einer von fünf Senatoren, die gegen die Einführung dieser Zentralbank votierten. Die Anti-Administration Party begann, sich um Jefferson in der Demokratisch-Republikanischen Partei zu formieren, wobei Madison und Monroe als Organisator und kämpferischer Parteisoldat seine wichtigsten Helfer waren. Die politische Atmosphäre polarisierte sich zusehends: Während die Föderalisten in ihren Gegnern unbändige und provinzielle Primitivlinge sahen, betrachteten die Republikaner um Jefferson die Föderalisten als Monarchisten. Als Monroe sich 1792 an Untersuchungen des Kongresses beteiligte, die illegale Transaktionen Hamiltons an James Reynolds behandelte, führte dies zum Aufdecken des ersten politischen Sex-Skandals der Vereinigten Staaten: Bei den Zahlungen hatte es sich um Schweigegeld gehandelt, um Hamiltons Affäre mit Reynolds Frau geheim zu halten. Diese öffentliche Demütigung, die fast zu einem Duell zwischen beiden geführt hatte, verzieh Hamilton Monroe niemals. Auf Pamphlete Hamiltons, die Jefferson vorwarfen, Washingtons Autorität zu untergraben, antworteten Madison und Monroe in den Jahren 1793/94 mit einer Serie von sechs Essays. Diese scharf formulierten Repliken entstammten zum größten Teil der Feder Monroes.
Die Spaltung zwischen Föderalisten und Anti-Föderalisten hatte nicht nur unterschiedliche Partikularinteressen als Ursache, sondern auch divergierende Lebensphilosophien, Regionalkulturen und historische Erfahrungen. Die Republikaner unter der Führung Virginias waren vom autarken Plantagensystem geprägt, das abhängig war von Landbesitz und skeptisch gegenüber Städten, konzentrierter Finanzwirtschaft und Zentralregierung. Geistig wurden die Pflanzer der Südstaaten von den Autoren der griechischen Antike und der Römischen Republik beeinflusst. Die Föderalisten auf der anderen Seite waren vor allem städtische Ladenbesitzer, Händler und Handwerker, die vom Seehandel abhängig waren und Bankgeschäfte tätigten. Als Führer der Republikaner im Senat war Monroe bald in Angelegenheiten der auswärtigen Beziehungen involviert. Im Jahr 1794 trat er als Gegner von Hamiltons Ernennung zum Botschafter im Vereinigten Königreich und Freund der Ersten Französischen Republik in Erscheinung. Seit 1791 hatte er in mehreren Essays unter dem Pseudonym Aratus Partei für die Französische Revolution ergriffen.
Botschafter in Frankreich
Selbstbewusst bat Monroe im April 1794 Washington in einem Brief um eine persönliche Audienz, um ihn von der Ernennung Hamiltons zum Botschafter in London abzubringen. Washington, der dieses Vorhaben bereits fallen gelassen hatte, würdigte ihn keiner Antwort. Dennoch ernannte er zur Jahresmitte 1794 Monroe als Nachfolger von Gouverneur Morris zum Botschafter in Frankreich, nachdem Madison und Robert R. Livingston das Angebot abgelehnt hatten. Monroe trat diesen Posten in einer schwierigen Zeit an: Frankreich, Großbritannien und Spanien standen als wichtigste Handelspartner der Vereinigten Staaten im Ersten Koalitionskrieg und hatten sämtlich territoriale Interessen in Nordamerika: Das Königreich Großbritannien war mit Ober- und Niederkanada der nördliche Nachbar, die Erste Französische Republik meldete im Westen Besitzansprüche auf die riesige Kolonie Louisiana an, die sie im Frieden von Paris 1763 an Spanien verloren hatte, das seit dem Frieden von Paris 1783 zudem in Besitz von Ost- und Westflorida war. Insbesondere Louisiana und die Floridas hemmten die weitere Expansion der Vereinigten Staaten. Die Verhandlungsposition Amerikas wurde durch fehlende militärische Stärke erheblich erschwert. Hinzu kam, dass der Konflikt zwischen Paris und London in Amerika die Konfrontation zwischen den anglophilen Föderalisten und den frankophilen Republikanern verschärfte. Während die Föderalisten prinzipiell nur die Unabhängigkeit von Großbritannien als Ziel hatten, wollten die Republikaner eine revolutionäre neuartige Regierungsform, weshalb sie stark mit der Ersten Französischen Republik sympathisierten.
Über die zeitgleich in London stattfindende diplomatische Mission seines früheren Kontrahenten und strammen Föderalisten Jay wurde Monroe durch Washington und Außenminister Edmund Randolph, die beide eine neutralere Haltung zum revolutionären Frankreich hatten und bald auf Distanz zu Paris gingen, unaufrichtig informiert: Während sie ihm versicherten, Jays Auftrag in Großbritannien habe nur aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg herrührende Entschädigungsfragen zum Inhalt, hatte dieser tatsächlich ein deutlich weiter reichendes Verhandlungsmandat. Neben der allgemeinen Vorgabe, weiterhin enge Beziehungen zu Frankreich zu sichern, sollte Monroe mit Paris zwei konkrete Fragen klären: zum einen die Ansprüche auf Entschädigung für amerikanische Handelsschiffe, deren britische Waren das revolutionäre Frankreich beschlagnahmt hatte, und zum anderen die freie Schifffahrt auf dem Mississippi. Monroes leidenschaftliche und freundschaftliche Grußbotschaft bei der Einführungszeremonie vor dem Nationalkonvent wurde später von Jay und Randolph wegen ihrer Gefühlsbestimmtheit kritisiert. Washington sah die Rede hinsichtlich des Ortes und angesichts der amerikanischen Neutralität im Ersten Koalitionskrieg als „nicht gut entwickelt“ an.
Von Randolph derart instruiert, ging Monroe davon aus, dass er eine Vertiefung der amerikanisch-französischen Beziehungen erreichen sollte, obwohl Washington lediglich den Status quo halten wollte. Er war zusehends zwischen seiner Rolle als Repräsentant der amerikanischen Regierung und der als kämpferischer Parteipolitiker der frankophilen Republikaner hin- und hergerissen. Monroe konnte in Frankreich gute und nützliche Beziehungen insbesondere zu Merlin de Thionville, Jean Lambert Tallien, Antoine Claire Thibaudeau und Jean François Reubell knüpfen. Vom Wohlfahrtsausschuss erhielt er am 21. November 1794 die Zusage, dass Paris sich wieder an die Bestimmungen des amerikanisch-französischen Bündnisvertrags vom Februar 1778 halten und amerikanischen Schiffen freie Zufahrt in seine Häfen gewähren werde. Die Föderalisten in der heimischen Regierung maßen dieser Vereinbarung jedoch keinen hohen Stellenwert bei und fokussierten sich weiter auf die Beziehungen zu London.
Als der im November 1794 abgeschlossene Jay-Vertrag mit dem Königreich Großbritannien bekannt wurde, geriet Monroe in Paris in ein Netz aus internationalen Intrigen und Gerüchten, das sich um die geheim gehaltenen vertraglichen Vereinbarungen spann. Auf Monroes Anfragen hin sagte ihm Jay erst zu, dass die Übereinkunft mit London in keiner Weise dem bestehenden Vertrag mit Frankreich zuwiderliefe, woraufhin Monroe den Franzosen voreilig versprach, sie über die genauen Bestimmungen des Jay-Vertrags in Kenntnis zu setzen. Kurz darauf erhielt Monroe den Vertragstext mit der nun genau gegenteiligen Anweisung, den Inhalt keinesfalls an Frankreich weiterzugeben. Obwohl im August 1795 eine Pariser Zeitung den Wortlaut des Jay-Vertrags veröffentlichte, hatte Monroe weiterhin die Order, Frankreich zu versichern, dass dieses Abkommen nichts an ihrer Freundschaft änderte.
Im Februar 1795 erreichte Monroe die Entlassung aller seit der Französischen Revolution inhaftierten amerikanischen Staatsbürger und der Gattin seines Freundes Marquis de La Fayette. Bereits im Juli 1794 hatte er für die Freilassung von Thomas Paine gesorgt und ihn bei sich aufgenommen. Als dieser trotz Monroes Einwänden an einer Schmähschrift gegen Washington arbeitete, trennten sich ihre Wege im Frühjahr 1796 wieder. Monroe überzeugte die Franzosen davon, bei ihren Friedensverhandlungen mit Spanien, die schließlich in den Basler Frieden mündeten, die Schifffahrtsrechte auf dem Mississippi mit in die Vereinbarung aufzunehmen. Da Monroe für Spanien als ein inoffizieller Vermittler zu Frankreich gewirkt hatte, war Madrid zu diesem Zugeständnis bereit, das schließlich im Vertrag von San Lorenzo am 27. Oktober 1795 fixiert wurde, und Amerika neben freier Schifffahrt auf dem Mississippi eingeschränkte Nutzungsrechte für den Hafen New Orleans zugestand.
Sofort nachdem Timothy Pickering im Dezember 1795 die Nachfolge von Außenminister Randolph antrat, der das einzige frankophile Mitglied im Kabinett Washington gewesen war, arbeitete er an der Entlassung Monroes. Als Monroe am 25. März 1796 über seine Antworten an das Direktorium berichtete, das sich über den Jay-Vertrag beklagte, versandte er dies als Zusammenfassung und nicht vollständig dokumentiert, da Paris um einen Neuentwurf dieses Schriftwechsels bat. Pickering sah darin ein Zeichen für Monroes mangelnde Eignung und überzeugte gemeinsam mit Hamilton Washington davon, Monroe als Botschafter abzulösen. Das am 29. Juli 1796 verfasste und bewusst verzögert versandte Entlassungsschreiben von Pickering erreichte Monroe erst im November 1796, um so seine Rückkehr vor der Präsidentschaftswahl zu verhindern. Bis zu seiner Abreise musste Monroe noch erleben, wie die von ihm erreichten Fortschritte rückgängig gemacht wurden und Frankreich als Reaktion auf die Verabschiedung des Jay-Vertrags im Kongress die Beschlagnahmungen auf amerikanischen Schiffen wieder aufnahm sowie die diplomatischen Beziehungen zu Amerika beendete. Monroes Biograph Gary Hart sieht diesen Misserfolg letztendlich in seiner Übertragung der polarisierten innenpolitischen Konfliktlage Amerikas auf das viel komplexere europäische Spannungsgeflecht begründet. In dieser Phase zeige sich erstmals Monroes aggressive Herangehensweise bei auswärtigen Beziehungen und das Selbstverständnis einer aktiven, über bloße Absicherung hinausgehenden Rolle Amerikas in der Weltpolitik, die ihn von allen anderen Gründervätern unterschied.
Gouverneur von Virginia und Louisiana Purchase
Nach seiner Rückkehr aus Paris 1797 war Monroe für einige Zeit in New York, um dort von Pickering Wiedergutmachung für seine als ungerecht erlebte Absetzung zu erreichen. Zuhause in Virginia veröffentlichte er eine Verteidigungsschrift, die darlegte, dass er und die Freundschaft zu Frankreich der Annäherung an London geopfert wurden. Dies forderte John Adams zu einer heftigen Gegenattacke heraus. Mit Unterstützung von Jefferson und Madison verfasste Monroe schließlich noch im Jahr 1797 das über 400 Seiten lange Werk A view of the conduct of the executive in the foreign affairs of the United States, connected with the mission to the French Republic, during the years 1794, 5, & 6., das die Regierung Washingtons scharf attackierte und ihr vorwarf, gegen die Interessen Amerikas zu handeln. Für Washington bedeutete das den endgültigen Bruch mit seinem früheren Offizier und veranlasste ihn, eine vernichtende Kritik Monroes zu veröffentlichen. Monroe war in dieser Phase bereits erheblich verschuldet, da die Entlohnung als Botschafter weit unter den nötigen Ausgaben gelegen hatte und sein Privateinkommen viel zu niedrig war, diese Kosten zu decken.
Im Jahr 1799 wurde Monroe zum Gouverneur von Virginia gewählt. Zu dieser Zeit begann der Niedergang der Föderalisten, die sich vor allem über die Frage des Quasi-Kriegs mit Frankreich immer mehr in Lagerkämpfe zwischen Hamilton und Adams verstrickten. Da auf republikanischer Seite Jefferson als Vizepräsident als Oppositionsführer ausfiel und Madison aus der Misere der Föderalisten keinen Vorteil schöpfen wollte, füllte Monroe diese Lücke. Er entwickelte über die beschränkten Machtbefugnisse eines Gouverneurs hinausgehende Initiativen, ohne damit viel erreichen zu können. Wie sein Mentor Jefferson maß er insbesondere dem öffentlichen Bildungssystem zentrale Bedeutung bei. Monroe warb außerdem darum, die Ausbildung und Ausrüstung der Milizen staatlich zu unterstützen. Nachdem Ende August 1800 die Pläne Gabriel Prossers für einen Sklavenaufstand aufgedeckt wurden, berief Monroe die Miliz ein, ließ Waffen und Schießpulver aus allen Geschäften entfernen und das Gefängnis, in dem die Verschwörer inhaftiert waren, mit Palisaden sichern. Als sich die allgemeine Furcht, die von den damaligen Sklavenrebellionen der Haitianischen Revolution genährt wurde, als grundlos erwies und Vergeltungsaktionen nach der Hinrichtung der Verschwörer ausblieben, löste er bis zum 18. Oktober die Miliz bis auf wenige Mann auf. Nach drei Jahren im Amt setzte sich Monroe zur Ruhe. Nicht viel später bat ihn Jefferson, mittlerweile amerikanischer Präsident, darum, sich auf eine weitere diplomatische Mission nach Frankreich zu begeben. Dort sollte er Botschafter Livingston unterstützen und mit Paris über die Nutzungsrechte am Hafen von New Orleans, die freie Schifffahrt auf dem Mississippi und die beiden Floridas verhandeln. Jefferson sah die ersten beiden Punkte als gefährdet an, da die Kolonie Louisiana von Spanien im Dritten Vertrag von San Ildefonso 1800 an die Erste Französische Republik abgetreten worden war. Am 11. Januar 1803 ernannte der Präsident Monroe schließlich zu einem Gesandten mit besonderer Verhandlungsvollmacht und Botschafter in London.
In Paris angekommen, schaltete sich Monroe in die Verhandlungen zum Louisiana Purchase ein, die für Amerika bis dahin der Botschafter Livingston geführt hatte. Obwohl dieser nur über ein Abtreten New Orleans an Amerika verhandelt hatte, bot Napoleon Bonaparte über seinen Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord den Erwerb der gesamten Kolonie Louisiana an, während er West- und Ostflorida als weiterhin zu Spanien gehörig erklärte. Dies widersprach den Vorgaben Jeffersons, der den Erwerb der beiden Floridas und von New Orleans als Ziel ausgegeben hatte. Trotzdem wurde der Handel geschlossen und der Vertrag über den Louisiana Purchase am 30. April 1803 unterzeichnet. Bei einem Dinner am folgenden Tag wurde Monroe Napoleon vorgestellt. In ihrem Gespräch sagte Napoleon einen kommenden Krieg zwischen Amerika und Großbritannien vorher, womit er recht behielt. Kurz darauf wurde Monroe weiter nach London geschickt, um hier über die Zwangsrekrutierungen amerikanischer Seeleute für die Royal Navy und ein mögliches Verteidigungsbündnis zum Schutze des eigenen Seehandels zu verhandeln. Monroe hielt sich von Juli 1803 bis zum späten Herbst 1804 in London auf. Ohne im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland bedeutende Fortschritte erzielt zu haben, wurde Monroe weiter nach Spanien beordert, um über die Floridas zu verhandeln. Als er in Madrid am 2. Januar 1803 eintraf, fand er eine vergiftete Gesprächsatmosphäre vor, für die der amerikanische Botschafter in Spanien, Charles Pinckney, mit plumpen Gewaltdrohungen gesorgt hatte. Bei den Verhandlungen über die offenen, New Orleans, Westflorida und den Rio Grande betreffenden, territorialen Fragen kam Monroe nicht weiter und wurde herablassend behandelt. Frustriert verließ er nach sechs Monaten Spanien und kehrte nach London zurück, wo er die nächsten anderthalb Jahre verbrachte und über Handels- und Wirtschaftsabkommen sowie vor allem über die britische Praxis des Schanghaiens amerikanischer Seeleute verhandelte. In englischen Häfen konnte er mit eigenen Augen amerikanische Prisenschiffe einlaufen sehen.
Im politischen Abseits
Anfang 1806 forderte ihn John Randolph of Roanoke auf, in zwei Jahren gegen Außenminister Madison zu kandidieren, der von Jefferson als sein Nachfolger aufgebaut wurde. Monroe lehnte diese Bitte vorerst ab. Unterdessen erreichte er in Zusammenarbeit mit dem Gesandten William Pinkney mit London eine Verständigung, die eine Vielzahl offener Finanz- und Wirtschaftsfragen klärte. Jefferson lehnte dieses Abkommen jedoch ab, da es die Zwangsrekrutierungen außen vor ließ. Außerdem war dem Präsidenten daran gelegen, die antibritische Stimmung in Amerika aufrechtzuerhalten, von der Madison profitierte, obgleich er dieses Motiv Monroe gegenüber abstritt. Monroe nahm die Ablehnung seines Verhandlungsergebnisses als Kränkung wahr und fühlte sich in seiner Freundschaft zu Jefferson und Madison tief erschüttert, weshalb sein persönliches Verhältnis zu den beiden für einige Zeit abkühlte. Nach seiner Rückkehr nach Amerika im Dezember 1807 entschied sich der immer noch erboste Monroe doch dafür, bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 1808 gegen Madison zu kandidieren, womit er die Stärke seiner politischen Stellung in Virginia demonstrieren wollte. Monroe war der Kandidat der sogenannten „Old Republicans“ (deutsch: „Alte Republikaner“) um Randolph of Roanoke und John Taylor of Caroline, die Jefferson und Madison als Verräter an den republikanischen Idealen betrachteten, da sie die Machtbefugnisse der Bundesregierung gegenüber den Einzelstaaten erweitert hatten.
Nach einer klaren Niederlage gegen Madison, bei der er im Electoral College keine einzige Stimme gewinnen konnte, zog sich Monroe, beim Großteil der Republikaner wegen der Kandidatur in Ungnade gefallen, für die nächsten Jahre in das Privatleben zurück. Dies bildete den Tiefpunkt einer schwierigen Phase, die seit dem Louisiana Purchase von Verlusten und Enttäuschungen geprägt war. Der Plan, sein zweites Haus im Loudon County, Oak Hill, zu verkaufen, um mit dem Erlös Highland zu erneuern und auszubauen, scheiterte an den niedrigen Immobilienpreisen. Er experimentierte wie sein Nachbar Jefferson mit neuartigen Gartenbautechniken, um vom Tabak, dessen Wert immer mehr verfiel, auf Weizen umzusteigen. Im September 1808 heiratete seine Tochter Eliza den Richter George Hay, der später einer der wichtigsten politischen Berater von Präsident Monroe wurde. 1810 rehabilitierte er sich wieder in der Partei und wurde im April dieses Jahres in das Abgeordnetenhaus von Virginia gewählt. Am 16. Januar 1811 wurde er erneut Gouverneur Virginias, was nur eine kurze Episode blieb, da ihn knapp zwei Monate später Albert Gallatin im Auftrage Madisons fragte, ob er bereit sei, als Nachfolger von Robert Smith das Amt des Außenministers zu übernehmen.
Minister im Kabinett Madison und Britisch-Amerikanischer Krieg
Auf die Zusage hin, dass er im Kabinett Madisons als selbständiger Minister gebraucht werde und nicht nur als ein Sprachrohr des Präsidenten, willigte Monroe ein und wurde im März 1811 Außenminister. Aus Monroes und Madisons herzlicher Verbindung war mittlerweile eine komplexe und professionelle Beziehung geworden. Sowohl für den Präsidenten als auch den Außenminister, die eng zusammenarbeiteten und kaum Differenzen hatten, war in den nächsten Jahren der Konflikt mit Großbritannien das beherrschende Thema und in geringerem Umfang der mit Frankreich. Die Weigerung Londons, den amerikanischen Klagen insbesondere über die Zwangsrekrutierungen Gehör zu schenken, trieb beide Staaten immer weiter in Richtung Krieg. Monroe und Madison waren sich einig, dass das Ansehen und das Interesse der Vereinigten Staaten eine derartige Diskriminierung nicht erlaubten. Laut Ammon bedeutete der Eintritt Monroes in das Kabinett, dass eine Lösung der fortdauernden Kontroversen zwischen Amerika und Großbritannien unausweichlich wurde, sei es mittels einer friedlichen Verständigung oder eines bewaffneten Konflikts. Obwohl er als Botschafter in London einige Jahre zuvor ein Abkommen ausgehandelt hatte, das Jefferson abgelehnt hatte, brachte er eine kriegerischere Stimmung in das Kabinett. Bei der State of the Union Address im November 1811 forderte Madison, eine Hilfstruppe aufzustellen und die United States Navy zu vergrößern. Monroe erhielt den Auftrag, diese Vorhaben durch den Kongress zu bringen. Mit Henry Clay und Madison plante Monroe ein neues Embargo gegen Großbritannien, das im März 1812 im Kongress verabschiedet wurde und als Testlauf diente, ob eine politische Mehrheit für einen Krieg vorhanden war. Am 1. Juni 1812 kam es schließlich zur Kriegserklärung durch Madison, der zwei Wochen später der Senat mit knapper Mehrheit zustimmte.
Nach Ausbruch des Britisch-Amerikanischen Kriegs strebte Monroe nach einem militärischen Kommando, zumal er dem Außenministerium und der Diplomatie nur noch sekundäre Bedeutung beimaß. Nach der erfolgreichen Belagerung von Detroit durch die British Army im August 1812 wollte er die Rückeroberung von Detroit anführen und schlug Jefferson als seinen Nachfolger im State Department vor, was der Präsident umgehend ablehnte. Stattdessen machte ihn Madison im Januar 1813 als Nachfolger des erfolglosen William Eustis zum kommissarischen Kriegsminister. Monroe übergab die stellvertretende Leitung des Außenministeriums an Richard Rush. Monroe erstellte in kürzester Zeit einen detaillierten Bericht zur benötigten militärischen Personalstärke für die Küstenverteidigung und die geplante Sommeroffensive. Er sah vor, auf einjähriger Basis zusätzlich 20.000 reguläre Soldaten zu rekrutieren. Monroes Ernennung zum offiziellen Minister dieses Ressorts verhinderte der Senat, um die Dominanz von virginischen Politikern auf Schlüsselpositionen nicht noch weiter zu erhöhen. Laut Madisons Biographen Gary Wills hatte Monroe auf Anraten seines Schwiegersohns Hay von Anfang an nur eine kurzfristige Tätigkeit als Kriegsminister beabsichtigt, da er in dieser Position angesichts eines sich abzeichnenden langen und unpopulären Kriegs um seine Aussichten auf eine eigene Präsidentschaft fürchtete. Stattdessen wurde im Februar 1813 mit John Armstrong junior ein erbitterter Rivale Monroes offizieller Kriegsminister. Misstrauisch spionierte Monroe Armstrongs ministerielle Korrespondenz aus, als dieser ein militärisches Frontkommando außerhalb der Hauptstadt wahrnahm. Als im Sommer des gleichen Jahres erstmals britische Kriegsschiffe im Mündungsgebiet des Potomac River erschienen und Monroe darauf drang, Verteidigungsmaßnahmen für Washington, D.C. zu ergreifen und einen militärischen Nachrichtendienst in Form eines Pony-Expresses zur Chesapeake Bay einzurichten, lehnte dies der Kriegsminister als unnötig ab. Da somit eine funktionierende Aufklärung fehlte, stellte Monroe auf eigene Faust eine kleine Kavallerieeinheit zusammen und kundschaftete fortan die Bucht selbst aus, bis die Briten sich aus dieser zurückzogen.
Nach der Niederlage Napoleons im Sechsten Koalitionskrieg im Sommer 1814 konzentrierten sich die Briten auf den amerikanischen Kriegsschauplatz und bereiteten eine Invasion der Hauptstadt vor. Gerüchte davon, die Armstrong warnten, schlug dieser erneut in den Wind. Als sich am 16. August 1814 erneut eine britische Flotte mit 50 Kriegsschiffen und 5000 Soldaten in der Mündung des Potomac massierte, hatte Madison genug gesehen und organisierte mit Monroe die Verteidigung der Washingtons. Monroe kundschaftete mit einem Trupp persönlich die Chesapeake Bay aus und schickte am 21. August dem Präsidenten eine Warnung vor dem bevorstehenden Einmarsch, so dass Madison mit seiner Frau rechtzeitig fliehen und das Staatsvermögen sowie die Einwohner evakuiert werden konnten. Drei Tage später traf Monroe im Washington Navy Yard den Präsidenten und das Kabinett zu einem verzweifelten Versuch, die Verteidigung der Hauptstadt doch noch zu ermöglichen. Anschließend ritt er nach Bladensburg weiter, um General Tobias Stansbury zu unterstützen, ohne die Niederlage in der Schlacht bei Bladensburg verhindern zu können. Danach rückten die Briten in den District of Columbia ein, plünderten die Stadt und brannten die öffentlichen Gebäude nieder. Kurz darauf akzeptierte Madison Armstrongs Rücktritt und ernannte Monroe dieses Mal nicht nur zum kommissarischen, sondern zum ständigen Kriegsminister. Da General William H. Winder in Baltimore stand, war Monroe als Secretary of War in dieser Zeit auch der geschäftsführende General für Washington.
Als Kriegsminister brach Monroe mit der republikanischen Doktrin, die Landesverteidigung den Milizen der Bundesstaaten zu überlassen, und plante, eine Wehrpflichtarmee von 100.000 Mann einzuberufen, um die von Kanada aus drohende britische Invasion abzuwehren. Dazu sollten alle Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Hundertergruppen aufgeteilt werden und die Verantwortung dafür haben, je vier dienstfähige Soldaten zu stellen. Aufgrund des baldigen Kriegsendes wurde dies nie umgesetzt. Im September 1814 konzentrierte sich Monroe darauf, General Samuel Smith bei der Verteidigung von Baltimore zu unterstützen. Nach dem Sieg bei der Schlacht von Baltimore gelang es schließlich, die Briten aus der Chesapeake Bay zu werfen. Die Kriegsausgaben machten es für den Präsidenten erforderlich, mit einem weiteren orthodoxen republikanischen Glaubenssatz zu brechen und eine neue Zentralbank zu gründen, nachdem die Charta der First Bank of the United States im Jahr 1811 ausgelaufen war. Monroe, der als einer der ersten Parteiführer erkannte, dass die Republikaner sich seit dem Jahr 1800 gewandelt hatten und ihre Anhänger nun insbesondere in Neuengland und den Mittelatlantikstaaten städtischer und bankenfreundlicher geprägt waren, setzte dem keinen Widerstand entgegen. Zudem hatte er sich weiter verschuldet, um aus eigener Tasche für Kriegskosten aufzukommen. Nach dem günstigen Frieden von Gent und Andrew Jacksons Sieg in der Schlacht von New Orleans trat Monroe am 15. März 1815 als Kriegsminister zurück und übernahm wieder die Leitung des State Departments. Monroe, der als Kriegsminister für sich die Siege von New Orleans und in der Schlacht bei Plattsburgh in Anspruch nahm, ging politisch gestärkt und als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat aus dem Britisch-Amerikanischen Krieg hervor. Bevor er das Kriegsministerium verließ, fertigte er für den Senatsausschuss für militärische Angelegenheiten noch einen Bericht an, der eine reguläre Armee von 20.000 Mann für Friedenszeiten sowie eine Verstärkung der Küstenbefestigung empfahl, was eine Verdoppelung zur Personalstärke vor dem Krieg von 1812 darstellte. Die nächsten sechs Monate schonte er seine Gesundheit, die durch die enorme Arbeitsbelastung in den Jahren zuvor angegriffen worden war.
Präsidentschaftswahl 1816
Im Oktober 1815 kehrte er in die Hauptstadt zurück und wurde als Nachfolger Madisons gehandelt, da das Außenministerium als Sprungbrett zur Präsidentschaft zählte. Zwar genoss Monroe nie die große Popularität Jeffersons, aber er wurde weithin respektiert. Wie Jefferson damals bei ihm selbst, verhielt sich Präsident Madison nach außen hin neutral, als Monroe seine Kandidatur für die Wahlen von 1816 vorbereitete. Trotzdem wurde allgemein angenommen, dass Madison Monroe als seinen Nachfolger unterstützte. Da es wegen des Niedergangs der Föderalisten, die wegen ihrer probritischen Haltung und Ablehnung des Kriegs von 1812 als illoyal wahrgenommen wurden, keine ernstzunehmende Oppositionspartei mehr gab, war für Monroes Sieg der demokratisch-republikanische Caucus im Kongress entscheidend. Bei diesem konnte er den parteiinternen Konkurrenten, den Finanzminister William Harris Crawford, mit 65-54 Stimmen schlagen. Zu Monroes Running Mate wurde Daniel D. Tompkins gewählt. Bei der Präsidentschaftswahl im November 1816 siegte er klar gegen den Föderalisten Rufus King und erreichte im Electoral College eine Mehrheit von 183-34 Stimmen. Monroes Amtseinführung als letzter Präsident aus der Generation der Gründerväter fand am 4. März 1817 statt.
Präsidentschaft
Bei seiner Antrittsrede lobte Monroe den Mut seiner Landsleute im Britisch-Amerikanischen Krieg und Amerika als eine vitale und blühende Nation. Den größten Teil seiner Rede nahm die nationale Sicherheit ein. Monroe rief dazu auf, dem Militär mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die Küstenbefestigungen zu verstärken. Er warnte davor, die geopolitischen Insellage der Vereinigten Staaten als ausreichenden Schutzfaktor anzusehen, zumal die Nation auf sichere Seewege und Fischerei angewiesen sei. In zukünftigen, nicht auszuschließenden Kriegen könnte der Gegner die amerikanische Union zerstören, wenn sie nicht stark genug sei, und sie so ihren Charakter und auch ihre Freiheit verlieren. Ferner seien außenpolitische Ziele leichter aus einer Position der Stärke als aus einer der Schwäche heraus zu erreichen. Da Monroe als erster Präsident das Amt in einer Phase von Frieden und wirtschaftlicher Stabilität antrat, kam dafür bald der Begriff “Era of Good Feelings” („Ära der guten Gefühle“) auf. Diese Periode war durch die unangefochtene Dominanz der Republikaner gekennzeichnet, die zum Ende der Amtszeit Madisons einige Inhalte der Föderalisten, wie zum Beispiel die Schaffung einer Zentralbank und Schutzzölle, übernommen hatten. Zwar war die parteipolitische Lage dadurch erheblich weniger aufgeheizt und polarisiert als noch während der Präsidentschaftswahlen 1800, aber insbesondere zum Ende von Monroes Amtszeit waren die Republikaner unterhalb der Ebene offizieller Politik durch starke Fragmentierung, heftig rivalisierende Fraktionen in Bundesstaaten wie New York und Virginia sowie erbitterte persönliche Rivalitäten geprägt. Monroe sah es als Pflicht des Präsidenten, über diesen Konflikten zu stehen, weshalb er sich dieser Entwicklung gegenüber passiv verhielt, selbst als sie in die Regierungsmannschaft hineinreichte. Der Historiker Hermann Wellenreuther sieht darin ein Defizit Monroes, das zur Polarisierung der politischen Landschaft beigetragen habe.
Bei der Erstellung des Kabinetts spielten für Monroe geographische Erwägungen eine wichtige Rolle. Er wollte die Reichweite der Republikaner und die Einheit der Nation dadurch erhöhen, dass er für die wichtigen Ministerposten Personen aus unterschiedlichen Regionen der Vereinigten Staaten auswählte. Von besonderer Bedeutung war hier das State Department. Da von den ersten fünf Präsidenten bis auf John Adams alle Virginier waren, so dass schon von einer Virginia-Dynastie gesprochen wurde, wollte Monroe jeden Verdacht einer Bevorzugung dieses Bundesstaats vermeiden. Nicht nur aus diesen Gründen ernannte Monroe John Quincy Adams, den Sohn des zweiten Präsidenten, zu seinem Außenminister, sondern auch, weil dessen außergewöhnliches diplomatisches Talent unbestritten war und er als Befürworter von Jeffersons Handelsembargo 1807 mit den Föderalisten gebrochen hatte. Sie kannten sich seit den Friedensverhandlungen mit Großbritannien im Jahr 1814, bei denen Adams mit großer Intensivität mitgewirkt hatte. Ihr persönliches Verhältnis wurde für Monroe das wichtigste während seiner Präsidentschaft. An die Errungenschaften ihrer Zusammenarbeit in dieser frühen Phase der Vereinigten Staaten reichte nur die Arbeitsbeziehung von Jefferson und Madison heran. Adams versorgte den Präsidenten bei ihren täglichen Arbeitstreffen mit Positionspapieren, die dieser redigierte oder daraus entstehende Nachfragen an Adams zur Klärung zurückverwies. Das Kabinett rief er weniger zusammen, um sich Rat einzuholen, sondern mehr, um Konsens zwischen den Ministern und ihm selbst herzustellen, da seine Positionen üblicherweise schon vor der Sitzung feststanden.
Bis zum Abschluss der Restaurierung des Weißen Hauses im September 1817, das von britischen Truppen nach der Schlacht bei Bladensburg niedergebrannt worden war, lebte Monroe im heutigen Cleveland Abbe House. Dieses Haus war bereits seine Residenz als Außen- und Kriegsminister gewesen. Monroe belebte eine nach Washington aufgegebene Tradition erneut und bereiste während seiner Präsidentschaft das Land, wie zum Beispiel im Mai 1818 als er die Forts in der Chesapeake Bay und um Norfolk besichtigte. Anders als beim ersten Präsidenten war dies weniger als eine symbolische Geste der Einheit gedacht, sondern diente dazu, vor Ort für Unterstützung für das nationale Verteidigungsbudget zu werben. Konkret ging es ihm darum, eine Linie von Forts an der Küste als Verteidigungslinie aufzustellen, die nördliche Grenze besser zu sichern und Depots und Werften für die Marine zu errichten, wie er in seiner ersten Rede zur Lage der Nation am 2. Dezember 1817 wiederholte. Dies wurde ein Schwerpunkt seiner Präsidentschaft, den er in der Rede anlässlich der zweiten Amtseinführung im März 1821 bekräftigte. Im März 1819 unternahm Monroe eine weitere Besuchsreise, die ihn über Norfolk nach Nashville führte, wo er ein einwöchiges Treffen mit Jackson hatte. Daneben besichtigte er Befestigungsanlagen sowie die Bauplätze der Forts Monroe und Calhoun.
Bei seiner letzten Rede zur Lage der Nation im Jahr 1824 kündigte Monroe eine Reduzierung der Staatsverschuldung an und appellierte ein letztes Mal, die Landesverteidigung und den Schutz der Seehandelswege mit einer Kette aus Küstenbefestigungen und einer starken Marine zu gewährleisten. Er richtete in dieser Ansprache nicht wie so oft zuvor den Blick nach Europa oder Südamerika, sondern, wie ein großer Teil der Nation insgesamt, in den Wilden Westen. Er bat den Kongress, den Bau eines Forts in der Mündung des Columbia Rivers zu autorisieren und weiterhin ein Marinegeschwader an der Westküste vorzuhalten. Beim umstrittenen und intensiv geführten Präsidentschaftswahlkampf 1824 zwischen den Republikanern Jackson, Adams, Crawford und Clay nahm Monroe keinen Anteil und weigerte sich, seinen Favoriten zu nennen. Als er das Weiße Haus verließ, war die politische Szene in einem bisher kaum gekannten Ausmaße zersplittert und durch persönliche Rivalitäten geprägt.
Verteidigungspolitik
Bei Amtsantritt sah sich Monroe mit einigen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert. Im pazifischen Nordwesten kollidierten amerikanische Gebietsansprüche mit denen des zaristischen Russlands, während die Schifffahrtsrechte auf den Flüssen im Westen weiterhin strittig waren und die Siedler dort auf Widerstand der Indianer Nordamerikas stießen. Im Süden an der Grenze zu der Spanischen Kolonie Florida herrschte Unruhe durch Aufstände der Seminolen, die schließlich in den Ersten Seminolenkrieg mündete, und Piraterie, gegen die eine schwache spanische Verwaltung nichts unternahm. Nicht zuletzt war die Haltung der Vereinigten Staaten zu den lateinamerikanischen Republiken zu klären, die während der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege entstanden. Zum einen beschäftigten diese Grenzkonflikte und der Schutz vor Einmischung fremder Mächte auf dem nordamerikanischen Kontinent die Regierung Monroes in hohem Maße, zum anderen bot der Frieden in Europa nach dem Wiener Kongress Freiraum, die Beziehungen zu den europäischen Mächten zu normalisieren.
Während seiner Zeit als Senator im Kongress hatte Monroe noch Versuche der Regierung Washingtons blockiert, die reguläre Armee zu vergrößern. Als Gouverneur von Virginia hatte er sich für die Stärkung der Milizen des Bundesstaates eingesetzt, was jedoch aus Kostengründen abgelehnt worden war. Ungefähr zu dieser Zeit begann sich seine Einstellung zu einer stehenden Armee zu ändern, die von den klassischen Republikanern schon in der Antike abgelehnt worden war, da sie in Friedenszeiten als ein Mittel der Tyrannei missbraucht werden konnte. Der Britisch-Amerikanische Krieg überzeugte Monroe schließlich davon, dass die nationale Sicherheit des expandierenden Amerikas nicht mehr allein von den Milizen gewährleistet werden konnte.
Die Haushaltskürzungen in Folge der Wirtschaftskrise von 1819 überstand die Marine besser als die United States Army. Dies lag vor allem daran, dass sie sich als unverzichtbar erwies, amerikanische Handelsschiffe gegen Piraterie zu schützen. In seinem letzten Amtsjahr brachte Monroe ein achtjähriges Flottenbauprogramm durch den Kongress, das einen Umfang von neun Linienschiffen, zwölf Fregatten und drei schwimmende Batterien hatte. Zwei Jahre zuvor war bereits die dauerhafte Stationierung von Schiffen der United States Navy vor der amerikanischen Westküste etabliert worden. Auf Drängen Adams’ entsandte Monroe eine Fregatte zur Antarktischen Halbinsel, um dort britischen Expeditionen und Gebietsansprüchen zuvorzukommen.
Wie auch schon für seine Amtsvorgänger war für Monroe der Seehandel ein wichtiges Thema. Dabei ging es insbesondere um die Verurteilung des maritimen Sklavenhandels, die im Frieden von Gent beschlossen worden war. Monroe und Adams standen zwar zu dieser Vereinbarung, wünschten aber nicht, staatliche Souveränitätsrechte an eine internationale Behörde mit der Erlaubnis abzugeben, amerikanische Schiffe zu durchsuchen. Die öffentliche Meinung, die erst auf Seiten des Präsidenten war, begann sich unter dem Druck von Abolitionisten aus dem Nordosten und der American Colonization Society zu drehen. Diese Gesellschaft drängte auf eine Rückkehr von Freigelassenen nach Afrika, wo sie die Kolonie Liberia gegründet hatte. Als sich die Kongressausschüsse willens zeigten, internationale Inspektionen mit eingeschränkten Rechten zuzulassen, blockierte dies Adams. Monroe strebte danach trotz der Opposition seines Außenministers eine bilaterale Einigung mit Großbritannien an, die Durchsuchungen auf hoher See erlaubte. Er hoffte, mit dieser Einigung andere offene Fragen wie unter anderem Grenzdispute um Maine und das Oregon Country klären zu können. Als der Kongress die Inspektionen auf afrikanische Küstengewässer beschränkte, ließ London die Verhandlungen platzen. Danach war die Tür für ein gemeinsames Vorgehen von Amerika und Großbritannien gegen den Sklavenhandel dauerhaft verschlossen.
Adams-Onís-Vertrag
Ende Oktober 1817 fanden mehrere längere Kabinettssitzungen statt. Ein Tagungspunkt war zum einen die Unabhängigkeitserklärungen einiger ehemaliger spanischer Kolonien in Südamerika und die Frage, wie darauf zu reagieren sei. Zum anderen ging es um die zunehmende, vor allem von Amelia Island ausgehende Piraterie. Die Seeräuberei an der Südgrenze zu den Floridas wurde durch Schmuggler, Sklavenhändler und Freibeuter verstärkt, die aus den spanischen Kolonien geflohen waren, über die das Mutterland die Kontrolle verloren hatte. Wie üblich hatte Monroe den Ministern zuvor Fragen und Informationsmaterial zukommen lassen, um dann mit dem Kabinett in einer langen Diskussion eine Klärung herbeizuführen. Nach drei Sitzungen kam es noch im gleichen Monat zum Entschluss, die United States Army gegen die Marodeure in Amelia Island und in Galveston einzusetzen. Außerdem sollten die Grenzgebiete Georgias und Alabamas zu den Floridas befriedet werden, wo die Seminolen rebellierten. General Edmund P. Gaines erhielt die Genehmigung, die Seminolen auf dem Territorium der Spanischen Kolonie Florida zu stellen, sollten sie über die Grenze dorthin fliehen. Nur für den Fall, dass sie Zuflucht in spanischen Forts suchten, sollte Gaines von weiterer Verfolgung absehen.
Im April 1818 beschloss das Kabinett, Gaines’ Nachfolger Jackson, der die Operationen gegen die Piraterie in Amelia Island geführt hatte, so lange in den Floridas stationiert zu lassen, bis Madrid dort eine funktionierende Verwaltung hergestellt hatte. Die militärischen Aktionen Jacksons stellten für Monroe ein Kommunikationsproblem dar, da die Lageberichte immer erst mit großer zeitlicher Verzögerung in Washington eintrafen. So war während dieser Kabinettssitzung noch nicht bekannt, dass Jackson nach dem Ausschalten der Piraten auf eigene Faust den spanischen Gouverneur von Westflorida samt Besatzung aus dem Fort Barrancas in Pensacola vertrieben hatte, womit er einen Krieg mit Spanien riskierte. Jackson hatte diese Entscheidung getroffen, nachdem er erfahren hatte, dass die Seminolen bei ihren Überfällen auf Siedlungen in Georgia von dieser Garnison unterstützt worden waren. Hinsichtlich der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege wurden die Botschafter in Europa instruiert, in eigener Verantwortung zu erklären, dass die Vereinigten Staaten jede Einmischung in die Angelegenheiten Südamerikas als feindlichen Akt betrachteten. Über die neue Lage in Florida tagte das Kabinett erst wieder am 15. Juli 1818, als Monroe von einer Reise aus North Carolina zurückkehrte.
Bei dieser Sitzung verurteilten unter Führung von Kriegsminister John C. Calhoun alle Kabinettsmitglieder bis auf den Außenminister Jacksons Handlungen und forderten eine Untersuchung. Adams befürwortete Jacksons Operationen, sah sie durch seine Befehle gedeckt und sprach sich dafür aus, an den Eroberungen Pensacola und Saint Marks festzuhalten. Monroe fixierte kurz darauf die offizielle Haltung der Regierung in einem Schreiben von Adams an den spanischen Botschafter Luis de Onís, das er entsprechend redigierte, indem er alle Rechtfertigungen für Jacksons Handlungen entfernte. Zusätzlich betonte Monroe, dass Jackson zwar seine Order überschritten habe, aber auf Grundlage von bis dahin unbekannten Informationen am Kriegsort zu einer neuen Lageeinschätzung gekommen sei. Allerdings hatte ihm Jackson in einem vertraulichen Brief bereits sechs Monate zuvor mitgeteilt, dass Ostflorida annektiert werden sollte. Laut dem Historiker Sean Wilentz war Jacksons Bereitschaft, beim geringsten Anlass Florida zu erobern, für Monroe mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund gewesen, ihn mit dieser Mission zu betrauen. Monroe bot Spanien an, die Forts wieder zu räumen, sobald sie entsprechende Garnisonen schickten. Laut Ammon war Monroes Haltung schon vor der Kabinettssitzung gefestigt gewesen, er habe sie aber trotzdem durchgeführt, um sich zwischen den beiden Meinungsfraktionen seiner Minister zu positionieren. So konnte er einerseits jede Bewegung im Kongress unter Kontrolle halten, die einen Tadel Jacksons zum Ziel hatte, und andererseits die Eroberungen Jacksons als taktischen Vorteil behalten, zumal dieser den Status eines Volkshelden errungen hatte. Durch die Feststellung, dass Jackson seine Instruktionen übertreten habe, vermied Monroe verfassungsrechtliche Probleme für seine Regierung und eine Kriegserklärung durch Spanien und seine Verbündeten. In einem Brief an Jackson am 19. Juli legte er dar, wieso er die eigenmächtigen Eroberungen offiziell nicht gutgeheißen hatte. Die fehlende Rückendeckung durch den Präsidenten führte zum lebenslangen Bruch zwischen Monroe und Jackson.
Obwohl Jackson damit fortfuhr, in der spanischen Kolonie Florida Militärposten zu erobern, gelang es Adams, mit de Onís in Ruhe über den Erwerb der beiden Floridas und über die Festlegung der westlichen Grenze des Missouri-Territoriums zu verhandeln. Hierbei handelte es sich um das ehemalige Louisiana-Territorium, das umbenannt worden war, um Verwechslungen mit dem neu geschaffenen Bundesstaat Louisiana zu vermeiden. Das Missouri-Territorium stieß im Westen an das Vizekönigreich Neuspanien. Strittig war die neuspanische Provinz Texas, dessen Annexion die öffentliche Meinung in Amerika vehement forderte. Nachdem Adams in den Verhandlungen über die Floridas vorangeschritten war und sich dem Streitpunkt der Westgrenze des Missouri-Territoriums annäherte, erhöhte Monroe geschickt den Druck auf Madrid und kündigte an, sich zum weiteren Vorgehen in dieser Frage mit Jackson zu beraten. Letztendlich konnte Adams den Präsidenten überzeugen, sich mit dem Erwerb der beiden Floridas zufriedenzugeben, auf Texas vorerst zu verzichten und als Grenze zum Vizekönigreich Neuspanien den Flussverlauf von Sabine, Red und Arkansas River zu akzeptieren. Ausschlaggebend hierfür war auch, dass die nordöstlichen Bundesstaaten die Erweiterung nach Süden und Westen skeptisch betrachteten, da sie eine Ausweitung der Sklaverei in diese Regionen befürchteten. Zudem sah Monroe angesichts des Mexikanischen Unabhängigkeitskriegs in naher Zukunft einen neuen Verhandlungspartner für die Texas-Frage vorher.
Am 22. Februar 1819 kam es zum Adams-Onís-Vertrag. Er legte den Erwerb der spanischen Kolonie Florida durch die Vereinigten Staaten fest und öffnete das Missouri-Territorium nördlich des 42° Breitengrads nach Westen bis zum Pazifik hin, wodurch das Oregon Country entstand. Washington erhielt dadurch erstmals in völkerrechtlich verbindlicher Form Zugang zum Pazifik. Der Adams-Onís-Vertrag wurde im Jahr 1821 vom Kongress ratifiziert. Damit fanden die Verhandlungen zwischen Spanien und Amerika, die mit Unterbrechungen über 25 Jahre angedauert hatten, ein Ende. Im Oregon Country selbst kollidierten Amerikas Wirtschaftsinteressen und territoriale Ansprüche mit denen Russisch-Amerikas, das Handelsposten bis hinunter in die Bucht von San Francisco hatte, und denen Großbritanniens. Die Lage verschärfte sich im Herbst 1821, als Sankt Petersburg nördlich des 51° Breitengrades das pazifische Küstenmeer Amerikas innerhalb einer 100-Meilen-Zone für fremde Schiffe sperrte und somit seinen Gebietsanspruch um vier Breitengrade nach Süden verschob. Im April 1824 erreichte Monroe mit Russland eine Übereinkunft, die die Gebietsansprüche Russisch-Amerikas auf Territorien nördlich des 54° 40‘ Breitengrades beschränkte.
Südamerikanische Unabhängigkeitskriege
Die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege waren das politische Thema, das Monroe und Adams während ihrer Amtszeit am meisten beschäftigte. Monroe hatte in dieser Sache weniger politische Kontrolle als gewünscht und wurde ab 1821 ein Stück weit durch Clay getrieben. Dieser forderte als Sprecher des Repräsentantenhauses die diplomatische Anerkennung der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata und die Kaperei umfassende Unterstützung der antikolonialen Befreiungsbewegungen. Clay wollte sich mit diesem Engagement als Nachfolger Monroes aufbauen. Die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten stand mit überwältigender Mehrheit auf Seiten der südamerikanischen Revolutionäre, eine Position, die Monroe als überzeugter Republikaner emotional teilte. Seine ursprüngliche Haltung war es, die Befreiungsbewegungen so weit wie möglich zu begünstigen, ohne einen Krieg mit Spanien zu riskieren, während die Verhandlungen mit Madrid über die Floridas und die Westgrenze des Missouri-Territoriums liefen. Für Monroe und Adams hatte die Klärung der Grenzdispute eine höhere Priorität, womit sich der klassische Fall eines Konflikts zwischen Interessenpolitik und Werteorientierung einstellte. Die südamerikanischen Republiken entsandten nach ihren jeweiligen Unabhängigkeitserklärungen schnell Emissäre nach Washington, um dort um diplomatische Anerkennung und Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu bitten. Monroe schickte im Gegenzug drei Bevollmächtigte auf einem Marineschiff nach Südamerika, um die Lage vor Ort zu sondieren. Einem Vertreter der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata ließ Monroe im Jahr 1818 über Adams mitteilen, dass seine Haltung in diesem Konflikt die „unvoreingenommener Neutralität“ sei, was die Fraktion um Clay zum Teil beruhigte. Obwohl sie vorerst nicht diplomatisch anerkannt wurden, genossen die jungen Republiken in den Wirtschafts- und Handels- sowie den diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten fast alle Vorteile einer souveränen Nation. Auch den späteren Emissären anderer Republiken sicherten Monroe und Adams freundschaftliche Beziehungen zu.
In allen Reden zur Lage der Nation äußerte Monroe Sympathie für den Freiheitskampf der Südamerikaner, so auch im Jahr 1820, obwohl Adams davon abgeraten hatte. Nach Abschluss des Adams-Onís-Vertrags nahm der Druck auf Monroe ab, in dieser Angelegenheit Rücksicht auf Madrid zu nehmen. Nachdem Spanien und Amerika im Februar 1821 den Adams-Onís-Vertrag vollständig ratifiziert hatten und in Madrid eine liberale Regierung an die Macht gekommen war, schlug Monroe am 8. März 1822 dem Senat die diplomatische Anerkennung der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata, Mexiko, Chile, Peru und Kolumbien vor. Die besondere Bedeutung der diplomatischen Anerkennung der südamerikanischen Republiken lag in zwei Aspekten: Zum einen brachte es eine politische Diskussion über die Fortsetzung des Kolonialismus in Gang, zum anderen definierte es die Beziehungsgrundlagen zwischen Amerika, Europa und der westlichen Hemisphäre neu. In einem geringeren Umfang führte dieser Schritt zu der Frage, inwieweit die Vereinigten Staaten eine aktive Rolle in den Angelegenheiten Europas spielen sollten.
Indianerpolitik
Monroe besuchte als erster Präsident den amerikanischen Westen und betraute in seinem Kabinett Kriegsminister Calhoun mit der Ressortverantwortung für diese Region, was die Grenzsicherung und die Indianerpolitik einschloss. Um die mit der stetig fortschreitenden Westexpansion einhergehenden unerbittlichen Angriffe auf die Siedlungsgebiete der Indianer zu verhindern, setzte er sich dafür ein, die Gebiete zwischen den Bundesterritorien und den Rocky Mountains aufzuteilen und verschiedenen Volksstämmen zur Besiedlung zuzuweisen. Die Bezirke sollten jeweils eine Zivilregierung und ein Schulsystem erhalten. In einer Rede vor dem Kongress am 30. März 1824 sprach er sich Monroe dafür aus, die im Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten lebenden Indianer in Ländereien jenseits der westlichen Grenze umzusiedeln, wo sie ihre angestammte Lebensweise fortführen könnten. Insgesamt appellierte er, dass im Umgang mit den Indianern humanitäre Erwägungen und Wohlwollen überwiegen sollten. Trotzdem teilte er prinzipiell die Vorbehalte von Jackson und Calhoun gegen souveräne indianische Nationen, da sie ein Hemmnis für die weitere Erschließung des Westens waren. Wie Washington und Jefferson wollte er die Indianer zu ihrem eigenen Wohle mit den Vorteilen der amerikanischen Kultur und westlichen Zivilisation konfrontieren, auch um sie dadurch vor der Auslöschung zu bewahren. Daher war Monroes Rhetorik von unabhängigen indianischen Nationen, die bis zum Krieg von 1812 das Fundament der amerikanischen Indianerpolitik gewesen war, ein reines Lippenbekenntnis.
Missouri-Kompromiss
Mit Gründung der Vereinigten Staaten war die Aufnahme neuer Bundesstaaten stets mit der Sklavenfrage verbunden. In der Zeit zwischen 1817 und 1819 waren Mississippi, Alabama und Illinois als neue Bundesstaaten anerkannt worden. Durch die schnelle Expansion zeichnete sich eine verstärkte wirtschaftliche Kluft zwischen den Regionen und eine Machtverschiebung im Kongress zuungunsten der Südstaaten ab, die deshalb ihre von der Sklaverei abhängige Plantagenwirtschaft zunehmend bedroht sahen. Hinzu kam, dass sich zu dieser Zeit in den Nordstaaten wachsender Widerstand gegen die Sklaverei zu formieren begann. Als im Jahr 1819 Missouri um Aufnahme in die amerikanische Union bat, kam es in der Frage der Aufnahmebedingungen zum ersten heftigen Aufeinandertreffen von Gegnern und Befürwortern der Sklaverei und einer Spaltung des gesamten Landes in zwei feindliche Lager.
Inwieweit Monroe bei der Erarbeitung des Missouri-Kompromisses seiner präsidialen Führungsrolle gerecht wurde, ist bis heute umstritten, wobei die Mehrheit der Historiker Monroes Passivität betont. Er betrachtete die Frage der Aufnahmebedingungen weniger aus moralischer denn aus politischer Perspektive. Ungewöhnlich war, dass Monroe zu diesem Sachverhalt keine Kabinettssitzung einberief, wie es sonst seine Art bei drängenden Themen war. Wahrscheinlich wollte er eine Konfrontation zwischen dem überzeugten Abolitionisten Adams und den Kabinettsmitgliedern aus den Sklavenstaaten vermeiden. Privat gab Monroe zu erkennen, dass er gegen jedes Gesetz Veto einlegte, welches als Aufnahmebedingung Missouri eine bestimmte Haltung zur Sklavenfrage diktierte. Insgeheim wusste Monroe von virginischen Politiker aus dem Kongress, dass dort vertrauliche Diskussionen darüber stattfanden, westlich von Missouri eine Kompromisslinie auf dem 36° 30′ Breitengrad zu ziehen. Zukünftige Bundesstaaten nördlich dieser Linie sollten sklavenfrei sein, während es den südlich davon gelegenen frei stehen sollte, selbst darüber zu entscheiden. Monroe selbst war Sklavenhalter und fühlte sich wie Jefferson in dieser Frage moralisch hin- und hergerissen. Seine Skrupel gingen aber nicht über die konventionelle Ansicht gebildeter Virginier des ausgehenden 18. Jahrhunderts hinaus, dass Sklaverei ein Übel sei und irgendwann beendet werden sollte.
Nachdem dieser Kompromiss im Senat vorgestellt wurde, gab Monroe im Stillen zu verstehen, dass er jedes Gesetz unterzeichnete, das auf dieser Einigung beruhte. Als dies in seiner Heimat Virginia bekannt wurde, reagierte das dortige politische Establishment mit Empörung. In einem Brief an Jefferson zum Jahresanfang 1820 beschrieb Monroe die Missouri-Frage als die am meisten gefährliche für den Zusammenhalt der amerikanischen Union, die ihm bisher begegnet sei. Um die Mehrheit im Kongress zu organisieren, aktivierte Monroe Adams sowie Crawford und Calhoun, die ihren politischen Einfluss in den Neuengland- und Südstaaten ausnutzen sollten. Am 26. Februar 1820 wurde der Missouri-Kompromiss schließlich im Kongress verabschiedet. Im März lagen Monroe die Gesetzesvorschläge vor, die die Kompromisslinie festsetzten und es Missouri freistellten, über die Sklaverei selbst zu entscheiden, während Maine zum Ausgleich als sklavenfreier Bundesstaat in die Union aufgenommen wurde. Das Kabinett war einstimmig der Meinung, dass der Kongress verfassungsrechtlich die Legitimität habe, in Territorien und künftigen Bundesstaaten die Sklaverei zu verbieten. Monroe wurde von Freunden und Schwiegersohn Hay gewarnt, dass bei den kommenden Präsidentschaftswahlen die Stimmung in den Südstaaten zugunsten eines anderen Kandidaten umschlagen könnte.
Handelspolitik
In der Auseinandersetzung über die Einführung von Schutzzöllen traten regionale Unterschiede auf, die ähnlich denen des Missouri-Kompromisses verliefen. Während die Mittelatlantik- und Neuenglandstaaten für eine deutliche Erhöhung der hauptsächlich gegen England gerichteten, im Jahr 1816 festgesetzten Schutzzölle eintraten, um das heimische Manufakturwesen zu protegieren, sprachen sich die Südstaaten mit Nachdruck dagegen aus. Da England der wichtigste Absatzmarkt für ihre Baumwolle war, fürchteten sie bei einer schweren Beeinträchtigung dieser Handelsbeziehung letztendlich um ihre wirtschaftliche Existenz. In der Rede anlässlich seiner zweiten Inauguration 1821 vermied Monroe jede Festlegung in dieser Frage. Im folgenden Jahr befürwortete er mit gemäßigten Worten einen besseren Schutz der amerikanischen Manufakturen. Im Frühjahr 1824 nahm der Streit an Schärfe zu, wobei der kommende Präsidentschaftswahlkampf eine wichtige Rolle spielte.
Wirtschaftskrise von 1819 und Haushaltspolitik
Zu Ende seiner ersten Amtszeit brach die Wirtschaftskrise von 1819 aus. Während dieser Wirtschafts- und Finanzkrise brachen die Exporte ein, es kam zu Kredit- und Bankausfällen und einer rapiden Abnahme der Immobilienwerte. Daher mussten in den folgenden Jahren Kürzungen im Staatsbudget vorgenommen werden, die vor allem den Verteidigungsetat betrafen, dessen Anwachsen auf über 35 % des Gesamthaushalts im Jahr 1818 die konservativen Republikaner ohnehin mit Erschrecken beobachtet hatten. Im Kabinett kam es in der Folge zu Friktionen, als Finanzminister Crawford, der sich seit seiner knappen Niederlage im entscheidenden Caucus bei der Präsidentschaftswahl 1816 als natürlichen Nachfolger Monroes betrachtete, die Gelegenheit nutzte, Ressortkürzungen bei seinem Rivalen Calhoun vorzunehmen. Dem Bündnis von Crawford und konservativen Republikanern schloss sich Clay an, dem es vor allem um die Beseitigung des Netzwerks an Militärforts ging, das Monroe und Calhoun im Louisiana-Territorium geschaffen hatten. Clay, der diesem Ziel sehr nahekam, sah durch die Militärposten private Handelsinteressen bedroht. Während Monroes Befestigungsprogramm vorerst unbeschadet die Kürzungen überstand, wurde die Zielgröße des stehenden Heers im Mai 1819 von 12.656 auf 6000 gesenkt. Im nächsten Jahr traf es dann das Lieblingsprojekt des Präsidenten und der Etat für Verstärkung und Ausbau der Forts wurde um über 70 % zusammengestrichen. 1821 schließlich war das Verteidigungsbudget im Vergleich zu 1818 auf 5 Millionen US-Dollar und somit ungefähr die Hälfte abgeschmolzen. Als die Sparmaßnahmen so weit gingen, Jackson den Generalsrang zu entziehen, reagierte Monroe beschämt und ernannte Jackson zum Militärgouverneur des Florida-Territoriums.
Verkehrspolitik
Die Westexpansion und der steigende Binnenhandel zwischen den Südstaaten, dem Nordosten und den neuen Bundesstaaten brachte den Aufbau nationaler Transportwege auf die Tagesordnung, was den Schwerpunkt der ersten beiden Jahre von Monroes Präsidentschaft bildete. Die politische Diskussion kreiste vor allem um die Frage der Verbindung von Ostküste und des Ohiotals westlich der Alleghenies. Im letzten Amtsjahr hatte Madison noch wegen verfassungsrechtlicher Bedenken Veto gegen ein Gesetz eingelegt, das über die Second Bank of the United States den Bau solcher Verkehrswege mit Bundesmitteln finanzieren sollte, und vorher die Schaffung verfassungsgemäßer Grundlagen durch die Verabschiedung entsprechender Zusatzartikel gefordert. Gegen diese Auffassung wandte sich insbesondere Clay, der der wichtigste Fürsprecher der westlichen Staaten im Kongress war. Trotzdem legte Monroe sein Veto ein, als der Kongress beschloss, Verbesserungen am Eriekanal mit Bundesmitteln zu fördern. Er erkannte zwar die Notwendigkeit für nationale Verkehrsinfrastrukturprojekte, auch hinsichtlich militärischer Mobilmachung, doch wie Madison sah er sie in Zuständigkeit der Einzelstaaten. Zur Mitte der ersten Amtsperiode entwarf Monroe in einer Vetobotschaft gegen die Einführung einer Maut auf der National Road, die den Potomac und den Ohio River verband, erfolgreich eine Kompromissformel. Demnach besaß der Kongress zwar kein Recht, zwischenstaatliche Verkehrswege zu bauen oder sie zu verwalten, aber er konnte Gelder für sie bewilligen. Die Verwendung der Bundesmittel war an die Pflicht gebunden, dass sie der gemeinsamen Verteidigung und dem Wohle der Nation und nicht nur dem eines Einzelstaats dienten. Danach konnte Washington Infrastrukturmaßnahmen finanzieren, ohne zu tief in die Rechte der Einzelstaaten einzugreifen.
Präsidentschaftswahl 1820
Monroe gab seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit früh bekannt. Auf dem Caucus der Republikaner am 8. April 1820 beschlossen die 40 Mitglieder einstimmig, keinen Gegenkandidaten zu Monroe aufzustellen. Die Föderalisten stellten keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf. Monroes Wiederwahl ergab daher hinter der einstimmigen Wahl Washingtons zum Präsidenten im Jahr 1789 das klarste Ergebnis im Electoral College in der amerikanischen Geschichte. Nur einer der 232 Wahlmänner, der frühere Gouverneur von New Hampshire William Plumer, stimmte gegen ihn und für Außenminister Adams, der nicht kandidierte. Als Begründung gab Plumer unter anderem an, dass er verhindern wollte, dass Monroe wie der große Washington ohne Gegenstimme Präsident wurde. Selbst Ex-Präsident Adams votierte als Führer der Wahlmänner aus Massachusetts für seinen früheren, erbitterten politischen Gegner Monroe. Neben der fehlenden Opposition lag dieser unangefochtene Sieg Monroes in seinem erfolgreichen Bemühen begründet, orthodoxe republikanische Dogmata zu überwinden und seine Partei so weiter zu öffnen. Dieser breite Konsens überlebte nicht Monroes Präsidentschaft und schon bei der nächsten Präsidentschaftswahl bestimmten persönliche Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen Interessensgruppen das Geschehen. Diese innerparteilichen Spannungen ersetzten die aus unterschiedlichen philosophischen Anschauungen herrührenden Gegensätze zwischen Republikanern und Föderalisten des First Party Systems. Trotz dieser breiten Zustimmung bei der Präsidentschaftswahl hatte Monroe im parallel gewählten 17. Kongress der Vereinigten Staaten nur wenige loyale Anhänger und entsprechend geringen Einfluss.
Monroe-Doktrin
Im Januar 1821 äußerte Adams in einem Gespräch mit dem britischen Botschafter Stratford Canning, 1. Viscount Stratford de Redcliffe, erstmals den Gedanken, dass der amerikanische Doppelkontinent gegenüber weiterer Kolonisation durch auswärtige Mächte verschlossen werden sollte. Ob Adams der Urheber dieser Idee war oder andere, darunter Monroe, ungefähr zur gleichen Zeit unabhängig voneinander auf sie kamen, ist nicht geklärt. Das aus diesem Leitsatz sprechende, zunehmende Selbstbewusstsein der Vereinigten Staaten wäre laut Hart ohne den Abschluss des Adams-Onís-Vertrags schwer vorstellbar gewesen. Während der Verhandlungen zu den Grenzdisputen im Oregon Country äußerte Adams im Sommer 1823 gegenüber dem britischen und russischen Botschafter den Grundsatz, dass die weitere Besiedelung Amerikas mit Ausnahme Kanadas in den Händen der Amerikaner selbst liegen sollte. Das Prinzip „Amerika den Amerikanern“ wurde in der Administration Monroes schnell zu einer Art theologischem Glaubenssatz. Nachdem Frankreich im Auftrag der Heiligen Allianz mit dem Sieg in der Schlacht von Trocadero im August 1823 die spanische Revolution von 1820 beendet hatte, warnten Kriegsminister Calhoun und der britische Außenminister George Canning, ein Cousin von Stratford Canning, Monroe, dass europäische Mächte möglicherweise in Südamerika zu intervenieren beabsichtigten. Dies erhöhte den Druck auf ihn, sich zur Zukunft der westlichen Hemisphäre zu äußern.
Im August 1823 kam es zu einer Korrespondenz zwischen dem britischen Außenminister, dem amerikanischen Botschafter in London, Richard Rush, und Adams, die an seine Äußerungen über die Dekolonisation Südamerikas im Januar 1821 gegenüber Stratford Canning anknüpften. Es ging darum, eine gemeinsame Position hinsichtlich einer möglichen französischen Intervention in Südamerika auszuloten, durch die Großbritannien seine Handelsinteressen in dieser Region gefährdet sah. Canning hatte signalisiert, dass sein Land gewillt sei, sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Rekolonialisierung auszusprechen und mit der Royal Navy mögliche Versuche der Heiligen Allianz zu vereiteln, die verlorenen Kolonien Spaniens in Südamerika zurückzugewinnen. Als Monroe dieser Schriftwechsel, der zu keinem konkreten Ergebnis geführt hatte, Mitte Oktober 1823 vorgelegt wurde, war sein erster Impuls, das britische Angebot anzunehmen. Da er das Diktum George Washingtons, sich nicht in auswärtige Allianzen verwickeln zu lassen, nicht ohne weiteres übergehen wollte, sandte er die Korrespondenz mit der Bitte um Rat an Jefferson und Madison. Dabei schlug er seinen beiden Amtsvorgängern vor, zukünftig jede europäische Einmischung in die Angelegenheiten Südamerikas als feindlichen Akt gegenüber den Vereinigten Staaten zu betrachten. Jefferson antwortete, dass er ein gemeinsames Vorgehen mit Großbritannien gegen europäische Einmischungen in Südamerika begrüßte, und er fasste im Wesentlichen zusammen, was später als Monroe-Doktrin bekannt wurde. Auch Madison riet Monroe, das Angebot Londons anzunehmen. Am 23. Oktober 1823 verschickte Rush eine Botschaft an Adams, die ihn über den Rückzug Cannings aus dem Abstimmungsprozess zu einer gemeinsamen Südamerikapolitik informierte.
Unabhängig von der Absage einer gemeinsamen Südamerika-Erklärung durch London, die Monroe wahrscheinlich erst Mitte November erreichte, wurde die Angelegenheit im Kabinett ab dem 7. November intensiv und umfangreich diskutiert, wobei neben dem Präsidenten vor allem Adams und Calhoun eine aktive Rolle spielten. Anlass war die bevorstehende State of the Union Address, bei der Monroe neben innenpolitischen Themen über den Stand der auswärtigen Beziehungen zu informieren hatte. Als Monroe in Vorbereitung der Rede Adams nach einer Zusammenfassung der amerikanischen Außenpolitik bat, schlug dieser einen prinzipiellen Absatz vor. Der Wortlaut war, dass der unabhängig gewordene amerikanische Doppelkontinent zukünftig, mit Ausnahme weiterhin bestehender Kolonien, nicht mehr als ein Kolonisationsgebiet europäischer Mächte betrachtet werden sollte. Bis Mitte November diskutierte das Kabinett vor allem die Frage, ob die Positionierung zu Südamerika unilateral oder gemeinsam mit Großbritannien erfolgen sollte. Nachdem Monroe Rushs Botschaft vom 23. Oktober erhalten hatte, wurde ihm klar, dass London eine militärische Intervention der Heiligen Allianz in Südamerika nicht mehr für wahrscheinlich hielt. Am 21. November informierte er das Kabinett, dass er in der State of the Union Address eine Südamerika betreffende Doktrin zu präsentieren beabsichtigte. Monroe sah diese Angelegenheit als einmalige Möglichkeit, die Stärke und Interessen der Vereinigten Staaten geltend zu machen und sich als Nation selbst zu definieren. Allerdings fehlten der Regierung Monroe vorerst die Mittel, die Diskrepanz zwischen rhetorischem Anspruch und tatsächlichem Einfluss in Lateinamerika zu schließen.
Monroe und sein Kabinett kamen schließlich überein, den Wortlaut der Passage an zwei Memoranden des Außenministers an den russischen und britischen Botschafter anzupassen, die kurz vor der Rede zur Lage der Nation verschickt wurden. Um mögliche Angriffspunkte zu vermeiden, strich der Präsident einen Absatz von Adams, der die republikanischen Grundprinzipien der Vereinigten Staaten thematisierte. Durch die Depesche an die russische Botschaft sollte unterstrichen werden, dass der Hauptadressat der Monroe-Doktrin die Heilige Allianz war. In dieser Nachricht stellte Adams klar, dass die Vereinigten Staaten außer Spaniens militärischem Bemühen, seine etablierte Kolonialmacht in Südamerika wiederherzustellen, die Einmischung keiner anderen zusätzlichen europäischen Macht bereit seien hinzunehmen.
Am 2. Dezember 1823 präsentierte Monroe schließlich den überarbeiteten Beitrag zur Außenpolitik in seiner siebten Rede zur Lage der Nation. Die auf drei Absätze verteilten Grundsätze wurden erst als Prinzipien von 1823 und später als Monroe-Doktrin bekannt, die trotz ihrer Bedeutung nie kodifiziert wurde. Ihre erste Erwähnung folgte in einem Absatz, der die Verhandlungen mit Russland über den pazifischen Nordwesten thematisierte, die nächsten beiden im Kontext der historischen Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Insgesamt lassen sich sechs Prinzipien ableiten:
Der amerikanische Doppelkontinent ist nicht mehr ein Objekt für den Erwerb von neuen Kolonien oder Rekolonialisierung durch Europa.
Jede europäische Macht, die ihr monarchisches System auf ein Gebiet der westlichen Hemisphäre ausweiten will, wird als feindlich betrachtet.
Obwohl sich die Vereinigten Staaten nicht in bestehende koloniale Beziehungen zwischen Südamerika und Europa einmischen wollten, würden sie jeden Versuch Europas, über die unabhängigen Republiken Südamerikas wieder Kolonialmacht zu erlangen, als unfreundlichen Akt betrachten.
Solange sich die Umstände nicht wesentlich änderten, beispielsweise durch ein Eingreifen der Heiligen Allianz, würden die Vereinigten Staaten im Krieg zwischen Spanien und seinen früheren Kolonien in Südamerika neutral bleiben.
Die Vereinigten Staaten wollen sich in keine innereuropäischen Angelegenheiten einmischen und erwarten im Gegenzug das Gleiche von Europa.
Europäische Bündnisse, in diesem Fall die Heilige Allianz, sollten keinen Versuch unternehmen, ihr monarchisches System in einen Teil der westlichen Hemisphäre zu übertragen.
Insbesondere das fünfte Prinzip, das die Reziprozität betont, verdeutlicht, dass das herkömmliche Verständnis der Monroe-Doktrin als unilateralistischer Erklärung nicht vollständig war. Ein Subtext der Monroe-Doktrin war zudem, den europäischen Nationen die Furcht vor einem missionarischen Amerika zu nehmen, das weltweit militant gegen Kolonialismus und Monarchie ankämpfen würde. Laut Ammon hatte die Doktrin für Monroe nur moralischen Charakter und keinen imperialistischen Anspruch. Er sieht Monroes demütigende diplomatische Niederlagen in Europa als mitprägend für die Prinzipien von 1823 an. Hart verortet die zentrale Botschaft der Monroe-Doktrin darin, dass sie verkündete, keine Hegemonie zu tolerieren oder auszuüben, auch wenn sie später als Begründung imperialistischer Machtansprüche Amerikas diente. Die wichtigste Konsequenz der Monroe-Doktrin bleibt, dass sie die westliche Hemisphäre als unabhängig von europäischer Einflussnahme etablierte. In dieser Vernetzung von nationaler Sicherheit und Außenpolitik ging Monroe weiter als alle vorigen Präsidenten.
Die Historiker betonen einerseits den maßgeblichen Einfluss von Adams auf den Inhalt der Doktrin, stellen aber andererseits heraus, dass es Monroes Entscheidung war, sie nicht auf vertrauliche diplomatische Noten zu beschränken, wie von Adams gewünscht, sondern durch die State of the Union Address weltweit bekannt zu machen. Monroe selbst war bewusst, dass er mit dieser Erklärung die kommenden Präsidenten nicht an die Prinzipien von 1823 binden konnte. Trotzdem wurde die Monroe-Doktrin die wirkungsmächtigste und am meisten diskutierte Erklärung eines Präsidenten zur Außenpolitik, was Hart auf ihren logischen Aufbau zurückführt. Für viele Bürger hat sie den Status eines Evangeliums, obwohl nur wenige ihren konkreten Inhalt kennen. Während die Monroe-Doktrin in Frankreich und Großbritannien viel Zustimmung erfuhr, nahmen sie Russland und Fürst Metternich mit Geringschätzung auf und betrachteten sie als einen revolutionären Akt, ohne konkrete feindselige Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
Im Ruhestand
Am 3. März 1825 gab James Monroe sein Amt an Adams weiter. Auch aufgrund der aufgeheizten politischen Atmosphäre zum Ende seiner Amtszeit scheute Monroe davor zurück, am politischen Geschehen teilzuhaben. Im Ruhestand plagten ihn drückende Geldsorgen: Er hatte als Botschafter in Europa während der 1790er und 1800er Jahre wegen der mäßigen Entlohnung erhebliche Privatkredite aufnehmen müssen, um repräsentative Aufgaben und das diplomatische Protokoll zu erfüllen. Bereits 1797 hatte er den Kongress um eine Aufwandsentschädigung gebeten und wartete seitdem vergebens auf eine Zahlung. Später als Minister unter Madison und Präsident hatte er die Angelegenheit nicht weiter verfolgt, da er dies in solch einer Position für ungebührlich hielt. Noch in den letzten Tagen vor der Amtsübergabe an Adams ging Monroe in dieser Sache die persönlichen Papiere der letzten drei Jahrzehnte durch und schrieb an Jefferson und Madison mit der Bitte, ihn gegebenenfalls in seinen Ansprüchen gegenüber dem Kongress zu unterstützen. Im Jahr 1826 erkannte der Kongress einen Teil der Forderungen an. Monroe, der sich ungerecht behandelt fühlte und aus Geldnot Highland an die Second Bank of the United States verkaufen musste, gab sich damit nicht zufrieden und versuchte in den nächsten Jahren, von Washington eine vollständige Bewilligung seiner damaligen Auslagen zu erreichen. Im Kongress stieß er damit auf Widerstand der Fraktionen um Jackson, Crawford und Calhoun, die ihm frühere Konflikte nachtrugen und unter anderem Parteinahme für Adams bei der Präsidentschaftswahl 1824 vorwarfen. Erst kurz vor seinem Tod, als er verarmt und abhängig von privaten Gönnern in New York City lebte, erhielt er in dieser Sache eine moderate Zahlung, die zwar reichte, seine Gläubiger zu bedienen, aber nicht, um seinen früheren Lebensstandard wiederherzustellen. Zusätzlich getrübt wurden seine letzten Jahre durch ein Wiederaufflammen von Hass und Groll gegen ihn als Präsidenten wegen des Missouri-Kompromisses und Jacksons Invasion in Florida.
Anders als ursprünglich geplant, verbrachte Monroe seinen Ruhestand nicht in Highland, sondern für die ersten fünf Jahre in seiner Residenz Oak Hill im Loudoun County. Dort hatte er bereits während seiner Präsidentschaft im Sommer residiert. Er füllte die Zeit mit täglichen Ausritten und experimentierte mit neuen Anbautechniken, um die Ernte zu erhöhen. Daneben widmete sich er dem Lesen, wobei seine Privatbibliothek über 3000 Büchern umfasste, die er zum großen Teil während seiner Aufenthalte in Europa erworben hatte. Monroe arbeitete an einem Werk zur politischen Theorie mit dem sperrigen Titel The People the Souvereigns, Being a Comparison of the Government of the United States with those of the Republics Which Have Existed Before, with the Causes of their Decadence and Fall, das wie auch eine Autobiographie unvollendet blieb. Wie seine beiden Amtsvorgänger enthielt er sich bewusst, Einfluss auf die Politik seiner Nachfolger zu nehmen.
Nachdem er während der Präsidentschaft sein gemeinsames Engagement mit Jefferson und Madison am Central College, aus dem die University of Virginia hervorging, eingestellt hatte, nahm er nun wieder einen Sitz im Board of Visitors der Universität ein. Bei den jährlichen Examen im Juli präsidierte er im Prüfungsausschuss. Als es zu erheblichen Disziplinlosigkeiten unter den Studenten kam, schlug Monroe in einem Bericht im Jahr 1830 die Aufnahme von militärischem Drill in die Studienordnung vor, was aber Madison ablehnte.
Obwohl bereits deutlich vom Alter gezeichnet und durch einen Reitunfall im Jahr 1828 gesundheitlich schwer beeinträchtigt, nahm Monroe ab Oktober 1829 an der Virginia Convention in Richmond teil. Nachdem die westlichen Countys mit dem Austritt aus dem Bundesstaat gedroht hatten, wurde dieser Konvent einberufen, um die Verfassung von Virginia zu überarbeiten. Kern des Konflikts zwischen dem Osten und Westen Virginias waren die Repräsentation im Kongress von Virginia und das an Grundbesitz gebundene Zensuswahlrecht. Die westlichen Countys wollten beim Zuschnitt der Wahldistrikte für die Virginia General Assembly nur Weiße berücksichtigt wissen, da sich von den 750.000 Sklaven nur 50.000 in ihrem Gebiet befanden. Außerdem forderten sie eine Lockerung des Zensuswahlrechts, da es die östlichen Countys mit ihren großen Plantagen bevorteilte. Die östliche Pflanzeraristokratie hingegen fürchtete um die Zukunft der Sklaverei, wenn der Westen Virginias zu viel politischen Einfluss entfaltete. Obwohl Monroe sich für einen Kompromiss aussprach und somit zwischen alle Stühle setzte, wurde er wegen seines hohen Ansehens als Ex-Präsident im Loudon County als Delegierter für die Versammlung gewählt. Als Elder statesmen übernahm er den Vorsitz der im Virginia State Capitol tagenden Virginia Convention, nachdem Marschall und Madison abgesagt hatten. Mit Madison schlug er auf der Versammlung erfolglos einen Kompromiss vor, der für das Abgeordnetenhaus von Virginia die vom Westen geforderte Reform der Repräsentation vorsah, während im Senat von Virginia die Wahldistrikte bei der Bemessung weiterhin die Anzahl der Sklaven berücksichtigten. Noch vor Ende der Virginia Convention musste sie Monroe aus gesundheitlichen Gründen Anfang Dezember 1829 verlassen.
Kurz vor seinem Tod trafen Monroe schwere Schicksalsschläge in der Familie, als am 21. September 1830 sein Schwiegersohn und enger Berater Hay und nur zwei Tage später seine Ehefrau Elizabeth starben. Schwer getroffen musste Monroe danach in Pflege genommen werden und zog mit Tochter Eliza Hay zu seiner jüngeren Tochter Maria Hester nach New York City. Dort wurde die materielle Not schließlich so groß, dass er sich dazu gezwungen sah, Oak Hill zu verkaufen. Am 4. Juli 1831, dem Unabhängigkeitstag, starb Monroe in New York City.
Monroe wurde drei Tage später auf dem New York Marble Cemetery bestattet. Präsident Jackson ordnete einen landesweiten Trauertag an. Die Bevölkerung war von Monroes Tod ergriffen, weniger wegen seiner Leistungen als Präsident, sondern weil mit ihm einer der letzten prominenten Gründerväter gestorben war. Auf ein entsprechendes Angebot des Gouverneurs von New York hin, das etwa um 1856 erfolgte, stimmten der virginische Gouverneur Henry A. Wise und die Virginia General Assembly einer Überführung von Monroes sterblichen Überresten in seinen Heimatstaat zu. Er wurde in Richmond auf dem Hollywood Cemetery in einem gusseisernem Grabmal beigesetzt, das 1859 fertiggestellt wurde. Bei der Zeremonie waren die Gouverneure von Virginia und New York zugegen und beschworen in ihren Grabreden die Einheit der amerikanischen Union.
Nachleben
Historische Bewertung und Persönlichkeit
Eine kritische Gesamtausgabe der Schriften Monroes existiert bisher noch nicht. Seit 2003 wird von Daniel Preston eine Quellensammlung herausgegeben, die insgesamt zehn Bände umfassen soll. Das Projekt trägt den Titel The Papers of James Monroe und ist an der University of Mary Washington beheimatet. Als ausgewogenste Biographie zu Monroe gilt nach wie vor James Monroe: The Quest for National Identity (1971) von Harry Ammon. Werke neueren Datums, die Wellenreuther als relevant anführt, sind The Presidency of James Monroe (1996) von Noble E. Cunningham und James Monroe (2005) von Gary Hart.
In den traditionellen Kurzbiographien wird Monroe üblicherweise als weniger schillernd und vermutlich intelligent wie die anderen Präsidenten der Virginia-Dynastie beschrieben, die neben ihm aus Washington, Jefferson und Madison bestand. Als sein Verdienst in diesem herkömmlichen Geschichtsverständnis wird die Monroe-Doktrin hervorgehoben, wobei allerdings Adams als deren eigentlicher Autor angesehen wird. Hart kommt in seiner Biographie zu dem Urteil, dass Monroe eine wesentlich stärkere und unabhängige Persönlichkeit gewesen sei, als allgemein angenommen werde. Er sei, mit Ausnahme Washingtons, der erste Präsident gewesen, dessen Hauptmotiv während der gesamten politischen Laufbahn die nationale Sicherheit gewesen sei. Monroes Verteidigungspolitik und das Schaffen einer stringenten außenpolitischen Orientierung mittels der Prinzipien von 1823 habe den Grundstein für die Dominanz der Vereinigten Staaten auf dem Doppelkontinent Amerika und eine aktivere Rolle in der Weltpolitik gelegt. Als erster Präsident habe er die nationale Sicherheit nicht nur aus atlantischer Perspektive, sondern auch aus pazifischer betrachtet und definiert. Laut Hart zählt Monroe nicht zu den großen Präsidenten, aber seine Amtszeit sei historisch bedeutsam und ebenso folgenreich wie die der Amtsvorgänger Jefferson und Madison gewesen.
Den Erfolg bei den eigentlich konkurrierenden Zielen nationale Sicherheit und Expansion verdankte Monroe diplomatischen Größen wie Adams, der weniger polarisierten Innenpolitik in der Era of Good Feelings zum Ende des First Party Systems und dem Missouri-Kompromiss. Der Kompromiss ermöglichte die Aufnahme von fünf neuen Bundesstaaten in die Union, so dass sie zum Ende von Monroes Amtszeit aus 25 Bundesstaaten bestand. Der Missouri-Kompromiss, den Monroe als die größte Krise seiner Amtszeit erlebte, überbrückte die Spaltung des Landes in der Sklavenfrage nur notdürftig, hielt die amerikanische Union aber für die nächsten knapp 40 Jahre zusammen.
Viele Historiker und Biographen weisen darauf hin, dass Monroes Interesse für Diplomatie und auswärtige Angelegenheiten besser dokumentiert sei als das für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Laut Hart hängt dies damit zusammen, dass das meiste, was über Monroes Regierung bekannt sei, aus den Aufzeichnungen der Kabinettsmitglieder stamme und diejenigen des Außenministers Adams detaillierter und umfassender seien als die des Kriegsministers Calhoun. Monroe sei ein zupackender Präsident gewesen, der seine Exekutivgewalt ausgenutzt habe, wobei er Calhoun mehr Spielräume zugestand als Adams. Nach Monroes Präsidentschaft, der letzten eines Veteranen aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, sei es immer schwieriger geworden, zwischen Außen- und nationaler Sicherheitspolitik zu differenzieren.
Monroe wurde politisch von drei bedeutenden Zeitgenossen geprägt: Washington, Jefferson und Madison. Vor allem Jefferson und Madison als unmittelbare Amtsvorgänger warfen einen langen Schatten auf Monroes Präsidentschaft. Als Rhetoriker und politischer Theoretiker weniger begabt und belesen als diese beiden, war er aufgrund des rechtswissenschaftlichen Unterrichts bei George Wythe trotzdem zu einem gewissen Grade mit den Klassikern vertraut. Reflektiert genug, um Madisons und Jeffersons Geistesgröße im Vergleich zu seinem Talent zu erkennen, ließ er sich dennoch nicht im politischen Geschäft an die Seite drängen, sondern entwickelte in seiner Ämterlaufbahn großen Ehrgeiz. Während das Verhältnis zu Washington schwierig war und kein gutes Ende nahm, blieb Jefferson für Monroe lebenslang ein freundschaftlicher Ratgeber und Mentor. Mit Madison pflegte er eine gleichberechtigte politische Partnerschaft, die phasenweise von Spannungen überlagert wurde, ohne ihre Freundschaft zu trüben. Als Gesamtpersönlichkeit war Monroe stark durch seine virginischen Wurzeln geprägt.
Wie Washington und später Jackson war Monroe als Diplomat und Politiker durch seinen militärischen Werdegang geprägt. Er betrachtete die Zukunft der jungen Republik daher vor allem aus einer verteidigungs- und sicherheitspolitischen Perspektive. Er war ein Mann der Tat mit Führungsinstinkt, eher reserviert und formell, womit er Washington ähnelte. Wie dieser war er praktischer orientiert als John Adams, Jefferson und Benjamin Franklin, weshalb er nie deren diplomatisches Format erreichte. Andererseits ging Monroe dadurch die strikte Einteilung in eine westliche, republikanisch verfasste und eine östliche, monarchisch geprägte Hemisphäre leichter von der Hand. Während Jefferson das republikanische Ideal durch Reden im Bewusstsein der Amerikaner verankerte, machte Monroe daraus das offizielle Staatsprinzip. Als Pragmatiker hatte er ein feineres Gespür für aktuelle politische Strömungen als Jefferson und Madison. Dennoch war er im Unterschied zu Jefferson nicht aktiv um den Aufbau einer politischen Gefolgschaft bemüht, sondern sah den Politiker als jemanden, der zum Dienste an der Gesellschaft berufen wird, ohne sich aufzudrängen.
Monroe legte größten Wert auf persönliche Ehre, Würde und Respekt, was zugleich seine bedeutendste menschliche Schwäche war. Wenn er kritisiert oder ihm Anerkennung versagt wurde, sah er darin eine persönliche Herausforderung, die Intellekt, Sachverstand oder Aufrichtigkeit seines Charakters in Frage stellte. In solchen Fällen gelang es ihm nicht, darüber einfach hinwegzugehen, sondern er musste sich zwanghaft verteidigen, auch wenn er damit Freundschaften und lange bestehende Bekanntschaften gefährdete.
Monroe erkannte als erster Präsident das Paradox, in dem das Amerika der Gründerväter gefangen war: Der klassische Republikanismus der griechischen Polis, die von Bürgersoldaten verteidigt wurde, fand Anwendung auf ein vielfach größeres Staatsgebilde. An Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, orientiert, lösten sie diesen Widerspruch, indem sie eine Föderation von Republiken schufen. Mit der Expansion war dieses Fundament nicht mehr zu halten, weshalb Monroe mit diesem Prinzip brach, obwohl er selbst ein strammer und überzeugter Parteisoldat war. Er schuf einen neuen Republikanismus, der nationale Sicherheit, die durch eine reguläre Armee gewährleistet wurde, an oberste Stelle setze. Monroe legte so die Basis für die großen professionalisierten Streitkräfte, die das 20. Jahrhundert kennzeichneten. Monroes Fähigkeit, programmatische Inhalte des politischen Gegners zu übernehmen und so dauerhafte breite Mehrheiten zu schaffen, sieht Hart als beispielgebend für zukünftige Präsidenten wie zum Beispiel Franklin D. Roosevelt an. Trotzdem war Monroe insgesamt den klassischen republikanischen Idealen sehr stark verbunden, was das tiefe Misstrauen gegenüber den Handlungsmotiven von John Adams und Hamilton, aber auch die Begeisterung für die Französische Revolution begründete, in der er tendenziell eine Fortsetzung der Amerikanischen Revolution sah.
Die Zusammenarbeit von Monroe mit Adams war äußerst fruchtbar, sodass es schwerfällt, die Leistungen des einen von denen des anderen zu trennen. Laut Ammon war der Grundpfeiler von Monroes Außenpolitik, Amerika den einer unabhängigen Republik gebührenden Respekt und Anerkennung zu verschaffen und der Schlüsselbegriff dabei Ehre. Seine Präsidentschaft ist eine von ungefähr einem halben Dutzend, die Amerikas Selbstverständnis und seine Rolle in der Welt nachhaltig bestimmten. Wellenreuther sieht die Errungenschaften in der Außenpolitik als wesentliche Leistung Präsident Monroes. Deren konkrete Umsetzung habe zwar Adams erreicht, aber der Präsident habe dafür die nötigen Voraussetzungen geschaffen.
Die Präsidentschaft Monroes lag in einer außergewöhnlichen Transformationsphase: Die von den Gründervätern dominierte alte Ordnung war im Verschwinden begriffen, während Amerika gleichzeitig seine Beziehungen zu den europäischen Mächten zu stabilisieren versuchte. Die Grenzdispute in Nordamerika konnten in dieser Zeit bis auf den britischen in Kanada beseitigt werden. Innenpolitisch verschärfte der Beitritt Missouris zu den Vereinigten Staaten die Sklavenfrage, während sich gleichzeitig die Expansion nach Westen intensivierte. Hart vergleicht diese Entwicklung, die einen reiferen Umgang mit sicherheitspolitischen Fragen notwendig machte, mit dem Eintritt eines Jugendlichen in das junge Erwachsenenalter. Monroe lässt sich der ersten Phase der amerikanischen Präsidenten zuordnen. Zu dieser Zeit wurden die Amtsinhaber ideologisch durch Werke aus der klassischen Antike und der Renaissance sowie englische Staatstheoretiker aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert geprägt, wobei insbesondere die Schrift Idea of a Patriot King von Henry St. John, 1. Viscount Bolingbroke, am meisten Wirkung hatte. Das Konzept eines „patriotischen Königs“, der über selbständige und tugendhafte Landbesitzer regiert, denen Parteienhader und Interessensgegensätze fremd sind, übte insbesondere auf die Pflanzer und Sklavenhalter der Südstaaten, denen die Virginia-Dynastie entstammte, eine große Anziehung aus. Dieses traditionelle Bewusstsein geriet zunehmend in ein Spannungsverhältnis mit dem Fortschritt, der sich in kommerziellem Gewinnstreben, Individualismus und wirtschaftlichem Aufstieg äußerte. Als Präsidenten versuchten Jefferson, Madison und Monroe, das Amt möglichst unpolitisch auszuüben, auch wenn sie zuvor am Parteienstreit zwischen Föderalisten und Republikanern maßgeblich beteiligt waren. Ihr Ziel, Parteien letztendlich überflüssig zu machen, schien Monroe nach dem Niedergang der Föderalisten fast erreicht zu haben, doch die gesellschaftliche Wirklichkeit holte dieses traditionelle Denken ein. Bereits unter Monroes Nachfolger brachen innerhalb der Republikaner unversöhnliche Gegensätze auf, welche Präsident Adams zu einer politischen Randfigur machten und zu seiner Niederlage gegen Jackson führten.
Ehrungen und Denkmäler
Im Jahr 1824 benannte die American Colonization Society ihre zwei Jahre zuvor nahe Kap Mesurado gegründete Siedlung nach Monroe, die als Monrovia Hauptstadt Liberias wurde. 17 Countys in den Vereinigten Staaten sowie das Fort Monroe National Monument tragen seinen Namen. Auf dem Campus der University of Virginia ist ihm die Monroe Hall gewidmet. In Fredericksburg, Virginia, hat das Haus, in dem Monroe von 1786 bis 1790 eine Anwaltskanzlei betrieb, als James Monroe Law Office den Status einer National Historic Landmark. Gleiches gilt für seine Grabstätte, die James Monroe Tomb, in Richmond und sein Gutshaus Oak Hill. Das Anwesen Highland, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu Monticello liegt und von Monroe und seiner Familie bis 1830 immer wieder zwischen längeren Phasen der Abwesenheit bewohnt wurde, ist als Baudenkmal im National Register of Historic Places (NRHP) verzeichnet. Die Überreste des Geburtshauses Monroes sind als archäologische Fundstätte unter der Bezeichnung James Monroe Family Home Site ebenfalls im NRHP eingetragen.
Die 2007 gestartete Serie der Präsidentendollars prägte im Jahr 2008 Münzen mit den Porträts von Monroe, Adams, Jackson und Martin Van Buren.
Filme
Life Portrait of James Monroe auf C-SPAN, 12. April 1999, 145 Min. (Dokumentation und Diskussion mit Daniel Preston und John Pearce)
Werke
Zu Lebzeiten veröffentlicht
A view of the conduct of the executive in the foreign affairs of the United States, connected with the mission to the French Republic, during the years 1794, 5, & 6 (1797). .
An examination of the British doctrine which subjects to capture a neutral trade not open in time of peace (1806). .
Werkausgaben
Daniel Preston (Hrsg.): The Papers of James Monroe. Bisher sechs Ausgaben. ABC-CLIO, Santa Barbara 2003-
Literatur
Gary Hart: James Monroe. In Ken Gormley (Hrsg.): The Presidents and the Constitution. Volume 1 (= From the Founding Fathers to the Progressive Era). New York State University Press, New York 2020, ISBN 978-1-4798-2323-9, S. 75–88.
Stuart Leibiger (Hrsg.): A Companion to James Madison and James Monroe. Wiley-Blackwell, Chichester 2013, ISBN 978-0-470-65522-1, S. 324–540.
Hermann Wellenreuther: James Monroe: Die Selbstfindung der Nation. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 96–105.
Harlow Giles Unger: The Last Founding Father: James Monroe and a Nation’s Call to Greatness. Da Capo, Cambridge 2009, ISBN 978-0-306-81808-0.
Gary Hart: James Monroe (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 5th President). Times Books, New York City 2005, ISBN 0-8050-6960-7.
Daniel Preston: James Monroe. In Melvin I. Urofsky (Hrsg.): The American Presidents: Critical Essays. Taylor & Francis, New York 2005, ISBN 0-203-00880-4, S. 72–85.
Noble E. Cunningham: The Presidency of James Monroe. University Press of Kansas, Lawrence 1996, ISBN 978-0-7006-0728-0.
Harry Ammon: James Monroe: A Bibliography. Meckler, Westport 1991, ISBN 0-313-28163-7.
Harry Ammon: James Monroe: The Quest for National Identity. Taschenbuchausgabe. University Press of Virginia, Charlottesville 1990, ISBN 0-8139-1266-0.
Weblinks
(englisch)
James Monroe: A Resource Guide, Library of Congress (englisch)
American President: James Monroe (1758–1831), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Daniel Preston)
James Monroe in der Datenbank der National Governors Association (englisch)
The Papers of James Monroe, Projekt zur Quellensammlung an der University of Mary Washington, (englisch, Herausgeber: Daniel Preston)
The James Monroe Museum im James Monroe Law Office, Fredericksburg (englisch)
The American Presidency Project: James Monroe. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Anmerkungen
Präsident der Vereinigten Staaten
Außenminister (Vereinigte Staaten)
Kriegsminister (Vereinigte Staaten)
Botschafter der Vereinigten Staaten im Vereinigten Königreich
Gouverneur (Virginia)
Senator der Vereinigten Staaten aus Virginia
Mitglied des Kontinentalkongresses
Mitglied der Demokratisch-Republikanischen Partei
Freimaurer (18. Jahrhundert)
Freimaurer (19. Jahrhundert)
Sklavenhalter (Neuzeit)
US-Amerikaner
Geboren 1758
Gestorben 1831
Mann
Plantagenbesitzer |
64452 | https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad%20I.%20%28Ostfrankenreich%29 | Konrad I. (Ostfrankenreich) | Konrad I. (* um 881; † 23. Dezember 918 in Weilburg) war ab 906 Herzog von Franken und von 911 bis 918 König des Ostfrankenreichs.
Adelsfehden zwischen den mächtigen Aristokratenfamilien um die Vorherrschaft in den einzelnen Stammesgebieten des ostfränkischen Reiches, die wiederholten Ungarneinfälle und die Schwäche des karolingischen Königtums führten zur Etablierung regionaler Mittelgewalten, der späteren Herzogtümer. In diese Zeit fiel der Aufstieg Konrads, der selbst ein Repräsentant dieser aufsteigenden Regionen und zugleich am Regiment des ostfränkischen Karolingers Ludwig des Kindes beteiligt war. Als König versuchte Konrad, sich der drohenden Auflösung des Reichsverbandes entgegenzustellen und die Herrschaft wieder im ganzen Reich auszuüben. Seine siebenjährige Regierungszeit ist daher hauptsächlich durch die Konflikte mit den ostfränkischen Herzögen (duces) der einzelnen Teilreiche und durch die Ungarneinfälle geprägt. Konrads Herrschaft bildete den Übergang von den Karolingern zu den Ottonen, da es ihm nicht gelang, eine neue Königsdynastie zu begründen. Er führte die Herrschaftspraxis der Karolinger fort.
Seine Zeit gehört zu den quellenärmsten des gesamten Mittelalters. Während die Jahrzehnte später verfassten ottonischen Geschichtswerke Konrad noch positive Eigenschaften zuweisen, gilt er in der Forschung oftmals mit seiner ganzen Regierungszeit als gescheitert. Lange Zeit wurde die Königswahl Konrads als Beginn der deutschen Geschichte angesehen. Erst jüngst setzte sich die Auffassung durch, dass das Deutsche Reich nicht in einem Akt, sondern in einem lang dauernden Prozess entstanden sei. Gleichwohl wird Konrad als wichtiger Akteur in dieser Entwicklung angesehen.
Leben bis zum Herrschaftsantritt
Herkunft und Familie
Konrad entstammte dem seit Mitte des 9. Jahrhunderts nachweisbaren fränkischen Geschlecht der Konradiner. Es war durch treuen Königsdienst unter Kaiser Arnulf aufgestiegen und verfügte über umfangreiche grundherrliche Besitzungen am Mittelrhein und in Mainfranken. Die konradinische Kernlandschaft des Rhein-Lahn-Main-Gebiets ergänzten Grafschaften in der Wetterau, im Lahn- und Niddagau sowie Hausstifte in Limburg, Weilburg und Wetzlar, den Randzonen des späteren Oberhessens.
Konrads Vater, der um 855 geborene Konrad der Ältere, war Graf im Hessengau, im Wormsfeld und im mainfränkischen Gozfeld. Er heiratete Glismut, eine uneheliche Tochter des Kaisers Arnulf von Kärnten. Konrad der Ältere hatte drei Brüder: Gebhard, der Graf im Rheingau und in der Wetterau war, Eberhard, Graf des Oberlahngaus, und Rudolf. Rudolf war seit 892 Bischof von Würzburg, Gebhard seit 903 zudem Herzog in Lothringen.
Die Schwäche der Königsherrschaft unter dem letzten karolingischen Herrscher im Ostfrankenreich, Ludwig dem Kind, und die Unklarheit der Machtverhältnisse führten zu weit ausgreifenden Fehden, die zudem von verheerenden Einfällen der Ungarn unterbrochen wurden. Während dieser Einfälle verloren die Onkel des späteren Königs Konrad, Rudolf und Gebhard (908 und 910), ihr Leben.
Der Aufstieg der Konradiner im Ostfrankenreich und ihr territoriales Ausgreifen blieben nicht ohne Widerstand der anderen Großen. Bereits 897 war in Franken zwischen den beiden führenden Adelsfamilien, den Konradinern und den Babenbergern, eine lange Fehde ausgebrochen, bei der es um die Abgrenzung der Machtsphären in diesem Reichsteil ging. Eberhard, der Onkel Konrads, kam 902 in den Kämpfen ums Leben. Die durch einen Lothringerfeldzug geschwächte Konradinermacht nutzte 906 der Babenberger Adalbert zu einem Kriegszug, in dessen Verlauf Konrads Vater in der Schlacht bei Fritzlar im Kampf gegen Adalbert fiel. Die Reichsregierung unterstützte in der Fehde jedoch die Konradiner und wendete so das Blatt. Auf Betreiben des ostfränkischen Königs wurde Adalbert gefangen genommen und enthauptet. Die noch im selben Jahr zu Gunsten der Konradiner beendete Fehde führte zu erheblichen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse: Die Konradiner errangen die unangefochtene Vormachtstellung in ganz Franken.
Die konradinische Dominanz am Hof und der Ausgang der Babenberger Fehde kosteten auch die Liudolfinger, die Verwandtschaftsbeziehungen zu den unterlegenen Babenbergern gepflegt hatten, die Nähe zum König, die sie noch zur Zeit Arnulfs besessen hatten. Dies bedeutete aber auch, dass der Einfluss des Königs in Sachsen und Thüringen schwand, und damit auch der der Konradiner. Nicht ein einziges Mal ist ein Aufenthalt des sehr jungen Königs Ludwig in Sachsen nachweisbar.
Bei ihrem Versuch, auch in Lothringen die Führungspositionen an sich zu reißen, stießen die Konradiner zudem auf den Widerstand der Matfriede, einer der mächtigsten Adelsfamilien dieses Raums. Als die Matfriede dabei in Lothringen die Abteien der Konradiner besetzten, zog Konrad 906 erfolgreich gegen sie zu Felde.
Konrad hatte drei Brüder, den etwa vier Jahre jüngeren Eberhard von Franken, Burchard und Otto. Noch 904 und 910 ist Konrad als (Laien)-Abt in Kaiserswerth bezeugt. In einer Urkunde wird er jedoch 910 als dux tituliert. Der Titel könnte auf eine Herzogswürde deuten oder der ehrenden Hervorhebung des zu dieser Zeit im Reich konkurrenzlos mächtigen Konradiners dienen, der durch den Tod seiner Onkel und seines Vaters zum Familienoberhaupt der Konradiner aufgestiegen war. Seit 909 waren es unter den weltlichen Herren nur noch die Konradiner, die in den Urkunden Ludwig des Kindes intervenierten.
Der Königsnachfolger
Lothringen, das einstige Kernland der Karolinger, stand mit Ludwigs Halbbruder Zwentibold unter eigener Herrschaft. Dadurch konnte Franken unter den Herrschern Arnulf und Ludwig dem Kind zum Kernraum eines zunehmend eigenständigen Ostreichs werden. Hier bildeten die Konradiner, insbesondere nach dem Ausschluss der Babenberger, die bei weitem stärkste Macht. Beim Tod des erbenlosen ostfränkischen Karolingers Ludwig im September 911 waren sie für die zu erwartenden Nachfolgekämpfe gut gerüstet.
Doch nicht nur militärisch und im Rahmen der Prestigekämpfe unter den Großen des Reiches hatten die Konradiner ihre Stellung ausgebaut, sondern auch auf der Ebene der Legitimation. Dabei spielte die Verwandtschaft mit den Karolingern eine nicht unerhebliche Rolle. Konrad war dies wohl bewusst. Seit 908 tritt er in fast jeder zweiten überlieferten Urkunde als Intervenient auf. Dabei wird er meist als Blutsverwandter, consanguineus, des Königs hervorgehoben, Ludwig wiederum nennt Konrad darin seinen nepos. Konrad besetzte damit frühzeitig die Position eines secundus a rege, eines Zweiten nach dem König. Der Übergang der Herrschaft auf Konrad erfolgte damit keineswegs überraschend, wie die spätere Darstellung Widukinds suggeriert, der Konrad als Verlegenheitskandidaten darstellt.
Auch weitere Faktoren begünstigten die Wahl Konrads. Der einzige noch lebende Karolinger, der westfränkische König Karl III. („der Einfältige“), war für die Adelsfamilien des Ostreiches kein diskutabler Kandidat. Gegen ihn sprachen seine politische Schwäche und seine militärische Erfolglosigkeit. Die Karolinger waren nicht mehr in der Lage, die auseinanderstrebenden Reichsteile zusammenzuhalten, einzig die Großen Lothringens neigten Karl zu.
Auch die Spitzen der Adelsgeschlechter des Ostreichs schieden für die Königsnachfolge aus. Otto der Erlauchte, das Haupt der sächsischen Liudolfinger, trat in nur zwei Königsurkunden als Intervenient auf und stand zudem dem Königshof eher fern. Luitpold aus dem Adelsgeschlecht der bairischen Luitpoldinger wurde zwar von Ludwig in seinen Urkunden ebenfalls als nepos oder noch häufiger als propinquus noster (unser Verwandter) bezeichnet. Allerdings beschränkte sich seine Nähe zum Königshof auf dessen Aufenthalte in Bayern. Entscheidend aber war, dass Luitpold 907 bei einem Ungarnfeldzug fiel und sein Sohn Arnulf für die Königsnachfolge noch zu jung war.
Konrads Aufstieg zum ostfränkischen Königtum beruhte ganz wesentlich auf der Machtposition, die sich seine Vorfahren im Reich erstritten hatten. Nach dem Tod seines Vaters war er, nach dem Zeugnis der Interventionen in Königsurkunden, zum beherrschenden weltlichen Berater am Königshof Ludwigs des Kindes aufgestiegen. Zur überragenden Stellung der Konradiner trugen auch die ausgezeichneten Kontakte zu den anderen Mitgliedern des Regentenkreises bei, wie zu Erzbischof Hatto von Mainz oder zu den Bischöfen Adalbero von Augsburg und Salomo von Konstanz.
Nachdem Ludwig das Kind am 24. September 911 verstorben war, wählten gut sechs Wochen später, am 10. November, im fränkischen Forchheim Sachsen, Alemannen und Bayern den Franken Konrad zum König. Mit der Entscheidung für Forchheim stellten sich die Großen und der neue König in die ostfränkische Reichstradition. Der wohl wichtigste Fürsprecher dieser Wahl war Erzbischof Hatto von Mainz, der bedeutendste geistliche Amtsträger im ostfränkischen Reich. Auch Salomo von Konstanz, der die Schwäche des Kindkönigs Ludwig beklagt hatte, dürfte zu Konrads Förderern gehört haben. Nicht beteiligt waren jedoch die Lothringer, die den westfränkischen König Karl den Einfältigen als ihren Herrn anerkannten.
Der ostfränkische König
Die Ausgangssituation
Konrad trat seine Herrschaft unter äußerst schwierigen Voraussetzungen an. Bereits seit Jahrzehnten litt das Reich unter den Plünderzügen von äußeren Feinden. Zwar war die Normannengefahr gegen Ende des 9. Jahrhunderts abgeflaut, und auch die Sarazenen stellten keine Gefahr mehr dar, doch bedrohten von nun an die Ungarn das Reich. Anders als die Normannen zogen die Ungarn nicht über die See oder Flüsse, was Präventionsmaßnahmen ermöglicht hätte, sondern über das offene Land. Zudem waren sie in ihren Bewegungen wesentlich schneller und nicht an vorgegebene Routen gebunden. Nach der katastrophalen Niederlage der Bayern unter Führung Luitpolds in der Schlacht von Pressburg am 4. Juli 907 zogen die Ungarn im Jahr 909 nach Alemannien, was König Ludwig dazu veranlasst haben könnte, nach Sachsen und Thüringen auch diese Region zu meiden und sich fortan ausschließlich in Franken aufzuhalten. 910 wurde auch ein Reichsheer unter der persönlichen Führung von Ludwig dem Kind auf dem Lechfeld bei Augsburg besiegt. Als Ludwigs Herrschaft mit seinem Tod 911 endete, war das Reich den ungarischen Beutezügen nahezu schutzlos ausgeliefert.
Im Inneren des Reiches hatte die königliche Zentralmacht durch Thronstreitigkeiten innerhalb der Herrscherdynastie der Karolinger sowie durch minderjährige und schwache Könige an Ansehen verloren. Fünf Könige zwischen 876 und 911 konnten keine wirksame Königsmacht aufrechterhalten. Ihre Befehle drangen nicht mehr bis in alle Reichsteile durch. Die Ungarneinfälle verstärkten die Desintegration. Unter Luitpolds Nachfolger Arnulf, der vorrangig bedacht war, seine Stellung in Bayern zu festigen, waren die Beziehungen zum Reich nahezu zum Stillstand gekommen. Verstärkt wurde dieser Entfremdungsprozess am Königshof noch durch die Förderung der konradinischen Dominanz und die mangelnde Kooperation und Integration der regionalen Machthaber. In den einzelnen Stammesgebieten kämpften mächtige Adelsfamilien um die Vorherrschaft oder die Regenten versuchten, ihre Stellung zu befestigen und abzusichern. Den Konradinern gelang es zudem, die räumliche Einengung des Hofes auf Franken durchzusetzen. Dies führte schließlich auch in Alemannien zu Aufständen. Die Bayern verfolgten einen Separationskurs, die Liudolfinger in Sachsen hatten sich weit vom Hof entfernt, Lothringen schloss sich Westfranken an.
Karolingische Kontinuität
Konrad versuchte, die karolingische Herrschaftspraxis fortzuführen und seine Herrschaft in die Tradition des karolingischen Königtums zu stellen. Besonders deutlich zeigte sich dies in den königlichen Urkunden und bei der Organisation der Hofkapelle einschließlich der zu dieser Institution gehörenden Kanzlei. Aus der Kanzlei Ludwigs des Kindes wurden die Notare übernommen. An der Spitze von Kanzlei und Kapelle blieb der Konstanzer Bischof Salomon, der diese Aufgaben schon zu Zeiten Ludwigs versehen hatte. In seinen Urkunden erhielt Konrad das Andenken (memoria) an die Karolinger aufrecht. Gleich in seiner ersten Urkunde nahm er seine Vorgänger in das Gedächtnis auf. Vielfach bestätigte Konrad ihre Schenkungen und Verleihungen. In seiner Beurkundungspraxis wurden oft die Klöster und Bistümer, die auch schon sein Vorgänger bedacht hatte, privilegiert. Als Stifter wandte er sich nahezu ausschließlich an Personengruppen, die bereits seine Vorgänger im ostfränkischen Königsamt zu Treuhändern und Destinatären bestimmt hatten. In Eichstätt und St. Gallen knüpfte Konrad an Stiftungen Ludwigs des Kindes bzw. Karls III. an. Für Fulda, Lorsch und Regensburg sind ebenfalls zahlreiche Stiftungsurkunden karolingischer Herrscher überliefert. Die Stiftungen dienten vor allem dem Seelenheil und der Memoria. Die Kontinuität wird ebenfalls in den legitimierenden Hoheitszeichen betont. Das Siegel seines Vorgängers, das den Herrscher bildnishaft mit Schild, Fahnenlanze und Diadem als kampfbereiten oder von Gott mit dem Sieg bedachten Heerführer zeigt, übernahm auch Konrad. Zudem verbündete er sich in karolingischer Tradition mit der Kirche, um die aufstrebenden fürstlichen Mittelgewalten zu bekämpfen.
Herrschaftsantritt
Am Beginn seiner Herrschaft empfing Konrad wahrscheinlich durch Erzbischof Hatto von Mainz die Salbung, die schon bei den Karolingern ein wichtiges Element der Legitimation gewesen war. Nach den Urkunden und Aktivitäten des ersten Regierungsjahres trat Konrad die Herrschaft aus einer relativ gefestigten Position an. Die hohe Akzeptanz der Intervenienten in den ersten beiden Regierungsjahren belegt sowohl eine breite Akzeptanz seiner Herrschaft als auch eine Beteiligung der Großen an der Regierung.
Als eine seiner ersten Handlungen führte Konrad gleich nach seiner Wahl einen Umritt über Schwaben und Franken an die Grenzen Bayerns und nach Lothringen durch. Als erster König seit Ludwig dem Deutschen und Arnulf von Kärnten betrat er wieder Sachsen. Mit dem Umritt beabsichtigte Konrad, die königliche Herrschaft wieder in allen Gebieten des Reiches auszuüben. Eine seiner ersten Reisen führte ihn dabei ins südliche Schwaben zu Bischof Salomo von Konstanz. In Konstanz feierte Konrad das erste Weihnachtsfest. Am zweiten Tag brach er mit Salomo zu einem Besuch des Klosters St. Gallen auf. Dort verbrachte er drei unbeschwerte Tage, und er wurde in die Gebetsverbrüderung des Klosters aufgenommen. Der Eintrag im St. Galler Verbrüderungsbuch diente der Sicherung der Memoria, da Konrad über die Fürbitte der Mönche auch Eingang in das himmlische Buch finden würde, in dem Gott die Namen der Gerechten aufschreibe. Im Gegenzug machte Konrad dem Kloster reiche Stiftungen: Silber für jeden Bruder, drei schulfreie Tage für die Kinder zum Spielen, die Ausstattung der Gallusbasilika mit wertvollen Decken und eine Bestätigung der Klosterimmunität. Der Ablauf des Besuchs, die Darstellung Konrads in den Quellen als primus inter pares, das Versprechen der Gebetshilfe und die Darstellung Bischof Salomos als Königsgleicher legen den Abschluss einer amicitia nahe. Dabei handelte es sich um ein System von beeideten Freundschaftsbündnissen als Herrschaftsmittel.
Der Verlust Lothringens
Bereits der Tod des konradinischen Herzogs Gebhard im Jahr 910 hatte die Stellung der Konradiner in dieser Region entscheidend geschwächt. Wohl im Juli oder August 911 hatten sich große Teile des lothringischen Adels von Ludwig dem Kind und den Konradinern abgewandt. Im Januar 912 erschien König Karl III. in Lothringen und drang sogar bis ins Elsass vor, um den westfränkischen Besitzanspruch geltend zu machen. Er ließ Urkunden ausstellen, die auch konradinisches Gut betrafen. Anfang November erkannten die Lothringer Karl den Einfältigen als König an.
Zur Verteidigung des Herrschaftsanspruchs über Lothringen und die dortigen Besitzungen und Rechte seiner Familie führte Konrad I. in den Jahren 912 und 913 drei Feldzüge. Zunächst gelang es ihm, den Westfranken zurückzudrängen, aber noch im selben Jahr fielen lothringische Große erneut ins Elsass ein und brannten Straßburg nieder. Zwei weitere Feldzüge brachten keinen Erfolg. Obgleich die regionalen Machtverhältnisse kaum von Karl bestimmt wurden, blieb Lothringen seit 913 Konrads Einfluss entzogen. Dies bedeutete einen Verlust an Prestige: Lothringen galt als das traditionsreiche kulturelle und ökonomische Zentrum des einstigen großfränkischen Reiches, da hier die Kaiserstadt Aachen lag. Verloren gingen damit aber auch Machtmittel des Königtums und wichtige Familienpositionen im Westen. Der Verlust der konradinischen Abtei St. Maximin in Trier dürfte als besonders schmerzlich empfunden worden sein.
Ressourcen- und Personalpolitik
Durch den Dynastiewechsel mussten die regionalen und lokalen Führungsschichten, zu denen Grafen, Bischöfe, Äbte, die Burgherren und die königlichen Vasallen zählten, ihre Beziehungen zum König neu ausrichten. Von den fünf Kirchenprovinzen des ostfränkischen Reiches wurden nur die Sitze von Mainz, Trier und Bremen frei und konnten neu besetzt werden. Die Kirchenprovinzen Trier und Köln schlossen sich 911 Lothringen an. Im Mai 913 wurde in Mainz Heriger Nachfolger des verstorbenen Erzbischofs Hatto. In Bremen setzte Konrad nach dem Tod der Erzbischöfe Hoger 916 und Reginward 918 nicht den vom Domkapitel gewählten Dompropst Leidgard ein, sondern dessen Kapellan Unni. Den Salzburger Erzbischof Pilgrim I. ernannte er 912 zum Erzkapellan.
Erzbischof Radbod von Trier wurde im Sommer 913 westfränkischer Erzkanzler. Bei seinem Tod am 30. März 915 hatte Konrad keine Möglichkeit, die Wahl des Nachfolgers zu beeinflussen. Der neue Erzbischof Ruotger von Trier verblieb im westfränkischen Reichsverband. Konrads Einflussnahme auf die Besetzung von Bistümern ist völlig unbekannt. In der Auseinandersetzung um Hoheitsrechte zwischen Bischöfen und Grafen wurde Bischof Einhard von Speyer am 12. März 913 in Straßburg erschlagen. Mit der Untersuchung des Mordfalls beauftragte die Synode von Hohenaltheim 916 Bischof Richgowo von Worms. Der Ausgang des Verfahrens ist unbekannt.
Die Bistümer konnten sich Konrads Zugriff also fast vollständig entziehen, und so versuchte der König, zumindest die größeren Königsabteien der Karolinger, die oft unter dem Einfluss bischöflicher Kommendataräbte oder gräflicher Laien standen, wieder als Reichsabteien stärker in seine Verfügungsgewalt zu bekommen. Der Abtei Murbach bestätigte Konrad Wahlrecht, Immunität und Besitzrechte. Von den Klöstern, die er mit 23 Urkunden weit häufiger bedachte als die Bistümer, erhoffte er sich wohl Rückhalt für seine Politik. Konrads besondere Gunst genossen Lorsch, das fünf Urkunden erhielt, sowie das Bistum Würzburg und die Klöster Sankt Emmeram und Fulda, für die je vier Urkunden überliefert sind. Konrad besuchte Lorsch, das sächsische Corvey, die fränkisch-thüringischen bzw. hessischen Klöster Fulda und Hersfeld und das schwäbische St. Gallen. Diesen Klöstern bestätigte er die alten Privilegien der Immunität und freien Abtwahl. Zudem förderte er sie zum Teil mit neuen Zuweisungen. Konrad hielt sich zunächst in St. Gallen (Weihnachten 911) auf, dann folgten Fulda am 12. April 912, Corvey am 3. Februar 913, Lorsch am 22. Juni 913 und Hersfeld am 24. Juni 918. Die Reichsabteien sollten wieder verstärkt zum servitium regis (Königsdienst) herangezogen werden. Die Gastung des königlichen Hofes auf der Durchreise, die personellen und sachlichen Dienstleistungen im Kriegsfall und die politischen Aufgaben des Abtes waren die wichtigsten Aufgaben des Königsdienstes. Die Höhe dieser Lasten ist allerdings mangels Quellen unklar.
Ungarneinfälle
Gegenüber den Ungarn, die zwischen 912 und 917 mindestens viermal in sein Reich einfielen, blieb Konrad untätig. Der Grund ist unbekannt, jedenfalls waren die regionalen Führer auf sich allein gestellt. Dennoch konnten sie Erfolge erzielen: Nach den Quellen führte nur ein Einfall der Ungarn zu einer Niederlage. 913 wurden sie zunächst von den Alemannen unter Pfalzgraf Erchanger und Graf Odalrich zurückgeschlagen. Herzog Arnulf vernichtete dann am Inn ein Heer fast vollständig. Die Niederlage 913 ging in das kollektive Gedächtnis der Ungarn ein und wurde in ungarischen Chroniken oft mit anderen Niederlagen und Verlusten verbunden.
Ein Sieg über einen äußeren Feind hätte Konrads Ansehen in einer Gesellschaft, die vom Kriegeradel und dessen Werten wie Ehre und Ruhm geprägt war, erheblich stärken können. Nach dem Verlust Lothringens und dem Ausweichen vor den Ungarn begann die Königsherrschaft jedoch bereits 913 rasch an Autorität zu verlieren. Dies führte auch zum offenen Konflikt mit Heinrich in Sachsen, Berthold und Burchhard in Schwaben sowie mit Arnulf in Bayern.
Verhältnis zu den Stammesgebieten
Sachsen
Der Sachsenherzog Otto der Erlauchte bildete als Schwager des 906 hingerichteten Babenbergers und Konkurrent der Konradiner in Nordhessen sowie ihrer Verbündeten in Nordthüringen eine ständige Gefahr für Konrads Königtum. Nach Ottos Tod am 30. November 912 konnte Konrad aktiver in die Verhältnisse eingreifen. Am 3. Februar 913 bestätigte er dem Kloster Corvey die Immunität und die freie Abtwahl. Bei einem Aufenthalt in Kassel bestätigte er am 18. Februar dieselben Rechte auch dem Kloster Hersfeld und privilegierte das südwestfälische Kloster Meschede. Dies sind allerdings die einzigen Zeugnisse für eine Regierungstätigkeit Konrads in Sachsen. Mit den beiden Urkunden Konrads vom 18. Februar 913 wurde der Ausstellungsort Kassel erstmals erwähnt.
Nach Widukind hatte Konrad Bedenken, Heinrich „die ganze Macht seines Vaters zu übertragen“ Dadurch habe er sich das Missfallen beim ganzen Heer Sachsens zugezogen. Die Sachsen hätten, trotz aller Beschwichtigungen Konrads, auf eine ungeschmälerte Nachfolge bestanden und dem Sohn zum Widerstand geraten. Mit Hilfe Hattos von Mainz versuchte Konrad, die sich zuspitzende Lage zu wenden, doch der geplante Mordanschlag mit einer Halskette wurde verraten. Stattdessen besetzte Heinrich sofort die Mainzer Besitzungen in Sachsen und Thüringen und dehnte darüber hinaus seinen Herrschaftsbereich nun auf ganz Thüringen aus. Auf die Kunde von Heinrichs Erfolgen sandte Konrad 915 seinen Bruder Eberhard mit einem Heer nach Sachsen. Dieses erlitt jedoch bei der Eresburg eine verheerende Niederlage, und Eberhard musste fliehen. Daraufhin zog Konrad selbst mit einem Heer nach Sachsen.
Als die Heere bei Grone aufeinandertrafen, war Heinrich dem König militärisch unterlegen. Heinrich soll schon entschlossen gewesen sein, sich dem König freiwillig zu unterwerfen (deditio), um anschließend mit ihm eine Schwurfreundschaft zu schließen. Graf Thietmar habe die Franken aber durch listige Verdrehung der Tatsachen zum Rückzug veranlassen können. Die Darstellung Widukinds könnte jedoch frei erfunden sein.
Die Forschung geht seit einem 1952 veröffentlichten Beitrag von Heinrich Büttner und Irmgard Dietrich auch ohne konkrete Anhaltspunkte in den Quellen von einem Ausgleich zwischen Konrad und Heinrich im Jahr 915 aus. Heinrich scheint eine deditio (Unterwerfung) vollzogen zu haben, mit der er Konrad und sein Königtum anerkannte. Als Grund, der Widukind dazu bewogen haben könnte, die friedliche Einigung und den Ausgleich zu verschweigen und an deren Stelle die Anekdote des listigen Thietmar zu setzen, nimmt Gerd Althoff an, dass eine Unterwerfung Heinrichs nicht in das Bild passte, das Widukind vom ersten König der ottonischen Dynastie zeichnen wollte.
Offenbar einigten sich also Konrad und Heinrich 915 auf die Anerkennung des Status quo und die gegenseitige Respektierung der Einflusszonen. Konrad verzichtete damit auf weitere militärische Interventionen im sächsisch-thüringischen Grenzraum, während der Sachsenherzog davon absah, alemannische und bayerische Große, mit denen Konrad im Konflikt stand, zu unterstützen. Wie das Verhältnis zwischen Konrad und Heinrich nach dem Jahr 915 konkret aussah, bleibt wegen der Quellenlage allerdings unklar. Zudem rückten die Auseinandersetzungen des Königs mit den süddeutschen Machthabern nun stärker in den Vordergrund.
Schwaben
Anders als in Bayern oder Sachsen, wo sich früh führende Geschlechter als duces etablieren konnten, konkurrierten in Alemannien mehrere Adelsfamilien. Die Machtverhältnisse in der Region waren während der gesamten Königsherrschaft Konrads ausgesprochen instabil. Schon 911 versuchte Markgraf Burkhard von Rätien in der karolingischen Königspfalz Bodman, sich zum dux bzw. princeps Alemannorum aufzuschwingen, wurde jedoch nach einem nicht allgemein anerkannten Urteil hingerichtet. Im Konkurrenzkampf des dortigen Adels wurde die Familie Burkhards durch Tötung oder Exilierung ihrer Mitglieder ausgeschaltet. Die Söhne Burkhard und Ulrich wurden in die Verbannung geschickt, der Bruder Adalbert wurde auf Anstiften des Konstanzer Bischofs Salomo getötet. Danach strebten die Pfalzgrafen Erchanger und Berthold nach der Herzogswürde. Dass Konrad das Weihnachtsfest in St. Gallen und Konstanz feierte und sich danach in Bodman und Ulm aufhielt, wird auch als königliche Machtdemonstration verstanden worden sein.
913 brach im Anschluss an den Lothringer Feldzug des Königs ein offener Streit zwischen Erchanger und Konrad aus. Der Grund ist unbekannt. Im Herbst wurde der Streit beigelegt und der Friedensschluss konnte durch die Heirat des Königs mit Erchangers Schwester Kunigunde besiegelt werden. Ein Jahr später nahm Erchanger Bischof Salomo gefangen, den Vertreter königlicher Interessen in Alemannien, wurde dann aber selbst von Konrad ergriffen und in die Verbannung geschickt. In dieser Situation kehrte der jüngere Burkhard zurück und begann seinerseits gegen den König zu rebellieren. Daraufhin belagerte Konrad vergeblich den von Burkhard besetzten Hohentwiel und musste sich wieder zurückziehen, da nun der Sachsenherzog Heinrich in Franken eingefallen war. Erchanger kehrte daraufhin aus seinem Exil zurück und schloss mit Burkhard ein Zweckbündnis. Konrad reagierte mit kirchlichen Sanktionen: Auf der Synode von Hohenaltheim wurden Erchanger und seine Verbündeten zu lebenslanger Klosterhaft verurteilt. Im Januar 917 setzte Konrad seine Widersacher Erchanger, Berthold sowie dessen Neffen Liutfrid gefangen und ließ sie am 21. Januar 917 bei Aldingen oder Adingen (Lage ungeklärt) enthaupten, obwohl sie zur deditio (Unterwerfung) bereit waren. Der schwäbische Adel erhob daraufhin den bisherigen Gegner Burkhard zum Herzog. Gegen Ende der Königsherrschaft Konrads erhob sich Burkhard erneut, doch konnte Konrad darauf nicht mehr reagieren.
Bayern
Durch seine im Jahre 913 geschlossene Ehe mit Kunigunde, der Witwe des 907 verstorbenen bayerischen Markgrafen Luitpold, wollte Konrad seinen Einfluss in Bayern stärken. Bayern sollte wieder zu einer Basis der Königsherrschaft gemacht werden, wie dies unter Ludwig dem Deutschen der Fall gewesen war. Im Juni 914 wird Kunigunde erstmals in einer Urkunde als Gemahlin erwähnt, doch finden sich in den Diplomen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Königin eine bedeutende Rolle für die Königsherrschaft spielte. Dass Kunigunde schon 915 Lorsch als künftigen Begräbnisort wählte, während sich Konrad in Fulda bestatten lassen wollte, deutet auf kein besonders enges Verhältnis der beiden hin.
Anders als in Schwaben war der Kampf um die Führungsposition in Bayern weitgehend entschieden. Nachdem sein Vater Luitpold im Kampf gegen die Ungarn 907 gefallen war, konnte Arnulf eine mächtige und einflussreiche Stellung gewinnen. In Bayern stand allerdings der gesamte Episkopat geschlossen hinter Konrad, denn Arnulf hatte rücksichtslos Kirchen- wie Klostergut eingezogen und Kirchenrechte an sich gerissen. Herzog Arnulf versuchte, sich in Bayern der königlichen Herrschaft zu entziehen, und, ähnlich wie Konrad, die Kirchenhoheit zu erlangen. Die Chronologie der Auseinandersetzung ist aufgrund der Quellenlage umstritten. 916 kam es zu einer Rebellion Arnulfs, die der König durch einen Feldzug nach Regensburg beendete. Arnulf flüchtete nach Ungarn. Die Herrschaft übertrug Konrad seinem Bruder Eberhard. Bereits ein Jahr später kehrte Arnulf jedoch aus Ungarn zurück und vertrieb Eberhard. Bei den Kämpfen mit Arnulf zog sich Konrad eine Verwundung zu, der er später erlag.
Verhältnis zur Kirche
Schon zu Beginn von Konrads Königtum dürfte entsprechend karolingischer Tradition eine enge Zusammenarbeit zwischen König und Kirche bestanden haben, die in der Salbung, wahrscheinlich durch Erzbischof Hatto von Mainz, ihren Ausdruck fand. Fast alle fränkischen, alemannischen und bayerischen Suffragane sowie die Erzbischöfe selbst standen mit dem Herrscher im Kontakt und werden in seinen Diplomen genannt. Jedoch sind sie in der Regel nicht außerhalb ihrer Region am Hofe nachweisbar, was den Episkopat nicht als tragende Stütze der Königsherrschaft Konrads erscheinen lässt.
Um 900 wurden Bischöfe immer wieder vom weltlichen Adel bedroht oder gar getötet. So wurde Erzbischof Fulko von Reims ermordet und 913 traf dieses Schicksal auch Bischof Otbert von Straßburg. Die Kirche sah sich auf ein starkes Königtum angewiesen und suchte es mit kirchlichen Mitteln zu verteidigen. Die Bischöfe spielten mit 39 Intervenienten, also als Vermittler einer Bitte um Bestätigung oder einer Schenkung durch den König, eine bedeutende Rolle. Auf Konrad übten insbesondere die führenden Mitglieder der Hofkapelle und der Kanzlei Einfluss aus. Als wichtigste Person galt dabei Bischof Salomo III. von Konstanz, der das Amt des Kanzlers in der gesamten Regierungszeit des Königs innehatte.
Die enge Kooperation zwischen Kirche und Königtum brachte die am 20. September 916 von ostfränkischen Bischöfen einberufene Synode von Hohenaltheim unter der Leitung des päpstlichen Legaten Petrus von Orte zum Ausdruck. Die Synode, die Konrad als christus Domini (Gesalbter des Herrn) bezeichnet, sollte die königliche Macht stärken und das enge Bündnis von Kirche und König festigen. Unklar ist sowohl, ob Konrad selbst an der Synode teilnahm, als auch, welche Bischöfe anwesend waren. Nicht erschienen waren die sächsischen Bischöfe, die deshalb auf der Synode scharf getadelt wurden. Selbst die Bedeutung von Hohenaltheim in der Zeit um 916 ist unbekannt. Doch kann die Wahl nur mit der Anwesenheit Konrads I. im bayrisch-fränkischen Grenzgebiet zusammenhängen, da eine Synode, die allein von Bischöfen geplant und einberufen worden wäre, sich als Tagungsort eher eine Bischofsstadt ausgewählt hätte. Die 38 vollständig erhaltenen kanonischen Bestimmungen wurden vorwiegend zum Schutz des Königs und der Bischöfe vor Laien erlassen. Gewalttaten gegenüber dem König, den christus Domini, wurden mit dem Anathem bedroht. Dass Heinrich auf der Synode nicht als Gegner des Königs genannt wird, könnte ein Beleg für einen Ausgleich in Grone von 915 sein. Dem bayerischen Herzog Arnulf, der nicht erschienen war, wurde eine Frist gewährt, um sich einer für den 7. Oktober anberaumten Synode in Regensburg zu stellen. Ob diese Provinzialsynode allerdings zu Stande kam, ist ungewiss. Der Versuch der Kirche, die königliche Macht zu stärken, brachte nicht den erwarteten Erfolg, denn Schwaben und Bayern fielen erneut vom König ab.
Tod und Nachfolge
Möglicherweise ist es bereits 915 in Grone zwischen Konrad und dem Sachsen Heinrich zu einer Vereinbarung über die Nachfolge im Reich gekommen. Ein solches Abkommen gewinnt auch deshalb an Wahrscheinlichkeit, weil Konrads Ehe mit Kunigunde, die bereits in vorgerücktem Alter war, nach zwei Jahren kinderlos blieb. Aus der Aufnahme Konrads in zwei Zeugnissen ottonischen Totengedenkens (Merseburger Nekrolog und St. Galler Verbrüderungsbuch) leitet Gerd Althoff ab, dass Konrad am ehesten 915 zu einem Einvernehmen mit Heinrich gefunden habe. Wie sich das Verhältnis zwischen Konrad und Heinrich entwickelte, ist unbekannt. Zumindest sind weitere Konflikte zwischen den beiden nicht überliefert.
Zahlreiche voneinander unabhängige Nachrichten berichten von einem langen Siechtum des Königs bis zu seinem Tod. Die Ursache dieser Krankheit war offenbar die Verwundung, die er sich 916 bei einem Heereszug gegen Arnulf von Bayern zugezogen hatte. Die Verletzung wirkte sich auch auf seine Königsherrschaft aus. Von 916 bis zu seinem Tod wurden sämtliche Urkunden des Königs an Orten ausgestellt, die an schiffbaren Flüssen liegen: Frankfurt (2×), Würzburg (2×), Tribur und Forchheim. Demnach hatte der König, so folgert Gerd Althoff, in seinen letzten beiden Jahren ein sehr eingeschränktes Aktionsfeld, denn er scheint in dieser Zeit, wenn überhaupt, nur per Schiff gereist zu sein. Durch die lange Krankheit und die eingeschränkte Handlungsfähigkeit ist Konrad möglicherweise nicht am Widerstand der 'Stammesherzöge', sondern nach Roman Deutinger wohl vielmehr „an der mangelnden Kunst seiner Ärzte gescheitert“.
Konrads Leichnam wurde von seinem Sterbeort, dem Stammsitz Weilburg, auf eigenen Wunsch nach Fulda gebracht und im Januar 919 in der Kirche des Benediktinerklosters Fulda beigesetzt. Die Wahl Konrads für Fulda als Begräbnisort könnte mit der großen Mönchsgemeinschaft und mit der Bonifatiusnähe zusammenhängen, da ein besonders wirkungsmächtiger Heiliger Gewähr dafür bot, dass das Andenken eines Königs gewahrt blieb. Der Name Konrads wurde in die von 779 bis 1065 im Kloster geführten Totenannalen aufgenommen und in das Gebetsgedenken der Mönche eingeschlossen. Jedoch finden sich in den Nekrologeinträgen auch die Namen von Konrads Vorgängern und Nachfolgern, womit der Eintrag allein ein recht dürftiger Hinweis für ein andauerndes Gebetsgedenken Konrads ist.
Sein Nachfolger wurde nicht sein Bruder Eberhard, sondern der Sachse Heinrich. Der Herrschaftsübergang selbst wird von Liudprand, Adalbert und Widukind in gleicher Weise geschildert: König Konrad selbst habe vor seinem Tod den Auftrag gegeben, Heinrich die Königswürde anzutragen und ihm die Insignien zu überbringen. Sein Bruder Eberhard habe dies ausgeführt. Nach der Darstellung Widukinds soll der sterbende König selbst seinem Bruder Eberhard befohlen haben, auf die Thronfolge zu verzichten und die Insignien aus Mangel an fortuna (Glück) und mores (oftmals in der Forschung mit Königsheil übersetzt) die höchste „Staatsgewalt“ (summa rerum publicum) dem Sachsenherzog Heinrich zu übertragen. Allerdings spricht der ungewöhnlich lange Zeitraum von fünf Monaten bis zur Erhebung Heinrichs zum König eher gegen eine öffentlich ausgesprochene Designation durch seinen sterbenden Vorgänger. Vielmehr dürften zähe Verhandlungen zwischen Eberhard und Heinrich über die Nachfolge stattgefunden haben, in denen Eberhard einsehen musste, dass Bayern und Schwaben eigene Wege gingen und er sich zudem mit seinen Verwandten zerstritten hatte.
Wirkung
Maßnahmen nach Konrads Tod
Nach dem Tode Konrads ist es wohl zwischen dem 14. und 24. Mai 919 in Fritzlar, nahe der Grenze des konradinischen und liudolfingischen Machtbereichs, zur Erhebung Heinrichs zum neuen König gekommen. Der Schilderung Widukinds zufolge hat der Konradiner Eberhard vor den versammelten Franken und Sachsen Heinrich als König benannt. Als ihm der Mainzer Erzbischof Heriger die Salbung anbot, habe Heinrich dies nicht angenommen: Er habe sich damit begnügen wollen, durch den Königsnamen aus den Großen seines Reiches herausgehoben worden zu sein – Salbung und Krönung jedoch sollten Würdigeren vorbehalten bleiben. Die Darstellung hat bis heute heftige Kontroversen ausgelöst. So wird etwa um die Frage gestritten, ob im Ostfrankenreich die Salbung überhaupt üblich gewesen ist. Die Nachricht, dass nur Repräsentanten der Sachsen und Franken anwesend waren, und der Verzicht auf die Salbung könnten jedoch darauf hindeuten, dass Heinrich, im Gegensatz zu Konrad, seine Herrschaft mit einem reduzierten Anspruch antrat und dies in Fritzlar demonstrativ zum Ausdruck brachte.
Um seine Herrschaft zu sichern, musste Heinrich sein Verhältnis zu den Herzögen regeln. Dabei vollzog sich die Integration der duces in die Machtstrukturen des ostfränkischen Reiches. Die Etablierung der regionalen Mittelgewalten, der späteren bzw. werdenden Herzogtümer also, denen sich Konrad noch militärisch entgegengestemmt hatte, akzeptierte Heinrich von Anfang an. Die regionalen Machthaber besaßen Herrschaftsgewalt, die sie nicht einer Verleihung des Königs verdankten, sondern aus eigener Kraft errangen, wenn man so will: durch Usurpation. Mit der dem König geleisteten Huldigung gewannen sie nun die Legitimation ihrer Führungsrolle.
Konrads Bruder Eberhard wurde als amicus regis (Freund des Königs) einer der wichtigsten Männer im Reich und blieb dies bis zu Heinrichs Tod. In Schwaben soll sich im Jahr 919 Herzog Burkhard ohne Widerstand „mit allen seinen Burgen und seinem ganzen Volk“ dem König unterworfen haben. Herzog Arnulf übte nach 918 bis 921 eine De-facto-Königsgewalt aus, mit der er sich die Herrschaftsmittel des Königtums in Bayern sicherte. Die vieldiskutierte Nachricht der Salzburger Annalen, die Bayern hätten ihren Herzog Arnulf in regno Teutonicorum zum König ausgerufen, wird in der neueren Forschung verstärkt angezweifelt. Erst nach intensiveren militärischen Operationen unterwarf sich Herzog Arnulf dem König. Seine Machtposition wurde jedoch nicht beschnitten, als er Heinrich huldigte und von diesem als amicus in den Kreis der Berater aufgenommen wurde. Heinrich beließ dem Herzog sowohl das Recht zur Vergabe der Bistümer als auch den Fiskus mit der bedeutenden Regensburger Pfalz. In seinen Urkunden verfügte Heinrich außerdem nie über Güter in Bayern.
Im Unterschied zu Konrad versuchte Heinrich nicht, sich die Machtmittel des karolingischen Königtums anzueignen, sondern überließ auch hier den principes in den ostfränkischen Teilreichen ihre Führungsrolle. Die Herzöge wiederum verpflichteten sich zu Leistungen und dauerhafter Unterstützung. Freundschaft und weitgehende Selbstständigkeit wurde den Herzögen zugebilligt, allerdings erst nach einem demonstrativen Akt der Unterordnung.
Im Hinblick auf das umstrittene Lothringen führten Verhandlungen zum Abschluss eines Freundschaftsbündnisses zwischen Karl dem Einfältigen und Heinrich. Im November 921 trafen sich die beiden Könige bei Bonn. In der Mitte des Rheins, genau auf der Grenze zwischen Lothringen und dem Ostfrankenreich, wurde ein Schiff verankert, auf dem die beiden Könige einen Vertrag schlossen. Heinrich erkannte Karls Herrschaft über Lothringen an, während dieser ihn als gleichberechtigten fränkischen König akzeptierte, als rex Francorum orientalium bzw. rex orientalis.
Den Ungarneinfällen der Jahre 919, 924 und 926 stand Heinrich, ähnlich wie Konrad, machtlos gegenüber. Doch geriet ein ungarischer Anführer in Gefangenschaft, und für dessen Freilassung erkaufte der König gegen einen jährlichen Tribut eine neunjährige Schonung. So gewann man Zeit, sich militärisch zu wappnen. Am 15. März 933 gelang tatsächlich ein militärischer Erfolg in der Schlacht bei Riade. Doch erst Heinrichs Nachfolger Otto konnte durch den Sieg in der Lechfeldschlacht 955 die Raubzüge der Ungarn dauerhaft beenden.
Mit Heinrich endete die karolingische Herrschaftspraxis, das Reich unter die legitimen Söhne des Königs aufzuteilen. Das Prinzip der Individualsukzession (Einzelthronfolge) setzte sich durch. Heinrich bestimmte seinen Sohn Otto zum alleinigen Nachfolger und gründete zugleich die Dynastie der Ottonen.
Konrad im Urteil der Ottonen
Die Zeit Konrads gehört zu den quellenärmsten des Mittelalters. Die Chronik Reginos von Prüm brach im Jahr 906 ab, die Altaicher Fortsetzung der Fuldaer Annalen versiegte im Jahr 901. Die Annalen des westfränkischen Geschichtsschreibers Flodoard von Reims umfassen erst wieder den Zeitraum von 919 bis 966. Zu Konrads Regierungszeit gibt es im Wesentlichen nur kurze zeitgenössische hagiographische Notizen. Dies liegt auch daran, dass der Herrscher kein Königsgeschlecht begründen konnte, in dem das Andenken an seine Leistungen gepflegt worden wäre.
Die wichtigsten Quellen für seine Zeit bilden daher seine 38 überlieferten Urkunden, mit denen er Schenkungen, Rechtsverleihungen und den Austausch von Gütern vornahm oder bestätigte. Allerdings wurde die Hälfte der erhaltenen Diplome in den ersten anderthalb Jahren seines Königtums ausgestellt. Danach gibt es immer wieder längere Zeiträume, aus denen keine Diplome überliefert sind. Die Urkunden zeigen, dass sich der König vor allem in den letzten beiden Jahren in Franken aufhielt und diese Region zum Zentrum seiner Herrschaft wurde. Jenseits der Grenzen Frankens ist der König fast nur noch im Zusammenhang von Feldzügen nachweisbar. Die Annalen können zwar kein zusammenhängendes Geschichtsbild liefern, dennoch erscheint Konrad in diesen Nachrichten als glückloser Feldherr, der die Abwehr der Ungarn den Großen überlassen musste und sich selbst im Innern seines Herrschaftsverbandes kaum behaupten konnte.
Ausführlichere Nachrichten (bei Widukind von Corvey und Liudprand von Cremona) sind nicht nur aus spätem Rückblick, sondern zudem aus sächsisch-ottonischer bzw. italienisch-ottonischer Perspektive abgefasst; sie stammen erst aus dem zweiten Regierungsjahrzehnt Ottos I. Ihre spärlichen Nachrichten sind offenbar auf eine orale Traditionsbildung zurückzuführen, die das Geschehen im Nachhinein fiktional formte. Welche Einzelheiten zutreffend überliefert sind, ist daher ungewiss.
Nach Widukind, der die Herrschaft der Ottonen zu legitimieren versuchte, war schon Konrad nur König von Ottos „des Erlauchten“ (des Vaters Heinrichs I.) Gnaden geworden. Otto sei die Krone bereits 911 angetragen worden, er habe aber verzichtet. Die Liudolfinger stellten für Widukind also von Anfang an die gegebenen Herrscher dar. Im Ergebnis waren damit die Ottonen und nicht die Konradiner die eigentlichen „Gewinner“ des Zerfalls des Karolingerreichs im Osten.
Dennoch präsentierte Widukind Konrad als mächtigen und rechtmäßigen Herrscher. Der Fortsetzer der Chronik Reginos von Prüm nannte ihn „einen stets milden und weisen Mann und einen Liebhaber der göttlichen Lehre“. Liudprand von Cremona bezeichnete ihn anlässlich seiner Wahl als einen „kräftigen und kriegserfahrenen Mann aus fränkischem Geschlecht“, der die aufständischen Fürsten „durch die Macht seiner Weisheit und die Stärke seiner Tapferkeit“ überwunden und unterworfen habe. „Hätte nicht der frühe Tod, der nicht säumiger an die Hütten der Armen pocht als an die Burgen der Könige, den König Konrad so frühzeitig dahingerafft, so wäre er der Mann gewesen, dessen Name über viele Völker der Erde geboten hätte.“
Die ottonische Familie hat lange Zeit für Konrad beten lassen. Im Merseburger Nekrolog ist der König mit seinem Todestag, dem 23. Dezember, und dem Titel rex (König) verzeichnet. Das St. Galler Verbrüderungsbuch enthält die Namen der bis 932 verstorbenen Angehörigen der liudolfingisch-ottonischen Familie sowie die Personen, zu denen die Liudolfinger eine gute Beziehung hatten. Unter den Namen der Gruppe findet sich für die letzten Dezembertage der Name Chuonradus, der mit König Konrad identifiziert wird.
Nachleben im Hoch- und Spätmittelalter
Als des Stifters wurde Konrads in Lorsch, Fulda und St. Gallen noch bis ins späte Mittelalter gedacht. In den hochmittelalterlichen Chroniken wurden allerdings neben den Regierungsdaten meist nur die Ungarneinfälle und die Aufstände der Fürsten erwähnt. Die Chronisten dieser Zeit bemühten sich, die Geschichte des römischen Reiches nach Dynastien zu gliedern, die Idee von der Translatio imperii zu entwickeln und die Erfolge der Herrscher besonders hervorzuheben – diesen Bemühungen fiel Konrad zum Opfer. Sein Königtum galt als belangloses Zwischenspiel, das sich nicht in die Vorstellung von einer kontinuierlichen Herrschaftsausübung großer Geschlechter einfügen ließ. Vielmehr wurde es als merkwürdig empfunden, dass ein König zu herrschen vermochte, der keiner der großen Dynastien entstammte. Einige Chronisten machten ihn daher einfach zu einem Karolinger.
Eine außerordentlich günstige Beurteilung erfährt Konrad bei Ekkehard IV. von St. Gallen. In diesem Kloster, dessen Abt Salomo III. zum engsten Beraterkreis Konrads zählte, wurde dem König noch lange ein ehrenvolles Gedenken bewahrt.
In der Landes-, Regional- und Stadtchronistik des späten Mittelalters war Konrad nahezu bedeutungslos. Zwar tritt er noch in der Sächsischen Weltchronik recht ausführlich in Erscheinung, die Nachrichten in anderen Chroniken sind jedoch deutlich spärlicher. Oft wird Konrad mit Ludwig dem Kind kontaminiert und „als letzter Karolinger“ bezeichnet. Angaben über seine Herkunft und den genauen Herrschertitel fehlen häufig. In der kollektiven Erinnerung des Spätmittelalters spielte Konrad kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildet die Hessische Landeschronik des Wigand Gerstenberg. Er feierte Konrad als Retter des Christentums vor den Ungarn. Wigand machte Konrad zudem zum größten Förderer der Stadt Frankenberg; er erscheint geradezu als der Urheber einer großen städtischen Vergangenheit und verdrängt damit fast den ebenso gerühmten Karl den Großen. Warum der Chronist Konrad derart in den Mittelpunkt rückte, ist ungewiss.
Konrads Nachwirkung in urkundlichen Quellen war regional begrenzt. Das Nachleben Konrads in dokumentarischen Quellen konzentrierte sich überwiegend auf die Gebiete, in denen seine Familie und er selbst begütert waren oder in denen Rechte und Besitzungen der Konradiner lagen. Vor allem Fulda, Mainz und Würzburg waren Zentren urkundlicher Nachwirkungen. Außerhalb des fränkischen Gebietes wurde seiner Herkunft kaum gedacht. Aus seinem Hausstift Weilburg liegen keine Urkunden vor, da diese Institution bis in die staufische Zeit hinein keinerlei Herrscherurkunden überliefert hat. Auch Konrads Grab geriet in Vergessenheit; die Grabpflege hat das Mittelalter nicht überdauert. Seit dem 12. Jahrhundert ist sogar sein genauer Ort unbekannt. Möglicherweise hat das negative oder sogar fehlende Konradbild über die Jahrhunderte hinweg dazu geführt, dass sich niemand mehr die Mühe machte, sein Grab zu finden. Nur eine im Jahr 1878 angebrachte Sandsteintafel erinnert an sein Grab. Öffentliche Resonanz fand ihre Aufstellung kaum.
Geschichtsbilder und Forschungsperspektiven
Anfänge des mittelalterlichen „Deutschen Reiches“
Dass die ostfränkischen Großen nicht dem einzigen noch regierenden Karolinger das Königtum antrugen, sondern einen Nichtkarolinger zu ihrem König machten, wurde oft als historische Weichenstellung für ein werdendes „Deutschbewusstsein“ gewürdigt. Die Entscheidung der Großen aus Ostfranken, Sachsen, Alemannien und Bayern gegen einen Westfranken galt als Hinweis auf ein starkes Gemeinschaftsgefühl rechts des Rheins im Sinne eines „deutschen“ Nationalgefühls, weshalb nur einer der Ihren und kein „Franzose“ als König in Frage gekommen sei. Dass das Deutsche Reich um das Jahr 900 entstanden sei, war bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg eine allgemeine Grundüberzeugung. Als die eigentlichen Gründer des „deutschen Reiches“ wurden die deutschen Stämme angesehen. Uneinig war man sich lediglich, welches konkrete Datum zwischen 843 und 936 in Betracht komme.
Der Historiker Harry Bresslau hielt 1911 vor der wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg einen Vortrag mit dem Titel „Das tausendjährige Jubiläum der deutschen Selbständigkeit“, in dem er Konrads Wahl eine bedeutende Rolle bei der Abgrenzung zwischen der fränkischen und der deutschen Epoche des Reiches zuwies. Dynastiewechsel, Königswahl und Unteilbarkeit des Reiches waren für Bresslau die Hauptgründe, warum er 911 als Epochenjahr ansah. Andere Historiker wie etwa Walter Schlesinger sahen in der Designation des Sachsenherzogs Heinrich durch den sterbenden König Konrad einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung des mittelalterlichen Reiches, das sie mit dem Herrschaftsantritt von 919 beginnen ließen.
Johannes Haller ließ mit Konrads Königtum die deutsche Geschichte beginnen und leitete 1923 sein Kapitel mit den Worten ein: „Seit wann gibt es eine deutsche Geschichte? Die richtige Antwort lautet: seit es Deutsche und ein deutsches Volk gibt. Aber seit wann gibt es das? ... Eine deutsche Geschichte kann es erst geben, wenn die unter sich verbundenen Stämme sich vom Gesamtverband des fränkischen Reiches lösen und eine Einheit für sich bilden. ... Konrad I. gilt darum als der erste deutsche König, und beim Jahr 911 darf man – wenn man nach festen Zahlen fragt, die freilich immer etwas Äußerliches behalten – die erste Epoche der deutschen Geschichte ansetzen: die Entstehung des deutschen Staates.“ Noch 1972 leitete Wolf-Heino Struck seinen Aufsatz über die konradinischen Stiftsgründungen mit folgenden Worten ein: „Als im November 911 Konrad I. in Forchheim [...] zum König gewählt und damit vor 1060 Jahren die Geschichte des Deutschen Reiches eingeleitet wurde, erreichte das Geschlecht der Konradiner den Höhepunkt seines Ansehens.“
Erst durch die reichhaltigen Forschungen der letzten Jahrzehnte zur Nationsbildung mussten solche ehemals als sicher geltende Vorstellungen aufgegeben werden. Man sieht heute das Deutsche Reich in einem Prozess entstanden, der im 11. und 12. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war. Außerdem ist heute unstrittig, dass die so genannten gentes, die politisch organisierten Großgruppen, die auch die Wahl Konrads bestimmten, keine „deutschen Stämme“, sondern deutschsprachige Gruppen waren, die ein schwer fassbares Zusammengehörigkeitsgefühl verband und die sich als Franken, Bayern, Sachsen oder Schwaben verstanden, nicht aber als „Deutsche“. Der Begriff regnum Teutonicum wurde als Fremd- und Eigenbezeichnung erst allmählich seit dem 11. Jahrhundert gebraucht.
Konrad im Urteil der Forschung
Während die ottonischen Quellen dem König ein positives Urteil ausstellen, gilt Konrad in der Forschung nach weit verbreiteter Ansicht mit seiner ganzen Regierung als gescheitert. Weder gelang es ihm trotz verschiedener Kriegszüge, den Verlust Lothringens an Karl den Einfältigen zu verhindern, noch vermochte er der einsetzenden Ungarngefahr Herr zu werden oder die aufstrebenden Fürsten in den Regionen in das Reich zu integrieren. Diese Urteile wirken bis heute nach. Die eher die Entstehung der Nationalstaaten hervorkehrende Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sah seine größte Leistung erst auf dem Sterbebett vollbracht, als er mit Heinrich für einen fähigen Herrscher sorgte, eine Entscheidung, die Ernst Dümmler als „seine ehrenvollste That“ rühmte. Ein ähnliches Konrad-Bild findet sich auch in den Schulbüchern und der populärwissenschaftlichen Literatur jener Zeit. Die Werke beschäftigen sich zwar noch vergleichsweise ausführlich mit dem Konradiner, beurteilten ihn aber vor allem am Verlust Lothringens bzw. den Auseinandersetzungen mit den ‚Herzögen‘ und sahen seine größte Leistung in der Designation Heinrichs I.
Die ungünstige Beurteilung, die Konrad im nationalistischen 19. Jahrhundert erfuhr, verdeutlicht exemplarisch ein Vorgang, der sich 1891 ereignete: Als man Konrad an seinem ehemaligen Stammsitz Weilburg ein Denkmal errichten wollte, lehnte die Stadt Weilburg das Vorhaben ab. Herrscher und Epoche erschienen den „Stadtvätern“ von allzu geringer Bedeutung. Das Denkmal wurde schließlich bei Villmar auf einem Felsen hoch über der Lahn aufgestellt, wo es noch heute steht.
Robert Holtzmann schlussfolgerte 1941 in seiner Geschichte der sächsischen Kaiserzeit: „Am Erfolge gemessen, kann man freilich nur sagen: er ist gescheitert. Begünstigt von der Geistlichkeit, aber sonst fast nur auf die Kräfte des heimischen Rheinfrankens gestützt, hat er auf allen Punkten Niederlagen erlitten.“ Zwei Jahre später meinte Gerd Tellenbach: „Konrad I. aber vermochte den Versuch von 911 noch nicht zum Gelingen zu führen. Seine Regierung ist eine Kette politischer Mißerfolge.“
Solche Urteile finden sich bis in die jüngere Zeit. 1991 urteilte Johannes Fried: „Trotz mancher Teilerfolge […] überfordert er die Ressourcen des Königtums durch die inneren Auseinandersetzungen und versagt schließlich auch bei der Abwehr äußerer Feinde, der Ungarn und Dänen“. Für Fried war Konrad ein König, der „auf ganzer Linie scheiterte“. Das Fehlen Konrads in den einschlägigen Herrscherbiographieserien begründet man mit seiner Erfolglosigkeit und damit, dass er weder den Karolingern noch den Ottonen zuzurechnen ist.
In einem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1982, der die Beurkundungspraxis Konrads behandelt, unterschied Hans-Werner Goetz zwei Phasen in Konrads Regierung. In einer ersten Phase, die durch „eine energievolle Politik“ geprägt war, wollte er die königlichen Rechte noch ausweiten. Seine Stellung war durch eine breite Zustimmung der Großen gefestigt. Erst die Rebellionen der werdenden Herzogsgeschlechter leiteten die zweite Phase ein und ließen Konrads Pläne scheitern und schränkten seinen Wirkungskreis auf Franken ein.
Seit dem Aufsatz von Goetz wurde König Konrad allerdings keine detailliertere Behandlung mehr gewidmet. Die Forschung ordnete Konrad eher in übergeordnete Zusammenhänge ein, ohne ihm dabei eine wegweisende Rolle zuzugestehen. Auch in der jüngsten Schulbuchgeneration ist Konrad nur noch sporadisch vertreten. Erst eine von einer Fuldaer Bürgerinitiative angestoßene wissenschaftliche Tagung im Jahr 2005 rückte Konrad wieder in den Blickpunkt. Einen „Rehabilitierungsversuch“ unternahm dabei Hans-Henning Kortüm. Nach seinem Urteil ist Konrad nicht gescheitert, sondern agierte im Gegenteil höchst erfolgreich. Das negative Konradbild beruhe zum einen auf der fehlenden Ausbildung einer Dynastie und zum anderen auf einer falschen Interpretation der berühmten Formulierung fortuna atque mores, also des negativen Resümees Widukinds. Nach Widukind soll König Konrad auf dem Sterbebett zu seinem Bruder Eberhard gesagt haben, dass ihm „fortuna atque mores“ fehlten. Während fortuna tatsächlich das im mittelalterlichen Verständnis so wandelbare Glück bezeichne, sei mores nicht, wie bisher üblich, mit Königsheil zu übersetzen, sondern eher mit dem Begriff Zeitgeist. Diese Bedeutung herrsche im Werk des Sallust vor, an dessen Stil sich Widukind generell stark orientiert habe. Die veränderte Übersetzung würde schließlich bedeuten, dass mit fortuna und mores ein Herrscherwechsel vonstattenging und der Zeitgeist (mores) sich zwangsläufig vom sterbenden König abwandte.
Im Jahr 2008 begründeten Gerd Althoff und Hagen Keller die entscheidende Schwäche für das Scheitern Konrads I. damit, „daß es dem König nicht gelang, ein personales Beziehungsnetz aufzubauen, das über den Kreis hinausreichte, mit dessen Hilfe er das Königtum übernommen hatte“.
Das Vonderau Museum veranstaltete vom 9. November 2011 bis zum 5. Februar 2012 anlässlich des 1100. Jahrestages der Wahl Konrads I. zum König die Ausstellung 911 – Königswahl zwischen Karolingern und Ottonen. Konrad I. – Herrschaft und Alltag. Dazu wurde ein Begleitband veröffentlicht.
Quellen
Ekkehard IV. von St. Gallen: Casus Sancti Galli, ed. Hans F. Haefele (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Band 10). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980.
Liutprand von Cremona: Werke. In: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Band 8). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1971, S. 233–589.
Widukind von Corvey: Die Sachsengeschichte des Widukind von Corvey. In: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Band 8). Übersetzt von Albert Bauer, Reinhold Rau. 5. gegenüber der 4. um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-01416-2, S. 1–183.
Literatur
Gerd Althoff, Hagen Keller: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Band 3). 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-60003-2.
Roman Deutinger: Königswahl und Herzogserhebung Arnulfs von Bayern. Das Zeugnis der älteren Salzburger Annalen zum Jahr 920. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Band 58, 2002, S. 17–68 (online).
Roman Deutinger: Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. Band 20). Thorbecke, Ostfildern 2006, ISBN 978-3-7995-5720-7.
Hans-Werner Goetz (Hrsg.): Konrad I. Auf dem Weg zum „Deutschen Reich“? Winkler, Bochum 2006, ISBN 3-89911-065-X (Tagungsbericht) und (Rezension)
Hans Werner Goetz: Der letzte Karolinger? Die Regierung Konrads I. im Spiegel seiner Urkunden. In: Archiv für Diplomatik. 26, 1980, S. 56–125.
Hans-Werner Goetz: „Dux“ und „Ducatus“. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten „jüngeren“ Stammesherzogtums. Brockmeyer, Bochum 1977, ISBN 3-921543-66-5.
Antoni Grabowski: Konrad I. – ein König, der groß sein sollte. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte. 70, 2018, S. 51–70.
Donald C. Jackman: The Konradiner. A study in genealogical methodology. Klostermann, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-465-02226-2.
Gregor K. Stasch, Frank Verse (Hrsg.): König Konrad I. – Herrschaft und Alltag. Begleitband zur Ausstellung 911 – Königswahl zwischen Karolingern und Ottonen. König Konrad der Erste – Herrschaft und Alltag, Vonderau-Museum Fulda, 9. November 2011 bis 6. Februar 2012. Imhof, Petersberg 2011, ISBN 3-86568-700-8.
Gudrun Vögler: Die Konradiner. Das Geschlecht Konrads I. In: Nassauische Annalen. Band 119, 2008, S. 1–48.
Gudrun Vögler: Die Rezeption des Königs. Denkmäler und Bildnisse König Konrads I. in der Neuzeit. In: Nassauische Annalen. Band 125, 2014, S. 261–302.
Gudrun Vögler: König Konrad I.: (911–918). Konrad I. – der König, der aus Hessen kam. Aus Anlass des Wissenschaftlichen Symposions König Konrad I. Auf dem Weg zum „Deutschen Reich“?, Fulda, 21.–24. September 2005; gleichzeitig Begleitband der in Fulda und Weilburg gezeigten Ausstellung Geschichte – Bewusstsein – Verortung. Konrad I. – der König, der aus Hessen kam, Juni und September 2005. Imhof, Petersberg 2005, ISBN 978-3-86568-058-7.
Gudrun Vögler: Mittelalterliche Bildnisse König Konrads I. Die Beispiele der Urkundensiegel und des Codex Eberhardi. In: Nassauische Annalen. Band 122, 2011, S. 55–76.
Weblinks
Anmerkungen
Familienmitglied der Konradiner
König (Franken)
Herzog (Franken)
Gaugraf (Hessen)
Person (Weilburg)
Herrscher (10. Jahrhundert)
Ostfrankenreich
Geboren im 9. Jahrhundert
Gestorben 918
Mann |
69161 | https://de.wikipedia.org/wiki/Beetzsee%20%28Gemeinde%29 | Beetzsee (Gemeinde) | Beetzsee [] ist eine Gemeinde mit etwas mehr als 2400 Einwohnern im Landkreis Potsdam-Mittelmark in Brandenburg. Sie entstand 2002 durch den freiwilligen Zusammenschluss der Gemeinden Brielow, Radewege und Marzahne im Vorfeld der geplanten brandenburgischen Gemeindegebietsreform 2003. 2008 wechselte Marzahne zur Nachbarstadt Havelsee. Namensgeber für die Gemeinde war der zur Stadt Brandenburg an der Havel gehörende Beetzsee, einem Rinnensee, an dessen Westufer sie liegt. Die Gemeinde ist Sitz des gleichnamigen Amtes, dem neben Beetzsee weitere drei Gemeinden und die Stadt Havelsee angehören.
Die Landschaften der Gemeinde Beetzsee wie der See, Feuchtgebiete und Hochflächen sind in erster Linie eiszeitlichen Ursprungs. Weite Flächen sind verschiedentlich, beispielsweise als Naturpark, Landschafts- oder Naturschutzgebiet, unter Schutz gestellt. Neben den Schutzgebieten gibt es in den Orten Beetzsees ausgewiesene Natur-, Boden- und Baudenkmale. Aus prähistorischer Zeit stammen mehrere Funde in und um Beetzsee. Historisch ältester Ortsteil ist das im späten 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnte Dorf Brielow.
Geografie
Geografische Lage
Die Gemeinde Beetzsee hat eine Fläche von etwa 21 Quadratkilometern. Der namensgebende Beetzsee liegt am östlichen Rand der Gemeinde. Direkte Nachbarstädte sind die Mittelstadt Brandenburg an der Havel im Süden als Oberzentrum der Region und die Kleinstadt Havelsee im Nordwesten.
Beetzsee befindet sich etwa 40 Kilometer westlich der Bundeshauptstadt Berlin und im westlichen Bereich der Metropolregion Berlin/Brandenburg. Das Beetzseeufer hat je nach Wasserstand eine Höhe von durchschnittlich 28 bis 29 Meter über Normalnull. Der höchstgelegene Punkt Beetzsees ist der 89,3 Meter hohe Schwarze Berg an der Grenze zu Havelsee. Die Erhebung ist Teil einer eiszeitlich gebildeten Hügelkette und ein südwestlicher Ausläufer der Nauener Platte. Zwischen den Hügeln liegen Trockentäler. Östlich der Hügelkette befindet sich das Gletscherzungenbecken beziehungsweise die Schmelzwasserrinne des Marzahner Fenns, durch dessen Talsohle die Gemeindegrenze zu Havelsee führt.
Gemeindegliederung und Nachbarstädte und -gemeinden
Beetzsee gliedert sich in zwei Ortsteile. Brielow liegt im Süden der Gemeinde. Zu ihm gehört der Wohnplatz Brielow Ausbau direkt an der Grenze zur Stadt Brandenburg. Der nördliche beziehungsweise nordöstliche Ortsteil ist Radewege. Zu ihm gehört der zentral in der Gemeinde gelegene Wohnplatz Radewege Siedlung.
An die Gemeinde Beetzsee grenzen im Uhrzeigersinn folgende Städte und Gemeinden: Im Westen und Nordwesten die Stadt Havelsee mit den Ortsteilen Hohenferchesar und Marzahne, im Nordosten die Gemeinde Beetzseeheide mit dem Ortsteil Butzow. Sowohl Havelsee als auch Beetzseeheide gehören wie die Gemeinde Beetzsee zum Landkreis Potsdam-Mittelmark. Im Osten liegt der Beetzsee. Dieser gehört zur kreisfreien Stadt Brandenburg an der Havel, das östliche Seeufer mit dem Dorf Mötzow zu Beetzseeheide. Im Süden grenzt die Gemeinde an die Stadt Brandenburg.
Geologie
Der östliche Teil der Gemeinde liegt in einer subglazialen Rinne, der Beetzseerinne, in der sich neben weiteren Seen der Beetzsee als typischer Rinnensee bildete. Diese Rinne entstand während der letzten, der Weichselkaltzeit, und verläuft zunächst von Nordost in südwestliche Richtung. Knapp unterhalb Radeweges knickt sie nach Süden ab.
Im westlichen beziehungsweise nordwestlichen Bereich bestimmen Ausläufer der ebenfalls eiszeitlich gebildeten hügligen Hochflächen der Nauener Platte das Bild. Der Stauchmoränenkomplex um den Schwarzen Berg soll in seinem Kern saalekaltzeitlich geprägt sein. Von der Stauchmoränenkuppe des Schwarzen Berges erstreckt sich in nordöstliche Richtung eine Hügelkette mit den Erhebungen Eichberg (69,2 Meter) und Fichtenberg (57,5 Meter) mit ebenfalls typischen, vorwiegend kiesigen bis feinsandigen Ablagerungen. Zwischen dieser und einer parallelen Hügelkette nordwestlich davon liegt in einem breiten und flachen Tal das Gletscherzungenbecken, das ebenfalls dem Fluss des Eises in südwestliche Richtung folgte, beziehungsweise die Schmelzwasserrinne Marzahner Fenn. Sie ist ohne natürlichen Abfluss von Moorbildung geprägt. Unmittelbar nördlich Radeweges liegt der Hasselberg mit 58,8 Metern, der ebenfalls zu einer Hügelkette gehört, eine Stauchmoräne darstellt und wie der Schwarze Berg an der Eisrandlage 2 der sogenannten Brandenburg-Phase entstand. Nördlich und südlich Brielows liegen Schmelzwasserrinnen. Teil der südlichen ist die Butter Laake, in der eine Vielzahl von Gräben zur Entwässerung angelegt wurden.
Böden
Im Gebiet der Gemeinde Beetzsee dominieren vier Bodentypen. Im Süden rund um den Ortsteil Brielow findet man in erster Linie Auengley. Nur in einem schmalen Streifen der südlichen Schmelzwasserrinne gibt es Humusgley und Erdniedermoore. Vor allem im Westen und Nordwesten im Bereich der Hügelkette und im Nordosten um den Hasselberg sind hingegen Braunerden vorherrschend. Im breiten Tal zwischen den braunerdigen Erhebungen dominieren im Norden Pseudogleye. Dieser Bodentyp erstreckt sich über ein weites Areal bis nach Beetzseeheide hinein. Im Gebiet des Marzahner Fenns und in Bereichen nördlich und südöstlich Brielows findet man Erdniedermoore und Erdniederkalkmoore.
Flächennutzung
Fast 85 Prozent des Gemeindegebietes sind Wald, Wasser und Ackerland. Den mit Abstand größten Anteil haben mit 61,4 Prozent die landwirtschaftlichen Flächen. Der Anteil in der Kommune liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt von etwa 49 Prozent. Unter dem Landesdurchschnitt liegt mit 17 Prozent der Anteil an Waldflächen, der brandenburgweit 35,6 Prozent ausmacht. Die größten Waldgebiete liegen im Bereich der eiszeitlichen Stauchmoränen im Westen Beetzsees. Wasserflächen haben mit 4,7 Prozent einen deutlich größeren Anteil an der Gesamtfläche als im Landesdurchschnitt des schon gewässerreichen Bundeslandes (3,4 Prozent), obwohl der Beetzsee vollständig zur Stadt Brandenburg und nicht zur gleichnamigen Gemeinde gehört. Ein nur geringer Flächenanteil Beetzsees ist bebaut. Die Art der tatsächlichen Nutzung der Flächen in Beetzsee ist in der Tabelle Flächennutzung 2012 aufgeschlüsselt.
Gewässer
Beetzsee wird von einer Vielzahl von Gewässern geprägt. Dominierend ist der namensgebende Beetzsee im Osten, der jedoch selbst nicht zum Gemeindegebiet, sondern vollständig zur kreisfreien Stadt Brandenburg gehört. Die Gemeindegrenze liegt unmittelbar am Westufer des Sees. Der knapp 22 Kilometer lange Beetzsee entstand innerhalb einer eiszeitlichen Rinne, die durch vorschiebendes Inlandseis geformt wurde. Er ist auf Höhe der Gemeinde als Bundeswasserstraße der Klasse IV ausgewiesen. Bis in das 20. Jahrhundert spielte der See als Transportweg vor allem für die umliegenden Ziegeleien eine wichtige Rolle. Heute hat er in erster Linie für Tourismus und Wassersport eine zunehmende Bedeutung.
Neben dem Beetzsee gibt es noch eine große Anzahl weiterer Seen, die jedoch ausnahmslos anthropogenen Ursprungs sind. Es sind meist ehemalige Tongruben, in denen der Werkstoff für lokale Ziegeleien gewonnen wurde. Ein größerer Tongrubensee nordwestlich Brielows wurde im Landschaftsrahmenplan des Kreises Potsdam-Mittelmark als schwach eutroph, ein weiter See südöstlich als schwach polytroph beschrieben. Im Marzahner Fenn befindet sich ein rechteckiger See, der sich in einem ehemaligen Torfstich bildete. Flüsse gibt es in der Gemeinde nicht. Einzige Fließgewässer sind zur Drainage der Feuchtgebiete angelegte Gräben, die über Wehre gesteuert werden. So entwässert beispielsweise der sogenannte Schlangengraben einen Großteil der Butter Laake in Richtung des Beetzsees. Dabei durchfließt der Graben südöstlich von Brielow eine ehemalige Tongrube, ehe er in den Beetzsee mündet. Ein Wehr dient der Einstellung des Abflusses. Nur etwa einhundert Meter westlich des Schlangengrabens entspringt ebenfalls in der Butter Laake der Eisengraben, der die Gemeinde in westliche Richtung verlässt, innerhalb der Stadt Brandenburg Wasser des Bohnenländer Sees und in Havelsee des Kranepfuhls aufnimmt und südlich von Tieckow in die Untere Havel mündet.
Ein weiteres Grabensystem mit dem sogenannten Russengraben als Hauptarm drainiert das Marzahner Fenn. Zwischen Schwarzem Berg und Eichberg wird dieser Graben unterirdisch durch die Hügelkette geführt und mündet, nachdem er Wasser von einigen Tongrubenseen aufgenommen hat, südlich beziehungsweise westlich von Radewege in den Beetzsee. Dieses System wird mit vier Wehren im Russengraben gesteuert.
Klima
In der Gemeinde Beetzsee herrscht gemäßigtes Klima, beeinflusst vom Kontinentalklima im Osten und vom atlantischen Seeklima im Westen. Die Niederschläge verteilen sich relativ gleichmäßig über das Jahr mit einem Maximum im Sommer, Trockenmonate gibt es nicht. Der durchschnittliche jährliche Niederschlag in der Gemeinde Beetzsee liegt bei 539 mm. Trockenster Monat ist der Februar mit einer Niederschlagsmenge von 32 mm, der meiste Niederschlag fällt durchschnittlich im Juni mit 64 mm.
Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 9,1 °C. Der wärmste Monat ist der Juli mit durchschnittlichen 18,3 °C. Im Januar, dem kältesten Monat, beträgt die Durchschnittstemperatur −0,2 °C.
Bevölkerung
Zum Zensus 2011 hatte Beetzsee 2430 Einwohner. Im Kreis Potsdam-Mittelmark hatte nur Wusterwitz unter den amtszugehörigen Gemeinden eine größere Einwohnerzahl. Der Ausländeranteil lag bei 1,4 Prozent. 14,9 Prozent der Bevölkerung beziehungsweise 363 Einwohner zählten sich dem evangelischen, 2,8 Prozent beziehungsweise 67 absolut dem katholischen Christentum zu. Die restliche Bevölkerung wurde bei der Frage nach der Religionszugehörigkeit unter „sonstige, keine, ohne Angabe“ zusammengefasst, sodass eine Aussage zu weiteren Religionsgemeinschaften anhand dieser Daten nicht möglich ist.
Bevölkerungsentwicklung
Im Jahr 1875 hatten Brielow und Radewege zusammen eine Bevölkerung von 1149 Bewohnern. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stieg diese langsam an, sodass 1939 bereits 1500 Menschen in den Orten lebten. Der Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945 brachte einen sprunghaften Anstieg auf ein erstes Maximum von 1709 Einwohnern 1950. Bis 1989 fiel dieser Wert langsam ab und die Bevölkerung betrug noch 1314 Bewohner. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands profitierten Brielow und Radewege von der zunehmenden Suburbanisierung Brandenburgs. Neue Wohngebiete mit Eigentumshäusern entstanden. So verdoppelte sich die Bevölkerung in 15 Jahren auf ihr Allzeithoch von 2644 Bewohnern 2004. Darauf kam es wieder zu einem leichten aber kontinuierlichen Abfall. Einen Sprung brachte der Zensus 2011, als die Bevölkerungszahl um etwa 100 Bewohner nach unten korrigiert werden musste.
Dialekte
Bis in das 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert war die regionale Mundart ein typischer brandenburgischer Dialekt, der vom größten Teil der Bevölkerung im Alltag gesprochen wurde. In der Zeit Theodor Fontanes beispielsweise wurde in der Gegend noch dieser niederdeutsche Dialekt verwendet. So wurde oft p statt f, t statt s-Lauten und k statt ch gesprochen. Beispielsweise sprach man grot statt groß und Dörp statt Dorf. Auch bei Vokalen gab es Unterschiede wie ie und u statt der Diphthonge ei und au. So war das Haus zu dieser Zeit ein Huus. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wechselte die Sprache von den Städten ausgehend immer mehr vom Niederdeutschen zum Berliner Dialekt, sodass heute das Niederdeutsche um die Stadt Brandenburg fast als ausgestorben gilt. Beispielhaft für die Sprache des 20. und 21. Jahrhunderts wird au als o (lofen statt laufen) und z als stimmloses s (Ssitrone statt Zitrone) gesprochen. Typisch ist auch das häufige Umschreiben des Genitivs wie dem Gregor sein Auto.
Geschichte
Ur- und Frühgeschichte
Bereits in vorgeschichtlicher Zeit war die Gegend um die heutige Gemeinde Beetzsee von Menschen bewohnt. Anhand archäologischer Funde konnten Besiedlungen des Raums zwischen Havel und Beetzsee spätestens seit der mittleren Steinzeit nachgewiesen werden. So wurden in der Umgebung zahlreiche Artefakte aus Knochen und Geweih ausgegraben, die in die jungpaläolithische beziehungsweise mesolithische Zeit datiert werden konnten. Aus der jüngeren Steinzeit liegen ebenfalls Einzelfunde vor. So wurden am an der Grenze zur Gemeinde Beetzsee gelegenen Hasselberg Gräber der Havelländischen Kultur gesichert. Dabei wurden mehrere Hängegefäße gefunden. Diese sind teilweise im Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin ausgestellt.
Aus der jüngeren Bronzezeit stammt ein am Schwarzen Berg entdecktes Urnengräberfeld. Dieses wurde bereits im 19. Jahrhundert entdeckt und besteht aus neun Einzelgräbern. Bei den Ausgrabungsarbeiten wurden neben den Urnen eine Vielzahl von Grabbeigaben wie Spiralplattenfibeln, Wendelringe, Fingerringe und Armringe gefunden. Weitere jungbronzezeitliche und eisenzeitliche Gräber konnten am Mühlenberg in Radewege entdeckt werden. Auf dem Hasselberg konnte neben den steinzeitlichen Gräbern einer der größten Urnengräberfriedhöfe des Elbe-Havelgebietes der späteren römischen Kaiserzeit bis zum Beginn der Zeit der Völkerwanderung gesichert werden. Es wurden zumeist schalenförmige Urnen ohne Beigaben gefunden. Die Funde wurden ins 3. bis ins 5. Jahrhundert datiert.
In seinem Werk Germania beschrieb Tacitus die Gegend östlich der Elbe bis an die Oder als Siedlungsgebiet des suebischen Stamms der Semnonen. Bis auf wenige Restgruppen verließen die Semnonen noch vor beziehungsweise spätestens während der Zeit der Völkerwanderung ab dem 3. beziehungsweise 4. Jahrhundert ihr altes Siedlungsgebiet an der Havel in Richtung des Rheins. Ab dem 5. beziehungsweise 6. Jahrhundert kam die germanische Siedlungstätigkeit weitgehend zum Erliegen. Es liegen ab dieser Zeit bis ins 8. Jahrhundert nur noch wenige archäologische Funde vor. Anfang des 8. Jahrhunderts wanderten Slawen in das nach der Abwanderung der Germanen weitgehend siedlungsleere Gebiet ein. Reste germanischer Bevölkerung gingen in der slawischen Mehrheitsbevölkerung auf. Aus frühslawischer Zeit datieren Funde entlang des Beetzseeufers. So wurden aus dieser Epoche vor allem Keramiken entdeckt.
Mittelalter
Nachdem die slawische Burg Brandenburg 20 Jahre zuvor von Heinrich I. erobert worden war, errichtete Kaiser Otto I. im Jahre 948 das Bistum Brandenburg. Da es 983 zu einem Aufstand der Slawen kam, bei dem Brandenburg mit seinen umliegenden Gebieten in die Hände heidnischer Slawen zurückfiel, lebten die Bischöfe ab dieser Zeit zwar formal in kontinuierlicher Besetzung, jedoch im Exil in Magdeburg als Titularbischöfe und hatten keine Herrschaft über ihre Gebiete im Osten an der Havel. Dieser Zustand bestand fast 200 Jahre, bis 1157 Albrecht der Bär Brandenburg zurückerobern konnte.
Die geschichtliche Zeit Beetzsees begann im Jahr 1290, als Brielow erstmals als „Brilow“ in einer Urkunde erwähnt wurde. Markgraf Otto IV. verkaufte das Dorf der Altstadt Brandenburg für „9 Mark Stendaler Geld und 21 Pfund Pfennige“ und befreite gleichzeitig die Stadt von Zöllen und der Dammarbeit für Brielow. Die erste schriftliche Erwähnung Radeweges als „Radenwede“ stammt aus dem Jahr 1335. Markgraf Ludwig I. verpflichtete in der Urkunde mehrere Dörfer entlang des Beetzsees, neben Radewege beispielsweise auch die Orte Butzow und Lünow bei der Instandhaltung von Dämmen und Wegen zu helfen. Im Jahr 1373 wurden Bürger der Altstadt als Besitzer mehrerer Hufen geführt. Ebenfalls Besitzungen im Dorf hatte der Bischof von Brandenburg.
Im Landbuch Karls IV. von 1375 wurden Brielow und Radewege erwähnt. Brielow wurde in diesen Aufzeichnungen mit 37 Hufen geführt, von denen zwei der Pfarrei gehörten. In Radewege wurden 42,5 Hufen gezählt. Daneben soll es noch drei Hufen für die Pfarrei und weiteres Schulzenland gegeben haben. An steuerlichen Einnahmen wurden für Brielow Geld und Getreide von den Bauern vermerkt, während die Kossäten jeweils ein Huhn abzugeben hatten. In Radewege habe ein Krug bestanden und ein abgabenpflichtiger Fischer gelebt.
Da Brielow der Altstadt gehörte, übte diese das Patronatsrecht aus und besetzte die Pfarrei mit eigenen Geistlichen. So leitete im Jahr 1377 ein brandenburgischer Altarist die örtliche Pfarrei. Die Pfarrei Radeweges wurde einerseits als Mutter- und andererseits als Filialkirche Brielows erwähnt. Im Jahr 1409 kam auch Radewege zur Altstadt, nachdem Kurfürst Jobst das Dorf an diese abgetreten hatte. Wie Brielow blieb auch Radewege bis in das 19. Jahrhundert in städtischem Besitz. Neben der Stadt hatte auch Johann von Quitzow und das Domkapitel Besitzungen in Radewege.
1413 wurde Radewege von Raubrittern des Erzbistums Magdeburg überfallen und verwüstet, kurze Zeit später aber wieder besiedelt. Brielow war ebenfalls überfallen worden. 1418, fünf Jahre nach der Plünderung durch die Raubritter, steckte Johann von Quitzow das Dorf Radewege in Brand.
Die Straßen und Dämme der Umgebung wurden nicht von der Altstadt, sondern von der Neustadt unterhalten. Die Altstadt war aufgrund der Schenkungsurkunde von 1290, nach der sie ausdrücklich von der Instandhaltung der Dämme und Straßen nach und um Brielow befreit war, dafür nicht heranzuziehen. In einem Vergleich zwischen beiden Städten wurde 1423 unter anderem bestimmt, dass der Rat der Altstadt jedoch für die Hufen Radeweges das Dammgeld, also die Kosten der Instandhaltung zu zahlen habe.
Frühe und Neuere Neuzeit
Zwischen den Ortschaften Brielow und Radewege wurde spätestens ab 1545 Wein angebaut. In diesem Jahr gestattete der Kurfürst Joachim I. der Altstadt den Weinbau auf dem Radeweger Berg. In diesem Zusammenhang hatte der altstädtische Rat Brielower Kossäten ausgezahlt, um so Wohnraum für die Weinbauern zu schaffen.
Bei einem Brand 1607 wurde die Dorfkirche in Radewege beschädigt und bis 1608 wieder instand gesetzt. Der Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) traf auch das protestantische Brandenburg. Unter anderem drangen schwedische Truppen in das Gebiet um die Städte Altstadt und Neustadt ein. Aus dieser Zeit stammt der Name der Schwedenlinde, eines Naturdenkmals in Brielow. Einer Legende nach war unter diesem Baum ein im Krieg gefallener schwedischer Offizier beerdigt worden. An der westlichen Gemeindegrenze, zwischen dem Bohnenländer See und dem Grönschen Bruch, etwa zur Hälfte in der zu Brandenburg gehörenden Gemarkung Bohnenland, befinden sich die sogenannten Schwedenwälle, eine etwa 30 Meter breite und einen Kilometer lange Landwehr, bestehend aus zwei Wällen und drei Gräben. Sie waren bereits zuvor von der Altstadt angelegt worden und wurden von schwedischen Truppen im Dreißigjährigen Krieg verwendet.
1674 kam es abermals zu einem Krieg mit dem Königreich Schweden, dem zu dieser Zeit Pommern gehörte, und zu Verwüstungen um die Städte Altstadt und Neustadt. Während des Nordischen Krieges drangen schwedische Truppen aus Pommern in Brandenburg ein und besetzten 1675 unter anderem das westliche Havelland und plünderten eine Vielzahl von Ortschaften. Vor den anrückenden brandenburgischen Truppen zogen sich die Schweden über Brielow nach Norden zurück, wo es zur entscheidenden Schlacht bei Fehrbellin kam.
In einer Aufzeichnung im Jahr 1708 wurden für Radewege 16 Hufenbauern, ein Kossät, ein Schäfer und ein Schmied gezählt. 31 Jahre später sollen 140 Menschen im Ort gelebt haben. Brielows Einwohnerzahlen sollen seit dem Mittelalter bis etwa 1850 kontinuierlich zwischen 180 und 200 Personen gelegen haben, davon zwölf Hufenbauern, acht Kossäten und ein Schäfer, die in 27 bis 28 Häusern lebten. Zu einem Großbrand, der weite Teile des Dorfes zerstörte, kam es im Jahr 1727. 1774 übte der Küster Brielows gleichzeitig die Funktion des Dorfschullehrers aus. Radeweges Schule lag um das Jahr 1800 im südwestlichen und ein Spritzenhaus und eine Schmiede im östlichen Bereich des Dorfes. Für die Jahre 1813, 1890 und 1901 sind für Radewege mehrere Großbrände vermerkt.
1815 wurden im Königreich Preußen nach den Befreiungskriegen und den damit zusammenhängenden politischen Veränderungen Provinzen gebildet. Die Gebiete um die Stadt Brandenburg wurden der neuen preußischen Provinz Brandenburg angegliedert. Ein Jahr später wurde in Brandenburg der Landkreis Westhavelland gegründet, zu dem die Orte Brielow und Radewege gehörten. In der gesamten Gegend entlang der Havel und der mit ihr verbundenen Seen gab es zu Beginn und im Verlauf des 19. Jahrhunderts und mit der beginnenden und voranschreitenden Industrialisierung in Preußen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Aufgrund reicher Tonvorkommen in der Gegend und der Nähe des Sees wurden unter anderem um die Ortschaften Brielow und Radewege mehrere Ziegeleien errichtet. Die Havel ermöglichte einen Transport in die Industriezentren. Die gebrannten Klinker wurden vor Ort auf Lastkähne verladen und mit dem Schiff in die Städte Brandenburg, Potsdam und Berlin transportiert. Eine Schiffsladung bestand üblicherweise aus etwa 40.000 bis 50.000 Ziegelsteinen. Die Klinkerproduktion wurde teilweise noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aufrechterhalten. Dann erschöpften sich die Tonvorkommen und modernere Werkstoffe wurden eingesetzt. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs durch die Ziegeleiindustrie wuchsen die Ortschaften entlang des Beetzsees in kurzer Zeit teilweise beträchtlich. So kam Brielow innerhalb weniger Jahre bis 1858 auf 322 Einwohner. Zu dieser Zeit gab es im Ort 38 Wohnhäuser und 111 Wirtschaftsgebäude, darunter vier Ziegeleien, während in Radewege sechs Jahre zuvor drei Ziegeleien gezählt wurden. Im 19. Jahrhundert hatte Beetzsee fünf Windmühlen, davon drei in Brielow und zwei in Radewege. 1886 wurde eine erste Molkerei in Radewege eingerichtet.
20. und 21. Jahrhundert
1900 hatten neben weiteren Gewerbetreibenden der Besitzer einer Stärkefabrik und ein Petroleumhändler in Brielow ihren Sitz. Radewege wuchs vom alten Ortskern aus vor allem nach Osten entlang des Beetzseeufers. 1907 lebten im Ort ein Schmied, ein Bäckermeister, ein Ziegeleibesitzer, zwei Müller und es gab zwei Gasthöfe. Drei Jahre zuvor war Beetzsee an das deutsche Schienennetz angeschlossen worden. In diesem Jahr wurde eine über Brielow und Radewege führende Zweigstrecke der seit 1901 bestehenden Westhavelländischen Kreisbahnen eröffnet, die Brandenburg mit Nauen im Nordosten verband. Haltepunkte waren neben Brielow und Radewege im heutigen Beetzsee Radewege Ziegelei und Brielow Ausbau. Die Eisenbahnverbindung spielte vorrangig beim Güterverkehr für die Beetzseegemeinden vor allem für den Transport von landwirtschaftlichen Produkten und Ziegeleierzeugnissen eine wichtige Rolle. Nach dem Niedergang des Bahnverkehrs wurde die Verbindung über Brielow und Radewege 1969 eingestellt und in der Folge zurückgebaut. Lediglich Brielow Ausbau verfügt noch über eine kurze Anbindung, die als Abstellgleis verwendet wird.
Im Ersten Weltkrieg fielen 34 Bewohner Brielows oder wurden als vermisst gemeldet. Aus Radewege waren es 29. In der Zwischenkriegszeit wuchs die Bevölkerung weiter rasch an. So lebten in Radewege 1933 607, sechs Jahre später bereits 672 Personen. Im selben Zeitraum wuchs die Bevölkerung Brielows von 679 auf 829 an.
Während der letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs kam es nördlich von Brandenburg zu größeren Kampfhandlungen. Dabei ließen ab Ende April 1945 über 300 sowjetische Soldaten ihr Leben. Sie wurden am südlichen Rand von Brielow beerdigt. 1947 wurde dieser Friedhof zu einer Gedenkstätte mit Ehrenmal ausgebaut. Für Radewege werden 23 und für Brielow 49 gefallene oder vermisste Bewohner als Opfer des Krieges angegeben.
Im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone ab 1945 wurde Landbesitz, welcher größer als 100 Hektar war, enteignet und unter landloser oder landarmer Bevölkerung neu aufgeteilt. Dies betraf beispielsweise in Radewege ein Gut mit 177 Hektar. 1952 fand in der 1949 gegründeten DDR eine Verwaltungsreform statt. Die Länder wurden aufgelöst und dafür Bezirke gebildet. In diesem Zusammenhang war auch eine Umstrukturierung der bestehenden Kreise notwendig geworden. So wurde der Landkreis Westhavelland, zu dem die Orte gehörten, aufgelöst, und die Gemeinden dem neuen Kreis Brandenburg (Land) im Bezirk Potsdam angegliedert. Ab 1953 erfolgte wie überall in der DDR in den heutigen Ortsteilen Beetzsees die Kollektivierung der Agrarbetriebe, die durch die Bodenreform teils sehr klein waren, um rentabel beziehungsweise effektiv geführt zu werden, in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). In Brielow wurde eine große Rindermastanlage eingerichtet. Daneben wurde Brielow Sitz einer Kooperative Abteilung Pflanzenproduktion (KAP), der die Pflanzenproduktionen der LPG der Umgebung angegliedert wurden.
Mit den politischen Umwälzungen der Jahre 1989 und 1990 kam es wiederum zu Veränderungen. 1990 wurde der Bezirk Potsdam aufgelöst und ging im wiedergegründeten Land Brandenburg auf. Nach der Wiedervereinigung wurde 1993 der neue Landkreis Potsdam-Mittelmark gegründet, in dem der Landkreis Brandenburg aufging. Im Vorfeld der für 2003 geplanten brandenburgischen Gemeindegebietsreform schlossen sich zum 1. Februar 2002 Brielow, Radewege und Marzahne freiwillig zur Gemeinde Beetzsee zusammen. Am 1. Januar 2008 wechselte Marzahne in die benachbarte Stadt Havelsee. Im Zuge der Suburbanisierung um die Stadt Brandenburg in den Nachwendejahren verzeichneten Brielow und Radewege teilweise starke Zuzüge. In diesem Zusammenhang wurden neue Siedlungen mit Einfamilienhäusern errichtet.
Gemeinde- und Ortsnamen
Der Name Beetzsee wurde für die Gemeinde gewählt, da eine Neugründung unter Einbeziehung aller fusionswilligen Orte und keine Eingemeindung in einen Ort beabsichtigt war. Dies sollte durch einen neuen Namen deutlich werden. Da der angrenzende See das Bild der Gemeinde dominiert, fiel die Wahl auf Beetzsee. Der Ursprung des Namens Beetzsee ist nicht genau geklärt. So wird beispielsweise ein eventueller Zusammenhang zu anderen möglichen Namen von Seen (Bützsee, Bötzsee, Bützowsee) hergestellt. Ein Entlehnung aus dem Urslawischen wird diskutiert. So wird beispielsweise ein Bezug zu bъčъ für „großes Gefäß“ oder „Feldbrunnen“ oder bučatri für „vor Feuchtigkeit anschwellen“ oder „faulen“ vermutet.
Der Name Brielows ist wie der der meisten umliegenden Ortschaften slawischen Ursprungs. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort als „Brilow“ 1290. Der Name leitet sich vom polabischen Wort bryla für „Klumpen“ oder „Scholle“ ab. Mit Brielow wird also eine Ortschaft auf klumpigem beziehungsweise scholligem Gelände beschrieben. Radewege wurde erstmals 1335 urkundlich als „Radenwede“ erwähnt. Der Ursprung dieses Namens ist nicht genau geklärt. Möglich erscheint der slawische Personenname Radoved, sodass Radewege als Wohnstätte eines Mannes dieses Namens beschrieben wurde.
Politik
Gemeindevertretung
Der Gemeindevertretung Beetzsees gehören 16 Frauen und Männer sowie der ehrenamtliche Bürgermeister an. Die letzte Kommunalwahl fand am 25. Mai 2014 statt. Die Wahlen waren kombinierte Personen- und Listenwahlen. Jeder Wähler konnte bis zu drei Stimmen abgeben. Nachdem es bei der vorausgehenden Kommunalwahl nur geringfügige Veränderungen meist im niedrigen einstelligen Prozentbereich gab, kam es 2014 zu oftmals deutlichen Gewinnen und Verlusten. So verlor die dennoch mit deutlichem Abstand erstplatzierte Bürgerliste Beetzsee mit 34,8 Prozent gegenüber der Kommunalwahl 2008 15 Prozentpunkte. Für die Bürgerliste zogen damit sechs statt zuvor acht Abgeordnete in das Kommunalparlament ein. 2008 hatte sie mit 49,8 Prozent 1,4 Prozentpunkte hinzugewonnen und die absolute Mehrheit nur um sechs Stimmen verpasst.
Zweitplatzierte wurde 2014 die CDU, die ihren Stimmenanteil gegenüber 2008 von 11,7 Prozent auf 23,5 Prozent verdoppeln konnte und für die vier Kandidaten in die Gemeindevertretung gewählt wurden. 2008 waren noch zwei Abgeordnete gewählt worden. Die Wahlliste (Für) Recht und Ordnung verlor über acht Prozentpunkte und einen Sitz und kam auf 23,0 Prozent gegenüber 31,4 Prozent 2008. Sie stellt ebenfalls vier Gemeindevertreter. Mit einer Kandidatin neu angetreten, kam Die Linke auf 6,7 Prozent und konnte den angestrebten Sitz erringen. Den 16. Sitz in der Gemeindevertretung errang trotz Verlusten der Einzelbewerber Torsten Richter, der seinen 2008 gewonnenen Sitz verteidigen konnte. Er errang 4,4 Prozent gegenüber 6,2 Prozent 2008, als er erstmals antrat. Die übrigen 7,6 Prozent der Wählerstimmen verteilten sich auf drei weitere Einzelkandidaten, die jedoch keinen Sitz erringen konnten.
Die CDU und Die Linke holten bei der Wahl das Optimum an möglichen Sitzen, da jeweils alle aufgestellten Kandidaten gewählt wurden. Fünf Abgeordnete der Gemeindevertretung sind weiblich. Dies sind zwei mehr als in der vorherigen Legislaturperiode. Drei der Gemeindevertreterinnen stellt wie bereits zuvor die Wählergruppe (Für) Recht und Ordnung und neu jeweils eine die CDU und Die Linke.
Bürgermeister
Am 25. Mai 2014 wurde Rainer Britzmann als Kandidat der CDU für eine Amtszeit von fünf Jahren zum neuen Bürgermeister der Gemeinde Beetzsee gewählt. Er stellte sich ohne Gegenkandidaten zur Wahl. Bei einer Wahlbeteiligung von 50,4 Prozent stimmten 60,8 Prozent (638 Wähler) für und 39,2 Prozent (411 Wähler) gegen ihn.
Britzmann löste Manfred Gorecki ab, der sich bei der Wahl 2008 mit 73,1 Prozent der gültigen Stimmen (815 Wähler) gegen Elisabeth Elsner mit 26,9 Prozent (300 Wähler) durchgesetzt hatte. Gorecki war als Kandidat der Bürgerliste Beetzsee angetreten, während Elsner für die Wählervereinigung PRO kandidierte. Es war die zweite Amtsperiode Goreckis, der schon fünf Jahre zuvor am 19. November 2003 zum Bürgermeister Beetzsees gewählt worden war.
Der angesetzte Wahltermin 26. Oktober 2003 war aufgrund eines fehlenden Bewerbers abgesagt worden, und so musste der Bürgermeister im November von der Gemeindevertretung gewählt werden. Zuvor war Gorecki Bürgermeister des noch selbstständigen Brielows gewesen.
Wappen
Die 2002 gegründete Gemeinde Beetzsee führt bislang kein Wappen.
Sehenswürdigkeiten
Bauwerke
Sehenswert ist in Brielow die Dorfkirche, eine Saalkirche mit einem barocken Turm aus dem 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert und einem historistischen Kirchenschiff aus dem Jahr 1873. Der barocke Westturm ist schlicht gestaltet, das Schiff im Stil der Neuromanik gebaut. Es wurde aus roten Klinkern, dem typischen Werkstoff der Region dieser Zeit, gemauert. Auf der Nordseite befindet sich zentral in einem Risalit das Hauptportal der Kirche. Es ist zweistufig und hat eine verkröpftes Gesims. Die Kirche befindet sich versteckt beziehungsweise durch ein weiteres Gebäude und Bäume verdeckt, abseits der Brielower Hauptstraße. Der Zugang vom Dorf erfolgt durch ein altes schmiedeeisernes Tor. Entlang der Hauptstraße gibt es neben der Kirche weitere denkmalgeschützte Gebäude. So sind das Gutshaus in der Hauptstraße 41 und die Wohnhäuser Hauptstraße 7 und 34 als Baudenkmale ausgewiesen. Am südlichen Dorfausgang befindet sich ein Militärfriedhof mit einem sowjetischen Ehrenmal für die zum Ende des Zweiten Weltkriegs in und um Brielow gefallenen Soldaten der Roten Armee. Insgesamt wurden auf dem Friedhof 368 Soldaten und 23 Zivilisten beerdigt.
Die Radeweger Dorfkirche ist eine Saalkirche im Zentrum des Dorfes. Um das Jahr 1400 herum soll die Hauptbauphase anzusetzen sein. 1607 wurde die Kirche bei einem Brand beschädigt und bis 1608 wieder neu aufgebaut. Im 18. Jahrhundert wurde der Kirchturm ausgebaut. So wurde ihm eine zwiebelförmige Turmhaube aufgesetzt. Das heutige flache Zeltdach wurde nach 1973 aufgesetzt, nachdem die vorbestehende Turmhaube in Folge eines Blitzeinschlags beschädigt worden war. Die Kirche mit Westturm, Schiff und Chor wurde aus roten Ziegelsteinen und aus Feldsteinen mit Kalkmörtel gemauert. Den Innenraum trägt ein klassisches gemauertes Kreuzrippengewölbe und Dienste. Die Orgel nach Plänen des Orgelbaumeisters Carl Eduard Gesell, eine sogenannte Schleifladenorgel, wurde in den Jahren 1894 und 1895 auf der neu errichteten Westempore gebaut. Eine hölzerne Renaissance-Kanzel stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Neben dieser Kanzel wurde eine kunstvoll vorkragende Sakramentsnische eingearbeitet. Über dieser steht eine hölzerne, farbig gefasste Madonna mit Kind. Um die Sakramentsnische wurde die Nordostwand des Chores farbig mit einem gemalten Blattwerk verziert. Neben der Kirche stehen in Radewege die Wohnhäuser in der Dorfstraße 1 und 58 unter Denkmalschutz.
Die Liste der Baudenkmale in Beetzsee enthält die in der Denkmalliste des Landes Brandenburg eingetragenen Baudenkmale.
Natur- und Bodendenkmale
Im Brielower Kirchhof südlich der Kirche steht ein jahrhundertealtes Naturdenkmal, die Schwedenlinde. Unter ihr soll ein während des Dreißigjährigen Krieges gefallener schwedischer Offizier beerdigt sein. Der Baum wurde im Laufe der Zeit mehrfach durch Ketten und Stahlseile gesichert. Sie gilt mit einem Stammumfang von 11,65 Meter als dickster Baum Brandenburgs. Daneben war zwischen Brielow und Radewege Siedlung eine Kastanienallee als Naturdenkmal ausgewiesen. Dieses wurde aus der Liste gelöscht.
An der Gemeindegrenze zur Stadt Brandenburg befinden sich die als Bodendenkmal geschützten Schwedenwälle beziehungsweise Schwedenschanzen. Diese sind eine spätmittelalterliche beziehungsweise frühneuzeitliche Verteidigungsanlage zwischen dem nördlichen Bohnenländer See und dem Grönschen Bruch Brielow. Die beiden Wälle und drei Gräben wurden von der Altstadt Brandenburg als Landwehr angelegt und später im Zuge des Dreißigjährigen Krieges vom Volksmund mit ihrem heutigen Namen benannt.
Weitere Bodendenkmale sind in der Liste der Bodendenkmale in Beetzsee aufgeführt.
Schutzgebiete
Eine Vielzahl von sich teilweise überlappenden Schutzgebieten befindet sich in der Gemeinde. Beetzsee liegt beispielsweise mit seiner gesamten Fläche im Bereich des Naturparks Westhavelland. Einige Schutzgebiete überschreiten in Anteilen die Gemeindegrenze. Es gibt ein Naturschutzgebiet, ein Landschaftsschutzgebiet, einen Naturpark, drei geschützte Landschaftsbestandteile, ein Flächennaturdenkmal, ein Naturdenkmal und ein SPA-Gebiet (europäisches Vogelschutzgebiet). Daneben sind weitere Bereiche als geschützte Biotope und einige Straßen als geschützte Alleen ausgewiesen.
Naturpark Westhavelland
Die Gemeinde Beetzsee ist ein Teil des sich entlang der Unteren Havel erstreckenden Naturparks Westhavelland, mit 1315 Quadratkilometern Fläche das größte Schutzgebiet in Brandenburg. Es umfasst eines der größten zusammenhängenden Feuchtgebiete des europäischen Binnenlandes und Mitteleuropas und ist größtes Rast- und Brutgebiet für Wat- und Wasservögel im Binnenland. Die Feuchtgebiete sind auch einer der größten Binnenrastplätze nordischer Zugvögel. Im Frühjahr rasten auf den Seen und flach überstauten Wiesen entlang der Havel tausende Gründel- und Tauchenten. Große Schwärme Watvögel suchen nach Nahrung, ehe sie in ihre nördliche und östliche Heimat weiterziehen. Teilweise finden die Vögel dort aber auch geeignete Brutgebiete und so beherbergen die Niederungen des Naturparks den bedeutendsten Anteil der stark gefährdeten und vom Aussterben bedrohten Wiesenbrüter Brandenburgs. Im Schutzgebiet nisten beispielsweise der Große Brachvogel, Kiebitze, Uferschnepfen, Rotschenkel, Bekassinen und Wachtelkönige. Es brüten bedrohte Entenarten wie die Löffelente, die Knäkente und die Schnatterente. Auch Spießenten sind dort noch heimisch. An Greifvögeln gibt es See- und Fischadler, Milane und Wiesenweihen. Der Kampfläufer ist das Wappentier des Naturparks Westhavelland. In den Herbstmonaten durchziehen Graugänse und Kraniche den Naturpark. Neben der Vielzahl von Vögeln leben am Beetzsee auch Biber und Fischotter.
Naturschutzgebiet Marzahner Fenn und Dünenheide
Das Marzahner Fenn im Norden Beetzsees ist Teil des Naturschutzgebietes Marzahner Fenn und Dünenheide. Dieses 725 Hektar große Naturschutzgebiet zeichnet sich durch einen engen räumlichen Bezug verschiedener Lebensräume aus. So gibt es naturnahe Erlen- und Kiefernwaldgesellschaften auf nährstoffarmen Standorten, Wasserflächen, leichte Höhenzüge mit nur extensiv genutzten Trockentälern, sogenannte Zwergstrauch- und Dünenheiden, kleine Niedermoore, Feucht- und Nasswiesen. Aufgrund der unterschiedlichen Lebensräume leben im Schutzgebiet eine Vielzahl von teilweise gefährdeten Pflanzen- sowie Vogel-, Reptilien- und Amphibienarten. Nach Angaben des Naturschutzbundes Deutschland gelten 78 der 156 im Marzahner Fenn und in der Dünenheide nachgewiesenen Wirbeltierarten als gefährdet. Das Gebiet stellt ein ökologisches Bindeglied zwischen dem Beetzsee und dem Riewendsee im Osten, der Havelniederung im Westen und dem Havelländischen Luch im Norden dar. Einige der im Naturschutzgebiet lebenden Tier- und Pflanzenarten sind Fischadler, Schreiadler, Baumfalke, Bekassine, Wachtel, Kranich, Raubwürger, Zauneidechse, Ringelnatter, Knoblauchkröte, Moorfrosch, Kammmolch, Blutweiderich und Tausendblatt. Das Naturschutzgebiet Marzahner Fenn und Dünenheide ist in seiner Gänze Teilgebiet des europäischen Vogelschutzgebietes (SPA-Gebiet) Mittlere Havelniederungen und im nördlichen Bereich Teilgebiet des FFH-Gebiets Weißes Fenn und Dünenheide. Es gehört zum europäischen Schutzgebietsnetz Natura 2000.
Wirtschaft
Hauptwirtschaftszweige Beetzsees sind der Tourismus und die Landwirtschaft. In Beetzsee gibt es ausschließlich klein- und mittelständische Unternehmen. Ein größeres Industriegebiet befindet sich in Brielow Ausbau. Dort ist neben anderen Betrieben eine mittelständische Maschinenbaufirma und ein Drahtwerk angesiedelt.
Tourismus
In der Gemeinde hat durch die direkte Lage am Beetzsee und die umliegende Landschaft vor allem der Natur-, Wasser- und Wassersporttourismus eine zunehmende, auch wirtschaftliche Bedeutung. Segel- und Motorbootsport sind auf seiner ganzen Fläche möglich. Bademöglichkeiten bieten neben dem Beetzsee auch eine Vielzahl von Tongrubenseen. Auch Wasserwanderungen aus Richtung der Unteren Havel entlang der Beetzsee-Riewendseekette sind bei Touristen beliebt. Neu sind Fahrten und Urlaube in gemieteten führerscheinfreien Hausbooten auf dem See. Bei Eisfreiheit ist der Beetzsee über die Havel und den mit ihr verbundenen Wasserstraßen ganzjährig mit privaten Booten erreichbar. Es gibt mehrere Hotel- beziehungsweise Ferienhausanlagen in den Orten und viele Brandenburger haben ihre Wochenend- und Ferienhäuser in der Gemeinde und entlang des Sees. Seit mehreren Jahren berührt der Beetzsee-Havel-Radweg und der Storchenwanderweg die Gemeinde. Beide führen als Rundwege um den Beetzsee. Die Ferienregion Beetzsee ist eine der Urlaubsregionen Brandenburgs mit den höchsten Zuwächsen.
Land- und Forstwirtschaft
Die Landwirtschaft ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Gemeinde. 1297 Hektar der Flächen Beetzsees werden landwirtschaftlich genutzt. Das entspricht einem Anteil von 61,4 Prozent. Die natürlichen Voraussetzungen für Ackerbau sind unterschiedlich zu bewerten. Einerseits dominieren in weiten Gebieten sandige, trockene und nährstoffarme Böden, andererseits sind weite Bereiche ehemaliger Moorflächen ertragreich. Als Gebiet mit sehr hohem Ertragspotential ist die pseudogleyhaltige ausgedehnte Landwirtschaftsfläche nördlich von Radewege beschrieben. Weitere landwirtschaftliche Flächen mit hohem Ertrag befinden sich im Marzahner Fenn, in der Butter Laake und zwischen Brielow und Radewege. Größter lokaler Erzeuger ist die Brielower Agrar GmbH, in der vorher genossenschaftliche Betriebe organisiert wurden.
In Beetzsee gibt es 360 Hektar Waldfläche. Größte zusammenhängende Waldgebiete sind nördliche Ausläufer des Altstädtischen Forstes sowie die bewaldeten Höhenzüge des Schwarzen Berges und der nach Nordwesten verlaufenden Hügelkette. Die weitaus größten Teile der forstwirtschaftlichen Flächen sind mit Kiefern bestockt. Bei den Kiefernforsten handelt sich meist um einstufige Reinbestände, sogenannte Altersklassenwälder. Hintergrund ist, dass in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg umfangreiche Kahlschläge erfolgten, die unter der Vorgabe einer maximalen Holzproduktion monokulturell wieder aufgestockt wurden. In den letzten Jahren ist jedoch ein forstwirtschaftlicher Umbau dieser Wälder festzustellen. Es wird verstärkt von Kahlschlägen und monokultureller Aufforstung abgesehen und stattdessen die Entwicklung von naturnäheren Laubmisch- und Laubwäldern vorangetrieben.
Infrastruktur
Verkehr
Hauptachse des Straßenverkehrs ist die Landesstraße 98, die von Brandenburg nach Rathenow führt. Sie ist die meistbefahrene Straße der Gemeinde. Von Süden durchquert sie aus Brandenburg kommend Brielow Ausbau, Brielow und Radewege Siedlung, bevor sie am Rande des Marzahner Fenns nach Havelsee die Gemeinde verlässt. Nördlich von Radewege Siedlung zweigt die Landesstraße 981 ab und führt quer durch Radewege. Diese Landesstraße endet im äußersten Osten an der Landesstraße 911, die auf einem kurzen Stück zwischen Mötzow und Butzow, die zu Beetzseeheide gehören, durch das Gemeindegebiet führt. Weiterhin gibt es kommunale und private Straßen.
Die Gemeinde Beetzsee liegt mit einigen Hafenanlagen an der Beetzsee-Riewendsee-Wasserstraße, einer Bundeswasserstraße. Auf Höhe der Gemeinde ist sie mit der Klasse IV ausgewiesen. Dies bedeutet, dass sogenannte Europaschiffe mit den Abmessungen 85 Meter Länge, 9,50 Meter Breite und 2,50 bis 3,00 Meter Tiefgang zugelassen sind. Der Beetzsee wird von solchen Schiffen jedoch nur im äußersten Süden auf kurzer Strecke zwischen der Schleuse Brandenburg und dem Silokanal befahren. Während der See im Bereich der Gemeinde früher ein bedeutender Verkehrsweg für die Berufsschifffahrt war, hat sich dieses Bild mittlerweile vollständig geändert. Berufsschifffahrt in Form von Frachtschiffverkehr findet faktisch nicht mehr statt. Nur Wasserfahrzeuge für Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten im Bereich der Wasserstraße und Fahrgastschiffe befahren neben der Freizeit- und Sportschifffahrt den See auf Höhe der Gemeinde. Bei Letzteren gab es im Gegensatz zur Berufsschifffahrt in den letzten Jahrzehnten einen sehr starken Zuwachs, sodass der See gerade in den Frühjahrs- und Sommermonaten viel befahren ist. Die Hafenanlagen umfassen Anleger für Fahrgastschiffe in Brielow und Radewege und Marinas für Motor- und Segelboote.
Mit der Einstellung des Verkehrs auf der durch Brielow und Radewege führenden Strecke der Westhavelländischen Kreisbahnen in den 1960er Jahren und dem weitgehenden Rückbau des Gleises wurde das heutige Beetzsee fast vollständig vom deutschen Schienennetz abgekoppelt. Einzig Brielow Ausbau im Süden verfügt noch über einen Schienenstrang von knapp 500 Meter Länge, der nach Brandenburg angebunden ist und den Rest der Strecke der Kreisbahnen darstellt. Dieser wird vor allem als Abstellgleis für Güterwaggons verwendet.
Seit der Stilllegung der Bahnstrecke ist der Busverkehr heute der einzige Träger des öffentlichen Personennahverkehrs in der Gemeinde. Brielow Ausbau wird an Wochentagen an zwei Haltestellen von der Verkehrsbetriebe Brandenburg an der Havel GmbH (VBBr) mit der Stadtbuslinie C bedient. Weiterhin verkehren drei regionale Buslinien durch Beetzsee. Diese werden von der Verkehrsgesellschaft Belzig mbH (VGB) befahren. Bedeutendste Linie ist die 569, die von Brandenburg nach Päwesin beziehungsweise Riewend über Brielow Ausbau, Brielow, Radewege Siedlung und Radewege führt. Sie ist die einzige Linie, die auch am Wochenende und an Feiertagen verkehrt und eine gewisse Taktung aufweist. Daneben werden an Schultagen die Linien 564 von Brandenburg über Brielow nach Havelsee und 552 von Brandenburg über Mötzow nach Radewege befahren. Diese Linien fahren ohne Takt und werden nur mit einzelnen Fahrten bedient. Beetzsee liegt im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg und ist in dessen Tarifsystem integriert. So ist es möglich, im Nahverkehr mit verschiedenen Verkehrsträgern, beispielsweise von den Städten Berlin, Potsdam oder Brandenburg mit einem einzelnen Fahrschein nach Beetzsee zu fahren.
Bildung, öffentliche Einrichtungen
Die einzige Schule in der Gemeinde ist die heutige Grundschule „Am Beetzsee“ in Radewege, die unmittelbar am Hasselberg im Osten des Dorfes liegt. In ihr werden primär die Schüler Beetzsees und der Ortsteile Butzow, Gortz und Ketzür der Gemeinde Beetzseeheide bis zum Ende der sechsten Klasse unterrichtet. Die Radeweger Schule wurde am 1. Juni 1962 als Neubau eingeweiht und war bis 1991 eine zehnklassige Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule. Von 1976 bis 1991 trug sie den Namen „Wladimir Iljitsch Lenin“. Anschließend wurde sie in eine Grundschule umgewandelt. Die nächstgelegenen weiterführenden Schulen befinden sich in der Stadt Brandenburg.
In Brielow und in Radewege gibt es jeweils einen Kindergarten. Die Freiwillige Feuerwehr Beetzsee besteht aus den Freiwilligen Feuerwehren Brielow und Radewege. In beiden Ortsteilen gibt es Feuerwehrhäuser mit Lösch- und Einsatzfahrzeugen. Die Gemeinde hat ihren Sitz in Brielow Ausbau in der Chausseestraße 33 b. Dort befindet sich auch der Sitz des Amtes Beetzsee mit dem Standesamt, Bauamt, Amt für Ordnung und Soziales und dem Amt für zentrale Dienste und Finanzen.
Medizinische Einrichtungen
Eine Allgemeinarzt-, eine Kinderarzt- und eine Zahnarztpraxis in Brielow gewährleisten die medizinische ambulante Grundversorgung in der Gemeinde. Weiterhin gibt es neben der Allgemeinarztpraxis eine Physiotherapeutische Praxis im selben Gebäude. Die nächstgelegenen Krankenhäuser befinden sich in der Stadt Brandenburg. Das dortige Universitätsklinikum Brandenburg an der Havel dient als Krankenhaus der Schwerpunktversorgung. Das Sankt-Marien-Krankenhaus ist ein geriatrisches, die Asklepiosklinik ein neurologisches und psychiatrisches Spezialkrankenhaus und die Heliosklinik Hohenstücken eine neurologische Rehabilitationseinrichtung. Für den Rettungsdienst sind die Rettungswachen in Brandenburg und Bollmannsruh (Päwesin) zuständig. Der nächstgelegene Standort eines Rettungshubschraubers befindet sich ebenfalls in der Stadt Brandenburg. In Brielow existiert eine veterinärmedizinische Einrichtung, die Pferdeklinik Havelland, in der Pferde umfassend medizinisch behandelt werden können.
Medien und Sport
Die Tageszeitung mit der meistverkauften Auflage in Beetzsee ist die Märkische Allgemeine mit Sitz in Potsdam. Die auch für die Gemeinde zuständige Lokalredaktion hat ihren Sitz im benachbarten Brandenburg an der Havel. Daneben gibt es die beiden kostenlosen, über Anzeigen finanzierten Zeitungen Brandenburger Wochenblatt (BRAWO) und PreussenSpiegel, die regionale und lokale Nachrichten publizieren.
In Radewege gibt es einen kommunalen Sportplatz und eine Sporthalle. Beide Einrichtungen werden für den Schul- und Vereinssport genutzt. Weiterhin existieren in Beetzsee Reitsportanlagen. Sportvereine in der Gemeinde sind die SG Blau-Weiß 90 Brielow, der SV Nordstern Radewege mit den Sparten Volleyball, Gymnastik und Radwandern und der Reit- und Fahrverein Beetzsee 93. Unmittelbar südöstlich der Gemeinde befindet sich die internationale Wettkampfstätte Regattastrecke Beetzsee, auf der regelmäßig Ruder- und Kanuwettkämpfe stattfinden. Daneben ist der Beetzsee ein ausgewiesenes Segelrevier.
Persönlichkeiten
Corinna Breite (* 1967) ist Schauspielerin und Kommunalpolitikerin in Beetzsee und lebt in Radewege.
Oliver Breite (* 1963) ist Theater- und Filmschauspieler und lebt in Radewege.
Karl Neumann (1916–1985) war ein deutscher Kinder- und Jugendschriftsteller, lebte seit 1972 in Brielow und starb in Radewege.
Gertrud Piter (1899–1933) war eine Gewerkschafterin, Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus und wurde in Brielow geboren.
Paul Pribbernow (* 1947) ist ein deutscher Karikaturist und lebt in Radewege.
Jens Riechers (* 1964) war ein Rugby-Union-Nationalspieler der DDR, ist Kommunalpolitiker in Beetzsee und wohnhaft in Radewege.
Literatur
Günther Mangelsdorf: Die Ortswüstungen des Havellandes. de Gruyter, Berlin 1994, ISBN 3-11-014086-1.
Uwe Czubatynski (Hrsg.): Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel. Becker, Potsdam 2012, ISBN 978-3-88372-044-9.
Weblinks
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Potsdam-Mittelmark
Gemeindegründung 2002 |
85032 | https://de.wikipedia.org/wiki/Anna%20Andrejewna%20Achmatowa | Anna Andrejewna Achmatowa | Anna Andrejewna Achmatowa (gebürtige Gorenko; bzw. Горенко, wiss. Transliteration / Gorenko; * in Bolschoi Fontan bei Odessa, Russisches Kaiserreich; † 5. März 1966 in Domodedowo bei Moskau, Russische SFSR) war eine russische Dichterin und Schriftstellerin. Sie gilt als die Seele des Silbernen Zeitalters in der russischen Literatur und als bedeutende russische Dichterin. Ihr späteres Schaffen ist vor allem von den Schrecken der stalinistischen Herrschaft geprägt, während der sie selbst Schreibverbot hatte, ihr Sohn und ihr Mann inhaftiert waren und viele ihrer Freunde ums Leben kamen.
Leben
Kindheit und Jugend
Anna Gorenko wurde am 23. Juni 1889 in dem Dorf Bolschoi Fontan bei Odessa als drittes von sechs Kindern in die Familie eines Marine-Ingenieurs geboren; die Familie übersiedelte aber bereits 1890 nach Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg, wo Anna bis zu ihrem 16. Lebensjahr in sozial privilegierter Umgebung aufwuchs. Sie beschrieb später ihre Kindheitserinnerungen an die Parks, die Pferderennbahn und den alten Bahnhof des Ortes. Die Sommermonate verbrachte die Familie meist bei Sewastopol am Schwarzen Meer. Früh lernte sie in der Schule auch Französisch. Ihre ersten Gedichte schrieb sie im Alter von elf Jahren nicht unter dem Namen Gorenko, da ihr Vater um seinen guten Ruf fürchtete – sie wählte den Namen ihres bulgarischen Urgroßvaters Chan Achmat als Pseudonym.
Wie Puschkin 90 Jahre vor ihr erhielt Achmatowa ihre Schulausbildung im exklusiven Lyzeum von Zarskoje Selo. Ihr Verhältnis zu dem wichtigsten russischen Dichter zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten: Im September 1911, zum 100-jährigen Jubiläum des Lyzeums, verfasste sie ein kurzes Gedicht mit dem Titel Der dunkelhäutige Knabe schlenderte durch die Alleen, in dem es Anspielungen auf den jungen Puschkin gibt. Bereits in diesem Gedicht wird die typische Metonymietechnik der Achmatowa deutlich: Ohne Lyzeum und Puschkin beim Namen zu nennen, wird durch typische Eigenschaften und Gegenstände (hier: dunkelhäutig, der Lyzeums-Dreispitz usw.) klar, wer und was gemeint ist.
Nachdem ihre Eltern sich 1905 getrennt hatten, lebte sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern ein Jahr lang in Jewpatorija auf der Krim. Das letzte Schuljahr verbrachte sie schließlich am Kiewer Funduklejew-Gymnasium. Von 1907 bis 1910 studierte Achmatowa in Kiew in „Höheren Frauenkursen“ Jura, wobei sie sich vor allem für die Grundkurse in Rechtsgeschichte und Latein interessierte und den rein juristischen Fachthemen gleichgültig gegenüberstand.
Im Jahr 1910 heiratete sie den Dichter Nikolai Gumiljow, den sie schon seit ihrer Schulzeit kannte und der ihr lange und verzweifelt den Hof gemacht hatte. Es folgten gemeinsame Reisen nach Paris und Italien, wo sie u. a. den Künstler Modigliani traf – seine Zeichnungen der Achmatowa sind später berühmt geworden – und Zeugin der ersten triumphalen Erfolge der russischen Balletttänzer in Westeuropa wurde. Malerei und Architektur Italiens beeindruckten sie tief.
Vor der Revolution
Achmatowa, Gumiljow und Ossip Mandelstam wurden zu den zentralen Vertretern der Literaturbewegung des Akmeismus (von griech. akme, Gipfel, Höhepunkt, Blütezeit). Die so genannte „Zeche“ um diese Dichter bildete eine Gegenströmung zum Symbolismus, dessen Metaphorik des Jenseitigen, Metaphysischen die Akmeisten eine eigene Poesie jedes „irdischen Dings“ und eine entschiedene Diesseitigkeit entgegensetzten. Achmatowas Gedichte zeichnen sich daher durch eine einfache und prägnante Sprache aus. Anders als bei den „esoterisch“ angehauchten Treffen der Symbolisten waren die Zusammenkünfte der Akmeisten eher „Workshops“, in denen u. a. neue Schreibtechniken erarbeitet wurden.
Neben Puschkin fand Achmatowa ihre dichterischen Wurzeln bei Innokenti Annenski (1856–1909), einem Vorläufer der Akmeisten, außerdem bei dem französischen Symbolisten Verlaine und dem jungen Majakowski.
Nach ihrer Rückkehr nach Sankt Petersburg studierte Achmatowa Literaturgeschichte und schrieb die Gedichte, die in ihren ersten Gedichtband Abend (, 1912) eingingen. Es waren vor allem Liebesgedichte, in denen sie Trennung, Kummer und Liebesleid beschrieb wie beispielsweise in der letzten Strophe ihres Gedichtes „Lied von der letzten Begegnung“:
Sie verwendete in ihren lakonischen, knappen Gedichten Alltagssprache, in denen Gefühle gestisch angedeutet werden. Ein linker Handschuh, der aus Versehen auf die rechte Hand gestreift wird, wird zum Ausdruck der Verzweiflung und Verwirrtheit der Beschriebenen, die äußerlich ruhig bleibt:
Im Oktober 1912 wurde Achmatowas einziger Sohn Lew geboren. Schon 1914 erschien ihr zweites Buch, Rosenkranz (), das trotz der Ereignisse des beginnenden Weltkrieges, wie schon der erste Band, ein großer Erfolg wurde. Diese Sammlung enthielt auch das im Januar 1914 entstandene Gedicht Für Alexander Blok (), ein Indiz für ihre enge Beziehung zu dem Dichter des Symbolismus, die sie immer wieder als platonisch, „ausschließlich poetisch“ bezeichnete. Auch von Alexander Blok gibt es eine Reihe von Gedichten, die der Achmatowa gewidmet sind (z. B. An Anna Achmatowa, ). Ihre erste Begegnung hatte 1913 stattgefunden. Während der Symbolist in seinen Gedichten über Weiblichkeit und Schönheit sinnierte, wählte Achmatowa ihren gewohnt sparsamen, nüchternen Stil: „Ich habe den Dichter besucht. Gerade Mittag. Sonntag. Das Zimmer geräumig. Vor den Fenstern Frost.“ Allerdings schildert das unmittelbar vor diesem im Rosenkranz gedruckte Gedicht (Der Gast, , Januar 1914) eine zärtliche Begegnung mit einem Mann, dessen Schilderung auf Blok zutraf. Diese Übereinstimmungen führten gelegentlich zu der Vermutung, dass die Beziehung der beiden Dichter intimer war als offiziell bekannt.
Auch der nächste Gedichtband, Die weiße Schar (), fiel bei seinem Erscheinen 1917 in eine historisch unruhige Zeit. Die chaotischen Zustände zu Beginn der Revolution schmälerten den Verkaufserfolg des Buches.
Repressionen in der jungen Sowjetunion
Nach der Oktoberrevolution arbeitete Achmatowa als Bibliothekarin im Landwirtschaftlichen Institut. Von 1922 an bis 1940 wurden ihre Gedichte nicht mehr gedruckt, da sie den kommunistischen Machthabern zu wenig gesellschaftlich relevant, zu privat waren. In der Sowjetenzyklopädie hieß es, ihre Gedichte seien mit religiös-mystischen und erotischen Motiven überladen, mit denen sie die Jugend vergifte. Ihre älteren Werke fanden nur unter der Hand im Samisdat Verbreitung. Lew Kopelew schrieb über sie: Ihre Verse blieben im Gedächtnis haften, wurden je nach Stimmung wieder hervorgeholt … Damals war man noch bereit zuzugestehen, daß auch Klassenfeinde und unversöhnliche weltanschauliche Gegner selbstlos, edelmütig und tapfer sein konnten. Ein derartiger „liberaler Objektivismus“ war noch keine Todsünde, noch keine Straftat.
Ihr Ehemann Gumiljow, von dem sie sich 1918 hatte scheiden lassen, wurde 1921 wegen angeblicher konterrevolutionärer Aktivitäten erschossen.
Dem Mosaizist Boris Anrep, dem sie sehr nahestand, wollte sie nicht ins westliche Ausland folgen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, ihre Heimat und ihr Volk zu verlassen. Ihre nächste Liebe, der Literaturkritiker Nedobrowo, starb 1919 an Schwindsucht. Nach einer zweiten, von 1918 bis 1922 dauernden und unglücklich verlaufenden Ehe mit dem Assyriologen und Übersetzer Wladimir Schileiko (1891–1930), der ihre Gedichte zum Teil verbrannt haben soll, lebte sie ab 1926 bis 1938 mit dem Kunsthistoriker Nikolai Nikolajewitsch Punin (1888–1953) zusammen, wobei das Paar zum Teil in einer angespannten Situation in einer Wohnung mit Punins Noch-Ehefrau und deren Tochter wohnte. Oftmals lebte Achmatowa in dieser Zeit buchstäblich von Brot und Tee, wobei sie ihr Selbstbewusstsein und ihren eigenen Stil nie aufgab.
1930 bis zum Ausbruch des Krieges
Sowohl ihr Sohn Lew als auch ihr Ehemann Nikolai Punin wurden in den 1930er Jahren mehrfach verhaftet. Ihr Sohn wurde nach dem anfänglichen Todesurteil in die Verbannung geschickt und erst im April 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, endgültig nach Hause entlassen. Insgesamt verbrachte er anderthalb Jahrzehnte in Lagerhaft. Ihr Ehemann Nikolai Punin starb 1953 im Arbeitslager Workuta.
In der Zeit der Inhaftierung ihres Sohnes verbrachte Achmatowa viel Zeit in den Warteschlangen der Angehörigen vor dem Gefängnis. In Requiem, das sie in dieser Zeit zu schreiben begann und das ein einziges Klagelied gegen den Stalin-Terror ist, schrieb sie anstelle eines Vorworts folgenden kurzen Prosatext:
Für Achmatowa waren diese Jahre ein nicht endender Albtraum. Sie rechnete stets damit, dass an ihrem Sohn das Todesurteil vollstreckt wurde. Die neben Achmatowa andere bedeutende russische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, Marina Zwetajewa, die Achmatowa mit dem Zitat „Anna von ganz Russland“ ehrte, erhängte sich 1941 völlig verarmt. Freunde verschwanden, darunter ihr jahrelanger Wegbegleiter Ossip Mandelstam, der während seiner Verhöre in der Lubjanka im Jahre 1934 seine Gedichte über Stalin sogar für seine Folterknechte niederschrieb. Trotzdem wurde er nicht wie damals üblich in den Gulag geschickt, sondern von Stalin, dem der Dichter zur damaligen Zeit tot gefährlicher gewesen wäre als lebendig, versucht ihn zu isolieren, aber am Leben zu erhalten. Die Mandelstams wurden daraufhin ins Exil nach Woronesch, 400 km südlich von Moskau, verbannt und durften 1937 wieder ins Moskauer Gebiet – wenn auch nicht in die Hauptstadt selbst – zurückkehren. Im Herbst desselben Jahres besuchten die Mandelstams Achmatowa im Fontänenhaus in Leningrad, wo sie auf dem Sofa ihres Zimmers schlafen mussten, da sie keine eigene Unterkunft hatten. Achmatowa schrieb während dieses letzten Besuches der beiden ein Gedicht für Ossip Mandelstam, den sie wie einen Zwillingsbruder ansah. Das Gedicht handelte von der Stadt – Leningrad –, welche sie beide liebten.
Mandelstam wurde jedoch sechs Monate später erneut verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit im ostsibirischen Kolyma verurteilt. Auf der Fahrt nach Kolyma kam er, wie im Gedicht beschrieben, am Jenissei sowie an den Städten Tschita und Swobodny vorbei und wurde schließlich in einem Lager bei Wladiwostok am Japanischen Meer inhaftiert, wo er am 26. Dezember 1938 einem Herzinfarkt erlag. Als ihr Sohn in ein weiter nördliches Lager verlegt wird und sie sich bei Bekannten für ihn Mütze, Schal und Stiefel zusammenbettelt, um ihm dort ein Überleben zu ermöglichen, wünscht sie sich selbst in einem Gedicht den Tod:
In Russland wird Anna Achmatowa auch deswegen verehrt, weil sie eine Sprache fand, die den Terror dieser Jahre in Worte fasste. Im Epilog zu Requiem schrieb sie:
Und wenige Gedichtstrophen später bittet sie darum, wenn man ihr einstmals ein Denkmal baue, dann solle dies nicht in einem Park geschehen, sondern in jenem Gefängnishof, in dem sie hunderte von Stunden gewartet habe, um Nachrichten über das Schicksal ihres Sohnes zu erfahren. Auch ihr Denkmal solle den schwarzen Gefängnis-LKW sehen, der die Häftlinge abtransportiert und Zeuge des Leids der Angehörigen sein.
Kriegs- und Nachkriegszeit
Obwohl ihre Bücher seit Jahren nicht mehr erschienen, war Achmatowa in der russischen Bevölkerung noch so populär, dass es um den Gedichtband „Aus sechs Büchern“ (Из шести книг), der im Jahr 1940 erscheinen durfte, in den Läden zu Prügeleien kommen konnte. Die unerwartete Drucklegung ihrer Werke geschah auf persönlichen Befehl von Stalin, nachdem sich offenbar namhafte Künstlerkollegen – angeblich hatte auch Swetlana Allilujewa bei ihrem Vater interveniert – für sie eingesetzt hatten. Der Band enthielt Arbeiten aus den Jahren 1924 bis 1940 sowie den neuen Zyklus Die Weide (Ива).
Bei Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges lebte die Dichterin noch in Leningrad (wie Sankt Petersburg inzwischen hieß), wurde jedoch nach Beginn der deutschen Blockade 1941 mit anderen Schriftstellern noch über Moskau nach Taschkent ausgeflogen, wo sie Kriegsverletzten in den Krankenhäusern Gedichte vortrug. Vereinzelte Gedichte wurden als „patriotische Beiträge zum vaterländischen Krieg“ offiziell noch akzeptiert; 1942 erschien ihr patriotisches Gedicht Tapferkeit (im Februar 1942 von der Sowjetpresse veröffentlicht) sogar in der Prawda:
Lew Kopelew beschreibt den Eindruck, den Achmatowas Gedicht bei ihm hinterließ, folgendermaßen: Das schlichte, klare Gedicht klang vernehmlicher als all die kriegerischen, trommelnden, trompetenden, donnernden Verse … Damals schien mir Achmatowas Gedicht vor allem als eine Äußerung der großen einigenden Kraft unseres Krieges. Auch sie, die feine, schöne Dame, war mit uns, so wie die alten Georgsordenkavaliere …, die aufgerufen hatten, der Roten Armee zu helfen.
Im Juni 1944 konnte sie in ihr geliebtes, jedoch in der Zwischenzeit völlig verändertes Leningrad zurückkehren. Der Krieg und die Repressionspolitik des kommunistischen Gouverneurs Andrei Schdanow hatten der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. Achmatowas Bedrückung und Niedergeschlagenheit fanden Einzug in ihre Prosaskizzen aus dieser Zeit, Drei Fliederbäume (Три сирени) und Zu Gast beim Tod (В гостях у смерти), die in dieser Zeit entstanden.
Schon bald jedoch spürte auch sie die Auswirkungen der kulturpolitischen Hetzkampagnen der Schdanowschtschina – 1946 schloss man sie als Vertreterin des „ideenlosen reaktionären Sumpfes“ aus dem sowjetischen Schriftstellerverband aus und vernichtete zwei ihrer neuen Gedichtbände. Der Kultursekretär des Zentralkomitees (ZK), Andrei Schdanow, brandmarkte sie öffentlich in einer Rede als „halb Nonne, halb Dirne oder besser eine Dirnen-Nonne, deren Sünde mit Gebeten durchtränkt sei“. Für dieses Verdikt war aus Anna Achmatowas Sicht ihre kurze Beziehung zu Isaiah Berlin verantwortlich, den sie 1945/46 in Moskau kennenlernte, als der englische Philosoph und Historiker Mitarbeiter der britischen Botschaft in Moskau war. Für sie wurde der jüngere Mann zum „Gast aus der Zukunft“ und sie widmete ihm die Liebesgedichte, die sie in den letzten zwanzig Jahren geschrieben hatte. Sie selbst traf ihn nach der kurzen Begegnung 1946 erst im Jahre 1965 wieder, als ihr in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.
Anna Achmatowa arbeitete seitdem überwiegend an literarischen Übersetzungen und Übertragungen; zu den von ihr übersetzten Dichtern gehörten Victor Hugo, Rabindranath Tagore und Giacomo Leopardi. Das Schreibverbot bestand bis 1950, als zunächst in der Zeitschrift Ogonjok eine Gedichtreihe unter dem Thema Ruhm dem Frieden (Слава миру) erschienen; diese Gedichte – darunter zwei Lobgedichte auf Stalin – gelten allerdings als erpresste und eher peinliche Arbeiten. Erst mit Beginn der Tauwetter-Periode erschienen wieder bedeutsamere Gedichte.
Rehabilitation
Nach Stalins Tod erfolgte die schrittweise Rehabilitation der Dichterin; sie durfte wieder arbeiten und wurde 1958 wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen. Als der amerikanische Dichter Robert Frost im September 1962 als Abgesandter des Präsidenten Kennedy das erste Mal nach Russland kommt, wünscht er, dass man ihn mit Anna Achmatowa bekannt macht. Dieser Wunsch wird ihm gewährt. Anna Achmatowa erlebte diese Begegnung in ironischer Distanz:
Ihr Versepos „Poem ohne Held“ (Поэма без героя), an dem sie 22 Jahre gearbeitet hatte und das als ihr wichtigstes Werk gilt, erschien bereits 1960/61 in einem New Yorker Literaturalmanach, 1963 in Russland. Es kann in der literarischen Tradition der russischen Versepen gesehen werden, die Puschkin mit Eugen Onegin 1833 begründete und die auch Alexander Blok aufgriff.
Mehr noch als sonst arbeitete sie hier mit komplexen strukturellen und zeitlichen Verschlüsselungen, die einerseits ihren persönlichen Stil ausmachten, andererseits in einer Zeit der Zensur und Unterdrückung schlicht dem Selbstschutz dienten. Und so wurde der Gedichtband zwar veröffentlicht, jedoch gab der zuständige Redakteur Schwierigkeiten beim Verstehen des Textes offen zu.
1964 durfte Anna Achmatowa in Taormina auf Sizilien den Ätna-Taormina-Preis annehmen. Auf dieser Reise traf sie in Rom mit Ingeborg Bachmann zusammen, die ihr anschließend das Gedicht Wahrlich widmete.
1965 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford und im selben Jahr war sie für den Literaturnobelpreis nominiert. Zwei Jahre vor ihrem Tod wurde sie Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, aus dem man sie 1946 ausgeschlossen hatte. Ihr Gedichtzyklus Requiem, der den Terror unter Stalins Herrschaft anklagt, konnte in der Sowjetunion jedoch erst im Jahre 1987 erscheinen. Die Veröffentlichung wurde als Ergebnis der Perestroika gefeiert. Personen, denen sie vertraute, hatte sie seit den 1930er Jahren immer wieder daraus Gedichte zitiert. Ihr Schriftstellerkollege Lew Kopelew schildert, wie sie ihm im Mai 1962 nach der Bitte an ihn, sich ihre Gedichte nicht aufzuschreiben, Gedichte aus Requiem rezitierte:
Am 5. März 1966, dem 13. Jahrestag von Stalins Tod, starb Anna Achmatowa in einem Erholungsheim in Domodedowo bei Moskau. Die Moskauer Zeitungen nannten sie in ihren Nachrufen eine überragende Schriftstellerin und Lyrikerin. Ihr dichterischer Einfluss auf jüngere Kollegen zeigte sich insbesondere bei Joseph Brodsky.
Anna Achmatowas Grab liegt in der Siedlung Komarowo an der Ostsee, unweit ihrer Wahl-Heimatstadt, die heute wieder Sankt Petersburg heißt.
Die Astronominnen Ljudmila Georgijewna Karatschkina und Ljudmila Schurawljowa verliehen ihr zu Ehren 1982 dem Kleinplaneten 3067 den Namen Akhmatova.
Werke
Abend (Вечер). 1912.
Der Rosenkranz (Четки). 1914.
Die weiße Schar (Белая стая). 1917.
Wegerich (Подорожник). 1921.
Anno Domini MCMXXI. 1922.
Aus sechs Büchern (Из шести книг). 1940.
Gedichte 1909 bis 1945. Moskau/Leningrad 1946 (nach der Schdanow-Rede wurde diese Gedichtausgabe vernichtet).
Poem ohne Held (Поэма без героя). 1963.
Requiem. München 1963 (russ.), in der UdSSR erstmals 1987 erschienen.
Lauf der Zeit. 1909–1965. Moskau/Leningrad 1965.
Gesammelte Werke in 2 Bänden. Inter-Language Literary Associates, New York 1965/1967, München 1967/68.
Auswahl. Hrsg. von N. Bannikow. Moskau 1974.
Gedichte und Poeme. Hrsg. von Viktor Shirmunski. Leningrad/Moskau 1976.
Gedichte und Prosa. Hrsg. von B. Drujan. Leningrad 1976. (Die Ausgabe wurde eigentlich von Lydia Tschukowskaja zusammengestellt, aber 1976 durfte ihr Name in der UdSSR nicht mehr öffentlich erscheinen.)
Gedichte. Hrsg. von N. Bannikow. Moskau 1977.
Über Puschkin. Artikel und Notizen. Hrsg. von Emma Gerstein. Leningrad 1977.
Übersetzungen
The Complete Poems of Anna Akhmatova. Übersetzung ins Englische Judith Hemschemeyer. Zephyr Press, Somerville, Mass. 1990, ISBN 0-939010-13-5, 19922, ISBN 0-939010-27-5; Canongate, Edinburgh 1998, ISBN 0-86241-716-3.
Das Echo tönt. Übersetzung Xaver Schaffgotsch. Limes Verlag, Wiesbaden 1964, .
Requiem. Übersetzung Mary von Holbeck. Possev Verlag, Frankfurt am Main 1964 (Paralleldr.); 19682 (russ.-dt.).
Gedichte. Übersetzung Hans Baumann. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen b. München 1967, .
Im Spiegelland – Ausgewählte Gedichte (= Serie Piper. Bd. 833). Hrsg. von Efim Etkind. Piper Verlag, München 1982, ISBN 3-492-02593-5, 19882, ISBN 3-492-10833-4. (Die oberhalb zitierten Gedichtsstrophen sind, bis auf die Strophen zum Tod ihres ersten Mannes, dieser Gedichtssammlung entnommen.)
Requiem. Übersetzung Rosemarie Düring. Oberbaum Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-926409-08-8 (russ.-dt.).
Poem ohne Held. Übersetzung von Bettina Eberspächer. Erinnerungen an Anna Achmatowa. Übersetzung von Kay Borowsky. Hrsg. von Siegfried Heinrichs. Oberbaum Verlag, Berlin 1997, zugl. Lucas Presse, Enger/Ostwestfalen 1997, ISBN 3-926409-40-1 (deutsch/russisch).
Poem ohne Held (= Chamäleon. Bd. 9; Akmeismus. Bd. 3). Aus dem Russ. neu übertr. von Alexander Nitzberg. Grupello Verlag, Düsseldorf 2001, ISBN 3-933749-38-7 (deutsch/russisch). [Mit „‚Anmerkungen des Redakteurs‘ (d. h. der Achmatowa)“].
Poem ohne Held. Poeme und Gedichte, russisch und deutsch (= Reclams Universal-Bibliothek. Bd. 795). Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch. Interlinearübersetzungen von Oskar Törne. Übersetzung der Prosatexte von Fritz Mierau, Werner Rode und Eckhard Thiele. Hrsg. von Fritz Mierau. Philipp Reclam jun., Leipzig 19822, ; Leipzig 1979, .
Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne. Hundert Gedichte über die Liebe. Übersetzung Alexander Nitzberg. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Olaf Irlenkäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-41082-2; Insel-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-458-20003-1.
Der Abend. 1912. Hrsg. und Übersetzung Kay Borowsky. Staudacher, Horb-Rexingen 2003, ISBN 3-928213-12-1.
Enuma Elisch. Übersetzung Alexander Nitzberg. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2005, ISBN 3-905591-94-4.
Liebesgedichte. Übersetzung Kay Borowsky. Hrsg. von Ulla Hahn. Reclam-Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-010845-1.
Rezeption
Anna Achmatowa lernte Ende 1964 Ingeborg Bachmann kennen, als sie zur Verleihung des Premio Etna-Taormina in Sizilien war. Bachmann, die sie sehr bewunderte, widmete ihr das Gedicht Wahrlich und trug es bei der Preisverleihung am 12. Dezember 1964 im antiken Theater in Taormina zur Begeisterung der Dichterin und der sie begleitenden russischen Delegation vor. Achmatowas Bedeutung für Bachmann wird auch an anderer Stelle deutlich: Bachmanns Entscheidung, sich 1967 vom Piper Verlag zu trennen, war ein Protest dagegen, dass der Verlag Achmatowas Gedichte von dem ehemaligen HJ-Führer Hans Baumann hatte übersetzen lassen.
A. Achmatowa und ihr Beitrag zur Kultur wird im Frauen-Bildungskanon von Berg, Meier u. a. 2018 als Beispiel genannt.
Siehe auch
(3067) Akhmatova
Literatur
Joseph Brodsky: Flucht aus Byzanz. Essays. Hanser, München 1988, ISBN 3-446-15279-2 (u. a. ein Essay über Anna Achmatova).
György Dalos: Der Gast aus der Zukunft – Anna Achmatowa und Isaiah Berlin. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002, ISBN 3-434-50083-9.
Elaine Feinstein: Anna of all the Russias: A Life of Anna Akhmatova. Weidenfeld & Nicolson, London 2005.
Jelena Kusmina: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Biographie. Rowohlt, Berlin 1993, ISBN 3-87134-058-8.
Wolfgang Hässner: Anna Achmatowa. (Monografie). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-50563-0.
Daniel Henseler: Texte in Bewegung. Anna Achmatovas Spätwerk (= Slawische Literaturen. Band 33). Lang, Frankfurt am Main u. a. 2004, ISBN 3-631-52300-9 (Dissertation Universität Breisgau 2003).
Felix Philipp Ingold: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur, Gesellschaft, Politik. Erweiterte Neuauflage. Matthes & Seitz, Berlin 2013, ISBN 978-3-88221-039-2 (zu „Anna Achmatowas Erinnerung“); Beck, München 2000, ISBN 3-406-45859-9.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Pawel Nerler. Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-22465-6.
Raissa Orlowa, Lew Kopelew: Zeitgenossen – Meister – Freunde. Albrecht Knaus, München 1989, ISBN 3-8135-0739-4. (Hier S. 18 f., S. 20, S. 23, ebenfalls die Erzählung über die Begegnung mit Robert Frost.)
Elke Schmitter: Anna Achmatowa. Herzschlag der Erinnerung. In: Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. Bertelsmann, München 2009, ISBN 978-3-570-01048-8.
Lydia Tschukowskaja: Aufzeichnungen über Anna Achmatowa (= Edition Orient – Occident. Band 7). Narr, Tübingen 1987, ISBN 3-87808-269-X.
Solomon Volkov: St. Petersburg. A Cultural History. Free Press, New York 1995, ISBN 0-684-83296-8 (Die beschriebene Zeit von Sankt Petersburg während der Oktoberrevolution fokussiert auf Anna Achmatowa (englisch)).
Birgit Veit: Vertauschte Handschuhe. Eine schlechte Übersetzung versetzt die Lyrikerin Anna Achmatowa stilistisch ins 19. Jahrhundert. In: Berliner Zeitung. Berliner Verlag, Berlin 7. Oktober 2000, (Zu: Anna Achmatowa: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne. Hundert Gedichte über die Liebe. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Olaf Irlenkäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 978-3-518-41082-0 – hieraus die Strophen zum Tod ihres ersten Mannes).
Weblinks
. Anna Achmatowa »Du hast mich erfunden…« (umfangreichste Ressource [russisch] – Texte von und über Achmatowa, Autografen, Fotos, Museen und Wohnhäuser, Denkmale, Personen).
Original-Gedichte als mp3. (russisch)
Einzelnachweise
Autor
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Russisch)
Literatur (Sowjetunion)
Akmeismus
Lyrik
Dissident (Sowjetunion)
Ehrendoktor der University of Oxford
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Person als Namensgeber für einen Venuskrater
Russe
Sowjetbürger
Geboren 1889
Gestorben 1966
Frau
Bibliothekar (Russland) |
87716 | https://de.wikipedia.org/wiki/Constantin%20Br%C3%A2ncu%C8%99i | Constantin Brâncuși | Constantin Brâncuși [] (, * 19. Februar 1876 in Hobița; † 16. März 1957 in Paris) war ein rumänisch-französischer Bildhauer der Moderne und Fotograf seiner Werke im Umfeld seines Ateliers. Brâncuși, der nach dem Besuch der Kunstakademie Bukarest ab 1904 in Paris lebte und arbeitete, zählt zu den prägenden Bildhauern des 20. Jahrhunderts, der neben Auguste Rodin, den der Künstler kannte und bewunderte, die Skulptur nachhaltig beeinflusste, indem er mit der wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von Objekten durch Reduktion brach. Nach einem traditionell-akademischen Werkbeginn bildete sich ab 1907 sein individueller Stil heraus, der von afrikanischer und rumänischer Volkskunst beeinflusst war.
Brâncușis plastische Arbeiten in Bronze, Marmor, Holz und Gips zeigen häufig abstrakte eiförmige Köpfe und fliegende Vögel; sie werden der Avantgarde in der Bildenden Kunst zugeschrieben. Er realisierte nur wenige Themen, die er in der Tendenz des Kubismus, mit dem er ab 1910 in Berührung kam, variierte. Mit dem dreiteiligen Kriegsdenkmal in Târgu Jiu aus dem Jahr 1938 erreichte er die Verschmelzung von Architektur und Skulptur.
Leben
Kindheit und Studium
Constantin Brâncuși wurde am 19. Februar 1876 in Hobița aus zweiter Ehe von Nicolae Brâncuși (* 1831; † unbek.) und dessen Frau Maria Deaconescu (* 1852; † 1919) geboren. Der Vater war ein wohlhabender Mann, der die Ländereien um das Kloster Tismana verwaltete. Er hatte aus erster Ehe bereits drei Söhne und aus zweiter Ehe zwei Söhne sowie die später geborene Tochter Eufrosina, die erst nach seinem Tod zur Welt kam. Nach eigenen Angaben besuchte Brâncuși von 1884 bis 1887 die Grundschule in Peștișani. 1887 lief er von zu Hause weg, erreichte Ende März Târgu Jiu und arbeitete zunächst für einige Monate bei einem Färber namens Moscu, bei dem er lernte, mit Pflanzenfarben umzugehen und Wolle für die Teppichherstellung zu färben. Anschließend war er als Kellner in einem Café tätig, verließ 1888 die Stadt und verbrachte einige Zeit in Peștișani bei seinem Halbbruder Neneal Ion, der eine Schankwirtschaft betrieb. 1889 zog Brâncuși nach Craiova, arbeitete in einem Kolonialwarengeschäft und zog im September 1892 in die benachbarte Stadt Slatina, wo er bei einer verwitweten Krämerin eine Arbeitsstelle fand.
Ab 1894 studierte Brâncuși an der Kunstgewerbeschule in Craiova, die er bis 1898 besuchte. Anschließend belegte er Kurse an der Kunstakademie in Bukarest; in der Aufnahmeprüfung hatte er eine Kohlezeichnung nach einer Gipsfigur angefertigt, die Laokoon darstellte und den er im Jahr 1900 in Ton modellierte und als Gips ausführte. Nachdem er 1898 von der Einberufung zum Militärdienst zurückgestellt worden war, musste er im darauf folgenden Jahr zweimal den Nachweis eines andauernden Studiums erbringen. Als er 1901 nicht auf seine Einberufung reagierte, wurde er zum Dienstpflichtverweigerer erklärt. 1902 erhielt er sein Diplom; eine Bescheinigung bevollmächtigte ihn jedoch, seine Studien im Atelier der Akademie fortzusetzen. Am 1. April 1902 wurde Brâncuși einberufen; er musste jedoch aufgrund seines Diploms nur ein Jahr anstelle der vorgeschriebenen drei Jahre dienen. Brâncuși konnte mit der Hilfe seines Freundes, des Malers Jean Alexandru Steriadi, dessen Vater ein Verwaltungsbeamter war und der ein gutes Wort für den jungen Bildhauer eingelegt hatte, dieses Jahr mit Kranken- und Sonderurlaub hinter sich bringen. Eines seiner ersten Werke war 1903 ein in traditioneller Manier geschaffener Entwurf in Gips für ein Denkmal des Arztes und Generals Carol Davila, das einige Jahre später in Bronze gegossen und vor dem Militärhospital in Bukarest aufgestellt wurde. Im selben Jahr brach er zu Fuß nach Paris auf; er erreichte die Stadt am 14. Juli 1904, dem Nationalfeiertag in Frankreich, nach Zwischenaufenthalten in Wien, München – wo er eine Zeit lang arbeitete – und Langres.
Studium in Paris und erste Ausstellungen
In der französischen Hauptstadt verdiente Brâncuși zunächst seinen Lebensunterhalt als Geschirrspüler in der Brasserie Chartier. Anfangs wohnte er in der Cité Concorde Nr. 9 und bezog im März 1905 eine Mansarde am Place de la Bourse Nr. 10. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nahm er für die Osterzeit eine Arbeit als Messdiener in der rumänisch-orthodoxen Kirche in der Rue Jean-de-Beauvais an. Am 23. Juni erhielt Brâncuși nach einer bestandenen Prüfung und durch Vermittlung des Staatsrates und eines rumänischen Gesandten eine Studienerlaubnis an der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris, an der er bis 1907 in der Bildhauerklasse bei Antonin Mercié (1845–1916) studierte. Am 27. Oktober musste Brâncuși seine von Ratten befallene Mansardenwohnung verlassen und zog in die Place Dauphine Nr. 16. Mit den Gipsskulpturen L’Enfant (Das Kind) und L’Orgeuil (Der Stolz) beteiligte er sich im Jahr 1906 erstmals an Ausstellungen im Salon der Societé nationale des beaux-arts sowie im Salon d’Automne. Bei einer weiteren Ausstellung des Salons der Societé nationale des beaux-arts zeigte Brâncuși vier seiner Arbeiten – die Bronze Portrait de Nicolae Drascu sowie die Gipse Le Supplice (Die Qual) und zwei Kinderköpfe Tête d’enfant. Dort traf er Auguste Rodin, der sein Werk L’Homme qui marche (Der Schreitende) von 1878 ausstellte.
Erste Ateliers in Paris
1907 verließ Brâncuși die École nationale supérieure des beaux-arts und arbeitete im Frühjahr zunächst für Auguste Rodin. Nach einem Monat Mitarbeit in dessen Atelier resümierte er: „Il ne pousse rien à l’ombre des grands arbres“ („Es wächst nichts im Schatten großer Bäume“) und gab seine Arbeit dort auf.
Am 18. April erhielt er auf Fürsprache des rumänischen Malers Ștefan Popescu hin einen Auftrag für ein Friedhofsdenkmal, das die Witwe eines Petro Stanescu für ihren Ehemann auf dem Friedhof Dumbrava in Buzău, Rumänien, errichten lassen wollte. Da Brâncuși für dieses Grabmal einen zwei Meter hohen Sockel für die Büste des Verstorbenen vorsah, benötigte er aufgrund der Ausmaße des Werks ein Atelier im Erdgeschoss und fand es im März 1908 in der Rue du Montparnasse Nr. 54, in Nachbarschaft des amerikanischen Malers und Fotografen Edward Steichen. Er lebte und arbeitete dort bis zum 10. Oktober 1916. In diesem Jahr stellte Brâncuși im Salon d’Automne aus und begegnete der Baronin Renée Frachon, die ihm zwischen dem 1. Januar 1908 bis in das Jahr 1910 in mehreren Sitzungen für die Skulpturen La Muse endormie I (Die schlummernde Muse I) und La Baronne R. F. (Die Baronin R. F.) Modell stand.
In Paris entwickelte sich ab 1908 eine enge Freundschaft mit Henri Matisse und Fernand Léger, Marcel Duchamp, Henri Rousseau, Alexander Archipenko sowie Amedeo Modigliani, den Brâncuși 1909 durch den Kunstsammler Paul Alexandre kennengelernt hatte und der ihn im selben Jahr in Livorno porträtierte.
Im Jahr 1910 traf Brâncuși auf Margit Pogány, eine ungarische Malerin, die zu dieser Zeit in Paris studierte und die er unter anderem in der in weißem Marmor gehaltenen Skulptur Mademoiselle Pogány I aus dem Jahr 1912 porträtierte. Pogány pendelte oft zwischen Budapest und Paris, wo sie stets in einer Pension wohnte, die der Bildhauer gleichfalls frequentierte. Brâncuși, der ein überzeugter Junggeselle war, hatte mit ihr eine Affäre, die in einer langen Freundschaft endete, wie Briefe aus den Jahren 1911 bis 1937 bezeugen.
Auf dem Friedhof Montparnasse wurde 1911 die Auftragsarbeit Le Baiser (Der Kuss) von 1909 auf dem Grab von Tanioucha Rashewskaia, die sich aufgrund einer unglücklichen Ehe das Leben genommen hatte, installiert. In den Sockel des Grabmals gravierte der Bildhauer in kyrillischen Buchstaben die Worte „Tanioucha Rashewskaia, geboren am 6. April 1887, gestorben am 22. November 1910, lieb, liebenswert, geliebt“ ein und pflanzte Efeu, eine Pflanze, für die der Künstler eine Vorliebe besaß, am Fuß des Sockels an.
Am 15. Mai 1912 bezog Brâncuși ein zweites Atelier in der Rue de Montparnasse Nr. 47 in der Nähe seines ersten Ateliers auf der anderen Straßenseite, wo ihm Margit Pogány Modell für den Marmor Mademoiselle Pogány I stand. Mit Fernand Léger und Marcel Duchamp besuchte er im Herbst des Jahres die Luftfahrtschau im Pariser Grand Palais, wo Brâncuși vor einem Propeller voller Bewunderung ausrief: „Das ist eine Skulptur! Von nun an darf keine Skulptur dieser nachstehen.“ Auf diese Vorstellung Brâncușis von einer vollkommenen modernen Form bemerkte Duchamp angesichts der technischen Innovation: „Mit der Malerei ist es vorbei. Wer könnte etwas Besseres machen als diesen Propeller? Sag, kannst Du so etwas machen?“
Angesichts der perfekten industriellen Form hatte der Besuch auf die Gruppe eine ähnliche Wirkung wie etwas früher die der afrikanischen Masken auf Pablo Picasso. Brâncușis polierte Skulpturen näherten sich der Industrieform, Duchamp gab die Malerei auf und schuf sein erstes Ready-made Roue de bicyclette (Fahrrad-Rad), während Léger sich mit der Theorie befasste, wie die Kunst in den Stand versetzt werden könne, die Schönheit der Maschinen zu erreichen.
Beteiligung an Künstlertreffen
Ab den Jahren 1912/13 beteiligte sich Brâncuși an verschiedenen Treffen. Beispielsweise nahm er an den „Diners de Passy“ im Maison de Balzac – der Kreis um den Schriftsteller Guillaume Apollinaire in der Rue Raynouard – sowie an den Zusammenkünften mit den Künstlern der „Puteaux-Gruppe“ teil. Auf einem dieser Treffen lernte der Bildhauer Jeanne Augustine Adrienne Lohy kennen und unterhielt mit ihr eine freundschaftliche Beziehung. Lohy, die Brâncuși „Papa“ nannte, heiratete im Dezember 1919 Fernand Léger. Ferner nahm er an den im Künstlertreffpunkt La Closerie des Lilas stattfindenden „Dienstagsversammlungen“ um den Dichter Paul Fort teil, wo sich unter anderem Fernand Léger, Blaise Cendrars, Jean Cocteau, Erik Satie und später, um 1918, Germaine Tailleferre und die anderen Komponisten der Groupe des Six wie Arthur Honegger, Darius Milhaud, Georges Auric, Francis Poulenc und Louis Durey trafen.
Werke in der Armory Show
Im Vorfeld der Vorbereitungen zur großen Ausstellung Armory Show, die in New York stattfinden sollte, kamen Arthur B. Davies, Walt Kuhn und Walter Pach im Dezember nach Paris, um nach Kunstwerken Ausschau zu halten. Von Brâncuși erbaten sie für die Ausstellung vier Skulpturen: Une Muse (Eine Muse), 1912, Marmor, La Muse endormie I (Die schlummernde Muse I), 1909, Marmor; Mademoiselle Pogány I, 1912, Gips; und Le Baiser (Der Kuss), 1912, Stein.
Am 17. Februar 1913 wurde die Armory Show eröffnet; Brâncuși war mit den erwähnten Werken an der Ausstellung beteiligt, die bis zum 15. März 1913 stattfand und anschließend in Chicago und Boston zu sehen war. Im selben Jahr begegnete er Henri Gaudier-Brzeska und hatte im darauffolgenden Jahr in der Galerie 291 des bekannten Fotografen und Galeristen Alfred Stieglitz seine erste Einzelausstellung mit acht Arbeiten, darunter Maïastra von 1911 und Mademoiselle Pogány von 1912. Die Auswahl der Werke wurde von Edward Steichen vorgenommen, die Verschiffung der Arbeiten bezahlte das Kunstsammler-Ehepaar Agnes und Eugene Meyer, die zu lebenslangen Freunden des Künstlers werden sollten.
Erster Weltkrieg
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914 blieb Brâncuși als rumänischer Staatsbürger in Paris. Im August 1914 fuhr er mit der Freundin Steichens nach Voulangis, um dort von gesammelter Wolle Kopfschützer, Handschuhe und Strümpfe für die Soldaten stricken zu lassen, außerdem stellte er dem Roten Kreuz sein Atelier zur Verfügung. Die amerikanischen Künstler, darunter Edward Steichen, hatten Paris bereits zu Kriegsbeginn verlassen; 1915 folgten die Franzosen nach, unter ihnen Francis Picabia, Albert Gleizes, Jean Crotti und Marcel Duchamp. Brâncuși spendete einige Werke für eine am 28. Dezember in der Galerie Bernheim-Jeune am Boulevard de la Madeleine Nr. 15 eröffnete Ausstellung zugunsten polnischer Künstler, die Opfer des Krieges geworden waren. Weitere Spender waren Pierre-Auguste Renoir, Auguste Rodin, Pierre Bonnard, Antoine Bourdelle, Henri Matisse und Pablo Picasso.
Anfang 1916 mietete Brâncuși ein neues geräumigeres Atelier in der Impasse Ronsin Nr. 8, wo er sich ebenfalls eine Wohnung einrichtete. Er behielt für einige Zeit zusätzlich sein Atelier in der Rue de Montparnasse. Der erste Erfolg, den Brâncuși durch die Ausstellung in der Armory Show 1913 in den Vereinigten Staaten erlangt hatte, wurde 1916 durch den Ankauf des Marmorkopfes Le Nouveau-Né I (1916) von der im Oktober 1915 von Marius de Zayas gegründeten und von Agnes E. Meyer eröffneten Modern Gallery untermauert. Im selben Jahr verweigerte Brâncuși den Wehrdienst und wurde am 8. November 1917 endgültig vom Dienst befreit.
Querelen um Princesse X, Teilnahme am Dada-Festival
Brâncușis Skulptur Princesse X, eine Arbeit aus dem Jahr 1916, lehnte der Salon des Indépendants im Januar 1920 ab, nachdem Henri Matisse während der Aufstellung angesichts des Motivs ausgerufen hatte: „Seht mal, ein Phallus.“ Paul Signac, damals Präsident des Salons, teilte Brâncuși mit, „daß er Gefahr laufe, Scherereien mit dem Polizeikommissar zu bekommen“, woraufhin Brâncuși beim Kommissariat Einspruch erheben wollte und Fernand Léger ihn zu beruhigen verstand. Stattdessen bekam die Skulptur L’Oiseau d’or aus dem Jahr 1919 in der Ausstellung einen Ehrenplatz.
Obwohl Brâncuși seit 1921 mit den Dadaisten Tristan Tzara, Francis Picabia und Marcel Duchamp befreundet war, blieb er immer am Rande der Dada-Bewegung, wohnte jedoch im Théâtre de l’Œuvre der Lesung André Bretons von Picabias Manifeste cannibale bei, „bei der eine hoch oben auf einer Leiter stehende Person ‚Dada, dada, ich bin dada!‘ schrie. Das Publikum bombardierte Breton mit Tomaten und rief: ‚Aufhören, aufhören!‘“ Zusammen mit Léger nahm der Künstler am 26. Mai 1920 am Dada-Festival in Paris teil, wo er das Manifest Contre cubisme, contre dadaisme unterschrieb. Im selben Jahr wurde in Edward Steichens Garten in Voulangis eine Endlose Säule Brâncușis aufgestellt.
Begegnung mit Man Ray
Im Jahr 1921 besuchte Brâncuși zwischen dem 25. Mai und dem 21. Juni Mailand, Neapel, Rumänien, Prag und Belgien, unternahm eine zweiwöchige Reise mit Raymond Radiguet nach Korsika und freundete sich mit Jean Cocteau und Erik Satie an. Mit Satie tauschte er häufig Gedanken und Sorgen aus, und beide fesselte das Thema des Sokrates, das in ihren Werken zum Ausdruck kam: in Saties sinfonischem Drama La Mort de Socrate und in der zu Ehren Saties entstandenen Skulptur Sokrate (Sokrates), 1922, von Brâncuși, der den Musiker „gerne ‚Sokrates Bruder‘ nannte.“ Es war das Jahr, in dem Brâncuși, der immer unzufrieden mit den Fotografien seiner Skulpturen war, Man Ray begegnete; dieser berichtete in seinem Buch Autoportrait, dass er Brâncuși aufgesucht habe, um ihn zu fotografieren, der Bildhauer habe jedoch keinen Wert auf die Veröffentlichung gelegt. Was ihn interessierte, seien gute Fotografien seiner Werke. Bis jetzt, schrieb Man Ray, hätten ihn die paar Abbildungen, die er gesehen hatte, enttäuscht, so eine Fotografie des Marmors Mademoiselle Pogány aus der Ausstellung in der New Yorker Armory Show, die ihm Stieglitz geschickt hatte. Nur er [Brâncuși] sei in der Lage, seine Skulpturen zu fotografieren.
Erste Veröffentlichung über Brâncuși
Im Herbst 1921 erschien eine Brâncuși gewidmete Nummer der Little Review – eine Zeitschrift, die in New York in der Fifth Avenue 66 auch eine Galerie mit Namen The Little Review Gallery hatte – mit der Aufschrift „Brancusi number“ auf rotem Streifband. Herausgegeben wurde sie von Margaret Anderson unter der Mitarbeit von Jean Cocteau, Jean Hugo, Guy Charles-Cros, Paul Morand, Francis Picabia und Ezra Pound, der in dieser Ausgabe „den ersten bedeutenden Artikel über den Bildhauer (mit vierundzwanzig Fotoreproduktionen)“ publizierte, „der zweifellos, zusammen mit einem späteren Artikel in ‚This Quarter‘, das grundlegende Dokument zur Datierung bestimmter Werke darstellt.“
1922 reiste Brâncuși mit der irisch-amerikanischen Schönheit Eileen Lane, die der Bildhauer als seine Tochter einführte, nach Rumänien und besuchte mit ihr den Skiort Sinaia sowie Peștișani, wo er das mögliche Projekt im Hinblick auf die Errichtung für ein Kriegsdenkmal in Târgu Jiu in Angriff nahm und die Steinbrüche der Umgebung besuchte. Die Heimreise führte zurück mit Aufenthalten in Rom und Marseille. Im folgenden Jahr entstand eine Skulptur, die Eileens Namen trägt.
Im Oktober 1923 kam der irisch-amerikanische Rechtsanwalt und Kunstsammler John Quinn für etwa zwei Wochen inkognito nach Paris. Quinn, der Förderer der Armory Show, hatte dort die Werke Brâncușis kennengelernt und erwarb bis zu seinem Tod viele seiner Werke, so 1914 in der Galerie 291 eine Version der Skulptur Mademoiselle Pogány für 6000 Francs. Bei einem Golfspiel in Fontainebleau, zu dem Brâncuși eingeladen worden war, ließ Quinn den Künstler gewinnen, obgleich dieser nie zuvor einen Schläger in der Hand gehabt hatte. Den Gewinn, ein Set neuer Golfschläger, präsentierte Brâncuși noch jahrelang stolz an der Wand seines Ateliers. John Quinn starb 1924. Marcel Duchamp erwarb zusammen mit Henri-Pierre Roché auf Wunsch Brâncușis aus Quinns Nachlass 29 Skulpturen des Künstlers, um zu vermeiden, dass nach einem zu großen Angebot der Marktpreis fallen würde. In einer Ausstellung der Brummer Gallery in New York verkaufte er einige Werke; weitere Verkäufe folgten nach und nach.
Illustrationen in Zeitschriften, Ausstellungen in New York
1924 publizierte die von Ford Madox Ford im selben Jahr gegründete Zeitschrift Transatlantic Review 64 Tafelabbildungen und ein Gedicht Brâncușis. Den Sommer verbrachte er in Saint-Raphaël, wo er am Strand aus angeschwemmten Korkeichenstämmen die Skulptur Le Crocodile (Das Krokodil), einen „Krokodilstempel“, schuf.
In der Zeitschrift This Quarter, die in Paris von Ernest Walsh und Ethel Moorhead 1925 herausgegeben wurde, veröffentlichte das in dem im Heft enthaltene Art Supplement eine Folge von 46 Fotoreproduktionen Brâncușis, bestehend aus 37 datierten Aufnahmen von Werken, vier Porträts des Bildhauers und fünf Zeichnungen. Vorangestellt waren neun Aphorismen Brâncușis – „Brâncușis Antworten über das direkte Behauen, das Polieren und die Einfachheit in der Kunst sowie Aphorismen für Irène Codreanu“ – und eine von ihm verfasste Histoire de brigands (Räubergeschichte).
Von Januar bis März des Jahres 1926 besuchte Brâncuși New York, da zwei Ausstellungen in der Wildenstein Gallery stattfanden: die Exhibition of Trinational Art, French, British, American, auf der er die vier Werke Torse (Torso), L’Oiseau (Der Vogel) und zwei Skulpturen der Figure (Figur) ausstellte, sowie die vom 16. Februar bis 3. März dauernde zweite Einzelausstellung seiner Werke. Kurz vor seiner Abreise erhielt Brâncuși eine Einladung zur offiziellen Eröffnung einer Ausstellung am 7. Januar im Art Center zur Erinnerung an John Quinn, der im Juli 1924 verstorben war. Er konnte sie jedoch nicht wahrnehmen, da er erst am 28. Januar mit dem Schiff in New York ankam. Bevor Brâncuși am 22. März New York verließ, machte er in den Wildenstein Galleries Bekanntschaft mit dem amerikanischen Architekten William Lescaze und wurde von Béatrice Wood, einer Freundin Marcel Duchamps und Henri-Pierre Rochés, eingeladen.
Zunehmende Prominenz als Bildhauer
Im Mai 1926 reiste Brâncuși nach Antwerpen in Belgien, wo die Gruppenausstellung L’Art francais moderne stattfand. Im Juni des Jahres äußerte Eugène Meyer den Wunsch, die Skulptur L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum) für 4000 Dollar vom Bildhauer zu erwerben. Brâncuși brachte diese selber von Paris nach New York, da ihm im November des Jahres eine Ausstellung in der Brummer Gallery gewidmet war. Er wurde an der amerikanischen Zollkontrolle mit dem Hinweis aufgehalten, dass es sich um ein Stück Metall handele, das steuerpflichtig sei. Brâncuși konterte, dass es ein Kunstwerk sei und als solches nicht versteuert werden müsse. In der Folge fand ein langwieriger Prozess um die Skulptur statt, bei dem es um ebendiese Frage ging, ob die Skulptur im Sinne einer Manufakturware zollpflichtig oder ein Werk der Kunst sei. Das Gericht entschied sich 1928 für Letzteres.
Von 1927 bis 1929 arbeitete der amerikanisch-japanische Bildhauer Isamu Noguchi als Assistent in Brâncușis Pariser Atelier und wurde von dessen Werk reduzierter Formen inspiriert. In einem Aufsatz über seine verschiedenen Begegnungen mit dem Bildhauer berichtete Noguchi, welchen Wert Brâncuși darauf legte, dass jedes Werkzeug zweckentsprechend und mit Ehrfurcht und Geduld zu behandeln sei. Die Äxte und die fast 1,5 Meter lange Säge mussten immer so gut geschliffen sein, dass sie quasi durch ihr Eigengewicht in das Holz einzudringen vermögen.
Im Dezember 1927 veröffentlichte die Zeitschrift De Stijl drei Fotografien von Brâncușis Werken: Princesse (Prinzessin); Sculpture pour aveugles (Skulptur für Blinde) und ein Foto des Künstlers, nachdem sie ein Jahr zuvor in ihrer Nummer 77 Negresse blonde (Blonde Negerin) abgebildet hatte. Die gleichnamige Künstlergruppe war 1917 von Theo van Doesburg, den der Bildhauer gut kannte, und Piet Mondrian gegründet worden.
1929 besuchte James Joyce – von John Quinn und Ezra Pound auf Brâncuși hingewiesen – den Bildhauer in seinem Atelier und bat um eine Porträtzeichnung für eine Buchpublikation. Nachdem Brâncuși mehrere Skizzen angefertigt hatte, wählte der Schriftsteller drei aus: eine Profilzeichnung, eine weitere in Frontansicht sowie eine abstrakte Zeichnung mit einer Spirale und drei Vertikalen. Diese Zeichnungen wurden später auf dem Schutzumschlag des Joyce-Werkes Tales Told of Shem and Shaun, eines Kapitels des in Entstehung befindlichen Romans Finnegans Wake, abgedruckt.
Am 11. Februar 1930 unterzeichnete Brâncuși zwei Mietverträge. Einen für ein mittelgroßes Atelier, das auf den Namen von Marcel Duchamp angemeldet war und nunmehr auf seinen Namen lief und einen weiteren für ein Atelier im Ruche des Arts, den Bienenkorb der Künste, der 1902 von Alfred Boucher gegründet worden war. Boucher ließ auf dem freien, bewaldeten und mit Blumenrabatten geschmückten Grundstück einen „La Chapelle“ genannten Pavillon, der als Atelier diente, und um die dreißig weitere Ateliers errichten, in denen unter anderem Künstler wie Amedeo Modigliani, Chaim Soutine und Marc Chagall wirkten.
In diesem Jahr lernte er die britische Konzertpianistin Vera Moore kennen, nachdem der Sammler und Kurator der Tate Gallery of Modern Art Jim Ede, der seinen Wohnsitz auf Kettle’s Yard hatte, den Bildhauer zu einem ihrer Konzerte eingeladen hatte. 1934 brachte Moore einen Sohn zur Welt, John Moore, den Brâncuși nie als sein Kind anerkannt hat.
Denkmal in Târgu Jiu, Reisen nach Indien und New York
1936 erhielt Brâncuși einen Auftrag des Maharadschas von Indore, der für den Temple de la Délivrance (Tempel der Befreiung) die Bronze Vogel im Raum erworben hatte. Für den rumänischen Pavillon auf der Weltausstellung 1937 in Paris war Brâncuși mit L’Oiselet (Das Vögelchen), 1929, vertreten. Eine zunächst vorgesehene Colonne sans fin (Endlose Säule) im Garten des Pavillons wurde aus Zeitgründen verworfen. Zwischen Juni und September 1937 arbeitete der Bildhauer an einem Kriegsdenkmal in Târgu Jiu. Nach zweimonatigem Aufenthalt in Paris reiste er Anfang November zurück nach Rumänien, um die Aufrichtung der zum dreiteiligen Ensemble gehörigen endlosen Säule zu beobachten. Weitere Bestandteile des Denkmals sind La Table du silence (Der Tisch des Schweigens) und La Porte du baiser (Das Tor des Kusses).
Anfang 1938 reiste Brâncuși über Bombay nach Indore, um am Temple de la Délivrance zu arbeiten, traf den Maharadscha jedoch nicht an. Ein Würdenträger empfing ihn und ließ den Bildhauer im Palast wohnen. Er konnte über ein Auto und einen Chauffeur verfügen, besichtigte das Land und reinigte die Skulpturen, die der Maharadscha in seinem Atelier gekauft hatte. Zu einer Fertigstellung des Tempels sollte es durch den Tod des Maharadschas nicht mehr kommen. Am 27. Januar reiste Brâncuși mit demselben Schiff, mit dem er gekommen war, wieder ab und befand sich am 3. Februar in Suez, um von dort nach Kairo zu reisen und die Museen der Stadt sowie die Sphinx und die Pyramiden von Gizeh zu besichtigen.
Am 19. April 1939 reiste Brâncuși nach New York. Der Anlass war die Ausstellung Art In Our Time, mit der das Museum of Modern Art seinen zehnten Geburtstag feierte. Auf der im gleichen Zeitraum stattfindenden Weltausstellung in New York sollten ebenfalls einige Werke des Bildhauers gezeigt werden. Da die Organisatoren jedoch einen für sein Werk geeigneteren Ort als den rumänischen Pavillon wünschten, wandten sie sich an den Direktor des Museums, Alfred Barr. Dieser schlug vor, die Präsentation der Ausstellung im Museum in den letzten Tagen der Weltausstellung im Oktober zu beginnen. Man kam darin überein, die Plastik Le Miracle (Le Phoque) (Das Wunder [Der Seehund]) von 1936 in der Ausstellung zu präsentieren, zu deren beiden Steinsockeln ein Motor mit Transformator und ein Kugellager gehören, wodurch sich das Werk langsam dreht. Ende des Jahres organisierte Yvonne Zervos, die Frau von Christian Zervos, in der Galerie Mai eine Ausstellung mit Werken von Brâncuși sowie von Hans Arp, Jorge González Camarena, Paul Klee und Henri Laurens.
Zweiter Weltkrieg
Brâncuși überlebte den Zweiten Weltkrieg in häufig feuchten Ateliers – im Juli 1941 hatte er ein mittelgroßes fünftes Atelier gemietet. Er ernährte sich von Sauermilch, selbstgemachtem Quark und Sauerkohl sowie von Polenta. Er baute sich mit Hilfe einer großen Konservendose, auf die er ein geschwungenes und mit einem Hahn versehenes Rohr schweißte, einen kleinen Destillierapparat. Die zugewiesenen Tabakrationen reichten ihm nicht, da sein Konsum beträchtlich war. Daher besorgte er sich Tabakpflanzen auf dem Blumenmarkt, die er an seinem Atelierfenster weiterzog, um die Grundlage für seinen Zigarettenkonsum sicherzustellen.
1943 stellte Brâncuși den Marmor La Tortue (Die Schildkröte) und eine neue Version von Le Phoque (Der Seehund) in blaugrauem Marmor her. Die Schildkröte wurde im Jahr 1955 vom Guggenheim-Museum und im darauf folgenden Jahr vom Philadelphia Museum verkehrt herum aufgestellt präsentiert. Brâncuși, der die Museen auf diesen Irrtum hinwies, bemerkte, nachdem ihm das Guggenheim-Museum den Ausstellungskatalog zuschickte: „Nanu, jetzt fliegt sie ja, meine Schildkröte!“ Das Werk steht auf zwei übereinander liegenden runden Steinsockeln, von denen der obere sich mit Hilfe eines Motors langsam dreht. Der Marmor wurde 1947 vom Musée National d’Art Moderne angekauft.
Guggenheim, Maywald und Sammlung Arensberg
1947 kamen Natalia Dumitresco und Alexandre Istrati, ein Malerehepaar aus Rumänien, durch ein Stipendium der französischen Regierung nach Paris und begegneten gleich nach ihrer Ankunft Brâncuși, der sie darum bat, bei ihm zu bleiben. Sie halfen dem Bildhauer bei seiner Arbeit bis zu seinem Tod im Jahr 1957. Brâncuși setzte sie in seinem Testament als Universalerben ein.
Im Sommer 1947 wurden zwei von Peggy Guggenheim zur Verfügung gestellte Werke Brâncușis auf der 24. Biennale di Venezia ausgestellt: Maïastra von 1912 und L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum) von 1940. Für eine Fotoreportage in der Zeitschrift Architecture d’aujourd’hui (Architektur heute) hatte Brâncuși dem Fotografen Willy Maywald sein Atelier geöffnet. Dieser hatte den Auftrag, für eine Nummer, die der modernen Plastik gewidmet werden sollte, über Brâncuși, Pablo Picasso, Joan Miró, Fernand Léger, Henri Matisse und Henri Laurens zu berichten.
Ein großes Anliegen Brâncușis im Jahr 1950 war die angemessene Vorstellung der von Walter und Louise Arensberg gemeinsam geführten Privatsammlung. Nach gescheiterten Verhandlungen mit diversen Museen sollte die Sammlung als Schenkung offiziell am 27. Dezember des Jahres dem Philadelphia Museum of Art übergeben werden. Zuvor fand im Oktober eine Ausstellung dazu statt. Die Arensberg-Sammlung enthielt zu diesem Zeitpunkt neunzehn Werke des Bildhauers, von denen zehn Werke aus dem Nachlass von John Quinn stammten. Ferner enthielt die Sammlung Werke von Paul Cézanne, Vincent van Gogh, Georges Braque sowie Marcel Duchamps Nu descendant un escalier no. 2. Der Brâncuși gewidmete Flügel des Museums war ein großzügig angelegter Saal; in einem Nebensaal stand die Büste von Mademoiselle Pogány aus geädertem Marmor, daneben Die Badenden von Cézanne und ein Gemälde van Goghs.
Die letzten Jahre
Das Târgu-Jiu-Ensemble bildete den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. In den verbleibenden neunzehn Jahren seines Lebens, in denen seine Anerkennung weltweit wuchs, schuf er etwa ein Dutzend Werke, die meistens die Themen seiner früheren Arbeiten wiederholten.
Am 13. Juni 1952 erhielt Brâncuși die im Vorjahr beantragte französische Staatsbürgerschaft. Hilfe leisteten dabei die beiden Töchter Jules Supervielles, die die Unterlagen für den Bildhauer zusammenstellten, sowie der Einsatz des Musée National d’Art Moderne. Brâncuși erhielt den von der Polizeipräfektur ausgestellten Personalausweis am 9. Oktober des Jahres.
Am 31. Dezember 1954 starb in Australien die durch sein Skulpturenporträt Mademoiselle Pogány berühmt gewordene ungarische Malerin und Freundin Margit Pogány. Im Januar 1955 zog sich Brâncuși bei einem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zu. Nach einer langwierigen stationären Behandlung im Krankenhaus, bei der er 30 Eingriffe, fünf Röntgenuntersuchungen und vierzehn Laboruntersuchungen über sich hatte ergehen lassen müssen, konnte er am 3. Mai 1955 das Krankenhaus verlassen. In der Folgezeit kam es aufgrund seiner Unsicherheit auf den Beinen zu mehreren Stürzen, beispielsweise im April 1956, als er eine Treppe hinunterfiel. Brâncuși belastete dies seelisch und er behauptete: „Das war schon immer meine Schwäche, das hat mit meinem Sternzeichen zu tun, ich bin Fisch.“ Zu dieser Zeit bekam er ein Prostataleiden und ein Ekzem. Da er nicht an die traditionelle Medizin glaubte, nahm er seine vom Arzt verschriebenen Medikamente nicht ein.
Nach dem 80. Geburtstag machte sich der Bildhauer Gedanken, was mit seinen Werken nach seinem Tod geschehen würde. Ein Angebot des Guggenheim-Museums hielt Brâncuși für das interessanteste, da ihn die Sorge einer möglichen Weltkatastrophe verfolgte. Es besagte, dass in New York ein Museum errichtet werden solle, „das den größten Teil seiner Arbeiten enthalten und dazu die Sicherheit eines Atombunkers bieten würde.“ Das Musée National d’Art Moderne machte Brâncuși den Vorschlag, dass die Schenkung seiner Werke an Frankreich, respektive an die Stadt Paris, erfolgen möge. Ende März 1956 kam der Plan auf, in Meudon auf dem Grundstück des Rodin-Museums ein Atelier für seine Werke zu bauen, der jedoch nicht realisiert wurde.
Constantin Brâncuși starb am 16. März 1957 nach langer Krankheit in Paris und wurde auf dem Cimetière Montparnasse beerdigt. Nach den testamentarischen Verfügungen des Bildhauers übergaben seine Alleinerben Natalia Dumitresco und Alexandre Istrati das gesamte Inventar seines Ateliers, mit Ausnahme von Bargeld, Wertpapieren und Aktien, zugunsten des Musée National d’Art Moderne an den französischen Staat. In Rumänien setzen sich Kulturaktivsten und Mitglieder des Parlaments für die Rückführung der sterblichen Überreste Brâncușis nach Rumänien ein, dafür finden auch öffentliche Kundgebungen statt.
Werk
Brâncușis bildhauerische Grundlagen
Das Jahr 1907 war der entscheidende Wendepunkt in der bildhauerischen Entwicklung Constantin Brâncușis. Waren seine früheren Arbeiten noch stark durch Auguste Rodins Naturalismus geprägt, so wandte sich der Bildhauer bei seinen figurativen Skulpturen nunmehr einerseits der taille directe, also der direkten sichtbaren Bearbeitung des Materials, andererseits der rigorosen Vereinfachung der Formen zu. Inspiriert und bestärkt wurde er durch die Holzplastiken von Paul Gauguin, die er 1906 in einer Retrospektive sah, und im Herbst 1907 durch die blockähnliche Steinplastik L’accroupi von André Derain in der Galerie Daniel Kahnweiler. Zwischen 1913 und 1914 arbeitete er mit verschiedenen Materialien wie Stein, Holz und Gips und ließ seine Arbeiten in Bronze gießen. Brâncușis Hauptsujet war der menschliche Kopf. Wie Pablo Picasso war Brâncuși von der afrikanischen Fetischkunst beeinflusst, die in einer neuen Art der Vergeistigung des Materials, gepaart mit der Situation des Körpers im Raum, zum prägenden Thema für die kubistische Plastik wurde.
Brâncușis bildhauerisches Vorgehen bestand in der Reduzierung des Sujets auf elementare Grundformen, die oftmals poliert waren. Der Künstler hob hervor, dass die Politur nur für eine fest geschlossene, ausgereifte Kernform notwendig sei. Der materielle Glanz der geschliffenen Oberfläche dürfe nicht als Dekoration verstanden werden, sondern als Öffnung zum Raum und als Voraussetzung eines transparenten Wechselspiels, wobei dem Licht eine gestalterische Aufgabe zufalle. Der Rückgriff auf geometrische Grundformen entsprach nicht nur Brâncușis archetypischem Formdenken, sondern gleichermaßen seinem Bestreben nach Abstraktion und „Primitivismus“ im bildhauerischen Gestalten.
Constantin Brâncuși
Verschiedene Sockelformen
Musée National d’Art Moderne,Atelier Brancusi, Paris
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Eine Besonderheit im Werk des Bildhauers Brâncuși ist die Gestaltung des Sockels mit der Absicht, „alle Formen in einer Form zusammenzufassen und lebendig zu machen“. War der Sockel bisher nur als nebensächlicher Träger einer Skulptur betrachtet worden, widmete ihm der Künstler seine besondere Aufmerksamkeit und gab ihm eine bildhauerische Form. Er benutzte beispielsweise verschiedene Materialien für Skulptur und Sockel, wählte geometrische Formen, wenn die Skulptur weich-organisch angelegt war, oder türmte mehrere Sockelelemente übereinander. Ohne diese Sockelgestaltung wäre Alberto Giacomettis Einheit von Skulptur und Sockel nicht denkbar. Die in den 1960er Jahren aufkommenden Bodenplastiken, wie zum Beispiel die von Joseph Beuys, Richard Serra oder Robert Morris, folgten ebenfalls Brâncușis Anregung.
Auswahl einiger Skulpturen
Constantin Brâncuși
Le Baiser, 1907/08
Stein
Hamburger Kunsthalle, Hamburg
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Prométhée, 1911
Marmor
Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
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Maïastra, 1911
Polierte Bronze
Tate Gallery, London
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Mademoiselle Pogány I, 1912
Marmor
Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
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Le Nouveau-Né I, 1915
Marmor
Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
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Princesse X, 1915/16
Polierte Bronze
Musée National d’Art Moderne,Atelier Brancusi, Paris
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Mit der Steinskulptur Le Baiser (Der Kuss) von 1907, ein Zitat der gleichnamigen Skulptur Rodins aus dem Jahr 1886, machte sich der Bildhauer erstmals ein Thema zu eigen, das er im Laufe seines künstlerischen Lebens in verschiedenen Versionen, als Skulptur wie als Zeichnung, immer wieder neu aufgriff. Inspiriert von Skulpturen der rumänischen Volkskunst, mag sie darüber hinaus an die byzantinischen Kaiserfiguren erinnern, die sich auf der Nordseite der St. Markus Kathedrale in Venedig befinden, da diese einen ähnlichen Ausdruck aufweisen. In der Betonung der Hände und der sich umschlingenden Arme des blockhaft aufgefassten Motivs weist die Skulptur eine Verbindung zu André Derains hockenden Figuren auf, sowohl in Größe, Material, Schnitttechnik und Massivität. Derains Werk wurde im Herbst 1907 in der Galerie Daniel Kahnweiler gezeigt, kurz bevor Brâncuși die erste Skulptur des Kusses in Stein schlug.
Nach dem Kuss wurden seine Skulpturen zunehmend abstrakt. 1911 wandte sich Brâncuși dem Thema des Prometheus zu, das in der gleichnamigen Skulptur – einmal in einer Ausführung in Marmor sowie dreimal in Bronze – seine Gestalt fand. Die ungarische Malerin Margit Pogány hatte für den Bildhauer Passagen aus Johann Wolfgang von Goethes Pandora übersetzt, in denen es um den Aufstand der Titanen geht. Er verarbeitete das Thema nicht auf akademische Art: „Ich konnte doch diesen großartigen Mythos nicht durch einen Adler darstellen, der die Leber eines am Kaukasusgipfel angeketteten Körpers zerfrißt.“
Ab 1911 schuf der Bildhauer die Maïastra – mit Ausführungen in Marmor sowie in Bronze, gefolgt von einer Ausführung in polierter Bronze im Jahre 1912 –, ein goldener Wundervogel, der in rumänischen Legenden und Volkssagen als Pasărea Măiastră auftaucht. Ihm wird nachgesagt, dass er ein wunderbares Lied mit übernatürlicher Kraft von sich gab, dem Märchenprinzen half, seine Geliebte zu befreien, und der „an der Erschaffung der Welt und an dem Kampf zwischen Gut und Böse beteiligt“ war.
Brâncuși schuf fünf Versionen der Mademoiselle Pogány innerhalb von zwei Dekaden: den Gips aus dem Jahr 1912 und diesem folgende Ausführungen in Marmor und Bronze, die in den Jahren 1913, 1919, 1931 und 1933 entstanden. Mademoiselle Pogany I aus dem Jahr 1913 existiert in vier Bronzeversionen, bei denen die Haarpartie patiniert ist, sowie dem Gips. Mademoiselle Pogany II von 1919 besteht aus geädertem Marmor, der auf einem auf drei Holzsockeln stehenden Steinsockel befestigt ist und sich im Besitz des New Yorker Unternehmers Ronald S. Lauder befindet. Mademoiselle Pogany III aus dem Jahr 1931 ist in weißem Marmor ausgeführt, der auf einem Steinsockel steht; Mademoiselle Pogany III von 1933 ist eine polierte Bronze mit Steinsockel auf Holzsockel. Mademoiselle Pogany I und III (1912 und 1931) sind im Bestand des Philadelphia Museum of Art.
Im Jahr 1915 fertigte Brâncuși eines seiner bedeutendsten Werke, Le Nouveau-Né I (Der Neugeborene I). Die in Marmor gefertigte ovale Skulptur zeigt den Kopf eines Neugeborenen mit weit aufgerissenem Mund, das nach Luft schnappt. Der Bildhauer selbst drückte es folgendermaßen aus: „Die Lungen werden mit Luft angefüllt, das Dasein eines neuen Wesens auf dieser Erde wird erkennbar, mit all seiner Lebenskraft und seiner Angst vor den Mysterien.“ Und weiter: „Die Neugeborenen sind verärgert bei ihrer Geburt, da man sie gegen ihren Willen zur Welt bringt.“
Aus dem Jahr 1916 stammt die Skulptur Princesse X. Es gibt Vermutungen, dass Prinzessin Marie Bonaparte, Psychoanalytikerin und Bekannte von Sigmund Freud, Brâncuși zu der Skulptur angeregt haben könnte. Princesse X mit ihren runden Brüsten und langen Haaren erweckt mit ihren Formen mehr den Eindruck eines männlichen Geschlechtsteils, eines Phallus, was im Jahr 1920 zu einem Ausstellungsskandal in Paris geführt hatte. Die britische Bildhauerin und Schriftstellerin Nina Hamnett beschreibt in ihrem 1932 erschienenen Buch Laughing Torso die Bronze als eine Weiterentwicklung einer im Jahr 1909 entstandenen Skulptur – den verschollenen Marmor Portrait (Femme se regardant dans un miroir) oder Madame P. D. K. Brâncuși selbst erwähnte für die Bronze von 1916 eine zu dieser Zeit real existierende rumänische Prinzessin, die er jedoch geheim hielt.
Gleichfalls 1916 entstand die in Holz ausgeführte Studie Portrait de Mme Meyer (Porträt Mrs. Meyer), die im Jahr 1930 in leicht veränderter Formgebung in schwarzem Marmor unter dem Titel Portrait de Mme E. Meyer Jr. (Porträt von Mrs. E. Meyer Jr.) ausgeführt wurde. Agnes E. Meyer, die der Bildhauer 1912 durch Edward Steichen kennengelernt hatte, erwarb sie im Jahr 1934 für 3500 Dollar. Die Holzskulptur entstand in einer Periode, in der Brâncuși von der afrikanischen Kunst beeinflusst war. „Es war auch eine Phase, in der er sich mit dem Problem des Gleichgewichtes auseinandersetzte; der Entwurf des Kopfes war wegen des Umkippens eine Herausforderung und erzeugte ein Profil, das umso überraschender ist, wenn man den perfekten gerade Rücken in Betracht zieht. Das Werk ist, mit Ausnahme einer Variation, symmetrisch bis zum untersten Element; es strebt edel von seiner Basis aus nach oben und schafft es, den Eindruck einer ganzen Figur zu erwecken, obwohl lediglich der Kopf und der Hals gezeigt wird.“
Constantin Brâncuși
L’Oiseau d’or, 1919
Polierte Bronze
Art Institute of Chicago, Chicago
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L’Oiseau dans l’espace, 1923
weißer Marmor
Centre Pompidou, Paris
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Im Jahr 1919 entstand die Skulptur L’Oiseau d’or (Der goldene Vogel), ein weiterer Meilenstein in der künstlerischen Entwicklung Brâncușis; er streckte die ovale und weibliche Form der in Marmor gestalteten Maïastra von 1911, von der es eine in Bronze polierte Fassung von 1912 gibt, in die Senkrechte nach oben. Die dadurch erreichte Vereinfachung der Gesamtform betont den Schwung. „Diese Vereinfachung“, so schrieb der Bildhauer, „ist nicht das Ziel der Kunst. Man erreicht sie gegen seinen Willen, wenn man das Wahre und nicht die Hülle, die wir sehen, sondern das, was sie verbirgt, machen will.“
Mit L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum) aus dem Jahr 1923 entstanden ab diesem Zeitpunkt 17 weitere Werke gleichen Titels. 1925 ein gelber Marmor, ein weißer Marmor und zwei polierte Bronzen; 1927 eine polierte Bronze; 1927/28 eine polierte Bronze; 1928 eine polierte Bronze und 1929 ein weißer Marmor; 1930 eine polierte Bronze; 1931 eine polierte Bronze, ein weißer Marmor, ein schwarzer Marmor und ein blaugrauer Marmor; um 1940 eine polierte Bronze; um 1940 bis 1941 eine polierte Bronze und ein blaugrau gefärbter Gips, der zwischen 1940 und 1945 entstand, sowie ein letzter blaugrauer Marmor aus dem Jahr 1947. Brâncuși konzentrierte sich nicht auf die körperlichen Attribute des Vogels, sondern auf dessen Bewegung. Flügel und Federn sind beseitigt, der Körper verlängert, Kopf und Schnabel auf eine schräg angelegte ovale Fläche reduziert. Er balanciert auf einem schlanken konischen Fuß, die Aufwärtsbewegung ist fließend.
Das Târgu-Jiu-Ensemble
Zwischen Juni und September 1937 arbeitete der Bildhauer an einem Kriegsdenkmal in Târgu Jiu, einem Auftragswerk der Frauenliga von Gorj; er wählte am 25. Juli den Ort für die erste Skulptur des 1938 fertiggestellten dreiteiligen Denkmals aus. Die Werkteile La Colonne sans fin (Die endlose Säule), La Table du silence (Der Tisch des Schweigens) und La Porte du baiser (Das Tor des Kusses) bilden auf einer Strecke von etwa eineinhalb Kilometer eine Achse. Eine klare Deutung für das Ensemble gibt es nicht; mit seinem sakralen Charakter verweist es jedoch auf frühe rituelle Steinsetzungen und bildet einen Wegbereiter für neue offene Formen des Denkmals im 20. Jahrhundert.
Die endlose Säule
Die Skulptur wurde an jenem Ort erbaut, an dem im Jahr 1916 die „rumänischen Truppen, […] die deutsche Offensive am Fluss Jiu zurückgeschlagen hatten […].“ Mit dem Motiv der Endlosen Säule hatte sich Brâncuși bereits seit dem Jahr 1917 beschäftigt. In diesem Jahr war es Bestandteil der Skulpturengruppe L'Enfant au monde.
Die Montage der aus Gusseisen gefertigten Säule mit ihren 15 rhombenförmigen Elementen sowie einem Halbelement und einem Dreiviertelelement wurde im November 1937 abgeschlossen und im selben Monat aufgerichtet; sie ragt 29,33 Meter in die Höhe und hat ein Gesamtgewicht von 29 Tonnen. Das Gesamtgewicht der Elemente beträgt 14226 Kilogramm; der Stahlkern wiegt 15 Tonnen. Im Inneren der Säule befinden sich vier Blitzableiter. Auf dem oberen Halbelement der Säule bildet eine undurchlässige Platte, die das Eindringen von Wasser verhindert, den Abschluss. Im Juli 1938 erfolgte die von einem Schweizer Unternehmen ausgeführte Verkleidung mit vergoldetem Messing.
In den 1950er Jahren sollte die Endlose Säule, die der kommunistischen Regierung als „zu bürgerlich“ missfiel, niedergerissen werden, der Plan wurde jedoch nicht ausgeführt. Im Mai 1996 nahm der internationale World Monuments Fund (WMF) das dreiteilige Ensemble von Târgu Jiu in die Liste der weltweit 100 am meisten gefährdeten Denkmäler auf, worauf außer dem WMF die Weltbank, UNESCO, die Henry Moore Foundation sowie zahlreiche private Spender Rumänien eine Restaurierung ermöglichten, die im Jahr 2000 abgeschlossen war.
Heute bildet die Endlose Säule das Hauptelement des Stadtwappens von Târgu Jiu.
Der Tisch des Schweigens
In der Nähe des Flusses Jiu findet sich weiterhin der von zwölf steinernen Rundhockern umgebene Tisch des Schweigens. Im Jahr 1937 wurde von Brâncuși ein erster Tisch aufgestellt. Nach seiner Rückkehr nach Paris beschlossen die Stadtväter, eine erläuternde Inschrift mit dem Namen des Bildhauers einmeißeln zu lassen, was Brâncuși nach seiner Rückkehr 1938 nach Targu-Jiu erzürnte, und er forderte, die Inschrift zu entfernen.
Doch der Tisch gefiel ihm nicht mehr, er ließ einen neuen größeren Tisch anfertigen und stellte ihn auf den kleineren Tisch. Die Aufstellung der zwölf steinernen, symmetrisch um den Tisch herum angeordneten Sitze hatte Brâncuși zunächst paarweise in 40 Zentimeter Entfernung vom Tisch konzipiert, akzeptierte später jedoch die gegenwärtige Einzelanordnung. Die Maße des oberen Tischdurchmessers betragen 2,15 m, die Dicke 0,43 m, der untere Durchmesser 2 m und 0,45 m Dicke.
Das Tor des Kusses
Dem Tisch des Schweigens folgt nach etwa 130 Metern das Tor des Kusses, das wie der Tisch aus hellem Travertin gefertigt ist. Die Arbeiten am Tor wurden im Juni 1937 begonnen und am 20. September 1938 beendet. Brâncuși hatte bei der Erstellung zwei Mitarbeiter: Ion Alexandrescu aus Bukarest und Golea aus Dobrita. Das Tor wurde am 27. Oktober 1938 in Târgu Jiu eingeweiht.
Die Proportionen des Tores wurden den Maßen des goldenen Schnitts entsprechend angelegt. Das Tor ist 5,13 m hoch, 6,54 m lang; die Pfosten haben eine Höhe von 3,32 m und eine Breite von 1,69 m. Das Kussmotiv wird auf jeder Fläche sechzehnmal und auf jeder Seite des Travertin-Frieses viermal wiederholt. Die Platten des Frieses sind mit einem Gerüst aus Eisen im Zement befestigt. An den beiden Schmalseiten des Tores steht jeweils eine Steinbank aus Granit.
Möbel und Objekte
Während seines ganzen Lebens baute Brâncuși verschiedene Möbel, Haushaltsgeräte, Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände. Sie sollten nach den Wünschen des Bildhauers zusammen mit den Skulpturen zwischen der bildhauerischen Kunst und seinem Lebensbereich eine Einheit bilden. 1923 entstand beispielsweise eine Spinnrocke, die er nach seiner Rückkehr von einer gemeinsamen Reise mit Eileen Lane nach Rumänien herstellte. 1925 fertigte er mehrere Senkbleie an und 1928 einen selbstgebauten Ofen – mit Ofenrost, Zünder, Feuerhaken –, der in seiner Dunkelkammer stand. Zwischen 1928 und 1930 entstanden eine Lampe aus Kupfer, eine einfache Glühbirne in einer Fassung, die senkrecht auf einem kreuzförmigen Steinsockel steht, sowie 1940 ein Kessel zum Kaffeerösten. Acht Jahre später schuf der überzeugte Koch einen Herd, den er „Pfeife“ nannte und der als Verlängerung des Kamins diente.
Fotografische Arbeiten
Brâncuși, der 1905 mit ersten Aufnahmen seiner Werke begonnen hatte, war 1914 sichtlich enttäuscht von einer Fotografie, die er bei Alfred Stieglitz im Zuge seiner New Yorker Ausstellung in dessen Galerie von einer seiner Marmorskulpturen gesehen hatte. Die Fotografie sei schön, repräsentiere jedoch nicht sein Werk. Er erkannte „bald die Möglichkeit der Kamera als Hilfsmittel für seine Arbeit als Bildhauer“. Seine Aufnahmen der größeren und kleineren Skulpturen zeigen immer auch den sie umgebenden Raum, das Atelier als Ganzes, quasi in der Art eines „Super-Kunstwerkes“. 1921 traf Brâncuși auf Man Ray, der ihm den Nutzen dieses Mediums bestätigte und ihn den Umgang mit großflächigen Negativen lehrte. Sie kauften sich ein Stativ, Glasplatten und eine hölzerne Kamera, womit Brâncuși fortan seine Fotografien anfertigte. Da der Bildhauer die Abzüge selbst entwickeln wollte, richtete er sich wenige Zeit später eine Dunkelkammer in einer Ecke seines Ateliers ein.
Als Brâncuși im Alter von 81 Jahren starb, hinterließ er neben einem Werk von 215 Skulpturen zudem 557 Negative auf Glasplatten – 122 Atelierfotos, 253 Werkfotos, 183 dokumentarische Fotos –, von denen er jeweils zwei oder drei Abzüge hergestellt hatte. Die insgesamt 1299 Fotografien beinhalten 251 Atelierfotos, 697 Werkfotos und 351 dokumentarischen Fotos.
Rezeption
Das Atelier Brâncușis
Brâncuși verweigerte sich häufig Ausstellungen und sah sein Atelier am Montparnasse in der Impasse Ronsin als den wahren Ort der Darstellung seiner Werke an. Dort inszenierte er sie mit farbigen Vorhängen und Beleuchtungsanlagen. Vom rohen Klotz bis zu den fertigen Objekten und deren Varianten einschließlich der verkauften Arbeiten, die er als Gipsfassung ausstellte, bis hin zu den selbst gefertigten Möbeln präsentierte Brâncuși seinen künstlerischen Entwurf: Er schuf Kunst als Totale wie die Wegbereiter der Moderne van Gogh, Paul Gauguin und Edvard Munch.
Der Kunsthistoriker Uwe M. Schneede beschreibt Brâncușis mediale Möglichkeiten, die dieser konsequent nutzte: Der Sockel als Teil der Skulptur, das Atelier als Gesamtkunstwerk, seine Fotografie als Deutung und visuelles Gedächtnis. So war er – ähnlich wie Kurt Schwitters in seinem Merzbau – Künstler und Kurator, Ausstellungsarchitekt, Fotograf und Interpret zugleich.
Nach dem Tod Constantin Brâncușis im Jahr 1957 erhielt das Musée National d’Art Moderne in Paris von seinem Nachlass den Inhalt seines Ateliers, das seine Bildhauerwerkzeuge sowie viele seiner bedeutendsten Skulpturen enthielt. Im Einklang mit seinem letzten Willen wurde das Atelier 1997 von dem Architekten Renzo Piano in seiner Gesamtheit rekonstruiert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Der Nachbau des Ateliers liegt neben dem Centre Georges Pompidou an der Rue Beaubourg Nr. 19, Place Georges Pompidou.
Brâncușis Einfluss auf Modigliani
Im Jahr 1909 lernte der italienische Maler Amedeo Modigliani Constantin Brâncuși in Paris kennen und bezog auf dessen Anraten sein Atelier in der Cité Falguière am Montparnasse. Sie wurden Freunde, und durch Brâncușis Einfluss begann Modigliani schon in diesem Jahr mit der Steinbildhauerei, die er bis etwa 1914 in den Vordergrund seines Schaffens rückte, da er von dem knappen Stil Brâncușis und von afrikanischen Plastiken, die er durch diesen kennengelernt hatte, beeindruckt war. Die Kenntnis der afrikanischen Plastiken inspirierte Modigliani ebenfalls in seinen Gemälden zu seinen ovalen Porträtgesichtern und überlängten Körperformen. In seinem Eifer, als Bildhauer zu arbeiten, hatte Modigliani öfter versucht, den Marmor in einem Stück herauszuhauen. Brâncuși fand den Maler, dessen Gesundheit zu dieser Zeit durch den Konsum von Absinth und Haschisch stark litt und hierdurch diesen körperlichen Aufgaben nicht gewachsen war, eines Tages bewusstlos neben einem Steinblock liegen, den er bis zur völligen Erschöpfung bearbeitet hatte. Ein anderes Mal hatte er ihn vor seiner Ateliertür aufgehoben, ihn in sein Bett geschleppt und gewartet, bis Modigliani – der im hinteren Teil des Hofes der Impasse Ronsin 11 eine Gruppe von Ateliers besucht hatte, wo Opium geraucht wurde – zu Bewusstsein kam.
Peggy Guggenheims Erinnerungen an Brâncuși
Der Bildhauer war mit einigen reichen Damen der Gesellschaft befreundet, beispielsweise mit der Baronin Renée Irana Frachon, Agnes E. Meyer und Nancy Cunard, von denen er Skulpturenporträts schuf, sowie Peggy Guggenheim. Guggenheim erinnerte sich 1960 in ihrer Autobiografie Out of this Century. Confessions of an Art Addict an ihre Beziehung: „Brancusi war ein wunderbarer kleiner Mann mit Bart und durchdringenden dunklen Augen. Zur einen Hälfte war er ein schlauer Landarbeiter, zur anderen ein richtiger Gott. Ich war sehr glücklich, wenn ich mit ihm zusammen war. Es war ein Privileg, ihn zu kennen; unglücklicherweise war er sehr besitzergreifend und wollte meine Zeit vollständig beanspruchen. Er nannte mich Pegitza […] Früher hat er schöne junge Mädchen auf seine Reisen mitgenommen. Jetzt wollte er mich mitnehmen, aber ich ließ es nicht zu. Er war in seinem Heimatland Rumänien gewesen, wo ihm die Regierung einen Auftrag für öffentliche Monumente angeboten hatte. Darüber war er sehr stolz. Die meiste Zeit seines Lebens war er sehr genügsam und vollkommen seinem Werk ergeben. Er gab alles dafür auf, selbst die Beziehung zu Frauen. Im Alter fühlte er sich daher sehr allein. Brancusi zog sich gern gut an und lud mich zum Essen ein, wenn er nicht selbst für mich kochte. Er litt an Verfolgungswahn und dachte immer, die Leute spionierten hinter ihm her. Er liebte mich sehr […]“
Brâncușis Einfluss auf die Skulptur
Brâncușis modulare Skulptur der Endlosen Säule aus identischen Rhomboiden bot neue Möglichkeiten in der bildhauerischen Kunst, die vorher nicht existiert hatten. Sie wurden später von den amerikanischen Minimalisten aufgegriffen. Künstler, die seinen Spuren folgten, sind beispielsweise: Isamu Noguchi, Donald Judd, Carl Andre, William Tucker, Christopher Willmarth und Scott Burton, der Möbel als Skulpturen gestaltete und meinte, Brâncușis Sockel seien gleichermaßen Kunstwerke wie seine Holzarbeiten.
Claes Oldenburg, dessen Plastiken auf vielfältige und komplexe Weise für Form und Inhalt von den Skulpturen Brâncușis inspiriert sind, hat sich zum Beispiel in Colossal Clothspin (Kolossale Wäscheklammer) von 1972 auf die formale Nähe zu der Skulptur Der Kuss, die zwei Menschen darstellt, berufen. Gemäß der Pop Art verwandeln sie sich in einen künstlichen Gegenstand, in diesem Fall in eine Wäscheklammer. Dan Flavin hatte dem Bildhauer seine Neonplastik Diagonale des 25. Mai 1963, eine Neonröhre, gewidmet, die in ihrer Grundidee den polierten Bronzen Brâncușis entspricht. Flavin wollte durch diese Widmung seine minimalistische Plastik einreihen „in die große Geschichte der Bildhauerei […] und auf die eine oder andere Weise vermeiden, daß sein Werk als ganz gewöhnliche Lichtröhre aufgefaßt würde.“
Nach eigener Aussage war die britische Bildhauerin Barbara Hepworth nach einem Besuch in Brâncușis Atelier im Jahr 1932 beeindruckt von dem Künstler und seinem Werk. Seine Behandlung des rohen Steins inspirierte fortan ihr eigenes Werk.
Brâncușis Bedeutung für die skulpturale Architektur
Constantin Brâncușis Hinwendung zur skulpturalen Architektur ist für die Geschichte der modernen Architektur von grundlegender Bedeutung. Bei einem erstmaligen Besuch von Manhattan im Jahr 1926 soll er beim Anblick der Skyline überrascht ausgerufen haben: „Das ist ja mein Atelier!“. Die Wolkenkratzer der Gegenwart nähern sich tatsächlich immer mehr der skulpturalen Erscheinung an. „Der Sieg über den Maßstab“ ist eine Erfindung der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts; im Zeitalter des Computers, der keine Dimension mehr kennt, findet sie eine nicht immer unproblematische Nachfolge. In der Ausstellung „ArchiSkulptur“ 2004/2005 in Basel war unter anderem das körperhafte Modell des in London eingeweihten Wolkenkratzers der „Swiss Re“ von Norman Foster zur Marmorskulptur L’Oiseau (1923/47) von Brâncuși in Beziehung gesetzt. Jean Nouvel entwarf 1989 für La Défense in Paris ein 425 Meter hohes Bürogebäude mit der Bezeichnung „Tour sans fins“ („Turm ohne Enden“), dessen Erscheinung mit zunehmender Höhe filigraner wurde. Der Entwurf wurde später jedoch nicht realisiert.
György Ligetis Etüde nach der Colonne sans fin
Der aus Rumänien gebürtige Komponist György Ligeti komponierte um 1993 eine Etüde für Piano Solo Nr. 14, die er nach der Endlosen Säule Brâncușis Coloana fără sfârșit nannte und die nach deren Verhältnissen von 16 Modulen und einem Halbmodul – korrekterweise sind es 15 Module, ein Halbmodul und ein Dreiviertelmodul – komponiert wurde, wobei die Tonleiter in einer „unendlichen“ Spirale aufsteigt.
Brâncuși auf dem Kunstmarkt
Im Mai 2005 erreichte bei einer Auktion von Christie’s eine Version von Brâncușis Werk L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum), gefertigt aus grau-blauem Marmor, den Rekord für den höchsten Preis einer Skulptur: Der Hammer fiel bei 27,5 Mio. US-$. Diese Version war bisher den Kunstwissenschaftlern nicht bekannt. Ein Experte von Christie’s hatte sie in Frankreich in einer Dachkammer entdeckt.
Der Rekord wurde im Februar 2009 noch übertroffen: Ebenfalls bei Christie’s, auf der Kunstauktion des verstorbenen Yves Saint Laurent sowie seines Lebensgefährten Pierre Bergé, erzielte die hölzerne Skulptur Portrait de Madame L. R. (Porträt Madame L. R.) aus dem Jahr 1914–1917 einen Preis von über 29 Mio. US-$.
2012 erreichte bei Christie’s in New York eine auf Hochglanz polierte Bronze von Le premier cri (Der erste Schrei) aus dem Jahr 1917 den Zuschlag bei 13,2 Mio. US-$. Sie war jahrzehntelang in der Sammlung des Brâncuși-Freundes Henri-Pierre Roché enthalten. Im Mai 2017 erzielte eine nur 27 cm messende Bronzeskulptur (Schlafende Muse) auch wieder bei Christie’s 51 Millionen Dollar (Schätzwert 25 bis 35 Mio.).
Ehrungen
In der postkommunistischen Ära in Brâncușis Geburtsland Rumänien ab 1989 wurde er 1990 postum als Mitglied in die Rumänische Akademie aufgenommen. In den Jahren 1991 und 1992 brachte die Rumänische Nationalbank Banknoten, die auf den Vorderseiten ein Porträt Brâncușis zeigen, im Wert von 500 Lei heraus.
Ebenfalls im Jahr 1992 wurde in Târgu Jiu die Universität Constantin Brâncuși (Universitatea Constantin Brâncuși) eröffnet. Die nach Brâncuși benannte Universität hat fünf Fakultäten und drei zusätzliche Fachbereiche.
Sein Geburtsort Hobița widmete ihm das „Casa memorială Constantin Brâncuși“.
Der deutsche Bildhauer Erwin Wortelkamp schuf im Jahr 1991 eine Holzskulptur mit dem Titel Ehrung für Brâncuși. Auch musikalisch ist Brâncuși geehrt worden: Der Komponist Gerhard Rosenfeld widmete ihm 1995 eine Sonate für Violine und Klavier mit dem Titel Pour Brâncuși.
Der Asteroid (6429) Brâncusi wurde nach ihm benannt.
Ausstellungen (Auswahl)
Einzelausstellungen
1914: Galerie 291, New York
1926: Wildenstein Gallery, New York
1926: Brummer Gallery, New York
1955–1956: Solomon R. Guggenheim Museum, New York
1969: Brancusi-Retrospektive. Philadelphia Museum of Art, Katalog von Sidney Geist
1996: Brancusi: Selected Masterworks from the Musée National d’Art Moderne und Museum of Modern Art, Museum of Modern Art, New York
1999: Constantin Brancusi. The National Museum of Art of Romania, Bukarest
2003: La dation Brancusi. Musée National d’Art Moderne, Paris
2003: Constantine Brancusi Photographs. Albion, London
2004: Constantin Brancusi – The Essence of Things. Solomon R. Guggenheim Museum, New York
2004: Constantin Brancusi – The essence of things. Tate Britain, London
2005: Brancusi – L’opera al bianco. Peggy Guggenheim Collection, Venedig
2005: Histoire de l’Atelier Brancusi. Musée National d’Art Moderne, Paris
2009: Constantin Brâncuși – Art Photographer. Nationalmuseum Warschau
2009/10: Constantin Brâncusi. Der Bildhauer als Fotograf. Museum der Weltkulturen, Frankfurt am Main
2011: Brancusi, film, photographie, images sans fin. Musée National d’Art Moderne, Paris
2018/19: Constantin Brancusi Sculpture. Museum of Modern Art (MoMA), New York, 22. Juli 2018 bis 17. Februar 2019
2019/20: Brancusi. Palais des Beaux-Arts de Bruxelles (BOZAR), Brüssel, 2. Oktober 2019 bis 12. Januar 2020
2022/23: Brancusi Photographie. Galerie Gmurzynska, Zürich, 10. November 2022 bis Januar 2023
Gruppenausstellungen
1907: Salon d’Automne, Paris
1913: Armory Show, New York
1913: Salon des Indépendants, Paris
1920: Salon des Indépendants, Paris
1926: Trinational Art. Wildenstein Gallery, New York (Februar)
1929: Deuxième exposition de sculpture internationale. Galerie Bernheim-Jeune, Paris
1936: Cubism and Abstract Art. Museum of Modern Art, New York
1940: Modern Masters from European and Amerivan Collectors. Museum of Modern Art, New York
1942: Art of This Century, New York
1943: Mirror of our Time, The Gallatin Collection. Philadelphia Museum of Art, Philadelphia (Mai)
1944: History of an American ‚291‘ and After. Selections from the Stieglitz Collection, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
1949: Galerie Maeght, Paris
1954: Begründer der modernen Plastik. Kunsthaus Zürich, Zürich
1955–1956: The Solomon R. Guggenheim Museum, New York
1959: documenta II, Kassel
1964: documenta III, Kassel
1986: SkulpturSein. Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf
1995: La Biennale di Venezia. Venedig
1997: Encounters With Modern Art: Works from the Rothschild Family Collections. San Francisco Museum of Modern Art, San Francisco
2008: A Forest of Sculptures. The Simon Spierer Collection. National Museum of Contemporary Art (MNAC), Bukarest
2008: 1914 – La Vanguardia y la Gran Guerra. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid
2008: Modigliani y su tiempo. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid
2009: Leaving Rodin behind? Sculpture in Paris, 1905–1914. Musée d’Orsay, Paris
2009/10: Von Rodin bis Giacometti – Plastik der Moderne. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
2011: Constantin Brancusi und Richard Serra, Fondation Beyeler, Basel, 22. Mai bis 11. August 2011
2014: Brancusi, Rosso, Man Ray – Framing Sculpture, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, 8. Februar bis 11. Mai
Werke (Auswahl)
1898: Vitellius. Gips, 61 × 43 × 27 cm, Muzeul de Arta, Craiova
1900: Laocoon (Laokoon). Gips, erste Ausführung in Ton, (verschollen)
1903: Général Dr. Carol Davila (General Dr. Carol Davila). Gips, 71 × 61 × 33 cm, Institut Sanitar Militar, Bukarest
1905: L’Orgeuil (Der Stolz). Gips, um 31 × 20 × 22 cm, Muzeul de Arta, Craiova
1906: L’Enfant (Das Kind). Gips, um 35 × 25,7 × 22,5 cm Sammlung George Oprescu, Bukarest
1907: Le Baiser (Der Kuss). Stein, 32,5 × 24,5 × 20 cm, Muzeul de Arta, Craiova
1908: Tête d’enfant (Kinderkopf). Marmor, 17,1 × 30,5 cm, Sammlung Yolanda Penteado, São Paulo
1909: Le Baiser (Der Kuss). Stein, 89 × 30 × 20 cm; Steinsockel, 155 × 64 × 33 cm, Friedhof Montparnasse, Grab Tanioucha Rashewskaia
1909: La Muse endormie I (Die schlummernde Muse I). Marmor, 17,2 × 27,6 × 21,2 cm, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington, D.C.
1910: La Baronne R. F. (Die Baronin R. F.). Stein, 27 cm, Standort unbekannt
1910: La Muse endormie I (Die schlummernde Muse I). Bronze, 17,5 × 26,5 × 19 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1911: Maïastra. Polierte Bronze, 90,5 × 17,1 × 17,8 cm, Tate Gallery, London
1911: Prométhée (Prometheus). Marmor, 12,7 × 7,7 cm, Philadelphia Museum of Art, The Louis and Walter Arensberg Collection, Philadelphia
1912: Mademoiselle Pogány I. Marmor, 61 × 43 × 27 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
1913: Mademoiselle Pogány I. Bronze, 43,8 × 27 × 30 cm, Museum of Modern Art, New York
1914: Deux pingouins (Zwei Pinguine). Marmor, 54 × 28,3 × 30,8 cm, Art Institute of Chicago, Chicago
1914–1917: Portrait de Madame L. R. (Porträt Madame L. R.). Eichenholz, Höhe 117,1 cm, Privatbesitz
1916: Portrait de Mme Meyer (Porträt Mrs. Meyer). Holz, 83 × 18 × 24 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1916: Princesse X (Prinzessin X). Marmor, 55,8 × 28 × 22,8 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1916: Sculpture pour aveugles (Skulptur für Blinde). Marmor, 15,2 × 30,4 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
1917: La Muse endormie II (Die schlummernde Muse II). Alabaster, 16,5 × 29,9 × 21 cm, Washington Gallery of Modern Art, Washington, D.C.
1917: Le Premier cri (Der erste Schrei). Polierte Bronze, 17 × 25,8 × 18 cm, Louisiana Museum, Humlebæk
1919: L’Oiseau d’or (Der goldene Vogel). Polierte Bronze, 217,8 × 29,9 × 29,9 cm 53,5 cm, Art Institute of Chicago, Chicago
1920: La Colonne sans fin (Die endlose Säule). Holz (alte Eiche), 558 × 34 × 37 cm, Musée National d’Art Moderne, Atelier Brancusi, Paris
1919: Mademoiselle Pogány II. Geäderter Marmor, 44,2 × 20 × 27 cm, Privatsammlung, Chicago
1917: La Muse endormie II (Die schlummernde Muse II). Bronze, 17 × 28,6 × 17 cm, Privatsammlung
1922: Socrate (Socrates). Holz, 111 × 28,8 × 36,8 cm, Museum of Modern Art, New York
1923: L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum). Weißer Marmor, 144,1 × 16,5 cm, Museum of Modern Art, New York (das erste Werk einer Serie)
1923: Tête, Eileen (Kopf, Eileen). Onyx, 29 × 24 × 16 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1925: L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum). Polierte Bronze, 127 × 15,5 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
1927: Jeune Fille sophistiquée [Portrait de Nancy Cunard] (Sich zierendes Mädchen [Porträt Nancy Cunard]). Holz, 55 × 12,5 × 55 cm, Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City
1927: L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum). Polierte Bronze, 184,8 × 16,5 × 12 cm, in: Ein Wald der Skulpturen – Sammlung Simon Spierer, Hessisches Landesmuseum Darmstadt
1930: Portrait de Mme E. Meyer Jr. (Porträt von Mrs. E. Meyer Jr.). 133 cm, schwarzer Marmor, National Gallery of Art, Washington, D.C.
1931: Mademoiselle Pogány III. weißer Marmor, 45,1 cm, Philadelphia Museum of Art
1933: Mademoiselle Pogány III. polierte Bronze, 44,5 × 17,8 × 24,1 cm, Privatsammlung
1937–1938: La Colonne sans fin (Die endlose Säule). 29,33 m, Târgu Jiu
1937–1938: La Porte du baiser (Das Tor des Kusses). 513 × 654 × 196 cm, Târgu Jiu
1937–1938: La Table du silence (Der Tisch des Schweigens). 45 cm, ø 215 cm, Târgu Jiu
1943: Le Phoque (Der Seehund). Grauer geäderter Marmor, 112 × 100 × 84 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1943: La Tortue (Die Schildkröte). Weißer Marmor, 31,8 × 93 × 69 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, Paris
Literatur
Friedrich Teja Bach: Constantin Brancusi. Metamorphosen plastischer Form. DuMont, Köln 2004, ISBN 3-8321-1839-X.
Quentin Bajac, Clément Chéroux, Philippe-Alain Michaud: Brancusi, film, photographie, images sans fin. Le Point du Jour, Paris 2011, ISBN 978-2-912132-68-0.
Pierre Cabanne: Constantin Brancusi. Pierre Terrail, Paris 2006, ISBN 2-87939-314-0.
Sidney Geist: Brancusi. The sculpture and drawings. Harry N. Abrams, Inc., New York 1975, ISBN 0-8109-0124-2.
Sidney Geist: Constantin Brancusi. 1876–1957. A Retrospective Exhibition. Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Philadelphia Museum of Art, The Art Institute of Chicago, 1969.
Carola Giedion-Welcker: Constantin Brancusi. Benno Schwabe & Co, Basel 1958.
Pontus Hulten (Vorw.): Brancusi. photographe. Musée National d’Art Moderne, Centre National d’Art et de Culture, Georges Pompidou, Paris 1982, ISBN 2-85850-025-8.
Pontus Hulten, Natalia Dumitresco, Alexandre Istrati: Brancusi. Klett-Cotta, Stuttgart 1986, ISBN 3-608-76226-4.
Ionel Jianou: Brancusi. Préface de Jean Cassou. Arted, Paris 1982, ISBN 2-85067-062-6.
Ina Klein: Constantin Brancusi. Natur, Struktur, Skulptur, Architektur. Dissertation, König, Köln 1991, ISBN 3-88375-182-0.
Weblinks
Brâncuși in der Deutschen Fotothek
Brâncuși bei Kunstaspekte
Brâncuși bei artcyclopedia (englisch)
Brâncuși-Skulpturen Museum of Modern Art, New York
originalgetreue Nachbildung seines , Centre Georges Pompidou, Paris (französisch)
Anmerkungen und Einzelnachweise
Bildhauer (Rumänien)
Bildhauer (Frankreich)
Künstler der Moderne
Abstrakte Bildhauerei
Künstler (documenta)
Teilnehmer einer Biennale di Venezia
Fotograf (Rumänien)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Geboren 1876
Gestorben 1957
Mann |
97159 | https://de.wikipedia.org/wiki/Neues%20Schloss%20Herrenchiemsee | Neues Schloss Herrenchiemsee | Das Neue Schloss Herrenchiemsee befindet sich auf der Herreninsel, der größten Insel des Chiemsees im südlichen Bayern. Nach der früheren Bezeichnung der Insel wird es auch gelegentlich als Neues Schloss Herrenwörth bezeichnet. Das Gebäude wurde ab 1878 unter dem sogenannten Märchenkönig Ludwig II. nach dem Vorbild des Schlosses von Versailles bei Paris erbaut. Die Entwürfe für den historistischen Bau stammen vorwiegend von Georg von Dollmann, die Ausführung übernahm der Österreicher Julius Hofmann. Schloss Herrenchiemsee war das letzte große Bauprojekt Ludwigs II., er bewohnte es nur wenige Tage. Die Arbeiten endeten mit dem Tod des Königs im Juni 1886, das Gebäude blieb in weiten Teilen unvollendet. Die Anlage ist unter der Aktennummer D-1-87-123-26 als denkmalgeschütztes Baudenkmal in der Bayerischen Denkmalliste verzeichnet.
Schloss Herrenchiemsee untersteht der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen. Es ist für die Öffentlichkeit zugänglich, die Gartenanlagen und die Innenräume können besichtigt werden. Im Südflügel des Schlosses befindet sich seit 1987 das König Ludwig II.-Museum.
Geschichtlicher Überblick
Vorgeschichte des Schlossgeländes und Entwürfe
Die auch als Herreninsel und Herrenwörth bekannte Insel Herrenchiemsee befand sich seit dem Mittelalter im Besitz des zum Bistum Chiemsee gehörenden Klosters Herrenchiemsee. Die Konventgebäude liegen im nördlichen Bereich der Insel. Durch die 1803 erfolgte Säkularisation und einen anschließenden Verkauf des Klosters gelangten sie an den Mannheimer Kaufmann Carl von Lüneschloß. Die früheren Klostergebäude wurden in den Folgejahren zum Teil abgebrochen, zum Teil zum sogenannten Alten Schloss Herrenchiemsee umgestaltet. Das Schloss und die Insel befanden sich von 1840 bis 1870 im Besitz des Grafen von Hunoltstein, der das Anwesen 1870 zum Verkauf anbot. Der Käufer war eine in Württemberg ansässige Holzverwertungsgesellschaft, die eine Abholzung des kompletten Baumbestandes der Insel anstrebte. Die Maßnahmen stießen bei der Bevölkerung auf Ablehnung und fanden in der regionalen Presse heftigen Widerspruch, wodurch der bayerische König Ludwig II. auf die Insel aufmerksam wurde.
Der junge König unternahm im Sommer 1867 eine längere Reise nach Frankreich, auf welcher als ein Höhepunkt der Besuch von Schloss Versailles geplant war. Durch den plötzlichen Tod seines Onkels Otto wurde Ludwig II. jedoch zur Rückkehr gezwungen, ohne das Schloss, mit dessen Geschichte er sich bereits seit Jahren intensiv beschäftigt hatte, gesehen zu haben. Im Dezember 1868 ließ er sich von Georg von Dollmann erstmals Entwürfe für ein Refugium nach dem Vorbild des französischen Schlosses vorlegen, für das als Bauplatz das Graswangtal in der Nähe von Schloss Linderhof vorgesehen war. Dieses Projekt wurde als Meicost Ettal oder auch als Tmeicos Ettal bezeichnet, wobei es sich um ein Anagramm des angeblichen Sinnspruchs des französischen Königs Ludwig XIV. handelte: „L’État, c’est moi“ (Der Staat bin ich).
Ludwig II. ließ die Entwürfe für das Schlossprojekt mehrfach überarbeiten. Zu Beginn der Planungen wünschte der König noch einen Pavillon, der sich in seiner Größe an den Trianon-Schlössern oder an Marly-le-Roi orientiert, doch bereits eine verkleinerte Kopie des Spiegelsaals und der Versailler Gartenfassade enthalten sollte. Die vorgestellten Entwürfe befriedigten Ludwig II. jedoch nicht und wurden mit jeder Überarbeitung aufwendiger. Aufgrund des mangelnden Platzes im Graswangtal konnte das Schloss im letztlich gewünschten Umfang dort nicht realisiert werden und der König ließ die Planungen zugunsten des Ausbaus von Linderhof ruhen.
Nachdem eine weitere geplante Reise nach Frankreich 1870 wegen der instabilen politischen Lage – in jenem Jahr brach der Deutsch-Französische Krieg aus – abgesagt werden musste, besichtigte Ludwig II. Versailles schließlich im Sommer 1874. Die französische Regierung ehrte den Staatsgast anlässlich seines Geburtstags am 25. August mit einer Vorführung der Versailler Wasserspiele. Unter dem Eindruck des Besuchs schrieb er im Herbst 1874 an den Grafen Dürckheim-Montmartin:
Nach dem Besuch trieb Ludwig II., der das Interesse an Meicost Ettal nie verloren hatte, die Fortführung des Projektes erneut an. Der König hatte im Jahr zuvor bereits die Herreninsel im Chiemsee für 350.000 Gulden erworben. Obwohl ihm die flache Seenlandschaft des Chiemgaus weniger zusagte als die Bergwelt Linderhofs, erwies sich die Insel aufgrund ihrer Größe und relativen Abgeschiedenheit als idealer Standort für die Wiederaufnahme des Bauprojektes. Aus dem anfänglichen Pavillon für das Graswangtal wurde im Planungsverlauf so zunächst ein das Corps de Logis von Versailles zitierender einflügeliger, dann hufeisenförmiger Bau und schließlich eine umfangreiche Variante des französischen Schlosses mit breit ausladenden Nebenflügeln. Insgesamt durchliefen die von Dollmann entwickelten Pläne für das neue Schloss 13 Entwürfe.
Das Schloss unter Ludwig II.
Der Grundstein für das Neue Schloss wurde am 21. Mai 1878 gelegt. Um die Arbeiten während der Bauphase besichtigen zu können, hielt sich der König in unregelmäßigen Abständen im Alten Schloss Herrenchiemsee auf, dort ließ er sich für diesen Zweck eine kleine Wohnung einrichten. Nach einem ersten Besuch der Insel im Jahr 1875 kehrte er anlässlich der Übergabe des soeben vollendeten Prunkschlafzimmers 1881 zurück und verbrachte von da an bis 1885 jeweils im Herbst eines Jahres einige Tage auf Herrenchiemsee.
Der sogenannte Sonnenkönig Ludwig XIV., der Bauherr des Versailler Schlosses, war das große Idol des bayerischen Königs. So wie die „Ritterburg“ Schloss Neuschwanstein eine Reminiszenz an die Welt des Mittelalters und die Werke Richard Wagners darstellte, war das Neue Schloss Herrenchiemsee als Denkmal für die französischen Bourbonenkönige gedacht. Beide Schlösser standen im Verständnis des Königs symbolisch für das von ihm verklärte Gottesgnadentum, die uneingeschränkte und durch den christlichen Gott legitimierte Herrschergewalt, über die Ludwig II. als Staatsoberhaupt einer konstitutionellen Monarchie nicht verfügte. Ähnlich wie schon Neuschwanstein einige Jahre zuvor, sollte auch Schloss Herrenchiemsee weder als Regierungssitz dienen, noch einen Hofstaat aufnehmen. Es war trotz seiner Größe lediglich als private Residenz des zurückgezogen lebenden Königs geplant, der sich zumeist nur von wenigen Bediensteten versorgen und die Regierungsarbeit weitgehend durch seine Hofsekretäre erledigen ließ. Damit stand das neue Schloss auf der Herreninsel im Kontrast zum Vorbild, dem von mehreren tausend Menschen bewohnten Versailles, in dem es keine Privatsphäre gab und das über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren das gesellschaftliche, kulturelle und politische Zentrum Frankreichs bildete.
Der frühe Tod Ludwigs II. im Sommer 1886 verhinderte, dass er den mit enormem Aufwand errichteten Palast dauerhaft nutzen konnte. Der König bewohnte das Schloss erst nach der Fertigstellung seiner privaten Wohnräume und hielt sich dort nur für wenige Tage vom 7. bis zum 16. September 1885 auf. In dieser Zeit empfing er die Schauspielerin Marie Dahn-Hausmann als Gast. Die Besuche des Königs erforderten eine aufwendige Organisation; der Spiegelsaal musste für ihn allabendlich illuminiert und das Treppenhaus mit üppigen Blumenarrangements geschmückt werden. Bemalte Leinwände verbargen die noch unvollendeten Bereiche der Gartenanlagen und die unausgebauten Räume des Schlossinneren.
Schloss Herrenchiemsee war das kostspieligste der Schlösser Ludwigs II., der seine Bauten mit seinem Privatvermögen, den Einnahmen aus seiner Zivilliste, den auf den Kaiserbrief folgenden Subsidien und letztlich auch mit zahlreichen Krediten finanzierte. Die Kostenvoranschläge für das Schloss beliefen sich ursprünglich auf 5,7 Millionen Mark, doch wuchsen die Ausgaben bis zum Tode des Königs nahezu auf das Dreifache, nämlich auf 16,6 Millionen Mark an. Damit war Herrenchiemsee teurer als Linderhof und Neuschwanstein zusammen, für die insgesamt rund 6,7 Millionen veranschlagt und schließlich 14,7 Millionen Mark ausgegeben wurden. Allein die Kosten für das Prunkschlafzimmer beliefen sich auf 384.000 Gulden und in den Innenräumen sind mehr als 4,5 Kilogramm Blattgold verarbeitet. Die hohen Schulden brachten den König an den Rand des Bankrotts und führten in Verbindung mit seiner zunehmenden Unlust am Regierungsgeschäft schließlich zu seiner Absetzung 1886. Die oft vertretene Behauptung, Ludwig II. habe mit seinen Schlössern den bayerischen Staatshaushalt ruiniert, ist dagegen unwahr. Faktisch förderten die zahlreichen Aufträge für die königlichen Bauten sogar die bayerische Wirtschaft. Soweit möglich, wurden die meisten Aufträge innerhalb des Königreichs vergeben, München entwickelte sich dadurch zu einem der führenden Zentren des Kunsthandwerks im deutschen Sprachraum.
Öffentliche Nutzung des Schlosses
Ludwig II. wollte Schloss Herrenchiemsee, wie auch seine anderen Bauten, nie für die Öffentlichkeit zugänglich machen und wünschte, dass die Schlösser nach seinem Ableben zerstört werden sollten. Die Nachlassverwaltung öffnete die Bauten jedoch schon wenige Wochen nach dem Tode des Königs und gab sie im August 1886 zur Besichtigung frei. Eine bedeutende Rolle in der bayerischen Landesgeschichte hat das nur wenige Tage als königliche Residenz dienende Bauwerk nie gespielt, es wird seit seiner Öffnung nahezu durchgehend als Museum genutzt. Nach dem Ende der Monarchie wurde das Schloss 1918 der sogenannten Verwaltung des ehemaligen Kronguts übergeben, aus der 1932 die bayerische Schlösserverwaltung hervorgegangen ist. Die Zeit der Weltkriege überstand das fernab der Kriegsschauplätze gelegene Neue Schloss ohne Zerstörungen, 1948 tagte der Verfassungskonvent zur Vorbereitung des Grundgesetzes im benachbarten Alten Schloss.
Das oft als Bayerisches Versailles bezeichnete Schloss gehört zusammen mit Linderhof und Neuschwanstein zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Deutschlands. 2019 konnten im Neuen Schloss Herrenchiemsee ca. 357.000 Besucher gezählt werden. Die Schlösserverwaltung hat in der Zeit von 1965 bis 2006 mehr als 53 Millionen Euro in die Liegenschaften der Herreninsel mit dem historischen Gebäudebestand investiert. Schloss Herrenchiemsee stand 2011 unter dem Motto Götterdämmerung – König Ludwig II. und seine Zeit im Mittelpunkt der Bayerischen Landesausstellung, in diesem Zusammenhang wurden seit 2010 der Marmorhof restauriert und bis 2011 neue Ausstellungsräume im unvollendeten Nordflügel eingerichtet. Für den Ausbau des Nordflügels, der bisher als Depotfläche der Schlösserverwaltung diente, wurden 4,9 Millionen Euro bereitgestellt. Eine Aufnahme der drei Königsschlösser in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO wird seit 2008 angestrebt.
Schloss Herrenchiemsee ist ganzjährig geöffnet. Die unter Ludwig II. eingerichteten Zimmerfluchten können im Rahmen von regelmäßigen Führungen besichtigt werden – nicht Teil der öffentlichen Führungen sind der Friedens- und der Kriegssaal als Abschluss der Spiegelgalerie sowie das kleine Marie-Antoinette-Kabinett in den privaten Wohnräumen des Königs. Mehrere der unvollendeten Räume des Südflügels beherbergen seit 1987 ein König Ludwig II. gewidmetes Museum, das sich in zwei Themenkreisen mit dem Leben des Königs und seinen Bauwerken befasst. Einer der Höhepunkte der Ausstellung ist das mit Originalteilen rekonstruierte erste Schlafzimmer des Königs aus Schloss Linderhof, das dort zugunsten des späteren größeren Schlafzimmers 1884 ausgebaut wurde. Schloss Herrenchiemsee ist außerdem alljährlicher Veranstaltungsort der Herrenchiemsee-Festspiele im großen Spiegelsaal. Die Herreninsel ist ausschließlich auf dem Wasserweg erreichbar, die Anlegestelle am Alten Schloss wird von Fahrgastschiffen aus Prien am Chiemsee angefahren.
Schloss
Schlossgebäude
Die Entwürfe für das Schloss entstammen den Plänen Georg von Dollmanns, der 1878 als ausführender Architekt verpflichtet und 1884 durch Julius Hofmann abgelöst wurde. Am Ostufer der Herreninsel wurde zur Unterstützung der Bauarbeiten ein durch Dampfmaschinen betriebenes Sägewerk eingerichtet, der Transport des Baumaterials erfolgte über eine eigens dafür verlegte Hilfseisenbahn. Das Schlossgebäude ist aus etwa elf Millionen gemauerten Backsteinen errichtet, die aus einer Ziegelei bei Ising stammen; die Fassaden sind verputzt, beziehungsweise mit Naturstein verkleidet. Ein Teil des benötigten Materials konnte direkt auf der Insel aus einem früheren Steinbruch des Klosters gewonnen werden. Außerdem wurde Hauzenberger Granit als Sockelsteine bzw. als Verkleidung für den Unterbau des Schlosses bis auf eine Bauhöhe von ca. 1,5 m verwendet. Dieser Granit gelangte mittels Dampfbooten und Schleppkähnen von Seebruck aus zum Depot am „Ziegelsteg“ am Westufer der Insel und von dort weiter mit einer Feldbahn zur Baustelle. Die Arbeiten am dreiflügeligen Hauptgebäude begannen im Frühling 1878, der Rohbau war bereits im Januar 1879 eingedacht und bis 1881 konnten die äußeren Fassaden mit ihrem Bauschmuck verkleidet und vollendet werden. Der Ausbau der Innenräume erfolgte bis 1885.
Außenbau
Das Schloss präsentiert sich als Baukörper in einfachen Grundformen. Das Gebäude ist dreigeschossig und besteht aus drei nahezu quaderförmigen Flügeln, die hufeisenförmig einen Ehrenhof umschließen. Auf den nach Westen zur Gartenanlage ausgerichteten, 23-achsigen Mitteltrakt folgen seitlich anschließend der Nord- und der Südtrakt mit jeweils 18 Achsen.
Die fast 100 Meter breiten Garten- und die kürzeren Seitenfronten kopieren nahezu exakt das Vorbild des Corps de Logis des Versailler Schlosses und folgen damit dem Stil des Klassizistischen Barocks. Die blockhaften Fassaden vermitteln durch ihre wenig akzentuierte Gestalt einen strengen Eindruck und werden lediglich durch flach aus dem Gebäudekörper hervorspringende, niedrige Risalite aufgelockert. Das Erdgeschoss ist zurückhaltend in schlichten Formen gestaltet, die darüber liegende Beletage mit den Prunkräumen ist durch hohe Bogenfenster, Pilaster und Säulenstellungen betont. Das oberste Stockwerk des Schlosses ist als Attikageschoss ausgeführt und von einer umlaufenden, mit Vasen und Trophäendarstellungen geschmückten Balustrade gekrönt, hinter der sich die flachen Dächer verbergen. Der Figurenschmuck stellt Allegorien der Tugenden, der Wissenschaften, der Berufsstände und der Künste dar.
Während die Gartenfassaden des Bauwerks das Versailler Schloss nachahmen, musste mit den Hoffassaden für Herrenchiemsee eine eigene Lösung entwickelt werden. Das Schloss von Versailles war das Ergebnis einer mehrere Jahrzehnte währenden Bautätigkeit. Der dortige Marmorhof bildete das Kernstück einer gewachsenen Anlage, die aus einem kleinen Jagdschloss Ludwigs XIII. hervorgegangen war. Die Gebäude um diesen Marmorhof waren noch im Stil des unter Ludwig XIII. herrschenden französischen Frühbarocks gestaltet, an dessen Formen Ludwig II. für sein Refugium auf der Herreninsel kein Interesse zeigte. Die Hoffassaden Herrenchiemsees übernehmen vom Versailler Vorbild nur noch den von acht Säulen getragenen Balkon des königlichen Schlafzimmers. Sie folgen in ihrem Aufbau den gartenseitigen Fassaden des Schlosses, sind aber schlichter und mit weniger aufwändigem Bauschmuck gestaltet. Interessanterweise ähneln die Hoffassaden des Schlosses in dieser Form der unter Ludwig XV. zur Mitte des 18. Jahrhunderts geplanten, aber nicht realisierten Neugestaltung der Versailler Stadtfassaden. Entgegen der klassischen barocken Architekturtheorie diente der Ehrenhof Herrenchiemsees nie als Hauptzugang zum Schlossgebäude, da der geplante Schiffsanleger im Osten der Herreninsel nicht gebaut wurde und Besucher über den Anleger im Norden der Insel direkt zur Gartenfront des Schlosses gelangen.
Das unvollendete Schloss
Die Bauarbeiten an Herrenchiemsee kamen aufgrund der Finanzierungsschwierigkeiten ab 1886 weitgehend zum Erliegen, zu jener Zeit war erst der dreiflügelige Hauptbau vollendet. Das Schloss ist in seinem heutigen Umfang nur ein Torso, denn die ursprünglichen Entwürfe sahen ein sehr viel umfangreicheres Bauwerk in Anlehnung an die vielflügelige Gesamtanlage des Versailler Schlosses vor. Wie dieses, sollte auch Herrenchiemsee im rechtwinkligen Anschluss an den Nord- und den Südtrakt des hufeisenförmigen Hauptgebäudes zwei 124 Meter lange Seitenflügel sowie ostwärts gerichtete Hofbauten erhalten. Während die ausgedehnten Nord- und Südflügel in Versailles aus jeweils einem stadt- und einem gartenseitigen langen Trakt bestehen, die durch Querbauten mehrfach miteinander verbunden sind, sahen die Pläne für Herrenchiemsee eine reduzierte Variante aus jeweils einem einzelnen Gebäudeflügel vor. Der nördliche Bau, der rechtwinklig an den heutigen Nordtrakt des Corps de Logis anschloss, befand sich zum Zeitpunkt des Todes Ludwigs II. bereits im Rohbau, für den symmetrischen Südflügel waren bis dahin lediglich die Fundamente gelegt. Weil es für den leerstehenden Gebäuderiegel kein sinnvolles Nutzungskonzept gab und auch um die Symmetrie des Schlosses zu wahren, wurde der Nordflügel 1907 wieder abgetragen, sodass sich das Schloss seitdem in U-förmiger Gestalt präsentiert.
Wie im Vorbild, war auch auf Herrenchiemsee eine aus dem äußeren Nordflügel ragende Schlosskapelle geplant. Die Schlosskapelle, die Verlängerungsbauten des Hofs und die östlich des Hofs geplanten Marställe waren bis 1886 noch nicht begonnen und gelangten somit nie über das Entwurfsstadium hinaus. Ein als symmetrisches Pendant zur Schlosskapelle gedachtes Theater im Südflügel wurde 1876 noch vor Baubeginn wieder aus den Plänen gestrichen. Für die Innenräume des Schlosses war von vornherein nur der Ausbau der königlichen Wohn- und Repräsentationsräume vorgesehen, der bis 1885 weitgehend abgeschlossen war. Für alle weiteren Räumlichkeiten existierte kein Nutzungskonzept, und so verblieben die übrigen Zimmerfluchten zum Teil bis in die Gegenwart im Rohbauzustand. In einige der leeren Räume des Südflügels zog im 20. Jahrhundert das König-Ludwig-Museum. Die leerstehenden Räume des Nordflügels wurden ab 2009 mit technischer Infrastruktur versorgt und dienen seitdem als Ausstellungsflächen. In diesem Zuge wurden im April 2010 16 jeweils 250 Meter tiefe Erdwärmesonden gebohrt, um den Nordflügel zu temperieren. Im Sommer 2011 veranstaltete dort das Haus der Bayerischen Geschichte die große Landesausstellung unter dem Titel Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Mit fast 600.000 Besuchern wurde sie in der 30-jährigen Geschichte der Landesausstellungen zur meistbesuchten Ausstellung dieser Veranstaltungsreihe.
Stilistische Einordnung
Schloss Herrenchiemsee gehört zu den letzten großen Schlossbauten im deutschen Sprachraum. Das Bauwerk bildet eine nahezu einzigartige Ausnahme in der nachahmungsfreudigen Architekturlandschaft des 19. Jahrhunderts. Anders als die meisten Werke der Epoche ist es keine romantische Neuschöpfung im Sinne des Historismus wie zum Beispiel Schloss Neuschwanstein oder Schloss Stolzenfels, sondern in seiner äußeren Gestalt eine nur im Detail überarbeitete Nachahmung eines bereits bestehenden Gebäudes. Es ist jedoch auch nicht als reine Kopie zu verstehen, sondern es führt das stilistisch uneinheitliche Vorbild des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer dort nicht erreichten Einheit zu Ende.
Dem Vorbild nachgeahmt sind die im Stil des klassizistischen Barocks gestaltete Gartenfassade und die Paraderäume, die auf eklektizistische Weise um die neu geschaffene Hoffassade, die im Stil des Rokoko gehaltenen privaten Wohnräume und die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, wie den versenkbaren Speisetisch und das großzügige Glasdach des Treppenhauses, ergänzt wurden. Obwohl in seiner geplanten Gestalt nicht vollendet, wird das blockhafte Gebäude in seiner heutigen Form als ästhetisch einheitlich beschrieben.
Innenräume
Die unter Ludwig II. vollendeten Innenräume befinden sich fast ausschließlich im mittleren Stockwerk des Schlosses. Das Attika- und das Erdgeschoss verblieben damals im Rohbau ohne Ausstattung. Eine Ausnahme bildeten nur das Vestibül, das Marmorbad mit dem benachbarten Ankleidezimmer und der Mechanikraum des Speisesaals im unteren Stockwerk. Die Ausstattung der Zimmer und Salons erfolgte in zwei Abschnitten: Die nach Versailler Vorbild gestalteten neun Repräsentationsräume stattete Georg von Dollmann bis 1881 aus, die königlichen Wohnräume schufen Julius Hofmann und Franz Paul Stulberger bis 1885. Die Gemälde des Schlosses schufen unter anderem Wilhelm Hauschild, Ferdinand Piloty, Ludwig Lesker und Franz Widnmann. Ludwig II. ließ die an der Ausstattung beteiligten Künstler zum Teil nach Versailles reisen, damit sie vor Ort die Vorlagen studieren konnten. Die Wand- und Deckengemälde der Paradezimmer übernehmen thematisch weitgehend den Inhalt der entsprechenden Vorbilder: Das Leben und Wirken des französischen Sonnenkönigs sowie Szenen und Allegorien aus der Römischen und der Griechischen Mythologie. Die Wohnräume, denen ein entsprechendes Versailler Vorbild fehlt, führen die Motive aus der Mythologie fort und sind um Szenen aus dem Leben Ludwigs XV. und des Hofalltags in Versailles ergänzt. Die Möblierung Herrenchiemsees erfolgte ohne Bezugnahme auf das Versailler Vorbild, dessen Ausstattung infolge der Revolutionen von 1789 und 1848 durch Verkäufe und Plünderungen zu einem großen Teil verloren ging.
Wie bereits Neuschwanstein und Linderhof ließ Ludwig II. auch Schloss Herrenchiemsee mit moderner Technik ausrüsten. Viele Innenräume von Versailles ließen sich aufgrund ihrer Größe oder fehlender Kamine kaum bis gar nicht heizen, für Schloss Herrenchiemsee war dagegen zeitgemäßer Komfort vorgesehen: Damit die Beheizung der Räume nicht ausschließlich über Kamine erfolgen musste, erhielt das Schloss eine Warmluftheizung, deren große Kesselanlage sich im Kellergewölbe befindet.
Paraderäume
Die Paraderäume des Schlosses befinden sich entlang des auf den Garten ausgerichteten Haupttrakts sowie an der West- und Südseite des Hofs. Sie bilden das Herzstück Herrenchiemsees und standen mit Variationen des Versailler Spiegelsaals und des dortigen Prunkschlafzimmers von Anfang an im Mittelpunkt der Pläne für Meicost Ettal. Die Raumfluchten der Paradezimmer zitieren die unter Ludwig XIV. im Stil des Louis-quatorze eingerichteten Staatsgemächer, des Appartement du Roi, unterscheiden sich jedoch zum Teil in Größe, Ausstattung und Lage. Die Bedeutung, die der König diesen Räumen zumaß, wird schon darin ersichtlich, dass erste Aufträge für Stoffe und Bezüge bereits 1875, also drei Jahre vor der Grundsteinlegung des Schlosses erteilt wurden. Die Zimmer dienten während seines kurzen Aufenthalts nur als begehbares Denkmal, eine Funktion als wirkliche Staatsgemächer mussten die Räumlichkeiten nicht erfüllen.
Der erste Raum der Paradezimmer ist das große Treppenhaus im Südflügel. Es handelt sich um eine Nachahmung des Escalier des Ambassadeurs, der einstigen Gesandtentreppe des Versailler Vorbilds. Die Lage der Herrenchiemseer Treppe im Südtrakt entspricht in Versailles eigentlich der sehr viel kleineren Königinnentreppe; die zweiläufige Gesandtentreppe lag dort spiegelsymmetrisch im Nordflügel, wo sich im bayerischen Schloss das bis in die Gegenwart unvollendete nördliche Treppenhaus befindet. Die Versailler Gesandtentreppe, welche eine herausragende Rolle im Zeremoniell Ludwigs XIV. gespielt hatte und bald darauf auch in Deutschland (etwa in Schleißheim, Pommersfelden, Würzburg oder Brühl) zum Vorbild für großartige Treppenhäuser geworden war, ist bereits 1752 unter Ludwig XV. zugunsten weiterer Wohnräume wieder abgebrochen worden, was auch den Bedeutungsverlust protokollarischer Zeremonien in der Rokokozeit widerspiegelt. Sie konnte aber anhand von zahlreichen Stichen und Plänen in Herrenchiemsee nahezu vorbildgetreu rekonstruiert werden. Eine Abweichung bildet lediglich das von einer großen Eisen- und Glaskonstruktion gebildete moderne Oberlicht. Auf das Treppenhaus folgen entlang der Südseite des Hofs der nach den königlichen Leibwachen benannte Hartschiersaal, welcher der Versailler Salle des Gardes nachempfunden ist, und das erste Vorzimmer, dem in Versailles die Première Antichambre entspricht. Dieses Vorzimmer, das im französischen Schloss den öffentlichen Mahlzeiten des Königs diente, wurde dort auch als Salon des großen Gedecks bezeichnet. Auf das erste folgt das zweite Vorzimmer, der sogenannte Ochsenaugensaal, der seinen Namen von zwei großen ovalen Fensteröffnungen in der Gesimszone erhielt. Der Ochsenaugensaal befindet sich hinter der westlichen Hoffassade und ist größer dimensioniert als das Vorbild in Versailles, was Dollmann durch eine Verkleinerung des benachbarten Lichthofs erreichen konnte. Innerhalb des französischen Hofzeremoniells diente der Ochsenaugensaal vor allem als Wartesalon, in dem sich die Höflinge morgens vor dem Lever des Königs aufhielten, in Herrenchiemsee diente er hingegen wie die übrigen Paraderäume lediglich als privates Schaustück.
Auf das zweite Vorzimmer folgt als Zentrum des Schlosses das große Prunkschlafzimmer. Es entspricht in seiner Lage dem berühmten Schlafzimmer des Sonnenkönigs in Versailles, das dort ab 1701 in der Schlossmitte seinen Platz erhielt. Als Ort des Lever und des Coucher, des Aufstehens und Schlafengehens des Königs, stand es im Mittelpunkt des Versailler Hofalltags, und Ludwig II. legte auf diesen Raum, den er als Schlafzimmer niemals nutzte, besonderen Wert. Die zeichnerischen Entwürfe ließ er durch Christian Jank und Angelo Quaglio als plastische Modelle ausführen und mehrfach überarbeiten. Der Raum in Herrenchiemsee übertrifft den Raum des Vorbilds an Größe und weicht auch mit seiner prunkvolleren Ausstattung vom Versailler Schlafzimmer ab. So sind beispielsweise die farbigen Lünetten und auch das durch eine Balustrade vom übrigen Raum getrennte Prachtbett Neuschöpfungen, die es im französischen Schloss in dieser Form nicht gibt. Als farbliche Grundtöne herrschen Gold und vor allem Rot vor, das im Schloss die Symbolfarbe des Sonnenkönigs ist. Das Schlafzimmer war als erster Raum des Schlosses bereits 1881 fertiggestellt und konnte dem dafür angereisten König am 18. September übergeben werden. An das Schlafzimmer schließt sich der sogenannte Beratungssaal an, der in seiner Lage und Dekoration dem erst unter Ludwig XV. geschaffenen Ratskabinett in Versailles entspricht. Der Saal übertrifft die Ausstattung des Vorbilds durch aufwendigere Gesimsfelder und das Plafondgemälde.
Den Höhepunkt der Paraderäume bildet der große Spiegelsaal, der mit seinen Eckräumen, den Salons des Friedens und des Kriegs, sowohl gestalterisch als auch thematisch eine Einheit bildet. Die Spiegelgalerie hat eine Länge von 75 Metern, womit sie den 73 Meter langen Spiegelsaal in Versailles übertrifft. Die Raumflucht mit den beiden untergeordneten Nebensälen ist 98 Meter lang und belegt damit die gesamte Westseite des Schlosses. Wie beim Vorbild ist auch auf Schloss Herrenchiemsee das von außen sichtbare Attikageschoss der Gartenfassade nur architektonischer Schein, da sich hinter den eckigen Fenstern das Gewölbe des fast 13 Meter hohen Raums befindet. Den 17 großen Spiegeln des Saals stehen 17 Rundbogenfenster gegenüber, die einen Blick auf die Gartenanlagen gewähren. Durch diese Anordnung wird das Licht im gesamten Spiegelsaal reflektiert und bricht sich in den Kristallelementen der 33 Deckenlüster und 44 Standkandelabern. Die Dekoration des Saales besteht neben den Spiegeln, Lüstern und Kandelabern aus vergoldeten Gips- und Holzelementen sowie aus Marmorbüsten römischer Kaiser und den Statuen römischer Götter. Die Deckengemälde sind, abgesehen von kleineren Abweichungen, Kopien der Gemälde aus der Spiegelgalerie von Versailles. Sie zeigen die wichtigsten Kriegszüge Ludwigs XIV. Eine Besonderheit der Deckengemälde besteht im plastischen Schmuck, der nach bayerischer Art an einigen Stellen aus den Gemälden heraustritt und den es im Vorbild nicht gibt.
Wohnräume des Königs
Die Wohnräume Ludwigs II. folgen auf die Paradezimmer und befinden sich hofseitig im Mittelgeschoss des Nordflügels. Die königliche Wohnung besteht aus drei großen Zimmern, zwei Kabinetten und mehreren Durchgangsräumen. Ihre ungefähre Lage entspricht dem im Stil des Louis-quinze gehaltenen Petit Appartement von Ludwig XV. in Versailles. Der Nachfolger des Sonnenkönigs bildet auch das inhaltliche Leitmotiv in der Ausstattung und den Themen der Gemälde. Die Räume sind eine Neuschöpfung des Neorokoko und sind, anders als die Paradezimmer, zwar eine Interpretation, aber keine Nachahmung des französischen Vorbilds.
Von den Paradezimmern kommend, beginnt die Flucht der Wohnräume mit dem königlichen Schlafzimmer, dem wirklich von Ludwig II. bei seinem Aufenthalt im Schloss genutzten Schlafraum. Das prunkvolle Bett steht in einem Alkoven und ist durch eine niedrige Balustrade vom übrigen Raum getrennt. Der Schlafraum ist in seinen Dimensionen zwar bescheidener als das Prunkschlafzimmer im Hauptflügel, aber ebenso aufwändig gestaltet. Es schließt in seiner Ausstattung an das bereits für Linderhof entwickelte zweite Rokoko an. Als Kontrastfarbe zu den weißen und goldenen Flächen dienen dunkelblaue Töne, die im Schloss Herrenchiemsee als Symbolfarbe für den Bauherrn Ludwig II. stehen. Das Schlafzimmer ist über eine Geheimtreppe mit dem darunter liegenden Ankleidezimmer und dem ovalen Marmorbad verbunden. Eine Wandtür führt aus dem Schlafzimmer in das kleine Marie-Antoinette-Kabinett, das dem Andenken an die von Ludwig II. besonders verehrte französische Königin diente und – als einziger Raum des Schlosses – im Stil Louis-seize ausgestaltet wurde. Auf das Schlafzimmer folgt das sogenannte Arbeitszimmer. Für diesen Raum wurde in Paris innerhalb von zwei Jahren bis 1884 eine Kopie des Bureau du Roi von Johann Heinrich Riesener geschaffen, ein Schreibtisch, der zu den berühmtesten Möbelstücken Versailles’ gehörte und auf dessen Fertigstellung Ludwig XV. mehr als zehn Jahre warten musste. Dem Arbeitsraum benachbart ist das ovale Esszimmer, das nach einem ähnlichen Salon im Hôtel de Soubise gestaltet ist. Es ist wie das Esszimmer in Linderhof mit einem mechanisch betriebenen Tischlein-Deck-Dich versehen, einer Hubvorrichtung, die es dem König ermöglichte, ohne die Anwesenheit von Bediensteten zu speisen; der Esstisch konnte mit einem Teil des Fußbodens um eine Etage abgesenkt und dort gedeckt werden. Die Speisen mussten in der Hofküche des Alten Schlosses zubereitet und ins Neue Schloss gebracht werden, da es dort zu Lebzeiten des Königs noch keine funktionierende Küche gab.
Das sogenannte Blaue Kabinett, das unvollendete Porzellankabinett und das Marie-Antoinette-Kabinett ergänzen die drei Wohnräume des Königs. Diese kleinen Salons sollten als Ruhe- und Schauräume dienen und sind hinter der großen Zimmerflucht um den Lichthof gruppiert. Der aufwändige Kronleuchter des Porzellankabinetts ist, wie auch jener des Speisezimmers, ein Einzelstück aus der Meißner Manufaktur. Als letzter Raum des Wohntraktes befindet sich die Kleine Spiegelgalerie am Ende des Nordflügels, die als 20 Meter lange Verbindung zum unvollendeten nördlichen Treppenhaus dient und in ihrem Grundkonzept mit jeweils einem Vorraum am Anfang und am Ende an die Große Spiegelgalerie anknüpft. Die Kleine Spiegelgalerie hatte ein ähnliches Pendant in Versailles, das im Rahmen eines Umbaus dort aber 1752 zusammen mit der Gesandtentreppe abgebrochen wurde.
Schlossgarten
Panorama des Schlossgartens
Entwürfe und Vorarbeiten
Für die Gestaltung des Schlossparks wurde der königliche Hofgärtner Carl von Effner verpflichtet, ein Schüler des Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné. Effner legte die ersten Entwürfe 1875 vor. Wie das Schloss waren die Gartenanlagen in ihrer geplanten Gestalt zwar als Zitat, aber nicht als genaue Kopie des Versailler Vorbildes gedacht, die sich durch die geringen Höhenunterschiede der Insel und den begrenzten Platz auch nicht in vollem Umfang hätte verwirklichen lassen. Effners Entwürfe konnten aus Kostengründen nicht in ihrem geplanten Umfang umgesetzt werden, die Herrenchiemseer Gärten verblieben wie das Schloss unvollendet.
Der nach dem Schema klassischer Barockgärten entworfene Schlosspark sollte in seiner Grundstruktur kreuzförmig angelegt werden und die niedrige Terrasse vor dem Schloss den Mittelpunkt bilden. Die aus Versailles adaptierte Hauptachse führte in ostwestlicher Richtung durch die Insel und sollte von einer untergeordneten nordsüdlichen Achse gekreuzt werden. Das westlich gelegene Hauptgartenparterre war als direkte Reminiszenz an das Vorbild geplant, mit einer Kopie der Brunnen der Latona und des Apollon, den großen Wasserbecken und den Broderieparterres vor dem Corps de Logis. Die zahlreichen Boskette des Vorbilds waren in diesem Plan auf vier große und ein halbes Dutzend kleinerer Boskette reduziert, deren individuelle Gestaltung ohne Bezugnahme auf Versailles erfolgt wäre. Nördlich des Schlosses war eine kleinere Variante des Versailler Nordparterres geplant. Wie dort sollte auch auf Herrenchiemsee ein dem Meeresgott Neptun gewidmetes Wasserbecken den Abschluss bilden. Der südliche Gartenbereich kopiert das aufwändige Parterre du midi und das Orangerieparterre in Versailles, wobei auf die Anlage der im Original in einen Hang gebauten Orangerie aufgrund des flachen Geländeniveaus verzichtet werden musste. Für den östlichen Parkbereich hinter dem Corps de Logis musste für den Herrenchiemseer Garten eine eigene Lösung konzipiert werden, da sich beim Vorbild dort die Stadt befindet. Die Nachahmungen der Versailler Place des Armes samt den Marstallbauten sollten in Herrenchiemsee eine große Hoffläche bilden, die ringsum von weiteren Parterres und Bosketten flankiert worden wäre. Wo sich in der französischen Stadt die Hauptzufahrt zum Schloss befindet, war in Herrenchiemsee eine 900 Meter lange Avenue mit abschließendem Rondell in Richtung des Sees geplant, an deren Ende sich die Schiffsanlegestelle befinden sollte.
Die Arbeiten an den Gartenanlagen begannen zeitgleich mit dem Bau des Schlosses 1878. Der Aushub des Schlosskellers diente zur Einebnung des Geländes des Wasserparterres, für die Versorgung der Wasserspiele wurde am Ostufer der Insel ein Pumpwerk errichtet. Die Erdbewegungen zogen sich bis ins Jahr 1881 hin, die eigentliche Gartenanlage nahm erst von diesem Zeitpunkt Gestalt an. Durch die zunehmenden Probleme bei der Finanzierung wurde der Ausbau des Schlossgartens nicht vollendet. Bis zum Tod des Königs war nur das Hauptparterre ohne die flankierenden Boskette angelegt. Auf den Ausbau des nördlichen, des südlichen und des östlichen Gartenbereichs wurde schließlich ebenso verzichtet wie auf die Anlage des Apollobassins. Ludwig II. beabsichtigte zudem, die Insel durch eine rundum führende Parkeisenbahn zu erschließen, doch auch dieses Vorhaben wurde nicht mehr ausgeführt. Nachdem die Arbeiten an den Gärten zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen waren, führte Effners Nachfolger Jakob Möhl die bereits vorhandenen Bereiche bis 1890 abschließend aus.
Heutige Gestalt
Der Garten ist in seiner heutigen Gestalt eine weitgehend identische Nachahmung der im 17. Jahrhundert von André Le Nôtre geschaffenen westlichen Versailler Hauptachse. Der Schlossgarten in der Mitte der Herreninsel umschließt eine rechteckige Fläche von etwa 120 × 400 Metern, deren östliches Drittel das Schlossgebäude einnimmt. Die gesamte Gartenanlage, die östliche Avenue und der westlich gelegene Stichkanal zum See rahmt eine doppelte Lindenallee. Anlässlich der Landesgartenschau 2010 erhielt der Garten von 2008 bis 2009 eine neue Bepflanzung. Neben mehr als 10.000 Blumen wurden erstmals auch zahlreiche Zitrusbäume aufgestellt, wie sie in den Gartenplänen des 19. Jahrhunderts bereits vorgesehen waren.
Vor dem Schloss liegen zwei große Wasserbecken, die das Parterre d’eau des Vorbilds adaptieren. Die Bassins des Fama- und des Fortunabrunnens konnten noch zu Lebzeiten Ludwigs II. fertig gestellt werden. Sie erwiesen sich jedoch als undicht und wurden nach seinem Tode mit Rasen bepflanzt. Eine Rückführung in den Ursprungszustand erfolgte erst von 1991 bis 1994. Die zentralen Figurenfelsen mit den Darstellungen des Glücks und des Ruhmes sind eine Abweichung vom Vorbild, sie entstammen nicht dem Schloss von Versailles, sondern sind Interpretationen der Wasserspiele des Palacio Real von La Granja. Beide Brunnenaufbauten waren viele Jahrzehnte defekt, sie sind erst seit 1994 saniert und seitdem in den Sommermonaten in Betrieb. Neben den großen Bassins gehören zwei kleinere Marmorbrunnen zum Parterre d’eau, die sich seitlich am Übergang zum Parterre der Latona befinden und die mit wasserspeienden Löwen und Figuren der Diana, der Venus, der Amphitrite und der Flora geschmückt sind.
Unterhalb des Wasserparterres führt eine Freitreppe zum ovalen Brunnen der Latona und zu den sich davor ausbreitenden, mit Blumenrabatten geschmückten Rasenparterres, aus dem Garten führt ein Tapis vert in Richtung Westen zur Fläche des unvollendeten Apollobrunnens. Die beiden Bassins können im Vorbild als Allegorien auf Ludwig XIV. betrachtet werden, der als Sonnenkönig mehrfach mit dem Lichtgott Apollon verglichen wird. Wo in Versailles der kreuzförmige Große Kanal beginnt, ist auf Herrenchiemsee ein Stichkanal in Richtung des Sees angelegt. Nach einer Absenkung des Wasserstands des Chiemsees im Jahr 1904 versumpfte der Kanal, sein Bett wurde von 1993 bis 1997 nach einer weiteren Regulierung des Wasserstands neu ausgehoben.
Das bewaldete Gelände außerhalb des Schlossgartens verblieb weitgehend in seinem ursprünglichen Zustand und sollte als sogenannter Inselpark einen Kontrast zu den formalen Gärten bieten. Die rund 230 Hektar große Insel erschließt ein knapp sieben Kilometer langer Rundweg, der an verschiedenen Stellen durch Sichtachsen den Blick auf das Schloss und die Gärten gewährte, die aber zum großen Teil zugewachsen sind. Die Sichtachsen der Gegenrichtung des Schlossbereichs endeten vor Baum- und Heckenwänden, da der König ausdrücklich keine Aussicht auf die umgebende Landschaft des Chiemsees wünschte.
Weblinks
Schloss Herrenchiemsee
Bayerische Landesausstellung 2011 „Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit“ (Schloss Herrenchiemsee)
Kerstin Hilt: 21.05.1878 - Grundsteinlegung Schloss Herrenchiemsee. WDR ZeitZeichen vom 19. Mai 2013. (Podcast)
Literatur
Hans Gerhard Evers: Herrenchiemsee. In: Hans Gerhard Evers: Tod, Macht und Raum als Bereiche der Architektur. Neuer Filser-Verlag, München 1939; 2., verb. und erw. Auflage. Verlag W. Fink, München 1970 (PDF; 246 MB).
Hans Gerhard Evers: Ludwig II. von Bayern, Theaterfürst – König – Bauherr, Gedanken zum Selbstverständnis. Hirmer Verlag, München 1986, ISBN 3-7774-4150-3, S. 19–28.
Marcus Spangenberg/Sacha Wiedenmann (Hrsg.): 1886. Bayern und die Schlösser König Ludwigs II. aus der Sicht von Hugues Krafft/1886. Louis II, ses châteaux et la Bavière selon Hugues Krafft; Regensburg 2011, ISBN 3-7954-2470-4, ISBN 978-3-7954-2470-1.
Marcus Spangenberg/Bernhard Lübbers (Hrsg.): Traumschlösser? Die Bauten Ludwigs II. als Tourismus- und Werbeobjekte. Dr. Peter Morsbach, Regensburg 2015, ISBN 978-3-937527-83-3.
Rolf Linnenkamp: Die Schlösser und Projekte Ludwigs II. 2. Auflage. Wilhelm Heyne, München 1986, ISBN 3-453-02269-6; S. 130–163.
Michael Petzet, Achim Bunz: Gebaute Träume. Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern. Hirmer, München 1995, ISBN 3-7774-6600-X.
Michael Petzet, Werner Neumeister: Ludwig II. und seine Schlösser. Die Welt des bayrischen Märchenkönigs. Prestel, München [u. a.] 2005, ISBN 3-7913-3509-X.
Alexander Rauch: Schloß Herrenchiemsee. Koehler & Amelang, München 1995, ISBN 3-7338-0179-2.
Elmar D. Schmid, Kerstin Knirr: Herrenchiemsee. Museum im Augustiner-Chorherrenstift. Königsschloss. König Ludwig II.-Museum. Amtlicher Führer, Neufassung, 1. Auflage. Bayerische Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München 2005, ISBN 3-932982-65-7.
Einzelnachweise
Herrenchiemsee Neues Schloss
Herrenchiemsee
Geschichte des Chiemgaus
Herrenchiemsee
Ludwig II. (Bayern)
Baudenkmal in Chiemsee (Gemeinde)
Herreninsel
Parkanlage in Europa
Herrenchiemsee
Bauwerk in Chiemsee (Gemeinde)
Herrenchiemsee |
100068 | https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratisches%20Reziprozit%C3%A4tsgesetz | Quadratisches Reziprozitätsgesetz | Das quadratische Reziprozitätsgesetz, gelegentlich auch Gaußsches Reziprozitätsgesetz, ist ein grundlegendes Gesetz aus der Zahlentheorie, einem Teilgebiet der Mathematik. Es beschäftigt sich mit der Frage, ob es zu einer ganzen Zahl und einer ungeraden Primzahl eine Quadratzahl gibt, sodass die Differenz durch teilbar ist. Genau genommen gibt es, zusammen mit den beiden unten genannten Ergänzungssätzen, ein Verfahren an, um zu entscheiden, ob eine Zahl quadratischer Rest oder Nichtrest einer Primzahl ist. Die Entdeckung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes durch Leonhard Euler und der Beweis durch Gauß (Disquisitiones Arithmeticae 1801, er hatte aber bereits 1796 einen Beweis) waren die Ausgangspunkte der Entwicklung der modernen algebraischen Zahlentheorie.
Um die genaue Aussage des quadratische Reziprozitätsgesetzes zu verstehen, sind lediglich die Konzepte der Quadratzahlen, der Primzahlen und der Teilbarkeit ganzer Zahlen mit Rest vonnöten. Seine Formulierung beginnt mit der Auswahl zweier ungerader, ungleicher Primzahlen und , etwa und . Im Zentrum steht die folgende Fragestellung:
Existiert eine Quadratzahl , sodass die Differenz teilt? (Mit den oberen Beispielwerten: Ist die Zahl für eine Quadratzahl durch teilbar?).
Innerhalb dieser Fragestellung haben die beiden Primzahlen und eine unterschiedliche Stellung ( ist „Teiler“ und ist „Subtrahend“). Das Wort „Reziprozität“ (von „reziprok“, also wechselseitig) deutet nun an, dass dieselbe Frage ebenfalls unter Vertauschung der Rollen beider Primzahlen gefragt werden kann: Gibt es also eine (zweite) Quadratzahl , sodass wiederum die Differenz teilt? Das quadratische Reziprozitätsgesetz formuliert eine einfache Regel, die die Lösbarkeit der zwei Aufgaben, die durch Vertauschen der Rollen beider Primzahlen entstehen, miteinander in Beziehung setzt. Es unterscheidet:
Hat mindestens eine der beiden Primzahlen und bei Teilung durch den Rest , so ist die eine Frage genau dann mit „Ja“ zu beantworten, wenn es auch die andere ist. Zum Beispiel hat bei Teilung durch den Rest . Mit den Wahlen , und erhält man und , wobei Ersteres durch und Letzteres durch teilbar ist (es ist ). Also lässt sich die Frage im Falle von und wechselseitig mit „Ja“ beantworten, wie es das Reziprozitätsgesetz vorhersagt. Im Gegensatz dazu existieren keine Quadratzahlen und , sodass durch und durch teilbar ist.
Haben hingegen beide Primzahlen und bei Teilung durch den Rest , so ist stets genau eine der Fragen mit „Ja“ zu beantworten. Beispiel und : Es ist durch teilbar, es gibt aber keine Quadratzahl , sodass durch teilbar ist. Es haben sowohl als auch bei Division mit den Rest .
Das quadratische Reziprozitätsgesetz ist aus mathematischer Sicht unter anderem von Interesse, da es kausale Zusammenhänge zwischen scheinbar völlig verschiedenen Fragestellungen aufbaut. Das führt dazu, dass die Lösung einer mitunter sehr schweren Aufgabe auf das Lösen einer leichten Aufgabe zurückgeführt werden kann, weshalb es für konkrete Berechnungen von Nutzen ist. Zahlreiche Anwendungen findet es in der Zahlentheorie, der Theorie diophantischer Gleichungen, aber auch in praktischen Gebieten wie der Kryptographie.
Gauß selbst hat acht methodisch verschiedene Beweise für das quadratische Reziprozitätsgesetz vorgelegt. Da er die Bedeutung des Resultats bereits als außerordentlich hoch erkannte, bezeichnete er sein Resultat als „Fundamentaltheorem“ bzw. „Theorema aureum“ (deutsch: „Goldener Satz“) der Zahlentheorie. Die Bezeichnung „Reziprozitätsgesetz“ geht indes auf Adrien-Marie Legendre zurück, der im Jahr 1785 einen unvollständigen Beweis lieferte. Spätere (vollständige) Beweise stammen unter anderem von Gotthold Eisenstein, Peter Gustav Lejeune Dirichlet, Richard Dedekind und Jegor Iwanowitsch Solotarjow. Bis heute sind mehr als 300 verschiedene Beweise publiziert worden. Trotz elementarer Beweise liegt das Wesen der „Reziprozität“, wie schon Gauß vermutete, relativ tief, nämlich in der Primfaktorzerlegung in den Kreisteilungskörpern.
Das quadratische Reziprozitätsgesetz macht Aussagen über die Lösbarkeit quadratischer Gleichungen in der modularen Arithmetik. Die Frage nach der Lösbarkeit von Gleichungen höheren Grades führt auf die höheren Reziprozitätsgesetze, was eine der treibenden Kräfte der algebraischen Zahlentheorie seit Gauß war. Den Fall dritten Grades, das kubische Reziprozitätsgesetz, behandelte Gotthold Eisenstein, den Fall vierten Grades Gauß, wobei jedoch Carl Gustav Jacobi den ersten vollständigen Beweis vorlegte. Eine moderne, sehr viel tiefer liegende, Verallgemeinerung findet sich in den Grundlagen der Klassenkörpertheorie.
Fragestellung und Grundlagen
Das quadratische Reziprozitätsgesetz motiviert sich aus der Aufgabe, schnell über die Lösbarkeit quadratischer Kongruenzen entscheiden zu können. Im Falle von Primzahlen entspricht dies einer quadratischen Gleichung über einem endlichen Körper. Für ein genaues Verständnis seiner Aussage werden die folgenden Grundlagen zusammengefasst.
Endliche Körper
In der Mathematik bezeichnet ein Körper eine Menge, innerhalb der, einfach gesprochen, mit den vier Grundrechenarten gerechnet werden kann. Dabei sollen die aus der Schulmathematik bekannten Regeln des Kommutativgesetzes (Vertauschbarkeit bei „Plus“ und „Mal“), Assoziativgesetzes (Vertauschbarkeit von Klammern bei „nur Plus“ oder „nur Mal“) und Distributivgesetzes („Ausklammern“ und „Ausmultiplizieren“) gelten. Außerdem muss stets das Element (neutrales Element der Addition) und (neutrales Element der Multiplikation) Teil eines Körpers sein. Insbesondere soll durch jede Zahl ungleich der dividiert werden können. Wichtige Beispiele sind der Körper der reellen Zahlen (Bezeichnung: ) oder der Körper der rationalen Zahlen (Bezeichnung: ).
Eine wichtige Forderung ist, dass keine der erlaubten Rechenoperationen dazu führt, dass man die den Körper definierende Zahlenmenge verlässt. So ist es etwa in Körpern im Allgemeinen nicht erlaubt, Quadratwurzeln zu ziehen. Es ist ein Element von , kurz , aber ist eine irrationale Zahl, also . Ähnlich besitzt keine Quadratwurzel in den reellen Zahlen. Grundsätzlich ist das Konzept einer Quadratwurzel in einem Körper aber indirekt erklärt, da die umgekehrte Operation, nämlich die Multiplikation einer Zahl mit sich selbst, in Körpern definiert ist, wobei die Existenz eine andere Frage ist.
Eine Fragestellung aus der Algebra ist, wie Körper aussehen können, also in welchen Typen von Mengen ein „abgeschlossenes Rechnen“ möglich ist. So kann man weitere nichtrationale Zahlen zu hinzunehmen, um größere Körper zu konstruieren. Ein Beispiel ist der Körper , der aus allen Zahlen mit besteht (siehe auch: Zahlkörper, und zum Beispiel Quadratischer Zahlkörper). Rechnungen wie
sind Prototypen für die Abgeschlossenheit der vier Grundrechenarten in . Es ist , zusammen mit und , ein weiteres Beispiel für einen Körper mit unendlich vielen Elementen. Bemerkenswert ist es aber, dass auch Körper mit nur endlich vielen Elementen existieren. Das Rechnen in diesen Bereichen weicht, obwohl die Gesetze letztlich die gleichen sind, von der „klassischen Anschauung“ ab. Das beginnt damit, dass die Elemente
nicht alle verschieden sein können, da nur endlich viele Elemente hat. Da man stets hat (sonst wäre , und diesen trivialen Fall schließt man aus), gibt es damit eine kleinste natürliche Zahl , sodass
in erstmals erfüllt ist. Diese Kennzahl wird Charakteristik des Körpers genannt, also . Sie ist stets eine Primzahl, denn wäre zum Beispiel zusammengesetzt, so müsste sein, und es wäre bereits oder , also , was der Annahme wegen der Minimalität der Charakteristik direkt widerspräche.
Um das Rechnen in endlichen Körpern genau zu verstehen, ist der Umgang mit Resten bei Divisionsaufgaben notwendig. Nichttriviale Reste entstehen bei Divisionen, die nicht aufgehen. Etwa ist geteilt durch gleich mit Rest . In den einfachsten Beispielen endlicher Körper wird mit genau diesen Resten gerechnet. Dies kann anhand eines Beispiels demonstriert werden: Es gibt genau fünf mögliche Reste bei der Division durch , und diese korrespondieren zu
mit Menge der ganzen Zahlen, und (d. h. alle ganzen Vielfache der Zahl ). Dabei bedeuten die Über-Striche, dass alle Zahlen, die bei Division mit den entsprechenden Rest haben, gemeinsam bzw. gebündelt betrachtet werden. Etwa besteht
aus genau jenen Zahlen, die bei Division mit den Rest haben. Die Zahlen von bis sind ferner lediglich Repräsentanten einer ganzen Restklasse, zum Beispiel gelten die Gleichheiten
Die jeweiligen Repräsentanten ergeben bei Division durch alle denselben Rest und gehören so zur selben Restklasse. Man sieht damit, dass additive Vielfache von in diesem Beispiel für die Zugehörigkeit zur gleichen Restklasse stets keine Rolle spielen. Mit anderen Worten: Während eine ganze Zahl stets erst durch ihre Zählgröße vollständig bestimmt ist, handelt es sich bei Restklassen um reduzierte Zahlen. Nur noch der Rest ist entscheidend, nicht mehr die Größe.
Mit Restklassen modulo kann nun in den vier Grundrechenarten gerechnet werden. Dabei gelten im Grunde dieselben Regeln wie beim Rechnen in den ganzen Zahlen : Zum Beispiel ist
(Bedeutung: Die Summe zweier beliebiger Zahlen mit Rest bei Division durch hat stets Rest bei Division durch , etwa oder .)
(Bedeutung: Die Differenz zweier beliebiger Zahlen mit dem selben Rest, etwa , bei Division durch , ist stets durch teilbar, hat also Rest .)
(Bedeutung: Das Produkt zweier beliebiger Zahlen mit Rest bzw. bei Division durch hat stets Rest bei Division durch , etwa oder )
Wichtig ist an dieser Stelle, zu zeigen, dass dies wohldefiniert ist, dass also bei der Auswahl anderer Repräsentanten stets das gleiche Ergebnis herauskommt. Da die Differenz zweier Repräsentanten aber stets durch teilbar ist, liegt dies auf der Hand: Zum Beispiel ist (vgl. oberes Beispiel)
aber auch
Ganz ähnliche Überlegungen gelten bei der Wohldefiniertheit der Multiplikation.
Auch die Division ist innerhalb von möglich (schließt man aus), denn um allgemein dividieren zu können, ist für jedes lediglich die Existenz eines Inversen mit
vonnöten (wie etwa und im Fall der rationalen Zahlen). Für den Nachweis, dass es stets ein Inverses gibt, ist entscheidend, dass eine Primzahl ist: Teilt eine Primzahl ein Produkt zweier ganzer Zahlen, muss bereits mindestens einer der Faktoren durch diese teilbar sein. Hat man dies zur Hand, ist die Argumentation die folgende: Für ein Element , das man invertieren möchte, betrachtet man alle möglichen Vielfachen (ungleich Null):
Die Restklasse taucht in dieser Liste nicht auf, denn keine der Zahlen ist durch teilbar. Ferner sind alle Einträge der Liste paarweise verschieden, denn es ist gleichbedeutend damit, dass , ergo . Da nicht durch teilbar ist, muss durch teilbar sein. Die Differenz liegt nach Wahl der obigen Repräsentanten im Intervall , und nur die ist dort durch teilbar. Also ist . Es muss also die Restklasse irgendwo in der obigen Liste auftauchen und ein Inverses ist gefunden. Zum Beispiel ist ein Inverses zu modulo , da . Da im Wesentlichen „weiterhin in den ganzen Zahlen gerechnet wird“, bleiben Kommutativgesetz, Assoziativgesetz und Distributivgesetz erhalten, womit die Restklassenmenge in der Tat einen Körper bildet.
Diese ganze Argumentation beschränkt sich nicht auf die Primzahl , sondern es kann zu jeder Primzahl ein entsprechender endlicher Körper angegeben werden:
usw. Dabei müssen die durch die Über-Striche angedeuteten Restklassen natürlich stets auf die betroffene Primzahl angewendet werden.
Modulare Arithmetik
Die modulare Arithmetik bezeichnet im Wesentlichen das Rechnen mit Restklassen, und damit verbundene Themenfelder, wie etwa Gleichungen. Für eine natürliche Zahl , den „Modul“, bezeichnet man zwei ganze Zahlen und als kongruent modulo , falls deren Differenz teilt, also in Zeichen
Man schreibt in diesem Falle die Kongruenz auch als
gelesen als: „ kongruent modulo “. Zum Beispiel gilt
denn es teilt die Differenz . Sind zwei ganze Zahlen kongruent modulo , gehören sie zur selben Restklasse bei der Division durch (und umgekehrt). Man schreibt dann , und mit Restklassen kann wie gewohnt gerechnet werden (siehe vorheriger Abschnitt in Bezug auf endliche Körper). Ist eine Primzahl, so bildet die Menge der Restklassen modulo einen Körper . Ist hingegen zusammengesetzt, handelt es sich lediglich um einen kommutativen Ring. Kommutative Ringe ähneln in ihren Eigenschaften den Körpern (algebraische Strukturen mit Addition und Multiplikation), jedoch ist nicht immer eine Division möglich. Ein Beispiel ist , also die Menge der Restklassen modulo (es ist keine Primzahl!). Es ist hier keine Division durch möglich, denn . Aus einer „Division“ beider Seiten durch folgte dann , was nicht sein kann, da nicht durch teilbar ist. Elemente eines Rings, durch die trotzdem dividiert werden kann (dazu zählt immer die Eins), heißen auch Einheiten (des Rings). Die Einheiten des Rings der ganzen Zahlen sind , und des Rings gleich (wie gesehen, ist neben auch modulo keine Einheit, denn durch beide Elemente kann nicht dividiert werden).
Quadratische Gleichungen
Eine quadratische Gleichung ist eine Gleichung der Form
mit einer Unbekannten . Es handelt sich also um einen Spezialfall einer algebraischen Gleichung, bei der die Unbekannte einfach mit sich selbst multipliziert werden kann. Grundsätzlich können algebraische Gleichungen, die sich auf der Anwendung der vier Grundrechenarten zusammensetzen, über Körpern studiert werden, wo all diese Rechenoperationen einen Sinn ergeben. In der Schulmathematik wird beispielsweise der Körper zugrunde gelegt. Es ist also , und man ist an Lösungen von in den reellen Zahlen interessiert. Allerdings kann die obere Gleichung, falls auch lediglich nur über den rationalen Zahlen betrachtet werden. Zum Beispiel hat die Gleichung über den reellen Zahlen die Lösungen , aber über den rationalen Zahlen keine Lösung.
In Algebra und Zahlentheorie ist man vor allen Dingen an einem schnellen Verfahren interessiert, zu entscheiden, ob eine algebraische Gleichung über ihrem Körper überhaupt lösbar ist. Es bietet sich an, hier über „Kennzahlen“ zu arbeiten. Der obigen quadratischen Gleichung kann die Zahl
zugeordnet werden, die sich aus den Koeffizienten und schnell berechnen lässt. Diese wird auch als Diskriminante (lateinisch discriminare = unterscheiden) der Gleichung bezeichnet. Über die Mitternachtsformel, die potenzielle Lösungen als
identifiziert, erkennt man, dass die Gleichung genau dann Lösungen im betreffenden Körper hat, falls es Sinn macht, die Quadratwurzel aus der Diskriminante zu ziehen. Genauer gilt: Es hat
genau dann zwei verschiedene Lösungen, falls und ein Quadrat im zugrunde liegenden Körper ist (also der Term im Körper enthalten ist und nicht gleich 0 ist),
genau dann eine („doppelte“) Lösung, falls (denn es gilt stets , und ist immer Teil des Körpers),
genau dann keine Lösung, falls kein Quadrat im zugrunde liegenden Körper ist.
Im Fall des Körpers sind also lediglich die Fälle , und zu unterscheiden, da eine reelle Zahl ungleich genau dann eine Quadratwurzel in hat, wenn sie positiv ist. Bei den rationalen Zahlen hingegen ist die Unterscheidung subtiler. Wie bereits oben gesehen, hat die Gleichung keine rationalen Lösungen, und in der Tat ist ihre Diskriminante zwar positiv, aber kein Quadrat einer rationalen Zahl. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die Arithmetik in den reellen Zahlen einfacher ist als jene in den rationalen Zahlen.
Neben den reellen oder rationalen Zahlen, können quadratische Gleichungen des Typs
über dem Körper (mit ) studiert werden. Das quadratische Reziprozitätsgesetz kann dabei helfen, schnell zu entscheiden, ob Lösbarkeit vorliegt, oder nicht. Dabei muss der Fall Charakteristik 2 (insbesondere ) gesondert betrachtet werden, da in der Mitternachtsformel durch , also in solchen Körpern durch dividiert wird, was nicht erlaubt ist. Daher ist die Theorie quadratischer Gleichungen in solchen Körpern anders.
Quadratische Reste und das Legendre-Symbol
Um zu entscheiden, ob eine quadratische Gleichung mit über mit einer Primzahl lösbar ist, reicht es aus, zu entscheiden, ob die Diskriminante ein Quadrat in ist. Der Fall spielt eine Sonderrolle, da in der Mitternachtsformel durch geteilt wird, womit man im Fall aber durch Null teilen würde, was nicht zulässig ist. Dies motiviert den Begriff des quadratischen Rests. Damit sind jene Elemente des endlichen Körpers gemeint, die ungleich Null sind und durch Quadrieren eines (anderen) Elements aus entstehen. Mit anderen Worten, eine zu teilerfremde Zahl ist genau dann quadratischer Rest modulo , falls eine Quadratzahl existiert, sodass durch teilbar ist. Aus quadratischen Resten kann im betroffenen Körper eine Quadratwurzel gezogen werden, was bei der Auflösung quadratischer Gleichungen von Bedeutung ist. Elemente aus , die nicht Null und keine quadratischen Reste sind, bezeichnet man auch als quadratische Nichtreste.
Ist zum Beispiel , so bekommt man durch Quadrieren der Restklassen modulo :
Es sind also die Elemente und die quadratischen Reste modulo . Somit ist zum Beispiel die Gleichung
nicht in lösbar, denn
ist quadratischer Nichtrest modulo , und folglich kann in der Mitternachtsformel über keine Quadratwurzel aus der Diskriminante gezogen werden. Im Gegensatz dazu ist
in lösbar, denn es ist
quadratischer Rest modulo . In der Tat ist etwa eine Lösung, denn modulo .
Bemerkenswerterweise spaltet sich die Menge der quadratischen Reste und Nichtreste in genau zwei gleich große Mengen mit der Anzahl der Elemente , wenn die Primzahl ungerade ist. Wie oben gesehen im Fall , sind es die Mengen und mit je fünf Elementen. Allgemein lassen sich die quadratischen Reste modulo , wie oben, durch Betrachtung der Elemente
vollständig bestimmen. Weitere Reste lassen sich folgender Tabelle entnehmen, die für alle Primzahlen bis vollständig ist:
Verlässt man die modulare Arithmetik und geht wieder zu den ganzen Zahlen über, so ist genau dann quadratischer Rest modulo einer Primzahl , falls eine Quadratzahl existiert, sodass durch teilbar ist.
Aus mathematischer Sicht ist es sinnvoll, die quadratischen Reste von den Nichtresten zu „trennen“. Dabei wird der eine besondere Rolle zugeordnet. Zu diesem Zweck definiert man das Legendre-Symbol, benannt nach Adrien-Marie Legendre. Dieses ist eine mathematische Funktion mit Definitionsbereich und Zielmenge , die einem quadratischen Rest den Wert („positiv“), einem Nichtrest („negativ“) und der den Wert zuordnet. In Symbolen setzt man:
Hierbei bedeutet den größten gemeinsamen Teiler. Es ist nicht als Bruch zu verstehen. In der Literatur wird deshalb gelegentlich auch die Notation genutzt, um Verwechslungen zu vermeiden. Auf natürliche Weise kann das Legendre-Symbol auch als Funktion auf den ganzen Zahlen aufgefasst werden, die dann, wegen ihrer ursprünglichen Definition auf Restklassen, -periodisch ist. Es ist dann und letzterer Ausdruck wird am häufigsten verwendet.
Es gelten die folgenden sehr wichtigen Regeln:
Das Produkt zweier quadratischer Reste ist wieder ein quadratischer Rest.
Das Produkt eines quadratischen Rests und eines quadratischen Nichtrests ist ein quadratischer Nichtrest.
Das Produkt zweier quadratischer Nichtreste ist ein quadratischer Rest.
Anstatt in Resten und Nichtresten zu denken, kann durch diese Regeln auch zu und übergegangen werden. Analog werden in dieser Sichtweise die Regeln , und respektiert. Das Legendre-Symbol dient nun als ein „Übersetzer“ zum Beispiel der Regel „Nichtrest mal Nichtrest gleich Rest“ in „negativ mal negativ gleich positiv“.
Insbesondere folgt, dass das Legendre-Symbol vollständig multiplikativ ist, es gilt also für alle die Rechenregel
Aussage des quadratischen Reziprozitätsgesetzes
Im Folgenden bezeichnet mit einer ganzen Zahl und einer Primzahl das Legendre-Symbol. Das quadratische Reziprozitätsgesetz gibt für zwei verschiedene ungerade Primzahlen und eine einfache Formel, die beiden Größen und ineinander umzurechnen. Damit kann die Frage, ob ein quadratischer Rest modulo ist, durch Beantwortung der „reziproken“ Frage, ob ein quadratischer Rest modulo ist, ggf. schnell beantwortet werden.
Das quadratische Reziprozitätsgesetz besagt, dass für zwei verschiedene ungerade Primzahlen und gilt:
Erklärung zu : Der Faktor ist genau dann eine gerade Zahl, wenn die ungerade Zahl bei Division durch den Rest hat. Zum Beispiel ist (gerade), aber (ungerade), und es hat den Rest bzw. den Rest bei Division durch . Ein Produkt aus ganzen Zahlen ist schließlich genau dann gerade, wenn mindestens ein Faktor gerade ist, und ist demnach genau dann positiv, wenn mindestens einer der Faktoren oder gerade ist.
Zudem existieren zwei sog. Ergänzungssätze, die eine direkte Berechnung der Werte bzw. für ungerade Primzahlen ermöglichen.
1. Ergänzungssatz: Für jede ungerade Primzahl gilt:
2. Ergänzungssatz: Für jede ungerade Primzahl gilt:
Erklärung zu : Es gilt nach der dritten binomischen Formel . Da ungerade ist, ist einer der Faktoren durch teilbar, und der andere durch . Somit ist stets eine ganze Zahl. Mit kann aber erreicht werden, dass der Faktor sogar durch teilbar ist, womit eine gerade Zahl ist. In den Fällen kann dies nicht erreicht werden, und ist ungerade.
Sind und zwei verschiedene ungerade Primzahlen, so gilt folglich:
Denn aus folgt bereits .
Geschichte
Die ersten Andeutungen des quadratischen Reziprozitätsgesetzes finden sich in den Arbeiten von Pierre de Fermat. Fermats Ergebnisse über die Darstellung ganzer Zahlen als Summe zweier Quadrate führten direkt zu dem Problem der Bestimmung des quadratischen Charakters von , also dem Auffinden von Fermat konnte diejenigen ungeraden Primzahlen charakterisieren, die sich als Summe gewisser Kombinationen aus Quadratzahlen schreiben lassen. So zeigte er
Zum Beispiel zeigen die Gleichungen
die ersten ungeraden Primzahlen, die als Summe zweier Quadrate geschrieben werden können. Es handelt sich dabei genau um die Primzahlen, die bei Division durch den Rest besitzen. Fermat untersuchte allgemeiner auch die Darstellung von Primzahlen durch quadratische Formen der Form , wobei . Er behauptete etwa, dass
oder
deutete mögliche Beweise allerdings nur an. Wenn , kann also gezeigt werden, dass eine Primzahl , die teilt, dabei aber weder noch teilt, selbst die Form für ein Paar von ganzen Zahlen und hat. Aus dieser Tatsache kann gefolgert werden, dass genau dann durch die quadratischen Formen oder dargestellt werden kann, wenn bzw. ein quadratischer Rest von ist. Zum Beispiel ist die Primzahl von der Form , denn
In der Tat ist ein quadratischer Rest modulo , denn es teilt die Zahl . Aus diesem Grund waren auch die expliziten Ausdrücke und schon bei Fermat von Bedeutung.
Erstmals entdeckt wurde das quadratische Reziprozitätsgesetz von Leonhard Euler, der es durch empirische Nachforschungen als richtig befand, jedoch keinen Beweis vorlegen konnte. Leopold Kronecker hat darauf verwiesen, dass es unter anderem schnell aus einer Vermutung Eulers aus dessen Schrift Theoremata circa divisores numerorum in hac forma contentorum (1744–1746) folgt. Anschließend widmete Euler sich über zwei Jahrzehnte anderen Themen. Erst die Forschungen von Joseph-Louis Lagrange in den Jahren 1773 bis 1775, insbesondere seine Arbeiten zu einer allgemeinen Theorie der binären quadratischen Formen, bewegten Euler schließlich dazu, sich wieder mit dem Studium der quadratischen Reste detailliert zu befassen. Lagrange wollte die Forschung zu den von Fermat und Euler angestoßenen mathematischen Ideen weiter vorantreiben. Durch explizite Bestimmung von , und für ungerade Primzahlen , konnte er die Primzahlen mit Darstellung sowie charakterisieren. Zum Schluss seiner Ausführungen fasste Lagrange dann alles zusammen, was er über quadratische Reziprozität sagen konnte. Er formulierte seine Resultate stets in Termen des sog. Euler-Kriteriums
das eine Verallgemeinerung des kleinen Satzes von Fermat darstellt. Er hielt fest, dass für eine Primzahl von der Form der Wert bereits durch teilbar und für solche der Form entsprechend durch teilbar ist. Lagrange gilt damit als Entdecker des 2. Ergänzungssatzes. In seinem Paper Observationes circa divisionem quadratorum per numeros primos, das 1783 posthum veröffentlicht wurde, gab Euler schließlich eine Formulierung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes, die der heute am häufigsten verwendeten sehr nahe kommt. In moderner Notation lautete sie:
Es sei eine ungerade Primzahl und eine ganze Zahl, die nicht durch teilbar ist. Wenn eine Primzahl ist, sodass , so gilt .
Dies besagt, dass der Wert des Legendre-Symbols nur von der Restklasse modulo abhängt, und dass der Wert für alle Primzahlen gleich ist, die bei Division durch denselben Rest bzw. haben. Es konnte elementar gezeigt werden, dass diese von Euler formulierte Version äquivalent zum quadratischen Reziprozitätsgesetz ist.
Noch im selben Jahrhundert wurde das quadratische Reziprozitätsgesetz von Adrien-Marie Legendre wiederentdeckt und 1785 in seiner Arbeit Recherches d’Analyse Indéterminée veröffentlicht. Legendre konnte es mit Hilfe seines in dieser Arbeit publizierten Beweises des Satzes von Legendre in Spezialfällen zeigen. Sein Satz befasst sich mit hinreichenden und notwendigen Bedingungen für die Existenz von ganzzahligen Lösungen einer Gleichung
Er konnte unter Betrachtung der speziellen Gleichung
mit Primzahlen und zeigen, dass falls ein quadratischer Rest modulo ist, auch quadratischer Rest modulo ist. Legendre war ferner nachweislich von Lagrange beeinflusst, jedoch formulierte er den zweiten Ergänzungssatz auf andere Weise. So sprach er nicht über „Teilbarkeit von durch “, sondern benutzte die Notation , wobei er jedoch die Leser warnte, dass diese Gleichheit nur bis auf Vielfache von zu verstehen sei. Nach diesen Ausführungen zum Spezialfall des 2. Ergänzungssatzes formulierte Legendre die, abgesehen von der Notation, heute geläufige Fassung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes:
Sind und zwei ungerade Primzahlen, so werden die Ausdrücke und nicht verschiedene Vorzeichen haben, es sei denn, es sind & beide von der Form . In allen anderen Fällen haben sie dasselbe Vorzeichen.
Der Beweis von Legendre enthielt jedoch Lücken. Offenbar unzufrieden über die bisherigen Ergebnisse, veröffentlichte Legendre 1798 eine weit ambitioniertere Arbeit mit dem Titel Essai sur la Théorie des Nombres, in der er unter anderem die bis heute geläufige Notation für das Legendre-Symbol einführte. Im Kapitel mit dem Titel „Satz, der ein Gesetz der Reziprozität enthält, das zwischen zwei beliebigen Primzahlen besteht“, formulierte Legendre schließlich die Regel
,
von der die heutige Notation abstammt. Jedoch beinhaltete der Essai lediglich eine Wiederholung des unvollständigen Beweises von 1785. Dieser beruhte auf der Annahme, es gebe zu jeder Primzahl der Form eine andere Primzahl der Form , sodass . Legendre konnte diese Behauptung aber nicht beweisen. Der Name „Reziprozitätsgesetz“ („Loi de reciprocité“) ist ebenfalls auf Legendre zurückzuführen.
Den ersten vollständigen Beweis lieferte Carl Friedrich Gauß im Jahr 1801 in seiner für die moderne Zahlentheorie wegweisenden Schrift Disquisitiones Arithmeticae. Jedoch hatte Gauß nachweislich bereits 1796, im Alter von neunzehn Jahren, über einen solchen verfügt. Dies geht aus Gauß’ mathematischem Tagebuch hervor, in dem er den Beweis auf den 8. April 1796 datierte. Er schrieb sinngemäß: „Wir haben das Fundamentaltheorem durch Induktion im März des Jahres 1795 entdeckt. Wir haben den ersten Beweis, derjenige in diesem Abschnitt, im April 1796 gefunden“. Da Gauß diesem Resultat eine zentrale Bedeutung zuwies, wählte er die Benennung „Fundamentaltheorem“, und er schrieb: „Da fast alles, das über quadratische Reste gesagt werden kann, von diesem Theorem abhängt, sollte die Bezeichnung Fundamentaltheorem, die wir ab jetzt benutzen werden, akzeptabel sein.“ Der von Gauß angekündigte Beweis war Gegenstand der Paragraphen 135–144 in den Disquisitiones. Ein Grund, weshalb Gauß dabei die von Legendre eingeführte Notation vollständig ignorierte, war, dass seine Forschungen unabhängig abliefen.
Allein Gauß werden mindestens acht methodisch verschiedene Beweise zugeschrieben. Gauß selber verwendete nie den Begriff „quadratisches Reziprozitätsgesetz“. Stattdessen bezeichnete er den Satz neben Fundamentaltheorem als „Theorema aureum“ (deutsch: „Goldener Satz“) der Zahlentheorie.
Das quadratische Reziprozitätsgesetz war nur der Ausgangspunkt für die Entdeckung einer ganze Reihe, teils viel tiefer reichender, höherer Reziprozitätsgesetze. Diese Initiative wurde noch von Gauß selbst vorangetrieben. So beschäftigte er sich auch mit kubischer und biquadratischer Reziprozität, und obwohl er einiges nicht veröffentlichte, gilt es als plausibel, dass er über entsprechende Beweise zu seinen Behauptungen verfügte. Lediglich zum biquadratischen Fall, also zum Fall vierten Grades, existieren Veröffentlichungen von Gauß aus den Jahren 1828 und 1832. Die ersten vollständigen publizierten Beweise zur kubischen bzw. biquadratischen Reziprozität stammen von Gotthold Eisenstein bzw. Carl Gustav Jacobi. In den folgenden Jahrzehnten wurden die letztlich sehr tief reichenden Strukturen hinter der quadratischen Reziprozität mit der Entwicklung der sog. Klassenkörpertheorie aufgedeckt. Das sehr allgemeine und umfassende Artinsche Reziprozitätsgesetz (benannt nach Emil Artin) konnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich alle bis dato gekannten Reziprozitätsgesetze miteinander vereinen und lieferte eine Teilantwort auf das neunte Hilbertsche Problem. Mit den Werkzeugen der Klassenkörpertheorie konnte letztlich die bereits unter anderem von Fermat, Euler, Lagrange, Legendre und Gauß intensiv studierte Frage nach Darstellungen von Primzahlen der Form in voller Allgemeinheit, also für alle natürlichen Zahlen , beantwortet werden.
Bis heute wurden mehr als 300 Beweise veröffentlicht. Zu historischen Hintergründen mancher dieser Beweise siehe im gleichnamigen Abschnitt.
Bedeutung und Anwendungen
Schnelles Berechnen des Legendre-Symbols
Das quadratische Reziprozitätsgesetz liefert eine Möglichkeit, das Legendre-Symbol schnell zu berechnen und damit zu entscheiden, ob quadratischer Rest modulo ist oder nicht. Dafür ist allerdings erforderlich, in vernünftiger Zeit in seine Primfaktoren zerlegen zu können. Bei dem Verfahren werden Multiplikativität und Periodizität des Legendre-Symbols sowie das quadratische Reziprozitätsgesetz samt Ergänzungssätzen in Kombination genutzt.
Ein Beispiel ist die Berechnung von , um zu entscheiden, ob ein quadratischer Rest modulo der Primzahl ist. Zuerst zerlegt man in seine Primfaktoren . Mit der Multiplikativität des Legendre-Symbols erhält man damit
Es macht nun Sinn, beide Faktoren auf der rechten Seite getrennt zu betrachten. Mit dem quadratischen Reziprozitätsgesetz sowie der -Periodizität des Legendre-Symbols gilt nun einerseits
Dabei wurde im vorletzten Schritt genutzt, dass kein quadratischer Rest modulo ist (was, etwa durch Ausprobieren, klar ist, und nicht mehr bewiesen werden muss). Andererseits gilt wieder mittels des quadratischen Reziprozitätsgesetzes und der -Periodizität von , dass
Mit hat man unter Verwendung des 2. Ergänzungssatzes
Insgesamt folgt also
Damit ist ein quadratischer Rest modulo . Zum Beispiel ist
durch teilbar.
Null-Wissen-Beweise
Quadratische Reste, und auch das quadratische Reziprozitätsgesetz, können in der Kryptographie für ein Null-Wissen-Beweis-Verfahren verwendet werden.
Ein Null-Wissen-Beweis kann mit hoher Wahrscheinlichkeit nachweisen, dass man ein Geheimnis weiß, ohne das Geheimnis zu verraten. Es basiert auf der Kommunikation zweier Parteien, dem Beweiser und dem Verifizierer. Dabei versucht also der Beweiser den Verifizierer davon zu überzeugen, dass er über eine geheime Information verfügt, ohne diese preiszugeben. Der Verifizierer kann dann, je nach Zweck des Verfahrens, seine Schlüsse ziehen. Zum Beispiel könnte er sich relativ sicher sein, dass er mit einer ganz bestimmten Person kommuniziert, etwa kurz vor einer Geldtransaktion, da nur diese eine Person das Geheimnis kennen kann. Grundlage ist dabei stets, dass es anhand der Informationen, die der Beweiser der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, für Außenstehende nicht möglich ist, mit vernünftigem Zeitaufwand an das Geheimnis zu kommen.
Das Geheimnis muss an sich keine „brisante Information“, etwa ein Staatsgeheimnis, sein. Es kann sich lediglich um einen Zahlencode handeln, von dem aber angenommen wird, dass ihn nur der Beweiser mit Namen Alice kennt, da er sich ausschließlich in ihrem Tresor befindet. Möchte Verifizierer Bob sich nun vergewissern, dass es sich tatsächlich um Alice handelt, kann er abprüfen, dass die Person am anderen Ende der Leitung tatsächlich den Code kennt. Dafür kann wie folgt verfahren werden.
Zunächst sucht sich Alice, etwa mit Hilfe eines geeigneten Primzahltests, zwei sehr große verschiedene Primzahlen und . Diese sollten zur Sicherheit einige hundert Stellen haben. Zum Beispiel wären und völlig ungeeignet, sie sollen aber im Folgenden als Beispiel dienen.
Jetzt bildet Alice das Produkt der beiden Primzahlen, also . Dieser Vorgang gleicht gewissermaßen dem „Zuschnappen einer Sicherheitstür“, denn zwar ist es sehr leicht, das Produkt zu berechnen (theoretisch sogar per Hand), doch der umgekehrte Vorgang, also das Faktorisieren von in seine (zwei) Primfaktoren, ist bei einigen hundert Dezimalstellen ein extrem schweres Problem, für das bis zum heutigen Tag kein schnelles mathematisches Verfahren existiert (siehe auch Faktorisierungsverfahren). Lediglich Alice verfügt über diesen privaten Schlüssel, denn sie hat sich die Primzahlen und ausgesucht, und muss daher gar nicht mehr faktorisieren. In dem Beispiel ist .
Der Code , also , ist nun Alicens Geheimnis. Sie kann aber ohne Bedenken das Produkt publik machen, denn kein Supercomputer der heutigen Zeit ist in der Lage, daraus zu gewinnen. Ebenso publiziert Alice eine persönliche Identifikationsnummer, etwa , damit sie zum Beispiel bei Verifikationsanfrage schneller im „Adressbuch“ von Bob gefunden werden kann.
Alice möchte Bob vermitteln, dass sie den Code kennt, ohne Bob zu verraten, was deren Wert ist. Ansonsten könnte zum Beispiel Bob, oder dessen bester Freund Justus, der zufällig bei Bob mit im Zimmer sitzt, die Zahlen von Alice stehlen, und sich in Zukunft als ihre Person ausgeben. Sie hängt zu diesem Zweck an ihre ID gegebenenfalls noch einige zufällige Ziffern dran, bis es sich um einen quadratischen Rest von handelt. In dem Beispielfall ist dies aber nicht mehr nötig, denn Alice erkennt, dass bereits ein quadratischer Rest modulo ist (für diesen Nachweis kann sie das quadratische Reziprozitätsgesetz nutzen). Dafür macht sie sich zu Nutze, dass sie die Faktorisierung von kennt. Alice schickt nun eine entsprechende Quadratwurzel von modulo an Bob. Eine solche ist etwa , denn es ist durch und , ergo durch teilbar. Es ist also . Dafür muss Alice simultan nur die Kongruenzen sowie lösen. Ein potenzieller Angreifer wäre zum „Ziehen dieser Quadratwurzel modulo “ nicht in der Lage, da dies ohne die Primfaktorzerlegung von zu kennen ebenfalls bis heute nicht in vernünftiger Zeit lösbar ist.
Alice nutzt nun diese Quadratwurzel modulo aus , über die nur sie verfügen kann, um zu zeigen, dass sie in der Tat über verfügt. Zu diesem Zweck unterzieht Bob Alice einigen Tests. Diese kann sie nur mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit richtig beantworten, wenn sie über verfügt. Tut sie das nicht, ist ihre Antwort nur zu knapp 50 Prozent richtig. Bob kann aber in einer langen Schleife immer wieder Testfragen stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Angreifer jede Antwort richtig rät, geht mit Zunahme der Anzahl der Fragen rapide gegen 0. Einfach gesprochen passiert bei diesem Test Folgendes: Alice erzeugt durch Zufall eine zu teilerfremde Zahl , und mit Hilfe von daraus eine weitere Zahl . Es stehen also und über die geheime Quadratwurzel von modulo zueinander in Beziehung. Anschließend sendet sie beide Zahlen an Bob. Bob ist aber nicht in der Lage, aus diesen abzulesen. Er testet anschließend durch einen Zufallsgenerator der Form 50:50, etwa einen perfekten Münzwurf, Alice, ob sie theoretisch in der Lage ist, gleichzeitig aus und die Quadratwurzel modulo zu ziehen. Er wählt aber nur durch Zufall eine der Zahlen („Kopf“) bzw. („Zahl“) aus. Alice schickt dann das jeweilige Ergebnis, das Bob mittels Quadrieren schnell als eine Quadratwurzel modulo identifizieren kann. Der entscheidende Punkt ist, dass Alice nicht weiß, aus welcher Zahl sie die Wurzel modulo wird ziehen müssen (genau genommen wäre schon die „passende“ Konstruktion beider Werte und ohne nicht möglich gewesen). Wäre ihr dies im Voraus bekannt, könnte sie den Test auch ohne überstehen, allerdings ist zwingend erforderlich, um auf jede Anfrage von Bob angemessen reagieren zu können. Auf der anderen Seite wird durch das Verfahren Alice versichert, dass Bob stets nur ein Ergebnis erhalten wird. Damit wird abgesichert, dass er nie in der Lage sein wird, zu berechnen, womit sicher bewahrt bleibt. Alice wählt in jedem Durchlauf zwei neue Zahlen und aus.
Dieses Verfahren wurde im Jahr 1985 von Adi Shamir entwickelt.
Das quadratische Reziprozitätsgesetz kann an der entscheidenden Stelle benutzt werden, an der der Beweiser den aus seiner ID erzeugten quadratischen Rest erzeugen muss. Hierfür muss berechnet werden, ob tatsächlich
gilt. Kennt der Beweiser eine Primfaktorzerlegung von , etwa weil nicht allzu groß ist, ist dies ein durchaus effizientes Mittel. Allerdings wird die Notwendigkeit einer Primfaktorzerlegung von für große Werte zunehmend zum Problem. Jedoch existiert ein alternativer Algorithmus, um das Legendre-Symbol schnell zu berechnen, ohne in seine Primfaktoren zerlegen zu müssen. Dieser ähnelt dem Euklidischen Algorithmus. Aber das quadratische Reziprozitätsgesetz spielt bei der Verifikation dieser Methode eine bedeutende Rolle.
Lösung quadratischer Kongruenzen
Das schnelle Berechnen von Legendre-Symbolen mittels des quadratischen Reziprozitätsgesetzes kann dabei helfen, rasch zu entscheiden, ob eine quadratische Kongruenz der Form
mit und lösbar ist, wobei eine ungerade Primzahl ist. Diese kann als quadratische Gleichung
über dem endlichen Körper interpretiert werden. Die Diskriminante muss ein Quadrat in sein, damit es eine Lösung gibt. Genauer gibt es
Lösungen. Mit dem quadratischen Reziprozitätsgesetz kann nun, wenn eine Primfaktorzerlegung von gefunden werden kann, das Legendre-Symbol schnell berechnet werden.
Ist man in der Lage, zu entscheiden, ob quadratische Kongruenzen modulo beliebiger Primzahlen eine Lösung besitzen, kann dies in einigen Fällen auch für Kongruenzen mit beliebigem Modul erreicht werden. Wird also die Kongruenz
betrachtet, so ist diese, falls (mit ), genau dann lösbar, falls es jede der „lokalen“ Kongruenzen
ist. Dies ist eine Folgerung aus dem sog. Chinesischen Restsatz, und damit ist das Problem bereits auf den Fall von Primpotenzen reduziert. Im Fall, dass sowie ungerade ist, sind diese Kongruenzen genau dann lösbar, wenn es sämtliche der Kongruenzen
sind. Für gerade oder den Fall, dass die Diskriminante nicht teilerfremd zu ist, ist dies nicht mehr uneingeschränkt richtig, und es muss anders vorgegangen werden.
Verteilung quadratischer Reste und Nichtreste
Schon Euler stellte fest, dass die Abbildung
auf den Primzahlen nur von der Restklasse der Primzahl modulo abhängt. Es definiert diese Abbildung einen sog. quadratischen Dirichlet-Charakter modulo , indem man sie als auf definiert und dann über die Primfaktorzerlegung multiplikativ auf alle ganzen Zahlen fortsetzt. Ist also , so definiert man
wobei die Werte bereits alle durch das Legendre-Symbol erklärt sind. Um dem Phänomen der -Periodizität gerechter zu werden, nutzt man, dass eine Quadratzahl ist, also multiplikativ nichts am Legendre-Symbol ändert, und betrachtet alternativ . Im Fall, dass quadratfrei ist, handelt es sich hierbei um einen sog. primitiven reellen Charakter (und es wird als Fundamentaldiskriminante bezeichnet).
Diese Aussage Eulers ist, wie man heute weiß, äquivalent zum quadratischen Reziprozitätsgesetz und hat unmittelbare Konsequenzen für die Verteilung quadratischer (Nicht-)Reste. So ist zum Beispiel ein quadratischer Nichtrest modulo , aber damit auch modulo der Primzahl (es ist ), es gilt also
.
Unendlichkeitsaussagen und Asymptotik
Diverse Aussagen über die „Häufigkeit“ quadratischer Reste können mittels des quadratischen Reziprozitätsgesetzes gezeigt werden. Während ein Beweis der Tatsache, dass es zu einer ganzen Zahl unendlich viele Primzahlen gibt, sodass quadratischer Rest modulo ist, noch ohne das quadratische Reziprozitätsgesetz auskommt, kann erst mit seiner Hilfe gezeigt werden, dass jede Zahl , die keine Quadratzahl ist, unendlich oft quadratischer Nichtrest einer Primzahl ist. Die Eigenschaft, eine Quadratzahl zu sein, ist darüber hinaus sowohl hinreichend als auch notwendig dafür, dass diese Zahl für alle (bis auf endlich viele) Primzahlen quadratischer Rest modulo ist.
Diese Aussagen lassen sich, ebenfalls unter Verwendung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes, in manchen Fällen auf Asymptotiken für endliche Mengen hochheben. Dabei bezogen sich die oberen Fälle immer auf einelementige Mengen . Dafür muss der Begriff der asymptotischen Dichte einer Menge innerhalb der Menge aller Primzahlen erklärt werden. Diese ist, falls vorhanden, gegeben durch
,
wobei die Anzahl aller Primzahlen bis zur Größe ist. Es gilt naturgemäß stets . Ist zum Beispiel lediglich eine endliche Menge von Primzahlen, so folgt aus dem Satz des Euklid bereits . Andererseits gilt . Michael Filaseta und David Richman konnten 1989 unter Verwendung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes und der starken Form des Dirichletschen Primzahlsatzes zeigen, dass für jede nichtleere endliche Menge und jede Funktion die asymptotische Dichte der Menge
den Wert hat. Ist zum Beispiel und , so hat die Menge der ungeraden Primzahlen, bezüglich derer ein quadratischer Rest ist, also
die asymptotische Dichte , denn es hat wegen nur ein Element. Also hat asymptotisch betrachtet durchschnittlich jede zweite Primzahl die Primzahl als quadratischen Rest. Die folgende Tabelle visualisiert die Situation für die ersten Primzahlen :
Analog hat zum Beispiel durchschnittlich jede vierte Primzahl die Eigenschaft, dass gleichzeitig
und
erfüllt ist. Zu bemerken ist, dass es genau vier Möglichkeiten gibt, die Werte und auf abzubilden. Die folgende Tabelle visualisiert die Situation für die ersten Primzahlen :
Allgemeiner gibt es Möglichkeiten, die endliche Menge in abzubilden. Daher sagt das Resultat stets eine langfristige Gleichverteilung innerhalb aller Möglichkeiten voraus.
Existenz von Nichtresten in gewissen Intervallen
In der Frage nach der Existenz von quadratischen Nichtresten in gewissen Bereichen konnten mit Hilfe des quadratischen Reziprozitätsgesetzes Fortschritte erzielt werden. So kann mit seiner Hilfe gezeigt werden, dass es für jede Primzahl bereits eine Primzahl gibt, sodass . Somit kann es nicht vorkommen, dass ein quadratischer Rest für „beliebig viele Primzahlen“ ist. Für den Beweis dieser Tatsache wird neben dem quadratischen Reziprozitätsgesetz auch die Abschätzung
benötigt, wobei gefordert wird, dass keine zwei ganzen Zahlen in den endlichen Mengen kongruent modulo sind.
Gauß bemerkte, dass im Fall von Primzahlen die Existenz einer Primzahl mit auch ohne Verwendung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes nachgewiesen werden kann.
Visualisierung
Das quadratische Reziprozitätsgesetz kann, nach seiner Formulierung durch Legendre, wie folgt visualisiert werden. In folgender Tabelle sind in Zeilen und Spalten die ersten Primzahlen eingetragen. In den Zeilen bestimmt die Primzahl den Modulus, und es ist farblich markiert, ob die Primzahl in der entsprechenden Spalte ein quadratischer Rest oder Nichtrest ist. Die blauen und grünen Felder sind exakt symmetrisch entlang der Diagonalen; sie entsprechen den Fällen, dass mindestens eine der Primzahlen bei Division durch den Rest hat. In der Tat gilt in diesem Fall
womit in beiden Fällen entweder Reste oder Nichtreste vorliegen müssen: In der Tat, da das Ergebnis von positiv ist, müssen beide Faktoren entweder den Wert oder den Wert haben. Also werden die Fragen nach quadratischen Resten in beiden Fällen simultan entweder mit „Ja“ oder mit „Nein“ beantwortet. Erzeugen hingegen beide Primzahlen bei Division durch den Rest , so gilt
und es muss stets genau ein Rest und genau ein Nichtrest vorliegen, also beide Terme haben unterschiedliches Vorzeichen . Daher wird hier ein rotes Feld zu einem orangen Feld an der Diagonale gespiegelt, und umgekehrt.
Zum Beispiel ist ein quadratischer Rest modulo (in der Tabelle vierte Zeile und elfte Spalte), denn es ist
durch teilbar. Das R ist grün hinterlegt, denn es ist . Umgekehrt befindet sich in der elften Zeile und vierten Spalte, also bei , wieder ein grünes Feld, so wie es das quadratische Reziprozitätsgesetz vorhersagt.
Primzahltheorie
Das quadratische Reziprozitätsgesetz kann zur direkten Untersuchung von Primzahlen verwendet werden.
Teiler von Fermat- und Mersenne-Zahlen
Die Fermat-Zahlen sind definiert durch die Folge
Die ersten Fermat-Zahlen sind explizit gegeben durch
Mit dem quadratischen Reziprozitätsgesetz kann gezeigt werden, dass jede Primzahl , die mit teilt, von der Form
für ein sein muss.
Das quadratische Reziprozitätsgesetz gibt also eine starke Einengung für die möglichen Primfaktoren dieser Zahlen. Es liefert eines der wenigen bekannten theoretischen Hilfsmittel zum Finden von Primteilern von Fermat-Zahlen. Zum Beispiel ist jeder Primteiler der Zahl
von der Form . Die ersten Zahlen mit dieser Eigenschaft sind
Von diesen sind nur und tatsächlich Primzahlen. Mit elementaren Mitteln kann gezeigt werden, dass zwei verschiedene Fermat-Zahlen teilerfremd sind, also keine gemeinsamen Primfaktoren haben. Damit scheidet als ein Teiler von aus. Leonhard Euler war der erste, der erkannte, dass ein Teiler von ist. Der andere Primfaktor ist , also
Indem man alle Primzahlen der Form unterhalb von als Teiler von ausschließt, sieht man schnell, dass in der Tat wieder prim ist. Dies wäre die zu dieser Zeit größte bekannte Primzahl gewesen, und es gilt als plausibel, dass Euler um diese wusste.
Das quadratische Reziprozitätsgesetz kann auf ähnliche Weise dafür genutzt werden, etwas über Primteiler von Mersenne-Zahlen zu sagen. Dies sind die Zahlen
mit Primzahlen . Eine berühmte Vermutung sagt, dass es unendlich viele Primzahlen der Form gibt, doch das ist bis heute unbekannt. Mit Hilfe der konnten jedoch einig Male Primzahlen in Rekordhöhe bestimmt werden. Ein Beispiel einer solchen Mersenne-Primzahl ist Im Gegensatz dazu ist aber etwa zusammengesetzt. Es gilt nun: Ist eine Primzahl, sodass wieder prim ist, so ist genau dann ein Teiler von , wenn . Ein entscheidender Zwischenschritt des Beweises dieser Aussage nutzt das quadratische Reziprozitätsgesetz.
Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass wenn eine Primzahl ist, sodass wieder prim ist, bereits gilt. In diesen Fällen ist also zusammengesetzt. Als Beispiel dient , denn es ist , und es ist wieder prim. Wie oben gesehen, teilt die Zahl .
Eine Primzahl derart, dass wieder prim ist, heißt auch Sophie-Germain-Primzahl.
Dirichletscher Primzahlsatz
Einige Spezialfälle des Dirichletschen Primzahlsatzes können unter Verwendung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes direkt gezeigt werden.
Der Dirichletsche Primzahlsatz liefert die Unendlichkeit von Primzahlen in bestimmten arithmetischen Progressionen. Mit arithmetischen Progressionen sind Folgen von Zahlen gemeint, die stets gleiche Differenz haben, wie etwa
Er besagt, dass wenn Differenz (oben ) und ein Folgeglied (oben zum Beispiel ) teilerfremd sind, die Progression bereits unendliche viele Primzahlen enthalten muss. Da und teilerfremd sind, gibt es zum Beispiel unendlich viele Primzahlen innerhalb der Progression . Die ersten dieser Primzahlen sind
Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass es unendlich viele Primzahlen mit der Eigenschaft gibt.
Im Falle der Differenzen bzw. gleichen die Ausführungen jenem des bereits von Euklid gefundenen Beweises, dass es unendlich viele (ungerade) Primzahlen gibt. Für die Differenzen lässt sich teilweise mit quadratischen Resten und dem Reziprozitätsgesetz argumentieren.
Für müssen nur die Fälle diskutiert werden, da Zahlen mit stets gerade und somit durch teilbar sind. Während für den Fall der Primzahlen mit wieder ein elementares Argument wie bei Euklid hinreichend ist, betrachtet man für Primzahlen der Form (siehe oberes Beispiel) Zahlen der Form
Dabei sind die paarweise verschiedenen ungeraden Primzahlen nach Annahme von der Form , und es wird argumentiert, dass stets eine weitere solche Primzahl existiert. Ein (jeder) Primfaktor von ist nach Konstruktion nicht von der Form . Es ist, ebenfalls nach Konstruktion, die Zahl ein quadratischer Rest modulo , also gilt nach dem ersten Ergänzungssatz , und damit . Damit war die endliche Liste der gesuchten Primzahlen nicht vollständig, und es muss unendlich viele dieser Form geben.
Für kann in den Fällen wieder ohne quadratische Rest argumentiert werden. In den Fällen von Primzahlen der Form verfolgt man eine ähnliche Strategie wie bei . Es wird für paarweise verschiedene Primzahlen mit der gewünschten Eigenschaft die Zahl
betrachtet. Genau wie oben ist ein (jeder) Primteiler von nicht aus der Liste . Es ist außerdem ein quadratischer Rest modulo , also . Mit der Multiplikativität, und dem quadratischen Reziprozitätsgesetz, folgt damit
Also ist , und da ungerade ist, sogar .
Die Fälle können aus denen von abgeleitet werden.
Für ganz allgemeine Differenzen reicht die elementare Maschinerie nicht aus. Dirichlet selbst hat für den allgemeinen Beweis von ihm neu entwickelte Techniken aus der komplexen Analysis verwendet.
Quadratesummen
Unter Benutzung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes kann in manchen Fällen gezeigt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Primzahl in der Form
für ein festes geschrieben werden kann. Dies war auch eine treibende Kraft der Zahlentheorie im 18. Jahrhundert, die zu seiner Entdeckung beitrug. Der Fall führt zur Frage, welche ungeraden Primzahlen die Summe zweier Quadrate sind. Es kann gezeigt werden, dass dies genau die Primzahlen der Form sind, also jene, die bei Division durch den Rest haben. Etwa gilt
Dieses Resultat wird heutzutage meist Zwei-Quadrate-Satz genannt. Sein Beweis auf Basis des Reziprozitätsgesetzes benutzt den Satz von Thue. Mit sehr ähnlichen Mitteln kann zum Beispiel auch der Fall behandelt werden. Allerdings sind auch spezielle „gemischte“ quadratische Formen behandelbar, wie etwa . Eine Primzahl ist genau dann von dieser Form, wenn sie quadratischer Rest modulo ist. Im Beweis ist unter anderem notwendig, zu prüfen, ob quadratischer Nichtrest modulo ist.
Lösung diophantischer Gleichungen
Eine diophantische Gleichung, benannt nach Diophantos von Alexandria (um 250), ist eine Polynomgleichung in mindestens einer Variablen, wobei nur ganzzahlige Koeffizienten auftauchen. Ein Beispiel ist
Man ist zudem im Kontext diophantischer Gleichungen stets an ganzen Lösungen interessiert. Es ist durch die Lösung von Hilberts zehntem Problem von 1970 durch Juri Matijassewitsch bekannt, dass es kein allgemeines Verfahren gibt, zu entscheiden, ob eine beliebige diophantische Gleichung lösbar ist oder nicht. Für manche Gleichungen kann aber mittels des quadratischen Reziprozitätsgesetzes gezeigt werden, dass es keine Lösung geben kann. Dies betrifft etwa manche Gleichungen in zwei Variablen des Typs
Beispiele sind die Unlösbarkeit von (die Differenz einer Kubikzahl und einer Quadratzahl ist also niemals ) oder auch (die Differenz einer fünften Potenz und einer Quadratzahl ist also niemals ), über den ganzen Zahlen.
Arithmetische Geometrie
Eine tiefe Entdeckung der Zahlentheorie war, dass es, um eine algebraische Gleichung (in mehreren Variablen) in den rationalen Zahlen zu verstehen, hilfreich sein kann, sie über endlichen Körpern zu betrachten. Dabei ist gemeint, sie in allen Körpern gleichzeitig zu betrachten. Ein wichtiges Beispiel dieses „Lokal-Global-Prinzips“ ist ein von Adrien-Marie Legendre im Jahr 1785 gezeigter Satz:
Für ganze Zahlen ungleich besitzt die Gleichung genau dann eine rationale Lösung , wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. Es haben und nicht alle dasselbe Vorzeichen. 2. Es ist ein quadratischer Rest modulo , ein quadratischer Rest modulo und ein quadratischer Rest modulo .
Der Bezug zu endlichen Körpern wird jedoch erst über die folgende, noch allgemeinere, Formulierung des Satzes von Hasse-Minkowski präsent:
Eine Gleichung der Form mit ganzen Zahlen und Variablen besitzt genau dann eine nichttriviale rationale Lösung, wenn sie über den reellen Zahlen lösbar ist und die Kongruenz für jede Primzahl eine Lösung besitzt.
Da ein unendlicher Körper ist, kann es vorkommen, dass die Lösungsmenge einer quadratischen Gleichung unendlich ist. So hat etwa die Einheitskreisgleichung
unendlich viele rationale Lösungen (jede solche korrespondiert mit einem pythagoreischen Tripel), zum Beispiel gilt
(und wegen ist ein pythagoreisches Tripel). Da die Körper jedoch alle endlich sind, wird zum Beispiel die Gleichung
über stets nur endlich viele Lösungen haben. Fred Diamond und Jerry Shurman weisen darauf hin, dass das quadratische Reziprozitätsgesetz dazu verwendet werden kann, die Anzahlen der Lösungen modulo der Gleichung
als sog. Eigenwerte von linearen Abbildungen
zwischen einem zur Gleichung gehörigen -Vektorraum zu interpretieren. Zunächst hat über die Diskriminante , und die Gleichung insgesamt Lösungen, wenn
Wie im Abschnitt zur Verteilung quadratischer Reste gesehen, hängt die Größe wegen des quadratischen Reziprozitätsgesetzes ausschließlich von der Restklasse modulo ab. Der Schlüssel ist nun, über die eindeutige Primfaktorzerlegung die auf beliebige natürliche Argumente fortzusetzen mittels der Regel
Damit sind die vollständig multiplikativ, also gilt stets . Als Vektorraum kann man nun die Kollektion aller Abbildungen von der Gruppe der primen Restklassen modulo in die komplexen Zahlen definieren, also
Da die Gruppe endlich ist, ist endlichdimensional. Auf kann nun ein System von linearen Abbildungen (mit Primzahl) betrachtet werden:
Dabei verstehen sich die Reduktionen und modulo . Da man die als simultane Eigenwerte begreifen will, muss nun noch eine geeignete Funktion gefunden werden. Nach dem quadratischen Reziprozitätsgesetz ist die Wahl wohldefiniert. Mit der Multiplikativität der folgt
also
Also ist ein Eigenvektor von mit Eigenwert .
Zwar ist das Lokal-Global-Prinzip für kubische Gleichungen nicht mehr richtig, aber das durch das quadratische Reziprozitätsgesetz induzierte Verhalten von Lösungsanzahlen als Eigenwerte lässt sich auf manche kubische Kurven verallgemeinern. Damit sind insbesondere Kurven der Form
gemeint. Diese werden auch als elliptische Kurven bezeichnet und sind in der Zahlentheorie von zentraler Bedeutung. Zählt man hier Lösungszahlen der Kurve über den Körpern , also Tupel mit , so findet man, dass die Zahlen
wieder als ein System von simultanen Eigenwerten linearer Abbildungen zwischen nur von der Kurve abhängigen endlichdimensionalen -Vektorräumen auftreten. Dabei handelt es sich bei den um Räume sog. Modulformen, und die stellen sog. Hecke-Operatoren dar. Dies ist eine Version des Modularitätssatzes, der 1995 von Andrew Wiles und Richard Taylor bewiesen wurde, und sein extrem komplizierter Beweis zählt zu den großen mathematischen Fortschritten des 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist, dass das Legendre-Symbol in dieser Variante durch Modulformen „ersetzt“ wird, diese also als „höhere Charaktere“ in Erscheinung treten. Damit bezieht sich das quadratische Reziprozitätsgesetz auf die „erste Stufe“, während Modulformen die „zweite Stufe“ darstellen. Ab „dritter Stufe“ ist bis heute nahezu nichts bekannt. Diese Fragen sind aber im Rahmen des Langlands-Programms Gegenstand intensiver Forschung.
Beweise
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden zahlreiche verschiedene Beweise für das quadratische Reziprozitätsgesetz gefunden. Allein Gauß legte mindestens acht verschiedene Beweise vor. Sein erster Beweis wurde über ein sehr schwieriges und umständliches Argument mittels vollständiger Induktion geführt. Dieser wurde später von Peter Gustav Lejeune Dirichlet in seinen Vorlesungen über Zahlentheorie (erschienen 1863) vereinfacht. Er ähnelt einem Beweisversuch Legendres, da dieser ebenfalls die Konstruktion einer Hilfsprimzahl erfordert. Die Komplexität des Gaußschen Arguments rührt nun von der Notwendigkeit her, die Existenz dieser Primzahl nachzuweisen, und die technischen Berechnungen, die Gauß dazu anstellen musste, führten dazu, dass sein Argument viele Jahre lang nur wenig Beachtung fand. Seine Berechnungen erwiesen sich jedoch bei der Entwicklung der algebraischen K-Theorie in den 1970er Jahren als nützlich; in der Tat kann ein Beweis der quadratischen Reziprozität aus bestimmten Ergebnissen der K-Theorie der rationalen Zahlen abgeleitet werden. Gauß’ zweiter Beweis erschien ebenfalls in den Disquisitiones und verwendet die von Lagrange und ihm initiierte Geschlechtertheorie der quadratischen Formen. Diese ermöglicht eine Klassifikation der Formen, die eng mit Lagranges Klassifikation der quadratischen Formen durch sog. unimodulare Substitutionen verwandt ist. Dabei wird eine quadratische Form durch eine Variablensubstitution in eine andere Form übergeführt, die aber im Wesentlichen die gleichen Eigenschaften wie die erste Form besitzt. Der Hauptpunkt des Arguments ist hier der Beweis einer Ungleichung für die Anzahl der Geschlechter für Formen. Dieser Beweis lässt sich gut in moderner Fachsprache der algebraischen Zahlentheorie ausführen, nämlich über eine Äquivalenz von Idealen in quadratischen Zahlkörpern.
Bisher wurden mehr als 300 Beweise publiziert. Jedoch sind diese Beweise nicht alle völlig verschieden. Manche unterscheiden sich lediglich in wenigen Details. Bis in die heutige Zeit werden neue Beweise gefunden. Etwa publizierte Franz Lemmermeyer im Jahr 2022 einen solchen, wobei er das Lemma von Gauß und die Hermitesche Identität benutzte.
Im Folgenden wird eine Auswahl an Beweisen des quadratischen Reziprozitätsgesetzes besprochen. Es werden stets die Beweisideen skizziert und die wichtigen Schritte gegeben. Ausführliche Darstellungen finden sich in der Literatur.
Über das Lemma von Gauß
Das Lemma von Gauß wird in einigen Beweisen des quadratischen Reziprozitätsgesetzes verwendet. Unter anderem kam es in Gauß’ fünftem Beweis zum Einsatz. Dabei handelt es sich um eine Methode, das Legendre-Symbol zu berechnen. Um diese zu verstehen, betrachtet man zuerst die „erste Hälfte“ der Restklassen modulo einer ungeraden Primzahl :
Jede Restklasse hat nun die Form mit einem Vorzeichen und einem , beides eindeutig bestimmt. Nun bestimmt man eine Folge von zu gehörigen Vorzeichen via
mit . Das Lemma von Gauß besagt, dass
Zentrales Werkzeug beim Beweis des Lemmas von Gauß ist das Euler-Kriterium, da man für dann lediglich
zeigen muss. Der Trick bei einer Beweismethode des quadratischen Reziprozitätsgesetzes ist, die Vorzeichen expliziter auszudrücken: Zunächst schreibt man mit und einem . Durch eine Fallunterscheidung findet man dann
wobei den ganzzahligen Anteil von bezeichnet. Es ist nach dem Lemma von Gauß also
Diese Formel ist Ausgangspunkt für eine Reihe von Umformungsschritten, die zusammen mit dem Zählen bestimmter ganzzahliger Punkte in einem durch die Primzahlen vorgegebenen Rechteck zum gewünschten Resultat führen.
Das Lemma von Gauß ist jedoch auch Hilfsmittel bei weiteren Beweisen für das quadratische Reziprozitätsgesetz. Einer davon ist ein berühmter Beweis von Gotthold Eisenstein aus dem Jahr 1845, veröffentlicht in Crelles Journal. Dieser beginnt mit der für ungerade gültigen trigonometrischen Identität
Es bezeichnet dabei den Wert der Sinusfunktion an der Stelle , und obere Formel ist für alle gültig (an den Stellen liegen hebbare Singularitäten vor, was eine stetige Fortsetzung ermöglicht). Diese Identität kann elementar mittels Koeffizientenvergleichs zwischen Polynomen und unter Verwendung der Eulerschen Formel gezeigt werden. Da der Sinus eine ungerade Funktion ist, also stets gilt, aber auch eine -periodische Funktion ist, hat man wegen der Definition der Vorzeichen
Damit gilt für ungerade Primzahlen :
Der Knackpunkt ist nun die auf der rechten Seite entstandene „Symmetrie bis auf ein Vorzeichen “. In der Tat gilt unter Vertauschung der Primzahlen ganz analog
da Multiplikation kommutativ ist. Bemerkenswert an dem Beweis ist, dass er sich auch für höhere Reziprozitätsgesetze eignet, indem der Sinus durch sog. elliptische Funktionen ersetzt wird. Auf diese Weise zeigte Eisenstein das kubische und das biquadratische Reziprozitätsgesetz. Der Zahlentheoretiker Ernst Eduard Kummer kommentierte diesbezüglich:
Analytischer Beweis
Es gibt die Möglichkeit, das quadratische Reziprozitätsgesetz mit Mitteln aus der Analysis zu zeigen. In der Analysis stehen die Eigenschaften von Funktionen (wie etwa Stetigkeit und Differenzierbarkeit) im Vordergrund. Für den Beweis wird eine bestimmte mathematische Funktion betrachtet, nämlich die nach Carl Gustav Jacob Jacobi benannte Jacobische Thetafunktion. Diese hat zwei unabhängige Variablen, wobei die eine Variable aus dem Intervall gewählt werden muss. Um die Reziprozität zu zeigen, ist der Trick, diese Funktion auf zwei verschiedene Weisen im Grenzprozess zu untersuchen. Im Anschluss kommen zwei anders aussehende Ausdrücke für ein und dieselbe Formel zum Vorschein. Durch deren „Vergleich“ kann letztlich das Reziprozitätsgesetz gefolgert werden.
Dieser Beweis geht auf G. Landsberg aus dem Jahr 1893 zurück (veröffentlicht in Crelles Journal). Der Mathematiker Erich Hecke konnte die Idee neu aufgreifen, und mit höherdimensionalen Thetafunktionen ein Reziprozitätsgesetz in Zahlkörpern beweisen. Hecke schrieb diesbezüglich: „Es ist die Tatsache, daß die genauere Kenntnis des Verhaltens einer analytischen Funktion in der Nähe ihrer singulären Stellen eine Quelle von arithmetischen Sätzen ist“.
Kombinatorischer Beweis
Das Lemma von Zolotareff stellt eine Verbindung zwischen dem Legendre-Symbol und dem Vorzeichen einer Permutation her.
Ist eine ganze Zahl und eine ungerade Primzahl, die nicht teilt, dann stellt die Abbildung
eine Permutation der Elemente der primen Restklassengruppe (der Zahlen von bis ) dar. Das Lemma von Zolotareff besagt nun, dass das Legendre-Symbol gleich dem Vorzeichen dieser Permutation ist, das heißt,
.
Das Lemma erlaubt einen einfachen Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetzes. Es ist nach dem russischen Mathematiker Jegor Iwanowitsch Zolotareff benannt, der das Lemma und diesen Beweis 1872 vorlegte. Ferdinand Georg Frobenius verallgemeinerte diese Resultate 1914 für das Jacobi-Symbol.
Die Ergänzungssätze
Der erste Ergänzungssatz für Primzahlen ist unmittelbare Konsequenz der Aussage, dass genau dann quadratischer Rest modulo ist, falls , siehe Euler-Kriterium.
Für den zweiten Ergänzungssatz kann wie folgt verfahren werden. Es werden, wieder für Primzahlen , die Kongruenzen
mit (sodass also auf den linken Seiten alle geraden Zahlen zwischen und stehen) betrachtet. Diese liegen auf der Hand. Daraus folgt sogleich
,
also (weil relativ prim zu ist) . Jetzt kann wieder mit dem Euler-Kriterium argumentiert werden.
Verallgemeinerungen
Reziprozität beim Jacobi-Symbol
Das Legendre-Symbol kann auf verschiedene Weisen verallgemeinert werden. Eine naheliegende davon ist, für den Modul auch zusammengesetzte Zahlen zuzulassen. Ist die Primfaktorzerlegung von mit paarweise verschiedenen , so definiert man das Jacobi-Symbol durch
Ein Beispiel ist:
Zu beachten ist, dass Legendre- und Jacobi-Symbol für primes identisch sind. Aus zahlentheoretischer Sicht ist beim Jacobi-Symbol Vorsicht geboten. Ist , so ist die Kongruenz
definitiv nicht lösbar. Jedoch garantiert nicht die Existenz einer Lösung, falls keine Primzahl ist. Allerdings gilt weiter ein Reziprozitätsgesetz: Für alle ungeraden ganzen Zahlen größer gilt
Auch gelten für ungerade wieder die Ergänzungssätze:
Kubisches und biquadratisches Reziprozitätsgesetz
Ähnlich wie sich das quadratische Reziprozitätsgesetz auf Quadrate bezieht, befasst sich das kubische Reziprozitätsgesetz mit der dritten Potenz. Für seine Formulierung ist es aber notwendig, den Bereich der ganzen Zahlen zu verlassen. Man erweitert ihn um den Wert
(mit der imaginären Einheit ),
also um eine dritte Einheitswurzel. Es ist daher , und wegen auch . Explizit gilt
und die Zahlen werden als Eisenstein-Zahlen bezeichnet. Es kann gezeigt werden, dass es ein Analogon für Primzahlen in gibt. Hintergrund ist, dass sehr ähnliche Eigenschaften wie die ganzen Zahlen hat, denn es ist wie ein euklidischer Ring, ergo ist eine Division mit Rest auch in den Eisenstein-Zahlen möglich. Der Schlüssel für die Formulierung des kubischen Reziprozitätsgesetzes ist, die „Primzahlen“ in zu charakterisieren. Da sich der Begriff der Primzahl jedoch auf die ganzen Zahlen bezieht, wird in diesem allgemeineren Kontext von Primelementen (des Rings ) gesprochen. In euklidischen Ringen besitzt jede Zahl eine, bis auf Faktorreihenfolge und Einheiten (also Zahlen, durch die im Ring stets dividiert werden kann, wie in ), eindeutige Zerlegung in Primelemente. Ausgangspunkt ist eine Normabbildung
Diese ist multiplikativ, erfüllt also für sämtliche . Die Normabbildung bildet Eisenstein-Zahlen auf einfacher zu verstehende nichtnegative ganze Zahlen ab, und hilft damit bei deren Untersuchung. So ist etwa jedes Element aus ein Primelement, wenn seine Norm prim ist, es gibt aber auch Primelemente mit zusammengesetzter Norm. Ist nämlich eine Primzahl, so gilt und:
ist in kein Primelement, sondern zerlegbar: . Weil die Menge der sechs Einheiten von ist, ist assoziiert zum Quadrat des Primelements . Man nennt zwei Elemente assoziiert, falls sie sich bloß multiplikativ um eine Einheit unterschieden. Zum Beispiel sind und assoziiert in , weil dort eine Einheit ist.
Jedes ist kein Primelement, sondern zerlegbar: mit zwei nichtassoziierten Primelementen und aus der gleichen Norm . ist also weder Primelement in noch zum Quadrat eines Primelements assoziiert. Zum Beispiel gilt in : .
Jedes „bleibt“ ein Primelement in (zu beachten ist, dass die ganzen Zahlen als Teilmenge enthält). Zum Beispiel hat in keine anderen Teiler als die sechs zu und die sechs zu selbst assoziierten Elemente.
Ähnlich wie in den ganzen Zahlen kann mittels der Division mit Rest aus und einem Primelement ein endlicher Körper mit Bezeichnung konstruiert werden. Zwei Elemente und erfüllen ferner
falls , also durch teilbar ist. Da die Einheitengruppe genau Elemente besitzt, kann der kleine Fermatsche Satz auf
ausgeweitet werden. Dies motiviert zugleich eine kubische Verallgemeinerung des Euler-Kriteriums auf
Die Einheit, zu der kongruent modulo ist, ist wegen eindeutig bestimmt, denn ist ein Körper. Genau die entsprechende Einheit ist dann der Wert des (kubischen) Legendre-Symbols
Für primäre Primelemente lässt sich nun kubische Reziprozität formulieren: Für primäre Primelemente und in gilt
Für die Formulierung des biquadratischen Reziprozitätsgesetzes muss analog wie beim kubischen Reziprozitätsgesetz vorgearbeitet werden. Dieses Mal ist dabei der Ring der Gaußschen Zahlen von Relevanz. Die entsprechende Normabbildung, die zur Bestimmung der Primelemente dient, ist . Ausgeschrieben sagt es aus, dass für alle primären Primelemente von die Identität
gilt.
Artinsches Reziprozitätsgesetz
Eine große Errungenschaft der Zahlentheorie des 20. Jahrhunderts war es, mit neuen Konzepten und Mitteln der Abstraktion alle bis dato bekannten Reziprozitätsgesetze miteinander zu vereinen. Dies gelang dem Algebraiker Emil Artin in einer Reihe von Papern aus den Jahren 1924, 1927 und 1930. Um seine Aussage zu verstehen, bedarf es einiger Kenntnisse aus der algebraischen Zahlentheorie. In seiner Version über globale Körper besagt es Folgendes. Ist ein globaler Körper, zum Beispiel , und eine abelsche Erweiterung, so kann das Legendre-Symbol mit diesen Daten verallgemeinert werden. Ist das Primideal (des Ganzheitsringes von ) nicht verzweigt in , und ein Primideal, das enthält, so existiert ein eindeutig bestimmtes Element (in der Galois-Gruppe bezüglich der Erweiterung ), sodass für alle bereits
gilt, wobei die Mächtigkeit des Restklassenkörpers bezeichnet. Der damit gewonnene Körperautomorphismus induziert das Artin-Symbol via der Festlegung
Dieses gibt nun durch „Linearität“ eine Abbildung (Artin-Abbildung zu und )
wobei die Gruppe der zum – zur Erweiterung gehörigen – Erklärungsmodul teilerfremden gebrochenen Ideale über bezeichnet, da jedes eine eindeutige Zerlegung
in Primideale besitzt. Der Erklärungsmodul muss dabei durch alle verzweigten Primideale teilbar sein. Es kann gezeigt werden, dass diese Artin-Abbildung ein surjektiver Gruppenhomomorphismus ist. Das Artinsche Reziprozitätsgesetz berechnet nun den Kern dieser Abbildung, und stellt damit nach dem Homomorphiesatz einen Gruppenisomorphismus her. Dieser ist das Produkt der Normen der in zu teilerfremden gebrochenen Ideale und der durch die Hauptideale () erzeugten Untergruppe , wobei und für alle reellen unendlichen Primstellen gilt, die teilen (es ist der Modul formales Produkt ). Dieser Kern wird auch die mod erklärte Idealgruppe genannt, die zur Erweiterung gehört. Der zur Galois-Gruppe isomorphe Quotient wird manchmal auch als verallgemeinerte Idealklassengruppe bezeichnet. Die Galois-Gruppe wird durch das Artinsche Reziprozitätsgesetz also als eine solche realisiert. Das Artin-Symbol hängt daher, da Teil des Kerns ist, nur von bis auf Multiplikation mit ab. Hierbei ist Eulers Formulierung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes (siehe Abschnitt Geschichte) wiederzuerkennen.
Aus dem Artinschen Reziprozitätsgesetz kann das quadratische Reziprozitätsgesetz wie folgt gewonnen werden: Zunächst kann es, unter Beachtung des 1. Ergänzungssatzes, in der Form
mit geschrieben werden. Der erste Schritt ist nun, die Erweiterung zu studieren. Es ist eine verallgemeinerte Idealklassengruppe bezüglich des Moduls , was zudem auf jeden Zwischenkörper zutrifft. Da eine zyklische Gruppe der Ordnung ist, gibt es einen eindeutig bestimmten Zwischenkörper , der eine quadratische Erweiterung von ist. Dann ist bereits verallgemeinerte Idealklassengruppe zu , was bedeutet, dass die einzige endliche Primstelle ist, die über verzweigt. Schreibt man , quadratfrei, so kann und folglich gezeigt werden. Es folgt
,
also gibt das Legendre-Symbol einen Gruppenepimorphismus
Dies induziert einen Gruppenepimorphismus
Jedoch ist das Legendre-Symbol ebenfalls ein solcher, und da zyklisch ist, gibt es nur einen solchen Homomorphismus. Es folgt
.
Literatur
Oswald Baumgart: The quadratic reciprocity law. A collection of classical proofs. Birkhäuser 2015, ISBN 978-3-319-36778-1.
Komaravolu Chandrasekharan: Elliptic Functions. Springer-Verlag Berlin / Heidelberg / New York / Tokyo, Grundlehren der mathematischen Wissenschaften 281, ISBN 3-540-15295-4.
Komaravolu Chandrasekharan: Introduction to Analytic Number Theory. Springer Verlag, Grundlehren der mathematischen Wissenschaften 148, ISBN 3-540-04141-9, Kap. V: The law of quadratic reciprocity.
David A. Cox: Primes of the Form , Pure and Applied Mathematics: A Wiley Series of Texts, Monographs, and Tracts. Wiley 2013, Second Edition. ISBN 978-1-118-39018-4.
Franz Lemmermeyer: Reciprocity Laws. From Euler to Eisenstein. Springer Monographs in Mathematics. Springer Verlag, 2000, ISBN 3-540-66957-4.
Eugen Netto (Hrsg.): Sechs Beweise des Fundamentaltheorems über quadratische Reste von Carl Friedrich Gauß. Verlag Wilhelm Engelmann, Leipzig 1901, digitalisierte Version.
Jürgen Neukirch: Algebraische Zahlentheorie. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 1992, ISBN 3-540-54273-6.
Alexander Schmidt: Einführung in die algebraische Zahlentheorie, Springer Lehrbuch, ISBN 978-3-540-45973-6.
Harold Shapiro: Introduction to the Theory of Numbers, John Wiley & Sons 1983, ISBN 0-471-86737-3.
Steve Wright: Quadratic Residues and Non-Residues, Lecture Notes in Mathematics 2171, Springer Verlag, ISBN 978-3-319-45954-7.
Weblinks
Liste der gefundenen Beweise des quadratischen Reziprozitätsgesetzes
Anmerkungen
Einzelnachweise
Zahlentheoretischer Algorithmus
Satz (Zahlentheorie) |
106403 | https://de.wikipedia.org/wiki/Stachelschweine | Stachelschweine | Die Stachelschweine (Hystricidae) sind eine Familie von Nagetieren mit 11 Arten, die in Teilen Asiens, Afrikas und auch in Südeuropa vorkommen. Die Tiere gehören mit Körperlängen von bis über einen Meter zu den größten Vertretern der Nagetiere weltweit. Sie zeichnen sich durch Stacheln auf dem Rücken und am Schwanz aus, die sich aus umgewandelten Haaren entwickelt haben und entsprechend aus Keratin bestehen. Diese Stacheln werden passiv und auch aktiv gegen potenzielle Feinde eingesetzt. Die Tiere sind generell nachtaktiv und ernähren sich von Pflanzenteilen. Anders als die meisten Säugetiere bilden Stachelschweine monogame Paare, die mit ihrem gemeinsamen Nachwuchs Familiengruppen bilden.
Der gelegentlich anzutreffende Name „Altweltliche Stachelschweine“ ebenso wie die englische Bezeichnung „old world porcupines“ soll die Tiere von den amerikanischen Baumstachlern oder „Baumstachelschweinen“ abgrenzen.
Merkmale
Äußere Merkmale
Die Stachelschweine sind mittelgroße bis große Nagetiere. Einige der Arten gehören neben den Capybaras und den Bibern zu den größten Nagetieren der Welt und sind die größten Nager in Europa, Asien und Afrika. Vor allem das Südafrikanische Stachelschwein kann eine maximale Körperlänge von über einem Meter bei einem Gewicht von 10 bis maximal 24 Kilogramm erreichen. Die kleinsten Arten der Pinselstachler (Trichys) und der Quastenstachler (Atherurus) wiegen dagegen nur etwa 1,5 Kilogramm und erreichen eine Gesamtlänge von weniger als 50 Zentimetern. Innerhalb der Stachelschweine unterscheiden sich die Arten der Gattung Hystrix deutlich von denen der manchmal als Atherurinae zusammengefassten Pinselstachler und der Quastenstachler. Erstere sind stämmig gebaut, mit kurzen Beinen und kurzen, im ausgeprägten Stachelkleid versteckten Schwänzen. Dagegen sind die Arten der Atherurinae in der Regel kleiner, mit schlankerem und rattenartigem Körper und längeren Schwänzen sowie weniger stark ausgeprägtem Stachelkleid. Ein Sexualdimorphismus ist bei den Arten nicht oder nur sehr gering ausgeprägt, die Männchen und Weibchen sind entsprechend schwer unterscheidbar. Die Augen und Ohren der Tiere sind nur klein ausgebildet, die Vibrissen des Gesichts sind lang und starr.
Die meisten Arten sind in der Körperfärbung braun bis schwarz, bei einigen Arten sind die Stacheln weiß und schwarz gebändert und geben den Tieren entsprechend eine schwarz-weiße Färbung. Die Haare sind borstig und häufig zu auffälligen Stacheln umgewandelt, die bei allen Arten vorkommen und je nach Art Teile des Körpers oder den vollständigen Körper bedecken. Die Stachelschweine haben mit Stacheln von bis zu 30 Zentimetern Länge die längsten Stacheln aller Säugetiere, bei denen die Stachelbildung in verschiedenen Gruppen mehrfach unabhängig voneinander entstanden ist. So finden sich konvergente Bildungen innerhalb der Kloakentiere bei den Ameisenigeln, innerhalb der Insektenfresser bei den Igeln, innerhalb der Tenrekartigen bei den Igeltenreks und innerhalb der Nagetiere auch bei den amerikanischen Baumstachlern oder Neuweltstachelschweinen (Erethizontidae), die mit den Stachelschweinen nicht näher verwandt sind. Im Haar- und Stachelkleid der Stachelschweine findet man verschiedene Arten von Haaren und Stacheln: weiche Wollhaare, steifere Haare, flache Borsten, dicke, sehr elastische, lange Borsten (Fühlborsten) und starre, lange runde Spieße. Die Stacheln variieren dabei je nach Art sowie nach der Position am Körper in der Länge, der Dicke, der Form und der Färbung, sie sind alle spitz und dienen der Verteidigung. Die Spießstacheln haben einen runden Querschnitt mit einer schwammartigen inneren Struktur, die von einer hornigen keratinreichen Schicht umhüllt ist. Der größte Durchmesser der Stacheln liegt in dessen Mitte, zu beiden Seiten verdünnt sich der Stachel und die Spitze ist mit Widerhaken besetzt. Die Stacheln sind in einer Muskelschicht unter der Haut verankert, durch die sie aufgestellt werden können. Daneben besitzen die Tiere flexible Fühlborsten, deren größter Durchmesser sich im Bereich der Basis befindet und deren Länge mit bis zu 50 Zentimetern die Länge der Stacheln deutlich übertreffen kann.
Die Schwanzlänge ist generell verhältnismäßig kurz und beträgt 13 bis 50 % der Körperlänge. Den längsten Schwanz hat der Pinselstachler mit etwa der Hälfte der Körperlänge, der im englischen Sprachraum als „Long-tailed Porcupine“ bekannt ist. Der Schwanz ist bei allen Arten mehr oder weniger stark mit Stacheln bedeckt, die bei einigen Arten zu Stachelquasten mit zu Rasseln umgebildeten Stacheln ausgestaltet sind. Die Stacheln der Schwanzquaste sind besonders ausgebildet und besitzen einige artspezifische Charakteristika. Bei den Pinselstachlern (Trichys) sind sie als abgeflachte und weiche, pinselbürstenähnliche Borsten ausgebildet. Die Quastenstachler (Atherurus) haben hohle und plättchenartig geformte Borsten in der Schwanzquaste und die Hystrix-Arten besitzen dicke, hohle und kapselartig gestaltete Quastenstacheln, die bei einer Bewegung des Schwanzes ein lautes und rasselndes Geräusch erzeugen. Bei den Hystrix-Arten kommen zudem bis zu 30 Zentimeter lange Borsten vor, die den Kopf und Nacken bedecken und einen deutlich ausgeprägten Kamm bilden.
Die Beine der Tiere sind vor allem bei den Hystrix-Arten kurz und stämmig mit nackten Fußsohlen an den Vorder- und Hinterfüßen. Alle vier Füße haben jeweils fünf Zehen, die in verhornten Klauen enden, der Daumen (Pollex) ist allerdings verkleinert. Die Weibchen besitzen zwei bis drei Paare seitlicher Zitzen, wodurch die Jungtiere diese auch erreichen können, wenn das Muttertier auf dem Bauch liegt.
Merkmale des Schädels und des Skeletts
Der Schädel der Stachelschweine ist kompakt und hoch gebaut mit sehr breiten Kiefern, an denen die Kaumuskulatur ansetzt. Sie unterscheiden sich als Hystricognathi von Nagetieren anderer Taxa durch einen so genannten hystricomorphen Schädel- und Muskelbau und eine entsprechende Ausgestaltung des Unterkiefers und des Schädels. Das namensgebende Merkmal ist der hystricognathe Unterkiefer: Der vom Hinterende des Unterkiefers auswachsende Winkelfortsatz steht nicht in einer Linie mit dem Rest des Kiefers, wie es bei anderen Nagetieren mit sciurognathem Kieferbau der Fall ist, sondern ist seitlich und breit abgewinkelt. Der Massetermuskel (Musculus masseter) ist zweiteilig, wobei ein kurzer Strang vom Unterkiefer zum Jochbogen zieht und ein längerer und tiefer liegender Teil durch das vergrößerte Foramen infraorbitale („Unteraugenloch“) zum vorderen Augenrand führt. Innerhalb der Familie gibt es zudem die Tendenz zu einem flacheren Gesichtsschädel und größeren Nasenbeinen, die bei den Pinselstachlern und den Quastenstachlern noch klein, bei den Vertretern der Hystrix-Untergattungen Thecurus und Acanthion vergrößert und bei den Arten der Untergattung Hystrix deutlich vorstehend sind. Die vergrößerte Nasenhöhle, der Oberkiefer und das Tränenbein sind bei diesen zudem durch Lufträume aufgebläht, die wahrscheinlich eine Anpassung an die trockenen und heißen Habitate der Tiere darstellen und das bessere Auffinden von unterirdischen Knollen ermöglichen.
Die Tiere besitzen ein typisches Nagetiergebiss mit zu Nagezähnen umgewandelten Schneidezähnen (Incisivi) und eine darauf folgende Zahnlücke (Diastema). Sowohl im Oberkiefer als auch im Unterkiefer folgen pro Hälfte je ein Prämolar sowie drei Molaren. Insgesamt verfügen die Tiere damit über ein Gebiss aus 20 Zähnen. Die oberen Schneidezähne sind groß und proodont, sie besitzen keine Furchen und sind daher an der Vorderseite glatt. Die Kauflächen der oberen Prämolaren und Molaren besitzen jeweils drei äußere und eine innere Schmelzschicht, die unteren jeweils drei innere und eine äußere Schmelzschicht. Diese Schichten nutzen sich im Laufe des Lebens unterschiedlich ab, wodurch Inseln verschiedener Schichten auf den Kauflächen entstehen. Bei den Pinselstachlern und den Quastenstachlern sind die Molaren flachkronig und sie besitzen nur kleine Zahnwurzeln, die Zahnkronen der Mahlzähne bei den Hystrix-Arten sind dagegen hochkronig und sie verfügen über größere Wurzeln.
Das postcraniale Skelett entspricht dem typischen Nagetierskelett und weist keine familientypischen Besonderheiten auf. Vor allem bei den größeren Arten ist es sehr kräftig gebaut, die Füße setzen mit der gesamten Fußfläche auf dem Boden auf (plantigrad).
Verbreitung und Lebensraum
Das Verbreitungsgebiet der Stachelschweine umfasst das tropische und subtropische Asien sowie Teile von Afrika mit Ausnahme der Wüstengebiete der Sahara, eine Art kommt auch in Europa in Teilen Italiens und auf Sizilien vor. Die meisten Arten leben in Südostasien, wobei einige der Arten endemisch auf einzelnen Inseln oder Inselgruppen von Indonesien und den Philippinen vorkommen. In Afrika leben drei Arten, das Gewöhnliche Stachelschwein (Hystrix cristata) wurde zudem wahrscheinlich zur Zeit des Römischen Reiches in Italien eingeführt. Das Verbreitungsgebiet des Indischen Weißschwanz-Stachelschweins (Hystrix indica) reicht vom östlichen Mittelmeerraum über Zentralasien bis nach Indien, Nepal und den Süden der Volksrepublik China.
Stachelschweine kommen sowohl im küstennahen Flachland als auch in Bergregionen bis in Höhen von 3500 Metern vor. Obwohl die Arten teilweise sehr spezifische Lebensräume besiedeln, sind sie als Gesamtheit in verschiedensten Habitaten zu finden, und insbesondere die Hystrix-Arten können in deutlich voneinander abweichenden Lebensräumen angetroffen werden. Sie leben im küstennahen Gebüschland und mediterranen Dünengebieten, warmen und kalten Savannengebieten und trockenen Halbwüsten sowie Wald- und Regenwaldgebieten des Flach- und Berglands. Hystrix-Arten leben zudem teilweise in Akazien- und Brachystegia-Beständen und auch in landwirtschaftlich genutzten Flächen sowie nahe menschlicher Ansiedlungen. Die beiden Quastenstachler-Arten kommen dagegen nur in tropischen Regenwaldgebieten in Asien und Afrika vor.
Lebensweise
Alle Arten der Stachelschweine leben primär am Boden, nur der asiatische Pinselstachler (Trichys fasciculata) kann auch auf Bäume klettern. Die Tiere sind nachtaktiv und verbringen ihre Aktivitätsphase mit der Nahrungssuche und dem Fressen. Sie bewegen sich in der Regel entlang regelmäßig genutzter Pfade, wobei sie teilweise lange Wege zurücklegen. Manche Arten graben Gänge und Baue, andere verbergen sich in Felsspalten oder in verlassenen Bauen anderer Tiere. Den Tag verbringen die Stachelschweine in den Bauen und Verstecken, in denen sie ein Nest aus Pflanzenmaterial anlegen. Stachelschweine sind Sohlengänger (plantigrad), sie treten also mit dem gesamten Fuß auf. Dadurch entwickeln sie eine wackelige Gangart, wenn sie gestört werden und schneller laufen. Mit Ausnahme des Pinselstachlers reiben sie zudem beim Laufen ihre Schwanzstacheln aneinander und stampfen mit den Füßen auf, wenn sie sich bedroht fühlen.
Alle Arten der Stachelschweine, von denen das Paarungsverhalten bekannt ist, sind monogam und haben entsprechend über ihre Lebensdauer nur einen Partner. Gemeinsam mit ihren Jungtieren und subadulten Nachkommen bilden die Paare Familiengruppen von 2 bis 14 Individuen, in denen sie bis zu ihrem Lebensende leben. Obwohl sie in der Regel einzeln auf Nahrungssuche gehen, treffen sie sich häufig in Gruppen an den verfügbaren Nahrungsquellen. Zudem ist auch bei diesen Tieren in Gefangenschaft ein soziales Fremdputzen zu beobachten. Bei den Quastenstachlern ist nicht bekannt, ob sie monogam leben, sie kommen jedoch auch häufig in Gruppen vor und teilen sich teilweise auch ihre Baue in gemischtgeschlechtlichen Gruppen. In den Nestern leben die Familiengruppen sowie bei anderen Arten wie etwa den Asiatischen Quastenstachlern auch Gruppen (Clans) nicht-verwandter Individuen zusammen und nutzen einen gemeinsamen Schlafbau, wo sie dicht beieinander liegen und sich gegenseitig wärmen. Zudem gehen sie in Gruppen auf Nahrungssuche und verteidigen sich auch gemeinsam gegen potenzielle Feinde. Die Gruppen nutzen zudem die gleichen Wege, Fressplätze, Bereiche für die Ablage der Exkremente (Latrinen), Territorien und Rückzugsplätze.
Die Größe der Territorien und der Aktivitätsräume hängt stark von der Region, dem Lebensraum und den Nahrungsverfügbarkeiten ab. In Italien sind die Territorien in den wärmeren Jahreszeiten größer als in den kälteren und größer in landwirtschaftlich genutzten Gebieten als in anderen Regionen. In den israelischen Trockengebieten sind die Territorien dagegen in den nicht landwirtschaftlich genutzten Gebieten fast 40 % größer als die in landwirtschaftlich genutzten Gebieten.
Kommunikation
Die Kommunikation zwischen den Tieren ist vor allem bei den größeren Hystrix-Arten untersucht worden. Sie findet bei diesen visuell, akustisch über Lautäußerungen sowie olfaktorisch durch Duftmarken statt. Sowohl Männchen als auch Weibchen nutzen Duftmarken über ihre Perianaldrüsen im Bereich des Afters sowie durch Urinmarken, um ihre Territorien zu markieren, die Pärchen verteidigen diese auch gegen Eindringlinge. Die Gebiete, in denen sie ihre Jungtiere aufziehen, werden besonders aggressiv verteidigt. Bei einigen Arten wirken zudem wahrscheinlich Stacheln der Schwanzquaste als Duftträger (Osmetrichia) und sind mit spezifischen Kanälchen ausgestattet. Hinzu kommen verschiedene Laute der Tiere, die der Kommunikation dienen. Artübergreifende Kommunikation findet zudem sehr stark gegenüber potenziellen Fressfeinden statt. Sie besteht einerseits passiv aus der durch die auch nachts gut erkennbaren und kontrastreichen braun-weißen Stacheln als Warnfärbung, andererseits direkt und aktiv als aus auffälligen Verhaltensweisen wie dem Rasseln mit der Schwanzquaste und dem Aufstellen der Stacheln als erstes Warnsignal. Wenn diese Signale nicht wirken und den potenziellen Aggressor nicht abschrecken, stampfen die Tiere zusätzlich mit den Füßen auf und geben bedrohlich grunzende Laute von sich, danach wenden sie ihren stachelbewehrten Rumpf gegen den Angreifer und laufen rückwärts oder seitwärts auf diesen zu oder gegen ihn, sodass sich die aufgestellten Stacheln mit ihren Widerhaken in dessen Haut bohren und stecken bleiben.
Ernährung
Stachelschweine ernähren sich primär von pflanzlicher Nahrung wie Gräsern, Früchten, Rinden, Knollen und Wurzeln. Teilweise können sie sich jedoch auch omnivor ernähren und fressen zusätzlich Insekten und andere Kleintiere. Zudem suchen die Tiere auch Kadaver und Knochen auf und fressen als Aasfresser an diesen (Osteophagie). Südafrikanische Stachelschweine ernähren sich zum Hauptteil von unterirdischen Wurzeln und Knollen, die sie mit Hilfe ihrer Vorderfüße ausgraben. Zusätzlich fressen sie Sprossen und Triebe, Rinden und Äste sowie Früchte. In landwirtschaftlich genutzten Flächen können sie so große wirtschaftliche Schäden verursachen, wenn sie ihre Nahrung in Flächen mit Cassava, Melonen, Süßkartoffeln, Mais, Erdnüssen, Bananen und Kürbissen suchen. Sie schälen in Savannengebieten zudem die Rinden von Bäumen ab und können dadurch die Bäume stark schädigen, wodurch sie teilweise auch die Ausbreitung von Pflanzen begrenzen.
Zur Nahrungsaufnahme benutzen die Tiere ihre Vorderbeine, mit denen sie Nahrungsteile positionieren und gegen den Boden drücken können, um dann an ihnen zu nagen. Vor allem die Hystrix-Arten graben zudem im Boden nach Samen, Wurzeln, Knollen und Insektenlarven. Dabei entstehen runde und konisch geformte Löcher im Boden, die ökologisch dazu führen, dass hauptsächlich in den Halbwüsten- und Steppengebieten ihrer Verbreitungsgebiete, etwa im südlichen Afrika oder in Israel, Wasser in den trockenen und von einer harten Kruste bedeckten Boden eindringen und so zu den im Boden enthaltenen Samen gelangen kann. Obwohl Stachelschweine selten bei der Flüssigkeitenaufnahme beobachtet werden, benötigen wahrscheinlich alle Arten den Zugang zu sauberem Wasser und müssen trinken, da ihnen die Nahrung nicht genug Wasser liefern kann.
Über die Ernährung und die Nahrungsaufnahme der Arten in Südostasien liegen nur sehr wenige Informationen vor.
Fortpflanzung
Da alle Arten der Stachelschweine im Vergleich zu anderen Nagetieren sehr groß sind, haben sie generell eine lange Entwicklungszeit. Zur Fortpflanzung und Entwicklung liegen allerdings für die meisten Arten der Stachelschweine keine oder nur sehr wenige Informationen vor und die Mehrheit der Beobachtungen stammt von den großen afrikanischen und asiatischen Hystrix-Arten. Paarungen erfolgen über das gesamte Jahr, auch unabhängig vom weiblichen Eisprung und der damit verbundenen Fruchtbarkeit. Dieses von der Fortpflanzung unabhängige Sexualverhalten wird teilweise als Stärkung der Paarbindung der Stachelschweine interpretiert. Die Paarung selbst ist bei den Hystrix-Arten stark ritualisiert, wobei es vor dem eigentlichen Paarungsakt zu einem Vorspiel zwischen den Partnern kommt, bei dem die Tiere ihren Paarungswillen und ihre Paarungsbereitschaft demonstrieren und die Paarung selbst erst stattfindet, wenn das Weibchen die Stacheln des Hinterleibs anhebt und dem Männchen so die Begattung ermöglicht.
Die Tragzeit beträgt 90 bis 120 Tage, danach gebären die Muttertiere in der Regel ein bis drei voll entwickelte Jungtiere mit offenen Augen und voll ausgebildetem, aber noch weichem Haarkleid. Die Jungtiere können bereits kurz nach der Geburt laufen und werden über etwa 2 Monate von der Mutter gesäugt. Während dieser Zeit härten die Haare zu Stacheln aus. Die Entwöhnung dauert etwa vier Monate und die Geschlechtsreife erreichen die Tiere nach einem Jahr, bei den größeren Arten auch noch später. Das Elternpaar zieht die Jungtiere gemeinsam auf, wobei das Männchen den gleichen Anteil an der Betreuung übernimmt wie das Weibchen. Die Jungtiere gehen nach der Entwöhnung gemeinsam mit den Elterntieren auf Nahrungssuche und werden von diesen gegen Angreifer verteidigt. Solange die juvenilen Tiere bei den Eltern leben, wird die Sexualität der heranwachsenden Weibchen unterdrückt, wobei der konkrete Suppressionsmechanismus nicht bekannt ist.
Die Lebensdauer ist vergleichsweise lang, bei Tieren in Gefangenschaft kann sie mehr als 20 Jahre betragen.
Fressfeinde
Obwohl die Stachelschweine sehr wehrhaft sind, gibt es neben dem Menschen einige potenzielle Fressfeinde, die diese Tiere attackieren und auch töten können. Dabei handelt es sich vor allem um größere Raubtiere wie den Löwen (Panthera leo), den Leoparden (Panthera pardus), die Streifenhyäne (Hyaena hyaena) und die Tüpfelhyäne (Crocuta crocuta), den Afrikanischen Wildhund (Lycaon pictus), den Wolf (Canis lupus), den Schabrackenschakal (Canis mesomelas) und den Rotfuchs (Vulpes vulpes).
Evolution und Systematik
Stammesgeschichte
Die Abtrennung der Stammlinie der Stachelschweine von anderen Nagetiergruppen fand wahrscheinlich spätestens im späten Eozän vor etwa 36,5 Millionen Jahren in Südasien statt. Dennoch sind keine Fossilien bekannt, die älter als in das frühe Miozän datieren. Für diese Zeit liegen Funde im südlichen Asien, in Südosteuropa und in Nordamerika vor. Der älteste bekannte Fund, der den Stachelschweinen zugeordnet wurde, war Sivacanthion complicatus aus den Siwaliks in Pakistan; er wurde später der Art Atherurus karnuliensis und damit den Quastenstachlern zugeordnet.
Die Gattung Hystrix ist zuerst in Europa fossil nachgewiesen, weitere frühe Fossilien der Gattung sind aus Pakistan, Indien, China, Indonesien, Vietnam und Thailand überliefert. Die älteste bekannte europäische Art, Hystrix parvae aus Csákvár in Ungarn, wird auf das späte Vallesium und das frühe Turolium datiert. In Asien lebte etwa zeitgleich das in Pakistan gefundene Hystrix sivalensis. Später kam Hystrix refossa in Europa hinzu, während in Asien Hystrix brachyura etwa zeitgleich belegt ist. Im östlichen und südlichen Afrika ist Hystrix fossil seit dem späten Miozän nachgewiesen, in Algerien sind Funde mit einem Alter von etwa 10 Millionen Jahren gemacht worden. Fossilien der Gattung Atherurus stammen aus Ägypten, Äthiopien und Kenia, sie werden auf ein Alter von etwa 11 Millionen Jahre datiert. Während des frühen Pliozän lebte mit Xenohystrix zudem eine weitere Gattung größerer Stachelschweine in Teilen von Ost- und Südafrika.
Als Vorläufer der hochkronigen asiatischen Hystrix-Arten der Untergattung Acanthion wird Hystrix gansuensis aus dem späten Miozän in China betrachtet, da die europäischen und indischen Funde des Miozän nur flache Zahnkronen hatten. In die Verwandtschaftsgruppe gehört auch die Art Hystrix vinogradovi, die im Europa im Pleistozän auftrat, allerdings relativ selten nachgewiesen wird. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um eine fossile Unterart des heute in Südasien verbreiteten Kurzschwanz-Stachelschweins (Hystrix brachyura). Die Tiere erreichten im Ural und im Altai ihre nördlichste Verbreitung. Die Fundgebiete erstrecken sich zwischen dem 50. und dem 59. nördlichen Breitengrad und befinden sich somit zwischen 950 und 2100 km nördlich der heutigen Verbreitungsgrenze. Die Stachelschweine traten hier vor allem während der Eem-Warmzeit auf. Offensichtlich kamen sie aber auch noch im Verlauf der Weichsel-Kaltzeit hier vor, da die jüngsten Funde laut Radiocarbon-Datierungen zwischen 41.000 und 32.000 Jahre alt sind. Bedeutende Funde aus Mitteleuropa stammen aus der Travertinlagerstätte von Burgtonna bei Gotha und der Höhle Fuchsluken bei Saalfeld (beides Thüringen), die ebenfalls jeweils nördlich des 50. nördlichen Breitengrades liegen. Möglicherweise beschränkte sich die Anwesenheit von Hystrix im pleistozänen Europa westlich des Kaukasus und nördlich des 45. Breitengrades auf die Eem-Warmzeit und die frühe Weichsel-Kaltzeit (vor etwa 120.000 bis 75.000 Jahren), als ökologische Ansprüche werden durchschnittliche Januartemperaturen über −5 °C und schneefreie sowie offene Biotope angenommen. Die heute endemisch auf Sumatra, Borneo und Palawan lebenden Arten der Untergattung Thecurus sind erst im späten Pleistozän mit der Trennung von Sundaland aus einer Stammart entstanden, dieser Vorläufer hatte jedoch wahrscheinlich seinen Ursprung in einer nördlicheren Form im Pliozän. Die fossile Form Hystrix lagrelli aus dem nördlichen und zentralen China besitzt Schädelmerkmale, die auf eine Zwischenstellung zwischen Acanthion- und Thecurus-Arten hindeuten.
Obwohl für Europa mehrere Arten fossil nachgewiesen sind, leben heute nur noch in Italien Stachelschweine. Dabei handelt es sich um Vertreter des Gewöhnlichen Stachelschweins (Hystrix cristata), das in weiten Teilen Afrikas anzutreffen ist. Eine Hypothese, nach der es sich bei den Tieren in Italien um ein Reliktvorkommen handelt, während die Tiere im restlichen Europa ausgestorben sind, wird heute als wenig wahrscheinlich betrachtet. Wahrscheinlicher ist es, dass die Art während der Zeit des Römischen Reiches von Soldaten für die Jagd auf Sizilien und in Italien angesiedelt wurde. Diese Hypothese wird durch das Fehlen von Fossilien der Art in Europa sowie durch molekularbiologische Daten gestützt.
Äußere Systematik
Die Verwandtschaftsbeziehungen der Stachelschweine und anderer afrikanischer Nagetiergruppen wurde in der Vergangenheit teilweise kontrovers diskutiert. Nach aktuellen Stand werden sie in der Regel als basale Gruppe der Hystricognathi betrachtet, einer Teilordnung der Nagetiere, die sich neben den Stachelschweinen aus den Phiomorpha mit den Sandgräbern (Bathyergidae), Rohrratten (Thryonomyidae) und der Felsenratte (Petromus typicus) und den südamerikanischen Meerschweinchenverwandten (Caviomorpha) zusammensetzen. Als Schwestergruppe der Hystricognathi gelten die Kammfingern oder Gundis (Ctenodactyla), mit denen die Stachelschweine in der Vergangenheit auch zu den Ctenohystrica innerhalb der Phiomorpha zusammengefasst wurden. Die Monophylie der Ctenohystrica und der Phiomorpha mit den Stachelschweinen und Kammfingern ist umstritten und gilt nach aktuellen Untersuchungen als obsolet. Als rezente Schwesterart der gesamten Gruppe wird die Laotische Felsenratte (Laonastes aenigmamus) in Südostasien angesehen, die erst im Jahr 2005 entdeckt wurde und deren Stammlinie sich von der zu den Hystricognathi wahrscheinlich im frühen Eozän getrennt hat.
Innere Systematik
Heute unterteilt man die 11 rezent lebenden Arten der Stachelschweine in drei Gattungen, die nach manchen Quellen zwei Unterfamilien, den Hystricinae und den Atherurinae, zugeordnet werden. Diese Unterteilung wird von anderen Bearbeitern abgelehnt, da für die Unterfamilien keine spezifischen Merkmale als Autapomorphien vorhanden sind. Auf der Basis von molekularbiologischen Untersuchungen konnte die Monophylie der einzelnen Gattungen nachgewiesen werden, wahrscheinlich stellt allerdings der Pinselstachler (Trichys) die basalste Gruppe dar und die Gattungen Hystrix und Atherurus sind Schwestergruppen. Dadurch sind die Atherurinae paraphyletisch, also kein gültiges Taxon.
Familie Stachelschweine (Hystricidae)
Gattung Pinselstachler (Trichys)
Pinselstachler (T. fasciculata)
Gattung Quastenstachler (Atherurus)
Afrikanischer Quastenstachler (A. africanus)
Asiatischer Quastenstachler (A. macrourus (Linnaeus, 1758))
Gattung Eigentliche Stachelschweine (Hystrix)
Subgenus Thecurus
Borneo-Stachelschwein (Hystrix crassispinis Günther, 1876)
Philippinen-Stachelschwein (Hystrix pumila Günther, 1879)
Sumatra-Stachelschwein (Hystrix sumatrae Lyon, 1907)
Subgenus Acanthion
Malaiisches oder Kurzschwanz-Stachelschwein (Hystrix brachyura Linnaeus, 1758)
Sunda- oder Java-Stachelschwein (Hystrix javanica F. Cuvier, 1823)
Subgenus Hystrix
Südafrikanisches Stachelschwein (Hystrix africaeaustralis)
Gewöhnliches Stachelschwein (Hystrix cristata Linnaeus, 1758)
Indisches Weißschwanz-Stachelschwein (Hystrix indica)
Manchmal werden die Hystrix-Untergattungen Thecurus und Acanthion auch als eigene Gattungen betrachtet, diese Auftrennung wird allerdings nicht von allen Bearbeitern geteilt. Für Thecurus wurde eine eigenständige Gattung auf der Basis molekularbiologischer Untersuchungen abgewiesen.
Taxonomiegeschichte
Die wissenschaftliche Systematik der Stachelschweine geht zurück bis zur Erstbeschreibung der Gattung Hystrix innerhalb der als Glires bezeichneten Nagetiere durch Carl von Linné in der 10. Auflage seines Systema Naturæ 1758. Die Gattung umfasste bei Linné fünf Arten: das Gewöhnliche Stachelschwein (Hystrix cristata), das Malaiische Stachelschwein (Hystrix brachyura), den Asiatischen Quastenstachler (Atherurus macrourus als Hystrix macroura), den nordamerikanischen Urson (Erethizon dorsatum als Hystrix dorsata) und den brasilianischen Cuandu (Coendou prehensilis als Hystrix prehesilis).
Die beiden amerikanischen Arten wurden durch Charles Lucien Jules Laurent Bonaparte 1845 der eigenen Familie der Baumstachler oder Neuweltstachelschweine (Erethizontidae) zugeordnet, die mit den Stachelschweinen nur relativ entfernt verwandt sind und sich durch eine konvergente Entwicklung der Stacheln auszeichnen. Innerhalb der Stachelschweine wurden neben der Gattung Hystrix, die bis heute die Mehrheit der Arten beinhaltet, 1829 durch Frédéric Cuvier die Quastenstachler (Atherurus) und 1877 durch Albert Günther die Pinselstachler (Trichys) als eigene Gattungen etabliert.
Stachelschweine in der Kultur
Stachelschweine als Fleischlieferanten
Stachelschweine werden in fast allen Regionen, in denen sie leben, als Fleischlieferanten genutzt und bejagt. In Teilen von Asien und Afrika sind sie eine beliebte Fleischquelle und werden als Bushmeat gejagt, verkauft und verzehrt. Bei einigen Arten ist die Jagd legal möglich und hat nur geringen Einfluss auf die Populationen, bei anderen Arten ist sie dagegen illegal und kann bestandsgefährdend sein. Dies ist unter anderem in den Regenwaldgebieten Afrikas beim Afrikanischen Quastenstachler sowie bei den südostasiatischen Arten der Fall. Dabei gehört der Afrikanische Quastenstachler zu den am meisten bejagten und gehandelten Bushmeat-Arten West- und Zentralafrikas. In Kamerun, Nigeria, Gabun und Kongo ist er eine der häufigsten Arten auf den lokalen Bushmeat-Märkten und in Äquatorialguinea stellt er gemeinsam mit dem Blauducker (Philantomba monticola) mehr als die Hälfte aller angebotenen Tiere. Zugleich ist das Fleisch eines der begehrtesten und teuersten auf diesen Märkten.
In Vietnam wird das Malaiische Stachelschwein teilweise in Farmen gehalten und vermehrt, um die Kosten für das Fleisch zu reduzieren und den Jagddruck auf die wildlebenden Tiere zu reduzieren.
Stachelschweine in der afrikanischen Kultur
Die wahrscheinlich ältesten Nachweise von Stachelschweinen in der afrikanischen Kultur und Kunst stammen von Felszeichnungen der San im Matobo-Gebirge in Simbabwe, die teilweise vor bis zu 7000 Jahren gemalt wurden und von der UNESCO als Weltkulturerbe ausgewiesen sind. Die Zeichnungen sind in einem roten Farbstil gehalten. Im Glauben einiger lokaler Volksgruppen gelten die Stachelschweine aufgrund ihrer nach Wurzeln grabenden Lebensweise als Kräuterhändler.
Das Stachelschwein war das Nationaltier der Aschanti im heutigen Ghana und zugleich als rotes Stachelschwein auf goldenem Grund das Motiv ihres Hoheitszeichens des Aschantireiches und dessen Anführers. Es wurde 1701 von dem Gründer des Reiches und ersten Asantehene, Osei Tutu I., als solches eingesetzt und sollte die Wehrhaftigkeit des Aschanti-Volkes gegenüber den Feinden des Reiches symbolisieren. Parallel mit dem Symbol wurde das Motto „Kum apem a, apem beba“ (Töte tausend, weitere tausend werden kommen) gewählt. Zugleich symbolisierte die goldene Farbe den Reichtum des Landes.
Das im Jahr 1954 gegründete National Liberation Movement der Akan in Ghana griff das Symbol des Stachelschweins in ihrer Flagge gemeinsam mit einem Kakaobaum auf, um erneut die Wehrhaftigkeit des eigenen Volkes zu demonstrieren.
In Teilen Afrikas werden Stachelschweine und vor allem ihre Stacheln in der traditionellen Medizin eingesetzt. So werden in einigen Bereichen Nigerias die Stacheln genutzt, um die Wunden nach Schlangenbissen zu öffnen und damit für eine Behandlung mit Heilkräutern zugänglich zu machen. In den Waldgebieten des Landes werden Stachelschweindärme zur Behandlung von Bauchschmerzen genutzt und in anderen Teilen Nigerias werden Stachelschweine geopfert und die Därme der Tiere genutzt, um Hexen anzurufen. Bei den Wimbum in Kamerun und Teilen Nigerias sind so genannte „mcep“ Teil der Volksmedizin. Dabei handelt es sich um Fetischbeutel, die neben Stachelschweinstacheln auch Federn und andere Materialien enthalten und als Schutzfetische eingesetzt werden. So werden diese mcep in Hohlräume in Häusern gelegt, um die Bewohner vor Hexen und Unglück zu schützen.
Stachelschweine in der europäischen Kultur
Die ersten Beschreibungen des Stachelschweins in Europa stammen von Aristoteles in dessen Historia animalium (Geschichte der Tiere). Bereits bei Aristoteles wird das Stachelschwein als gefährliches Tier vorgestellt, eine Darstellung, die sich durch die gesamte antike Literatur zieht. Plinius der Ältere führte in seiner Naturalis historia als erster die bei vielen späteren Autoren wiederkehrende Erzählung aus, dass Stachelschweine ihre Stacheln wie Pfeile auf Angreifer schleudern können. Diese Falschzuschreibung wird häufig im Zusammenhang mit der Jagd – bzw. den konkret gefährdeten Jagdhunden – erwähnt und hielt sich auch bei späteren Autoren wie Claudius Aelianus und Oppian von Apameia. Auch mittelalterliche Autoren wie Albertus Magnus und Thomas von Cantimpré griffen diese Berichte auf. Auf dieser Vorstellung baut auch Claudians Gedicht Über das Stachelschwein (De hystrice) auf: „Ohne Bedarf von fremdem Gewehr, trägt Alles es bei sich, / Nutzt sich selbst als Köcher und Pfeil, als Bogen sich selber.“
Stachelschweine fanden als exotische Tiere nur punktuell Eingang in die Kunst. Obwohl als Jagdtiere bekannt, wurden sie in der römischen Kunst wahrscheinlich nicht dargestellt. Otto Keller erwähnt in seiner Darstellung Die antike Tierwelt von 1909 verschiedene Vorkommen der Tiere als Motiv in mehreren Darstellungen aus dem antiken Ägypten und verweist auf eine Jagdszene aus Theben. Zudem erwähnt er eine naive Zeichnung des Stachelschweins aus dem Grabmal von Marissa im heutigen Israel sowie Jagdszenen in der antiken Vasenmalerei und die Nutzung des Motivs als Feldzeichen einer der römischen Prätorianerkohorten.
Im 15. Jahrhundert tauchte das Stachelschwein als eines der dargestellten Tiere der Mitteltafel im Triptychon Der Garten der Lüste von Hieronymus Bosch auf. Eine Erklärung zur Aufnahme des Stachelschweins in das Bild gibt es nicht, allerdings wird als mögliche Interpretation ein Bezug zu dem biblischen Psalm 103, Vers 18, hergestellt. Dieser lautet „Montes excelsi cervis petra refugium erinaciis“ (deutsch: „Die Felsen sind eine Zuflucht für Igel“), wobei mit „erinaciis“ übertragen auch das Stachelschwein gemeint sein könnte. Die Interpretation erfolgt auf der Basis von Notker latinus: „CHRISTVS ist petra. er sî fluht erinatiis. id es peccatoribus“ („Christus ist der Stein, er sei die Flucht des erinacius, das heißt des Sünders“). Nach dieser Interpretation steht der Fels, „petra“, für Jesus Christus und der Igel für den „sündige[n] Mensch, der seine Zuflucht bei Christus sucht“. Verwechslungen zwischen dem Igel und dem Stachelschwein sind bereits aus der antiken Literatur bekannt und finden sich in den mittelalterlichen Sprachstufen Westeuropas vielfach.
Im Jahr 1394 gründete in Frankreich Louis de Valois, duc d’Orléans zur Geburt seines Sohnes Charles de Valois, duc d’Orléans den Orden vom Stachelschwein, einen weltlichen Adels- und Ritterorden. Mit der Ordensdevise „Cominus et eminus“ (ungefähr: „Von nah und von fern“ oder „handgemein wie auch in Schussweite“) sollte die Wehrhaftigkeit demonstriert werden, da basierend auf den Überlieferungen auch in Frankreich noch die Vorstellung bestand, dass das Stachelschwein durch seine Stachel nicht nur im Nahkampf geschützt sei, sondern diese auch abschießen könne. Zum Ende des 15. Jahrhunderts wählte der Sohn von Charles, der als Ludwig XII. den französischen Thron bestieg, das Stachelschwein zu seinem Wappentier und erneuerte den Orden. In dieser Form ziert es unter anderen als Relief verschiedene Gebäude wie den Ludwig-Flügel von Schloss Blois, den er von 1498 bis Dezember 1501 errichten ließ. Es taucht zudem entsprechend dem Wahlspruch auf Kanonen der Armee Ludwigs XII. sowie auf Medaillen und Gemälden auf.
In der Folge wurde das Stachelschwein als heraldisches Element auch in mehrere französische Familien- und Gemeindewappen aufgenommen:
Joachim Camerarius der Ältere übernahm das Stachelschwein und die Krone mit Bezug auf den französischen König sowie den Wahlspruch 1668 „Cominus et eminus“ in seine Emblem-Sammlung Symbola et Emblemata und unterschrieb das Stachelschwein-Emblem mit
In seiner deutschen Nachdichtung von 1671 lautet das Epigramm:
Wörtlich übersetzt lautet der Zweizeiler: Wie das Stachelschwein im Nah- und Fernkampf mit Stacheln streitet // so sei ein guter König mit Waffen und klugen Überlegungen machtvoll.
Aus den 1730er Jahren ist eine Zeichnung des Malers Jean-Baptiste Oudry bekannt, der ein Stachelschwein mit schwarzer und weißer Kreide auf Karton zeichnete. Ein bekannteres Vorkommen der Stachelschweine in der Neuzeit findet man etwa in der Parabel Die Stachelschweine von Arthur Schopenhauer im Jahr 1851, in der Stachelschweine aufgrund ihres Wärmebedürfnisses die gegenseitige Nähe suchten und zugleich von den jeweiligen Stacheln auf Abstand gehalten werden.
Der deutsche Dichter Christian Morgenstern setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Stachelschwein in seinen Galgenliedern mit dem Gedicht Die Hystrix ein humorvolles Denkmal. Auch hier spielt die Vorstellung eine Rolle, dass das Stachelschwein mit seinen Stacheln schießen kann.
In den 1920er Jahren veröffentlichte der Schriftsteller und Kabarettist Hans Reimann die Zeitschrift Das Stachelschwein. Bezugnehmend auf diese Zeitschrift gründete sich 1949 in Berlin das Kabarett Die Stachelschweine, unter anderem mit den Schauspielern Rolf Ulrich, Alexander Welbat, Klaus Becker und Joachim Teege.
Musikalisch wurde das Stachelschwein 1977 in einem humorvollen Lied von Fredl Fesl verewigt.
Bedrohung und Schutz
Die meisten der Stachelschweinarten werden von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als „nicht gefährdet“ (least concern) eingeordnet, nur das Philippinen-Stachelschwein (Hystrix pumila) wird aufgrund der starken Bestandsrückgänge und des Verlustes der Lebensräume als bedroht (vulnerable) eingestuft. Dabei sind die Bestandsgrößen und die Bestandsdynamik allerdings ebenso wie die Lebensweise bei allen südostasiatischen Arten unbekannt und Daten kaum verfügbar.
Regional sind teilweise auch die Bestände der weiter verbreiteten Arten gefährdet und sie wurden in einigen Regionen auch unter Schutz gestellt. In Italien sind die heimischen Stachelschweine bereits seit 1978 geschützt. Durch die starke Bejagung sind allerdings auch die Bestände der Afrikanischen Quastenstachler in einigen Gebieten West- und Zentralafrikas stark zurückgegangen, vor allem in Nigeria und in benachbarten Regionen.
Belege
Literatur
Erika L. Barthelmess: Hystricidae (Old Wold Porcupines). In: Don E. Wilson, T.E. Lacher, Jr., Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World: Lagomorphs and Rodents 1. (HMW, Band 6) Lynx Edicions, Barcelona 2016; S. 304–329. ISBN 978-84-941892-3-4
D.C.D. Happold: Family Hystricidae (Old Wold Porcupines). In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume III. Rodents, Hares and Rabbits. Bloomsbury, London 2013, S. 671–679; ISBN 978-1-4081-2253-2.
Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals: Above the Species Level. Columbia University Press, 2000, ISBN 0-231-11013-8
Michael D. Carleton, Guy G. Musser: Order Rodentia. In: Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. 3. Ausgabe. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, S. 745–1600, ISBN 0-8018-8221-4
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. 2 Bände. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD u. a. 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
Weblinks
Phil Myers: Hystricidae, Old World porcupines im Animal Diversity Web |
110492 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mittelland%20%28Schweiz%29 | Mittelland (Schweiz) | Das Schweizer Mittelland (; ; ) ist mit etwa 30 Prozent Flächenanteil neben dem Jura und den Alpen eine der drei Berggebietsregionen der Schweiz.
Es umfasst das teils flache, weitgehend jedoch hügelige Gebiet zwischen Jurazug und Alpen und liegt im Mittel auf einer Höhe von 400 bis Durch die Beckenlage begünstigt, ist es die mit Abstand am dichtesten besiedelte Region des Landes und dadurch ihr wirtschaftlich und verkehrstechnisch wichtigster Grossraum. Die Dichte der Besiedlung im Schweizer Mittelland ist weiter zunehmend und vergleichbar mit der der Niederlande, eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt.
Geografie
Das Schweizer Mittelland wird im Nordwesten und Norden geografisch wie auch geologisch durch die langgestreckten Höhenzüge des Jura klar abgegrenzt. Im Süden gegen die Alpen hin ist die Grenze nicht einheitlich definiert. Als Kriterium für die Abgrenzung wird meist der an einigen Orten relativ abrupte Anstieg zu Höhen über , Kalkalpen und -plateaus genommen, teilweise auch zu den Bergen der subalpinen Molasse. Gelegentlich werden die Regionen des höheren Mittellandes, insbesondere die Freiburger Hügellandschaft, das Napfgebiet, das Tössbergland und Teile des Appenzellerlandes zu den schweizerischen Voralpen im engeren Sinne gezählt. Wenn man jedoch nur die Berggebietsregionen in Betracht zieht, gehört das Alpenvorland eindeutig noch zum Mittelland. Die südwestliche Grenze des Schweizer Mittellandes bildet der Genfersee, die nordöstliche Grenze der Bodensee und der Hochrhein.
Geologisch stellt das Mittelland ein langgezogenes Sedimentbecken dar, das sich auch über die schweizerischen Landesgrenzen hinaus erstreckt. Im Südwesten auf französischem Gebiet verengt sich das Becken im Genevois und endet bei Chambéry, wo sich Jura und Alpen zusammenschliessen. Jenseits des Bodensees setzt sich das Mittelland im süddeutschen und österreichischen Alpenvorland fort.
Auf schweizerischem Staatsgebiet hat das Mittelland eine Längenausdehnung von rund 300 km bei einer von Südwest nach Nordost zunehmenden Breite. Im Raum Genf beträgt die Breite 20–30 km, im Raum Bern etwa 50 km und in der Ostschweiz rund 70 km.
Zahlreiche Kantone haben Anteil am Mittelland. Vollständige Mittellandkantone sind Zürich, Thurgau und Genf; überwiegend im Mittelland liegen die Kantonsgebiete von Luzern, Aargau, Solothurn, Bern, Freiburg und Waadt; kleinere Anteile finden sich ferner in den Kantonen Neuenburg, Zug, Schwyz, St. Gallen und Schaffhausen.
Geologie
Schichtfolge
Aufgrund zahlreicher Tiefbohrungen auf Erdöl und Erdgas sind die Gesteinsfolgen im Schweizer Mittelland relativ gut erforscht. Die Basis bildet das kristalline Grundgebirge, das in den Zentralmassiven der Alpen wie auch im Schwarzwald und in den Vogesen zutage tritt, im Bereich von Jura und Mittelland aber tief im Untergrund liegt. Etwa 2500 bis 3000 Meter unterhalb der Erdoberfläche, in Alpennähe auch deutlich tiefer, stösst man im Mittelland bei Bohrungen jeweils auf diese Kristallingesteine. Über dem Grundgebirge lagert eine ungefaltete Schichtfolge von Sedimenten aus den Zeitaltern Trias, Jura und Kreide. Auch sie ist im Mittelland nirgends aufgeschlossen. Ihre Mächtigkeit nimmt von West nach Ost allmählich von 2500 auf 800 Meter ab. Diese Schichten wurden wie die des Juragebirges in einem verhältnismässig flachen Randmeer des Tethys-Ozeans abgelagert. Auf den mesozoischen Schichten kamen die Molassesedimente zu liegen. Diese bestehen aus Abtragungsprodukten der Alpen, mehrheitlich Nagelfluh (Konglomerate), Sande, Mergel und Tone, die unter dem Druck von überlagernden Sedimenten zu Gestein verfestigt wurden. Die Deckschicht schliesslich bilden die Schotter und andere Lockergesteine, welche von den eiszeitlichen Gletschern transportiert wurden.
Molasse
Geologisch von grösster Bedeutung im Schweizer Mittelland sind die mächtigen Molasse-Sedimente, die als Folge der Gebirgserosion am jungen Alpenrand abgelagert wurden. Die Schichtdicke der Molasse nimmt (bei gleicher Entfernung von den Alpen) von West nach Ost zu. Die damaligen Flüsse aus den Alpen – im Allgemeinen nicht kongruent mit dem heutigen Flussnetz – bauten am Gebirgsfuss bedeutende Schwemmfächer auf. Wichtigste Beispiele dafür sind der Napf- und der Hörnli-Schwemmfächer, weitere Fächer gab es im Gebiet des Rigi, im Schwarzenburgerland und im Gebiet zwischen dem östlichen Genfersee und dem Mittellauf der Saane.
Das Erosionsmaterial wurde nach seiner Korngrösse sortiert. So wurde grobkörniges Material vorwiegend in Alpennähe sedimentiert, sobald die Fliessgeschwindigkeit des Wassers als Transportmedium zu gering wurde, um die gröberen Steine in der Schwebe zu halten. Im mittleren Teil des Beckens findet man hauptsächlich die feinkörnigeren Sandsteine und an dessen Nordrand in Juranähe Tone und Mergel.
Entstehungsgeschichte der Molasse im Mittelland
In der ersten Zeit des Tertiärs vor rund 60–40 Millionen Jahren war das Gebiet des heutigen Schweizer Mittellandes ein verkarstetes Kalkplateau, das sich leicht nach Süden neigte und auch in diese Richtung entwässert wurde. In der Folgezeit wurde dieses Plateau durch Hebungs- und Senkungsvorgänge im Zusammenhang mit der Alpenbildung zweimal vom Meer überflutet. Man unterscheidet daher die entsprechenden Ablagerungen als Meeresmolasse und Süsswassermolasse, wobei unter letzterer nicht in erster Linie Sedimente in Süsswasserseen, sondern vor allem Ablagerungen durch Flusssysteme und Windverfrachtung verstanden werden sollten (also eher eine «Festlandmolasse»).
Untere Meeresmolasse (vor etwa 37–30 Millionen Jahren): Allmählich senkte sich das Kalkplateau ab, und ein flacher Meeresarm drang vor, der im Osten bis zu den Karpaten reichte. Die Sedimente bestanden aus feinkörnigen Sanden, Tonen und Mergeln; Nagelfluhfächer gab es noch keine, weil die eigentliche Hebung der Alpen erst am Ende dieser Periode beginnt.
Untere Süsswassermolasse (vor etwa 30–22 Millionen Jahren): Das Meer wich einerseits wegen Hebungsvorgängen, andererseits wegen einer weltweiten Meeresspiegelabsenkung zurück. Zusammen mit der Alpenfaltung setzte die Gebirgserosion ein und die ersten Nagelfluhfächer entstanden.
Obere Meeresmolasse (vor etwa 22–16 Millionen Jahren): Erneut drang ein flacher Meeresarm vor und die Bildung der Nagelfluhfächer von Napf und Hörnli begann.
Obere Süsswassermolasse (vor etwa 16–2 Millionen Jahren): Das Meer zog sich nun endgültig zurück. Der Aufbau des Napf- und Hörnlifächers (sowie weiterer kleinerer Schwemmfächer) ging weiter, so dass diese am Ende der Periode eine Schichtdicke von rund 1500 Meter erreichten.
In der nachfolgenden Zeit wurde vor allem der westliche Teil des Mittellandes nochmals stark gehoben, wodurch in diesem Gebiet die Sedimente der Oberen Meeres- und Süsswassermolasse weitgehend wieder erodiert wurden.
Charakteristisch für die Sedimente der Meeresmolassen sind versteinerte Schnecken, Muscheln und Haifischzähne. Demgegenüber findet man in den Süsswassermolassen Versteinerungen von typischen Festlandsäugetieren aber auch Reste der damaligen subtropischen Vegetation (z. B. Palmblätter).
Eiszeitliche Überprägung
Seine heutige Landschaftsgestalt hat das Mittelland während der Überprägung durch die eiszeitlichen Gletscher erhalten. Während aller bekannten alpinen Vereisungsstadien (Günz-, Mindel-, Riss- und Würm-Kaltzeit) stiessen gewaltige Gletschereismassen weit ins Mittelland vor. Die dazwischen liegenden Warmzeiten verursachten jeweils einen Rückzug der Gletscher in die Hochalpen (teilweise geringere Ausdehnung als heute), und im Mittelland machte sich subtropische Vegetation breit.
Während der Glaziale teilte sich der Rhonegletscher jeweils am Ausgang der Alpen in zwei Arme, von denen der eine sich über das ganze westliche Mittelland bis in die Regionen Solothurn und Aarau ausdehnte. Im Raum Bern vereinigte er sich mit dem Aaregletscher. Auch der Reuss-, der Linth- und der Rheingletscher stiessen teilweise bis an den Jura vor. Dabei formten die Eismassen das Land einerseits durch die Tiefenerosion, andererseits durch Ablagerungen von oft mehrere Meter mächtigen Grundmoränen (sehr fein zermahlenes Gesteinsmehl) sowie durch Ablagerung von Schotter durch die Flüsse im Vorfeld der Gletscher.
Spuren der älteren Günz- und Mindel-Kaltzeit sind jedoch nur an wenigen Orten übriggeblieben, da sie von den Gletschern der nachfolgenden Kaltzeiten beseitigt oder umgelagert wurden. Ihre grösste Ausdehnung erreichten die Gletscher in der Riss-Kaltzeit, während der das ganze Mittelland ausser das Napfgebiet und das Tössbergland vom Eis bedeckt war. Von der Würm-Kaltzeit, die etwa 115'000 Jahre vor der Gegenwart begann, zeugen weitaus die meisten Spuren. Die Endmoränen der Gletscher sowie die Ablagerungen der verschiedenen Rückzugsstadien sind erhalten geblieben.
Wegen der starken Vergletscherung und den grossen Flusssystemen finden sich in der Schweiz Lössvorkommen nur im äussersten Norden um Basel, Baden und Schaffhausen.
Landschaftsformen
Bei einem Blick auf die Landkarte kann man noch heute die Fliessrichtung der eiszeitlichen Gletscher erkennen. Die weite Ausdehnung des Rhonegletschers nach Nordosten zeigen der zum Jura und zu den Alpen parallele Verlauf der Täler (Broye, Glâne) und Seen (Neuenburger-, Bieler und Murtensee) in der Westschweiz an. Reuss- und Linthgletscher haben die von Südosten nach Nordwesten verlaufenden Täler (u. a. Wigger-, Suhren-, See- und Reusstal) und Seen (Zürichsee, Greifensee, Hallwilersee, Sempachersee) des zentralen Mittellandes geschaffen. Der Rheingletscher hinterliess in der Nordostschweiz mehrheitlich in Ost-West-Richtung verlaufende Spuren (Thurtal, Untersee des Bodensees). Mancherorts gibt es charakteristische Drumlins aus gepresstem Grundmoränenmaterial, die meist in grösseren Schwärmen auftreten, besonders typisch im Zürcher Oberland, im Hirzelgebiet, im Bodenseegebiet sowie zwischen dem Reusstal und dem Baldeggersee.
Weitere wichtige Vermächtnisse der Gletscher im Mittelland sind neben dem See- und Flusssystem die Findlinge, welche über das ganze Gebiet verstreut anzutreffen sind. Diese zum Teil riesigen erratischen Blöcke (beispielsweise bei Steinhof) aus ortsfremdem Gestein, meist Granit oder Gneis, der nur in den Hochalpen vorkommt, waren unter anderem der Schlüssel zur Begründung der Eiszeittheorie im 19. Jahrhundert, da ein Transport allein durch Wasserkraft physikalisch nicht möglich ist.
Schliesslich sind auch die Schotterablagerungen in den Talsohlen des Mittellandes ein Zeugnis der Eiszeiten. Während der Gletscherzeit sowie beim Vorstoss und Rückzug der Gletscher wurden zum Teil mächtige Schotterschichten in den Tälern abgelagert, die in der nachfolgenden Warmzeit jeweils bis auf einige Reste wieder wegerodiert wurden. Viele Täler weisen deshalb ein Terrassensystem auf: Die Niederterrasse besteht aus Schotter der Würmeiszeit, die Hochterrasse aus Ablagerungen der Risseiszeit. Manchmal sind auch noch Deckenschotter der älteren Eiszeiten zu finden.
Topografie
Obwohl das Schweizer Mittelland ein Becken darstellt, ist es keineswegs als ebene Landschaft einzustufen, sondern es weist eine je nach Region bisweilen sehr vielfältige naturräumliche Gliederung auf. Wichtige Elemente sind die beiden grossen Seen, Genfer- und Bodensee, welche das Schweizer Mittelland im Südwesten und Nordosten begrenzen. Das westliche Mittelland ist geprägt durch Hochflächen (Gros de Vaud, bis ) und Molassehügelländer (Jorat, bis ; Freiburger Hügelland, 600–), in welche zum Teil tiefe Täler eingegraben sind. Nur in Juranähe besteht mit dem Tal der Venoge und der Orbe-Ebene eine nahezu durchgehende Senke, welche durch den Querriegel des Mormont zweigeteilt wird, über den die Wasserscheide zwischen den Einzugsgebieten von Rhone und Rhein auf nur verläuft. Das Seeland bildet die grösste ebene Fläche des Mittellandes, aber auch darin erheben sich einzelne Molasserücken. Nach Osten schliessen sich nun verschiedene Hügelländer an, die gegen Norden allmählich niedriger werden. Eine weitere grössere Fläche ist die von der Emme durchflossene Ebene des Wasseramtes. Die entlang dem Jurasüdfuss meist in einem breiten Tal nordostwärts fliessende Aare nimmt alle aus dem höheren Mittelland und den Alpen kommenden Flüsse wie eine Dachrinne auf.
Das zentrale Mittelland ist charakterisiert durch eine Anzahl Südost-Nordwest ausgerichteter breiter Höhenrücken (u. a. Erlosen, Lindenberg) und dazwischen liegender weiter Täler, teilweise mit Seen (Sempacher-, Hallwiler- und Baldeggersee). Den östlichen Abschluss davon bildet die Albiskette, die zusammen mit der Heitersbergkette einen quer durch das Mittelland zwischen Jura und Alpen verlaufenden Riegel schafft, der nur an wenigen Orten von den leistungsstarken Verkehrsträgern meist mit Tunnels passiert werden kann.
Das östliche Mittelland wird in die Täler der Limmat (mit Zürichsee), Glatt (mit Greifensee), Töss und Thur gegliedert. Dazwischen erheben sich Hügelländer, im Thurgau auch wieder breite Molasserücken (Seerücken, Ottenberg).
Von den genannten Landschaftsformen heben sich zwei Hügelgebiete deutlich ab. Es sind dies das Napfbergland (mit Höhen bis zugleich der höchste Punkt des Mittellandes) und das Tössbergland (Chrüzegg bis ), beides Überreste der tertiären Nagelfluh-Schwemmfächer. Diese wurden im Lauf der Zeit stark erodiert, wegen ihrer Höhenlage jedoch nicht durch die eiszeitliche Vergletscherung überformt. Deshalb entstanden tief eingekerbte, steilwandige Täler (Gräben) und ein stark verzweigtes, dichtes Gewässernetz.
Klima
Das Schweizer Mittelland liegt im Übergangsbereich vom feuchtmaritimen zum kontinental-gemässigten Klima mit überwiegendem Wind aus westlichen Richtungen. Im tieferen Mittelland beträgt die mittlere Jahrestemperatur etwa 9–10 °C. Im Januar weisen das Genferseegebiet sowie die ufernahen Bereiche von Neuenburger- und Bielersee mit rund +1 °C die höchsten Mitteltemperaturen auf. Bei gleicher Höhenlage besteht ein leichtes West-Ost-Gefälle; im kältesten Monat werden im Bodenseeraum mittlere Temperaturen von −1 °C erreicht. Die Mitteltemperatur des Monats Juli beträgt im Raum Genf +20 °C, aber auch entlang dem gesamten Jurasüdfuss werden durchschnittlich 18–19 °C erreicht, in den höheren, alpennäheren Gebieten etwa 16–18 °C. Auch bezüglich der mittleren jährlichen Sonnenscheindauer ist der Genferseeraum begünstigt mit über 1900 Stunden, im übrigen Mittelland sind es 1600 (vor allem im Osten) bis 1900 Stunden.
Die mittlere jährliche Niederschlagsmenge bewegt sich zwischen 800 mm in Juranähe, 1200 mm im höheren Mittelland und 1400 mm am Alpenrand. Die trockensten Regionen des Mittellandes befinden sich im Lee des Hochjuras zwischen Morges und Neuenburg. Schneedeckentage gibt es heutzutage in den wärmsten Regionen am Genfer- und Neuenburgersee weniger als 20 pro Jahr, im restlichen Mittelland je nach Höhenlage zwischen 20 und 40 pro Jahr.
Im Winterhalbjahr bildet sich bei austauscharmen Wetterlagen im Mittelland ein Kaltluftsee, wobei es meist zur Nebel- oder Hochnebelbildung kommt. Dann liegt das gesamte Mittelland über mehrere Tage, teilweise sogar Wochen hinweg unter einer dicken Nebeldecke, während die angrenzenden Gebiete (Jura und Alpen) vom schönen Wetter profitieren. Typisch bei Hochnebellagen ist die Bise, ein kalter Nordostwind. Dieser erreicht wegen der Kanalisierung im gegen Westen schmaler werdenden Mittelland seine grössten Stärken im Genferseeraum, wo bei klassischer Bisenlage nicht selten mittlere Windgeschwindigkeiten von 60 km/h und Böenspitzen bis über 100 km/h registriert werden. Die alpennahen Gebiete des zentralen und östlichen Mittellandes kommen manchmal in den Genuss von warmen Föhnwinden.
Vegetation
Dominierend im Schweizer Mittelland ist der Laubmischwald mit den Hauptvertretern Buche und Tanne. Vielerorts gibt es aus wirtschaftlichen Gründen angepflanzte grössere Fichtenbestände; Fichten kommen von Natur aus in den unteren Lagen kaum vor. An begünstigten, wärmeren und trockeneren Orten im Genferseegebiet, im Seeland sowie in der Nordschweiz von der Aaremündung bis nach Schaffhausen bilden Eichen, Linden und Ahorn die wichtigsten Bäume des Waldbestandes.
Bevölkerung
Obwohl das Mittelland nur etwa 30 Prozent der Fläche der Schweiz ausmacht, leben hier rund 5 Millionen Menschen oder etwas mehr als zwei Drittel der Wohnbevölkerung der Schweiz. Daher ist das Mittelland mit 380 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelt. Alle Schweizer Städte mit über 50'000 Einwohnern (ausser Basel und Lugano) befinden sich im Mittelland, zu den wichtigsten zählen Zürich, Genf, Bern und Lausanne. Die Schwerpunkte der Besiedlung liegen deshalb auch im Bereich der Agglomerationen dieser Städte. Die Agglomeration Zürich allein zählt nahezu 1,3 Millionen Einwohner. Weitere dicht besiedelte Gebiete liegen entlang dem Jurasüdfuss sowie im Raum Luzern, Winterthur und St. Gallen. Demgegenüber weisen die Regionen des höheren Mittellandes im Bereich des Jorat, im Napfgebiet und im Tössbergland eine dünne Besiedlung auf, vorwiegend kleine Bauerndörfer und verstreute Einzelhöfe.
Die Mehrheit der Bevölkerung im Schweizer Mittelland ist deutschsprachig; im westlichen Teil wird Französisch gesprochen. Die Sprachgrenze besteht seit vielen Jahrhunderten nahezu am gleichen Ort und ist nicht an eine geografische Trennlinie gebunden. Sie verläuft von Biel via Erlach, Murten und Freiburg zum Schwarzsee in den Freiburger Alpen. Dabei ist die Stadt Biel/Bienne offiziell zweisprachig; in Murten (Morat) und in Freiburg (Fribourg) wird für die französischsprachige bzw. deutschsprachige Minderheit Schulunterricht in deren Sprache angeboten. Ortschaften entlang der Sprachgrenze besitzen in der Regel einen deutschen und einen französischen Namen (siehe auch: Liste deutscher Bezeichnungen von Schweizer Orten, Liste französischer Bezeichnungen von Schweizer Orten).
Im Rahmen eines kurzen Abrisses der Siedlungsgeschichte sind folgende Punkte zu erwähnen: Die ersten besiedelten Räume im Neolithikum stellten die See- und Flussufer des Mittellandes dar (Pfahlbauten). Erste Dörfer bestehend aus Holzhütten entstanden ab dem 3. Jahrhundert vor Christus nach der Einwanderung von keltischen Stämmen. Städtische Siedlungen mit Steinhäusern entwickelten sich in der römischen Zeit, die 15 vor Christus mit der Einverleibung des Gebiets der Helvetier in das Römische Reich unter Kaiser Augustus begann und bis zum Ende des 3. Jahrhunderts nach Christus dauerte. Die drei wichtigsten Orte in der römischen Zeit waren Aventicum (Avenches), Vindonissa und Colonia Iulia Equestris (Nyon). Sie waren durch ein gut ausgebautes Netz von Heeresstrassen miteinander verbunden. Nach dem Rückzug der Römer wurde das westliche Mittelland durch die romanisierten Burgunder, das zentrale und das östliche Mittelland durch die Alemannen besiedelt, wodurch sich die Sprachgrenze etablierte.
Während des Mittelalters kam es zu zahlreichen Stadtgründungen, hauptsächlich im klimatisch günstiger gelegenen tieferen Mittelland. So gab es um 1500 bereits etwa 130 Städte, die durch ein dichtes Verkehrsnetz verbunden waren. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gewannen die Städte rasch an Bedeutung und besonders ab 1860 begann ein rasantes Bevölkerungswachstum der Städte, das rund 100 Jahre lang anhielt. Die nächste Trendumkehr begann etwa 1970, als die Stadtflucht einsetzte. Dadurch wuchsen die stadtnahen Gemeinden überproportional stark, während gleichzeitig die Kernstadt Einwohner verlor. In neuester Zeit verlagert sich dieser Wachstumsgürtel immer weiter nach aussen, und die Zersiedelung des Landes schreitet weiter voran.
Wirtschaft
Dank seinem günstigen Klima und den fruchtbaren Böden gilt das tiefere westliche Mittelland als wichtigste Ackerbauregion der Schweiz. Vorherrschender Bodentyp ist die Parabraunerde, in höheren Lagen die Braunerde. Hauptanbauprodukte des Ackerbaus sind Weizen, Gerste, Mais, Zuckerrüben und Kartoffeln; besonders im Seeland hat auch der Gemüsebau einen grossen Stellenwert. An begünstigten Lagen entlang der Seen, am Jurasüdfuss sowie im Zürcher Weinland und im Klettgau werden Reben gepflanzt. Wiesland mit Milchwirtschaft und Mastviehhaltung überwiegt im östlichen Mittelland sowie in den höheren Regionen des übrigen Mittellandes. Insbesondere im Kanton Thurgau hat der Obstbau (Äpfel) eine grosse Bedeutung. Infolge ist das Grundwasser im Mittelland grossflächig mit Pestiziden belastet, so dass die Grenzwerte im Trinkwasser vielerorts überschritten werden, z. B. durch Abbauprodukte von Chlorothalonil.
Die Wälder des Mittellandes werden forstwirtschaftlich genutzt; es bestehen verteilt über das ganze Land zahlreiche Fichtenforste. Wegen des wertvollen Holzertrags werden die Fichten oft in Reinbeständen angepflanzt.
Auch bezüglich Industrie- und Dienstleistungssektor ist das Mittelland die Kernregion der Schweiz. Als traditioneller Industriezweig ist die Textil- und Bekleidungsindustrie vor allem im zentralen und östlichen Mittelland zu nennen; sie hat aber in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren. Wichtigste Industriezweige in der heutigen Zeit sind Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektro-, Elektronik-, feinmechanische und optische Industrie sowie Metallbau. In der Nahrungs- und Genussmittelindustrie werden sowohl die einheimischen landwirtschaftlichen Erzeugnisse als auch Importe verarbeitet. Ferner sind auch Holz- und Papierverarbeitung von Bedeutung.
Wie die übrige Schweiz ist auch das Mittelland arm an Bodenschätzen. Jedoch gibt es dank dem Vorstossen der Gletscher während der Eiszeiten in genügenden Mengen Kies und Ton. Der Kiesabbau im Bereich der eiszeitlichen Schotterterrassen ist in den Tälern des gesamten Mittellandes verbreitet und deckt den Bedarf der Baustoffindustrie.
Mittels zahlreicher Flusskraftwerke wird die Wasserkraft zur Elektrizitätsgewinnung genutzt. Im Weiteren stehen alle vier schweizerischen Kernkraftwerke im Mittelland. Es sind dies die Kernkraftwerke Gösgen, Leibstadt sowie Beznau I und II.
Verkehr
Aufgrund der für schweizerische Verhältnisse relativ einfachen Topografie und der dichten Besiedlung ist das Verkehrsnetz im Mittelland sehr gut ausgebaut. Die wichtigste Transversale, sozusagen das Rückgrat des Mittellandes, bildet die Autobahn A1, welche von Genf via Lausanne, Bern, Zürich, Winterthur nach St. Gallen führt und alle grossen Städte miteinander verbindet. Ihr letztes Teilstück zwischen Yverdon-les-Bains und Estavayer-le-Lac wurde erst 2001 eröffnet; es soll dieser bis anhin strukturschwachen Mittellandregion zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen. Die Autobahn A2 als schweizerische Nord-Süd-Achse durchquert das Mittelland zwischen Olten und Luzern.
Das Eisenbahnnetz ist seit alters her sehr dicht. Wie mit der A1 sind auch mit der Bahn alle wichtigen Städte direkt miteinander verbunden, wobei es zwischen Lausanne und Olten zwei Hauptlinien gibt. Die Mittellandlinie führt von Lausanne via Freiburg und Bern nach Olten, die Jurafusslinie verläuft entlang dem Jurasüdfuss und erschliesst die Städte Yverdon-les-Bains, Neuenburg, Biel/Bienne und Solothurn. Einen Quantensprung gab es am 12. Dezember 2004, als die Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist (Bahn 2000) eröffnet wurde, was die Fahrzeit auf dieser Strecke um 15 Minuten verkürzte. Eine Zugfahrt zwischen Bern und Zürich dauert nun etwas weniger als eine Stunde.
Die zwei wichtigsten Schweizer Flughäfen befinden sich im Mittelland: der Flughafen Zürich in der Ebene des Glattals bei Kloten sowie der Flughafen Genf an der Landesgrenze am Nordwestrand der Stadt. Bern als De-facto-Hauptstadt der Schweiz besitzt hingegen nur den kleinen Flughafen Bern-Belp.
Tourismus
Im Vergleich zu den Alpen ist das Schweizer Mittelland, insbesondere der ländliche Raum, weniger auf Tourismus und Fremdenverkehr ausgerichtet; es bildet hauptsächlich eine Durchgangsregion. Einzig die grösseren Städte mit ihren Sehenswürdigkeiten, vor allem die Altstädte von Zürich, Bern und Luzern, aber auch St. Gallen, Freiburg, Solothurn, Genf und Lausanne, ziehen den Stadttourismus an. Als Natursehenswürdigkeit stellt der Rheinfall bei Schaffhausen ein spezielles Magnet für den Tourismus dar. Vom Fremdenverkehr profitieren ausserdem noch die Genferseeregion sowie das Drei-Seen-Land mit Neuenburgersee, Bielersee und Murtensee, wo im Jahr 2002 die Landesausstellung Expo.02 stattfand. In Baden, Bad Zurzach, Schinznach-Bad und Yverdon-les-Bains mit ihren Thermalbädern findet man ausserdem Kurtourismus. An den Flüssen Aare, Emme, Reuss und Rhein spielen der Rad- und Wandertourismus vermehrt eine wichtige Rolle.
Siehe auch
Geschichte der Schweiz
Espace Mittelland
Literatur
Toni P. Labhart: Geologie der Schweiz. Ott Verlag, Thun 2004. ISBN 3-7225-6762-9.
Andre Odermatt, Daniel Wachter: Schweiz, eine moderne Geographie. Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2004. ISBN 3-03823-097-9.
Weblinks
Einzelnachweise
Region in Europa
Region der Schweiz
Geographie (Kanton Aargau)
Geographie (Kanton Bern)
Geographie (Kanton Freiburg)
Geographie (Kanton Genf)
Region im Kanton Luzern
Geographie (Kanton Neuenburg)
Geographie (Kanton St. Gallen)
Geographie (Kanton Schaffhausen)
Geographie (Kanton Schwyz)
Geographie (Kanton Solothurn)
Geographie (Kanton Thurgau)
Geographie (Kanton Waadt)
Geographie (Kanton Zug)
Geographie (Kanton Zürich)
Becken in der Schweiz |
111667 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fball-Weltmeisterschaft%201974 | Fußball-Weltmeisterschaft 1974 | Die Endrunde der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 war die zehnte Ausspielung dieses bedeutendsten Turniers für Fußball-Nationalmannschaften und fand vom 13. Juni bis zum 7. Juli 1974 in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin statt.
Die Bundesrepublik Deutschland gewann das Turnier mit einem 2:1-Sieg über die Niederlande im Finale von München und wurde damit zum zweiten Mal, nach 1954, Fußball-Weltmeister – als erster Weltmeister, der auch aktueller Europameister war, welches erst die spanische Fußballnationalmannschaft 2010 wiederholen konnte. Den dritten Platz belegte die Mannschaft Polens, die mit Grzegorz Lato, der während des Turniers sieben Tore erzielte, den Torschützenkönig stellte. Titelverteidiger Brasilien wurde Vierter, der Vize-Weltmeister von 1970 (Italien) schied bereits in der ersten Runde aus.
Vergabe
Nach mehreren erfolglosen Bewerbungen erhielt die Bundesrepublik Deutschland am 6. Juli 1966 während des FIFA-Kongresses in London den Zuschlag für die Austragung der Weltmeisterschaft 1974. Das Votum war einstimmig. Die unterlegenen Mitbewerber Argentinien und Spanien gingen nicht leer aus: Argentinien bekam die Ausrichtung der WM 1978 und Spanien die der WM 1982 zugesprochen, und hatte somit fast 16 Jahre Zeit, um sich vorzubereiten – so viel wie noch kein anderer Veranstalter.
Bereits drei Monate früher, am 16. April 1966, hatte die bayerische Landeshauptstadt München den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 erhalten. Das Jahr 1966 bedeutete somit einen Durchbruch für die bundesdeutsche Sportdiplomatie, da 21 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft ein deutscher Staat wieder für würdig befunden wurde, die beiden bedeutendsten internationalen Sportveranstaltungen auszurichten.
Spielorte
Die Spiele der Weltmeisterschaft wurden in neun Stadien in neun verschiedenen Städten der Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin ausgetragen.
Hamburg: Im für 17 Millionen Mark umgebauten Volksparkstadion fanden drei Erstrundenspiele statt. Die Heimat des Hamburger SV bot Platz für 65.000 Zuschauer (davon 28.000 Sitzplätze). Die drei Spiele sahen insgesamt 130.500 Zuschauer, im Schnitt 43.500. Die meisten hatte das historische Duell der beiden deutschen Mannschaften: 60.200; Dagegen wollten nur 17.000 Zuschauer das Spiel der DDR gegen Australien sehen.
Berlin: Das Olympiastadion, die Heimstätte von Hertha BSC, war mit 85.000 Plätzen (davon 61.800 Sitzplätze) das größte deutsche Stadion während der WM 1974. In dem für 25 Millionen Mark umgebauten Stadion fanden drei Spiele der ersten Finalrunde statt. Insgesamt sahen 126.800 Zuschauer die drei Spiele, im Schnitt 42.267. Die meisten (81.100) kamen zum Auftaktspiel der Mannschaft der Bundesrepublik gegen Chile, das damit das bestbesuchte Spiel der WM war. Das Spiel Australien – Chile wollten dagegen nur 17.400 sehen.
Hannover: Im Niedersachsenstadion von Hannover 96 fanden zwei Spiele der ersten Finalrunde und zwei Spiele der zweiten Finalrunde statt. Das 60.400 Besucher fassende Stadion (40.850 Sitzplätze) wurde für die Weltmeisterschaft für 26 Millionen Mark umgebaut. Insgesamt sahen 167.763 die vier Spiele, im Schnitt 41.941. Die wenigsten Zuschauer (13.400) kamen in der 1. Finalrunde zum Spiel Bulgarien – Uruguay. Mit 59.863 Zuschauern war das Stadion in der 2. Finalrunde beim Spiel Brasilien – DDR fast ausverkauft, wobei viele Zuschauer ihre Karten in der Erwartung, dort die Mannschaft der Bundesrepublik zu sehen, gekauft hatten.
Gelsenkirchen: Das für 55 Millionen Mark neu errichtete Parkstadion war die Heimat des Fußballklubs FC Schalke 04. Die 70.000 Zuschauer fassende Spielstätte (36.000 Sitzplätze) war Austragungsort von zwei Spielen der ersten und drei Spielen der zweiten Finalrunde. Insgesamt 247.050 Zuschauer sahen die fünf Spiele, im Schnitt 49.410. Die meisten (68.348) – insbesondere aus den Niederlanden, aber auch der Bundesrepublik, da mit einem Spiel gegen den westlichen Nachbarn gerechnet wurde – kamen zum Spiel DDR – Niederlande. Dagegen wollten nur 31.700 Zuschauer das Spiel der Jugoslawen gegen Zaire sehen, von denen die meisten jugoslawische Gastarbeiter waren.
Dortmund: In dem für 33 Millionen Mark neu errichteten Westfalenstadion – der Heimat von Borussia Dortmund, die zu jener Zeit in der 2. Liga spielte – fanden 53.600 Zuschauer Platz (16.500 Sitzplätze). Das einzige WM-Fußballstadion ohne Laufbahn unterschritt die Mindestanforderung von 60.000 Plätzen, konnte jedoch mit einer Überdachung von circa 90 % der Zuschauerplätze aufwarten. Das kleinste Stadion der Weltmeisterschaft von 1974 war Austragungsort von drei Spielen der ersten und einem Spiel der zweiten Finalrunde. Insgesamt 187.700 Zuschauer, der überwiegende Teil aus den Niederlanden, deren Mannschaft dreimal in Dortmund spielte, sahen die vier Spiele. Ein Schnitt von 46.925 Zuschauern. Während nur 27.000 Zuschauer Zaire gegen Schottland sehen wollten, kamen zu den drei Spielen der Niederländer jeweils mehr als 53.000 Zuschauer.
Düsseldorf: Das Rheinstadion von Fortuna Düsseldorf war Austragungsort zweier Erstrunden- und dreier Zweitrundenbegegnungen. Die 70.100 Zuschauer fassende Spielstätte (31.600 Sitzplätze) wurde vor dem WM-Turnier für 24 Millionen Mark umgebaut. 228.585 Zuschauer kamen zu den fünf Spielen, im Schnitt 45.717. Zum ersten Spiel, bei dem Schweden und Bulgarien aufeinandertrafen, kamen nur 23.800 Zuschauer. Die beiden Spiele der Bundesrepublik in der zweiten Finalrunde gegen Jugoslawien und Schweden sahen 67.385 bzw. 67.800 Zuschauer.
Frankfurt am Main: Im Waldstadion fand am 13. Juni 1974 das Eröffnungsspiel zwischen Brasilien und Jugoslawien statt. Daneben wurden im Stadion, in dem die Frankfurter Eintracht ihre Heimspiele austrägt, zwei weitere Spiele der ersten Finalrunde und zwei Spiele der zweiten Finalrunde ausgetragen. Das für 27 Millionen Mark umgebaute Stadion (29.200 Sitzplätze) fasste 62.200 Besucher. Insgesamt kamen 300.000 Zuschauer und damit die meisten zu den fünf Spielen nach Frankfurt, im Schnitt 60.000. Dreimal waren es 62.000: Beim Eröffnungsspiel zwischen Brasilien und Jugoslawien, dem Spiel Schottland – Brasilien und der Wasserschlacht von Frankfurt.
Stuttgart: Das Neckarstadion, Heimat des VfB Stuttgart, war Schauplatz dreier Erstrunden- und eines Zweitrundenspiels. Das für 22 Millionen Mark umgebaute Stadion bot 72.200 Plätze (davon 34.400 Sitzplätze). Die vier Spiele sahen insgesamt 217.855 Zuschauer, im Schnitt 54.464. Das Spiel Polen – Argentinien, eine der besten Partien der WM, wollten nur 32.700 sehen, dagegen kamen zweimal 70.100 Zuschauer – vorwiegend italienische Gastarbeiter – zu den Spielen ihrer Mannschaft gegen Argentinien und Polen.
München: In dem für die Olympischen Spiele 1972 für 85 Millionen DM (ohne Dach) errichteten Olympiastadion fanden drei Spiele der Vorrunde sowie das Spiel um Platz drei und das Finale statt. Das Stadion, in dem der FC Bayern München seine Heimspiele austrug, verfügte über 76.000 Plätze (davon 44.200 Sitzplätze). Die fünf Spiele sahen 259.500 Zuschauer, im Schnitt 51.900. Dabei war das Olympiastadion bei den beiden Spielen von Haiti gegen Argentinien und Polen nur jeweils zu einem Drittel gefüllt. Die beiden Finalspiele sahen 74.100 und 75.200 Zuschauer – womit die offizielle Zuschauerzahl der FIFA dieser beiden Spiele höher ist als die Stadionkapazität.
Qualifikation
Die Bewerbungsfrist zur Teilnahme an der Qualifikation zur Fußball-Weltmeisterschaft 1974 endete am 30. Juni 1971. Die Auslosung der Qualifikationsgruppen fand am 17. Juli 1971 in Düsseldorf statt. Von 99 gemeldeten Nationen waren zwei direkt für die Endrunde qualifiziert. Nachdem sieben Mannschaften ihre Teilnahme zurückgezogen hatten, nahmen schließlich 90 an der Qualifikation teil. Neben dem amtierenden Weltmeister Brasilien und Gastgeber BR Deutschland, die automatisch zur Teilnahme am Turnier berechtigt waren, konnten sich 14 weitere Mannschaften für die WM-Endrunde qualifizieren.
Überraschend dabei war insbesondere das Ausscheiden Englands gegen Polen, womit bei der Weltmeisterschaft 1974 ein früherer Weltmeister fehlte. Zum wiederholten Male setzte sich auch Bulgarien durch, diesmal gegen Portugal, dessen große Zeit und die von Eusébio endgültig vorbei war. Etwas unerwartet schied in der Qualifikation auch Spanien gegen Jugoslawien aus und Mexiko belegte in der Qualifikationsrunde hinter Haiti und Trinidad und Tobago nur den dritten Platz. Neben den Fußballern der Karibik schafften erstmals auch die DDR, Australien und Zaire, als erstes südlich der Sahara gelegene Land überhaupt, die Qualifikation.
Während die Sieger der restlichen Qualifikationsgruppen direkt für die Weltmeisterschaft qualifiziert waren, musste die Sowjetunion als Erster der Europagruppe 9 in zwei Play-off-Spielen um die Teilnahme an der WM-Endrunde gegen Chile, den Sieger der Südamerika-Gruppe 3, antreten. Im ersten Spiel in Moskau trennten sich beide Mannschaften 0:0. Zum Rückspiel in Chile trat die Sowjetunion nicht an, da das Spiel im Nationalstadion von Santiago de Chile durchgeführt werden sollte, in dem während des von der CIA gestützten Militärputsches nur wenige Wochen vorher im September 1973 Oppositionelle inhaftiert worden waren. Später wurde von Folterungen und Morden, die dort stattgefunden hatten, berichtet. Trotzdem wurde das Spiel angepfiffen, jedoch nach dem 1:0 abgebrochen, da mangels anwesender sowjetischer Spieler kein Wiederanstoß möglich war. Die sowjetische Mannschaft wurde von der FIFA disqualifiziert und das Spiel 2:0 für Chile gewertet. Nur der Euphorie aufgrund der erstmals geglückten WM-Qualifikation der DDR-Auswahl war es zu verdanken, dass die DDR an der WM weiter teilnahm.
Für die Endrunde der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland qualifizierten sich schließlich die folgenden Mannschaften:
Modus
Die WM 1974 wurde nach einem neuen Modus ausgetragen. Zwar bildeten die 16 Teilnehmer wie gehabt vier Gruppen mit je vier Mannschaften, von denen sich jeweils die ersten beiden für die nächste Runde qualifizierten. Jedoch wurde das Turnier nicht im K.-o.-System fortgesetzt, sondern in zwei Zwischenrunden-Gruppen mit je vier Mannschaften. Die Sieger der zweiten Finalrunde bestritten das Endspiel um die Weltmeisterschaft, die Zweitplatzierten das Spiel um Platz drei.
Zwar hatte es 1950 schon eine zweite Gruppenphase gegeben, jedoch spielten damals nur die besten Vier gegeneinander, und es gab kein Endspiel. Mit dieser Neuerung sollte zum einen verhindert werden, dass ein Favorit in der K.-o.-Runde früh ausschied, so wie bei der WM 1970 die Engländer, und zum anderen sorgten mehr Partien für höhere Einnahmen. So musste eine Mannschaft, die Weltmeister werden wollte, erstmals sieben statt sechs Spiele bestreiten. Die Gesamtzahl der Spiele erhöhte sich damit von 32 auf 38, womit sich die Investitionen in den Stadionneu- und -umbau besser begründen ließen, zumal es im Gegensatz zur WM 1970 neun statt fünf Austragungsorte gab. Speziell im Hinblick auf die WM 1974 wurde die Zuordnung zu den beiden Gruppen der zweiten Finalrunde im Vorfeld mit der Absicht festgelegt, dass Veranstalter und Europameister Deutschland und Weltmeister Brasilien als erwartete Sieger ihrer Vorrundengruppen in der zweiten Finalrunde nicht aufeinandertreffen sollten, wodurch ein WM-Finale mit den beiden Favoriten unmöglich geworden wäre. Lediglich wenn einer von beiden Gruppenzweiter geworden wäre, wäre es zu einem vorzeitigen Aufeinandertreffen gekommen – sofern der andere Erster geworden wäre. Da sowohl die Bundesrepublik nach der Niederlage gegen die DDR als auch Brasilien auf Grund der schlechteren Tordifferenz gegenüber Jugoslawien in ihren Gruppen nur Zweite wurden, trafen sie in der Zwischenrunde nicht aufeinander. Die DFB-Elf kam als Gruppenzweiter in die Gruppe B; die DDR als Gruppensieger traf dagegen als erste deutsche Mannschaft bei einer Weltmeisterschaft in Gruppe A auf die Brasilianer.
Der 1974 neu eingeführte Modus hatte bei der folgenden Weltmeisterschaft in Argentinien Bestand. Dort zeigten sich erste Schwächen, als Argentinien nur wegen der besseren Tordifferenz gegenüber den im gesamten Turnier ungeschlagenen Brasilianern das Endspiel erreichte. Nach einer noch weniger gelungenen Zwischenlösung bei der WM 1982 wurde ab der WM 1986 wieder das K.-o.-System nach der Vorrunde verwendet.
Bei Punktgleichheit mehrerer Mannschaften in den Gruppenspielen entschied zunächst die Tordifferenz und dann die Anzahl der erzielten Treffer über die Platzierung. Bei übereinstimmenden Punkten und Toren hätte in der ersten Finalrunde das Los entschieden, in der zweiten Finalrunde hingegen zunächst das Ergebnis (also die bessere Platzierung) aus der ersten Finalrunde und schließlich ebenfalls das Los über den endgültigen Tabellenstand. Ein Unentschieden im Finale sowie im Spiel um den dritten Platz hätte zunächst zur Verlängerung der Spielzeit geführt. Hätte die Verlängerung keine Entscheidung gebracht, wäre der Sieger im Spiel um Platz drei direkt im Elfmeterschießen ermittelt worden. Beim Endspiel hätte es eine Neuansetzung innerhalb der nächsten Tage gegeben. Erst nach einem Unentschieden trotz Verlängerung im zweiten Finale hätte ein Elfmeterschießen die Weltmeisterschaft 1974 entschieden.
Nachdem bei der WM 1970 bereits die Rote Karte in das Regelwerk aufgenommen worden war, ohne jedoch eingesetzt zu werden, wurde die erste Rote Karte bei einer Fußball-WM am 14. Juni 1974 im Vorrundenspiel BR Deutschland – Chile gegen den Chilenen Caszely nach einem Revanchefoul an Berti Vogts vom türkischen Schiedsrichter Doğan Babacan gezeigt. Anschließend zeigten die Schiedsrichter noch vier weitere Rote Karten im Turnierverlauf.
Neuer WM-Pokal
Nachdem der Coupe Jules Rimet nach der Fußball-Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko mit dem dritten Titelgewinn der Brasilianer in den ständigen Besitz der Südamerikaner übergegangen war, stiftete der Weltverband FIFA für die kommenden Weltmeisterschaften den neuen FIFA-WM-Pokal. Künstler aus sieben Ländern reichten insgesamt 53 Entwürfe dafür ein. Die Entscheidung fiel schließlich auf das Werk des italienischen Künstlers Silvio Gazzaniga, dessen Trophäe zwei triumphierende Fußballspieler, die gemeinsam die Weltkugel in ihren ausgestreckten Händen halten, beschreibt.
Der bei der Weltmeisterschaft 1974 erstmals überreichte Pokal besteht aus massivem 18-karätigen Gold, ist 36,8 Zentimeter hoch und wiegt 6175 Gramm. Im Sockel, auf dessen Unterseite die Gewinner des Pokals eingraviert werden, sind zwei Ringe aus dem Halbedelstein Malachit eingelegt.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger bleibt die neue Trophäe stets Eigentum der FIFA und kann nicht dauerhaft von einem Land gewonnen werden. Der amtierende Weltmeister behielt zunächst den Pokal bis zur nächsten WM und bekam im Anschluss eine Nachbildung, die nicht wie das Original aus massivem Gold, sondern lediglich vergoldet war. Mittlerweile wird der Pokal direkt nach dem Finale, spätestens bei der Abreise aus dem Gastland an die FIFA zurückgegeben und der Weltmeister erhält im Gegenzug eine Replik.
Auslosung
Die Auslosung der WM-Endrunde fand am 5. Januar 1974 im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt statt. Die Veranstaltung wurde weltweit von etwa 800 Millionen Menschen verfolgt.
Für die Auslosung wurden die qualifizierten Mannschaften in vier Töpfe aufgeteilt. Die Zuordnung erfolgte nach einem Beschluss der FIFA vom selben Tage. Als Grundlage dienten neben einer Beurteilung des Leistungsvermögens, welches sich aus früheren Erfolgen und augenblicklichen Resultaten addierte, sowie geografische, kontinentale sowie sportpolitische Aspekte. Eine Besonderheit war, dass zum Zeitpunkt der Auslosung erst 15 der insgesamt 16 Teilnehmer bekannt waren, da in der Qualifikationsgruppe 7 ein Entscheidungsspiel zwischen Spanien und dem sich schließlich qualifizierenden Jugoslawien nötig war, das erst am 13. Februar 1974 stattfand. Die vier Töpfe enthielten schließlich:
Topf 1: Brasilien, Italien, BR Deutschland, Uruguay (die vier Erstplatzierten der WM 1970)
Topf 2: Argentinien, Chile, Niederlande, Schottland (Südamerika und Westeuropa)
Topf 3: Polen, Bulgarien, DDR, Jugoslawien/Spanien (Osteuropa und Spanien)
Topf 4: Zaire, Australien, Haiti, Schweden (Außenseiter)
Gastgeber BR Deutschland und Titelverteidiger Brasilien waren bereits vorab als Kopf der Gruppen I und II gesetzt. Bei der rund 35 Minuten dauernden Auslosung wurden durch den Schöneberger Sängerknaben Detlef Lange die restlichen Mannschaften aus den einzelnen Töpfen zugelost. Hierbei wurden aus Topf 2 die Mannschaften aus Argentinien und Chile nicht Brasilien oder Uruguay zugelost, um sicherzustellen, dass sich in jeder Vorrundengruppe eine südamerikanische Mannschaft befand.
Sensation der Auslosung war das Zusammentreffen der beiden deutschen Mannschaften in Gruppe I. Als FIFA-Präsident Sir Stanley Rous das Los verkündet hatte, trat im Saal zunächst für einige Augenblicke Stille ein, der langanhaltender Beifall folgte. Im Anschluss an die Veranstaltung kam das Gerücht auf, die DDR würde aufgrund des Aufeinandertreffens mit der Mannschaft der Bundesrepublik einen WM-Rückzug erwägen. Dies wurde von den Verantwortlichen der DDR jedoch schnell dementiert.
Die Auslosung ergab folgende Gruppeneinteilung:
Eröffnungsfeier
Die Eröffnungsfeier der 10. Fußball-Weltmeisterschaft fand am 13. Juni 1974 vor dem Eröffnungsspiel zwischen Weltmeister Brasilien und Jugoslawien statt. Es war das erste Mal, dass eine WM nicht durch ein Spiel des Gastgebers, sondern durch den amtierenden Weltmeister eröffnet wurde. Erst bei der WM 2006 bestritt wieder der Gastgeber das Eröffnungsspiel.
Für die Eröffnung des Turniers war Frankfurt am Main, der Sitz des Deutschen Fußball-Bundes, gewählt worden. Am Eröffnungstag lag der Ort der Veranstaltung unter einer dichten Wolkendecke, sodass es fast ununterbrochen regnete und die Temperatur bei lediglich 13 °C lag. Um 15 Uhr begann die rund 90 Minuten dauernde Eröffnungsfeier im Frankfurter Waldstadion mit einer Fanfare der Big Band der Bundeswehr unter Günter Noris. Im Anschluss wurde jedes der 16 teilnehmenden Länder durch eine Folkloregruppe oder einen Künstler repräsentiert. Sie verbargen sich in überdimensionierten Plastik-Fußbällen, die sich zu ihrem Auftritt wie eine Blumenblüte öffneten. Den Anfang machte das jugoslawische Ensemble „Gradimir“. Es folgten unter anderem Fahnenschwinger aus Florenz, Dudelsackpfeifer aus Schottland, Gauchos aus Chile, Holzschuhtänzer aus den Niederlanden, die populäre polnische Sängerin Maryla Rodowicz sowie die brasilianische Sambatanzgruppe „Ballett Tropical“. Für die Bundesrepublik trat die Winninger Winzer-Tanz- und Trachtengruppe von der Mosel auf; für die DDR interpretierten Schlagersänger Frank Schöbel und eine gemischte Ballett-Tanzgruppe das Lied Freunde gibt es überall.
Nachdem Uwe Seeler und Pelé am Mittelkreis symbolisch den alten und den neuen Weltpokal untereinander austauschten, begrüßte Hermann Neuberger, der Chef des Organisationskomitees, die Gäste aus aller Welt. Während mehr als 2000 weißgekleidete Frankfurter Schulkinder das Emblem der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 auf dem Rasen formierten, erhob sich der scheidende Bundespräsident Gustav Heinemann auf der Ehrentribüne und eröffnete das Turnier mit den Worten: „Ein herzliches Willkommen den vielen tausend Gästen aus allen Erdteilen, die zur Fußball-Weltmeisterschaft in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Ich hoffe, dass die Spiele der X. Fußball-Weltmeisterschaft Spiele der Freundschaft und der Fairness sein werden. Die Spiele der X. Fußball-Weltmeisterschaft sind eröffnet.“
Erste Runde
Gruppe I
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Die DDR-Elf wurde entgegen den Experten-Erwartungen Gruppensieger. Nach einem 2:0 gegen Australien und einem 1:1 gegen Chile fand in der ersten Finalrunde das einzige jemals ausgetragene A-Länderspiel zwischen der DFB-Elf und der DDR-Auswahl statt. Die DDR-Vertreter gewannen durch ein Tor von Jürgen Sparwasser mit 1:0.
Die hohen Erwartungen, die der bundesdeutschen Nationalmannschaft als amtierendem Europameister und WM-Favoriten entgegengebracht wurden, erfüllten sich in der ersten Finalrunde nicht. Dem mühsamen 1:0-Sieg über Chile und dem 3:0 gegen Außenseiter Australien folgte die historische Niederlage gegen die Auswahl der DDR. Es war das einzige Spiel, das die DFB-Elf während dieser WM verlor. Positiver Effekt der Niederlage war, dass die Bundesligaprofis als Vorrundenzweite in der Zwischenrundengruppe B spielten und somit nicht gegen die als deutlich schwerer eingeschätzten Gegner Brasilien, Argentinien und Niederlande antreten mussten. Zudem führte die Niederlage zu einer legendären Aussprache der Spieler in der Sportschule in der Nacht von Malente, in der die Mannschaft laut Franz Beckenbauer „aus einem zerstrittenen Haufen zu einer Einheit“ wurde.
Chile enttäuschte bei der Weltmeisterschaft 1974. Nach der erwarteten Auftaktniederlage gegen die bundesdeutsche Mannschaft folgten zwei Unentschieden gegen die DDR und Australien. Damit waren die beiden deutschen Mannschaften bereits vor ihrem letzten Gruppenspiel für die zweite Finalrunde qualifiziert und Chile ausgeschieden. Für Aufsehen sorgten nur die politischen Randerscheinungen um die Mannschaft von Chile. Beim ersten Spiel gegen die DFB-Mannschaft wurde das Spiel durch Demonstranten gegen den Putsch in Chile 1973 gestört.
Der Auftritt des kampfstarken Debütanten Australien überraschte positiv. So benötigte die Auswahl der DDR bei ihrem 2:0-Sieg fast eine Stunde, um gegen Australien in Führung zu gehen. Auch gegen die DFB-Elf schaffte es die Mannschaft, ein Debakel zu verhindern, und unterlag lediglich mit 0:3. Im abschließenden Gruppenspiel gegen Chile feierte Australien einen Punktgewinn.
Gruppe II
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Etwas überraschend konnte sich Jugoslawien als Gruppenerster für die zweite Finalrunde qualifizieren. Bereits beim 0:0 im Eröffnungsspiel gegen den amtierenden Weltmeister Brasilien stellten die Jugoslawen die bessere Mannschaft. Es folgten ein 9:0 gegen die überforderte Mannschaft von Zaire und ein abschließendes 1:1 gegen Schottland.
Die Mannschaft Brasiliens enttäuschte. Der amtierende Weltmeister konnte für die vier Jahre zuvor erfolgreichen Spieler um Weltstar Pelé keinen gleichwertigen Ersatz finden. Deshalb musste er die Abwehr auf Kosten des Angriffs verstärken und verzichtete dabei auf sein gewohntes jogo bonito („schönes Spiel“). Durch zwei Unentschieden und einen Sieg über Zaire konnte Brasilien dennoch die zweite Finalrunde erreichen.
Schottland schied als einzige Mannschaft, die während des Turniers keine Niederlage hinnehmen musste, sehr unglücklich aufgrund der schlechteren Tordifferenz aus. Ausschlaggebend dafür waren die zu wenig erzielten Tore gegen den „Fußballzwerg“ aus Zaire, der im ersten Gruppenspiel lediglich mit 2:0 besiegt wurde, während Jugoslawien mit 9:0 und Brasilien mit 3:0 gewinnen konnten und die drei direkten Begegnungen unentschieden endeten.
Die als klarer Außenseiter gestartete Mannschaft Zaires beendete das Turnier mit drei Niederlagen und 0:14 Toren. Zum zweiten Mal nach 1954 (Ungarn – Südkorea 9:0 in der Vorrunde) hatte eine Mannschaft bei einer WM-Endrunde mit neun Toren Differenz verloren. Dennoch konnten die Afrikaner viele Sympathien gewinnen. Experten bescheinigten ihnen eine „brasilianische Ballbehandlung“ und „europäische Kondition“. Was fehlte, war die internationale Erfahrung. Während des Turniers blieb weitgehend unbemerkt, dass die Spieler Zaires sich nach der hohen Niederlage im zweiten Spiel in einer sehr bedrohlichen Situation befanden. Zaires tyrannischer Diktator Mobutu Sese Seko war über die Darbietung seiner Nationalmannschaft sehr verärgert und drohte den Spielern mit drastischen Konsequenzen, sollte das letzte Gruppenspiel mit mehr als drei Toren verloren gehen. Damit ging es für die Mannschaft im Spiel gegen den amtierenden Weltmeister Brasilien buchstäblich um Leben und Tod, was am Zweikampfverhalten im Nachhinein durchaus erkennbar ist. Besonders in Erinnerung geblieben ist eine Szene, in der Mwepu Ilunga, vor der Ausführung eines Freistoßes für Brasilien, aus der Mauer lief und den Ball wegschlug.
Gruppe III
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Die Niederlande waren die einzige Mannschaft, die bereits in der ersten Finalrunde ihrer Favoritenrolle gerecht wurde. Nach zwei überzeugenden Siegen gegen Uruguay und Bulgarien sowie einem 0:0 gegen Schweden galten die Niederländer nach Abschluss der Vorrunde als größter Anwärter auf den Weltmeistertitel.
Schweden, das im Vorfeld der Gruppenauslosung lediglich in den Topf der „Außenseiter“ eingeteilt worden war, qualifizierte sich als Gruppenzweiter für die zweite Finalrunde. Dabei profitierten die nicht so hoch eingeschätzten Fußballspieler Schwedens von der Auslandserfahrung ihrer Stürmer Roland Sandberg und Ralf Edström sowie des Abwehrchefs (Liberos) Björn Nordqvist, die zusammen mit dem Torhüter Ronnie Hellström selbst den Niederländern beim 0:0 das Konzept verdarben.
Den Bulgaren, die mit Christo Bonew nur einen Spieler von Format hatten, gelang es auch bei der vierten Endrundenteilnahme nicht, einen WM-Sieg zu erringen. Nach zwei Unentschieden gegen Schweden und Uruguay verloren sie im abschließenden Gruppenspiel mit 1:4 gegen die Niederlande.
Uruguay, früher Weltmeister und Olympiasieger, hatte außer seiner großen Tradition nicht mehr viel zu bieten. Mit einem Altersschnitt des WM-Aufgebots von 29 Jahren und 4 Monaten zeigte Uruguay, das vier Jahre vorher noch Vierter geworden war, „Altherrenfußball“ ohne Tempo und Sicherheit, und es gelang nur ein einziger Punktgewinn gegen Bulgarien.
Gruppe IV
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Polen zeigte sich bereits in der ersten Finalrunde sehr stark und blieb als einzige Mannschaft ohne Punktverlust. Die Mannschaft bot zudem einen begeisternden Fußball, so dass sie vom Publikum frenetisch gefeiert wurde. Das Spiel des Olympiasiegers von 1972 war in der Konzeption klar angelegt und mit so großem Tempo ausgeführt, dass Polen die Gruppe 4 klar beherrschte und die Konkurrenten Argentinien, Haiti sowie Italien in den Schatten stellte.
Die Argentinier imponierten ebenfalls durch eine geschlossene Mannschaftsleistung, die dennoch Raum für Solisten und Ballkünstler wie Carlos Babington gab. Nach der 2:3-Auftaktniederlage gegen Polen und dem 1:1 gegen Italien erreichte Argentinien aufgrund der besseren Tordifferenz die zweite Finalrunde. Ausschlaggebend war der 4:1-Sieg im abschließenden Vorrundenspiel gegen Haiti.
Die Sensation der ersten Finalrunde war das Ausscheiden Italiens, eines der großen Favoriten im Vorfeld der Weltmeisterschaft 1974. Bereits im ersten Spiel gegen den „Fußballzwerg“ Haiti taten sich die Italiener schwer. Erst nachdem Haiti mit 1:0 in Führung gegangen war und Torhüter Dino Zoff nach 1143 Länderspielminuten erstmals wieder ein Tor kassiert hatte, wachten die Südeuropäer auf und gewannen schließlich noch mit 3:1. Es folgten ein schmeichelhaftes 1:1 gegen Argentinien und ein 1:2 gegen Polen. Aufgrund der schlechteren Tordifferenz gegenüber Argentinien bedeutete dies das Ausscheiden.
Haiti kam über die Rolle des Punktelieferanten nicht hinaus. Nachdem die Mannschaft gegen Italien noch durch Emmanuel Sanon in Führung gegangen war und am Ende vor allem wegen Konditionsmängeln verloren hatte, unterlag sie im zweiten Spiel gegen Polen hauptsächlich aus taktischen Gründen. Haiti vernachlässigte die Deckung, und die Polen hatten beim 7:0 leichtes Spiel, so dass sie ohne Schwierigkeiten noch höher hätten gewinnen können. Im letzten Spiel hatten die Haitianer aus dem Spiel gegen Polen gelernt, sie versuchten die Argentinier durch Drosseln des Tempos und Ballhalten nicht ins Spiel kommen zu lassen. Nachdem Argentinien zu Beginn des Spiels mit der ungewöhnlichen Taktik des Gegners nicht zurechtgekommen war, verlor Haiti das Spiel am Ende dennoch mit 1:4.
Zweite Runde
Gruppe A
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Gruppe B
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Auch wenn es aufgrund des neu eingeführten Modus keine echten Halbfinalspiele gab (siehe Abschnitt Modus), so kam es durch die Spielreihenfolge und Ergebnisse der ersten Gruppenspiele zu zwei Quasi-Halbfinalspielen: In Gruppe A trafen Brasilien und die Niederlande, die beide gegen Argentinien und die DDR gewonnen hatten, im letzten Spiel aufeinander, wobei den Niederländern schon ein Unentschieden zum Finaleinzug gereicht hätte. In einem von den Brasilianern überaus hart geführten Spiel konnten sich die Niederländer mit 2:0 durchsetzen.
Ähnlich war die Konstellation vor dem letzten Spiel in Gruppe B: Die Bundesrepublik Deutschland hatte durch eine Steigerung gegenüber der Vorrunde zunächst Jugoslawien und Schweden besiegt, doch den Polen war dies ebenfalls gelungen. Durch die bessere Tordifferenz genügte den Deutschen ein Unentschieden im letzten Spiel. Dieses Spiel am 3. Juli 1974 im Frankfurter Waldstadion ging als „Wasserschlacht von Frankfurt“ in die Fußballgeschichte ein. Vor Spielbeginn machte ein Wolkenbruch den Rasen unbespielbar. Die Feuerwehr versuchte, das Wasser mit Walzen vom Platz zu verdrängen. Gemeinhin galt Polen damals als die technisch bessere Elf; aufgrund der widrigen Platzverhältnisse konnte sie ihre Stärke jedoch nicht ausspielen, und die Bundesrepublik Deutschland qualifizierte sich für das Finale mit einem 1:0-Sieg. Das Tor erzielte Gerd Müller, der damit in der ewigen Torschützenliste mit Just Fontaine gleichzog.
Der letzte Spieltag am 3. Juli 1974 sorgte für eine Kontroverse. Inmitten der Partien wurden die Spiele unterbrochen, um des zwei Tage zuvor verstorbenen Juan Perón mit einer Schweigeminute zu gedenken. Normalerweise werden Gedenkminuten vor Anpfiff abgehalten.
Insgesamt wurden in der Zwischenrunde 30 Tore in 12 Spielen geschossen, davon die Hälfte von den beiden späteren Finalisten Deutschland und Niederlande.
Finalrunde
Spiel um Platz drei
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Einen Tag vor dem Endspiel wurde im Münchner Olympiastadion das Spiel um Platz drei ausgetragen. Am 6. Juli 1974 trafen der entthronte Weltmeister Brasilien und Polen, die Überraschungsmannschaft der WM, aufeinander. In einem an Höhepunkten armen Spiel vor 77.500 Zuschauern startete der polnische Rechtsaußen Grzegorz Lato in der 79. Minute einen Alleingang, umspielte 30 Meter vor dem Tor den Brasilianer Zé Maria, lief auf halbrechter Position bis zum Strafraum und schob aus 13 Metern zum entscheidenden 0:1 ein. Latos siebter Turniertreffer bescherte Polen den sensationellen dritten Rang. Gleichzeitig festigte er damit seine Führung im Kampf um den Titel des WM-Torschützenkönigs, den er schließlich gewann, weil ihn die in der Torschützenliste Folgenden im abschließenden Finale nicht mehr überholten.
Finale
Der Anpfiff verzögerte sich um einige Minuten, da die Eckfahnen und die Fahnen an der Mittellinie noch nicht positioniert waren.
Vom Anstoß weg kombinierten die Niederländer über 16 Stationen, ohne dass ein deutscher Spieler dazwischenkam. 17. Anspielstation war Johan Cruyff, der den Ball im Anstoßkreis erhielt und sich von dort bis zum deutschen Strafraum durchkämpfte, wo er knapp hinter der Strafraumgrenze vom grätschenden Uli Hoeneß zu Fall gebracht wurde. Nach nur 53 Sekunden Spielzeit entschied der englische Schiedsrichter John Taylor auf den ersten Strafstoß in der Geschichte der WM-Endspiele. Neeskens trat den Elfmeter in die Mitte des Tors und ließ dem nach rechts abtauchenden Sepp Maier keine Chance. Das 1:0 für die Niederlande nach eineinhalb Minuten ist bis heute die früheste Führung in einem WM-Endspiel.
Die bundesdeutsche Mannschaft konnte sich im Folgenden nur langsam von diesem Schock erholen, wurde danach jedoch stärker. Die Niederländer schienen technisch gefälliger und hatten etwas mehr vom Spiel, doch die Deutschen wirkten vor dem Tor gefährlicher. In der 23. Minute wurde Gerd Müller bei einer Spielunterbrechung hinter den Augen des Schiedsrichters beidhändig von hinten durch van Hanegem umgestoßen. Nach Rücksprache mit dem Linienrichter erhielt dieser dafür eine gelbe Karte.
Nach einer langen Vorlage aus der Mitte der eigenen Hälfte von Overath trat Hölzenbein in der 25. Minute auf der linken Seite zu einem Sturmlauf in den niederländischen Strafraum an und wurde von Jansen durch eine Grätsche zu Fall gebracht. Den Elfmeter verwandelte Paul Breitner mit einem Schuss in die linke Ecke zum 1:1. Torhüter Jongbloed war chancenlos.
Die Deutschen spielten nach dem Ausgleich überlegen. Beckenbauer scheiterte jedoch mit einem Freistoß an Jongbloed. Vogts und Grabowski vergaben ebenfalls gute Chancen zur Führung. In der 42. Minute passte Bonhof nach Vorarbeit in die Mitte zu Gerd Müller. Dieser, bedrängt von zwei Niederländern, ließ den Ball zunächst etwas abprallen, drehte sich um die eigene Achse und erwischte Jongbloed auf dem falschen Fuß. Der Ball rollte zum 2:1 für Deutschland flach ins linke Eck.
Die zweiten 45 Minuten wurden zur Abwehrschlacht der Deutschen. In der 48. Minute köpfte Bonhof noch um Zentimeter am linken Pfosten des niederländischen Tors vorbei. Danach waren die Niederländer spielbestimmend, scheiterten aber mit zahlreichen Chancen, unter anderem von Rep und van Hanegem, am deutschen Torwart Sepp Maier. Der Treffer durch Gerd Müller zum 3:1 in der 59. Minute wurde vom Linienrichter fälschlich wegen vermeintlichem Abseits annulliert, obwohl Müller bei Grabowskis Pass um 2,5 Meter nicht abseits war. In der 85. Minute verweigerte der Schiedsrichter einen Strafstoß nach einem Foul an Hölzenbein. Neeskens verfehlte kurz vor Schluss knapp das Tor, und die deutsche Mannschaft hielt letztendlich den Vorsprung. Das Siegtor durch Gerd Müller war sein 14. WM-Tor – gleichzeitig sein letztes Länderspieltor – und brachte ihm damit die alleinige Führung in der ewigen Torschützenliste. Diese verlor Müller erst bei der WM 2006, wiederum in Deutschland, als er vom Brasilianer Ronaldo mit 15 Toren übertroffen wurde. Für Helmut Schön war das Finale das 19. Spiel als Trainer bei einer Weltmeisterschaft, er löste damit Sepp Herberger (18 Spiele zwischen 1938 und 1962) als Rekordhalter ab und baute den Rekord bei der folgenden WM auf die bis heute gültige Rekordmarke von 25 Spielen aus.
Weltmeister Bundesrepublik Deutschland
Mit dem Schlusspfiff des Finales am 7. Juli 1974 um 17:47 Uhr wurde die bundesdeutsche Nationalmannschaft zum zweiten Mal nach 1954 Fußball-Weltmeister. Zum Kader der von Bundestrainer Helmut Schön und Co-Trainer Jupp Derwall betreuten DFB-Auswahl gehörten insgesamt 22 Spieler, von denen 18 im Turnier zum Einsatz kamen:
Torwart: Sepp Maier
Abwehr: Franz Beckenbauer, Paul Breitner, Horst-Dieter Höttges, Georg Schwarzenbeck, Berti Vogts
Mittelfeld: Rainer Bonhof, Bernhard Cullmann, Heinz Flohe, Uli Hoeneß, Günter Netzer, Wolfgang Overath, Herbert Wimmer
Angriff: Jürgen Grabowski, Dieter Herzog, Jupp Heynckes, Bernd Hölzenbein, Gerd Müller
Die Ersatztorhüter Wolfgang Kleff und Norbert Nigbur kamen nicht zum Einsatz, ebenso wenig die Feldspieler Helmut Kremers und Hans-Josef Kapellmann.
Die bundesdeutsche Mannschaft zeigte einen technisch sauberen, jedoch nicht hochklassigen Fußball. Im Vergleich zu der Mannschaft, die 1972 in Belgien Europameister geworden war, konnte sie in spielerischer Hinsicht nicht mehr in gleicher Weise brillieren, war im kämpferischen Bereich jedoch stark. So standen beim Weltmeister 1974 insbesondere ab der zweiten Finalrunde vor allem Kampfkraft, Entschlossenheit und Siegeswillen im Vordergrund.
Die Stärke der Mannschaft lag in der Defensive. Sicherer Rückhalt war Sepp Maier, der sich im Laufe des Turniers zum damals wohl besten Torhüter der Welt entwickelte. Davor stand eine Abwehr, die gleichermaßen dafür verantwortlich war, Tore zu verhindern, einzuleiten und zu erzielen. Hier harmonierten die Stars Paul Breitner und Franz Beckenbauer mit den „Arbeitern“ Berti Vogts und Georg Schwarzenbeck. Dabei war Beckenbauer mit seiner spielerischen Eleganz und dem perfekten Stellungsspiel die zentrale Figur. Breitner war zäher Verteidiger, der sich in die Offensive einschaltete und nach Gerd Müller die meisten Tore für die deutsche Mannschaft erzielte. Hinzu kamen der als bester Verteidiger des Turniers geltende Berti Vogts und Georg Schwarzenbeck, der sich von Spiel zu Spiel steigerte und Franz Beckenbauer den Rücken frei hielt, wenn sich dieser in das Aufbauspiel einschaltete.
Das Mittelfeld der bundesdeutschen Mannschaft, die bei der Weltmeisterschaft 1974 mit einem 4-3-3-System antrat, war der Dreh- und Angelpunkt des Spiels. Hier konkurrierten Wolfgang Overath und Günter Netzer um die Position des Spielmachers. Overath setzte sich schließlich knapp vor Netzer durch, für den die Weltmeisterschaft daraufhin enttäuschend verlief, da er nur 20 Minuten zum Einsatz kam. Neben Regisseur Overath agierten seine Helfer Uli Hoeneß und Rainer Bonhof, der jüngste Spieler der Mannschaft und eine der großen Entdeckungen des WM-Turniers. Im Angriff ist vor allem Gerd Müller zu erwähnen, der vier der 13 bundesdeutschen Tore erzielte – darunter das entscheidende 2:1 im Endspiel. Die beiden Außenstürmer waren die Positionen, auf denen Bundestrainer Helmut Schön am längsten brauchte, um sie schließlich zu besetzen. Insgesamt setzte er hier fünf verschiedene Spieler ein. Nachdem die WM mit Jürgen Grabowski auf rechts begann, übernahm Bernd Hölzenbein diese Rolle gegen Jugoslawien und Schweden. Im Finale spielte Hölzenbein auf links, wo sich vorher glücklos Jupp Heynckes (verletzte sich gegen Australien im zweiten Spiel), Heinz Flohe und Dieter Herzog versucht hatten.
Gleich nach dem Endspiel zeigte sich, dass eine Ära im bundesdeutschen Fußball zu Ende gegangen war. Beim abschließenden Festbankett kam es zum Eklat, da die Frauen der Spieler, im Gegensatz zu denen der Funktionäre, keinen Zutritt erhielten. Einige Spieler, darunter Müller und Overath, erklärten empört ihren Rücktritt aus der Nationalelf. Andere wie Beckenbauer, Hoeneß oder Vogts blieben der Nationalmannschaft erhalten und bestritten noch die EM 1976 beziehungsweise die WM 1978, wobei weder der Europa- noch der Weltmeistertitel verteidigt werden konnte. Helmut Schön hatte ursprünglich mit der WM im eigenen Land seine Trainerkarriere beenden wollen, machte dann jedoch weiter. Nach dem wenig glücklich verlaufenen Turnier 1978 in Argentinien übergab er sein Amt schließlich an Jupp Derwall.
Für den Gewinn des Weltmeistertitels erhielt jeder Akteur 60.000 Mark und einen VW Käfer. Im Vorfeld hatte es um die Höhe der Prämie heftigen Streit gegeben. Nachdem bekannt wurde, dass die Italiener für den WM-Erfolg umgerechnet 120.000 Mark erhalten sollten, forderten die bundesdeutschen Nationalspieler zunächst 100.000 Mark, später 75.000 Mark; der DFB bot 30.000 Mark an. Nachdem es beinahe zur Abreise einiger Spieler gekommen war, einigte man sich schließlich auf den später ausgeschütteten Betrag.
Ehrungen der Finalisten
In West-Deutschland wurden die bundesdeutsche Nationalmannschaft zur Mannschaft des Jahres und Franz Beckenbauer zum Fußballer des Jahres gewählt. Johan Cruyff wurde Europas Fußballer des Jahres (hier wurde Franz Beckenbauer Zweiter und Kazimierz Deyna Dritter) sowie in den Niederlanden zum Sportler des Jahres gewählt.
Stars
Ein offizielles All-Star-Team der wertvollsten Spieler eines Turniers wurde erstmals bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea gewählt. Für die Zusammenstellung der besten Spieler der WM 1974 in der Bundesrepublik Deutschland sind daher keine zweifelsfreien Kriterien anzulegen. Bei der Betrachtung der Stars der Weltmeisterschaft 1974 werden meist folgende Spieler genannt:
Als die beiden größten Stars des Turniers kristallisierten sich während des Verlaufs der Spiele der Niederländer Johan Cruyff und der Deutsche Franz Beckenbauer heraus. Beide waren die Führungsspieler ihrer Mannschaft, dirigierten und formten das Spiel. Während Beckenbauer den Spielaufbau als Libero aus der Abwehr heraus organisierte und dabei vor allem mit langen Pässen, Kopfbällen sowie seiner Spielübersicht und Zweikampfstärke brillierte, befand sich Cruyff mit seinen Stärken bei Kurzpassspiel, Dribblings, Schnelligkeit und Torgefahr vor allem im Angriffszentrum seiner Mannschaft.
Die FIFA ermittelte einige Jahre später per Internet-Abstimmung nachträglich den besten jungen Spieler für die Weltmeisterschaften 1958 bis 2002. Für 1974 wurde Władysław Żmuda gewählt, der mit 20 Jahren erstmals an der WM teilnahm.
Beste Torschützen
Torschützenkönig der Weltmeisterschaft wurde mit Grzegorz Lato ein Spieler, den vor dem Turnier niemand auf der Rechnung hatte. Der pfeilschnelle Rechtsaußen, der beim polnischen Olympiasieg 1972 nur auf der Reservebank saß und bei der WM in Deutschland lediglich als Ersatz für den ausgefallenen Włodzimierz Lubański eingesetzt wurde, hatte mit seinen sieben Treffern einen wesentlichen Anteil am dritten Platz der Polen. So erzielte er neben seinen vier Treffern in der ersten Finalrunde jeweils ein Tor bei den Zweitrundenspielen gegen Schweden und Jugoslawien sowie das entscheidende 1:0 im Spiel um Platz drei.
Darüber hinaus gab es 29 Spieler mit einem Treffer. Hinzu kamen drei Eigentore.
Organisation und Umfeld
Organisationskomitee
Zur Planung von Ablauf und Durchführung der Weltmeisterschaft 1974 wurde ein WM-Organisationskomitee (kurz OK) eingesetzt, dessen Hauptquartier sich in der Otto-Fleck-Schneise am Stadtrand von Frankfurt befand. Präsident des OK war der spätere DFB-Chef Hermann Neuberger.
Pressechef des Organisationskomitees war Wilfried Gerhardt, der für die Medienarbeit und Betreuung der Journalisten zuständig war. Vervollständigt wurde das Team durch den Protokollchef Hartmut Nevries sowie den Verantwortlichen für die Stadien und die Betreuung der Schiedsrichter, Hans Lang.
Für die Organisation der Eröffnungsfeier im Frankfurter Waldstadion und der Schlussfeier vor dem Münchener Finale zeigte sich Arno Scheurer verantwortlich. Der offizielle Stadionsprecher der Fußball-Weltmeisterschaft war ZDF-Redakteur Helmuth Bendt.
Visuelles Erscheinungsbild
Das Logo der Fußball-Weltmeisterschaft von 1974 stellte einen stilisierten rollenden Fußball dar, unter dem der Schriftzug „WM 74“ stand.
Nach World Cup Willie bei der WM 1966 und Juanito in Mexiko 1970 gab es zum dritten Mal bei einer Weltmeisterschaft ein Maskottchen. Dabei handelte es sich um Tip und Tap, zwei lachende kleine Jungen mit roten Bäckchen und Hasenzähnchen im schwarzweißen DFB-Dress, auf denen „WM 74“ zu lesen war. Der kleinere der beiden war der schwarzhaarige Tip, der einen Fußball unter dem Arm trug. Sein Kumpel Tap – der sich weitaus schlechter als Tip verkaufte – war blond, mit einem fröhlichen Winken. Der Name der Maskottchen ging auf das bei Kindern verwendete Auswahlverfahren „Tip-Tap“ vor einem Fußballspiel zurück, wobei abwechselnd ein Fuß vor den anderen gesetzt wird und derjenige, der zuerst den Fuß des Gegners berührt, als erster die Mannschaftsmitglieder wählen darf.
Die vom Saarbrücker Grafiker Horst Schäfer geschaffenen Maskottchen waren sehr beliebt und wurden im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 weitreichend vermarktet. So gab es beispielsweise Tip und Tap als Plüschfiguren oder Schlüsselanhänger. Zudem fand sich das Abbild der Maskottchen auf Krawatten, Kinderschlafanzügen, Bierkrügen, Senfgläsern sowie anderen Konsumartikeln wieder.
Sicherheit
Die Weltmeisterschaft 1974 stand vor dem Hintergrund terroristischer Bedrohungen, wie der Geiselnahme und Ermordung israelischer Athleten 1972 bei den Olympischen Spielen von München, unter strengen Sicherheitsvorkehrungen. Nach Drohungen der Rote Armee Fraktion, einen Raketenanschlag auf das Hamburger Volksparkstadion zu verüben, und der Ankündigung eines Mordanschlages der Irisch-Republikanischen Armee auf schottische Nationalspieler beschrieben die Sicherheitskräfte die Vorbereitungen wie folgt: „Das Massaker von München hat das Bewusstsein verändert, es gibt jetzt nichts mehr, was nicht für möglich gehalten wird.“ Aus diesem Grund wurden im Vorfeld der Weltmeisterschaft Planspiele durchgeführt, um insgesamt 20 Alarmfälle, darunter Anschläge von Extremisten, Geiselnahmen von Angehörigen der deutschen Nationalspieler und Krawalle in Stadien, zu proben.
Die Quartiere der 16 Mannschaften wurden besonders geschützt und glichen bewaffneten Festungen. Besonderen Schutz genoss die Auswahl der DDR nach einer Bombendrohung, als sie während der zweiten Finalrunde nach Ratingen bei Düsseldorf umgezogen war. Auch die Mannschaft Chiles, die wegen der Militärjunta in ihrem Heimatland starken Protesten ausgesetzt war, wurde in ihrem von Stacheldraht und Polizei umgebenen Quartier im Berliner Schloss Glienicke stark bewacht.
Vor den Stadien selbst, deren Ränge mit Kameras überwacht wurden, fanden erstmals stichprobenartige Leibesvisitationen statt, um das Einbringen von Angriffsgegenständen zu verhindern. Unter die Stadionzuschauer wurden, beispielsweise in Hannover, rund 900 Ordner und 600 Polizisten gemischt, sodass bei einem ausverkauften Spiel eine Sicherheitskraft auf 40 Zuschauer kam.
Ebenfalls unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen standen die Spielbesuche Prominenter wie US-Außenminister Henry Kissinger, Fürst Rainier von Monaco oder Bundeskanzler Helmut Schmidt. Hier wurden zum Personenschutz gepanzerte Wagen sowie Hundertschaften von Polizisten mit Maschinenpistolen eingesetzt. Da eine Gefährdung jedoch trotz der Sicherheitsmaßnahmen nicht auszuschließen war, folgte dem gepanzerten Mercedes-Benz 600 von Bundespräsident Gustav Heinemann beim Besuch des Eröffnungsspiels unmittelbar ein fahrbarer Operationssaal. Ein zu großes Risiko war den Verantwortlichen der geplante Besuch des jugoslawischen Staatschefs Tito, der daraufhin abgesagt wurde.
Schiedsrichter
Bereits im Februar 1974 wurden von der Schiedsrichterkommission der FIFA die 30 Schiedsrichter ausgewählt, die später die 38 WM-Spiele leiteten und dabei sowohl als Schieds- wie auch als Linienrichter fungierten. Hinzu kamen vier weitere Unparteiische des DFB, die jedoch nur als Linienrichter eingesetzt wurden. Die 34 Auserwählten trafen sich bereits eine Woche vor dem Eröffnungsspiel in Frankfurt am Main, wo sie gemeinsam im Esso-Motor-Hotel untergebracht waren. In der Vorbereitung wurden vor allem theoretische Schulungen durchgeführt, um eine einheitliche Regelauslegung zu erreichen.
Die in den einzelnen Begegnungen eingesetzten Unparteiischen wurden von der FIFA-Schiedsrichterkommission erst ein bis zwei Tage vor jedem Spiel festgelegt, womit das Schiedsrichtergespann vor möglichen Beeinflussungen bewahrt werden sollten. Zum anderen bot dieses Vorgehen die Möglichkeit, einen Spielleiter bei schlechten Leistungen relativ unauffällig zu ersetzen.
Die Leistungen der Unparteiischen während des Turniers wurden überwiegend gut bewertet. Sie arbeiteten konsequent und unauffällig, sodass sich die Veranstaltung positiv von früheren Weltmeisterschaften unterschied. Es entwickelte sich ein Trend zum härteren Durchgreifen der Unparteiischen, was sich in einer bis dahin nicht gekannten Anzahl von Verwarnungen und Platzverweisen widerspiegelte. So wurden, nachdem bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko kein einziger Spieler die rote Karte zu sehen bekam, 1974 bereits in der ersten Finalrunde vier Spieler vom Platz verwiesen. Zudem gingen die Schiedsrichter erstmals mit deutlicher Härte gegen Spielverzögerungen vor.
Unterkünfte und Transport
Die Ansprüche der Teilnehmer an ihre Unterkunft waren recht unterschiedlich. So richtete sich die niederländische Mannschaft nahe der eigenen Landesgrenze im Waldhotel Krautkrämer in Hiltrup (heute Stadtteil von Münster) ein. Die Brasilianer zog es auf das Herzogenhorn, einen Berg im Schwarzwald, Italien in das Schlosshotel Monrepos bei Ludwigsburg, die DDR in ein Sporthotel in Quickborn bei Hamburg und Jugoslawien in die ehemalige Sommerresidenz der Rothschilds – das Hotel Sonnenhof in Königstein im Taunus. Die Schotten fanden ihr Quartier im Sporthotel Erbismühle in Weilrod, Polen im Hotel Sonne-Post in Murrhardt bei Stuttgart. Spartanischer waren die Mannschaften aus Uruguay in der Sportschule Duisburg-Wedau sowie Haiti in der Sportschule Grünwald bei München untergebracht.
Die bundesdeutsche Mannschaft war vier Wochen vor Beginn der Weltmeisterschaft in der Sportschule Malente (Schleswig-Holstein) untergebracht. Nach der Vorrunde wohnte sie in einer Sportschule in der Nähe von Duisburg und vor dem Endspieltag in Grünwald bei München.
Mercedes-Benz stellte jeder Nationalmannschaft einen Omnibus in entsprechender Lackierung mit den Landesfarben zur Verfügung. Die DDR hatte ihren Bus zunächst nicht angenommen, weil Hammer und Zirkel fehlten. Durch die massive Intervention der ostdeutschen Delegation wurde das Nationalsymbol der DDR schließlich doch noch angebracht. Ein Nachbau des westdeutschen Exemplars wurde auf der IAA 2005 in Frankfurt am Main vorgestellt. Er ist im Mercedes-Benz Museum in Stuttgart-Bad Cannstatt zu besichtigen.
Finanzierung
Der Etat für die Organisation der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 durch den Weltverband FIFA als Veranstalter und dem Deutschen Fußballbund als seinem Organisator betrug rund 80 Millionen DM. Die Finanzierung der Summe trug sich selbst, sodass anders als beim Bau der Stadien – für den die öffentlichen Haushalte rund 238 Millionen DM aufbrachten – die Organisation des Großereignisses selbst ohne eine Finanzierung aus Steuermitteln auskam.
Auf der Erlösseite standen an erster Stelle rund 30 Millionen Mark, die aus dem Verkauf der Eintrittskarten umgesetzt wurden. Die nächsten großen Einnahmeposten waren 18 Millionen Mark aus Fernsehhonoraren sowie 20 Millionen Mark aus der Bandenwerbung in den Stadien. Hinzu kamen etwa 12 Millionen Mark an Gebühren durch Lizenzvergaben unterschiedlichster Art, beispielsweise für WM-Schallplatten und Bücher, das WM-Emblem sowie die WM-Maskottchen Tip und Tap. Außerdem erzielten die Veranstalter noch weitere Einnahmen wie einen Fünfprozentanteil an der Glücksspirale oder einen Achtprozentanteil, den die FIFA aus sämtlichen Spielen erhielt, die die 16 Teilnehmer vier Wochen vor und vier Wochen nach der WM austrugen.
Sämtliche Einnahmen kamen in einen gemeinsamen Topf, aus dem zunächst alle Aufwendungen bestritten wurden. Hierzu zählten der Organisations- und Verwaltungsapparat sowie die Kosten für Funktionäre, Schiedsrichter und vor allem für die 16 Mannschaften. So erhielt jeder teilnehmende Verband Reisekosten für 25 Personen sowie 3000 Mark für Unterkunft und Verpflegung, beginnend vier Tage vor seinem ersten bis zwei Tage nach seinem letzten Spiel. Der verbliebene Gewinn von rund 40 Millionen Mark nach Steuern wurde anhand eines festgelegten Schlüssels aufgeteilt. 65 Prozent des Betrags gingen mit einem Anteil, der sich nach dem jeweiligen Zuschauerzuspruch errechnete, an die Teilnehmerverbände, 10 Prozent an die FIFA und 25 Prozent an den DFB, der somit einen eigenen Gewinn von 10 Millionen Mark verbuchen konnte.
Zuschauer und Stadien
Im Vorfeld der Weltmeisterschaft wurden die Stadien, in denen die Spiele stattfanden, umgebaut oder neu errichtet. Obwohl große Teile der Tribünen seinerzeit nicht überdacht waren und sich die angebotenen Zuschauerplätze überwiegend auf den Stehrängen befanden, gehörten die westdeutschen Stadien damals zu den modernsten der Welt. Insgesamt wurden die 38 Endrundenspiele in den neun Stadien von rund 1,77 Millionen Zuschauern verfolgt. Der größte Teil der Begegnungen war somit nicht ausverkauft, sodass vor Beginn der einzelnen Spiele eine Karte an der Stadionkasse gekauft werden konnte. Die Ticketpreise der Weltmeisterschaft 1974 lagen zwischen 10 und 80 Mark.
Die meisten Zuschauer kamen zu den Spielen der gastgebenden deutschen Mannschaft und zu denen der Niederländer, davon viele, die den kurzen Anfahrtsweg aus dem Nachbarland nutzten. Auch die Spiele der italienischen und jugoslawischen Mannschaft in der Vor- und Zwischenrunde waren gut besucht, da viele in Deutschland lebende Gastarbeiter aus diesen Ländern die Gelegenheit nutzten, um ihre Mannschaft zu unterstützen, auch wenn es nicht zum Weiterkommen reichte. Da viele Westdeutsche mit dem Gruppensieg der westdeutschen Mannschaft gerechnet und sich daher im Vorfeld schon Karten für die entsprechenden Spiele der zweiten Finalrunde gekauft hatten, waren die Spiele der DDR-Mannschaft in der zweiten Finalrunde nahezu ausverkauft. Beim letzten, bedeutungslosen Spiel gegen Argentinien kamen, obwohl 53.000 Karten verkauft worden waren, nur circa 20.000 Zuschauer ins Stadion.
Im Gegensatz zur WM 2006 fehlten die Fanmassen, was auch daran lag, dass für die Fans der drei Mannschaften aus dem damaligen Ostblock (Bulgarien, DDR und Polen) noch Reisebeschränkungen galten und die Kosten für viele zu hoch waren. Dagegen fehlten mit England und Frankreich Mannschaften aus wirtschaftlich weiter entwickelten Ländern, stattdessen nahmen mit Haiti und Zaire zwei Mannschaften aus wirtschaftlich schwachen Ländern teil. Da zudem die WM in eine Schlechtwetterphase fiel und die meisten Stadienplätze noch nicht überdacht waren, blieben zahlreiche neutrale Zuschauer des Gastgeberlandes aus, denn viele Spiele waren nicht attraktiv genug, um sie trotz unsicherer Witterung zu besuchen. So besuchten das Spiel Australien gegen Chile gerade einmal 16.000 Zuschauer. Die Auslastung des Berliner Olympiastadions lag damit bei nur 19,4 %.
Berichterstattung
Neuheit der 1974 in der Bundesrepublik Deutschland stattfindenden 10. Weltmeisterschaft war die erstmalige Übertragung des gesamten Turniers im Farbfernsehen. Weltweit verfolgten rund 900 Millionen Fernsehzuschauer in 112 Ländern die Spiele. Keine Übertragungen gab es beispielsweise in der Sowjetunion und in China. Mit ihrem Verzicht protestierte die Moskauer Regierung vor dem Hintergrund des Militärputsches vom September 1973 gegen die Teilnahme Chiles.
Die weltweiten Übertragungsrechte verkaufte die FIFA für 18 Millionen Mark an die beiden deutschen Fernsehanstalten ARD und ZDF, die sie ihrerseits ins Ausland weiterverkauften. Die Kosten für den technischen Aufwand der Übertragungen beliefen sich auf rund 22 Millionen Mark, von denen ein Teil über die Vermietung von Fernsehstudios oder die Einrichtungen der Sprecherplätze zum Selbstkostenpreis an die angeschlossenen ausländischen Fernsehanstalten weitergegeben wurde. Als für die Durchführung der Fernseh- und Hörfunkproduktion offiziell verantwortliche Gesellschaft (host broadcaster) diente das „Deutsche Olympia Zentrum Radio Television“ (DOZ), ein bereits im Vorfeld der weltweiten Rundfunkberichterstattung von den Olympischen Sommerspielen 1972 von ARD und ZDF gegründeter und gemeinsam geführter Zweckverband.
Die weltweiten Übertragungen begannen rund zehn Minuten vor dem Anpfiff des Spiels. Zunächst wurde – vor allem für die Zuschauer außerhalb Deutschlands – in einem drei Minuten dauernden Film die Stadt, in der das Spiel stattfand, porträtiert. Die letzte Einstellung des Films zeigte das jeweilige Stadion von außen, von dem mit Beginn der Live-Übertragung auf eine Gesamtsicht des nun vollen Stadions umgeschaltet wurde. Die restlichen sieben Minuten zeigten das Einlaufen der Mannschaften, das Abspielen der Nationalhymnen sowie die Platzwahl. Beim Spiel selbst gab es Bilder aus fünf Kamerapositionen: zwei Führungskameras an der Seitenmitte, je eine Kamera hinter den Toren und eine Kamera in Nähe der Trainerbänke.
Fazit
Für die 10. Fußball-Weltmeisterschaft, die 20 Jahre nach dem Wunder von Bern in der Bundesrepublik Deutschland stattfand, erntete der Deutsche Fußballbund als Ausrichter großes Lob der FIFA-Verantwortlichen. So wurde die Weltmeisterschaft in Westdeutschland als ein gutes Turnier erlebt, das die Erwartungen erfüllte. Der scheidende FIFA-Präsident Sir Stanley Rous würdigte die Spiele in allen neun Städten als Erfolg. Kein vorangegangenes WM-Turnier erbrachte so hohe Einnahmen wie die WM 1974, sodass die wirtschaftlich gesteckten Ziele erreicht wurden.
Im Gegensatz zu den „fröhlichen Spielen von München“ zwei Jahre vorher wurde die Weltmeisterschaft 1974 als eher nüchtern und unterkühlt empfunden. Kritiker sprachen von einer nahezu „vollsterilisierten WM […], deren Mannschaften hinter Stacheldraht […] und verrammelten Hoteltüren lebten.“ Verantwortlich hierfür waren die vor dem Hintergrund terroristischer Bedrohungen getroffenen extremen Sicherheitsmaßnahmen, die für einen friedlichen Verlauf der Veranstaltung sorgten.
Ebenfalls zur eher tristen Atmosphäre des Turniers trug der verregnete Sommer im Jahr 1974 bei. Bereits zur Eröffnungsfeier begann eine Regenperiode, die im Regenspiel BR Deutschland gegen Polen in der zweiten Finalrunde gipfelte und erst kurz vor dem Endspiel – das bei strahlendem Sonnenschein ausgetragen wurde – endete. In diesem Zusammenhang steht auch der teilweise schwache Zuschauerzuspruch. Trotz einer Gesamtauslastung der Stadien von rund 73 % – was einen neuen Rekord bei einer Fußball-Weltmeisterschaft darstellte – waren viele Spiele schlecht besucht, sodass die Stimmung in den Stadien unter den leeren Rängen litt.
Sportlich wurde die Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland differenziert bewertet. Experten waren sich einig, dass das Turnier spielerisch ein Rückschritt gegenüber der WM 1970 war. Andererseits waren die Spieler athletischer und flexibler auf ihren Positionen geworden. Mit nur 2,55 Toren pro Spiel brachte die Weltmeisterschaft 1974 einen neuen Minusrekord. Noch nie waren im Schnitt so wenige Tore gefallen.
Die größte Sensation des Turniers war – neben der Niederlage der bundesdeutschen Mannschaft gegen die DDR – das Ausscheiden von Vizeweltmeister Italien in der Vorrunde. Auch die südamerikanischen Mannschaften enttäuschten. Erfreuliche Ausnahme war lediglich die Mannschaft Argentiniens, die in der Vorrunde mit die schönsten Spiele lieferte, in der zweiten Finalrunde jedoch chancenlos war. Schon früh während des Turniers wurde klar, dass der als einer der größten Turnierfavoriten angesehene Titelverteidiger Brasilien nicht mehr die Klasse hatte, die vier Jahre zuvor die Fußballwelt begeisterte. In der zweiten Finalrunde kam das Aus als Gruppenzweiter hinter den Niederländern, allerdings aufgrund des schlechteren direkten Vergleichs. Die „Seleção“ spielte nur noch um Platz drei. Doch selbst Rang drei war den einstigen Zauberern vom Zuckerhut nicht vergönnt, da die begeisternden Polen das kleine Finale für sich entschieden.
Spielerische Glanzpunkte des Turniers setzte vor allem die Mannschaft der Niederlande, die mit Spielern wie Johan Cruyff, Johan Neeskens oder Johnny Rep bereits vor dem Turnier zu den Favoriten gehörte. Mit ihrem als totaalvoetbal oder Fußball total bezeichneten Konzept revolutionierte die niederländische Mannschaft der WM 1974 um Bondscoach Rinus Michels den Fußball der kommenden Jahre. Bei dem von Individualität und Kreativität geprägten 4-3-1-2-Spielsystem schalteten sich alle zehn Feldspieler in Angriff und Verteidigung ein. Verließ ein Spieler seine Position, rückte sofort ein anderer nach. Niemand war an seine Position gebunden, Abwehrspieler gingen in den Sturm, Stürmer halfen in der Defensive aus. So begeisterte die niederländische Mannschaft die Zuschauer und stürmte bis ins Endspiel.
Weltmeister 1974 wurden jedoch andere. Zum zweiten Mal in der Geschichte gewann eine Mannschaft, die im Turnier einmal geschlagen wurde – und zum zweiten Mal hieß diese Mannschaft BR Deutschland. Wie bei der WM 1954, als diese in der Vorrunde gegen Ungarn verlor und schließlich dennoch Weltmeister wurde, zeigte die deutsche Nationalelf, dass sie eine typische „Turniermannschaft“ ist, die sich von Spiel zu Spiel steigern kann. So wuchsen die Spieler erst im Verlauf des Turniers zu einer Mannschaft zusammen. Maßgeblichen Anteil hieran hatte Franz Beckenbauer, der neben seinen weltweit anerkannten Leistungen auf dem Spielfeld auch außerhalb des Platzes Verantwortung übernahm.
Trotz der unveränderten Dominanz von Südamerikanern und vor allem Europäern markierte das Turnier in der Bundesrepublik Deutschland den Beginn einer Wende in der Geschichte der FIFA und des Weltturniers. Zwar war die Bilanz der teilnehmenden „Fußball-Entwicklungsländer“ Zaire, Australien und Haiti mit einem Remis, acht Niederlagen und 2:33 Toren sportlich noch enttäuschend, jedoch wurden im Vorfeld der Weltmeisterschaft mit der Wahl des Brasilianers João Havelange zum ersten nichteuropäischen Präsidenten der FIFA die Weichen für die Zukunft gestellt. Bereits zum Zeitpunkt der WM 1974 bildeten die Länder außerhalb der traditionellen WM-Säulen Europa und Lateinamerika die Mehrheit der FIFA-Mitglieder. Die von Havelange im Wahlkampf eingeschlagene Strategie trug dieser Tatsache Rechnung. Er versprach den „Fußball-Entwicklungsländern“ eine Verdopplung der nichtamerikanischen sowie nichteuropäischen Präsenz beim Weltturnier, Hilfe beim Bau und der Modernisierung von Stadien, technische und medizinische Unterstützung sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität des dortigen Fußballs. Vor allem dies wird als Grund für die Wahl Havelanges angesehen, für dessen Wahl schließlich in erster Linie die Stimmen der Verbände Afrikas und Asiens ausschlaggebend waren. Die 1974 begonnene Entwicklung führte bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien zu einer Aufstockung des Teilnehmerfeldes auf 24 und der versprochenen Verdopplung der afrikanischen, asiatischen sowie nord- und mittelamerikanischen Startplätze. Mit dem erstmaligen Erreichen eines Viertelfinales durch eine afrikanische Mannschaft, nämlich Kamerun, bei der WM 1990 in Italien etablierten sich die früheren „Exoten“ endgültig als ernstzunehmender Bestandteil der Fußball-Weltmeisterschaften.
Literatur
Franz Beckenbauer (Hrsg.): WM 74. Pamir Verlag, Bern 1974
Uli Hoeneß, Paul Breitner, Udo Lattek: Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland. BS-Verlag, Winnenden 1974
Harry Valérien (Hrsg.): Fußball 74 – Weltmeisterschaft. Südwest Verlag, München 1974, ISBN 3-517-00450-2.
Hennes Weisweiler (Hrsg.): X. Fußballweltmeisterschaft Deutschland 1974. C. Bertelsmann Verlag, München [u. a.] 1974, ISBN 3-570-00036-2.
Christoph Biermann et al.: 1974 Deutschland. Süddeutsche Zeitung WM-Bibliothek. Süddeutsche Zeitung, München 2005, ISBN 3-86615-156-X.
FIFA (Hrsg.): FIFA World Cup 1974 – Final Competition – Technical Study (Download PDF)
Kay Schiller: WM 74: Als der Fußball modern wurde. Rotbuch. 1. Aufl. 2014, ISBN 978-3-86789-194-3.
Siehe auch
Liste der Schiedsrichtereinsätze bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974
Weblinks
Offizielle Seite der FIFA zur WM 1974
RSSSF: Statistik WM-Endrunde 1974
Fussballdaten.de:Details zur WM 1974
Indirekter Freistoss: Presseschau
FIFA: Offizieller Technischer Report (13,5 MB / englisch; PDF)
Zusammenfassung des Endspiels auf YouTube
Bildergalerie auf Planet World Cup
The Guardian: Nachbetrachtung (englisch)
Filmothek im Bundesarchiv: Deutschlandspiegel 239/1974 1974: „05. Fußballweltmeisterschaft“
Bemerkungen und Einzelnachweise
1974
Weltmeisterschaft 1974
Fußballveranstaltung 1974 |
118384 | https://de.wikipedia.org/wiki/Cixi | Cixi | Cixi (; * 29. November 1835; † 15. November 1908 in Peking) war eine Nebenfrau des chinesischen Kaisers Xianfeng und wurde zur einflussreichsten Persönlichkeit der späten Qing-Dynastie.
Allgemeines
Von 1861 bis 1872 führte Cixi als „Kaiserinwitwe“ (chin. huángtàihòu, 皇太后) die Regentschaft für ihren Sohn, den minderjährigen Kaiser Tongzhi, und von 1875 bis 1889 für ihren Neffen, den minderjährigen Kaiser Guangxu. 1898 übernahm sie erneut die Regierungsgeschäfte, nachdem sie Guangxu unter einem Vorwand hatte inhaftieren lassen, und behielt die Macht dann bis zu ihrem Tode 1908 inne. Sie regierte damit länger als jede andere Kaiserin. Historisch betrachtet gehört sie zu den zwiespältigsten Personen der chinesischen Geschichte. Innenpolitisch versuchte Cixi ausgleichend zwischen den konservativen und reformorientierten Fraktionen des Hofes zu wirken, um so die Macht des Kaiserhauses erneut zu festigen und das im Niedergang befindliche Land wieder zu stabilisieren. Dabei unterliefen ihr immer wieder schwere Fehleinschätzungen der wirklichen Lage, die etwa in der Katastrophe des Boxeraufstands und einer völlig verspäteten Reformpolitik endeten. Dies hatte auch in der Außenpolitik schwerwiegende Folgen; das technisch rückständige und wirtschaftlich schwer angeschlagene China verlor nun seine Hegemonialstellung in Ostasien.
Der Aufstieg der Cixi von der unbedeutenden Nebenfrau zur einflussreichen Kaiserinwitwe beschäftigte bereits die Phantasie ihrer Zeitgenossen. Ihre Palastkarriere wurde vor allem im Westen mit einem Reigen von Morden, sexuellen Perversionen und Intrigen in Verbindung gebracht. Maßgeblich für dieses Zerrbild ihrer Persönlichkeit war eine bereits 1910 erschienene Biographie von Edmund Backhouse, welche die Kaiserinwitwe als niederträchtige und degenerierte Persönlichkeit schilderte. Romane und Erzählungen des westlichen Kulturkreises griffen dies auf und charakterisieren Cixi als ehrgeizig agierende Frau, die ihre Aufnahme in den kaiserlichen Harem und den Aufstieg innerhalb der Palasthierarchie gezielt plante und betrieb. Zu den bekanntesten ihr Leben so thematisierenden Erzählungen zählt der Roman Das Mädchen Orchidee von Pearl S. Buck.
In den 1970er Jahren wiesen verschiedene Historiker wie Hugh Trevor-Roper nach, dass die chinesischen Quellen, auf die sich Edmund Backhouse stützte, Fälschungen waren. Die moderne Geschichtsschreibung zeichnet heute ein deutlich nüchterneres Bild der letzten Regentin Chinas als Backhouse: Nur weil Cixi den einzigen Sohn des Kaisers gebar, konnte sie innerhalb der Palasthierarchie aufsteigen. Nach der Macht griff sie anscheinend nur, weil Streitigkeiten um die Nachfolge des toten Kaisers sowohl ihr Leben als auch das Leben ihres Kindes in Gefahr brachten.
Leben
Herkunft
Über die Herkunft der späteren chinesischen Regentin ist außer ihrem Geburtsdatum wenig bekannt. So kennt man den Geburtsnamen von Cixi nicht, da es gegen chinesische Umgangsformen verstieß, unmittelbare Mitglieder des kaiserlichen Umfelds mit Namen zu bezeichnen. Während der Zeit, in der man sie als eine der kaiserlichen Nebenfrauen in Betracht zog, wurde sie als „die Dame Yehenara, Tochter des Huizheng“ tituliert. Dies ist jedoch kein Geburtsname, sondern bezeichnet ihre Abstammung aus dem Mandschu-Clan, dem sie angehörte (Yèhè Nālā Shì, 叶赫那拉氏).
Cixi wurde im Jahr 1835 am zehnten Tag des zehnten Mondmonats in Peking als älteste von zwei Töchtern und drei Söhnen geboren. Ihre Familie arbeitete seit Generationen im Dienste des Staates und war dementsprechend wohlhabend und gebildet. Ihr Vater Huizheng war zunächst als Sekretär tätig und wurde später Leiter einer Abteilung des Personalministeriums. Er war ein Mandschu-Adeliger aus der Nara-Sippe (oder Nala), die wiederum Teil der Acht Banner war, welche sich im frühen 17. Jahrhundert im Kampf gegen die Ming-Dynastie ausgezeichnet hatten. Somit stammt Cixi aus einer der angesehensten und ältesten Mandschu-Familien in China. Die Ahnenreihe der Familie lässt sich bis zum Großvater von Nurhaci, dem Begründer der Qing-Dynastie, zurückverfolgen. Über ihre Mutter ist nichts bekannt.
Als Mandschu hatte Cixi das Glück, dass ihre Füße nicht wie bei den Frauen der Han gebunden wurden. Diese alte Tradition sah das Brechen und Einwickeln der Füße im Säuglingsalter vor, damit das Wachstum behindert wird. Sie lernte lesen, besaß jedoch nur unzureichende Kenntnisse im schriftlichen Chinesisch. Dieses kennt kein Alphabet, sondern verwendet zahlreiche komplizierte Ideogramme. Weiterhin lernte sie, wie für eine junge Dame der damaligen Zeit üblich, Schach spielen, sticken und zeichnen. Sie war vielseitig interessiert, lernte schnell und eifrig. Cixi konnte weder Mandschu sprechen noch schreiben, da dies nicht Teil ihrer Ausbildung war. Den Mangel an formaler Bildung konnte sie durch ihre rasche Auffassungsgabe ausgleichen.
Im Jahr 1843, als Cixi sieben Jahre alt wurde, endete der erste Opiumkrieg und China musste hohe Entschädigungen an die Briten zahlen. Da Kaiser Daoguang unbedingt Geld benötigte, mussten Feste und Feierlichkeiten bescheidener ausfallen oder wurden ganz abgesagt. Als der Kaiser eines Tages eine Inspektion der kaiserlichen Schatzkammer in Auftrag gab, fehlten mehr als 9.000.000 Silbertael. Cixis Urgroßvater war einer der zuständigen Aufseher der Schatzkammer und wurde daher zur Rechenschaft gezogen. Seine Strafe belief sich auf 43.200 Tael. Da er bereits gestorben war, wurde Cixis Großvater aufgefordert, die Hälfte der Schulden zu bezahlen. Da er aber nur 1.600 Tael zusammenbringen konnte, musste er ins Gefängnis gehen und hoffte darauf, dass es Cixis Vater möglich sei, die Schulden zu bezahlen. Das Leben der Familie wurde somit auf eine harte Probe gestellt. Später erzählte Cixi ihren Hofdamen, dass sie mit Näharbeiten Geld dazuverdienen musste. Da sie das älteste Kind der Familie war, sprach ihr Vater ganz offen mit ihr über die schwierige Situation. Sie gab ihm dabei wohlüberlegte Vorschläge, wie man Geld eintreiben konnte, und gemeinsam erreichten sie die notwendige Summe zur Freilassung des Großvaters. In den Annalen der Familie findet man folgendes Kompliment des Vaters an seine Tochter:
Da ihr Vater sie wie einen Sohn sah, sprach er mit ihr über Dinge, die für Frauen eigentlich Tabu waren. Somit erlangte Cixi Einblicke in Staatsangelegenheiten, welche ihr lebenslanges Interesse prägten. Nach der Begleichung der Schuld des Großvaters wurde Huizheng 1849 zum Gouverneur einer mongolischen Region ernannt. Im Sommer des gleichen Jahres verließ Cixi zum ersten Mal Peking und die Familie ließ sich in Hohhot nieder. Die Eindrücke der frischen Luft und der Natur prägten ihr ganzes Leben.
Die Aufnahme in den Harem
Als im Februar 1850 Kaiser Doaguang starb, wurde sein 19-jähriger Sohn als Kaiser Xianfeng Nachfolger. Kurz nach der Krönung begann die Suche nach geeigneten Gemahlinnen im ganzen Land.
Der Harem eines chinesischen Kaisers im 19. Jahrhundert setzte sich aus einer Kaiserin, zwei Gemahlinnen, elf Nebenfrauen und zahlreichen Konkubinen zusammen. Die Nebenfrauen wiederum waren in unterschiedliche Ränge unterteilt. Der Großteil der Frauen des kaiserlichen Harems stammte aus Familien der Acht Banner, wies also entweder eine Mandschu-, Mongolen- oder Han-Abstammung auf. Manchmal wurden auch Koreanerinnen und Angehörige von Turkvölkern in den Harem aufgenommen. Die Auswahl der Gemahlinnen und Nebenfrauen erfolgte nicht durch den amtierenden Kaiser, sondern in der Regel durch die Witwe des vorherigen Kaisers. Die Nebenfrauen wurden dabei aus einer Reihe gerade geschlechtsreif gewordener Mädchen gewählt, die von den Ältesten der Clans vorgeschlagen wurden. Die Chance für eine Clanangehörige, auf diesem Weg zu einer einflussreichen Persönlichkeit des chinesischen Hofes zu werden, war nicht sehr hoch. Erreichte sie jedoch eine solche Position, stärkte das den Einfluss ihres Clans.
Cixi zählte zu den vermutlich zwanzig bis dreißig jungen Mandschu-Frauen, die man nach einer entsprechenden Vorauswahl 1851 der Kaiserinwitwe Xiao Jing Chen als mögliche Nebenfrauen für den 19-jährigen Kaiser Xianfeng nach Peking bestellte. Cixi kehrte zurück in das alte Haus ihrer Familie und wartete dort auf den Tag, an dem die Kandidatinnen dem Kaiser vorgestellt werden. Die Entscheidung sollte im März 1852 stattfinden. Einen Tag vor dem Datum wurde Cixi mit einem Mauleselwagen abgeholt. Obwohl diese Wagen mit Matratzen und Kissen ausgestattet waren, waren sie sehr unbequem. Die Wagen aller ausgewählten Kandidatinnen sammelten sich am Hintereingang im Norden der Verbotenen Stadt (der südliche Eingang war für Frauen verboten) und fuhren in einer entsprechenden Reihenfolge in die Kaiserstadt. Dort blieben sie im nördlichen Bezirk über Nacht und warteten in ihrem unbequemen Wagen bis zum Morgengrauen. Erst als sich mit dem ersten Sonnenstrahl die Tore öffneten, konnten sie aussteigen und wurden von Eunuchen in die Halle gebracht, wo sie Hofbeamte für den Kaiser untersuchten und auswählten. Dann wurden sie in einer Reihe vor den Kaiser gestellt. An der Auswahl waren neben der Kaiserinwitwe auch Hofdamen und Eunuchen beteiligt. Zu den Auswahlkriterien, anhand derer man unter den Kandidatinnen die zukünftigen Konkubinen wählte, zählten Gesundheit, Umgangsformen, emotionale Ausgeglichenheit, Grundkenntnisse der chinesischen und der mandschurischen Sprache sowie eine Auswertung des Horoskopes. Lese- und Schreibkenntnisse waren dagegen keine Voraussetzungen für eine Aufnahme in den Harem. Die Mädchen durften außerdem nicht bestimmte Körpermerkmale wie beispielsweise unregelmäßige Zähne oder einen langen Hals aufweisen.
Cixi war nicht besonders schön, aber ihre ausdrucksstarken und strahlenden Augen machten großen Eindruck auf den Kaiser. Sie kam in die engere Wahl und musste über Nacht weitere Prüfungen absolvieren. Cixi wurde unter Hunderten zusammen mit vier weiteren Mädchen ausgewählt. Ein Jahr durfte sie sich daheim auf ihre zukünftige Rolle als kaiserliche Nebenfrau vorbereiten. Das zweite Vorbereitungsjahr, das am 26. Juni 1852 nach der zweijährigen obligatorischen Trauerzeit begann, fand innerhalb der Verbotenen Stadt statt, wo Cixi mit den Anforderungen des Hofzeremoniells vertraut gemacht wurde. Sie war eine Konkubine der sechsten Stufe und gehörte somit dem niedrigsten Rang an. Beim Einzug in den Palast bekam sie den Namen Lan (Magnolie oder Orchidee). Vermutlich ist das eine Ableitung ihres Familiennamens Nala (auch Nalan geschrieben). Erst 1854 stieg Cixi, vermutlich mit der Hilfe von Kaiserin Zhen (später Kaiserin Ci’an), von der sechsten in die fünfte Stufe auf und erhielt den Hofnamen Konkubine Yi (懿; tugendhaft, züchtig).
Leben im Harem
Der Umgang des Kaisers mit seiner Kaiserin, seinen zwei Gemahlinnen oder Nebenfrauen sowie den übrigen Konkubinen unterlag einer Reihe traditioneller Regeln. Diese sollten sicherstellen, dass der Kaiser regelmäßig mit einer großen Anzahl der Haremsfrauen Geschlechtsverkehr hatte und einmal im Monat mit der Kaiserin verkehrte. Jede sexuelle Begegnung zwischen dem Kaiser und einer der Haremsangehörigen wurde in Listen notiert. Der Kaiser musste auf einer Bambustafel, welche ihm vom Obereunuchen beim Abendessen überreicht wurde, seine Partnerin für die Nacht notieren. Laut Gesetz des Hofes war es verboten, dass der Kaiser bei einer seiner Frauen schlief, deswegen mussten die Frauen zu ihm kommen. Nach der Legende wurde eine Frau nur in Seide gehüllt von einem Eunuchen zum Kaiser getragen und musste nach dem Geschlechtsverkehr wieder in den Harem zurückkehren, da es ihr nicht erlaubt war, beim Kaiser zu übernachten. Die konfuzianischen Regeln schrieben auch vor, dass der Kaiser eine dreijährige (laut Jung Chang zweijährige) Trauerzeit für seinen 1850 verstorbenen Vater Daoguang einzuhalten habe. Während dieser Zeit durften seinem Harem keine neuen Frauen zugeführt werden. Er hatte sich außerdem gegenüber seinen bestehenden Frauen sexuell zurückzuhalten: Wäre er in dieser Zeit Vater geworden, wäre dies als ein solcher Mangel an kindlicher Pietät gegenüber seinem Vater gewertet worden, dass dies nach konfuzianischem Verständnis seine Fähigkeit als Kaiser in Frage gestellt hätte. Erst ab Februar 1853 konnte Kaiser Xianfeng daher wieder sexuellen Umgang mit seinen Frauen pflegen.
Jede Konkubine hatte eine kleine Wohnung, doch nur der Kaiserin stand ein eigener Palast zu. Im Harem galten strenge Regeln, z. B. wurde vorgeschrieben, welche Gegenstände sich in den Zimmern der Konkubinen befinden, welche Kleider sie tragen und welches Essen sie essen sollten. Da Cixi zur rangniedrigsten Gruppe (Stufe sechs bis acht) gehörte, hatte sie nur Anrecht auf 3 kg Fleisch am Tag. Eine Kaiserin hingegen konnte 13 kg Fleisch, eine Ente, ein Huhn, 12 Krüge Wasser, 10 Päckchen Tee, unterschiedliche Gemüse- und Getreidesorten und die Milch von 25 Kühen in Anspruch nehmen.
Während der Harem tatsächlich erst 1853 (oder schon 1852) erweitert wurde, verstieß Kaiser Xianfeng gegen die traditionellen Regeln insoweit, als er unter seinen Frauen eine Konkubine mit dem Namen Zhen (貞嬪, „Reinheit“) in den ersten Rang als seine Kaiserin erhob. Sie war wie Cixi an den Hof als Konkubine gekommen, wurde aber gleich in den fünften Rang erhoben. Sie war unscheinbar und kränklich und deswegen nannte man sie »zerbrechlicher Phönix«. Zhen hatte als Kaiserin die wichtige Aufgabe, den Harem zu leiten, welche sie meisterhaft erfüllte, denn unter ihrer Führung gab es keine Boshaftigkeiten und Lästereien. Anfangs deutete nichts darauf hin, dass Cixi vom Kaiser als Konkubine bevorzugt wurde und zwei Jahre lang zeigte er kein sexuelles Interesse an ihr.
Als ihr Vater während des Taiping-Aufstands im Sommer 1853 erkrankte und kurz darauf starb, war sie tief berührt und entschied sich dafür, dem Kaiser Vorschläge für eine angemessene Reaktion auf die Unruhen zu unterbreiten. Diese Einmischung gefiel dem Kaiser überhaupt nicht, da Cixi eine Grundregel verletzt hatte. Auch äußerte er die Besorgnis, dass sie sich nach seinem Tod zu sehr in Staatsangelegenheiten einmischen könnte. Es wurde ein Erlass angefertigt, der die Beseitigung der Konkubine vorsah, falls diese Situation eintreten sollte. Doch er wurde später von der Kaiserin Zhen in Beisein von Cixi verbrannt. Von diesem Zeitpunkt an übte sich die Konkubine niedrigen Ranges in Schweigsamkeit.
Li Fei (laut Jung Chang „eine[.] Konkubine“) wurde recht bald schwanger und gebar ein Mädchen, das als solches keinerlei Einfluss auf die dynastische Thronfolge hatte. Von dem Zeitpunkt, an dem die Schwangerschaft festgestellt wurde, bis 100 Tage nach der Geburt hatte der Kaiser sexuelle Enthaltsamkeit gegenüber der Schwangeren zu üben. In dieser Zeit wandte er sich anderen Haremsdamen zu und hatte unter anderem auch Umgang mit der mittlerweile zwanzigjährigen Cixi, die zur neuen Favoritin wurde. Diese Rolle hatte sie inne, bis im Spätsommer 1855 sichtbar wurde, dass sie schwanger war; ab dann hatte der Kaiser ihr gegenüber enthaltsam zu sein.
Rolle als Mutter
Cixi brachte am 27. April 1856 im Neuen Sommerpalast ihren Sohn Zaichun, den späteren Kaiser Tongzhi, zur Welt. Er sollte der einzige Sohn des Kaisers bleiben. 1859 gebar die Favoritin Li Fei zwar einen weiteren Sohn, er lebte jedoch nur kurze Zeit.
Den Rang einer offiziellen Mutter hatte nicht Cixi, sondern die Kaiserin Ci’an (Zhen) inne. Cixi war auch nicht in die Erziehung des Kindes involviert, das von Ammen gestillt wurde und um das sich Eunuchen kümmerten. Kontakte zwischen der leiblichen Mutter und ihrem Sohn gab es nur bei offiziellen Anlässen. Cixi äußerte sich später, dass dies häufig zu Auseinandersetzungen mit der Kaiserin führte. Mit der Geburt änderte sich allerdings der Rang von Cixi innerhalb der Palasthierarchie. Genau wie Li Fei nach der Geburt ihrer Tochter wurde auch Cixi in den Rang einer Nebenfrau ersten Ranges befördert und war damit nur noch der Kaiserin Ci’an (Zhen) nachgeordnet. Der Titel, den sie mit ihrer Erhöhung erhielt, lautete Yi Guifei (懿貴妃) oder „Edle Kaiserliche Gemahlin Yi“.
Der Aufstieg innerhalb der Palasthierarchie bedeutete für Cixi auch, großzügigere Gemächer beziehen zu dürfen. Dort verbrachte Cixi ihre Zeit damit, zu sticken, mit Pekinesen zu spielen, traditionelle chinesische Malerei zu praktizieren oder den Gelehrten der Hanlin-Akademie zuzuhören, die den Haremsangehörigen als Hauslehrer zur Verfügung standen. Erhalten gebliebene Aquarelle belegen, dass Cixi eine begabte Amateurmalerin war. Inwieweit Cixi sich auch mit den aktuellen Ereignissen beschäftigte, ist unbekannt.
Die Flucht nach Jehol
China durchlitt zu jener Zeit eine Reihe von Konflikten mit westlichen Mächten. Insbesondere Großbritannien, das 1858 siegreich aus dem Indischen Aufstand hervorgegangen war, betrieb eine aggressive Kanonenbootpolitik, um seine kommerziellen Interessen in China durchzusetzen: Die Erträge aus dem in Bengalen angebauten Opium, das in China verkauft wurde, waren notwendig, um die britische Herrschaft in Indien zu finanzieren. Dies führte letztlich zum Zweiten Opiumkrieg. Mit dem Vertrag von Tianjin aus dem Jahre 1858 erzwangen Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA
die Öffnung weiterer Vertragshäfen sowie,
dass die westlichen Mächte Opium in China verkaufen konnten,
dass Ausländer ins Innere des Reiches reisen und
dass protestantische und katholische Geistliche im Landesinneren missionieren durften.
Aus nichtigem Anlass griffen die westlichen Alliierten China 1860 erneut an. Dabei erlitten sie vor der Festung Taku zunächst eine Niederlage, worauf Lord Elgin im Sommer 1860 eine zweite Strafexpedition nach China entsandte. Diese eroberte die Festung Taku, drang bis nach Peking vor, besiegte dort ein mongolisches Heer und plünderte anschließend den im Nordwesten von Peking gelegenen Alten Sommerpalast und brannte ihn nieder.
Der kaiserliche Hofstaat hatte nach der Niederlage des mongolischen Heeres vor den Toren Pekings überstürzt den Sommerpalast verlassen und war zu dem in der Nähe der Chinesischen Mauer gelegenen Palast von Jehol geflohen. Zu den Fliehenden zählten der Kaiser und die Kaiserin Ci’an, Cixi, ihr mittlerweile vier Jahre alter Sohn, Li Fei, die Prinzen Yi und Cheng sowie der Hofbeamte Sushun und insgesamt 6000 Eunuchen. In Peking blieb Xianfengs Halbbruder Prinz Gong zurück, der mit den westlichen Alliierten verhandeln sollte. Kaiser Xianfeng dagegen stellte sich nicht dem Konflikt mit den westlichen Alliierten, sondern suchte vorrangig Ablenkung in Trinkgelagen mit Mitgliedern der konservativen Achterbande um den Hofbeamten Sushun sowie seiner Favoritin Li Fei. Dies war begleitet von einem zunehmenden geistigen und körperlichen Verfall. Cixi hatte wie zuvor in Peking keinen Einfluss auf den Kaiser und wurde in der Regel nicht zu ihm vorgelassen. Der Historiker Sterling Seagrave weist aber auf ein Ereignis kurz nach der Ankunft in Jehol hin, das Cixis Handeln nach dem Tod des Kaisers entscheidend geprägt haben dürfte: Durch einen Zufall wurde Cixi eines Nachts Augenzeugin, wie der einflussreiche Hofbeamte Sushun sich auf dem kaiserlichen Thron niederließ und sich von seinem Obereunuchen eine Mahlzeit auf kaiserlichem Porzellan servieren ließ. Das war in mehrfacher Hinsicht ein so extremer Verstoß gegen die Etikette des kaiserlichen Hofes, dass Sushun sein Leben riskierte, und ein starkes Indiz dafür, dass Sushun wahrscheinlich plante, sich nach dem Tod des Kaisers entweder selbst zum Kaiser auszurufen oder mittels Marionettenherrscher als Regent die Macht auszuüben. Dass Cixis Sohn dagegen der von Sushun geplante Marionettenherrscher war, erschien unwahrscheinlich, da Sushun bereits verkündet hatte, dass Xianfeng nicht seinen Sohn als Thronfolger bestimmt hatte. Das bedeutete, dass Cixis Leben und das ihres Sohnes bedroht waren.
Die kaiserliche Nachfolge
In der Regel ernannte der amtierende Kaiser einen seiner Söhne oder – in Ausnahmefällen – einen Neffen zum Nachfolger. Die Ernennung des Thronerben musste keineswegs durch eine Verlautbarung geschehen. Tradition des kaiserlichen Hofes war es, den Namen des designierten Nachfolgers in einem stets verschlossenen Kästchen aufzubewahren. Gab es dagegen keinen designierten Nachfolger, oblag es der Kaiserinwitwe in Absprache mit den ranghöchsten Personen des Herrscherhauses, einen geeigneten Kandidaten zu bestimmen.
Xianfengs Gesundheitszustand hatte sich seit der Ankunft in Jehol stetig verschlechtert. Ende August 1861 war er so krank, dass sein Zustand als kritisch galt. Der sterbende Kaiser hatte bereits einen aus acht Personen bestehenden konservativen Regentschaftsrat um den einflussreichen Sushun gebildet. Kein Mitglied des Regentschaftsrates gehörte der direkten kaiserlichen Linie an und alle Brüder des Kaisers waren übergangen worden. Sushun hatte auch bereits die Anordnung gegeben, das versiegelte Kästchen zu öffnen, in dem eigentlich der Name des Thronfolgers hinterlegt sein sollte. Es erwies sich in diesem Fall als leer.
Cixi war wiederholt der Zugang zum Kaiser mit dem Hinweis verwehrt worden, der Kaiser sei zu krank, um andere Personen als seine Minister zu empfangen. Mit ihrem Sohn auf dem Arm gelang es ihr jedoch, sich am 22. August 1861 Zugang ins kaiserliche Schlafgemach zu erzwingen, wo zahlreiche Personen des Hofstaates versammelt waren. Dort rief sie zweimal den sterbenden Kaiser an und hielt ihm seinen einzigen Sohn hin. Mit dem versammelten Hofstaat als Zeugen bestimmte der Kaiser wenige Minuten vor seinem Tod seinen Sohn mündlich zum Nachfolger und die Kaiserin Ci’an sowie Cixi als Regentinnen.
Da so viele Hofbeamte anwesend waren, als Xianfeng seinen Sohn zum nächsten Kaiser bestimmte, musste sich Sushun dieser Verfügung beugen. Er setzte sich dagegen zunächst über die Ernennung der Kaiserin Ci’an und der Kaisermutter Cixi als Regentinnen hinweg. Gegenüber dem Hofstaat wurde das damit begründet, dass die Ernennung des Regentschaftsrates bei vollem Bewusstsein erfolgte, während der sterbende Kaiser nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen sei, als er die Kaiserin und Cixi zu Regentinnen bestimmte. Offizielle Dokumente des Palastes belegen, dass Cixi daraufhin Sushun selbstbewusst zur Rede stellte und zunächst die ihr nach chinesischer Tradition zustehende Ernennung zur Kaiserinwitwe durchsetzte. Ab dem 23. August 1861 war sie damit ranggleich mit der Kaiserinwitwe Ci’an und nahm nun den Ehrennamen Cíxǐ („Barmherzige Freude“) an, unter dem sie bis heute bekannt ist. Cixi setzte auch durch, dass sowohl Ci’an als auch sie jeweils ein kaiserliches Siegel erhielten. Ohne den Abdruck dieser beiden Siegel war kein Dekret des Regentschaftsrates rechtsgültig. Die Position der in Jehol isolierten Kaiserwitwen wurde noch weiter gestärkt, als die an den Kaiser gerichteten Denkschriften der Mandarine aus dem ganzen Reich an diese beiden adressiert waren. Nach konfuzianischem Verständnis waren die Kaiserwitwen die Hüter des kindlichen Kaisers, die Bewahrerinnen des kaiserlichen Siegels und die Verwalterinnen des Staates. Mit ihren Schreiben machten Militärs und Zivilbeamte ihre Anerkennung der Autorität der beiden Witwen aktenkundig.
Einen wichtigen Unterstützer hatten die beiden Kaiserinwitwen in Prinz Gong, einem Halbbruder des Kaisers, den Sushun während der Krankheit des Kaisers erfolgreich aus Jehol fernhalten konnte. Die Hofetikette verlangte aber, dass der Prinz seine Ehrerbietung gegenüber dem kaiserlichen Leichnam erwies. Prinz Gong gelang es während seines Besuches in Jehol, die beiden Kaiserinwitwen in sein Vorhaben einzubinden, Sushun zu stürzen. Der Sturz Sushuns wurde eingeleitet, als hohe Mandarine in Denkschriften die beiden Kaiserinwitwen baten, anstelle von Sushun und seinem Regentschaftsrat die direkte Verwaltung des Reiches als Regentinnen einzunehmen und sich in ihrer Regentschaft von einem oder zwei der kaiserlichen Prinzen unterstützen zu lassen. Sushun reagierte darauf mit einem Dekret, das eine Regentschaft durch die zwei Frauen verwarf. Sowohl Cixi als auch Ci’an weigerten sich zunächst, dieses Dekret zu siegeln, wodurch es nicht rechtskräftig war. Sushun erzwang schließlich die Siegelung durch die beiden Kaiserinwitwen, indem er Gelder sperrte, die für die kaiserliche Hofhaltung notwendig waren, und die beiden Kaiserinwitwen mit ihrem Gefolge in den Gemächern einsperren ließ, wo sie so schlecht versorgt waren, dass sie Hunger und Durst litten. Vermutlich ging Sushun davon aus, mit diesem Dekret den Machtkampf für sich entschieden zu haben.
Der Tradition entsprechend musste der junge Kaiser vor dem Leichenzug in Peking eintreffen. Dies machte es notwendig, dass der Hofstaat in zwei getrennten Prozessionen nach Peking zurückkehrte, und schuf damit die Voraussetzungen dafür, dass die Kaiserinwitwen und der kindliche Kaiser sich der unmittelbaren Kontrolle durch Sushun entzogen. Während Sushun und fünf weitere Mitglieder des Regentschaftsrates den Sarg des verstorbenen Kaisers in der traditionellen Trauerprozession nach Peking begleiteten, kehrten Cixi und Ci’an sowie zwei Mitglieder des Regentschaftsrates vor der Prozession gemeinsam mit dem jungen Kaiser nach Peking zurück. Ihre Militäreskorte wurde von einem Prinz Gong ergebenen General geleitet, der sicherstellte, dass dieser Teil des Hofstaates statt zehn nur sechs Tage für die Reise benötigte und damit drei Tage vor Sushun in Peking eintraf. Bereits am nächsten Tag siegelten die beiden Kaiserinwitwen ein Dekret im Namen des kindlichen Kaisers, das die Verhaftung der Mitglieder des Regentschaftsrates anordnete und das Dekret, mit dem der Regentschaftsrat seine Ernennung begründete, zur Fälschung erklärte. Eine dem Prinzen Gong ergebene Kavallerietruppe nahm die Regenten gefangen. Sushun wurde zunächst zum Tod durch hundert Schnitte verurteilt und dann zur Enthauptung begnadigt. Zwei hochrangige Adelige des Regentschaftsrates wurden zum Selbstmord gezwungen; den übrigen wurden ihre Ränge und Auszeichnungen abgesprochen, sie wurden an entlegene Orte des Reiches verbannt.
Regentinnen
Die lange chinesische Geschichte weist nur wenige Regentinnen auf. Zu den bekanntesten zählt Han-Kaiserin Lü Zhi, die um 185 v. Chr. kaiserliche Edikte in eigenem Namen erließ sowie Tang-Kaiserin Wu Zetian (625–705), die vierzig Jahre lang teils hinter den Kulissen, teils direkt regiert hatte. Die meisten Regentinnen herrschten nur für eine kurze Übergangszeit, bis der Nachfolger eines verstorbenen Kaisers ein bestimmtes Mindestalter erreicht hatte. Die weiblichen Mitglieder eines kaiserlichen Harems erwarben entsprechend auch keinerlei Erfahrung, die sie auch nur annähernd darauf vorbereitet hätte, als Regentin zu agieren. Dies gilt auch für Cixi und Ci’an. Sie hatten außerdem nur wenig Kenntnisse über Ereignisse, die sich außerhalb des unmittelbaren Palastbereiches abspielten. Die eigentliche Machtausübung lag bei Prinz Gong als regierendem Prinzregenten, der als solcher auch dem Großen Rat vorsaß, und den sechs bis sieben Audienzministern, an deren Spitze Gongs jüngerer Bruder Prinz Chun I. stand. Die Audienzminister hatten unmittelbaren Zugang zum jungen Kaiser und galten als diejenigen, die den Kaiser am leichtesten beeinflussen konnten und daher den größten Teil der Macht innehatten.
1872 war Kaiser Tongzhi mit 16 Jahren alt genug, um die Regierungsgeschäfte offiziell zu übernehmen. Gegen den Willen seiner Mutter wählte er aus den ihm vorgeschlagenen jungen Frauen eine enge Verwandte der Kaiserinwitwe Ci’an zu seiner Kaiserin. Der junge Kaiser zeigte allerdings wenig Interesse und Begabung für die Politik. Statt seiner nahmen seine Mutter sowie Prinzen und Beamte die Regierungsgeschäfte wahr. Sein Versuch, im Herbst 1874 die Prinzen Gong und Chun zu entlassen, wurde von den Kaiserinwitwen verhindert. Wenig später gab der Hof bekannt, der Kaiser sei an Pocken erkrankt. Die Kaiserinwitwen übernahmen wieder offiziell die Regierung. Im Januar 1875 starb Cixis Sohn, der sich vermutlich in einem Bordell mit Syphilis angesteckt hatte. Er hinterließ keinen männlichen Erben. Die Kaiserin starb zwei Monate später.
Die Erbfolge war erneut ungeregelt, da Tongzhi keinen Nachfolger bestimmt hatte. Die Kaiserinwitwen hatten daher unter den kaiserlichen Prinzen einen Thronnachfolger zu wählen. Letztlich setzte sich Cixi durch und verstieß damit zugleich gegen jede althergebrachte Tradition. Sie ernannte statt eines älteren Mitglieds der Kaiserfamilie, das eigentlich unbedingten Vorrang gehabt hätte, ihren minderjährigen Neffen, Sohn ihrer Schwester Rong mit dem Prinzen Chun I., zum Kaiser. Damit machte sie unter dem Äranamen Guangxu erneut ein Kind zum „Sohn des Himmels“ und wurde wiederum Herrscherin über das Reich der Mitte mit der Kaiserinwitwe Ci’an an ihrer Seite. Letztere spielte jedoch kaum noch eine Rolle und überließ Cixi praktisch uneingeschränkt die Macht als „Regentin hinter dem Vorhang“. Ci’an starb 1881.
Reform und Restauration
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es immer spürbarer, dass sich China dem Westen gegenüber auf wirtschaftlichem, technologischem und militärischem Gebiet erheblich im Rückstand befand. Vielfach wurden daher von der Bevölkerung, insbesondere aber von den intellektuellen Eliten, entsprechende Reformen gefordert.
Während ihrer ersten Regentschaft betonte Cixi zwar die Überlegenheit Chinas in weltanschaulichen und moralischen Dingen und forderte eine Besinnung auf seine konfuzianischen Traditionen (die sog. Tongzhi-Restauration, benannt nach dem amtierenden Kaiser). Gleichwohl erkannte sie durch das Zureden ihrer Vertrauten Prinz Gong und Zeng Guofan langsam den Nachholbedarf des Landes auf praktischem Gebiet und damit die Notwendigkeit entsprechender Reformen (sogenannte Selbststärkungsbewegung). So förderte die Staatsspitze gezielt das Studium ausländischer Kulturen, Sprachen und Technologien, insbesondere durch Gründung entsprechender Fachschulen in Peking, Shanghai und Guangzhou, aber auch dadurch, dass man junge Chinesen zum Studium ins Ausland schickte. Ferner wurden vor allem in den Provinzen Jiangsu und Fujian erste Schiffswerften, Arsenale und Waffenfabriken errichtet. 1868 lief in Mawei das erste chinesische Dampfschiff vom Stapel, 1872 wurde die erste chinesische Dampfschiffgesellschaft gegründet.
Ab der zweiten Regentschaft wich Cixis Reformbereitschaft indes einem geradezu reaktionären, starrköpfigen Konservatismus, der sich eventuell mit dem Ableben ihres engen Beraters Zeng 1872 erklären lässt. Mit Prinz Gong überwarf sie sich, weil er vom Neubau des Sommerpalastes abriet. Zur neuen Generation von Reformern fand Cixi keinen Anschluss, stattdessen sammelten sie sich um den jungen Kaiser Guangxu. Dieser war 1889 volljährig geworden, woraufhin sich Cixi von der Politik weitestgehend zurückzog. Der Kaiser zeigte sich tief beeindruckt von der Meiji-Restauration in Japan und suchte sie für sein Land zu kopieren. Unter Beratung fähiger Hofbeamter, angeführt von Kang Youwei und Liang Qichao, rief er 1898 ein groß angelegtes Reformprogramm (die sog. Hundert-Tage-Reform) aus. Er wollte damit eine grundsätzliche Revision der überkommenen, konfuzianisch geprägten Strukturen seines Landes erwirken. Er unterschätzte aber den Widerstand der konservativen herrschenden Schichten, die in dem Reformprogramm eine Bedrohung ihrer Stellung sahen. Sie intervenierten bei Cixi und erklärten ihr, dass die Reformen dem Reich und der Dynastie schweren Schaden zufügen würden. Letztlich schenkte sie den Reformverweigerern Glauben und schritt gegen die Reformpolitik des Kaisers ein, was sich als fatal für die Zukunft des Landes und des Kaiserhauses erweisen sollte. Mit der Unterstützung des Militärbefehlshabers Yuan Shikai riss sie die Macht staatsstreichartig an sich, stellte ihren Neffen unter Hausarrest und übernahm faktisch zum dritten Mal die Regentschaft.
Erst nach der Niederschlagung des Boxeraufstandes durch die Fremdmächte erkannte Cixi, wie tiefgreifend notwendig eine Modernisierung Chinas nach westlichem Vorbild war: Ab 1903 begann sie zaghaft mit Reformen auf wirtschaftlichem Gebiet (Gründung eines Handelsministeriums, Reform der Zollverwaltung), des Rechtswesens (Abschaffung der Folter und der Hinrichtung durch Zerstückelung) und des Bildungswesens (Einführung von Prüfungen in Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften; Abschaffung der Beamtenprüfungen alten Stils). Für 1917 kündigte sie sogar die Einführung einer konstitutionellen Monarchie nach europäischem Vorbild an. Den Untergang der Qing-Dynastie vermochte dies freilich nicht mehr aufzuhalten. Die Reformen kamen viel zu spät und das Volk hatte mittlerweile das Vertrauen in die Qing-Regierung fast vollständig verloren. Die Grundlagen für die Xinhai-Revolution von 1911 waren unausweichlich gelegt. Cixi erlebte dies nicht mehr; sie starb am 15. November 1908.
Innenpolitische Unruhen
Cixis gesamte Wirkungsperiode war von erheblichen innenpolitischen Unruhen geprägt: Der Taiping-Aufstand wurde mit der Eroberung Nanjings durch Regierungstruppen im Jahre 1864 endgültig niedergeschlagen. 1866 nutzte ein gewisser Jakub Bek die Dunganenaufstände in Chinesisch-Turkestan aus, um ein Regime namens Jetti-Schahr zu errichten. Es konnte erst 1877 von General Zuo Zongtang beseitigt werden; fünf Jahre später erhielt das Gebiet unter dem Namen Xinjiang den Status einer Autonomen Region. Dazu kamen Volksaufstände in mehreren Provinzen, etwa 1865 in Gansu.
Während Cixis dritter Regentschaft kam es aus Protest gegen ihre zunehmend reaktionäre Politik landesweit zu subversiven Tätigkeiten mehrerer Geheimgesellschaften (beispielsweise „Faustkämpfer für Recht und Einigkeit“), die im Westen traditionell vereinfachend als „Boxer“ zusammengefasst werden. Cixi gelang es, diese ihrer Dynastie geltende Aggression auf die Fremdmächte umzulenken, was 1900 zum Boxeraufstand führte. Die Boxer zerschlugen aufgrund weit verbreiteter Erwerbslosigkeit durch Importwaren fremde Maschinen und technische Einrichtungen. Am 11. Januar 1900 erlaubte die Kaiserin die Boxerbewegung, die bereits die Hauptstadt erfasst hatte: Wenn friedliche und gesetzestreue Menschen ihre Fertigkeiten in mechanischen Künsten üben, um sich und ihre Familien zu erhalten, steht das im Einklang mit dem Prinzip: „Auf der Hut sein und sich gegenseitig helfen.“ Auf eine gefälschte Depesche hin setzte sie am 19. Juni 1900 ein Kopfgeld auf jeden getöteten Fremden, gleichgültig ob Mann, Frau oder Kind, aus. Ihre Truppen beteiligten sich an der Belagerung des Gesandtschaftsviertels. Hierbei wäre es wohl zu einem Massaker an den Eingeschlossenen gekommen, wenn nicht der einflussreiche General Ronglu das Vorgehen missbilligt und daher die Herausgabe der Artillerie verweigert hätte. Als die europäischen Entsatztruppen am 14. August 1900 die kaiserliche Hauptstadt erreichten, floh Cixi mit ihrem Hof, in der Verkleidung einfacher Leute, aus der Stadt in den Schutz der mandschurischen Garnison von Xi’an nach Zentralchina.
Am 7. Januar 1902 kehrte sie als Regentin nach Peking zurück, nachdem sich Vizekönig Li Hongzhang mit den Europäern über das weitere Vorgehen geeinigt hatte. Nun wechselte sie die politische Seite und distanzierte sich von den Boxern. Sie ordnete eine Bestrafung von deren Führern und der sogenannten „Eisenhüte“ an, d. h. der anti-europäisch und bereit zum Krieg eingestellten Mandschu-Elite.
Angesichts der offensichtlichen militärischen Schwäche und der Gefährlichkeit jeglicher Modernisierung für die Dynastie und trotz der drückenden Schulden aufgrund des Boxerprotokolls setzte Cixi alle verfügbaren Mittel nun dazu ein, zumindest die kaiserliche Pracht wieder zu entfalten. So wurde der Neue Sommerpalast wiederaufgebaut, der von den europäischen Mächten als Strafmaßnahme anlässlich des Boxeraufstandes zerstört worden war. Hierzu nutzte sie allerdings Gelder, die eigentlich für den Wiederaufbau einer modernen Kriegsflotte vorgesehen waren. Diese Zweckentfremdung schwächte die militärische Schlagkraft Chinas zur See weiter.
Verhältnis zu den Fremdmächten
In Cixis Zeit fällt die durch den Vertrag von Tianjin von 1858 erzwungene Aufnahme diplomatischer Beziehungen Chinas mit westlichen Staaten und die Errichtung des chinesischen Außenamts, des Zongli Yamen. Nachdem bereits 1860 die Fremdmächte Vertretungen in Peking eröffnet hatten, wurde am 21. Januar 1877 in London die erste chinesische Botschaft in Europa gegründet. Noch im selben Jahr folgten das Deutsche Reich und Japan, 1878 Russland und die USA, 1895 Frankreich, 1902 schließlich Italien, Österreich, Belgien und die Niederlande.
Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ausländischen Mächte ihre Annexionsbestrebungen in China verstärkten. Zunächst gingen Zug um Zug sämtliche Vasallenstaaten verloren: 1885 musste Annam (Vietnam) an Frankreich abgetreten werden, ein Jahr später Burma an England. Nach dem ersten chinesisch-japanischen Krieg 1894–1895 fiel schließlich Korea, das seit 1886 den Status eines „Gemeinsamen Interessengebiets“ hatte, gemeinsam mit Taiwan und den Pescadores-Inseln an Japan. Dem Inselreich mussten überdies eine „Kriegsentschädigung“ von 200 Mio. Silberdollar gezahlt, vier weitere Häfen geöffnet und die Aufnahme industrieller Tätigkeit in China gestattet werden.
Ab 1897 zwangen mehrere europäische Staaten China zur „Verpachtung“ von Gebieten, die daraufhin halbkolonialen Status mit umfangreichen Bergbau- und Eisenbahnrechten für die Fremdmächte erhielten: Qingdao (Deutsches Reich), Port Arthur (Russland), Weihai (England), Guangzhouwan (Frankreich). Darüber hinaus wurde das Jangtse-Tal von England als „Interessensphäre“ beansprucht, Teile Südchinas von Frankreich sowie die Mandschurei von Russland und Japan. Einen Höhepunkt fand die ausländische Fremdbestimmung in der brutalen Niederschlagung des Boxeraufstands.
Cixis Ende
Am 15. November 1908 starb Cixi an der Influenza. Zuvor hatte sie mit Puyi zum dritten Male ein Kind zum Nachfolger auf dem Drachenthron bestimmt. Der kinderlose Kaiser Guangxu war schon einen Tag vor ihr unter völlig ungeklärten Umständen gestorben. Ob er wirklich von einem ihrer Anhänger oder sogar auf ihren Befehl hin umgebracht wurde, kann nur vermutet werden. Neuere chemische Analysen wiesen jedoch eine Arsenvergiftung nach. Durch Ernennung eines neuen Kindkaisers wollte Cixi wohl die Stellung ihrer Günstlinge schützen, was aber nur zu einer weiteren Schwächung der kaiserlichen Regierung führte. Die Position des Prinzregenten Chun II., des Vaters von Puyi, war eher schwach, so dass er die Reformen nicht voranbringen konnte und allmählich die Kontrolle über das Reich verlor.
Cixi wurde in dem von ihr erbauten Dingdongling-Mausoleum in den Östlichen Qing-Gräbern bestattet. Ihre Totenruhe währte indes nicht lang, denn schon 1928 plünderten Truppen der Kuomintang das Grab und schändeten ihren Leichnam. Die Juwelen und Perlen, die sie bei sich trug, wurden angeblich Chiang Kai-sheks Ehefrau Song Meiling als Trophäe überreicht.
Historische Bewertung
Cixi wird häufig als hart, herrschsüchtig und manchmal auch grausam geschildert. Genauso gibt es jedoch auch Berichte, die sie als charismatisch und rücksichtsvoll charakterisieren. Weitgehend unumstritten verfügte sie über ein politisches Gespür, um sich an der Macht zu halten, und nutzte alle Wege, um ihre Interessen zum Sieg zu führen. Nach Ansicht von Sterling Seagrave war die Durchsetzung ihres Sohnes als neuer Kaiser und die Regentschaft durch sie und die Kaiserinwitwe Ci’an angesichts der Palastintrigen durch Höflinge und mandschurische Adlige für die damals junge, regierungsunerfahrene Frau mutig. Ohne diese Eigenschaften hätte sie sich wohl nicht 47 Jahre an der Macht halten können. Ferner sind viele ihrer Entscheidungen vor dem Hintergrund andauernder Machtkämpfe zwischen Konservativen und Reformern hinter den höfischen Kulissen und häufiger, die Autorität des Qing-Kaisers beim chinesischen Volk beeinträchtigender, ausländischer Einmischungen zu betrachten. Bei der Integration der Mandschuren und Mongolen in den Staat sowie der Niederschlagung von Revolten (vor allem in Ost-Turkestan) war sie erfolgreich, nicht jedoch bei der Eindämmung europäischer und japanischer Übergriffe.
Das Bild von der grausamen, machthungrigen und von starken sexuellen Trieben geleiteten Frau wurde vor allem in Großbritannien gefördert. Besonders der britische Peking-Korrespondent der Londoner Times, George Morrison, schilderte Cixi in seinen Artikeln als Monster und Meuchelmörderin. Heute ist bekannt, dass Morrison auf Aussagen von vermeintlich „intimen Kennern des chinesischen Hofes“ (allen voran auf Edmund Backhouse und den exilierten Kang Youwei) hereinfiel und seine Artikel mehr den Phantasien und Erwartungen puritanisch orientierter Briten entsprachen. Heute wird daher auch die Ansicht vertreten, dass Cixi, die zeit ihres Konkubinats und ihrer Regentschaft das Umfeld der Verbotenen Stadt kaum verließ und das Leben außerhalb weitgehend nur vom Hörensagen kannte, von ihr nahestehenden konservativen Beratern der Aristokratie mit inkorrekten Nachrichten zu ihren mitunter wenig klugen Entscheidungen gebracht wurde. Durch diese Fehleinschätzungen trägt sie Mitschuld am Untergang des Kaiserreichs China. Anstatt frühzeitig auf einen erfahrenen und reformfreudigen Prinzen als Kaiser zu setzen, inthronisierte sie immer wieder schwache Kindkaiser, um ihre eigene Stellung zu sichern. Auch die Ernennung Puyis war ein derartiger folgenschwerer Akt über ihren Tod hinaus, da sie zugunsten eines kaiserlichen Nepotismus politischen Notwendigkeiten nicht nachkam. Möglicherweise hätte die chinesische Monarchie weiter Bestand gehabt, wäre Cixi Chinas Problemen mit anderen Lösungsansätzen begegnet. Andererseits kämpfte die Kaiserinwitwe in einem patriarchalischen Herrschaftssystem als Frau um ihr Überleben und war durchaus gewillt, das Land zu erneuern sowie politische Reformen anzustrengen.
Aus kultureller Sicht hat Cixi den Neuen Sommerpalast als historisch bedeutsames Symbol kaiserlicher Prachtentfaltung und chinesischer Gartenbaukunst zweimalig wiederaufgebaut, auch wenn dafür Marinegelder genutzt wurden und dieser Wiederaufbau damals von vielen Europäern als Anzeichen für Degeneration gewertet wurde. Insgesamt wird ihre Lebensleistung stark ambivalent bewertet.
Galerie – Cixi als Malerin
Literatur
Sekundärliteratur
Albert Brüschweiler: Das Begräbnis der Kaiserin-Witwe von China. In: Schweizer Illustrierte, Bd. 14. 1910, S. 113–117. (e-periodica)
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Wolfram Eberhard: Geschichte Chinas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Kröners Taschenausgabe. Band 413). 3., erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 1980, ISBN 3-520-41303-5.
John King Fairbank: Geschichte des modernen China. 1800–1985 (dtv 4497). (Originaltitel: The Great Chinese Revolution.). Übersetzt von Walter Theimer. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1989, ISBN 3-423-04497-7 (2. Auflage, 9.–12. Tausend. ebenda 1991).
Jacques Gernet: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit (= Suhrkamp-Taschenbuch. Bd. 1505). 1. Auflage, Nachdruck. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-38005-2
Gisela Gottschalk: Chinas große Kaiser. Ihre Geschichte – ihre Kultur – ihre Leistungen. Die chinesischen Herrscherdynastien in Bildern, Berichten u. Dokumenten. Pawlak, Herrsching 1985, ISBN 3-88199-229-4.
Margareta Grieszler: Das letzte dynastische Begängnis. Chinesisches Trauerzeremoniell zum Tod der Kaiserinwitwe Cixi. Eine Studie (= Münchner ostasiatische Studien. Bd. 57). Steiner, Stuttgart 1991, ISBN 3-515-05994-6.
Manfred Just: Die Kaiserin-Witwe Cixi. Duncker und Humblot, Berlin 1997, ISBN 3-428-08981-2.
Sterling Seagrave: Die Konkubine auf dem Drachenthron. Leben und Legende der letzten Kaiserin von China 1835–1908 (= Heyne 01 Allgemeine Reihe 9388). Heyne, München 1994, ISBN 3-453-08202-8.
Jonathan D. Spence: Chinas Weg in die Moderne. Hanser, München u. a. 2001, ISBN 3-446-16284-4.
Marina Warner: Die Kaiserin auf dem Drachenthron. Leben und Welt der chinesischen Kaiserinwitwe Tz'u-hsi. 1835–1908. Ploetz, Würzburg 1974, ISBN 3-87640-061-9.
Romane, Cixi betreffend
Pearl S. Buck: Das Mädchen Orchidee. Roman (= Ullstein-Buch 23238). Neuauflage, Taschenbuchausgabe. Ullstein, Frankfurt am Main u. a. 1994, ISBN 3-548-23238-8.
Anchee Min: Die letzte Kaiserin. Roman. Krüger, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-8105-1278-8.
Anchee Min: Die Kaiserin auf dem Drachenthron. Roman. Krüger, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-8105-1283-3.
Hans D. Schreeb: Hinter den Mauern von Peking. Roman (= Ullstein 25039). Ullstein, München 2001, ISBN 3-548-25039-4.
Weblinks
W. G. Sebald zu Tz'u Hsi
Martin Herzog: Stichtag 29. November 1835: Der Geburtstag der chinesischen Kaiserin Cixi NDR ZeitZeichen vom 29. November 2010. (Podcast)
Isabella Arcucci: Kaiserinwitwe Cixi - Von der Konkubine zur Herrscherin Chinas Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 2. Mai 2022. (Podcast)
Einzelnachweise
Regent (China)
Kaiserinmutter
Person im Boxeraufstand
Chinese
Mandschu
Geboren 1835
Gestorben 1908
Frau |
129061 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hodgkin-Lymphom | Hodgkin-Lymphom | Das Hodgkin-Lymphom (Synonyme sind Morbus Hodgkin, früher Lymphogranulomatose oder Lymphogranulom, auch Hodgkinsche Krankheit; , abgekürzt HD, oder Hodgkin’s lymphoma, abgekürzt HL) ist ein bösartiger Tumor („malignes Granulom“) des Lymphsystems.
Die Erkrankung macht sich durch schmerzlose Schwellungen von Lymphknoten bemerkbar, begleitend können sogenannte B-Symptome, wie zum Beispiel der für diese Erkrankung fast pathognomonische Alkoholschmerz, auftreten. Im mikroskopischen Gewebebild ist das Hodgkin-Lymphom (genannt auch Sternbergsche Krankheit) durch das Vorkommen einer besonderen Zellart (Sternberg-Reed-Zellen) gekennzeichnet, wodurch es sich von den Non-Hodgkin-Lymphomen abgrenzt. Patienten werden mit standardisierten Therapieschemata durch eine Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung behandelt. Die Heilungsaussichten sind vor allem bei Kindern gut bis sehr gut.
Die Krankheit wurde nach dem englischen Arzt Thomas Hodgkin (1798–1866) benannt, der sie 1832 zum ersten Mal beschrieb.
Epidemiologie
Die Häufigkeit der jährlichen Neuerkrankungen (Inzidenz) des Hodgkin-Lymphoms beträgt zwei bis vier Erkrankungen pro 100.000 Personen, das Verhältnis von Männern zu Frauen liegt bei 3:2. In den Industrieländern findet man zwei Krankheitsgipfel in der Altersverteilung, einen größeren im dritten und einen etwas kleineren im siebten Lebensjahrzehnt, während in Entwicklungsländern typischerweise der erste Krankheitsgipfel in das frühe Kindheitsalter verschoben ist. In den industrialisierten Ländern (Europa, Nordamerika) ist eine leicht rückläufige Neuerkrankungsrate zu beobachten.
Bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland tritt das Hodgkin-Lymphom mit einer Häufigkeit von 0,7 Fällen pro 100.000 Kindern und Jugendlichen im Alter bis 14 Jahren auf. Im Vergleich hierzu liegt die entsprechende weltweite Rate bei 0,6 Fällen pro 100.000. Das Verhältnis Jungen zu Mädchen ist dabei analog zum Erwachsenenalter. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 12 Jahren und 6 Monaten, der Altersgipfel liegt in der Altersgruppe von 10 bis 14 Jahren. Kinder unter vier Jahren sind selten vom Morbus Hodgkin betroffen, dabei übersteigt die Anzahl der erkrankten Jungen in dieser Altersgruppe die der Mädchen um ein Vielfaches.
Ursache
Die Ätiologie (Ursache) des Hodgkin-Lymphoms ist noch nicht hinreichend geklärt. In der Vergangenheit wurden viele Krankheitsauslöser diskutiert. Eine Entstehung durch das onkogene (krebsauslösende) Epstein-Barr-Virus (EBV) wird vermutet, da das Risiko, einen Morbus Hodgkin zu entwickeln, nach einem vorausgegangenen Pfeiffer-Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose), das durch das EBV verursacht wird, etwa dreifach erhöht ist. Bei 50 Prozent der Erkrankten in den industrialisierten Ländern lässt sich das Epstein-Barr-Virus in den Lymphomzellen nachweisen, in Entwicklungsländern beträgt diese Rate über 90 Prozent. Umgekehrt infiziert sich nahezu jeder Mensch irgendwann im Laufe seines Lebens mit dem EBV, im 30. Lebensjahr liegt die Durchseuchungsrate bei über 95 Prozent.
Störungen des Immunsystems kommt bei der Entstehung des Morbus Hodgkin eine bedeutende Rolle zu. Im Rahmen des zunehmenden Einsatzes immunsuppressiver (immunsystemunterdrückender) Therapien – beispielsweise nach Transplantationen von Organen, Knochenmark oder Blutstammzellen – wird ein vermehrtes Auftreten des Morbus Hodgkin berichtet.
Auch die Infektion mit dem HI-Virus birgt ein erhöhtes Risiko, ein Hodgkin-Lymphom zu entwickeln, ebenso wie eine erhöhte Exposition toxischer Substanzen, zum Beispiel aus Holzschutzmitteln.
Ende 2005 wurden in verschiedenen Arbeiten molekulare Mechanismen zur Pathogenese vorgeschlagen. Mathas und Kollegen identifizierten eine Störung des Transkriptionsfaktors E2A als mögliche Ursache einer Fehldifferenzierung der B-Lymphozyten. Eine andere Gruppe publizierte die Degradierung des Tumorsuppressorgens Rb durch das latente Antigen 3C des Epstein-Barr-Virus in verschiedenen Tumoren.
Die exakte Ursache ist also immer noch unbekannt und kaum Gegenstand aktueller Forschung, da der Großteil der Forschung nicht auf die Ursachensuche, sondern auf Therapieoptimierung ausgerichtet ist. Eine mögliche Impfung gegen EBV, um diesen Faktor der Entstehung auszuschalten oder weitere Erkenntnisse zu seiner Bedeutung zu gewinnen, steckt in der Entwicklungsphase.
Pathologie
Kennzeichnend für die histologische (feingewebliche) Diagnose eines Hodgkin-Lymphoms sind die einkernigen Hodgkin-Zellen sowie die mehrkernigen Sternberg-Reed-Riesenzellen, oft auch als Hodgkin-Reed-Sternberg-Zellen (HRS-Zellen) bezeichnet. Diese stammen von den B-Lymphozyten (weißen Blutzellen) aus den Keimzentren der Lymphknoten ab. Sie sind die eigentlichen maligne (bösartig) wachsenden Zellen des Hodgkin-Lymphoms und vermehren sich monoklonal (von einer Zelle abstammend). Typisch für Sternberg-Reed-Zellen ist dabei die Größe der Zelle von über 20 µm mit mehreren hellen Kernen, die jeweils große, eosinophile Nucleoli enthalten. Sie machen jedoch nur etwa ein Prozent des Lymphoms aus, der Rest wird durch reaktive Zellbeteiligung von CD4-positiven Lymphozyten, Monozyten, eosinophilen Granulozyten sowie Fibroblasten gebildet, wodurch sich ein „buntes“ zytologisches Bild ergibt.
Die WHO unterscheidet in ihrer Klassifikation vier histologische Typen des sogenannten klassischen Hodgkin-Lymphoms von einer weiteren Form, dem lymphozytenprädominanten Lymphom.
Die klassische Form ist durch die immunohistochemisch nachweisbaren Oberflächenmerkmale CD30 sowie teilweise CD15 gekennzeichnet. Die vier unterschiedlichen Typen sind im Einzelnen:
Nodulär-sklerosierende Form (60 bis 80 Prozent der Fälle)Typisch für diese häufigste Form des Hodgkin-Lymphoms sind knotige Infiltrate und Kollagennarben. Die bei diesem Typ beobachteten Lakunärzellen mit großem, gelapptem Kern sind eine Unterart der HRS-Zellen. Betroffen sind häufig junge weibliche Patienten vor allem bei mediastinalem und supraklavikulärem Befall.
Gemischtzellige Form (15 Prozent der Fälle)Bei über 50 Jahre alten Patienten ist dies die häufigste Form des Hodgkin-Lymphoms, wobei Männer häufiger als Frauen betroffen sind. Ein zervikales, aber auch ein abdominelles Vorkommen ist typisch. Histologisch zeigt sich ein buntes Bild mit vielen HRS-Zellen.
Lymphozytenreiche Form (drei bis vier Prozent der Fälle)Diese Form tritt meistens als zervikaler oder axillärer Lymphknotenbefall auf und kommt gehäuft bei männlichen Patienten um das 30. Lebensjahr vor. Histologisch dominieren B-Lymphozyten.
Lymphozytenarme Form (ein bis zwei Prozent der Fälle)Diese seltene Form ist typisch für Patienten im hohen Alter und manifestiert sich oft im Bauchraum (Abdomen). Im Zellbild zeigen sich wenige Lymphozyten und atypische HRS-Zellen mit Mitosen.
Bei den heutigen Therapiemöglichkeiten unterscheiden sich die einzelnen Formen des klassischen Hodgkin-Lymphoms kaum in der #Prognose.
Den klassischen Formen steht das lymphozytenprädominante Hodgkin-Lymphom (Abkürzung: LPHD, frühere Bezeichnung: noduläres Paragranulom) gegenüber, typischerweise CD30- und CD15-negativ, dafür positiv für den B-Zell-Marker CD20. Die eigentlichen Tumorzellen dieses Typs sind lymphozytische und/oder histiozytische Zellen (L&H-Zellen), die große Ähnlichkeit mit den Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen des klassischen Hodgkin-Lymphoms aufweisen können. Eine Besonderheit sind Popcorn-Zellen, eine Variation der HRS-Zellen.
Der klinische Verlauf ist bei einer nur geringen Tendenz zur Metastasierung so gut, dass in lokalisierten Stadien (IA) eine Strahlentherapie ohne eine zusätzliche Chemotherapie ausreichend ist.
Klinisches Bild
Das Hodgkin-Lymphom beginnt zumeist mit schmerzlosen, zu Paketen verbackenen Lymphknotenschwellungen, die bei 80 bis 90 Prozent der Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose vorhanden sind. Sie treten vor allem am Hals (zervikal), unter der Achsel (axillär) oder in der Leistenregion (inguinal) auf, jedoch auch im Mittelfell des Brustkorbs (mediastinal) und (bei der abdominellen Lymphogranulomatose) im Bauchraum (abdominal).
Begleitend kommt es zu unspezifischen Allgemeinsymptomen, der sogenannten B-Symptomatik. Darunter versteht man Fieber (gelegentlich als wellenförmiges Pel-Ebstein-Fieber), Nachtschweiß und eine (nicht anders erklärbare) Gewichtsabnahme von mehr als zehn Prozent innerhalb von sechs Monaten. Leistungsminderung und Juckreiz können ebenfalls bestehen. Selten ist eine Schmerzhaftigkeit der geschwollenen Lymphknoten nach Alkoholgenuss, dieser sogenannte Alkoholschmerz ist jedoch fast pathognomonisch für Hodgkin-Lymphome. In manchen Fällen kann auch eine Leber- (Hepatomegalie) oder Milzvergrößerung (Splenomegalie) beobachtet werden.
In fortgeschrittenen Stadien mit Organbefall kann es zu Störungen des Nervensystems, des Hormonhaushaltes, des Urogenitaltraktes sowie zu Beschwerden bei Skelett- und Lungenbefall kommen. Eine Abschwächung des Immunsystems und infolgedessen gehäufte Infektionen, vor allem Tuberkulose, Pilz- und Virusinfektionen, sind möglich.
Hodgkin-Lymphome können auch durch paraneoplastische Syndrome in Erscheinung treten. Darunter versteht man Erkrankungen oder Symptomkomplexe, welche zumeist durch Autoimmunmechanismen verursacht werden, die wiederum auf einen bisweilen noch nicht diagnostizierten Morbus Hodgkin zurückzuführen sind. Mögliche paraneoplastische Syndrome sind Hauterkrankungen wie erworbene Ichthyosis und Pemphigus oder Erkrankungen des Nervensystems wie autonome, motorische und sensorische Neuropathien (Nervenschäden), Encephalitis (Gehirnentzündung) oder das so genannte Ophelia-Syndrom. bestehend aus Hippokampussklerose und Demenz. Auch Autoimmunerkrankungen der Augen wie eine Entzündung der Lederhaut (Skleritis) kommen in diesem Zusammenhang vor. Die paraneoplastischen Syndrome treten dabei oftmals vor der Ersterkrankung oder dem Rezidiv auf.
Diagnostik
Diagnosestellung
Die Verdachtsdiagnose basiert auf dem klinischen Bild, das durch Anamnese und Untersuchung erfasst wird. Hinweise geben auch Laborwerte: Als Entzündungszeichen sind oft die Blutsenkungsgeschwindigkeit und das C-reaktive Protein (CRP) erhöht. Typisch ist eine absolute Lymphopenie (Mangel an Lymphozyten, einer bestimmten Art weißer Blutkörperchen) (von bis zu < 1000/µl), und in einem Drittel der Fälle findet sich eine Eosinophilie. Im Labor zeigt sich weiterhin eventuell eine Anämie (Mangel an roten Blutkörperchen), eine Thrombopenie (Mangel an Blutplättchen) sowie eine LDH-Erhöhung. Mehr oder weniger unspezifisch sind ein erniedrigter Eisenwert und ein erhöhtes Ferritin.
Gesichert wird die Diagnose durch die histologische Untersuchung von Biopsien oder vollständig entnommenen verdächtigen Lymphknoten.
Staging-Untersuchungen
Das Ziel der folgenden klinischen Stadienbestimmung (klinisches Staging) ist es, alle Manifestationen zu erfassen und die Ausbreitung der Krankheit zu bestimmen. Das geschieht anhand der Befunde von Anamnese, Untersuchung, Laborwerten, Biopsien des Knochenmarks mit feingeweblicher Beurteilung sowie bildgebender Verfahren. Dazu gehören Röntgenbilder des Thorax in zwei Ebenen, Thorax-Computertomografie (CT), Sonografie (Ultraschall) und CT des Abdomens und eine Knochenmarkspunktion. Anstelle des CT kann bei bestimmten Patientengruppen mit Morbus Hodgkin auch die Magnetresonanztomographie (MRT) zum Einsatz kommen. Die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) wird im Staging des Morbus Hodgkin zunehmend dann zusätzlich zur CT oder MRT eingesetzt, wenn die anderen vorgenannten bildgebenden Verfahren keinen ausreichend sicheren Aufschluss über einen Rückgang der Erkrankung unter Behandlung bieten. Ziel der PET-Untersuchungen soll sein, die Therapie noch besser nach der Erkrankungsaktivität zu steuern.
Die Methode des pathologischen Stagings mit Laparotomie (offener Bauchoperation) und Splenektomie (Milzentfernung) ist heute veraltet und wird nicht mehr durchgeführt.
Stadieneinteilung
Auf der Basis der Befunde des klinischen Stagings, aber unabhängig vom histologischen Typ wird das Hodgkin-Lymphom nach der Ann-Arbor-Klassifikation (mit Modifikationen durch die Cotswolds-Konferenz 1989) in vier Stadien eingeteilt:
Zusätze:
A – ohne B-Symptome
B – mit B-Symptomen
E – extranodaler Befall (außerhalb von Lymphknoten)
S – Milzbefall (Spleen; englisch für Milz)
X – größere Tumor-Masse (Bulk oder bulky disease: Tumor > 10 cm maximaler Durchmesser bei Erwachsenen)
Bei Kindern und Jugendlichen gilt ein Befall des Knochens mit Zerstörung der Substanz (Compacta) oder ein Befall des Knochenmarks immer als Stadium IV, unabhängig von der Größe oder Anzahl der befallenen Lymphknotenstationen.
Therapie
Die Therapie des Hodgkin-Lymphoms basiert auf Chemotherapie und Bestrahlung. Die Therapie wird an das Stadium der Krankheit angepasst, wobei anhand des Ann-Arbor-Stadiums und vorhandener Risikofaktoren die drei Gruppen limitierte Stadien, intermediäre Stadien und fortgeschrittene Stadien eingeteilt werden (siehe Tabelle). Vor Beginn einer Chemotherapie sollte sichergestellt werden, dass Maßnahmen zur Sicherung der Fortpflanzungsfähigkeit des Patienten ergriffen wurden (zum Beispiel das Einfrieren von Spermien).
Therapiestudien
Die Deutsche Hodgkin-Studiengruppe (GHSG) erforscht seit 1978 die Therapiemöglichkeiten des Hodgkin-Lymphoms. Seitdem beteiligten sich über 14.000 Patienten an den Therapiestudien, an denen 400 Zentren beteiligt sind. Zurzeit (2014) ist die sechste Studiengeneration mit den Studien HD16 (limitierte Stadien) und HD18 (fortgeschrittene Stadien) sowie der Studie HD17 (intermediäre Stadien) aktuell. Unter anderem durch solche Studien gelang die erhebliche Prognoseverbesserung der letzten 20 Jahre, das Ziel der aktuellen Studien ist vor allem eine Verminderung der Nebenwirkungen der Therapie. Die GHSG veröffentlicht aufgrund dieser Studien Empfehlungen zur Therapie der verschiedenen Stadien, die aus einer Chemotherapie in Kombination mit einer Strahlentherapie besteht.
Als Risikofaktoren gelten:
großer Mediastinaltumor (mehr als ein Drittel des Thoraxdurchmessers)
Tumorwachstum außerhalb von Lymphknoten
hohe Blutsenkungsgeschwindigkeit
Befall von mehr als zwei Lymphknotenarealen
Bei Kindern und Jugendlichen wird in Deutschland die Diagnostik, Behandlung und Nachsorge (Nachbeobachtung) des Hodgkin-Lymphoms durch die multizentrische Therapieoptimierungsstudie HD-2003 der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) und der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Leukämieforschung und -Behandlung bei Kindern (DAL) durchgeführt. Alle kinderonkologischen Zentren in Deutschland behandeln nach dieser Studie. Der Studie HD-2003 angeschlossen sind Therapieoptimierungsstudien zur Behandlung von Rezidiven des Hodgkin-Lymphoms oder zur Behandlung des Hodgkin-Lymphoms in bestimmten Risikogruppen (angeborene oder erworbene Immundefekte). Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Hodgkin-Lymphom in Therapieoptimierungsstudien erfolgt seit 1978 (DAL-HD 78 Studie). In anderen Staaten erfolgt die Behandlung ähnlich [in den USA beispielsweise gemäß den Therapieoptimierungsstudien durch die Children’s Oncology Group (COG)].
Bei Kindern sind Besonderheiten bei der Therapie zu berücksichtigen. Zum einen ist bei einem Großteil der Patienten das Wachstum nicht abgeschlossen. Dies führt zu besonderen Problemen in der Radiotherapie, insbesondere bei ausgedehntem Befall und somit ausgedehntem Bestrahlungsfeld, da die Radiotherapie selbst das Strahlenrisiko erhöht, d. h. spätere neue Krebserkrankungen befördert. Zum anderen wirken bestimmte Zytostatika toxisch auf die Spermienbildung. Auch weitere, wachstumsbedingte negative Effekte auf innere Organe erfordern angepasste Therapiepläne. Als wesentliche Unterscheidung zu Erwachsenen wird der Behandlungsplan auch nach dem Geschlecht ausgerichtet.
Chemotherapie
Die Chemotherapie wird als Poly- oder Kombinations-Chemotherapie durchgeführt. Eine solche soll nach Hudson und Donaldson folgende Eigenschaften aufweisen:
Jedes eingesetzte Zytostatikum (Medikament) sollte eine Anti-Tumor-Aktivität (antineoplastische) Wirkung haben.
Die eingesetzten Zytostatika (Medikamente) sollten sich hinsichtlich ihres Wirkungsmechanismus unterscheiden, um verschiedene Angriffspunkte gegenüber dem Tumor zu besitzen und eine Resistenzentwicklung zu verzögern.
Die Toxizitäten der einzelnen Zytostatika sollten sich idealerweise nicht überlappen. Mindestens sollten die Toxizitäten der Zytostatika so sein, dass jedes einzelne Zytostatikum in seiner vollen Einzeldosis angewendet werden kann.
Nach diesen Grundsätzen werden verschiedene Zytostatika kombiniert. In internationalen Therapieprotokollen werden die Zytostatika dabei in festgelegten Dosierungen und Zyklen verabreicht. Abhängig vom Fortschritt der Erkrankung werden dabei verschiedene Protokolle und verschiedene Anzahl von Zykluswiederholungen eingesetzt. Die Schemata der Wahl sind das ABVD-Protokoll und das BEACOPP-Protokoll.
In Deutschland wird gemäß den Therapieempfehlungen der Deutschen Hodgkin-Studiengruppe ABVD bei limitierten (zwei Zyklen) und intermediären Stadien (vier Zyklen), BEACOPP bei fortgeschrittenen Stadien mit acht Zyklen in erhöhter (eskalierter) Dosis angewandt. Der Grund dafür ist, dass bei BEACOPP die Rezidivwahrscheinlichkeit etwas geringer ist, wobei jedoch Spätfolgen gegenüber ABVD etwas vermehrt vorkommen. Im Gegensatz dazu ist in den Vereinigten Staaten ABVD die Standardtherapie für alle Stadien, BEACOPP wird jedoch als Alternative ebenfalls angewandt.
Die Chemotherapie bei Kindern und Jugendlichen entspricht in ihren Grundlagen der Chemotherapie bei Erwachsenen: auch bei Kindern wird eine block- oder zyklusweise Poly-Chemotherapie durchgeführt. In Deutschland werden nachfolgende Kombinationen im Rahmen der Primärbehandlung des Morbus Hodgkin verwendet:
OEPA (oder VEPA): Vincristin (Oncovin), Etoposid, Prednison, Adriamycin
OPPA (oder VPPA): Vincristin (Oncovin), Procarbazin, Prednison, Adriamycin
COPDIC: Cyclosphosphamid, Vincristin (Oncovin), Prednison, Dacarbazin
COPP: wie bei Erwachsenen.
Im Gegensatz zum Erwachsenenalter bestimmt das Geschlecht bei der Chemotherapie im Kindesalter teilweise die verwendeten Kombinations-Chemotherapien: dem OPPA-Block wurde aufgrund der Toxizität auf die Spermienbildung das Procarbazin entnommen und durch das Etoposid ersetzt: so resultiert aus dem ursprünglichen OPPA-Block der OEPA-Block. Letzteren erhalten Jungen, ersteren die Mädchen, deren Eierstöcke deutlich unempfindlicher gegenüber Procarbazin sind als die Hoden der Jungen.
Chemoimmunkonjugat
Seit Ende 2012 ist in der Europäischen Union mit der Substanz Brentuximab Vedotin ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat (ADC) zur Behandlung des CD30+-Hodgkin-Lymphoms verfügbar. Das Arzneimittel ist zugelassen für die Therapie von erwachsenen Patienten mit einem rezidivierten oder refraktären CD30+-Hodgkin-Lymphom nach autologer Stammzelltransplantation oder nach mindestens zwei vorangegangenen Therapien, wenn eine autologe Stammzelltransplantation oder eine Kombinationschemotherapie nicht in Frage kommt.
Ein immunphänotypisches Charakteristikum des klassischen Hodgkin-Lymphoms ist das CD30-Molekül. Brentuximab Vedotin verknüpft einen anti-CD30 Antikörper über einen Aminosäure-Linker mit dem Zytostatikum Monomethyl-Auristatin E (MMAE). Das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat wurde bei mehrfach vorbehandelten und refraktären Hodgkin- sowie anderen CD30-positiven Lymphom-Patienten untersucht.
Monoklonale Antikörper
Auch eine Therapie mit Nivolumab kann bei einem HL in Frage kommen. Die Evidenz ist sehr ungewiss bezüglich der Wirkung von Nivolumab auf das Gesamtüberleben, die Lebensqualität, das progressionsfreie Überleben, die Ansprechrate, die unerwünschten Ereignisse mit dem Grad 3 oder 4 und die schweren unerwünschten Ereignisse.
Strahlentherapie
Bei einem nodulären Paragranulom (NLPHL) findet auch eine alleinige Bestrahlung ohne Chemotherapie statt.
Die Bestrahlung (Radiotherapie) erfolgt in der involved-field-Technik, worunter man eine Bestrahlung jedes klinisch manifesten Befalles unter Aussparung der angrenzenden Region versteht. Die empfohlene Gesamtdosis beträgt dabei je nach Stadium 20 oder 30 Gray (Gy), die in Einzeldosen von etwa 2 Gy pro Behandlungstag aufgeteilt wird. Weiterhin kommt nach Chemotherapie die konsolidierende Bestrahlung von ausgesuchten Tumorlokalisationen – wie Bulk-Regionen oder Resttumoren – in Frage.
In den Studien HD16 und HD17 wird bei negativem PET auf eine Bestrahlung nach Chemotherapie verzichtet, um die Spättoxizität der Behandlung zu mindern.
Bei Kindern und Jugendlichen findet die Strahlentherapie ebenfalls Anwendung. Grundsätzlich folgt sie dabei den gleichen Prinzipien wie die Strahlentherapie bei Erwachsenen. Bestrahlt werden alle Regionen, die zum Diagnosezeitpunkt befallen waren (für die Risikogruppen intermediär und hoch beziehungsweise intermediate disease und extended disease). Dies bedeutet, dass die anfänglich betroffene Region bestrahlt wird, auch wenn sich unter Chemotherapie der Befall vollständig zurückgebildet hat. Die Bestrahlung erfolgt ebenfalls in der involved-field-Technik: das befallene Areal wird mit einem Sicherheitsabstand von 2 bis 3 cm bestrahlt. Die bei Kindern und Jugendlichen verwendete Gesamtdosis (Kumulativdosis) beträgt 20–30 Gy, die Aufteilung (Fraktionierung) wird mit Einzeldosen von 2 Gy pro Tag verabreicht.
Aufgrund des zumeist noch fortschreitenden Wachstums im Kindesalter ist die Bestrahlung größerer Regionen mit der involved-field-Technik bei ausgedehntem Befall (Stadium III oder IV nach Ann Arbor) nicht unproblematisch. Wenn oberhalb und unterhalb des Zwerchfells Lymphknotenregionen durch das Hodgkin-Lymphom betroffen sind, ergeben sich trotz der Begrenzung der Bestrahlungsfelder mittels der involved-field-Technik in der Summe große Bestrahlungsfelder. Diese enthalten oft Strukturen mit besonderer Bedeutung für das Wachstum, beispielsweise Wirbelsäule oder Schilddrüse.
Darüber hinaus ist der Zusammenhang zwischen Strahlentherapie des Hodgkin-Lymphoms und der Entstehung von Sekundärmalignomen (Zweitkrebserkrankung) gut beschrieben und mittlerweile etabliert. Die Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit, dass Zweitmalignome auftreten, hängt einerseits von der verwendeten Dosis und andererseits vom Bestrahlungsfeld und dessen Größe ab. Folgerichtig ist es Ziel von Therapieweiterentwicklungen, die Bestrahlung auf das unumgängliche Maß zu reduzieren. Eine Dosisabsenkung unter 20 Gy Gesamtdosis ist nicht sinnvoll, da bei einer solchen Dosis die Wirksamkeit der Bestrahlung gegen das Hodgkin-Lymphom eingeschränkt wird. Ein Ansatz verfolgt die Reduktion der Bestrahlungsfelder. Einerseits kann durch Intensivierung oder neue Chemotherapien die Notwendigkeit einer Bestrahlung vermindert werden. Zum anderen können unter Chemotherapie vollständig zurückgebildete befallene Regionen von der Bestrahlung ausgenommen werden. Um möglichst die therapeutischen Effektivität der Gesamtbehandlung nicht zu vermindern, werden zur Feststellung der Bestrahlungsnotwendigkeit Untersuchungsverfahren wie das PET eingesetzt.
Vitamin D
Ein Vitamin-D-Mangel verschlechtert die Prognose von Patienten mit einem Hodgkin-Lymphom.
Supportivtherapie
Die Standardtherapie kann durch eine supportive Therapie unterstützt werden, die beispielsweise das Wohlbefinden der Patienten unterstützt. Eine Möglichkeit für eine Supportivtherapie könnte körperliche Betätigung sein. Die Evidenz erwies sich dabei als sehr ungewiss bezüglich des Effekts von körperlicher Betätigung auf Angst und schwere unerwünschte Ereignisse. Körperliche Betätigung verursache eventuell nur eine geringe oder keine Veränderung bezüglich der Mortalität, der Lebensqualität und der körperlichen Funktion.
Therapieerfolgskontrolle (Re-Staging)
Um den Therapieerfolg von Chemotherapie und Strahlentherapie zu überprüfen, wird in regelmäßigen vorbestimmten Zeitintervallen eine erneute Diagnostik (Staging) durchgeführt. Diese Untersuchungen werden zusammenfassend als Re-Staging („Wieder-Einstufen“) bezeichnet. Beim Re-Staging kommen die gleichen Untersuchungsverfahren wie beim Staging im Rahmen der Erstdiagnose zum Einsatz. Die Ergebnisse des Re-Stagings werden mit den Ergebnissen des Stagings verglichen. Damit wird das Ansprechen auf die Therapie und das Ausmaß des Ansprechens festgestellt. In Abhängigkeit vom verwendeten Therapieprotokoll beziehungsweise der Therapieoptimierungsstudie sind Re-Staging-Untersuchungen nach zwei, vier oder sechs Chemotherapie-Zyklen sowie vor und nach der Strahlentherapie vorgesehen.
Eine Möglichkeit der Erfolgskontrolle der Therapie kann die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zum Beispiel nach dem zweiten Chemotherapiezyklus sein. Bei dem Vergleich von PET-negativen (= gute Prognose) und PET-positiven (= schlechte Prognose) Patienten erhielten Aldin und seine Mitarbeiter die folgenden Ergebnisse: Die Evidenz ist sehr ungewiss bezüglich der Wirkung des Effekts von negativen und positiven interimsmäßig durchgeführten PET-Untersuchungen auf das progressionsfreie Überleben. Negative interimsmäßige PET-Untersuchungen erzielen eventuell eine Erhöhung des progressionsfreien Überlebens im Vergleich zu positiven Untersuchungsergebnissen, wenn der angepasste Effekt gemessen wird. Negative interimsmäßige PET Resultate können zu einer ausgeprägten Erhöhung des Gesamtüberlebens im Vergleich zu positiven Resultaten führen. Dies gilt auch, wenn der angepasste Effekt gemessen wird.
Nachsorge
Nach Therapieende/Remission erfolgt die Nachsorge meist alle drei Monate im ersten Jahr, alle sechs Monate ab dem zweiten Jahr und jährlich ab dem fünften Jahr.
Die Nachsorge besteht im Wesentlichen aus Sonografie des zuvor befallenen Bereiches sowie einer Blutuntersuchung. In längeren zeitlichen Abständen wird außerdem ein Röntgenbild des Thorax oder eine Computertomographie erstellt.
Rezidivtherapie
Tritt ein Rezidiv nach mehr als zwölf Monaten in vollständiger Remission auf, wird eine erneute Chemotherapie mit guter Chance für eine Langzeitremission durchgeführt. Ist die Phase der kompletten Remission kürzer oder ist die Remission nur unvollständig (primäres Therapieversagen), kann eine intensivierte Polychemotherapie (Salvage-Therapie) versucht werden. Alternativ wird eine myeloablative (knochenmarkselimierende) Hochdosis-Chemotherapie mit folgender Knochenmark- oder Stammzelltransplantation durchgeführt, wobei letztere auch autolog (durch Eigenspende während kompletter Remission) durchgeführt werden kann. Die Alternative ist eine allogene Blutstammzelltransplantation, wobei der Spender der Blutstammzellen nicht der Patient, sondern eine andere Person (verwandt oder nicht-verwandt) ist. Dieses Verfahren ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt als experimentell einzustufen und wird im Rahmen von Studien international geprüft. Bislang ist ein Nutzen allerdings nicht belegt. Gleichsinniges gilt für Stammzelltransplantationen mit dosis- oder intensitätsreduzierter Konditionierungsbehandlung durch Chemotherapie oder Strahlentherapie (nicht-myeloablative Stammzelltransplantation; Mini-Transplant).
Seit Ende 2012 ist in der Europäischen Union ein Chemoimmunkonjugat (Brentuximab Vedotin) zur Behandlung des rezidivierten oder refraktären Hodgkin-Lymphoms zugelassen.
Behandlung von Nebenwirkungen
Neben den allseits bekannten Nebenwirkungen von Chemotherapie wie Haarausfall und Übelkeit, kann eine Chemotherapie oder eine Stammzelltransplantation auch zu Blutungen führen. Es hat sich herausgestellt, dass Thrombozytentransfusionen für Patienten mit einer Chemotherapie oder einer Stammzelltransplantation verschiedene Effekte auf die Anzahl der Patienten mit einem Blutungsereignis, die Anzahl der Tage mit einem Blutungsereignis, die Mortalität durch eine Blutung und die Anzahl der Thrombozytentransfusionen hatten, je nachdem in welcher Form sie verwendet worden sind (therapeutisch, abhängig von einem Schwellenwert, mit verschiedenen Dosierungen oder prophylaktisch).
Im Jahr 2015 wurde die Verwendung von prophylaktischen Thrombozytentransfusionen zur Verhinderung von Blutungen evaluiert. Prophylaktische Thrombozytentransfusionen für Patienten mit einer Chemotherapie oder einer Stammzelltransplantation bei einem Schwellenwert von 10.000 verursachen eventuell nur eine geringe oder keine Veränderung bezüglich der Anzahl der Tage mit einem signifikanten Blutungsereignis pro Patient, der Anzahl der Teilnehmer mit einer Blutung der Stufe 3 oder 4 und der Zeit bis zur ersten Blutungsepisode. Prophylaktische Thrombozytentransfusionen verursachen eventuell eine geringe Verringerung der Anzahl von benötigten Transfusionen. Diese Transfusionen verursachen eventuell nur eine geringe Erhöhung bezüglich der Anzahl von Patienten mit einer Blutung. Prophylaktische Thrombozytentransfusionen bei einem Schwellenwert von 10.000 führen eventuell zu einer starken Erhöhung der Mortalität aus allen Gründen.
Prognose
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist es gelungen, die Überlebensraten deutlich zu steigern. Durch die stadienangepasste Therapie ist die Prognose mittlerweile auch für fortgeschrittene Stadien gut. Die Auswertung der dritten Studiengeneration der GHSG ergab eine Fünf-Jahres-Überlebensrate von über 90 Prozent auch für mittlere Stadien (HD8-Studie) und fortgeschrittene Stadien (HD9-Studie), was durch die Zwischenergebnisse der vierten Studiengeneration gestützt wird.
Die Behandlungsergebnisse bei einem Rückfall oder Wiederauftreten des Hodgkin-Lymphoms hängen im Wesentlichen vom Zeitraum zwischen Abschluss der ersten Behandlung und Auftreten des Rückfalls ab. Wenn der Rückfall binnen drei bis zwölf Monate nach Ende der Erstbehandlung auftritt, ist die Prognose des Rückfalls mit nachfolgender Therapie schlechter als bei einem Rückfall, der mehr als zwölf Monate nach Ende der Erstbehandlung auftritt. Neben dem Zeitpunkt des Rückfalls sind auch die Ausmaße und Begleiterscheinungen des Rückfalls selbst von prognostischer Bedeutung. Ungünstig sind ein Rückfall mit Ausdehnung entsprechend Stadium III oder IV nach Ann Arbor, ein Hämoglobin-Wert von weniger als 10,5 g/dl bei Frauen und weniger als 12,0 g/dl bei Männern. Diese drei Kriterien oder Faktoren bestimmen nach Daten der Deutschen Hodgkin-Studiengruppe (GHSG; Internistische Onkologie) wesentlich die Prognose. Patienten, welche keines der drei Kriterien erfüllen, weisen eine rezidivfreie Vier-Jahre-Überlebensrate von 48 Prozent auf. Patienten, welche alle drei Kriterien erfüllen, weisen eine rezidivfreie Vier-Jahre-Überlebensrate von 17 Prozent auf.
Patienten, die
während oder nach der erstmaligen Behandlung ihres Hodgkin-Lymphoms nicht in Vollremission (komplettes Verschwinden der Krankheit) kommen oder
unter laufender Therapie einen Progress (Fortschreiten) der Krankheit erfahren oder
binnen drei Monaten nach Beendigung der Erstbehandlung einen Rückfall erleiden,
haben ebenfalls eine schlechte Prognose. Nach den Daten der GHSG beträgt die rezidivfreie Fünf-Jahre-Überlebensrate bei diesen Patienten 17 Prozent. Sofern eine Hochdosis-Chemotherapie durchgeführt wird, steigt die rezidivfreie Fünf-Jahre-Überlebensrate auf 42 Prozent. Allerdings erhalten nur 33 Prozent der Patienten mit den vorgenannten Kriterien eine Hochdosischemotherapie, da bei den verbleibenden 67 Prozent das Hodgkin-Lymphom rapide fortschreitet oder die Hochdosis-Chemotherapie mit einem extrem hohen Nebenwirkungsrisiko verbunden ist. Auch sind Patienten oftmals für eine geplante Hochdosis-Chemotherapie in einem nicht zureichenden Allgemeinzustand.
Bei Kindern und Jugendlichen ist durch die Anwendung von multimodalen Therapieoptimierungsstudien die Prognose in den entwickelten Ländern exzellent. In Deutschland haben zwischen 1994 und 2003 96 Prozent aller 920 Fälle fünf Jahre überlebt, zehn Jahre nach Diagnosestellung lebten von den 920 Fällen noch 95 Prozent.
Nach der Initialtherapie besteht eine gute Prognose. Die Langzeittoxizität von Radio- und Chemotherapie kann folgende Auswirkung haben:
Schädigung des Herzmuskels (durch Adriamycin und Bestrahlung) und der Lunge (durch Bleomycin und Bestrahlung), Schilddrüsenfunktionsstörungen sowie Störungen der Fruchtbarkeit wurden beobachtet. Eine bedeutende Spätkomplikation ist die sekundäre Entwicklung anderer Krebsformen, insbesondere solider Tumoren, wie dem Mammakarzinom, dem Schilddrüsenkarzinom, dem Bronchialkarzinom, dem kolorektalen Karzinom und dem Magenkarzinom oder hämatologischer Neoplasien wie der akuten myeloischen Leukämie, eines myelodysplastischen Syndroms oder eines Non-Hodgkin-Lymphoma. Die Erkrankungsrate an solchen Zweitneoplasien liegt etwa bei 15–20 Prozent in 20 Jahren, welche jedoch durch die Therapieform und andere Faktoren beeinflusst wird.
Geschichtliche Aspekte
Der Morbus Hodgkin war nicht die erste Krebserkrankung, die entdeckt wurde, aber eine der ersten, für die wirksame Therapiemöglichkeiten entwickelt wurden. Wiederholte Verbesserungen der Therapie und deren klinische Überprüfung in Studien haben beim anfangs unheilbaren Morbus Hodgkin zu den heutigen Therapieerfolgen geführt.
Marcello Malpighi beschrieb 1666 als einer der Ersten in seiner Schrift De viscerum structura exercitatio anatomica wahrscheinlich ein Hodgkin-Lymphom.
Benannt wurde die Krankheit nach Thomas Hodgkin, der im Januar 1832 in seiner Arbeit On the morbid appearances of the Adsorbent Glands and Spleen verschiedene Fälle einer Krankheit, die das lymphatische System betrifft, beschrieb. 1872 und 1878 veröffentlichten Langhans und Greenfield erstmals Arbeiten zu histopathologischen Aspekten der Krankheit, die Sternberg-Reed-Zellen wurden jedoch erst 1898 von Carl Sternberg und 1902 von Dorothy Reed unabhängig voneinander beschrieben. Benannt nach Sternberg erhielt das Hodgkin-Lymphom auch den Namen Sternbergsche Krankheit.
Krumbhaar und Krumbhaar beobachteten 1919 erstmals, dass eine Senfgas-Vergiftung mit einer Leukopenie einhergeht. 1931 führten Adair und Mitarbeiter die ersten experimentellen Untersuchungen über den Einsatz von Senfgas (Dichloroethylsulfid) bei Krebserkrankungen durch. Im Zweiten Weltkrieg beobachtete man bei alliierten Soldaten, die nach dem Untergang des Munitionstransporters SS John Harvey (Bari, 2. Dezember 1943) Senfgas-Derivaten der N-Lost-Gruppe ausgesetzt waren, eine Suppression von Knochenmark und Lymphsystem, was in den folgenden Jahren systematisch von verschiedenen Forschern wie Goodman (1946) untersucht wurde. Diese Beobachtungen und Untersuchungen mündeten in der Entwicklung von zunächst Mechlorethamin (Mustargen®), nachfolgend Cyclophosphamid (1959) und des darauf basierenden MOPP-Therapieschemas (1964), der ersten Kombinations-Polychemotherapie des Morbus Hodgkin. Der erste publizierte Einsatz von Mechlorethamin in der Behandlung des Morbus Hodgkin bei Kindern erfolgte 1952. In den folgenden Jahrzehnten wurde intensiv zu den Kombinationschemata geforscht und es wurden immer neue Therapien entwickelt, wie beispielsweise MOPP, ABVD, COPP und BEACOPP.
Im April 1971 wurden bei der Konferenz in Ann Arbor, USA, wichtige Definitionen zur Diagnose und Klassifikation (Ann-Arbor-Klassifikation) festgelegt. Die Deutsche Hodgkin-Studiengruppe erforscht seit 1978 die Effektivität verschiedener Therapien in großen, multizentrischen Studien und hat dadurch wesentlich zu den aktuellen Therapieempfehlungen und der damit verbundenen Prognoseverbesserung beigetragen.
1975 gelang Milstein und Köhler erstmals die Herstellung monoklonaler Antikörper, was als maßgebliche Grundlage für heutige Antikörpertherapien 1984 mit dem Nobelpreis für Medizin honoriert wurde. Auf dieser Basis wurde in den 1990er Jahren der Antikörper Rituximab für die Therapie der Non-Hodgkin-Lymphome eingeführt, 2002 wurde ein erfolgreicher Einsatz auch bei der lymphozyten-prädominanten Form des Morbus Hodgkin nachgewiesen. Eine Pilotstudie von Younes et al. zur Therapie beim klassischen Hodgkin-Lymphom läuft seit 2003.
Im Dezember 2005 veröffentlichten Mathas und Mitarbeiter sowie Knight, Robertson und deren Mitarbeiter verschiedene molekulare Mechanismen zur Entstehung der Krankheit, die vorher weitgehend unklar und lange Gegenstand intensiver Forschung gewesen waren.
Literatur
Lehrbücher
P. Calabresi, B. A. Chabner: Antineoplastic Agents. In: A. G. Gilman, T. W. Rall, A. S. Nies, P. Taylor (Hrsg.): Goodman and Gilman’s the pharmacological basis of therapeutics. 8., internationale Ausgabe. McGraw-Hill Health Professions Division, New York / St. Louis / San Francisco 1992, ISBN 0-07-112621-X.
B. A. Chabner, D. L. Longo (Hrsg.): Cancer Chemotherapy and Biotherapy: Principles and Practice. 2. Auflage. Lippincott Williams & Wilkins Publishers, Philadelphia / Baltimore / New York 1996, ISBN 0-397-51418-2.
V. DeVita, S. Hellman, S. A. Rosenberg: Cancer. Principles and Practice of Oncology. 6. Auflage. Lippincott Williams & Wilkins Publishers, Philadelphia / Baltimore / New York 2000, ISBN 0-7817-2387-6.
F. L. Greene, D. L. Page, I. D. Fleming, A. Fritz, C. M. Balch: AJCC Cancer Staging Handbook. 6. Auflage. Springer, New York / Berlin / Heidelberg 2002, ISBN 0-387-95271-3.
P. A. Pizzo, D. G. Poplack: Principles and Practice of Pediatric Oncology. 4. Auflage. Lippincott Williams & Wilkins Publishers, Philadelphia / Baltimore / New York 2001, ISBN 0-7817-2658-1.
R. L. Souhami, I. Tannock, P. Hohenberger, J.-C. Horiot: Oxford Textbook of Oncology. 2. Auflage. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-262926-3.
Leitlinien
Weblinks
Deutsche Hodgkin-Studiengruppe (GHSG)
Kompetenznetz Maligne Lymphome
Detaillierte Informationen zur historischen Entwicklung der Hodgkin-Forschung (englisch)
Informationen zum Morbus Hodgkin bei Kindern und Jugendlichen der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH), Deutschland
Hodgkin-Lymphom. (PDF; 1,36 MB) Ratgeber der Deutschen Krebshilfe (Die blauen Ratgeber 21)
Einzelnachweise
Bösartige Tumorbildung
Kinderonkologie |
142787 | https://de.wikipedia.org/wiki/Flusspferd | Flusspferd | Das Flusspferd (Hippopotamus amphibius), auch Großflusspferd genannt, ist eine Säugetierart aus der Familie der Flusspferde und der Ordnung der Paarhufer. Innerhalb der Gattung Hippopotamus gilt es inzwischen als einziges Mitglied. Nach den Elefanten und neben einigen Vertretern der Nashörner und der Giraffen zählt es zu den größten landbewohnenden Tieren. Besondere Kennzeichen stellen der große, fassförmige und weitgehend haarlose Körper, die kurzen Gliedmaßen und der massige Kopf mit einem breiten Maul dar, in dem die Schneidezähne und vor allem die unteren Eckzähne vergrößert sind. Als Anpassung an eine teils wasserbewohnende Lebensweise liegen die Ohren, die Augen und die Nasenlöcher sehr weit oben am Kopf. Das Verbreitungsgebiet des Flusspferdes umfasst das Afrika südlich der Sahara und ist teils stark fragmentiert. Als hauptsächliche Lebensräume fungieren offene Landschaften und Waldgebiete, jedoch fehlt es weitgehend im tropischen Regenwald. Ursprünglich kam das Flusspferd auch entlang des Nils bis zu seinem Mündungsdelta vor, woher der gebräuchliche Name Nilpferd rührt. Am gesamten Unterlauf des Nils ist es heute ausgestorben, am Weißen und am Blauen Nil existieren noch Bestände.
Die Tiere halten sich am Tag in Gewässern auf. Ihre hauptsächlichen Aktivitäten beginnen zur Dämmerungszeit oder nachts, wenn sie die Ruheplätze verlassen und zu ihren Weidegründen an Land gehen. Sie sind überwiegend Pflanzenfresser und ernähren sich von unterschiedlichen Grasarten, seltener von Wasserpflanzen und von geplünderten Kulturpflanzen. Unter Umständen fressen sie auch fleischliche Ressourcen. Das Flusspferd zeigt ein komplexes Sozialverhalten. Es kommen verschiedene, jedoch zumeist instabile Gruppenbildungen vor. So formieren sich Verbände aus weiblichen Tieren mit ihrem Nachwuchs, Gruppen aus männlichen Individuen sowie gemischte Zusammenschlüsse. Einzelgängerische männliche Tiere sind häufig territorial gebunden und verteidigen ihr Paarungsvorrecht, solange sie sich in ihrem Revier aufhalten. Die Kommunikation ist vielfältig und besteht aus einem Repertoire an Gesten, von denen das weit geöffnete Maul die bekannteste ist, und Lautäußerungen. Letztere sind bisher nur wenig erforscht. Die Tiere verwenden sie sowohl unter Wasser als auch an Land. Die Paarung und die Geburt des meist einzelnen Jungtieres finden ausschließlich im Wasser statt, ebenso das Säugen. Zwischen dem Geschlechtsakt und der Niederkunft des weiblichen Tieres vergehen rund acht Monate. Durch sein Gruppenleben und den langen Zeitraum, den es im Wasser verbringt, aber auch sein Nahrungsverhalten hat das Flusspferd einen großen ökologischen Einfluss auf seine direkte Umgebung.
Vertreter der Gattung Hippopotamus traten vermutlich im Unteren Pliozän vor rund 5 Millionen Jahren erstmals auf. Der Ursprung liegt in Afrika, wo sie über einen reichhaltigen Fossilbericht mit zahlreichen Arten verfügt. Im Laufe ihrer Stammesgeschichte erreichte sie zudem Vorderasien und Europa. Letzteres besiedelte die Gattung wahrscheinlich mehrfach, da von hier neben einzelnen ursprünglicheren Formen auch Reste des eigentlichen Flusspferdes vorliegen. Die Anwesenheit der Tiere war aber weitgehend auf die Warmzeiten des Pleistozäns beschränkt. Auf einigen Inseln des Mittelmeeres bildeten sich Zwergformen heraus, gleichfalls sind verzwergte Flusspferde von Madagaskar überliefert. Insgesamt wird die Systematik der fossilen Formen von Hippopotamus als überarbeitungsbedürftig eingeschätzt.
Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Flusspferdes als Art und Gattung erfolgte im Jahr 1758. Zuvor wurde es überwiegend in Reiseberichten erwähnt. Eine Haltung in der modernen westlichen Welt ist nicht vor 1850 belegt. Es sind aber zahlreiche Berichte antiker Gelehrter überliefert, die wenigstens bis in das 6. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. In vorgeschichtlicher Zeit dienten die Tiere als Nahrungs- und Rohstoffquelle. Von ihrer Bedeutung zeugen vor allem seit dem ausgehenden Pleistozän und dem Holozän zahlreiche Felsmalereien im nördlichen und südlichen Afrika. Im Alten Ägypten wurde das Flusspferd im Form der Göttin Taweret verehrt. Dem Tier wohnten nach damaligem Glauben fürsorgliche und zerstörerische Kräfte inne. Zu dieser Zeit entstanden zahlreiche Statuetten, die zu den Verstorbenen in die Gräber gelegt wurden.
Der Bestand des Flusspferdes, der schätzungsweise 115.000 bis 130.000 Tiere umfasst, gilt als gefährdet. Hauptbedrohungen sind die Lebensraumzerstörung und die teils intensive Jagd. Es besteht außerdem ein intensiver Handel mit den Zähnen der Tiere. Die Abhängigkeit des Flusspferdes vom Wasser führt darüber hinaus zu Konflikten mit der örtlichen Bevölkerung. Nach einer weit verbreiteten Meinung zählt das Flusspferd zu den gefährlichsten Tieren für den Menschen, wofür es aber keine statistische Grundlage gibt. Außerhalb des angestammten Verbreitungsgebietes des Flusspferdes in Afrika besteht seit den 1990er Jahren eine Population am Río Magdalena in Südamerika, die aus einer aufgegebenen Tierhaltung hervorgegangen ist.
Merkmale
Habitus
Das Flusspferd ist ein großer und schwerer Vertreter der Paarhufer. Mehrere Untersuchungen wurden an einzelnen Populationen durchgeführt. So ergab sich an über 190 Tieren aus dem Kruger-Nationalpark in Südafrika eine Kopf-Rumpf-Länge von 259 bis 350 cm, eine Schulterhöhe von 110 bis 172 cm und ein Gewicht von 955 bis 1999 kg. Männliche Individuen sind in der Regel größer als weibliche. Die Maße ersterer lauten im Durchschnitt 312 cm, 150 cm und 1546 kg, die letzterer 299 cm, 144 cm und 1385 kg. In Uganda beträgt das Gewicht männlicher Tiere nach Messungen in den 1960er Jahren im Mittel 1536 kg mit einem Maximalwert von 2065 kg, das weiblicher 1386 kg beziehungsweise 1716 kg. Ähnliche Angaben liegen für Untersuchungen an rund 440 Tieren im Murchison-Falls-Nationalpark in Uganda aus den 1950er Jahren vor. Hier wiesen männliche Individuen ein Durchschnittsgewicht von 1475 kg und ein Maximalgewicht von 1895 kg auf, weibliche von 1360 kg und 2018 kg. Für mehrere hundert Tiere aus dem Flussgebiet des Luangwa in Sambia, die in den 1970er Jahren untersucht wurden, betrug die Schulterhöhe bei männlichen Individuen 130 bis 147 cm bei einem Gewicht von 1027 bis 1799 kg, bei weiblichen entsprechend 123 bis 151 cm und 891 bis 1565 kg. Das größte bekannte Individuum, ein Bulle, wog 2660 kg. Der Körper besitzt eine charakteristisch fassartige Form mit einem Rumpfumfang von gut 300 cm, die Gliedmaßen sind kurz und kräftig. Sie enden in jeweils vier nach vorn ragenden Zehen, die mit breiten Hufen ausgestattet und mit teilweise ausgebildeten Schwimmhäuten verbunden sind. Der Schwanz ist kurz und breit, seine Länge wird mit 40 bis 56 cm angegeben. Der Kopf zeigt sich massig und breit. Als typische Anpassung an ein semi-aquatisches Leben befinden sich die Ohren, Augen und Nasenöffnungen sehr weit oben am Kopf. Im Vergleich zum großen Kopf sind die Ohren sehr klein. Die Nasenlöcher können durch muskulöse Klappen verschlossen werden. Die Körperfärbung variiert zwischen dunkel rötlichbraun am Rücken und fleischfarben auf der Unterseite, sie ist jedoch individuell sehr verschieden. Die scheinbar nackte Haut ist von kurzen Haaren bedeckt, ihre Dichte liegt bei 20 bis 30 je 100 cm² am Rücken, sie dünnt auf etwa die Hälfte an den Seiten aus, am Bauch ist die Haarbedeckung noch spärlicher. Ein dünner Haarflaum ist auch jeweils an den Kopfseiten, den Lippen und am Nacken ausgebildet. Einige borstenartig dickere Haare finden sich am Maul und Schwanz.
Schädel- und Gebissmerkmale
Der Schädel des Flusspferdes ist groß und wuchtig. Er wird bei männlichen Tieren 63,5 bis 77,0 cm lang und an den Jochbögen 36,8 bis 48,3 cm breit. Der Hirnschädel ist zwischen 17,4 und 22,2 cm hoch. Bei weiblichen Tieren fallen die Maße etwas geringer aus und lauten entsprechend 57,7 bis 69,0 cm, 32,7 bis 41,1 cm sowie 16,7 und 20,2 cm. Der gesamte vordere Schädelabschnitt mit dem Rostrum ist umfangreicher ausgebildet als der hintere. Das Rostrum verbreitert sich nach vorn deutlich, was durch die Zahnfächer der Eckzähne bedingt ist. Auf Höhe der Prämolaren schnürt es wiederum markant ein. Dahinter setzt sich der kleine, rundliche Hirnschädel ab. Das breite Rostrum, die starke Verengung im mittleren Abschnitt und der etwas verbreiterte hintere Teil geben dem Schädel in Aufsicht die Form einer Sanduhr. Auf dem Oberschädel treten kräftige Knochenrippeln auf, dazu zählen der Scheitelkamm und die Überaugenwülste. Ersterer ist massiv und steigt, bedingt durch die Form des Hirnschädels, auf. Beim Zwergflusspferd (Choeropsis liberiensis) hingegen ist er abwärts gerichtet. Letztere werden durch die hohe Lage der Orbitae auf knöchernen Sockeln hervorgerufen. Dadurch befindet sich der obere Rand der Augenhöhle deutlich oberhalb der Stirnlinie, der Abstand kann bis zu 5,5 cm betragen, während er beim Zwergflusspferd geringer ist. Zudem findet sich am vorderen Rand der Orbitae eine markante Grube, die zu den definierenden Merkmalen der Gattung Hippopotamus zählt. Als weiteres wichtiges Merkmal hat das Stirnbein keinen Kontakt mit dem Nasenbein, da sich ein stark vergrößertes Tränenbein dazwischen schiebt. Der weit auskragende Jochbogen dient als Ansatzstelle für eine massive Masseter- und Temporalis-Muskulatur.
Auch der Unterkiefer ist äußerst robust gestaltet und als eine einzigartige Besonderheit schwerer als der Schädel. Seine Länge variiert von 39,8 bis 62,0 cm, seine Höhe unterhalb des zweiten Mahlzahns von 10,9 bis 14,3 cm. Auffallend ist die extrem weit nach hinten verlagerte Position des Gelenkfortsatzes, der nahe dem Hinterhaupt mit dem Schädel artikuliert. Dies ermöglicht die weite Maulöffnung der Tiere bis zu 150°. Der Winkelfortsatz am hinteren Ende des Unterkiefers zieht nach unten hakenförmig aus. Das Gebiss besteht aus 36 bis 40 Zähnen und zeigt folgende Zahnformel: . Das innere Schneidezahnpaar ist größer als das äußere. In der oberen Zahnreihe besitzen die Schneidezähne einen rundlichen, in der unteren einen dreieckigen Querschnitt. Die Eckzähne haben eine hauerartige Gestalt, die unteren sind größer und können eine Gesamtlänge von 70 cm erreichen (von denen 30 cm aus dem Zahnfleisch ragen), der größte Zahn wurde bei einem Tier aus dem Kongogebiet mit fast 164 cm Gesamtlänge registriert. Ihr dreieckiger Umriss weist mit der flachen Seite nach hinten und der spitzen nach vorn. An den oberen Eckzähnen ist hinten eine längsgerichtete, flache Rille ausgebildet. Die Innenseite der unteren Eckzähne wird durch den Kontakt mit den oberen Gegenstücken bei geschlossenem Maul glattgerieben. Der dicke Zahnschmelz der Eckzähne faltet sich zu markanten Rippeln, die an den unteren konvergent verlaufen. Sowohl die Schneide- als auch die Eckzähne haben keine Wurzeln und wachsen lebenslang. Der jährliche Zuwachs beträgt für die unteren Eckzähnen etwa 28 bis 30 mm bei jüngeren und 13 bis 14 mm bei älteren Individuen. Die Wachstumsrate der Eckzähne verlangsamt sich mit einem Alter von 20 bis 25 Jahren, sie ist bei weiblichen Tieren generell geringer als bei männlichen, so dass die Eckzähne bei ersteren nur halb so schwer werden wie bei letzteren. Gleiches gilt für die Schneidezähne. Die vorderen Zähne dienen nicht der Nahrungsaufnahme, sondern erfüllen „repräsentative“ Zwecke. Die Prämolaren verfügen in der Regel über einen Höcker, die Molaren weisen zwei Paar Höcker auf, nur der hinterste drei. Die vorderen Backenzähne stehen parallel zueinander oder konvergieren leicht. Generell sind die Backenzähne stark hochkronig (hypsodont), so dass die Höhe in der Regel ihre Weite übertrifft. Die Länge der Backenzahnreihe des Unterkiefers reicht von 23,2 bis 29,8 cm, die des Oberkiefers von 21,3 bis 27,8 cm.
Verbreitung
Das Flusspferd kommt derzeit in Afrika südlich der Sahara vor (Subsahara-Afrika). Das Verbreitungsgebiet reicht vom Senegal und Gambia im Westen ostwärts bis in den Sudan sowie Äthiopien beziehungsweise Somalia und südwärts bis in das nördliche Südafrika und bis nach Botswana. Die Tiere bewohnen überwiegend offene Graslandschaften und Miombo-Waldgebiete, die in jedem Fall mit Gewässern in Form von Strömen, Flüssen oder Seen verbunden sind. Abseits von großen Flussgebieten treten sie nicht in tropischen Regenwäldern auf. In Westafrika ist das Flusspferd auch an den Unterläufen von Strömen anzutreffen und dringt teilweise in küstennahe Meeresgewässer vor. Einzelne Bestände wurden im 19. und 20. Jahrhundert von der Insel Mafia rund 17 km vor der ostafrikanischen Küste berichtet, die eventuell bis in die Gegenwart überdauern. Erreicht haben die Tiere die Insel über die Mündung des Rufiji. Für die Nachbarinseln Sansibar und Pemba liegen keine Belege vor. Die Höhenverbreitung reicht dementsprechend vom Meeresspiegel bis auf 2000 m Gebirgslage. Für die höheren Lagen bemerkenswert ist das Vorkommen des Flusspferdes im Ngorongoro in Tansania, wozu die Tiere längere Strecken über trockene Landschaften und die Ersteigung der mehrere hundert Meter hohen Kraterwand absolviert haben müssen. Vergleichbares gilt für die mittlerweile verschwundenen Bestände in einigen Seen im Hanang-Gebiet von Tansania, das zu den trockensten der Region zählt.
Insgesamt ist das Flusspferd in 29 Ländern vertreten. Die größten Populationen finden sich im südlichen und im östlichen Afrika mit rund 60.000 beziehungsweise 50.000 Individuen. Den größten Anteil daran haben Sambia mit 40.000 bis 45.000, Tansania mit bis zu 20.000 und Uganda mit bis zu 10.000 Individuen. Im westlichen Afrika ist die Art selten und die Population auf eine Reihe kleinerer Gruppen aufgeteilt, die insgesamt rund 7500 Tiere in 19 Ländern umfassen. In einigen Regionen wie in der Republik Kongo oder in Gambia werden nur einige Dutzend Tiere vermutet. In historischer Zeit kam das Flusspferd zudem in Nordafrika vor, hauptsächlich im Niltal, wo es um 1700 noch im Deltagebiet und am Unterlauf nachgewiesen war. Dort verschwand es Anfang des 19. Jahrhunderts durch Bejagung. Ebenso wurde es in der Kapregion im südlichen Afrika ausgerottet. Hohe Populationsdichten sind aus dem Queen-Elizabeth-Nationalpark in Uganda und der Luangwa-Region Sambias bekannt mit 28 bis 42 Individuen je Quadratkilometer.
Lebensweise
Territorial- und Sozialverhalten
Anpassungen und Physiologie
Das Flusspferd lebt semi-aquatisch und ist gut an dieses Milieu angepasst. Zu den begünstigenden Merkmalen hierfür gehören die sehr weit oben am Kopf positionierten Nase, Augen und Ohren, so dass die Tiere sie beim Schwimmen über der Wasserlinie halten können. Beim Tauchen verschließt ein Reflex die schlitzartigen Nasenlöcher und die Ohren, zum Atmen muss ein Tier in Abständen von etwa sechs Minuten auftauchen. Die kurzen Gliedmaßen sind als eine funktionale Modifikation anzusehen, ebenso wie die kompakten und teils verdichteten Knochen, deren Markröhren mit spongiosem Material gefüllt sind. Die massiver ausgebildeten Vorderbeine tragen den größeren Teil des Körpergewichts, was unter anderem der Fortbewegung im Wasser zugutekommt. Allerdings fehlen dem Flusspferd auch einige typische Kennzeichen wie eine Stromlinienform, zudem zeigen Vorder- und Hinterläufe nur bedingt besondere Schwimmeigenschaften etwa in Form der partiell ausgebildeten Schwimmhäute.
Die Epidermis der Haut ist sehr dünn, teilweise nur rund 1 mm wie am Rücken. Durch zahlreiche Nerven weist sie eine hohe Sensibilität auf. Sie kann durch Äste und Zweige von Büschen sehr leicht verletzt werden, heilt jedoch recht schnell. Außerdem bricht sie durch Trocknung an Land rasch und muss daher feucht gehalten werden. Die Dermis dagegen ist sehr dick. Am Rücken und an den Seiten erreicht sie 60 mm, am Kopf, Nacken und Bauch wird sie dünner. Insgesamt wiegt die Haut rund 270 kg, was rund 18 % des Körpergewichts eines Individuums ausmacht, und bedeckt eine Fläche von 10 m².
Es sind keine Schweißdrüsen ausgebildet, allerdings sondern spezielle subdermale Hautdrüsen eine alkalische Flüssigkeit mit einem pH-Wert von 8,5 bis 10,5 ab, die die Tiere vor der Austrocknung schützt. Diese Ausscheidungsorgane verteilen sich in einem dichten Netz von einer Drüse je Quadratzentimeter über die Körperoberfläche, haben einen linsenförmigen Umriss und besitzen jeweils zwei Drüsenkanäle. Die zunächst farblose Flüssigkeit verfärbt sich innerhalb von ein paar Minuten rötlich und später bräunlich. Bestandteil dieser Flüssigkeit sind zwei nicht-benzoide, aromatische Pigmente, ein rotes, das als Hipposudorinsäure, und ein orangefarbenes, das als Norhipposudorinsäure bezeichnet wird. Beide wirken sowohl als Sonnenschutz, indem sie UV-Strahlen absorbieren, als auch antibiotisch gegen verschiedene Krankheitserreger. Das rötliche Schimmern hat früher zu der Vermutung geführt, das Flusspferd würde Blut schwitzen.
Eine weitere Funktion des Sekrets betrifft die Thermoregulation, die überwiegend über die Haut erfolgt. Sie findet über die Wasserverdunstung statt, die im Vergleich zu anderen Säugetieren beim Flusspferd sehr intensiv ausfällt, insbesondere wenn die Haut nass und mit den Drüsenflüssigkeiten bedeckt ist. Die Körpertemperatur liegt bei rund 36 °C und schwankt nur sehr wenig an Land. In der Regel vermeiden die Tiere Hitzestress und halten sich deshalb tagsüber im Wasser auf. Allerdings schließt dies auch verschiedene Sonnenbäder ein, die je nach Jahreszeit und Umgebungstemperatur unterschiedlich lang ausfallen können.
Aktivitätsrhythmus
Das Flusspferd ist weitgehend dämmerungs- und nachtaktiv. Es verbringt praktisch den ganzen Tag schlafend bzw. ruhend im Wasser oder in Gewässernähe, was mehr als zwölf Stunden in Anspruch nehmen kann. Bevorzugte Wassertiefen für die Ruheplätze reichen von 1,3 bis 1,5 m. Größere Aktivitäten im Gewässer entfalten sich am späten Nachmittag und frühen Abend zwischen 16:00 und 19:00 Uhr. Bei Dämmerung begeben sich die Tiere an Land und wandern zu ihren Weidestellen. Die Nahrungsaufnahme dauert bis zu sechs Stunden. Der Rhythmus ist weitgehend abhängig vom Wetter und von der Jahreszeit, da die Tiere unter feuchteren Bedingungen auch länger außerhalb der Gewässer verweilen und mitunter in ihren Weidegründen rasten oder diese mehrfach aufsuchen. Für Tiere aus den Boye-Feuchtgebieten bei Jimma in Äthiopien ergab sich eine Verteilung der Aktivität auf 51,2 % Ruhe, 34,2 % Wanderung, 19,6 % Nahrungsaufnahme und 3,7 % Paarung. Bullen rasten durchschnittlich länger als Kühe, die mehr Zeit in Wanderung und Ernährung investieren.
Sozialorganisation und Raumnutzung
Ausgedehnte Studien zur Sozialstruktur des Flusspferdes fanden unter anderem im Queen-Elizabeth-Nationalpark in Uganda, im Masai Mara in Kenia oder im Okavangodelta in Botswana statt. Das Sozialverhalten des Flusspferdes ist variabel. Nach Untersuchungen im Masai Mara setzte sich eine 2800-köpfige Population zu 8 % aus Bullen, zu 36 % aus Kühen und zu 56 % aus Jungtieren zusammen, hier entfielen fast je eine Hälfte auf nahezu ausgewachsene Individuen und auf Neugeborene. Das Flusspferd tritt einzelgängerisch auf oder mehrere Individuen schließen sich zu einer Gruppe zusammen, deren durchschnittliche Größe im Masai Mara bei rund einem Dutzend Tiere liegt. Dabei gibt es verschiedene Formen der Gruppenbildung, einerseits solche aus weiblichen Tieren mit ihrem Nachwuchs, andererseits Junggesellengruppen mit männlichen Individuen. Allerdings sind die Grenzen nicht eindeutig festgelegt, da sich häufig auch Vertreter des anderen Geschlechts in den jeweiligen Gruppen aufhalten können. Keiner der Verbände ist stabil, es handelt sich eher um lose Verbände von Tieren an begünstigten Plätzen. Sie können je nach Attraktivität des Gebietes bis zu 200 Individuen umfassen. In Regenzeiten teilen sich bestehende Gruppen häufig auf, so dass sich weniger Tiere in einer Gruppe finden als in Trockenzeiten. Die einzige dauerhafte Beziehung ist die zwischen der Mutter und ihrem Nachwuchs, die mehrere Jahre anhält.
Einzelgängerische Bullen etablieren in der Regel ein eigenes Revier, ihre soziale Organisation beruht auf Territorialität. Die Territorien umfassen häufig die Uferlinien von Flüssen und Seen. Sie können sich über 50 und 100 m wie am Fluss Ishasha oder 250 bis 500 m wie am Eduardsee, beides im Queen-Elizabeth-Nationalpark, ausdehnen. Die Grenzen verschieben sich über das Jahr, da eine Abhängigkeit von der Populationsdichte einer Region besteht. Außerdem spielen natürliche Faktoren wie die Änderung der Wasserführung eines Flusses oder der Verlauf des Seeufers infolge von Dürren oder Regenfällen beziehungsweise Überflutungen eine Rolle. Häufig beansprucht ein Individuum sein Territorium über eine lange Zeit. Einzelne Beobachtungen erfolgten über viereinhalb bis zwölf Jahre, teilweise wird vermutet, dass ein einzelnes Tier sein Revier während seines gesamten Lebens besetzt. Die Grenzen eines Territoriums schließen einen oder mehrere Aktionsräume gruppenlebender Individuen ein. Dabei sind Territorien und Aktionsräume nicht identisch. Im Ruaha-Nationalpark in Tansania nutzen größere, fast ausgewachsene Jungtiere weitaus ausgedehntere Aktionsräume, die die Größe der Territorien dominanter Bullen um das Dreifache übertreffen. Die dafür erforderlichen Wanderungen von teils mehr als 4 km werden wohl daher unternommen, um innerartlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen, vor allem zu den Trockenzeiten, wenn die einzelnen Gruppen enger zusammenrücken.
Der Anspruch auf ein Revier wird durch die Anwesenheit des männlichen Tieres, seinem Dominanzgebaren und durch Defäkation ausgedrückt. Der Kot, den ein Bulle durch Wackeln mit dem Schwanz verteilt, häuft sich zu größeren Hügeln mit einer Fläche von mehreren Quadratmetern auf. Diese Hügel markieren aber nicht die eigentlichen Reviergrenzen, sondern dienen vielmehr als Orientierungspunkte. Sie verhindern auch nicht das Eindringen fremder Bullen in ein Territorium, mitunter stimulieren sie ein anderes Individuum, dort ebenfalls seine Fäkalien abzulegen. Benachbarte Bullen defäkieren teilweise ritualisiert zur gleichen Zeit im Wasser und schauen sich dabei an oder in die entgegengesetzte Richtung mit hoch gehobenen Kopf und nach vorn orientierten Ohren, was jeweils Dominanz bedeutet.
Wie andere Flusspferde begibt sich ein Bulle nachts zur Nahrungssuche landeinwärts und verlässt damit sein Revier. Überschreitet ein Bulle seine eigenen Reviergrenzen, verliert er seine dominante Stellung und erlangt den Status eines untergeordneten Tieres im Verhältnis zum Eigentümer des anderen Territoriums. Generell ist das Flusspferd aber friedfertig gegenüber allen Artgenossen, was auch Bullen einschließt, sofern sie das Zeugungsvorrecht des dominanten Tieres anerkennen. Mitunter können sich dadurch auch Junggesellengruppen mit einer Individuengröße von bis zu 100 Tieren im Revier eines territorialen Bullen aufhalten. Eine dichtere Drängung der Tiere an einzelnen Wasserstellen, wie häufig in der Trockenzeit, kann zu einer erhöhten Aggression führen, die sich gegen jedes Geschlecht und jede Altersstufe richtet, meist aber wenig Körpereinsatz mit sich bringt. Kämpfe zwischen benachbarten Tieren sind ritualisiert und werden frontal geführt. Sie sind teilweise verbunden mit dem Aufspritzen von Wasser, was eine Grenze anzeigen soll. Echte Kämpfe hingegen finden in seitlicher Position statt. Jedes Tier versucht dann, mit Hilfe der großen Eckzähne die Seite des Gegenübers zu treffen. Trotz der insgesamt dicken Haut kann dies zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen.
Die vorwiegend in der Nacht aufgesuchten Weideflächen liegen teils mehrere Kilometer von den angestammten Wasserstellen entfernt. Im Gegensatz zu den Territorien der Bullen sind die Nahrungsgründe nicht monopolisiert. Sie werden daher gemeinsam genutzt und unterliegen keiner Verteidigung. Der Gang zu den Weideflächen und die Nahrungsaufnahme finden einzeln oder in Mutter-Jungtier-Gruppen statt. Mit Ausnahme letzterer kommt es dabei kaum zu sozialen Interaktion, so dass jedes Individuum für sich allein frisst. Im Masai Mara entfernen sich die Tiere dafür bis zu 1350 m von ihrer Wasserstelle, im Kruger-Nationalpark in Südafrika kann der Abstand bis zu 4,5 km betragen. Die Entfernungen sind meist abhängig von der Produktivität einer Landschaft.
Fortbewegung und Kommunikation
Obwohl das Flusspferd einen Großteil seines Lebens im Wasser verbringt, ist es kein guter Schwimmer. Meistens läuft es auf dem Grund eines Gewässers entlang oder lässt sich vom Wasser tragen; die Fortbewegungsart wird manchmal als „Schwimmlaufen“ bezeichnet. Dabei nutzt das Flusspferd eine Art Galopp mit relativ ausgedehnten Sprungphasen, die länger dauern als die Kontaktphasen mit dem Grund. Bei jedem Sprung legt ein Tier zwischen 1,0 und 2,4 m zurück. Die erreichten Geschwindigkeiten liegen bei 0,2 bis 0,6 m je Sekunde. Tauchgänge können eine Dauer von 30 Minuten erreichen. An Land bewegt sich das Flusspferd hingegen bei niedrigen Geschwindigkeiten in einer Art Passgang vorwärts, bei dem zumeist drei Füße gleichzeitig den Boden berühren und so den massigen Körper stabilisieren. Lediglich in einer kurzen Sequenz kommt es zu einer bipedalen Phase. Höhere Geschwindigkeiten werden durch einen Trab mit diagonaler Beinbewegung erreicht. Maximale Geschwindigkeiten bei Flucht oder Angriff betragen rund 30 Kilometer pro Stunde. Das Flusspferd ist trotz seines massiven Körperbaus dadurch relativ agil.
Die innerartliche Kommunikation des Flusspferds ist vielfältig. Hierzu gehören vor allem die Körpersprache und Gestik. Dominante Bullen sind häufig an vorgestellten Ohren erkennbar, Kühe und untergeordnete Tiere an zurückgelegten. Verbunden ist das Dominanzgebaren mit einem erhobenen Kopf und gekrümmtem Rücken, was eine größere Massivität ausdrückt. Zu den bekanntesten Gesten gehört das aufgerissene Maul. Hierbei wird der Kopf zurückgeworfen, so dass die Stirnlinie im rechten Winkel zum Rücken steht. Dominante Tiere halten diese Gebärde bis zu acht Sekunden lang. Allerdings wird das aufgerissene Maul von fast allen Mitgliedern einer Gruppe einschließlich der Jungtiere praktiziert und findet in größerem Maße abends vor dem Landgang statt. Eventuell ist dieses Verhalten ein Ausdruck der Aufregung. Bei Angriffen öffnen die Tiere ihr Maul nur teilweise. Unterwürfiges Verhalten zeigt sich durch einen gesenkten Kopf, Schwanzwedeln und Lippenschmatzen. Es beginnt an Land bereits in rund 100 m Entfernung zum Kontrahenten, manchmal kriechen untergeordnete Tiere die letzten Meter und schnüffeln dann an der Genitalregion des territorialen Bullen. Im Wasser spielen Nasenkontakte eine Rolle, mitunter verharrt das untergeordnete Individuum über Stunden in der Umgebung des dominanten Tieres. Teilweise kommt es auch zur Defäkation, wobei die Bedeutung hier nicht eindeutig ist.
Über die Lautgebung des Flusspferdes liegen wenige Informationen vor. Am häufigsten ist sie zur Zeit der stärksten Aktivitäten im Wasser wahrnehmbar, die am späten Nachmittag stattfindet. An Land ist sie nur selten zu sehen. Als semi-aquatisch lebendes Tier ist das Flusspferd befähigt, sich sowohl an Land als auch unter Wasser mittels Vokalisation mit Artgenossen zu verständigen. Normalerweise stößt eine Kommunikation, die über beide Medien gleichzeitig erfolgt, auf Schwierigkeiten, da Schallwellen an den Grenzen brechen. Nur rund 4 % aller Lautgebungen erfolgen ausschließlich durch die Luft. Dem gegenüber erzeugt das Flusspferd fast zwei Drittel seiner Vokalisationen unter Wasser. Sie sind an der Oberfläche schwer wahrnehmbar und benötigen kaum Luft für ihre Modulation. Die Funktion der Töne ist nicht in allen Fällen eindeutig. Weinlaute, die nur kurz dauern und teilweise mit einzelnen Klicklauten kombiniert werden, stehen möglicherweise mit Aggressoren in Verbindung. Dagegen werden Krächzlaute bei genereller Alarmbereitschaft oder Aufmerksamkeit ausgestoßen, beziehungsweise dienen als Kontaktrufe, etwa in trübem Wasser. Sie bestehen aus einer Serie von etwa einem halben Dutzend Pulsen, die jeweils meist 2 Millisekunden anhalten und Frequenzen von 600 bis 1800 Hz, im Maximum auch 9000 Hz erreichen. Dabei kann die Tonlage gleich bleiben oder sich ändern, was möglicherweise variable Motivationen ausdrückt. Während sozialer Interaktionen werden Klicklaute ausgestoßen, die sehr variantenreich sein können und sowohl im Breitband- als auch im Schmalbandbereich stattfinden. Auch diese setzen sich aus mehreren Pulsen zusammen, die kürzer sind als bei den Krächzlauten. Breitbandklicks erfolgen in Frequenzen bis 7800 Hz, Schmalbandklicks hingegen übersteigen nur selten 2000 Hz. Ein Tier vermag dabei Laute individuell zu unterscheiden. Untersuchungen aus dem Jahr 2022 ergaben, dass Rufe aus der eigenen Gruppe nur wenige Reaktionen auslösen. Dagegen intensiviert sich die Aktivität bei Rufen gruppenfremder Artgenossen. Verbunden ist dies dann teilweise mit einem gesteigerten Markierungsverhalten.
Nahezu ein Drittel der Laute des Flusspferdes ist amphibischer Natur und breitet sich demnach durch das Wasser und die Luft aus. Für diese Form der Kommunikation befinden sich die Tiere in halb abgetauchter Position mit den Augen und den Nasenlöchern über, dem Maul und der Kehle unter Wasser. Die hierfür benötigte Luft wird für die Überwasserkommunikation mittels des Rachens durch die Nase gepresst, für die Unterwasserkommunikation aktiviert der Kehlkopf die Haut- und Fettgewebe der Kehle. In völlig abgetauchter Position sind die Lautmodulationen teilweise mit einer aufsteigenden Luftblase verbunden. Die Wahrnehmung erfolgt für die luftgestützten Laute mittels der Ohren, für die wassergestützten wohl über die Knochenleitung des Unterkiefers. Die Schallwellen breiten sich aufgrund der variierenden Dichte der Medien unterschiedlich schnell aus und haben eine sehr unterschiedliche Reichweite. In der Luft sind sie langsamer mit niedrigeren Maximalfequenzen (um 210 Hz), im Wasser schneller und mit höheren Maximalfrequenzen (über 2000 Hz). Außerdem ist der Schalldruck im Wasser stärker, die höhere Dichte des feuchten Mediums führt aber zu einer geringeren Intensität der Laute. Amphibische Laute werden von den Tieren meist bei Störungen eingesetzt, etwa bei einem Kampf oder bei Anwesenheit von Löwen, die eine Gefahr für Jungtiere sind. Neben dem bereits erwähnten Krächzen, Klicken und Weinen können Flusspferde auch Schrei- sowie variable Knurr-, Grunz- und Schnaublaute ausstoßen, einschließlich eines Nasenflatterns. In der Regel ruft zuerst der dominante Bulle. Die Gruppe beantwortet dieses Signal und stimuliert damit benachbarte Ansammlungen. Durch die Luft können sich die Antworten über mehrere Territorien erstrecken bis zu einer Distanz von 3,2 km. Unter Wasser bleiben in der Regel die benachbarten Gruppen involviert, so dass die größte Ausbreitung rund 500 m beträgt.
Ernährung
Das Flusspferd ist ein Pflanzenfresser. Es nimmt hauptsächlich Gräser zu sich. Bei Studien in den Boye-Feuchtgebieten in Äthiopien ließen sich 26 Arten bestimmen, unter denen Eriochloa mit einem Anteil von fast 12 %, Rohrkolben und Hühnerhirsen mit jeweils über 9 % sowie Hundszahngräser mit über 8 % zu den favorisierten Pflanzen zählen. Im Masai Mara sind rund ein Dutzend Grasarten als Nahrung des Flusspferdes belegt. Hierzu gehören Themada, Sporobolus und Andropogon sowie Liebesgräser. Im Queen-Elizabeth-Nationalpark konnten über 30 verschiedene Grasarten identifiziert werden, die von den Tieren konsumiert werden. Bedeutung haben vor allem Hundszahngräser, aber auch Gattungen wie Chloris, Heteropogon, Sporobolus und Themada sind mit einem hohen Anteil vertreten. Gelegentlich frisst das Flusspferd einzelne krautige Pflanzen wie Angehörige der Gattung Alternanthera. Dies gilt auch für Früchte wie solche vom Leberwurstbaum. Teilweise fressen die Tiere zusätzlich verschiedene Wasserpflanzen, darunter Wassersalat. Ähnliches wurde im südlichen Afrika beobachtet, wo unter anderem Seerosen, Salden und Laichkräuter zum Nahrungsspektrum gehören. Aus dem zentralen und westlichen Afrika liegen bisher nur wenige Untersuchungen zur Ernährungsweise des Flusspferds vor. Im Nationalpark Loango in Gabun ließen sich bei Feldstudien insgesamt neun Pflanzenarten feststellen, von denen das Süßgras Paspalmum mit 81 % den höchsten Anteil aufwies, gefolgt von Axonopus und Stenotaphrum. Daneben sind einzelne Schmetterlingsblütler und Wasserpflanzen wie Wassernabel dokumentiert. Mit rund neun bevorzugten Pflanzen im Nationalpark W im Niger ist die Zahl ähnlich gering. Hier dominieren Tagblumen, Hühnerhirsen und Reis. Tiere suchen regelmäßig Ackerflächen mit Reis, Mais oder Teff, teilweise auch Bananenplantagen auf und plündern dadurch Nutzpflanzen. Isotopenuntersuchungen an Individuen aus den unterschiedlichen Regionen Afrikas stimmen weitgehend mit den Beobachtungen überein. Demnach besteht ein Großteil der Nahrung aus C4-Pflanzen, in Regionen mit geschlossener Vegetation wie im zentralen Afrika kommen höhere Mengen an C3-Pflanzen hinzu. Darüber hinaus kann die Zusammensetzung den Daten zufolge regional sowie saisonal schwanken mit einem hohen Anteil an C4-Pflanzen in den trockenen Jahresabschnitten und mit einer gemischten Kost aus C3- und C4-Pflanzen in den feuchten Gebieten. Einzelnen Berichten zufolge frisst das Flusspferd gelegentlich Aas und Fleisch von Tieren, das es selbst getötet hat, was auch eigene Artgenossen einschließt. Es wurde zwar selten beobachtet, grundsätzlich jedoch ist ihm das Verdauen von Fleisch möglich.
Generell ist das Flusspferd ein opportunistischer Pflanzenfresser, der zwar einzelne Pflanzen bevorzugt, diese aber ohne Vorauswahl bestimmter vegetativer Teile konsumiert. Das große und dicklippige Maul und die spezielle Unterkieferaufhängung verhindern eine feine Selektion der Nahrung. Deshalb suchen die Tiere Bereiche mit häufigem Vorkommen ihrer favorisierten Pflanzen und fressen dann umfangreichere Flächen leer. Die Menge der konsumierten Pflanzen ist umso höher, je weiter die Weideplätze von den Wasserstellen entfernt liegen. Insgesamt unterscheidet sich die Ernährungsstrategie des Flusspferdes mit der Beschränkung auf einen bestimmten Tagesabschnitt und Entfernung von den angestammten Aktionsräumen und Territorien von der anderer großer Pflanzenfresser wie den Elefanten oder Nashörnern, die über lange Zeit auf Nahrungssuche gehen und dabei weit umherschweifen. In der Regel wird das Gras zwischen die Lippen gepresst und mit einer Kopfbewegung abgerissen. Die Schneide- und Eckzähne haben bei der Nahrungsaufnahme keine Funktion, erstere werden aber teilweise zum Graben eingesetzt. Die Nahrungsaufnahme findet zumeist nachts statt und kann mehrere Stunden beanspruchen. Bei schlechter Pflanzenqualität frisst das Flusspferd auch tagsüber. Pro Tag nimmt ein Tier zwischen 20 und 45 kg Nahrung zu sich. Bezogen auf die Trockenmasse entspricht dies 0,9 bis 1,3 % des Körpergewichts. Der Magen fasst durchschnittlich 34,9 kg bei männlichen und 37,4 kg bei weiblichen Individuen, was 12,8 beziehungsweise 15,2 % des Körpergewichts ausmacht. Das Flusspferd hat einen konvergent zu den Wiederkäuern entwickelten vierkammerigen Magen. Dieser weist zwei Blindsäcke auf, in denen die Nahrung durch Mikroorganismen zersetzt wird. Sie käuen aber nicht wieder. Die Passagezeit der Nahrung ist relativ lang, was eine effiziente Verwertung der eher nährstoffarmen Gräser ermöglicht.
Fortpflanzung
Die Paarung erfolgt das gesamte Jahr über. Sie findet im Wasser statt, dabei ist das Weibchen die meiste Zeit untergetaucht und kommt nur zum Luftholen an die Oberfläche. Es können bis zu sechs Begattungen pro Nacht stattfinden. Manchmal sucht die Kuh nach erfolgreicher Verpaarung noch zwei oder mehr Territorien für weitere Paarungsaktivitäten auf. Die Tragzeit beträgt rund 227 bis 240 Tage. Zumindest in manchen Regionen lässt sich eine Saisonalität bei der Fortpflanzung erkennen. So fallen in Uganda die meisten Geburten in die Monate Oktober und April, die Jahresabschnitte mit dem meisten Regen. Auch in Südafrika kommt die überwiegende Zahl der Jungtiere in den feuchten Monaten Oktober bis März zur Welt. Ähnliches wurde in Sambia beobachtet.
Kurz vor der Niederkunft trennt sich das werdende Muttertier von der Gruppe. Die Geburt vollzieht sich in seichtem Wasser, bei Störungen sucht die Kuh tieferes Wasser auf. Üblicherweise kommt ein einzelnes Jungtier zur Welt, Zwillinge sind selten. Neugeborene wiegen zwischen 25 und 55 kg und können sofort nach der Geburt laufen und sich vom Wassergrund zur Oberfläche abstoßen. Gesäugt wird im Wasser, der Nachwuchs aktiviert dabei mit seiner Zunge die Milchdrüsen des Muttertiers. Vermutlich spritzt die Mutter einen Teil der Muttermilch durch Muskelkontraktion in das Maul des Jungen, ähnlich wie es bei Walen bekannt ist. Das Muttertier ist sehr fürsorglich. Es lässt den Nachwuchs in tieferem Wasser auf dem Rücken reiten und verteidigt ihn vehement gegen Fressfeinde und Artgenossen. Besonders aggressiv geschieht dies in den ersten zehn Tagen. Während dieser Zeit nimmt die Mutter kaum Nahrung zu sich. Erst danach beginnt sie tagsüber am Flussufer zu fressen, während das Junge in der Nähe ruht. Nach mehreren Wochen wandern Mutter und Junges gemeinsam in der Nacht zu den weiter entfernten Weidegründen. Das Junge bleibt im Gebüsch versteckt, während die Mutter weidet. Die erste feste Nahrung konsumieren die Jungtiere mit rund sechs bis acht Wochen. Nach rund sechs bis acht, teilweise auch erst nach zwölf Monaten wird der Nachwuchs entwöhnt. Die Wachstumsphase ist bei beiden Geschlechtern anfangs gleich, ab rund 24 Lebensjahren verlangsamt sie sich bei weiblichen Tieren, während männliche Individuen ihr gesamtes Leben lang an Größe zunehmen können.
Die Geschlechtsreife tritt bei männlichen Individuen mit sieben bis acht Jahren ein, ermittelt an der Größe der Hoden, allerdings kann die Spermienbildung bereits mit zwei Jahren einsetzen. Bei weiblichen Tieren liegt der Zeitraum aufgrund der Größe der Follikel in der Regel bei etwa sieben Jahren, einzelne Individuen erreichten dies jedoch bereits mit drei Jahren. Die erste Fortpflanzung findet zumeist deutlich später statt. Im Kruger-Nationalpark wurde sie mit rund elf Jahren ermittelt, in Uganda und Sambia teilweise auch erst mit 20 Jahren. Die Unterschiede sind wohl in der Populationsdichte und in der Qualität des Nahrungsangebots begründet. Tiere in menschlicher Gefangenschaft können sich mitunter schon im Alter von etwas mehr als zwei Jahren fortpflanzen. Männliche Tiere sind während ihres gesamten Lebens sexuell aktiv.
Das Geburtsintervall beträgt rund zwei bis drei Jahre. Der Sexualzyklus dauert etwa 50 Tage, mit einem zwei bis drei Tage anhaltenden Östrus. Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt beträgt 1:1. Es gibt Hinweise darauf, dass Kühe kurz nach der Geburt wieder geschlechtsreif sind (Postpartum-Östrus), da rund 25 % der untersuchten weiblichen Tiere sowohl trächtig als auch milchgebend waren. Die Geburt eines neuen Jungen unterbricht nicht die bestehende Verbindung zum älteren Nachwuchs. Einige weibliche Tiere wurden mit bis zu drei Jungen unterschiedlichen Alters beobachtet. In der Marschordnung folgt das jüngste Tier direkt der Mutter, das älteste bildet den Schluss. Teilweise kommt es zum Infantizid an Jungtieren durch Bullen. Unter Umständen geschieht dies, wenn ein dominantes Tier ein neues Territorium übernimmt und so seinen Fortpflanzungserfolg garantieren will, ähnlich wie es bei Löwen bekannt ist. Andererseits sind Tötungen von Jungtieren häufig in der Trockenzeit beobachtet worden, so dass auch äußerer Stress einen wichtigen Faktor darstellen könnte. Jungtiere sind dadurch bis zu einem Lebensalter von 50 Tagen gefährdet. Nach einzelnen Beobachtungen beschäftigen sich Muttertiere noch mehrere Stunden mit einem toten Jungen, verteidigen es gegen Beutegreifer und bringen es an Land. Das Flusspferd gehört zu den wenigen Huftieren, die ein solches Verhalten zeigen. Wild lebende Flusspferde werden 30 bis 40 Jahre alt. Tiere in Gefangenschaft können über 50 Jahre erreichen, das höchste bekannte Alter eines Tieres betrug 61 Jahre.
Fressfeinde, Kommensalen und Parasiten
Ein ausgewachsenes Flusspferd hat kaum natürliche Feinde; gelegentlich erbeuten Löwen ein Alttier, doch haben diese sporadischen Aktionen keinen Einfluss auf die lokale Population. Jungtiere fallen gelegentlich Hyänen oder ebenfalls Löwen zum Opfer. In der Regel verteidigen Muttertiere ihren Nachwuchs äußerst aggressiv. Das Nilkrokodil vermag ebenfalls Jungtiere und unter Umständen auch ausgewachsene Individuen zu reißen. In einem gemeinsam genutzten Gewässer tolerieren Flusspferdgruppen zumeist keine Krokodile in der unmittelbaren Umgebung von 2 m. Andererseits meiden Krokodile wiederum Flusspferde und tauchen in unmittelbarer Nähe ab. Nach Beobachtungen am Runde in Simbabwe vertreiben Flusspferde Krokodile auch von ihren Sonnenbädern. Ausnahmen stellen hier die größeren Exemplare ab Längen von 3,5 m dar, die wiederum von den Flusspferden gemieden wurden. In der Regel aber dominieren Flusspferdgruppen solche der Krokodile.
Häufig tritt das Flusspferd in Vergesellschaftung mit verschiedenen Vogelarten auf. Bekannt dafür sind die Madenhacker, vor allem der Gelbschnabel-Madenhacker findet sich in nächster Umgebung zu den Tieren. Nach Untersuchungen aus dem Jahr 2018 konnte er in 11,3 % aller Beobachtungen nachgewiesen werden. Ebenfalls wären der Kuhreiher, der Lappenstar, der Piapia und das Blaustirn-Blatthühnchen zu nennen. Während die Madenhacker überwiegend vom parasitischen Befall ihrer Wirtstiere profitieren, ist das häufige Vorkommen der Kuhreiher wohl auf die Überschneidung der gemeinsam genutzten Lebensräume in Wassernähe zurückzuführen. Im Wasser übernehmen Karpfenfische wie etwa Angehörige der Gattung Labeo die Rolle der Madenhacker und fressen Algenbestände von der Haut des Flusspferdes.
Parasiten sind beim Flusspferd zahlreich belegt. Bedeutende äußere Schmarotzer finden sich vor allem in Zecken wie etwa Cosmiomma. Eine Besonderheit bildet der Plattwurm Oculotrema, der sich in den Augen festsetzt. Mitunter können zwei Dutzend Individuen an einem Auge und bis zu drei Dutzend an einem Flusspferd parasitieren, auch treten verschiedene Generationen an einem Wirtstier auf. Als innere Parasiten sind beispielsweise Pärchenegel und die Gattung Fasciola belegt, beide gehören zu den Saugwürmern und befallen das Blut beziehungsweise die Leber. Fadenwürmer sind unter anderem mit Toxocara, Stephanofilaria, Cobboldina und Hippopotamenema vertreten. Außerdem ist das Flusspferd anfällig für die Rinderpest und für Milzbrand. Ein Milzbrandausbruch im Jahr 1987 in Sambia kostete über 4000 Tiere das Leben, einem weiteren im Jahr 2004 in Uganda fielen 300 Individuen zum Opfer. Andere krankheitsbildende Mikroorganismen sind Kokzidien wie Eimeria, Bakterien wie Brucellen oder Salmonellen sowie Flagellaten wie Trypanosomen.
Ökologischer Einfluss
Als großer Pflanzenfresser übt das Flusspferd nachhaltigen Einfluss auf seine unmittelbare Umgebung aus. Es steht in Nahrungskonkurrenz mit einigen anderen grasfressenden Säugetieren, wodurch es zu ökologischen Wechselwirkungen kommen kann. Im Queen-Elizabeth-Nationalpark nimmt die Zahl der Wasserböcke ab, wenn das Flusspferd zahlreich ist, und steigt wieder, wenn die Bestandsdichte des Flusspferds sinkt. Die Tiere weiden häufig an kurzhalmigen Gräsern und fördern dadurch Grasarten, die von ihnen bevorzugt gefressen, von Wasserböcken jedoch gemieden werden. Durch die Bevorzugung kürzerer Gräser und deren massenweises Abgrasen entsteht ein typischer, räumlich eng begrenzter „Hippo-Rasen“. In Verbindung mit Übergrasung und Übertrampelung der Fläche führen Regenfälle teils zu massiver Erosion, besonders an den Uferhängen der Flüsse. Dies gilt auch für die Pfade, die durch die sich täglich wiederholenden Wanderungen des Flusspferdes entstehen, die sogenannten „Hippo Trails“. Diese schneiden manchmal bis zu 1 m in den Untergrund der Fluss- und Seeufer ein oder sind an steileren Hängen auch schluchtartig. Häufig werden diese von anderen, kleineren Tieren genutzt. Im Okavango-Delta aber ebenso im Ngorongoro entstehen auf diese Weise teils neue Wasseradern.
Durch die Weidetätigkeit des Flusspferds und anderer großer Pflanzenfresser wie Elefanten und Nashörnern kann es bei entsprechend dichter Population zu einem starken Rückgang der lokalen Vegetation kommen, was Erosion zur Folge hat. Das künstliche Offenhalten der Landschaften mindert den Waldbewuchs und befördert die vom Flusspferd bevorzugten Gräser. Allerdings entsteht unter Umständen bei einem Zusammenbruch der Populationen ein Rückkopplungseffekt. Beobachtet wurde dies im Queen-Elizabeth-Nationalpark, wo, ausgelöst durch zivile Unruhen und einer damit verbundenen intensiveren Bejagung, zwischen den Jahren 1960 und 2000 ein Großteil der ansässigen Großsäuger verschwand. Dies verursachte eine stärkere Ausbreitung von Wald- und Buschgemeinschaften. Den lokal verbliebenen Flusspferden standen damit nicht mehr genug Gräser zur Verfügung, weswegen sie vermehrt auf krautige Pflanzen umstiegen. Im Zuge dieses Prozesses nahm ihr Anteil von weniger als 20 % in der Nahrungsmenge in den 1960er auf teils bis zu 45 % in den 1980er und 1990er Jahren zu.
Das häufige Absetzen von Kot und Urin in die Gewässer ändert mitunter auch deren chemische Zusammensetzung. Dies hat Einfluss auf die Fischgemeinschaft, die durch den Eintrag von Nährstoffen profitiert. So ernährt sich die Karpfenfischgattung Labeo nicht nur von Algen auf der Haut des Flusspferdes, sondern auch von dessen herabfallenden Exkrementen. Ebenso wirkt sich dies positiv auf die Bestände verschiedener Buntbarschgattungen (zum Beispiel Oreochromis, Sarotherodon und Tilapia) aus. Vor allem in der Trockenzeit bei niedrigem Wasserstand und hoher Flusspferddichte treten aber teilweise eine starke Übersättigung und Sauerstoffmangel ein. Dies hat dann häufig einen Rückgang der lokalen Fisch- und Insektenfauna zur Folge, was sowohl die Gesamtzahl als auch die Diversität betrifft. Beobachtet wurde dies unter anderem im Ruaha-Nationalpark und im Masai Mara. Der hohe Bedarf an Pflanzen und die Defäkation im Wasser bewirken außerdem, dass das Flusspferd einen großen Beitrag zum Siliziumkreislauf leistet. In den Mara-Fluss bringen die Tiere täglich rund 400 kg Silizium ein, was wohl rund drei Viertel der Gesamtmenge ausmacht. Silizium ist bedeutend für zahlreiche Kieselalgen in den tropischen Seen Afrikas, die einerseits wichtige Kohlenstoffspeicher und Sauerstoffproduzenten darstellen, andererseits auch die Basis der Nahrungskette bilden.
Systematik
Das Flusspferd ist eine Art aus der Gattung Hippopotamus und der Familie der Flusspferde (Hippopotamidae). Innerhalb der Gattung bildet die Art den gegenwärtig einzig anerkannten Vertreter, wodurch diese monotypisch ist. Zur Familie wird rezent lediglich noch die Gattung Choeropsis gezählt, welche das Zwergflusspferd (Choeropsis liberiensis) enthält. Je nach Auffassung ist für Choeropsis auch eine Aufteilung in zwei rezente Arten möglich. Äußerlich kennzeichnen sich die Flusspferde durch ihren plumpen, walzenförmigen Körper mit kurzen Beinen und durch den großen Kopf mit stark entwickelten Schneide- und Eckzähnen. Die beiden Gattungen Hippopotamus und Choeropsis können neben den allgemeinen Körpergrößenunterschieden unter anderem anhand des Aufbaus des vorderen Gebisses unterschieden werden. Erstere besitzt jeweils vier Schneidezähne im oberen und unteren Gebiss (tetraprotodont), letztere sechs (hexaprotodont). Die Familie der Flusspferde wird traditionell in die Ordnung der Paarhufer (Artiodactyla) eingeordnet. Molekulargenetische und biochemische Untersuchungen sowie Fossilfunde haben jedoch zu der Erkenntnis geführt, dass die Wale (Cetacea) die nächsten lebenden Verwandten der Flusspferde darstellen. Aus kladistischer Sicht formen die Paarhufer und Wale somit eine gemeinsame Abstammungslinie, die als Cetartiodactyla zusammengefasst wird. Die engere Verwandtschaftsgruppe aus Walen und Flusspferden trägt dementsprechend die Bezeichnung Cetancodonta (manchmal auch Whippomorpha). Den genetischen Daten zufolge trennten sich die Flusspferde und Wale vor rund 54 Millionen Jahren, also am Beginn des Unteren Eozäns. Eine stärkere Diversifizierung der Flusspferde begann aber nicht vor dem Oberen Miozän vor rund 8 Millionen Jahren. Der Ursprung der Flusspferde ist nicht ganz eindeutig, fossil treten sie erstmals im Unteren Miozän in Erscheinung. Die große zeitliche Lücke zwischen der Abspaltung von den Walen und dem Erscheinen der Flusspferde lässt mehrere Interpretationen zu. Häufig favorisiert wird eine Herleitung der Gruppe von den Anthracotheriidae, einer ausgestorbenen Formengemeinschaft flusspferdähnlicher Paarhufer aus dem Eozän bis Pliozän Afrikas und Eurasiens. Andere Autoren bevorzugen dagegen eine Abstammung von den Palaeochoeridae, schweineartigen Tieren, die vom Eozän bis Miozän in Eurasien vorkamen.
Es werden mehrere Unterarten des Flusspferdes unterschieden, ihre genaue Anzahl ist unbekannt. Nach Hans Klingel, veröffentlicht im Jahr 2013 im Sammelwerk Mammals of Africa, sind es insgesamt fünf:
H. a. amphibius Linnaeus, 1758; Nominatform, von Gambia ostwärts bis zum Sudan und nach Äthiopien sowie südwärts über den Norden der Demokratischen Republik Kongo, Tansania bis nach Mosambik; wahrscheinlich auch im Niltal, dort allerdings ausgestorben; am Schädel ist die Einschnürung vor den Augen relativ moderat, lange Symphyse des Unterkiefers und große Backenzähne
H. a. capensis Desmoulins, 1825; Sambia bis Südafrika; Schädel flacher als in H. a. tschadensis, so dass er an den Orbitae breiter als hoch ist
H. a. constrictus Miller, 1910; südliche Demokratische Republik Kongo, Angola und Namibia; Schädel leichter als in der Nominatform und tiefe Einschnürung vor den Orbitae; Rostrum weniger breit, Symphyse kurz und Backenzähne kleiner
H. a. kiboko Heller, 1914; Kenia und Somalia; Schädel mit breiten Nasenbeinen und geringer Einschnürung vor den Orbitae, Orbitae runder als in H. a. capensis und prominenter als in H. a. constrictus
H. a. tschadensis Schwarz, 1914; Tschad und Nigeria; vergleichbar der Nominatform, aber mit prominenteren Orbitae, im Vergleich zu H. a. capensis kürzeres und breiteres Rostrum und eher vorwärtsgerichtete Orbitae
Dem gegenüber unterscheidet Rebecca Lewison im Jahr 2011 im zweiten Band des Standardwerkes Handbook of the Mammals of the World insgesamt drei Unterarten:
H. a. amphibius Linnaeus, 1758
H. a. capensis Desmoulins, 1825
H. a. kiboko Heller, 1914
In diesem Fall stellt H. a. tschadensis ein Synonym zu H. a. amphibius und H. a. constrictus zu H. a. capensis dar. Eine ähnliche Gliederung hatten auch Don E. Wilson und DeeAnn M. Reeder im Jahr 2005 vorgenommen.
Neben dem rezenten Flusspferd werden noch verschiedene ausgestorbene Arten innerhalb der Gattung Hippopotamus geführt. Diese waren ursprünglich nicht nur auf Afrika beschränkt, sondern kamen auch im westlichen Eurasien und auf Madagaskar vor:
afrikanische Formen:
aff. Hippopotamus aethiopicus Coryndon & Coppens, 1975
aff. Hippopotamus afarensis (Gèze, 1985)
aff. Hippopotamus coryndonae Gèze, 1985
aff. Hippopotamus dulu (Boisserie, 2004)
aff. Hippopotamus karumensis Coryndon, 1977
aff. Hippopotamus protamphibius Arambourg, 1944
Hippopotamus gorgops Dietrich, 1926 (Hippopotamus behemoth Faure, 1986 ?)
Hippopotamus kaisensis Hopwood, 1926
Hippopotamus sirensis Pomel, 1896
eurasische Formen
Hippopotamus antiquus Desmarest, 1822 (Hippopotamus georgicus Vekua, 1976 ?) (Festland)
Hippopotamus creutzburgi Boekschoten & Sondaar, 1966 (Kreta)
Hippopotamus melitensis Major, 1902 (Malta)
Hippopotamus minor Desmarest, 1822 (Zypern)
Hippopotamus pentlandi Meyer, 1832 (Sizilien, Malta)
Hippopotamus tiberinus Mazza, 1991 (Festland)
madagassische Formen:
Hippopotamus guldbergi Fovet, Faure & Guérin, 2011 (Hippopotamus madagascariensis Guldberg, 1883)
Hippopotamus laloumena Faure & Guérin, 1990
Hippopotamus lemerlei Grandidier, 1868
Ein Großteil der afrikanischen Formen (aff. H. aethiopicus, aff. H. coryndonae, aff. H. karumensis, aff. H. protamphibius) wurde ursprünglich zur Gattung Hexaprotodon verwiesen, aff. H. afarensis wiederum stand in der eigenständigen Gattung Trilobophorus. Eine phylogenetische Studie aus dem Jahr 2005 durch Jean-Renaud Boisserie beschränkte Hexaprotodon jedoch weitgehend auf die asiatischen Flusspferde und sah die afrikanischen Vertreter näher mit dem eigentlichen Flusspferd verwandt. Allerdings ist für mehrere Formen die genaue taxonomische Position noch nicht gesichert. Dies gilt auch für das zypriotische Flusspferd H. minor, dass zumeist als zur Gattung Phanourios gehörig betrachtet wird. Andere Autoren stufen Phanourios jedoch als direkten Abkömmling von Hippopotamus ein. Genetisch trennte sich das zypriotische Flusspferd von der Linie des heutigen Flusspferdes vor rund 1,58 bis 1,36 Millionen Jahren ab.
Verschiedene aus Eurasien benannte Formen und teils gebrauchte Namen müssen als Synonyme betrachtet werden. So ist bei den jüngeren Formen H. incognitus (Europa) mit H. amphibius gleichzusetzen. Bei den älteren Vertretern gilt H. major (Europa) als identisch mit H. antiquus, was wahrscheinlich auch für H. georgicus (Kaukasus) anzunehmen ist. Manche Wissenschaftler fassen dies auch für H. tiberinus (Europa) auf. Für die afrikanischen Flusspferde besteht die Möglichkeit, dass H. sirensis (Nordafrika) und H. gorgops (Ostafrika) nur Variationen einer Art sind und letzteres dann gemäß der Prioritätsregel in ersteres aufgehen müsste. Die meisten Wissenschaftler ziehen dies auch für H. behemoth aus Vorderasien in Betracht. Häufig wird zudem vermutet, dass das afrikanische H. gorgops die Vorgängerform des eurasischen H. antiquus darstellt, beide zeigen deutliche Übereinstimmungen. Somit könnten beide auch als konspezifisch aufgefasst werden, womit der gesamte Artname auf H. antiquus fallen würde. Allerdings sind bisher nördlich der Taurus-Zagros-Gebirgskette keine afrikanischen Formen angenommen worden. Prinzipiell mahnen Wissenschaftler eine umfassende Revision der eurasischen und afrikanischen Flusspferde an.
Für die mediterranen Flusspferde bildet H. minutus ein Teilsynonym zu H. melitensis. Das madagassische Flusspferd H. madagascariensis wurde ursprünglich von Gustav Adolf Guldberg eingeführt, entspricht aber in seinem Typusexemplar weitgehend H. lemerlei. Ein im Jahr 1902 von Charles Immanuel Forsyth Major ebenfalls unter H. madagascariensis vorgestelltes Skelett weicht deutlich ab. Als Konsequenz daraus wurde im Jahr 2011 H. madagascariensis mit H. lumerlei synonymisiert und H. guldbergi als Ersatzname für Majors Skelett vorgeschlagen. Die Umbenennung ist aber nicht vollständig anerkannt.
Stammesgeschichte
Entwicklung in Afrika
Die Gattung Hippopotamus trat in Afrika vermutlich schon während des Unteren Pliozäns auf. Fast alle frühen Funde kamen im nordöstlichen und östlichen Teil des Kontinents zu Tage. Für die meisten frühen Formen ist eine direkte Zuweisung aber momentan noch problematisch. Ihre nahe Verwandtschaft mit Hippopotamus drückt sich jedoch durch den teils stärker ausladenden Unterkiefer aus, bei denen die Zahnfächer der Eckzähne deutlich abstehen, was weniger an andere frühe Gruppen wie Hexaprotodon und Archaeopotamus erinnert. Dies betrifft unter anderem den Schädel und Unterkiefer von aff. Hippopotamus dulu aus der Sagantole-Formation im Gebiet des Awash im Afar-Dreieck in Äthiopien, der mit einem Alter von 5,2 bis 4,9 Millionen Jahren zu den frühesten Resten gehört. Insgesamt zeigt er noch deutliche Reminiszenzen an urtümlichere Vertreter wie Archaeopotamus, etwa im Bau der Unterkiefersymphyse. Aus der gleichen Region, jedoch aus der mit 3,4 bis 2,3 Millionen Jahren etwas jüngeren Hadar-Formation, wurden aff. Hippopotamus afarensis und aff. Hippopotamus coryndonae beschrieben. Für beide standen jeweils Schädelreste zur Verfügung. Hippopotamus afarensis besaß ein massives Rostrum, das in etwa dem des heutigen Flusspferdes glich, während aff. Hippopotamus coryndonae deutlich kleiner war. In diesem Merkmal ähnelte die Form aff. Hippopotamus protamphibius. Im Unterschied aber zu aff. Hippopotamus coryndonae und ebenfalls zu den beiden anderen vorher genannten Arten, die jeweils über sechs Schneidezähne im oberen und unteren Gebiss verfügten und somit hexaprotodont waren, zeichnete sich aff. Hippopotamus protamphibius wie das heutige Flusspferd durch nur vier Schneidezähne aus, gehörte also zum tetraprotodonten Typus. Allerdings scheint dieses Merkmal bei aff. Hippopotamus protamphibius eher variabel gewesen zu sein, da einige Schädel auch jeweils sechs Incisiven aufweisen. Die Form ist über zahlreiches Fundmaterial aus dem Tal des Omo im südwestlichen Äthiopien überliefert. Dort verteilt es sich auf mehrere Gesteinseinheiten, von der Mursi- über die Usno- bis zur Shungura-Formation, und besitzt so eine zeitliche Reichweite von etwa 4,0 bis 1,9 Millionen Jahren. Allein die Shungura-Formation erbrachte über 8000 Flusspferdreste. Das reichhaltige Fundmaterial ermöglicht Einblicke in die Lebensweise. Hierbei zeigte sich, dass, offensichtlich gesteuert durch klimatische Veränderungen, vor rund 2,8 Millionen Jahren ein Wechsel von eher blatthaltiger zu stärker grashaltiger Nahrung erfolgte. Weitere Funde sind aus der bedeutenden Koobi-Fora-Formation vom Turkana-See im nördlichen Kenia dokumentiert, die zwischen 2,0 und 1,4 Millionen Jahre alt ist. Von einzelnen Fundstellen am Turkana-See wurden mit aff. Hippopotamus karumensis und aff. Hippopotamus aethiopicus noch zwei weitere Formen eingeführt, die beide als tetraprotodont angesehen werden. Allerdings wies erstere Art manchmal nur zwei Schneidezähne im Unterkiefer auf. Bei ihr handelt es sich um einen insgesamt großen Vertreter, ähnlich dem heutigen Flusspferd. Die letztere Form erwies sich mit einer Größe vergleichbar zum rezenten Zwergflusspferd als eher klein.
Im Übergang vom Pliozän zum Pleistozän vor rund 2,5 Millionen Jahren traten dann auch erstmals eindeutige Angehörige der Gattung Hippopotamus auf, die sich neben dem massiven Unterkiefer durch ihre gerippten unteren Eckzähne als typisches, mit der Gattung verbundenes Kennzeichen hervorheben. Aus der Kaiso-Formation in Uganda wurde Hippopotamus kaisensis berichtet, von dem unter anderem ein Schädel vorliegt. Insgesamt ist die Form nur wenig untersucht und es bestehen mitunter Abgrenzungsprobleme zum eigentlichen Flusspferd. Dies zeigen unter anderem Funde aus den Lusso Beds am oberen Semliki im Zentralafrikanischen Graben von Uganda. Die zahlreichen Zahnfunde ähneln stark denen des heutigen Flusspferdes und könnten so ein bereits sehr frühes Auftreten der Art schon vor rund 2,3 Millionen andeuten. Allerdings lassen sich auch Überschneidungen mit Hippopotamus gorgops feststellen. Dieses sehr große Tier, das die rezenten Vertreter deutlich übertraf, ist von zahlreichen Fundstellen überliefert. Die wahrscheinlich frühesten Reste kamen am Turkana-See zu Tage und sind rund 2,5 Millionen Jahre alt. Den weitaus bedeutendsten Fundort bildet die auch für die frühmenschliche Entwicklung wichtige Olduvai-Schlucht im nördlichen Tansania. Dort ist die Art im Alt- und Mittelpleistozän über einen Zeitraum von vor 1,9 bis 0,6 Millionen Jahren belegt. Sie tritt dort relativ häufig auf, neben unzähligen Knochen sind auch teils gut erhaltene Skelette und selten fossilisierte Trittsiegel aufgefunden worden, letzte formen eine Art „Hippo trail“. Anhand der Knochenfunde aus der Olduvai-Schlucht kann für Hippopotamus gorgops eine auffallende stammesgeschichtliche Veränderung im Schädelbau nachvollzogen werden. Waren die frühesten Vertreter noch dem heutigen Flusspferd ähnlich, so entwickelten sich spätere Formen zu extremen Spezialisten im Bezug auf die amphibische Lebensweise. Die Schnauze verlängerte sich deutlich, wodurch sich auch das Diastema zwischen dem zweiten und dritten Prämolaren des Unterkiefers streckte. Der hintere Schädel hingegen wurde kürzer und der Kamm des Hinterhauptsbeins verlagerte sich nach oben, wie auch allgemein der Schädel abflachte. Des Weiteren kam es zu einer zusätzlichen Aufschiebung der Augenhöhle, die so extrem periskopartig wirkte und woher auch der wissenschaftliche Artname herstammt (von griechisch γοργός (gorgos) für „schrecklich“ und ὤψ (ops) für „Gesicht“ oder „Antlitz“). Hippopotamus gorgops erreichte eine weite Verbreitung im östlichen Afrika und ist an Fundstellen wie Olorgesailie in Kenia oder Buia in Eritrea aufgefunden worden. Letztere erbrachte zahlreiche Gebissfragmente aus dem Zeitraum von vor etwa 1 Million Jahren. Außerdem ist es der wahrscheinlich erste Vertreter der Gattung Hippopotamus, der das südliche Afrika erreichte. Funde liegen hier unter anderem mit einem rund 69 cm langen Schädel aus Cornelia in der südafrikanischen Provinz Freistaat vor. Er datiert in das Mittelpleistozän. Bereits im frühen Altpleistozän erscheint Hippopotamus sirensis in Nordafrika. Die große Form ist dort von verschiedenen Fundstellen dokumentiert, so unter anderem von Tighénif (Ternifine) in Algerien oder Thomas Quarry in Marokko, die beide wegen ihrer Funde von Homo erectus von Bedeutung sind. Hippopotamus sirensis kam dort in den damals feuchten Landschaften recht zahlreich vor.
Abseits von den bereits erwähnten problematischen Funden vom Semliki gilt ein Teilskelett aus Gafalo in der Gobaad-Ebene von Dschibuti als der derzeit älteste Nachweis des eigentlichen Flusspferdes, das damit im Altpleistozän vor rund 1,6 Millionen Jahren eindeutig fassbar ist. Der Kadaver von Hippopotamus amphibius wurde dort gemeinsam mit dem Skelett des Elefantenvertreters Palaeoloxodon recki aufgefunden. Weitere frühe Funde kamen in den oberen Abschnitten der Shungura-Formation im Omo-Tal zum Vorschein. Ihr Alter beträgt rund 1,38 Millionen Jahre. Ein vergleichbares Alter weisen die Funde aus Nariokotome am westlichen Turkanasee auf. Bereits in das frühe Mittelpleistozän gehört ein Oberkiefer aus Asbole im Awash-Tal. Ebenfalls aus der Region wurden in Gombore rund 700.000 Jahre alte Trittsiegel beschrieben, die teils 30 cm in den einst schlammigen Untergrund eingetieft sind und mitunter noch die vier Zehen erkennen lassen. Andere nennenswerte Fossilreste verteilen sich auf die Fundstellen Lainyamok, Isenya und Kapthurin, allesamt Kenia. Im südlichen Afrika ist Hippopotamus amphibius unter anderem mit mehr als 200 Knochenresten von rund einem Dutzend Individuen in Elandsfontein vertreten. Die Fundstelle liegt im Südwesten von Südafrika und hat eine mittelpleistozäne Zeitstellung.
Vorderasiatische Funde
Vertreter der Gattung Hippopotamus wanderten mehrfach aus Afrika aus. Der Migrationsweg erfolgte wahrscheinlich über die Levante. Von hier ist umfangreiches Fossilmaterial unter anderem aus 'Ubeidiya in Israel belegt, das auf etwa 1,4 Millionen Jahre datiert. Die Zuweisung der Funde ist nicht ganz eindeutig, da diese wahlweise als Hippopotamus gorgops, Hippopotamus antiquus oder als Lokalform Hippopotamus behemoth angesprochen werden. Wenig später treten Flusspferde auch in Latamne in Syrien auf. Hier sind die Altersdaten uneinheitlich, da sowohl eine alt- wie auch ein mittelpleistozäne Stellung in Frage kommt. Im Mittelpleistozän erreichte auch Hippopotamus amphibius die Region, das eventuell schon in Gesher Benot Ya’aqov in Israel anwesend war. Die Fundstelle datiert zwischen 700.000 und 500.000 Jahren. Die Bestimmung des Fundmaterials erweist sich als häufig schwierig, da es überwiegend stark fragmentiert ist. Die Art verblieb hier aber noch bis in das Holozän und besiedelte die Flusstäler, möglicherweise aber mit einer Unterbrechung während der kühleren Abschnitte der letzten Kaltzeit. Von der Levante breitete sich das Flusspferd bis auf die Arabische Halbinsel aus, wie dies eine größere Sammlung an Funden aus Khall Amayshan in der Nefud in Saudi-Arabien belegt. Hier bestanden während der letzten Warmzeit vor gut 110.000 Jahren einzelne Seen, an denen sich eine reichhaltige Fauna aufhielt. Eine weitere Ostexpansion des Flusspferdes erfolgte nicht. Möglicherweise wurde dies dadurch verhindert, dass im südlichen und östlichen Asien eine vergleichbare ökologische Nische bereits durch Vertreter der Gattung Hexaprotodon besetzt war.
Europa und die Inseln des Mittelmeers
In Europa sind Flusspferde wenigstens seit dem Altpleistozän nachgewiesen, die frühen Formen werden zumeist Hippopotamus antiquus zugewiesen. Einer der frühesten Funde stammt mit einem oberen Schneidezahn von der Fundstelle Coste San Giacomo südöstlich von Rom im mittleren Italien. Der Fundstelle wird ein Alter von rund 2 Millionen Jahren zugesprochen. Andere alte Hinweise fanden sich in Spanien, Frankreich und Griechenland, in ersteren unter anderem mit einer rund 1,6 Millionen Jahre alten Zahnreihe aus Venta Micena bei Granada. Von hoher Bedeutung sind mehrere Teilskelette aus Untermaßfeld in Thüringen, die möglicherweise bei einer katastrophalen Flussüberschwemmung vor gut 1,07 Millionen Jahren angeschwemmt wurden. Von insgesamt über 320 Knochenresten, die zu etwa 20 Individuen gehören, erwiesen sich hier mehr als die Hälfte als zu Jungtieren gehörend. Weitere bedeutende Funde sind aus Collecurti auf der halben Strecke zwischen Rom und Florenz, wiederum Italien, belegt. Auch diese kamen in Flussablagerungen zu Tage und setzen sich aus rund 400 Knochenelementen von rund einem Dutzend Individuen zusammen. Ihr geologisches Alter ist nahezu entsprechend zu dem der Untermaßfelder Flusspferde. Dies gilt auch für einzelne Zähne aus der Westbury Cave in Somerset in England, die zu den ältesten Nachweisen von Flusspferden auf den Britischen Inseln gehören. Eine Besonderheit stellen die Fossilreste von Het Gat dar, da sie vom Grund der Nordsee etwa in der Mitte zwischen den Niederlanden und England aufgefischt wurden. Nach Osten drang die Form vermutlich bis in die Kaukasusregion vor, da wiederum Reste aus der rund 700.000 Jahre alten georgischen Fundstelle Achalkalaki stammen. Hippopotamus antiquus war ein gewaltiges Tier, wahrscheinlich das größte Flusspferd, das in Europa auftrat. Die Längenmaße seiner einzelnen Skelettelemente sind zumeist um 106 bis 126 % größer als die Werte der rezenten Tiere. Anhand der Funde aus Untermaßfeld und Collecurti kann auf ein Gewicht von 2100 bis 3200 kg geschlossen werden, andere Angaben reichen bis 4200 kg, was etwa dem Doppelten des heutigen Flusspferdes entspricht. Gegen Ende des Altpleistozäns ist dann noch Hippopotamus tiberinus nachweisbar. Dessen Reste sind aber weitaus spärlicher, belegt ist die Form unter anderem aus La Maglianella in Italien und eventuell aus Mosbach in Deutschland. Beide Formen haben möglicherweise eine nähere Verbindung zum afrikanischen Hippopotamus gorgops, was sich unter anderem an einzelnen Schädelmerkmalen zeigt. So erweist sich der Schädel als schlanker und länger im Vergleich zum eigentlichen Flusspferd und die Augenhöhlen treten prominenter hervor.
Sowohl das letzte Auftreten der früheren europäischen Flusspferde und das erste Erscheinen des klassischen Flusspferdes Hippopotamus amphibius in Europa lässt sich momentan kaum bestimmen. Ursprünglich wurde die Art bereits aus dem frühen Mittelpleistozän berichtet. Als einzelne Hinweise galten einige Zahnfunde aus Isernia la Pineta in der Region Molise in Mittelitalien, die aber heute zu Hippopotamus antiquus gestellt werden. Eines der jüngsten Vorkommen von Hippopotamus tiberinus ist aus dem spätmittelpleistozänen Castel di Guido, wiederum im Mittelitalien, zu verzeichnen. Eine recht häufige Präsenz hat Hippopotamus amphibius während der Eem-Warmzeit vor circa 126.000 bis 115.000 Jahren. Wichtig in diesem Zusammenhang sind einige Fundstellen im Rheinland, an denen die Art gemeinsam mit dem Europäischen Waldelefanten und dem Wasserbüffel auftrat. Extrem weit nördliche Nachweise wurden bei Barrington in Cambridgeshire zu Tage gefördert, von wo umfangreiches Material von Hippopotamus amphibius bekannt ist. Einzelne Zähne und Wirbelreste stammen auch vom Ufer des Severn bei Gloucester in Gloucestershire, beide Fundstellen liegen in England. Die in Barrington aufgefundenen Individuen erreichten mit einem geschätzten Körpergewicht von bis zu 3000 kg fast wieder die Ausmaße von Hippopotamus antiquus. Die Besiedlung der mittel- und westeuropäischen Gebiete weit nördlich der Alpen während der letzten Warmzeit setzt einzelne ökologische Bedingungen voraus. Womöglich war das Klima damals stärker maritim beeinflusst mit warmen Sommern und vor allem milden, wenig frostigen Wintern. Dadurch fehlt die Art auch in den stärker kontinental geprägten Bereichen Mittel- und Osteuropas und zog sich zum Ende der Eem-Warmzeit wieder aus diesen nördlichen Refugien zurück. Im südlichen Europa, so auf der Balkan-, Apennin- und Iberischen Halbinsel hielt sich Hippopotamus amphibius vermutlich noch bis in die frühe Weichsel-Kaltzeit. Exemplarisch genannt sei hier die Grotta Romanelli bei Lecce in Süditalien.
Im Verlauf ihrer Fossilgeschichte in Europa erreichten die Flusspferde verschiedene Inseln des Mittelmeers, was für Hippopotamus antiquus wie auch für Hippopotamus amphibius gilt. Dort bildeten sich jeweils verzwergte Formen heraus. Zu den forschungsgeschichtlich frühesten Funden gehören jene auf Sizilien und Malta. Hier werden in der Regel mit Hippopotamus pentlandi und Hippopotamus melitensis zwei Arten unterschieden, die sich bezüglich ihrer Körpergröße voneinander absetzen. Die größere Form, die rund 1100 kg auf die Waage brachte, wird durch Hippopotamus pentlandi gestellt und war auf beiden Inseln präsent. Sie gehört dem ausgehenden Mittel- und dem frühen Jungpleistozän an. Vor allem auf Sizilien finden sich zahlreiche Fundstellen, wie etwa bei Messina im Nordosten oder bei San Vito lo Capo im Nordwesten. Hippopotamus melitensis hingegen ist weitgehend nur von Malta belegt und bildet mit einem Durchschnittsgewicht von etwa 900 kg die kleinere Form. An einzelnen Fundstellen wie der Għar Dalam tritt sie gemeinsam mit Hippopotamus pentlandi auf. Ihre genauere geologische Zeitstellung ist vielfach wenig geklärt. Beide Arten stellen möglicherweise unterschiedliche Stadien der Inselverzwergung dar, die bei letzterer durch die kleinere Inselfläche und stärkeren Endemismus weiter fortgeschritten ist. Sie werden jedoch aufgrund der Schädelmorphologie jeweils auf Hippopotamus amphibius als Ausgangsform zurückgeführt. Auf Kreta kamen Funde von Flusspferden ebenfalls bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zu Tage. Ein größerer Teil stammt aus dem östlichen Inselbereich, so etwa von der Lasithi-Hochebene oder der Karoumes-Bucht bei Sitia. Weitere Fossilreste konnten auch von Akrotiri an der Nordwestküste geborgen werden. Sie stehen weitgehend in einem alt- bis mittelpleistozänen Zusammenhang, was unter anderem durch die Beifunde von Kritimys ausgedrückt wird. Es handelt sich um einen kleinen Vertreter der Flusspferde, der im Jahr 1966 mit Hippopotamus creutzburgi seinen Namen erhielt. Der Ursprung dieser Form war lange Zeit in Diskussion, heute gilt zumeist Hippopotamus antiquus als Vorfahr. Gegenüber diesen war Hippopotamus creutzburgi mit einem Gewicht von knapp 400 kg deutlich verzwergt. Der kleinste Angehörige der mediterranen Flusspferde ist von Zypern bekannt und wird unter der wissenschaftlichen Bezeichnung Hippopotamus minor geführt. Rekonstruiert wurden die Tiere nur rund 132 kg schwer. Die Form erfuhr die stärksten Überprägungen im Schädelbau. So ist der Scheitelkamm nicht mehr ausgebildet, ebenso wie die hintersten Prämolaren fehlen. Die deutlichen Abweichungen von den festländischen Vertretern führen auch zu einem Verweis in eine eigene Gattung unter der Bezeichnung Phanourios. Zusätzlich wird dadurch die phylogenetische Ableitung erschwert, so dass der direkte Vorfahr bisher nicht bestimmt werden konnte. Es sind mehrere Dutzend Fundstellen auf der Insel bekannt, die sowohl Höhlen und Abris als auch Freilandplätze umfassen. Eine der bedeutendsten findet sich im Süden auf der Halbinsel Akrotiri, wo in der eingestürzten Höhle Aetokremnos mehr als 218.000 Flusspferd-Reste von mehr als 500 Individuen dokumentiert sind. Sie repräsentieren mehr als 90 % des gesamten faunistischen Fundmaterials. Die immense Ansammlung von Flusspferdresten, das Fehlen größerer Beutegreifer auf der Insel und ursprüngliche Radiokarbonmessungen, die den Funden ein Alter von rund 11.800 Jahren vor heute und damit eine Stellung am Ende des Pleistozäns gaben, führten zu der Ansicht, dass frühe menschliche Siedler dafür verantwortlich seien. Aufgrund fehlender Nachweise menschlicher Manipulation wurde diese Ansicht aber teils kritisch gesehen. Neuere Datierungen verweisen für die untersten Schichtabschnitte mit dem höchsten Aufkommen an Flusspferden auf ein Alter von rund 12.500 Jahren vor heute. Sie liegen damit außerhalb der Zeit des ersten Auftretens des Menschen auf Zypern, womit die Knochenansammlungen wohl als natürlich zu werten sind.
Flusspferde Madagaskars
Neben den verschiedenen Inseln des Mittelmeers erreichte das Flusspferd auch Madagaskar, welches sich wenigstens 400 km östlich von Afrika befindet. Dort bildeten sich ebenfalls mehrere Zwergformen aus. Wann die Art die Insel erstmals betrat ist unklar. Die bisher ältesten Funde sind aus der Höhle Belobaka im Nordwesten der Insel überliefert und weisen ein Alter von rund 20.600 Jahren auf, sie stammen somit aus der Hochphase der Letzten Kaltzeit. Es handelt sich lediglich um einzelne Zähne und Fußknochen eines Jungtieres. Diese frühen Vertreter waren allerdings noch nicht verzwergt, sondern kamen bezüglich ihrer Größe der afrikanischen Ausgangsform nahe. Sie werden der Art Hippopotamus laloumena zugewiesen. Beschrieben wurde die Art anhand eines Unterkiefers aus Mananjary an der Ostküste, der allerdings möglicherweise nur 2500 Jahre alt ist. Neben dieser Form gehören mit Hippopotamus lemerlei und Hippopotamus guldbergi noch zwei weitere Arten zu den madagassischen Flusspferden, die deutlich kleiner waren und mit jeweils einem Gewicht von etwa 374 beziehungsweise 393 kg dem heutigen Zwergflusspferd entsprachen. Beide madagassischen Formen unterscheiden sich etwa in der Position der Augenhöhle relativ zur Schädellinie, den Verdickungen der Höhlenränder und in ihren Gliedmaßenproportionen. So hat erstere Art erhöhte Orbitae mit verdickten Rändern, bei letzterer zeigt sich ein längeres Schienbein und ein kürzerer Oberschenkelknochen. Die Variationen sind wohl Ausdruck einer abweichenden Lebensweise. Der bisher früheste Nachweis für Hippopotamus guldbergi kommt aus der Umgebung von Tsaramody im Sambaina-Becken im zentralen Hochland von Madagaskar. Er datiert mit einem Alter von 17.600 Jahren vor heute in das Ende der letzten Kaltzeit. Gefunden wurden mehrere Teile des Bewegungsapparates. Hippopotamus lemerlei ist mit einem Schädel vom Fluss Ihazofotsy im südlich-zentralen Hochland des Isalo-Gebirges aus dem Beginn des Holozäns vor rund 11.000 Jahren belegt. An mehreren Stellen wurden beide Arten gemeinsam aufgefunden und hatten somit wohl ein teils sympatrisches Auftreten. Zu diesen gemeinsamen Vorkommen gehören Ampoza und Taolambiby im Südwesten Madagaskars sowie Belo Sur Mer an der Westküste. Das Alter der Fundstellen reicht von 1220 bis 2713 Jahren vor heute. Einige der aufgefundenen Flusspferdknochen tragen Marken, die teilweise als Schnittspuren verursacht durch den Menschen interpretiert werden. Die Ansicht ist nicht vollständig akzeptiert, da einerseits Ähnlichkeiten zu Nagespuren von Beutegreifern bestehen, andererseits manche absoluten Altersdaten außerhalb der frühesten Besiedlung der Insel liegen, die in einer traditionellen Sichtweise auf den Zeitraum um 500 v. Chr. angesetzt wird. Zu den jüngsten Funden von Flusspferden, die direkt datiert wurden, zählen jene von Itampolo an der Südwestküste, die rund 1000 Jahre alt sind. Möglicherweise überlebten aber noch einzelne Restpopulationen bis zum Kontakt mit den Europäern im 16. und 17. Jahrhundert oder darüber hinaus, was einzelne Erwähnungen und folkloristische Elemente annehmen lassen.
Ausbreitung der Flusspferde und Konsequenzen der Inselverzwergung
Die Untersuchungen zur Fortbewegung des Flusspferdes und seine nur begrenzten Schwimmfähigkeiten in tieferem Wasser warfen die Frage auf, wie die Tiere die unter Umständen entfernten Inseln erreicht haben könnten. Im Fokus standen vor allem Inseln wie Zypern, Kreta oder Madagaskar, die im Verlauf der jüngeren erdgeschichtlichen Vergangenheit während der Tiefststände der Meere im Zuge der verschiedenen Kaltphasen des Pleistozäns nicht mit dem Festland verbunden waren. Nach Paul P. A. Mazza konnte das Flusspferd demnach nur über potentielle Landbrücken oder bei seichtem Wasser während maximaler Vereisungsphasen entfernte Inseln erreichen. Allerdings haben diese Umstände im Fall der drei genannten Inseln im Pliozän und Pleistozän nicht bestanden. Alexandra van der Geer und Kollegen führen daher an, dass es verschiedene Ausbreitungsszenarien gäbe. Hier könnten auch mehr oder weniger zufällige Ereignisse greifen, etwa katastrophale Begebenheiten wie Tsunamis oder Überflutungen, wodurch Flusspferdgruppen ins Meer gelangten. Ebenso könnten, wenn auch untergeordnet, Brandungsrückströmungen oder driftende Pflanzen eine Rolle spielen. Die spezielle Beschaffenheit der Haut des Flusspferdes und der langsame Metabolismus verhelfen den Tieren solche Extremsituationen zu überleben. Hinzu kompensiert der Auftrieb im salzigen Meerwasser den schweren Knochenbau. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum heute das Flusspferd auf Central Island im Turkana-See vorkommt. Die Insel liegt rund 9 km vom Festland entfernt und ist von 50 m tiefem, jedoch stark salzhaltigem Wasser umgeben. Außerdem sind Jungtiere deutlich bessere Schwimmer als ausgewachsene Individuen und erhöhen dadurch die Chancen auf ein Weiterbestehen der Gruppe als solche. Letztendlich vermochten auch andere große Säugetiere wie Elefanten entfernte Inseln zu erreichen.
Die Besiedlung verschiedener Inseln führte zur Inselverzwergung der einzelnen Formen. Daraus resultierten allgemein eine Verschlankung des Skelettbaus und Kürzungen im Gesichtsschädel, was wiederum Veränderungen in der Gebissstruktur zur Folge hatte. Dieser Prozess hat auf den kleineren Mittelmeerinseln eventuell einen anderen Hintergrund als auf dem wesentlich größeren Madagaskar. Bedingt durch die Größe trägt Madagaskar zahlreiche unterschiedliche Habitate. Möglicherweise unterlagen die Tiere daher diversen evolutiven Zwängen und bildeten die vergleichsweise große Diversität aus. Hippopotamus guldbergi zeigt deutlich weniger Anpassungen an eine semi-aquatische Lebensweise als Hippopotamus lemerlei und war wohl eher terrestrisch aktiv. Jedoch auch auf den Mittelmeerinseln entstanden in ihrer Lebensweise abweichende Formen verglichen mit dem eigentlichen Flusspferd. Ein Teil davon ist dem zumeist steinigen Untergrund und wahrscheinlich auch dem merklich trockeneren Klima geschuldet. Einige Zwergformen des Flusspferdes entwickelten kurze Handwurzelknochen und Phalangen. Letzteres wird teilweise mit dem Verlust der breiten Hufe erklärt, womit sich die Tiere stärker als Zehenspitzengänger fortbewegt haben könnten, ähnlich den Ziegen. Durch eine überwiegend in Längsrichtung orientierte Hand- und Fußbewegung mit verminderten seitlichen Ausschermöglichkeiten erschlossen sich die Tiere so die felsigen Habitate und waren befähigt, entlang an Steilhängen und auf Klippen zu laufen. Auch nutzten sie Höhlen als Unterschlupf oder eventuell als Ressource für mineralhaltige Wässer. Eine weitere auffallende Veränderung betrifft die Gehirngröße, die sich nicht im gleichen Maße wie die Körpergröße reduzierte. Das heutige Flusspferd besitzt ein Gehirnvolumen von 800 bis 955 cm³. Für die madagassischen Zwergflusspferde lag dieses rekonstruiert bei 305 bis 485 cm³, was der Variationsbreite beim Zwergflusspferd entspricht. Hippopotamus minor als kleinstes verzwergtes Flusspferd wies ein 218 cm³ großes Gehirn auf. Der Enzephalisationsquotient stieg somit von 0,41 beim heutigen Flusspferd auf 0,58 bei Hippopotamus minor. Generell besitzt das Flusspferd im Vergleich mit anderen Huftieren ein sehr kleines Gehirn. Der Trend zu einer relativen Gehirngrößenzunahme ist aber auch bei Zwergelefanten belegt.
Forschungsgeschichte
Erwähnungen in antiker Literatur
Einzelne antike Autoren widmeten sich bereits sehr früh dem Flusspferd. Die älteste Beschreibung stammt von Hekataios von Milet aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Er gab an, dass das Tier gespaltene Hufe habe, aber in Schwanz, Mähne und Stimme dem Pferd gleiche. Dies wurde von zahlreichen späteren Gelehrten übernommen, so auch von Herodot, der in seinen Historien im 5. Jahrhundert v. Chr. schrieb:
Ebenso berichtete Aristoteles vom Flusspferd und vermerkte in seiner Historia animalium aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. die Ähnlichkeit der inneren Organe mit denen der Esel und Pferde, beim Schwanz glich es jedoch eher den Schweinen. Andere Autoren wie Zenobios und Aelian hoben die Gefährlichkeit und Gewalttätigkeit der Tiere hervor. In der Naturalis historia gibt Plinius der Ältere im ersten nachchristlichen Jahrhundert ein genaues Abbild der Lebensweise des Flusspferdes wieder, wobei er aber Teile von Herodot übernahm. Jedoch erwähnte er bereits die charakteristisch roten Hautausscheidungen. Des Weiteren ist seinem Werk zu entnehmen, dass um 58 v. Chr. ein Flusspferd in einer römischen Arena eingesetzt wurde. In der Folgezeit ließen diverse römische Herrscher Flusspferde nach Rom schaffen, um diese bei Spielen auftreten zu lassen, so etwa Nero und Antoninus Pius. Allein Commodus soll nach Cassius Dio sechs Flusspferde bezwungen haben. Doch bereits im 4. Jahrhundert musste Themistios resümieren, dass das Flusspferd in Unterägypten ausgerottet war, da es Pflanzungen zerstörte, das Verschwinden der Tiere aber negative Auswirkungen auf die Spiele in Rom habe. Ähnlich äußerte sich Ammianus Marcellinus im etwa gleichen Zeitraum, der zusätzlich angab, dass die Tiere weiter im Süden bei den Blemmyern in Nubien zu finden seien.
Frühe Neuzeit und Erstbeschreibung
Eine der ältesten Beschreibungen des Flusspferdes in der westlichen Welt erstellte der französische Naturforscher Pierre Belon im Jahr 1553, in der er sich auf mehreren Seiten dem Tier widmete. Darin präsentierte er auch mehrere Abbildungen, unter anderem eine, auf dem das Flusspferd kämpfend mit einem Krokodil zu sehen ist. Belons Abhandlung ist Bestandteil seiner Reiseberichte, die basierend auf seinen Expeditionen durch die Inselwelt des Mittelmeers, den Vorderen Orient und Ägypten in den Jahren 1547 und 1549 entstanden. Im Jahr 1598 begab sich Christoph Harant von Polschitz und Weseritz ebenfalls in die Region und schrieb seine Erlebnisse nieder, die aber erst gut 80 Jahre später auf Deutsch erschienen. Seine Ausführungen zum Flusspferd sind stark von den antiken Autoren beeinflusst. In der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert berichtet der italienische Arzt Federico Zerenghi von seinen Unternehmungen nach Oberägypten, auf denen er nach eigenen Aussagen zwei Flusspferde erlegt und deren Häute mit in seine Heimat gebracht hatte. Seine Publikation wurde im Jahr 1603 veröffentlicht, versehen mit einer Darstellung des Flusspferdes. Die Häute wurden später in Venedig ausgestopft. Die dadurch entstandenen Präparate beinhalten jedoch einige anatomisch Abweichungen, etwa im Bereich des Kopfes und der Füße, letztere erhielten ein Aussehen, das eher an Hundepfoten erinnert. Eines der beiden Präparate gelangte vermutlich in das Museum La Specola in Florenz, wo es unter der Bezeichnung Ippopotamo di Boboli ausgestellt ist. Der Name rührt daher, dass angeblich in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert unter Cosimo III. ein Flusspferd im Boboli-Garten frei herumlief, worüber es allerdings keine Aufzeichnungen gibt. Der Verbleib des zweiten Präparats ist momentan ungeklärt. Im weiteren Verlauf des 17. und im 18. Jahrhundert erwähnen auch mehrere Erforscher des südlichen Afrikas das Flusspferd, darunter Étienne de Flacourt, der Gouverneur von Madagaskar, in seinen Reisebeschreibungen aus dem Jahr 1658. Johann Schreyer, der von 1668 bis 1674 das südliche Afrika bereiste, schildert im Jahr 1681 eindringlich die amphibische Lebensweise der Tiere und ihre nächtlichen Wanderungen von den Rastplätzen am Wasser zu den Weidegründen, er bezeichnet sie allerdings als „See-Kühe“. Ähnlich äußerte sich nur wenig später Simon van der Stel, der erste Gouverneur der Kapprovinz, der zwischen 1685 und 1686 das Namaqualand im Südwesten Afrikas auf der Suche nach Kupferlagerstätten erkundete und am Fluss Verlorevlei, seinem Zeekoejen-valey („Seekuh-Tal“), Flusspferde sichtete.
Neben diesen Forschungsreisenden beschäftigten sich auch die Gelehrten Europas schon früh mit dem Flusspferd, bekamen aber kaum ein lebendes Exemplar zu Gesicht. Im Jahr 1606 veröffentlichte der italienische Naturforscher Fabio Colonna in seiner Ekphrasis einen längeren Abschnitt über das Flusspferd, dem er auch eine Abbildung beisteuerte. Diese wirkt im Bezug auf Körper-, Kopf- und Fußgestaltung wie schon bei Belon zuvor etwas unrealistisch. Seine Angaben zu dem Tier hatte Colonna weitgehend von Plinius dem Älteren übernommen. Er erwähnte allerdings auch Zerenghi, so dass vermutet wird, dass sein Bild vom Flusspferd durch eine der ausgestopften Häute des Arztes beeinflusst worden war. Colonnas Porträt des Flusspferdes sollte in der Nachfolgezeit starken Einfluss auf das Bild des Tieres in Europa haben. Teilweise zu erkennen ist dies auch in dem Gemälde „Die Nilpferdjagd“ von Peter Paul Rubens, das im 1615 entstand und das Flusspferd mit ähnlicher Kopf- und Fußgestaltung zeigt. Darüber hinaus entstanden auch deutliche Abwandlungen, die dem Tier ein stärker pferdeartiges- bis rinderartiges Aussehen gaben. Die weitaus genaueste und umfassendste Abhandlung jener Zeit zum Flusspferd verfasste Georges-Louis Leclerc de Buffon im Jahr 1764. Sie erschien im zwölften Band seines zusammen mit Louis Jean-Marie Daubenton herausgegebenen Werkes Histoire naturelle, générale et particulière. Buffon hatte zwar auch kein lebendes Tier gesehen, doch standen ihm für seine Arbeiten neben den bereits publizierten Aufsätzen von Belon, Zerenghi, Colonna und anderen, die er umfangreich zitiert und kritisch beurteilt, auch ein Fötus, mehrere Schädel und Fußknochen zur Verfügung. Diese befanden sich im Cabinet du roi, dem Naturalienkabinett des französischen Königs und späteren Muséum national d’histoire naturelle in Paris. Dem Fötus widmet er in seinem Werk einen Kupferstich mit einem ausgewachsenen Tier im Hintergrund, das eine Kopie von Colonnas Tier ist und Buffon très-défectueuse („ungemein fehlerhaft“) vorkommt. Seine ausführlichen Beschreibungen stellen nicht nur den Fötus genau vor, auch erklärt er die inneren Organe und die Nabelschnur. Gleiches erfolgt zu den Schädeln und Fußknochen in Wort und Bild.
Noch bevor Buffon seine umfassenden Ausarbeitungen zum Flusspferd aufsetzte, stellte Linnaeus im Jahr 1758 die wissenschaftliche Erstbeschreibung sowohl von Gattung als auch Art im Rahmen der 10. Ausgabe seines für die binominale Nomenklatur bedeutenden Werkes Systema Naturae vor. Als charakteristisch für die Gattung Hippopotamus benannte er die Struktur des Gebisses. Hierin wies er Belons Abhandlung von 1553 als seine Hauptquelle aus. Mit habitat in Nilo et bambolo Africae et ad ostia fluviorum Asiae gab Linnaeus den Nil, den Senegal und die Flussmündungen Asiens als Typusgebiet an. Oldfield Thomas beschränkte dies im Jahr 1911 auf den Nil. Neben dem Flusspferd führte Linnaeus noch den Flachlandtapir (Tapirus terrestris) innerhalb der Gattung Hippopotamus. Beide Formen differenzierte er anhand der Zehenanzahl, sie sind aber nicht näher miteinander verwandt.
Im 19. Jahrhundert wurden dann erstmals auch ausgestorbene Flusspferde wissenschaftlich eingeführt. Georges Cuvier beschrieb im Jahr 1804 mehrere Formen aus Europa, ohne diese dabei wissenschaftlich zu benennen. Er unterschied einzelne Größenvarianten, darunter eine große, die über Fossilfunde aus der Toskana und der Umgebung von Paris vorlag, sowie eine kleine mit Resten unbekannter Herkunft, für die Cuvier aber aufgrund der Gesteinsbrekzie, in der sie eingelagert waren, einen mediterranen Ursprung annahm. Basierend auf Cuviers Arbeit vergab dann Anselme Gaëtan Desmarest im Jahr 1822 verschiedene wissenschaftliche Namen. Von diesen sind mit Hippopotamus antiquus für die große Form und mit Hippopotamus minor für die kleine zwei Vertreter bis heute anerkannt. Nur zehn Jahre später folgte Hermann von Meyer mit der Beschreibung von Hippopotamus pentlandi anhand von zahlreichen Knochenresten aus einer Höhle aus der Umgebung von Palermo, Sizilien. Es sollte dann wiederum rund dreieinhalb Jahrzehnte dauern, bis Alfred Grandidier 1868 mit Hippopotamus lemerlei Reste ausgestorbener Flusspferde von Madagaskar vorstellte.
Etymologie
Bei der Bezeichnung Hippopotamus für das Flusspferd handelt es sich um eine Lehnübersetzung und latinisierte Form des griechischen Wortes ἱπποπόταμος (hippopótamos), welche sich aus den Teilen ἵππος (hippos) für „Pferd“ und ποταμός (potamos) für „Fluss“ zusammensetzt. Verwendet wurde sie bereits seit der Antike. So findet sie sich unter anderem bei Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr., der damals allerdings noch ἵππος ποτάμιος (hippos potamios) angab, was so viel wie „Pferd aus dem Fluss“ bedeutet. Des Weiteren nutzten sie Nikandros aus Kolophon im 2. Jahrhundert v. Chr. und Strabon um die Zeitenwende. Das Artepitheton amphibius ist ebenfalls griechischen Ursprungs (ἀμφίβιος) und bezieht sich auf die amphibische Lebensweise im Wasser und an Land. Darauf wiesen gleichfalls bereits einzelne Autoren des Altertums hin, etwa Plinius der Ältere.
Flusspferd und Mensch
Einflüsse in der menschlichen Geschichte und Kultur
Vorgeschichtliche Nutzung
Die Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Flusspferd begannen bereits im Pliozän. Sie bestehen hauptsächlich aus der Nutzung der Kadaver der Tiere durch den Menschen. Ob das Flusspferd als ein großes und gefährliches Lebewesen zu diesem Zeitpunkt auch gejagt wurde, ist ungewiss. Die ältesten Hinweise auf die Verwendung der Tiere finden sich in Schnittmarken auf Knochen oder in zerschlagenen beziehungsweise aufgebrochenen Skelettelementen. Beobachtet wurden solche anthropogenen Einwirkungen unter anderem an zwei Skelettindividuen des Flusspferdes in Nyayanga auf der Homa-Halbinsel des Victoriasees in Kenia. Die Reste sind zwischen 2,6 und 3,1 Millionen Jahre alt und waren mit Steinartefakten des Oldowan assoziiert, stehen damit also in einem altpaläolithischen Kontext. Die Fundstelle erbrachte zusätzlich Zähne von Paranthropus, eine robust gebaute Vorform des Menschen, die einen Seitenzweig in der Entwicklung zur Gattung Homo darstellt. Ungeklärt ist bisher, ob Paranthropus auch für die Steinwerkzeuge und die Schnittmarken verantwortlich ist. Ähnliche Konstellationen ergaben sich in den unteren Schichten der Olduvai-Schlucht (FLK site) in Tansania sowie in Koobi Fora in Kenia, zudem auch in El Kherba, Teil des umfassenden Fundstellenkomplexes Ain Hanech in Algerien. Sie sind jeweils zwischen 1,8 und 1,5 Millionen Jahre alt und gehören damit in das Altpleistozän. In der Regel handelt es sich um einzelne Funde, die eine gelegentliche Nutzung der Flusspferd.-Reste andeuten. Dies bleibt in der darauf folgenden Zeit bestehen, so dass das Flusspferd wohl ein regelmäßiges, wenn auch seltenes Element der Nahrungs- und Rohstoffversorgung des Menschen repräsentiert. Auch hier liegen Beispiele aus Olduvai (BK site und SHK site) vor, zusätzlich etwa von Buia in Eritrea. An keiner dieser im Zusammenhang mit menschlichen Hinterlassenschaften stehenden Fundstellen tritt das Flusspferd in nennenswert hoher Anzahl auf. Teilweise wurden die vom Menschen abgetrennten Körperteile später durch Raubtiere weitergenutzt, wie dies ein Schulterblatt aus Gombore in Äthiopien dokumentiert. Eine Besonderheit in der Hinsicht der Nutzung von Flusspferd-Resten als Rohmaterial bildet ein aus einem Oberschenkelknochen gefertigter, etwa 12,8 cm langer Faustkeil von der rund 1,4 Millionen Jahre alten Fundstelle Konso, ebenfalls in Äthiopien. Auch in Europa lässt sich das Flusspferd gelegentlich im Zusammenhang mit archäologischen Fundplätzen nachweisen, so etwa in Marathousa auf der Peloponnes in Griechenland, wobei auch hier in der Regel Einzelfunde vorliegen.
Einen deutlich höheren Anteil weist das Flusspferd an einigen Fundstellen im Affad-Becken am Mittellauf des Nils im Sudan auf, die in das ausgehende Jungpleistozän vor rund 15.000 Jahren gehören und auf Menschen des späten Mittelpaläolithikums zurückgehen. Hier wurden unter anderem eine Knochenkonzentration aus über 180 Skelettelementen des Flusspferdes gefunden, was gut 19 % des bestimmbaren Faunenmaterials entspricht. Allerdings ist an keinem der Knochen eine direkte Manipulation feststellbar. Mit der nachfolgenden Sesshaftwerdung des Menschen bildeten sich verschiedene neolithische Kulturen heraus. Vor allem im Niltal wurden in dieser Zeit unter anderem die Zähne des Flusspferdes zur Herstellung verschiedener Gegenstände verwendet. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang das Gräberfeld von Kadruka auf der Höhe des dritten Kataraktes des Nils. Hier wurde in einem Grab ein aus einem Eckzahn gefertigter Kosmetikbehälter, bucrania genannt (eigentlich ein Zierelement aus einem Rinderhorn), gefunden. Zeitlich gehört die Fundstelle dem frühen bis mittleren Neolithikum des 5. vorchristlichen Jahrtausends an. Ein weiteres Beispiel ist das ebenfalls im neolithischen Kontext stehende und etwa gleichalte Gräberfeld von Kadero nordöstlich von Khartum. In einigen der mehr als 240 Gräber fanden sich verschiedentlich Objekte aus den Eckzähnen des Flusspferdes gefertigt. Aber auch andere Körperpartien fanden Einzug in die materielle Kultur des Menschen. So barg das Grab 244 von Kadero neben mehreren Gefäßen, Armreifen und Muschelschalen zusätzlich einzelne langschmale Objekte mit Ausmaßen von rund 5 × 30 cm. Nach Gebrauchspurenuntersuchungen stellen sie wohl Schrapinstrumente dar, gefertigt aus den Rippen eines Flusspferdes. Bemerkenswert an Kadero ist, dass die Flusspferdfunde häufig in Verbindung mit Männer- oder Kinderbestattungen stehen und teilweise sehr reich ausgestattet sind. Einige Forscher vermuten daher, dass zu jener Zeit die Jagd auf die Tiere einer bestimmten Gruppe von Menschen vorbehalten war.
Außerhalb Afrikas sind im Neolithikum und im Chalkolithikum die Zähne des Flusspferdes auch in der Levante vom Menschen verarbeitet worden. Möglicherweise bilden die dichtere Struktur und die deutlichere weiße Farbgebung die ausschlaggebenden Gründe für die Verwendung von Flusspferd-Elfenbein gegenüber etwa Elefanten-Elfenbein. Ähnliches kann zum ägäischen Raum gesagt werden. Dort diente Elfenbein zur Herstellung von Siegeln, Intarsien oder Plaketten beziehungsweise Belägen, die, da die Rohstoffe eingeführt werden mussten, zumeist Luxusgegenstände repräsentieren. Dies hielt bis wenigstens zur mykenischen Zeit an. Zwar fanden hierbei überwiegend die Stoßzähne der Elefanten Verwendung, doch bestehen einzelne Objekte auch aus Flusspferd-Zähnen. Als Herkunftsorte für die Flusspferd-Zähne kommen der Vordere Orient und das Niltal in Nordafrika in Betracht, möglicherweise mit einem Transport über das Mittelmeer. Dies lässt unter anderem das Schiff von Uluburun annehmen, das vor rund 3400 Jahren vor dem heutigen Kaş im Südosten der Türkei unterging und in den 1980er Jahren untersucht wurde. Es enthielt neben zahlreichen wertvollen Objekten aus Gold, Bronze und Glas sowie verschiedensten Keramikformen auch Elefanten-Stoßzähne und Zähne von Flusspferden.
Künstlerische Darstellungen
Neben der Nutzung des Flusspferdes als Nahrungs- und Rohmaterialressource in vorgeschichtlicher Zeit fand es auch Einzug in die darstellende Kunst. Hiervon zeugen unter anderem mehrere tausend Jahre alte Felsmalereien, wie sie unter anderem im Tassili-n'Ajjer-Gebirge in Algerien gefunden wurden. Die Gebirgskette, die durch den rund 80.000 km² großen Tassili-n'Ajjer-Nationalpark geschützt wird, birgt schätzungsweise rund 15.000 Einzelbilder, von denen einige auch dem Flusspferd gewidmet sind. So findet sich die Abbildung eines Jungtieres in der Schlucht Oued Djerat im Norden des Gebirges. Von großer Bedeutung ist die Big hippo site in der Oued Afar rund 20 km südlich der Oued Djerat, wo allein 22 Abbildungen des Flusspferdes entdeckt wurden, die größte darunter 4,62 m lang. Die Darstellungen sind recht einfach gehalten und geben den Umriss der Tiere einschließlich des charakteristischen Kopfes mit Schnauze, Augen und Ohren wieder, ohne weitere Einzelheiten erkennen zu lassen. In der Regel werden einzelne Individuen, in manchen Fällen auch mehrere abgebildet. Eine szenische Darstellung wiederum zeigt ein Flusspferd einem Bogenschützen gegenüber stehend. Ein Teil der Abbildungen im Tassili-n'Ajjer mit der Wiedergabe von Wildtieren wie dem Flusspferd, aber auch von Giraffen, Elefanten, Nashörnern und anderen entstand wohl in der Frühphase der Felskunst der Region, als durch die klimatischen Bedingungen noch feuchtere Bedingungen herrschten. Die Phase der Felskunst wird lokal als „Phase der Großwildfauna“ bezeichnet und datiert zwischen 12.000 und 6.000 Jahren vor heute. Mit der zunehmenden Austrocknung der Landschaften verschwanden die großen Tiere. Die bildlichen Darstellungen gingen daher verstärkt zu Nutztieren über, weswegen hier auch von der „Pastoralen Phase“ gesprochen wird. Weitere Felsbilder von Flusspferden sind unter anderem aus dem Messak Settafet in Libyen dokumentiert, so im Wadi Taleschout mit allein 15 Einzeldarstellungen. Abseits der nordafrikanischen Felskunst können auch verschiedentlich Porträts von Flusspferden im südlichen Teil des Kontinents genannt werden. Als herausragendes Beispiel etwa gelten jene des Matopo-Gebirges, das durch den Matobo-Nationalpark im Westen von Simbabwe eingeschlossen wird. Darüber hinaus sind Abbildungen aus dem Mashonaland im Norden des Staates bekannt. Im letzteren Gebiet zeigt beispielsweise eine Darstellung zwei Tiere mit sich bewegenden Menschen drumherum, die möglicherweise eine Art Regentanz aufführen und so der Affinität des Flusspferdes zu Wasser Bedeutung verleihen.
Durch seine Präsenz am Nil war das Flusspferd auch im Alten Ägypten bekannt. Bereits aus der Badari- und der Naqada-Kultur der prädynastischen Zeit sind verschiedenste Objekte mit flusspferdartigem Umriss bekannt. Sie hatten variierende Funktionen und umfassen Gefäße, Anhänger oder Figurinen. Als Materialien wurde Elfenbein, Chrysopras und ähnliches verwendet. Mehrere dieser Objekte kamen in Gräbern zum Vorschein, wie etwa auf dem großen Bestattungsareal von Mostagedda. In einigen Fällen sind die Objekte sehr deutlich als Flusspferd erkennbar, manchmal ist auch nur der Kopf dargestellt, in anderen wirken sie eher abstrakt. Die Bedeutung der Objekte ist nicht eindeutig, standen aber eventuell in einem magischen Kontext. Im Alten Reich ließ sich Pepi II. auf einem Relief in seinem Totentempel in Sakkara bei der Flusspferdjagd darstellen. Hierbei harpuniert der Pharao in einer Szene das Tier, in einer anderen wird es auf einem Schlitten abtransportiert. Nach geläufiger Ansicht war die Jagd im Alten Reich nicht als Sport zu verstehen, sondern symbolisierte den Sieg der Ordnung, verbildlicht durch den Herrscher, über das Chaos, repräsentiert durch das Wildtier. Wesentlich intimer waren Flusspferddarstellungen im Mittleren und Neuen Reich. Nicht nur, dass die Jagd auf die Tiere auf Skarabäen und privaten Siegelamuletten verbildlicht wurde, auch kamen in dieser Zeit zahlreiche kleine Figurinen aus Fayence auf, allein aus dem Mittleren Reich sind rund 50 bis 60 solcher Figurinen belegt. Häufig gelangten sie als Beigaben in Grablegungen. Eventuell ersetzten sie hier gleichwertig die Tempelreliefs und hatten dann eine vergleichbare Funktion. Darstellungen von Flusspferden standen aber möglicherweise auch mit der ägyptischen Göttin Taweret in Zusammenhang, der als Herrin des Haushalts der Schutz über schwangere Frauen oblag und die als Mischwesen den Kopf eines Flusspferdes trug, mitunter ist auch der Körper flusspferdartig gestaltet. Sie erlangte im Neuen Reich eine größere Bedeutung, zuvor wurde ihre Position von anderen, teils auch mit dem Flusspferd verbundenen Göttinnen wie Ipet und Reret eingenommen. Im altägyptischen Glauben besaß das Flusspferd jedoch nicht nur protektive Eigenschaften, da es in Gefolgschaft von Seth, dem Gott des Verderbens und des Chaos sowie Tawarets Gemahl, auch zerstörerische Kräfte entwickelte. Letztere Attribute erhielt es aber weitgehend erst im Neuen Reich mit der Verfemung des Seth.
Weitere kulturelle Bezüge
Die Göttin Tawaret beziehungsweise ihre älteren Inkarnationen standen nach Meinung einiger Wissenschaftler Pate für den „Minoischen Genius“, eine Art dämonischer Kreatur, die während der mittelminoischen Zeit im zweiten Jahrtausend v. Chr. aufkam und bei religiösen Festen und Zeremonien von Bedeutung war. In der Anfangsphase ähnelte der „Minoische Genius“ noch stark seinem ägyptischen Gegenstück, trug einen flusspferd- oder löwenartigen Kopf und besaß den Körper einer schwangeren Frau. In späteren Zeiten veränderten sich aber seine äußeren Attribute, sie wurde löwenhafter mit männlichem Körper bis hin zu einem insektoiden Erscheinungsbild. In dieser Abwandlung erreichte er dann auch das griechische Festland. Bisher ungeklärt ist der Weg der Verbreitung dieser mythischen Figur. Während einige Wissenschaftler eine direkte Herkunft aus Ägypten sehen, favorisieren andere einen Umweg über die Levante, wo in der gleichen Zeit ähnliche Figuren in Erscheinung treten. Abseits des Transfers mythischer Figuren fanden sich in einigen antiken Stätten des Mittelmeers Knochenreste von Zwergflusspferden. Anders als bei den Zwergelefanten, die teilweise mit den Kyklopen der griechischen Mythologie in Verbindung gebracht wurden, gibt es für die Zwergflusspferde kein entsprechendes Äquivalent. In jüngerer Zeit hielt man die Knochen eher für Reste von Drachen oder Heiligen und zermahlte sie zu Pulver für medizinische Zwecke.
Das aus dem jüdischen Umfeld bekannte Ungeheuer Behemoth wird teilweise als Flusspferd gedeutet. Im Buch Hiob findet sich eine detailliertere Beschreibung des Behemoth, die ihn als großes und kräftiges Wesen darstellt, das im Wasser oder Schlamm liegt und mit geöffnetem Maul den Fluss verschlingt. Außerdem würde es Gras wie ein Rind fressen. Der Vergleich des Behemoth mit dem Flusspferd wird aber nicht in jedem Fall geteilt. Nichtsdestoweniger hatte dies Einfluss auf die Benennung des Tieres in verschiedenen Sprachen: so wird das Flusspferd auf Russisch, Belarussisch und Ukrainisch als бегемот (transkribiert Begemot beziehungsweise Behemot) bezeichnet, was auch Eingang in die kasachische, aserbaidschanische und die tadschikische Sprache (Баҳмут, Bachmut) gefunden hat.
Mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Elfenbeinhandel
Die Verwendung von Elfenbein als Rohmaterial unabhängig seines Ursprungs von Elefanten oder vom Flusspferd, ist in Afrika wie aufgezeigt seit prähistorischer Zeit nachweisbar. Die Tradition wurde auch in späterer Zeit fortgesetzt. Vor allem vom 10. bis 14. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft bestand ein reger Handel von West- nach Nordafrika, der teilweise auch das südliche Europa erreichte. Bedeutende Handwerksstätten fanden sich beispielsweise im Maghreb. Die arabischen Gelehrten der damaligen Zeit unterschieden aber selten in der Herkunft des Rohmaterials, so dass nur selten auf das Flusspferd direkt verwiesen wird. Als Ursache wird teils angenommen, dass ihnen die Elefanten zwar vertraut, das Flusspferd aber weitgehend unbekannt war. Dadurch kam es auch zu Verwechslung der Tiere wie etwa bei der Reise von Ibn Battūta durch Mali im 14. Jahrhundert. Auf die wohl große Bedeutung des Flusspferd-Elfenbeins verweist allerdings ein im Jahr 1993 entdeckter Hortfund aus Gao in Mali, der in das 11. Jahrhundert datiert und aus wenigstens 53 Zähnen besteht, die in einer Grube abgelegt worden waren. Größere Dimensionen erhielt der Elfenbeinhandel während der europäischen Kolonialzeit. So verschifften die Portugiesen beispielsweise Stoßzähne von Elefanten von der südostafrikanischen Küste nach Indien und tauschten sie gegen Gewürz ein. Dass sich darunter auch Zähne von Flusspferden befanden, zeigt der Fund eines Wracks aus dem 17. Jahrhundert vor der Küste des indischen Bundesstaates Goa, das insgesamt neun Exemplare enthielt.
Ein Neozoon in Südamerika
Die einzige freilebende Flusspferdpopulation außerhalb Afrikas existiert in Südamerika in Seen im Einzugsgebiet des Río Magdalena in Kolumbien. Im Jahr 1981 hatte Pablo Escobar, Anführer des Medellín-Kartells, vier aus einem Zoo in den USA stammende Tiere (drei weibliche und ein männliches) eingeführt. Anfangs lebten sie gemeinsam mit anderen Arten im Privatzoo des Drogenhändlers auf der Hacienda Nápoles bei Puerto Triunfo und rund 13,5 km westlich des Río Magdalena. Mit dem Tod Escobars im Jahr 1993 wurden die meisten Tiere in Zoos verteilt, die Flusspferde, die schwer zu transportieren waren, verblieben jedoch auf der Hacienda Nápoles, die nach und nach verfiel. Dreizehn Jahre später, nachdem das Gelände in einen touristischen Freizeitpark umgestaltet worden war, lebten bereits 16 Flusspferde in der Umgebung, die aus verschiedenen Sumpf- und Feuchtgebieten (ciénagas), künstlichen Seen und kleinen Flussläufen besteht. Bereits im Jahr 2009 fanden sich einzelne Individuen in einer Region rund 75 km weiter nördlich. Im Jahr darauf wurde erstmals ein Flusspferd im Río Magdalena beobachtet und drei Jahre später im Río Cocorná, einem Nebenfluss.
Schätzungen zufolge lebten im Jahr 2020 in der Region zwischen 65 und 80 Individuen, einzelne Sichtungen erfolgten in bis zu 150 km Entfernung vom Ursprungsort. Bei einer konservativen Annahme einer Fortpflanzungsrate von 7 bis 8 %, was etwa der des Flusspferdes in Afrika entspricht, könnte die Population bis zum Jahr 2050 auf 400 bis 800 Individuen anwachsen, unter günstigen Umständen mit einer Wachstumsrate von 11 % – die Tiere haben in Südamerika keine natürlichen Feinde und die Sterberate der Jungtiere ist sehr gering – auch auf bis zu 5000. Wie in Afrika sorgen die Tiere für einen erheblichen Nährstoffeintrag in ihre Wohngewässer, indem sie an Land grasen und im Wasser ihre Ausscheidungen abgeben, was zu einer Blüte des Phytoplanktons und infolgedessen auch zu einer starken Vermehrung des Zooplanktons führt.
Nach Auffassung einiger Forscher sind die Auswirkungen aber wenig dramatisch, da es sich möglicherweise um die Herstellung eines ursprünglichen Zustands handelt, der bis zum Aussterben der Megafauna am Ende des Pleistozäns im Zuge der Quartären Aussterbewelle vorgeherrscht hatte. Demnach nimmt das Flusspferd in Südamerika die Position ein, die damals ebenfalls semiaquatisch lebende Vertreter der ausgestorbenen Südamerikanischen Huftiere wie etwa Trigonodops im Ökosystem südamerikanischer Flüsse innehatten. Andererseits leben in der Region mit dem Karibik-Manati und dem Capybara zwei größere aquatisch bis semi-aquatisch angepasste Säugetiere, so dass durch das Flusspferd für diese zusätzliche Konkurrenz entsteht. Daher plädieren andere Wissenschaftler für eine Ausrottung des Flusspferd-Bestandes, sei es durch Sterilisation oder durch gezielte Tötung.
Im Oktober 2021 begannen die kolumbianischen Behörden mit der Sterilisation der Flusspferde. Zwei Dutzend Tieren wurde das Immunokastrationsmittel GonaCon verabreicht, das die Flusspferde über einen begrenzten Zeitraum sterilisiert. Bei elf weiteren Tieren erfolgte eine herkömmliche Sterilisation. Da das Vorhaben allerdings scheiterte, wurden die Tiere im Jahr 2022 von kolumbianischen Behörden zur invasiven Art erklärt und zur Jagd freigegeben.
Bedrohung und Schutz
Die IUCN stuft das Flusspferd in seinem Gesamtbestand als „gefährdet“ (vulnerable) ein. Nach Schätzungen aus dem Jahr 2016 leben weltweit rund 115.000 bis 130.000 Tiere. Frühere Angaben für den Gesamtbestand von bis zu 148.000 Individuen, die die IUCN im Jahr 2008 veröffentlicht hatte, werden auf eine Überschätzung einzelner regionaler Populationen zurückgeführt. Insgesamt erwies sich dadurch der Bestand des Flusspferdes als relativ stabil. Regional und lokal können dabei aber Schwankungen auftreten. So nahm die Anzahl der Tiere im Masai Mara entlang des Mara-Flusses und angrenzender Gebiete von 2330 Individuen im Jahr 1984 auf 4170 im Jahr 2006 zu, was möglicherweise mit den begünstigenden Landschaftsverhältnissen der Region zusammenhängt. In anderen Gebieten wie im Gonarezhou-Nationalpark in Simbabwe kam es in einem vergleichbaren Zeitraum zu einem Rückgang des Bestandes, teilweise ausgelöst durch Dürrephasen. Im Bereich seines Vorkommens ist das Flusspferd in zahlreichen Schutzgebieten präsent, teilweise kann die Art auch außerhalb angetroffen werden. Allerdings ist sie in einigen Teilen auch ausgestorben oder sehr selten geworden.
Als ein großer Bedrohungsfaktor wird der Verlust an Lebensraum angesehen, was häufig mit der Ausbreitung land- und viehwirtschaftlich genutzter Flächen oder wasserregulierender Maßnahmen einhergeht. Die Abhängigkeit des Flusspferdes von Wasser führt dabei zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung. In Kenia wurden in dem Zeitraum von 1997 und 2008 fast 4500 Mensch-Flusspferd-Konflikte registriert, die unter anderem in Zeiten größerer Dürre zunahmen. Zudem wurden aber auch häufiger Plünderungen von Feldern durch Flusspferde beobachtet. Im westlichen und zentralen Afrika spielen auch die Zersplitterung der Populationen des Flusspferdes in kleine Einheiten eine Rolle, die dann häufig auf einzelne, mitunter schlecht verwaltete Reservate beschränkt sind. Einen weiteren bestandsgefährdenden Einfluss nimmt die illegale Jagd ein, die unter anderem in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre zu starken Einbrüchen im Bestand des Flusspferdes führte. Das Fleisch bildet einerseits eine Nahrungsressource, etwa in Burkina Faso, Burundi, in der Elfenbeinküste oder im Südsudan, andererseits wird das Elfenbein der Zähne intensiv gehandelt. Vor allem in Ländern mit anhaltenden zivilen Unruhen oder Bürgerkriegen kann letzteres stark ansteigen. So brach die Flusspferdpopulation in der Demokratischen Republik Kongo Anfang des 21. Jahrhunderts infolge von achtjährigen Unruhen um 95 % ein, in Mosambik sank zwischen 1980 und 1992 während des Bürgerkrieges der Bestand um rund 70 %. Der Handel mit Flusspferd-Elfenbein stieg des Weiteren auch mit dem Verbot von Elefanten-Elfenbein im Jahr 1989 massiv an. Allein zwischen 1991 und 1992 wurden in Uganda rund 27 t an Eckzähnen des Flusspferdes gehandelt, in den zwei Jahren zuvor waren es noch 12 t. Ein Großteil des Austausches findet über Hongkong statt, in 75 % der Fälle sind Uganda und Tansania die Herkunftsländer. Teilweise werden in Hong Kong aber mehr Flusspferdzähne ein-, als offiziell aus den Ursprungsländern ausgeführt. Nach Untersuchungen des CITES betraf dies für den Zeitraum von 1995 bis 2013 insgesamt 14,2 t, was umgerechnet ungefähr 2700 Flusspferd-Individuen oder rund 2 % des Gesamtbestandes betrifft. Dadurch hat neben der Landschaftserhaltung auch die Reduzierung der illegalen Jagd eine große Bedeutung für den Schutz des Flusspferdes.
Im Gegensatz zu anderen Großtieren wie den Elefanten oder den Nashörnern erregte das Flusspferd relativ spät Aufmerksamkeit in der westlichen Welt. Das erste in jüngerer Zeit in einem Zoo gehaltene Tier war ein Individuum namens „Obaysch“, das 1850 in den Londoner Zoo kam und für eine regelrechte „Hippomania“ sorgte. Auch anderenorts avancierten Flusspferde später zu beliebten Zootieren, beispielsweise „Knautschke“ im Berliner Zoo. Heute ist die Art relativ häufig in zoologischen Einrichtungen anzutreffen. Allein in Deutschland gibt es mehr als ein halbes Dutzend Haltungen, zahlreiche zusätzliche kommen europaweit und im Nahen Osten hinzu.
Gefährlichkeit für den Menschen
Es besteht die weite Auffassung, das Flusspferd sei eines der gefährlichsten Großtiere Afrikas und würde mehr Todesfälle als etwa Krokodile oder Großkatzen verursachen. Die Tiere können trotz ihres behäbigen Aussehens sehr aggressiv sein, insbesondere Mütter mit Jungtieren und bedrängte oder verwundete Individuen. Viele Berichte betreffen Fischer, die mit ihren Booten zu nah an oder in Flusspferdgruppen gelangten und bei etwaigen Angriffen kenterten sowie verletzt oder getötet wurden. Auch nachts an Land kann es zu gefährlichen Situationen kommen, wenn Menschen in Flusspferdgruppen geraten, die auf dem Weg zu ihren Weidegründen sind. Allerdings gibt es über die tatsächliche Anzahl und den Verlauf derartiger Begegnungen keine Statistiken. Häufig tolerieren die Tiere Menschengruppen bis hin zu gewissen Entfernungen.
Literatur
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9
Hubert Hendrichs: Artiodactyla (Paraxonia), Paarhufer. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-0307-3 (Spezielle Zoologie. Teil 2)
Hans Klingel: Hippopotamus amphibius Common Hippopotamus. In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume VI. Pigs, Hippopotamuses, Chevrotain, Giraffes, Deer and Bovids. Bloomsbury, London, 2013, S. 68–78
R. L. Lewison: Family Hippopotamidae (Hippopotamuses). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hoofed Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2011, ISBN 978-84-96553-77-4, S. 318
Einzelnachweise
Anmerkungen
Weblinks
Flusspferd auf ultimateungulate.com (englisch)
Paarhufer |
166399 | https://de.wikipedia.org/wiki/Alberto%20Giacometti | Alberto Giacometti | Alberto Giacometti (* 10. Oktober 1901 in Borgonovo, Gemeinde Stampa; † 11. Januar 1966 in Chur) war ein Schweizer Bildhauer, Maler und Grafiker der Moderne, der seit 1922 hauptsächlich in Paris lebte und arbeitete. Er blieb seinem heimatlichen Gebirgstal Bergell verbunden; dort traf er seine Familie und widmete sich seiner künstlerischen Arbeit.
Giacometti gehört zu den bedeutendsten Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist vom Kubismus, Surrealismus und den philosophischen Fragen um die condition humaine sowie vom Existentialismus und von der Phänomenologie beeinflusst. Um 1935 gab er die surrealistischen Arbeiten auf, um sich den «Kompositionen mit Figuren» zu widmen. Zwischen 1938 und 1944 waren die Figuren maximal sieben Zentimeter gross. Sie sollten die Distanz wiedergeben, in der er das Modell gesehen hatte.
In der Nachkriegszeit entstanden Giacomettis bekannteste Werke; in den extrem langen, schlanken Skulpturen führte der Künstler seine neue Distanzerfahrung nach einem Kinobesuch aus, in der er den Unterschied zwischen seiner Sehweise und jener der Fotografie und des Films erkannte. Mit seiner subjektiven Seh-Erfahrung schuf er die Plastik nicht als körperhafte Nachbildung im realen Raum, sondern als «ein imaginäres Bild […] in ihrem gleichzeitig realen und imaginären, greifbaren und unbetretbaren Raum».
Giacomettis malerisches Œuvre war anfangs ein kleinerer Teil seines Werks. Nach 1957 trat die figurative Malerei gleichberechtigt neben die Skulptur. Seine fast monochrome Malerei der Spätzeit «lässt sich keiner Stilform der Moderne zuordnen», meinte ehrfürchtig Lucius Grisebach.
Leben
Kindheit und Schulzeit
Alberto Giacometti kam in Borgonovo, einem Bergdorf im Bergell, nahe Stampa im Kanton Graubünden, als erstes von vier Kindern des post-impressionistischen Malers Giovanni Giacometti und dessen Frau Annetta Giacometti-Stampa (1871–1964) zur Welt. Es folgten seine Geschwister Diego (1902–1985), Ottilia (1904–1937) und Bruno (1907–2012). Im Spätherbst 1903 zogen die Giacomettis nach Stampa in das Gasthaus «Piz Duan», das in Familienbesitz war und seit dem Tod des Grossvaters Alberto Giacometti (1834–1933) von dessen Bruder Otto Giacometti geführt wurde. Das Gasthaus wurde nach dem nahe gelegenen Berg Piz Duan benannt. In einem schräg gegenüber dem Gasthof gelegenen Haus bezog die Familie 1906 eine Wohnung, die in den folgenden sechzig Jahren den Familienmittelpunkt bildete. Giovanni Giacometti baute die nebenstehende Scheune zum Atelier aus. Die Familie hatte ab 1910 durch eine Erbschaft in Capolago, Maloja, ein Sommerhaus mit Atelier am Silsersee, das ihnen zur zweiten Heimat wurde. Dort war auch Albertos Cousin Zaccaria Giacometti, der spätere Staatsrechtsprofessor und Rektor der Universität Zürich, oft zu Besuch.
Neben seiner Muttersprache Italienisch sprach Alberto Giacometti Deutsch, Französisch und Englisch. Sein Vater brachte ihm das Zeichnen und Modellieren bei. Sein Onkel Augusto Giacometti war mit abstrakten Kompositionen am Zürcher Dada-Kreis beteiligt. Bruder Diego wurde ebenfalls Bildhauer sowie Möbel- und Objektgestalter, und Bruno wurde Architekt. Giacomettis Patenonkel war der Schweizer Maler Cuno Amiet, der ein enger Freund seines Vaters war.
Im Jahr 1913 führte Giacometti seine erste exakte Zeichnung, nach Albrecht Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel, aus und malte sein erstes Ölbild, ein Apfelstillleben auf einem Klapptisch. Ende 1914 entstanden seine ersten Skulpturen, die Köpfe der Brüder Diego und Bruno in Plastilin. Im August 1915 begann Giacometti eine Schulausbildung an der Evangelischen Mittelschule in Schiers. Aufgrund der überdurchschnittlichen Leistungen und künstlerischen Fertigkeiten wurde ihm ein eigenes Zimmer gewährt, das er als Atelier einrichten durfte.
Ausbildung
Das Frühjahr und den Sommer 1919 verbrachte Giacometti in Stampa und Maloja, wo er sich ständig mit Zeichnungen und divisionistischer Malerei beschäftigte. Der Entschluss, Künstler zu werden, war getroffen, sodass er nach vier Jahren seine Schulausbildung vor der Matura abbrach und ab Herbst 1919 in Genf mit einem Kunststudium begann. An der École des Beaux-Arts lernte er die Malerei und an der École des Arts et Métiers die Bildhauerei und das Zeichnen. Im Jahr 1920 begleitete Giacometti seinen Vater, der Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission an der Biennale in Venedig war, nach Venedig, wo ihn die Werke von Alexander Archipenko und Paul Cézanne beeindruckten. In der Lagunenstadt faszinierten ihn die Werke von Tintoretto und in Padua Giottos Fresken in der Cappella degli Scrovegni.
1921 machte er eine Studienreise durch Italien und hielt sich dort zunächst in Rom bei Verwandten seiner Familie auf. Hier besuchte er die Museen und Kirchen der Stadt, füllte Skizzenbücher mit Zeichnungen nach Mosaiken, Gemälden und Skulpturen, besuchte Opern und Konzerte und las unter anderem Schriften von Sophokles und Oscar Wilde, die ihn zu Zeichnungen anregten. Er verliebte sich unglücklich in seine Cousine Bianca; die Arbeiten an ihrer Büste stellten ihn nicht zufrieden. Ab Anfang April besuchte er Neapel, Paestum und Pompeji. In Madonna di Campiglio starb im September sein 61-jähriger Reisebegleiter Pieter van Meurs plötzlich an Herzversagen. Giacometti kehrte daraufhin über Venedig nach Stampa zurück.
Leben und Arbeiten in Paris
Kubistischer Beginn und handwerklicher Broterwerb
Im Januar 1922 ging Giacometti nach Paris und belegte zur weiteren Ausbildung bis 1927 Kurse bei Émile-Antoine Bourdelle für Bildhauerei sowie für Aktzeichnen an der Académie de la Grande Chaumière am Montparnasse, die er oft monatelang nicht besuchte. Er verkehrte anfangs viel mit gleichaltrigen Schweizer Künstlern wie Kurt Seligmann und Serge Brignoni. Ein Mitstudent, Pierre Matisse, wurde später sein Kunsthändler. Mit Flora Mayo, einer US-amerikanischen Bildhauerin, unterhielt er bis 1929 eine lose Beziehung; sie porträtierten sich gegenseitig in Ton. In Paris lernte er die Arbeiten von Henri Laurens, den er 1930 persönlich traf, sowie von Jacques Lipchitz und von Constantin Brâncuși kennen.
Drei Jahre nach seinem Studienbeginn in Paris hatte Giacometti eine erste Ausstellung im Salon des Tuileries in Paris. Aufgefordert von Bourdelle, zeigte er 1925 zwei seiner Werke, einen Kopf von Diego Giacometti sowie die postkubistische Skulptur Torse (Torso). Der auf wenige kantige Blockformen reduzierte Torso erregte den Unwillen seines Lehrers Bourdelle: «So etwas macht man für sich zu Hause, aber man zeigt es nicht.»
Im Februar 1925 folgte sein Bruder Diego ihm aus der Schweiz in das im Januar des Jahres bezogene Atelier in der rue Froidevaux 37. Im Frühsommer 1926 zogen die Brüder in ein neues kleineres Atelier in der rue Hippolyte-Maindron 46, das Giacometti bis zu seinem Tod beibehielt. Diego Giacometti fand im Designbereich seinen Beruf und unterstützte seinen Bruder bei dessen Arbeit; er wurde nicht nur Albertos bevorzugtes Modell, sondern ab 1930 darüber hinaus sein engster Mitarbeiter.
Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, fertigten die Brüder für Jean-Michel Frank, den sie 1929 durch Man Ray kennengelernt hatten, dekorative Wandleuchten und Vasen aus Gips an und stellten Schmuck für die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli her. Frank fertigte für Schiaparelli, auch nach dem Entwurf von Alberto Giacometti, die bronzene Stehlampe Figure Version Étoile. Durch Frank lernten sie die Pariser haute société kennen; der Vicomte de Noailles und seine Frau erwarben Skulpturen und gaben den Auftrag für eine 2,40 Meter hohe Steinskulptur, Figure dans un jardin (Figur in einem Garten), eine stelenartige kubistische Komposition, für den Park ihrer Villa Noailles bei Hyères, die im Sommer 1932 fertiggestellt war.
Mitglied der Surrealisten
Seit 1928 datieren Bekanntschaften mit Künstlern und Schriftstellern, wie zum Beispiel Louis Aragon, Alexander Calder, Jean Cocteau, Max Ernst, Michel Leiris, Joan Miró und Jacques Prévert. Leiris veröffentlichte 1929 in der neu gegründeten surrealistischen Zeitschrift Documents in der vierten Ausgabe eine erste Würdigung von Giacomettis Arbeiten. Zusammen mit Joan Miró und Hans Arp war Giacometti 1930 an der Gruppenausstellung in Pierre Loebs Galerie Pierre vertreten, wo André Breton Giacomettis Kunstobjekt, die Plastik Boule suspendue (Schwebende Kugel), sah und kaufte. Bei einem anschliessenden Besuch in Giacomettis Atelier in der rue Hippolyte-Maindron konnte Breton den Künstler dazu bewegen, sich seiner Surrealistengruppe anzuschliessen. 1933 veröffentlichte Giacometti Gedichte in Le Surréalisme au service de la révolution sowie einen surrealistisch verfassten Text über seine Kindheit, Hier, sables mouvants (Gestern, Flugsand). Im selben Jahr erlernte er in der Werkstatt des Briten Stanley William Hayter, dem «Atelier 17», die Techniken des Radierens und Kupferstechens; 1933 versah er das Buch des surrealistischen Schriftstellers René Crevel Les Pieds dans le plat mit einer Illustration, gefolgt von vier Kupferstichen zu Bretons L’Air de l’eau 1934.
Giacomettis Vater, der für den Künstler ein starker Bezugspunkt gewesen war, starb im Juni 1933. In diesem Jahr entstanden nur wenige Werke. Giacometti beteiligte sich zwar noch an weiteren Ausstellungen der Surrealisten, begann jedoch – nach langer Zeit wieder – nach der Natur zu modellieren, was Breton als Verrat an der Avantgarde ansah. Im August 1934 war Giacometti zusammen mit Paul Éluard Trauzeuge und Man Ray Fotograf bei der Hochzeit Bretons mit der französischen Malerin Jacqueline Lamba. Wenige Monate später zog er sich selbst von der Gruppe zurück, bevor ein offizieller Ausschluss erfolgen konnte. André Breton warf Giacometti während eines Abendessens im Dezember 1934 vor, dass er für den Pariser Möbeldesigner Jean-Michel Frank «Brotarbeit» verrichte und daher der surrealistischen Idee abtrünnig geworden sei und bezeichnete ihn im Jahr 1938 auf der Exposition Internationale du Surréalisme in Paris als ehemaligen Surrealisten. Durch die Trennung verlor Giacometti viele Freunde, mit Ausnahme von René Crevel, der sich im Juni 1935, deprimiert und krank, das Leben nahm.
Neue Freunde und ein Unfall
Giacometti sah sich nach dem Bruch mit den Surrealisten in einer Schaffenskrise. Er wandte sich anderen Künstlern wie Balthus, André Derain und Pierre Tal-Coat zu, die sich der Wiedergabe nach der Natur in der Kunst verschrieben hatten. Pablo Picasso hatte er bereits im Surrealistenkreis getroffen, aber eine Freundschaft zwischen ihnen bahnte sich erst an, als dieser 1937 an seinem Monumentalgemälde Guernica arbeitete. Giacometti war neben Matisse der einzige Künstler, mit dem er über Kunst sprach, nahm seine Malerei und Skulptur jedoch nie ganz ernst. Er verstand zwar, dass Giacometti um etwas rang, sah dieses Ringen – im Gegensatz zum Ringen Picassos um den Kubismus – jedoch als gescheitert an, da er, nach Picasso, nie das erreichen würde, was er von der Skulptur verlangte und wolle «[…] uns die Meisterwerke bedauern lassen, die er nie schaffen wird.»
Eine neue Freundschaft entstand zu der Britin Isabel Delmer, geborene Nicholas (1912–1992), die kurz nach ihrer Ankunft in Paris im Jahr 1935 den Journalisten Sefton Delmer geheiratet hatte. Isabel Delmer wurde Giacomettis Modell für Zeichnungen. Plastiken von ihr gestaltete er zunehmend gestreckt und mit überlangen Beinen. Die erste Skulptur ihres Kopfes aus dem Jahr 1936, genannt Die Ägypterin, erinnert an ägyptische Porträtkunst.
Im Oktober 1938 erlitt Giacometti einen schweren Verkehrsunfall. Als er nachts in Paris unterwegs war, verlor eine alkoholisierte Autofahrerin die Kontrolle über ihr Fahrzeug und erfasste ihn auf der Place des Pyramides auf dem Gehweg. Er wurde am Fuss verletzt – sein rechter Mittelfuss war an zwei Stellen gebrochen – und beachtete die von seinem Arzt verordnete Schonung bis zur Heilung des Bruchs nicht. Seitdem hatte er einen Gehfehler und benötigte bis 1946 Krücken und Stock. Er erzählte oft von diesem Unfall und bezeichnete ihn als einschneidendes Erlebnis in seinem Leben, das «wie ein Stromstoss auf sein schöpferisches und persönliches Leben» gewirkt habe. Giacomettis Biograf Reinhold Hohl wies Spekulationen zurück, dass der Künstler aus Furcht vor einer Amputation traumatisiert gewesen sei und deshalb seine späteren Plastiken mit übergrossen Fusspartien ausgestattet habe.
Begegnung mit Jean-Paul Sartre und eine Ausstellung
1939 lernte Giacometti im Café de Flore den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre und dessen Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen. Nicht lange nach der ersten Begegnung Sartres mit Giacometti verfasste der Philosoph sein Hauptwerk L’Être et le Néant. Essai d’ontologie phénoménologique (Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie), das 1943 erstmals veröffentlicht wurde und in das einige Gedanken Giacomettis einflossen. Die Phänomenologie beschäftigte Giacometti zeitlebens. Seit seiner Studienzeit in Genf war er auf der Suche nach einer neuen künstlerischen Ausdrucksform. 1939 begann er Büsten und Köpfe zu modellieren, die nur noch nussgross waren.
Aufgrund der Vermittlung seines Bruders Bruno nahm Giacometti im Sommer 1939 an der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich teil. Eine von ihm geplante Gipsdraperie für die Fassadenverkleidung des Gebäudes «Textil und Mode» erwies sich als technisch nicht durchführbar; die Präsentation einer winzigen Gipsfigur auf einem grossen Sockel in einem der 6 × 6 Meter messenden Innenhöfe desselben Gebäudes wurde abgelehnt, da das Werk als Verhöhnung der beteiligten Künstler angesehen wurde. Stattdessen wurde Giacomettis fast einen Meter hoher Gips Le Cube (Der Kubus) von 1933/1934, der auf der Luzerner Ausstellung 1935 gezeigt worden war, nach Zürich geschafft und ebenerdig aufgestellt.
Zweiter Weltkrieg in Genf
Bei Kriegsausbruch im September 1939 hielten sich Alberto Giacometti und sein Bruder Diego in Maloja auf und kehrten Ende des Jahres nach Paris zurück. Giacometti vergrub seine Miniaturskulpturen im Mai 1940 in seinem Atelier – kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Die Brüder flüchteten im Juni mit dem Fahrrad aus Paris, kehrten jedoch nach grausamen Kriegserlebnissen wieder um. Am 31. Dezember 1941 reiste Alberto Giacometti, der wegen seiner Behinderung vom Wehrdienst befreit war und ein Visum für die Schweiz erhalten hatte, nach Genf, während Diego in Paris blieb. Von Januar 1942 bis September 1945 wohnte Alberto Giacometti in Genf, zuerst bei seinem Schwager, Dr. Francis Berthoud, später nahm er sich ein einfaches Hotelzimmer; in den Sommermonaten hielt er sich in Stampa und Maloja auf.
Giacomettis Schwester Ottilia war 1937 im Kindbett verstorben, und die Grossmutter Annetta half bei der Erziehung des Kindes. Im Hotelzimmer entstanden winzige Gipsfiguren auf grösseren Sockeln, unter anderem die Figur seines Neffen Silvio. Der Gips Femme au chariot (Frau auf dem Wagen), 1942/1943 in Maloja entstanden, war Giacomettis einzige grossformatige Arbeit während seines Aufenthalts in der Schweiz. In Maloja traf er 1943 den Schweizer Fotografen Ernst Scheidegger, der Giacomettis Skulpturen fotografierte und erstmals autobiografische und dichterische Texte des Künstlers 1958 zusammen mit seinen Aufnahmen in einem Buch im Arche Verlag veröffentlichte. In Genf lernte er den Verleger Albert Skira kennen, für dessen Magazin Labyrinthe Giacometti 1946 den autobiografischen Text Le rêve, le sphinx et la mort de T. (Der Traum, die Sphinx und der Tod von T.) verfasste.
Rückkehr nach Paris und ein Stilwandel
Ab September 1945 lebte Giacometti wieder in Paris, zunächst in einem gemieteten Zimmer in der rue Hippolyte-Maindron, zusammen mit seiner langjährigen Freundin Isabel, die sich von Sefton Delmer getrennt hatte und aus London zurückgekommen war. Im Dezember verliess sie ihn, besuchte ihn jedoch gelegentlich weiter in seinem Atelier; 1947 heiratete sie Constant Lambert und nach dessen Tod 1951 Alan Rawsthorne. Anlässlich einer geplanten Ausstellung in der Tate Gallery in London 1962 vermittelte Isabel die Begegnung Giacomettis mit Francis Bacon, der sie ebenfalls porträtiert hatte.
1946 zog Giacometti mit Annette Arm (1923–1993) zusammen, die er 1943 in Genf kennengelernt hatte und 1949 heiratete. Mit ihr als Modell entstand eine umfangreiche Zahl von Zeichnungen, Radierungen, Gemälden und Skulpturen. Die Skulpturen wurden zunehmend länger und dünner und zeigten den Stilwandel, der ihn in den folgenden Jahrzehnten international bekannt machte: «Stecknadel»-Figuren auf hohen Sockeln wichen überschlanken Figuren in Meterhöhe, stabdünnen Figuren mit undeutlicher Anatomie, jedoch mit genauen Proportionen und nur angedeuteten Köpfen und Gesichtern, denen ein erfassender Blick eingeräumt wird.
Internationaler Erfolg und Ende einer Freundschaft
Sehr erfolgreich verlief Giacomettis erste Einzelausstellung 1948 in der Galerie von Pierre Matisse in New York, die den Bildhauer in der Folgezeit in den Vereinigten Staaten vertrat. Sammler und einflussreiche Kunstkritiker wie David Sylvester, den Giacometti in der Ausstellung traf, wurden auf ihn aufmerksam. Die Ausstellung, bei der erstmals die schlanken Figuren einem grösseren Publikum präsentiert wurden, begründete seinen Ruhm im angelsächsischen Raum. Jean-Paul Sartre hatte für den Ausstellungskatalog den fast zehnseitigen Essay La Recherche de l’absolu (Die Suche nach dem Absoluten) verfasst, und das amerikanische Publikum sah daraufhin Giacometti als Bildhauer des französischen Existentialismus an.
Der Kunsthistoriker Georg Schmidt kaufte 1950 zwei Gemälde, La Table und Portrait d’Annette, sowie die Bronze Place für die Emanuel Hoffmann-Stiftung im Kunstmuseum Basel zum Preis von 4800 Schweizer Franken, somit gelangten in diesem Jahr die ersten Werke Giacomettis in eine öffentliche Sammlung der Schweiz.
1951 wurden die schlanken Figuren in der Galerie Maeght erstmals in Paris gezeigt, zahlreiche Ausstellungen in Europa folgten. Giacometti erhielt Aufträge, Radierungen zu Publikationen von Georges Bataille und Tristan Tzara anzufertigen. Im November 1951 besuchte er mit seiner Frau den Verleger Tériade in dessen Landhaus in Südfrankreich, danach reisten sie zu Henri Matisse, der in Cimiez bei Nizza wohnte. Ein Besuch am folgenden Tag galt Pablo Picasso in Vallauris. Nach einem Streit war ihre langjährige Freundschaft beendet. Bei gelegentlich stattfindenden weiteren Begegnungen verhielt sich Giacometti höflich, doch distanziert.
Zwei Biografen und neue Figuren
Im Februar 1952 lernte Alberto Giacometti im Café Les Deux Magots seinen späteren Biografen James Lord kennen, der ihm gelegentlich als Modell für Zeichnungen diente. 1964, als sein Porträt entstand, sammelte Lord in den Sitzungen Material für das erste Buch, A Giacometti Portrait (Alberto Giacometti – Ein Portrait), das 1965 vom Museum of Modern Art in New York veröffentlicht wurde.
1954, im Jahr des Todes von Matisse, der im November verstarb, zeichnete Giacometti von Ende Juni bis Anfang Juli und erneut im September den im Rollstuhl sitzenden Maler mehrmals, um eine von der französischen Münzstätte in Auftrag gegebene Gedenkmünze vorzubereiten, die allerdings nie geprägt wurde. 1956 modellierte Giacometti an einer stehenden Frauenfigur, die er in verschiedenen Fassungen in Ton formte. Von den 15 frontal und unbeweglich stehenden Figuren stellte sein Bruder Diego Gipsabgüsse her. Zehn waren 1956 unter dem Titel Les Femmes de Venise (Die Frauen von Venedig) im französischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu sehen, von denen neun später in Bronze gegossen wurden. Diese Figurengruppe, bestehend aus «verschiedene[n] Versionen einer einzigen Frauenfigur, die nie eine endgültige Form erhielt», wurde 1958 als Bronzeguss erstmals in der Galerie Pierre Matisse in New York gezeigt.
Im November 1955 lernte Giacometti im Café Les Deux Magots den japanischen Philosophieprofessor Isaku Yanaihara kennen, der für eine japanische Zeitschrift einen Artikel über den Bildhauer verfassen sollte. Yanaihara wurde sein Freund und diente ihm ab 1956 als Modell; es entstanden bis 1961 mehrere Gemälde und Skulpturen von ihm. Der japanische Professor gab 1958 die erste Biografie über Giacometti in Tokio heraus.
Entwürfe für die Chase Manhattan Bank
Die Chase Manhattan Bank in New York, eine der grössten Banken der Welt, plante im Jahr 1956 die weiträumige Fläche vor einem neu zu errichtenden sechzigstöckigem Gebäude mit Kunstwerken zu beleben. Der Architekt Gordon Bunshaft bat Giacometti sowie seinen amerikanischen Kollegen Alexander Calder um Entwürfe. Giacometti willigte ein, obgleich er weder die örtlichen Gegebenheiten in New York kannte noch bislang Werke der erforderlichen Grösse geschaffen hatte. Er erhielt ein kleines Modell des Bankgebäudes und entwickelte daraufhin bis 1960 seine Entwürfe: eine weibliche Gestalt, von der er vier Versionen in Überlebensgrösse schuf, einen Kopf, der Diego ähnelte, und zwei Schreitende in Lebensgrösse. Da Giacometti mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, zerschlug sich der Auftrag. Ein Werk aus der Gruppe ist L’Homme qui marche I (Der schreitende Mann I).
Jean Genet und ein neues Modell
1957 begegnete der Künstler dem Komponisten Igor Strawinsky, den er mehrfach zeichnete. In dieser Zeit traf er ebenfalls den französischen Autor Jean Genet und schuf drei Ölporträts und mehrere Zeichnungen von ihm. Genet wiederum schrieb 1957 über den Künstler L’Atelier d’Alberto Giacometti (Das Atelier von Alberto Giacometti). Der Text soll Giacometti viel bedeutet haben, da er sich darin verstanden sah. Picasso beschrieb Genets 45-seitiges Werk als das beste Buch, das er je über einen Künstler gelesen habe. 1959 war Giacomettis Werk Trois hommes qui marchent (Drei schreitende Männer) aus dem Jahr 1947 auf der documenta II in Kassel zu sehen.
Die Bekanntschaft mit der 21-jährigen Prostituierten Caroline (mit bürgerlichem Namen Yvonne-Marguerite Poiraudeau), die Giacometti im Oktober 1959 in der Bar Chez Adrien machte, führte zu einer Affäre, die bis zu seinem Tod andauerte. Die Verbindung mit der jungen Frau aus dem Rotlichtmilieu erwies sich als Belastung für Annette und Diego Giacometti. Caroline wurde in dieser Zeit ein wichtiges Modell, und Giacometti schuf viele Porträts von ihr. Der Künstler war inzwischen weltberühmt und erhielt von seinen Händlern Pierre Matisse und Aimé Maeght grosse Summen für seine Werke. Er änderte seine Lebensgewohnheiten nicht, lebte weiterhin bescheiden, aber ungesund – er ass wenig, trank viel Kaffee und rauchte Zigaretten. Das erworbene Vermögen verteilte er an seinen Bruder Diego, an seine Mutter bis zu ihrem Tod im Januar 1964 und an seine nächtlichen Bekanntschaften. 1960 kaufte er für Diego ein Haus, für Annette und Caroline Wohnungen, wobei die Wohnung für sein Modell die luxuriösere war.
Späte Jahre
Samuel Beckett, den Giacometti seit 1937 kannte und mit dem er oft über die Schwierigkeiten der Künstlerexistenz in Pariser Bars debattierte, bat ihn im Jahr 1961 um Mitwirkung an einer Neuinszenierung von Warten auf Godot, uraufgeführt im Januar 1953. Giacometti schuf im Pariser Théâtre de l’Odéon einen kargen Baum aus Gips als Bühnendekoration, in der das Drama menschlicher Einsamkeit unter der Regie von Roger Blin im Mai 1961 gezeigt wurde. Im folgenden Jahr erhielt Alberto Giacometti den Grossen Preis für Bildhauerei der Biennale in Venedig, der ihn weltweit berühmt machte. 1963 musste er sich im Februar des Jahres einer Operation unterziehen, da er an Magenkrebs erkrankt war.
1964 verwirklichte Giacometti die mehrfigurige Platzkomposition im Hof der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence, bestehend aus L’Homme qui marche II, Femme debout III und L’Homme qui marche I, und war ein weiteres Mal auf der documenta in Kassel vertreten. Im selben Jahr kam es zum Bruch der Freundschaft mit Sartre, als dessen autobiografisches Buch Les mots veröffentlicht wurde. Giacometti sah darin seinen Unfall und dessen Folgen falsch dargestellt. Sartre hatte als Unfallort irrtümlich die Place d’Italie genannt und Giacometti mit den Worten zitiert: «Endlich einmal erlebe ich etwas! […] Also war ich nicht dazu bestimmt, Bildhauer zu werden, vielleicht war ich nicht einmal für das Leben bestimmt; ich war zu nichts bestimmt.» Eine Versöhnung mit Sartre lehnte Giacometti ab. Im darauf folgenden Jahr reiste er trotz angegriffener Gesundheit in die Vereinigten Staaten zu einer Retrospektive seiner Werke im Museum of Modern Art in New York.
Giacometti starb 1966 im Kantonsspital Graubünden in Chur an einer Perikarditis als Folge einer chronischen Bronchitis. Er wurde in seinem Geburtsort Borgonovo beerdigt. Diego Giacometti stellte den Bronzeabguss des letzten Werks seines Bruders auf das Grab, die dritte Skulptur des französischen Fotografen Eli Lotar. Die in feuchte Lappen gewickelte Tonfigur hatte Diego im Atelier vorgefunden. Einen eigenen kleinen Bronzevogel stellte er daneben. An der Beerdigung nahmen ausser den Angehörigen und vielen Freunden und Kollegen aus der Schweiz und Paris auch Museumsdirektoren und Kunsthändler aus der ganzen Welt teil, ebenso Vertreter der französischen Regierung und eidgenössischer Behörden.
Nachlass
Alberto Giacometti-Stiftung
Noch zu Lebzeiten des Künstlers wurde 1965 die Alberto Giacometti-Stiftung aus privaten und öffentlichen Mitteln von einer Gruppe von Kunstfreunden um Hans C. Bechtler und dem Schweizer Galeristen Ernst Beyeler in Zürich gegründet, die die Giacometti-Bestände des Pittsburger Industriellen David Thompson erwarben. Thompson besass zahlreiche wichtige Skulpturen aus der avantgardistischen Periode von 1925 bis 1934 und Exemplare der meisten Hauptwerke von 1947 bis 1950, den schöpferischsten Phasen Giacomettis. Der Künstler selbst ergänzte das spätere Werk durch eine Gruppe von Zeichnungen und etliche Gemälde. 2006 schenkten enge Freunde von Hans C. Bechtler, Bruno und Odette Giacometti aus dem Nachlass Alberto Gaicomettis der Stiftung 75 Gipse und 15 Bronzen.
Heute besitzt die Stiftung 170 Skulpturen, 20 Gemälde, 80 Zeichnungen, 23 Skizzenhefte, 39 Bücher mit Randzeichnungen und Druckgrafik. Dieser Bestand umfasst das Lebenswerk Alberto Giacomettis von seinen frühesten bis zu den letzten Werken in allen wesentlichen Aspekten und zahlreichen, überraschenden Facetten.
Die Sammlung der Alberto Giacometti-Stiftung wird zum grossen Teil im Kunsthaus Zürich aufbewahrt und in der ständigen Schausammlung präsentiert. Hier ist auch die Verwaltung und die Dokumentation domiziliert. Ein Viertel des ursprünglichen Bestandes wird im Kunstmuseum Basel und zehn Prozent im Kunstmuseum Winterthur gezeigt.
Fondation Giacometti
Eine weitere Stiftung, die Fondation Alberto et Annette Giacometti in Paris, kam nur mit Mühe zustande. Annette Giacometti starb im Jahr 1993 in einer psychiatrischen Klinik an Krebs. Sie hinterliess 700 Werke ihres Mannes und Archivmaterial im Wert von 150 Millionen Euro. Annettes Bruder und Vormund Michael Arm bestritt die Gültigkeit ihres Testaments von 1990, in dem sie verfügt hatte, dass der grösste Teil des Giacometti-Vermögens zur Gründung der Fondation Alberto et Annette Giacometti dienen solle. Weitere Probleme ergaben sich durch die Weigerung des Vereins Giacometti, den die Witwe 1989 als Vorstufe für die Stiftung gegründet hatte, sich aufzulösen und Stiftungskapital frei zu geben. Die geplante Fondation musste gegen den Verein Giacometti klagen. Die folgenden Auseinandersetzungen erforderten hohe Summen an Kapital, die durch Versteigerungen von Giacomettis Werken erbracht werden mussten.
Per Dekret vom 10. Dezember 2003 beendete der damalige französische Premierminister die Querelen, so dass die Fondation Alberto et Annette Giacometti anschliessend ins Leben gerufen werden konnte.
Die Fondation gründete zusammen mit den anderen Rechteinhabern – Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich und die Erben von Silvio Berthoud (die Streitgenossen Berthoud) – im April 2004 das Comité Giacometti, das gegen Fälschungen vorgeht, Expertisen ausstellt und Reproduktionsgenehmigungen erteilt.
Im Jahr 2011 stiftete sie den Prix Annette Giacometti zur Wahrung des Urheberrechts für Kunstwerke und Künstler. Heute betreibt die Fondation Giacometti mit ihrem Institut Giacometti ein Forschungszentrum mit Ausstellungen, Kolloquien, einer Schule, Stipendien und Publikationen.
Sammlungen
Die umfangreichsten Sammlungen der Werke Giacomettis sind heute im Kunsthaus Zürich und in der Fondation Beyeler in Riehen als Leihgabe der Alberto Giacometti-Stiftung sowie in der Fondation Alberto et Annette Giacometti in Paris zu sehen. Letztere besitzt vor allem Gegenstände aus Giacomettis Atelier, darunter Wandteile, Möbel und Bücher. Weitere bedeutende Sammlungen befinden sich im Museum of Modern Art in New York, im Louisiana-Museum in Dänemark und in der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence. Einen guten Überblick über Giacomettis druckgrafisches Œuvre bietet die Sammlung Carlos Gross in Sent.
Werk
Giacometti stellte zeitlebens hohe Ansprüche an sein Werk. Häufig plagten ihn Zweifel, die bis zur nächtlichen Zerstörung seiner Arbeit und dem Neubeginn am nächsten Tag führten. Noch «im Dezember 1965 sagte er, er werde niemals das Ziel erreichen, das er sich gesteckt habe, seit dreißig Jahren habe er immer geglaubt, morgen sei es so weit […]»
Zeichnungen, Gemälde und Lithografien
Alberto Giacometti
Autoritratto (Selbstbildnis) Alberto Giacometti, 1921
Öl auf Leinwand
82,5 × 70 cm
Kunsthaus Zürich, Zürich
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(Bitte Urheberrechte beachten)
Giacomettis kindliche Malerei Stillleben mit Äpfeln von 1913 zeigt den divisionistischen Stil, der für seinen Vater Giovanni charakteristisch war. Während der Vater um Vereinheitlichung und Belebung der Fläche bemüht war, sah der Sohn indes auf den Gegenstand und dessen Körperhaftigkeit. Nach den malerischen Anfängen im Elternhaus und in der Schule in Schiers setzte er die Malerei während seines Studiums in Genf ab 1919 fort. Um 1925 verdrängte die Hinwendung zur Bildhauerei in Paris die Malerei nahezu völlig. Die Porträts des Vaters aus den Jahren 1930 und 1932, drei Gemälde 1937, darunter Pomme sur le buffet (Apfel auf dem Buffet) und ein Porträt der Mutter, sowie ein Frauenporträt 1944 blieben Ausnahmen. Die Bilder aus dem Jahr 1937, die nach dem Bruch mit den Surrealisten entstanden, unterscheiden sich stilistisch von seinem früheren Werk und gelten heute als Beginn seiner reifen Malerei.
Während der Kriegsjahre in der Schweiz nahm das Zeichnen einen grossen Raum in Giacomettis künstlerischer Betätigung ein. Er kopierte zum Beispiel Cézanne nach Reproduktionen aus Büchern. Diese Zeichnungen dienten ihm dazu, die Werke früherer Künstler und Kulturen zu studieren und sein Verhältnis zu ihnen zu klären, da er sein Werk in deren Fortsetzung verstand. Denn in seinen Kopien analysierte er die Vorlagen nicht hinsichtlich ihrer ursprünglichen Funktion oder kunsthistorischen Bedeutung, vielmehr interessierten ihn deren Struktur und Komposition. Bleistiftzeichnungen aus den Jahren 1946/47 von Personen, die sich im Aussenraum bewegen, dokumentieren Giacomettis neue Figurenauffassung. Als langgestreckte, weit ausschreitende Strichfiguren finden sie in der Folge ihre Umsetzung in seiner Plastik und begründen den sogenannten «Giacometti-Stil», bei dem sich der Bildhauer der phänomenologischen Wahrnehmung der Figuren im Raum annahm. Da jeder Gegenstand Raum um sich hat und immer aus einer gewissen Distanz betrachtet werden muss, wird zwangsläufig das Gesichtsfeld mehr vertikal als horizontal belegt, wodurch zum Teil die Dünnheit seiner Figuren zu erklären ist.
Giacomettis malerisches und zeichnerisches Werk nach 1946 behandelt vor allem Porträtköpfe und die menschliche Gestalt, die ihn zu immer neuen Metamorphosen anregte. Die perspektivisch entrückten winzigen Büsten auf den grossen Sockeln (1938 bis 1945) verweisen auf den künstlerischen Blick des Zeichners und Malers. Die «wie Zeichen im Raum stehenden Stabgestalten» (ab 1947) werden auf dem Bildträger oft mit «malerischen Raumgehäusen» versehen, in denen die «porträtierten Personen als ektoplastische», das heisst von ausserhalb plastizierte, «oder gespiegelte Körper erscheinen». Die Gemälde Giacomettis zeigen eine reduzierte Farbpalette aus Grau-Violett über ein Rosé-Gelb bis hin zu einem Schwarz-Weiss, die auf der Leinwand «gedämpft zusammenklingen.»
Alberto Giacometti
Caroline, 1961
Öl auf Leinwand
100 × 82 cm
Fondation Beyeler, Riehen bei Basel
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(Bitte Urheberrechte beachten)
Das malerische Werk lässt sich in die Phasen 1946 bis 1956 und in die darauffolgenden Jahre bis zu seinem Tod 1966 einteilen. Thematik und Malstil seiner Bilder sind gleichbleibend: frontale Abbildungen seiner Frau Annette, seines Bruders Diego, seiner Mutter sowie die seiner Freunde und in den letzten Jahren die seiner Geliebten Caroline; Landschaften, Ansichten seines Ateliers oder Stillleben sind gelegentliche Sujets. Variiert wird der Hintergrund. So zeigen Arbeiten aus der ersten Phase eine dargestellte Figur oder ein Objekt in einem weiten, klar erkennbaren Umfeld, das beispielsweise als Giacomettis Atelier identifiziert werden kann, während in der zweiten Phase das zentrale Motiv die Komposition beherrscht und ein Umfeld nur andeutungsweise erkennbar ist.
Ein Anlass für lithografische Arbeiten war 1951 Giacomettis erste Ausstellung in der Galerie Maeght, die im Juni und Juli stattfand. Er schuf Illustrationen für die Galeriezeitschrift Maeghts, Derrière le miroir, die die Ausstellung begleitete. Die Themen der Illustrationen waren Atelier-Darstellungen. Die ab 1953 entstandenen zahlreichen Radierungen und Lithografien greifen «das Thema der menschlichen Gestalt als Bezugsachse der Durchdringung der Raumdimensionen auf, das sein skulpturales Werk charakterisiert» und «in Konfrontation mit den Zeichen der Raumperspektive moduliert.» Giacomettis wichtigstes lithografisches Werk ist das Mappenwerk Paris sans fin mit 150 Lithografien, sie erinnern an die Orte und Personen in Paris, die ihm wichtig waren. Paris sans fin wurde 1969 postum von seinem Freund, dem Kunstkritiker und Verleger Tériade, veröffentlicht.
Skulpturen, Plastiken, Objekte
Frühwerk und surrealistische Phase
Alberto Giacometti
Femme égorgée, 1932
Bronze (gegossen 1940)
23,2 × 57 × 89 cm
Centre Pompidou, Paris
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On ne joue plus, 1932
Marmor, Holz, Bronze
4,1 × 58 × 45,2 cm
Sammlung Patsy R. und Raymond D. Nasher, Dallas, Texas
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(Bitte Urheberrechte beachten)
In Giacomettis Frühphase entstand im Jahr 1925 die postkubistische Skulptur Torse (Torso); diese Phase dauerte bis etwa 1927, als er die Afrikanische Kunst und dabei insbesondere den bildlichen Ausdruck der Zeremonien-Löffel der westafrikanischen Dan-Kultur erforschte, bei dem die Höhlung des Utensils Löffel den Mutterleib symbolisiert. Aus dem Jahr 1926 stammt sein Werk Femme cuillère (Löffelfrau), das als eines der Hauptwerke Giacomettis jener Zeit gilt. Giacomettis Interesse für diese Kunst wurde durch neue Publikationen, die sich mit dem Thema befassten, wie die 1922 erschienene französische Ausgabe von Carl Einsteins Negerplastik und durch eine Ausstellung im Winter 1923/24 im Musée des Arts décoratifs in Paris geweckt.
Die als surrealistisch bezeichnete Phase reichte von 1930 bis zum Sommer 1934 und endete endgültig 1935, nach dem Ausschluss aus dem Kreis der Surrealisten. Als Giacometti erstmals 1930 in der Galerie von Pierre Loeb, Paris, zusammen mit Hans Arp und Joan Miró ausstellte, zeigte er eine Plastik mit erotischer Symbolwirkung, Boule suspendue (Schwebende Kugel), die aus einem kräftigen Metallgestell mit einer beweglichen Konstruktion im Innern besteht. Der Bildhauer beschrieb sie 1948 in einem Brief an Pierre Matisse als aufgeschnittene schwebende Kugel in einem Käfig, die auf einem Croissant gleitet. Mit dieser Arbeit vollzog Giacometti den Übergang zur mobilen Plastik und zur Objektkunst. Zudem schuf Giacometti horizontal gelagerte Plastiken wie das aggressive, sexuell anmutende Objekt Pointe à l’œil (Stachel ins Auge), 1931, das die surrealistische Verbindung von Auge und Vagina zeigt, sowie Motive der Folterung wie Main prise (Gefährdete Hand), 1932.
1932, als Giacometti bereits zehn Jahre in Paris lebte, schuf er das «Brettspiel» On ne joue plus (Das Spiel ist aus), eine Totenstadt mit kraterartigen Vertiefungen, Feldbegrenzungen und einem geöffneten Sarg, Gerippen, zwei Figuren und dem spiegelverkehrt eingeritzten Titel. Es ist ein Spiel, bei dem «das Leben und vor allem der Tod zum unergründlichen, unerforschlichen Spiel» werden. Aus diesem Jahr stammt ebenfalls Femme égorgée (Frau mit durchschnittener Kehle), die 1940 in Bronze gegossen und im Oktober 1942 von Peggy Guggenheim in ihrem gerade neu eröffneten New Yorker Museum Art of This Century gezeigt wurde. Eine Zeichnung gleichen Titels diente als Vorlage für eine Illustration des Textes Musique est l’art de recréer le Monde dans le domaine des sons von Igor Markevitch in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure, Jg. I, 1933, Heft 3–4, S. 78. Anlass waren zwei im Februar und August des Jahres 1933 begangene Verbrechen in Le Mans und Paris – die sadistische Bluttat der Schwestern Christine und Lea Papin und der Giftmord der Gymnasiastin Violette Nozière an ihren Eltern. Über seine letzte surrealistische Figur, 1 + 1 = 3, ein etwa anderthalb Meter hohes konusförmiges Werk aus Gips, an dem er im Sommer 1934 arbeitete, schrieb Giacometti 1947: «er sei damit nicht zurechtgekommen und hätte deshalb das Bedürfnis gehabt, einige Studien nach der Natur zu machen […]». Er arbeitete daraufhin an zwei Köpfen, als Modell diente ihm Diego und ein Berufsmodell; dieser Wandel war mit ein Anlass, ihn des Verrats an der surrealistischen Bewegung zu bezichtigen.
Die schlanken Bronzen
Alberto Giacometti
L’Homme au doigt, 1947
Bronze
178 × 95 × 52 cm
Tate Modern, London
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Quatre figurines sur base, 1950
Bronze, bemalt
162 × 42 × 32 cm
Tate Modern, London
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(Bitte Urheberrechte beachten)
1935 nahm Giacometti die Naturstudien und die Arbeit an der menschlichen Gestalt erneut auf und setzte sich bis 1945 vor allem mit dem Modell und mit der «Übermacht des Raumes» auseinander. Giacometti suchte seine Skulpturen «bis auf die Knochen, bis zum Unzerstörbaren» zugunsten des sie umgebenden Raums zu reduzieren, mit der Folge, «daß die Figuren und Köpfe sich […] immer mehr zusammenzogen, sich reduzierten und immer dünner wurden.» Die Büste seines Bruders Diego, der ihm in diesen Jahren immer wieder Modell stand, «ließ sich endlich samt dem Sockel in eine kleine Streichholzschachtel packen!» Ein weiteres Stilmittel, die räumliche Distanz zum Modell in der Skulptur in die adäquate Form zu bringen, waren Quadersockel, die weitaus grösser waren als die Figuren selbst. Als «äusserer Anlass», zunehmend «‚phänomenologische‘ Erfahrungen in seinen Plastiken zum Tragen zu bringen», wird seine Beobachtung angeführt, «wie Isabel sich im Jahr 1937 auf dem Boulevard Saint-Michel von ihm entfernte, kleiner und kleiner wurde, ohne dass sich ihr Bild, die visuelle Erinnerung, verlor.»
Ab 1946 wuchsen Giacomettis Figuren zunehmend in die Länge, die Körper wirkten mit den im Verhältnis riesengrossen Füssen fadendünn. Die Oberflächenstruktur und die Streckung der Figuren zeigt eine «Verwandtschaft» mit den Skulpturen Germaine Richiers, die wie Giacometti an der Académie de la Grande Chaumière im Atelier von Émile-Antoine Bourdelle studiert hatte. Erst als die schmalen Figuren in etwa menschliche Höhe erreichten, wie zum Beispiel L’homme au doigt (Mann mit zeigend ausgestreckter Hand), 1947, erfuhr Giacometti die Anerkennung als Vertreter der französischen Nachkriegsbildhauerei; seine früheren kleinen Figuren wurden kaum beachtet und als Studien angesehen.
1947 und 1950 entstanden die zwei autobiografischen Skulpturen Tête d’homme sur tige (Kopf auf einem Stab) und die im Jahr 1965/66 gegossene Bronze Quatre figurines sur base (Vier Figuren auf einer Basis). Bei Letzterer positionierte Giacometti vier je 12 cm hohe Figuren, vier Tänzerinnen des Pariser Nachtlokals «Le Sphinx», auf einen trapezförmigen Sockel und stellte diesen wiederum auf einen hochbeinigen Modelliertisch. Inspiriert wurden die Arbeiten durch einen letzten Besuch des von ihm bevorzugten Bordells angesichts der bevorstehenden Schliessung der öffentlichen Nachtlokale 1946, in dessen Anschluss sein Text Le rêve, le sphinx et la mort de T. (Der Traum, die Sphinx und der Tod von T.) entstand.
Das Spätwerk
Alberto Giacometti
La jambe, 1958
Bronze (zwei Teile), mit Gold patiniert
145 × 46,5 × 26,3 cm
Kunstmuseum Basel, Basel
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L’Homme qui marche I, 1960
Bronze (gegossen 1961)
Höhe: 183 cm
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Eli Lotar III, 1965
Bronze
65 × 25 × 35 cm
Beyeler Stiftung, Basel
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(Bitte Urheberrechte beachten)
Ab 1952 schuf Giacometti neben den schlanken Figuren und Figurengruppen wie Les Femmes de Venise (Die Frauen von Venedig) von 1956 und L’Homme qui marche I (Der schreitende Mann I) von 1960 kompakte Büsten, Köpfe und Halbfiguren, unter anderem nach seinem Bruder Diego, seiner Frau Annette und Isaku Yanaihara, sowie drei Büsten des Fotografen Eli Lotar, die als «Torso gegeben» sind. Kennzeichnend für die späten Skulpturen sind der vorgestreckt dargestellte Kopf, die hervorquellenden Augen, eine nur angedeutete Nase und ein wie mit dem Messer geschnittener Mund, wie zum Beispiel bei Buste d’homme (Diego) New York I (Büste eines Mannes [Diego] New York I) aus dem Jahr 1965. Der auf die Form eines Kreuzes reduzierte Oberkörper stützt den auf einem schmalen Hals sitzenden Kopf. Eli Lotar III von 1965 wurde Giacomettis letztes Werk, das als Tonfigur unvollendet in seinem Atelier zurückblieb. Die kniende Gestalt, deren Oberfläche wie die Form einer erstarrten Kaskade wirkt, wird von einem schmalen Hals und Kopf beherrscht.
1958 verwirklichte Giacometti die Skulptur La jambe (Das Bein), ein isoliertes, vom Rest des Körpers abgetrenntes Bein, an dessen Spitze des langgestreckten Oberschenkels eine offene Wunde klafft. Diese schwebte ihm bereits im Jahre 1947 vor, dem Jahr, in dem er Skulpturen wie Tête d’homme sur tige (Kopf auf einem Stab) oder Le nez (Die Nase) in ihren jeweiligen Fassungen realisierte. Die Ursache für die Entstehung dieser «isolierten Körperteile» ist einerseits das kollektive Kriegstrauma nach dem Zweiten Weltkrieg, andererseits der eigene Verkehrsunfall in der Nacht des 10. Oktober 1938 auf der Place des Pyramides in Paris. Bereits zuvor hatte der Bildhauer das «vereinzelte Bein» in Überlebensgrösse auf die Wand seines Ateliers skizziert und konnte nun nach Jahren der Verdrängung das Bein als «Schlussstein einer Werkgruppe der Körperfragmente abarbeiten.» 1934 stellte André Breton dem Künstler die Frage, was sein Atelier sei, woraufhin Giacometti erwiderte: «Zwei gehende Füße».
Schriften
Zur Zeit der surrealistischen Phase Giacomettis erschienen in Heft 5 des Magazins Le Surréalisme au service de la révolution des Jahres 1933 Gedichte Giacomettis, wie Poème en 7 espaces (Gedicht in sieben Lücken), Der braune Vorhang (Le rideaux brun), der Text Versengtes Gras (Charbon d’herbe) sowie in Heft 6 ein surrealistisch verfasster Text über seine Kindheit, Hier, sables mouvants (Gestern, Flugsand). Zusammengefasst wurden diese und weitere Texte in dem Buch Alberto Giacometti. Ecrits aus dem Jahr 1990, herausgegeben von Michel Leiris und Jacques Dupin (dt. Gestern, Flugsand. Schriften). Die Briefe, Gedichte, Essays, Stellungnahmen und Interviews entstanden zwischen 1931 und 1965. In dem Essay mit dem Titel Meine Wirklichkeit schreibt Giacometti, dass er mit seiner Kunst überleben und «so frei und so wuchtig wie möglich» sein wolle, um seinen «eigenen Kampf zu führen, aus Spaß?, aus Freude? am Kampf, aus Spaß am Gewinnen und Verlieren». Diese Selbstdarstellung zeigt die existenzialphilosophische Anlehnung an Jean-Paul Sartre und Jean Genet.
Der Verleger Albert Skira veröffentlichte 1946 in der letzten Ausgabe seines Magazins Labyrinthe den von Giacometti im selben Jahr verfassten autobiografischen Text Le rêve, le sphinx et la mort de T. (Der Traum, die Sphinx und der Tod von T.). Der kunstvoll assoziativ erzählte Text behandelt die eiternde Krankheit Giacomettis, die er sich beim letzten Besuch des Bordells Le Sphinx zugezogen hatte, bevor es endgültig geschlossen wurde, die darauf folgende Reaktion Annettes und Giacomettis Albtraum von der Leiche Tonio Pototschings, des im Juli 1946 verstorbenen Hausverwalters des Atelierkomplexes in der rue Hippolyte-Maindron. Im Mittelpunkt des Traums steht eine riesige Spinne mit elfenbeingelbem Panzer. Erst im Jahr 2002 fand das Manuskript, ein Notizheft mit dem Text, ergänzt durch Zeichnungen, den Weg in die Alberto Giacometti-Stiftung in Zürich. Der Text enthält zwei Teile: Nach der Schilderung des Entstehungszusammenhangs und der Erzählung selbst reflektiert Giacometti über das Problem des Schreibens. Das Buch wurde als Faksimile mit neuer Übersetzung im Jahr 2005 erneut veröffentlicht.
Kunstmarkt und Fälschungen
Das Œuvre Giacomettis erzielt auf dem Kunstmarkt hohe Preise. In einer Auktion vom Februar 2010 erreichte L’Homme qui marche I einen Rekordpreis. In einer Auktion bei Christie’s in New York im Mai 2015 wurde er noch übertroffen. Die bislang teuerste Skulptur ist nun sein Werk L’Homme au doigt, das für rund 141 Millionen Dollar im Mai 2015 den Besitzer wechselte, etwa 35 Millionen Dollar mehr als L’Homme qui marche I. Daher sind Kunstfälschungen von Giacometti-Skulpturen lukrativ. Im August 2009 wurden 1000 Fälschungen, die bei Mainz entdeckt worden waren, von der Polizei beschlagnahmt. Giacometti hat Fälschern die Arbeit insofern erleichtert, als er häufig dasselbe Werk gleichzeitig bei verschiedenen Giessern ausführen liess. Er bearbeitete die Güsse nicht selbst, sondern überliess das Ziselieren und Patinieren entsprechend den Wünschen der Käufer den Handwerkern, sodass die Werke stets unterschiedlich ausfielen. Einen weiteren Spielraum für Fälscher bietet das Fehlen eines verbindlichen Werkverzeichnisses, dessen Erstellung bei den beiden Giacometti-Stiftungen in Paris und Zürich noch in Arbeit ist mit dem Ziel, Güsse zu Lebzeiten, Nachgüsse und Fälschungen, die schon bald nach Giacomettis Tod im Jahr 1966 auftauchten, auseinanderzuhalten.
Rezeption
Zeitgenössische Darstellungen
Der französische Schriftsteller Michel Leiris, ein Freund Giacomettis aus dessen surrealistischer Zeit, veröffentlichte in der von Georges Bataille gemeinsam mit Leiris und Carl Einstein gegründeten surrealistischen Zeitschrift Documents in der 4. Ausgabe vom 29. September 1929 den ersten Text mit Werkfotos über das bildhauerische Werk des Künstlers. Er schrieb: «Es gibt Augenblicke, die man Krisen nennt, und diese sind die einzigen, die im Leben zählen. Solche Momente widerfahren uns, wenn etwas Äußerliches urplötzlich unserem inneren Rufen danach antwortet, wenn sich die äußere Welt so öffnet, daß sich zwischen ihr und unserem Herzen eine plötzliche Veränderung ergibt. […] Giacomettis Skulpturen bedeuten mir etwas, weil alles, was unter seiner Hand entsteht, wie die Versteinerung einer solchen Krise ist.» Leiris erkannte früh, welch schöpferischer Ansporn für Giacometti von dem immer wiederkehrenden Gefühl einer Krise ausgehen sollte.
Henri Cartier-Bresson
Alberto Giacometti, Stampa, Schweiz, 1961
Fotografie
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Der Fotograf Henri Cartier-Bresson, selbst vom Surrealismus beeinflusst, freundete sich in den 1930er Jahren mit Giacometti an und begleitete ihn während dreier Jahrzehnte mit dem Fotoapparat. Die bekanntesten Aufnahmen stammen aus den Jahren 1938 und 1961. Cartier-Bresson über Giacometti: «Es war eine Freude für mich, als ich feststellte, dass Alberto dieselben drei Leidenschaften wie ich hatte: Cézanne, Van Eyck und Uccello.» Im Jahr 2005 zeigte das Kunsthaus Zürich die Ausstellung Die Entscheidung des Auges, die Cartier-Bresson noch selbst mit konzipiert hatte. Mit den bis dahin teilweise noch nie gezeigten Fotografien sollten insbesondere die Parallelen im Werk der Künstlerfreunde aufgezeigt werden, das sowohl bei Giacometti wie bei Cartier-Bresson von der beständigen Suche nach dem instant décisif, dem entscheidenden Augenblick, geprägt war.
Jean-Paul Sartre schilderte Giacometti 1947 in seinen Essays zur bildenden Kunst, Die Suche nach dem Absoluten, als faszinierenden Gesprächspartner und als Bildhauer mit einem festen «Endziel, das es zu erreichen gilt, ein einziges Problem, das gelöst werden muß: wie kann man aus Stein einen Menschen machen, ohne ihn zu versteinern?» Solange dies nicht gelöst sei, durch den Bildhauer oder die Bildhauerkunst, «solange gibt es lediglich Entwürfe, die Giacometti nur insofern interessieren, als sie ihn seinem Ziel näherbringen. Er zerstört sie alle wieder und fängt noch einmal von vorne an. Manchmal gelingt es allerdings seinen Freunden, eine Büste oder die Plastik einer jungen Frau oder eines Jünglings vor dem Untergang zu bewahren. Er läßt es geschehen und macht sich aufs neue an die Arbeit. […] Die wunderbare Einheit dieses Lebens liegt in der Unbeirrbarkeit bei der Suche nach dem Absoluten.»
Jean Genet beschrieb Giacometti und sein Werk in dem Essay aus dem Jahr 1957, L’Atelier d’Alberto Giacometti, im Gegensatz zu Sartres intellektuellen Thesen über den gemeinsamen Freund aus dem Gefühl heraus. «Seine Statuen machen mir den Eindruck, daß sie sich letztlich in ich weiß nicht welche geheimliche Gebrechlichkeit flüchten, die ihnen Einsamkeit gewährt. […] Da im Augenblick die Statuen sehr hoch sind – in braunem Ton – wandern seine Finger, wenn er vor ihnen steht, auf und ab wie die eines Gärtners, der ein Rosenspalier schneidet oder pfröpft. Die Finger spielen an der Statue entlang, und das ganze Atelier vibriert, lebt.»
Aktuelle Wahrnehmung
Der Kunsthistoriker Werner Schmalenbach verglich die Darstellung der Einsamkeit des Menschen in Giacomettis Gemälden mit Francis Bacons Werk. Wie Giacometti formuliere dieser «in einer räumlichen Szenerie das ‚Ausgesetztsein‘, das In-die-Weltgeworfensein des Menschen». Giacometti suggeriere dies durch die starre Frontalität und die Verlorenheit des Blicks, während Bacon die totale Verrenkung der Glieder und die Todesgrimasse des Gesichts darstelle.
Anlässlich des 100. Geburtstages Giacomettis im Jahr 2001 äusserte sich der Sammler, Kunsthändler und Freund Eberhard W. Kornfeld, dass er in der Wiederbelebung der figurativen Zeichnung Giacomettis einen wesentlichen Beitrag zur Kunst der Moderne sehe. «Seine Kunst ist aber auch Ausdruck seiner Zeit – was Sartre für die Literatur war, war Giacometti in der Kunst: Er ist der Maler des Existenzialismus.»
Alberto Giacometti
Diego assis, 1964
Bronze
58,5 × 19,7 × 32,5 cm
Alberto Giacometti Stiftung, Zürich
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Den Einfluss altägyptischer Kunst auf Giacomettis Werk machte eine Ausstellung im Ägyptischen Museum Berlin, Giacometti, der Ägypter geltend. Sie wurde ab Ende 2008 anhand von Werkbeispielen in Berlin und ab Februar 2009 im Kunsthaus Zürich gezeigt. Der ägyptischen Skulptur war Giacometti bereits in Florenz während seines ersten Aufenthalts in Italien in den Jahren 1920/21 begegnet. Er schrieb der Familie: «die schönste Statue für ihn sei weder eine griechische noch eine römische und noch weniger eine aus der Renaissance, sondern eine ägyptische». Der berühmte Porträtkopf von Echnaton (1340 v. Chr.) ähnelt dem Selbstporträt Giacomettis von 1921. Mit diesem Selbstbildnis beendete er die Ausbildung bei seinem Vater. Die Pariser Jahre mit der Annäherung an die Avantgarde und die Suche nach einer Stilisierung der menschlichen Form sind zusammengefasst in der Konfrontation zwischen den Bronzewerken Giacomettis wie Cube (1933/34), die als Anlehnung an ägyptische Würfelfiguren gesehen werden können, und der Würfelstatue des Senemut (1470 v. Chr.) in Granit, von der er um 1937 eine Bleistiftzeichnung anfertigte. Die Arbeiten der Nachkriegszeit orientieren sich ebenfalls an ägyptischen Werken. Der Rückgriff auf ägyptische Kniefiguren erfolgte in den Skulpturen Diego assis (Diego sitzend) und Lotar III, seiner letzten Skulptur.
Der Kunstkritiker Dirk Schwarze, ein Kenner der documenta-Ausstellungen seit 1972, formulierte in seinem Buch Meilensteine: Die documenta 1 bis 12 aus dem Jahr 2007, Giacometti habe «sich mit seinen in die Länge gezogenen, dünnen Figuren in die Kunstgeschichte eingeschrieben». Den Bildhauer habe nicht das Volumen und auch nicht die Ausformung der einzelnen Partien interessiert. Die Figur habe er auf ihre entfernte Erscheinung, auf ihre Haltung und Bewegung reduziert. Die Figuren seien zu Zeichen des Menschen geworden, die überall verstanden werden – so wie später A. R. Penck in seinen Bildern die Menschen als zeichenhafte Elemente gemalt habe.
Anlässlich einer Giacometti-Ausstellung der Fondation Beyeler 2009 in Riehen bei Basel zeigte deren Kurator Ulf Küster den Künstler mit seinen Werken als zentrale Figur im Umfeld der Werke seiner Künstlerfamilie. Der Austausch mit der Familie war für Alberto von grosser Bedeutung. Einen besonderen Bezugspunkt bildete für ihn der Vater, der Maler Giovanni Giacometti. Küster sagte unter anderem in einem Interview, Giacometti habe die Vorstellung gehabt, Zentrum eines Systems zu sein, so wie er es in seinem spätsurrealistischen Text Le rêve, le Sphinx et la mort de T. geschildert habe, ein Mittelpunkt, auf den sich alle Ereignisse um ihn herum bezogen hätten. Küster hält dies für einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis seines Werks. Er weist darauf hin, dass Giacometti den Schritt in die Abstraktion nie vollzogen habe, jedoch seine Serienbildungen, das «Nie-enden-Wollen und -Können durchaus der konzeptuellen Grundidee der Moderne» entsprochen habe. Alberto sei von der Malerei zur Bildhauerei gekommen. Eine malerische Technik seien beispielsweise die aufgerauten Oberflächen der späten Plastiken. Im Katalog zur Ausstellung weist Ulf Küster in seinem Beitrag auf die Schwierigkeiten hin, eine Giacometti-Ausstellung zu konzipieren. Bei den vielen Facetten seines Werkes sei nur eine Annäherung möglich, ein Grund dafür sei auch Giacomettis künstlerisches Prinzip der nie zu erreichenden Vollendung. Obgleich sich bisher zahlreiche Ausstellungen mit Giacometti befasst hätten, bewertete Küster Albertos Nachlass dennoch als nicht abschliessend ausgewertet.
Giacomettis künstlerischer Einfluss
In Giacomettis surrealistischer Periode in den Jahren 1930 bis 1934 stand der Künstler mit seinen Objekten und Skulpturen das erste Mal im Rampenlicht der Surrealistenbewegung. Mit seinem Werk aus dieser Zeit beeinflusste er beispielsweise Max Ernst und den jungen Henry Moore. Ab 1948 waren es die Skulpturen und Gemälde seines reifen Stils, die Zeitgenossen und Künstlerkollegen beeindruckten. Die zahlreichen Giacometti-Ausstellungen, die auch heute weltweit stattfinden, zeugen von dem hohen künstlerischen Anspruch, den er mit seinem Werk erfüllt hat.
Im Musée des Beaux Arts de Caen wurde vom Mai bis August 2008 die Ausstellung En perspective, Giacometti gezeigt. Als Initiator steuerte die Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris, etwa 30 Leihgaben von Giacomettis Skulpturen, Objekten, Zeichnungen und Gemälden bei. Sie wurden in Beziehung gesetzt zu Werken von Künstlern der Gegenwart: Georg Baselitz, Jean-Pierre Bertrand, Louise Bourgeois, Fischli & Weiss, Antony Gormley, Donald Judd, Alain Kirili, Jannis Kounellis, Annette Messager, Dennis Oppenheim, Gabriel Orozco, Javier Pérez, Sarkis, Emmanuel Saulnier und Joel Shapiro.
Würdigungen
Der deutsche Bildhauer Lothar Fischer hatte Giacometti 1962 anlässlich der Biennale in Venedig persönlich kennengelernt. Er schätzte dessen Auffassung von Figur und Raum sowie von Gestalt und Sockel und widmete seinem Vorbild 1987/88 zwei plastische Werke mit dem Titel «Hommage à Giacometti».
Im Jahr 1996 fand die Uraufführung der Kammeroper Giacometti der rumänischen Komponistin Carmen Maria Cârneci am Neuen Theater für Musik in Bonn unter ihrer Leitung statt.
Die Banknotenserie der Schweiz zeigte seit Oktober 1998 bis September 2019 auf der 100-Franken-Banknote eine Gestaltung zu Ehren Alberto Giacomettis; auf der Vorderseite erscheint ein Porträt des Künstlers von Ernst Scheidegger, und auf der Rückseite ist neben zwei weiteren Werken seine Plastik L’Homme qui marche I in vier verschiedenen Perspektiven abgebildet.
Zum 50. Todestag des Künstlers im Jahr 2016 beteiligt sich das Centro Giacometti an der Organisation des Gedenkprogrammes im Bergell, das von der Gemeinde Bregaglia koordiniert wird. Es präsentiert ausserdem die Vision Centro Giacometti 2020.
Filme über Giacometti und sein Werk
Der 52-minütige Schwarzweissfilm von Jean-Marie Drot Ein Mensch unter Menschen aus dem Jahr 1963 zeigt Giacometti im Filminterview. Jean-Marie Drot ist es seinerzeit als Erstem gelungen, den Künstler filmen zu dürfen. Der Film beschreibt ihn als einen Bohémien und Perfektionisten und zeigt mehr als 180 seiner Werke.
Unter dem Titel Was ist ein Kopf? produzierte Michel Van Zèle im Jahr 2000 einen dokumentarischen Filmessay über die Frage, die Giacometti zeit seines Lebens beschäftigte. Van Zele rekonstruiert Giacomettis lebenslange Suche nach dem Wesen des menschlichen Kopfes und lässt Zeitzeugen aus Vergangenheit und Gegenwart zu Wort kommen, darunter Balthus und Giacomettis Biografen Jacques Dupin. Die Laufzeit beträgt 64 Minuten.
Beide Filme sind seit 2006 auf einer DVD zusammengefasst.
Im Jahr 1965 drehte der Fotograf Ernst Scheidegger, der seit 1943 Werke des Künstlers aufnahm, in Stampa und Paris den Film Alberto Giacometti. Er zeigt den Künstler bei der Arbeit an einem Gemälde Jacques Dupins und im Gespräch mit dem Dichter während des Modellierens einer Büste. Der Film wurde später noch durch Interviews ergänzt.
In der vom WDR produzierten Fernsehserie 1000 Meisterwerke, die von 1981 bis 1994 in 10-minütigen Sendungen über meisterliche Gemälde im Deutschen Fernsehen, im ORF und im Bayerischen Fernsehen berichtete, war Giacometti mit dem Porträt Jean Genet aus dem Jahr 1955 beteiligt.
Heinz Bütler drehte 2001 einen Dokumentarfilm mit dem Titel Alberto Giacometti – Die Augen am Horizont. Er beruht auf dem Buch Écrits von Giacometti. In Interviews mit Weggefährten und Zeitzeugen wie Balthus, Ernst Beyeler und Werner Spies wird der Künstler in knapp einer Stunde skizzenhaft beschrieben. In weiteren 25 Minuten erzählt der Giacometti-Biograf James Lord aus dem Leben des Künstlers. Der Streifen wurde 2007 als Kinofilm gezeigt und ist als DVD erhältlich.
Final Portrait ist der Titel der Filmbiografie von Stanley Tucci über den Künstler, die am 11. Februar 2017 bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin seine Weltpremiere feierte und im August 2017 in die deutschen Kinos kam.
Auszeichnungen
1961: Prize for sculpture auf der International Exhibition of Contemporary Painting and Sculpture, Carnegie Institute, Pittsburgh
1962: Grosser Preis für Skulptur auf der Biennale von Venedig
1962: Guggenheim International Award for painting
1963: Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters
1965: Ehrendoktorwürde der Universität Bern, Bern
Der 1991 entdeckte Asteroid (11905) Giacometti wurde im Jahr 2001 nach dem Künstler benannt.
Ausstellungen und Retrospektiven
1930: Miró – Arp – Giacometti, Galerie Pierre, Paris
1932: Galerie Pierre Colle, Paris
1934: Julien Levy Gallery, New York
1936: International Surrealist Exhibition, New Burlington Galleries, London
1938: Exposition Internationale du Surréalisme, Galerie Beaux-Arts, Paris
1942: Art of This Century, New York
1948: Pierre Matisse Gallery, New York
1951: Galerie Maeght, Paris
1955: Alberto Giacometti, Museum Haus Lange, Krefeld; Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf; Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
1955: Solomon R. Guggenheim Museum, New York (Retrospektive)
1956: Biennale di Venezia, Venedig
1956: Kunsthalle Bern, Bern
1959: documenta II, Kassel
1964: documenta III, Kassel
1965: Museum of Modern Art, New York (Retrospektive)
1974: Alberto Giacometti. A Retrospective Exhibition, Solomon R. Guggenheim Museum, New York (Retrospektive)
1977: Giacometti, Moderna Museet, Stockholm
1977: Alberto Giacometti: Plastiken, Gemälde, Zeichnungen, Lehmbruck-Museum, Duisburg
1978: Alberto Giacometti, Fondation Maeght, Saint-Paul-de-Vence
1978: Alberto Giacometti: Ein Klassiker der Moderne 1901–1966, Bündner Kunstmuseum, Chur
1987/88: Nationalgalerie Berlin, Berlin (Retrospektive)
2001: 100 Jahre Alberto Giacometti – Die Retrospektive. Kunsthaus Zürich, anschliessend bis 8. Januar 2002 Museum of Modern Art, New York
2005: Henri Cartier-Bresson und Alberto Giacometti – Die Entscheidung des Auges, Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris, Kunsthaus Zürich
2007/08: L’Atelier d’Alberto Giacometti, Centre Georges-Pompidou, Paris
2008: En perspective, Giacometti, Musée des Beaux Arts de Caen, Le Château, Caen
2008/09: Giacometti, der Ägypter, Ägyptisches Museum Berlin, Kunsthaus Zürich
2009: Giacometti. Fondation Beyeler, Riehen bei Basel
2009/10: Von Rodin bis Giacometti – Plastik der Moderne, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
2010: Alberto Giacometti: Die Frau auf dem Wagen. Triumph und Tod, Lehmbruck-Museum, Duisburg
2010: Giacometti & Maeght 1946–1966, Fondation Maeght, Saint-Paul-de-Vence
2010/11: Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes. Retrospektive des reifen Werkes, Kunstmuseum Wolfsburg, 20. November 2010 bis 6. März 2011; Museum der Moderne Salzburg, 26. März bis 3. Juli 2011
2011: Alberto Giacometti – Sehen im Werk, Kunsthaus Zürich, 11. März bis 22. Mai 2011
2011/2012: Alberto Giacometti, une retrospective, Collection de la Fondation Alberto et Annette Giacometti, Museo Picasso, Málaga
2013: Alberto Giacometti. Begegnungen, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 26. Januar bis 20. Mai 2013; parallel dazu Giacometti. Die Spielfelder, Hamburger Kunsthalle, anschliessend Fundación Mapfre, Madrid
2014: Alberto Giacometti. La scultura, Galleria Borghese, Rom, 5. Februar bis 25. Mai 2014
2014/15: Alberto Giacometti: Pionier der Moderne, Leopold Museum, Wien, 17. Oktober 2014 bis 26. Januar 2015
2015/16: Giacometti: Pure Presence, National Portrait Gallery, London, 15. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016
2015/16: Alberto Giacometti. Meisterwerke aus der Fondation Maeght. Kunstmuseum Pablo Picasso, Münster, 24. Oktober 2015 bis 24. Januar 2016
2016: Alberto Giacometti. A casa, Museo Ciäsa Granda, Stampa, 5. Juni bis 16. Oktober 2016
2016/17: Giacometti–Nauman, Schirn, Frankfurt am Main, 28. Oktober 2016 bis 22. Januar 2017
2016/17: Alberto Giacometti − Material und Vision, Kunsthaus Zürich, Zürich, 28. Oktober 2016 bis 15. Januar 2017
2017: Giacometti, Tate Modern, London, 10. Mai bis 10. September 2017
2018: Alberto Giacometti & Francis Bacon, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, 29. April bis 2. September 2018
2018/19: Alberto Giacometti. A Retrospective, Guggenheim-Museum Bilbao, 19. Oktober 2018 bis 24. Februar 2019
2019: Alberto Giacometti in the Museo del Prado, Museo del Prado, Madrid, 2. April bis 7. Juli 2019
2020/21: Giacometti – Face to Face, Moderna Museet, Stockholm, 10. Oktober 2020 bis 17. Januar 2021
2021: Alberto Giacometti. A Retrospective. Marvellous Reality. Grimaldi Forum Monaco, 3. Juli bis 29. August 2021
Werkauswahl
Skulpturen und Objekte
Die Skulpturen entstanden hauptsächlich aus Gips, viele wurden in den 1950er-Jahren in Bronze gegossen. Das Jahr des Bronzegusses war nicht in allen Fällen herauszufinden.
1925: Torse (Torso), Gips, 58 × 25 × 24 cm, Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1926: Femme cuillère (Löffelfrau), Bronze, gegossen 1954, 143,8 × 51,4 × 21,6 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York.
1927: Le Couple (Das Paar), Bronze, gegossen 1955, 59,6 × 38 × 17,5 cm, Museum of Modern Art, New York.
1930/31: Boule suspendue (Schwebende Kugel), Gips und Metall, 60,6 × 35,6 × 36,1 cm, Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris.
1931: Homme, femme, enfant (Mann, Frau, Kind), Holz, Metall, 441,5 × 37 × 16 cm, Kunstmuseum Basel.
1931: Pointe à l’œil (Stachel ins Auge), Holz und schwarz bemaltes Eisen, 12,7 × 58,5 × 29,5 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris.
1932: Femme égorgée (Frau mit durchschnittener Kehle), Bronze, gegossen 1949, 23,2 × 57 × 89 cm, Scottish National Gallery, Edinburgh.
1932: Main prise (Gefährdete Hand), Holz, Metall, 20 × 59,5 × 27 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1932: On ne joue plus (Das Spiel ist aus), Marmor, Holz, Bronze, 4,1 × 58 × 45,2 cm, Sammlung Patsy R. und Raymond D. Nasher, Dallas, Texas.
1933: La table surréaliste (Der surrealistische Tisch), Bronze, 143 × 103 × 43 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris.
1933/34: Le Cube (Pavillon nocturne) (Der Kubus [Nächtlicher Pavillon]), Bronze, 94 × 54 × 59 cm, Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1936: Tête d’Isabel (Kopf von Isabel), auch genannt Die Ägypterin, Gips, 30,3 × 23,5 × 21,9 cm, Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris.
1937: Tête d’Isabel (Kopf von Isabel), Bronze, Privatbesitz.
1937: Grabmal Gerda Taro, Pariser Friedhof Père Lachaise (nur verändert erhalten)
um 1940: Petit homme sur socle (Kleiner Mann auf einem Sockel), Bronze, 8,1 × 7 × 4,8 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1942/43: Femme au chariot (Frau auf dem Wagen), bemalter Gips. Figur 153,5 × 33,5 × 35, Wagen 10 × 40 × 35 cm, Lehmbruck-Museum, Duisburg. Eine Hommage an Giacomettis Freundin Isabel Nicholas.
1947: Femme debout («Leonie») (Stehende Frau [«Leonie»]), Höhe 53 cm, Peggy Guggenheim Collection, Venedig.
1947: Le nez (Die Nase), Bronze, gegossen 1965, 82 × 73 × 37 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York.
1947: L’Homme au doigt (Mann mit zeigend ausgestreckter Hand), Bronze, 176,5 × 90,2 × 62,2 cm, ein Abguss befindet sich in der Tate Gallery, London.
1947: Tête d’homme sur tige (Kopf auf einem Stab), Bronze, Höhe 59,7 cm, Sockel: 16 × 14,9 × 15,1 cm, Museum of Modern Art, New York.
1948–1949: La Place (Der Platz), Bronze, 21 × 62,5 × 42,8 cm, Peggy Guggenheim Collection, Venedig.
1950: L’Homme qui chavire (Der taumelnde Mann), 60 × 14 × 32 cm, Kunsthaus Zürich.
1950: Quatre figurines sur base (Vier Figuren auf einer Basis), Bronze, bemalt, 162 × 42 × 32 cm, Tate Modern, London.
1950: Le chariot (Der Wagen), Bronze, 167 × 62 × 70 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
um 1950: Diego, Bronze, 26,8 × 21,5 × 10,5 cm, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum.
1951: Le chien (Der Hund), Bronze, 45 × 98 × 15 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1952: Figurine sur grand socle (Figur auf großem Sockel), Bronze, 38,5 × 9 × 20,5 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich. Ein Beispiel für den Einfluss altägyptischer Kunst auf Giacometti.
1954: Grande tête de Diego (Großer Kopf Diego), Bronze, 65 × 39 × 22 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1956: Les Femmes de Venise (Die Frauen von Venedig), Figurengruppe von 9 Fassungen I–IX, Bronze, 1,05 bis 1,56 cm, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel.
1958: La jambe (Das Bein), Exemplar 2/6, Bronze (zwei Teile), mit Gold patiniert, 145 × 46,5 × 26,3 cm, Lehmbruck-Museum, Duisburg.
1960: L’Homme qui marche I (Der schreitende Mann I), Exemplar 2/6, Bronze, gegossen 1961, 183 × 95,5 × 26 cm. Abb. Geplante Chase-Manhattan-Plaza-Gruppe insgesamt.
1960: L’Homme qui marche II (Der schreitende Mann II), Bronze, gegossen 1961, 187 cm hoch, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel.
1961: Buste de Caroline, Bronze, 48 cm hoch, Privatbesitz
1961: Buste de Isaku Yanaihara (Büste von Isaku Yanaihara), Bronze, 43 cm hoch, Privatbesitz
1962: Annette IV, Bronze, gegossen 1965, 57,8 × 23,6 × 21,8 cm, Tate Gallery. London.
1964: Diego assis (Diego sitzend), Bronze, 58,5 × 19,7 × 32,5 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich.
1965: Buste d’homme (Diego) New York I (Büste eines Mannes [Diego] New York I), Exemplar 4/8, Bronze, 55 × 29 × 14 cm, Privatbesitz, Schweiz.
1965: Eli Lotar III, Bronze, 65 × 25 × 35 cm, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel.
Zeichnungen und Gemälde
1915: La mère de l’artiste (Die Mutter des Künstlers), Bleistift auf weissem Papier, 17 × 17 cm, Sammlung Lefebvre-Foinet, Paris (1971). Abb.
1921: Autoritratto Alberto Giacometti (Selbstbildnis Alberto Giacometti), Öl auf Leinwand, 82,5 × 70 cm, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel.
1937: La mère de l’artiste (Die Mutter des Künstlers), Öl auf Leinwand, 65 × 50 cm, Privatbesitz.
1937: Pomme sur le buffet (Apfel auf dem Buffet), Öl auf Leinwand, 71,8 × 74,9 cm, Metropolitan Museum of Art, New York. Abb.
1946: Portrait de Jean-Paul Sartre (Porträt von Jean-Paul Sartre), Bleistift auf weissem Papier, 30 × 22,5 cm, Privatbesitz.
1947: Stehende Figur – Kopf en face – Stehende Figur, Bleistift in zweierlei Härtegraden, zum Teil gewischt, auf elfenbeinfarbenen Karton, 50 × 64,5 cm, Staatsgalerie Stuttgart.
1949: Homme assis (Sitzender Mann), ein Gemälde, das Diego darstellt. Öl auf Leinwand, 80 × 54 cm, Tate Gallery, London. Abb.
1951: Triptyque (Triptychon), Lithografiekreide auf chamoisfarbenem Papier, 38,5 × 28 cm, Sammlung Galerie Claude Bernard, Paris (1971).
1955: Figure assise dans l’atelier (Sitzende Figur im Atelier), Öl auf Leinwand, 92 × 71 cm Kunstmuseum Winterthur, Winterthur.
1955: Portrait de Jean Genet (Porträt von Jean Genet), Öl auf Leinwand, 73 × 60 cm, Centre Georges-Pompidou, Paris.
1957: Portrait de Igor Stravinsky (Porträt von Igor Stravinsky), Bleistift auf weissem Papier, 40,3 × 30,5 cm, Sammlung Robert D. Graff, Far Hills, New Jersey (1971).
1958: Portrait d’Annette (Porträt von Annette), Öl auf Leinwand, 65 × 54 cm, Sammlung Batliner, Albertina, Wien.
1958: Portrait de Soshana (Porträt von Soshana), Bleistift auf Papier, 50,8 × 33 cm, Privatbesitz. Abb.
1961: Caroline, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel.
1962: Grand Nu (Grosser Akt), Öl auf Leinwand, 174,5 × 69,5 cm, Fondation Beyeler, Zürich.
Radierungen und Lithografien
1951/52: Buste dans l’atelier (Büste im Atelier), Kreidelithografie, 50 × 65,5 cm, Auflage 30, Kunstmuseum Basel
1953/54: Annette dans l’atelier (Annette im Atelier), Kreidelithografie, 53,4 × 43,6 cm, Auflage 30, Kunstmuseum Basel
1954: Les deux tabourets (Die zwei Schemel), Radierung, 26,2 × 20,8 cm, Auflage 50, Kunstmuseum Basel
1957: L’homme qui marche (Der schreitende Mann), Lithografie, 76,5 × 57 cm, Auflage 200, Kunstmuseum Basel
1960: Buste II (Büste II), Lithografie, 65 × 50 cm, Auflage 150, Kunstmuseum Basel
1964: Portrait de Rimbaud (Porträt von Rimbaud), Radierung, 29,9 × 24,8 cm, Auflage 97, Kunstmuseum Basel
Illustrierte Schriften, Briefwechsel
1946: Le rêve, le sphinx et la mort de T. Labyrinthe, Nr. 22–23, Dezember, Paris; dt. Der Traum, die Sphinx und der Tod von T. Herausgegeben und übersetzt von Donat Rütimann. Scheidegger & Spiess, Zürich 2005, ISBN 978-3-85881-170-7
1969: Paris sans fin, 150 Lithografien, postum veröffentlicht bei Tériade, Paris; Neuausgabe Buchet-Chastel, Paris 2003, ISBN 978-2-283-01994-8 Abb.
1990: Alberto Giacometti. Écrits. Hrsg. von Michel Leiris und Jacques Dupin. Neuausgabe Hermann, Paris 2007, ISBN 978-2-7056-6703-0; dt.: Gestern, Flugsand. Schriften, Neuausgabe Scheidegger & Spiess, Zürich 2006, ISBN 978-3-85881-178-3
2007: Alberto Giacometti, Isabel Nicholas, Correspondances. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Véronique Wiesinger, Fage Éditions, Lyon, ISBN 978-2-84975-121-3
Beispiele von Buchillustrationen
1933: René Crevel: Les Pieds dans le plat (Frontispiz) Abb.
1934: André Breton: L’Air de l’eau
1947: Georges Bataille: Histoire de rats
1961: Michel Leiris: Vivantes cendres, innomées
1962: Miguel de Cervantes: La Danse du château (Frontispiz)
Literatur (Auswahl)
Zeugnisse der Familie und Weggefährten
Felix Baumann (Hrsg.), Roland Frischknecht: Bruno Giacometti erinnert sich. Mit einem Werkverzeichnis der Bauten von Roland Frischknecht. Scheidegger & Spiess, Zürich 2009, ISBN 978-3-85881-248-3
Jean Genet: L’Atelier d’Alberto Giacometti, 1957; dt. Alberto Giacometti, Scheidegger & Spiess, Zürich 2004 (Neuausgabe), ISBN 3-85881-051-7.
Jean Genet: Alberto Giacometti. Mit Zeichnungen von Alberto Giacometti und Fotografien von Ernst Scheidegger, Scheidegger & Spiess, Zürich 2004, unveränderte Neuausgabe. ISBN 978-3-85881-051-9.
Marco Giacometti / Claudia Demel: Alberto Giacometti. Ich verstehe weder das Leben noch den Tod. Fotodokumentation zum 50. Todesjahr Alberto Giacometti, Salm Verlag, 2016, ISBN 978-3-7262-1432-6
James Lord: A Giacometti Portrait, 1965, dt. Alberto Giacometti. Ein Portrait, List, München 2001, ISBN 3-548-60097-2
Jean-Paul Sartre: Die Suche nach dem Absoluten: Texte zur bildenden Kunst. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Rowohlt, Reinbek 1999, ISBN 978-3-499-22636-6
Ernst Scheidegger, Ursula von Wiese: Alberto Giacometti. Schriften, Fotos, Zeichnungen. Arche, Zürich 1958
Ernst Scheidegger: Alberto Giacometti. Spuren einer Freundschaft. Scheidegger & Spiess, Zürich 1990; 2. überarbeitete Auflage 2000, ISBN 978-3-85881-109-7
Donat Rütimann: Alberto Giacometti in Schiers: 1915 bis 1919. In: Bündner Jahrbuch: Zeitschrift für Kunst, Kultur und Geschichte Graubündens, Bd. 43, 2001, S. 71–89 (Digitalisat).
Biografien
Yves Bonnefoy: Alberto Giacometti. Biographie d’une oeuvre. Flammarion, Paris 1991; dt. Alberto Giacometti. Eine Biographie seines Werkes. Benteli, Bern 1992, ISBN 3-7165-0848-9
Jacques Dupin: Alberto Giacometti. Maeght, Paris 1962
Reinhold Hohl: Alberto Giacometti. Gerd Hatje, Stuttgart 1971, 2. Auflage 1987, ISBN 3-7757-0013-7
James Lord: Alberto Giacometti, (1983). dt., Neuausgabe Scheidegger und Spiess, Zürich 2004, ISBN 3-85881-157-2, als Taschenbuchausgabe Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-18368-5
Claude Delay: Alberto und Diego Giacometti. Die verborgene Geschichte. Römerhof Verlag, Zürich 2012, ISBN 978-3-905894-18-9
Untersuchungen, Ausstellungskataloge und Werkverzeichnisse
Agnès de la Beaumelle: Alberto Giacometti. Le dessin à l’oeuvre. Centre Georges-Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris 2001
Peter Beye, Dieter Honisch: Alberto Giacometti, Prestel-Verlag 1987 und Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, ISBN 3-7913-0846-7. Katalog zur Ausstellung in der Nationalgalerie Berlin und Staatsgalerie Stuttgart, 1988
Tobia Bezzola (Hrsg.): Henri Cartier-Bresson und Alberto Giacometti: Die Entscheidung des Auges. Scalo, Zürich 2005, ISBN 978-3-03939-008-3. Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich, 2005
Markus Brüderlin, Toni Stooss (Hrsg.) Alberto Giacometti: Der Ursprung des Raums. Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2010, ISBN 978-3-7757-2714-3. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg 2010/11; Museum der Moderne Salzburg, 2011
Casimiro di Crescenzo: Im Hotel Régina. Alberto Giacometti vor Henri Matisse. Piet Meyer Verlag, Bern 2015, ISBN 978-3-905799-32-3
Alberto Giacometti. Zeichnungen, Katalog zur Gedächtnisausstellung in der Kestner-Gesellschaft, Hannover 1966, mit einleitenden Notizen von Wieland Schmied
Reinhold Hohl, Dieter Koepplin: Alberto Giacometti. Zeichnungen und Druckgraphik. 2. Auflage, Hatje Cantz, Stuttgart 1987, ISBN 3-7757-0161-3
Christian Klemm: Die Sammlung der Alberto Giacometti-Stiftung. Zürcher Kunstgesellschaft, Zürich 1990
Christian Klemm, Carolyn Lachner: Alberto Giacometti. Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich, 2001 und The Museum of Modern Art, New York, 2001/2002, Nicolai, Berlin 2001, ISBN 978-3-87584-053-7
Ulf Küster: Alberto Giacometti: Raum, Figur, Zeit. Hatje Cantz, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7757-2372-5
James Lord: Alberto Giacometti Drawings. A Paul Bianchini Book, New York/ Graphic Society Ltd./ Greenwich, Connecticut, 1971
Herbert C. Lust: Giacometti. The Complete Graphics. And 15 Drawings. Tudor Publishing Company, New York 1970
Alberto Giacometti. Zeichnungen, druckgrafische Unikate und Ergänzungen zum Werkverzeichnis der Druckgrafik von Lust. München, Galerie Klewan, 1997. Mit Texten von Andreas Franzke, Bruno Giacometti, Christiane Lange, James Lord. München, 1997
Axel Matthes (Hrsg.), Louis Aragon (Mitverf.): Wege zu Giacometti. Matthes und Seitz, München 1987, ISBN 3-88221-234-9
Matti Megged: Dialogue in the Void. Beckett and Giacometti. Lumen Books, New York 1985, ISBN 978-0-930829-01-8
Suzanne Pagé: Alberto Giacometti. Sculptures. peintures. dessins. Musée d’art moderne de la Ville de Paris, Paris 1991/1992
Angela Schneider (Hrsg.): Alberto Giacometti: Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen. Mit Beiträgen von Lucius Grisebach, Reinhold Hohl, Dieter Honisch, Karin von Maur und Angela Schneider. Prestel Verlag, München 2008, ISBN 978-3-7913-3870-5
Emil Schwarz: Körper ist Körper ist Körper im unendlichen Raum, Hommage à Alberto Giacometti, Eine dichterische Annäherung mit dem Essay Im Raum wächst die Zeit. NAP Verlag, Zürich 2009, ISBN 978-3-9521434-9-0
Jean Soldini: Alberto Giacometti. L’espace et la force. Éditions Kimé, Paris 2016, ISBN 978-2-84174-747-4
Alberto Giacometti – Ein erzählerischer Ort. In: Markus Stegmann: Architektonische Skulptur im 20. Jahrhundert. Historische Aspekte und Werkstrukturen, Tübingen 1995, Seite 100–116.
Toni Stooss, Patrick Elliott, Christoph Doswald: Alberto Giacometti 1901–1966. Kunsthalle Wien, Wien 1996
Véronique Wiesinger/Ulf Küster: Giacometti, Katalog, herausgegeben von der Fondation Beyeler: Hatje Cantz, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7757-2348-0
Neue Medien
(DVD, VHS, VOD)
Alberto Giacometti, zwei Dokumentarfilme von Jean-Marie Drot und Michel Van Zèle, Ein Mensch unter Menschen (1963) und Was ist ein Kopf (2001)arte Edition / absolut Medien, DVD 2001, 161 Min. (s/w und Farbe – fr, de, en, sp), auf arte-edition.de / auch VOD – siehe: Alberto Giacometti auf boutique.arte.tv, Alberto Giacometti auf sales.arte.tv
Alberto Giacometti – ein Film von Ernst Scheidegger, Regie Ernst Scheidegger; Kamera Peter Münger, Rob Gnant, Othmar Schmid; Text Jacques Dupin, Ernst Scheidegger; Schnitt Peter Münger, Kathrin Plüss; Musik Armin Schibler2. überarbeitete Fassung (gedreht 1965, erweitert 1968), VHS, 50 Min. (Farbe), Scheidegger & Spiess, Zürich 1983, ISBN 978-3-85881-905-5, auf scheidegger-spiess.ch
Weblinks
Centro Giacometti in Bergell, centrogiacometti.ch (der Stiftung Centro Giacometti mit Sitz in Stampa)
Lexika
Bibliotheken, online Kataloge
Biografie
Alberto Giacometti – Chronology (PDF, 7 Seiten), MoMA, 2011, auf moma.org (en)
Ausstellungen, Sammlungen
Alberto Giacometti-Stiftung, Kunsthaus Zürich
Alberto Giacometti-Stiftung, auf Web der Stiftung, giacometti-stiftung.ch (de, fr, en – Bestand zum grossen Teil im Kunsthaus Zürich, dort in Auswahlen laufend ausgestellt, ein Viertel im Kunstmuseum Basel, ein Zehntel im Kunst Museum Winterthur)
Alberto Giacometti Stiftung – Bedeutendste museale Sammlung in Private Sammlungen, auf Web des Kunsthauses Zürich, kunsthaus.ch (de, fr, en)dort auch in Die Sammlung – Die Highlights der Sammlung aufgeführt
Fondation Giacometti (Institut Giacometti / Giacometti Institute) in Paris, fondation-giacometti.fr (fr, en)
Film
A Man Among Men: Alberto Giacometti, Jean-Marie Drot, 1963, auf UbuWeb, ubu.com
Alberto Giacometti, Regie Ernst Scheidegger, Kamera Peter Münger, zweite, überarbeitete Fassung, 1998, auf youtube.com
Alberto Giacometti, qu'est-ce qu'une tête ?, Michel Van Zèle, 2000, auf WorldCat (gemeinsam mit A Man Among Men)
Final Portrait – The story of Swiss painter and sculptor Alberto Giacometti, Stanley Tucci, 2017, auf de.wikipedia
Weiteres
Alberto Giacometti auf artcyclopedia.com
La PGI ricorda Alberto Giacometti (italienisch) auf lanostrastoria.ch/entries/
Einzelnachweise und Anmerkungen
Bildhauer der Moderne
Bildhauer (Schweiz)
Grafiker (Schweiz)
Maler (Schweiz)
Künstler (documenta)
Teilnehmer einer Biennale di Venezia
Autor
Literatur (Französisch)
Lyrik
Essay
Surrealismus
Jean Genet
Mitglied der American Academy of Arts and Letters
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Schweizer
Geboren 1901
Gestorben 1966
Mann |
180400 | https://de.wikipedia.org/wiki/Henriette%20Davidis | Henriette Davidis | Johanna Friederika Henriette Katharina Davidis (* 1. März 1801 in Wengern; † 3. April 1876 in Dortmund) war eine deutsche Autorin von Kochbüchern. Obwohl zu ihrer Zeit bereits viele ähnliche Kochbücher erschienen waren und unter anderem das Allgemeine deutsche Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen von Sophie Wilhelmine Scheibler mehrfach neu aufgelegt wurde, entwickelte sich Davidis’ Praktisches Kochbuch zu einem der bedeutendsten Kochbücher des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das zur Grundausstattung vieler deutscher Haushalte gehörte. Die vielen heute noch antiquarisch erhältlichen Exemplare zeigen, dass das Buch rege benutzt und mit Anmerkungen versehen wurde. Viele Familien vererbten das Praktische Kochbuch von Generation zu Generation weiter.
Das Kochbuch war jedoch nur ein Teil eines umfassenden Erziehungs- und Bildungsprogramms, das Henriette Davidis für Mädchen und Frauen konzipierte. Von der Puppenköchin über die junge unverheiratete Frau bis zur Hausfrau mit eigener Verantwortung für Haushalt und Personal boten Henriette Davidis’ Bücher sich als Lehrbücher und Nachschlagewerke an. Dahinter stand wohl die Erkenntnis, dass die Tätigkeit der Hausfrau ein eigener anspruchsvoller Beruf war, auf den die jungen Frauen des neu entstehenden Bürgertums oft nur unzureichend vorbereitet waren.
Davidis war, während sie ihre Bücher verfasste, selbst als Hauswirtschaftslehrerin, Erzieherin und Gouvernante, später nur noch als Autorin tätig. Obwohl ihre Bücher, insbesondere das Praktische Kochbuch, das im Jahr ihres Todes bereits in 21. Auflage erschien, schon zu ihren Lebzeiten sehr erfolgreich waren, konnte sie von den Erträgen nur ein eher bescheidenes Leben führen und bezog erst im Alter von 74 Jahren eine eigene Wohnung. Gelegentlich wird angegeben, „Henriette Davidis“ sei ein Pseudonym einer Helena Clemen, in Wirklichkeit handelte es sich bei Helena Clemen jedoch um eine Leserin, die Anregungen an die Autorin gesandt hatte, die auch verwendet wurden.
Heute erinnert das Henriette-Davidis-Museum in Wetter-Wengern mit Ausstellungen über Kochbücher und einer Schriftenreihe an sie. Das Deutsche Kochbuchmuseum im Westfalenpark in Dortmund widmet ihr ebenfalls einen großen Teil seiner Ausstellung. Teile eines steinernen Herdes, der aus dem Pfarrhaus in Wengern stammt, wurden mit einer Gedenktafel in das Widerlager der 1934 fertiggestellten Eisenbahnbrücke der Elbschetalbahn bei Wengern eingemauert, wo sie noch heute zu sehen sind. Das Pfarrhaus hatte dem Bau der Brücke weichen müssen.
Leben
Jugend und Ausbildung
Henriette Davidis wurde 1801 im westfälischen Wengern an der Ruhr, heute einem Stadtteil von Wetter, als zehntes von dreizehn Kindern des Pfarrers Ernst Heinrich Davidis und seiner holländischen Ehefrau Maria Katharina Litthauer geboren. Ernst Heinrich Davidis war 1780 in Amsterdam ordiniert worden, hatte neun Jahre in der niederländischen Stadt Breda als Garnisonsprediger gearbeitet und danach eine Stelle als Hilfsprediger in Wengern angetreten. 1792 übernahm er die Pfarrstelle.
Nach der Konfirmation verließ Henriette 1816 ihr Elternhaus und zog zu ihrer Schwester Elisabeth nach Schwelm, die dort mit dem Schlossherrn von Haus Martfeld verheiratet war. In Schwelm besuchte Henriette Davidis zwei Jahre lang die höhere Töchterschule. Sie kehrte 1818 in ihr Elternhaus zurück. Auch dort war sie Schülerin einer privaten höheren Töchterschule. Später zog sie nach Bommern zu ihrer Schwester Albertine, um in deren Landgut und mit der Erziehung der vier Kinder zu helfen. Als ihr Vater 1828 starb, kehrte sie nach Wengern zurück und kümmerte sich um ihre Mutter, bis diese 1838 ebenfalls starb. Danach begleitete sie eine kranke Dame in die Schweiz, bevor sie um 1840 nach Windheim zog.
Von 1841 bis 1848 arbeitete Henriette Davidis im Haus Heine als Erzieherin an einer Mädchenarbeitsschule in Sprockhövel. Während dieser Zeit erschien 1845 ihr Praktisches Kochbuch. Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte der gewöhnlichen und feineren Küche, 1847 und 1848 folgten die Arrangements zu kleinen und größeren Gesellschaften und die Praktische Anweisung zur Bereitung des Roßfleisches, die später als Anhang im Praktischen Kochbuch aufgingen. Für das Praktische Kochbuch hatte Davidis umfangreiche Recherchen betrieben und über einen längeren Zeitraum Rezepte zusammengetragen.
Arbeit als Lehrerin und Autorin
Nach der Zeit in Sprockhövel arbeitete Henriette Davidis in Bremen als Erzieherin und Gouvernante. 1855 zog sie wieder nach Bommern zu ihrer Schwester Albertine, wo sie bis 1857 blieb. In dieser Zeit muss sie sich, möglicherweise durch den Erfolg des Kochbuches beflügelt, entschlossen haben, neben dem reinen Kochbuch auch eine umfassendere Hauswirtschaftslehre sowie erzieherische Schriften für junge Mädchen und Frauen zu verfassen. 1850 erschien dann Der Gemüsegarten als Teil I eines geplanten Vollständigen Haushaltsbuches; im selben Jahr verfasste sie auch noch ein unveröffentlichtes Buch über die Krankenpflege; es folgten 1856 Puppenköchin Anna, 1857 Die Jungfrau und 1858 Puppenmutter Anna. Das geplante mehrbändige Haushaltungsbuch kam allerdings nicht zustande. Nach einem Band mit Gedichten und Novellen erschien 1861 Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung des Haushaltes, das den Abschluss des Bildungsprogramms für die angehende Hausfrau bildete.
Im Mai 1857 zog sie nach Dortmund, wo sie bis zu ihrem Tod lebte, zunächst zur Untermiete, später in einer eigenen Wohnung. Spätestens jetzt konnte sie vermutlich von ihren Veröffentlichungen leben. Neben der Arbeit an Jungfrau und Hausfrau überarbeitete sie ihre früheren Werke, die sich bereits gut verkauften, für neue Auflagen. Ab den 1860er Jahren schrieb Henriette Davidis, die nun bereits als anerkannte Autorität in Hauswirtschaftsfragen gegolten haben dürfte, auch regelmäßig für Zeitschriften wie Daheim, eine nach dem Vorbild der Gartenlaube gestaltete Zeitschrift, die sich an ein bürgerliches Publikum richtete und von 1865 bis 1944 erschien. In dieser Zeit veröffentlichte sie auch noch zwei weitere kleinere Schriften: Diätetik für Hausfrauen. Die Gesundheits- und Krankenpflege im Hause … und Kraftküche von Liebig’s Fleischextract für höhere und unbemittelte Verhältnisse. Letztere war eine im Auftrag der Firma Liebig abgefasste Werbeschrift, die die Darstellung der Vorzüge des neuentwickelten Liebig’schen Fleischextraktes mit dem „Gütesiegel“ der Fachfrau Davidis geschickt kombinierte.
Henriette Davidis blieb unverheiratet (zwei Verlobte starben jeweils, bevor es zur Heirat kam) und lebte selbst nicht das Leben der sich selbst zurücknehmenden hingebungsvollen Hausfrau, das sie in ihren Büchern propagierte. Als berufstätige Frau und erfolgreiche Autorin setzte sie sich scheinbar selbst in Widerspruch zu ihren Werken. Die Gründe dafür sind jedoch heute nicht mehr zu ermitteln, auch weil das im Sommer 1874 erstellte Manuskript der Autorin Erinnerungen aus meinem Leben und Wirken ungedruckt blieb und verschollen ist. Henriette Davidis starb am 3. April 1876 in Dortmund. Ihr Grab befindet sich auf dem Dortmunder Ostenfriedhof.
Auseinandersetzungen mit den Verlegern
Henriette Davidis war als Autorin des Praktischen Kochbuchs zunächst nicht in einer verhandlungsstarken Position gegenüber dem Verlag Velhagen & Klasing, bei dem ihr erstes Werk erschien. Wie den meisten Autoren ging es ihr wohl zuallererst darum, das Buch überhaupt zu veröffentlichen. Vermutlich war sie weder über das erst im Entstehen begriffene Urheberrecht noch über gängige Honorare informiert und wurde als Frau von den Verlegern als Vertragspartnerin auch nicht allzu ernst genommen, denn sie übereignete dem Verlag das Kochbuch gegen ein Honorar von 450 Talern als Eigentum, ohne sich weitere Rechte an dem Text vorzubehalten. Später warf sie den Verlegern vor: „Gänzliche Unkunde in solchen Sachen, wie sie mir damals eigen war, konnte nur auf einen Kontract wie der unsrige eingehen (…),“ denn am Verkaufserfolg des Buches war sie nicht beteiligt und erhielt auch für die Überarbeitungen nur vergleichsweise geringe Honorare (50 Taler für die 2. Auflage, später 100, nach der 5. Auflage 200 Taler). Schon 1856 war sie jedoch so erfahren, dass sie das Puppenkochbuch bei Grote in Dortmund erscheinen ließ, weil ihr das von Velhagen & Klasing gebotene Honorar zu niedrig war.
Bei der Überarbeitung der 12. Auflage des Praktischen Kochbuchs, für die sie wieder nur 200 Taler erhalten sollte, kam es 1867 zum Streit mit dem Verlag: „Miete, Steuer, sparsamen Lebensunterhalt, Kleidung und andere Ausgaben; niemals konnte ich davon erübrigen (…) während Sie, meine Herren, die reifen Früchte meiner Mühen genießen.“ Der Verlag reagierte schließlich auf die selbstbewusste Beschwerde mit einer Erhöhung des Honorars auf 300 Taler. Es folgten weitere Überarbeitungen, Erweiterungen und Auseinandersetzungen über Inhalt und Ausstattung des Buches, bis Henriette Davidis sich nach der erheblich erweiterten 20. Auflage bei den Verlegern schließlich im Juli 1875 für erhaltene 1000 Taler bedanken konnte.
Bedeutung als Autorin
Henriette Davidis’ Werke lassen sich unter die Frauen-Literatur einordnen, wie sie in Form von Anstandsbüchern und Ratgebern, aber auch Lyrikanthologien, Zitatenschätzen und ganzen Bibliotheken speziell für Frauen aufbereiteter Klassiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Teil des Buchmarktes beherrschte. Diese oftmals von Frauen für Frauen verfassten Haushaltungsbücher und Frauen-Breviere wirkten „neben ihrer originären Ratgeber- und Trostfunktion … norm- und systemerhaltend“. Auch wenn ihr eigener Lebensweg einer berufstätigen Frau als eher untypisch gelten kann und sie sich, wie die erhaltene Korrespondenz mit ihren Verlegern beweist, durchaus zu behaupten wusste, bewegte sich Henriette Davidis mit ihren Werken innerhalb eines vorgegebenen Rahmens gesellschaftlicher Konventionen und bürgerlicher Normen. Auch ihre Leserinnen sollten nicht aus diesem Rahmen heraustreten, sondern vielmehr befähigt werden, sich innerhalb ihres familiären Umfeldes zu bewähren. Die Betonung dieser Lebensaufgabe der Hausfrau, beispielsweise im Vorwort des Praktischen Kochbuchs, deutet aber zugleich an, dass dies nicht (mehr) den ausschließlich denkbaren Lebensweg einer Frau darstellte und mit der aufkommenden Industrialisierung auch eine Berufstätigkeit der Frau stärker in den Bereich des Möglichen gerückt war. Der Beruf der Hausfrau wird dementsprechend als der Berufstätigkeit des Mannes ebenbürtige Arbeit herausgestellt.
In Reaktion auf das Erstarken des Bürgertums im 19. Jahrhundert hatte sich auch die Kochbuchliteratur gewandelt: Die bürgerliche Küche wurde zum Begriff, allgemeine Schulbildung und sinkende Druckkosten ermöglichten breiten Kreisen den Zugang zu dieser Art von Literatur. Gleichzeitig bildete sich die bürgerliche Kleinfamilie heraus, in deren häuslichem Zentrum die Hausfrau stand, die das Kochbuch als Bildungs- und Lehrbuch nutzte. Hatten sich Kochbücher zuvor eher an professionelle Köche gerichtet, boten sie nun einen systematischen Zugang zu den Grundlagen des Kochens und der Hauswirtschaft, der sich bewusst auch an Anfänger richtete. Das Praktische Kochbuch entwickelte sich vor diesem Hintergrund zu einem beliebten Hochzeitsgeschenk.
Noch zu ihren Lebzeiten wurde Henriette Davidis als Autorität in Fragen der Haushaltsführung angesehen. In den 1860er und 1870er Jahren waren ihre Expertisen, heute würde man von Testimonials sprechen, insbesondere für fortschrittliche Neuheiten gefragte Werbemittel. Sie sprach sich für Geräte und Produkte wie für das Geliermittel „Agar Agar“ oder für Liebig’s Fleischextract aus, die Hersteller druckten die Expertisen zusammen mit ihrem Porträt auf die Verpackungen der Produkte auf. Auch in ihren Büchern erwähnt sie immer wieder beiläufig bestimmte Produkte, Hersteller und Marken. Ob diese lobenden Erwähnungen und Expertisen eine Gegenleistung durch die beworbenen Firmen erfuhren, lässt sich leider nicht mehr feststellen.
Zum 25. Jubiläum des Praktischen Kochbuchs gingen „sinnige und humorvolle Glückwünsche, schöne Werke, feine Weine und Blumen“ bei der Autorin ein, die inzwischen jeden Tag mehrere Stunden damit verbrachte, Anfragen von Lesern zu beantworten.
Alle Werke wurden vielfach überarbeitet, erweitert und immer wieder aufgelegt, teilweise auch übersetzt. Das Praktische Kochbuch und Die Hausfrau wurden auch speziell für Deutsche in den USA bearbeitet und erschienen von 1879 an in Milwaukee in deutscher Sprache, jedoch mit amerikanischen Maßen und teilweise angepassten Zutaten, Puppenköchin Anna und Die Hausfrau erschienen in niederländischer Sprache in Amsterdam.
Werke
Praktisches Kochbuch
Ihr Hauptwerk erschien 1845 mit dem Titel: Praktisches Kochbuch. Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte der gewöhnlichen und feineren Küche. Practische Anweisung zur Bereitung von verschiedenartigen Speisen, kalten und warmen Getränken, Gelees, Gefrornem, Backwerken, sowie zum Einmachen und Trocknen von Früchten, mit besonderer Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Schon bei der sechsten Auflage wurden 10.000 Exemplare gedruckt, spätere Auflagen umfassten bis zu 40.000 Exemplare.
Henriette Davidis selbst, von ihren Verlegern um einen Werbetext gebeten, schrieb 1856 über das Kochbuch:
Das Kochbuch enthält eine umfangreiche Rezeptsammlung, die Henriette Davidis nicht nur zusammengestellt, sondern, wie sie im Vorwort betont, auch selbst erprobt und modifiziert hatte:
Diesem Vorwort folgt eine kurze Einleitung, in der Henriette Davidis vier grundlegende Anforderungen an die Hausfrau formuliert: Reinlichkeit, Sparsamkeit, Achtsamkeit und Überlegung. Das Inhaltsverzeichnis umfasst die Teile A–V: Allgemeine Vorbereitungsregeln; Suppen; Fische; Gemüse; Puddings; Aufläufe; Eier-, Milch- und Mehlspeisen; Pasteten; Fleischspeisen aller Art; Gelées und Gefrornes; Klöße; Crêmes; Compotes; Salate; Saucen; Backwerk; Vom Einmachen und Trocknen einiger Früchte und Gewächse; Vom Einmachen und Trocknen einiger Gemüse; Getränke und Liqueure; Wurstmachen, Einpöckeln und Räuchern des Fleisches; Essig.
Allgemeine Anmerkungen zum Kochen, zu Kochgeschirren oder bestimmten Lebensmitteln sind sehr knapp und beschränken sich auf das Notwendigste. Die einzelnen Kapitel sind teils weiter unterteilt, z. B. nach den unterschiedlichen Fleischsorten. Jedes Kapitel beginnt mit Grundregeln zur Zubereitung der jeweiligen Lebensmittel. Innerhalb der Kapitel sind die Rezepte durchnummeriert, die Reihenfolge scheint jedoch eher zufällig gewählt. Mengenangaben, Kochzeiten oder Temperaturangaben fehlen, wie es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen Kochbüchern üblich war. Am Ende jedes Rezeptes ist jedoch angegeben, in welchem Geschirr das Gericht aufgetragen werden sollte, woraus sich auch eine ungefähre Mengenangabe ergibt.
Späteren Ausgaben ist ein ausführlicher Anhang beigefügt, der Vorschläge für die Bewirtung von Gästen und saisonal strukturierte Menüvorschläge enthielt. Diese waren ursprünglich als selbständige Publikation erschienen (Arrangements zu kleinen und größeren Gesellschaften, zu Frühstücks-, Mittags- und Abendessen, Kaffee’s und Thee’s und einem Küchenzettel nach den Jahreszeiten geordnet) und später in das Praktische Kochbuch integriert worden.
Das Buch entwickelte sich zum Standardwerk seiner Gattung und erreichte eine Bekanntheit, die über Deutschland hinausging – dies zeigte sich 1879, als eine besondere Ausgabe für Auslandsdeutsche in Milwaukee in den USA erschien. Die Herausgeber betonen im Vorwort, sie seien „dem als das beste allgemein anerkannte Kochbuche von Henriette Davidis gefolgt.“
Nach ihrem Tod wurde das Praktische Kochbuch zunächst von Luise Rosendorf (1821–1890) und ab der 32. Auflage 1892 von Luise Holle weitergeführt. Luise Holle überarbeitete das Kochbuch umfassend. Neben technischen Neuerungen fügte sie vor allem Gerichte der „feinen Küche“ und „Krankenspeisen“ sowie ein Kapitel „Über die Verwertung von Resten“ hinzu. Auch das Anrichten der Speisen, Vorschläge für Speisezettel und ein Kapitel über die „Kunst des Wirtschaftens“ machten aus dem ursprünglich reinen Kochbuch zunehmend auch ein Haushaltungsbuch. Dem Buch ist nun auch ein alphabetisches Register vorangestellt. Das Praktische Kochbuch erscheint in überarbeiteter Form auch noch in den 1990er Jahren, vor Ablauf der Schutzrechte 1906 gab es auch zahlreiche Nachempfindungen, sogar recht offensichtliche Plagiate (z. B. schon in den 1880er Jahren das Neue und bewährte Illustrierte Kochbuch für alle Stände einer gewissen H. Davithis).
„Der Gemüsegarten“
Der Gemüsegarten erschien 1850 als Band I eines geplanten vollständigen Haushaltungsbuches mit dem Untertitel Praktische Anweisung einen Gemüse-Garten mit Berücksichtigung der Schönheit und des reichlichsten Ertrages zu besorgen; sowie das Nöthige über Lage, Boden, Umzäunnung, Einrichtung, Dünger, Garten-Geräthschaften, Kultur der Pflanzen und fruchtbringenden Sträucher, Samenziehung, Dauer der Keimkraft, die erforderliche Quantität der Sämereien und wie mit den Gemüsen am Zweckmäßigsten abzuwechseln ist, der das inhaltliche Programm des Buches bereits umfassend beschreibt. Ein Anhang befasste sich zudem mit Schädlingsvernichtung und dem Konservieren von Gemüse. Ab der fünften Auflage 1863 erscheint das Buch unter dem neuen Titel Der Küchen- und Blumengarten für Hausfrauen. Zu diesem Zeitpunkt, inzwischen waren Jungfrau, Hausfrau und die beiden Puppenbücher erschienen, scheint Henriette Davidis die Pläne für das mehrbändige Haushaltungsbuch endgültig aufgegeben zu haben. Die Neuauflage war um drei Kapitel erweitert worden, die sich insbesondere dem Gemüseanbau zum Verkauf widmeten, eine weitere Auflage enthielt 1866 auch noch ein Kapitel über Heilkräuter und ihre Verwendung. Das Buch erschien in zahlreichen Auflagen, wurde später von anderen Autoren überarbeitet und dürfte damit große Verbreitung gefunden haben. Bearbeiter der 14. bis 17. Auflage war der Hofgärtner Julius Hartwig in Weimar.
„Puppenköchin Anna“
Gewissermaßen als Ableger des erfolgreichen Praktischen Kochbuches erschien im Jahr 1856 ein Kochbuch für Kinder: Puppenköchin Anna. Ein praktisches Kochbuch für kleine liebe Mädchen. Das Kochbuch richtete sich direkt an Mädchen, denen die Puppenmutter Anna, das Idealbild eines folgsamen und vernünftigen Kindes, und ihre Mutter erläutern, wie sie selbst am Puppenherd oder mit Blumen und Gräsern kleine Gerichte oder „Puppenessen“ zubereiten können. Das Buch wurde ein Publikumserfolg und in neun Auflagen bis 1898 immer wieder nachgedruckt. Formal ist das Puppenkochbuch offensichtlich an das Praktische Kochbuch angelehnt. Die Vorzüge der mustergültigen Puppenmutter Anna deuten darauf hin, welches Verhalten man damals von kleinen Mädchen erwartete; andererseits zeigt es auch auf, womit kleine Mädchen ihre Mütter damals offensichtlich plagten.
Dem Rezeptteil ist eine vergleichsweise lange Einleitung vorangestellt:
Das Büchlein im Oktavformat gliedert sich in zwei „Abtheilungen“. Die erste enthält „Speisen, welche auf dem Puppenherd gemacht werden“ sowie „Speisen ohne Heerd zu bereiten“, die zweite Abteilung widmet sich der „Blumenküche oder Speisen für die Puppen“. Wie im Praktischen Kochbuch gibt es auch hier Kapitel für Suppen, dann für Gemüse und Kartoffeln, Reisspeisen usw. Die einzelnen Rezepte sind wie beim Vorbild innerhalb der Kapitel einfach durchnummeriert. Beim größeren Teil der Rezepte handelt es sich um Süßspeisen, die vorwiegend aus Milch, Grieß, Reis, Eiern und Äpfeln herzustellen sind, also auf einer limitierten Auswahl von Zutaten beruhen. Die meisten Rezepte sind tatsächlich einfach und kommen ohne komplizierte Arbeitsschritte aus. Bei den Gemüserezepten sind auch ausführliche Anweisungen zum Putzen und Vorrichten der Gemüsesorten enthalten. Im Gegensatz zum Praktischen Kochbuch sind hier am Anfang jedes Gerichtes die Zutaten aufgeführt. Die „Blumenküche“ basiert auf gängigen Gartenpflanzen und Gräsern, wie sie damals für jedes Kind leicht zu beschaffen gewesen sein dürften. Anders als der pädagogische Impetus des restlichen Buches vermuten lässt, geht es hier um kreatives, vergleichsweise „sinnloses“ Spielen – ein in dieser Form ungewöhnlicher und geradezu reformerischer Ansatz.
Andere Puppenkochbücher erschienen im 19. Jahrhundert von Christine Charlotte Riedl (1854 Die kleine Köchin) und Julie Bimbach (1854 Kochbüchlein für die Puppenküche oder erste Anweisung zum Kochen für Mädchen von acht bis vierzehn Jahren). Der Erfolg des Büchleins von Julie Bimbach, das im Erscheinungsjahr bereits vier Auflagen erlebte, motivierte Henriette Davidis im Herbst 1855, ihren Verleger zu drängen, ein schon länger geplantes Puppenkochbuch endlich zu veröffentlichen. Als der Verleger des Praktischen Kochbuches, Velhagen & Klasing in Bielefeld, zögerte und zudem die Honorarforderungen Henriette Davidis’ nicht akzeptieren wollte, wechselte sie kurzerhand den Verlag, so dass Puppenköchin Anna bei Grote in Dortmund erschien. Später wurde das Puppenkochbuch durch Puppenmutter Anna ergänzt, ein Geschichtenbuch, das bei kleinen Mädchen den Sinn für „Häuslichkeit und Wirtschaftlichkeit“ zu wecken suchte, und Fragen der Haushaltsführung thematisierte. Obwohl beide Werke heute pädagogisierend und auf biedermeierliche Weise indoktrinierend klingen, handelte es sich damals und wohl auch aus Sicht Henriette Davidis’ um einen neuartigen, nicht unbedingt selbstverständlichen Beitrag zur spielerischen Ausbildung von Mädchen.
„Der Beruf der Jungfrau“
1857 erschien Die Jungfrau. Worte des Rats zur Vorbereitung für ihren Beruf (ab der 2. Auflage unter dem geänderten Titel Der Beruf der Jungfrau. Eine Mitgabe für Töchter gebildeter Stände). Der Titel, der sich an Jungfrauen, also an unverheiratete Frauen richtet, macht bereits deutlich, dass Henriette Davidis das Hausfrauendasein als Beruf verstand, der einer Vorbereitung und Ausbildung bedurfte. Mit diesem Buch wollte sie, wie sie im Vorwort schreibt, „der Jungfrau Mittel und Wege vorführen, um sie auf ihren künftigen Lebensberuf in praktischer Beziehung vorzubereiten.“ Doch nicht nur das: „auch der höheren Lebenspflichten, der moralischen und religiösen Seite ihrer Wirksamkeit ist gedacht worden.“ Ähnlich wie religiöse Erbauungsliteratur sollte das Buch jungen Frauen nicht nur zur Unterweisung, sondern auch als tröstlicher Begleiter und Nachschlagewerk dienen.
Dass es nicht nur um praktische Themen gehen sollte, zeigt ein Brief Henriette Davidis’ an ihre Verleger, in dem sie schreibt: „… übermache ich Ihnen hiermit das Manuscript zur Jungfrau. Das Werkchen, ihrem Vorschlag gemäß, mit dem Haushaltungsbuch zu verbinden, würde in der Weise nicht tunlich sein. Es ist dies nicht nur meine Meinung, mehrere einsichtsvolle Frauen stimmen darin überein, daß das Haushaltungsbuch möglichst material müßte gehalten werden.“
Dieses und ähnliche Bücher zeigen, wie isoliert, hilflos und überfordert junge Frauen gerade zu Beginn einer Ehe oftmals gewesen sein müssen. Wegen der strikten Trennung der Zuständigkeiten innerhalb einer Ehe dürften auch die Ehemänner in der Regel keine große Hilfe in Haushaltsfragen gewesen sein, im Gegenteil, diese Art der Literatur hält vielfache Ratschläge bereit, die Erfolglosigkeit des Ehemanns durch Sparsamkeit und Kreativität in der Haushaltsführung zu kompensieren. Be- und Entlohnung bestehen in der Zufriedenheit des Ehemannes und im Erfüllen der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an die Hausfrau. So stellt Henriette Davidis denn auch fest, dass „es nur Wenigen und am wenigsten dem weiblichen Theile beschieden [ist], sich das Leben nach Wahl und Neigung zu gestalten und den höheren Geistesinteressen zu leben. Gerade der weibliche Beruf, […] nimmt in den meisten Fällen Hand und Verstand so sehr in Anspruch, daß nur wenig Mußestunden erlauben, aus dem Kreis des Berufslebens hinaus zu gehen.“ Aufgrund ihrer eigenen beruflichen Erfahrungen, in denen sie ganz offensichtlich durchaus Pflicht und Neigung zu vereinbaren suchte, dürfte Henriette Davidis an dieser Stelle sehr genau gewusst haben, wovon sie sprach.
„Die Hausfrau“
Das Haushaltungsbuch, das Davidis schon bei der Ablieferung des Manuskripts von Der Beruf der Jungfrau erwähnt hatte, erschien 1861 im Selbstverlag zusammen mit dem befreundeten Verleger Artur Seemann unter dem Titel Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung des Haushalts, eine Mitgabe für junge Frauen zur Förderung des häuslichen Wohlstandes und Familienglücks. Das Buch war ein umfassender Haushaltsratgeber und komplettierte das Bildungsprogramm für die Hausfrau. Aus heutiger Sicht ermöglicht es hervorragende Einblicke in die bürgerliche Wohn- und Gesellschaftskultur des 19. Jahrhunderts, weil Henriette Davidis nicht nur detailliert beschreibt, wie z. B. ein Haus einzurichten ist, sondern auch ausführlich begründet, zu welchem Zweck eine bestimmte Einrichtung dient und welche Wirkung damit erzielt werden soll. Neben Einrichtungsfragen und den Tätigkeiten im Haus widmet sich die Autorin auch dem Verhältnis zwischen Hausfrau und Dienstboten. Hier mahnt sie die Verantwortung der Hausfrau als Arbeitgeberin an, das Personal angemessen unterzubringen und zu versorgen. Den größten Teil des Werkes nehmen aber Anleitungen zur Verarbeitung von Lebensmitteln ein.
Nach Davidis’ Tod führten ihre Nichten Theodore Trainer und Emma Heine das Buch fort. Die Nichten gaben ab 1882 auch eine gekürzte Version unter dem Titel Kleines Kochbuch für den bürgerlichen und ländlichen Haushalt heraus, die insgesamt sechs Auflagen erlebte.
Ausgaben
Alle bibliographischen Angaben sind nach Methler, Methler: Biographie, Bibliographie, Briefe, S. 23–91 zitiert.
Erstausgaben
Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte der gewöhnlichen und feineren Küche. (…). Rackhorst, Osnabrück 1845. (Ab der 3. Auflage dann unter dem bekannteren Titel Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche. (…) 4. Auflage (1849) als ; 62 Auflagen des ursprünglichen Verlages bis 1942, darunter auch reich ausgestattete Ausgaben in dekorativ gestalteten Kassetten. Nach Ablauf der Urheberrechte zahllose Bearbeitungen und Nachdrucke.)
Arrangements zu kleinen und größeren Gesellschaften, zu Frühstücks-, Mittags- und Abendessen, Kaffee’s und Thee’s und einem Küchenzettel nach den Jahreszeiten geordnet. Velhagen & Klasing, Bielefeld 1847. (Ab dessen 3. Auflage in das Praktische Kochbuch integriert)
Praktische Anweisung zur Bereitung des Roßfleisches. Julius Bädeker, Iserlohn 1848.
Gedichte. Julius Bädeker, Iserlohn 1848. (2. Auflage 1848)
Vollständiges Haushaltungsbuch. Der Gemüsegarten (…). Julius Bädeker, Elberfeld, 1850. (ab der 5. Auflage (1863) unter dem Titel Der Küchen-Garten für Hausfrauen. Praktische Anleitung zur möglichst vorteilhaften Kultur der bekannten Gewächse für Küche und Keller nach den Monaten geordnet. Verbunden mit einer Anleitung zur Kultur des Blumen-Gartens. Auf eigene und langjährige Erfahrungen praktischer Gartenfreunde gegründet, bis 1919 23 Auflagen.)
Puppenköchin Anna. Grote, Dortmund 1856. (9 Auflagen bis 1898.) (Digitalisat der Ausg. Seemann, Leipzig 1881)
Die Jungfrau. Worte des Rats zur Vorbereitung für ihren Beruf. Eine Mitgabe für Töchter bei ihrem Eintritt in’s Leben. 1857. (Ab der 2. Auflage Der Beruf der Jungfrau. Eine Mitgabe für Töchter gebildeter Stände. 17 Auflagen bis 1922.)
Puppenmutter Anna oder wie Anna sich beschäftigt und ihren Puppenhaushalt führt. Nebst Geschichten für kleine Knaben und Mädchen. Joedicke, Dortmund 1858. (4 Auflagen bis 1890)
Natur- und Lebensbilder. Kleine Beiträge zur weiblichen Gemüthsbildung. A. Bagel, Wesel 1860.
Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung des Haushalts. (…). Seemann/Davidis, Essen/Dortmund 1861. (18 Auflagen bis 1907) 5. Auflage, 1870
Kraftküche von Liebig’s Fleischextract für höhere und unbemittelte Verhältnisse erprobt und verfaßt von Henriette Davidis. Friedrich Vieweg, Braunschweig 1870. (bis 1880 6 Auflagen)
Die deutsch-amerikanische Hausfrau. Laird & Lee, Chicago 1898. (Digitalisat)
Henriette Davidis' Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche. Unter bes.Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen. 1901, Bielefeld u.Leipzig Velhagen & Klasing Verlag
Reklame-Kochbuch der Liebig-Werke: Liebig Company’s Fleisch-Extract in der bürgerlichen Küche. Eine Sammlung erprobter einfacher Recepte von der Herausgeberin des Kochbuches von Henriette Davidis mit einem Anhang von Recepten für Krankenkost unter Verwendung des Fleisch-Peptons der Compagnie Liebig. Ihrer Kundschaft gewidmet von der Liebig’s Fleisch-Extract-Compagnie. Selbstverlag, O. O., o. J.
Bearbeitungen
Die Verleger Velhagen und Klasing ließen das Praktische Kochbuch nach Henriette Davidis’ Tod weiter fortlaufend aktualisieren und überarbeiten. Die 25. bis 31. Auflage (1882–1891) erarbeitete Luise Rosendorf (1821–1890), die 1874 unter dem Namen Henriette Sander selbst ein Kochbuch veröffentlicht hatte. Die 32. bis 62. Auflage (1892–1942) stammt von Luise Holle (1864–1936). Sie ist die bekannteste der späteren Bearbeiter und wurde ab der 38. Auflage auch als Mitautorin im Buchtitel geführt. Sie ergänzte und erneuerte das Kochbuch erheblich und gab später auch eigene Koch- und Haushaltungsbücher heraus. Von 1933 bis 1951 erschien unter dem Titel Das neue Kochbuch für die deutsche Küche ebenfalls bei Velhagen & Klasing ein kleineres Kochbuch, das Ida Schulze (1878–1970) auf der Basis des Praktischen Kochbuchs erarbeitet hatte. Dieses „kleine“ Kochbuch wurde auch parallel zu der Version von Luise Holle ein Verkaufserfolg.
Nachdem 1906 die Schutzfrist für das ursprüngliche Werk abgelaufen war, erschienen auch in anderen Verlagen zahlreiche Auszüge, Nachdrucke, Überarbeitungen und Neufassungen. Zu den bekanntesten zählen die von Erna Horn, Elsa Bier, Gertrude Wiemann und Rudolf Zäch. Auch Puppenköchin Anna und Der Gemüsegarten wurden noch über Jahrzehnte in immer neuen Fassungen wieder aufgelegt. Außerdem erschienen englische, dänische und niederländische Ausgaben. Speziell für Deutsche in den USA erschien sogar eine auf amerikanische Maße und Verhältnisse zugeschnittene deutschsprachige Ausgabe.
Faksimileausgaben und Nachdrucke der Erstausgaben
Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche. Reprint der Erstausgabe: Walter Methler (Hrsg.): Veröffentlichungen des Henriette Davidis Museums. Wetter (Ruhr) 1994, ISBN 3-9810130-8-5.
Puppenköchin Anna. Ein praktisches Kochbuch für kleine liebe Mädchen. 2. vermehrte Auflage. W. Joedicke, Dortmund 1858. Nachdruck Eckehard Methler (Hrsg.), Ev. Kirchengemeinde Volmarstein-Oberwengern, Wetter (Ruhr) 1999 (Veröffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums; 7).
Rezeption
Seit seinem Erscheinen wurde das Praktische Kochbuch bis 1951 kontinuierlich für den Gebrauch überarbeitet und immer wieder neu aufgelegt. Ab den 1960er Jahren erfolgte eine Rückbesinnung auf das Original; die von nun an erscheinenden Ausgaben waren zwar auch Bearbeitungen für den Einsatz in der modernen Küche (z. B. von Erna Horn oder Roland Gööck), basierten aber ausdrücklich auf der Erstausgabe. Auch sie wurden bis in die 1990er Jahre immer wieder aufgelegt und überarbeitet. 1977 erschien der erste unveränderte Nachdruck einer alten, von Luise Holle bearbeiteten Ausgabe von 1898, 1994 ein weiterer unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1845. In den 1990er Jahren erschienen die ersten Publikationen, die sich mit der Person und Rolle der Henriette Davidis befassen, zumeist in einer Schriftenreihe des Henriette-Davidis-Museums in Wengern. Dort erschienen auch 2002 Puppenköchin Anna als Nachdruck und eine moderne Bearbeitung des Puppenkochbuchs für Jugendliche. 2002 erschien in den USA ein Nachdruck der amerikanischen Ausgabe des Praktischen Kochbuchs von 1904. Gemessen an der Zahl der Exemplare, die von dem Praktischen Kochbuch in über 160 Jahren bislang verkauft wurden, findet Henriette Davidis in der Erforschung von Alltagskultur und Frauenbiographien des 19. Jahrhunderts allerdings noch kaum Beachtung.
Erinnerungsstätten in und um Wengern sowie das Henriette-Davidis-Museum sorgen jedoch dafür, dass Henriette Davidis zumindest im lokalen Bewusstsein ihrer Heimatregion fest verankert ist. Im Jahr 2006 gab das Henriette-Davidis-Museum eine Reihe von Übersetzungen (in englischer, norwegischer, polnischer und serbokroatischer Sprache) des Kinderkochbuchs Puppenköchin Anna heraus.
Literatur
Gisela Framke, Gisela Marenk, Willi Otremba, Magdalene Krumbeck, MKK Dortmund (Hrsg.): Beruf der Jungfrau. Henriette Davidis und bürgerliches Frauenverständnis im 19. Jahrhundert [Ausstellungskatalog]. Graphium Press, Oberhausen 1988, ISBN 3-9800259-9-3.
Karl Heinz Götze: Man nehme 20 Eier und bleibe Jungfrau. In: Charlotte von Saurna: Ruhrgebiet. Merian [Nr. 46,10], Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, ISBN 3-455-29310-7 / , S. 134–135.
Ulrike van Jüchems: „Man nehme …“. Henriette Davidis. Pfarrerstochter aus Wengern schreibt Klassiker der Kochkunst. In: Westfalenspiegel, Nr. 52. Ardey, Münster 2003, , S. 25.
Anke Killing: Henriette Davidis und ihre Zeit. In: Westfalen im Bild, Reihe: Persönlichkeiten aus Westfalen, Heft 13, Landschaftsverband Westfalen-Lippe / Landesbildstelle Westfalen, Münster 1998.
Roswitha Kirsch-Stracke: Das vergessene Gartenbuch der westfälischen Schriftstellerin Henriette Davidis (1801–1876). In: Die Gartenkunst 12 (2/2000), S. 187–197.
Eckehard Methler, Walter Methler: Henriette Davidis. Biographie, Bibliographie, Briefe. In: Veröffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums Band 10, Evangelische Kirchengemeinde Volmarstein, Wetter (Ruhr) 2001, ISBN 3-933945-10-0 (Umfassendste veröffentlichte biographische Quelle, umfassende Bibliographie).
Eckehard Methler, Walter Methler: Von Henriette Davidis bis Erna Horn. [Bibliographie und Sammlungskatalog hauswirtschaftlicher Literatur; mit Anmerkungen zur Frauenfrage]. In: Veröffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums. Band 9. Evangelische Kirchengemeinde Volmarstein-Oberwengern, Wetter (Ruhr) 2001, ISBN 3-933945-09-7 / ISBN 3-9810130-4-2 (HDM-Verlag), Erschöpfende Bibliographie incl. der Zeitschriftenbeiträge und sämtlicher Bearbeitungen.
Georg Ruppelt: Henriette Davidis und ihr berühmtes Kochbuch. Sonderdruck aus: Aus dem Antiquariat. München 1987.
Claudia Suppmann: Ein Kochbuch-Klassiker im Wandel der Zeiten (1845–1998). Magisterarbeit München, 2000 (unveröffentlicht).
Willy Timm: Henriette Davidis. In: Westfälische Lebensbilder Band XII. Münster 1978, S. 88f. Ausführliche biographische Angaben.
Henriette Davidis Lesebuch. (PDF; 881 kB) Zusammengestellt und Nachwort von Dieter Treek, Nyland-Stiftung (Hrsg.), Nylands Kleine Westfälische Bibliothek Bd. 26, Bielefeld, Aisthesis Verlag 2011
Weblinks
Henriette-Davidis-Museum
Online-Biografie zu Henriette Davidis
Einzelnachweise und Anmerkungen
Sachbuchautor (Essen und Trinken)
Literatur (19. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch)
Person (Dortmund)
Person (Wetter (Ruhr))
Autor
Deutscher
Geboren 1801
Gestorben 1876
Frau
Lehrender (Essen und Trinken) |
183333 | https://de.wikipedia.org/wiki/LZ%20126 | LZ 126 | Der Zeppelin LZ 126, später als ZR-3 USS Los Angeles im Dienst der US-Marine, war ein Luftschiff, das in den Jahren 1923 bis 1924 in Friedrichshafen gebaut wurde und als das erfolgreichste US-amerikanische Starrluftschiff gilt. In Deutschland erhielt es den Beinamen „Amerikaluftschiff“ oder auch „Reparationsluftschiff“.
Entstehung und Bau
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begrenzten die Alliierten den deutschen Luftschiffbau auf kleine Luftschiffe und untersagten den Bau von Militärluftschiffen vollständig. Einzig die USA, die den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, waren weiterhin an einer Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit Deutschland interessiert. In den USA sahen sowohl das Heer als auch die Marine eine Zukunft für Starrluftschiffe als Fernaufklärer. Es gelang Hugo Eckener, dem Vorsitzenden der Zeppelin-Gesellschaft, den Auftrag der US-Regierung für den Bau eines großen Luftschiffes (ZR-3) nach Friedrichshafen zu holen. Zuvor war das in England in Auftrag gegebene Starrluftschiff R38, welches als US-amerikanisches ZR-2-Marineluftschiff vorgesehen war, im August 1921 noch vor seiner Übergabe auf einer Versuchsfahrt verunglückt.
Die Fertigung des Zeppelins wurde zudem im Rahmen der Reparationsleistungen für den Ersten Weltkrieg von Deutschland selbst finanziert. Die USA beanspruchten ursprünglich 3,2 Millionen Mark, da ihnen zwei Marineluftschiffe als Reparation entgangen waren, als diese durch ihre Mannschaften am 23. Juni 1919 selbst zerstört wurden. Der Auftrag über LZ 126 wurde am 26. Juni 1922 an die Luftschiffbau Zeppelin GmbH vergeben. Die Zeppeliner bestanden unter anderem auf der Bedingung, dass das Luftschiff von einer deutschen Besatzung auf dem Luftweg nach Amerika zur Übergabe gebracht werden sollte.
Um das alliierte Verbot für den Bau von Militärluftschiffen zu umgehen, erfolgte die Lieferung des Luftschiffes an die USA offiziell unter der Auflage einer ausschließlichen zivilen Nutzung. Dementsprechend wurde LZ 126 vom Ingenieur Ludwig Dürr für den kommerziellen Einsatz ausgelegt und konnte neben der 30-köpfigen Besatzung auch bis zu 30 Passagiere aufnehmen. LZ 126 war das erste Luftschiff überhaupt, das über Schlafmöglichkeiten für die Passagiere verfügte. Die Passagierabteile, die mit Zugabteilen vergleichbar waren, verfügten über herunterklappbare Liegen, wie sie aus Schlafwagen bekannt sind.
Die Kiellegung erfolgte am 7. November 1922. Im August 1924 wurde LZ 126 fertiggestellt. Die erste von mehreren Testfahrten innerhalb Deutschlands (München, Berlin) fand am 27. August 1924 von Friedrichshafen aus statt. Das Schiff war als erster Zeppelin mit einer Beschichtung versehen, die Aluminiumpartikel enthielt, um die Sonnenstrahlung zu reflektieren und so das Aufheizen des Traggases zu verringern. Sie ließ den gesamten Schiffskörper silbrig glänzen und so noch eleganter erscheinen. Zur Zeit seiner Fertigstellung war LZ 126 das größte Luftschiff der Welt.
Überführung
Als Kommandant startete Hugo Eckener am 12. Oktober 1924 um 06:35 Uhr persönlich zur Überführung des Luftschiffes nach Lakehurst, nachdem ein Start am Vortag wegen schlechten Wetters abgebrochen werden musste. Außerdem hatte man beim Auswiegen blinde Passagiere entdeckt. Ein Reporter vom International News Service und ein Fotograf vom International Newsreel hatten versucht, sich im Heck zu verstecken.
Die Zeppelingesellschaft musste mit ihrem gesamten Vermögen für LZ 126 haften, denn die Transatlantikfahrt galt als so großes Risiko, dass Eckener keine Versicherung für das Unternehmen gewinnen konnte. LZ 126 war erst das zweite Luftschiff, das den Atlantik überquerte. Nur der englischen R34 war bereits 1919 eine Hin- und Rückfahrt gelungen. Für die Fahrt hatte Eckener seine fähigsten Leute ausgewählt, unter ihnen beispielsweise Anton Wittemann als Navigationsoffizier, welcher seine Erinnerungen an den Überführungsflug auch schriftlich veröffentlichte. Fünf der Wachoffiziere aus der insgesamt 27-köpfigen Besatzung besaßen ein Luftschifferpatent. Als Passagiere waren vier Offiziere der US-Marine und des Heeres an Bord, die später für den Einsatz des Schiffs in den USA verantwortlich sein sollten.
Die Fahrt führte über die Gironde, die Nordwestecke Spaniens und die Azoren, wo über Angra do Heroísmo Post abgeworfen wurde, bis zur Atlantikmitte. Dort traf das Luftschiff auf ein Tiefdruckgebiet mit starken Südwest-Gegenwinden, das Eckener veranlasste, es nördlich zu umgehen. Östlich von Halifax stieß man dann auf Ostwinde, die das Schiff über die Neufundlandbänke und um vier Uhr morgens über Boston schnell voranbrachten. Während der Überquerung kam es zu keinen größeren Zwischenfällen.
Am 15. Oktober wurden die erfolgreichen Luftschiffer nach einer Fahrzeit von 81 Stunden und zwei Minuten und 8050 Kilometern bei der wohlbehaltenen Ankunft in Lakehurst von der US-amerikanischen Bevölkerung begeistert begrüßt. Als das Schiff kurz zuvor über dem New Yorker Hafen kreiste, ertönten sämtliche Schiffs- und Feuerwehrsirenen. Tausende Menschen hatten sich auch an der Luftschiffhalle eingefunden.
Später wurden die Luftschiffer, für die auch eine Konfettiparade auf dem Broadway veranstaltet wurde, von Präsident Calvin Coolidge offiziell im Weißen Haus empfangen. Die Ablieferungsfahrt erhielt so nachträglich den Charakter einer Friedensmission im Sinne einer Wiederaussöhnung zwischen Deutschland und den USA nach dem Ersten Weltkrieg.
Taufe und Indienststellung bei der US-Marine
Das Schiff wurde am 15. November 1924 zum Marine-Luftstützpunkt Washington Navy Yard gebracht. Dort taufte die Präsidentengattin Grace Coolidge, die mit den Worten „Weil es wie ein Friedensengel zu uns kam“ zitiert wird, LZ 126 in ZR-3 USS Los Angeles um. ZR stand für das englische: Zeppelin rigid, zu deutsch: Zeppelin Starrluftschiff. Unter dieser Bezeichnung wurde LZ 126 als drittes Starrluftschiff der US-Marine in Dienst gestellt.
Das von den Zeppelin-Werken verwendete Wasserstoff-Traggas wurde gleich nach der Übernahme des Schiffes durch die US-Amerikaner gegen Helium ausgetauscht. Das Helium war zu diesem Zeitpunkt noch so rar und kostbar, dass das Luftschiff ZR-1 USS Shenandoah einen Großteil der bis dahin von den USA als einzigem Produzenten gewonnenen Heliummenge enthielt: knapp 1,8 von insgesamt rund 2,4 Millionen Kubikfuß. Daher musste das ältere Starrluftschiff seine Füllung zunächst an die USS Los Angeles abgeben. Tausend Kubikfuß (ca. 28 m³) kostete die USA 1922/23 noch etwa 120 US-Dollar. Auch wenn die Produktionskosten in den Folgejahren weiter deutlich sanken, auf 47 $ 1925 und 34 $ 1926, war das immer noch ein Vielfaches des Wasserstoffpreises.
Die Heliumfüllung erhöhte zwar die Sicherheit des neuen Schiffes deutlich, reduzierte allerdings zusätzlich zu den höheren Kosten seine Nutzlast und Reichweite. Weiterhin wurde eine Ballastwassergewinnungsanlage eingebaut, die Wasser durch Kondensation der Abgase gewinnen sollte.
Betrieb
Das neue Luftschiff wurde von der Marine als fliegendes Laboratorium sowie als Schul- und Versuchsluftschiff verwendet, um die kommerziellen und militärischen Möglichkeiten von Großluftschiffen auszuloten und neue Taktiken für Luft- und Seestreitkräfte zu erarbeiten.
Am 24. Januar 1925 diente die USS Los Angeles als Sonnenobservatorium für eine Gruppe von Wissenschaftlern, die eine totale Sonnenfinsternis ohne Störeinfluss möglicher Wolken beobachten und fotografieren wollten.
Schon in den ersten Monaten ihres Betriebs unternahm die USS Los Angeles mehrere Fahrten nach Bermuda (20. Februar – 22. Februar 1925) und Puerto Rico im Mai 1925. Ebenso gelang der Versuch, an einem sich auf dem Schiff USS Patoka befindlichen Ankermast anzulegen. Insgesamt sollte ZR-3 44 Mal an der Patoka festmachen. Eine Fahrt nach Minneapolis am 6. Juni 1925 wurde wegen eines Motorschadens abgebrochen. Bei der folgenden Revision traten noch mehr Mängel zutage. Die Gaszellen waren bereits porös geworden und mussten ersetzt werden. Auch das Gerippe zeigte Schädigungen. Das im Kühlwasser der Motoren als Frostschutz verwendete Calciumchlorid verursachte Korrosion an den Aluminiumträgern. Das Schiff verblieb für die Umbauarbeiten im Hangar von Lakehurst und übergab sein Traggas vorübergehend wieder an die USS Shenandoah. Nach deren Verlust am 3. September verzögerte sich die Wiederaufnahme der Fahrten der Los Angeles bis zum März 1926, da unter anderem die Heliumvorräte durch das Unglück knapp geworden waren.
Das Luftschiff wurde auch benutzt, um Mitte 1926 die damals neuen Funk-Kompassstationen an der Ostküste der USA zu kalibrieren. Sie sollten den Schiffen die Navigation beim Erreichen der nordamerikanischen Küste erleichtern.
Am 25. August 1927 vollführte die Los Angeles am 49 Meter hohen Ankermast in Lakehurst unfreiwillig ein in der Geschichte der Großluftschiffe einzigartiges Manöver. Als aufkommender Wind das Heck des am Bug verankerten Schiffes etwas anhob, geriet es in eine kältere und dichtere Luftschicht und begann durch den Auftriebsgewinn unaufhaltsam weiter aufzusteigen. Obwohl die Mannschaft die Lage sofort durch Gewichtsverlagerung zu kompensieren versuchte, konnte das Schiff erst wieder ausbalanciert werden, nachdem es, fast senkrecht in der Luft stehend, einen „Kopfstand“ vollführt hatte. Das Luftschiff wurde bemerkenswerterweise nur leicht beschädigt und es gab keine Verletzten. Es konnte bereits am nächsten Tag wieder in Betrieb gehen. Dieser Vorfall führte noch am selben Tag zu der Entscheidung der Abkehr vom Konzept des Hochmastes für Luftschiffe zugunsten niedrigerer Konstruktionen.
Am 28. Januar 1928 wurde eine Landung auf dem Flugzeugträger USS Saratoga durchgeführt. Ein einmaliger Test, bei dem Passagiere, Kraftstoff und Wasser transferiert wurden. Am 20. Februar 1928 führte ZR-3 den ersten Nonstop-Flug über 3650 km von New York zum Panama-Kanal durch und kehrte einige Tage später mit Zwischenstopps in Kuba und an der USS Patoka zurück.
Am 3. Juni 1929 gelang es der USS Los Angeles, ein Flugzeug im Fluge aufzunehmen und wieder abzusetzen. Ähnliche Versuche hatte es in Deutschland und England bereits zur Zeit des Ersten Weltkriegs gegeben. Dies geschah bei einer Geschwindigkeit von etwa 90 km/h in einer Höhe von etwa 760 m in der Nähe von Lakehurst. Das Flugzeug vom Typ UO-1 hakte sich in ein unter dem Schiff befestigtes Trapez ein. Es wurden daraufhin noch weitere erfolgreiche Tests durchgeführt. Im Jahr darauf wurde ein Segelflugzeug mit der gleichen Technik von der Los Angeles abgesetzt. Die Versuche dauerten noch bis in den Oktober 1931 hinein. Damit war bewiesen, dass Luftschiffe in der Lage waren, auch ohne selbst zu landen, Fracht und Passagiere von und an Bord zu bringen. Auf diese Tests folgte auch der Bau von speziellen Kampfflugzeugen, mit denen die neuen Luftschiffe der US-Marine (ZRS-4 und 5) ausgerüstet wurden.
Nach der Erfindung des Echolots und der erfolgreichen Erprobung in der Schifffahrt wurde die Anwendung in der Luftfahrt bei Versuchsfahrten mit der ZR 3 erprobt. Die Zeppelinwerft urteilte:
Nachdem die alliierten Beschränkungen für militärische Luftschiffe aufgehoben worden waren, nahm die Los Angeles ab dem Februar 1931 als erstes Luftschiff seit 1925 wieder an einem großen Manöver der Marine vor Panama teil. Sie durfte nun auch Waffen tragen und von Offizieren in Militäruniformen geführt werden. Später operierte sie eine Zeit lang zusammen mit dem neuen und größeren Starrluftschiff ZRS-4 USS Akron.
Außerdienststellung
ZR-3 wurde am 30. Juni 1932, obwohl voll einsatzfähig, aus wirtschaftlichen Gründen außer Dienst gestellt, jedoch weiterhin für Versuche am Boden verwendet. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die ZRS-4 USS Akron bereits im Dienst und das Schwesterschiff, die ZRS-5 USS Macon, im Bau. Das Schiff wurde anfangs so aufbewahrt, dass es innerhalb von 30 Tagen wieder lufttüchtig gemacht werden konnte.
Am 6. Januar 1939 wurde beschlossen, das Schiff für weitere Tests, jedoch ausschließlich am Boden zu verwenden und es anschließend abzurüsten. Im Juni wurde ein Teil der Hülle entfernt, um Einblicke in das Innere zu ermöglichen und das Luftschiff zur Besichtigung freigegeben. Vom 20. Juni bis zum 8. September, als durch Präsident Roosevelt ein begrenzter nationaler Notstand (limited national emergency) ausgerufen worden war und alle Stützpunkte für Besucher geschlossen wurden, hatten sich bereits 44.871 Besucher in das Gästebuch eingetragen.
Am 24. Oktober 1939 wurde ZR-3 USS Los Angeles von der Liste der US-Marine-Schiffe gestrichen. Daraufhin begann umgehend die Verschrottung, die sich bis zum 15. Dezember hinzog.
Insgesamt legte die USS Los Angeles in ihrer sieben Jahre und acht Monate dauernden Dienstzeit (der längsten eines US-Starrluftschiffes) bei 331 Fahrten in 4398 Flugstunden 345.000 km zurück. Sie war das erfolgreichste Luftschiff der USA und das einzige der fünf US-amerikanischen Starrluftschiffe, dessen Einsatz nicht durch einen Unfall beendet wurde.
Technische Daten
(nach dem Stand von 1924)
Einzelnachweise
Literatur
Siegfried Borzutzki: LZ 126 ZR III „U.S.S. Los Angeles“. Eppe, Bergatreute 1998, ISBN 3-89089-055-5.
Peter Kleinheins: Die großen Zeppeline. VDI, Düsseldorf 1985, ISBN 3-18-400687-5 (u. a. Nachdrucke von Publikationen Ludwig Dürrs).
Anton Wittemann: Die Amerika-Fahrt des Z.R.III. Mit dem Luftschiff über den Atlantischen Ozean. Die Geschichte des gesamten Zeppelinbaues. Amsel, Wiesbaden 1925.
Bruno Pochhammer (Hrsg.) Logbuch ZR III. Fischer, Freiburg 1924.
John Provan: LZ-127 „Graf Zeppelin“ – The story of an airship, Amazon Kindle ebook, 2011, englisch, 2 Bände, Tabellenteil der Fahrten von LZ 126/ZRIII und LZ 127.
Weblinks
(englisch)
(englisch)
Bericht über die Atlantiküberquerung des LZ 126, eine Rede (7. September 1925) von Hugo Eckener
3D-Bilder von LZ 126
Zeppelin
Luftschiff
Militärluftschifffahrt (Vereinigte Staaten)
Erstflug 1924 |
213055 | https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner%20Blau | Berliner Blau | Berliner Blau ist ein lichtechtes, tiefblaues, anorganisches Pigment, das als luft- und wasserstabiler Feststoff vorliegt. Es handelt sich um einen Komplex, in dem Eisenionen in den Oxidationsstufen +2 und +3 vorliegen und über das Cyanid-Anion ([C≡N]−) verbunden sind. Das wesentliche Strukturelement des Berliner Blaus ist die Sequenz Fe(II)-[C≡N]-Fe(III) in einem dreidimensionalen, polymeren Gerüst.
Berliner Blau kommt in einer als „unlöslich“ und einer als „löslich“ bezeichneten Form vor, wobei die Struktur der beiden gleich ist. Die allgemeine Summenformel lautet Mnm+[Fe(III)Fe(II)(CN)6]3 · 15 H2O. Es handelt sich um ein kubisch flächenzentriertes Gitter, in dem beim löslichen Berliner Blau Alkali- oder Ammoniumionen die Plätze in den Oktaederlücken des Gitters einnehmen (M = Na, K, NH4; n = 3, m = 1) und der Ladungskompensation des Komplexes dienen. Beim unlöslichen Berliner Blau übernehmen Eisen(III)-Ionen diese Funktion (M = Fe, n = 1, m = 3). Dabei liegen die löslichen Varianten in wässriger Lösung in Form kolloidaler Lösungen vor, es handelt sich nicht um eine echte Löslichkeit unter Dissoziation der Verbindung.
Der Berliner Farbenhersteller Johann Jacob Diesbach stellte um 1706 erstmals Berliner Blau her. Es erlangte sofort kommerzielle Bedeutung als Pigment für die Ölmalerei und die Färbung von Stoffen. Durch die Veröffentlichung der Rezeptur im Jahr 1724 nahmen mehrere Firmen die Herstellung von Berliner Blau unter vielen weiteren Namen auf.
Berliner Blau gilt als die erste synthetische Koordinationsverbindung. Seine tiefblaue Farbe verdankt es Metall-Metall-Charge-Transfer-Übergängen, die im gelb-roten Bereich Strahlung absorbieren und das blaue Licht als Komplementärfarbe reflektieren.
Die Namen Blausäure und Cyanid (von „dunkelblau“) leiten sich von der Farbe des Berliner Blaus ab. Die Bezeichnung Prussiate, bei denen ein Cyanidoligand im Komplex durch einen anderen Liganden ersetzt ist, etwa Nitroprussid, leitet sich von der Bezeichnung Preußischblau ab. Berliner Blau ist der Namensgeber für die sogenannten Berliner-Blau-Analoga, eine Klasse mikroporöser anorganischer Feststoffe mit einer breiten Palette von katalytischen, elektronischen, optischen und magnetischen Eigenschaften. Auch über dreihundert Jahre nach der Erstsynthese ist Berliner Blau ein Forschungsobjekt, über das in jedem Jahr viele wissenschaftliche Artikel veröffentlicht werden.
Aufgrund seiner einfachen Herstellung aus einer Lösung von Eisen(III)-Salz und gelbem Blutlaugensalz wird es vorwiegend als preiswertes Farbmittel verwendet. Berliner Blau ist praktisch ungiftig und wird als Gegenmittel bei Vergiftungen mit radioaktivem Caesium oder Thallium eingesetzt. Die Therapie nutzt die Ionenaustauscheigenschaften und die hohe Affinität der Verbindung für bestimmte Metallkationen. Es steht auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation, die in einem Gesundheitssystem benötigt werden.
Nomenklatur
Berliner Blau wurde unter vielfältigen Bezeichnungen angeboten. Die Bezeichnungen nehmen Bezug auf die Namen der Erfinder oder Hersteller, die Herstellungsorte, die Farbnuancen, die Anwendungen oder die chemischen Komponenten und Verfahren. Die Varianten können sich im Farbstich unterscheiden. Alle Namen bezeichnen blaue Pigmente auf Basis des Fe(II)/Fe(III)-Cyanidokomplexes und unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung nur unwesentlich. Die Art und Menge der verwendeten Alkalimetall- oder Ammoniumionen beeinflusst die Hervorbringung bestimmter Farbnuancen. Historisch wurde das Pigment als Blausalz in den Handel gebracht. Im Colour Index wird Berliner Blau als C.I. Pigment Blue 27 nach der Farbe und nach der Struktur als C. I. 77510 für kaliumdotiertes Eisenblau beziehungsweise C.I. 77520 für das Ammonium-Natrium-Eisenblau geführt.
Diesbachblau ist nach dem Namen des eigentlichen Erfinders benannt. Turnbulls Blau wurde 1828 durch John Turnbull jr. entwickelt und über die schottische Firma Turnbull & Ramsay in Glasgow vertrieben. Es handelt sich bei Turnbulls Blau um ein aus rotem Blutlaugensalz mit überschüssigen Eisen(II)-Ionen gebildetes Blaupigment. Die Gewinnung erfolgt durch das Umsetzen von Eisen(II)-Salzen mit Kaliumhexacyanidoferrat(III) in wässriger Lösung. Zunächst wurde angenommen, dass der sich bildende dunkelblaue Niederschlag eine andere Zusammensetzung als das durch Umsetzen von Eisen(III)-Salzen mit Kaliumhexacyanidoferrat(II) (gelbes Blutlaugensalz) gewonnene Berliner Blau aufwies. Mittels EPR- und Mößbauerspektroskopie konnte jedoch festgestellt werden, dass die Reaktionsprodukte weitgehend identisch sind, da folgendes Gleichgewicht besteht:
Miloriblau bezeichnet gekochte Sorten des Pigments, die einen etwas wärmeren rotstichigen Farbton aufweisen und erstmals von der Firma Milori de France hergestellt wurden. Diese hatte nach Diesbach ein Blaupigment auf einem anderen Verfahrensweg gewonnen, das im Vergleich zum Preußischblau etwas schwächer in seiner Farbstärke ist. Der Name Miloriblau hat sich bis heute erhalten. Vossenblau wurde nach der L. Vossen & Co G.m.b.H. bei Düsseldorf benannt, die ab 1905 exklusiv den Vertrieb durchführte.
Französischblau oder Pariser Blau bezieht sich auf den Firmensitz der Firma A. Milori. Preußisch Blau, auch Preußischblau, sowie Zwickauer Blau beziehen sich ebenfalls auf Produktionsstandorte.
Der Name Bronzeblau bezieht sich auf den bronzierenden roten Farbstich, der sich bei verschiedenen Bindemitteln zeigt. Insbesondere bezieht sich Bronzeblau auf den rötlichen Glanz der ungemahlenen, schwarzblauen Brocken.
Chinesisch Blau oder Chinablau hat seinen Namen von dekorativem Porzellan. Diese Produktionsvariante des Pigmentes ergibt die reinsten und brillantesten Farbtöne mit einem Grünstich. Es ergibt den besten Vollton und die höchste Deckkraft, allerdings hat es die härteste Struktur und den höchsten Ölbedarf. Sächsischblau bezieht sich auf die Farbe der Uniformen der sächsischen Armee, die mit Berliner Blau gefärbt wurden. Tonerblau oder Tintenblau bekam diesen Namen wegen der Nutzung zum Abtönen des rötlichen (braunen) Farbstichs von Ruß.
Aus der Struktur beziehungsweise Zusammensetzung des Pigments leiten sich die Namen Eisenblau, Eisencyanblau, Eisenhexacyanidoferrat, Stahlblau, Eisencyanürcyanid, Ferrozyanblau und Ferriferrocyanidblau sowie Stahlblau ab. Pottascheblau bezieht sich auf die Verwendung von Pottasche bei der Herstellung. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Kation des Komplexsalzes vorwiegend Kalium. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Preis von Pottasche stark anstieg, wurde das Ammoniumsalz mit gleich guten Eigenschaften hergestellt. Eisenblau bezeichnet auch ein altertümliches Pigment aus dem Mineral Vivianit.
Luisenblau, Modeblau, Wasserblau sind Produktnamen für abgewandelte Farbmittel in der Textilfärberei und mögen als Namen für Modefarben entstanden sein. Das rotstichigste Pigment ist Miloriblau, die grünstichigste Variante ist das Chinesisch Blau.
Im französischen Sprachraum sind die Bezeichnungen Bleu de prusse oder Bleu de Milori geläufig, im englischen Sprachraum die Bezeichnungen iron blue, toning blue oder Prussian blue.
Geschichte
Erste Synthesen
Wahrscheinlich um 1706 stellte Johann Jacob Diesbach, ein Berliner Farbenhersteller, erstmals Berliner Blau her. Die früheste bekannte schriftliche Nennung des Pigments erfolgt in einem Brief vom 31. März 1708, von Johann Leonhard Frisch an Gottfried Wilhelm Leibniz, den Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Im August 1709 benannte er das Pigment als Preußisch blau, im November desselben Jahres änderte er die Bezeichnung in Berlinisch Blau. Frisch war verantwortlich für die frühe Vermarktung des Pigments. Er behauptete von sich, das Pigment durch eine Säurebehandlung verbessert zu haben. Frisch ist der Verfasser der ersten Publikation zum Berliner Blau in Notitia Coerulei Berolinensis nuper inventi von 1710. Diesbach stand etwa ab 1701 in Frischs Diensten.
Neben Diesbach wird Johann Konrad Dippel mit der Erfindung in Verbindung gebracht. Wie verlässlich die entsprechende Angabe durch Georg Ernst Stahl und die damit verbundene Geschichte der ersten zufälligen Herstellung des Pigments ist, kann heute schlecht beurteilt werden. Demnach war Diesbach mit der Herstellung eines roten Farbstoffs beschäftigt, als ihm die Pottasche (Kaliumcarbonat) zur Ausfällung des Farbstoffs ausging. Von seinem Kollegen Johann Konrad Dippel ließ er sich deshalb einen Ersatzstoff geben (verunreinigt mit „Dippels Tieröl“), der jedoch entgegen seinen Erwartungen ein blaues Pigment ausfällte. Das Rezept konnte einige Zeit geheim gehalten werden, bis es schließlich der Engländer John Woodward 1724 in den Philosophical Transactions veröffentlichte. Die Informationen dazu hatte er vom Berliner Apotheker Caspar Neumann.
Verwendung in der Malerei und Textilfärbung
Berliner Blau diente anfangs als Pigment für Kunstmaler, die damit das relativ teure Ultramarin aus Lapislazuli ersetzten. Das 1709 durch Pieter van der Werff in Rotterdam geschaffene Gemälde „Die Grablegung Christi“ (Bildergalerie Sanssouci, Potsdam) stellt den frühesten bisher bekannten Nachweis der Verwendung des Pigments in der Malerei dar. Um 1710 wurde es von Malern am Preußischen Hof vielfach genutzt und erreichte Paris, wo es durch Antoine Watteau und später von seinen Nachfolgern Nicolas Lancret und Jean-Baptiste Pater verwendet wurde.
Ein von Pierre-Joseph Macquer entwickeltes Färbeverfahren, wobei das Berliner Blau mittels Gelben Blutlaugensalzes direkt auf der Woll-, Baumwoll- oder Seidenfaser abgeschieden wurde, verbesserte die Farbechtheit erheblich und führte ab den 1760er Jahren zu einem Aufschwung der Berliner-Blau-Produktion. Die Erfindung verschaffte Macquer die Berufung zum Generalinspektor der Färbereien. Die erhöhte Nachfrage führte zwischen 1756 und 1799 zur Gründung von elf Berliner-Blau-Fabriken in Deutschland. Die Fabriken deckten ihren Energiebedarf und die Versorgung mit Pottasche weitgehend durch die Verbrennung von Holz. Die Verarbeitung von tierischen Abfällen ging mit einer Geruchsbelästigung einher, die einen gewissen Abstand zur Wohnbebauung erforderte. Daher lagen diese Fabriken oft in der Nähe von Wäldern. Damit begann Mitte des 18. Jahrhunderts die anorganisch-chemische Produktion in Deutschland. Die industrielle Produktion von Berliner Blau beschrieb Theodor Fontane in seinem Roman Frau Jenny Treibel über eine Berliner Familie, die im Besitz großer Fabriken zur Produktion von Berliner Blau war. Vorbild dieser Literaturgestalt ist die Unternehmerfamilie Kunheim (Chemische Fabriken Kunheim u. Co. AG und ab 1925 Rhenania-Kunheim-Verein Chemischer Fabriken AG), mit der Fontanes Schwester Jenny Sommerfeld befreundet war.
Die Herstellung erfolgte unter weitgehendem Luftausschluss durch Pyrolyse stickstoffhaltiger tierischer Produkte wie Blut, Klauen oder Wolle in einer Schmelze von Pottasche bei einer Temperatur von etwa 900 bis 1000 °C in eisernen Gefäßen. Dabei bildete sich das Zielprodukt Kaliumcyanid, freigesetztes Ammoniak konnte zu Salmiak oder Hirschhornsalz weiter verarbeitet werden. Die Schmelze wurde in Wasser gelöst, wobei das Kaliumcyanid mit dem als Nebenprodukt vorhandenen Eisen(II)-sulfid zu gelbem Blutlaugensalz reagierte.
Export
Die Schwedische Ostindien-Kompanie exportierte 1759 zunächst geringe Mengen Berliner Blaus nach China und Indien. Ab 1775 wurden größere Mengen nach China exportiert und zehn Jahre später hatte sich der Export bereits vervierfacht.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde Berliner Blau von Holländern und Chinesen nach Japan exportiert, wo es Bero, Bero-Ai oder Beroin genannt wurde und im traditionellen japanischen Farbholzschnitt verwendet wurde. Die Japaner stoppten 1810 den Import aus China. Die Niederländer nahmen den Handel 1818, die Chinesen 1824 wieder auf. Berliner Blau lässt sich auf zwei japanischen Gemälden der Edo-Zeit, davon eines aus den 1760er Jahren und das andere aus dem Jahr 1817, nachweisen. Bekannte Werke wie die von Katsushika Hokusai ab 1830 geschaffene Serie 36 Ansichten des Berges Fuji verwenden oft Berliner Blau.
Moderne Entwicklungen
Der deutsche Pharmakologe Horst Heydlauf untersuchte 1968 die Wirkung von Berliner Blau als Mittel gegen Thalliumvergiftungen. Heydlauf zeigte, dass die Thalliumionen in das Gitter von Berliner Blau eingelagert werden und so vom Körper ausgeschieden werden können. Die Wirksamkeit wurde seitdem umfassend bestätigt. Der gleiche Effekt zeigte sich auch für Caesiumionen. Zum Einsatz von Berliner Blau als Gegenmittel kam es 1987 in Brasilien, als beim Goiânia-Unfall etwa 250 Personen mit radioaktivem Caesium-137 kontaminiert wurden, das aus einem entwendeten Strahlentherapiegerät eines stillgelegten Krankenhauses herausgebrochen worden war. Die Ärzte behandelten 29 stark kontaminierte Personen mit Berliner Blau, von denen 25 die Caesiumvergiftung überlebten.
Von Holocaustleugnern wurde in den 1980er und 1990er Jahren behauptet, dass das Fehlen von Eisenblau in den Gaskammern des KZ Auschwitz-Birkenau ein Beweis dafür wäre, dass dort keine Menschen mittels Zyklon B getötet wurden. Der Chemiker Richard Green stellte fest, dass in den dafür vorgelegten Gutachten wesentliche Einflüsse auf die Bildung von Eisenblau nicht beachtet wurden. Des Weiteren waren mit einer präzise kalibrierten Methode lösliche Cyanide in den Gaskammern nachweisbar. Vergleichsproben aus nicht begasten Gebäuden im KZ Auschwitz-Birkenau enthielten diese Cyanide nicht.
Moderne Forschungsrichtungen beinhalten unter anderem mit anderen Übergangsmetallen dotierte Analoga von Berliner Blau, deren magnetische und elektrochemische Eigenschaften, ihre Fähigkeit als Gasspeicher zu wirken, oder deren Ionenaustauscheigenschaften. Des Weiteren wird der Einsatz anderer Liganden untersucht wie etwa Dicyanamid oder größere Polycyanospezies wie Tetracyanochinodimethan.
Vorkommen
Berliner Blau gilt als das erste moderne Pigment, das in dieser Form nicht in der Natur vorkommt. Einer der Hauptbestandteile, das Kaliumhexacyanidoferrat(II), kommt dagegen als seltenes Mineral Kafehydrocyanit vor.
Gewinnung und Darstellung
Die Herstellung erfolgt, indem eine Lösung von Kaliumhexacyanidoferrat(II) mit einem in Wasser gelösten Eisen(III)-Salz oder eine Lösung von Kaliumhexacyanidoferrat(III) mit einem in Wasser gelösten Eisen(II)-Salz versetzt wird. So entsteht in beiden Fällen bei einem Molverhältnis von 1:1 das gleiche kolloidal gelöste „lösliche Berliner Blau“ („lösliches Turnbulls Blau“).
Erst bei Zugabe überschüssiger Eisen(III)- oder Eisen(II)-Ionen bildet sich ein blauer Niederschlag, der als „unlösliches Berliner Blau“ oder „unlösliches Turnbulls Blau“
bezeichnet wird und als Farbpigment verwendet werden kann. Der Partikeldurchmesser liegt je nach Herstellungsverfahren zwischen 0,01 und 0,2 μm. Die intensive blaue Farbe entsteht durch den Charge-Transfer-Übergang zwischen den Fe2+- und den Fe3+-Ionen.
Industrielle Produktion
Die direkte Reaktion wird in der Pigmentproduktion seltener benutzt. Dieser Reaktionsweg wird meist für die Herstellung von Präparaten genutzt. Eisen- und Hexacyanidoferrat-Ionen werden in Wasser vermischt.
Zunächst fällt kolloidales Berliner Blau aus, mit einem Überschuss von Eisenionen bildet sich Berliner Blau.
Die industrielle Produktion nutzt den indirekten Weg über den Umsatz zum sogenannten Berliner Weiß. Häufiger werden statt der kaliumhaltigen Rohstoffe die Ammoniumsalze genutzt.
Das erhaltene Berliner Weiß, der sogenannte Weißteig, wird mit Schwefelsäure bei 75–100 °C ausgezogen und mit Natriumdichromat oder Natriumchlorat oxidiert.
Das Produkt wird gewaschen und gefiltert oder abgepresst und bei 15 bis 30 °C getrocknet. Anschließend wird das Pigment auf die erforderliche Korngröße ausgerieben und verpackt. Das fertige Produkt enthält noch 4–7 % absorbiertes und hydratisiertes Wasser. Das sehr fein gemahlene Herstellungsergebnis ist das gut in Wasser dispergierbare und beständige „lösliche“ Berliner Blau. Unterschiedliche Nachbehandlungen ergeben eine breite Produktpalette für die angestrebten Einsatzzwecke. Eine weitere Behandlung mit anionischen, nichtionischen oder kationischen Tensiden kann zu einer drastischen Änderung von Ölbedarf, Struktur und Glanz führen.
Für das Pigment Berliner Blau werden bei der Bildung noch weitere Substanzen, wie Kaliumchlorid zugesetzt. Diese Substanzen beeinflussen die Fällung physikalisch und bilden im Filterkuchen lösliche Salze. Dadurch bilden sich keine kompakten Agglomerate. Für die Anwendung als Farbpigment sollte das anorganische Produkt „weich“ sein, mit diesem Fachbegriff ist feinkörnig gemeint. Ein „weiches“ Pigment lässt sich im Bindemittel leichter dispergieren.
Mitte der 1980er Jahre erreichte die Jahresproduktion von Berliner Blau in der westlichen Welt mit etwa 50.000 Tonnen pro Jahr einen Höhepunkt. Im Jahr 2012 betrug die Weltjahresproduktion nur etwa 10.000 Tonnen.
Historische Verfahren
Bei der Methode nach Diesbach werden Cochenilleschildläuse in Alaun und Eisensulfat gekocht. Anschließend wird das Pigment mit „Dippels Tieröl“, ein durch Trockendestillation von Tierkadaverteilen gewonnenes Öl, ausgefällt. Beim sogenannten Englischen Rezept werden gleiche Teile von Kaliumnitrat (Salpeter) und Kaliumtartrat (Backtriebmittel) in einem Schmelztiegel erhitzt. Nach Zugabe von getrocknetem Tierblut wird die Mischung weiter erhitzt. Die entstandene Masse wird mit Wasser gewaschen und mit Alaun und Eisensulfat vermischt. Eine Endbehandlung mit Salzsäure verändert die zunächst grünliche Farbe in tiefes Blau.
Eigenschaften
Physikalische Eigenschaften
Unter Inertgasatmosphäre zersetzt sich Berliner Blau beim Erhitzen über die Stufen der Dehydratisierung, gefolgt von einer Änderung der Kristallstruktur und anschließender Zersetzung. Bei 400 °C bildet sich eine monokline Berliner-Blau-Phase, bei höheren Temperaturen bilden sich verschiedene Eisencarbide. Bei Temperaturen über 700 °C zersetzen sich die Eisencarbide zu Zementit (Fe3C), metallischem Eisen und Graphit.
Durch Kristallstrukturanalyse konnte die Kristallstruktur des Berliner Blaus bestimmt werden. Dabei zeigte sich, dass das Wasser zum Teil koordiniert vorliegt, zum Teil in der Käfigstruktur des Berliner Blau eingelagert ist. Bei einer Temperatur von 5,6 K findet im Berliner Blau ein ferromagnetischer Phasenübergang statt.
Chemische Eigenschaften
Gegenüber schwachen Säuren ist Berliner Blau stabil. Der Cyanidoferratkomplex wird wegen des geringen Löslichkeitsproduktes nicht zerstört und Cyanid-Ionen werden nicht freigesetzt, so dass keine freie Blausäure entsteht.
[Fe(CN)]_6^{-4} <=> Fe^2+ + 6 CN^-
Durch Laugen wird das Pigment angegriffen, es bildet sich festes braunes Eisen(III)oxid-hydroxid und gelöstes Hexacyanidoferrat. Deshalb wird dieses Blaupigment nicht für Freskenmalereien eingesetzt.
Fe^{3+}[Fe^{3+}Fe^{2+}(CN)_6]_3 + 12 OH^{-} -> 4 Fe(OH)_3 + 3 [Fe^{2+}(CN)_6]^{4-}
Berliner Blau wird als die erste Koordinationsverbindung bezeichnet. Das wesentliche Strukturelement des Berliner Blau ist die Sequenz Fe(III)-NC-Fe(II) in einem dreidimensionalen polymerem Gerüst. Die Zuordnung der Oxidationsstufen Fe(II) zu einem Kohlenstoffoktaeder und Fe(III) zu einer Stickstoff-Wasser-Umgebung wurde durch eine Vielzahl von Infrarot-, Photoelektronen- und Mößbauerspektroskopischen Untersuchungen sowie Neutronenstreuungsstudien eindeutig nachgewiesen. Die Struktur besteht aus den Einheiten 3 Fe(II)C6, Fe(III)N6 und 3 Fe(III)N4O2. Der mittleren Abstand für Fe(II)–C wurde durch Röntgenstrukturanalyse mit 192 pm, der C–N-Abstand mit 113 pm und der Fe(III)–N-Abstand mit 203 pm bestimmt.
Elektronische Eigenschaften
Die intensive blaue Farbe des Berliner Blau ist bedingt durch sogenannte Metall-Metall-Charge-Transfer-Übergänge. Cyanid ist ein Ligand, der eine starke Ligandenfeldaufspaltung erzeugt und damit bei den Eisen(II)-Ionen im Gitter zur Ausbildung einer low-spin-Konfiguration mit Fe2+ (t2g)6(eg)0 und einem Gesamtspin von S = 0 führt.
Der Isocyanid-Ligand der Eisen(III)-Ionen führt zu einer schwächeren Ligandenfeldaufspaltung. Durch die Messung der magnetischen Suszeptibilität wurde nachgewiesen, dass die Fe(III)-Ionen in einer high-spin-Konfiguration Fe3+(t2g)3(eg)2 mit einem Gesamtspin von S = 5/2 vorliegen.
Durch Absorption von Licht erfolgt ein Übergang vom t2g-Orbital des Eisen(II) auf die t2g- und eg-Orbitale des Eisen(III). Die erforderliche absorbierte Energie dafür liegt im rot-gelben Bereich, das blaue Licht wird als Komplementärfarbe reflektiert.
Verwendung
Farbmittel
Die größten Mengen von Berliner Blau werden für chemische Beschichtungen, für Druckfarben (als ISO-Blau), Kohlepapier und in der Kunststoffindustrie eingesetzt. Eine geringere Menge wird bei der Papierherstellung zum Bläuen (Verringerung eines Gelbstiches) verwendet. In seinem Vollton ergibt dieses Pigment einen sehr dunklen, fast schwarzen Farbton; in dieser Form besitzt es eine Bedeutung für transparente Finishs auf Metallfolien, auch für Blechdruckfarben. Besonders geeignet ist die Eigenschaft im Zusammenhang mit Aluminiumpulver für glänzende Oberflächenbehandlungen. Berliner Blau wird als echtes Farbmittel zu Füllhaltertinten benutzt. Für die Kunststoffeinfärbung hat sich Berliner Blau sehr bei der Färbung von ND- und HD-Polyethylen bewährt. Bei der Papierherstellung werden wasserdispergierbare Typen allgemein eingesetzt, die als lösliches Eisenblau bezeichnet werden.
Das Pigment hat eine hervorragende Farbechtheit. Neben seiner Brillanz besitzt es ein hervorragendes Deckvermögen und eine hohe Farbstärke. Die Lichtechtheit von reinem Berliner Blau ist gut, bei gering pigmentierten Pastelltönen, etwa durch das Mischen mit einem weißen Pigment wie Bleiweiß oder Zinkoxid, verblasst es stark. Spektroskopische Untersuchungen führen diese Verblassung auf eine Reduktion der Eisen(III)-Ionen an der Oberfläche des Pigments durch Belichtung zurück.
Es blutet weder in Wasser, Ethanol oder Methylethylketon noch in unpolaren Mineralölen, Di-n-octylphthalat oder Leinölfirnis. Allerdings besitzt es nur eine geringe Alkalienbeständigkeit und ist gegen Säuren nur mäßig beständig. Die Wetterbeständigkeit ist stark von der Rezeptierung bestimmt.
Textilfärbung
Das Färben von Wolle, Baumwolle, Seide und Leinen wurde in zwei Schritten durchgeführt. Zunächst wurden die Textilien dazu mit einem Eisen(III)-Salz gebeizt. Dazu wurde oft Eisen(III)-sulfat mit verdünnter Salpetersäure in Wasser aufgelöst und die Textilien mehrere Stunden in der Beize gekocht. Durch diesen Vorgang zogen Eisen(III)-Ionen auf die Faser. Im zweiten Schritt wurden die Textilien in einer Lösung von gelben Blutlaugen gefärbt. Seide wurde mit einer ammoniakalischen Lösung nachbehandelt.
Kunst
Berliner Blau wird aufgrund seines feinen Korns und der daraus resultierenden Lasierfähigkeit sowie seiner großen Farbstärke bis heute für Aquarell-, Öl- und Druckfarben verwendet. In der Wandmalerei indes ist es unbrauchbar, da es durch die Bildung von Eisenoxiden rasch verbraunt. Maler wie Gainsborough, Canaletto, aber auch Impressionisten wie Monet oder Expressionisten wie Munch verwendeten es in der Ölmalerei. Maler am preußischen Hof, in Rotterdam und Paris verwendeten Berliner Blau bereits 1710 in großem Umfang. Das Gemälde Die Grablegung Christi von Pieter van der Werff aus dem Jahr 1709 gilt als das älteste Gemälde, bei dem Berliner Blau verwendet wurde.
Die Farbe wurde in der späten Edo-Zeit im japanischen Farbholzschnitt beliebt. Bekannt ist vor allem das von Katsushika Hokusai geschaffene Werk Die große Welle vor Kanagawa.
Das Pigment lässt sich ausreichend dispergieren und besitzt eine gute Thermostabilität. Abhängig von der Anwendung beträgt der Ölbedarf des Pigments zwischen 70 und 120 kg Öl für 100 kg Pigment. Da alle diese Blaupigmente aus den gleichen Rohmaterialien hergestellt werden, sind die Prozess- und Herstellungsbedingungen entscheidend für die Eigenschaften und den vorgesehenen Verwendungszweck. Eine häufige Anwendung findet Miloriblau in Kombination mit Chromgelb (C.I. Pigment Yellow 34) zum sogenannten Chromgrün. Durch die Farbstärke und Deckkraft des Berliner Blaus wird ein sehr gutes Grünpigment erhalten.
Medizin
In der Medizin wird Berliner Blau bei einigen Vergiftungen – insbesondere bei Verbindungen mit Caesium und Thallium – als Mittel zur Bindung des Giftes verwendet, das zusammen mit dem Pigment ausgeschieden wird. Die Wirksamkeit von Berliner Blau bei einer Thalliumvergiftung wurde durch mehrere Tierstudien belegt. Obwohl es dazu wenig Erfahrungen beim Menschen gibt, gilt Berliner Blau als Medikament der Wahl bei akuten Thalliumvergiftungen. Zur wirksamen Dekorporation von Thallium muss Berliner Blau über einen längeren Zeitraum eingenommen werden.
Berliner Blau wurde auch unter dem Handelsnamen Radiogardase beispielsweise nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl eingesetzt, um Tiere zu dekontaminieren, die radioaktives Caesium-137 aufgenommen hatten. Zum umfangreichsten Einsatz von Berliner Blau in der Geschichte der Nuklearunfälle kam es im Rahmen des Goiânia-Unfalls. Dabei wurde es sowohl zur Dekontaminierung von Menschen als auch von Oberflächen verwendet. Auf Graphenschaum abgeschiedenes Berliner Blau zeigte eine 99,5%ige Entfernungseffizienz für Caesium-137 aus kontaminiertem Wasser.
Intelligentes Glas
Zu den intelligenten Glastechnologien gehören elektrochrome Gläser, deren Lichtübertragungseigenschaften sich ändern, wenn Spannung angelegt wird. Berliner Blau erlaubt bei dieser Anwendung einen Farbwechsel von transparent zu intensivem Blau. Durch Anlegen einer Spannung an elektrisch leitenden Gläsern lässt sich Berliner Blau zum Berliner Weiß, K2[Fe(II)Fe(II)(CN)6] reduzieren und das Glas verliert seine Farbe. Durch Umpolung lässt sich der Vorgang umkehren.
Analytische Chemie
Die Reaktion zum Berliner Blau ist eine sehr empfindliche Methode für den Eisennachweis. In der analytischen Chemie ist deshalb die Berliner-Blau-Reaktion als Nachweis von Eisen (oder von Cyaniden) eine verbreitete Methode. Auf Grund der hohen Empfindlichkeit wegen der hohen Farbstärke ist diese in der Mikrochemie und als Tüpfelprobe geeignet. Dieser Nachweis wird in der Pathologie als Reaktion auf Eisen genutzt, um etwa Herzfehlerzellen oder eine Siderose zu diagnostizieren. Berliner Blau wird zum Nachweis von Hämosiderin im Urin verwendet, um die Diagnose eines Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangels zu bestätigen.
Die sogenannte Berliner-Blau-Methode dient zum Nachweis von Gesamtphenolen. Dabei wird rotes Blutlaugensalz durch Phenole zum gelben Blutlaugensalz reduziert, welches mit vorhandenen freien Eisen(III)-Ionen zum Berliner Blau reagiert. Der Vergleich der Extinktion der Proben bei einer Wellenlänge von 700 nm mit einem Standard ermöglicht die Bestimmung der Gesamtphenole.
Der Nachweis von Stickstoff in organischen Substanzen erfolgt durch einen Natrium-Aufschluss, wobei Natriumcyanid entsteht. Mittels nachfolgender Lassaigne-Probe, benannt nach dem französischen Chemiker Jean Louis Lassaigne, erfolgt der Nachweis des entstandenen Cyanids durch Bildung von Berliner Blau.
Sonstige Anwendungen
Bei der fotografischen Drucktechnik der Cyanotypie entsteht als Pigment unter UV-Licht aus grünem Ammoniumeisen(III)-citrat und Kaliumhexacyanidoferrat(III) Berliner Blau. Das Verfahren wurde bis ins 20. Jahrhundert als einfaches Verfahren verwendet, um Kopien von technischen Zeichnungen zu erstellen, die als Blaupausen bezeichnet werden. Die Technik der Blaupause wurde 1842 entdeckt. Eine erste Anwendung fand die Technik in dem Buch Photographs of British Algae: Cyanotype Impressions von Anna Atkins, einem botanischen Band, der 1844 veröffentlicht wurde und Bilder von Algen enthält.
In der Metallverarbeitung und im Maschinenbau wird Berliner Blau als Paste dünn auf Metallflächen aufgetragen (tuschieren), um die Qualität geschabter Flächen beurteilen zu können. Das Pigment wird heute im namensgleichen „Persischen Blausalz“ verwendet, einem Speisesalz, das als „absolut naturrein“ beworben wird, tatsächlich aber Berliner Blau enthält, das nach Ansicht der Tester von Stiftung Warentest „als Farbstoff in Lebensmitteln nichts zu suchen hat.“
Eine weitere Anwendung ist die Sichtbarmachung von Fingerabdrücken. Dabei können auf saugenden und elektrisch leitfähige Unterlagen kathodisch Berliner Blau auf dem Spurenträger abgeschieden werden.
Berliner Blau wurde als Komponente von Kirrfutter versuchsweise eingesetzt, um die Caesium-137-Belastung von Wildschweinen zu reduzieren. Diese betrug im Mittel etwa 522 Becquerel pro Kilogramm Muskelfleisch in einer Kontrollgruppe. Durch die Beifütterung mit Berliner Blau sank die Belastung um durchschnittlich 350 bis 400 Becquerel pro Kilogramm Muskelfleisch.
In der Weinherstellung dient die Blauschönung der Entfernung von Metallen wie Eisen, Kupfer und Zink. Dazu wird dem Wein Kaliumhexacyanidoferrat(II) zugesetzt, welches mit vorhandenen Eisenionen zunächst zu löslichem Berliner Blau reagiert. Dieses reagiert weiter zum unlöslichen Berliner Blau, wodurch sich nach einiger Zeit ein sogenannter Blautrub absetzt.
Berliner-Blau-Analoga
Die allgemeine chemische Formel für Berliner-Blau-Analoga kann als AlMn[M*m(CN)6] x H2O aufgefasst werden, wobei A einem Alkalimetall- oder Ammoniumion entspricht, M und M* stellen Übergangsmetallkationen dar. Berliner Blau und Berliner-Blau-Analoga sind poröse Koordinationspolymere, die als Strukturelement durch Cyanidoliganden verbrückte Übergangsmetallionen aufweisen. Die Metallzentren M und M* weisen oft verschiedene Oxidationsstufen auf. Die Berliner-Blau-Analoga eignen sich für verschiedene Anwendungen, darunter Gasspeicherung, Batterien sowie gezielte Arzneimittelfreisetzung im Körper. Der chinesische Akkumulator-Hersteller CATL hat 2021 die Serienfertigung von Natrium-Ionen-Akkumulatoren für 2023 angekündigt, die Lithium-Ionen-Akkumulatoren ersetzen könnten und bei deren Herstellung Berliner Blau eine entscheidende Rolle spielt.
Super-Berliner-Blau
Durch die Ersetzung von Eisen(III) durch ein Ion wie das Trimethylzinnion ((CH3)3Sn+) wird ein metallorganisches Polymer erhalten. Der Abstand zwischen den Eisen(II)-Ionen beträgt dabei etwa ein Nanometer und ist damit doppelt so groß wie beim Berliner Blau. Die Käfiggröße beträgt damit etwa ein Kubiknanometer. Mit Ferrocen bildet Super-Berliner-Blau eine Interkalationsverbindung. Das Gitter nimmt auch Gase wie Stickstoffdioxid auf und könnte damit eine industrielle Anwendung in der Rauchgasentstickung finden. Die Eisencyanidostruktur kann durch andere Systeme wie Rhodium(III)-Thiocyanat ([Rh(SCN)6]3-) ersetzt werden.
Sicherheitshinweise
Die Resorbierbarkeit von Berliner Blau unter physiologischen Bedingungen ist außerordentlich gering, da es praktisch unlöslich in Wasser und verdünnten Säuren ist. Es ist davon auszugehen, dass weder über die Haut noch über Atemwege oder Verdauungstrakt größere Mengen aufgenommen werden. Daher kann es als praktisch untoxisch eingestuft werden. Wird es über 250 °C erwärmt, verliert der Komplex Cyanidionen, die als giftiges, gasförmiges Dicyan freigesetzt werden.
Literatur
Alexander Kraft: Berliner Blau. Vom frühneuzeitlichen Pigment zum modernen High-Tech-Material GNT-Verlag 2019, ISBN 978-3-86225-118-6.
Hans-Peter Schramm, Bernd Hering: Historische Malmaterialien und ihre Identifizierung. o. V. Stuttgart, 1995. Reprint Ravensburg, 2000. ISBN 3-473-48067-3.
Andreas Ludi: Prussian blue, an inorganic evergreen. In: Journal of Chemical Education, 58 (12), 1981, S. 1013; doi:10.1021/ed058p1013.
Kurt Wehlte: Werkstoffe und Techniken der Malerei. Otto Maier Verlag, Ravensburg 1967, ISBN 3-473-48359-1 (früher: ISBN 3-473-61157-3).
Weblinks
Einzelnachweise
Eisenverbindung
Cyanidokomplex
Anorganisches Pigment
Antidot
Farbname
Arzneistoff |
230361 | https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20arme%20Heinrich | Der arme Heinrich | Der arme Heinrich ist eine mittelhochdeutsche Verserzählung von Hartmann von Aue. Sie entstand wahrscheinlich in den 1190er Jahren und gilt als vorletztes der vier epischen Werke Hartmanns.
Die kurze Versnovelle über einen hochadligen Ritter in Süddeutschland, der durch Gott mit Aussatz gezeichnet wird und nur durch das Herzblut einer sich freiwillig opfernden Jungfrau geheilt werden kann, verbindet höfische und geistliche Erzählmuster. Um 1200 gibt es kaum verwandte Erzählungen.
Inhalt
Nach einem kurzen Prolog, in dem der Erzähler sich selbstbewusst nennt und aus dem wir die meisten Informationen über Hartmann von Aue haben, beginnt die Geschichte: Heinrich, ein junger, fürstengleicher Freiherr von Ouwe im Schwabenland, verfügt über materiellen Reichtum und höchstes gesellschaftliches Ansehen. Er verkörpert alle ritterlichen Tugenden (êre, stæte, triuwe, milte) und höfisches Benehmen (zuht), wozu auch Fertigkeiten im Minnesang gehörten (und sanc vil wol von minnen, v. 71).
Aus diesem idealen Leben stürzt Heinrich, als Gott ihn mit Aussatz zeichnet und seine Umwelt sich in Ekel und Furcht von ihm abwendet. Im Gegensatz zum biblischen Hiob will Heinrich sich damit nicht abfinden und sucht Ärzte in Montpellier auf, von denen ihm aber keiner helfen kann. An der berühmten Schule von Salerno in Süditalien erfährt er von einem Arzt, dass es zwar ein Heilmittel gebe, das für Heinrich aber nicht zur Verfügung stehe: Nur das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter, die sich freiwillig für ihn opfere, könne Heinrich heilen. Verzweifelt und ohne Hoffnung auf Genesung kehrt der lepröse Ritter zurück, verschenkt den Großteil seines Gutes und zieht sich auf einen Meierhof zurück, der zu seinem Besitz gehört.
Dort wird die Tochter des Bauern zur zweiten Hauptfigur. Das Kind (nach Handschrift A ist sie acht, nach Handschrift B zwölf Jahre alt) hat keine Scheu vor Heinrich und seiner unheilbaren Krankheit und wird dessen anhängliche Begleiterin. Bald nennt Heinrich sie spielerisch seine Braut (gemahel).
Als sie nach drei Jahren erfährt, was für ihn das einzige Heilmittel sei, ist sie fest entschlossen, für ihn ihr Leben zu lassen. Sie will sich für Heinrich opfern, da sie glaubt, nur auf diesem Wege dem sündhaften Leben zu entkommen und möglichst bald im Jenseits das ewige Leben bei Gott führen zu können. Sie überzeugt ihre Eltern und Heinrich durch eine Rede, deren rhetorischer Schliff der Inspiration des Heiligen Geistes zugeschrieben wird, ihr Opfer als gottgewollt anzunehmen.
Heinrich und das Mädchen reisen nach Salerno. Als der Arzt, der dem Mädchen die Operation zuvor vergeblich auszureden versucht hat, dessen Herz herausschneiden will und Heinrich das nackt und festgebunden auf dem Operationstisch liegende Mädchen durch einen Spalt in der Tür sieht, schreitet er in letzter Sekunde ein. Im Vergleich ihrer Schönheit mit seinem entstellten Körper kommt ihm die Ungeheuerlichkeit des Unternehmens zum Bewusstsein. Durch diese plötzliche innere Umkehr (er gewinnt niuwen muot, v. 1235) akzeptiert er den Aussatz als Willen Gottes. Daraufhin verliert das Mädchen die Fassung; sie sieht sich um das ewige Leben gebracht, macht Heinrich schwere Vorwürfe, dass er sie nicht sterben lassen wolle, und schmäht ihn als Angsthasen.
Auf dem Rückweg gesundet Heinrich wundersam durch Gottes Fügung und kehrt gemeinsam mit dem Mädchen nach Hause zurück, wo beide trotz des Standesunterschieds heiraten. Heinrich kehrt in seine frühere gesellschaftliche Stellung zurück, und der Meier wird zum Freibauern. Heinrich und das Mädchen gewinnen beide die ewige Seligkeit.
Literaturgeschichtliche Einordnung
Der Arme Heinrich im Werk Hartmanns
Die Entstehungszeit des Armen Heinrich lässt sich nur sehr grob eingrenzen: Chrétiens de Troyes Erec et Enide, die französische Vorlage für Hartmanns ersten Roman Erec, war wahrscheinlich um 1165 bekannt. Man geht davon aus, dass Hartmann um 1180 als Autor in Erscheinung tritt.
Spätestens 1205/10 waren alle Versromane Hartmanns bekannt, denn Wolfram von Eschenbach nimmt im Parzival auf den Iwein Bezug, Hartmanns letzten Roman. In diesem zeitlichen Rahmen ist der Arme Heinrich als (vermutlich) vorletztes Werk einzuordnen.
Innerhalb der Werkchronologie Hartmanns gilt der Arme Heinrich aus stilistischen Gründen als drittes seiner vier großen erzählerischen Werke. Am Beginn seines epischen Schaffens steht der Artusroman Erec, gefolgt von der legendenhaften Erzählung Gregorius. Als letztes Werk gilt Hartmanns zweiter Artusroman Iwein, der möglicherweise aber schon kurz nach dem Erec begonnen und erst später vollendet wurde. Nicht einzuordnen sind Hartmanns Minne- und Kreuzlieder, die kurze Versdichtung Das Klagebüchlein wird allgemein vor den vier Romanen Hartmanns angesetzt.
Stoff und Quelle
Hartmann spricht im Prolog von Erzählungen, die er in Büchern gefunden habe und nun neu erzählen wolle. Solche Quellen haben sich indes weder in der deutschen, noch der französischen oder lateinischen Literatur des Mittelalters gefunden, so dass man davon ausgehen muss, dass diese Quellenberufung fiktiv ist und die Dignität der Erzählung unterstreichen soll. Die im 14. und 15. Jahrhundert überlieferten lateinischen Erzählungen Henricus pauper und Albertus pauper sind wahrscheinlich keine Quellen Hartmanns, sondern gehen auf dessen Erzählung zurück.
Eine Motivtradition wird im Text direkt angesprochen: In der Bibel ist es Ijob, der von Gott mit Aussatz geprüft wird. Zu den Erzählungen von der übernatürlichen Heilung eines am Aussatz Erkrankten zählen auch die Silvesterlegende, in der Konstantin der Große geheilt wird, und die Erzählungen von Amicus und Amelius oder der Engelhard Konrads von Würzburg.
Deutungsansätze
Die schlechte Überlieferungslage hat zu manchen Unklarheiten geführt, die vor allem das namenlose Bauernmädchen betreffen. Handschrift A gibt ihr Alter mit acht Jahren an, als Heinrich an den Meierhof kommt, in Handschrift B sind es dagegen zwölf Jahre (v. 303). Unklar ist auch, ob das Mädchen, das sich opfern muss, erbære („ehrbar“) und manbære („heiratsfähig“) (Handschrift A, v. 225 und 447) oder vrîebære („heiratsfähig“) und verbære (?) (Handschrift B) sein muss. Das Fragment E fordert eine maget, die volle manbere sei („eine mannbare, d. h. heiratsfähige Jungfrau“, v. 225).
Auf zentrale Fragen, die die Erzählung offenlässt, hat die Forschung keine eindeutigen Antworten gefunden. Dies betrifft insbesondere den Grund, weshalb Gott Heinrich mit dem Aussatz zeichnet: Einerseits kann hierin eine Strafe für Heinrichs weltbezogenes Leben gesehen werden – so versteht Heinrich die Krankheit selber und auch ein Abschalom-Gleichnis zu Beginn der Erzählung spricht für diese Lesart. Andererseits kann der Aussatz als Prüfung Gottes interpretiert werden – dafür spricht der Vergleich mit Hiob, der vom Erzähler gezogen wird. Anders als dieser nimmt Heinrich die Prüfung jedoch zunächst nicht an, sondern sucht Heilung und verzweifelt anschließend.
Ein anderes Problem stellt die Rolle des Mädchens dar. Dass sie namenlos bleibt, rückt sie in eine untergeordnete Position, die dem Handlungsverlauf nicht entspricht. Der rhetorisch und theologisch geschulte zentrale Monolog, mit dem sie Heinrich und die Eltern überredet, ihr Opfer anzunehmen, wird der Eingebung des Heiligen Geistes zugeschrieben. Unklar bleibt ihre Motivation, also ob sie aus reiner Nächstenliebe handelt oder aus einem „Heilsegoismus“, durch den sie ihr eigenes Seelenheil erkaufen möchte, wie es mehrfach anklingt.
Das Mädchen tritt am Ende des Romans in eine Nebenrolle zurück, aber nicht, ohne durch die Heirat ständisch erhöht zu werden (mit den Worten Heinrichs: nû ist sî vrî als ich dâ bin, v. 1497). Die ständische Stellung der Protagonisten gibt überhaupt Rätsel auf. Das Leben des hochadligen Heinrich bei dem unfreien Bauern, der am Ende Freibauer wird, kann als gesellschaftliche Utopie gelesen werden; ebenso utopisch, nämlich in der Realität unmöglich, ist die Standeserhöhung eines Bauernmädchens zur legitimen Gattin eines Freiherrn. Es liegt nahe, die freie oder unfreie Geburt der Protagonisten, deren Thematisierung Hartmann offenkundig ein Anliegen ist, auch geistlich-allegorisch zu verstehen.
Auffallend ist die Namensähnlichkeit des fürstengleichen Freiherrn Heinrich von Aue mit Hartmann von Aue. Man hat darin eine verklärende Familiengeschichte gesehen, die den unfreien Ministerialenstand Hartmanns erklärt, da Heinrichs Heirat mit dem Bauernmädchen den Verlust des Adelsstandes für die Familie zur Folge gehabt hätte – allerdings schweigt Hartmann zu dieser Konsequenz. Als zweite Möglichkeit kommt in Frage, die Geschichte Heinrichs auf einen möglichen Gönner Hartmanns zu beziehen, doch wegen der Standesminderung ist dies weniger plausibel.
Das Gattungsproblem
Ein großes Problem der Forschung ist die Gattungszugehörigkeit des Armen Heinrich. Die relativ kurze Erzählung mit 1520 Versen steht einerseits der geistlichen Literatur nahe, der Legende, dem Exempel oder dem Mirakel, andererseits hat sie unverkennbar Elemente des höfischen Romans. Die religiösen Dimensionen dominieren die Erzählung deutlich, doch auch wenn Heinrich bekehrt und wunderbar geheilt wird, so wird er doch nicht zum Heiligen. Auffällig sind die Analogien zur Form des Erlösungsmärchens, dem allerdings sonst die hier dominierende religiöse Thematik fehlt.
Da Charakteristika beider Texttypen im Armen Heinrich erkennbar sind, muss man ihm eine Sonderform als höfische Mirakelerzählung einräumen. Um das Problem der Gattungszuweisung zu umgehen, behilft man sich mit neutralen Benennungen, wie Kleinepik oder kurze Reimpaardichtung.
Häufig wird dem Armen Heinrich ein novellistischer Charakter zugesprochen und er als Versnovelle bezeichnet, obwohl der Begriff der Novelle üblicherweise erst für kürzere Erzählungen ab dem Spätmittelalter oder der Renaissance verwendet wird. Überhaupt steht der Arme Heinrich vor 1200 fast ganz singulär da, nur der anonyme Moriz von Craûn gehört noch diesem Literaturtypus der Kleinepik an. Erst der Meier Helmbrecht Wernhers des Gartenære aus der Mitte des 13. Jahrhunderts ist dem Armen Heinrich deutlich verwandt.
Stil und Sprache
Hartmann von Aue schrieb, wie die anderen Klassiker der Stauferzeit, in der sogenannten „Mittelhochdeutschen Dichtersprache“, der ersten hochsprachlichen Bildung der deutschen Sprachgeschichte.
Erst das Hochmittelalter kennt eine beabsichtigte schriftsprachliche Einheitsform des Deutschen, die sich über die Mundarten erhebt: das höfische Deutsch, das sogenannte „klassische“ Mittelhochdeutsch. Diese „höfische Dichtersprache“ war beschränkt auf die Dichtung (und damit „Sondersprache“) der höfischen Gesellschaft: sie war weiterhin kaum gesprochen (wenn sie auch die Basis abgab für die gehobenen Umgangssprache des Rittertums), also nicht Gemein-, sondern nur Schriftsprache.
Der rationale Charakter der Ethik Hartmanns reflektiert sich in Stil und Aufbau aller seiner Werke. Wortwörtlich stimmt das uns bekannte Werk wohl nicht mit dem von Hartmann überein, wurde das Werk doch unzählige Male abgeschrieben und dadurch verändert.
Rezeptionsgeschichte
Überlieferung
Die Überlieferung des Armen Heinrich ging auf anderen Bahnen vonstatten als die der umfangreicheren höfischen Romane, die gewöhnlich als Einzelabschriften ein Buch füllten. Die kurze Erzählung wurde dagegen immer im Rahmen von thematisch weitgespannten Textsammlungen tradiert. Alle drei vollständigen Abschriften des Armen Heinrich fanden sich in Kleinepik-Sammelhandschriften, die neben dem Armen Heinrich kürzere Reimpaarwerke enthalten (Mären, Bîspeln, Reimpaarreden und Spruchdichtung). Diese Textsorten waren Bearbeitungen gegenüber relativ offen, so dass auch der Arme Heinrich von Handschriften-Kompilatoren deutlich gekürzt und bearbeitet worden ist. Daraus erklären sich die konkurrierenden Versionen, auf die einige Probleme der Interpretation zurückgehen und die es schwierig machen, einen autornahen Text zu erstellen.
Neben den drei vollständigen Handschriften (Siglen: A, Ba, Bb) existieren Fragmente weiterer drei Exemplare des Texts. Alle Abschriften sind in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts zu datieren und im oberdeutschen Sprachraum anzusiedeln. Die Handschrift A aus dem Straßburger Johanniterkloster verbrannte 1870 beim Beschuss Straßburgs durch deutsche Truppen im Deutsch-Französischen Krieg, so dass man heute auf frühere Abdrucke zurückgreifen muss. Wie der Vergleich mit den Fragmenten beweist, kürzte auch diese Handschrift den ursprünglichen Text Hartmanns, bot aber dennoch den besten Überlieferungsträger. Auch die beiden anderen Handschriften (Ba und Bb) haben den ursprünglichen Text redaktionell bearbeitet. Beide Handschriften überliefern die gleiche Fassung, denn Bb wurde von Ba abgeschrieben.
Erst 1964/65 wurde das Fragment E gefunden und 1969 veröffentlicht. Die elf kleinen Pergamentstreifen waren im Kloster Benediktbeuern zur Abdichtung der Orgelpfeifen verwendet worden. Als Federprobe wurden sechs Verse in eine Handschrift des 13. Jahrhunderts mit Kommentaren zu Ovid und Cicero eingetragen (Handschrift F).
Außerdem wurde der Arme Heinrich ins Lateinische übersetzt und in zwei lateinische Exempelsammlungen des 14. Jahrhunderts aufgenommen.
Editionsgeschichte
Die ersten Editionen des Armen Heinrich waren diplomatische Abdrucke nach Handschrift A. Zum ersten Mal brachte ihn 1784 Christoph Heinrich Myller heraus. Goethe las eine Übersetzung Johann Gustav Gottlieb Büschings (Zürich 1810) mit „physisch-ästhetischem Schmerz“, da er das Thema des Aussatzes persönlich abstoßend fand, erkannte aber dennoch den Wert der Erzählung an. 1815 folgte eine kommentierte Ausgabe der Brüder Grimm mit einer Nacherzählung, die dem Text erstmals zu einer größeren Verbreitung verhalf. Der Stoff wurde von ihnen als alte deutsche „Volkssage“ angesehen. In der Folge entstanden zahlreiche Nachdichtungen und Neuausgaben in Stil der Volksbücher. Karl Lachmann legte 1820 eine weitere Edition des Straßburger Codex vor.
Die lange Zeit maßgebliche kritische Edition stammt von Moriz Haupt aus dem Jahr 1842, der als Erster alle Lesarten in einem textkritischen Apparat verzeichnete. Auf diese Edition stützte sich 1882 auch Hermann Pauls Ausgabe in der Altdeutschen Textbibliothek, die später von Albert Leitzmann, Ludwig Wolff, Gesa Bonath und zuletzt von Kurt Gärtner bearbeitet worden ist.
Einen Abdruck der beiden wichtigsten Handschriften mit einem kritischen Text im Parallelabdruck bot 1913 Erich Gierach. Eine weitere synoptische Edition der Handschriften A und B, mit den Fragmenten und einem daraus rekonstruierten Text legte 1974 Heinz Mettke vor.
Weitere Ausgaben legten Wilhelm Wackernagel (1855), Friedrich Maurer (1958), Friedrich Neumann (1961 mit der Nacherzählung der Brüder Grimm) und Helmut de Boor (1963) vor. Die letzte Edition brachte Volker Mertens 2004 in der Bibliothek deutscher Klassiker heraus. Einfache schwarz-weiß-Faksimiles der gesamten Überlieferung erschienen 1971 und 1973 in der Reihe Litterae.
Moderne Rezeption
Während der Arme Heinrich nur in wenigen mittelalterlichen Handschriften überliefert ist, so wurde er in moderner Zeit häufiger rezipiert als irgendein anderes Werk Hartmanns. Besonders Künstler der Romantik und des Fin de siècle waren von der Kombination der Motive Heiligkeit, Landidyll, Aussatz und Erotik fasziniert. Eine dramatische Darstellung des nackten Mädchens, das auf dem Operationstisch festgebunden ist, den Arzt mit seinem Messer daneben und Heinrich, der als Voyeur durch den Türspalt blickt, fehlte in keiner Illustration außer der zu den jugendfreien Bearbeitungen Gustav Schwabs.
Bekannt wurde der Arme Heinrich vor allem durch die Nachdichtung der Brüder Grimm, die unter anderem eine lange Ballade von Adelbert von Chamisso (1839) oder ein episches Drama des Amerikaners Henry Wadsworth Longfellow (The Golden Legend, 1851) anregte. Ins Englische übertragen wurde der Arme Heinrich von dem Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti. Auch Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Karl Simrock, Conrad Ferdinand Meyer, Rudolf Borchardt, Will Vesper und viele andere nahmen den Armen Heinrich produktiv auf, wobei alle literarischen Gattungen vertreten sind. Die bedeutendsten Bearbeitungen entstanden in der Zeit der literarischen Neuromantik durch Ricarda Huch mit ihrer Erzählung Der arme Heinrich aus dem Jahr 1899 (enthalten im Sammelband Fra Celeste) und Gerhart Hauptmann, dessen Drama „Der arme Heinrich“ 1902 uraufgeführt wurde.
Auch die erste Oper Hans Pfitzners ist eine Vertonung des Armen Heinrich nach einem Libretto von James Grun (1895). Unter den bildnerischen Darstellungen ragen ein Zyklus des Nazareners Joseph von Führich und Illustrationen von Ludwig Richter heraus.
Seit den 1920er Jahren verlor sich das Interesse an dem Stoff, der nun weit weniger rezipiert wurde als germanische Heldendichtungen. Dies änderte sich auch nicht in der Nachkriegszeit oder durch die Achtundsechziger, für die die gesellschaftliche Relevanz des Armen Heinrich zu gering war. Erst seit den 1990er Jahren rückte die Erzählung wieder stärker in den Blickpunkt. Zuletzt griffen Markus Werner (Bis bald, 1995; Der ägyptische Heinrich, 1999), der Dramatiker Tankred Dorst (Die Legende vom armen Heinrich, 1997), der Lyriker Rainer Malkowski (1997) und August Kötzke mit einer „Kammeroper“ den Armen Heinrich auf.
Literatur
Textausgaben
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. (= Reclam. 19131). Hrsg., übersetzt und kommentiert von Nathanael Busch und Jürgen Wolf. Reclam, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-019131-6. (Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch)
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. (= Reclam. 456). Hrsg. von Ursula Rautenberg, übersetzt von Siegfried Grosse. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-000456-X. (Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch)
Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. (= Bibliothek des Mittelalters. Bd. 6; Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 189). Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-618-66065-0.
Der arme Heinrich. (= Altdeutsche Textbibliothek. Bd. 3). Hrsg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 17. Auflage. Niemeyer, Tübingen 2001, ISBN 3-484-20061-8.
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Auf der Grundlage der Textedition von Helmut de Boor durchgesehen, übertragen. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Hermann Henne. Fischer, Frankfurt am Main 1963. (12. Auflage. 2000, ISBN 3-436-00763-3)
Wilhelm Wackernagel: ‚Der arme Heinrich‘ Herrn Hartmanns von Aue und zwei jüngere Prosalegenden verwandten Inhalts. Schweighauser, Basel 1855. (neu hrsg. von Ernst Stadler, ebenda 1911)
Bearbeitungen
Der arme Heinrich. Hörspiel nach der Verserzählung. Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen: Rainer Malkowski, Bearbeitung und Regie: Hans Gerd Krogmann. Mit Christian Berkel (Hartmann von Aue), Maximilian von Pufendorf (Heinrich), Valerie Koch (Mädchen), Michael Habeck (Bauer), Jennifer Minetti (Bäuerin), Mathias Lange (Arzt) und Helmut Brackert (mittelhochdeutsche Texte). Spieldauer: 56 Min., Produktion: SWR 2005.
Einführungen
Hinweis: Gute Einführungen zum Armen Heinrich bieten die Nachworte der Textausgaben von Volker Mertens und Ursula Rautenberg.
Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 2., überarb. Auflage. Beck, München 1998, ISBN 3-406-30309-9.
Hugo Kuhn, Christoph Cormeau (Hrsg.): Hartmann von Aue (= Reihe Wege der Forschung Bd. 359). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-05745-7 (Sammlung wichtiger älterer Aufsätze; Digitalisat in den Regesta imperii der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz).
Barbara Könneker: Hartmann von Aue. Der arme Heinrich (= Reihe Grundlagen zum Verständnis erzählender Literatur). Diesterweg, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-425-06044-9 (Digitalisat im Internet Archive).
Sekundärliteratur
Albrecht Classen: Herz und Seele in Hartmanns von Aue „Der arme Heinrich“. Der mittelalterliche Dichter als Psychologe? In: Mediaevistik. № 14, 2001, S. 7–30.
Corinna Dahlgrün: Hoc fac, et vives – vor allen dingen minne got. Theologische Reflexionen eines Laien im „Gregorius“ und in „Der arme Heinrich“ Hartmanns von Aue. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1991, ISBN 3-631-44036-7.
Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte. 3). 3. Auflage. München 2007, S. 142–159.
Gerhard Eis: Salernitanisches und Unsalernitanisches im „Armen Heinrich“ des Hartmann von Aue. In: Forschungen und Fortschritte. Band 31, Nr. 3, 1957, S. 77–81; auch in: Hartmann von Aue. (= Wege der Forschung. 259). Hrsg. von Hugo Kuhn und Christoph Cormeau. Darmstadt 1973, S. 135–150.
Sabine B. Elias: Thema in Variationen, der „arme Heinrich“ und das Problem der Schuld. Bei Hartmann von Aue, Ricarda Huch und Gerhart Hauptmann. National Library of Canada, Ottawa 1985, ISBN 0-315-13297-3.
Andrea Fiddy: The presentation of the female characters in Hartmann's „Gregorius“ and „Der arme Heinrich“. Kümmerle, Göppingen 2004, ISBN 3-87452-966-5.
Andreas Hammer, Norbert Kössinger: Die drei Erzählschlüsse des ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Band 141, Heft 2, 2012, S. 141–163.
Joseph Klapper: Die Legende vom Armen Heinrich. Nischkowsky, Breslau 1914 ()
Wilhelm Kolz: Der Gradusgedanke im Armen Heinrich. In: Zeitschrift für deutsche Bildung. Band 3, 1927, S. 595–601.
Volker Mertens: Noch einmal: Das Heu im „Armen Heinrich“ (E73/B143). In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Band 104, 1975, S. 293–306.
Barbara Schmidt-Krayer: Kontinuum der Reflexion. Der arme Heinrich. Mittelalterliches Epos Hartmanns von Aue und modernes Drama Gerhart Hauptmanns. Kümmerle, Göppingen 1994, ISBN 3-87452-840-5.
Hermann Tardel: „Der arme Heinrich“ in der neueren Dichtung. Gerstenberg, Hildesheim 1978, ISBN 3-8067-0620-4.
Weblinks
Der arme Heinrich. Volltext in der Bibliotheca Augustana
Handschriftencensus im Marburger Repertorium (Verzeichnis der Handschriften)
E-Texte und Abbildungen der Handschriften
Der arme Heinrich als mittelhochdeutsches Hörbuch (kostenlos)
Hartmann von Aue: Der Arme Heinrich. Elektronische Ausgabe. Hrsg. von Gustavo Fernández Riva und Victor Millet, unter Mitarbeit von Jakub Šimek, mit Übersetzungen von Dietmar Peschel, Heidelberg 2018 (doi:10.11588/edition.ahd) – Eine kritische Textedition mit weiterführenden Informationen.
Anmerkungen
Literarisches Werk
Literatur (12. Jahrhundert)
Literatur (13. Jahrhundert)
Literatur des Mittelalters
Literatur (Mittelhochdeutsch)
Legende
Hartmann von Aue |
282379 | https://de.wikipedia.org/wiki/Passwang | Passwang | Der Passwang, früher auch Barschwang (solothurnerdeutsch Ba(r)schwang [], []), ist ein Bergkamm auf dem Gemeindegebiet von Mümliswil-Ramiswil im Solothurner Jura, Schweiz. Hauptgipfel des Bergkamms ist der Vogelberg Der Passwang grenzt im Nordwesten und Norden an die solothurnische Gemeinde Beinwil und an Lauwil im Kanton Basel-Landschaft. Über den Passwang führt der gleichnamige Gebirgspass mit einer Strasse, die mit einer Passhöhe von über Mümliswil und Beinwil die südlichen Teile des Kantons Solothurn mit dem Schwarzbubenland verbindet. Die heutige Passhöhe liegt in einem kurzen Tunnel. Rund 700 Meter östlich des nördlichen Tunnelportals liegt die Passwanghöhe () und weitere 150 Meter östlich Mittler Passwang, mit der natürliche und historische Pass über den Bergkamm. Der Passwang gilt auch als Aussichtspunkt.
Name
Der Name ist erstmals um 1480 als boswand und boschwand bezeugt, später unter anderem als Porschwand (erstmals 1521), Baschwang (erstmals 1582), Barschwang (erstmals 1716). Noch das Geographische Lexikon der Schweiz führt seinen Artikel über den Passwang (1905) unter dem Lemma Passwang oder Barschwang. Der Namenforscher Rolf Max Kully vermutet eine ursprüngliche Namensform *borswand mit der Bedeutung «Rodung auf der Anhöhe», von althochdeutsch bor «Anhöhe» und swand «Schwende, Rodung». Der Name sei damit verwandt mit jenem des Bergs Born bei Olten. Die ältere Deutung als «bare», kahle Schwende weist Kully zurück. Kullys Deutung wurde 2010 vom Solothurnischen Namenbuch übernommen. Die volksetymologische Umdeutung zu «Pass bei der Felswand» (mundartliche Aussprache Wang) angesichts der steilen Felswand in der Nähe der Passhöhe wurde schon 1928 in einem Artikel des Basler Sekundarlehrers A. Seiler verworfen; spätere Autoren haben sich ihm angeschlossen. Die mundartliche Aussprache Barschwang hat sich in den Flurnamen Mittleri und Oberi Barschwangweid erhalten.
Geographie
Lage und Landschaft
Die Passwangkette im weitesten Sinne erstreckt sich auf einer Länge von etwa 22 Kilometern zwischen dem Mont Raimeux an der Kantonsgrenze Bern/Jura und dem Oberen Hauenstein südlich des Waldenburgertals im Kanton Basel-Landschaft. Ihre höchsten Erhebungen erreicht sie mit jeweils im Kanton Solothurn an der Hohen Winde und am Vogelberg. Nördlich und südlich wird das Gebiet von weiteren mehr oder weniger ausgeprägten Ketten flankiert.
Die Passwangstrasse zwischen Beinwil und Mümliswil ist der einzige Strassenübergang, der die nördlichen (Schwarzbubenland) und südlichen Kantonsteile von Solothurn miteinander verbindet. Es handelt sich dabei um einen Diagonalpass, der den Gebirgskamm schräg und nicht wie üblich orthogonal überquert. Der Passbegriff als solcher ist ohnehin nur bedingt zutreffend. Die naturräumlichen Gegebenheiten sind für den Strassenbau aufgrund des tektonisch komplexen Gebiets eher ungünstig. Ausserdem fehlt dem Passwang vor allem eine gut ausgeprägte, von den Tälern aus sichtbare Übergangsstelle.
Eine topographisch-morphologische Besonderheit der Passwangstrasse besteht bei Neuhüsli unterhalb der Nordrampe, wo ein Bergsturz 1598 einen See aufstaute. Die Verlandungsebene des bereits im 18. Jahrhundert trockengelegten Gewässers ist heute noch teilweise zu erkennen, die Strasse wird über einen künstlichen Damm, genannt Schanz, daran vorbeigeführt.
Geologie und Geomorphologie
Das Passwanggebiet ist Teil des Kettenjuras und zeichnet sich durch einen sehr unübersichtlichen Ketten- bzw. Faltenverlauf aus. Jüngere Störungen, die sich durch die Auffaltung des Kettenjuras ergaben, verschnitten sich mit älteren Störungen, die auf das Einsinken des Rheintalgrabens zurückgehen. Durch horizontalen Schub wurde die Sedimentdecke auf den salz- und gipsführenden Tonen des mittleren Muschelkalkes abgeschert und zu Falten aufgeworfen. Die grosse Rheintalflexur bewirkte dabei eine Versteifung. Als sichtbare Folge dieser Vorgänge existiert in diesem Gebiet eine Vielzahl von Kurzketten (Brachyantiklinalen). Aufgrund weiteren Vorschiebens der Ketten östlich der versteiften Flexur reissen die Falten häufig auf und Querbrüche entstehen, die meistens als Transversalverschiebungen erscheinen.
Die Passwangkette besteht im Kern aus Braunem Jura, der auf einer Länge von zwölf Kilometern nach Norden überschoben und teilweise aufgerissen wurde. Die Tektonik bestimmen zwei grosse Querbrüche im Bereich zwischen dem Scheltenpass und Nunningen. Eine sekundäre, nach Norden überliegende Faltung tritt an der Hohen Winde hinzu. Die Südseite der Passwangkette ist zwischen Scheltenpass und Passwang steil, aber ohne Komplikationen. Vom Scheiteltunnel der Passstrasse (Zingelentunnel) ostwärts beginnt das Massiv zu überkippen und ist durch verschiedene Störungen zerrissen. Die dadurch entstandene Lücke wurde für den Bau der Passwangstrasse genutzt. Beispielsweise beim Zingelentunnel zeigt sich der komplexe geologische Bau der Kette: Am Nordportal steigt der Braunjura-Südschenkel fast senkrecht und überkippt an der glatten Fluh. Bis zur Tunnelmitte folgt ein Paket gewellter bis etwa horizontal liegender Schichten des oberen Braunjuras. Am Südportal verläuft die Tunnelröhre in einem bergwärts einfallenden, zerklüfteten und zerrütteten Sackungskomplex des oberen Hauptrogensteins.
Bei Limmern nördlich von Mümliswil besteht am Südosthang des Vogelbergs das Schweizer Geotop Nr. 116. Dabei handelt es sich um gut erhaltene Stromatolithe aus der Lias-Zeit mit einem Alter von 177 Millionen Jahren. Diesen algenähnlichen Gebilden wird ein hoher wissenschaftlicher Wert zugeschrieben, wenngleich sie sich ökologisch nicht eindeutig interpretieren lassen. Als Erzeuger kommen sowohl Algen und Pilze als auch Bakterien in Frage. Der Aufschluss ist Teil eines der wenigen vollständigen Lias-Profile (Rhät bis Opalinuston) des Faltenjuras.
Das Belchen-Passwang-Gebiet ist mit der Nummer 1012 im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung eingetragen. Dies wird unter anderem mit der weitgehend intakten und typischen Landschaft des östlichen Faltenjuras und dem grossen geomorphologischen Formenschatz begründet.
Passwangstrasse
Geschichte
Der ursprüngliche Weg über den Passwang ist bereits seit dem Mittelalter als «öffentliche Strasse» belegt. Indizien wie ein Fund römischer Münzen in Erschwil an der Passwangstrasse lassen die Vermutung zu, dass der Übergang schon in römischer Zeit benutzt wurde, aber Klarheit sei diesbezüglich, so Max Banholzer 1975, nicht zu gewinnen. Der südseitige Teil des Wegs befand sich östlich vom heutigen Strassenverlauf. Auf beiden Seiten bestanden erhebliche Steigungen und der Pass war bis ins 18. Jahrhundert schwierig zu befahren. Eine gewisse Bedeutung hatte er für den Kanton Solothurn, seit dieser im 15. und 16. Jahrhundert die heute als Schwarzbubenland bekannten Gebiete erworben hatte, als Verbindung in den südlichen Kantonsteil und zur Hauptstadt Solothurn, aber für den Handelsverkehr zwischen Basel und Solothurn dienten die beiden Hauenstein-Pässe. Um teure Basler Zölle auf aus Lothringen bezogenes Salz zu umgehen, strebte Solothurn zu Beginn des 18. Jahrhunderts an, dieses vom Elsass über fürstbischöfliches Gebiet einzuführen. Zu diesem Zweck wurde die Passwangstrasse von 1729 bis 1732 ausgebaut. Die Strasse hatte aber weiterhin einen schlechten Ruf; so schrieb Urs Peter Strohmeier in seiner Beschreibung des Kantons Solothurn 1836:
Unter anderem aufgrund von Basler Gegenmassnahmen (Verbesserung der Strasse über den Oberen Hauenstein, Zollermässigungen), aber auch wegen der starken Steigungen und der von der fürstbischöflichen Regierung nicht wie vereinbart erstellten Verbindung Allschwil–Reinach erlangte die Passwangstrasse nicht die Bedeutung, die ihr der Kanton Solothurn damals zugedacht hatte.
1852 reichten 18 Gemeinden aus dem Schwarzbubenland und vier Gemeinden aus dem damaligen Bezirk Balsthal-Thal beim Solothurner Kantonsrat eine Petition ein, der Regierungsrat sei zu beauftragen, «die Korrektion der Paßwangstraße anzuordnen, mit Befolgung der kürzesten Linie und möglichst geringer Steigung». Die Petition wurde für erheblich erklärt und die Regierung legte dem Kantonsrat im Mai 1853 Pläne für eine neue Strasse mit einem Basistunnel von ca. 550 Meter Länge durch die Barrenfluh vor. Der Kantonsrat verzichtete jedoch im Dezember 1853 darauf, dieses Projekt zu verfolgen. Gründe dafür waren die hohen Kosten und die vielversprechende Entwicklung des Eisenbahnverkehrs in der Schweiz.
Von 1921 bis 1923 wurde ein nordseitiger Abschnitt im Tal der Lüssel bis Unterbeinwil korrigiert, indem man die Fahrbahn südlich von Erschwil auf das rechte Ufer der Lüssel verlegte. 1925 setzten sich der damalige Nationalrat Hermann Obrecht und Josef Borer, Präsident der Schweizerischen Isola-Werke in Breitenbach (heute Von Roll) für den Bau einer motorverkehrstauglichen Passwangstrasse ein. In den folgenden Jahren wurden verschiedene Projekte diskutiert. Peter R. Huber schrieb in seiner Arbeit von 2012: «Alle Diskussionsteilnehmer, seien es Privatpersonen, Regierungs- und Kantonsräte, Gemeinden und Initiativkomitees befürworteten den Ausbau der Passstrasse, aber jeder und alle hatten eine andere Meinung darüber, wie dies geschehen solle.» Geprüft wurden folgende Vorschläge:
Verbesserung der bestehenden Strasse.
Ein Basistunnel von 700 m Länge durch den Krattenberg unter der Barrenfluh, die Teil des Sonnenbergs ist, der das Guldental von Beinwil trennt.
«Bauprojekt 1928»: Eine auf der Südseite etwa parallel zur alten Passwangstrasse verlaufende neue Strasse mit einer Brücke über den Tümmelbach und Tunnel durch die Felswand Glatte Fluh bei der Erhebung Zingelen mit einer Länge von 175 m.
«Zwischenprojekt»: Ebenfalls mit dem Zingelen-Tunnel, aber einem neuen, bei Ramiswil von der Scheltenpass-Strasse abzweigenden Verlauf der Strasse über Hagli und Hagliberg.
Ein Expertengutachten empfahl das «Zwischenprojekt» im April 1930 «als das weitaus rationellste». Dieses wurde in der Folge vom Kantonsrat genehmigt. Indem das Projekt nicht als Neubau einer Strasse eingestuft, sondern als Bestandteil des kantonalen Ausbauprogramms budgetiert wurde, konnte eine Volksabstimmung vermieden werden. Der Bau erfolgte von 1931 bis 1933.
In der Zeit der Weltwirtschaftskrise herrschte auch im Kanton Solothurn grosse Arbeitslosigkeit. Der Ausbau der Passwangstrasse konnte als Massnahme zur Arbeitsbeschaffung dienen und die beauftragten Bauunternehmer mussten Arbeitslose beschäftigen, die ihnen vom kantonalen Arbeitsamt zugewiesen wurden. Die Initiative für den Bau der Strasse ging jedoch nicht darauf zurück und das Projekt war somit, so Peter R. Huber, «nicht Teil eines formulierten Gesamtprojekts zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ihrer Folgen». Die Arbeitsbedingungen beim Strassen- und Tunnelbau waren hart. Der sozialdemokratische Kantonsrat Adolf Heri beanstandete nach einem unangemeldeten Baustellenbesuch Mängel, darunter schlechtes Essen und niedrige Löhne. Die solothurnische Kantonsregierung erkannte diese zum Teil an und versprach Abhilfe.
Projekte, einen Passwang-Basistunnel zu bauen, waren noch bis ins späte 20. Jahrhundert im Gespräch. Ein Projektentwurf von 1976 sah einen 1200 m langen Basistunnel vor. Im Richtplan des Kantons Solothurn 1997 wurde aufgrund des geringen Verkehrsaufkommens auf diese Option verzichtet. Ein gescheitertes Eisenbahnprojekt im Passwang-Gebiet war die Wasserfallenbahn, die mit einem Tunnel Reigoldswil im Kanton Basel-Landschaft mit Mümliswil verbunden hätte. Die bereits begonnenen Bauarbeiten wurden 1874 nach kurzer Zeit wieder eingestellt.
Umfangreiche Sanierungsarbeiten am Tunnel und auf der Südseite erfolgten 1997. Seit 2016 wird auch die Nordseite saniert. Die gesamte Sanierung, die bis 2022/23 dauern soll, verursacht aufgrund von Planungsfehlern erheblich höhere Kosten als ursprünglich veranschlagt.
2019 verlieh der Solothurner Heimatschutz den Solothurner Heimatschutzpreis an das Kulturerbe Passwangstrasse. Damit sollte die «gesellschaftliche Bedeutung in Kombination mit innovativen technischen Lösungen, welche die Passwangstrasse einzigartig macht» gewürdigt werden.
Heutige Strassen
Neue Passwangstrasse
Die neue Passwangstrasse folgt im Wesentlichen dem Verlauf, den sie durch das Sanierungs- und Ausbauprojekt mit dem Tunnelbau von 1931 bis 1933 erhalten hat. Sie verbindet als Kantonsstrasse 267 in Südost-Nordwest-Richtung den Ort Balsthal und das Guldental mit dem solothurnischen Schwarzbubenland und dem Laufental im Kanton Basel-Landschaft.
Die knapp fünf Kilometer lange St. Wolfgangsstrasse verläuft von Balsthal bis Mümliswil, das als eigentlicher Talort auf der Ostseite gilt, und überwindet dabei 74 Höhenmeter. Im weiteren Verlauf wechselt der Strassenname zu Ramiswiler- bzw. ab Ramiswil zu Passwangstrasse und behält diesen bis Erschwil bei.
Von Mümliswil bis zur Passhöhe überwindet die Strasse auf 7,1 Kilometer 386 Höhenmeter, was einer durchschnittlichen Steigung von 5,4 % entspricht. Das Steigungsmaximum liegt bei 11 %. Etwa drei Kilometer vor der Passhöhe zweigt westwärts eine Strasse in Richtung des Scheltenpasses ab. Im mittleren und oberen Teil kurz vor der Passhöhe winden sich jeweils drei Spitzkehren durch den Berg. Die vollständig auf Solothurner Kantonsgebiet befindliche Passhöhe auf 943 m ü. M. verläuft durch einen fast genordeten, rund 180 Meter langen Tunnel durch den Jurafels. Der enge Tunnel weist keine Mittelstreifenmarkierung auf. Grosse Fahrzeuge dürfen nur ohne Gegenverkehr im Tunnel verkehren.
Die Nordwestrampe überwindet vom Pass bis Erschwil auf 11 Kilometern 490 Höhenmeter und entspricht damit einer Durchschnittssteigung von 4,5 %. Das Steigungsmaximum liegt ebenfalls bei 11 %. Im oberen Teil der Rampe gibt es drei engere und eine weitere Spitzkehre. Etwa ab der Mitte der Nordwestrampe bis nach Erschwil verläuft die Passstrasse parallel zur Lüssel, einem rechten Nebenfluss der Birs. An einem Engpass oberhalb von Erschwil verläuft ein Stück der Strasse über die sogenannte Lange Brücke, eine Überdeckung der Lüssel. Diese ersetzt seit dem Strassenbau um 1730 einen Weg, der die Schlucht mit grosser Steigung umgeht. Die seither veränderte und verbreiterte Lange Brücke galt zur Zeit ihrer Entstehung als Sehenswürdigkeit und fand Eingang in Reiseführer. Im Rahmen der Sanierung der Passwangstrasse soll die Strasse an dieser Stelle ab 2020 verlegt und durch Felsabbau verbreitert, die Lüssel dabei wieder offengelegt werden.
Die Passwangstrasse ist weiterhin die kürzeste Verbindung zwischen dem nördlichen und südlichen Teil des Kantons Solothurn, wenn auch ihre Bedeutung durch die Fertigstellung der Autobahn A2 und die Eröffnung des Belchentunnels im Jahr 1970 zurückgegangen ist.
Über den Passwang verkehrt eine Postauto-Linie von Zwingen nach Balsthal. Bis zum Fahrplanwechsel vom Dezember 2006 gab es keine durchgehenden Kurse; separate Kurse von der Nordseite (Laufen/Zwingen) und der Südseite (Balsthal) wendeten jeweils am Wendeplatz beim Nordportal.
Alte Passwangstrasse
Die alte Passwangstrasse auf der Südseite ist heute teilweise asphaltiert, teilweise unbefestigt. Ein kurzes Stück in der Nähe der Passhöhe weist immer noch die alte Steinpflästerung auf. Die Strasse ist als Wanderweg ausgeschildert und dient auch forstwirtschaftlichen Zwecken. Die Route der 2. Solothurner Waldwanderung verläuft teilweise über die alte Passwangstrasse, von der sie abzweigt, bevor sie oberhalb von Mümliswil in den Wald führt.
Auf der Nordseite unterscheidet sich der Verlauf der Strasse nach dem Ausbau 1931–1933 weniger stark vom historischen Verlauf seit 1732 und es gibt damit auch, anders als auf der Südseite, keine durchgehende «alte Passwangstrasse». Bei einem als Alte Passwangstrasse bezeichneten Wegstück oberhalb von Erschwil handelt es sich zunächst um den Verlauf bis zur Verlegung dieses Teilstücks auf das orographisch rechte Ufer der Lüssel bei der Korrektur 1921–1923, die dem Strassenbau 1931–1933 voranging. Dieser Weg zweigt – in Richtung Beinwil–Passwang gesehen – am südlichen Dorfausgang zunächst asphaltiert von der neuen Passwangstrasse ab und verläuft anfänglich am linken Ufer der Lüssel. Nach etwa 225 Metern und nach der Abzweigung des kurzen Kalchofenwegs teilt sich der Weg in den Alten Forstweg, über den ein Wanderweg verläuft, und den weiteren Verlauf der Alten Passwangstrasse. Nach wenigen Metern teilt sich der Weg erneut; rechts zweigt nun der Forstweg ab. Die Asphaltierung der alten Passwangstrasse endet an diesem Punkt und sie wird zu einem Feld- bzw. Waldweg. Nach etwas weniger als einem Kilometer quert er die Lüssel und trifft an einer Engstelle wieder auf die neue Passwangstrasse, die ab dort dem Verlauf folgt, wie er um 1730 durch den Bau der Langen Brücke über die Lüssel entstanden ist. Danach verläuft der historische Weg aus der Zeit vor 1730 auf der anderen Hangseite vorbei an der Kapelle St. Joseph ungefähr parallel zur neuen Strasse, bis er vor Unterbeinwil wieder in dieser aufgeht.
Verarbeitung in Kunst und Literatur
Die Lange Brücke bei Erschwil wurde um 1760 von David Herrliberger in seiner Topographie der Eydgnossschaft in einem Kupferstich nach Emanuel Büchel als Merkwürdige Brücke in dem Canton Solothurn abgebildet.
Peter Birmann zeichnete 1813 ein Panorama, das die Aussicht vom Passwang zeigt. Eine Aquarell-Ansicht des Bogentals nördlich vom Passwang mit Blick auf den Vogelberg von Jakob Christoff Bischoff stammt ebenfalls aus diesem Jahr. In den 1860er Jahren veröffentlichte Anton Winterlin ein Passwang-Panorama mit vollständiger Rundsicht als Lithografie. 1906 erschien ein weiteres Panorama als kolorierte Lithografie von Fritz Dürrenberger-Senn. Dürrenberger besuchte den Passwang für dieses Panorama, das als besonders genau gilt, während zweier Jahre etwa zwanzigmal.
In seiner Ballade Der Tod am Barschwang hat der Dichter Albin Fringeli einen tödlichen Bergrutsch am Passwang im Dialekt des Schwarzbubenlands beschrieben, darin nach der Einschätzung des Schriftstellers und Journalisten Thomas Brunnschweiler «die Wucht der Balladen von Schiller» erreichend. Während eines Unwetters verschwindet ein Bauernhaus unter einem «Strom vo Stei un Drägg»:
Aus: Albin Fringeli, Der Tod am Barschwang.
Der Band Solothurner Sagen (1972) von Elisabeth Pfluger enthält mit Di guldigi Flue die Sage eines reichen, protzenden und den Armen gegenüber geizigen Sennen am Passwang, der in seiner Geltungssucht gar die ganze Zingelen-Fluh habe vergolden lassen, aber dafür gestraft und ins Unglück gestürzt worden sei: Die Weide sei ihm mit Haus und Hof bei einem Unwetter weggerutscht. «Aber die glatti Zingelflue glänzt no hüt i der Obesunne wi der Guldgrund vomene alte Muetergottesbild» (Aber die glatte Zingelfluh glänzt noch heute in der Abendsonne wie der Goldgrund eines alten Muttergottesbilds). Gewährsleute der Sage waren Emil Nussbaumer aus Mümliswil (1967) und Johann Ankli aus Beinwil (1970). Weitere Geschichten aus dem Passwang-Gebiet finden sich auch in Pflugers Veröffentlichungen Settigi Sache gids (2004) und Gschicht und Gschichte (2011).
In seinem Buch Dr Passwang-Louis (1997), das erzählerische und romanhafte Abschnitte mit Elementen eines Sachbuchs verbindet, berichtet der Schriftsteller Franz Walter von seiner Spurensuche nach Luigi Bottati (1889–1981), einem als «Passwang-Louis» bekannten Original. «Passwang-Louis» stammte aus Oberitalien, kam 1931 beim Bau der Passwangstrasse als Arbeiter ins Guldental und blieb in der Gegend. Die Musikgesellschaft Konkordia Mümliswil hat im Januar 2020 einen «musikalischen Bilderbogen» von Marco Nussbaumer auf Grundlage des Buches und mit Franz Walter als Erzähler aufgeführt.
Sport und Tourismus
Radsport
In der Tour de Suisse wurde der Passwang von 1934 bis 2019 insgesamt 18 Mal befahren und gehört damit zusammen mit dem Zurzacherberg zu den meist befahrenen Schweizer Bergpässen unter 1000 Meter sowie auch insgesamt zu den zehn am meisten befahrenen Pässen des wichtigsten Schweizer Radrennens. Der Bergpass wird in der Tour de Suisse als Berg der 2. Kategorie klassifiziert.
In der Auflistung werden neben dem jeweiligen Sieger des Bergpreises am Passwang auch die Start- und Zielorte sowie die Länge der Etappen aufgeführt:
1937: 8. Etappe: Solothurn–Zürich (210 km), Bergpreisgewinner: Enrico Mollo
1939: 1. Etappe: Zürich–Grenchen (219,6 km), Bergpreisgewinner: Paul Egli
1948: 2. Etappe: Basel–La Chaux-de-Fonds (189,1 km): Bergpreisgewinner: Alfredo Pasotti
1950: 2. Etappe: Winterthur–Liestal (240 km), Bergpreisgewinner: Fritz Zbinden
1957: 3. Etappe: Basel–La Chaux-de-Fonds (196 km), Bergpreisgewinner: Walter Holenweger
1960: 7. Etappe: Montreux–Basel (239 km): Bergpreisgewinner: Wim van Est
1963: 7. Etappe: Burgdorf–Bremgarten (196 km), Bergpreisgewinner: Rolf Maurer
1965: 1. Etappe: Murten–Basel (182 km), Bergpreisgewinner: Karl Brand
1968: 2. Etappe: Langenthal–Binningen/Aesch (152 km), Bergpreisgewinner: Mariano Díaz
1973: 9. Etappe: Schupfart–Olten (97 km), Bergpreisgewinner: José Manuel Fuente
1977: 3. Etappe: Möhlin–Olten (108,5 km), Bergpreisgewinner: Horst Schütz
1978: 4. Etappe: Oftringen–Solothurn (162 km), Bergpreisgewinner: Mariano Martínez
1985: 5. Etappe: Oberwil–Solothurn (73 km), Bergpreisgewinner: Benny Van Brabant
1987: 5. Etappe: Basel–Brügg (129,5 km), Bergpreisgewinner: Guido Winterberg
1990: 4. Etappe: Basel/Kaiseraugst–Solothurn (98 km), Bergpreisgewinner: Robert Millar
1991: 9. Etappe: Murten–Basel (196 km), Bergpreisgewinner: Masatoshi Ichikawa
2002: Bergpreisgewinner: Patrick Calcagni
Zuletzt führte am 18. Juli 2019 die 4. Etappe der 83. Austragung der Tour de Suisse von Murten, im nördlichen Kanton Freiburg, über den Passwang nach Arlesheim, südlich von Basel. Die 163,9 Kilometer lange Strecke mit 1980 Höhenmeter erreichte nach etwa der Hälfte der Strecke den Passwang. Den Bergpreis am Passwang gewann 2019 der Niederländer Taco van der Hoorn.
Wanderwege
Der Passwang ist ein beliebter Ausgangspunkt für Wanderungen. Zwischen Zingelen-Tunnel und Passwanghöhe führen offizielle Routen der Schweizer Wanderwege in alle Himmelsrichtungen, so insbesondere nach Westen zur Hohen Winde; nach Norden in Richtung Nunningen oder Wasserfallen bzw. via Wasserfallen-Gebiet weiter in Richtung Osten nach Waldenburg oder zum Oberen Hauenstein; südwärts nach Mümliswil-Ramiswil (wahlweise über Hagli nach Ramiswil oder auf der alten Passwangstrasse nach Mümliswil). Die Wanderwege im Passwang-Gebiet sind alle in die leichteste Kategorie (gelb) eingeordnet, mit Ausnahme eines steilen Weges bei der Wasserfallen, der als Bergwanderweg (weiss-rot-weiss) markiert ist.
Sperrstelle Passwang
Die 20 Kilometer lange Passwangstrasse verbindet das Laufental mit dem schweizerischen Mittelland und ist damit das nordwestliche Einfallstor ins Zentrum der Schweizer Industriezone. Die Strasse über den Gebirgspass Passwang diente während des Ersten Weltkriegs der Verschiebung von Grenztruppen über den Jura.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden bei den Engnissen der Passwangstrasse tiefgestaffelte befestigte Sperrstellen angelegt, um einen deutschen Vorstoss von Norden ins Mittelland verhindern oder aufhalten zu können. Diese Befestigungen wurden während des Kalten Kriegs ergänzt und weiter ausgebaut.
Bau und Betrieb der Bunker und Geländepanzerhindernisse gehörten zur Aufgabe der für diesen Grenzraum zuständigen Grenzbrigade 4. Bei Mümliswil befanden sich ein Regimentskommandoposten und der 1942 erstellte und 1965 zu einer autarken «Führungsfestung» ausgebaute Kommandoposten Lobisei der Grenzbrigade 4.
Infanteriebunker Lange Brücke, Erschwil A 3639
Infanteriebunker Lange Brücke A 3640
Infanteriebunker Schachen, Beinwil SO A 3641: 24-mm-PzBk 38
Infanteriebunker Schachen A 3642: Mg-Stand
Infanteriebunker Schachen A 3643: 7,5-cm-Feldkanone, später 9-cm-Pak
Infanteriebunker Schachen A 3644: 7,5-cm-Feldkanone, später 9-cm-Pak
Geländepanzerhindernis GPH mit Bachsperre Schachen
Infanteriebunker Neuhüsli A 3645
Infanteriebunker Passwang Ost A 3648
Infanteriebunker Passwang West A 3649
Infanteriewerk Pak A 3668 Mümliswil Süd
Kommandoposten KP Lobisei Grenzbrigade 4 A 3669 Mümliswil
Infanteriebunker zwei 8,4-cm-Kanonen A 3670 St. Wolfgang
Regiments-Kommandoposten Rgt 49 «Länge Tannen» F 4300 Herrenhüsli, Mümliswil
Infanteriebunker A 3672 Äussere Klus, Balsthal
Infanteriewerk A 3673 ob «Gerbe», Balsthal
Der 2017 gegründete Verein «Betriebsgruppe historische Militäranlagen Kanton Solothurn» betreibt die Anlagen beim Scheltenpass: A 3668 Mümliswil Süd, A 3669 KP Lobisei und beim Paswang: A 3672 Äussere Klus, A 3673 Gärbiflueh und F 4300 Länge Tannen. Für diese Anlagen werden Führungen angeboten.
Literatur
Hans Mollet: Zur Geologie des Zingelentunnels der neuen Passwangstrasse. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Solothurn. Band 9 (1928–1931), [1932], S. 63–76, doi:10.5169/seals-543225.
Bericht über den Bau der Passwangstrasse. Bau-Departement des Kantons Solothurn, Solothurn 1935.
Fritz Baur: Der Passwang. In: Basler Jahrbuch. 1903, S. 72–109.
Weblinks
Passwang – Beschreibung auf regionatur.ch
Passwang (943 m) – Passbeschreibung auf quaeldich.de
Passwang – Touristische Beschreibung auf schweizmobil.ch
Anmerkungen
Gebirgspass
Pass im Kanton Solothurn
Pass im Jura
Eintausender
Berg im Jura
Berg in Europa
Berg im Kanton Solothurn
Radsport-Anstieg
Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung
Mümliswil-Ramiswil
Wikipedia:Artikel mit Video |
287284 | https://de.wikipedia.org/wiki/Reichskrone | Reichskrone | Die Reichskrone ist die Krone der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches seit dem Hochmittelalter. Sie gehört zum Typus der mittelalterlichen Bügelkronen. Die meisten römisch-deutschen Könige seit Konrad II. wurden mit ihr gekrönt. Die Reichskrone war neben dem Reichskreuz, dem Reichsschwert und der Heiligen Lanze der wichtigste Teil der Reichskleinodien. Bei der Krönung wurde sie zusammen mit dem Zepter und dem Reichsapfel an den neuen König übergeben.
So wurde die Krone selbst, wie an der Bezeichnung daz riche erkennbar ist, und ihr wichtigster Edelstein, der Waise, zum Symbol für die Reichsidee des Heiligen Römischen Reiches und der Herrschaft des Königs bzw. Kaisers, so dass eine Krönung ohne die Reichsinsignien häufig als illegitim angesehen wurde. Darüber hinaus gilt die Reichskrone als künstlerische Ausprägung eines theologisch begründeten Herrschaftsanspruches, der durch verschiedene in die Krone eingearbeitete Zeichen symbolisiert wurde.
Die Reichskrone verblieb nach ihrer Niederlegung durch Kaiser Franz II., zusammen mit den Reichskleinodien, in der Kaiserlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg.
Aussehen
Die Reichskrone ist achteckig. Abgeleitet wird dies davon, dass nach biblischer Überlieferung acht Menschen die Sintflut überlebt haben. In der Achtzahl der Menschen drückte sich somit der Bund Gottes mit den Menschen (Noachbund) aus. Demnach war für die abendländischen Christen die „8“ die Zahl der Taufe, der Verbindung von Himmel und Erde, der Vollendung, des Unendlichen, der Erlösung, des Messias und im Weiteren die Kaiserzahl, die sich in der Architektur in der oktogonalen Grundform zahlreicher Kaiserbauten ausdrückte.
Statt eines Reifens sind die acht oben abgerundeten Platten durch Scharniere miteinander verbunden. Durch zwei zu einem unbekannten Zeitpunkt eingezogene Eisenbänder, die mit Goldnieten an den Platten befestigt wurden, wurde die Krone in ihrer nahezu regelmäßigen achteckigen Gestalt fixiert. Wegen ihrer Konstruktion aus Platten zählt die Reichskrone zu den Plattenkronen, wegen ihres Bügels, der hier der Fixierung des Plattenoktogons und der Montage des Frontkreuzes dient, auch zu den Bügelkronen. Die Konstruktion aus mit Bildern verzierten Platten verbindet die Reichskrone mit byzantinischen Vorbildern.
Der Abstand der Stirn- zur Nackenplatte beträgt 20,9 cm und der von der linken zur rechten Schläfenplatte 22,2 cm. Die Stirnplatte ist mit einer Breite von 11,2 cm und einer Höhe von 14,9 cm die größte Platte. Die anderen Platten sind unterschiedlich groß, wobei die Bildplatten etwa 12 cm hoch und 83 mm breit sind. Die beiden Schläfenplatten messen rund 12,5 cm in der Höhe und 82 mm in der Breite. Die Nackenplatte hat genau wie die Stirnplatte eine Höhe von 14,9 cm, ist jedoch nur 82 mm breit. Das Kronenkreuz ist 99 mm hoch und 82,5 mm breit und steckt in einer offensichtlich nicht dafür gedachten Scheide, da dieses darin nur notdürftig befestigt ist. Das Gewicht der Krone beträgt ca. 3,5 kg.
Die einzelnen Platten der Krone sind aus gediegenem Gold, von Perlen und Edelsteinen durchsetzt. Durchsetzt ist hier wörtlich zu nehmen: Die Perlen und die Steine sind in ausgesägte Öffnungen eingeschoben und mit Filigrandraht befestigt, so dass sie in durchscheinendem Licht wie von innen leuchten. Insgesamt wurden 240 Perlen (davon 144 größere und 96 kleinere) und 120 Steine (84 größere und 36 kleinere) verarbeitet; alle Zahlen sind durch 12 teilbar und symbolisierten für die für christliche Symbole sehr empfänglichen Christen des Mittelalters sowohl die 12 Apostel wie die 12 Stämme Israels.
Vier Emailleplatten sind von der Technik her byzantinisch beeinflusst. Drei dieser Bildplatten stellen Könige aus dem Alten Testament dar (David, Salomo sowie Ezechias mit dem Propheten Jesaja), eine Bildplatte zeigt Jesus von zwei Engeln umrahmt. Die anderen vier Platten sind sogenannte Steinplatten mit Edelsteinen. Die Bildplatten wechseln sich mit den Steinplatten ab.
Die Könige David und Salomo halten Spruchbänder mit lateinischen Aufschriften in ihren Händen. Bei König David heißt es: „Der ehrenhafte König liebt den Rechtsspruch“, bei Salomo: „Fürchte Gott und meide Unrecht“. Auf dem dritten Bild wird König Ezechias das vom Propheten Jesaja übermittelte Versprechen Gottes zuteil: „Wohlan, ich will deinen Lebensjahren noch 15 hinzufügen“. Auf der vierten Platte wird der auferstandene Jesus thronend über dem Weltkreis, von zwei Engeln umrahmt dargestellt. Dazu heißt es in roten Buchstaben auf goldenem Grund Per me reges regnant.
Das aufgesteckte Kronenkreuz ist eine Hinzufügung des frühen 11. Jahrhunderts, die Heinrich II. zugeschrieben wird; der ebenfalls aufgesteckte Bügel ist wohl eine Ergänzung aus der Zeit Kaiser Konrads II. (1027–1039). Der für Kaiserkronen typische Bügel überspannt den gesamten achteckigen, acht oben abgerundete Platten tragenden Kronenkörper und verbindet die vergrößerte Stirnplatte mit der Nackenplatte.
Die Inschrift aus Perlen zeigt den Grund für die Annahme der Urheberschaft Konrads II. Auf der linken Seite heißt es Chuonradus Dei Gratia und auf der rechten Seite Romanoru(m) Imperator Aug(ustus), deutsch: „Konrad von Gottes Gnaden Kaiser der Römer (und) Augustus“. Der Bügel soll wahrscheinlich nicht unabsichtlich an die Helmzier antiker Herrscher und Feldherren erinnern.
An Stelle des Kronenkreuzes, an den Seitenplatten sowie der Nackenplatte befanden sich zunächst vermutlich je drei sogenannte Kolbenperlen. Dies wurde wahrscheinlich geändert, weil die byzantinischen Kaiser zu dieser Zeit die auf ihrer Krone vorhandenen Kolbenperlen ebenfalls durch ein Kreuz ersetzten.
Fehlende Elemente
Der heutige Erhaltungszustand ist nur als Fragment der ursprünglichen Krone zu bezeichnen.
Heute fehlt der prominenteste Edelstein des Mittelalters, der sogenannte Waise (lateinisch orphanus). Dieser war vermutlich ein großer Opal oder Karfunkelstein, also handelte es sich entweder um einen milchig-weißen oder einen intensiv roten Edelstein. Er war an der Nackenplatte oder Stirnplatte befestigt – hier diskutiert die historische Wissenschaft intensiv – und fehlt bereits seit dem 14. Jahrhundert. Zu diesem Stein schrieb Albertus Magnus um das Jahr 1250:
Im Jahre 1350 wird er im Übergabeinventar der Reichskleinodien an Karl IV. zum letzten Mal erwähnt.
Weiterhin sind einige Platten eingerissen, verbogen oder gebrochen. Außerdem fehlen an mehreren Stellen Edelsteine, Filigrantürmchen und Perlen. Teilweise wurden die fehlenden Perlen und Edelsteine ersetzt, wobei diese nicht immer passgenau zur ursprünglichen Gestalt angefertigt wurden. Dies geschah besonders auffällig an der Stelle der Stirnplatte, wo vermutlich der Waise saß. Dort befindet sich heute ein schlanker Saphir, der nicht genau in die vorhandene Fassung passt, die deshalb oben ausgesägt wurde.
Auf der Innenseite der Seitenplatten angebrachte Halterungen verweisen auf fehlende Juwelenkettchen (Pendilien), die links und rechts herabhingen. Diese sind so zum Beispiel im Perikopenbuch Heinrichs IV. dargestellt. Weddige schreibt hierzu:
Die rote Samthaube im Kroneninneren ist aus dem 18. Jahrhundert. An ihrer Stelle trug der Kaiser im Mittelalter eine Mitra, da das Tragen bischöflicher Gewänder (Pontifikalien) ein päpstliches Privileg war, das dem Kaiser bei der Krönung verliehen wurde.
Geschichte der Krone
Entstehung
Die Reichskrone ist nach bislang geltender Ansicht frühestens um 960 für Otto I. und spätestens um 1030 für Konrad II. angefertigt worden. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich unter anderem Hermann Fillitz, Reinhart Staats, Gunther G. Wolf und Mechthild Schulze-Dörrlamm um eine genaue Datierung der Entstehung der Krone bemüht. Seitdem ist die Krone nicht nur allen Kaisern von Otto I. bis Konrad II. zugeschrieben worden, sondern auch dem Burgunderkönig Rudolf III. und Papst Benedikt VIII. Allerdings gibt es wiederholt Versuche einer Spätdatierung der Reichskrone in der Mitte des 12. Jahrhunderts für den ersten Stauferkönig Konrad III.
Die Reichskrone wurde wahrscheinlich in einer niederrheinischen Werkstatt in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts hergestellt. Stil- und Materialvergleiche lassen auf eine Kölner oder Essener Werkstatt schließen. Für eine Kölner Werkstatt spricht, dass der als Auftraggeber der Reichskrone geltende Bruder Kaiser Ottos I., Brun, Kanzler des Reichs und Erzbischof von Köln war und als solcher über das bedeutendste künstlerische Zentrum des Reichs gebot. Andere Orte der Herstellung lassen sich aber auf Grund der handwerklichen Einzigartigkeit nicht ausschließen. Dafür in Betracht gezogen werden unter anderem das Benediktinerkloster auf der Insel Reichenau, da es dort neben der Reichskanzlei eine Malerschule und Goldschmiede gab, die handwerklich dazu in der Lage gewesen wären. Weitere in der wissenschaftlichen Literatur diskutierte Orte der Herstellung sind zum Beispiel Konstantinopel, Sizilien, Burgund, Lothringen, Mainz oder Regensburg.
Erste Erwähnungen
Die erste schriftliche Erwähnung, die nach überwiegender wissenschaftlicher Meinung eindeutig die heute bekannte Krone beschreibt, findet man bei Walther von der Vogelweide. In zwei Sangspruchstrophen wird demnach die Reichskrone thematisiert. Im Zusammenhang mit der Krönung Philipps von Schwaben am 8. September 1198 in Mainz durch den burgundischen Erzbischof Aimon von Tarentaise zum König sang er (neuhochdeutsche Übersetzung):
Die Krone ist älter als der König Philipp ist.
Daran könnt Ihr alle gewiss ein Wunder erkennen,
wie sie ihm der Schmied so passend gemacht hat.
Sein kaiserliches Haupt passt so gut zu ihr,
dass sie von rechts wegen niemand Edler trennen soll.
Keines von beiden schwächt hier das andere
Sie strahlen beide einander an,
das edle Gestein gegen den jungen, angenehmen (herrlichen) Mann.
Die Augenweide sehen die Fürsten gerne.
Wer nun auch immer in Reichsfragen unschlüssig ist,
der achte darauf, wem der Waise
über seinem Nacken steht:
der Stein ist aller Fürsten Leitstern.
In seinem Spruch ergriff Walther propagandistisch Partei für Philipp, da im gleichen Jahr Otto IV. ebenfalls zum König gewählt und in Aachen durch den Kölner Erzbischof Adolf I. gekrönt wurde. Diese Krönung erfolgte zwar am richtigen Ort der Krönung und durch den rechten Koronator, jedoch mit imitierten Reichsinsignien. Da aber zu dieser Zeit die Frage des richtigen Krönungsortes für die Legitimation wesentlich wichtiger war als die Verwendung der Reichsinsignien, wird klar, warum Walther die Bedeutung der Krone für die Legitimation des Königs betont.
Da im Früh- und Hochmittelalter das Königtum eine Reiseherrschaft war, wurde die Krone zunächst in den verschiedenen Königspfalzen, Reichsburgen und Klöstern verwahrt, in denen sich der König beziehungsweise Kaiser gerade aufhielt. Zu diesem Zweck gab es dort spezielle Räumlichkeiten, zum Beispiel in der Harzburg, der Reichsabtei Hersfeld, der Reichsveste Hammerstein und anderen (Siehe auch: Reisen durch das Reich). Ab 1247 ist der Aufbewahrungsort der Reichskrone lückenlos belegt.
Auf Münzen Kaiser Barbarossas, kurz vor seinem Tode (gest. 1190) geprägt, findet sich zum ersten Mal die Reichskrone abgebildet. Bilder, die einigermaßen realistisch die heutige Krone zeigen, finden sich erst nach 1355 im Stammbaum Karls IV., der auf einem Wandgemälde auf der Burg Karlstein bei Prag dargestellt ist.
Karl IV. ließ um das Jahr 1368 von einem Prager Meister ein Futteral aus Leder für die Krone anfertigen. Derselbe Meister hat auch das Futteral für die Wenzelskrone gefertigt. Erst ab diesem Zeitpunkt ist es historisch gesichert, dass die Krone, die heute in Wien aufbewahrt wird, mit den Erwähnungen im Zusammenhang mit dem Reichsschatz identisch ist.
Nürnberg
Die Hussiten versuchten nach der Verbrennung von Jan Hus im Jahre 1415 in Konstanz, sich während der anschließenden Hussitenkriege der Reichskleinodien zu bemächtigen, die zu dieser Zeit in der Burg Karlstein aufbewahrt wurden. König Sigismund gelang es zwar, den Schatz nach Ungarn auf die Burg Visegrád zu retten. Dort waren die Kleinodien aber auch nicht sicher, da Ungarn nicht zum Reich gehörte, obwohl Sigismund zu dieser Zeit ebenfalls ungarischer König war.
Die wohlhabenden Reichsstädte, darunter Nürnberg als eine der größten und bedeutendsten, waren eine der wichtigsten Stützen des Reiches im 15. Jahrhundert. Deshalb verhandelte Sigismund mit der Stadt Nürnberg, um die Reichskleinodien auf ewige Zeiten, unwiderruflich und unanfechtbar aufzubewahren. Zu diesem Zweck verlieh er der Stadt am 29. September 1423 das Privileg „Hort des Reichsschatzes“. Die Verleihungsurkunde spricht dabei von den Kleinodien als unser und des heiligenreichs heiligtum. Außerdem sollten die Kleinodien jährlich am vierzehnten Tag nach Karfreitag öffentlich bei den sogenannten Heiltumsweisungen gezeigt werden. Zusammen mit dem Privileg der Aufbewahrung wurde Nürnberg das Recht auf eine vierzehntägige Handelsmesse, beginnend mit dem Tage der Heiltumsweisungen, verliehen.
Am 22. März 1424 trafen die Reichskleinodien mit der Reichskrone als Fischtransport getarnt in Nürnberg ein. Von dem Transport, der von zwei Abgesandten des Nürnberger Rates begleitet wurde, wussten nur sechs Personen. Insgesamt brauchte man für den Transport über die Donau und ab Regensburg mit dem Fuhrwerk zwei Wochen. Da die Verhandlungen und der Transport geheim gehalten wurden, erfuhr die Öffentlichkeit erst kurz vor der Ankunft von dem Unternehmen. Das Eintreffen des Transportes in der Stadt wurde von der Bürgerschaft und dem Klerus der Stadt mit einem großen Fest begangen. Noch im gleichen Jahr bestätigte Papst Martin V. das Verwahrungsprivileg Nürnbergs, welcher aber sein Mitspracherecht in allen Reichsangelegenheiten durch folgende Einschränkungen zur Kenntnis brachte: Die Kleinodien sollten in der Kirche des Heilig-Geist-Spitals verwahrt werden. Die „ewige Zeit“ der Verwahrung sollte enden, wenn die Stadt vom rechten Glauben abfalle.
Die Reichskleinodien wurden in einem Versperr genannten Raum über der Sakristei der Kirche des Heilig-Geist-Spitals verwahrt, die Reichskrone gesondert in einer schwarzen Truhe. Zusätzlich wurde für die Präsentation der Reichskleinodien in einem würdigen Rahmen die Kirche neu ausgemalt und für die Heilige Lanze und das Reichskreuz ein mit Nürnberger Wappen, Schwabenfeld und Frauenadler, geschmückter Behälter, der Heiltumsschrein, angefertigt. Die Schlüssel zum Aufbewahrungsort verwahrten die Losunger, die drei höchsten Beamten der Stadt. Als Höhepunkt im Nürnberger Jahresablauf wurden die vorgeschriebenen öffentlichen Heiltumsweisungen der Reichskleinodien durchgeführt. Von einem Holzturm aus, der auf dem Marktplatz aufgebaut war, zeigten drei Bischöfe die Reichskleinodien dem Volk. Darauf folgte die Handelsmesse.
Im Jahre 1510 gaben die Nürnberger Stadtväter für den Raum im Schopperschen Hause, einem Bürgerhaus am Markt, in welchem die Reichskleinodien zur Zeit der Heiltumsweisungen aufbewahrt wurden, für die sogenannte Heiltumskammer zwei Bilder in Auftrag. Die Darstellungen Kaiser Sigismunds und Karls des Großen sollten den Rang der Reichsstadt Nürnberg für jedermann anschaubar machen. Der beauftragte Maler Albrecht Dürer versah den damals als Reichsgründer verehrten Kaiser Karl mit Reichsapfel, Reichsschwert und mit der Reichskrone. Auf dem Rahmen des Bildes steht Folgendes geschrieben:
Dis ist der gestalt und biltnus gleich
Kaiser Karlus, der das Remisch reich
Den Teitschen under tenig macht
Sein kron und klaidung hoch geacht
Zaigt man zu Nurenberg alle jar
Mit andern haltum offenbar.
Versuche durch die Kaiser Sigismund nachfolgenden Habsburger (z. B. Friedrich III.), den Nürnbergern das Recht der Aufbewahrung der Symbole des Reiches streitig zu machen und sich der Krone und der Reichskleinodien zu bemächtigen, wurden alle erfolgreich abgewehrt. Nur zu den Krönungen der deutschen Könige und Kaiser verließen die Reichskleinodien von Nürnberger Gesandten begleitet und geschützt die Stadt. Der Italiener Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. schrieb im Jahre 1452 über die Krönung Friedrich III. zum Kaiser in Rom:
Die Nürnberger Gesandten hatten sogar das Recht, während der Krönungen die Insignien darzureichen. Ein Buch, in dem alle die Reichskleinodien Betreffenden und die Begleiter zu den Krönungen namentlich genau vermerkt wurden, existiert nicht mehr.
Im Jahre 1523 fand die letzte öffentliche Heiltumsweisung statt, da Nürnberg zur Reformation übertrat. Deshalb versuchte Papst Hadrian VI. der Stadt das Aufbewahrungsprivileg zu entziehen. Außerdem erhob Aachen als Aufbewahrungsort der „Aachener Kleinodien“ und traditioneller Krönungsort mehrfach Anspruch auf die Kleinodien, jedoch erfolglos. Die Nürnberger verwiesen darauf, dass das Heilig-Geist-Spital eine städtische Gründung sei, über welche der Papst nicht zu verfügen habe. Diesen Umstand nämlich hatte der Papst 100 Jahre zuvor übersehen.
Nachdem in Frankreich 1789 die Revolution begonnen hatte, wurde dort 1792 das Königtum gestürzt. Die Koalitionskriege, in denen die deutschen Heere die Monarchie in Frankreich wiederherzustellen versuchten, endeten mit dem Sieg des revolutionären Frankreich. So griff der Krieg auch auf Deutschland über, und im Jahr 1796 rückten die französischen Revolutionstruppen unter General Jean-Baptiste Jourdan gegen Nürnberg vor. So musste der Nürnberger Magistrat seinem Verwahrungsauftrag gemäß verfahren. Der Nürnberger Oberst Johann Georg Haller von Hallerstein wurde mit der Rettung der Reichskleinodien betraut, die schließlich dem kaiserlichen Prinzipalkommisär am immerwährenden Reichstag in Regensburg, dem Freiherrn Johann Aloys Josef von Hügel, übergeben wurden. Dieser nahm sie mit Bewilligung des Kaisers in seine Verwahrung und deponierte sie am Hof der von Thurn und Taxis in Regensburg. In der Eile waren allerdings einige Stücke der Kleinodien in Nürnberg zurückgeblieben, was aber durch die Franzosen nicht entdeckt wurde, so dass am 29. September desselben Jahres Oberst Haller die zweite Sendung unter anderem mit dem Reichsschwert, der Heiligen Lanze und dem Reichskreuz an den Freiherrn von Hügel in Regensburg übergeben konnte.
Wien
Der Aufenthalt der Reichskleinodien außerhalb der Mauern Nürnbergs sollte eigentlich nur vorübergehend sein. Sowohl Hügel als auch der damalige Kaiser Franz II. garantierten den Nürnbergern die sofortige Rückgabe der Reichskleinodien nach Beendigung der Gefahr. Wenig später war der Reichsschatz aber auch in Regensburg nicht mehr vor Napoleons Truppen sicher. Ohne Wissen und Zustimmung der Nürnberger transportierte von Hügel die Schätze über Passau nach Wien, wo sie am 29. Oktober 1800 der kaiserlichen Schatzkammer übergeben wurden. Der kaiserliche Schatzmeister bestätigte den Empfang der Reichskleinodien auf einer von den Nürnberger Losungern erstellten Flüchtlingsliste. Auf dieser Liste fehlten jedoch einige Gegenstände, wie zum Beispiel die Gugel (eine Mütze), eine Stola, zwei einfache Reichsäpfel und noch ein paar andere Bekleidungsgegenstände, die wahrscheinlich in den Wirren des Krieges verlorengingen.
Daneben wurden auch die sogenannten „Aachener Kleinodien“ nach Wien gebracht. So waren die Reichskleinodien in der kaiserlichen Schatzkammer vereinigt, wo sie geheim gehalten aufbewahrt wurden, während das Heilige Römische Reich, das von der Krone und den anderen Kleinodien symbolisiert wurde, in Trümmern versank. Als Reaktion auf die Krönung Napoleons zum Kaiser und die Gründung des „Rheinbundes“, der sich unter das Protektorat Napoleons stellte, legte Franz II. am 6. August 1806 die Krone des Heiligen Römischen Reiches nieder. Um zu verhindern, dass Napoleon an die erste Stelle der europäischen Fürsten durch seinen Kaisertitel aufrückte, machte er jedoch zuvor seine Anerkennung des Kaisertitels Napoleons von der Bestätigung eines neuen österreichischen Erbkaisertums abhängig. Er hatte deshalb bereits 1804 das Kaisertum Österreich proklamiert, für das die Hauskrone Rudolfs II. verwendet wurde.
Mit der Niederlegung der Krone des Reiches erklärte er, ohne durch die verbliebenen Reichsgremien dazu befugt gewesen zu sein, auch das Heilige Römische Reich für aufgelöst und entband alle Reichseinrichtungen und -beamten von ihren Pflichten gegenüber dem Reich. Damit hatte sich der Kaiser zwar formell über die Verfassung des Reiches hinweggesetzt, jedoch sprach der Kaiser nur aus, was faktisch schon geschehen war: Das Heilige Römische Reich hatte aufgehört zu existieren. Die Krone und die anderen Insignien waren damit keine Symbole des Reiches mehr. Sie standen nur noch als Schatz für eine fast tausendjährige Geschichte des Reiches. Die Kleinodien blieben in Wien und wurden im Jahre 1827 erstmals öffentlich als Museumsstücke in der Weltlichen Schatzkammer Wien gezeigt.
Nürnberg
Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 bestimmte Adolf Hitler, dass die Reichskleinodien von Wien wieder nach Nürnberg zu verbringen seien, womit seine Politik, Wien auf eine europäische Metropole zu reduzieren, einen Anfang nahm. In der Nacht vom 29. zum 30. August 1938 wurden die Kleinodien mit einem geheimen Sonderzug von Wien nach Nürnberg gebracht und dem Nürnberger Oberbürgermeister Willy Liebel übergeben. Zu einem Besuch Hitlers wurden die wichtigsten Teile der Kleinodien im Rathaussaal und danach in der Katharinenkirche ausgestellt.
Als nach Kriegsbeginn die Bedrohung durch Luftangriffe zunahm, wurde einer der ehemaligen Bierkeller im Nürnberger Burgberg als Historischer Kunstbunker ausgebaut, um dort Kunstschätze, darunter auch die Reichskleinodien, vor Bomben und Feuer zu schützen. Als sich die amerikanischen Truppen bei Kriegsende der Stadt näherten, brachten vier Beamte in einer heimlichen Aktion die Reichskrone zusammen mit anderen Teilen der Reichskleinodien in einen Teil des Paniersbunker, in dem auch die lokale Verwaltung untergebracht war. Dort wurden sie in einer Nische versteckt und eingemauert. Diese Aktion wurde strikt geheim gehalten. Um den Eindruck zu erwecken, dass diese Gegenstände nicht mehr in Nürnberg seien, wurde ein Scheintransport durchgeführt.
Als amerikanische Truppen nach dem Ende der Schlacht um Nürnberg am 20. April 1945 in das Stadtzentrum einrückten und das Fehlen der Krone im Kunstbunker bemerkten, suchten sie nach den Geheimnisträgern. Der an der Aktion beteiligte städtische Luftschutzdezernent Fries gab das Versteck preis, nachdem ihm im Verhör zugesichert wurde, dass die Reichsinsignien nicht als Beutegut nach Amerika gebracht würden. Am 4. Januar 1946 wurden die Reichskleinodien nach Wien zurückgebracht.
Wien
Seitdem wird die Reichskrone neben den anderen Reichskleinodien wieder im weltlichen Teil der Schatzkammer der Wiener Hofburg ausgestellt. Die Inventarnummer ist SK Inv.-Nr. XIII 1.
Die Reichskrone als Symbol
Auf der einen Seite sind auf der Reichskrone viele in der Krone verarbeitet (wie die Bildplatten), auf der anderen Seite entfaltete die Reichskrone solche Bedeutung, dass sie selbst zum Symbol wurde. Die Reichskrone auf rotem Grund war beispielsweise das heraldische Abzeichen des Erzschatzmeisters (Archithesaurarius), das zum Beispiel der Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg im Herzschild (Schild innerhalb des Wappenschildes) seines Wappens führte, etwa Georg I. von Großbritannien und Irland im Herzschild des vierten Wappenfeldes.
Die im Folgenden aufgeführte Trennung der Funktion und Bedeutung der Reichskrone in eine weltliche und in eine religiöse Komponente ist sicherlich schwierig, da zur Zeit der Entstehung der Krone und in späteren Jahrhunderten diese Funktionen untrennbar miteinander verbunden waren. Sie verkörperte die Idee des Gottesgnadentums im Heiligen Römischen Reich. Für heutiges Denken ist es kaum noch möglich, sich das Wesen des Reichsgedankens als weltliches Reich Gottes vorzustellen. Um dennoch die Möglichkeit zu bieten, sich dem Thema zu nähern, wurde diese Unterteilung hier gewählt.
Weltlicher Aspekt
Den Reichsinsignien und besonders der Reichskrone kam für das Hochmittelalter besonders die Legitimationsfunktion zu.
Das deutsche Königtum war erstens ein Wahlkönigtum. Das heißt unter anderem, dass es kein durchgehendes Herrschergeschlecht gab, welches das Reich repräsentierte, auch wenn sehr häufig die Söhne oder andere Verwandte der Kaiser beziehungsweise Könige zum römisch-deutschen König gewählt wurden. Um zu bekräftigen, dass jemand der rechtmäßige Souverän war, musste er sich durch den Besitz der Krone und der dazugehörenden Reichskleinodien ausweisen können. Durch das öffentliche Präsentieren der auctoritas, der Reichsinsignien, wies sich dieser also als rechtmäßiger Herrscher aus. So wurden beispielsweise die Reichskleinodien seit dem Jahr 1354 einmal jährlich vom Turm der Heilig-Blut-Kapelle auf dem Karlsplatz in Prag, aber auch in Basel und später in Nürnberg, öffentlich gezeigt. Diese Heiltumsweisungen sind seit Karl IV. (1316–1378) bekannt und waren das Ziel von Massenwallfahrten.
Zweitens waren die Könige beziehungsweise Kaiser des Mittelalters auf permanenter Reise (Reisekönigtum) oder auf Feldzügen innerhalb und außerhalb des Reiches, um ihre Macht zu demonstrieren und eventuell zu verteidigen, Krieg zu führen, um Recht zu sprechen und den Hofstaat durch die verschiedenen Pfalzen verpflegen zu lassen. Dem Reich fehlte dadurch, aber auch durch seinen überweltlichen Anspruch als Reich Gottes, die ideelle und geografische Mitte. Ihm fehlte eine Hauptstadt oder wenigstens ein Hauptort, an dem die Macht des Reiches präsentiert werden konnte. Durch den Kaiser beziehungsweise König wurde dem Reich wenigstens eine personelle Mitte gegeben. Zentrum des Reiches, der Gegenstand, in dem es tatsächliche Sichtbarkeit erlangte, war aber nur die Reichskrone und die anderen Reichskleinodien. Die Krone selbst wurde daz riche genannt und so schrieb 1316 die Burgvögtin der habsburgischen Kyburg do daz rich bi mir zu kyburc waz, also als die Krone dort verwahrt wurde.
Wer über die Reichsinsignien verfügte, hatte nach außen die rechtmäßige Herrschergewalt. Deshalb wechselten die Reichsinsignien mindestens zweimal mit Gewalt den Besitzer. Um sich mit dem Reichsschatz das Königsamt zu sichern, überfiel der spätere Heinrich II. den aus Rom heimkehrenden Leichenzug Ottos III., um dem Toten die Reichsinsignien zu entreißen. Weiterhin wurden mit List Heinrich IV. die Zeichen königlicher Würde von seinem eigenen Sohn, dem späteren Heinrich V., entwendet.
Einem weiteren Beispiel für den Kampf um die Reichsinsignien begegnet man bei dem bereits erwähnten Kaiser Karl IV. Er wurde am 11. Juli 1346 von fünf Kurfürsten zum König gewählt und in Bonn mit nachgemachten Reichsinsignien gekrönt. Es ist bekannt, dass die Erhebung des Luxemburgers zum König unter den Zeitgenossen heftige Reaktionen auslöste. Schließlich wurde Karl als Gegenkönig und Favorit des Papstes Clemens VI. erhoben, während der Wittelsbacher Ludwig der Bayer die Herrschaft im Reich noch innehatte. Nach jahrelangem Krieg, mit diversen Intrigen, Kampf mit Bischöfen, Herzögen und einem weiteren nach Ludwigs Tod gewählten Gegenkönig gelang es Karl die wittelsbachische Gegenpartei zur Herausgabe der Insignien zu zwingen. Trotzdem musste er bei der zweiten Krönung in Aachen (also jetzt am rechten Ort), die er genau auf das Ende der vereinbarten Frist zur Herausgabe gelegt hatte, noch immer auf diese Insignien verzichten. Im Februar 1350 schaltete er den Pfalzgrafen Ruprecht in neue Verhandlungen ein. Der Bautzener Vertrag vom 14. Februar 1350 stellte ihm den Erwerb auf den 4. April des gleichen Jahres in Aussicht.
Schon einen Monat vorher schickte Karl Bevollmächtigte nach München. Sie erhielten am 12. März 1350 das heiligtum des heiligen reichs und die cleynod, die in einer feierlichen Urkunde einzeln aufgezählt werden. Darunter befand sich auch besunder gancz und unverruket des egenanten heiligen keiser Karls guldein kröne mit dem pogen und dem crücze, die darauf gehörnet, geworcht von mangem edeln gesteine und golde, darinne ist besunder geworcht ein edel stein, den man nennet den waysen. Fast einhellig hat die Forschung diese Beschreibung auf die Reichskrone bezogen. Dies ist im Übrigen eine der ersten Erwähnungen der Krone als von Karl dem Großen stammend. Daneben ist diese Urkunde die bereits angeführte letzte Erwähnung des Waisen. Unverzüglich ließ Karl diese Krone mit den übrigen Reichsinsignien nach Prag bringen. In feierlicher Prozession geleitete er sie am Palmsonntag, dem 21. März 1350, auf den Hradschin und wies sie dem Volke vor. Kurz darauf schon führte er sie wieder nach Nürnberg, wohin er auf den 4. April einen Reichstag einberufen hatte. Auch dort stellte er sie feierlich aus. Allen Reichsständen wollte Karl seine königliche Macht demonstrieren.
Wenn die Krone besonders im Mittelalter sinn- und identitätsstiftend war, so wurde sie in der Frühen Neuzeit, insbesondere seit der Zeit der Aufklärung, als fragwürdig, ja sogar als lächerlich empfunden. Johann Wolfgang von Goethe, der am 3. April 1764 Augenzeuge der Krönung Josephs II. zum römisch-deutschen König in Frankfurt war, schrieb dazu in Dichtung und Wahrheit I,5:
Religiöser Aspekt
Im Frühmittelalter drückte sich in der Reichskrone die Vorstellung von Christus als König der Könige aus. So sagen es die Bildplatten, insbesondere die Christusplatte, die mit dem Spruch Per me reges regnant („Durch mich herrschen die Könige“) dem Kaiser das Gottesgnadentum zuweist und ihn so erhöht. Diesen ewigen König-Priester repräsentiert auf Erden der gekrönte Kaiser, er ist also gleichzeitig König und Priester (siehe auch Offenbarung des Johannes 21, 10–11, und Kaiserkult).
Mit diesem Kunstwerk wollte man also Gott verherrlichen, die kaiserliche bzw. königliche Herrschaft religiös legitimieren und den Kaiser und die Gefolgschaft zur Einhaltung der christlichen Herrschertugenden anhalten. Die Bildplatten zeigen sehr deutlich, welche dieser Tugenden gefordert waren und formulieren ein Herrscherideal: Salomo steht für Gottesfurcht und Weisheit, König David für Gerechtigkeit, König Ezechias und Prophet Jesaja stehen für ein langes Leben durch Gottvertrauen.
Daneben kam der Krone und den anderen Reichskleinodien eine Rolle als Reliquie bei den Heiltumsweisungen zu. So wandte sich Karl IV. am 17. August 1350 an Papst Clemens VI. und bat ihn, allen andächtigen Betrachtern der Reichsinsignien einen Ablass zu gewähren. Durch diese Erhöhung zu einem Objekt der Volksfrömmigkeit wurde die Würde und die Wirksamkeit der Insignien, aber insbesondere der Krone, verstärkt. Im Jahr 1353 wurde durch Karl erwirkt, dass an dem Altar, auf dem die Insignien ruhten, ein Pontifikalamt gehalten werden durfte.
Durch diese Maßnahmen hatte Karl einen Kult der Reichsinsignien etabliert, der seinen Eindruck auf die Menschen der damaligen Zeit nicht verfehlte. So notierte der Klosterchronist des niederösterreichischen Stiftes Zwettl, als Karl dieses besuchte:
Auch wenn es sich bei der Krone um keine Reliquie im engeren Sinne handelt, ist insgesamt in der Symbolik und in der Präsentation, die eben die Verehrung durch das Volk ausdrücklich einschließt, ein sakramentaler Charakter unübersehbar.
Seit der Reformation jedoch spielt die religiöse Komponente kaum noch eine Rolle bei der Bewertung der Krone und der anderen Reichsinsignien.
Rezeption
Die Reichskrone wurde auch nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs als Symbol für ein „deutsches Kaiserreich“, nicht nur für das Alte Reich, aufgefasst. Als Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung 1849 angebotene „deutsche Kaiserkrone“ ablehnte (er sprach hierbei von einem „Ludergeruch von Revolution“, der ihr anhafte), wurde diese auf einer Karikatur wie selbstverständlich als Reichskrone dargestellt. Auch die Krone des Deutschen Reiches von 1871, die zwar nie wirklich existierte, aber per Erlass als Symbol bereits am 15. Oktober 1871, also ein knappes Jahr nach der Reichsgründung, eingeführt wurde, ähnelte sehr der Reichskrone.
In Meyers Konversations-Lexikon von 1888 liest man darüber folgendes:
Obwohl sich der Kaiser diese Krone also niemals wirklich auf den Kopf setzen konnte, war die neue Kaiserkrone überall präsent. Ob im Wappen des Reiches (einem Reichsadler mit Krone über dem Kopf), auf Münzen und Geldscheinen, Briefmarken und in der Hauptstadt Berlin. Besonders in den Verzierungen des dortigen Reichstagsgebäudes ist sie oft zu sehen. Dieselbe Krone wird heute noch von dem monarchistischen Verein Tradition und Leben, der sich eine Wiedereinführung des Deutschen Kaiserreichs zum Ziel gemacht hat, als Symbol verwendet. Dieser sieht die Krone als Symbol für die deutsche Einheit, vor allem aber für die christlichen Werte des Abendlandes – diese sind in der alten Reichskrone jedoch viel stärker symbolisiert.
Keine andere europäische Krone, nicht die russische, nicht die englische oder spanische entfalteten jemals eine solche Wirkung und Symbolkraft wie die Reichskrone. Dies lag nicht nur in ihrer rechtlichen Stellung begründet, sondern hing sicher auch mit ihrer kultischen Bedeutung und der langen historischen Kontinuität zusammen. Vergleichbar mit der Reichskrone sind in dieser Hinsicht nur die böhmische Wenzelskrone, die ungarische Stephanskrone und die lombardische Eiserne Krone.
Nachbildungen der Reichskrone sind im Historischen Museum Frankfurt, im Aachener Rathaus und im Nürnberger Rathaus ausgestellt. Die Frankfurter Replik datiert aus dem Jahr 1913, die Aachener Kopie wurde 1915 von Paul Beumers fertiggestellt, die Nürnberger Nachbildung entstand 1985–1990.
Literatur
Quellen
Karl IV: Vita Caroli Quarti. Die Autobiographie Karls IV. Einführung, Übersetzung und Kommentar von Eugen Hillenbrand. Fleischhauer u. Spohn, Stuttgart 1979, ISBN 3-87230-202-7.
Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. Erster Teil, Fünftes Buch, Schilderung der Krönung Josephs II. zum römisch-deutschen König
Erklärung des Kaisers Franz II. über die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone vom 6. August 1806
Darstellungen
Hermann Fillitz: Die Insignien und Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches. Schroll, Wien u. a. 1954.
Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom 3. bis zum 16. Jahrhundert (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica. 13, ). 3 Bände. Hiersemann, Stuttgart 1954–1956, (Dazu: Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert. Nachträge aus dem Nachlaß. Monumenta Germaniae Historica, München 1978, ISBN 3-921575-89-3).
Reinhart Staats: Theologie der Reichskrone. Ottonische „Renovatio Imperii“ im Spiegel einer Insignie (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters. Bd. 13). Hiersemann, Stuttgart 1976, ISBN 3-7772-7611-1 (Zugleich: Heidelberg, Universität, Habilitations-Schrift, 1972/1973).
Reinhart Staats: Die Reichskrone. Geschichte und Bedeutung eines europäischen Symbols. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1991, ISBN 3-525-36226-9.
Mechthild Schulze-Dörrlamm: Die Kaiserkrone Konrads II. (1024–1039). Eine archäologische Untersuchung zu Alter und Herkunft der Reichskrone (= Römisch-Germanisches Zentralmuseum zu Mainz, RGZM, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte. Monographien. Bd. 23). 2. Auflage. Thorbecke, Sigmaringen 1992, ISBN 3-7995-4136-5 (Zur Ausstellung „Die Salier und Ihr Reich“ 1992).
Gunther G. Wolf: Die Wiener Reichskrone (= Schriften des Kunsthistorischen Museums. Bd. 1). Kunsthistorisches Museum u. a., Wien u. a. 1995, ISBN 3-900325-40-5.
Hans M. Schaller: Die Wiener Reichskrone – entstanden unter König Konrad III. In: Karl-Heinz Rueß (Red.): Die Reichskleinodien. Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches (= Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst. Bd. 16). Gesellschaft für staufische Geschichte, Göppingen 1997, ISBN 3-929776-08-1, S. 58–105.
Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (= C.-H.-Beck-Studium). 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Beck, München 1997, ISBN 3-406-36749-6, Abschnitt „Mittelalterliche Hermeneutik“.
Herwig Wolfram: Konrad II. 990–1039. Kaiser dreier Reiche. Beck, München 2000, ISBN 3-406-46054-2, S. 164–171.
Sebastian Scholz: Die Wiener Reichskrone. Eine Krone aus der Zeit Konrads III. ? In: Hubertus Seibert, Jürgen Dendorfer (Hrsg.): Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich. (1079–1152) (= Mittelalter-Forschungen. Bd. 18). Thorbecke, Ostfildern 2005, ISBN 3-7995-4269-8, S. 341–362.
Sabine Haag (Hrsg.): Meisterwerke der Weltlichen Schatzkammer (= Kurzführer durch das Kunsthistorische Museum. Bd. 2). Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 2009, ISBN 978-3-85497-169-6.
Weblinks
Die Reichskrone in der Objektdatenbank der Kunsthistorischen Museums Wien
Anmerkungen zur Reichskrone
Arbeit von Arnold Mentzel-Reuters „Die goldene Krone - Entwicklungslinien mittelalterlicher Herrschaftssymbolik“, in der er die Existenz des Waisen an der Krone bestreitet (PDF; 303 KB)
„Die Krone des Reiches“ von Maria Schmidt, Der Weg der Reichskrone, Staatsbriefe 8, 1996, S. 18–30
Einzelnachweise
Reichskleinodien
Herrschaftsinsigne
Krone (Einzelstück)
Ottonische Kunst |
293484 | https://de.wikipedia.org/wiki/San%20Jose%20Sharks | San Jose Sharks | Die San Jose Sharks (IPA: ) sind ein US-amerikanisches Eishockeyfranchise der National Hockey League aus San José im Bundesstaat Kalifornien. Es wurde am 9. Mai 1990 gegründet und nahm zum Beginn der Saison 1991/92 den Spielbetrieb auf. Die Teamfarben sind Dunkelpazifik-Türkis, Schwarz, Dunkelorange und Weiß. Aufgrund ihrer im amerikanischen Vereinssport populären Teamfarben ist die Mannschaft auch als „Team Teal“ bekannt.
Die Sharks tragen ihre Heimspiele im SAP Center aus und sind eines der ersten Franchises, die aus der Ligaerweiterung der 1990er-Jahre hervorgingen. Nach einem schwierigen Start in die als spielstärkste Eishockeyliga der Welt geltende NHL durchlebte das nordkalifornische Franchise im Laufe der 1990er-Jahre Höhen und Tiefen, bis es sich zu Beginn des neuen Jahrtausends unter den besten Mannschaften der Liga etablierte. Der Gewinn des prestigeträchtigen Stanley Cups blieb dem Team bisher verwehrt.
Geschichte
Eishockey in der Bay Area
Bis 1967 bestand die National Hockey League aus sechs Teams, den Original Six, die im Norden, Osten und Landesinneren Nordamerikas angesiedelt waren. In diesem Jahr entschied sich die NHL, die Liga um sechs Teams zu erweitern, um neue Regionen zu erschließen, die der Eishockeysport ansprechen könnte. Obwohl Kalifornien nicht unbedingt als guter Markt für Eishockey galt, wurde ein Franchise in der San Francisco Bay Area angesiedelt. Das Team trug zunächst den Namen California Seals – später auch Oakland Seals und California Golden Seals – und hatte in den folgenden Jahren weder sportliche noch wirtschaftliche Erfolge zu verzeichnen. Nach neun Jahren wurde das Team 1976 an die Geschäftsleute George und Gordon Gund verkauft, die das Team nach Cleveland im US-Bundesstaat Ohio umsiedelten, wo es den Namen Cleveland Barons annahm. Nach zwei weiteren Jahren ohne sportliche Erfolge entschieden sich die Gund-Brüder ein weiteres NHL-Team zu kaufen, die finanziell angeschlagenen Minnesota North Stars. Sie fusionierten beide Teams, die fortan unter dem Namen der North Stars auftraten. Nach einigen Jahren hatten die Brüder den Wunsch das Team zurück in die Bay Area nach Kalifornien zu verlegen, jedoch verweigerte die NHL die Zustimmung. Allerdings machte die Liga das Angebot, dass die Brüder Gund ein neues Franchise in der Bay Area ansiedeln könnten und einige Spieler der North Stars, die an einen neuen Besitzer verkauft werden sollten, mit in das neue Team nehmen dürften. Damit wurde die Fusion der Minnesota North Stars und der Cleveland Barons von 1978 rückgängig gemacht.
Schwieriger Start (1990 bis 1993)
Im Mai 1990 wurden die North Stars an den neuen Besitzer verkauft und die Gebrüder Gund erhielten den Zuschlag für ein neues Franchise im kalifornischen San José. In einer Abstimmung unter zukünftigen Fans und aktuellen Unterstützern sollte der Beiname des Teams festgelegt werden. Auf Platz eins landete „Blades“ (dt. etwa Klinge, Messer), doch die Brüder waren damit nicht zufrieden, da das Wort negative Aspekte beinhaltete. Der zweitplatzierte Name wurde schließlich ausgewählt und das Team bekam den Namen „San Jose Sharks“ (dt. Haie), wodurch eine Assoziation zum Pazifischen Ozean hergestellt wurde, da im Bereich der Bay Area mehrere Haiarten heimisch sind. Das erste Farmteam der Sharks, die Kansas City Blades, trug jenen von den Besitzern abgelehnten Beinamen.
Am 30. Mai 1991 nahm der Kader San Joses die ersten Konturen an. Im NHL Dispersal Draft wurden die von den Draft-Regularien ungeschützten Spieler aus dem System von Minnesota offiziell zwischen den North Stars und den Sharks aufgeteilt, und die Kader der Teams durch Spieler aus dem folgenden Expansion Draft aufgefüllt. Des Weiteren durften sich die Sharks im NHL Entry Draft, der drei Wochen nach dem Dispersal Draft stattfand, und im NHL Supplemental Draft erstmals die Rechte an jungen Talenten sichern. Mit ihrem ersten Wahlrecht im Entry Draft an der zweiten Position der ersten Runde wählten sie Pat Falloon aus und mit ihrem zweiten Pick an Gesamtposition 23 in der zweiten Runde Ray Whitney. Im Supplemental Draft wählten sie als Gesamtersten den Kanadier Jeff McLean und an siebter Position Mark Beaufait.
Die Saison 1991/92 begann und die Sharks starteten – wie bei Expansion Teams üblich – mit einem sportlich schwach besetzten Kader ohne große Namen in ihr erstes Jahr. Als Trainer hatte die Klubführung den Kanadier George Kingston verpflichtet. Ihre Heimspiele trugen sie zunächst im Cow Palace in Daly City, etwas außerhalb von San Francisco, aus, da in San José noch keine geeignete Halle zur Verfügung stand. Im ersten NHL-Spiel am 4. Oktober 1991 unterlag das Team den Vancouver Canucks mit 3:4 Toren. Craig Coxe erzielte dabei, auf Vorlage von Mark Pavelich, das erste Tor in der Franchise-Geschichte. Der erste Sieg gelang vier Tage später in einem Heimspiel gegen die Calgary Flames. Kelly Kisio erzielte drei Minuten vor Spielende den Siegtreffer zum 4:3. Wie so oft bei Expansion Teams, verlief die erste Saison insgesamt unbefriedigend. Die Mannschaft gewann lediglich 17 von 80 Spielen. Die Saison beendeten sie als punktschlechtestes Team der gesamten Liga.
Die darauffolgende Spielzeit verlief sportlich schlechter als die vorangegangene, da den Sharks in 84 Spielen nur elf Siege gelangen. Dem standen 71 Niederlagen gegenüber, die einen neuen NHL-Negativrekord bedeuteten, woraufhin die Klubführung Cheftrainer Kingston entließ. Nur den Ottawa Senators, die sich in ihrer ersten Saison befunden hatten, erging es noch ein wenig schlechter, da sie zehnmal gewannen. Später bezichtigten die Sharks der Mannschaft aus Ottawa, Spiele bewusst verloren zu haben, um in dem im Sommer stattfindenden NHL Entry Draft vom Recht des ersten Draft-Picks zu profitieren und Alexandre Daigle auszuwählen. Um diesem Verhalten Einhalt zu gewähren, führten die Ligaoffiziellen zum NHL Entry Draft 1995 ein Lotteriesystem ein.
Erste Erfolge (1993 bis 1995)
Ab der Saison 1993/94, zu der die San Jose Arena – heute bekannt als SAP Center – eröffnet wurde, trugen die Sharks ihre Spiele in San José aus. Unter dem neuen Trainer Kevin Constantine präsentierten sich die Sharks auf sportlicher Ebene runderneuert. Vor Saisonbeginn hatte das Franchise weltweit für Aufsehen gesorgt. Nachdem die Vereinsführung im NHL Waiver Draft im Oktober 1992 Igor Larionow unter Vertrag genommen hatte, war es ihr im Sommer gelungen, mit Sergei Makarow, einen weiteren Spieler der „KLM-Reihe“ zu verpflichten. Larionow, der bis dahin noch kein Spiel für San Jose bestritten hatte, unterzeichnete daraufhin ebenfalls einen Vertrag. Gemeinsam mit dem Schweden Johan Garpenlöv bildeten sie die sogenannte „OV-Reihe“.
Zum Ende der regulären Saison erreichte die Mannschaft 82 Punkte. Da sich diese Wertung im Vorjahr auf 24 Punkte summiert hatte, erzielte die Mannschaft mit ihrer Steigerung um 58 Punkte die größte Verbesserung zwischen zwei Spielzeiten und somit einen neuen NHL-Rekord. Die Sharks belegten den achten Platz der Western Conference und qualifizierten sich somit erstmals für die Play-offs. Dort trafen sie in der ersten Runde auf die in der Setzliste an erster Position stehenden Detroit Red Wings. Die Sharks bezwangen diese im entscheidenden siebten Spiel der Serie. In der nächsten Runde spielten die Sharks gegen die Toronto Maple Leafs. Nach fünf Spielen führte San Jose in der Serie mit 3–2. Im sechsten Spiel stand es nach 60 Minuten 2:2 und das Spiel ging in die Overtime. Johan Garpenlöv traf die Torlatte der Maple Leafs und versäumte es daher, San Jose in die nächste Runde zu schießen. Kurz darauf erzielten die Maple Leafs den Siegtreffer. Im siebten Spiel gewann erneut Toronto und die Nordkalifornier schieden aus.
Aufgrund des Lockouts spielte die NHL in der Saison 1994/95 einen verkürzten Spielplan mit lediglich 48 Begegnungen. Die Sharks zogen erneut in die Playoffs ein und schlugen in der ersten Runde die Calgary Flames im siebten und entscheidenden Spiel in der zweiten Verlängerung. In der zweiten Runde endeten die Playoffs für das Team. Die Detroit Red Wings revanchierten sich mit einem 4–0-Sweep für die Niederlage aus dem Vorjahr. Die wichtigsten Stützen des Teams waren zu dieser Zeit Torhüter Artūrs Irbe, Verteidiger Sandis Ozoliņš und die Stürmer Igor Larionow und Sergei Makarow. Im März 1995 wurde das erste und bisher einzige Spiel der NHL-Geschichte wegen Regens abgesagt. Der Guadalupe River, der durch San José fließt, war wegen starker, anhaltender Regenfälle über seine Ufer getreten. Damit war es unmöglich, in die San Jose Arena zu gelangen, um das Spiel zwischen den Sharks und den Detroit Red Wings vor Ort zu verfolgen.
Rückschläge und Umstrukturierung (1995 bis 1999)
Die folgende Saison 1995/96 verlief nicht so erfolgreich wie die vorangegangenen und San Jose verpasste nach zwei Jahren erstmals wieder die Playoffs. Makarow hatte das Team vor Saisonbeginn verlassen und so gab der Verein im Oktober 1995, nach einem unter den Erwartungen liegenden Saisonstart, den 36-jährigen Larionow nach Detroit und Ozoliņš nach Colorado ab. Im Gegenzug erhielten die Nordkalifornier Ray Sheppard aus Detroit und Owen Nolan aus Colorado, der während seiner Zeit in San José zum Führungsspieler des Teams avancieren sollte. Der Neuaufbau beinhaltete auch den Austausch von Trainer Constantine, der während der Spielzeit durch Jim Wiley ersetzt wurde. Nach der Saison erhielt Torhüter Irbe, der wegen einer Verletzung lange gefehlt hatte, die Freigabe den Verein zu wechseln und bekam keinen neuen Vertrag.
Vor der Saison 1996/97 verpflichteten die San Jose Sharks den Stürmer Tony Granato, der in der Vorsaison eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte, ebenso wie Al Sims als neuen Trainer. Dennoch gelang ihnen der Einzug in die Endrunde nicht, obwohl sie kurz vor dem Ende der Wechselfrist mit Ed Belfour einen Torhüter mit großer Playoff-Erfahrung unter Vertrag genommen hatten. Mit 27 Siegen beendete die Mannschaft die reguläre Saison wie im Vorjahr auf dem letzten Platz der Pacific Division. Der Höhepunkt der Saison war die Austragung des NHL All-Star Games in der heimischen San Jose Arena, dessen Gastgeber die Sharks bereits in der verkürzten Spielzeit 1994/95 hätten sein sollen. An diesem nahmen mit Granato und Nolan, dem in diesem Spiel ein Hattrick gelang, zwei Vertreter der Sharks teil. Granato gelang es zudem als erstem Spieler der Franchise-Geschichte, mit einem der NHL Awards ausgezeichnet zu werden. Er erhielt die Bill Masterton Memorial Trophy für sein erfolgreiches Comeback nach der Kopfverletzung.
Zu Beginn der Saison 1997/98 stellte die Vereinsführung Darryl Sutter als neuen Trainer vor und verpflichtete mit Mike Vernon einen erfahrenen Torhüter, der wenige Monate zuvor die Detroit Red Wings zum Gewinn des Stanley Cups geführt hatte. Außerdem wählte sie mit Patrick Marleau an der zweiten Gesamtposition im NHL Entry Draft 1997 einen talentierten Spieler aus. Mit Marco Sturm schloss sich ein junger deutscher Spieler dem Team an. Die Umstrukturierungen lohnten sich, da das Team wieder die Playoffs erreichte, allerdings scheiterte es in der ersten Runde an den Dallas Stars.
Im Jahr darauf, in dem die Sharks die Saisonauftaktpartie in der japanischen Hauptstadt Tokio gegen die Calgary Flames bestritten, erreichte San Jose trotz einer negativen Bilanz als Siebter in der Western Conference die Playoffs. Wieder schieden die Sharks in der ersten Runde aus, dieses Mal in sechs Spielen gegen die Colorado Avalanche. Dies ereignete sich trotz eines in seiner Stärke ausgeglichenen Torhüterduos. Es bestand aus Mike Vernon und dem jungen Steve Shields, der sich im Saisonverlauf gut entwickelt hatte. Auch die Verpflichtung des erfahrenen Centers Vincent Damphousse aus Montréal im März 1999 änderte nichts am Erstrunden-Aus des Teams.
Zurück in den Playoffs (1999 bis 2002)
In der Millenniumssaison 1999/2000 gewannen die Sharks erstmals in ihrer Geschichte mehr Spiele in der regulären Saison, als sie verloren. Zudem verbesserten sie ihren Saisonrekord zum sechsten Mal in Folge. In den Playoffs trafen sie mit den St. Louis Blues auf das beste Team der regulären Saison. Nach einer ausgeglichenen Serie über sieben Spiele gingen die Sharks aus dieser als Sieger hervor und besiegten zum zweiten Mal das beste Team der Western Conference, nachdem ihnen dies mit einem Seriensieg über die Detroit Red Wings im Jahr 1994 gelungen war. In der zweiten Runde erzielten sie gegen die Dallas Stars lediglich einen Sieg und schieden aus.
Im Spieljahr 2000/01 strebten die Sharks weiter nach oben und verbesserten ihren Saisonrekord abermals. Der Torhüter Jewgeni Nabokow absolvierte eine starke erste Saison als Stammtorhüter und erhielt die Calder Memorial Trophy als bester Rookie der NHL. Erneut traf die Mannschaft in der ersten Runde der Playoffs auf die St. Louis Blues, doch diesmal hatten diese das glücklichere Ende für sich und revanchierten sich für die Niederlage der letztjährigen Playoffs. Obwohl im März 2001 mit dem Finnen Teemu Selänne von den Mighty Ducks of Anaheim im Austausch gegen Torhüter Steve Shields und Stürmer Jeff Friesen noch eine namhafte Verstärkung verpflichtet wurde und die Klubführung sich dadurch mehr ausgerechnet hatte, war die Mannschaft nicht in der Lage in den Playoffs in die nächste Runde vorzustoßen.
Zu Beginn der nächsten Saison nahmen die Sharks den NHL-Veteranen Adam Graves unter Vertrag und gewannen, dank einer ausgeglichenen Teamleistung auf allen Positionen, zum ersten Mal den Titel in der Pacific Division. Der Mix aus älteren Spielern, wie Vincent Damphousse, Gary Suter und eben Adam Graves und jungen Spielern wie Patrick Marleau und Marco Sturm gab den Sharks den entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Teams. Zudem akzeptierten weniger talentierte Spieler ihre Rolle im Team und setzten sich für selbiges ein. In der ersten Runde der Playoffs besiegten sie die Phoenix Coyotes in fünf Spielen, jedoch war das Erreichen der zweiten Runde, wie in den Vorjahren, gleichbedeutend mit dem Ausscheiden. Die Sharks unterlagen der Colorado Avalanche knapp in sieben Spielen.
Nach der Saison übergaben die Gund-Brüder die Besitzrechte an den San Jose Sharks offiziell an eine Gruppe lokaler Investoren, die San Jose Sports & Entertainment Enterprises (SJSEE). Diese hatte, unter der Führung von Greg Jamison, die Rechte des Franchises am 26. Februar 2002 käuflich erworben.
Tief- und Höhepunkte (2002 bis 2005)
Die Saison 2002/03 stellte einen Tiefpunkt für das Sharks-Franchise dar. In der Saisonvorbereitung hatte es sowohl im Trainerstab als auch im Management Versäumnisse gegeben, worunter die Stimmung im Team über große Teile der Spielzeit litt. Das alles führte dazu, dass die Sharks die Playoffs verfehlten. Während der Saison entließ die Vereinsführung Trainer Darryl Sutter und ersetzte ihn durch Ron Wilson. Bereits während der missglückten Spielzeit kam es zum Ende der Wechselfrist und in der Sommerpause zum großen Umbruch und Neuanfang innerhalb der Mannschaft. Owen Nolan, der langjährige Kapitän des Franchises, wechselte nach Toronto, Selänne ging nach Colorado. Ebenso mussten weitere Spieler das Team verlassen. Mit Alyn McCauley und Wayne Primeau kauften die Sharks etwas jüngere Spieler, die allerdings über genügend NHL-Erfahrung verfügten. Hinzu kamen junge und unerfahrene Spieler, wie Jim Fahey, Niko Dimitrakos und Christian Ehrhoff.
Die Saison 2003/04 wurde zu einem neuen Wendepunkt für die Sharks. Die Mannschaft spielte die bis dahin beste Saison seit Bestehen des Franchises und schloss die reguläre Saison auf dem zweiten Platz der Western Conference mit einem Franchise-Rekord von 104 Punkten ab. Patrick Marleau übernahm in der zweiten Hälfte der Saison die Kapitänsrolle und entwickelte sich zum Führungsspieler. In der ersten Runde der Playoffs trafen sie zum wiederholten Mal auf St. Louis und schlug diese deutlich nach Spielen mit 4–1. In der nächsten Runde spielte San Jose gegen Colorado und zum ersten Mal gewannen die Sharks eine Serie der zweiten Runde. Im Conference-Finale traten sie gegen die Calgary Flames an, die den Höhenflug der Sharks in sechs Spielen stoppten.
Nach der Saison verhandelten die NHL, die Teambesitzer und die Spieler über ein neues Collective Bargaining Agreement, eine Art Tarifvertrag. Die Verhandlungen führten dazu, dass die Teams ihre Spieler aussperrten, was wiederum dazu führte, dass die Spieler zu europäischen Teams wechselten, da der Saisonstart der NHL-Saison auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Schließlich wurde die Saison im Februar 2005 komplett abgesagt und erst im Juli 2005 konnten sich die drei Parteien einigen.
Superstars bei den Sharks (2005 bis 2007)
Die Sharks starteten schlecht in die Saison 2005/06. Mehrere erfahrene Spieler hatten das Team verlassen, die Angriffsreihen schossen nicht genug Tore, Torhüter Nabokow spielte schwach und sein Back-up Vesa Toskala hatte mit Verletzungen zu kämpfen. Dies alles führte dazu, dass San Jose bis November auf dem letzten Platz der Pacific Division abrutschte. Das Management entschied sich für einen sogenannten „Blockbuster“-Transfer, in dem Marco Sturm, Brad Stuart und Wayne Primeau für Joe Thornton zu den Boston Bruins transferiert wurden. Die Medien waren der Meinung, dass den Sharks damit ein großer Coup gelungen war, während sie das Management der Boston Bruins nicht verstanden, die damit einen ihrer Führungsspieler abgegeben hatten. Möglich geworden war dieser große Einschnitt durch die guten Draftwahlen der Sharks in den vergangenen Jahren, die einen talentierten Unterbau im Farmsystem begründeten. Die Verpflichtung von Thornton stellte sich als vorteilhaft heraus, da er mit Jonathan Cheechoo in einer Angriffsreihe spielte, der sich nach zwei durchwachsenen Spielzeiten an Thorntons Seite zu einem Torjäger entwickelte. Zusammen mit Nils Ekman bildeten sie eine der besten Sturmreihen der Liga. Vesa Toskala übernahm die Rolle als Stammtorhüter und das Team kletterte in der Tabelle stetig nach oben. Schließlich gelang der Mannschaft die Qualifikation für die Playoffs. In der ersten Runde besiegten sie die Nashville Predators mit 4–1, verlor jedoch in der zweiten Runde gegen die Edmonton Oilers trotz einer zwischenzeitlichen Führung von 2–0 in der Serie mit 2–4. Die Saison fand für Thornton und Cheechoo einen versöhnlichen Abschluss: Cheechoo erhielt für seine 56 Saisontore die Maurice ‚Rocket‘ Richard Trophy als bester Torschütze der Liga, Thornton bekam die Art Ross Trophy als bester Scorer verliehen und wurde zudem mit der Hart Memorial Trophy als wertvollster Spieler der NHL ausgezeichnet.
Während der Sommerpause nahmen die Sharks mit Mike Grier, Curtis Brown und Mark Bell drei erfahrene Defensivstürmer unter Vertrag. Grier und Brown fassten schnell Fuß im Team und entwickelten sich zu unentbehrlichen Stützen im Unterzahlspiel, Bell hingegen konnte sich im gesamten Saisonverlauf nicht mit dem neuen Spielsystem anfreunden und hatte zudem mit privaten Schwierigkeiten zu kämpfen.
Zum Start der Saison 2006/07 stellten die Sharks mit drei Auftaktsiegen einen Franchise-Rekord ein und setzten sich sogleich im oberen Bereich der Tabelle fest. Vor allem das sich stetig abwechselnde Torhüter-Duo um Nabokow und Toskala gab der jungen, talentierten und unerfahrenen Defensive um die Rookies Matt Carle und Marc-Édouard Vlasic, die am Saisonende beide ins NHL All-Rookie Team gewählt wurden, den nötigen Rückhalt. In der Offensive sprangen junge Spieler aus dem Farmteam wie Joe Pavelski und Ryane Clowe für den schwächelnden Jonathan Cheechoo in die Bresche. Aufgrund von stark schwankenden Leistungen innerhalb des Teams verpflichtete das Management kurz vor Ende der Wechselperiode zwei weitere erfahrene Spieler, um die Mannschaft für die Playoffs zu rüsten. Zunächst verpflichteten die Sharks Craig Rivet, einen Verteidiger von den Montréal Canadiens gegen Josh Gorges und ein Erstrunden-Draftrecht. Am Stichtag transferierte das Management ein weiteres Erstrunden-Wahlrecht und Ville Nieminen zu den St. Louis Blues, die im Austausch Flügelspieler Bill Guerin nach San Jose abgaben. Letztendlich beendete San Jose die Saison mit 51 Siegen und 107 Punkten – beides neue Franchise-Rekorde – und traf als Fünfter der Western Conference in der ersten Playoff-Runde wie im Vorjahr auf die Nashville Predators, die sie mit 4–1 besiegten. In der folgenden Serie gegen die Detroit Red Wings unterlagen die Nordkalifornier mit 2–4 und schieden, wie im Jahr zuvor, im Conference-Halbfinale aus.
Mit zwischenzeitlich 49 Spielen in Folge, die in der regulären Spielzeit endeten und nicht in der Overtime oder im Shootout entschieden wurden, stellten die Sharks einen neuen NHL-Rekord auf. Es war die längste Serie seit Einführung der Overtime zur Saison 1983/84. Der vorherige Rekordhalter waren die Toronto Maple Leafs mit 41 Spielen in Serie in der Saison 1996/97 gewesen.
Aufstieg zum ernsthaften Titelaspiranten (seit 2007)
Am 24. Juli 2007 präsentierten die Sharks erstmals ihr neues überarbeitetes Logo der Öffentlichkeit. Mit dem Beginn des Trainingscamps im September führten sie zudem, durch den Ausstatterwechsel der Liga bedingt, neue und von Sportartikelhersteller Reebok entworfene Spieluniformen ein.
In der Sommerpause verließen mit Scott Hannan und Bill Guerin zwei namhafte und erfahrene Spieler San Jose, für die zunächst kein adäquater Ersatz verpflichtet wurde. Zudem hatte das Team Vesa Toskala und Mark Bell vor dem NHL Entry Draft an die Toronto Maple Leafs abgegeben. Das Management beschränkte sich, im Gegensatz zum Vorjahr, auf die langfristige Bindung der Leistungsträger und verlängerte die Verträge von Craig Rivet, Joe Thornton, Milan Michálek und Kapitän Patrick Marleau. Im September unterschrieb Jeremy Roenick, ein erfahrener Free Agent, einen Einjahres-Vertrag. Wenige Wochen später folgte die Rückkehr des Letten Sandis Ozoliņš, der San Jose vor zwölf Jahren verlassen hatte. Aufgrund der erfahrenen Neuverpflichtungen und der Ausgeglichenheit des Kaders begannen die Sharks erstmals in der Franchise-Geschichte die Spielzeit als einer der Topfavoriten auf den Stanley-Cup-Sieg. Zwar gehörte das Team in der ersten Hälfte der Saison stets zu den punktbesten Mannschaften, doch erst Mitte Februar zeigten sie die erwarteten Leistungen. Nach der Verpflichtung eines offensivstarken Verteidigers in Person von Brian Campbell kurz vor der Trade-Deadline startete San Jose eine lange Siegesserie und sicherte sich gegen die Konkurrenz aus Anaheim und Dallas den dritten Divisionstitel seit der Saison 2002/03. In den folgenden Playoffs kam San Jose aber erneut nicht über die zweite Runde hinaus. Nachdem sie die Calgary Flames knapp in sieben Spielen bezwungen hatten, folgte das Aus gegen die Dallas Stars in sechs Spielen, was am 12. Mai 2008 zur Entlassung von Trainer Ron Wilson führte.
Einen Monat später, am 11. Juni 2008, präsentierte die Führungsetage mit Todd McLellan, dem bisherigen Assistenztrainer der Detroit Red Wings, seinen Nachfolger. Dieser ließ, nach dem Wechsel von Brian Campbell nach Chicago, mit Dan Boyle und Rob Blake zwei erfahrene Offensiv-Verteidiger verpflichten und führte das Team mit vier Siegen in den ersten vier Spielen zum besten Saisonstart der Franchise-Geschichte. Im weiteren Verlauf der Spielzeit stellten die Sharks diverse NHL-Rekorde ein oder auf, darunter der beste Saisonstart nach 30 Partien mit erreichten 52 von 60 möglichen Punkten, womit sie den 79 Jahre alten Startrekord der Boston Bruins aus der Saison 1929/30 brachen. Am Ende der regulären Saison sicherten sie sich – neben dem ersten Rang in der Western Conference – nach einem Fernduell mit den Boston Bruins erstmals die Presidents’ Trophy als punktbestes Team. Als Mitfavorit auf den Stanley Cup traf San Jose in der ersten Playoff-Runde auf den Lokalrivalen aus Anaheim. Im ersten kalifornischen Playoff-Duell seit der Saison 1968/69, als die Los Angeles Kings gegen die Oakland Seals spielten, setzten sich die Anaheim Ducks in sechs Spielen durch. Das frühe Ausscheiden der Sharks führte dazu, dass das Team in der Off-Season im Bereich der dritten und vierten Sturmreihe abermals umgebaut wurde. Des Weiteren konnte mit Dany Heatley von den Ottawa Senators im Tausch für Milan Michálek, Jonathan Cheechoo und einen Zweitrunden-Draftpick einer der besten Torjäger der Liga erworben werden.
Spielstätten
Die Sharks tragen ihre Heimspiele seit 1993 im SAP Center, einer 17.562 Zuschauer fassenden Multifunktionsarena, aus. Die Halle wird scherzhaft „Shark Tank“ (dt. Haifischbecken) genannt. Sie ist, gemessen an ihrer Anzahl von Sitzplätzen, eine der kleinsten der gesamten Liga. Nach Beendigung der Bauphase trug die Arena den Namen San Jose Arena, nach dem Abschluss eines Sponsorenvertrages mit Compaq im Jahr 2001 änderte sich der Name in Compaq Center. Durch die Übernahme von Compaq durch Hewlett-Packard 2003 erhielt sie den Namen HP Pavilion. 2013 wurde die Arena in SAP Center umbenannt. Die Namensrechte für die Arena hält das deutsche Softwareunternehmen SAP für fünf Jahre und zahlt dafür 3,35 Millionen US-Dollar jährlich. Zu Beginn jedes Spiels betreten die Spieler der Sharks durch einen überdimensionalen Haikopf das Eis. 1 Heimspiele wurden im Cow Palace ausgetragen
2 Saison wegen des NHL-Lockout 1994/95 verkürzt
3 Saisonauftaktpartie wurde in Japan ausgetragen
4 Saison wegen des NHL-Lockout 2004/05 ausgefallen
5 Saisonauftaktpartie wurde in Schweden ausgetragen
Von 1991 bis 1993 spielte der Klub im 1941 eröffneten Cow Palace, der bei Eishockeyveranstaltungen eine Kapazität von 11.100 Plätzen hat, da es in San José noch keine geeignete Halle gab. Der Cow Palace befindet sich im benachbarten Daly City vor den Toren San Franciscos. Zu einer wirklichen Heimat für das junge Team wurde die durch das jährlich stattfindende Grand National Rodeo bekannte Halle nie. Das SAP Center wurde 1993 fertiggestellt und so kamen die Fans nach zwei Jahren in den Genuss, das in ihrer Stadt beheimatete Team auch dort spielen zu sehen.
Bedingt dadurch, dass seit 1994 jährlich im Februar das einwöchige ATP-Tennisturnier SAP Open im SAP Center stattfindet, bestreiten die San Jose Sharks in diesem Zeitraum meist die längste Serie von Auswärtsspielen in Folge im Verlauf der regulären Saison.
Zuschauerzahlen
In den ersten beiden Jahren im Cow Palace konnten die Sharks eine Zuschauerauslastung nahezu 100 Prozent verbuchen. Mit dem Umzug 1993 in die deutlich größere San Jose Arena sank die Auslastung auf 96,5 Prozent. Nach den ersten Playoff-Erfolgen in der Saison 1993/94 stiegen die Zuschauerzahlen deutlich an und erreichten einen ersten Höhepunkt in der Saison 1996/97 mit einer durchschnittlichen Zuschauerzahl von 17.420 Zuschauern pro Spiel bei verfügbaren 17.496 Plätzen. In den folgenden drei Jahren ging die Auslastungsrate leicht zurück, hielt sich aber konstant zwischen 98 und 99 Prozent.
Nachdem sich die Sharks während der Saison 1999/00 nach fünf Jahren erstmals wieder für die zweite Runde der Playoffs qualifiziert hatten, stieg das Zuschauerinteresse in der folgenden Spielzeit und es wurde mit einer Auslastung von 99,8 Prozent ein neuer Höchstwert aufgestellt. Auch in den nächsten zwei Spieljahren lag der Wert über 99 Prozent. Nach den Misserfolgen in der Saison 2002/03 mussten die Sharks im nächsten Jahr erstmals einen deutlichen Zuschauerrückgang hinnehmen, als die Auslastung auf 90,5 Prozent sank.
Nach dem Ausfall der Saison 2004/05 erholten sich die Zuschauerzahlen wieder und in der vergangenen Saison 2006/07 waren mit 17.422 Zuschauern pro Spiel 99,6 Prozent aller Plätze verkauft. Die restlichen vier Mannschaften der Pacific Division hatten schlechtere Werte.
Bei den Fans anderer Mannschaften genießen die Sharks keine große Popularität. In den letzten sechs Spielzeiten konnten sie auswärts nur zweimal eine durchschnittliche Auslastung von über 90 Prozent verbuchen. In der Saison 2006/07 lag die Auslastungsrate bei Auswärtsspielen bei 88,7 Prozent. Nur die Columbus Blue Jackets und die Nashville Predators hatten in dieser Kategorie schlechtere Werte.
Eine Eintrittskarte kostete in der Saison 2007/08 im Schnitt 39 US-Dollar und stieg damit im Vergleich zu den beiden Vorjahren um sechs Dollar.
Besitzer und Farmteams
Seit dem 26. Februar 2002 befinden sich die San Jose Sharks im Besitz einer Gruppe lokaler Investoren, der San Jose Sports & Entertainment Enterprises (SJSEE). Die Gruppe betreibt neben dem NHL-Team auch das SAP Center, die San Jose Barracuda und die beiden Trainingshallen des Teams. Zudem ist es Besitzer der San Jose Stealth, der professionellen Lacrossemannschaft der Stadt. Präsident und Chief Executive Officer (CEO) der Gruppierung ist Greg Jamison, der bereits seit 1993 in der Organisation der San Jose Sharks tätig ist. Von 1991 bis 2002 waren die Brüder George und Gordon Gund alleinige Besitzer des Franchise.
Wie alle NHL-Teams unterhalten die San Jose Sharks seit ihrer Gründung mehrere Farmteams in unterklassigen Ligen. Die für das Franchise bedeutendste Kooperation unterhielten die Sharks seit Beginn der Saison 2006/07 in Worcester im US-Bundesstaat Massachusetts, wo die Worcester Sharks in der American Hockey League spielten. Die Kooperation dient größtenteils dazu, dass junge Nachwuchsspieler, die einen NHL-Vertrag besitzen und sich für die NHL empfehlen wollen, zu Einsätzen kommen. Darüber hinaus bietet das Farmteam länger verletzt gewesenen Spielern die Möglichkeit, wieder in den Spielrhythmus zu kommen. Auch besteht die Option aufgrund der Gehaltsobergrenze in der NHL, nicht im NHL-Kader zu haltende Spieler dort einzusetzen. 2015 wurden die Worcester Sharks in die San Jose Barracuda umbenannt.
Die American Hockey League ist als Minor League der Klasse AAA und somit der höchstmöglichen Stufe unterhalb der NHL deklariert. Zuvor war das Franchise von 2001 bis 2006 als Cleveland Barons und von 1996 bis 2001 als Kentucky Thoroughblades aufgetreten. Die Kooperation hat seit 1996 bestand. Das erste Farmteam, das die Sharks in der höchsten Klasse unterhielten, waren von 1991 bis 1996 die Kansas City Blades in der International Hockey League. Während der Kooperation mit den San Jose Sharks konnten diese am Ende der Saison 1991/92 den Turner Cup gewinnen. Neben dem Franchise in der Klasse AAA arbeiten die Sharks auch mit Mannschaften der ECHL bzw. East Coast Hockey League, die in die zweithöchste Minor-League-Klasse AA eingruppiert ist, zusammen. Bisher standen 15 verschiedene Mannschaften mit dem NHL-Klub in Kooperation. In der Spielzeit 2009/10 waren dies die Kalamazoo Wings, seit der Saison 2012/13 sind die San Francisco Bulls das Farmteam der Sharks. Die Hinzunahme des Teams aus dem kalifornischen Daly City beruhte auf der geografischen Nähe zur US-amerikanischen Westküste und somit kürzeren Reisezeit für Minor-League-Spieler im Gegensatz zum in Massachusetts gelegenen Worcester an der Ostküste der Vereinigten Staaten.
Einmalig in der Geschichte der National Hockey League war die Kooperation mit den China Sharks aus der Asia League Ice Hockey zwischen 2007 und 2009.
Wirtschaftliche Entwicklung
* Alle Angaben in Millionen US-Dollar
Während der Saison 1997/98 hatten die San Jose Sharks Einnahmen in Höhe von 49,2 Millionen US-Dollar und verbuchten am Ende einen Verlust von 2,6 Millionen US-Dollar. In den folgenden Jahren stieg der Umsatz deutlich an und nach dem Spieljahr 1999/00 stand in den Geschäftsbüchern erstmals ein Gewinn von 3,4 Millionen US-Dollar. Im Folgejahr stieg der Gewinn auf vier Millionen US-Dollar, ehe im Jahr darauf am Ende, trotz eines Rekordumsatzes von 71 Millionen US-Dollar, ein Verlust von 800.000 US-Dollar verzeichnet wurde.
Die folgende Saison 2002/03 war sowohl sportlich als auch wirtschaftlich ein Rückschlag, da ein Verlust von 8,6 Millionen US-Dollar verbucht wurde. Das Franchise erholte sich im Jahr darauf auf beiden Ebenen und erreichte neben dem sportlichen Erfolg einen Gewinn von 1,3 Millionen US-Dollar. Mit Einnahmen von 74 Millionen US-Dollar wurde eine neue Höchstmarke erreicht.
Nach dem Ausfall der Saison 2004/05 hielten die Sharks ihre Zahlen weitestgehend konstant. Bei einem geringeren Umsatz wurde der Gewinn um 500.000 US-Dollar gesteigert. Die Spielzeit 2006/07, in der erstmals mit namhaften Verstärkungen zum Ende der Saison der Stanley-Cup-Gewinn ins Auge gefasst wurde, schlossen die Sharks mit einem Verlust von 5,1 Millionen ab, obwohl der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr leicht angestiegen war. Das folgende Spieljahr schlossen die Sharks mit einem neuen Umsatzrekord von 85 Millionen US-Dollar ab. Zum Jahresende 2010 wurde mit 88 Millionen ein Umsatzrekord vermeldet. Dies verhinderte allerdings nicht, dass das Franchise das Spieljahr mit einem Verlust von sechs Millionen beendete.
Wert des Franchises
Laut dem Forbes Magazine betrug der Wert des Franchise in der Saison 1997/98 108 Millionen US-Dollar. Durch den Erfolg der folgenden Spielzeiten stieg der Wert innerhalb von vier Jahren um 46 Prozent auf 158 Millionen US-Dollar. Wegen des sportlichen Misserfolgs ging im Jahr darauf der Wert des Franchise um 21 Millionen US-Dollar zurück.
Mittlerweile hat sich der Wert zwischen 180 und 200 Millionen US-Dollar eingependelt. Mit einer Wertsteigerung von knapp 53 Prozent vom Ende der Spielzeit 1997/98 bis zum Jahr 2007 hat sich das Franchise der Sharks besser entwickelt als der Durchschnitt der Liga, der bei 30 Prozent liegt. Vor allem im Vergleich zu den restlichen Expansion Teams der frühen 1990er Jahre steht das Franchise aus Nordkalifornien stabiler und finanziell sicherer gebettet.
Spielergehälter
Die Personalkosten für Spieler stiegen seit der ersten Saison der San Jose Sharks im Jahr 1991 deutlich an, obwohl in dieser Zeit die meiste Anzahl von Spielern pro Saison eingesetzt wurde. In die erste Spielzeit starteten sie mit Personalausgaben von 6,2 Millionen US-Dollar. Zur Saison 1994/95 hatten sich die Gesamtgehälter mit einem Betrag von 14,6 Millionen US-Dollar mehr als verdoppelt. Die Sharks folgten damit einem Trend der gesamten Liga, in der die Spielergehälter immer weiter stiegen, jedoch lagen die San Jose Sharks bis dahin in jeder Saison unter dem Durchschnitt der NHL.
Dies änderte sich erstmals 1996/97, als die Sharks mit 24,5 Millionen US-Dollar an Gehältern zu den zehn Teams mit den höchsten Personalkosten gehörten und über dem Durchschnitt lagen. Bis zur Saison 1999/2000 stiegen die Personalausgaben bis auf 35,5 Millionen US-Dollar, die durchschnittlichen Personalkosten der Liga lagen bei 31,7 Millionen US-Dollar, hielten sich im Jahr darauf konstant, und erreichten während der Saison 2002/03 einen Höchstwert von 45,1 Millionen US-Dollar. Damit gehörten sie zum Durchschnitt der Liga, denn die Ausgaben von Franchises wie den Dallas Stars, New York Rangers oder Detroit Red Wings lagen zwischen 60 und 70 Millionen US-Dollar. Das Budget der Sharks konnte nicht durch sportlichen Erfolg gerechtfertigt werden, da die schlechteste Saison seit Mitte der 1990er Jahre gespielt worden war.
Die Spielergehälter bei den Sharks sanken in der nächsten Saison um fast ein Viertel auf 34,8 Millionen US-Dollar und so reagierte das Management zum ersten Mal gegen den Trend der NHL mit immer weiter steigenden Personalkosten. Es war jedoch die NHL selbst, die diesem Trend entgegenwirkte und während der abgesagten Saison 2004/05 eine Gehaltsobergrenze pro Team, eine sogenannte Salary Cap, von 39 Millionen US-Dollar einführte, um die Liga ausgeglichener zu gestalten. Während des Spieljahres 2003/04 hatten die Detroit Red Wings mit 77,8 Millionen US-Dollar das höchste Budget, die Nashville Predators konnten mit 23,2 Millionen US-Dollar nicht mal ein Drittel davon in Spieler investieren und die Sharks gehörten zur unteren Hälfte der Liga, was die Personalkosten anging.
In der Saison 2005/06 verfügten die Sharks über eine Budget von 31 Millionen US-Dollar, das aber auch wegen der Anhebung der Salary Cap um fünf Millionen US-Dollar auf 43,9 Millionen US-Dollar stieg. Zum Jahresende 2010 bezahlten die Sharks rund 57 Millionen an Gehaltskosten und lagen somit knapp unter der Gehaltsgrenze.
Seit der Gründung der Sharks erlebten die Spielergehälter in der NHL einen regelrechten Boom und stiegen seit 1991 um fast 300 Prozent. Die Gehälter bei den San Jose Sharks stiegen seitdem sogar um über 600 Prozent, jedoch muss beachtet werden, dass sie in ihrer Premierensaison mit 6,2 Millionen US-Dollar das kleinste zur Verfügung stehende Budget aller Mannschaften hatten.
Diverses
Logos
Die San Jose Sharks starteten 1991 mit einem Logo-Design eines Hais mit einem durchgebissenen Eishockeyschläger in dessen Maul. Dazu präsentierten sie, zumeist auf den Schultern der Spielertrikots angebracht, ein Alternativlogo, das eine aus dem Wasser ragende Haiflosse zeigte. Diese Logos verwendete das Franchise bis Ende der Saison 2006/07, wobei das Alternativlogo nur wenig Beachtung fand. Vielmehr Aufmerksamkeit erlangte das Hauptlogo, welches stets auf der Brust der Trikots zu sehen war.
Mit dem Wandel der NHL, im Zuge des Lockouts in der Saison 2004/05, kam es zum Beginn der Spielzeit 2007/08 zu einer Aktualisierung der beiden Logos. Die Grundprinzipien der beiden Logos – der schlägerdurchbeißende Hai und die aus dem Wasser ragende Flosse – wurden nach 16 Jahren ohne Änderung zwar beibehalten, aber komplett überarbeitet und modernisiert.
Die Worcester Sharks, das ehemalige AHL-Farmteam San Joses, trug seit der Saison 2006/07 das damals noch aktuelle Logo mit dem Zusatz Worcester Sharks auf der Trikotbrust.
Maskottchen
S.J. Sharkie, ein anthropomorpher Hai, ist seit Januar 1992 das Maskottchen des Teams. Es war eines der ersten Maskottchen mit einer eigenen Merchandising-Linie und einer eigenen offiziellen Webseite.
Während der Heimspiele der Sharks beeindruckt das Maskottchen vor allem durch seine Stunts und fährt mit einem Quad auf dem Eis. Über seine Auftritte während der NHL-Spiele der Sharks hinaus, kann S.J. Sharkie zu Geburtstagsfeiern, Krankenhausbesuchen und ähnlichem gebucht werden, wodurch über 450 Auftritte pro Jahr zustande kommen.
Medienpräsenz
Der Fernsehpartner der San Jose Sharks ist der Spartensender Comcast Sports Net, der fast alle Spiele der regulären Saison durch den Sender Comcast SportsNet Bay Area, der den regionalen nordkalifornischen Fernsehmarkt abdeckt, überträgt. An der Seite des erfahrenen Sportkommentatoren Randy Hahn analysiert seit der Saison 2007/08 wieder der ehemalige Assistenztrainer der Sharks Drew Remenda, der bereits von 1999 bis 2006 an Hahns Seite kommentierte, die Spiele. Scott Reitz führt die Zuschauer durch die Drittelpausen und ist für Interviews mit Spielern und Offiziellen während der Spiele zuständig, ebenso wie Kate Longworth nach den Partien. Neben der Übertragung der Spiele produziert Comcast SportsNet Bay Area auch die Sendung „Shark Byte“, die Hintergrundberichte zum Team und den Spielern als Inhalt hat. Sie wird von Remenda moderiert. Über viele Jahre hinweg arbeitete John Shrader ebenfalls im Übertragungsteam und füllte die Positionen von Reitz und Longworth aus. Die Fernsehsender Versus und NBC halten die Übertragungsrechte für den gesamten US-amerikanischen Markt. Allerdings übertragen die beiden Sender nur einige ausgewählte Spiele der San Jose Sharks während der Saison, diese allerdings hauptsächlich exklusiv.
Während der Playoffs überträgt Comcast SportsNet Bay Area die Playoff-Partien der ersten beiden Runden, sofern diese nicht von NBC gesendet werden. Die restlichen Spiele der Playoffs bis einschließlich der Finalserie um den Stanley Cup werden von NBC und Versus in den Vereinigten Staaten gezeigt.
In Kanada ist CBC der Hauptsender für die Spiele der regulären Saison und der Playoffs. TSN hält ebenfalls Übertragungsrechte an NHL-Spielen, darf aber nur die Partien zeigen, die CBC nicht sendet. Allerdings konzentrieren sich beide Sender hauptsächlich auf Spiele mit kanadischer Beteiligung, sodass nur wenige Spiele der San Jose Sharks in Kanada zu sehen sind.
Außerhalb des lokalen Fernsehmarktes der San Jose Sharks können alle Spiele des Teams über das kostenpflichtige NHL Center Ice-Paket empfangen werden.
In Europa hält NASN die Rechte an den Spielen der NHL. Im Laufe der Saison werden einige Spiele der San Jose Sharks gesendet, wobei NASN auf die Übertragungen der zuständigen Sender aus den USA zurückgreift.
Zudem sind die Spiele der Sharks über den Radiosender KFOX zu empfangen. Hierbei kommentiert Dan Rusanowsky seit der Auftaktsaison 1991/92 die Spiele des Franchise. Ihm stehen die Ex-Profispieler Jamie Baker und David Maley als Experten zur Seite. Durch die offiziellen Internetauftritte der National Hockey League und der San Jose Sharks sind außerdem Radioübertragungen der Spiele weltweit zu empfangen.
Über das Internet senden Yahoo! und Comcast, der Mutterkonzern des Fernsehsenders Versus, ausgewählte Spiele der NHL live, unter anderem auch einige der San Jose Sharks. Der Service ist kostenlos, allerdings ist der Zugang auf Internetnutzer mit Sitz in den USA beschränkt. Nutzer innerhalb des Fernsehmarktes der Sharks können den Service von Comcast für Spiele der San Jose Sharks nicht nutzen. Über das kostenpflichtige Angebot NHL Center Ice Online können zudem alle Spiele des Teams außerhalb des lokalen Fernsehmarktes über das Internet empfangen werden.
Rivalitäten
Trotz ihrer jungen Geschichte pflegen die Sharks eine Reihe von Rivalitäten. Die Los Angeles Kings und die Anaheim Ducks sind die „natürlichen“ Rivalen der Sharks, da sie ebenfalls in Kalifornien beheimatet sind. Aufgrund des zwischenzeitlichen Spielplanmodus, der zu Beginn der Saison 2005/06 im Anschluss an das Collective Bargaining Agreement eingeführt wurde und bis zum Ende der Spielzeit 2007/08 beibehalten wurde, spielten die Sharks je acht Spiele gegen diese Teams in der regulären Saison, weil sie alle Mitglied derselben Division sind.
Seit dem Ende der neunziger Jahre hat sich außerdem eine Rivalität zu den Dallas Stars entwickelt, die damals in die Pacific Division zu den Sharks umgruppiert wurden. Dallas gehörte damals zu den besten Teams der Liga, außerdem spielte mit Ed Belfour einer der besten Torhüter der damaligen Zeit für Dallas, der die Sharks im Jahr 1997 nach nur wenigen Monaten verlassen hatte. Die Sharks konnten nach einigen Jahren mit den Stars im sportlichen Bereich auf Augenhöhe treten und so Bestand die Rivalität in erster Linie durch den Kampf um den Titel der Pacific Division. Zwischen 1998 und 2006 haben beide Teams diesen Titel immer unter sich ausgemacht, ehe den Anaheim Ducks der erstmalige Gewinn gelang. Zudem haben beide Teams ihre Wurzeln im Franchise der Minnesota North Stars.
Eine weitere Rivalität besteht seit 2000 zu den St. Louis Blues. Die Blues standen bereits in ihren ersten drei NHL-Spielzeiten von 1967 bis 1970 im Finale um den Stanley Cup, konnten ihn jedoch nicht gewinnen. In den folgenden 30 Jahren konnten sie nicht mehr an diese Erfolge anknüpfen, doch in der Saison 1999/2000 absolvierten sie die beste Saison seit ihrem Bestehen und schlossen sie mit einem großen Vorsprung auf dem ersten Platz der gesamten NHL ab. Mit Spielern wie Chris Pronger, Pierre Turgeon und Pavol Demitra sollte der erste Stanley-Cup-Sieg gewonnen werden. Die San Jose Sharks belegten in der Western Conference den achten Platz, hatten somit die Playoffs gerade noch erreicht und waren in der ersten Runde der Gegner der St. Louis Blues. Die Blues gewannen die erste Partie. Die Sharks setzten vor allem auf ihr physisch hartes Spiel, womit sie in den folgenden Spielen die Oberhand über die technisch versierteren Spieler der Blues gewannen. San Jose gewann drei Spiele in Folge, St. Louis reagierte und glich die Serie zum 3–3 aus, sodass es zum entscheidenden siebten Spiel kam. Den San Jose Sharks gelang ein Sieg und sie zogen in die nächste Runde ein. Während die Sharks sich in den folgenden Jahren weiter in Richtung Ligaspitze orientierten, ging es für die St. Louis Blues bergab. Ein Jahr später gelang den Blues in sechs Spielen die Revanche für die Vorjahresniederlage, 2004 unterlagen sie den Sharks in fünf Spielen.
Neben diesen Rivalitäten gibt es noch kleinere zu weiteren Teams.
Traditionen und Fanbasis
Seit dem Umzug ins SAP Center im Sommer 1993 haben sich die San Jose Sharks vor Spielbeginn dasselbe Einlaufritual bewahrt. Dabei laufen die aus den Umkleideräumen kommenden Spieler durch ein künstliches und mehr als fünf Meter hohes geöffnetes Haimaul, das von der Hallendecke herabgelassen wird. Am Boden angekommen tritt aus diesem künstlicher Nebel hervor und die Augen des Hais leuchten Rot auf. Nachdem auf dem Anzeigewürfel das Live-Bild der Spieler im Kabinentunnel gezeigt wird, kommt das Team – angeführt von ihrem Torwart – durch das Maul aufs Eis.
Im Gegensatz zu vielen anderen Franchises, die im Verlauf der 1990er Jahre in den südlichen Regionen der Vereinigten Staaten angesiedelt wurden, besaßen die Sharks von Beginn an einen großen Zuspruch seitens des gesellschaftlichen Umfeldes. Dies spiegelt sich auch im fast ausnahmslosen Ausverkauf der Heimspiele wider. Neben dem großen Fanzuspruch in der San Francisco Bay Area unterstützen auch im Silicon Valley ansässige Firmen, darunter Seagate Technology, Applied Materials, Logitech und Sun Microsystems, das Team als langjährige Sponsoren.
Trikotdesign und Ausrüstung
Wie alle anderen 29 Mannschaften der NHL nutzen die San Jose Sharks seit Beginn der Saison 2007/08, die einen Ausrüsterwechsel mit sich brachte, zwei verschiedene Trikot-Grunddesigns. Bei Heimspielen tragen die Sharks, wie es nach den Regeln der NHL vorgeschrieben ist, ein Trikot mit einer dunklen Grundfarbe. Im Falle der Sharks ist diese das typische Dunkelpazifiktürkis (). Zudem sind die Schultern schwarz abgesetzt und ein Teil der Arme sowie der untere Teil des Trikots sind mit horizontalen Streifen in Schwarz, Weiß und Orange versehen. Die Brustpartie ist durch das Teamlogo geprägt.
Zu Auswärtsspielen müssen die Sharks ein Trikot mit einer hellen Grundfarbe tragen. Im Design des Heimtrikots ist das Trikot in Weiß gehalten. Die abgesetzten Schultern sind in Dunkelpazifiktürkis gehalten, während die Ärmel horizontale schwarze, orange und dunkelpazifiktürkise Streifen aufweisen. Bis Ende der Saison 2002/03 war von der NHL vorgeschrieben, dass die Heimtrikots eine helle Grundfarbe und die Auswärtstrikot eine dunkle Grundfarbe haben müssen.
Von Beginn der Saison 2001/02 bis zum Ende der Saison 2006/07 gab es bei den Sharks ein sogenanntes Ausweichtrikot, das mit der Ausnahme eines dunkelpazifiktürkisen und eines weißen Streifens an beiden Ärmeln, komplett in Schwarz gehalten war. Offiziell waren die Ausweichtrikots seit 1996 im Programm der Liga. Im Laufe der Saison durften die Teams, die ein drittes Trikot unterhielten, zwischen zehn und 15 Spiele damit bestreiten. Die Sharks nutzten dieses Design zumeist bei Heimspielen, die an Donnerstagen stattfanden und stellten diese Spiele unter das Motto „Black Thursday“ (). Das dritte Trikot bot den Teams die Möglichkeit mit anderen Trikotdesigns zu experimentieren, sowie das Merchandising weiter anzukurbeln und wurde bis zum Ende der Saison 2006/07 genutzt, da ab der Saison 2007/08 neue, vom Sportartikelhersteller Reebok hergestellte und entworfene Trikots eingeführt wurden und das Programm von der NHL zunächst eingestellt wurde. Mit Beginn der Spielzeit 2008/09 nahm die Liga das Programm wieder auf, an dem San Jose – wie etwa zwei Drittel aller Teams – auch teilnahm. In Kooperation mit dem langjährigen Sponsor Seagate Technology stellten die Sharks im November 2009 ihr neues drittes Trikot mit dem Namen „BlackArmor“ – benannt nach einem Produkt des Sponsors – vor. Geprägt durch eine schwarze Grundfarbe sind an den Ärmeln erneut kleine Teile durch zwei schmale weiße und einen stärkeren türkisen Streifen abgesetzt. Ein Novum sind jedoch der erstmals zu schnürende Kragen sowie der erstmalige Einsatz eines sekundären Logos auf der Trikotfront. Hauptsächlich werden die Trikots bei Heimspielen an Donnerstagen getragen, den sogenannten „BlackArmor Nights“.
Die Sharks trugen von ihrer Premierensaison 1991/92 an bis 1998 ein anderes Trikotdesign. Bei Heimspielen war das Trikot weiß und bei Auswärtsspielen in einem helleren als dem jetzigen türkis gehalten. Zudem war das Design, das nur einige Querstreifen an Armen und dem unteren Teil des Trikots aufwies, weniger aufwendig. Ein ähnlich schlichtes Aussehen haben die aktuellen Trikots. Zur Saison 1998/99 wurde das Design erstmals überarbeitet. Die neuen Trikots waren moderner und ansprechender gestaltet. So war das Heimtrikot, das bereits während der Saison 1997/98 als drittes Trikot diente, in einem dunkelpazifiktürkisen Grundton gehalten. Zudem waren die Seiten und die Ärmel mit Schwarz und Grau abgesetzt. Auswärts trat San Jose in einem Trikot mit weißer Grundfarbe an. Die Seiten waren, konträr zum Heimtrikot, in derselben Farbe gehalten, während die Ärmel die weiteren drei Teamfarben Schwarz, Grau und Dunkelpazifiktürkis aufwiesen.
Die Hosen der Spieler sind traditionell schwarz, sowohl bei Heim- als auch Auswärtsspielen. Die Stutzen sind in der Grundfarbe des jeweilig getragenen Trikots gehalten.
Kooperation mit der Volksrepublik China
Während der Saison 2007/08 engagierten sich die San Jose Sharks als erstes NHL-Team im asiatischen Eishockeysport. Das Franchise schickte im September 2007 fünf Spieler, die allesamt aus dem Minor-League-Bereich oder vom College stammten, und drei Trainer in die Volksrepublik China, die mit den China Sharks in der Asia League Ice Hockey antraten. Der Sinn des Engagements war die Steigerung der Popularität und die Förderung der Sportart in der bevölkerungsreichsten Region der Erde. Der Vertrag zwischen San Jose und dem Team aus Peking wurde durch die Zusammenarbeit mit dem Chinesischen Eishockeyverband ermöglicht.
Vor Beginn der Saison 2008/09 verstärkten die Sharks ihr Engagement in der Volksrepublik China noch einmal. Sie verlegten den Sitz des Teams von Peking nach Shanghai und verpflichteten mit Wade Flaherty und Steve McKenna zwei Spieler mit großer NHL-Erfahrung. Zudem kam im Saisonverlauf der ein Comeback startende Claude Lemieux vor seinem Engagement in Nordamerika zu einigen Einsätzen bei den China Sharks. Im Sommer 2009 beendeten die Kalifornier nach zwei Jahren die Kooperation und verkauften auch die erworbenen Rechte am Team.
Als Logo verwendeten die China Sharks das alte Logo der Cleveland Barons, einem früheren Farmteam San Joses.
Erfolge und Ehrungen
Sportliche Erfolge
Die San Jose Sharks gewannen in ihrer Franchise-Geschichte bisher sechsmal den Titel der Pacific Division, der sie seit der Aufnahme in die Liga angehören, am Ende der regulären Saison. Nach dem erstmaligen Gewinn in der Saison 2001/02 wiederholten sie den Titelgewinn in den Spieljahren 2003/04, 2007/08, 2008/09, 2009/10 und 2010/11. Zudem sicherten sie sich in der Spielzeit 2008/09 erstmals die Presidents’ Trophy, mit dem die punktbeste Mannschaft der regulären Saison ausgezeichnet wird. Die Sharks erreichten mit 117 Punkten aus 82 Spielen den sechstbesten Wert aller Zeiten.
Den größten Erfolg in den Play-offs feierten die Sharks im Verlauf der Spielzeiten 2003/04 und 2009/10, als das Team jeweils bis ins Finale der Western Conference vordrang. Nach Siegen über die St. Louis Blues und Colorado Avalanche scheiterten sie in der Vorschlussrunde der Playoffs 2004 in sechs Spielen an den Calgary Flames und verpassten die erstmalige Stanley-Cup-Finalteilnahme sowie den Gewinn der Clarence S. Campbell Bowl. Sechs Jahre später wiederholten sie diesen Erfolg und verloren das Conference-Finale mit 0:4 gegen die Chicago Blackhawks. Bereits in den Jahren zuvor hatte San Jose mehrmals für Aufsehen in den Playoffs gesorgt. Bei der erstmaligen Qualifikation in der Saison 1993/94 schafften es das Team in der ersten Runde das beste Team der Western Conference, die Detroit Red Wings, in sieben Spielen zu bezwingen. Ähnliches gelang im Spieljahr 1999/00 als der amtierende Presidents’-Trophy-Gewinner aus St. Louis ebenfalls nach der Maximalanzahl von sieben Partien an den San Jose Sharks scheiterte.
NHL Awards und All-Star-Team-Nominierungen
Seit der Gründung des Franchises gelang es fünf Spielern der San Jose Sharks einen der individuellen NHL Awards zu gewinnen. Zudem schafften es sieben Spieler in eines der All-Star-Teams sowie sechs weitere ins All-Rookie-Team.
* während der Saison 2005/06 von den Boston Bruins verpflichtet
** während der Saison 2007/08 von den Buffalo Sabres verpflichtet
Als erstem Spieler gelang es Tony Granato im Anschluss an die Saison 1996/97 die Bill Masterton Memorial Trophy, die den Spieler auszeichnet, der Ausdauer, Hingabe und Fairness im und für das Eishockey vereint, zu gewinnen. Der Grund für die Wahl Granatos lag darin, dass er im Januar 1995 nach einer Kollision mit einem Gegenspieler eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte, bei der sich ein Blutgerinnsel in seiner linken Hirnhälfte gebildet hatte. Obwohl die behandelnden Ärzte sein Karriereende prognostiziert hatten, unterzeichnete er im Sommer 1996 einen neuen NHL-Vertrag und entwickelte sich zu einem der Führungsspieler in San Jose. Als nächster schaffte es Jewgeni Nabokow nach der Spielzeit 2000/01 mit der Calder Memorial Trophy als bester Rookie ausgezeichnet zu werden. Er hatte die Sharks in dieser Saison zur bis dahin mit Abstand besten in der Geschichte des Klubs geführt. Zu einem „Trophäenregen“ kam es nach der Saison 2005/06. Joe Thornton, der während der Saison von den Boston Bruins verpflichtet worden war, gewann als bester Scorer der Liga die Art Ross Trophy und wurde zudem mit der Hart Memorial Trophy als wertvollster Spieler der Liga ausgezeichnet. Sein Sturmpartner Jonathan Cheechoo erhielt aufgrund seiner 56 erzielten Saisontore die Maurice ‚Rocket‘ Richard Trophy als bester Torschütze der Liga.
Thornton schaffte es in der Saison 2005/06 auch in das NHL First All-Star Team gewählt zu werden, was bisher noch keinem Spieler San Joses gelungen war. Zwei Jahre später erhielten gleich drei Spieler eine Nominierung in eines der Teams. Thornton wurde ins NHL Second All-Star Team berufen, genauso wie der während der Spielzeit verpflichtete Verteidiger Brian Campbell. Jewgeni Nabokow erhielt eine Nominierung als Torhüter des First All-Star Teams. Im Jahr darauf wurde Dan Boyle ins Second All-Star Team gewählt. Joe Pavelski im Anschluss an die Saison 2013/14 sowie abermals Thornton und Verteidiger Brent Burns in der Spielzeit 2015/16. Die Wahl ins NHL All-Rookie Team erreichten bisher sechs Spieler der Sharks. Neben Jeff Friesen in der Saison 1994/95, Brad Stuart 1999/00 und Jewgeni Nabokow 2000/01 gelang dies auch Matt Carle und Marc-Édouard Vlasic 2006/07, wodurch sich die Defensive des All-Rookie-Teams komplett aus Spielern der Sharks zusammensetzte. Eine weitere Nominierung erhielt Logan Couture in der Saison 2010/11.
NHL All-Star-Game-Nominierungen
Insgesamt wurden bisher 39 Spieler der San Jose Sharks von den Fans aufgrund ihrer Beliebtheit ins All-Star Game gewählt oder aufgrund ihrer Leistungen von den Trainern nominiert.
In der ersten Spielzeit des Franchise wurde der damalige Mannschaftskapitän Doug Wilson für das NHL All-Star Game 1992 nominiert. Die gleiche Ehre wurde ein Jahr später Kelly Kisio zuteil, nachdem der eigentlich nominierte Pat Falloon seine Teilnahme wegen einer Verletzung absagen musste. Der Grund der Nominierungen, obwohl Wilson zu dieser Zeit ein etablierter und erfahrener NHL-Spieler war, lag aber weniger in den starken Auftritten der beiden, sondern stand im Zusammenhang mit der Tatsache, dass jedes Team mindestens einen Spieler zum Spiel schicken sollte. Zum NHL All-Star Game 1994 wurden die beiden Letten Artūrs Irbe und Sandis Ozoliņš in die Startformation der Western Conference berufen. Auch an den folgenden beiden Austragungen nahmen mit Owen Nolan in den Jahren 1996 und 1997 und Tony Granato – auf Wunsch des Commissioners Gary Bettman – 1997 weitere Spieler der Sharks am Spiel der besten und beliebtesten Akteure teil.
Infolge einer Umstellung des Austragungsformates von „Ost gegen West“ auf „Nordamerika gegen den Rest der Welt“ stand der Deutsche Marco Sturm beim NHL All-Star Game 1999 auf Seiten der Weltauswahl den Nordamerikanern gegenüber, nachdem 1998 erstmals kein Spieler San Joses berufen worden war. Nach der dritten Nominierung Owen Nolans im Jahr 2000 wurden zur Austragung 2001 mit Vincent Damphousse, der jedoch wegen einer Verletzung für das Spiel selbst ausfiel, Jewgeni Nabokow und Marcus Ragnarsson drei Spieler nominiert. Ein Jahr später nahmen mit Vincent Damphousse, Owen Nolan und Teemu Selänne erstmals auch drei Spieler an der Begegnung teil, die allesamt in die Startaufstellung des jeweilig zugehörigen Teams – Damphousse und Nolan bei den Nordamerikanern sowie Selänne bei der Welt-Auswahl – gewählt wurden. Selänne erhielt ein Jahr später eine weitere Nominierung, als das Spiel wieder im alten Format „Ost gegen West“ ausgetragen wurde, ebenso nahm Patrick Marleau 2004 daran teil.
Nach einem zweijährigen Ausfall des All-Star-Games wegen des Lockouts im Jahr 2005 und den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin spielten nach 2002 im Jahr 2007 mit Jonathan Cheechoo, Patrick Marleau und Joe Thornton erneut drei Spieler mit. Cheechoo und Thornton wurden von den Fans in die Startformation gewählt. Am All-Star Game 2008 nahmen mit Jewgeni Nabokow und abermals Joe Thornton zwei Spieler aus San Jose teil sowie Ron Wilson als Assistenztrainer der Western Conference. Dieses Ergebnis wurde beim 57. All-Star-Game im Jahr 2009 überboten, als erneut Joe Thornton sowie Dan Boyle eine Einladung erhielten. Nach Verletzungsmeldungen im Vorfeld des Spiels wurde mit Kapitän Patrick Marleau ein weiterer Akteur nominiert. Zudem kam Trainer Todd McLellan hinzu, der die All-Stars der Western Conference als Cheftrainer betreute.
Im Jahr 2011 fand nach einjähriger Pause wieder ein Spiel statt. Die NHL änderte das Format weitgehend. So wurden die Spieler zwar teilweise erneut von den Fans bestimmt, allerdings wurde ein sogenannter Fantasy Draft abgehalten, um die Teamzugehörigkeit der Spieler festzulegen. Als einziger Sharks-Spieler nahm Dan Boyle an diesem Spiel teil. Im Folgejahr war Logan Couture der einzige Vertreter auf Seiten der Spieler. Unterstützt wurde er aber von Coach McLellan, der zum zweiten Mal nach 2009 Cheftrainer eines All-Star-Teams war.
Am 2002 bis 2009 durchgeführten YoungStars Game, das im Rahmenprogramm des eigentlichen All-Star-Games zwischen den besten Liganeulingen ausgetragen wurde, nahmen vier Sharks-Spieler teil, die von der Ligaleitung nominiert wurden. Diese waren Jonathan Cheechoo und Christian Ehrhoff im Jahr 2004 und Matt Carle 2007. Mit der Formatänderung „Rookies gegen Sophomores“ zum Jahr 2009 erhielt Devin Setoguchi als Spieler für das Team der Sophomores eine Nominierung. Im Jahr 2011 führten die Rookies lediglich eine Skills-Competition durch, an der Logan Couture teilnahm.
Saisonstatistik
Abkürzungen: GP = Spiele, W = Siege, L = Niederlagen, T = Unentschieden, OTL = Niederlagen nach Overtime bzw. Shootout, Pts = Punkte, GF = Erzielte Tore, GA = Gegentore
1 Saison wegen des NHL-Lockout 1994/95 verkürzt
2 Saison wegen des NHL-Lockout 2004/05 ausgefallen
3 Saison wegen des NHL-Lockout 2012/13 verkürzt
4 Saison wegen der COVID-19-Pandemie verkürzt
Franchiserekorde
Im Folgenden werden ausgewählte Spielerrekorde des Franchises sowohl über die gesamte Karriere als auch über einzelne Spielzeiten aufgeführt.
Karriere
Saison
Trainer
Die Sharks begannen ihre Premierensaison mit dem Kanadier George Kingston hinter der Bande. Nach einer Auftaktsaison mit nur 17 Siegen in 80 Spielen nahm der Klub auch die folgende Saison mit Kingston in Angriff. Die Saison endete mit lediglich elf Siegen aus 84 Spielen und Kingston wurde mit einer Gesamtbilanz von 28 Siegen, 129 Niederlagen und sieben Unentschieden am Ende der Saison entlassen.
Abkürzungen: GC = Spiele, W = Siege, L = Niederlagen, T = Unentschieden, OTL = Niederlagen nachOvertime, Pts = Punkte, Pts % = Punktquote
* Wechsel während der laufenden Saison;
** Interimstrainer
Zur Saison 1993/94 übernahm Kevin Constantine, der in unterklassigen Ligen große Erfolge als Coach gefeiert hatte, den Posten des Cheftrainers. Constantine führte die Sharks in seiner ersten Saison erstmals in der Franchise-Geschichte in die Playoffs, gleiches gelang ihm im folgenden Jahr. Die Saison 1995/96 markierte einen Tiefpunkt in Constantines Karriere als Sharks-Trainer und so wurde er nach nur drei Siegen aus den ersten 25 Spielen während der Saison entlassen. Für die restlichen 57 Spiele wurde er von Jim Wiley als Interimstrainer ersetzt.
Als neuen Trainer für die Saison 1996/97 einigte sich das Management mit Al Sims. Er konnte sich mit einer unbefriedigenden Bilanz, ähnlich der des Vorjahres, nicht für die Playoffs qualifizieren und musste sein Engagement bei den Sharks nach einem Jahr wieder beenden.
Mit Darryl Sutter stellten die Nordkalifornier zur Saison 1997/98 einen neuen namhaften Cheftrainer vor. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gab ihm die Chefetage mehr Zeit mit dem Aufbau des Teams. Trotz negativer Bilanzen qualifizierte sich die Mannschaft in den ersten zwei Spielzeiten unter Sutters Regie für die Playoffs. In den Folgejahren verbesserte sich die Saisonbilanz unter ihm stetig. Im Spieljahr 2000/01 erreichte das Team erstmals die Marke von 40 Siegen und in der Saison 2001/02 gewann das Franchise erstmals die Pacific Division. Nach einem schwachen Start in die Saison 2002/03 mit neun Siegen aus den ersten 24 Spielen erging es dem Kanadier wie seinen Vorgängern und der Rausschmiss folgte. Im ersten Spiel nach der Entlassung besetzte Cap Raeder für ein Spiel die Position an der Bande.
Am 4. Dezember 2002 folgte die Verpflichtung von Ron Wilson, der die Playoff-Qualifikation ebenfalls verfehlte. In der Saison 2003/04 führte er das Team nach 2002 erstmals wieder auf den ersten Platz der Pacific Division. Nach dem Ausfall der Saison 2004/05 startete das Team an Wilsons Seite mit großen Hoffnungen in die Spielzeit 2005/06. Nach einem schwachen Start rettete die Verpflichtung von Joe Thornton den Posten des Trainers und die Mannschaft beendete die Saison auf dem zweiten Platz in der Division. Auch in den folgenden beiden Spielzeiten gehörten die Sharks mit Wilson zur Elite der Liga, der im Verlauf der Spielzeit 2007/08 Darryl Sutter als erfolgreichsten Trainer der Klubgeschichte ablöste. Trotz des erneuten Gewinn der Pacific Division wurde Wilson nach dem dritten Zweitrunden-Aus in Folge in den Playoffs am 12. Mai 2008 entlassen. Seine beiden Assistenten Tim Hunter und Rob Zettler verließen die Organisation wenige Wochen später.
Einen Monat nach Wilsons Entlassung präsentierte das Management mit Todd McLellan, dem bisherigen Assistenztrainer der Detroit Red Wings, seinen Nachfolger und damit siebten Cheftrainer in der Historie der San Jose Sharks. Als Assistenten wählte er in der Folge Todd Richards, Trent Yawney und Jay Woodcroft, einen Videoanalysten. Mit Corey Schwab wurde ein ehemaliger Torwart verpflichtet, der Wayne Thomas bei der Arbeit mit den Torhütern entlastet, nachdem Thomas den Posten von dem am 11. April 2007 verstorben und seit 1997 in der Organisation tätigen Warren Strelow übernommen hatte.
McLellan führte die Sharks mit Beginn seiner Amtszeit sechs Mal in Folge in die Playoffs sowie zu einer Presidents’ Trophy und war zwei Mal als Trainer beim NHL All-Star Game aktiv. Nach der Saison 2014/15, in der das Team erstmals unter ihm die Playoffs verpasste, wurde sein Vertrag in gegenseitigem Einverständnis aufgelöst. Er verließ die Sharks als Trainer mit den meisten Spielen, den meisten Siegen sowie der höchsten Siegquote. Als sein Nachfolger wurde Peter DeBoer vorgestellt, der das Team 2016 ins erste Stanley-Cup-Finale führte. Er wurde im Dezember 2019 durch Bob Boughner ersetzt, dem in den folgenden drei Spielzeiten jedoch nicht die Qualifikation für die Playoffs gelang und im Juli 2022 mit seinen Assistenten freigestellt wurde. Seine Nachfolge trat David Quinn an.
General Manager
* Wechsel während der laufenden Saison
** Interims-General-Manager
In der Premierensaison des Franchise starteten die San Jose Sharks mit dem NHL-erfahrenen Jack Ferreira als General Manager des Teams. Da diese aber mit 17 Siegen in 80 Spielen missglückte und keine seiner Verpflichtungen aus den Drafts einschlug, musste er nach einer Saison seinen Posten räumen.
Zu Beginn der Saison 1992/93 wurde er durch Chuck Grillo ersetzt, der von Dean Lombardi und dem damaligen Cheftrainer George Kingston Unterstützung erhielt. Durch die Entlassung von Kingston am Ende der Spielzeit schied er nach einem Jahr in seiner unterstützenden Rolle aus. So verblieben Grillo und Lombardi in der Funktion, ehe auch Grillo nach der Saison 1995/96 sich einen neuen Arbeitgeber suchen musste. Ab der Saison 1996/97 leitete Lombardi in alleiniger Regie die Geschicke des Teams. Lombardis Amtszeit als GM durchlief dabei Höhen und Tiefen. Nach dem erstmaligen Gewinn der Pacific Division in der Saison 2001/02 rutschte das Team in der darauffolgenden Saison auf den letzten Platz ab. Einige umstrittene Entscheidungen in der Transferpolitik kosteten Lombardi im März 2003 seinen Job. Wayne Thomas, Lombardis einstiger Assistent, übernahm bis zum Ende der Spielzeit dessen Position.
Zur Saison 2003/04 wurde mit Doug Wilson ein neuer General Manager verpflichtet, der zur Saison 1991/92 der erste Mannschaftskapitän des Franchises gewesen war. Wilson leitete die Geschicke des Teams bis 2022, so lange wie nur wenige in dieser Funktion in der NHL-Historie, bevor er aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Interimsweise trat Joe Will seine Nachfolge bis zum Saisonende an, ehe mit Mike Grier im Juli 2022 ein fester Nachfolger präsentiert wurde.
Spieler
Kader der Saison 2023/24
Mannschaftskapitäne
In der Geschichte der San Jose Sharks gab es bisher 13 verschiedene Spieler, die das Amt des Mannschaftskapitäns bekleideten.
Der erste Spieler mit dem „C“ auf der Brust war 1991 der Kanadier Doug Wilson, den die Sharks einen Monat vor Saisonbeginn von den Chicago Blackhawks verpflichtet hatten. Wilson verfügte zu diesem Zeitpunkt über die Erfahrung von 14 Spielzeiten in der NHL und war somit die geeignete Person, um das junge Team in die erste Spielzeit zu führen. Nach seinem Karriereende übernahm zu Beginn der Saison 1993/94 Bob Errey das Amt. Er blieb zwei Spielzeiten in dieser Rolle, da er das Team während der Saison 1994/95 in Richtung Detroit verließ. So wurde Jeff Odgers, der zu diesem Zeitpunkt dienstälteste Spieler, der neue Kapitän des Teams. Nach der Saison 1995/96 verließ aber auch er die Kalifornier, und so wurde Todd Gill für die nächsten zwei Jahre Mannschaftskapitän.
Zu Beginn der Saison 1998/99 übernahm Owen Nolan die Kapitänsrolle. Diese behielt er bis zu seinem Wechsel im Jahr 2003. Mit insgesamt fünf Spielzeiten blieb Nolan so lange wie bisher kein anderer Spieler in der Franchise-Geschichte seinem Amt treu. Da sich die Führungsetage zum Beginn der darauffolgenden Saison auf keinen eindeutigen Nachfolger einigte, führte der neue Trainer Ron Wilson ein Rotationssystem ein. Für die ersten zehn Spiele der Saison 2003/04 trug Mike Ricci das „C“, ihm folgte Vincent Damphousse, der für die folgenden 20 Spiele Kapitän des Teams war. Danach übernahm Alyn McCauley für wiederum zehn Spiele das Amt, ehe Patrick Marleau, der sich damals in seiner siebten Saison bei den Sharks befand, am 5. Januar 2004 in diese Rolle schlüpfte. McCauley hatte nach Ablauf seiner Amtszeit dem Management empfohlen das Rotationsprinzip einzustellen und sich auf Marleau als dauerhaften Träger festzulegen.
Marleau bekleidete den Posten so lange wie kein Kapitän der Sharks zuvor. Erst im Sommer 2009 entzog ihm Cheftrainer Todd McLellan auf der Suche nach einem neuen Führungsspieler das Amt. Kurz vor Beginn der Spielzeit 2009/10 bestimmte er den erfahrenen Verteidiger Rob Blake zum neuen Spielführer. Dieser war ein Jahr in dieser Position, ehe er nach Beendigung der Saison seinen Rücktritt vom aktiven Sport bekanntgab. Sein Nachfolger, Joe Thornton, führte die Sharks vier Jahre an, ehe die Saison 2014/15 mit vier Assistenzkapitänen bestritten wurde (Thornton, Marleau, Vlasic und Pavelski). Mit Beginn der Spielzeit 2015/16 wurde Joe Pavelski zum neuen Mannschaftskapitän ernannt, der das Team im Sommer 2019 verließ. Seine Nachfolge trat Logan Couture an.
Mitglieder der Hockey Hall of Fame
Als erster Spieler der San Jose Sharks wurde am 10. November 2008 der russische Stürmer Igor Larionow in die im kanadischen Toronto befindliche Hockey Hall of Fame aufgenommen. Als zweiter Spieler folgte ihm drei Jahre später – am 14. November 2011 – der Kanadier Ed Belfour. Weitere fünf Jahre später folgte Larionows einstiger Sturmkollege Sergei Makarow, mit dem er einst zwei Drittel der KLM-Reihe im sowjetischen Nationalteam und der OV-Reihe in San Jose bildete.
Larionow und Makarow spielten zwischen 1993 und 1995 für San Jose in der NHL und waren während dieser Zeit maßgeblich an den ersten Erfolgen der Mannschaft beteiligt. Darunter fällt die erstmalige Qualifikation für die Playoffs und der Sieg in der ersten Runde der Playoffs 1994. Nachdem Larionow sich im Jahr 2007, in dem die Maximalanzahl von vier Spielern in die Hall of Fame aufgenommen worden war, berechtigte Hoffnungen auf eine Aufnahme gemacht, aber nicht gegen die Konkurrenz hatte durchsetzen können, erfolgte die Induktion am 10. November 2008. Makarow folgte schließlich – nach 16 Jahren Wartezeit – am 14. November 2016.
Belfour gehörte dem Kader der San Jose Sharks zwischen Januar und Juni 1997 lediglich gut fünf Monate an. Für drei Spieler und ein Wahlrecht im NHL Entry Draft war der Torwart zu den Kaliforniern gewechselt, konnte sich mit dem Team aber nicht auf einen neuen Vertrag verständigen. Seine Ernennung zum Mitglied der Hall of Fame wurde am 28. Juni 2011 bekannt gegeben und erfolgte am 14. November 2011.
2017 wurde Teemu Selänne aufgenommen, der allerdings nur kurzzeitig für die Sharks aufgelaufen war. Anfang der 2020er Jahre folgten Doug Wilson und Mike Vernon.
Gesperrte Trikotnummern
Die San Jose Sharks haben in ihrer Franchisegeschichte bisher eine Nummer gesperrt, nämlich die Nummer 12 von Patrick Marleau am 25. Februar 2023. Zudem ist die berühmte 99 des Kanadiers Wayne Gretzky ligaweit seit dem 6. Februar 2000 gesperrt und wird somit nicht mehr an einen Spieler vergeben.
Erstrunden-Wahlrechte
NHL Entry Draft
Seit 1991 hatten die Sharks 33 Draftrechte in der ersten Runde des NHL Entry Drafts, davon 13 unter den ersten zehn des jeweiligen Jahrgangs.
Sechsmal – in den Entry Drafts 1992, 1996, 1997, 2003, 2007 und 2023 – konnten die Kalifornier zwei Spieler in der ersten Runde auswählen und sechsmal – in den Jahren 2000, 2008, 2009, 2011, 2016 und 2019 – keinen.
Mit Pat Falloon, zugleich der erste Draft-Pick der Franchise-Geschichte, Andrei Sjusin und Patrick Marleau wählten die Sharks bisher dreimal Spieler an der zweiten Position aus. Von den 28 Spielern, die die Sharks seit 1991 auswählten, kamen bisher 24 Spieler in der NHL zum Einsatz. Mit Ausnahme von Ty Wishart und Charlie Coyle, die Bestandteile von Transfergeschäften wurden, gaben alle ihr Debüt im Trikot der San Jose Sharks. Mike Morris und Teemu Riihijärvi schafften nie den Sprung in die National Hockey League.
NHL Supplemental Draft
Im von 1986 bis 1994 abgehaltenen NHL Supplemental Draft hatten die Sharks zwischen 1991 und 1994 insgesamt vier Wahlrechte.
Einmal, beim Supplemental Draft 1991, wählte San Jose zwei Spieler aus, darunter das Erstwahlrecht unter allen Teams, mit dem der Kanadier Jeff McLean gezogen wurde. In der letzten Ausgabe des Drafts im Jahr 1994 hatten die Sharks kein Wahlrecht.
Die vier Spieler, die die Sharks zogen, brachten es in ihrer Karriere lediglich auf insgesamt 111 Spiele in der National Hockey League. Von diesen vier Spielern kamen Jeff McLean und Mark Beaufait in elf Partien für San Jose zum Einsatz. Während Brian Konowalchuk seine Karriere frühzeitig beendete und nie in der NHL spielte, verbrachte Dean Sylvester seine drei Spielzeiten andauernde NHL-Karriere bei den Buffalo Sabres und Atlanta Thrashers.
Franchise-Top-Punktesammler
Die zehn besten Punktesammler in der Geschichte des Franchise bis zum Ende der regulären Saison 2022/23 und der Playoffs 2023.
Abkürzungen: Pos = Position, GP = Spiele, G = Tore, A = Vorlagen, Pts = Punkte, P/G = Punkte pro Spiel
Bekannte ehemalige Spieler
(Teamzugehörigkeit und Position in Klammern)
Quellen
Literatur
Steve Cameron: Feeding Frenzy! The Wild New World of the San Jose Sharks. Taylor Publishing Company, Dezember 1994, ISBN 0-87833-102-6
San Jose Sharks 2007–08 Organization Guide., 2007
Internet
Einzelnachweise
Weblinks
Offizielle Website der San Jose Sharks (englisch)
San Jose Sharks auf hockey-reference.com
Eishockeyverein (National Hockey League)
Organisation (San José, Kalifornien)
Gegründet 1990
Sportverein (Kalifornien) |
309211 | https://de.wikipedia.org/wiki/Requiem%20%28Mozart%29 | Requiem (Mozart) | Das Requiem in d-Moll (KV 626) aus dem Jahr 1791 ist Wolfgang Amadeus Mozarts letzte Komposition. Obwohl es nur zu etwa zwei Dritteln tatsächlich von Mozart stammt, ist es eines seiner beliebtesten und am höchsten eingeschätzten Werke. Mozart starb während der Komposition. Da es sich um ein Auftragswerk handelte, vervollständigten Joseph Eybler und Franz Xaver Süßmayr, ein Schüler von Mozart, das Requiem im Auftrag von Constanze Mozart, der Witwe des Komponisten. Die Entstehungsgeschichte und Qualität der nachträglichen Ergänzungen werden seit langem heftig diskutiert. Die ungewöhnlichen Umstände des Kompositionsauftrags und der zeitliche Zusammenhang dieser Seelenmesse mit Mozarts frühem Tod haben zudem eine üppige Mythenbildung angeregt.
Zur Entstehungsgeschichte
In den letzten Jahren vor seinem Tod wandte sich Mozart verstärkt der Kirchenmusik zu – eine ganze Reihe von Kyrie-Fragmenten wird auf die Jahre 1787–1791 datiert. Er versuchte, sich im kirchenmusikalischen Fach ein Auskommen zu sichern, indem er sich im April 1791 erfolgreich als Adjunkt des Domkapellmeisters an St. Stephan in Wien, Leopold Hofmann, bewarb. Die Stelle war zwar unbezahlt, doch erwarb sich Mozart so die „Erwartung auf die 2000 Gulden eintragende Kapellmeisterstelle“, also die Zusicherung einer sehr lukrativen Position. Am 17. Juni 1791 komponierte Mozart die kurze Fronleichnams-Motette Ave verum corpus (KV 618). Ein Arbeitsauftrag für ein größeres Kirchenwerk musste ihm somit sehr entgegenkommen.
Im Laufe des Jahres 1791 wurde Mozart durch Vermittler, die für den exzentrischen Grafen Franz von Walsegg agierten, mit der Komposition eines Requiems beauftragt und erhielt die Hälfte der Bezahlung im Voraus. Er hielt sich an die übliche Textgestalt des Requiems und verzichtete lediglich, wie das in den meisten musikalischen Bearbeitungen der Fall ist, auf eine Vertonung von Graduale und Tractus. Als Vorbild mag das Requiem c-Moll von Michael Haydn gedient haben, an dessen Uraufführung Mozart als Fünfzehnjähriger im Orchester mitgewirkt hatte.
Während des Kompositionsprozesses erkrankte Mozart schwer. Bis zu seinem Tod am 5. Dezember 1791 hatte er lediglich den Eröffnungssatz des Introitus (Requiem aeternam) mit allen Orchester- und Vokalstimmen niedergeschrieben. Das folgende Kyrie und der größte Teil der Dies-irae-Sequenz (vom Dies irae bis zum Confutatis) waren lediglich in den Gesangsstimmen und dem bezifferten Bass fertiggestellt, darüber hinaus waren verschiedentlich einige wichtige Orchesterpartien (etwa Posaunensolo im Tuba mirum, öfter Stimme der ersten Violinen) kurz skizziert. Der letzte Satz der Sequenz, das Lacrimosa, brach nach acht Takten ab und blieb unvollständig. In den 1960er Jahren wurde eine Skizze für eine Amen-Fuge entdeckt, die offenbar die Sequenz nach dem Lacrimosa hätte beenden sollen. Die folgenden beiden Sätze des Offertorium, das Domine Jesu Christe und das Hostias, waren wiederum in den Gesangsstimmen und teilweise im Continuo ausgearbeitet. Sanctus mit Benedictus, Agnus Dei und Communio fehlten völlig.
Der Witwe Mozarts, Constanze Mozart, war verständlicherweise sehr daran gelegen, dass das unvollständige Werk abgeschlossen wurde, um die Vorauszahlung nicht zurückzahlen zu müssen und die zweite Hälfte der Kaufsumme zu erhalten. Sie beauftragte daher andere Komponisten, meist Schüler Mozarts, mit der Fertigstellung. Zunächst wandte sie sich an Joseph Eybler. Er arbeitete an der Instrumentation der Sätze vom Dies irae bis zum Lacrimosa, gab den Auftrag dann aber aus unbekannten Gründen zurück. Seine Ergänzungen schrieb er direkt in Mozarts autografe Partitur.
Die Arbeit wurde einem anderen jungen Komponisten und Schüler Mozarts anvertraut, Franz Xaver Süßmayr, der sich für die Instrumentation auf Eyblers Arbeit stützen konnte. Süßmayr komplettierte die Orchestrierung der Sequenz sowie des Offertoriums, stellte das Lacrimosa fertig und komponierte weitere Sätze: Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Dann ergänzte er die Communio (Lux aeterna), indem er die beiden Eröffnungssätze, die Mozart noch selbst komponiert hatte, wiederholte und ihnen den Text des Lux aeterna unterlegte. Ob auch die Trompeten- und Paukenstimmen im Kyrie von Süßmayr stammen, ist heute umstritten.
Während die Ergänzungen des Kyrie sowie Eyblers Instrumentation direkt in Mozarts Partitur eingetragen wurden, übertrug Süßmayr für den Rest des Werks Mozarts Notentext und auch (teilweise nach eigenen Vorstellungen verändert) Eyblers Ergänzungen auf neues Notenpapier. Es entstanden so zwei Partituren: die „Arbeitspartitur“, die nur Mozarts Handschrift und Eyblers Ergänzungen enthält und von Süßmayr als Arbeitsgrundlage benutzt wurde, und die „Ablieferungspartitur“ in der von Süßmayr fertiggestellten Fassung. Die letztere wurde mit einer (von Süßmayr) gefälschten Unterschrift Mozarts versehen, auf 1792 datiert und in diesem Jahr auch dem Boten des anonym gebliebenen Grafen Walsegg übergeben. Die entscheidenden Manuskripte, insbesondere die „Ablieferungspartitur“ und die „Arbeitspartitur“, fanden zwischen 1830 und 1840 nach und nach den Weg in die Wiener Hofbibliothek (heute Österreichische Nationalbibliothek).
Neben Eybler haben vermutlich auch noch weitere Komponisten an der Vervollständigung gearbeitet, deren Notizen Süßmayr wahrscheinlich ebenfalls nutzen konnte. So hat Maximilian Stadler offenbar zumindest Vorarbeiten zur Instrumentation des Domine Jesu geleistet. Die Begleitstimmen im Kyrie, die mit den Chorstimmen „mitgehen“ (colla-parte-Stimmen), stammen ebenfalls von einer anderen Hand; Leopold Nowak, der Herausgeber des Requiem-Bandes der Neuen Mozart-Ausgabe (NMA), hat Franz Jakob Freystädtler als Autor vermutet, was aber durch neuere Handschriftenbefunde ausgeschlossen werden kann.
Da die neu hinzugekommenen, von Süßmayr stammenden Teile z. T. deutliche motivische Bezüge zum von Mozart stammenden Notentext haben und außerdem Anlehnungen an andere Kompositionen Mozarts entdeckt wurden, wird häufig angenommen, dass Süßmayr oder andere Beteiligte an dem Werk auf mündliche oder schriftliche Hinweise Mozarts zurückgreifen konnten (Mozarts Witwe hat „Trümmer“ bzw. „Zettelchen“ von Mozart erwähnt).
Zur Musik
Das Werk ist besetzt mit vier Vokalsolisten (Sopran, Alt, Tenor und Bass), vierstimmigem Chor und einem kleinen klassischen Orchester, bestehend aus zwei Bassetthörnern, zwei Fagotten, zwei Trompeten, drei Posaunen, Pauken, Streichorchester und Basso continuo (Orgel). Auffällig ist das Fehlen der hohen Holzbläser (Flöten, Oboen) und der Waldhörner. Der Klang des Orchesters wird somit stark durch den biegsamen, dunklen Ton der Bassetthörner bestimmt. So wird eine „durch die sparsame Instrumentation noch verstärkte starke Abdunklung und Transparenz erreicht, und eine düster-ernste Grundstimmung erzielt“.
Im Vordergrund steht im Mozart-Requiem durchweg der vierstimmige Vokalsatz, es gibt nur kurze rein instrumentale Partien. Das Orchester hat mit wenigen Ausnahmen eher dienende Funktion. Auch die Vokalsolisten treten hinter dem Chor deutlich zurück und werden (außer im Tuba mirum) im Wesentlichen als Ensemble eingesetzt. Arien und vergleichbare Formen solistischer Virtuosität fehlen ganz, anders als in anderen kirchenmusikalischen Werken oder gar Opern Mozarts und seiner Zeitgenossen. Der Chor erhält allerdings, zumindest im Kyrie, erheblichen Raum zur Glanzentfaltung.
Die Haupttonart des Requiems ist d-Moll, eine Tonart, die häufig (wie in den Komturszenen des Don Giovanni oder in Franz Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen) ernsten oder auf das Jenseits bezogenen Dingen zugeordnet wird. Die Tonarten bewegen sich (mit Ausnahme des nicht von Mozart stammenden Sanctus in D-Dur) größtenteils im Bereich von oft mit Dunkelheit, Emotion, Romantik, und Sterben assoziierten B-Tonarten (neben d-Moll etwa F-Dur, g-Moll, Es-Dur, B-Dur, auch a-Moll). Häufig sind die Anschlüsse der Sätze terzverwandt (etwa von d-Moll nach B-Dur).
Die Aufführungsdauer beträgt etwa eine Stunde (je nach Version der Vervollständigung und dem vom Dirigenten gewählten Tempo).
Werkgestalt
Die hier angegebene Gliederung gibt diejenige der traditionellen Vervollständigung durch Franz Xaver Süßmayr wieder. Das Ordinarium der Totenmesse ist vollständig, aus dem Proprium fehlen das Graduale und der Tractus „Absolve Domine“. Dafür ist aber die sich üblicherweise dem Tractus anschließende Sequenz „Dies Irae“ Bestandteil der Komposition. Diese Sequenz ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nur noch in der außerordentlichen Form des römischen Ritus Bestandteil des Requiems.
I. Introitus: Requiem aeternam, Adagio, d (Chor, Sopransolo, Chor). Unmittelbar anschließend:
II. Kyrie, Allegro, d (Fuge) (Chor)
III. Sequenz
Dies irae, Allegro assai, d (Chor)
Tuba mirum, Andante, B (Solistenquartett)
Rex tremendae, g (Chor)
Recordare, F (Solistenquartett)
Confutatis, Andante, a (Chor)
Lacrimosa, d (Chor)
IV. Offertorium
Domine Jesu, Andante con moto, g (Chor, Solisten), Fuge Quam olim Abrahae (Chor)
Hostias, Es (Chor) mit Wiederholung der Fuge Quam olim Abrahae
V. Sanctus, Adagio, D mit Fuge Osanna (Chor)
VI. Benedictus, Andante, B (Solistenquartett) und Fuge Osanna (Chor)
VII. Agnus Dei, d (Chor). Unmittelbar anschließend:
VIII. Communio: Lux aeterna, Adagio, d (Sopransolo, Chor) + Allegro, d (Fuge, Chor) (Parodie von Mozarts Introitus [ab Takt 19] und Kyrie)
Introitus und Kyrie
Das Requiem beginnt mit einer siebentaktigen Orchestereinleitung, in der die Holzbläser (zuerst Fagotte, dann Bassetthörner) in „überlappender“ Folge das Hauptthema des Werks vorstellen. Es hat sein Vorbild in einem Anthem von Georg Friedrich Händel (dem Chor The ways of Zion do mourn aus dem Funeral Anthem for Queen Caroline, HWV 264) und wirkt vor allem durch eine ansteigende Tonfolge in Vierteln einprägsam. In mehreren Sätzen des Werks finden sich Anklänge daran, unter anderem in den Koloraturen der Kyrie-Fuge und im Ausklang des Lacrimosa. Dieses Netz motivischer Beziehungen hat große Bedeutung für das Werk.
Die Posaunen kündigen dann das Einsetzen des Chores an, der das Thema zunächst in der Bassstimme und dann imitierend in den anderen Stimmen aufnimmt. Die Streicher spielen dazu um eine Sechzehntel verschobene, synkopische Begleitfiguren, die durch ihr „Nachklappen“ den feierlichen, gemessenen Charakter der Musik unterstreichen. Nach einem Sopransolo zum Text Te decet hymnus (im Tonus peregrinus), dessen Motive der Chor aufnimmt, wird das Hauptthema sowie ein weiteres, durch abwärts fließende Sechzehntelketten gekennzeichnetes Thema von Chor und Orchester verarbeitet. Wechsel und Ineinander von „gehaltenen“ steigenden und abwärts fließenden Melodieverläufen, aber auch Wechsel zwischen kontrapunktischen und akkordisch-deklamierenden Passagen (Et lux perpetua) machen den Reiz dieses Satzes aus, der mit einem Halbschluss auf der Dominante A-Dur endet.
Ohne Pause (attacca) folgt die lebhafte Kyrie-Fuge, deren Thema – mitsamt dem Kontrasubjekt – ebenfalls von Händel übernommen ist (nämlich aus dem Schlusschor We will rejoice in Thy salvation aus dem Anthem for the victory of Dettingen HWV 265). Mozart kannte dieses Thema gut aus seiner Bearbeitung von Händels Messiah (vgl. den Chorsatz And with his stripes we are healed aus dem Messiah). Die kontrapunktierenden Motive zu diesem Fugenthema nehmen die beiden Themen aus dem Introitus wieder auf und variieren sie. Die zuerst diatonisch steigenden Sechzehntel-Läufe werden im Lauf der Durchführung zunehmend durch chromatische abgelöst, was eine Steigerung der Intensität bewirkt. Dabei werden an die Höhen vor allem in der Sopranstimme einige Anforderungen gestellt (bis zum zweigestrichenen b). Eine Schlussformel in verlangsamtem Tempo (Adagio) endet in einer leeren Quinte, einem terzlosen Klang, der im klassischen Zeitalter archaisch wirkt, als bewusster Rückgriff auf Vergangenes.
Sequenz (Dies irae)
Das Dies irae setzt ohne Einleitung kraftvoll mit vollem Orchester und Chor ein. Die wuchtigen Chor-Rufe werden durch ein Tremolo des Orchesters und synkopierte Einwürfe in den Chorpausen grundiert und verstärkt. Darauf folgen mehrfach rasante chromatische Sechzehntelläufe der ersten Violinen bis zu den erneuten Choreinsätzen. Eine effektvolle Passage ist der dreimal wiederholte „zitternde“, von Generalbass, Violinen in tiefer Lage und Chorbass unisono vorgetragene Wechsel von gis und a in Achteln zum Text Quantus tremor est futurus („Welches Zittern wird sein“, nämlich am Dies irae, am Tag des jüngsten Gerichts) – Mozart ließ sich hier offenbar vom Text inspirieren.
Das gilt auch für den nächsten Satz Tuba mirum, der – entsprechend der üblichen deutschen Übersetzung von tuba mit Posaune – von Dreiklangsbrechungen der unbegleiteten Solo-Posaune in B-Dur, einer Mediante von d-Moll, eingeleitet wird. Nach zwei Takten setzt der Solo-Bass imitierend ein. In Takt 7 folgt eine Fermate – die einzige Stelle, die für eine Solokadenz in Frage käme. Auf die letzte Viertel des Bass-Solos setzt der Solo-Tenor ein, in ähnlicher Weise dann Solo-Alt und Solo-Sopran, jeweils in recht dramatischer Weise. Zum Text Cum vix justus sit securus („Wenn kaum der Gerechte sicher ist“) geht das Stück in einen homophonen Satz der vier Solostimmen über, die „cum“ und „vix“ unbegleitet auf den Taktschwerpunkten 1 und 3 artikulieren, während auf den „schwachen“ Zählzeiten 2 und 4 Violinen und Continuo antworten; dieses „Stocken“ (das vom Text her als Stocken vor dem Jüngsten Gericht gedeutet werden könnte) erklingt einmal gedämpft (sotto voce), dann forte und gleich wieder piano, worauf ein Crescendo in die Schlusskadenz führt.
Eine scharf punktierte absteigende Tonfolge im Orchester kündigt den „König von erschreckender Majestät“ (Rex tremendae majestatis) an, der dreimal mit mächtigen Chorakkorden auf die Silbe Rex in den Orchesterpausen angerufen wird. Dann übernimmt der Chor den punktierten Rhythmus des Orchesters, der in der Barockmusik als „Topos der Herrscher-Huldigung“ (Wolff) bekannt war. Der Satz hat nur 22 Takte, ist aber auf dieser kurzen Distanz sehr abwechslungsreich: Homophone und kontrapunktische Chorpassagen wechseln mehrfach und münden am Ende in eine fast unbegleitete Chorkadenz, die wiederum in einem terzlosen Klang auf d endet (wie schon beim Kyrie).
Es folgt der mit 130 Takten längste Satz des Werks (und der erste in ungeradem Metrum, nämlich im Drei-Viertel-Takt), das Recordare, in dem nicht weniger als sechs Strophen des Dies irae verarbeitet sind. In einer dreizehntaktigen Einleitung stellen zunächst die Bassetthörner das getragene Thema vor, danach beantworten die Streicher es mit absteigenden Skalenläufen, die bereits zuvor in den Violoncelli erklangen. Diese Einleitung erinnert an den Beginn des Gesamtwerkes, ebenso wie die rhythmischen und melodischen Verschiebungen (Bassetthorn I setzt einen Takt nach Bassetthorn II ein, aber einen Ganzton höher; Violinen II gegenüber Violinen I um eine Viertel verschoben usw.). Danach setzt das Soloquartett ein, in immer neuen Kombinationen der Stimmen, wobei besonders die immer wieder neu differenzierten Wechselgesangs-Muster zwischen den Stimmen beeindrucken. Wie bereits Erich Prieger 1910 feststellte, ist der Themenkopf des Recordare weitgehend identisch mit einer Passage aus Wilhelm Friedemann Bachs Sinfonia d-Moll (= Adagio und Fuge für zwei Traversflöten, Streicher und Continuo, Fk 65, Takt 32ff). Christoph Wolff nimmt hier allerdings, anders als bei Introitus und Kyrie, nicht ein bewusstes Zitat, sondern vielmehr eine Entlehnung aus dem „zeitüblichen musikalischen Vokabular“ an.
Das anschließende Confutatis besticht durch scharfe rhythmische, dynamische und Lagenkontraste und überraschende harmonische Wendungen. Zu einer „rollenden“ Bassfigur intonieren die Männerstimmen des Chors forte und in scharf punktierten Rhythmen die Höllenvision (Confutatis maledictis, flammis acribus addictis = „Die Übeltäter sind verbannt, den sengenden Flammen übergeben“). Dann pausiert die Generalbassbegleitung, und die Frauenstimmen des Chors singen sanft und sotto voce die Bitte, sie in die Reihen der Seligen aufzunehmen (voca me cum benedictis). Schließlich führt in der nächsten Strophe – zum Text des „gebeugten Büßers“ (Oro supplex et acclinis) – eine enharmonische Modulation von a-Moll über einen verminderten Septakkord nach Es7 und schließlich as-Moll; diese überraschende Absenkung der Basis wird mit starkem Effekt wiederholt, bis schließlich F erreicht ist, nun aber in Dur. Ein Septakkord auf A führt zum letzten Satz des Dies irae, dem Lacrimosa, das ohne Pause anschließt.
Im wiegenden Zwölfachteltakt beginnen die Streicher piano mit Seufzermotiven, zu denen nach zwei Takten der Chor hinzutritt (Lacrimosa = „tränenreich“). Eine ausholende Geste mit aufsteigender Sext und eine fallende Sekunde verleihen dem Sopran einen intensiv schmerzlichen Ausdruck. Nach weiteren zwei Takten beginnt die Sopranstimme des Chorsatzes Im Rhythmus punktierter Viertel anzusteigen (zum Text resurget = „wird auferstehen“), zunächst diatonisch und – wegen der Notierung in Achteln und Pausen – zögernd, dann legato und chromatisch mit mächtig anschwellender Dynamik. In Takt 8 ist bereits das Forte erreicht – und hier brach Mozarts Manuskript ab. Süßmayr setzt den homophonen Chorsatz fort, der schließlich in ein Zitat des Requiem-Beginns (im Chorsopran) und eine zweitaktige Amen-Kadenz mündet.
Offertorium
Der erste Satz des Offertoriums, das Domine Jesu, beginnt mit einem piano gesungenen Thema, das (in der Sopranstimme des Chorsatzes) aus den Tönen eines g-Moll-Dreiklangs in aufsteigender Folge besteht. Dieses Thema wird später auf anderen harmonischen Stufen variiert: As-Dur, b-Moll, dann folgt die Dur-Terz D. Das Soloquartett verarbeitet es später in einer absteigenden Quintkanonfolge, wobei der Terzton ständig zwischen der Mollterz (im Aufstieg) und der Durterz (im Abstieg) variiert. Zwischen diesen thematischen Passagen liegen forte artikulierte, oft unisono gesungene Phrasen in punktierten Rhythmen (etwa auf den Text „Rex gloriae“ = „ruhmreicher König“ oder auch „de ore leonis“ = „[rette uns] vor dem Rachen des Löwen“). Dieses abwechslungsreiche Geflecht wird weiter variiert durch ein Fugato der Chorstimmen mit sehr großen Intervallstürzen (zum Text „ne absorbeat eas tartarus, ne cadant in obscurum“ = „dass sie nicht die Hölle verschlinge, dass sie nicht in die Finsternis stürzen“). Den Satz schließt das Quam olim Abrahae ab, das zunächst als Fuge erklingt und dann in einen scharf rhythmisierten homophonen Satz übergeht, der schließlich in G-Dur endet.
Mediantisch in Es-Dur schließt das Hostias an, das im Dreivierteltakt steht. Der fließende Vokalsatz geht nach zwanzig Takten in einzelne Ausrufe des Chores über, wechselnd im Forte und Piano. Damit ist gesteigerte harmonische Aktivität verbunden: Rückung von B-Dur nach b-Moll, dann F-Dur, Des-Dur, As-Dur, f-Moll, c-Moll und wieder Es-Dur. Über eine überraschende chromatische Melodieführung zum Text fac eas, Domine, de morte transire ad vitam („lass sie, Herr, vom Tode ins Leben hinübergehen“) wird schließlich D-Dur erreicht, und nun schließt erneut die tongetreu wiederholte Fuge Quam olim Abrahae an. Die Anweisung, dieses zu wiederholen („Quam olim da capo“), ist wahrscheinlich Mozarts letzte Tat am Requiem. Diese handschriftliche Notiz ist jedoch vermutlich 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel, wo die Partitur gezeigt wurde, verloren gegangen – die rechte untere Ecke des letzten Partiturbogens, wo sie stand, ist offenbar von unbekannter Hand herausgerissen und gestohlen worden. Auf Faksimiles ist die Anweisung jedoch erhalten.
(Dieses Faktum wurde vom österreichischen Schriftsteller Gerhard Roth aufgegriffen und in seinem Roman Der Plan thematisiert.)
Süßmayrs Ergänzungen: Sanctus, Benedictus, Agnus Dei
Das Sanctus ist der erste Satz, der ganz von Franz Xaver Süßmayr stammt, und der einzige des ganzen Requiems in einer Kreuztonart (nämlich der „festlichen“ Tonart D-Dur, die gern für den Einsatz von Barocktrompeten genutzt wurde). Auf den mit zehn Takten Umfang sehr knapp gehaltenen Lobpreis des Herrn folgt ein fugierter Satz zum Text Osanna in excelsis im Dreivierteltakt, auffällig synkopiert.
Das Benedictus, in der Untermediante B-Dur, exponiert das Solistenquartett. Ein im ersten Durchgang zuerst von Alt und Sopran vorgestelltes Thema wird in allen vier Stimmen motivisch verarbeitet; der zweite Durchgang bringt das Thema zuerst in Bass und Tenor. Es folgt erneut das Osanna in excelsis, das diesmal in B-Dur verbleibt und variierte Stimmeinsätze aufweist. Die zu erwartende Rückmodulation zur Tonart des ersten Osanna, D-Dur, unterbleibt.
Im Agnus Dei dominiert der homophone Satz. Dreimal setzt der Text Agnus Dei an, jeweils mit chromatischen Melodieführungen und harmonischen Wendungen, die von d-Moll bis E-Dur führen (und dann wieder nach B-Dur). Der Chorbass zitiert dabei das Thema des ersten Satzes (Requiem aeternam). Attacca geht das Stück in das Lux aeterna über, das Mozarts erstem Satz (ab Te decet hymnus) und später seinem Kyrie fast notengetreu bis zum Schluss folgt, lediglich mit geändertem Text.
Zweite Entstehung: Uraufführung, Notentext, Autografen
Uraufführung im Plural
Es gibt Hinweise auf eine (fragmentarische) Erstaufführung, noch bevor das Werk überhaupt fertiggestellt war, nämlich am 10. Dezember 1791 im Zusammenhang mit den Exequien für Mozart, die Emanuel Schikaneder in der Michaelerkirche zu Wien abhalten ließ, wo sich heute auch eine Gedenktafel befindet, die an dieses Ereignis erinnert. Kurz nach Mozarts Tod war am 7. Januar bereits in der Salzburger Zeitung die Rede davon, das Requiem werde „auch wirklich, wenn es abgeschrieben ist, in der St. Michaels-Kirche zu seinem Gedächtniß aufgeführt“. Dort können jedoch allenfalls die ersten beiden Sätze, Introitus und Kyrie, gespielt worden sein, da die anderen noch gar nicht vollständig vorlagen. Mit welchen Instrumenten gespielt wurde, ist unbekannt.
Die Uraufführung des Gesamtwerks fand am 2. Januar 1793 im Saal der Restauration Jahn in Wien statt, wo Mozart 1791 letztmalig als Pianist aufgetreten war. Sie wurde veranstaltet von Gottfried van Swieten im Rahmen eines Benefizkonzerts für Constanze Mozart und ihre Kinder. Die Aufführung scheint sich auf Kopien gestützt zu haben, die Constanze Mozart und Süßmayr vor der Ablieferung der Partitur hatten anfertigen lassen. Vermutlich geschah dies ohne Wissen des Auftraggebers Graf Walsegg, der die Rechte daran besaß.
Erst am 14. Dezember 1793 (in der Stiftskirche des Zisterzienserstiftes Neukloster in Wiener Neustadt) kam es zu der ersten Aufführung, die den Auftragsbedingungen und der ursprünglichen Zweckbestimmung entsprach: als Seelenmesse für die verstorbene Gräfin Walsegg. Der Auftraggeber selbst dirigierte nach dem Bericht eines der beteiligten Musiker das Werk und benutzte dazu eine Partiturabschrift, in die er als Autor sich selbst hatte eintragen lassen – offenbar ein Verfahren, das er häufiger anwandte (und das auch die anonyme Bestellung erklärt). Eine weitere Aufführung fand am 14. Februar 1794, dem dritten Todestag der Gräfin Walsegg, in der Patronatskirche des Grafen, Maria Schutz am Semmering (heute zu Schottwien gehörig), statt.
Über Wien und Wiener Neustadt hinaus verbreitete sich der Ruf des Werks durch eine Aufführung im Konzertsaal des Gewandhauses in Leipzig am 20. April 1796, dirigiert von Johann Gottfried Schicht, dem späteren Thomaskantor. Die Ankündigung ist erhalten geblieben, sodass Genaueres bekannt ist. Nach dem ca. einstündigen Requiem waren weitere Mozartwerke mit zwei Interpreten vorgesehen: Constanze Mozart (Gesang) und August Eberhard Müller (Orgel). Müller war später Redakteur des Erstdrucks der Partitur.
Wie die Handschriften zum Mozart-Requiem wurden
In der ersten ausführlichen Biografie Mozarts, die von Franz Xaver Niemetschek 1798 veröffentlicht wurde, findet das Requiem bereits recht ausführlich Erwähnung. Der Fragmentcharakter wird ebenso angesprochen wie die anonyme Bestellung.
Der Verlag Breitkopf & Härtel wandte sich nun im Lauf des Jahres 1799 an Constanze Mozart, um Verhandlungen wegen des Mozart-Nachlasses sowie eines Drucks der Requiem-Partitur aufzunehmen. Während erstere scheiterten, hatten letztere Erfolg – auch deswegen, weil Constanze Mozart nicht über die Rechte an dem Werk verfügte. Der Verlag, der bereits eine Partiturabschrift in Besitz hatte, versuchte von Constanze Mozart genauere Informationen bezüglich des Urheberrechts, der Urheberschaft sowie des genauen Notentextes zu erlangen. Constanze Mozart übersandte Breitkopf & Härtel ihre Partiturabschrift zum Abgleichen des Notentextes und gab dem Verlag den Rat, sich wegen der Einzelheiten der Fertigstellung des Werks an Süßmayr zu wenden. Tatsächlich erklärte Süßmayr in einem Brief vom Februar 1800 an den Verlag, im Wesentlichen wohl korrekt, seinen Anteil am Requiem, scheint aber nicht auf Nennung seines Namens gedrängt zu haben – denn bald darauf erschien der Erstdruck der Partitur bei Breitkopf & Härtel, der als Autor lediglich Mozart angab, einen eindeutigen Notentext lieferte und den Fragmentcharakter des Werkes in keiner Weise erkennen ließ.
Durch die Zeitungsinserate, mit denen der Verlag für das Werk warb (so etwa im September 1799 im Intelligenz-Blatt zur Allgemeinen musikalische Zeitung Nr. XIX) wurde jedoch auch Graf Walsegg aufmerksam, trat aus seiner Anonymität heraus und stellte Forderungen an Constanze Mozart, die offenbar durch einen Kompromiss abgegolten werden konnten. Wohl auf sein Drängen hin, vielleicht aber auch im Interesse Constanze Mozarts, die dem Musikverleger Johann Anton André, dem Erwerber des Mozart-Nachlasses, gern die Originalpartitur beschafft und verkauft hätte, kam es zudem im Herbst 1800 zu einem denkwürdigen Treffen in der Wiener Notariatskanzlei von Dr. Johann Nepomuk Sortschan, der für Walsegg agierte. Dabei lagen alle wichtigen Handschriften vor: die „Ablieferungspartitur“, die der Graf erhalten hatte; die „Arbeitspartitur“, die damals im Besitz von Constanze Mozart war; dazu ein Exemplar des Erstdrucks von Breitkopf & Härtel. Maximilian Stadler und Georg Nikolaus Nissen (Constanze Mozarts zweiter Mann) vertraten die Familie Mozart. Stadler hatte den Nachlass Mozarts geordnet, kannte daher Mozarts Handschrift gut und war vermutlich auch an der Instrumentation des Offertoriums beteiligt gewesen; ihm fiel daher die Aufgabe zu, die Teile Mozarts und Süßmayrs zu trennen. Dies geschah u. a. durch „Einzäunen“ der nicht von Mozart stammenden Passagen mit einer „Bleyfeder“ in der „Arbeitspartitur“. Das Ergebnis dieser Kollationierung wurde vom Notar festgehalten und Geheimhaltung vereinbart. Dann kehrten die Originale wieder zu ihren Besitzern zurück.
Im Grunde gab es erst jetzt wirklich ein „Mozart-Requiem“ als einheitliches Werk: Die rechtlichen Fragen waren geklärt, eine Partiturausgabe existierte auf dem Markt und wurde bald durch einen Klavierauszug (erschienen bei André 1801) und Stimmausgaben (1812 in Wien) ergänzt (durchweg mit Mozart als allein genanntem Verfasser), Aufführungen, Partiturstudium und Rezensionen waren möglich. Andererseits war auch der Anteil von Süßmayr bekannt, denn sein oben angeführter Brief an Breitkopf & Härtel wurde 1801 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung abgedruckt. Bis 1825 wurde die Werkgestalt nicht mehr nennenswert öffentlich diskutiert.
Der Requiem-Streit
Im Jahre 1825 veröffentlichte der Herausgeber der „Cäcilia – Zeitschrift für die musikalische Welt“, Jacob Gottfried Weber, in dieser seinen Aufsatz „Über die Echtheit des Mozartschen Requiem“, der erhebliche Kontroversen nach sich zog. Er brachte nicht nur wieder die Tatsache in Erinnerung, dass Mozart nicht der alleinige Autor des Requiem war und dass bislang der Öffentlichkeit keinerlei beweiskräftige Dokumente für eine Urheberschaft vorlagen; vielmehr zog er generell in Zweifel, dass die veröffentlichte Partitur überhaupt auf Mozart zurückgehe, und vermutete, dass Süßmayr den gesamten Notentext aus evtl. „Skizzen“ zusammengebastelt habe. Großen Ärger handelte er sich aber vor allem damit ein, dass er die Authentizitätsfrage mit ästhetischen Bewertungen verknüpfte. So bezeichnete er die chromatischen Koloraturen im Kyrie (s. o.) als „wilde gorgheggj“ (Gurgeleien) und äußerte sich u. a. auch höchst despektierlich über die schroffen Gegensätze im Confutatis – deswegen wolle er sie nicht ohne Beweis Mozart zuschreiben müssen.
Webers Attacke erreichte ein recht großes Publikum und führte zu scharfen Reaktionen. Ludwig van Beethoven notierte in seinem Cäcilia-Exemplar „O du Erzesel“ und „O du doppelter Esel“ an den Rand des Artikels, auch Carl Friedrich Zelter äußerte sich in einem Brief an Goethe sehr ungnädig über Weber. Freilich war Weber mit seiner Kritik nicht allein. So verwarf auch Hans Georg Nägeli die unkonventionelle harmonische Disposition des Kyrie: „Durch eine solche Verletzung der Verwandtschaft der Tonarten … wird die Fuge zu einem barbarischen Tongewühle.“ Es kam zu einer lebhaften Debatte über die Fragen der Echtheit und der ästhetischen Wertung, die sich in verschiedenen Zeitschriften niederschlug (u. a. Cäcilia, Allgemeine musikalische Zeitung, Berliner allgemeine musikalische Zeitung). Für die Echtheitsfrage erlangte besonders die Antwort von Maximilian Stadler Bedeutung. Er verwies auf das oben beschriebene Redaktionstreffen vom Herbst 1800, das damit erstmals öffentlich bekannt gemacht wurde, und bezog sich dabei auf die Autografen Mozarts: „Ich habe diese Originalien vor kurzer Zeit zwey Mahl in Händen gehabt, und genau durchgesehen“. Ferner stellte er als erster fest, dass Mozart „den großen Händel … zu seinem Muster in ernsthaften Singsachen wählte“, und wies auf Händels „Anthem for the Funeral of Queen Caroline“ als Vorbild des ersten Satzes hin. Das war Wasser auf die Mühlen Webers, der in seiner öffentlichen Antwort in „Cäcilia“ dafür plädierte, Requiem und Kyrie als Skizzen Mozarts nach Händel anzusehen, da er Mozart kein Plagiat unterstellen wolle. Es liegt nahe, dass Weber einen Begriff von Originalschöpfung vertrat, der Mozarts freiem Umgang mit Vorbildern nicht entsprach.
Immerhin hatte Webers Attacke zur Folge, dass die Autografen Mozarts in den nächsten Jahren ans Tageslicht kamen. Zunächst veranstaltete Johann Anton André 1827 eine erste „nach Mozart’s und Süßmayr’s Handschriften berichtigte Ausgabe des Requiems“, zwei Jahre später eine Sonderausgabe der Sequenz und des Offertoriums mit Mozarts eigenem Notentext. 1829 verkaufte Stadler das Autograf der Sequenz, das er in Besitz hatte, der Hofbibliothek zu Wien, 1833 erhielt dieselbe Bibliothek von Eybler die Autografen des Lacrymosa-Fragments und des Offertoriums. Schließlich erwarb die Bibliothek 1838 auch noch die komplette „Ablieferungspartitur“ aus dem Nachlass von Walsegg, sodass nun – bis auf die oben erwähnte Skizze der Amen-Fuge – alle wichtigen Originaldokumente öffentlich zugänglich waren. Sie bilden bis heute die Grundlage für die fortdauernden Kontroverse um die „richtige“ Requiem-Gestalt.
Zur Rezeption
Trotz der komplizierten Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte war das Requiem das erste große kirchenmusikalische Werk Mozarts, das im Druck vorlag. Es erfreute sich zudem einer konstanten Beliebtheit, die von den Konjunkturen der Mozart-Rezeption kaum berührt wurde. Die Gründe dafür sind nicht rein musikalischer Natur: Die Mythen und Geheimnisse um Mozarts Ende spielten hier eine große Rolle.
Der Beitrag der Mythenbildung
Von Beginn an war die Rezeption des Mozart-Requiems geprägt durch Legendenbildung um seine Entstehung sowie um den Tod Mozarts. Ein frühes Beispiel dafür ist ein Artikel von Johann Friedrich Rochlitz in der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1798, also noch vor dem Erstdruck der Partitur. Rochlitz stilisierte den „Grauen Boten“ zu einem Boten aus dem Jenseits. Mozart sei fest überzeugt gewesen, „der Mann mit dem edlen Ansehen sei ein ganz ungewöhnlicher Mensch, der mit jener Welt in näherer Verbindung stehe, oder wohl gar ihm zugesandt sei, ihm sein Ende anzumelden“. Er habe dann Tag und Nacht und bis zur Ohnmacht an dem Werk gearbeitet, denn er habe geglaubt, er „arbeite dies Stück zu seiner eigenen Totenfeier“. Bei derartigem Eingreifen jenseitiger Gewalten sei es kein Wunder, „daß so ein vollendetes Werk zustande kam“. Der Bericht stützte sich auf wenig zuverlässige Informationen von Constanze Mozart und ist durch den autografen Befund, der keine Zeichen von Hast erkennen lässt, keineswegs gedeckt.
Er erhöhte jedoch die Neugier auf Mozarts letztes Werk und wurde später immer wieder aufgegriffen und weiter ausgeschmückt, unter anderem durch bereits frühzeitig umlaufende Gerüchte, Mozart sei einem Giftmord zum Opfer gefallen, womöglich durch seinen Konkurrenten Antonio Salieri. Dieser Zug spielt vom frühen 19. Jahrhundert bis heute, von Alexander Puschkins Drama Mozart und Salieri (das Rimski-Korsakow als Vorlage zu seiner gleichnamigen Oper Mozart und Salieri diente) bis zu Miloš Formans Film Amadeus, eine zentrale Rolle in der Rezeption des Werkes.
Rochlitz war es auch, der – in einem Aufsatz „Mozart und Raphael“ in der Allgemeinen musikalischen Zeitung – die Grundlagen für eine Parallelisierung von Mozart und Raffael legte. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde es zum Topos, Mozart als „Raffael der Musik“ zu bezeichnen, als einen naiv komponierenden, heiteren Götterliebling, der alles veredelte, was er anfasste. In dieser Tradition erschien das Requiem geradezu als Passion Mozarts – ebenfalls eine Verklammerung der mythisch aufgeladenen Biografie mit dem Werk.
Der Weg zur „Staatskomposition“
Zugleich etablierte sich das Werk früh als ein Musterbeispiel für das Erhabene in der Musik. So schätzte Johann Adam Hiller, Leiter der Musikübenden Gesellschaft am Leipziger Gewandhaus und Thomaskantor, auf den die oben erwähnte Aufführung vom 20. April 1796 zurückgeht, das Werk sehr hoch ein – nach Grubers Urteil deshalb, weil es „dem pathetischen Musikgeschmack am ehesten entsprach“. Er überschrieb seine Kopie der Partitur mit „opus summum viri summi“ (höchstes Werk des höchsten Mannes). Vor allem aber unterlegte er einen deutschen Text und schuf so eine wichtige Voraussetzung dafür, das Werk von der kirchlichen in die säkulare Umgebung, den Konzertsaal, zu übertragen. Da Hiller bei seinen Aufführungen etwa von Händels Messiah dazu neigte, die Chöre sehr stark zu besetzen und damit einen Eindruck des Monumentalen zu schaffen, dürfte dies auch für die Requiem-Aufführung zutreffen.
In der Folge wurde das Requiem bereits früh im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum und bald auch darüber hinaus zu einer förmlichen „Staatskomposition“. 1800 wurde es in Berlin von der Singakademie bei der Totenfeier für ihren Stifter Carl Friedrich Christian Fasch aufgeführt – der dabei anwesende Jean Paul rühmte in einem Brief an Johann Gottfried Herder den Gegensatz zwischen „Mozartischen Donnerwolken“ und „Nachtigallengesang“. 1803 erklang es bei der prunkvollen Totenfeier für Friedrich Gottlieb Klopstock, 1808–1810 bei den jährlichen Gedenkfeiern auf Schloss Ludwigslust für die verstorbene Herzogin Luise Charlotte zu Mecklenburg, 1812 in Wien bei der Enthüllung eines Denkmals für Heinrich Joseph von Collin und in Berlin bei der Totenfeier für die preußische Königinwitwe, in Frankreich und Neapel bei der Totenfeier für einen französischen General, und später bei den offiziellen Totenfeiern für Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin und viele andere Musiker.
Romantische Kritik: E. T. A. Hoffmanns wegweisende Besprechung
Die Frühromantiker schätzten Mozarts Profanmusik großenteils sehr und gaben ihr Züge einer Kunstreligion. Das galt jedoch im Allgemeinen gerade nicht für seine Kirchenmusik, die im Zuge der romantischen Palestrina-Verehrung ebenso kritisiert wurde wie die Messen Joseph Haydns. Die klassische Kirchenmusik galt als zu weltlich, opernhaft und virtuos, sie verdecke somit die religiöse Botschaft. Ludwig Tieck etwa lässt in einem Dialog im Phantasus eine Figur räsonieren, die Musik sei „die religiöseste“ der Künste und könne „nicht pathetisch sein, und auf ihre Stärke und Kraft pochen, oder sich in Verzweiflung austoben wollen“. Das wird in der Folge direkt auf Mozart und das Requiem bezogen: „Ich müßte ohne Gefühl sein, … wenn ich den wundersamen, reichen und tiefen Geist dieses Künstlers nicht ehren und lieben sollte, wenn ich mich nicht von seinen Werken hingerissen fühlte. Nur muß man mich kein Requiem von ihm wollen hören lassen, oder mich zu überzeugen suchen, daß er, so wie die meisten Neueren, wirklich eine geistliche Musik habe setzen können.“
Kritik dieses Typs spielte in der Romantik und später im Cäcilianismus eine große Rolle; doch gerade in der bedeutendsten romantischen Besprechung wird das Requiem von dieser Kritik ausgenommen, nämlich in dem von E. T. A. Hoffmann in der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1814 veröffentlichten Aufsatz „Alte und neue Kirchenmusik“. Hoffmann kritisierte hier vernichtend die „ekle Süsslichkeit“ der neueren Kirchenmusik und nahm davon auch die Messen Haydns und Mozarts nicht aus, die ohnehin Auftragswerke gewesen seien. Mozart habe „indessen in einem einzigen Kirchenwerke sein Inneres aufgeschlossen: und wer wird nicht von der glühendsten Andacht, von der heiligsten Verzückung ergriffen, die daraus hervorstrahlt? Sein Requiem ist wol das Höchste, was die neueste Zeit für den kirchlichen Cultus aufzuweisen hat.“ Die musikalische Begründung ist bemerkenswert: Mozart verzichte auf die „bunten, krausen Figuren“, die sonst so häufig als Verzierungen verwendet würden „wie aufgeklebte, knisternde Goldflitter“, und konzentriere die neuen instrumentatorischen Möglichkeiten der Wiener Klassik ganz auf die Verherrlichung des „echtkirchlichen“ Gefühls. Bezeichnenderweise kritisiert Hoffmann allein das Tuba mirum, die einzige Stelle, die solistischen Glanz ermöglicht, ja verlangt, als gar zu „oratorienartig“. Er fügt eine Bemerkung an, die sich kritisch auf die frühe säkulare und monumentalisierende Aufführungspraxis bezieht: „Das Requiem, im Concertsaal aufgeführt, ist nicht dieselbe Musik; die Erscheinung eines Heiligen auf dem Ball!“
Hoffmanns Text war in der Rezeptionsgeschichte sehr wirkungsmächtig und wurde immer wieder, direkt oder indirekt, zitiert. Noch bei Alfred Einstein findet sich die Bemerkung, der Soloposaunist im Tuba mirum mache den Eindruck, sich produzieren zu wollen, statt die Schrecken des Jüngsten Gerichts anzukündigen – und dies sei die problematischste Stelle des Requiems in Mozarts eigenem Notentext. Und noch Nikolaus Harnoncourt hält Mozarts Requiem für „Mozarts einziges Werk mit autobiographischem Bezug“.
Zwischen Gedenktagsmusik und himmlischer Gegenwelt
Dies änderte jedoch nichts daran, dass das Requiem weiterhin besonders häufig als repräsentative, monumental-pathetische Trauer- und Gedenktagsmusik aufgeführt wurde: so bei der Totenfeier für Napoleon anlässlich der Überführung seiner Leiche in den Invalidendom und bei der Feier zum 100. Todestag Mozarts im Salzburger Dom. Dies galt später auch für die junge Sowjetunion: So wurde es am 1. Mai 1918 für „die Gefallenen der Revolution“ im Petersburger Winterpalast aufgeführt, kurz danach zum 100. Geburtstag von Karl Marx und zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Eine bemerkenswerte Kuriosität ist die Pariser Aufführung des Don Giovanni 1834, in der das als gar zu profan empfundene und deshalb häufig fortgelassene Schluss-Sextett (nach der Höllenfahrt des Protagonisten) durch Sätze aus dem Requiem ersetzt wurde. Selbst zu Zeiten, als die Opern Mozarts an den europäischen Opernhäusern immer seltener wurden (ab ca. 1870), wurde nach wie vor häufig das Requiem gegeben – eben bei „entsprechenden Anlässen“. Freilich wuchs die Kritik an diesen Ritualen: George Bernard Shaw, ein großer Verehrer Mozarts, spöttelte über den „Geist frommer Schwermut“, der sich in der Werkwahl bei solchen Feiern abbilde. Und 1915 schrieb Karl Kraus sein Gedicht „Beim Anblick eines sonderbaren Plakats“ – das titelgebende Plakat kündigt eine Requiem-Aufführung zu wohltätigen Zwecken an, doch das lyrische Ich sieht überall nur Mörser, selbst in der Darstellung eines Kirchenfensters auf dem Plakat. Kraus stellt die „himmlische Musik“ Mozarts der Propaganda gegenüber, die mit ihr getrieben werde, Mozarts Requiem kontrastiert er mit dem Requiem Europas: dem Ersten Weltkrieg.
Ein abschreckendes Beispiel der von Kraus kritisierten staatlichen Vereinnahmung des Mozart-Requiems stellt eine Schallplattenaufnahme von 1941 mit Bruno Kittel und den Berliner Philharmonikern zum 150. Todestag Mozarts dar. Hier wurde im Text jeglicher Hinweis auf die jüdischen Wurzeln des Christentums entfernt. So hieß es etwa „Te decet hymnus, Deus in coelis“ statt „Deus in Sion“ (also „Gott im Himmel“ statt „Gott in Zion“) und „hic in terra“ („hier auf Erden“) statt „in Jerusalem“; „Quam olim Abrahae promisisti“ („wie Du einst Abraham versprochen hast“) wurde zu Quam olim homini promisisti („wie du einst dem Menschen versprochen hast“).
Theologen wie Karl Barth und Hans Küng wiederum meinten nach dem Zweiten Weltkrieg, in Mozarts Werk „Spuren der Transzendenz“ und „einen besonderen, direkten Zugang des lieben Gottes zu diesem Menschen“ feststellen zu können.
Neubewertungen
In den 1970er Jahren setzte eine Neubewertung des Werkes ein, die vor allem aus zwei Quellen gespeist wurde. Erstens hatte es im Zuge der Arbeiten an der Neuen Mozart-Ausgabe eine verstärkte philologische Arbeit an den vorhandenen Quellen gegeben. Süßmayrs Instrumentation und Ergänzungen, die von Beginn an Kritik auf sich gezogen hatten, wurden eingehend betrachtet und analysiert und mit Eyblers Vorarbeit verglichen. Durch Papier- und Handschriftenuntersuchungen und neue Skizzenfunde konnte der Entstehungskontext des Werkes erheblich genauer ausgeleuchtet werden. In diesem Zusammenhang entstand eine Serie von Neueinrichtungen des Werks, die durchweg versuchten, die neuen Kenntnisse sowohl über das Werk als auch über den historischen Kontext auszuwerten.
Zum anderen begann die Historische Aufführungspraxis auch auf die Rezeption des Mozart-Requiems Einfluss zu nehmen. Es wurde Kritik an den bekannten repräsentativen Schallplattenaufnahmen, etwa von Bruno Walter (erste Gesamtaufnahme des Requiems, 1937), Karl Böhm oder Herbert von Karajan laut. Man nahm die barocken und archaischen Elemente des Werkes ernster als zuvor, experimentierte mit Knabenstimmen, historischen Instrumenten, kleinen Besetzungen, flotteren Tempi und stärker dem Barock angenäherter Artikulation und Phrasierung (Stichwort „Klangrede“). In den Aufnahmen von John Eliot Gardiner (mit den English Baroque Soloists 1986), Nikolaus Harnoncourt (mit seinem Concentus Musicus Wien) oder Christoph Spering (2002) klang das Requiem weniger opulent, dafür durchhörbarer, transparenter, zum Teil auch strenger. Auch das Fragmentarische des Werks wurde stärker betont: So sind auf Sperings Einspielung sogar Tracks mit den reinen Vokal- und Generalbassstimmen aus Sequenz und Offertorium enthalten, wie sie in Mozarts Handschrift vorliegen. Und 1995 ließ der Dirigent Bernhard Klee bei einer Konzerttournee anlässlich des 50. Jahrestags des Atombombenabwurfs auf Hiroshima den Lacrimosa-Satz nach dem achten Takt abbrechen – um gleich darauf Luigi Nonos Oratorium Canti di vita e d’amore. Sul ponte di Hiroshima anzufügen.
Neuere Aufnahmen benutzen oft die revidierte Fassung von Beyer (s. u., Abschnitt Neufassungen); in den letzten Jahren wird zunehmend auch die Levin-Fassung musiziert. Aufnahmen der radikaleren Neufassungen (Maunder, Druce) konnten sich bislang nicht durchsetzen.
Allgegenwärtige Vermarktung
Heutzutage erfreut sich das Werk (nachvollziehbar anhand unzähliger Aufführungen und diverser CD-Angebote im Niedrigpreis-Sektor) allgemeiner Popularität, die durch die allgegenwärtige Vermarktung des Mozartschen Werks noch gesteigert wurde. Es gibt verjazzte Versionen und Aufführungen, die durch Ballett und Tanz angereichert werden. Auch an der vielfältigen Verwendung in der Populärkultur lässt sich die ungebrochene Beliebtheit des Werkes festmachen. Requiem-Sätze wurden bereits 1968 in der Filmmusik zu Teorema – Geometrie der Liebe von Pier Paolo Pasolini benutzt, später bei Eyes Wide Shut, The Big Lebowski, Der König der Löwen, X-Men 2, Die Unglaublichen – The Incredibles, Elizabeth, Revolver, Watchmen und natürlich in Amadeus. In der aktuellen Musik findet es Verwendung vor allem bei Metalbands (Symphony X, Children of Bodom, Moonspell), aber auch im Werk anderer Künstler (Ludacris, Tarja Turunen, Sweetbox, Trans-Siberian Orchestra, Evanescence, Julian Rosefeldt). Selbst in die Welt der Videospiele hat es Einzug gehalten, es ist eines der Hauptthemen in Onimusha 3: Demon Siege und kommt im Trailer zu Command & Conquer 2 zum Einsatz. In all diesen Bereichen genießen insbesondere das „Dies irae“ und das „Lacrimosa“ große Beliebtheit.
Produktive Rezeption
Die posthume Berühmtheit und Popularität des Requiems hatte Folgen: Keiner der nachfolgenden Komponisten kam mehr an diesem Werk vorbei, es hat die Gattungsgeschichte wesentlich geprägt. Die Requien von Joseph Eybler, Anton Reicha, Sigismund von Neukomm und auch ein frühes Requiem von Anton Bruckner beziehen sich teils bis in motivische Einzelheiten auf Mozarts Modell.
Für spätere Requiem-Vertonungen blieb vor allem der Schritt verbindlich, den das Mozart-Requiem (freilich erst nach Mozarts Tod) aus der Kirche in den Konzertsaal getan hatte. Doch verzichteten sie im Allgemeinen auf direkte Bezüge zu Mozarts Werk und bemühten sich eher um Absetzung vom gattungsgeschichtlichen Vorbild. So ging Hector Berlioz in seiner Grande Messe des Morts eher auf die französische Tradition von François-Joseph Gossec zurück: mit sehr großer Besetzung und räumlich verteilten Instrumentengruppen. Giuseppe Verdi, der mit seiner Messa da Requiem eine ebenfalls sehr erfolgreiche Vertonung des Requiem-Texts geschaffen hat, benutzte beispielsweise die punktierte fallende Linie aus Mozarts Rex tremendae majestatis in modifizierter Form, übertrug sie aber dem Chorbass und ließ sie fortissimo in die bange Frage nach dem Jüngsten Gericht „hineinstürzen“. Auch die weitere Entwicklung des Satzes mit ihrer dramatischen Aufgipfelung verläuft ganz anders als bei Mozart.
Ein Zeugnis der Wirkung des Requiems in der bildenden Kunst ist der 1991–2000 entstandene Bilderzyklus des zeitgenössischen Malers Thomas Grochowiak. Er nimmt jeweils einen Satz des Werkes als Ausgangspunkt für eine Farbkomposition.
Neufassungen
Historische Bearbeitungen
Bereits kurze Zeit nach der Erstveröffentlichung gab es Versuche, die tradierte Fassung von Mozarts Requiem zu ergänzen. So ergänzte der Salzburger Komponist Sigismund von Neukomm, der 1816 nach Rio de Janeiro ausgewandert war, das Werk für eine Aufführung in Brasilien um das Responsorium „Libera me, Domine“. Neukomms liturgisch begründete Vervollständigung des Requiems, von der zwei Niederschriften erhalten sind, wurde erst im ausgehenden 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Ulrich Konrad fand zwei Niederschriften, eine in der Akademischen Musikbibliothek Stockholm, eine andere in der Französischen Nationalbibliothek. Seine für den Druck aufgearbeitete Version wurde 1996 aufgeführt und vom Verlag Breitkopf & Härtel publiziert sowie 1999 für eine Radiosendung und CD-Ausgabe aufgezeichnet. In Unkenntnis des Fundes und der Erstausgabe kam Jean-Claude Malgoire im November 2005 mit einer vermeintlichen Ersteinspielung der Neukomm-Fassung auf CD heraus.
Lange Zeit blieb danach die Süßmayr-Fassung des Werks die einzig aufgeführte, obwohl immer wieder deutliche Kritik an Süßmayrs Instrumentation und vor allem den von ihm neu geschriebenen Sätzen aufkam. Ein erster Versuch, eine Alternative zu schaffen, kam 1923 von Gerhard von Keußler. In seinem Artikel Mozart ohne Süßmayr schlug er vor, Süßmayrs Neukompositionen des Sanctus, Benedictus und Agnus Dei durch Sätze aus anderen Messen Mozarts zu ersetzen. Diesem Vorschlag scheint aber kaum jemand gefolgt zu sein.
Für eine Aufführung unter Eduard van Beinum 1941 zum 150. Todestag Mozarts verfasste der damalige stellvertretende künstlerische Direktor des Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, Marius Flothuis, eine revidierte Fassung von Süßmayrs Version. Flothuis speckte die Orchesterbesetzung ein wenig ab (insbesondere verzichtete er auf die Trompeten in Sanctus und Benedictus und weitgehend auch auf die Posaunenunterstützung für die Singstimmen) und schob im Benedictus zwei modulierende Takte ein, um den Tonartwechsel bei der Wiederholung der Osanna-Fuge zu vermeiden. Kurz vor Flothuis Tod 2001 wurde diese Fassung erstmals auf Tonträger aufgenommen (von Jos van Veldhoven mit Orchester und Chor der Nederlandse Bachvereniging).
Requiem but no peace
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Diskussion um Süßmayrs Ergänzungen nicht mehr zur Ruhe, wie Friedrich Blumes einflussreicher Artikel Requiem but no peace (1961) schon im Titel eindrucksvoll zeigt. Vor allem die Instrumentation Süßmayrs stand im Mittelpunkt der Kritik. Erste Versuche stammen von Wilhelm Fischer, Ernst Hess und Karl Marguerre.
In einem im Mozart-Jahrbuch von 1959 veröffentlichten Artikel analysierte Hess akribisch die Schwächen der Süßmayrschen Version und schlug in zahlreichen Notenbeispielen konkrete Änderungen und Verbesserungen vor. Mehrere dieser Vorschläge flossen in die späteren Neufassungen von Franz Beyer, Richard Maunder und Robert Levin ein. Eine in Hess’ Werkverzeichnis aufgeführte Ergänzung und Neuinstrumentierung ist derzeit nicht auffindbar.
Marguerre, der 1962/63 einen Aufsatz über Süßmayrs Passagen im Requiem veröffentlicht hatte, erarbeitete in den 1960er Jahren eine Fassung, die er vielfach mit dem Chor und Orchester der Technischen Hochschule Darmstadt aufführte. Seine Enkelin Dorothee Heath bearbeitete diese Fassung nach seinem Tod und gab sie im Druck heraus. Öffentlich wurde sie am 26. November 2016 in Münster aufgeführt. Marguerres Version erweiterte insbesondere die von Süßmayr angegebene Instrumentation um hohe Holzbläser (Oboe, Klarinette, Flöte) und griff an einzelnen Stellen auch in Süßmayrs Notentext ein, wo er dessen Satz als ungeschickt betrachtete.
1971 legte Franz Beyer eine komplette Neufassung des Requiems vor, die er für die zweite Auflage 1979 noch einmal revidierte. Er griff vor allem in Süßmayrs Instrumentenstimmen ein und beseitigte Ungeschicklichkeiten im Satz (etwa unbeabsichtigte Quintparallelen). Etwas weiter gingen seine Änderungen in den ganz von Süßmayr stammenden Partien (so veränderte er die Choreinsätze im hinteren Teil des Lacrimosa). Beyers behutsame Revision etablierte sich neben der traditionellen Süßmayr-Fassung in der Aufführungspraxis und wurde u. a. von Nikolaus Harnoncourt, Leonard Bernstein und Neville Marriner aufgenommen.
Der Musikwissenschaftler und Mozart-Forscher Hans-Josef Irmen hingegen griff auf Keußlers Idee zurück, Mozart mit Mozart zu vervollständigen. Unter anderem ersetzte er das Sanctus und Benedictus durch den Chor „Gottheit über alles mächtig“ aus Mozarts Thamos-Musik, dem er den liturgischen Sanctus-Text unterlegte. Um eine Amen-Fuge zu gewinnen, fügte er die Chorfuge „Laudate pueri“ aus Mozarts Vesperae solennes de Confessore ein. Irmens Fassung wurde 1978 unter anderem in Düsseldorf und Antwerpen aufgeführt und erschien im selben Jahr im Partiturdruck. Da der Prisca-Verlag (der Eigenverlag des Autors) allerdings nach dem Tod Irmens 2007 liquidiert wurde, ist diese Fassung nicht mehr erhältlich.
Eine radikale Neufassung legte Richard Maunder vor. Diese wurde 1983 von Christopher Hogwood mit der Academy of Ancient Music eingespielt und erschien 1988 im Partiturdruck. Maunder verwarf Süßmayrs Sanctus und Benedictus komplett und schloss sie aus dem Werk aus, nur das Agnus Dei erschien ihm aufgrund eingehender Vergleiche mit anderen Kirchenwerken Mozarts akzeptabel. Ferner komponierte er für den Abschluss des Lacrimosa eine Amen-Fuge, für die er Mozarts Skizzenblatt sowie eine Fuge für Orgelwalze von Mozart (KV 608) als Ausgangspunkt nutzte. Auch in Süßmayrs Instrumentation griff er massiv ein.
Drei weitere Vervollständigungsversuche entstanden aus Anlass des 200. Todestags Mozarts 1991. H. C. Robbins Landon schuf eine Neufassung für die Aufführung Georg Soltis mit den Wiener Philharmonikern und dem Chor der Wiener Staatsoper im Stephansdom am 5. Dezember 1991 und publizierte die Partitur 1992. Landon verzichtete auf Neukompositionen, orientierte sich aber in der Instrumentation erheblich stärker als die bisherigen Bearbeiter an Joseph Eyblers Arbeit.
Die Vervollständigung von Duncan Druce hingegen griff tiefer in die Substanz des Werks ein. Druce ging es wie Maunder um eine weitgehende Tilgung der Beiträge Süßmayrs, doch ersetzte er sie in viel höherem Maße durch Neukompositionen. Dabei strebte er an, „sich weniger in Mozart als vielmehr in einen fähigen Komponisten des 18. Jahrhunderts hineinzuversetzen, der Mozarts Stil nahegestanden und sein Handwerkszeug recht gut gekannt hätte“. So komponierte Druce ebenfalls eine Amen-Fuge – weit umfangreicher als die von Maunder –, dazu kam eine weitgehende Neukomposition des Benedictus und eine instrumentale Einleitung der Communio. Druces Fassung entstand auf einen Auftrag des Yorkshire Bach Choir hin; sie wurde 1991 von Roger Norrington mit den London Classical Players und dem Schütz Choir of London eingespielt. Die Partitur erschien 1993.
Robert D. Levins Fassung schließlich wurde 1991 von Helmuth Rilling, dem Bach-Collegium Stuttgart und der Gächinger Kantorei beim Europäischen Musikfest in Stuttgart uraufgeführt (die Partitur wurde 1994 veröffentlicht). Levin ging wieder, ähnlich wie Beyer, auf Süßmayrs Fassung zurück und strebte eine musikalisch stimmigere Gestaltung von Süßmayrs Satz an. Dabei griff er auflockernd in die Instrumentation ein und hob so den vierstimmigen Vokalsatz klarer heraus. Die von Süßmayr allein stammenden Sätze veränderte er aber deutlich stärker als Beyer: Eine neukomponierte Amen-Fuge, eine verlängerte Ausarbeitung der Osanna-Fuge und eine Aufhellung des Klangbilds im Sanctus durch Einsatz von Klarinetten sind Beispiele dafür.
1996 legte der Zürcher Organist Emil Bächtold (1916–1998) eine Fassung vor, in der er ausschließlich Mozarts Fragment bearbeitete und auf die Süßmayr’schen Kompositionen Sanctus, Bendictus und Agnus Dei verzichtete. Das instrumentierte Lacrimosa-Fragment ließ Bächtold nach den von Mozart stammenden acht Takten abbrechen. Das Werk endet mit dem Hostias aus dem Offertorium. Bächtold war beeinflusst und angeregt durch seine Zusammenarbeit mit Ernst Hess. Die Uraufführung erfolgte am 20. Januar 1996 in der reformierten Kirche Bülach durch den Singkreis Zürcher Unterland, den Chor der Kantonsschule Zürcher Unterland und das Symphonische Orchester Zürich unter der Leitung von Hans Egli. Die Partitur ist nicht publiziert.
Nun stand eine ganze Serie von recht unterschiedlichen Neubearbeitungen zur Auswahl. Obwohl beispielsweise alle drei Amen-Fugen auf Mozarts Skizze zurückgingen, fielen sie doch sehr verschieden aus, wie Ulrich Konrad anmerkt. Dirigenten hatten nun auch die Möglichkeit, sich ihr eigenes Requiem zu „mischen“: Claudio Abbado beispielsweise gründete seine Aufführung mit den Berliner Philharmonikern auf die Süßmayr-Fassung, folgte aber teilweise den Korrekturen Beyers, teilweise den Änderungen Levins. Am meisten genutzt werden die tradierte Süßmayr-Fassung und die Bearbeitungen Beyers und Levins.
Im 250. Geburtsjahr Mozarts, 2006, entstand wiederum eine Neufassung, diesmal von Clemens Kemme. Sie wurde am 17. Oktober 2006 unter Frans Brüggen in Warschau uraufgeführt. Eine weitere Neufassung legte Benjamin Gunnar Cohrs 2013 vor (Uraufführung unter seiner Leitung am 20. September 2013 in Bremen und 21. September 2013 in Dortmund). Cohrs behielt – mit geringfügigen Modifikationen – diejenigen Passagen Süßmayrs bei, die seiner Ansicht nach auf Skizzen Mozarts zurückgehen; neu komponierte er den Schluss des Lacrymosa, die Fortsetzungen des Sanctus, des Benedictus und des Agnus dei, die Amen-Fuge (ausgehend von Mozarts Skizzenblatt) und die Osanna-Fuge. Die Instrumentierung fasste er auf der Grundlage von Eyblers Manuskript neu. Schließlich ergänzte Cohrs einen alternativen Schluss mit einer erweiterten plagalen Kadenz in D-Dur. 2016 veröffentlichte Pierre-Henri Dutron eine Neufassung des Requiem auf Basis von Süßmayrs Ergänzung. Es gibt eine Einspielung mit René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester. Michael Ostrzyga erarbeitete den aktuell jüngsten, ambitionierten Ergänzungsversuch, für den er Eyblers und Süßmayrs Manuskripte neu auswertete, aber auch das historische Umfeld sorgfältig berücksichtigte. 2017 wurde diese Fassung an der Harvard University erstmals aufgeführt. Beim Rheingau Musik Festival 2019 wurde sie vom Chorwerk Ruhr und von Concerto Köln unter Leitung von Florian Helgath präsentiert und anschließend auf CD aufgenommen. Zum Erstdruck der Partitur legte Ostrzyga eine umfangreiche Darlegung der Kriterien seiner Vervollständigung vor.
Literatur
Ursula Adamski-Störmer: Requiem aeternam. Tod und Trauer im 19. Jahrhundert im Spiegel einer musikalischen Gattung. ISBN 3-631-43666-1.
Ulrich Konrad: „Requiem, aber keine Ruhe“. Mozarts Requiem – Geschichte und Ergänzungsversuche. In: Acta Mozartiana 41 (1994), S. 65–78.
Martin Geck: Mozart. Eine Biographie. Rowohlt, Hamburg 2005, ISBN 3-498-02492-2.
Gernot Gruber: Mozart und die Nachwelt. Residenz, Salzburg/Wien 1985, ISBN 3-7017-0397-3.
Wolfgang Hildesheimer: Mozart. Neuauflage Insel TB, 2005, ISBN 3-458-34826-3.
Thomas Hochradner, Günther Massenkeil (Hrsg.): Mozarts Kirchenmusik, Lieder und Chormusik. Das Handbuch. Laaber-Verlag, Laaber 2006, ISBN 3-89007-464-2.
Matthias Korten: Mozarts Requiem KV 626 – Ein Fragment wird ergänzt. Peter Lang, Frankfurt, 1999, ISBN 3-631-35825-3.
Richard Maunder: Mozart’s Requiem. On preparing a new edition. Clarendon, Oxford 1988, ISBN 0-19-316413-2.
Hartmut Schick: Das „Requiem“ d-Moll KV 626. In: Silke Leopold (Hrsg.): Mozart-Handbuch. Bärenreiter, Kassel 2005, S. 240–247, ISBN 3-7618-2021-6.
Thomas Schipperges: Mozart. Requiem (d-moll) KV 626. In: Silke Leopold, Ullrich Scheideler (Hrsg.): Oratorienführer. Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-00977-7, S. 493–496.
Christoph Wolff: Mozarts Requiem. Geschichte, Musik, Dokumente. Mit Studienpartitur. Bärenreiter, Kassel 1991, 4. korr. Auflage 2003, ISBN 3-7618-1242-6.
Hans-Josef Irmen: Mozarts Vorstellungen vom Tod. In: Günter Brosche (Bearb.): Requiem: Katalog zur Ausstellung der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek 1991. Graz 1991.
E. T. A. Hoffmann: Alte und neue Kirchenmusik. In: Allgemeine musikalische Zeitung, Jg. 16 (1814), Nr. 35 (31. August), Sp. 577–584; Nr. 36 (7. September), Sp. 594–603; Nr. 37 (14. September), Sp. 611–619. Digitalisat.
Gottfried Weber: Ueber die Echtheit des Mozartschen Requiem und Weitere Nachrichten über die Echtheit des Mozartschen Requiem. In: Cäcilia, 1826 (Band 3, Heft 11, S. 205–229 und Band 4, Heft 16, S. 257ff.). Umfangreiche polemische Beiträge in der von ihm herausgegebenen Musikzeitschrift.
Noten
Mozart/Günter Brosche: Requiem KV 626. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Originalhandschrift in zwei Teilen nach den Musikalischen Handschriften 17.561 der Musiksammlung der österreichischen Nationalbibliothek. Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, 1990, ISBN 3-201-01508-3
Mozart: Requiem für vier Solostimmen, Chor und Orchester KV 626 / Urtext des Fragments ergänzt von Franz Beyer (Partitur), Edition Kunzelmann, Adliswil 1979, überarbeitet 2006
Mozart: Requiem K 626, überarbeitet und hrsg. von Richard Maunder, Oxford University Press, 1988
Mozart: Requiem. Mozarts Fragment mit den Ergänzungen von Joseph von Eybler und Franz Xaver Süßmayr, vervollständigt und hrsg. von H. C. Robbins Landon, Wiesbaden, Breitkopf & Härtel, 1992
Mozart Requiem K. 626. Completed by Duncan Druce, London, Novello, 1993
Mozart: Requiem d-Moll KV 626, ergänzt von Robert D. Levin, Neuhausen und Stuttgart, Hänssler und Carus-Verlag, 1994
Mozart: Requiem d-Moll KV 626, neu vervollständigt und herausgegeben von Benjamin-Gunnar Cohrs, Studienpartitur mit Kommentar: Musikproduktion Höflich, München, 2013; Aufführungsmaterial: BGC Manuscript Edition, Bremen, 2013.
Mozart: Requiem, vervollständigt und herausgegeben von Michael Ostrzyga, Kassel u. a., Bärenreiter-Verlag, 2022
Sigismund von Neukomm: Libera me, Domine d-Moll für Chor, Orchester und Orgel NV 186. Liturgische Komplettierung von Mozarts Requiem KV 626, herausgegeben von Ulrich Konrad, Wiesbaden, Breitkopf & Härtel 1999.
Weblinks
Texte
Ulrich Konrad: Requiem, aber keine Ruhe. Mozarts Requiem – Geschichte und Ergänzungsversuche. Umfangreiche Darstellung des Musikwissenschaftlers
Nikolaus Harnoncourt: Gedanken und Eindrücke zum Requiem – Mozarts einziges Werk mit autobiografischem Bezug
Matthias Korten: Instruktive Gegenüberstellung der diversen Neufassungen
Hörbeispiele
Requiem: MIDI/MP3-Format, mit Übungsdateien für Choristen
Requiem in der Fassung von Robert D. Levin. Sinfonieorchester und Chor des Spanischen TV. Live-Konzert.
Einzelnachweise
Mozart, Requiem
Messe von Wolfgang Amadeus Mozart
Musik 1791
Chorwerk aus dem 18. Jahrhundert
Unvollendetes musikalisches Werk |
309322 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kleiner%20Abendsegler | Kleiner Abendsegler | Der Kleine Abendsegler oder Kleinabendsegler (Nyctalus leisleri) ist eine Fledermausart aus der Gattung der Abendsegler. Die mittelgroße Art ist über weite Teile Europas von Schottland und Irland über den europäischen Kontinent südlich der Nord- und Ostsee nach Süden bis zum Mittelmeer und nach Osten bis in das westliche Russland sowie einige Gebiete Nordafrikas und Asiens verbreitet. Als Lebensraum bevorzugt er vor allem offene Wälder mit Altbeständen, da er Baumhöhlen als Quartiere benötigt.
Die Fledermaus erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 48 bis 72 Millimeter mit einem Schwanz von 35 bis 48 Millimeter Länge. In seinem Körperbau und seinem Äußeren entspricht der Kleine Abendsegler weitgehend dem Großen Abendsegler und unterscheidet sich von diesem außer durch die Körpergröße vor allem durch das zweifarbige Rückenfell.
Der Kleine Abendsegler ist vorwiegend nachtaktiv und ernährt sich vor allem von kleinen, nacht- und dämmerungsaktiven Insekten. Schmetterlinge und Zweiflügler machen den Hauptanteil der Beutetiere aus. Die Paarung findet von Ende Juli bis September statt, wobei einzelne Männchen jeweils einen Harem mit bis zu zehn Weibchen bilden. 20 bis 50, selten auch deutlich mehr Weibchen leben ab April in Wochenstuben zusammen. Teile der Populationen wandern zum Spätherbst vom Nordosten in Richtung Südwesten. Von Oktober bis April halten alle Tiere Winterschlaf.
Als nächstverwandte Art wird der nur auf den Azoren lebende Azoren-Abendsegler (Nyctalus azoreum) betrachtet, der zeitweise als Unterart des Kleinen Abendseglers galt. Der wissenschaftliche Artname ehrt den deutschen Naturforscher Johann Philipp Achilles Leisler (1771–1813). Die Art wird global aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der Bestandsgröße als „nicht gefährdet“ eingeschätzt. In den meisten europäischen Staaten wird der Kleine Abendsegler aber als regional gefährdet angesehen und ist in Roten Listen gefährdeter Arten eingetragen und entsprechend über die nationale Gesetzgebung geschützt.
Merkmale
Allgemeine Merkmale
Der Kleine Abendsegler ist eine mittelgroße Fledermaus mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 48 bis 72 Millimeter und einem Schwanz von 35 bis 48 Millimeter Länge. Die Flügelspannweite beträgt 26 bis 34 Zentimeter bei einer Unterarmlänge von 39 bis 47 mm. Im Vergleich zum Großen Abendsegler (Nyctalus noctula) ist er deutlich kleiner, allerdings reichen besonders großwüchsige Weibchen bei der Unterarmlänge nahe an besonders kleine Vertreter des Großen Abendseglers mit einer minimalen Unterarmlänge von 48 mm heran. Das Körpergewicht liegt zwischen 8 und 20 Gramm und die Weibchen sind in der Regel etwas größer als die Männchen. Geographisch wurden nur sehr geringe Unterschiede der Körpergröße festgestellt, es gibt allerdings die Tendenz zu einer längeren Unterarmlänge mit zunehmender Höhenstufe.
In seinem Körperbau und seinem Äußeren entspricht der Kleine Abendsegler dem Großen Abendsegler weitgehend und unterscheidet sich von diesem außer durch die Körpergröße vor allem durch das deutlich zweifarbige Rückenfell. Dieses besteht aus zweifarbigen Haaren, die an der Basis dunkel- bis schwarzbraun und an den Spitzen deutlich heller sind. Die gelbbraune Bauchseite des Tieres ist etwas heller als der Rücken. Im Mai und August kommt es zu einem saisonalen Haarwechsel, mit dem eine leichte Veränderung der Fellfarbe verbunden ist. Im Sommer ist das Rückenfell eher dunkel rötlich braun bis mahagonifarben, der rötliche Stich verschwindet im Winter und das Fell wird dunkelgrau bis dunkelbraun, und auch die Bauchseite ist etwas grauer als im Sommer. Jungtiere sind in ihrem ersten Lebensjahr dunkelgrau gefärbt. Neben diesen allgemeingültigen Farbunterschieden wurden einzelne melanistische Tiere in Irland sowie einige albinotische Tiere in Deutschland beobachtet.
Das Deckhaar der Tiere ist hoch differenziert, wobei die Haarschuppen (Cuticularschuppen) krausenartig angelegt und am Rand teilweise gezähnt sind. Dies dient beim Flug der Verringerung des Luftwiderstands und steigert die Effektivität des Fluges. Die Haare haben einen Durchmesser von maximal 12 bis 13 Mikrometer und sind in der Rückenmitte 5,9 bis 6,7 Millimeter und auf der Bauchseite 5,0 bis 6,1 Millimeter lang.
Die Flügel sind wie bei anderen Abendseglern vergleichsweise lang und schmal. Die Flughäute sind entlang des Rückens und der Arme dicht behaart. Der Schwanz ragt etwa ein bis zwei Millimeter aus der Schwanzflughaut hinaus. Die Ohren sind an der Basis breit und dreieckig, die Ohrspitzen sind abgerundet. Sie haben eine Größe von 11,2 bis 16,5 Millimeter. Am Außenrand besitzt die Ohrmuschel vier bis fünf Querfalten. Der Tragus ist kurz und pilzförmig und entspricht damit dem anderer Abendsegler. Im Vergleich zum Großen Abendsegler ist die Schnauze auffällig spitz mit schräg gestellter Maulspalte. Die Anzahl der borstigen Spürhaare des Gesichts (Facialvibrissen, Vibrissae labii superiores) beträgt beim Kleinen Abendsegler sechs, beim Großen Abendsegler sieben bis acht.
Merkmale des Schädels und Skeletts
Der Schädel des Kleinen Abendseglers unterscheidet sich von dem des Großen Abendseglers im Wesentlichen nur durch seine geringere Größe und den zarteren Aufbau. Die Schädeloberfläche ist glatt und stärker abgerundet mit einem gering ausgebildeten Kamm entlang der Lambdanaht (Crista lambdoidea).
Die Art hat zwei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus), zwei Vormahlzähne (Prämolaren) und drei Mahlzähne (Molaren) in einer Oberkieferhälfte und drei Schneidezähne, einen Eckzahn, zwei Vormahlzähne und drei Mahlzähne in einer Unterkieferhälfte. Insgesamt besitzen die Tiere 34 Zähne. Die oberen Schneidezähne sind klein und etwa gleich groß und der obere Eckzahn ist vergleichsweise robust gebaut. Der dritte obere Backenzahn ist klein und fast reduziert. Im Unterkiefer beschränken sich arttypische Merkmale vor allem auf den Aufbau der Kauflächen der Vormahl- und Mahlzähne.
Im Skelett sind art- und gattungstypische Merkmale vor allem im Aufbau der Schultern und der Arme vorhanden, die wie bei allen Fledertieren zu Flügeln umgewandelt sind. So ist der Rabenschnabelfortsatz (Processus coracoideus) des Schulterblatts beim Kleinen Abendsegler zweigeteilt mit einem deutlich längeren Ast. Die Handwurzel besteht aus acht Handwurzelknochen, zusätzlich entstehen zwei Sesambeine in den Sehnen der Handstreckermuskeln des Unterarms (Musculus extensor carpi radialis brevis und Musculus extensor carpi radialis longus) sowie zwei weitere Sesambeine am Ellbogengelenk.
Wie andere Fledermäuse besitzt auch der Kleine Abendsegler einen Penisknochen (Baculum). Dieser ist Y-förmig mit deutlich zweigeteiltem Ende am Penisansatz (proximal) und, im Gegensatz zu den anderen europäischen Abendseglern, kolbenartig verdicktem und niemals gegabeltem Ende an der Penisspitze (distal).
Genetik
Der Kleine Abendsegler besitzt ein normales Genom aus 2n = 44 Chromosomen sowie bis zu vier überzählige, so genannte B-Chromosomen. Drei der Autosomenpaare sind groß und metazentrisch, eines ist submetazentrisch und alle anderen akrozentrisch. Das mittelgroße X-Chromosom ist ebenfalls metazentrisch, das kleine punktförmige Y-Chromosom ist akrozentrisch.
Rufe
Der Kleine Abendsegler kann mit Hilfe eines Fledermausdetektors aufgrund der charakteristischen Suchflug- und Jagdlaute erkannt werden. Die Frequenz dieser Rufe liegt zwischen 15 und 70 Kilohertz (kHz) und damit in einem deutlich größeren Bereich als die des Großen Abendseglers (20 bis 34 kHz). Die Suchfluglaute sind konstant und nur leicht absinkend mit einer Frequenzbandbreite von 5 kHz mit einer mittleren Endfrequenz von 23 kHz. Die Lautdauer beträgt zwischen 9 und 14 Millisekunden (ms). In der Nähe von Vegetation und im Lückenraum zwischen Bäumen verringert sich die Lautdauer und die Frequenz steigt. Die Wiederholrate ist für eine Fledermaus ihrer Größe gering und beträgt weniger als ein Mal pro zwei Flügelschläge. Bei einer Annäherung an die Beute kommt es zu einem stärkeren Frequenzabfall in der ersten Lauthälfte und einer gegenüber den Suchfluglauten abgehobenen Endfrequenz bis etwa 30 kHz. Bei weiterer Annäherung werden die Laute kürzer und fallen stärker ab, die längere konstante Rufphase wird verkürzt.
Das Repertoire des Kleinen Abendseglers besteht neben den Suchfluglauten und Jagdrufen zudem aus verschiedenen Sozialrufen, die vor allem zur Balz- und Paarungszeit genutzt werden. Es kommen im Wesentlichen zwei Rufe vor, einer aus vier Impulsen zwischen 38 und 16 kHz sowie ein einzelner Ruf mit 20 bis 27 ms Länge und einem Abfallen von 21 auf 10 kHz, der als „Hallo“-Ruf gedeutet und vor allem in der Paarungszeit stereotyp alle paar Sekunden ausgestoßen wird. Balzrufe werden vor allem am frühen Morgen vor der Dämmerung nach Abschluss der Jagdflüge ausgestoßen, wobei die Gesamtdauer zwischen 2 und 10 Minuten pro Nacht beträgt. Ergänzt wird das Repertoire durch Störungslaute und diverse Kontaktrufe in der Kolonie.
Verbreitung und Lebensraum
Verbreitungsgebiet
Das Verbreitungsgebiet des Kleinen Abendseglers erstreckt sich über weite Teile Europas sowie einige Gebiete Nordafrikas und Asiens. In Europa existiert ein zusammenhängendes Verbreitungsgebiet, das von Großbritannien und Irland sowie den Kanalinseln über den europäischen Kontinent südlich der Nord- und Ostsee, nach Süden bis zum Mittelmeer und nach Osten bis in das westliche Russland reicht. Dabei fehlt die Art allerdings im östlichen Spanien, dem südwestlichen Italien sowie auf Sizilien, kommt jedoch im Mittelmeer auf Korsika, Sardinien und auf Rhodos vor. Aus Skandinavien sind keine Fänge der Art bekannt, allerdings sind zwei Feststellungen der Art mit einem Fledermausdetektor an der Küste von Schonen in Südschweden nördlich der Ostsee dokumentiert. Das Verbreitungsgebiet reicht zudem bis nach Nordafrika, wo die Art in den Mittelmeergebieten von Marokko und Algerien anzutreffen ist, und umfasst auch Madeira und die zu den Kanarischen Inseln gehörenden Inseln Teneriffa und La Palma. Im westlichen und südlichen Asien gibt es Vorkommen in Pakistan und Afghanistan bis in die Himalaya-Region. Ein Vorkommen im Süden und Südwesten Chinas ist nicht hinreichend belegt.
Die Höhenverbreitung kann stark variieren und liegt im Sommer zwischen 150 und 1350 Metern in Spanien, bis etwa 600 Meter im Harz und bis 1100 Meter in der Tatra. In den österreichischen Alpen kann die Art zwischen 116 und 1370 Metern vorkommen, wobei sie in der Regel unterhalb von 350 Metern lebt. Wandernde Fledermäuse wurden in den Alpen in Höhen von 1923, 2204 und 2350 Metern auf Gebirgspässen dokumentiert, und ein Kleiner Abendsegler wurde in einer Höhe von 2600 Metern auf einem Gletscher tot aufgefunden. Weitere Gebiete mit sehr hohen Vorkommen sind das Atlasgebirge, der Kaukasus sowie der westliche Himalaya und auch auf den Kanarischen Inseln kann die Höhenverbreitung bis 2150 Meter reichen.
Lebensraum
Als Lebensraum bevorzugt die Art vor allem offene Wälder und sie wird als typische Waldfledermaus betrachtet. Dabei nutzt sie sowohl Laubwälder wie auch Misch- und verschiedene Nadelholzwälder als Lebensraum. Regional unterscheiden sich die Habitate in ihrer Waldzusammensetzung; so bevorzugt die Fledermaus etwa in Österreich vor allem Eichenmischwälder, in anderen Gebieten findet man sie in Wäldern mit hohem Anteil von Buchen, Fichten und Tannen. Auch bezüglich der Bewirtschaftungsform sind die möglichen Lebensräume vielfältig und reichen vom strukturreichen Plenterwald bis zum einfachen Altersklassenwald. Der Kleine Abendsegler benötigt sowohl als Wochenstuben- wie auch als Winterquartier Baumhöhlen und tritt entsprechend mit größter Häufigkeit in Waldbeständen mit einem hohen Anteil an älteren Bäumen auf; alternativ können jedoch auch künstliche Quartiere wie Fledermauskästen oder Vogelnistkästen die Attraktivität erhöhen.
Als Jagdgebiete werden waldnahe Weiden, Wasserflächen und Flüsse genutzt. Gelegentlich wird der Kleine Abendsegler auch in Ortschaften und sogar in größeren Städten wie Warschau, Berlin, London oder Wien gefunden. In Städten sind die Quartiere des Kleinen Abendseglers meist in Parks und nur selten in Gebäuden.
Lebensweise und Ökologie
Der Kleine Abendsegler ist eine nachtaktive Fledermaus. Der abendliche Ausflug aus den Quartieren beginnt vergleichsweise früh, durchschnittlich etwa 10 bis 40 Minuten nach dem Sonnenuntergang. Bereits 90 Minuten nach Verlassen der Quartiere kehren die ersten Tiere wieder zurück und aus- und einfliegende Tiere sind die ganze Nacht zu beobachten. Dabei fliegen sie pro Nacht zwei- bis dreimal zum Jagdflug aus. Während ein großer Teil der Fledermäuse bereits bei Dunkelheit wieder zurückkehrt und dann im Quartier verbleibt, kehren die letzten Tiere wenige Minuten vor Sonnenaufgang zurück.
Ernährung
Der Kleine Abendsegler ernährt sich als opportunistischer Jäger von Insekten, die er fast ausschließlich im Flug fängt („aerial insectivore“). Seine Nahrung besteht aus kleinen, nacht- und dämmerungsaktiven Insekten, wobei Schmetterlinge (Lepidoptera) und Zweiflügler (Diptera), vor allem Stechmücken (Culicidae), Schnaken (Tipulidae) und Zuckmücken (Chironomidae), den Hauptteil der Nahrung ausmachen. Weitere Insektengruppen, die zu unterschiedlichen Anteilen in der Nahrung vorkommen, sind Köcherfliegen (Trichoptera), Netzflügler (Neuroptera) wie Taghafte (Hemerobidae) und Florfliegen (Chrysopidae), Eintagsfliegen (Ephemeroptera) und Käfer (Coleoptera). Die Zusammensetzung der Nahrung kann dabei regional und in unterschiedlichen Zeiträumen entsprechend dem Nahrungsangebot stark schwanken. Während in Deutschland und der Schweiz in der Regel der Anteil der Schmetterlinge und Netzflügler mit 36 bis 63 % bzw. 67 % in der Schweiz sehr hoch ist, liegen aus Großbritannien Daten vor, nach denen regional Zweiflügler und vor allem die Gelbe Dungfliege (Scatophaga stercoraria) als Hauptbeute mit 29 bis 55 % identifiziert wurden. In diesen Gebieten befanden sich die Hauptjagdgebiete der Fledermäuse im Bereich von Viehweiden. Eine häufig signifikante Komponente in Mitteleuropa sind Insekten mit wasserlebenden Larven wie Köcherfliegen, Eintagsfliegen, Zuckmücken und andere Mücken, die je nach Habitat und Region 4 bis 39 % der Beutetiere darstellen. In Russland und der Ukraine liegt der Anteil der Käfer sehr hoch, vor allem Maikäfer (Melolontha spec.) und Junikäfer (Amphimallon solstitiale) sind dort häufige Beutetiere. In Italien entspricht die Nahrungszusammensetzung der in Mitteleuropa, allerdings dominieren Zweiflügler in den Sommermonaten Juni bis August.
Der Jagdflug der Tiere ist sehr schnell und wendig und findet vor allem in der Höhe der Baumkronen und Baumwipfel statt. Die Flüge finden dabei in einer vergleichsweise großen Höhe statt, niedrige Flüge sind selten und die Tiere fliegen nie tiefer als etwa einen Meter. Bestandteil des Jagdflugs sind Flugmanöver in Form einer Ellipse sowie gelegentliche Sturzflüge auf aufsteigende Beutetiere. Die Jagd auf Nachtschmetterlinge kann bei dieser Art auch im Licht von Straßenlaternen stattfinden. Der Jagdflug kann im Herbst schon am Nachmittag beginnen.
Sommerquartiere, Fortpflanzung und Entwicklung
Im Frühjahr und Sommer besetzen Kleine Abendsegler verschiedene Arten von Quartieren. Während die Männchen im Sommer in der Regel einzeln oder in kleineren Gruppen leben, bilden die Weibchen schon relativ früh im Sommer Wochenstuben. Als Quartiere werden vor allem Baumhöhlen wie aufgegebene Spechthöhlen oder Fäulnishöhlen in Laubbäumen genutzt. Zudem dienen auch Nistkästen und Spalten an Gebäuden als Quartiere für den Kleinen Abendsegler. In ihren Quartieren können sie mit anderen Arten vergesellschaftet sein, etwa mit dem Großen Abendsegler, Bechsteinfledermäusen (Myotis bechsteinii), Zwergfledermäusen (Pipistrellus pipistrellus), Rauhautfledermäusen (Pipistrellus nathusii) und Wasserfledermäusen (Myotis daubentonii). Als Konkurrenten um Quartiere treten vor allem Stare (Sturnus vulgaris) und Mauersegler (Apus apus) auf.
Die Paarungszeit des Kleinen Abendseglers findet von Ende Juli oder Anfang August bis September statt, mit Höhepunkt Ende August. Der Beginn der Paarungszeit ist abhängig vom Eintreffen der Weibchen aus den Wochenstuben, was witterungsbedingt unterschiedlich sein kann. Die Männchen bilden Paarungsquartiere und ein Harem mit bis zu zehn Weibchen. Die Paarung findet in diesen Paarungsquartieren statt, die sehr häufig in Fledermauskästen angelegt werden. Dabei kann ein einzelnes Männchen auch mehrere Paarungsquartiere besetzen und Paarungsgruppen anlegen. So wurde 1987 ein Männchen beobachtet, das insgesamt vier Paarungsquartiere mit insgesamt 14 Weibchen bildete, wobei jeweils zwei Quartiere je sechs und die anderen beiden je ein einzelnes Weibchen enthielten. Um die Weibchen anzulocken balzen die Männchen in Form eines „Singfluges“ oder von einer erhöhten Warte, indem sie einfache Balzrufe in einer abfallenden Tonhöhe von 18 kHz auf 10,5 kHz ausstoßen.
Die eigentliche Tragzeit ist wie bei vielen anderen Fledermäusen verzögert, da die Einnistung der Eizelle im Uterus von den Weibchen über mehrere Wochen bis Monate verzögert und damit die Tragzeit und Geburt saisonal angepasst werden. Sie dauert nach der Einnistung der Eizelle mindestens 45 bis 50 Tage. Die Weibchen bilden ihre Wochenstuben in Baumhöhlen, seltener auch in Gebäuden oder in Fledermauskästen, mit 20 bis 50 Weibchen. Dabei wurden in Gebäuden in Irland auch schon Wochenstuben mit 800 bis 1.000 Tieren gefunden. Die Wochenstuben bestehen dabei ausschließlich aus Weibchen und ihren Jungtieren, wobei neben den geschlechtsreifen Weibchen auch noch nicht geschlechtsreife Weibchen aus dem Vorjahreswurf vorhanden sind. Dabei bestehen die Wochenstubengesellschaften vor allem bei größeren Individuenzahlen häufig aus mehreren Kleingruppen, die im Laufe des Sommers jeweils geschlossen auch die Wochenstubenquartiere wechseln. Die Jungtiere werden bei diesen Wechseln von den Muttertieren transportiert.
Die Geburt der Jungtiere findet im Jahr nach der Paarung in der Wochenstube ab Mitte Juni statt, wobei die Weibchen ein bis zwei Jungtiere zur Welt bringen. Die Jungtiere können innerhalb einer Spanne von einigen Wochen zur Welt kommen, sodass in Wochenstuben Jungtiere in unterschiedlichen Entwicklungsstufen auftreten. Bis Mitte August ist das Längenwachstum der Unterarme und Finger abgeschlossen, das Körpergewicht der Jungtiere liegt dann jedoch noch deutlich unter dem ausgewachsener Fledermäuse. Die Weibchen werden innerhalb ihres ersten Lebensjahres geschlechtsreif, wahrscheinlich bereits zur ersten Fortpflanzungszeit nach etwa drei Monaten. Für die Männchen ist das Alter der Geschlechtsreife nicht vollständig geklärt, bei anderen Arten der Gattung tritt diese zwischen 3 und 16 Monaten ein.
Das maximale Lebensalter des Kleinen Abendseglers liegt wahrscheinlich bei mehr als neun Jahren. Die Mortalität ist verglichen mit anderen Fledermausarten, namentlich dem Großen Abendsegler, dem Großen Mausohr, der Wasserfledermaus und der Rauhautfledermaus, etwas geringer, wodurch die mittlere Lebenserwartung etwas höher als bei diesen Arten liegt.
Wanderungen und Winterquartiere
Der Kleine Abendsegler gehört zu den europäischen Fledermausarten, für die ausgedehnte Wanderungen nachgewiesen sind. Sie ziehen dabei im Herbst vom Nordosten in den Südwesten, wo sie überwintern. Die weiteste dokumentierte Wanderung absolvierte dabei ein im August 1993 in Ostbrandenburg markiertes Weibchen, das einen Monat später in Südfrankreich in einer Entfernung von 1052 Kilometern gefunden wurde. Die Wanderungen betreffen dabei nur Teilpopulationen aus dem Nordwesten, die im Spätsommer in klimatisch günstigere Regionen wandern und im April bis Mai zurückkehren. Einzeltiere wurden bereits weitab vom bekannten Verbreitungsgebiet, wie z. B. auf den Shetland-Inseln, gefunden.
Vom Oktober bis März oder April, seltener bis in den Mai, halten die Tiere Winterschlaf, wobei die Zeiten regional unterschiedlich sein können. Sie verbringen den Winter in kleinen Gruppen oder als Einzeltiere in Baumhöhlen, in Spalten in und an Gebäuden sowie in Fledermauskästen und Vogelnistkästen. In Höhlen werden überwinternde Kleine Abendsegler nur selten gefunden, Felsspalten werden wahrscheinlich angenommen. Eine Vergesellschaftung im Winterquartier mit Arten wie Rauhautfledermaus und Großer Abendsegler wurde nachgewiesen. Die Art überwintert häufig auch einzeln.
Feinde und Parasiten
Zu den Fressfeinden des Kleinen Abendseglers gehören vor allem Eulenarten wie der Waldkauz (Strix aluco), die Schleiereule (Tyto alba), die Waldohreule (Asio otus), der Steinkauz (Athene noctua) und der Uhu (Bubo bubo) sowie spätjagende Greifvögel. Aufgrund der sehr schnellen Flüge und der großen Flughöhe müssen für eine Eule jedoch besonders vorteilhafte Bedingungen vorliegen, um einen Kleinen Abendsegler zu erbeuten, entsprechend ist der Kleine Abendsegler in der Regel eine der am seltensten von Eulen erbeuteten Fledermäuse. Auch von der Aaskrähe (Corvus corone) wird der Kleine Abendsegler gelegentlich gejagt. Unter den Säugetieren spielt vor allem die Hauskatze eine bedeutende Rolle als Prädator. Für Afghanistan gibt es einen Nachweis, dass eine Natter der Art Coluber rhodorachis einen Kleinen Abendsegler erbeutet hat.
Die Parasiten des Kleinen Abendseglers entsprechen im Wesentlichen denen des Großen Abendseglers. Dokumentiert sind mindestens mehrere Arten von Flöhen wie Ischnopsyllus elongatus, Ischnopsyllus intermedius, Ischnopsyllus octactenus, Ischnopsyllus variabilis und Nyteridopsylla longiceps, zudem Plattwanzen der Arten Cimex pipistrelli, Cimex lectularius und Cimex dissimilis sowie die Fledermausfliegen Nycteribia pedicularia. Unter den Milben wurden vor allem Macronyssus flavus, Staetonyssus spinosus, Spinturnix acuminatus und Calcarmyobia miniopteris sowie die Zeckenart Argus vespertilionis nachgewiesen.
Neben diesen Ektoparasiten werden häufig Darmparasiten festgestellt. Hierzu gehören die zu den Saugwürmern gehörenden Arten Plagiorchis vespertilionis, Lebrabascus semisquamosus, Lecithodendrium linstowi, Prosthodendrium aelleni, Prosthodendrium chilostomum, Pygnoporus megacotyle, Pygnoporus heteroporus und Ophiosacculus mehelyi. Hinzu kommen Bandwürmer wie Vampirolepis acuta sowie die zu den Fadenwürmern zählenden Arten Molinostrongylus skrjabini, Molinostrongylus vespertillionis, Capillaria italica, Skjabinocapillaria eubursata, Ascarops strongylina und Physocephalus sexalatus. Im Blut des Kleinen Abendseglers konnten zudem Spirochäten und Trypanosomen nachgewiesen werden, wobei die Trypanosomen von der Fledermauswanze Cimex pipistrelli übertragen werden und keine bekannten Auswirkungen auf die Fledermäuse haben.
Die bei Fledermäusen vorkommenden Tollwuterreger aus der Gattung Lyssavirus konnten beim Kleinen Abendsegler bislang nicht nachgewiesen werden. Jedoch wurde ein speziell bei dieser Art vorkommendes Coronavirus (Fledermaus-Coronavirus BtCoV/BNM98-30/Nyctalus leisleri/Bulgaria/2008) aus der Gattung Alphacoronavirus identifiziert, das auch bei geographisch weit getrennten Populationen zwischen Europa und Asien eine hohe Sequenzübereinstimmung zeigt und eine eigene, besondere Klade Fledermaus-Coronavirus BtCoV/BNM98-30 bildet.
Systematik und Fossilbefund
Der Kleine Abendsegler wurde vom Frankfurter Medizinalrat Johann Philipp Achilles Leisler entdeckt, der jedoch im Jahr 1813 starb, bevor er die Art beschreiben konnte. Dies geschah durch seinen Schüler Heinrich Kuhl in dessen Monografie Die deutschen Fledermäuse im Jahr 1817. Kuhl benannte darin die von Leisler als „starkbehaarte Fledermaus“ bezeichnete Art (Vespertilio dasykarpos) nach Leisler als Vespertilio leisleri. Später wurde sie in die 1825 von Thomas Edward Bowdich geschaffene Gattung Nyctalus überstellt.
Der Kleine Abendsegler wird der Gattung der Abendsegler (Nyctalus) zugeordnet, die insgesamt acht Arten umfasst. Laut einer Analyse von Salgueiro und Kollegen (2007) ist die nächstverwandte Art dabei der nur auf den Azoren lebende und damit endemische Azoren-Abendsegler (Nyctalus azoreum), der zeitweise als Unterart des Kleinen Abendseglers galt und sich wahrscheinlich aus einer europäischen Population des Kleinen Abendseglers zum Ende des Pleistozän entwickelte. Beide gemeinsam stellen die Schwestergruppe eines Taxons dar, das aus dem Großen Abendsegler (Nyctalus noctula), dem Riesenabendsegler (Nyctalus lasiopterus) und der asiatischen Art Nyctalus aviator gebildet wird. Die ebenfalls in Asien beheimatete Art Nyctalus plancyi stellt die ursprünglichste Art und damit die Schwesterart der restlichen Abendsegler-Arten dar. Der Berg-Abendsegler (Nyctalus montanus), der früher ebenfalls als Unterart des Kleinen Abendseglers betrachtet wurde, und Nyctalus furvus wurden bei dieser Untersuchung nicht betrachtet.
Innerhalb der Art existieren zwei Unterarten. Dabei ist das Verbreitungsgebiet der Unterart N. l. verrucosus auf die Insel Madeira beschränkt, während die Nominatform N. l. leisleri in gesamten restlichen Verbreitungsgebiet vorkommt. Die Population auf Madeira entwickelte sich dabei ebenso wie der Azoren-Abendsegler aus einer Population europäischen Ursprungs während die nicht als eigene Unterart betrachtete Population der Kanarischen Inseln einer Population aus Nordafrika entstammt.
Fossile Funde des kleinen Abendseglers sind selten. Die ältesten Funde wurden im Süden Spaniens gefunden und stammen aus dem unteren bis mittleren Pleistozän. Weitere Funde stammen aus den neolithischen Schichten von Dowel Cave in England.
Gefährdung und Schutz
Die Art wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) global aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der Bestandsgröße als „nicht gefährdet“ (Least concern) eingeschätzt. Ein Rückgang des Bestandes und eine ernsthafte Bedrohung der Art sind nicht bekannt, und es gibt auch keine Hinweise auf einen Bestandsrückgang. Potenzielle Gefährdungsursachen beinhalten vor allem Störungen und Zerstörungen der Quartiere in Bäumen und Gebäuden sowie Lebensraumveränderungen und -verlust. Ein Lebensraumverlust tritt vor allem durch das Fällen von Bäumen mit Baumhöhlen auf, die von den Abendseglern sowohl als Wochenstuben- wie auch als Winterquartiere genutzt werden. Der moderne Wirtschaftswald besitzt nur eine geringe Dichte an Baumhöhlen und bietet den Tieren damit nur eine geringe Zahl geeigneter Quartiere.
Zum Schutz der Art wird, wie bei anderen Fledermäusen mit Baumquartieren, gefordert, dass Laub- und Mischwälder mit hohem Altholz- und Totholzanteilen geschützt bzw. entwickelt werden. Bei Fällung von Spechthöhlenbäumen und Totholzbäumen wird in Vorkommensgebieten der Art eine Kontrolle der zu fällenden Bäume auf Fledermausbesatz gefordert. Von der Art und anderen Fledermausarten belegte Bäume dürfen nicht gefällt werden. Falls in einem Gebiet nur wenige geeignete Quartierbäume vorhanden sind, wird gegebenenfalls das Anbringen von Fledermauskästen als Übergangslösung empfohlen.
National und regional ist der Kleine Abendsegler in den meisten europäischen Staaten in Roten Listen gefährdeter Arten gelistet und entsprechend über die nationale Gesetzgebung geschützt. In Deutschland ist er beispielsweise über die Bundesartenschutzverordnung als besonders gefährdete Art geschützt. Länderübergreifend erfolgt der Schutz über die EU-Artenschutzverordnung, zudem besteht speziell bei Fledermäusen das Abkommen zur Erhaltung der europäischen Fledermauspopulationen (EUROBATS), nach dem das absichtliche Fangen, Halten und Töten von Fledermäusen in den Vertragsstaaten gesetzlich verboten ist.
Außerdem ist der Kleine Abendsegler im Anhang IV der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie verzeichnet. Im Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie sind von der EU Arten aufgelistet, die besonderen Schutz auch außerhalb von ausgewiesenen Schutzgebieten erhalten sollen. Sie sind allein durch die Ausweisung von Schutzgebieten nicht effektiv zu schützen, z. B. wegen verstreuter bzw. unbeständiger Vorkommen, spezieller oder besonders großräumiger Habitatansprüche und Abhängigkeit von besonderen Landnutzungspraktiken. Bei Arten wie dem Kleinen Abendsegler aus dem Anhang IV dürfen ihre Lebensstätten wie Wochenstuben, Nahrungsflächen und Winterquartiere nicht beeinträchtigt oder zerstört werden – unabhängig davon, wo sie sich befinden. Dies gilt also zum Beispiel auch bei Wochenstuben in Bauwerken. In der Praxis ist damit die Umsetzung von Bauvorhaben wie Straßenbau und andere Eingriffe auf Flächen, die Lebensstätten sind, erheblich erschwert. Zerstörungen von Lebensstätten, die eine lokale Population bedrohen würden, sind nur noch möglich, wenn spezielle artenschutzrechtliche Ausgleichsmaßnahmen (sogenannte CEF-Maßnahmen, „Continuous ecological functionality-Measures“ (englisch für „Maßnahmen zur dauerhaften Sicherung der ökologischen Funktion“)) durchgeführt werden. Im Unterschied zu normalen Kompensationsmaßnahmen (aufgrund der Eingriffsregelung im Naturschutzrecht) ist hier erstens der Nachweis des Erfolgs notwendig und nicht nur eine Erfolgs-Prognose wie bei anderen Eingriffen, sondern die Kompensationsmaßnahmen müssen vor dem Eingriff, z. B. der Baumaßnahme, durchgeführt werden.
Literatur
W. Bogdanowitz, A. L. Ruprecht: Nyctalus leisleri (Kuhl, 1817) – Nordfledermaus. In: Franz Krapp (Hrsg.): Die Fledermäuse Europas. Erweiterte Sonderausgabe aus dem Handbuch der Säugetiere Europas. AULA-Verlag, Wiebelsheim 2011, S. 717–755, ISBN 978-3-89104-751-4.
Monika Braun, Ursel Häussler: Kleiner Abendsegler Nyctalus leisleri (Kuhl, 1817). In: Monika Braun, Fritz Dieterlen (Hrsg.): Die Säugetiere Baden-Württembergs. Band 1: Fledermäuse (Chiroptera). Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 2003, S. 623–633, ISBN 3-8001-3282-6.
Jürgen Gebhard: Fledermäuse. Birkhäuser Verlag, Basel 1997, ISBN 3-7643-5734-7.
Wilfried Schober, Eckhard Grimmberger: Die Fledermäuse Europas – Kennen, bestimmen, schützen. 2. aktualisierte Auflage, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH, Stuttgart 1998, Seiten 149–152, ISBN 3-440-07597-4.
Weblinks
Kleiner Abendsegler beim NABU Schleswig-Holstein
Belege
Abendsegler |
351271 | https://de.wikipedia.org/wiki/Haager%20Konvention%20zum%20Schutz%20von%20Kulturgut%20bei%20bewaffneten%20Konflikten | Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten | Die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (schweizerische Fassung: Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, , ) ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der 1954 mit dem Ziel abgeschlossen wurde, Kulturgut während eines Krieges oder bewaffneten Konfliktes vor Zerstörung oder Beschädigung sowie Diebstahl, Plünderung und anderen Formen einer widerrechtlichen Inbesitznahme zu schützen. Kulturgut ist definiert als „bewegliches oder unbewegliches Gut, das für das kulturelle Erbe der Völker von großer Bedeutung ist“. Hierzu zählen als bewegliche Kulturgüter beispielsweise Gemälde, Skulpturen, archäologische Funde, Bücher, Manuskripte und Archivalien. Als unbewegliche Kulturgüter gelten neben Denkmälern vor allem Gebäude wie Museen, Bibliotheken, Archive und Bergungsorte, die der Ausstellung, Nutzung, Verwahrung und dem Schutz von beweglichem Kulturgut dienen. Denkmalzentren als Orte von größerem Ausmaß, die in beträchtlichem Umfang Kulturgut entsprechend der vorherigen Definition aufweisen, werden ebenfalls als schutzwürdig betrachtet.
Die Bestimmungen der Konvention von 1954 wurden ergänzt und präzisiert durch zwei 1954 und 1999 abgeschlossene Protokolle. Alle drei Abkommen sind Teil des humanitären Völkerrechts, zu dem in Form weiterer Abkommen vor allem Regelungen zählen, welche die zulässigen Mittel und Methoden zur Kriegführung definieren sowie den weitestmöglichen Schutz der nicht an den Kampfhandlungen beteiligten Personen zum Ziel haben. Im Gegensatz zu diesen Teilen des humanitären Völkerrechts entstanden die Abkommen zum Kulturgutschutz unter Federführung der Vereinten Nationen (UN), für die Verbreitung und die Überwachung der Einhaltung ist die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) hauptverantwortlich. Neben Regeln, die unmittelbar während eines bewaffneten Konfliktes den Schutz und die Respektierung von Kulturgut gewährleisten sollen, ergeben sich aus diesen Abkommen auch Sicherungsmaßnahmen, die in Friedenszeiten umzusetzen sind. Mit Stand vom Juni 2018 sind 132 Staaten Vertragspartei der Haager Konvention von 1954, den Protokollen von 1954 und 1999 sind 109 beziehungsweise 77 Staaten beigetreten. Im Bereich der internationalen Koordination hinsichtlich militärischer und ziviler Strukturen zum Schutz von Kulturgut ist Blue Shield International mit Sitz in Den Haag tätig.
Die Leitgedanken der Konvention sowie die Motivation für ihren Abschluss, ihre Verbreitung und ihre Respektierung sind zusammengefasst in der Präambel, die unter anderem besagt,
Rechtshistorische Entwicklung
Der Beginn mit der Haager Landkriegsordnung und dem Roerich-Pakt
Der erste völkerrechtliche Vertrag, der Bestimmungen zum Schutz von Kulturgut während eines Krieges enthielt, war die 1899 abgeschlossene und 1907 in leicht modifizierter Version erneut angenommene Haager Landkriegsordnung. Diese enthielt für die angreifende Partei in Artikel 27 das Gebot, historische Denkmäler, Bildungseinrichtungen sowie Institutionen mit religiöser, gemeinnütziger, künstlerischer oder wissenschaftlicher Bedeutung bei Belagerungen und Bombardierungen so weit wie möglich zu verschonen. Die angegriffene Partei sollte entsprechende Gebäude kennzeichnen. Im Artikel 56 war darüber hinaus ein allgemein formuliertes Verbot der Beschlagnahme, Zerstörung oder Beschädigung solcher Einrichtungen enthalten. Die Akzeptanz der Haager Landkriegsordnung wurde während des Ersten Weltkrieges jedoch durch die sogenannte Allbeteiligungsklausel stark eingeschränkt. Diese besagte, dass dieses Abkommen im Fall eines Krieges oder eines bewaffneten Konflikts nur gelten sollte, wenn alle an diesem Konflikt beteiligten Staaten Vertragsparteien des Abkommens sind.
Der russische Jurist, Maler und Schriftsteller Nicholas Roerich, der die Zerstörungen von Kulturgütern in Russland während des Ersten Weltkrieges und der Oktoberrevolution miterlebt hatte, gab zum Beginn der 1930er Jahre den Anstoß zu einem eigenständigen Vertrag, der dem Schutz von Kulturgütern während kriegerischer Auseinandersetzungen dienen sollte. Bereits 1904 hatte er der Russischen Architekten-Gesellschaft entsprechende Vorstellungen unterbreitet. Zehn Jahre später hatte er sich unmittelbar vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges mit seiner Idee auch an den russischen Zaren Nikolaus II. gewandt. Auf seine Initiative hin arbeitete Georges Chklaver vom Institut für Hohe Internationale Studien der Universität Paris 1929 einen entsprechenden Entwurf aus. Dieser Vorschlag wurde anschließend vom Internationalen Museumsamt des Völkerbundes und im Rahmen von privaten Konferenzen in Brügge 1931 und 1932 sowie in Washington, D. C. 1933 diskutiert. Die siebte internationale Konferenz amerikanischer Staaten, die 1933 in Buenos Aires stattfand, empfahl die Annahme des Entwurfes. Der Verwaltungsrat der Panamerikanischen Union legte daraufhin einen Vertrag „über den Schutz künstlerischer und wissenschaftlicher Einrichtungen und geschichtlicher Denkmäler“ vor, der am 15. April 1935 im Weißen Haus von 21 Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas unterzeichnet wurde. Zehn der Unterzeichnerstaaten wurden durch eine anschließende Ratifizierung auch Vertragspartei, davon als erstes die Vereinigten Staaten am 13. Juli 1935 und als letztes Kolumbien am 20. Februar 1937. Das nach seinem Initiator auch als Roerich-Pakt bezeichnete Abkommen trat am 26. August 1935 in Kraft.
Der Roerich-Pakt umfasste acht Artikel und enthielt mehrere wesentliche Neuerungen gegenüber den allgemeinen Bestimmungen der Artikel 27 und 56 der Haager Landkriegsordnung. Zum einen etablierte der Vertrag den Status der Neutralität für geschichtliche Denkmäler, Museen, wissenschaftliche und künstlerische Institutionen sowie Bildungs- und Kultureinrichtungen. Aus dieser Rechtsstellung, vergleichbar mit der Neutralität von Sanitätspersonal und vergleichbaren Einrichtungen während eines Krieges, resultierten die Respektierung dieser Güter durch alle an einem Konflikt beteiligten Parteien und damit ihr Schutz. Die Vertragsparteien sollten Listen mit Denkmälern und Einrichtungen, für die sie den Schutz entsprechend dem Vertrag beanspruchten, an die Panamerikanische Union übermitteln, welche diese Listen an alle Vertragsstaaten weitergeben sollte.
Darüber hinaus wurde in diesem Vertrag ein Schutzzeichen zur Kennzeichnung von Kulturgütern definiert, das aus drei roten Punkten in einem roten Kreis auf weißem Grund bestand. Nicholas Roerich, der sich bei der Gestaltung des Zeichens an frühzeitlicher Symbolik orientierte, beschrieb die Bedeutung der drei Punkte als Versinnbildlichung von Kunst, Wissenschaft und Religion als den drei bedeutendsten kulturellen Aktivitäten der Menschheit, mit dem Kreis als Element, das diese drei Aspekte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verband. Das Symbol wurde auch als „Banner des Friedens“ bezeichnet, die auf dem Roerich-Pakt unter dem Namen Pax Cultura basierende Bewegung in Analogie zu den Genfer Konventionen als „Rotes Kreuz der Kultur“.
Die Akzeptanz des Roerich-Pakts beschränkte sich jedoch auf die Vereinigten Staaten und die Länder Mittel- und Südamerikas. Kein einziges Land in Europa und Asien, den geopolitischen Schwerpunkten des wenige Jahre später beginnenden Zweiten Weltkrieges, unterzeichnete oder ratifizierte den Vertrag. Auch wenn er in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien noch heute gültig ist und die Organisation amerikanischer Staaten (OAS) in Nachfolge der Panamerikanischen Union weiterhin als Depositar fungiert, blieb der Roerich-Pakt ohne nennenswerte praktische Relevanz. Von den Vertragsparteien des Roerich-Pakts sind nur die Vereinigten Staaten bisher nicht der Haager Konvention beigetreten, nachdem Chile im September 2008 die Konvention und ihre beiden Zusatzprotokolle ratifiziert hat. Für die USA ist der Roerich-Pakt damit noch von Bedeutung als vertragsrechtliche Verpflichtung im Bereich des Kulturgutschutzes. Mit der Etablierung eines Schutzzeichens sowie der Verwaltung von Listen schützenswerter Kulturgüter durch eine zentrale internationale Institution wurden jedoch mit diesem Vertrag zwei wichtige weiterreichende Prinzipien in den Bereich des Kulturgutschutzes bei bewaffneten Konflikten eingeführt.
Die Weiterentwicklung zur Haager Konvention von 1954
Bereits vier Jahre nach Unterzeichnung des Roerich-Pakts legte die Regierung der Niederlande einen Entwurf für eine neue Konvention vor, an dessen Ausarbeitung ebenfalls das Internationale Museumsamt des Völkerbundes wesentlich beteiligt war. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges im selben Jahr verhinderte jedoch alle weiteren Schritte zur Weiterentwicklung und Umsetzung dieses Vorschlags. Nach dem Ende des Krieges übermittelten die Niederlande 1948 erneut einen Vorschlag an die drei Jahre zuvor gegründete UNESCO. Die Generalkonferenz der UNESCO entschied 1951, ein Komitee von Regierungsexperten zur Ausarbeitung einer neuen Konvention einzusetzen. Ein Jahr später legte dieses Komitee der Generalkonferenz einen Entwurf vor, den diese für weitere Beratungen an die nationalen Regierungen übermittelte. Vom 21. April bis zum 14. Mai 1954 fand dann in Den Haag unter Beteiligung von 56 Staaten eine internationale Konferenz statt, die eine endgültige Fassung ausarbeitete und als „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“ annahm. Rund zwei Jahre später trat das Abkommen am 7. August 1956 in Kraft. Es war nach der 1948 abgeschlossenen Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes das zweite wichtige Abkommen im Bereich des humanitären Völkerrechts, an dessen Entstehung und Umsetzung die Vereinten Nationen wesentlich beteiligt waren.
Mit der neuen Konvention, die vom Umfang her mit 40 Artikeln im Haupttext und 21 Artikeln in den Ausführungsbestimmungen deutlich über den Roerich-Pakt hinausging, wurde erstmals eine umfassende und detaillierte Definition von Kulturgut formuliert. Ebenfalls neu war der Aspekt der Sicherungsmaßnahmen in Friedenszeiten, zu denen die Vertragsparteien durch die Konvention verpflichtet sind. Die Maßnahmen, die im Kriegsfall zur Sicherstellung der Respektierung von Kulturgut ergriffen werden sollen, wurden detailliert formuliert. Das mit dem Roerich-Pakt etablierte Konzept eines Kennzeichens wurde beibehalten. Allerdings führte die Konvention ein neues Symbol anstelle des im Roerich-Pakt definierten Schutzzeichens ein. Dieses ist somit nur noch von Relevanz in den Beziehungen zwischen Vertragsparteien des Roerich-Pakts, die der Haager Konvention noch nicht beigetreten sind. Ebenfalls neu war das Konzept des Sonderschutzes für ausgewählte Bergungsorte, Denkmalzentren und andere unbewegliche Kulturgüter, denen bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen und nach Eintragung in ein „Internationales Register für Kulturgut unter Sonderschutz“ besondere Immunität gewährt werden sollte. Nachdem bereits in die 1949 abgeschlossenen Neufassungen der Genfer Konventionen erstmals ein Artikel mit einem Minimum an Vorgaben für nicht-internationale bewaffnete Konflikte aufgenommen worden war, enthielt auch die Haager Konvention von 1954 eine vergleichbare Regelung. Diese forderte von allen an einem solchen Konflikt beteiligten Parteien zumindest die Einhaltung aller Bestimmungen, die den Respekt vor Kulturgut zum Ziel haben.
Die Konferenz beschloss darüber hinaus ein separates Abkommen in Form eines Protokolls zur Konvention. Dieses enthielt Vorgaben, um die Ausfuhr von Kulturgut durch eine Vertragspartei aus dem besetzten Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei zu verhindern und regelte die Rückgabe von illegal ausgeführtem Kulturgut. Entsprechende Festlegungen waren zunächst im Entwurf für die Konvention vorgesehen gewesen, erwiesen sich jedoch auf Grund der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und des Widerstands einiger Delegationen als zu kontrovers. Aus demselben Grund waren die in Form des Protokolls angenommenen Vorgaben nicht so konkret und weitreichend wie die im ursprünglichen Vorschlag enthaltenen Regelungen.
Das zweite Protokoll von 1999
Die Konvention von 1954 entstand unmittelbar vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Bei der Ausarbeitung gingen die Vertragspartner deshalb unter anderem davon aus, dass auch die zukünftigen Kriege durch großflächige Angriffe gegen ganze Städte geprägt sein würden. Darüber hinaus beruhte die Konvention auf der Annahme, dass alle an einem Konflikt beteiligten Parteien ein vergleichbares Interesse am Schutz von Kulturgütern haben. In den folgenden Jahrzehnten kam es jedoch zu vielfältigen Veränderungen in der Kriegführung, zur Entwicklung neuer Waffentechnologien und vor allem zu einem deutlichen Anstieg der Zahl, Schwere und Dauer von innerstaatlichen Konflikten. Als besonders schwerwiegend erwies sich dabei, dass in einigen Konflikten die Beschädigung und Zerstörung von Kulturgut nicht nur eine reine Folge der Kampfhandlungen war. Vielmehr kam es, vor allem in ethnisch bedingten Auseinandersetzungen, zu gezielten Angriffen auf Kulturgut, um das kulturelle Erbe der gegnerischen Seite auszulöschen.
Aus diesen Erfahrungen ergab sich die Notwendigkeit, neben anderen Bereichen des humanitären Völkerrechts auch den Aspekt des Kulturgutschutzes anzupassen und zu aktualisieren. Das 1977 abgeschlossene erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen enthielt in Artikel 53 eine Bestätigung von drei wichtigen Prinzipien der Haager Konvention: das Verbot von Angriffen gegen historische Denkmäler, künstlerische und religiöse Einrichtungen, das Verbot der Nutzung solcher Objekte für militärische Zwecke sowie das Verbot von Repressalien gegen Einrichtungen mit kultureller Bedeutung. Darüber hinaus war es jedoch seit dem Abschluss der Konvention im Jahr 1954 zu keiner Überarbeitung des Kulturgutschutzes im humanitären Völkerrecht gekommen. Diese erfolgte erst 45 Jahre nach der Verabschiedung der Konvention von 1954 durch die Annahme eines zweiten Protokolls im Rahmen einer diplomatischen Konferenz vom 15. bis zum 26. März 1999. Fünf Jahre später trat das Protokoll in Kraft. Es war mit 47 Artikeln umfangreicher als die Konvention von 1954 und orientierte sich in einigen Bereichen an Veränderungen im humanitären Völkerrecht, die sich vor allem durch die Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Konventionen ergeben hatten. In der ursprünglichen Konvention bildete der nur allgemein formulierte Begriff der „zwingenden militärischen Notwendigkeit“ die Basis für legitime militärische Aktivitäten, die sich gegen Kulturgut richteten. Dies wurde im Protokoll ersetzt durch die Vorgabe, dass Kulturgut nur angegriffen werden darf, wenn es auf Grund seiner Verwendung ein militärisches Ziel geworden ist und wenn zu einem Angriff keine Alternative besteht.
Das mit der Konvention von 1954 etablierte System des Sonderschutzes hat sich jedoch auf Grund von zu strikten Voraussetzungen in der Praxis als nicht wirkungsvoll umsetzbar erwiesen. Neben den Anforderungen an die Lage von Objekten, die unter Sonderschutz gestellt werden sollten, ist insbesondere die notwendige einstimmige Befürwortung eines solchen Antrags durch alle Vertragsparteien nur selten zu erreichen. So wurden bis 1978 nur acht Bergungsorte in Österreich, Deutschland und den Niederlanden sowie die Vatikanstadt als Denkmalzentrum in das „Internationale Register für Kulturgut unter Sonderschutz“ aufgenommen. Mexiko ließ Ende März 2015 die prähistorischen Stätten Calakmul, Chichén Itzá, Monte Albán, Palenque, Paquimé, El Tajín, Teotihuacán, Uxmal und Xochicalco für den Sonderschutzstatus registrieren. Von den ursprünglich acht registrierten Bergungsorten stehen gegenwärtig nur noch vier unter Sonderschutz, der Barbarastollen bei Oberried in Deutschland und drei Orte in den Niederlanden. Österreich beantragte im September 2000 die Löschung seines Bergungsortes aus dem Sonderschutz-Register, ebenso wie zuvor die Niederlande drei von sechs Sonderschutzeintragungen im September 1994 löschen ließ. Das Protokoll von 1999 führte deshalb, mit entsprechenden Vorgaben zur Umsetzung, den Status eines „verstärkten Schutzes“ ein, dessen Schutzwirkung mit dem Sonderschutz der Konvention von 1954 vergleichbar ist. Eine weitere wesentliche Neuerung des Protokolls war die individuelle strafrechtliche Verantwortbarkeit für fünf, näher definierte, schwere Verstöße. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, diese Handlungen durch eine entsprechende nationale Gesetzgebung unter Strafe zu stellen. Das Protokoll weitete außerdem den Geltungsbereich des Schutzes von Kulturgütern auf nicht internationale bewaffnete Konflikte aus.
Einzelne Bestimmungen
Haager Abkommen vom 14. Mai 1954
Die 1954 abgeschlossene Konvention ist in sieben Kapitel gegliedert. Im Kapitel I über allgemeine Schutzbestimmungen wird zunächst der Begriff „Kulturgut“ im Sinne des Abkommens als bewegliches oder unbewegliches Gut definiert, das für das kulturelle Erbe der Völker von großer Bedeutung ist.
Unbewegliches Kulturgut umfasst beispielsweise Bau-, Kunst- und geschichtliche Denkmäler sowohl kirchlicher als auch weltlicher Art ebenso wie Gruppen von Bauten von historischem oder künstlerischem Interesse und archäologische Stätten. Als bewegliches Kulturgut gelten zum Beispiel Kunstwerke, Manuskripte, Bücher und andere Gegenstände von künstlerischem, historischem oder archäologischem Interesse sowie wissenschaftliche Sammlungen und Sammlungen von Reproduktionen von Kulturgut. Darüber hinaus sind Gebäude, die der Erhaltung oder der Ausstellung von beweglichem Kulturgut dienen, ebenfalls als Kulturgut eingestuft. Hierzu zählen beispielsweise Museen, Bibliotheken, Archive und Bergungsorte.
Eine eigene dritte Kategorie bilden Denkmalzentren als Orte, die in beträchtlichem Umfang bewegliches und unbewegliches Kulturgut im Sinne der vorherigen Beschreibung aufweisen. Dabei kann es sich neben Komplexen aus mehreren Gebäuden, wie einer Ansammlung von Museen, beispielsweise auch um historisch bedeutsame Stadtteile oder in Ausnahmefällen wie der als Denkmalzentrum registrierten Vatikanstadt um ganze Orte handeln.
Der Umfang des Schutzes wird definiert als Sicherung und Respektierung von Kulturgut (Artikel 2). Als Sicherung gelten dabei alle geeigneten Maßnahmen in Friedenszeiten, welche die Vertragsparteien ergreifen, um Kulturgut vor den voraussehbaren Folgen eines bewaffneten Konfliktes zu schützen (Artikel 3). Respektierung von Kulturgut im Fall eines bewaffneten Konfliktes bedeutet den Verzicht auf die Nutzung von Kulturgut für militärische Zwecke sowie auf feindselige Handlungen, die sich gegen Kulturgut richten (Artikel 4). Ausnahmen von dieser Verpflichtung sind nur in Fällen von „zwingender militärischer Notwendigkeit“ zulässig. Jede Form von widerrechtlicher Inbesitznahme von Kulturgut ist verboten und zu verhindern. Gegen Kulturgut gerichtete Repressalien sind unzulässig. Im Falle einer Besetzung ist die Besatzungsmacht verpflichtet, die Behörden des besetzten Landes bei der Sicherung von Kulturgut zu unterstützen (Artikel 5). Die Vertragsparteien sind verpflichtet, in Friedenszeiten den Angehörigen ihrer Streitkräfte durch Dienstvorschriften und Anweisungen den Respekt vor Kulturgut zu vermitteln und darüber hinaus Dienststellen oder Fachpersonal für die Überwachung des Kulturgutschutzes einzurichten (Artikel 7).
Die Vertragspartner legen im Kapitel II des Abkommens einen Sonderschutz für bestimmte Kulturgüter fest. Hierzu zählt entsprechend Artikel 8 eine begrenzte Anzahl von Bergungsorten, von Denkmalzentren und von anderen sehr wichtigen unbeweglichen Kulturgütern. Voraussetzung für die Gewährung des Sonderschutzes ist, dass die betreffenden Objekte sich in ausreichender Entfernung zu großen Industriezentren und möglichen militärischen Zielen befinden, und selbst nicht für militärische Zwecke genutzt werden. Die Gewährung des Sonderschutzes setzt des Weiteren eine Eintragung in das Internationale Register für Kulturgut unter Sonderschutz voraus. Die ausschließliche Bewachung von Kulturgut wird nicht als militärische Nutzung bewertet. Kulturgut unter Sonderschutz gilt als unverletzlich (Artikel 9). Eine Aufhebung dieses Status während eines bewaffneten Konfliktes ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich, zu denen beispielsweise eine „unausweichliche militärische Notwendigkeit“ zählt (Artikel 11).
Im Kapitel III sind Vorschriften für den Transport von Kulturgut enthalten. So können Transporte zur Verlagerung von Kulturgut ebenfalls unter Sonderschutz gestellt werden (Artikel 12). Kulturgut während eines Transportes und die dafür genutzten Transportmittel dürfen durchsucht und kontrolliert, jedoch nicht beschlagnahmt oder anderweitig weggenommen werden (Artikel 14).
Das folgende Kapitel IV (Artikel 15) verpflichtet die Unterzeichner zur Respektierung des Personals, das das entsprechende Kulturgut beschützt. Im Falle einer Gefangennahme darf das Personal nicht an seiner Tätigkeit gehindert werden.
Das Kapitel V enthält Bestimmungen zur Gestaltung und Verwendung eines Kennzeichens für Kulturgut. Zur Kennzeichnung dient laut Artikel 16 ein mit der Spitze nach unten zeigender wappenähnlicher Schild in Ultramarinblau und Weiß. Entsprechend Artikel 17 ist dieses Kennzeichen in dreifacher Ausfertigung für Kulturgut unter Sonderschutz zu verwenden sowie in einfacher Ausfertigung für jedes andere zu schützende Kulturgut, für das mit dem Schutz beauftragte Personal sowie für entsprechende Ausweise.
Das Kapitel VI definiert den Anwendungsbereich des Abkommens. Es gilt entsprechend Artikel 18 in jedem bewaffneten Konflikt zwischen zwei oder mehr Vertragsparteien sowie im Falle der Besetzung des Gebietes einer Vertragspartei. Bei nicht-internationalen bewaffneten Konflikten auf dem Gebiet einer Vertragspartei sind alle Konfliktparteien verpflichtet, mindestens die Bestimmungen des Abkommens zur Respektierung von Kulturgut einzuhalten und anzuwenden.
Das Kapitel VII umfasst die Durchführungsbestimmungen zum Abkommen. Es legt unter anderem die Rolle von Schutzmächten (Artikel 21 und 22) sowie der UNESCO (Artikel 23) fest. Darüber hinaus enthält der Artikel 25 eine Verpflichtung zur Verbreitung des Abkommens in Friedenszeiten und während eines Konflikts, beispielsweise durch Ausbildung im militärischen und zivilen Bereich. Entsprechend Artikel 28 sind die Vertragsparteien verpflichtet, Verletzungen des Abkommens strafrechtlich oder disziplinarisch zu verfolgen. Die Schlussbestimmungen in den Artikeln 29 bis 40 regeln unter anderem die Unterzeichnung, die Ratifizierung, den Beitritt, das Inkrafttreten, die Änderung und die Kündigung des Abkommens. Im Artikel 36 unterstreichen die Unterzeichner, dass das Abkommen ergänzend zu den Bestimmungen der Haager Abkommen von 1899 und 1907, insbesondere der Haager Landkriegsordnung, sowie des Roerich-Pakts von 1935 gilt, sofern Vertragsparteien in ihren Beziehungen untereinander auch an diese Abkommen gebunden sind.
Ausführungsbestimmungen vom 14. Mai 1954
Die Ausführungsbestimmungen regeln die Einhaltung des Abkommens, wenn eine Vertragspartei in einen bewaffneten Konflikt verwickelt wird, auf den Art. 18 des Abkommens anwendbar ist. Sie bilden einen integrierenden Bestandteil des Abkommens (Art. 20 Haager Abkommen).
Haager Protokoll vom 14. Mai 1954
Das zusammen mit der Konvention im Jahr 1954 entstandene Protokoll regelt den Schutz von Kulturgut vor Ausfuhr aus dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei und die Rückführung von widerrechtlich ausgeführtem Kulturgut. Entsprechend den Bestimmungen des Abschnittes I ist die Ausfuhr von Kulturgut durch eine Vertragspartei aus dem besetzten Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei verboten und demzufolge zu verhindern. Jede Vertragspartei ist deshalb verpflichtet, widerrechtlich ausgeführtes Kulturgut in Gewahrsam zu nehmen und nach Beendigung der Feindseligkeiten zurückzugeben.
Kulturgut darf in keinem Fall zur Wiedergutmachung von Kriegsschäden zurückgehalten werden. Der Abschnitt II regelt die Rückgabe von Kulturgut, das einer anderen Vertragspartei übergeben wurde, um es gegen die Gefahren eines bewaffneten Konflikts zu schützen. Im Abschnitt III stehen die Durchführungs- und Schlussbestimmungen.
Zweites Protokoll vom 26. März 1999
Ziel bei der Verabschiedung des zweiten Protokolls war die Erweiterung und Präzisierung der Bestimmungen der Konvention von 1954 sowie ihre Überarbeitung in den Bereichen, deren praktische Umsetzung sich als unzulänglich erwiesen hatte. Das Protokoll ist in neun Kapitel unterteilt. Die Einleitung im ersten Kapitel enthält neben Begriffsbestimmungen eine Definition des Anwendungsbereiches. In den Artikeln 2 und 4 wird das Verhältnis des Protokolls zum Abkommen von 1954 festgelegt.
Im Kapitel 2 sind ergänzende Regelungen zu den allgemeinen Schutzbestimmungen des Abkommens zusammengefasst. So definiert der Artikel 5 die im Abkommen nur allgemein erwähnten Sicherungsmaßnahmen in Friedenszeiten detaillierter. Zu diesen Regelungen gehört beispielsweise die Erstellung von Verzeichnissen, die Planung von Notfallmaßnahmen zum Schutz gegen Feuer und Einsturz von Gebäuden und die Vorbereitung der Verlagerung von beweglichem Kulturgut als mögliche Maßnahmen. Der Artikel 6 verschärft die Bestimmungen zur Respektierung von Kulturgut. So müssen zum Beispiel gegen Kulturgut gerichtete feindselige Handlungen, die auf Grund einer „zwingenden militärischen Notwendigkeit“ erfolgen, auf die Dauer einer militärischen Nutzung des betroffenen Kulturguts beschränkt sein. Sie dürfen außerdem nur durchgeführt werden, wenn keine andere praktische Möglichkeit zu einem vergleichbaren militärischen Vorteil führt. Ähnliche Einschränkungen gelten für eine militärische Nutzung von Kulturgut, durch welche dieses der Gefahr einer Zerstörung oder Beschädigung ausgesetzt wird. Jedem auf der Basis dieser Bestimmung erfolgenden Angriff muss eine wirksame Warnung vorausgehen. In Artikel 7 werden Vorsichtsmaßnahmen bei militärischen Operationen definiert, durch die eine Beschädigung von geschütztem Kulturgut so weit wie möglich verhindert werden soll. Der Artikel 8 verpflichtet analog dazu die Konfliktparteien, Kulturgut aus der Nähe militärischer Ziele zu entfernen beziehungsweise anderweitig zu schützen und die Anlage von militärischen Zielen in der Nähe von Kulturgut zu vermeiden.
Kapitel 3 definiert als Alternative zum Sonderschutz des Abkommens von 1954 einen „verstärkten Schutz“, der entsprechend Artikel 10 in Frage kommt für Kulturgut, bei dem es sich um „kulturelles Erbe von höchster Bedeutung für die Menschheit“ handelt und nach Artikel 11 durch ein entsprechendes Gremium der UNESCO unter Beteiligung der Vertragsparteien gewährt wird. Nach Artikel 12 gilt für Kulturgut unter verstärktem Schutz eine mit dem Sonderschutz des Abkommens von 1954 vergleichbare Unverletzlichkeit. Die Artikel 13 und 14 regeln den Verlust, die Aussetzung und die Aufhebung des verstärkten Schutzes.
Im Kapitel 4 sind Bestimmungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Gerichtsbarkeit im Bereich des Kulturgutschutzes enthalten. Es ist damit neben dem System des verstärkten Schutzes die wesentliche Neuerung des zweiten Protokolls. Der Artikel 15 definiert fünf schwere Verstöße gegen den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten: Angriffe gegen Kulturgut unter verstärktem Schutz, die Verwendung von Kulturgut unter verstärktem Schutz für militärische Handlungen, Zerstörungen oder Aneignungen von geschütztem Kulturgut in großem Ausmaß sowie Angriffe gegen geschütztes Kulturgut oder dessen Diebstahl, Plünderung, Unterschlagung oder böswillige Beschädigung. Die Vertragsparteien sind verpflichtet, diese Handlungen im Rahmen ihres nationalen Rechts unter Strafe zu stellen. Die Artikel 16 bis 20 regeln hierzu Verfahrensaspekte wie die Gerichtsbarkeit, die Strafverfolgung, die Auslieferung sowie Fragen der Rechtshilfe. Der Artikel 21 legt darüber hinaus wirkungsvolle Maßnahmen zur Unterbindung von Verstößen gegen die sonstigen Bestimmungen des Abkommens und des Protokolls fest.
Der Artikel 22 im Kapitel 5 betrifft die Gültigkeit des Protokolls bei nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Im Kapitel 6 werden institutionelle Fragen geregelt, wie beispielsweise in Artikel 23 Tagungen der Vertragsparteien und die Einrichtung eines Ausschusses für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten in den Artikeln 24 bis 28. Die Mitglieder dieses zwölfköpfige Komitees werden für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt, wobei bei der Wahl eine angemessene geografische Vertretung berücksichtigt wird. Es ist für die Gewährung, Aussetzung und Aufhebung des verstärkten Schutzes von Kulturgütern zuständig, die von den Vertragsstaaten benannt wurden. Weitere Aufgaben beinhalten die Aufnahme und Prüfung von Anträgen für internationale Unterstützung und die mögliche Nutzung des Fonds zum Schutz von Kulturgütern im Falle eines bewaffneten Konflikts.
Der Artikel 29 regelt die Gründung eines Fonds zur finanziellen oder sonstigen Unterstützung „vorbereitender oder anderer Maßnahmen, die in Friedenszeiten zu ergreifen sind“ sowie von „Notfallmaßnahmen, vorläufigen oder anderen Maßnahmen zum Schutz von Kulturgütern in Zeiten bewaffneter Konflikte“ und zur Wiederherstellung nach Beendigung der Kampfhandlungen. Der Fonds wird durch freiwillige Beiträge der Vertragsstaaten des zweiten Protokolls finanziert.
Die Bestimmungen in den Artikeln 30 bis 33 im Kapitel 7 beziehen sich auf die Verbreitung des Abkommens sowie die internationale Zusammenarbeit. Das Kapitel 8 umfasst die Durchführungsbestimmungen zum Protokoll, so beispielsweise in Artikel 34 Regelungen zur Rolle von Schutzmächten und in den Artikeln 35 und 36 Regelungen zur Schlichtung bei Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Auslegung dieses Protokolls. Die Schlussbestimmungen zur Unterzeichnung und Ratifikation, zum Beitritt und Inkrafttreten sowie zur Kündigung sind in den Artikeln 39 bis 47 des 9. und letzten Kapitels enthalten.
Militär-Handbuch
Im Jahr 2016 veröffentlichte die UNESCO in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Institut für humanitäres Recht ein Handbuch mit dem Titel „Protection of Cultural Property: Military Manual“. Dieses beschreibt die Regeln und Verpflichtungen des zweiten Protokolls und gibt praktische Hinweise, wie diese Regeln von den Streitkräften in der ganzen Welt umgesetzt werden sollten. Das Handbuch enthält auch Vorschläge zu den besten militärischen Praktiken in Bezug auf diese Verpflichtungen. Sie bezieht sich nur auf die internationalen Gesetze über bewaffnete Konflikte und behandelt keine militärische Hilfe, die im Zusammenhang mit anderen Umständen wie Naturkatastrophen geleistet wird.
Umsetzung in der Praxis
Ahndung von Verstößen
Das im Juli 1998 beschlossene und vier Jahre später in Kraft getretene Rom-Statut als Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) definiert in Artikel 8 Absatz 2 vorsätzliche Angriffe gegen Gebäude mit religiösem Charakter, gegen Einrichtungen der Bildung, Kunst, Wissenschaft oder mit gemeinnützigem Charakter sowie gegen geschichtliche Denkmäler als Kriegsverbrechen sowohl in internationalen als auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Der Strafgerichtshof ist damit zur Verfolgung dieser Verbrechen befugt, wenn eine solche Tat entweder durch einen Staatsangehörigen einer Vertragspartei oder auf dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei begangen wurde. Er nimmt seine Zuständigkeit allerdings nur wahr, wenn das betreffende Land nicht willens oder in der Lage ist, eine effektive Strafverfolgung selbst sicherzustellen. Im ersten Prozess vor dem IStGH wegen der vorsätzlichen Zerstörung einer Moschee und neun Mausoleen in der UNESCO-Welterbestadt Timbuktu (Mali) wurde der Rebellenführer der Terrormiliz Ansar Dine Ahmad al-Faqi al-Mahdi am 27. September 2016 zu 9 Jahren Haft und am 17. August 2017 zu einer Entschädigung in Höhe von 2,7 Millionen Euro verurteilt.
Auch das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien enthält in Artikel 3 Regelungen, welche die Strafverfolgung von Verstößen gegen die grundlegenden Prinzipien der Haager Konvention von 1954 ermöglichen. Auf der Basis dieses Artikels kam es erstmals seit Abschluss der Konvention zu Prozessen vor einem internationalen Gericht wegen der Zerstörung von Kulturgut während eines bewaffneten Konflikts. Schuldsprüche des Gerichts, die neben anderen Anklagepunkten auch auf diesem Artikel beruhten, ergingen unter anderem im Februar 2001 gegen Dario Kordić, einen Kommandeur des Kroatischen Verteidigungsrats (HVO) während des Bosnienkrieges, gegen Miodrag Jokić, einen ranghohen Kommandeur in der Marine der Jugoslawischen Volksarmee während der Schlacht um Dubrovnik im Jahr 1991, sowie gegen Milan Martić, einen Politiker und militärischen Führer der international nicht anerkannten Republik Serbische Krajina. Für die Angriffe auf die herzegowinische Stadt Mostar, die im November 1993 zur Zerstörung der international als herausragendes Kulturgut anerkannten Brücke Stari most führten, begann im April 2006 der Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gegen sechs Angeklagte. Unter ihnen ist der kroatische General Slobodan Praljak, der im Verdacht steht, den Beschuss der Brücke befohlen zu haben.
Das von den Vereinten Nationen zusammen mit der Regierung in Kambodscha im Juli 2006 eingesetzte Rote-Khmer-Tribunal hat nach Artikel 7 des Gesetzes „über die Einrichtung der Außerordentlichen Kammern“ die Möglichkeit, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Haager Konvention von 1954 die Zerstörung von Kulturgütern während der Diktatur der Roten Khmer von April 1975 bis Januar 1979 strafrechtlich zu verfolgen. Während dieser Zeit beschädigten die Roten Khmer beispielsweise die meisten der über 3.300 Tempel und 130 Moscheen in Kambodscha schwer. Sie zerstörten darüber hinaus alle 73 katholischen Kirchen und viele andere Stätten mit religiöser oder kultureller Bedeutung. Die Anwendung der Haager Konvention von 1954 ist prinzipiell zulässig, da Kambodscha im Jahr 1962 und damit vor der Machtergreifung der Roten Khmer Vertragspartei geworden war und weil nach Artikel 19 des Abkommens auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten jede Konfliktpartei zumindest an die Bestimmungen zur Respektierung von Kulturgut gebunden ist.
Es ist bisher jedoch noch nicht bekannt, ob und in welchem Umfang Prozesse vor dem Gericht eröffnet werden, welche die Zerstörung von Kulturgut als Basis der Anklage haben. Ein mögliches Problem bei der Anwendung des Artikels 7 und damit der Haager Konvention ist, dass eine juristische Voraussetzung dafür der Nachweis des Vorliegens eines bewaffneten Konfliktes entsprechend der im humanitären Völkerrecht gebräuchlichen Definition wäre. Ob eine solche Bewertung der Diktatur der Roten Khmer möglich sein wird, ist noch nicht abzusehen.
Internationale Akzeptanz und beteiligte Organisationen
Mit Stand vom Juni 2018 sind 132 Staaten der Haager Konvention von 1954 und 109 Staaten dem ersten Protokoll beigetreten. Die Schweiz ist seit dem 15. Mai 1962 Vertragspartei beider Abkommen, Österreich seit dem 25. März 1964, die Bundesrepublik Deutschland seit dem 11. August 1967, die DDR trat der Konvention und dem ersten Protokoll von 1954 am 16. Januar 1974 bei. Dem zweiten Protokoll von 1999 sind bisher 77 Staaten beigetreten, darunter Österreich am 1. März 2002, die Schweiz am 9. Juli 2004 und Deutschland am 25. November 2009.
Von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist Frankreich dem Abkommen 1957 beigetreten, Russland ist Vertragspartei in Rechtsnachfolge der ebenfalls 1957 beigetretenen Sowjetunion, die Volksrepublik China ratifizierte die Konvention im Jahr 2000 und die Vereinigten Staaten traten 2009 bei. Das Vereinigte Königreich hat das Abkommen zwar 1954 unterzeichnet, wurde jedoch erst 2017 Vertragspartei der Konvention und der Protokolle. Hauptgrund für die lange Zeit zwischen Unterzeichnung und Ratifizierung durch die USA waren Vorbehalte des amerikanischen Verteidigungsministeriums während des Kalten Krieges, die Verpflichtungen der Konvention bei einem möglichen Einsatz von Atomwaffen nicht einhalten zu können. Der Vereinigte Generalstab, dem die Oberbefehlshaber aller Truppenteile der amerikanischen Streitkräfte angehören, sprach sich 1995 einstimmig für die freiwillige Einhaltung der Konvention aus. Am 6. Januar 1999 empfahl der damalige US-Präsident Bill Clinton dem US-Senat die Ratifizierung beider Abkommen. Diese befanden sich nach seiner Ansicht nicht nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Methoden der amerikanischen Streitkräfte, sondern beruhten sogar in wesentlichen Aspekten darauf. Nachdem der Senat dem Beitritt im September 2008 zugestimmt hatte, übergab der amerikanische Botschafter bei der UNESCO Stephen Engelken am 13. März 2009 die Ratifikationsurkunde an Kōichirō Matsuura, den Generalsekretär der UNESCO. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat anlässlich des 50. Jubiläums der Unterzeichnung der Konvention am 14. Mai 2004 ihre Absicht erklärt, Vertragspartei des Abkommens und der beiden Protokolle zu werden. Ausschlaggebend dafür war der Abschluss des zweiten Protokolls von 1999, das nach Ansicht der britischen Regierung wesentliche Schwachstellen und Unklarheiten der Konvention von 1954 beseitigte. Ein Entwurf für ein Gesetz, das neben der Ratifizierung der Konvention und der beiden Protokolle auch entsprechende strafrechtliche Bestimmungen enthält, wurde im November 2006 von der britischen Regierung angekündigt.
Die wichtigste internationale Institution im Bereich der Verbreitung und Umsetzung des Schutzes von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten ist die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), eine rechtlich selbständige Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Paris. Sie fungiert als Depositar der Haager Konvention von 1954 sowie ihrer beiden Protokolle und verwaltet das „Internationale Register für Kulturgut unter Sonderschutz“.
Darüber hinaus besteht seit 1996 Blue Shield International (vormals englisch International Committee of the Blue Shield, ICBS; französisch Comité International du Bouclier Bleu, CIBB). Seine Aufgabe ist die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit im Bereich des Kulturgutschutzes sowie die Unterstützung lokaler und regionaler Aktivitäten. Das zweite Protokoll von 1999 erwähnt in den Artikeln 11 und 27 ausdrücklich die beratende Funktion des Internationalen Komitees vom Blauen Schild bei der Umsetzung des Abkommens. Vergleichbar mit der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung sind seit der Gründung des Internationalen Komitees mit Stand 2017 bereits nationale Komitees vom Blauen Schild in Argentinien, Australien, Belgien, Benin, Brasilien, Chile, Curacao, Dänemark, Frankreich, Georgien, Großbritannien, Guatemala, Haiti, Irland, Israel, Italien, Madagaskar, Niederlande, Nordmazedonien, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Senegal, Spanien, Tschechien, Ukraine und der USA entstanden. Diese nationalen Vereinigungen unterstützen die Arbeit des Internationalen Komitees in ihren jeweiligen Heimatländern. Als deren Dachorganisation entstand am 28. September 2006 die „Vereinigung der nationalen Komitees vom Blauen Schild“ (englisch Association of the National Committees of the Blue Shield, ANCBS), wobei nun seit 2017 alle internationalen Aktivitäten in Blue Shield International gebündelt sind.
Während in vielen Kriegen die Bewegungsfreiheit des Vereinte-Nationen-Personals wegen Sicherheitsbedenken deutlich eingeschränkt ist, wird Blue Shield aufgrund seiner Struktur als besonders geeignet angesehen, um flexibel und autonom in bewaffneten Konflikten zu handeln. Die Mitarbeiter von Blue Shield beziehungsweise seiner nationalen Organisationen haben dann auch trotz der teilweisen Auflösung von staatlichen Strukturen und der sehr unklaren Sicherheitslage infolge der Kriege und Unruhen im Irak, in Syrien, in Mali, in Ägypten und in Libyen sehr robuste Unternehmungen zum Schutz der dortigen Kulturgüter durchgeführt. Das betrifft besonders die Erhebung von zu schützenden Kulturgut, die Erstellung mit lokalen Experten von „No-strike lists“ (- welche die Koordinaten bedeutsamer Kulturdenkmäler erhalten), die Verknüpfung ziviler und militärischer Strukturen und die Ausbildung von lokalem militärischen Personal hinsichtlich Schutz von Kulturgut. Aus der Sicht von Blue Shield reicht es nicht, völkerrechtliche Normen wie das Zweite Protokoll zur Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten oder das Doha-Statement der „Conference of ‘Ulamâ on Islam and Cultural Heritage“ zu entwickeln und zu beschließen. Es ist notwendig, diese Normen global wirkungsvoll zu implementieren und umzusetzen. Dabei geht es auch um das Verhindern von Antikenhehlerei und dem Handel mit geraubten Kulturgütern zur Finanzierung der militärischen Konflikte. Infolge der Zerstörungen von Kulturgüter durch bewaffnete Konflikte, Krieg und Unruhen im Irak, in Syrien, in Mali oder in Afghanistan aber auch durch Erdbeben wie in Haiti oder Nepal haben sich Kooperationen zwischen Blue-Shield und nationalen Streitkräften wie der US-Army oder der Britischen Armee entwickelt.
Es besteht auch seit Mai 1997 die „Internationale Liga der nationalen Gesellschaften für Kulturgüterschutz“ mit Sitz in der Schweizer Stadt Freiburg als internationaler Dachverband. Durch die Aktivitäten dieser nationalen und internationalen Organisationen und Verbände, die auch den Schutz von Kulturgut vor Katastrophen in Friedenszeiten mit einschließen, werden zivilgesellschaftliche Strukturen eine zunehmende Rolle im Bereich des Kulturgutschutzes übernehmen und die Arbeit von staatlichen und internationalen Institutionen unterstützen.
Ein Beispiel für die internationale Zusammenarbeit beim Schutz von Kulturgütern war die vorübergehende Zwischenlagerung von Kunstschätzen aus dem Nationalmuseum der afghanischen Hauptstadt Kabul in der Schweiz. Die Kunstgegenstände, die im Nationalmuseum sowohl durch den bis 1995 andauernden Afghanischen Bürgerkrieg als auch durch die anschließende Herrschaft des Taliban-Regimes stark bedroht waren, wurden mit Zustimmung aller Konfliktparteien 1999 in ein sogenanntes „Afghanistan-Museum im Exil“ im Schweizer Ort Bubendorf ausgelagert. Die vor allem durch die ehrenamtliche Tätigkeit von Schweizer Bürgern und von Exilafghanen sowie durch Spenden in Höhe von rund 1,5 Millionen Schweizer Franken unterstützte Ausstellung, die vom in Bubendorf ansässigen schweizerischen Afghanistan-Institut betreut wurde, war vom Oktober 2000 bis zum Oktober 2006 für die Öffentlichkeit zugänglich und wurde in dieser Zeit von rund 50.000 Menschen besucht. Im März 2007 erfolgte unter Leitung der UNESCO und mit Unterstützung der deutschen Luftwaffe der Rücktransport der Gegenstände nach Kabul. Nach Angaben des Sprechers des Bubendorfer Museums handelte es sich um die größte Rückführung von Kunstgegenständen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Im Gegensatz dazu kam es vom 8. bis zum 12. April 2003, rund drei Wochen nach Beginn des Irakkrieges, zu schwerwiegenden Plünderungen des irakischen Nationalmuseums in Bagdad. Das Museum war erst drei Jahre zuvor am 28. April 2000, rund neun Jahre nach Schließung infolge des zweiten Golfkrieges, wieder eröffnet worden. Spätere Untersuchungen, die von einer US-amerikanischen Kommission in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Museums durchgeführt wurden, fanden Hinweise auf mindestens drei voneinander unabhängige Vorfälle. Die Plünderungen waren den Ergebnissen der Kommission zufolge zum Teil spontan und wahllos. Eine Reihe von Indizien deutete jedoch auch darauf hin, dass einige der Diebe über gute Kenntnisse des Museums sowie Fachwissen hinsichtlich der ausgestellten Kulturgüter verfügten. Obwohl besonders wertvolle Objekte im Vorfeld des Krieges in Sicherungsräumen im Keller des Museums verwahrt wurden, kam es auch hier zu erheblichen Verlusten. Die Kommission korrigierte anfängliche Schätzungen von rund 170.000 gestohlenen Kunstgegenständen auf 11.000 bis 15.000 entwendete Objekte. Bis zur Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse im Jahr 2005 konnten etwa 5.000 davon auf unterschiedlichem Wege wiedererlangt werden.
Zusammenfassend nimmt der Schutz von Kulturgut national und international zunehmend einen breiten Raum ein. Das betrifft auch das besonders sensible kulturelle Gedächtnis, die gewachsene kulturelle Vielfalt und die wirtschaftlichen Grundlagen (wie zum Beispiel des Tourismus) eines Staates, einer Region oder einer Kommune. Dabei besteht insbesondere ein Zusammenhang zwischen Kulturgutzerstörung, wirtschaftlichen Grundlagen und Fluchtursachen, wie der Präsident von Blue Shield International, Karl von Habsburg, bei einem Kulturgutschutz-Einsatz im April 2019 im Libanon mit der United Nations Interim Force in Lebanon erläuterte: „Kulturgüter sind ein Teil der Identität der Menschen, die an einem bestimmten Ort leben. Zerstört man ihre Kultur, so zerstört man damit auch ihre Identität. Viele Menschen werden entwurzelt, haben oft keine Perspektiven mehr und flüchten in der Folge aus ihrer Heimat.“
Einen besonderen Stellenwert zum Schutz der Kulturgüter nimmt aber die effektive Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung ein. Die Aufstellung von Regeln beziehungsweise der Schulung von Militärs, ziviler Verwaltung und internationalen Organisationen bedarf zu ihrer wirksamen Umsetzung besonders die Einbindung der einheimischen und mit den Örtlichkeiten vertrauten Bevölkerung. Karl von Habsburg hat das mit den Worten: „Without the local community and without the local participants, that would be completely impossible“ zusammengefasst.
Nationale Gesetzgebung
Die Umsetzung des Abkommens in Deutschland, Österreich und der Schweiz umfasst die durch die Konvention vorgegebenen Sicherungsmaßnahmen in Friedenszeiten. In der Praxis betrifft dies die Registrierung und Markierung von unbeweglichem Kulturgut, geeignete bauliche Maßnahmen zum Schutz von beweglichem Kulturgut einschließlich der Sicherungsarchivierung von Kulturgut von besonders hoher Bedeutung, die Verabschiedung nationaler Rechtsvorschriften zum Schutz von Kulturgut einschließlich der Strafbewehrung von schwerwiegenden Verstößen gegen die Bestimmungen des Abkommens sowie die Verbreitung der Konvention.
Deutschland
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Konvention mit Gesetz vom 11. April 1967 zugestimmt. Dieses Gesetz führen grundsätzlich die Länder im Auftrag des Bundes aus. Auch die Maßnahmen zum Schutz von Kulturgut richten sich nach diesem Gesetz ( Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz – ZSKG).
Für „die Verpackung, Dokumentation, Einlagerung und Aufbewahrung von Sicherungsmedien an einem zentralen Bergungsort“ ist nach der Gesetzesfassung vom 19. Juni 2020 das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) zuständig. Das BBK hat außerdem Hinweise für das Anbringen des Kennzeichens des Abkommens erarbeitet.
Das BBK fungiert als Nachfolgeorganisation des Bundesamts für Zivilschutz, dem diese Aufgaben mit dem Gesetz vom 11. April 1967 zunächst übertragen worden waren. Auf privatrechtlicher Ebene gibt es seit 1996 die Deutsche Gesellschaft für Kulturgutschutz, die aus dem Zusammenschluss von zwei 1993 entstandenen Vereinigungen hervorgegangen ist. Die Gründung eines Nationalen Komitees vom Blauen Schild in Deutschland ist in Vorbereitung.
Über die Anerkennung eines Kulturgutes als schützenswert, und damit die Berechtigung zum Anbringen des Schutzzeichens, wird eine Urkunde ausgestellt. Diese enthält Auszüge aus dem Text der Konvention in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache. Die nationale Rechtsgrundlage in Deutschland für eine Strafverfolgung von Verstößen gegen die Prinzipien der Haager Konvention von 1954 besteht in Abs. 1 Nr. 2 des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB). Danach wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft, wer mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen zivile Objekte richtet, die durch das humanitäre Völkerrecht besonders geschützt sind, namentlich geschichtliche Denkmäler. Die Kennzeichnung von Kulturgut mit dem einfachen Schutzzeichen der Konvention ist bisher nur in den Ländern Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz sowie, auf Grund der Dritten Durchführungsbestimmung zum Denkmalpflegegesetz der DDR von 1975, in den ostdeutschen Bundesländern weit verbreitet. Die in letzterem Bereich häufig verwendete Kennzeichnung, eine kleine Emailtafel, auf der das Symbol der Haager Konvention in einem Kreis und einer weiteren Rahmung wiedergegeben ist, entspricht allerdings nicht mehr den vom BBK erlassenen Vorschriften für die Gestaltung und die technische Anbringung der Beschilderung.
Für die Archivierung von Reproduktionen von Kulturgut mit hoher national- oder kulturhistorischer Bedeutung existiert der Barbarastollen bei Oberried in der Nähe von Freiburg im Breisgau als „Zentraler Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland“. Seit dem 22. April 1978 unterliegt der Barbarastollen als bisher einziges Objekt in Deutschland dem Sonderschutz des Abkommens von 1954. Eine Reihe von bedeutenden Museen und andere Einrichtungen wie beispielsweise die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main sind mit dezentralen Bergungsräumen ausgestattet. In der DDR wurde ab dem Beginn der 1970er Jahre ein in den 1940er Jahren errichteter und nachträglich mit Laboren und Klimatisierung ausgestatteter Bunker in der Nähe von Potsdam als zentrales Archiv für Mikrofilmaufnahmen von wichtigen Kulturgütern genutzt, nachdem sich die für eine dezentrale Lagerung genutzten Räumlichkeiten als unzureichend hinsichtlich der Langzeitstabilität erwiesen hatten. Nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 sichtete man schrittweise die Bestände und überführte sie an die entsprechenden bundesdeutschen Behörden. Bisher wurden rund 32.000 Kilometer Mikrofilm (über eine Milliarde Aufnahmen) hergestellt und eingelagert. Darin enthalten sind 8,2 Millionen Meter (rund 244 Millionen Aufnahmen) aus dem Archiv der ehemaligen DDR.
Um Missbrauch des Schutzes zu verhindern, hat die Kultusministerkonferenz der Länder in ihrem Beschluss vom 26. Juni 1998 für jedes Bundesland die maximal zulässige Anzahl an unbeweglichen Kulturgütern, die unter Schutz der Haager Konvention gestellt werden können, festgelegt. Die Gesamtzahl für Deutschland liegt bei 10.480, Denkmäler der Vor- und Frühgeschichte sowie alle Museen, Bibliotheken und Archive dürfen zusätzlich gekennzeichnet werden.
Österreich
In Österreich wird der Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten als Teil des Denkmalschutzes angesehen und unterliegt der Gesetzgebung des Bundes. Die relevante Rechtsgrundlage ist das Denkmalschutzgesetz, insbesondere der Paragraf 13, der Maßnahmen gemäß der Haager Konvention beschreibt. Die Haager Konvention von 1954 sowie die beiden Protokolle sind durch die Veröffentlichung im Österreichischen Bundesgesetzblatt ein Teil des Österreichischen Rechts geworden. Eine Bestrafung von Verstößen gegen diese Abkommen ist auf der Basis des Artikels 9 des Bundes-Verfassungsgesetzes in Zusammenhang mit dem Artikel 64 des Strafgesetzbuches möglich.
Die wichtigsten für den Kulturgüterschutz in Österreich zuständigen Behörden sind das Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, die Abteilung für Zivilschutz, Krisen- und Katastrophenschutzmanagement des Bundesministeriums für Inneres sowie das dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur nachgeordnete Bundesdenkmalamt. Im November 1967 wurde ein Stollen im Salzbergwerk Altaussee zur Nutzung als Bergungsort unter Sonderschutz gestellt, die geplante Verwendung wurde jedoch wieder aufgegeben und der Sonderschutz am 12. September 2000 gelöscht. Stattdessen ist nun für die Sicherung von beweglichem Kulturgut in Österreich vorrangig die Einlagerung in dezentralen Schutzräumen vorgesehen.
Die 1980 gegründete Österreichische Gesellschaft für Kulturgüterschutz wirkt als Verein vor allem im Bereich der Aufklärung der Bevölkerung und der Förderung von Eigeninitiativen, teils in Kooperation mit dem Österreichischen Bundesheer. Seit 2014 ist Rudolf Striedinger, Militärkommandant von Niederösterreich, Präsident der Gesellschaft. Das 2008 gegründete Österreichische Nationalkomitee Blue Shield ging aus der Österreichischen Gesellschaft für Kulturgüterschutz hervor. Seit 2011 ist Ursula Stenzel, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2005 bis 2015 Bezirksvorsteherin im ersten Wiener Gemeindebezirk (Innere Stadt), der als Ensemble UNESCO-Weltkulturerbe ist, Präsidentin des Nationalkomitees.
Die Kulturgüterschutzliste des Bundesdenkmalamts wird seit 2009 geführt und umfasst mit Stand Februar 2019 insgesamt 135 Objekte (Einzelobjekte, Denkmalanlage, Ensembles).
Schweiz
Für Maßnahmen zum Schutz von Kulturgut gilt in der Schweiz eine gemeinsame Zuständigkeit des Bundes, der Kantone sowie der Gemeinden. Wichtige Behörden, die zusammenfassend als „Kulturgüterschutz“ (KGS) bezeichnet werden, sind das Schweizerische Komitee für Kulturgüterschutz des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, der Fachbereich Kulturgüterschutz im Bundesamt für Bevölkerungsschutz, die kantonalen Fachstellen für Kulturgüterschutz, Denkmalpflege beziehungsweise Bevölkerungsschutz sowie auf regionaler Ebene und in den Gemeinden die KGS-Gruppen der Zivilschutz-Organisationen. Die im Jahr 1964 gegründete Schweizerische Gesellschaft für Kulturgüterschutz arbeitet als private Vereinigung mit diesen Behörden unterstützend zusammen. In der Schweiz besteht noch kein nationales Komitee vom Blauen Schild, soll jedoch in naher Zukunft gegründet werden.
Rechtsgrundlagen sind
das Bundesgesetz über den Schutz der Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten, bei Katastrophen und in Notlagen vom 20. Juni 2014
die Verordnung über den Schutz der Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten, bei Katastrophen und in Notlagen vom 29. Oktober 2014
die Verordnung des VBS über Sicherstellungsdokumentationen und fotografische Sicherheitskopien vom 5. April 2016
die Verordnung des VBS über die Kennzeichnung von Kulturgütern und von für den Kulturgüterschutz zuständigem Personal vom 14. November 2017, sowie
das Bundesgesetz über den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz vom 4. Oktober 2002.
Eine mögliche Strafverfolgung von Verstößen gegen die Haager Konvention von 1954 basiert in der Schweiz auf dem Artikel 111 des Militärstrafgesetzes von 1927 in der Fassung von 2007. Zur Verwahrung von Sicherstellungsdokumentationen und Sicherheitskopien von besonders erhaltenswerten Kulturgütern besteht seit 1979 das Eidgenössische Mikrofilmarchiv auf dem Gelände des ehemaligen Sandsteinbruchs Ried in Heimiswil im Kanton Bern als zentraler Bergungsort des Bundes.
Literatur
Deutschsprachige Bücher
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.): Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. 7. Auflage. Bundesamt für Zivilschutz, Bonn 2007 (PDF).
Sabina Eichel: Kulturgüterschutz im bewaffneten Konflikt (= Studien zum Völker- und Europarecht. Band 157). Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2017, ISBN 978-3-8300-9747-1 (zugleich Dissertation, Universität Passau, 2017).
Frank Fechner, Thomas Oppermann, Lyndel V. Prott (Hrsg.): Prinzipien des Kulturgüterschutzes. Ansätze im deutschen, europäischen und internationalen Recht (= Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht. Band 37). Duncker & Humblot, Berlin 1996, ISBN 3-428-08538-8.
Wilfried Fiedler, Stefan Turner: Bibliographie zum Recht des Internationalen Kulturgüterschutzes. Walter de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-89949-037-1.
Erich Frank, Wolfgang Teschner: Haager Konvention – Kurzkommentar zum Zweiten Protokoll sowie wichtige Annexvorschriften. Verlag Österreich, Wien 2003, ISBN 978-3-7046-4054-3.
Kerstin Odendahl: Kulturgüterschutz. Entwicklung, Struktur und Dogmatik eines ebenenübergreifenden Normensystems (= Jus publicum. Band 140). Mohr Siebeck, Tübingen 2005, ISBN 3-16-148643-9 (zugleich Habilitation, Universität Trier, 2004).
Englischsprachige Bücher
Kevin Chamberlain: War and Cultural Heritage. An Analysis of the 1954 Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict and its two Protocols. Institute of Art and Law, Leicester 2004, ISBN 1-903987-05-9.
Howard M. Hensel: The Protection of Cultural Objects during Armed Conflict. In: Howard M. Hensel (Hrsg.): The Law of Armed Conflict. Constraints on the Contemporary Use of Military Force. Ashgate, Aldershot u. a. 2005, ISBN 0-7546-4543-6, S. 39–104.
Roger O'Keefe: The Protection of Cultural Property in Armed Conflict. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2006, ISBN 0-521-86797-5 (zugleich Dissertationsschrift an der University of Cambridge, Cambridge 1999).
Jiří Toman: The Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict. Commentary on the Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict and its Protocol, Signed on 14 May 1954 in The Hague, and on Other Instruments of International Law Concerning Such Protection. UNESCO/Dartmouth Publishing Company, Aldershot u. a. 1996, ISBN 92-3-102862-6.
Weblinks
Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict with Regulations for the Execution of the Convention 1954. In: Website der UNESCO (englisch)
Haager Abkommen vom 14. Mai 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. In: Admin.ch (deutscher Text, Schweizerische Fassung)
Zweites Protokoll vom 26. März 1999 zum Haager Abkommen von 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. In: Admin.ch (deutscher Text, Schweizerische Fassung)
Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954. In: Website des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Kulturgutschutz. Zerstörung von Kulturstätten. Website der Deutschen UNESCO-Kommission
Helmut Strebel: Die Haager Konvention zum Schutze der Kulturgüter im Falle eines bewaffneten Konfliktes vom 14. Mai 1954 ZaöRV 1955/56, S. 35–75.
Maximilian Gröber: Von militärischer Notwendigkeit zu individueller Verantwortlichkeit – Der Fall „Al Mahdi“ als Zäsur in der strafrechtlichen Ahndung von Kulturgutzerstörung auf internationaler Ebene. In: historia.scribere, Nr. 12, 2020, S. 83–103, .
Anmerkungen
Einzelnachweise
Völkerrechtlicher Vertrag
Kriegsvölkerrecht
UN-Konvention
Internationales Abkommen (Humanitäres Völkerrecht)
Geschichte (Den Haag)
Kulturgüter
Kultur (Militär)
Vertrag (20. Jahrhundert)
Politik 1954 |
370397 | https://de.wikipedia.org/wiki/Radiojodtherapie | Radiojodtherapie | Die Radiojodtherapie (RJT, auch Radioiodtherapie, RIT) ist ein nuklearmedizinisches Therapieverfahren zur Behandlung der Schilddrüsenautonomie, des Morbus Basedow, der Schilddrüsenvergrößerung und bestimmter Formen des Schilddrüsenkrebses. Eingesetzt wird das radioaktive Jod-Isotop Jod-131, das ein überwiegender Beta-Strahler mit einer Halbwertszeit von acht Tagen ist und im menschlichen Körper nur in Schilddrüsenzellen gespeichert wird.
Die Radiojodtherapie unterliegt in vielen Ländern besonderen gesetzlichen Voraussetzungen und kann in Deutschland nur stationär durchgeführt werden. Die Therapieform wird seit den 1940er Jahren angewendet und gilt als nebenwirkungsarm und auch in der langjährigen Verlaufsbeobachtung als sicher. In Deutschland existieren (Stand 2014) etwa 120 Therapieeinrichtungen, in denen etwa 50.000 Behandlungen jährlich durchgeführt werden.
Anwendungsgebiete und Alternativen
Die häufigsten Indikationen der Radiojodtherapie sind die autonomen Funktionsstörungen der Schilddrüse (autonomes Adenom, multifokale Autonomie, disseminierte Autonomie), die Basedow-Krankheit (Morbus Basedow) und diejenigen Formen des Schilddrüsenkrebses (Schilddrüsen-Karzinom), die Jod speichern: das papilläre und das follikuläre Schilddrüsenkarzinom. Auch eine Schilddrüsenvergrößerung (Struma) ohne Funktionsstörung wird zunehmend mittels Radiojodtherapie behandelt.
Schwangerschaft gilt als absolute Kontraindikation für die Radiojodtherapie bei gutartigen Schilddrüsenerkrankungen. Aus allgemeinen strahlenbiologischen Erwägungen wird empfohlen, bis zu 6 Monate nach der Radiojodtherapie eine Schwangerschaft zu vermeiden. Tritt in dieser Zeit doch eine Schwangerschaft ein, so ist dies kein ausreichender Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Es wird jedoch empfohlen, eine genetische Beratung in Anspruch zu nehmen. Für die Radiojodtherapie beim Schilddrüsenkrebs in der Schwangerschaft gilt, dass zwar die theoretische Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer genetischen Schädigung berechenbar ist, solche Schäden in der Realität aber bisher nicht aufgetreten sind.
Alternative Behandlungsverfahren für die Funktionsstörungen sind verschiedene Formen der Schilddrüsenoperation und bei autonomen Adenomen in bestimmten Fällen die Verödung mit Alkohol. Der Morbus Basedow kann in einem Teil der Fälle unter der medikamentösen Behandlung mit Thyreostatika vorübergehend oder dauerhaft in seiner Aktivität nachlassen (Remission), als endgültige („definitive“) Therapie kommt neben der Radiojodtherapie auch die Operation in Frage. Bei den Schilddrüsen-Karzinomen kann nur beim papillären Karzinom im Frühstadium pT1a nach der Operation auf die Radiojodtherapie verzichtet werden. Zur Behandlung der gutartigen Schilddrüsenvergrößerung werden medikamentöse Therapie, Operation und Radiojodtherapie eingesetzt.
Bei der Wahl zwischen Operation und Radiojodtherapie sprechen folgende Argumente für die nichtoperative Methode: Wenn die Schilddrüse früher bereits operiert wurde oder bereits eine (einseitige) Lähmung des Stimmbandnervs (Rekurrensparese) vorliegt, bei Patienten in höherem Lebensalter oder mit schweren Begleiterkrankungen, wenn die Schilddrüse relativ klein ist oder der Patient unter Operationsangst leidet. Jugendliches Alter gilt nicht mehr als Kontraindikation. Folgende Argumente sprechen hingegen für die Operation: Verdacht auf Bösartigkeit (Malignität), durch Jod verursachte Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose), Schwangerschaft und Stillzeit, floride Augenbeteiligung bei Morbus Basedow (endokrine Orbitopathie), Zeichen einer Einengung (Kompression) der Nachbarstrukturen (Luftröhre: Stridor, Speiseröhre: ausgeprägte Schluckstörung, Halsgefäße: obere Einflussstauung), Strahlenangst oder größere kalte Gebiete der Schilddrüse.
Veterinärmedizin
In der Tiermedizin gilt die Radiojodtherapie bei der Schilddrüsenüberfunktion der Katzen als Therapiemethode der Wahl, wird aber wegen der erforderlichen technischen Voraussetzungen und der Strahlenschutz-Anforderungen nur in geringem Ausmaß durchgeführt.
Gesetzliche Voraussetzungen
In den meisten Ländern unterliegt die Durchführung der Radiojodtherapie bestimmten gesetzlichen und quasi-gesetzlichen Regelungen. In vielen Ländern kann die Radiojodtherapie ambulant (das heißt ohne stationären Krankenhausaufenthalt) durchgeführt werden.
In Deutschland regeln die Strahlenschutzverordnung und die vom Länderausschuss für Atomkernenergie herausgegebene Richtlinie „Strahlenschutz in der Medizin“ die Durchführung der Radiojodtherapie. Sie legen fest, dass die Therapie nur auf einer nuklearmedizinischen Therapiestation durchgeführt werden darf. Der durchführende Arzt muss eine entsprechende Umgangsgenehmigung haben, deren Erteilung unter anderem an die „Fach- und Sachkunde auf dem Gebiet der Anwendung radioaktiver Stoffe in der Diagnostik und Therapie“ geknüpft ist. Die Anwesenheit eines Medizinphysikexperten ist notwendig. Den Erfordernissen des Strahlenschutzes ist in Bezug auf bauliche und personelle Aspekte Rechnung zu tragen. Insbesondere muss eine geeignete Abklinganlage für radioaktiv kontaminierte Abwässer vorhanden sein. Das betreuende Personal muss regelmäßig im Strahlenschutz unterwiesen werden.
Ambulante Therapien sind in Österreich möglich. Die Grenzaktivitäten sind gesetzlich festgelegt. Auch in Österreich ist die Anwesenheit eines Medizinphysikers vorgeschrieben.
In der Schweiz dürfen Radiojodtherapien mit einer applizierten Aktivität bis 200 MBq ambulant durchgeführt werden.
In den USA dürfen Radiojodtherapien bis zu einer Aktivität von 1110 MBq ambulant durchgeführt werden. Die Mehrzahl der Therapien bei gutartigen Schilddrüsenerkrankungen kann damit ambulant vorgenommen werden.
Therapieprinzip und physikalische Grundlagen
Das verwendete radioaktive Jod-Isotop Jod-131 steht als Natriumjodid in Kapselform und in wässriger Lösung zur Verfügung. Es wird in der Regel peroral verabreicht, kann in Ausnahmefällen (zum Beispiel bei ausgeprägten Schluckstörungen) auch intravenös appliziert werden. Bei peroraler Aufnahme wird das Jod rasch über die Magenschleimhaut aufgenommen und an das Blut abgegeben (Resorption). Über den Natrium-Jodid-Symporter gelangt das Jod in die Schilddrüsenzelle und wird letztlich im Schilddrüsenfollikel gespeichert. Unter der Wirkung von TSH oder TSH-Rezeptor-Autoantikörpern ist die Aufnahme von Jod in die Schilddrüsenzellen erhöht. Autonome Anteile der Schilddrüse nehmen Jod unabhängig vom TSH auf.
Die besondere Eleganz der Radiojodtherapie liegt darin, dass nur Schilddrüsenzellen Jod – und damit auch Radiojod – aufnehmen, andere Organe speichern kein Jod. Das nicht in der Schilddrüse gespeicherte Jod wird innerhalb kurzer Zeit über die Nieren und damit über den Urin aus dem Körper eliminiert. Geringe Mengen werden von den Schweißdrüsen und über den Darm ausgeschieden. In geringem Maße wird Jod zwar von den Speicheldrüsen und der Magenschleimhaut ausgeschieden, über den Magen-Darm-Trakt aber wieder aufgenommen. Wegen dieser besonderen Eigenschaften des Jod-Stoffwechsels ist es möglich, eine sehr große Strahlendosis im Zielgewebe (Herddosis) zu erreichen, während die übrigen Gewebe nur eine geringe Strahlenexposition haben.
Jod-131 ist ein in Kernreaktoren hergestelltes Nuklid und hat eine Halbwertszeit von 8,02 Tagen. Bei seinem Zerfall zu stabilem Xenon wird ein Beta-Teilchen frei – mit der maximalen Energie von 0,61 MeV und einer mittleren Reichweite in Gewebe von 0,5 mm. Diese Strahlung ist für die therapeutische Wirkung verantwortlich. Darüber hinaus wird auch Gammastrahlung mit dem Hauptpeak bei 364 keV frei, die die Schilddrüse verlassen kann und daher einerseits für die unerwünschte Strahlenexposition des Patienten und der Umgebung verantwortlich ist, andererseits aber auch für die Bildgebung und den Radiojodtest verwendet werden kann.
Die Betastrahlen bewirken in der Umgebung der Schilddrüsenzellen Schäden in der DNA, insbesondere Doppelstrangbrüche, die letztlich zur Einleitung des programmierten Zelltods (Apoptose) führen (→ Wirkungsmechanismus der Strahlentherapie).
Die Radiojodtherapie bei gutartigen Schilddrüsenerkrankungen
Vorbereitung
Jodkarenz
Um eine optimale Aufnahme des Jods in die Schilddrüse zu erreichen, sollen vor dem Radiojodtest und der Therapie mit radioaktivem Jod zusätzliche Jodquellen gemieden werden (Jodkarenz). Solche Jodquellen sind insbesondere jodhaltige Kontrastmittel, das Antiarrhythmikum Amiodaron und bestimmte jodhaltige Desinfektionsmittel. Bei wasserlöslichen Kontrastmitteln reicht eine Karenzzeit von 6 Wochen. Nach der Anwendung fettlöslicher Kontrastmitteln oder des ebenfalls fettlöslichen Amiodaron kann die Schilddrüse für viele Monate blockiert sein.
Jod in nennenswerten Mengen ist in vielen Multivitaminpräparaten und Nahrungsergänzungsmitteln enthalten, sowie in Seefisch, Meeresfrüchten und bestimmten Produkten aus Algen. Diese Jodquellen sollen für etwa eine Woche vor Jodtest und Therapie vermieden werden. Die Einnahme von Jod aus jodiertem Speisesalz und von mit diesem zubereiteten, industriell gefertigten Lebensmitteln ist praktisch nicht vollständig zu vermeiden.
Stoffwechseleinstellung
Die Radiojodtherapie soll möglichst nicht bei manifest hyperthyreoter Stoffwechsellage durchgeführt werden, da die Überfunktion durch Freisetzung der Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) verstärkt werden kann. Daher sollen mit der niedrigsten möglichen Dosis von Thyreostatika in den Wochen vor der Radiojodtherapie normale Werte für T4 und T3 eingestellt werden. Allerdings vermindern Thyreostatika die Jodaufnahme in die Schilddrüse, so dass empfohlen wird, diese wenigstens ein bis zwei Tage vor der Radiojodtherapie abzusetzen.
Bei der Schilddrüsenautonomie sollte der TSH-Wert zum Zeitpunkt der Radiojodtherapie möglichst supprimiert sein, um über den thyreotropen Regelkreis die Jodaufnahme in nicht-autonome Anteile der Schilddrüse zu minimieren. Gegebenenfalls müssen hierfür in der Vorbereitungsphase Schilddrüsenhormone gegeben werden. Bei der euthyreoten Struma wird die Therapie in der Regel ohne begleitende Schilddrüsen-gerichtete Medikamente durchgeführt.
Ermittlung der geeigneten Therapie-Aktivität
Die deutsche Richtlinie „Strahlenschutz in der Medizin“ schreibt vor: „Bei der Planung einer nuklearmedizinischen Behandlung ist die Dosis für die zu behandelnden Organe oder Gewebe […] im voraus zu ermitteln und die danach zu verabreichende Aktivität zu bemessen. Soweit patientenspezifische Parameter benötigt werden, sind hierfür individuelle Messungen und Daten heranzuziehen.“
Bei der Ermittlung der zur Therapie notwendigen Aktivität ist in Deutschland und in Österreich neben dem Nuklearmediziner auch ein Medizinphysiker hinzuzuziehen. In die Berechnung gehen die Zieldosis, das Zielvolumen und das Integral der Aktivität in der Schilddrüse über die Zeit ein.
Das Zielvolumen der Radiojodtherapie und die im Zielvolumen angestrebte Energiedosis richten sich nach der zu behandelnden Erkrankung. Beim Morbus Basedow, bei der Schilddrüsenvergrößerung ohne Autonomie und bei der disseminierten Autonomie wird das sonografisch bestimmte Gesamtvolumen der Schilddrüse als Zielvolumen angenommen, bei der unifokalen und multifokalen Autonomie nur das Volumen der Adenome. Die angestrebten Zieldosen laut Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin zur Radiojodtherapie bei benignen Schilddrüsenerkrankungen sind in folgender Tabelle angegeben.
Das Aktivitäts-Zeit-Integral kann mit dem Radiojodtest ermittelt werden. Hierzu wird eine geringe Menge Radiojod verabreicht (meist peroral): etwa 1 bis 5 MBq Jod-131 oder – seltener – 5 bis 10 MBq Jod-123. Zu bestimmten Zeitpunkten wird die Aktivität über der Schilddrüse gemessen und ins Verhältnis zur Ausgangsaktivität und ihrem natürlichen Zerfall gesetzt. Zu bestimmen sind die maximale Aufnahme (uptake) in Prozent und die effektive Halbwertszeit in Tagen. Je mehr Messpunkte vorliegen, desto genauer kann die Fläche unter der Kurve bestimmt werden. Aus Gründen der praktischen (ambulanten) Durchführbarkeit wird meist nur nach 24 und 48 Stunden gemessen, unter Umständen auch nur nach 24 Stunden. Beim Morbus Basedow wird wegen des beschleunigten Jodumsatzes eine erste Messung bereits nach vier bis acht Stunden gefordert. Zur genauen Bestimmung der effektiven Halbwertszeit wird eine weitere Messung nach vier bis acht Tagen notwendig. Wegen nur geringer Unterschiede der effektiven Halbwertszeit zwischen den einzelnen Patienten mit gleicher Erkrankung und gleicher Stoffwechsellage kann die effektive Halbwertszeit auch als empirisch ermittelter Wert angenommen werden (siehe Tabelle).
Die anzuwendende Therapie-Aktivität kann dann nach der Marinelli-Formel (nach Leonidas D. Marinelli, 1906–1974, Argonne National Laboratory) berechnet werden.
Hierbei ist A die zu errechnende Aktivität, HD die angestrebte Herddosis, V das bestimmte Zielvolumen, K eine empirisch ermittelte Konstante von 24,7, Umax der maximale uptake und t0,5 eff die effektive Halbwertszeit.
Cortison-Vorbehandlung bei endokriner Orbitopathie
Eine endokrine Orbitopathie (eO) bei Morbus Basedow kann sich unter der Radiojodtherapie verschlechtern oder erstmals auftreten. Bei vorbestehender eO wird daher ab dem Tag der Radiojodtherapie oder dem Tag zuvor eine Behandlung mit Glucocorticoiden (Cortison) empfohlen, die Dosierung richtet sich nach dem Schweregrad der Augenerkrankung. Beim Morbus Basedow ohne endokrine Orbitopathie ist die prophylaktische Gabe von Glucocorticoiden umstritten. Die möglichen Nebenwirkungen und Kontraindikationen der Cortison-Therapie (Diabetes mellitus, Magengeschwüre und Elektrolytstörungen) sind zu beachten.
Aufklärung
Vor Beginn von Radiojodtest und Radiojodtherapie erfolgt eine Aufklärung. In dieser wird der Patient auf den Ablauf von Test und Therapie sowie Risiken und Nebenwirkungen der Radiojodtherapie hingewiesen. In den Ländern, in denen die Radiojodtherapie nur stationär durchgeführt werden kann, ist insbesondere Gegenstand des Aufklärungsgespräches, dass nach Gabe der Therapieaktivität der Patient die Therapiestation nicht verlassen darf. Der Patient wird außerdem darauf hingewiesen, dass regelmäßige Nachuntersuchungen medizinisch geboten und gesetzlich vorgeschrieben sind (siehe Abschnitt Nachsorge).
Durchführung
Nach der meist peroralen – in Ausnahmefällen intravenösen – Gabe des Jod-131 muss in Deutschland der Patient mindestens 48 Stunden auf der Therapiestation verbleiben. Es wird empfohlen, etwa eine Stunde nach peroraler Einnahme nüchtern zu bleiben, bis das Radiojod weitgehend resorbiert ist.
Üblicherweise erfolgen dann regelmäßige Messungen der Strahlung, diese lassen Rückschlüsse auf die im gesamten Körper des Patienten beziehungsweise in der Schilddrüse verbliebene Aktivität zu. Erstere ist wichtig für den Zeitpunkt der Entlassung nach der Therapie, letztere für den Maximalwert und den zeitlichen Verlauf zur Kontrolle des Therapieerfolges. Es lassen sich nämlich der tatsächlich erreichte maximale Uptake (Umax) und die tatsächlich erzielte effektive Halbwertszeit (t0,5 eff) ermitteln und durch Umstellung der Marinelli-Formel (siehe oben) die tatsächlich erzielte Herddosis (HD) bestimmen. Das Zielvolumen V und die empirisch ermittelte Konstante K sind unverändert.
Sollte die Herddosis vom geplanten Wert wesentlich nach oben abweichen, so ist mit höherer Wahrscheinlichkeit mit der Entwicklung einer Schilddrüsen-Unterfunktion nach der Therapie zu rechnen und die Nachsorge entsprechend zu planen.
Sollte die Herddosis dagegen wesentlich nach unten abweichen, kann noch während des stationären Therapie-Aufenthaltes eine zusätzliche Gabe von Radiojod erfolgen, um die erwünschte Zieldosis noch zu erreichen und den Therapieerfolg zu sichern. Dabei ist zu beachten, dass aufgrund der Frühwirkung der Radiojodtherapie („stunning“) der Uptake der zweiten Dosis regelmäßig niedriger liegt als der der ersten.
Durch die Gabe geringer Mengen nicht-radioaktiven Jods oder von Lithium nach der Gabe des Radiojods lässt sich das Verbleiben des Radiojods in der Schilddrüse und damit die effektive Halbwertszeit t0,5 eff verlängern und eine um bis zu 30 % höhere Herddosis erzielen. Hierbei sind insbesondere beim Lithium Risiken und Nebenwirkungen sowie die geringe therapeutische Breite zu beachten.
Risiken und Nebenwirkungen
Strahlenexposition
Aufgrund der biologischen Eigenschaften von Jod und der physikalischen Eigenschaften von Jod-131 verursacht die Radiojodtherapie nur eine geringe Strahlenexposition der Organe, die kein Radiojod aufnehmen. Die Strahlenexposition ist in den der Schilddrüse benachbarten Strukturen wie dem Kehlkopf oder den Nebenschilddrüsen gering – bedingt durch die geringe Reichweite der Betastrahlung aus der Schilddrüse. Einige Gewebe, die den Natrium-Jodid-Symporter exprimieren, darunter die Speicheldrüsen, Magen und die weibliche Brust, reichern vorübergehend Jod an. Nieren, Harnblase und Darm sind an der Ausscheidung des Anteils Radiojod, der nicht in der Schilddrüse gespeichert wird, beteiligt. In allen diesen Geweben liegt ein geringes Aktivitäts-Zeit-Integral vor, die Strahlenexposition ist entsprechend gering. Sie wird bei einem Uptake des Radiojods in die Schilddrüse von 25 % für die Magenwand mit 0,46 mGy/MBq angegeben, für die Ovarien mit 0,04 mGy/MBq, das rote Knochenmark 0,07 mGy/MBq, die Leber 0,035 mGy/MBq und die Hoden mit 0,028 mGy/MBq. Im Zielgewebe Schilddrüse liegt dagegen die (erwünschte) Strahlendosis um vier bis fünf Zehnerpotenzen höher: bei einem Uptake von 25 % bei 350 mGy/MBq.
Die Kohortenstudien von Hall 1992 mit über 45.000 Patienten und Ron 1998 mit über 35.000 Patienten haben keine erhöhte Krebsmortalität der mit radioaktivem Jod behandelten Patienten festgestellt. Die American Thyroid Association (amerikanische Schilddrüsengesellschaft) weist auf eine mögliche, minimal erhöhte Inzidenz von Schilddrüsen-Karzinomen nach einer Behandlung hin.
Akute Nebenwirkungen
Nur in wenigen Fällen kommt es zu akuten Nebenwirkungen, diese sind meist harmlos. Am häufigsten ist die Radiothyreoiditis, eine schmerzhafte Entzündungsreaktion der Schilddrüse bedingt durch die akute Strahlenwirkung, die etwa drei bis fünf Tage nach Einnahme des Radiojods auftreten kann. Durch Kühlung und entzündungshemmende Medikamente wie nichtsteroidale Antirheumatika oder Glucocorticoide lassen sich die Beschwerden, die innerhalb weniger Tage abklingen, meistens gut lindern. Eine die Entzündung der Schilddrüse begleitende Schwellung kann lediglich bei vorbestehender Verengung der Luftröhre (Trachealstenose) zu ernsthaften Problemen wie Atemnot führen, so dass in diesen Fällen eine vorbeugende entzündungshemmende Behandlung empfohlen wird.
Entzündliche Schwellungen der Speicheldrüsen kommen meist nur bei höheren Therapie-Aktivitäten vor.
Bei vorbestehender Schilddrüsenüberfunktion kann sich diese etwa sieben bis zehn Tage nach Beginn der Behandlung verschlechtern, bedingt durch den beginnenden Zellzerfall und die damit verbundene Freisetzung von Hormonen, die in der Schilddrüse gespeichert waren. Diese Komplikation kann durch eine gute Einstellung einer normalen Stoffwechsellage vor der Behandlung vermieden werden.
Eine seltene Nebenwirkung nach einer Radiojodtherapie wegen einer Schilddrüsenautonomie (zum Beispiel Autonomes Adenom) ist das zusätzliche Auftreten einer immunogenen Hyperthyreose wenige Wochen später. Dieses Phänomen wird Marine-Lenhart-Syndrom genannt und limitiert sich meistens selbst. Die Häufigkeit wird mit 0,5 bis 1 % angegeben. In einem Teil der Fälle muss aber wegen der neu aufgetretenen Schilddrüsenüberfunktion eine zweite Radiojodtherapie durchgeführt werden.
Entlassung nach der Therapie
In Deutschland beträgt die Mindest-Aufenthaltsdauer auf der Therapiestation 48 Stunden. Die Entlassung hängt von der im Körper verbliebenen Restaktivität ab. 1999 wurde der Grenzwert für die Restaktivität erhöht: die Dosisleistung darf in 2 Meter Abstand vom Patienten 3,5 µSv pro Stunde nicht überschreiten, wodurch innerhalb eines Jahres bei einem Abstand von 2 Metern eine Strahlenexposition von 1 mSv nicht überschritten wird. Dies entspricht einer Restaktivität von etwa 250 MBq. Ähnliche Regelungen gelten für Österreich.
In der Schweiz darf für „andere Personen“ eine Strahlenexposition von maximal 1 mSv pro Jahr und für die Angehörigen des Patienten („nicht beruflich pflegende Personen“) maximal 5 mSv pro Jahr nicht überschritten werden. Bei Entlassung nach Radiojodtherapie ist daher eine Dosisleistung in 1 Meter Abstand von höchstens 5 µSv pro Stunde zulässig, was einer Restaktivität von etwa 150 MBq entspricht.
In Deutschland beträgt die mittlere Verweildauer noch etwa drei bis fünf Tage und hängt im Wesentlichen vom Zielvolumen ab. Bei sehr großen Strumen kann die Aufenthaltsdauer auch zehn Tage erreichen.
Bei Entlassung wird der Patient auf eventuell noch zu beachtende Strahlenschutzmaßnahmen hingewiesen. Diese betreffen insbesondere den Umgang mit kleinen Kindern und Schwangeren. Auf mögliche Probleme mit Radioaktivitätsmessungen – an Flughäfen, Kernkraftwerken, Abfallbeseitigung – ist der Patient hinzuweisen, gegebenenfalls wird dem Patienten eine entsprechende Bescheinigung mitgegeben.
In besonderen Fällen – zum Beispiel eine akute Erkrankung des Patienten, die eine Untersuchung und Behandlung des Patienten außerhalb der Therapiestation notwendig machen – ist in Deutschland eine vorzeitige Entlassung möglich. Diese muss bis zu einer Dosisleistung von 17,5 µSv/h der Aufsichtsbehörde angezeigt werden, ab 17,5 µSv/h muss eine Genehmigung eingeholt werden. Bei Verlegung des Patienten auf eine andere Station muss der zuständige Strahlenschutzbeauftragte dafür sorgen, dass dort geeignete Maßnahmen zum Strahlenschutz ergriffen werden, zum Beispiel vorübergehend ein Kontrollbereich eingerichtet wird.
Nachsorge und Erfolge
In Deutschland ist der Arzt, der die Radiojodtherapie durchgeführt hat, auch für die Nachbetreuung verantwortlich. Es hat der für die Durchführung der Behandlung verantwortliche, fachkundige Arzt die Wirkung und die Nebenwirkungen der nuklearmedizinischen Behandlung durch geeignete, in angemessenen Zeitabständen erfolgende, Nachuntersuchungen zu erfassen und zu dokumentieren; ggf. hat er eine Behandlung einzuleiten. Der Nuklearmediziner kann Teile der Nachsorge an einen fachlich geeigneten Arzt übergeben, der diesem die Ergebnisse der Nachsorge mitzuteilen hat. Das enthebt den Nuklearmediziner aber nicht von seiner Verantwortung für die Nachsorge.
Je nach behandelter Erkrankung der Schilddrüse und Stoffwechsellage beziehungsweise medikamentöser Vorbehandlung werden die ersten Kontrollen der Schilddrüsen-Laborwerte nach vier bis sechs Wochen durchgeführt, beim Morbus Basedow gegebenenfalls auch eher, um die Entwicklung einer Schilddrüsenunterfunktion rechtzeitig zu erkennen. Insbesondere bei vorbestehender endokriner Orbitopathie kann eine Unterfunktion ungünstige Auswirkungen haben und muss daher frühzeitig behandelt werden.
In den meisten Fällen tritt die vollständige Wirkung der Radiojodtherapie in den ersten drei bis sechs Monaten ein, so dass nach diesem Zeitraum eine abschließende Untersuchung zur Beurteilung des Therapieeffektes und -erfolges ansteht. Diese umfasst üblicherweise neben der Bestimmung der Schilddrüsenhormone auch ein Schilddrüsen-Sonogramm und ein -Szintigramm. Da in einem Teil der Fälle auch nach sechs Monaten noch eine gewisse Spätwirkung der Radiojodtherapie zu erwarten ist, soll die Indikation zu einer Wiederholung der Behandlung nicht zu früh gestellt werden.
Für die verschiedenen Indikationen zur Radiojodtherapie gelten unterschiedliche Therapieziele und Erfolgsquoten. Für die Autonomie der Schilddrüse ist das Ziel die Ausschaltung der autonomen Anteile der Schilddrüse. Es wird bei einer angestrebten Herddosis von 300 bis 400 Gy eine Erfolgsquote von über 90 % angegeben. Etwa 10 % der Patienten müssen wegen einer Schilddrüsenunterfunktion nach der Therapie dauerhaft mit Schilddrüsenhormonen behandelt werden („Substitution“). Bei der fokalen Autonomie kann mit einer Abnahme des Volumens der autonomen Gebiete um etwa 80 % gerechnet werden. Die Abnahme des Volumens der Gesamtschilddrüse liegt bei 20 bis 50 %.
Beim Morbus Basedow ist das Ziel die dauerhafte Beseitigung der Überfunktion. Beim ablativen Therapiekonzept mit angestrebter Herddosis von 200 bis 300 Gray liegt die Erfolgsquote bei über 90 %. Allerdings sind anschließend 80 bis 90 % der Patienten dauerhaft von einer Substitution mit Schilddrüsenhormonen abhängig. Beim sogenannten funktionsoptimierten Konzept mit einer angestrebten Herddosis von etwa 150 Gray liegt die Rate an behandlungsbedürftigen Unterfunktionen zwar nur bei 40 %, allerdings die Erfolgsquote auch nur bei etwa 70 %. Insbesondere bei schwierigen Verläufen mit medikamentös nur schwer einstellbarer Überfunktion, Augenbeteiligung (endokrine Orbitopathie) oder wiederholten Rückfällen ist diese niedrige Erfolgsquote nicht akzeptabel, so dass inzwischen überwiegend das ablative Therapiekonzept angewendet wird. Für das alternative Behandlungsverfahren zur Radiojodtherapie, die Strumaresektion, ist ebenfalls regelhaft mit einer behandlungsbedürftigen Unterfunktion zu rechnen.
Das Therapieziel bei der Struma ohne Überfunktion ist vor allem eine Verminderung der Schilddrüsengröße und die Beseitigung eventuell durch die Größe der Struma verursachter Beschwerden. Bei einem Ausgangsvolumen von 50 bis 100 ml ist mit einer Größenreduktion um etwa die Hälfte zu rechnen, bei sehr großer Struma mit einem Volumen von über 250 ml nur mit einer Reduktion um etwa 30 bis 40 %. In insgesamt über 80 % der Fälle wird eine Besserung der Beschwerden erreicht.
Die Radiojodtherapie bei bösartigen Schilddrüsenerkrankungen
Grundlagen
Die epithelialen Karzinome der Schilddrüse, nämlich die häufigsten Untertypen papilläres Karzinom (etwa 70 %) und follikuläres Karzinom (etwa 20 %), und ihre Absiedlungen (Metastasen) haben noch ausgeprägte Ähnlichkeiten mit ihrem Ursprungsgewebe. Zum einen exprimieren sie den Natrium-Jodid-Symporter und haben daher die Fähigkeit zur Jodspeicherung, zum anderen produzieren sie Thyreoglobulin, das daher als Tumormarker dienen kann. Schilddrüsenkarzinome werden nicht selten als kalte Knoten in einer Schilddrüsenszintigraphie auffällig, das heißt die Neigung zur Jodspeicherung ist geringer ausgeprägt als bei umgebendem gesundem Schilddrüsengewebe. Unter der Stimulation mit hohen Spiegeln von TSH besteht aber auch bei bösartigen (malignen) Schilddrüsenzellen eine Aufnahme von Jod.
Anwendung
Zu unterscheiden sind die Radiojodtherapie zur Entfernung (Ablation) eventuell vorhandener Reste gesunden Schilddrüsengewebes im Sinne einer unterstützenden und die Nachsorge vereinfachenden (adjuvanten) Therapie von der Behandlung eventuell vorhandener Tumorreste oder -absiedlungen (Metastasen) unter einem Anspruch auf Heilung (kurative Therapie) oder zumindest auf Lebensverlängerung und Linderung der Beschwerden (palliative Therapie).
Eine Indikation zur ablativen Radiojodtherapie besteht bei fast allen Fällen der epithelialen Schilddrüsenkarzinome. Lediglich beim papillären Mikrokarzinom (Größe kleiner als 1 cm, pT1 N0 M0) kann unter Umständen auf eine ablative Radiojodtherapie verzichtet werden.
Keine Indikation zur Radiojodtherapie besteht meist beim medullären und beim anaplastischen Schilddrüsenkarzinom, da diese Tumoren in der Regel kein Jod speichern. Schwangerschaft und Stillzeit gelten als absolute Kontraindikation.
Vorbereitung
Operation
Vor der Radiojodtherapie beim epithelialen Schilddrüsenkarzinom steht grundsätzlich die Schilddrüsenoperation, meist als Thyreoidektomie durchgeführt. Ein kleiner Rest von gutartigem Schilddrüsengewebe verbleibt dabei fast immer. Bei operationstechnisch schwierigen Verhältnissen – zum Beispiel bei sehr großer Struma oder voroperierten Patienten – kann dieser Rest auch größer ausfallen, was für die weitere Behandlung der Patienten und ihre Überlebensaussichten (Prognose) aber keinen Nachteil bedeutet. Daher wird nicht empfohlen, eine absolut vollständige Entfernung der Schilddrüse anzustreben, um eine Schädigung des hinter der Schilddrüse verlaufenden Nervus laryngeus recurrens zu vermeiden.
Wenn Tumorreste verblieben sind, bereits Absiedlungen (Metastasen) bestehen oder ein lokaler Rückfall (Rezidiv) vorliegt, soll zunächst operativ versucht werden, die Menge an bösartigem Gewebe so weit wie möglich zu reduzieren.
Jodkarenz
Mehr noch als bei der Radiojodtherapie gutartiger Schilddrüsenerkrankungen (siehe oben) muss in der Phase vor der Radiojodtherapie des Schilddrüsenkarzinoms darauf geachtet werden, dem Patienten kein zusätzliches Jod zukommen zu lassen.
Stimulation des Schilddrüsengewebes und Jodtest
Vor der ablativen Radiojodtherapie soll ein (verkürzter) Radiojodtest (siehe oben) von 24 Stunden Dauer durchgeführt werden. Bei einer hohen Aufnahme (Uptake) wird zur Vermeidung lokaler Komplikationen die Therapie mit verminderter Aktivität durchgeführt – und die Möglichkeit in Kauf genommen, dass später eine weitere Behandlung zur Ablation etwaiger Reste notwendig wird. Bei sehr hohem Uptake ist eine Zweitoperation zur Verminderung des Schilddrüsengewebes zu erwägen.
Um für die ablative Therapie den Uptake des Radiojods in den Schilddrüsenrest zu erhöhen, beziehungsweise für die kurative oder palliative Therapie überhaupt eine nennenswerte Aufnahme zu erreichen, müssen die verbliebenen Schilddrüsenzellen mit einem hohen Spiegel an TSH angeregt (stimuliert) werden. Der TSH-Wert soll über 30 mU/l liegen, normal sind (je nach Labor) etwa 0,4 bis 4 mU/l. Dieser hohe Wert wird üblicherweise dadurch erreicht, dass der Patient zunächst nach der Operation nicht mit Schilddrüsenhormonen behandelt wird (Substitution), wie es sonst nach einer vollständigen (Thyreoidektomie) oder weitgehenden Schilddrüsenentfernung (subtotale Strumaresektion) bei gutartigen Schilddrüsenerkrankungen üblich ist. Etwa drei bis vier Wochen nach der Operation befindet sich der Patient dann in einer tiefen Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). Häufig besteht durch die Unterfunktion Arbeitsunfähigkeit und die Patienten sind darauf hinzuweisen, dass sie in dieser Phase wegen der verminderten Reaktionsfähigkeit kein Kraftfahrzeug führen und keine gefährlichen Maschinen steuern dürfen.
Als Alternative zur Unterfunktion steht seit einigen Jahren gentechnisch hergestelltes, rekombinantes, humanes TSH (rhTSH) zur Verfügung, das intramuskulär gegeben werden kann und mit dem sich durch Injektionen an zwei aufeinander folgenden Tagen TSH-Spiegel am dritten und vierten Tag von meist deutlich über 30 mU/l erreichen lassen.
Als mögliche Vorteile der Anwendung von rhTSH gegenüber der Hypothyreose können gelten: besseres Allgemeinbefinden; erhaltene Arbeitsfähigkeit; Fehlen eines anhaltenden Wachstumsreizes auf eventuell noch vorhandene Krebszellen durch mehrwöchig erhöhtes TSH; niedrigere Konzentration des Jod-131 im Serum aufgrund normaler Nierenfunktion – in Hypothyreose ist die Nierenfunktion regelhaft vorübergehend eingeschränkt – und damit geringere Strahlenexposition. Die Erfolgsraten der ablativen Radiojodtherapie sind in Unterfunktion und mit rhTSH gleich hoch.
Als mögliche Nachteile sind zu erwähnen: deutlich verkürzte effektive Halbwertszeit; erhöhte Mengen an nicht-radioaktivem Jod im Körper des Patienten durch die fortgesetzte Gabe der (jodhaltigen) Schilddrüsenhormone; fehlender Nachweis einer Gleichwertigkeit bei der Behandlung von Metastasen; fehlende Möglichkeit, an eine Diagnostik mit Radiojod eine Therapie anzuschließen, da der TSH-Spiegel innerhalb von wenigen Tagen wieder abfällt; hohe Kosten.
Durchführung
Die Standardaktivität für die ablative Radiojodtherapie beträgt 3,7 GBq. (Dies entspricht in der veralteten Einheit Curie 100 mCi.) Wenn nach der Operation und vor der ersten (ablativen) Radiojodtherapie nennenswerte Reste von Schilddrüsengewebe verblieben sind, wird üblicherweise eine geringere Aktivität von 1,1 bis 1,85 GBq (entsprechend 30 bis 50 mCi) eingesetzt, um eine strahlenbedingte Entzündung benachbarter Gewebe zu vermeiden.
Wenn – auch nach Ausschöpfen der operativen Möglichkeiten – noch anzunehmen ist, dass bösartiges Gewebe im Körper des Patienten verblieben ist, also ein Resttumor, ein Lokalrezidiv oder Metastasen vorliegen, werden höhere Aktivitäten angewendet. Diese liegen meist im Bereich von 3,7 bis 11,1 GBq (100 bis 300 mCi), in Einzelfällen auch deutlich darüber.
Einige Tage nach der Therapie wird ein Ganzkörperszintigramm angefertigt. Die Therapie wird in etwa dreimonatigen Abständen wiederholt, bis weder das Szintigramm, das Ultraschallbild der Halsregion, noch der Tumormarker Thyreoglobulin einen Hinweis auf nennenswertes verbliebenes Schilddrüsengewebe (gutartig oder bösartig) geben. Eine Gesamt-Aktivität über alle durchgeführten Radiojodbehandlungen von bis zu 74 GBq (2000 mCi) wird bei sonst gesunden Patienten meist problemlos vertragen. Bei höherliegenden Aktivitäten ist mit einem erhöhten Risiko für eine dauerhafte Schädigung des Knochenmarks als blutbildendes Organ zu rechnen.
Bezüglich der Entlassung nach der Therapie gelten die gleichen Fristen und Grenzwerte, wie bei der Therapie gutartiger Schilddrüsenerkrankungen (siehe oben).
Risiken und Nebenwirkungen
Bei den unerwünschten Effekten der Radiojodtherapie sind die kurzfristig und akut auftretenden von den langfristig und chronisch auftretenden Nebenwirkungen zu unterscheiden und ihre jeweiligen Häufigkeiten und Tragweiten („Risiken“) zu beachten.
Im Vergleich zur Therapie gutartiger Schilddrüsenerkrankungen werden beim Schilddrüsen-Karzinom zum Teil wesentlich höhere Aktivitäten eingesetzt. Mit der erwünschten höheren Strahlendosis im Zielgewebe (Herddosis) sind damit auch höhere Strahlendosen in anderen Geweben verbunden.
Relativ häufig treten während der Therapie Appetitverlust, Veränderung der Geschmacksempfindung, Übelkeit und Speicheldrüsenreizung auf; selten finden sich Nackenschmerz oder -schwellung, Kopfschmerz oder vorübergehende Veränderungen des Blutbildes.
Schwerwiegende Langzeitauswirkungen sind selten und betreffen meist Speichel- und Tränendrüsen (vor allem verminderte Tränen- bzw. Speichelproduktion), Knochenmark (sehr selten bei Patienten >45 Jahren Knochenmarksdepression oder myeloische Leukämie), Lungen (sehr selten strahleninduzierte Lungenentzündung, besonders Verschlechterung bei vorbestehender Pneumonie, bzw. Neuauftreten bei diffusen Lungenmetastasen) und Ovarien (vorübergehend fehlender Eisprung, gering erhöhte Missbildungsrate bei Schwangerschaft innerhalb des ersten Jahres nach Therapie) bzw. Hoden (Azoospermie – selten dauerhaft). Der Nutzen der Radiojodtherapie übersteigt die Nebenwirkungsrate um das 4- bis 40-fache. Die zu erwartende Inzidenz von Zweitkarzinomen oder Leukämie ist dosisabhängig. Eine minimale Zunahme von Zweitkarzinomen fand sich in den Organen (Speicheldrüsen, Dickdarm und Blase), in denen sich während der Therapie vorübergehend auch Jod-131 in nennenswerter Menge ansammelt. In einer englischen Studie an 7417 Patienten zeigte sich eine statistisch signifikante Abnahme des Auftretens von Krebs der Luftwege (Bronchien und Luftröhre).
Die unerwünschten Wirkungen auf die Speicheldrüsen lassen sich vermindern, wenn der Patient während der Behandlung Kaugummi kaut oder saure Bonbons lutscht. Beides steigert den Speichelfluss, verkürzt die Verweildauer des radioaktiven Jods in den Speicheldrüsen und vermindert so die Strahlendosis in den Speicheldrüsen. Wenn eine strahlenbedingte Entzündungsreaktion der Speicheldrüsen (Sialadenitis) vorliegt, können die Beschwerden durch lokale Kühlung und die Einnahme von nichtsteroidalen Antirheumatika gemildert werden.
Nachsorge: Radiojoddiagnostik
Radioaktives Jod dient nicht nur zur Behandlung bei Schilddrüsenkrebs, sondern auch zur Nachsorge nach Schilddrüsenoperation und ablativer Radiojodtherapie.
Der Ablauf – mit Jodkarenz, Stimulation des TSH mit anschließender Bestimmung des Tumormarkers Thyreoglobulin und oraler Gabe des Jods sowie der Durchführung der Ganzkörperszintigrafie – entspricht dem Ablauf bei der ablativen Therapie. Unterschiedlich ist dagegen die Höhe der verabreichten Aktivität, üblich sind etwa 100 bis 400 MBq Jod-131 oder 40 bis 200 MBq Jod-123.
Eine Indikation zur Radiojoddiagnostik besteht in der Regel drei bis sechs Monate nach ablativer Radiojodtherapie zur Therapiekontrolle, bei einem Anstieg des Tumormarkers Thyreoglobulin oder einem sonstigen Verdacht (zum Beispiel aufgrund des klinischen Befundes oder bildgebender Verfahren) auf einen Rückfall der Krebserkrankung (Rezidiv). Ob und wann bei Patienten, die aufgrund ihres ursprünglichen Befundes als Hoch-Risiko-Patienten (high-risk) eingestuft wurden, eine Radiojoddiagnostik auch ohne konkreten Verdacht auf ein Rezidiv sinnvoll ist, ist Gegenstand der Wissenschaft. Es existieren hierzu weder Leitlinien noch evidenzbasierte Ergebnisse.
Der Nachweis von Restgewebe oder Metastasen im Rahmen der Radiojoddiagnostik führt in der Regel zu einer erneuten Radiojodtherapie.
Erfolge und Misserfolge
Die Heilungschancen sind bei den differenzierten Schilddrüsenkarzinomen im Allgemeinen überaus gut, insbesondere da diese einer Radiojodtherapie zugänglich sind. Für behandelte Patienten werden durchschnittliche 10-Jahres-Überlebensraten von über 90 % bei der papillären und etwa 80 % bei der follikulären Variante angegeben. Als Prognosefaktoren gelten Patientenalter sowie Größe, Ausbreitung und histologische Differenzierung des Tumors; Lymphknotenmetastasen scheinen die Prognose nicht wesentlich zu beeinflussen. Wegen des erhöhten Rezidivrisikos ist aber eine konsequente Nachsorge besonders wichtig.
Studien mit großen Patientenzahlen und über lange Beobachtungszeiträume zeigen, dass die Radiojodtherapie die Häufigkeit von örtlichen Rückfällen (Lokalrezidiven) und das Risiko am Schilddrüsenkarzinom zu sterben (Letalität) senkt, insbesondere bei der routinemäßigen Durchführung nach der Operation.
Die Ergebnisse der Radiojodtherapie bei Patienten, bei denen bereits Fernmetastasen vorliegen, sind uneinheitlich. Metastasen in Leber oder Lunge, die Jod speichern, sind gut behandelbar. Dagegen lassen sich selbst Knochenmetastasen, die gut Jod aufnehmen, kaum beeinflussen. Insgesamt wird die Radiojodtherapie bei Metastasen eingesetzt, wenn mittels Operation eine Heilung nicht mehr möglich ist. Es sollte aber vor der Radiojodtherapie versucht werden, die Gesamt-Tumormasse operativ zu reduzieren. Wenn eine (erneute) Operation möglicherweise mit erheblichen lokalen Schäden verbunden wäre, wird man sich in einzelnen Fällen bei sehr langsam wachsenden Tumoren gegen die OP mit anschließenden Radiojodtherapien entscheiden, sondern nur mit L-Thyroxin behandeln.
Schwierig ist die Situation, wenn die Metastasen im Verlauf der Behandlung ihre Fähigkeit verlieren, Jod zu speichern (Entdifferenzierung). Diese Metastasen werden in der Radiojoddiagnostik nicht erkannt und durch eine Radiojodtherapie nicht erreicht. Zur Diagnose wird die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) mit Fluordesoxyglucose (FDG) eingesetzt. Da auch Chemotherapie und Strahlentherapie keine Heilung ermöglichen, wird versucht mit Gaben von Isotretinoin eine Re-Differenzierung zu erreichen. Die anschließende Radiojodtherapie zeigt in etwa 20 bis 35 % der Fälle zumindest Teilerfolge.
Geschichte
Im Vorfeld des Einsatzes der Radiojodtherapie wurde beim Schilddrüsenkarzinom postoperativ eine Nachbestrahlung (mit Röntgenstrahlen) allgemein eingesetzt und als effektiv angesehen. Die Diagnose des Schilddrüsenkarzinoms bereitete jedoch noch Mitte des letzten Jahrhunderts große Probleme, sodass Begriffsüberschneidungen in der Literatur dieser Zeit wahrscheinlich sind.
1939 und 1940 veröffentlichte Joseph G. Hamilton Arbeiten über den Jodmetabolismus der Schilddrüse, wobei er radioaktives Jod bei gesunden Probanden und solchen mit Struma unterschiedlicher Pathogenese einsetzte. Bereits in den Vorjahren hatte er zur Wirkung von Radioaktivität auf den menschlichen Körper geforscht.
1942 veröffentlichten Saul Hertz vom Massachusetts General Hospital und der Physiker Arthur Roberts ihren Bericht über die erste Radiojodtherapie (1941) beim Morbus Basedow, damals noch überwiegend mit dem Isotop Jod-130 (Halbwertszeit 12,4 Stunden). Wenige Monate später – ebenfalls 1941 – führten Joseph Hamilton und John H. Lawrence die erste Therapie mit Jod-131 durch – dem Isotop, das auch heute noch verwendet wird. 1942 beschrieben A. S. Keston und Mitarbeiter in einer Falldarstellung die aus therapeutischen und diagnostischen Zwecken durchgeführte Anwendung radioaktiven Jods bei einer im Oberschenkelknochen sitzenden Metastase eines Schilddrüsenkarzinoms, das auf die damals übliche Therapie mit Röntgenstrahlen nicht angesprochen hatte. Eine andere Kasuistik aus dem Jahr 1942 zeigt, dass es sich dabei noch keineswegs um ein Routinevorgehen beim Schilddrüsenkarzinom handelte.
Samuel M. Seidlin (1895–1955, damals Leiter der endokrinologischen Abteilung des Montefiore Hospitals in New York City) setzte 1946 erstmals Jod-131 bei Schilddrüsenkrebs mit Metastasen ein.
Die erste Radiojodtherapie beim Schilddrüsenkarzinom in Europa wurde 1948 am Luisen-Hospital Aachen durch Cuno Winkler durchgeführt.
Literatur
F. Grünwald, C. Menzel. Radioiodtherapie. In: T. Kuwert, F. Grünwald, U. Haberkorn, T. Krause: Nuklearmedizin. Stuttgart / New York 2008, ISBN 978-3-13-118504-4.
Medizinische Leitlinien:
Weblinks
L.-A. Hotze:
Einzelnachweise
Therapeutisches Verfahren in der Endokrinologie
Therapeutisches Verfahren in Hämatologie und Onkologie
Therapeutisches Verfahren in der Nuklearmedizin
Schilddrüse
Therapeutisches Verfahren in der Tiermedizin
Iod |
414674 | https://de.wikipedia.org/wiki/Raufu%C3%9Fbussard | Raufußbussard | Der Raufußbussard (Buteo lagopus) ist ein Vertreter der Echten Bussarde (Gattung Buteo) aus der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). Die hochnordische Art ist fast zirkumpolar vertreten; sie fehlt nur auf Grönland, Island und Spitzbergen.
Meist werden vier Unterarten unterschieden, die nur geringfügige Abweichungen voneinander aufweisen. Generell werden die eurasischen Vögel nach Osten hin in der Gefiederfärbung etwas heller und nehmen an Größe zu; die nearktische Unterart B. l. sanctijohannis ist die kleinste und dunkelste.
Aussehen
Nominatform (Buteo lagopus lagopus)
Insgesamt ist der Raufußbussard etwas größer und langflügeliger als der Mäusebussard (Buteo buteo) und im Vergleich zu diesem in der Färbung viel weniger variabel. Die Oberseite ist in allen Kleidern mehr oder weniger einheitlich zimtbraun; ein Farbton, der bei Mäusebussarden sehr selten ist. Der Schwanz ist in allen Kleidern weiß mit einer nur im Jugendkleid diffusen, bei adulten Vögeln jedoch scharf abgesetzten schwarzen Endbinde, über der bei Männchen noch einige schmalere dunkle Binden liegen. Der Mäusebussard zeigt demgegenüber zwar gelegentlich einen weißen Schwanz, doch ist dann auch die übrige Oberseite des Körpers sehr hell. Der auffallend runde Kopf und der Nacken des Raufußbussards sind hellbraun bis hellgrau, in Einzelfällen fast weiß. Oberkopf und Ohrgegend sind dabei in der Regel noch etwas heller. Die dunklere Schaftzeichnung dieser Körperteile ist unterschiedlich deutlich, sie kann fast fehlen. Der Schnabel ist eher klein. Vom Augenrand zieht sich ein dunkles schmales Band zur gelben Schnabelbasis. Die Unterseite des Körpers ist in unterschiedlichen Braun- und Grautönen gefleckt, auch längliche schwarze Streifen können eingestreut sein. Der Bauch ist fast immer schwarz, Hals und Brustbereich sind deutlich heller.
Die Beine sind bis zu den Zehen befiedert, doch ist dieses sichere Merkmal meist nur aus geringer Distanz erkennbar. Die Federn an den Beinen sind hellgrau bis weiß mit dunkelbraunen Schaftzeichnungen. Wie beim Mäusebussard sind die Zehen gelb gefärbt; die Krallen sind schwarz. Die Flügelspitzen schließen beim sitzenden Vogel mit dem Schwanz ab.
Von unten gesehen wirkt ein fliegender Raufußbussard sehr hell, meist grauweiß mit im Gegensatz zum Mäusebussard schwarz kontrastierendem Flügelbug und schwarzer Schwanzendbinde. Raufußbussarde fliegen mit langsamen, tief durchgezogenen Flügelschlägen und segeln oft. Im Vergleich zum Mäusebussard rütteln Raufußbussarde viel häufiger und geschickter und auch bei geringer Windstärke. Beim Rüttelflug variiert der Raufußbussard ständig die Flughöhe, dieser „Jo-Jo“-Flug erlaubt oft auf große Entfernung die Artbestimmung. Im Gleitflug sind beim Raufußbussard die Armschwingen leicht angehoben, während die Handschwingen gerade gehalten oder ganz leicht abgesenkt werden. Dadurch entsteht ein wahrnehmbarer Knick im Flügelprofil, ein gutes Unterscheidungsmerkmal zu gleitenden Mäusebussarden, die Arm- und Handschwingen meist gerade halten bzw. beim Segeln V-förmig anheben. Auffallend und für die Art kennzeichnend ist auch ein häufiges Drehen des Schwanzes, das etwas an einen Milan erinnert.
Die Geschlechter zeigen keinen ausgeprägten reversen Geschlechtsdimorphismus, sodass sie nicht immer leicht zu unterscheiden sind. Die Weibchen sind geringfügig größer als die Männchen und bis zu 20 % schwerer. Ihre Gefiederfärbung ist insbesondere im Kopf- und Brustbereich etwas heller als die der Männchen. Der Schwanz der Weibchen schließt meist mit nur einer Endbinde ab, während bei den Männchen neben einer breiten meist noch zwei bis drei schmalere Binden zu erkennen sind.
Jungvögel sind heller als die Altvögel, vor allem die schwarze Endbinde des Schwanzes ist noch nicht deutlich ausgeprägt.
B. l. menzbieri
Diese Rasse schließt östlich an das Verbreitungsgebiet der Nominatform an. Die sehr breite Kontaktzone verläuft im Uralgebiet. Vertreter dieser Unterart sind etwas größer als die der Nominatform und meist auch heller. Die Körperunterseite ist weniger kontrastreich gezeichnet, die Schwanzbinden (insbesondere die Endbinde) sind schmaler als bei der Nominatform. Die Iris dieser Vögel ist im Gegensatz zur hellbraunen der Nominatform gelb.
B. l. kamtschatkensis
Diese Unterart bewohnt die Halbinsel Kamtschatka und den nördlichen Teil der Kurilen. Die Vögel sind groß, eher dunkel und wenig kontrastreich gezeichnet. Von großen und dunklen Vertretern der Rasse B. l. menzbieri sind sie nur sehr schwer zu unterscheiden. Sie sind deutlich größer und heller als durchschnittliche Vertreter von B. l. sanctijohannis. Auf den Inseln der Beringsee vermischen sich die beiden Unterarten, während die Kontaktzone zu B. l. menzbieri nicht genau bekannt ist.
B. l. sanctijohannis
B. l. sanctijohannis bewohnt die subarktischen und arktischen Gebiete Nordamerikas von Neufundland westwärts bis Alaska und zu den Aleuten. Die hellen Exemplare dieser Unterart sind etwas kleiner als die der Nominatform, unterscheiden sich jedoch von ihr in der Gefiederfärbung nur unwesentlich. Die dunklen Exemplare sind oberseits einheitlich braun, auf der Unterseite graubraun gesprenkelt. Auch im Flugbild ist diese Rasse dunkler als die Nominatform. In der Unteransicht kontrastieren dabei die meist einheitlich dunklen Deckfedern der Unterflügel deutlich mit dem sonst hellen Flügel. Bei dieser Rasse besteht vor allem im Flug eine erhebliche Verwechslungsmöglichkeit mit dem Rotschwanzbussard (Buteo jamaicensis).
Die Vögel der kanadischen Ostküste sind insgesamt die kleinsten; bei ihnen ist der reverse Geschlechtsdimorphismus sowohl in Größe und Gewicht als auch in der Gefiederfärbung am größten. Nach Westen hin werden die Individuen größer, die Geschlechtsunterschiede jedoch kleiner. Raufußbussarde aus Westalaska und dem Beringmeergebiet weisen die größten individuellen Unterschiede in der Gefiederfärbung auf.
Einheitlich dunkle bis melanistische Exemplare kommen regelmäßig nur in Nordamerika und fallweise in Ostsibirien vor. Ganz selten wurden sie auch im übrigen Verbreitungsgebiet festgestellt.
Maße und Gewicht
Die Größe (gemessen von der Schnabel- bis zur Schwanzspitze) liegt zwischen 53 und 63 Zentimetern, wovon etwa 22 Zentimeter auf den Schwanz entfallen. Bei einer Flügellänge bis zu 48 Zentimetern kann die Spannweite der größten Vögel über 1,5 Meter liegen.
Das Gewicht eines gut ernährten Männchens liegt im Durchschnitt bei etwa 1,2 kg, Weibchen sind bis zu 20 % schwerer.
Stimme
Stimmlich ist der Raufußbussard unauffälliger als der Mäusebussard, nur bei Störungen am Nest ist er relativ laut. Der Hauptruf ist ein lautes, ein wenig klagend klingendes langgezogenes Pi-iii-äääh, das im An- und Ablaut verschiedentlich variiert werden kann. Entfernt kann dieser Ruf an das Miauen einer Hauskatze erinnern. Er wird vor allem während der Paarungsflüge vorgetragen. Daneben verfügt die Art über eine Reihe von Stimmfühlungs-, Kontakt- und Alarmrufen. Das brütende Weibchen begrüßt das futtertragende Männchen mit einem kurzen, nicht lauten Viiääh, in Bedrohungssituationen ist von beiden Geschlechtern ein kurzes, scharfes Pi-i-ää zu hören.
Lebensraum
Der Raufußbussard ist ein hochnordischer Bewohner der meist baum- und strauchlosen Tundra. In Fennoskandien besiedelt er die baumlosen Fjällgebiete ebenso wie lockere Birkenbestände in der subalpinen Zone. Regelmäßig, aber in geringer Anzahl, brütet er in der Baumtundra. In sehr guten Lemmingjahren werden auch die nördlichsten Ausläufer der Taiga besiedelt. Hier liegen seine Brutplätze meist an Waldrändern, gerne in der Nähe von Gewässern, oder am Rande sehr großer Lichtungen. Der Raufußbussard ist im Allgemeinen ein Bewohner der Niederungen; in Skandinavien und Alaska brütet er jedoch vereinzelt in Höhen von bis zu 1400 Metern. Gerne hält er sich in der Nähe von Gewässern, an der Küste oder entlang von Flusstälern auf.
Die Winterhabitate sind vielfältiger, doch auch in den Winterquartieren zeigt sich seine Vorliebe für offene Gegenden mit guter Rundumsicht. Häufig ist er in Küstengebieten, Marschlandschaften, in ausgedehnten Grünlandgebieten und Mooren zu finden, in Ost- und Südosteuropa und Asien auch in Steppen. In Nordamerika hält er sich im Winter häufig in Prärien auf.
Verbreitung
Brutgebiete
Der Raufußbussard brütet zirkumpolar in weiten Bereichen der Holarktis, nahe am und nördlich des nördlichen Polarkreises. In Europa beginnen seine Brutgebiete in Südnorwegen und ziehen sich in einem relativ schmalen Streifen über Mittel- und Nordschweden und den nördlichen Teil Finnlands entlang der Eismeerküste bis nach Ostsibirien, Kamtschatka und zu den nördlichen Kurilen. Ein schmaler Verbreitungsfinger verläuft entlang der Küste des Ochotskischen Meeres nach Süden etwa bis auf 55° nördliche Breite. Die nördliche Verbreitungsgrenze wird durch die Eismeerküste gebildet; nur wenige küstennahe Inseln wurden besiedelt. Die Südgrenze der Brutverbreitung liegt in der Übergangszone von der Strauchtundra zur Baumtundra. Nur bei sehr gutem Nahrungsangebot und nur temporär brütet die Art auch in südlich davon gelegenen Gebieten.
Die Brutgebiete in der Nearktis beginnen im Osten in Neufundland, umfassen nord- und nordwestwärts die Gebiete um die Hudson Bay, den festlandnahen südlichen Teil der Baffininsel, den nördlichen Bereich der Nordwest-Territorien mit den meisten der vorgelagerten Inseln, insbesondere der Victoria-Insel, und reichen über Nord- und Westalaska bis zu den Aleuten.
Die Winterquartiere liegen südlich der Brutgebiete und überlappen sich mit diesen kaum. Ihre Nordgrenze wird von der Südgrenze des borealen Nadelwaldgürtels gebildet. In Eurasien liegen sie hauptsächlich zwischen 58° und 45° nördlicher Breite, reichen aber in manchen Regionen, so in Südosteuropa, Zentralasien und Ostasien, bedeutend weiter nach Süden.
Im Mitteleuropa ist der Raufußbussard nur im Winterhalbjahr zu sehen; die Gesamtzahl der Überwinterer schwankt von Jahr zu Jahr beträchtlich. Nach Massenvermehrungen seiner nordischen Beutetiere bei gleichzeitig klimatisch günstigen Brutbedingungen sind in Mitteleuropa besonders starke Einflüge zu verzeichnen. Vereinzelt übersommern einzelne Vögel in Norddeutschland, Nordpolen und dem Baltikum. 1988 wurde in Niedersachsen erstmals eine erfolgreiche Brut festgestellt.
Winterquartiere in Europa
In Europa liegen die Überwinterungsgebiete mehrheitlich östlich von 10° Ost, doch überwintert eine nicht unbeträchtliche Zahl auch westwärts bis zum Rhein und südwärts bis zu den Alpen. Die europäischen Hauptüberwinterungsgebiete liegen in Südschweden, im Baltikum, in Belarus, in der Osthälfte Deutschlands, in Tschechien, in der Slowakei, in Ostösterreich, in Ungarn und in der Ukraine. Bei besonders starken Einflügen werden auch Nordostgriechenland, die Krim und nordwestliche Regionen der Türkei erreicht.
Wanderungen
Der Raufußbussard ist in seinem gesamten Verbreitungsgebiet ein ausgeprägter Zugvogel. Wie alle Thermik nutzenden Vögel ist er ein Tagzieher. Meistens zieht er allein, seltener in kleinen Gruppen. An bestimmten besonders günstigen Rastplätzen wurden Ansammlungen von mehr als 100 Individuen beobachtet. Insgesamt ist sein Zugverhalten in Details noch nicht sehr gut erforscht, wenige Daten von besenderten Individuen ergaben Tageszugstrecken um die 100 Kilometer. Die Zugdistanzen sind unterschiedlich. Ein am 5. August 1985 nestjung in Nordalaska beringter Vogel wurde am 10. Oktober gleichen Jahres in Montana, 3300 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, wiedergefunden.
Buteo lagopus räumt seine Brutgebiete abhängig vom Nahrungsangebot und der Höhe der Schneedecke ab Ende August. Der Hauptwegzug beginnt aber erst in der zweiten Septemberdekade und reicht bis in den Oktober hinein. Bei besonders günstigen Lebensbedingungen bleiben einzelne Individuen auch bis in den November in ihren Brutgebieten.
Raufußbussarde ziehen in breiter Front mehrheitlich in südliche Richtungen, nur süd- und mittelskandinavische Vögel ziehen entlang der deutschen Nordseeküste nach Westen und überwintern in Süd- und Westengland. Diese Breitfrontstraßen münden an manchen Stellen in sogenannte Zugtrichter, an denen, vor allem im Herbstzug, viele Durchzieher beobachtet werden können. Zu Häufungen von durchziehenden Raufußbussarden kommt es unter anderem bei Falsterbo, entlang der großen sibirischen Ströme sowie in Ostasien, allerdings in bedeutend geringeren Zahlen, an der Küste der Tschuktschen-Halbinsel.
Die Spitzendurchzugszahlen der nearktischen Vögel werden an den bekannten Beobachtungspunkten wie Hawk Ridge bei Duluth, Minnesota, in der letzten Oktoberdekade gezählt. Die Hauptzahl überwintert in den nordöstlichen Staaten der USA, wo die Art im Winter auch in Siedlungen und Städten beobachtet werden kann. Der Bereich der Überwinterungsgebiete erstreckt sich über die nordamerikanischen Plains westwärts bis Nordmexiko.
Wahrscheinlich führt der Raufußbussard in seinen Winterquartieren ein nomadisches Leben und verbleibt nur bei sehr gutem Nahrungsangebot länger an einem Ort. Es ist allerdings nicht bekannt, welche Strecken die Vögel während des Winterhalbjahres zurücklegen.
Der Heimzug beginnt im März und erreicht seinen Gipfel Mitte April. Die Brutgebiete werden nicht vor Ende April erreicht, meist aber erst im Mai und in den äußerst nördlichen Lagen erst Anfang Juni. Häufig verstreichen noch einige Wochen nach der Ankunft im Brutgebiet, bevor Brutaktivitäten beginnen.
Nahrung und Nahrungserwerb
Beutetiere
Die Hauptnahrung des Raufußbussard besteht vor allem aus kleinen Säugetieren, insbesondere aus Wühlmäusen der Gattungen Microtus und Clethrionomys sowie aus verschiedenen Lemmingarten (Lemmus sp.). Diese Tiergruppen bilden bei ausreichender Verfügbarkeit zwischen 60 und 90 % des gesamten Nahrungsvolumens. Sind Wühlmäuse aber knapp, können mittelgroße Vögel, vor allem Moorschneehühner (Lagopus lagopus) zur Hauptbeute werden. Im Winter und dort, wo diese Arten in seine Brutgebiete vorgedrungen sind, auch im Sommer, jagt der Raufußbussard Rebhühner (Perdix perdix ssp.) und Präriehühner (Tympanuchus sp.). In kleinerer Zahl werden Reptilien, Amphibien und Fische erbeutet. Insekten (vornehmlich Grillen und Heuschrecken) und das Aas unterschiedlich großer Tiere spielt in der Ernährung der Art ebenfalls eine, wenn auch untergeordnete, Rolle. Seltener, jedoch regelmäßig erbeutet der Raufußbussard auch größere Säugetiere wie Schneehasen (Lepus timidus), Polarhasen (L. arcticus) und Alaskahasen (L. othus).
Unter den Microtus-Arten überwiegen Erdmaus (Microtus agrestis) und Nordische Wühlmaus (M. oeconomus), in den Winterquartieren die Feldmaus (M. arvalis). Bei den Lemmingen stehen Arten der Gattung Lemmus im Vordergrund, vor allem der Berglemming (L. lemmus), der Sibirische Lemming (L. sibiricus) und in Nordamerika der Braune Lemming (L. trimucronatus). Bei einem massierten Auftreten werden auch Rötelmäuse, wie die hochnordische Polarrötelmaus (Myodes rutilus), und Halsbandlemminge (Dicrostonyx sp.) zu wichtigen Beutetieren.
Wenn sie verfügbar ist, gleicht die Winternahrung der des Sommers; andernfalls werden häufiger Spitzmäuse und Vögel erbeutet, auch wird in größeren Maßen Aas aufgenommen.
Jagdmethoden
Die Jagdmethoden der Art sind vielfältig, doch überwiegt dort, wo sie möglich ist, die Ansitzjagd. Wird ein Beutetier erspäht, folgt ein meist kurzer bodennaher Jagdflug, dessen letzte Phase in der Regel ein Gleitflug ist. Die Tiere werden immer am Boden geschlagen und mit den Krallen, zuweilen auch mit dem Schnabel, getötet. Sehr selten wurde ein erfolgreiches Schlagen von Beutetieren im Fluge beobachtet. Kann das Beutetier nicht überrascht werden, wird es nur ganz kurz verfolgt.
Bei günstigen, vor allem windigen Witterungsbedingungen sowie dort, wo ihm keine Ansitze zur Verfügung stehen, jagen Raufußbussarde auch rüttelnd in etwa 20 bis 50 Metern Höhe. Ähnlich wie beim Turmfalken (Falco tinnunculus) sind die im Durchschnitt etwa 10 Sekunden währenden Rüttelphasen von kurzen Gleitfügen unterbrochen. Weiters werden regelmäßig etwas an Weihen erinnernde langsame Suchflüge sowie Jagden über Wasser nach Art eines Fischadlers (Pandion haliaetus) beobachtet.
Verhalten
Aktivität und Territorialität
Der Raufußbussard ist tagaktiv mit einer starken Tendenz, seine Aktivitätsphasen in die Dämmerungsstunden auszudehnen. In seinen nördlichen Brutgebieten kann er (vor allem bei Nahrungsknappheit) während 24 Stunden aktiv angetroffen werden, in der Regel ruht er aber trotz der vorhandenen Helligkeit etwa zwischen 23 und 5 Uhr.
Wenn sie nicht ein Mangel an Beutetieren zu anhaltender Aktivität zwingt, legen Raufußbussarde auch während des Tages lange Ruheperioden ein. Dabei ist die Körperhaltung meist etwas waagrechter als bei einem ruhenden Mäusebussard.
Im Brutgebiet werden abhängig vom Nahrungsangebot unterschiedlich große Territorien besetzt, verteidigt wird jedoch nur die weitere Umgebung des Nestes. In schlechten Nahrungsjahren unterbleiben territoriale Verhaltensweisen. Gegenüber anderen Arten zeigen sich Raufußbussarde sehr verträglich, oft befinden sich ihre Nester in unmittelbarer Nachbarschaft zum Nest eines Wanderfalken (Falco peregrinus), Gerfalken (Falco rusticolus) oder Kolkraben (Corvus corax).
Über die Territorialität im Winterquartier liegen noch keine vertieften Erkenntnisse vor. Bei gutem Nahrungsangebot wurden aber Gruppen bis zu 40 Individuen auf vergleichsweise engem Raum gezählt, auch die Anwesenheit von Nahrungskonkurrenten wird meist geduldet.
Feindverhalten
In den Brutrevieren wird der weitere Nestbereich gegen Artgenossen und Räuber energisch verteidigt. Während es zwischen Artgenossen selten zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt, werden potenzielle Nesträuber direkt angegriffen. Besonders Raubmöwen (Stercorarius sp.) und Schneeeulen (Bubo scandiacus) sowie größere Landraubtiere wie Polarfüchse (Alopex lagopus), Wölfe (Canis lupus) und Vielfraße (Gulo gulo) werden schon in weiter Entfernung vom Nest direkt attackiert und oftmals erfolgreich vertrieben.
Brutbiologie
Über den Zeitpunkt der Geschlechtsreife liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, insbesondere ist unbekannt, ob – wie beim Mäusebussard – schon Jährlinge zur Brut schreiten können. Wahrscheinlich beginnen Raufußbussarde aber erst im zweiten, einige sogar erst im dritten Lebensjahr zu brüten.
Die sexuelle Aktivität ist vom Nahrungsangebot in den Brutgebieten abhängig. Nur bei guter bis sehr guter Verfügbarkeit an Nahrungstieren wird die Paarbindung intensiviert, und es kommt zu Nestbau, Eiablage und Brut. Auf schlechte Nahrungsverhältnisse wird je nach Grad des Mangels sehr differenziert reagiert, im Extremfall unterbleiben Balz- und Nestbauaktivitäten gänzlich oder es kommt zu Abwanderungen in besser versorgte Gebiete. Verbleibende Raufußbussarde sitzen auf nur kleinen Gelegen, die oft schon während der Brut aufgegeben werden.
Paarbildung und Paarbindung
Für einen Teil der Bussarde beginnt die Paarbildung bereits im späten Winter; diese kehren schon lose verpaart in die Brutgebiete zurück. Andere beginnen erst dort mit der Balz. Dabei zeigen sie eindrucksvolle Flüge mit weit ausgebreiteten Schwingen und gespreiztem Schwanz, begleitet von charakteristischen Rufen. Das Männchen führt dabei auch verschiedene Flugkapriolen aus.
Verpaarte Bussarde führen eine monogame Brutsaisonehe. Es bestehen jedoch Hinweise, dass zumindest bei einigen die Bindung in den Wintermonaten nicht erlischt, ja auch über mehrere Jahre anhalten kann.
Neststandort und Nest
Entsprechend den unterschiedlichen Lebensräumen, die Raufußbussarde bewohnen, sind auch die Neststandorte vielfältig. Dort, wo sie die Gelegenheit dazu hat, nistet die Art bevorzugt auf Felssimsen, kleinen Felsinseln, an ebenen Stellen auf Böschungen oder entlang tief eingeschnittener Flusstäler, entlang der Küste auch auf Klippen. In der Baumtundra baut er Baumnester, meist im obersten Baumabschnitt. Die Seltenheit dieser Nistmöglichkeiten in seinem Lebensraum zwingt ihn jedoch häufig zur Errichtung von Bodennestern in völlig offener Tundra. Bodennester liegen mehrheitlich an trockenen, etwas erhöhten Stellen, die eine gute Rundumsicht ermöglichen.
Das Nest selbst ist ein recht voluminöser Bau, bestehend aus Ästchen und Zweigen, gut ausgepolstert mit Gras, verschiedenen Moosen, Tierhaaren und Federn. Diese Isolierung ist bei Bodennestern besonders dick. Neu angelegte Nester haben einen Durchmesser von etwa 80 Zentimetern, wachsen aber bei längerer Benützung zu voluminösen Gebilden von bis zu 150 Zentimetern Durchmesser an. Das Nistmaterial wird allein vom Männchen herangeschafft und von beiden Vögeln verbaut. Der Nestbau hält auch noch während der Brutperiode an. Zuweilen werden auch bestehende Nester anderer nordischer Greifvögel benutzt.
Gelege und Eier
Ob überhaupt ein Gelege gezeitigt wird sowie die Größe des Geleges selbst wird vom Nahrungsangebot beeinflusst, doch sind die genauen Zusammenhänge noch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Jedenfalls können die Gelegegrößen von Jahr zu Jahr beträchtlich schwanken. Ein Normalgelege umfasst drei bis vier Eier, es kommt aber zuweilen auch zur Ablage von nur einem Ei. Der Legeabstand beträgt bei Normalgelegen 24 Stunden, nur die letzten Eier größerer Gelege werden in einem größeren Zeitabstand gelegt. In Jahren von Massenvermehrungen der Beutetiere wurden Gelege von bis zu sieben Eiern festgestellt. Nachgelege kommen bei Verlust des Erstgeleges vor und umfassen selten mehr als zwei Eier.
Die Grundfarbe frischgelegter Eier ist grünlich bis bläulich und wechselt später in ein schmutziges Weiß. Sie sind reichlich mit rötlichbraunen und purpurnen Flecken übersät. Die Durchschnittsmaße betragen 57 × 45 Millimeter.
Brut
Die Eier werden fast ausschließlich vom Weibchen bebrütet, das in dieser Zeit vom Männchen mit Nahrung versorgt wird. Die Brutdauer beträgt abhängig von der Witterung 31 bis 37 Tage. Das Weibchen brütet ab dem ersten Ei, sodass bei einem Legeabstand von einem Tag und länger der Entwicklungsstand der Küken sehr unterschiedlich ist. Der Brutbeginn liegt nicht vor Mitte Mai.
Anfangs schafft allein das Männchen die Nahrung für das Weibchen und die Jungen heran; das Weibchen zerteilt die Beute und füttert. Später jagen und füttern beide Elternteile.
Die Dunenjungen sind in den ersten Tagen bis auf die Futteraufnahme weitgehend inaktiv. Sie bekommen mit zwölf Tagen ihre ersten Federn. Mit etwa vier Wochen können sie die Beute selbst zerteilen und aufrecht im Nest stehen. Die ersten Flugversuche beginnen im Alter von etwas über 30 Tagen, doch richtig flügge sind die wenigsten Jungvögel vor ihrem 40. Lebenstag, die Männchen offenbar etwas früher als die Weibchen. Die Jungen sind danach noch drei bis vier Wochen weitgehend von den Eltern abhängig, bevor sie dismigrieren. Bei Spätbruten mündet die Führungszeit direkt in den Herbstzug.
Lebenserwartung
Es stehen nur wenige Daten zur Lebenserwartung zur Verfügung. 48 in den 90er Jahren vom Cornell Lab of Ornithology ausgewertete Wiederfunde der Rasse B. l. sanctijohannis ergaben eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwas über 21 Monaten. Diese Angabe ist aber auf Grund der kleinen Stichprobe nicht repräsentativ. Der älteste bisher in freier Wildbahn wiedergefundene Raufußbussard war etwas über 18 Jahre alt.
Bestandsentwicklung
Es liegen nur ganz grobe Bestandseinschätzungen vor, die Höchstschätzung liegt bei weltweit 500.000 Brutpaaren. Die Art zeigt eine stark fluktuierende Bestandsentwicklung; länger andauernde Rückgänge werden aber nicht festgestellt. Deshalb ist die Art nach IUCN mit LC = least concern gelistet.
In Europa schätzt man die Anzahl der Brutpaare auf etwa 75.000 Paare; die Bestände blieben in den letzten Jahren stabil, nur in Schweden ist ein leichter Rückgang zu beobachten. Deshalb wird der europäische Bestand mit S = secure bewertet.
Namensherleitung
Der Wortteil „Rau“ im Artnamen ist etwas unverständlich geworden, er hat nichts mehr mit der heutigen Bedeutung des Adjektivs „rau“ zu tun, das ursprünglich „haarig“, „befiedert“, pelzig bedeutete. Im Märchen Allerleirauh trägt das Mädchen ein Gewand aus verschiedenartigen Pelzen. Nur im Ausdruck Rauchwerk für Pelzwaren und in der jagdlichen Wendung rauen für mausern haben sich Reste der Urbedeutung erhalten. In der Vogelkunde wird diese Bezeichnung noch immer für Arten verwendet, deren Läufe bis zu den Zehen befiedert sind: Raufußkauz, Raufußhühner.
Der wissenschaftliche Gattungsname buteo bezeichnet bei Plinius einen Greifvogel, wahrscheinlich den Mäusebussard. Lagopus setzt sich aus griechisch lagōs „Hase“ und pus „Fuß“, also „Hasenfuß“, zusammen und spielt ebenfalls auf die bis zu den Zehen befiederten Füße an.
Sonstiges
Einige mitteleuropäische Staaten führen die Art als ehemaligen Brutvogel; heute wird jedoch allgemein angenommen, dass die Art in den letzten Jahrhunderten nicht in Mitteleuropa gebrütet hat, so dass diesen Angaben also höchstwahrscheinlich Fehlbestimmungen zugrunde liegen.
Literatur
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Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Aula, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 504.
Theodor Mebs: Greifvögel Europas. Biologie, Bestandsverhältnisse, Bestandsgefährdung. Kosmos Naturführer. Franckh, Stuttgart 1989, S. 87 ff. ISBN 3-440-05990-1.
Benny Génsbøl, Walther Thiede: Greifvögel. Alle europäischen Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung, Gefährdung, Bestandsentwicklung. BLV, München 1997, ISBN 3-405-14386-1.
Viktor Wember: Die Namen der Vögel Europas. Bedeutung der deutschen und der wissenschaftlichen Namen. Aula, Wiebelsheim 2005, ISBN 3-89104-678-2.
Franz Müller, D. G. Müller (Hrsg.): Wildbiologische Informationen für den Jäger. Band 2: Federwild. Kessel, Remagen 2006, ISBN 3-935638-60-4 (Zusammenfassung der früheren Veröffentlichungen aus Jagd+Hege).
Theodor Mebs, Daniel Schmidt: Die Greifvögel Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Biologie, Kennzeichen, Bestände. Kosmos, Stuttgart 2006, ISBN 3-440-09585-1.
Weblinks
Factsheet auf BirdLife International
Der Raufußbussard auf Greifvogel.com
[ Factsheet von birdlife Europe] (PDF-Datei; 250 kB)
Federn des Raufußbussards
Einzelnachweise
Bussarde |
414875 | https://de.wikipedia.org/wiki/Phalaenopsis | Phalaenopsis | Die Gattung Phalaenopsis gehört zur Familie der Orchideen (Orchidaceae) und umfasst eine Vielzahl exotischer Arten. Der botanische Name leitet sich von den griechischen Wörtern phalaina (φάλαινα; dt. „Nachtfalter“, vgl. Phaläne) und opsis (ὄψις; dt. „Anblick“) ab, da ihre Blüten an tropische Nachtfalter erinnern. Im deutschen Sprachraum werden diese Orchideen „Schmetterlingsorchidee“, „Nachtfalter-Orchidee“ oder „Malaienblume“ genannt.
Phalaenopsis ist vor allem als Zierpflanze bekannt und beliebt, besonders die unzähligen, bunten großblumigen Hybriden erfreuen sich weltweiter Bekanntheit und wachsender Nachfrage. Millionen von Topfpflanzen werden jährlich in Supermärkten, Baumärkten und Gartencentern und als Schnittblumen in Floristikgeschäften verkauft. Reine Arten und bestimmte Hybriden gelten zum Teil als begehrte Sammlerobjekte. Erstmals erwähnt wurden Phalaenopsis um 1704, die ersten künstlichen Hybriden wurden um 1886 in Chelsea bei London gezüchtet. Ursprünglich stammen Phalaenopsis aus den tropischen Regenwäldern von Südost-Asien.
Beschreibung
Erscheinungsbild, Blätter und Wurzeln
Ausnahmslos alle Arten zeichnen sich durch monopodialen Wuchs aus, das heißt, sie wachsen nur in die Höhe und bilden für gewöhnlich keine Seitentriebe aus. Die meisten Arten wachsen epiphytisch, also auf den Ästen und Zweigen von Bäumen oder an deren Stämmen; manche Arten leben auf moosbewachsenen Felsen (lithophytisch).
Die zwei bis sechs zweizeilig (distich) wachsenden, mehr oder weniger ledrigen Laubblätter sind in ihrer Form, Farbe und Größe von Art zu Art verschieden. Die kleinsten Arten mit Blattlängen bis etwa 10–40 cm und nur mäßig ledrigen Blättern wie Phalaenopsis appendiculata unterscheiden sich sehr deutlich von den großen Exemplaren wie Phalaenopsis gigantea, die Blattlängen von bis zu 100 cm und mehr aufweisen und dabei sehr fleischig-ledrige Blätter besitzen können. Deren Blattfärbung reicht von einfarbig hell- bis dunkelgrün wie bei Phalaenopsis amabilis und Phalaenopsis gigantea. Manche Arten besitzen silbrig gefleckte Blätter, zum Beispiel Phalaenopsis stuartiana und Phalaenopsis schilleriana. Meist wachsen ein bis zwei neue Blätter pro Saison aus dem „Herzen“ der Pflanze heraus, während ein bis zwei Blätter am unteren Ende der Sprossachse gelb werden, eintrocknen und abfallen.
Die zahlreichen glatten und fleischigen Wurzeln entwickeln sich an der Basis der Sprossachse oder an den unteren Knoten, zum Teil zwischen den Blättern. Sie sind zwischen einem und acht Millimeter dick und dienen neben der Aufnahme von Nährstoffen und Wasser zusätzlich als Haftorgane. Einige Arten sind, bedingt durch die klimatischen Verhältnisse am Standort, laubabwerfend. Sie besitzen deshalb chlorophyllhaltige Wurzeln. Zusätzlich sind die Wurzeln vom Velamen radicum umgeben.
Blütenstände und Blüten
Die Blütenstände entspringen seitlich der kurzen Sprossachse unter oder zwischen den Blättern. Sie wachsen aufrecht nach oben, bogenförmig überhängend oder hängend. Manche Arten blühen aus dem gleichen Blütenstand mehrere Jahre lang, während andere jedes Jahr einen oder mehrere Blütenstände neu ausbilden. Ihre Länge variiert zwischen einigen Zentimetern bis hin zu 100 cm und mehr. Bei manchen Arten, besonders bei Hybriden, blühen die Pflanzen immer wieder aus den Internodien nach, wenn die Infloreszenz (der Blütenstand) nicht vollständig entfernt wird.
Die zwittrigen, zygomorphen (monosymmetrisch) Blüten sind dreizählig. Die Blütengröße variiert im Durchmesser von 1–2 cm bis hin zu 15 cm (bei manchen Hybriden noch mehr). Die Struktur der Blüten reicht von zart bis wachsartig-fest. Sie bestehen aus drei Kelchblättern (Sepalen) und drei Kronblättern (Petalen), aus einem Petalum ist die Lippe (Labellum) gebildet, die immer dreigeteilt ist und sich aus einem spatelförmigen Mittellappen und zwei Seitenlappen zusammensetzt. Der Mittellappen ist bei Arten wie Phalaenopsis stuartiana an seinem Ende mit zwei schweifähnlichen Anhängseln (Cirrhi) ausgestattet. Den Mittelpunkt der Blüte bildet die Anthere mit Kallus und Narbe, an deren Spitze eine spezielle Schutzkappe die Pollinien verbirgt.
Vermehrung
Die Fortpflanzung erfolgt hauptsächlich durch Samen oder durch Kindelbildung.
Als bestäubende Insekten wurden einige Male Holzbienen beobachtet, es werden auch andere Insekten als Bestäuber akzeptiert. Landet ein Besucher auf der Lippe der Blüte, um am Callus nach Nektar zu suchen oder um die Blüte zu begatten (in dem Irrglauben, einen Liebespartner der eigenen Art vor sich zu haben), bricht es beim Rückwärtskriechen die Schutzkappe der Anthere ab und bekommt ein Pollenpaket mit klebrigem Anhängsel an den Rücken geheftet. Beim Aufsuchen der nächsten Blüte streift das Insekt das Pollenpaket an der Unterseite der Säule ab, wo es in einer speziellen Vertiefung zurückbleibt. Ist die Bestäubung erfolgreich, schließt sich die Narbe.
Bei einigen wenigen Arten wie Phalaenopsis violacea konnte ein besonderes Phänomen beobachtet werden, das auch bei anderen Orchideengattungen wie Cymbidium und Vanda auftritt: Nach erfolgreicher Bestäubung verwelken die Blütenblätter nicht und fallen nicht ab, sie bilden sich lediglich etwas zurück, vergrünen und verbleiben bis zur vollständigen Reife der Samen. Es wird vermutet, dass diese Blütenmetamorphose mittels zusätzlicher Photosynthese das Reifen der Samen begünstigen soll.
An den Blütenständen mancher Arten wie Phalaenopsis lueddemanniana bilden sich oft Keiki zur vegetativen Vermehrung. Dieses Phänomen wurde erstmals 1894 beobachtet und dokumentiert. Die Art Phalaenopsis stuartiana bildet an den Wurzelenden Adventivpflanzen. Während durch die Bildung von Kindeln genetisch identische Pflanzen entstehen, die oft schon binnen Jahresfrist selbst blühfähig werden können, dauert die Vermehrung durch Samen deutlich länger. Die Reifezeit der Kapselfrüchte beträgt bei den einzelnen Arten zwischen 5 und 15 Monaten. Bei künstlicher Aussaat dauert es nochmals zwischen drei und zehn Jahren bis zur blühfähigen Pflanze.
Verbreitung
Die Arten der Gattung Phalaenopsis kommen vor allem auf den Philippinen und den indonesischen Inseln vor. Das Verbreitungsgebiet reicht insgesamt von Bhutan über Myanmar, Südchina, Taiwan, die malaiische Halbinsel bis nach Queensland in Nordaustralien.
Die Standorte sind meist gekennzeichnet durch Tagestemperaturen von 25 °C bis 35 °C und Nachttemperaturen von 15 °C bis 25 °C, durch hohe Niederschlagsmengen während der Wachstumszeit und eine ganzjährig hohe Luftfeuchtigkeit. Vereinzelt sind die Bedingungen mancher Habitate durch deutlich geringere Temperaturen besonders während der Wintermonate gekennzeichnet, Phalaenopsis lobbii etwa erträgt Tiefsttemperaturen bis 5 °C. Die Pflanzen wachsen überwiegend halbschattig bis hell, ohne direktes Sonnenlicht. Vereinzelt finden sich Habitate in voller Sonne.
Botanische Geschichte
Den botanischen Namen Phalaenopsis erhielt die Gattung vom schwedischen Zoologen und Botaniker Carl von Linné um 1753. Dieser sah sich beim Anblick der Blüten an umherfliegende Motten der Gattung Phalaena (heute: Biston) erinnert.
Die erste Art der Gattung wurde bereits 1704 von Georg Joseph Kamel unter dem Namen Visco-Aloes Luzonis decima quarta in John Rays botanischem Werk „Historia Plantarum“ (Band 3) beschrieben. Es handelte sich um eine Pflanze der Art Phalaenopsis aphrodite. Die Gattung selbst wurde 1825 durch den Botaniker Carl Ludwig Blume errichtet. Um 1860 stellte H. G. Reichenbach in der Hamburger Garten- und Blumenzeitung eine erste Zusammenfassung aller bis dahin bekannten Arten vor und erweiterte sie selbst 1862 um 11 weitere Neuentdeckungen.
Die erste künstlich erzeugte Hybride erblühte 1886 bei der Firma Veitch and Sons. Es war die Kreuzung Phalaenopsis „Intermedia“ (Phalaenopsis aphrodite × Phalaenopsis equestris). Diese Kreuzung wurde später in Importen als Naturhybride Phalaenopsis × intermedia gefunden. Im Jahre 1897 erblühten auch Phalaenopsis „Harriettiae“ (Phalaenopsis amabilis × Phalaenopsis violacea) und Phalaenopsis „F.L. Ames“ (Phalaenopsis „Intermedia“ x Phal. amabilis) das erste Mal.
Systematik
Die Gattung Phalaenopsis wurde 1825 durch Carl Ludwig Blume in Bijdragen tot de flora van Nederlandsch Indië aufgestellt. Typusart ist Phalaenopsis amabilis . Synonyme für Phalaenopsis sind: Polychilos , Doritis , Synadena , Stauroglottis , Polystylus , Stauritis , Kingiella nom. illeg., Grafia nom. illeg., Kingidium , Lesliea , Grussia .
Die Gattung Phalaenopsis gehört zur Subtribus Aeridinae, also in die Verwandtschaft um die Gattung Aerides, aus der Tribus Vandeae in der Unterfamilie Epidendroideae innerhalb der Familie Orchidaceae. Nächste Verwandte von Phalaenopsis sind die Gattungen Grosourdya und Pteroceras, diese drei stellen innerhalb der Subtribus die basale, am frühesten von den anderen Gattungen getrennte Gruppe dar.
Neben den etwa 100 Arten, Varietäten, Formen und Naturhybriden gibt es mittlerweile eine unüberschaubare Anzahl gezüchteter Kulturhybriden.
Gliederung der Gattung
Da es in der Fachwelt verschiedene Ansichten über die Zugehörigkeit mancher Arten zur Gattung Phalaenopsis gibt, ist es schwierig, eine genaue Artübersicht zu geben; besonders die Eingliederung der Gattungen Doritis und Kingidium in Phalaenopsis ist umstritten. Die Einteilung in diesem Artikel orientiert sich an der Überarbeitung der Gattung von E. A. Christenson aus dem Jahre 2001.
Die Gattung wird nach E. A. Christenson 2001 in fünf Untergattungen gegliedert:
Proboscidiodes
Aphyllae
Parishianae
Polychilos (mit den Sektionen Polychilos, Fuscatae, Amboinenses und Zebrina)
Phalaenopsis (mit den Sektionen Phalaenopsis, Deliciosae, Esmeralda und Stauroglottis)
Bei einigen in dieser Liste angeführten Taxa ist der Status unbekannt oder unsicher. Dies liegt vor allem daran, dass sie wie Phalaenopsis robinsonii schon lange als verschollen gelten.
Arten innerhalb der Untergattungen und Sektionen
Die folgende Artenliste, gegliedert nach Untergattungen und Sektionen, orientiert sich an der Monografie von E. A. Christenson aus dem Jahr 2001, die Artliste orientiert zusätzlich an World Checklist of Selected Plant Families des Royal Botanic Gardens (Kew).
Untergattung Proboscidiodes
Phalaenopsis lowii : Sie kommt in Myanmar und in Thailand vor.
Untergattung Aphyllae
Phalaenopsis taenialis (Syn.: Kingidium taeniale , Kingidium braceanum ): Sie kommt vom Himalaja bis Yunnan vor.
Phalaenopsis finleyi (Syn.: Kingidium minus ): Sie kommt in Thailand, Myanmar und Vietnam vor.
Phalaenopsis wilsonii : Sie kommt vom südlichen China bis zum nördlichen Indochina vor.
Phalaenopsis stobartiana (Syn.: Phalaenopsis hainanensis ): Sie kommt in Hainan vor.
Phalaenopsis honghenensis : Sie kommt von Yunnan bis Vietnam vor.
Phalaenopsis natmataungensis : Sie kommt im nördlichen Myanmar vor.
Untergattung Parishianae
Phalaenopsis appendiculata : Sie kommt in Malaysia vor.
Phalaenopsis gibbosa : Sie kommt in Yunnan und Vietnam vor.
Phalaenopsis lobbii : Sie kommt vom östlichen Himalaja bis Yunnan vor.
Phalaenopsis parishii : Sie kommt vom östlichen Nepal bis Indochina vor.
Phalaenopsis thailandica : Sie kommt in Thailand vor.
Untergattung Polychilos
Sektion Polychilos
Phalaenopsis mannii : Sie kommt vom östlichen Nepal bis zum südlichen Yunnan vor.
Phalaenopsis cornu-cervi (Syn.: Phalaenopsis borneënsis ): Sie kommt von Bangladesch bis zum westlichen Malesien und zu den Philippinen vor.
Phalaenopsis pantherina : Sie kommt in Borneo vor.
Sektion Fuscatae
Phalaenopsis cochlearis : Sie kommt in Malaysia und in Borneo vor.
Phalaenopsis viridis : Sie kommt in Sumatra vor.
Phalaenopsis fuscata : Sie kommt in Malaysia, Borneo und auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis kunstleri : Sie kommt in Malaysia und in Myanmar vor.
Sektion Amboinenses
Phalaenopsis pulchra : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis violacea : Sie kommt in Malaysia und Sumatra vor.
Phalaenopsis bellina : Sie kommt in Borneo vor.
Phalaenopsis micholitzii : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis fimbriata : Sie kommt in Borneo, Java und Sumatra vor.
Phalaenopsis floresensis : Sie kommt auf Flores vor.
Phalaenopsis robinsonii : Sie kommt auf Ambon vor.
Phalaenopsis gigantea : Sie kommt auf Borneo vor.
Phalaenopsis fasciata : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis doweryënsis : Sie kommt in Sabah vor.
Phalaenopsis modesta : Sie kommt in Borneo vor.
Phalaenopsis maculata : Sie kommt in Malaysia und Borneo vor.
Phalaenopsis javanica : Sie kommt im westlichen Java vor.
Phalaenopsis mariae : Sie kommt von Borneo bis zu den Philippinen vor.
Phalaenopsis amboinensis : Sie kommt von Sulawesi bis zu den Molukken vor.
Phalaenopsis lueddemanniana : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis venosa : Sie kommt auf Sulawesi vor.
Phalaenopsis reichenbachiana : Sie kommt auf Mindanao vor.
Phalaenopsis rundumensis : Sie kommt in Sabah vor.
Phalaenopsis pallens : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis bastianii : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis hieroglyphica : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Sektion Zebrina
Phalaenopsis inscriptiosinensis : Sie kommt in Sumatra vor.
Phalaenopsis tetraspis (Syn.: Phalaenopsis speciosa ): Sie kommt im nordwestlichen Sumatra, auf den Andamanen und Nikobaren vor.
Phalaenopsis corningiana : Sie kommt in Sarawak vor.
Phalaenopsis sumatrana (Syn.: Phalaenopsis zebrina ): Sie kommt von Indochina bis ins westliche Malesien und auf Palawan vor.
Untergattung Phalaenopsis
Sektion Phalaenopsis
Phalaenopsis philippinensis : Sie kommt auf Luzon vor.
Phalaenopsis stuartiana : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis amabilis : Sie kommt in drei Unterarten von Malesien bis Neuguinea und Queensland vor.
Phalaenopsis aphrodite : Sie kommt in zwei Unterarten von den Philippinen bis ins südliche Taiwan vor.
Phalaenopsis sanderiana : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Phalaenopsis schilleriana : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Sektion Deliciosae
Phalaenopsis chibae : Sie kommt in Vietnam vor.
Phalaenopsis deliciosa (Syn.: Kingidium deliciosum ): Sie kommt in zwei Unterarten vom indischen Subkontinent bis Malesien und ins südliche Yunnan vor.
Phalaenopsis mirabilis : Sie kommt in Thailand vor.
Phalaenopsis mysorensis : Sie kommt im südlichen Indien vor.
Sektion Esmeralda (Diese Sektion entstand aus der ehemals monotypischen Gattung Doritis)
Phalaenopsis buyssoniana : Sie kommt in Thailand und in Vietnam vor.
Phalaenopsis pulcherrima (inkl. Phalaenopsis regnieriana ): Sie kommt in vier Varietäten von Assam bis Hainan und in westliche Malesien vor.
Sektion Stauroglottis
Phalaenopsis equestris : Sie kommt von den Philippinen bis ins südliche Taiwan vor.
Phalaenopsis celebensis : Sie kommt in Sulawesi vor.
Phalaenopsis lindenii : Sie kommt auf den Philippinen vor.
Ohne Zuordnung zu einer Untergattung oder Sektion:
Phalaenopsis boulbetii : Sie kommt in Kambodscha vor.
Phalaenopsis cacharensis : Sie kommt in Assam vor.
Phalaenopsis difformis : Sie kommt in zwei Varietäten vom Himalaja bis ins südliche China und in westliche Malesien vor.
Phalaenopsis hygrochila : Sie kommt von Assam bis China und Indochina vor.
Phalaenopsis japonica : Sie kommt in China, Korea und von Japan bis zu den Nansei-Inseln vor.
Phalaenopsis kapuasensis : Sie kommt in Kalimantan vor.
Phalaenopsis marriottiana : Sie kommt in China und in Myanmar vor.
Phalaenopsis mentawaiensis : Sie kommt in Sumatra vor.
Phalaenopsis subparishii : Sie kommt im südlichen CHina vor.
Phalaenopsis tsii : Sie kommt in der chinesischen Provinz Hunan vor.
Phalaenopsis ubonensis : Sie kommt von Thailand bis Laos vor.
Phalaenopsis yingjiangensis : Sie kommt im südwestlichen Yunnan vor.
Phalaenopsis zhejiangensis : Sie kommt in der chinesischen Provinz Zhejiang vor.
Naturhybriden
Folgende Naturhybriden der Gattung Phalaenopsis sind bekannt (die hybridisierenden Ausgangsarten sind in Klammern angeführt):
Phalaenopsis ×amphitrite (Phalaenopsis sanderiana × Phalaenopsis stuartiana)
Phalaenopsis ×gersenii (Phalaenopsis violacea × Phalaenopsis sumatrana)
Phalaenopsis ×intermedia (Phalaenopsis aphrodite × Phalaenopsis equestris)
Phalaenopsis ×leucorrhoda (Phalaenopsis aphrodite × Phalaenopsis schilleriana)
Phalaenopsis ×rolfeana (Phalaenopsis equestris × Phalaenopsis sanderiana)
Phalaenopsis ×singuliflora (Phalaenopsis bellina × Phalaenopsis sumatrana)
Phalaenopsis ×valentinii (Phalaenopsis cornu-cervi × Phalaenopsis violacea)
Phalaenopsis ×veitchiana (Phalaenopsis equestris × Phalaenopsis schilleriana)
Sie entstanden dadurch, dass sich die Habitate der beteiligten Arten überlappen oder identisch sind, so dass durch die bestäubenden Insekten eine Mischung des Erbguts durch „Pollinientransfer“ möglich wurde.
Kulturhybriden
Innerhalb der Gattung und über die Gattungsgrenzen hinweg gibt es eine sehr große Anzahl von Hybriden. Nach Schätzungen sind davon ungefähr 25.000 registriert, jedes Jahr kommen etwa 200 bis 300 Neuregistrierungen hinzu. Neben den offiziell bei der Royal Horticultural Society (RHS) registrierten Hybriden gibt es noch eine unüberschaubare Anzahl von Kreuzungen ohne jegliche Bezeichnung, die meistens für den Massenmarkt (Baumärkte, Pflanzencenter, Supermärkte sowie Floristik- und Dekorationsgewerbe) produziert werden. Hauptziele bei den meisten „industriellen“ Züchtungen sind Blühfreudigkeit und Robustheit gepaart entweder mit möglichst vielen und großen Blüten oder kompaktem Wuchs und vielen Blüten pro Blütentrieb.
Gattungshybriden
Die bekanntesten gattungsübergreifenden Kreuzungen (sogenannte Gattungshybriden) sind im Folgenden aufgeführt; die Ausgangsgattungen sind wiederum in Klammern angefügt:
Phalandopsis (Phalaenopsis × Vandopsis)
Vandaenopsis (Vanda × Phalaenopsis)
Renanthopsis (Phalaenopsis × Renanthera)
Rhynchonopsis (Phalaenopsis × Rhynchostylis)
Sarconopsis (Phalaenopsis × Sarcochilus)
Wirtschaftsfaktor
Sowohl die Arten als auch die Primärhybriden spielen wirtschaftlich nur eine kleine Rolle. Die erzeugte Menge ist meist nur begrenzt und bedient hauptsächlich den Bereich der Liebhaber und Züchter. Solche Pflanzen werden vor allem von kleinen bis mittleren Orchideenbetrieben (von denen es in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine größere Anzahl gibt) oder von privaten Züchtern erzeugt. Gleiches gilt für den Großteil aller registrierten Hybriden aus privater oder kleingewerblicher Zucht, von denen meist nur eine, selten eine zweite oder dritte Nachzucht durchgeführt wird.
Anders sieht es bei den Multihybriden aus, die über Jahre hinweg auf Blühfreudigkeit und Robustheit gezüchtet wurden. Die Nachfrage nach solchen Pflanzen ist sprunghaft angestiegen und konnte nur noch auf dem Weg der Gewebekulturen befriedigt werden. Die weltweit größten Produzenten sind Betriebe in Indonesien und Taiwan. In Europa liegt die Hauptproduktion vor allem in den Niederlanden.
Die große Nachfrage resultiert vor allem aus den günstigen Preisen, zu denen die Hybriden in Bau- und Pflanzenmärkten angeboten werden, aus ihrer großen farblichen Vielfalt und der teilweise langen Blühdauer der einzelnen Blütentriebe. Hinzu kommt, dass viele Hochglanzprospekte zu Themen wie Dekoration oder moderner Innenarchitektur heute mit Abbildungen von Phalaenopsis-Hybriden dekorative Akzente setzen und dadurch für eine Steigerung der Bekanntheit dieser Pflanzen sorgen.
Gefährdung der Habitate und Artenschutz
Obwohl nur wenige Informationen über den Bestand der einzelnen Populationen verfügbar sind, kann davon ausgegangen werden, dass die Habitate aller Arten unter starkem Druck stehen. Sie werden vor allem durch die Abholzung und Brandrodung der tropischen Wälder und die Umwandlung zu landwirtschaftlichen Nutzflächen stetig verkleinert. Das übermäßige Sammeln der Pflanzen für den Export zur Befriedigung der Nachfrage aus allen Teilen der Welt verstärkt dieses Problem. Von einigen Arten sind nur die Funde der jeweiligen Erstbeschreibung bekannt, so dass die Annahme, dass endemische Arten möglicherweise bereits wieder ausgelöscht wurden, bevor sie überhaupt in Kultur gelangten, nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Zum Schutz der Pflanzen wurden Regularien erlassen, die den Handel und den Umgang mit ihnen reglementieren. Alle Phalaenopsis-Arten stehen im Anhang II des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens (WA). Ihre Einfuhr ist somit nur mit gültigen CITES-Papieren (vom Export- und vom Importland) sowie dem obligatorischen Gesundheitszeugnis möglich. Die Auslegung und Umsetzung der Cites-Vorschriften kann als durchaus umstritten angesehen werden, denn das Hauptproblem ist nicht der Handel mit den Pflanzen, sondern die Zerstörung des Lebensraums vor Ort.
Siehe auch
Liste von luftreinigenden Pflanzen
Literatur
Joseph Arditti: Micropropagation of Orchids. Band 1. John Wiley & Sons, Weinheim 2009 (2. Ausgabe), ISBN 1-4443-0040-7.
Barbara S. Carlsward, W. Mark Whitten, Norris H. Williams, Benny Bytebier: Molecular phylogenetics of Vandeae (Orchidaceae) and the evolution of leaflessness (= American Journal of Botany. Bd. 93), 2002. Onlineversion; zuletzt aufgerufen am 13. Oktober 2012.
Eric A. Christenson: Phalaenopsis – A Monograph. Timber Press Inc., Portland (Oregon) 2001, ISBN 0-88192-494-6.
Allen J. Coombes: „Dictionary of Plant Names“. Hamlyn Books, London 1994, ISBN 978-0-600-58187-1.
Olaf Gruss, Mannfred Wolff: Phalaenopsis. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 1995, ISBN 3-8001-6551-1.
Hans Jessen, Helmut Schulze: Botanisches Wörterbuch für Gärtner und Floristen: Mit über 2000 Namen. Schlütersche, Hannover 2008 (24. Ausgabe), ISBN 3-7944-0220-0
Tiiu Kull, J. Arditti, Sek Man Wong: Orchid Biology: Reviews and Perspectives X. (= Orchid Biology: Reviews and Perspectives, Bd. 10). Springer, Dordrecht 2009, ISBN 1-4020-8801-9.
Rudolf Schlechter, Friedrich Gustav Brieger: Orchideen im Erwerbsgartenbau, Orchideenpflege im Zimmer, Freilandorchideen, Krankheiten, Naturschutz. (= Die Orchideen; ihre Beschreibung, Kultur und Züchtung, Bd. 2), Blackwell Wiss.-Verl., Berlin 1985 (3. Ausgabe), ISBN 3-489-78622-X.
Herman R. Sweet: The genus Phalaenopsis (= Orchid Digest: Orchids of the world, Bd. 1) Orchids Digest, 1980.
Eng-Soon Teoh: Orchids of Asia. Marshall Cavendish, Singapur 2005 (3. Ausgabe). ISBN 981-261-015-4.
James Herbert Veitch: Hortus Veitchii: A History of the Rise and Progress of the Nurseries of Messrs James Veitch and Sons. Cambridge University Press, London 2011, ISBN 1-108-03736-4.
Weblinks
Übersichtsliste registrierter Hybriden der Royal Horticultural Society (RHS) (englisch)
Ralf Mummel: Phalaenopsis-Naturformen (deutsch)
Phalaenopsis orchids: species and primary hybrids (englisch, französisch)
Phalaenopsis Species: Ecology, Morphology and Cultivation (englisch)
Einzelnachweise |
425986 | https://de.wikipedia.org/wiki/Dromaeosauridae | Dromaeosauridae | Die Dromaeosauridae sind eine Gruppe von theropoden Dinosauriern innerhalb der Deinonychosauria. Es handelte sich um kleine bis mittelgroße, bipede Fleischfresser, die wahrscheinlich mit den Vögeln (Aves) nah verwandt waren. Charakteristisch für diese gefiederten Dinosaurier waren eine schmale Schnauze, lange, mit gekrümmten Krallen bewehrte Arme, ein versteifter Schwanz sowie eine vergrößerte sichelförmige Kralle am Fuß. Dromaeosauriden wurden in Asien, Europa, Nordamerika, Südamerika, Afrika und Antarktika entdeckt und existierten etwa 100 Millionen Jahre lang, vom Mitteljura bis zur Oberkreide. In der Populärkultur werden Dromaeosauriden auch als Raptoren bezeichnet.
Merkmale
Größe und Fossilbericht
Dromaeosauriden waren kleine bis mittelgroße Tiere. Die Größe reichte von 47 bis 63 Zentimeter Länge und 200 bis 600 Gramm Gewicht bei Microraptor zhaoianus bis über sechs Meter Länge bei Achillobator und Utahraptor. Laut Untersuchungen von Paläontologen um Alan H. Turner (2007) lassen die generell kleinen Körpermaße der basalen, also am Beginn der Entwicklungslinie stehenden Arten vermuten, dass der gemeinsame Vorfahr aller Dromaeosauriden lediglich etwa 65 Zentimeter lang und 700 Gramm schwer war. Eine Analogie findet sich auch bei der verwandten Gruppe Troodontidae. Die Forscher vermuten daher, dass eine kleine Körpergröße nicht erst von den Vögeln entwickelt wurde, sondern bereits bei den gemeinsamen Vorfahren der Vögel, der Dromaeosauriden und der Troodontiden bestand – einer Gruppe, die auch als Paraves zusammengefasst wird. Im Lauf der Evolution der Dromaeosauriden nahm die Größe mindestens drei Mal unabhängig voneinander drastisch zu: Bei Deinonychus und Unenlagia waren es jeweils mehr als zwei Größenordnungen, während die Größe der Gruppierung Achillobator + Utahraptor um drei Größenordnungen zunahm.
Mit mehr als einem Dutzend Skelettfunden ist Velociraptor der am besten bekannte Vertreter der Dromaeosauridae. Recht vollständiges Skelettmaterial ist auch von Deinonychus, Microraptor und Sinornithosaurus bekannt. Verschiedene Gattungen wie Bambiraptor, Buitreraptor und Tianyuraptor sind jeweils durch ein einziges fast vollständiges Skelett bekannt. Alle anderen Gattungen sind nur durch sehr unvollständige Überreste überliefert.
Schädel
Der Schädel war relativ groß und zeigte eine sehr schmale und verlängerte Schnauze. Die von oben betrachtet annähernd dreieckige Form des Schädels ermöglichte nach vorn gerichtete Augen, was auf ein räumliches Sehen hindeutet. Der Hirnschädel war kurz und tief. Wie bei allen Theropoden wies der Schädel mehrere Schädelfenster auf: Die Augenhöhle war groß und rundlich, was auf große Augen hindeutet. Die Nasenöffnungen waren groß und wie ein liegendes Oval geformt. Das Zwischenkieferbein, ein Knochen am vorderen Ende des Oberkiefers, bildete einen langen, nach hinten gerichteten Fortsatz aus, welcher den Oberkiefer von der Nasenöffnung abtrennte – somit wurde die Nasenöffnung lediglich durch das Zwischenkieferbein und das Nasenbein begrenzt. Die vor den Augen gelegene Schädelgrube (Fossa antorbitalis) war lang und von drei weiteren Schädelfenstern durchsetzt – die Fenestra antorbitalis, die Fenestra maxillaris und die Fenestra promaxillaris. Der Unterkiefer zeigte eine dünne und verlängerte Fenestra mandibularis. Am hinteren Ende der Schädeldecke bildeten das paarige Scheitelbein und das Schuppenbein einen scharfen, nach oben gerichteten Schädelkamm.
Der Schädel zeigt verschiedene einzigartige Merkmale, durch welche die Gruppe von anderen Gruppen abgegrenzt wird (Autapomorphien). So war das paarige Stirnbein T-förmig und zeigte eine sinusförmige Begrenzung der Fenestra supratemporalis, ein Schädelfenster hinter den Augen. Weitere einzigartige Merkmale des Schädels sind ein überhängender Fortsatz des Schuppenbeins, der sich bis über den Kopf des Quadratbeins erstreckte, sowie ein flügelartiger Fortsatz des Os quadratum, der das Os quadratojugale auf der Oberseite (dorsal) berührte.
Ein vollständiger Gaumen wurde bisher bei keinem Exemplar gefunden, obwohl die meisten Knochen des Gaumens bekannt sind. Erst jüngere Studien haben ergeben, dass Dromaeosauriden einen sekundären Gaumen (eine knöcherne Abtrennung zwischen Mund- und Nasenraum) aufwiesen. Das Zwischenkieferbein zeigte einen fast quadratischen Hauptkörper und vier schwach gekrümmte Zähne, während im Oberkiefer 9 bis 15 Zähne steckten. Die Zahnreihe des Oberkiefers endete noch vor dem Beginn der Augenhöhle. Der Unterkiefer war bei Velociraptor lang und dünn, bei Deinonychus und Dromaeosaurus aber tiefer und robuster. Im Dentale, dem zahntragenden Teil des Unterkiefers, steckten 11 bis 16 Zähne. Das Surangulare, ein Kieferknochen hinter dem Dentale, zeigte ein markantes Loch (Foramen). Die Zähne waren groß, leicht nach hinten gebogen und außer bei Buitreraptor auf der Rückseite gesägt. Charakteristisch für Dromaeosauriden war, dass die Sägung zur Zahnspitze hin größer wurde.
Rumpfskelett und Gliedmaßen
Nahezu komplett erhaltene Wirbelsäulen sind lediglich von Velociraptor bekannt, welcher 9 Hals-, 12 Rücken-, 5 bis 6 verschmolzene Kreuzbein- und mindestens 43 Schwanzwirbel aufwies. Der Hals war beim lebenden Tier deutlich S-förmig gebogen. Die Wirbelzentren der meisten Hals- und Rückenwirbel waren kürzer und breiter als bei anderen Coelurosauriern. Ein einzigartiges Merkmal der Dromaeosauriden waren die vergrößerten Parapophysen der Rückenwirbel, Fortsätze auf der Unterseite von Wirbeln. Der Schwanz war lang und durch stark verlängerte, stangenartige Präzygapophysen (mechanische Verbindungselemente der Wirbel) verstärkt. Verlängerte Präzygapophysen wurden ab dem elften Schwanzwirbel ausgebildet und verliefen in verwobenen Bündeln entlang der Wirbelbögen nach vorne. Ein einziger dieser Wirbelauswüchse konnte bis zu zehn weitere Wirbel verbinden. Analog zu den Präzygapophysen bildeten die Chevronknochen an der Unterseite der Schwanzwirbel ebenfalls lange, nach vorn gerichtete Fortsätze, die jeweils mehrere Wirbel überragten und in verwobenen Bündeln angeordnet waren. In seiner Beschreibung des Deinonychus vermutet John Ostrom (1969), diese Verbindungselemente hätten den Schwanz derart versteift, so dass dieser nur am Schwanzansatz beweglich war. Ein neuerer Fund eines Velociraptor zeigt jedoch einen Schwanz im anatomischen Verbund, der horizontal S-förmig gebogen war, ohne dass die Anordnung der Präzygapophysen beeinträchtigt wurde. Dies weist auf eine beträchtliche seitliche Beweglichkeit des Schwanzes hin.
Die Arme gehörten zu den im Verhältnis längsten aller Theropoden und machten bei Velociraptor 65 Prozent und bei Sinornithosaurus 80 Prozent der Hinterbeinlänge aus. Der Unterarm macht 75 Prozent der Länge des Oberarms bei Deinonychus und 70 Prozent bei Velociraptor aus. Die Hand war lang und machte bei Deinonychus 40 Prozent der Armlänge aus. Jeder der drei Strahlen der Hand endete in großen, gekrümmten Klauen. Der erste Strahl war der kürzeste, während der zweite Strahl der längste war. Der dritte Strahl war etwas kürzer aber deutlich dünner als der zweite Strahl. Das zweite und das dritte Fingerglied (Phalanges) des dritten Strahls waren extrem verkürzt – ähnlich wie bei Archaeopteryx, aber anders als bei anderen Coelurosauriern. Biomechanische Studien haben ergeben, dass Dromaeosauriden unter Zuhilfenahme beider Hände Objekte greifen konnten. Bambiraptor konnte den ersten und dritten Finger einander gegenüberstellen und somit Gegenstände mit nur einer Hand greifen – derartige opponierbare Finger sind von keinem anderen Theropoden bekannt.
Das Schambein war lang und nach hinten geneigt, bei den basalen Unenlagiinen jedoch vertikal ausgerichtet. Der Oberschenkel war 10 bis 20 Prozent kürzer als der Unterschenkel, außer bei Achillobator, der einen längeren Oberschenkel als Unterschenkel zeigte. Der Mittelfuß war kurz. Die Mittelfußknochen II, III und IV waren gut entwickelt und etwa gleich groß, während der erste und der fünfte Mittelfußknochen reduziert waren. Die zweite Zehe zeigte eine vergrößerte, sichelartig gebogene Klaue. Die Größe dieser „Sichelkralle“ variierte bei verschiedenen Gattungen stark – während sie beispielsweise bei Deinonychus und Velociraptor extrem vergrößert war, war sie bei Adasaurus eher klein. Zumindest einige Dromaeosauriden trugen den zweiten Zeh mit der vergrößerten Klaue während der Fortbewegung über dem Boden, waren also funktional zweizehig. Hierauf weisen zweizehige Fußspuren sowie viele guterhaltene Skelette hin, bei denen die Sichelkralle in einer aufgerichteten Position erhalten ist. Fossile Fußspuren weisen des Weiteren darauf hin, dass die Fußbasis von einem fleischigen Polster unterstützt wurde, anders als bei anderen Theropoden.
Paläobiologie
Funktion der Sichelkralle
Bereits Ostrom (1969) spekuliert bei seiner Beschreibung des Deinonychus („schreckliche Klaue“), die vergrößerte „Sichelkralle“ am zweiten Zeh könnte zur Tötung von Beutetieren gedient haben. Nach Ostroms Vorstellung konnte Deinonychus große ornithopode Dinosaurier mit seinen langen Armen festhalten, um deren Bäuche mit den Fußkrallen aufzuschlitzen. Zur Untermauerung dieser Hypothese weist Ostrom auf Berichte über heutige Laufvögel wie Kasuare oder Strauße hin, die mit ihren verlängerten Krallen am zweiten (inneren) Zeh Menschen aufgeschlitzt haben.
Der 1971 in der Mongolei gemachte spektakuläre Fund der „kämpfenden Dinosaurier“ unterstützt die Idee, dass die „Sichelkralle“ zur Tötung gedient haben könnte. Dieser berühmte Fund zeigt die Skelette von Velociraptor und dem Ceratopsia Protoceratops, welche sich offenbar mitten in einem Kampf befanden, als sie starben: Während das Velociraptor-Exemplar – auf der rechten Seite liegend – den linken Fuß mit nach unten zeigender Sichelkralle in die Halsregion des Protoceratops ausstreckt, scheint der rechte Fuß unter dem liegenden Körper des Protoceratops-Exemplars eingeschlossen zu sein. Die linke Hand von Velociraptor liegt direkt hinter dem Wangenhorn von Protoceratops, während letzterer den rechten Unterarm von Velociraptor mit seinem Schnabel festhält. In dieser Position könnten die kämpfenden Tiere von einem Sandsturm überrascht und begraben worden sein – auch ist möglich, dass die bereits toten Tiere von Flugsand bedeckt wurden. Da die Sichelkralle zum Hals hin ausgestreckt war, vermutet Kenneth Carpenter (1998), dass sie nicht zum Aufschlitzen, sondern zum Durchstechen der Halsadern oder der Luftröhre verwendet wurde. So hätte die Kralle die besonders dicke Bauchhaut und deren Muskeln nicht aufschlitzen können; auch war die vermutete Schneidekante der Kralle abgerundet, und der Keratinüberzug beim lebenden Tier wäre wahrscheinlich weniger scharf gewesen als ein stumpfes Messer. Auf die von Ostrom aufgeführten Berichte über Laufvögel, die mit ihren verlängerten Fußkrallen Tiere und Menschen aufschlitzen können, schreibt Carpenter, dass es sich dabei um sehr seltene Ereignisse handelt und dass das Aufschlitzen durch das große Gewicht der Laufvögel zustande kommt, nicht durch die Schneidewirkung der Kralle selbst – dies lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass die leichtgewichtigen Dromaeosauriden mit ihrer Sichelkralle eine Schneidewirkung vollziehen konnten.
Forscher um Phillip Manning (2005) vermuten, dass die Kralle wie ein Steigeisen fungierte, mit dem sich die Tiere an großen Beutetieren festhalten konnten. So haben Versuche mit einem hydraulischen Robotermodell des Fußes von Deinonychus ergeben, dass die Kralle kleine und rundliche Einstichlöcher erzeugte und dass das Gewebe unterhalb der Einstichlöcher stark zusammengeschoben wurde, was der Kralle zusätzlichen Halt verschaffte. Nach der Vorstellung dieser Forscher haben Dromaeosauriden große Beutetiere angesprungen und konnten mit ihren gesägten Zähnen viele Verletzungen verursachen, während sie mit ihren Fuß- und Armkrallen fest am Beutetier verankert waren.
Eine neuere Studie unter Leitung von Manning (2009) kommt zu dem Schluss, dass die Sichelkralle und die anderen stark gekrümmten Krallen der Hände und Füße nicht nur zum Beutefang, sondern auch ideal zum Klettern geeignet waren. Dazu röntgten die Forscher eine Handklaue von Velociraptor, erstellten daraus ein dreidimensionales Konturdiagramm und verglichen es mit Krallen des heutigen Uhus, um die Verteilung von Belastungen auf die Klaue zu untersuchen. Wie frühere Studien an heutigen Säugetieren und Vögeln gezeigt haben, lassen sich baumbewohnende Tiere anhand der Krümmung ihrer Krallen von bodenbewohnenden Tieren unterscheiden. Die starke Krümmung der Krallen von Dromaeosauriden ähnelt derer heutiger baumbewohnender Tiere, was nach Ansicht der Forscher auf eine baumbewohnende Lebensweise hinweist. Des Weiteren vermuten die Forscher, dass der zweite, die Sichelkralle tragende Zeh dank modifizierter Sehnen beim Greifen mechanisch sperrte, und sich erst beim Heben des Fußes wieder lösen ließ. Diese Anpassung findet sich bei heutigen baumbewohnenden Vögeln und ermöglicht beispielsweise das Schlafen auf Zweigen ohne herunterzufallen. Bei Dromaeosauriden könnte eine derartige Anpassung eine Hilfe beim Klettern und beim Festkrallen an großen Beutetieren gewesen sein.
Rudelleben und Fußspuren
In Montana wurden Knochen von mindestens drei Deinonychus-Individuen zusammen mit den Überresten des pflanzenfressenden Tenontosaurus entdeckt. Ostrom und Maxwell (1995) vermuten, dass eine Gruppe von Deinonychus den wesentlich größeren Pflanzenfresser angegriffen hat und dass die gefundenen Deinonychus-Knochen von Tieren stammen, die im darauffolgenden Kampf umgekommen sind. Zähne von Deinonychus werden gelegentlich zusammen mit Überresten des Tenontosaurus gefunden, woraus diese Forscher schließen, dass Tenontosaurus das wichtigste Beutetier von Deinonychus war. Carpenter (1998) merkt jedoch an, dass es ebenso wahrscheinlich ist, dass Deinonychus lediglich als Aasfresser an den Kadavern der Tenontosaurus gefressen hat. Brinkman und Roach (2007) vermuten, dass Deinonychus und andere Theropoden keine Rudeltiere waren, sondern sich ähnlich wie heutige Krokodile als konkurrierende Einzelgänger an Kadavern versammelten. So fanden die Forscher bei Deinonychus Hinweise auf Kannibalismus.
Zweizehige Fußspuren aus Shandong (China), die wahrscheinlich von Dromaeosauriden stammen, weisen darauf hin, dass sich diese Tiere zumindest gelegentlich zu Gruppen zusammengeschlossen haben. Die Fundstelle zeigt sechs Fährtenfolgen, die im engen Abstand parallel zueinander in dieselbe Richtung verlaufen. Der Abstand zwischen den einzelnen Trittsiegeln ist bei allen Fährtenfolgen etwa gleich, was anzeigt, dass alle Individuen mit gleicher Geschwindigkeit gegangen sind. Das Fehlen von Trockenrissen an den Spuren weist darauf hin, dass die Spuren schon bald nach dem Entstehen von Sedimenten bedeckt wurden. Li und Kollegen (2008) merken daher an, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass die Spuren nicht von einer Gruppe, sondern nacheinander von unabhängigen Individuen erzeugt wurden.
Die Spuren stammen vermutlich von einem großen, über fünf Meter langen, mit Achillobator vergleichbaren Dromaeosauriden, worauf die 26 bis 28 Zentimeter langen Trittsiegel hindeuten. Sie wurden als neuer Spurentyp (sogenannte Ichnospezies) beschrieben und Dromaeopodus genannt. Derartige Ichnospezies sind nicht Teil der klassischen biologischen Systematik, sondern gehören zu einem Klassifikationssystem speziell für fossile Fußspuren, das komplett von der klassischen Systematik abgekoppelt ist. Eine weitere, wahrscheinlich den Dromaeosauriden zuzuschreibende Ichnospezies ist Velociraptorichnus, die kleinere, etwa zehn Zentimeter lange Abdrücke zeigt. Zweizehige Fußspuren, die zu Dromaeosauriden gehören könnten, sind sehr selten und lediglich aus China (Gansu, Sichuan und Shandong), Südkorea und den Vereinigten Staaten (Utah) bekannt.
Weitere Hinweise auf die Ernährung und Giftigkeit
Obwohl oft vermutet wird, dass Dromaeosauriden große Beutetiere wie Ornithopoden jagen konnten, ernährten sie sich wahrscheinlich wie heutige Raubtiere sowohl von kleinen als auch von großen Beutetieren. Das Skelett eines azhdarchiden Flugsauriers (Pterosauria) aus dem Dinosaur Provincial Park von Alberta (Kanada) weist Bissspuren sowie einen abgebrochenen Zahn des Dromaeosauriden Saurornitholestes langstoni auf, der im Schienbein des Fundes steckt. Ob der Dromaeosauridae den Flugsaurier erlegt hat, ist jedoch fraglich, da der Flugsaurier mit einer geschätzten Flügelspannweite von sechs Metern um ein Vielfaches größer war als der weniger als zwei Meter große Dromaeosauridae. In diesem Fall war der Dromaeosauridae daher wahrscheinlich ein Aasfresser.
Eine jüngere Studie aus 2009 fand bei Sinornithosaurus, einem kleinen gefiederten Dromaeosauriden der Jehol-Gruppe, Hinweise auf einen giftigen Biss. So zeigt diese Gattung neben einer ungewöhnlichen Bezahnung gekerbte Zähne, eine Höhlung, welche vermutlich eine Giftdrüse repräsentierte, sowie einen Kanal, der von dieser Giftdrüse zur Zahnbasis führte. Diese Merkmale sind analog zu heutigen giftigen Echsen. Die Forscher vermuten, dass Sinornithosaurus und verwandte Dromaeosauriden Jagd auf Vögel gemacht haben könnten.
Federn
Der erste direkte Nachweis von Federn bei Dromaeosauriden gelang 1999 mit der Beschreibung von Sinornithosaurus. Dieses Skelett zeigt an verschiedenen Körperpartien Bereiche mit ungefähr vier Zentimeter langen Strukturen, deren Anatomie jedoch nicht erkennbar ist. Seit diesem Fund wurden verschiedene weitere gefiederte Dromaeosauriden entdeckt. Das 2000 beschriebene Typusexemplar von Microraptor zahoianus zeigt Abdrücke, welche vermutlich von Federschäften (Rachis) stammen, was auf echte Konturfedern schließen lässt. Ein weiteres, 2001 beschriebenes Fossil, das möglicherweise zu Sinornithosaurus gehört, zeigt Federn an allen Körperpartien außer dem unteren Abschnitt der Beine. Weitere Fossilien von Microraptor, insbesondere die Funde von Microraptor gui, lassen auf Arm- und Beinschwingen schließen, die ähnlich wie die Flügel heutiger Vögel aufgebaut waren. Einige dieser Schwungfedern weisen asymmetrische Federfahnen auf, was auf eine aerodynamische Funktion schließen lässt. Manche Schwungfedern konnten mehr als doppelt so lang werden wie der Oberschenkelknochen.
Sämtliche gefiederte Dromaeosauriden stammen aus der Jehol-Gruppe in Liaoning (China), einer bedeutenden Fossillagerstätte. Vulkanische Aschen trugen zur Zeit dieser Ablagerungen entscheidend zur Entstehung von außergewöhnlich vollständigen Fossilien bei, so dass auch Federn erhalten blieben, die andernorts nur sehr selten fossil überliefert sind. Direkte Hinweise auf Federn außerhalb der Jehol-Fauna finden sich bei Velociraptor und Rahonavis: Bei diesen Gattungen wurden Ansatzstellen für Federn (englisch quill knobs) an der Elle des Unterarms gefunden, was auf lange Armfedern schließen lässt.
Federn dienten ursprünglich möglicherweise als Körperisolierung. Spezielle Kopffedern bei Microraptor könnten zur Zurschaustellung gedient haben. Lange Armfedern, wie sie bei Velociraptor vermutet werden, könnten darüber hinaus auch eine isolierende Funktion bei Bebrütung der Eier gehabt haben, worauf Funde des Oviraptorosauriers Citipati hindeuten, die dieses Tier in einer vogelähnlichen Brutposition über einem Nest zeigen.
Flug
Basale Dromaeosauriden zeigen sehr ähnliche Anpassungen an den Flug wie der Urvogel Archaeopteryx. Unterschiede im Flugapparat finden sich lediglich in den Proportionen der Arme, die beispielsweise bei Archaeopteryx länger waren als bei Dromaeosauriden. Die Fähigkeit zum aktiven Flug oder zum Gleitflug wurde für mindestens zwei Spezies vorgeschlagen. Microraptor gui zeigte Flügel mit asymmetrischen Schwungfedern an Armen und Beinen, die er wahrscheinlich zum Gleitflug von Baum zu Baum einsetzen konnte. Xu und Mitarbeiter vermuten bei ihrer Beschreibung dieses Tieres, dass die langen Beinfedern ein schnelles Fortbewegen auf dem Boden unmöglich gemacht hätten und dass basale Dromaeosauriden somit baumbewohnend (arboreal) gewesen wären. Nach diesen Forschern konnte Microraptor gui seine Beinflügel analog zu den Armflügeln seitlich ausstrecken, um so mit einem vorderen und einen hinteren Paar Flügeln zu gleiten. In einer neueren Studie vermuten Chatterjee und Templin jedoch eine gestufte doppeldeckerähnliche Anordnung der Flügel: Nach diesen Forschern waren die Beine beim Gleitflug nicht horizontal, sondern vertikal entlang der Sagittalebene ausgerichtet und Z-förmig eingezogen, während die Schwungfedern seitlich ausgerichtet waren. Die Beinflügel wurden wahrscheinlich tiefer als die Armflügel gehalten und konnten somit unter die Armflügel ausgestreckt werden. Vermutlich konnte Microraptor mit einem wellenförmigen Gleitflug Distanzen von über 40 Metern überbrücken, bei einer Geschwindigkeit von 9 bis 15 m/s. Die Forscher halten einen begrenzten aktiven Flug bei Microraptor theoretisch für möglich. Microraptor gui wird als möglicher Hinweis darauf gedeutet, dass es in der Entwicklung des Vogelflugs ein Zwischenstadium mit vier Flügeln gab, bis sich die Konfiguration mit zwei Flügeln durchsetzte, wie sie bereits Archaeopteryx zeigte. Alternativ könnte es sich bei der vierflügeligen Konfiguration von Microraptor aber auch um eine evolutionäre Sackgasse gehandelt haben.
Für einen anderen basalen Dromaeosauriden der Jehol-Gruppe, Cryptovolans pauli, wurde die Fähigkeit zum aktiven Flug vorgeschlagen, wobei Cryptovolans wahrscheinlich mit Microraptor identisch ist. Rahonavis aus der Oberkreide Madagaskars könnte ebenfalls zum aktiven Flug fähig gewesen sein, worauf deutliche Anpassungen hinweisen – insbesondere ähnelt die Struktur des Schultergürtels dieser Spezies mehr derjenigen heutiger Vögel als der von Archaeopteryx.
Chiappe und Dyke (2006) vermuten, dass Rahonavis ähnlich wie Archaeopteryx ein schwächerer und weniger wendiger Flieger war als die meisten heute lebenden Vögel. Rahonavis gilt traditionell als echter Vogel und wird erst in jüngeren Studien innerhalb der Dromaeosauridae eingeordnet.
Paläoökologie, Ursprung und Paläobiogeographie
Dromaeosauriden sind aus einer großen Bandbreite verschiedener Habitate bekannt. Während die Überreste von Deinonychus, Dromaeosaurus und Saurornitholestes aus fluviatilen, in Flüssen abgelagerten Sedimenten stammen, wurde Velociraptor in sandigen Sedimenten entdeckt, die auf ein trockenes, wüstenartiges Habitat hindeuten. Obwohl sie traditionell als flinke, terrestrische Räuber dargestellt werden, vermutete bereits Chatterjee (1997) wegen des nach hinten gerichteten Schambeins und wegen Merkmalen an der Hand, dass einige Dromaeosauriden baumbewohnend waren. Kürzlich wurde mit der Beschreibung des Microraptorinen Hesperonychus aus der Dinosaurier-Park-Formation von Alberta (Kanada) bekannt, dass Microraptorinen nicht nur in der Kreide Asiens, sondern auch in der Kreide Nordamerikas die Nische der kleinen Prädatoren besetzt haben könnten. Zahnfunde aus dem Oberjura Deutschlands (Oker, Niedersachsen) sowie aus Portugal weisen darauf hin, dass Dromaeosauriden auf dem europäischen Archipel zu dieser Zeit verbreitet waren.
Ostrom (1990) vermutet, dass die Dromaeosauridae während der Unterkreide (Barremium) in Nordamerika entstanden sind und sich dann über Asien und Europa ausgebreitet haben. Jedenfalls wurden die Dromaeosauridae schon 1992 aus dem mittleren Jura (Bathonium) nachgewiesen – ein Zahnfund aus der englischen Grafschaft Gloucestershire ist der älteste bisher entdeckte Nachweis dieser Gruppe. Norell und Makovicky (2004) halten derweil einen Ursprung der Gruppe in Asien für wahrscheinlich, da die meisten und insbesondere die basalsten Gattungen aus diesem Kontinent stammen. Einige neuere Studien gehen jedoch davon aus, dass die Dromaeosauridae zu einer Zeit entstand, als noch alle Landmassen zum Superkontinent Pangaea vereint waren. Die Dromaeosauriden könnten somit wie andere Dinosauriergruppen kosmopolitisch über Pangaea verbreitet gewesen sein, bevor dieser im mittleren oder oberen Jura in den Nordkontinent Laurasia und den Südkontinent Gondwana zerbrach. Diese Studien sehen Hinweise bei einigen wenigen Dromaeosauriden aus Gondwana, die allesamt zu einer eigenständigen, basalen Gruppe zusammengefasst werden können, den Unenlagiinen. So vermuten Makovicky und Kollegen (2005), dass sich die Unenlagiinen seit der Trennung Gondwanas von Laurasia unabhängig von den anderen Dromaeosauriden der Nordkontinente entwickelt haben. Turner und Kollegen (2007) widersprechen dieser Hypothese einer monophyletischen, auf die Südhalbkugel beschränkten Gruppe, und verweisen auf Shanag, den sie als einen Unenlagiinen aus der Nordhalbkugel sehen. Longrich und Currie (2009) führen Shanag jedoch als Microraptorinen.
Systematik
Äußere Systematik und Verwandtschaft mit Vögeln
Nach der verbreiteten Ansicht waren die Troodontiden die nächsten Verwandten der Dromaeosauriden. Zusammen bilden diese beiden Gruppen die Deinonychosauria, eine Gruppe innerhalb der maniraptoren Theropoden. Ostrom (1973) erkannte als Erster deutliche Ähnlichkeiten zwischen Dromaeosauriden und Vögeln und schlussfolgerte in späteren Arbeiten eine nahe Verwandtschaft dieser beiden Gruppen – eine Vermutung, die seitdem von vielen Studien bestätigt wurde. Die genauen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Dromaeosauriden und Vögeln sind jedoch noch immer Gegenstand vieler Debatten. Die meisten Forscher gehen davon aus, dass die Vögel die Schwestergruppe der Deinonychosauria bilden – diese beiden Gruppen werden auch als Paraves zusammengefasst.
Mark Norell und Kollegen (2001) sehen die Dromaeosauriden als näher mit den Vögeln verwandt als mit den Troodontiden – sie vermuten sogar, dass die Dromaeosauridae als paraphyletische Gruppe die Vögel mit einschließen, dass also alle Vögel von Dromaeosauriden abstammen. Larry Martin (2004) vermutet, dass die gesamte Gruppe der Maniraptora einschließlich der Dromaeosauriden keine Dinosaurier, sondern sekundär flugunfähige Vögel waren. Martin zufolge spalteten sich die Vögel während der Trias von basalen, vierfüßigen Archosauriern ab. Auch Alan Feduccia und Kollegen (2005) widersprechen der verbreiteten Ansicht einer Abstammung der Vögel von den Dinosauriern. Nach diesen Forschern muss zumindest die Dromaeosauriden-Untergruppe Microraptorinae innerhalb der Vögel eingeordnet werden.
Innere Systematik
Innerhalb der Dromaeosauridae werden bis zu sechs Gruppen unterschieden. Einige aus den südlichen Kontinenten stammende Gattungen bilden die wenig bekannte Gruppe Unenlagiinae, die häufig als die basalste (urtümlichste, stammesgeschichtlich älteste) Gruppe betrachtet wird. Ebenfalls basal waren die Microraptorinae, die sehr kleine und vermutlich baumbewohnende Dromaeosauriden umfasst. Sämtliche Dromaeosauriden, von denen Federabdrücke erhalten sind, stammen aus dieser Gruppe. Die fortgeschritteneren Gruppen der Dromaeosauriden werden von Longrich und Currie (2009) auch als Eudromaeosauria zusammengefasst: Während die Velociraptorinae Gattungen wie Velociraptor und Deinonychus umfasst, werden der Dromaeosaurinae Dromaeosaurus sowie die großwüchsigen Gattungen Utahraptor und Achillobator zugeschrieben. Saurornitholestes wird manchmal zusammen mit Bambiraptor und Atrociraptor in eine eigene Gruppe eingeordnet, die Saurornitholestinae.
Die folgende Gattungsliste basiert auf Longrich und Currie (2009) sowie den Einzelnachweisen:
Dromaeosauridae
Daurlong
Zhenyuanlong
Zhongjianosaurus
Dromaeosaurinae
Achillobator
Dromaeosaurus
Utahraptor
Microraptorinae
Changyuraptor
Graciliraptor
Hesperonychus
Microraptor
Shanag
Sinornithosaurus
Tianyuraptor
Saurornitholestinae
Atrociraptor
Bambiraptor
Saurornitholestes
Unenlagiinae
Austroraptor
Buitreraptor
Neuquenraptor
Rahonavis
Unenlagia
Velociraptorinae
Adasaurus
Acheroraptor
Balaur
Deinonychus
Dineobellator
Linheraptor
Nuthetes
Tsaagan
Velociraptor
Halszkaraptorinae
Halszkaraptor
Hulsanpes
Mahakala
Status unklar (nach Norell und Makovicky, 2004)
Boreonykus
Dakotaraptor
Dromaeosauroides
Koparion
Luanchuanraptor
Pedopenna
Pyroraptor
Unquillosaurus
Variraptor
Yurgovuchia
Dromaeosauridae und Menschen
Entdeckungs- und Forschungsgeschichte
1922 beschrieben Matthew und Barnum Brown mit Dromaeosaurus den ersten Dromaeosauriden – basierend auf einem teilweise erhaltenen Schädel und Fußknochen, die Brown 1914 in der Dinosaurier-Park-Formation in Alberta entdeckte. Diese Forscher schrieben Dromaeosaurus der Deinodontidae (heute Tyrannosauridae) zu, stellten ihn innerhalb dieser Gruppe jedoch in eine eigene Unterfamilie, die Dromaeosaurinae. Der Name Dromaeosauridae bedeutet so viel wie laufende Echsen (gr.: dromaios = „rennen“, sauros = „Echse“) und soll auf Tiere hinweisen, die im Gegensatz zu anderen Deinodontiden klein und leichtgebaut waren. Bereits zwei Jahre später (1924) beschrieb Henry Fairfield Osborn einen nahezu kompletten Schädel und ein Fingerglied als Velociraptor. Osborn hielt Velociraptor jedoch für einen Megalosauriden.
Ostrom (1969) bot mit seiner Beschreibung des Deinonychus erstmals eine detailliertere Beschreibung, auch des Postkraniums. Er stellte sich Deinonychus als aktiven, schnellen Räuber vor und widersprach damit der damals verbreiteten Vorstellung der Dinosaurier als langsame, unbeholfene Kreaturen. 1976 bemerkte Ostrom deutliche Ähnlichkeiten der Handskelette von Deinonychus und des Urvogels Archaeopteryx und schloss daraus, dass Vögel von theropoden Dinosauriern abstammen. 1999 wurde mit Sinornithosaurus der erste von mehreren gefiederten Dromaeosauriden aus der Jehol-Gruppe von China geborgen. Im selben Jahr wurde im National Geographic Magazine die Entdeckung von Archaeoraptor bekanntgegeben und als „fehlendes Bindeglied zwischen Dinosaurier und Vögel“ gekürt. Später konnte dieses Fossil als geschickte Fälschung entlarvt werden, die aus den Überresten verschiedener Tiere zusammengesetzt war – so gehörte der Großteil des Skeletts zu dem kreidezeitlichen Vogel Yanornis, während der Schwanz zu dem im Jahr 2000 beschriebenen Dromaeosauriden Microraptor gehörte. Jüngere Entdeckungen sind die Microraptorinen Hesperonychus und Tianyuraptor, die beide 2009 beschrieben wurden. 2020 beschrieben Wissenschaftler den 2 Meter langen Dineobellator notohesperus. Skelettmerkmale deuten darauf hin, dass die Art einen beweglicheren Schwanz als andere Dromaeosauriden hatte, der ihm zu einer hohen Wendigkeit verholfen haben könnte.
In der Populärkultur
Einige Vertreter der Dromaeosauridae, wie Deinonychus, Velociraptor und Utahraptor, erscheinen regelmäßig in populären Darstellungen über Dinosaurier. Velociraptor nimmt in dem 1990 erschienenen Science-Fiction-Roman Jurassic Park (deutscher Titel auch DinoPark) von Michael Crichton sowie in Steven Spielbergs gleichnamiger Verfilmung von 1993, einem der kommerziell erfolgreichsten Werke der Filmgeschichte, einen bedeutenden Teil der Handlung ein und zählt heute zu den populärsten Dinosauriern. Spielberg war jedoch von der geringen Körpergröße von Velociraptor enttäuscht und stellte dieses Tier im Film stark vergrößert dar. Ein weiteres Beispiel ist der Roman Raptor Red (1995) des Paläontologen Robert Bakker, der aus der Sicht eines weiblichen Utahraptors geschrieben ist.
Literatur
Mark Norell, Peter Makovicky: Dromaeosauridae. In: David B. Weishampel, Peter Dodson, Halszka Osmólska (Hrsg.): The Dinosauria. 2nd edition. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2004, ISBN 0-520-24209-2, S. 196–209.
Weblinks
Einzelnachweise |
443699 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rosenau%20%28Brandenburg%29 | Rosenau (Brandenburg) | Rosenau [] ist eine Gemeinde mit etwas mehr als 900 Einwohnern im Landkreis Potsdam-Mittelmark in Brandenburg. Sie entstand schon 2001 vor der brandenburgischen Gemeindegebietsreform 2003 durch den freiwilligen und gleichberechtigten Zusammenschluss der Gemeinden Rogäsen, Viesen und Warchau und der Eingliederung von Zitz. Der Name ist eine Wortschöpfung aus Silben der Dorfnamen Rogäsen, Viesen und Warchau. Zu Rosenau gehört auch das Dorf Gollwitz. Rosenau gehört zum Amt Wusterwitz.
Die Landschaften der Gemeinde sind eiszeitlich geprägte Höhenzüge und Talungen wie die Karower Platte und das Fiener Bruch. Eine menschliche Besiedlung spätestens seit der Mittelsteinzeit ist anhand archäologischer Funde belegt. Erste Erwähnung fand das Dorf Zitz im Jahr 974. Zwei Gutshäuser, eine Turmruine und mittelalterliche Feldsteinkirchen zählen zu den denkmalgeschützten Sehenswürdigkeiten Rosenaus.
Weite Teile der Gemeinde sind als Schutzgebiet ausgewiesen. Im Fiener Bruch befindet sich eine Population der seltenen und geschützten Großtrappen.
Geographie
Geographische Lage
Die Gemeinde Rosenau liegt im Westen des Landkreises Potsdam-Mittelmark an der Grenze zu Sachsen-Anhalt und dem Landkreis Jerichower Land etwa 10 Kilometer südwestlich der Mittelstadt Brandenburg an der Havel, dem Oberzentrum der Region und etwa 50 Kilometer westlich der Stadtgrenze der Bundeshauptstadt Berlin, im äußeren westlichen Bereich der Metropolregion Berlin/Brandenburg. Sie hat eine Fläche von über 49 Quadratkilometern. Der tiefstgelegene Punkt des Gemeindegebiets befindet sich im Wusterwitzer Becken an der nördlichen Gemeindegrenze, am Grenzgraben, mit 30 Metern über Normalnull. Der höchstgelegene Punkt ist der 85,9 Meter hohe Gollwitzer Berg nahe der Landesgrenze. Die Erhebung ist Teil einer eiszeitlich gebildeten Hügelkette beziehungsweise Hochfläche, der Karower Platte, die nach Westen bis ins Jerichower Land und nach Osten fast an den Fluss Buckau bei Mahlenzien reicht.
Gemeindegliederung, Nachbarstädte und -gemeinden
Rosenau gliedert sich in vier Ortsteile und einen Gemeindeteil. Die drei Dörfer Viesen, Rogäsen und Zitz liegen unmittelbar am Südhang der Karower Platte am Übergang zum Fiener Bruch und sind administrativ Ortsteile. Der Wohnplatz Viesener Mühle liegt im Bruch am Ufer der Buckau. Am Nordhang der Karower Platte liegen der Ortsteil Warchau und der Gemeindeteil Gollwitz. Rosenau gehört zum Amt Wusterwitz, dem noch die Gemeinden Wusterwitz und Bensdorf angehören.
An die Gemeinde Rosenau grenzen im Uhrzeigersinn folgende Städte, Gemeinden und Ortschaften: im Süden die Gemeinde Wenzlow mit der Gemarkung Boecke und die Kleinstadt Ziesar mit den Gemarkungen Glienecke, Bücknitz und Ziesar, die wie Rosenau zum Landkreis Potsdam-Mittelmark gehören, im Westen die Stadt Jerichow mit Karow und Kade im Jerichower Land in Sachsen-Anhalt, im Norden und Nordosten Wusterwitz, das ebenfalls Teil Potsdam-Mittelmarks ist und im Osten die kreisfreie Stadt Brandenburg an der Havel mit den Gemarkungen Kirchmöser und Mahlenzien.
Geologie
Die Landschaften der Gemeinde wurden während der letzten, der Weichselkaltzeit, geprägt. Es ist eine Dreiteilung zu erkennen. Im Norden befindet sich das tief liegende Wusterwitzer Becken, im mittleren Bereich der hüglige Höhenzug der Karower Platte, im Süden das Tal des Fiener Bruchs. Von Nordosten aus Skandinavien vordringendes Inlandeis überformte an der Haupteisrandlage der Brandenburg-Phase den Höhenzug der Karower Platte. Dieser Höhenzug bestand bereits vorweichselkaltzeitlich, wie ältere rotbraune tonige Geschiebemergel, Bändertone und rollige Sedimente belegen. Die Haupteisrandlage wird im Bereich Rosenaus durch die Endmoränen, den 67,2 Meter hohen Weinberg und den 68,5 Meter hohen Friedensberg nahe dem Südhang der Platte markiert. Unterhalb des Friedensbergs weisen Sande, feine Kiese und Geröll auf dessen Randlage hin. An der ersten rückwärtigen Eisrandlage, der Randlage 1a, liegt der markante Gollwitzer Berg, die höchste Erhebung der Karower Platte. Im Osten im Bereich der Gemeindegrenze zwischen den Dörfern Viesen und Mahlenzien liegt großflächig der Mahlenziener Sander, ein periglazialer Schwemmkegel mit fluvioglazialen Sedimenten. Weiterhin befinden sich im Gebiet der Platte Schmelzwassersedimente der Vorschüttphase und auch Grundmoränenbildungen der älteren Saalekaltzeit. Das Wusterwitzer Becken ist ein Grundmoränenbecken im Rückland der Karower Platte. Es wurde mit Schmelzwassersanden aufgefüllt. Aufgrund seiner tiefen Lage war es in der Folge im Gebiet Rosenaus von Moorbildung geprägt.
Das Fiener Bruch südlich der Platte ist der nordwestliche Ausläufer des Glogau-Baruther Urstromtals. Dieses Urstromtal war in seiner eiszeitlichen Geschichte mindestens zweimal von Schmelzwässern in nordwestlicher Richtung parallel zur Gletscherkante durchflossen. Das Fiener Bruch stellt einen tiefliegenden Senkungsbereich dar, in dem sich ein Feuchtgebiet entwickelte, das ebenfalls von Moorbildung geprägt war.
Böden
Die Böden sind typisch für eiszeitlich geprägte Landschaften. In den tiefliegenden Bereichen des Wusterwitzer Beckens im Norden Rosenaus dominieren Erdniedermoore, Kalkgleye und Anmoorgleye. Im Fiener Bruch im Süden der Gemeinde finden sich ebenfalls großflächig Erdniedermoore und Anmoorgleye. Die Bereiche des Wusterwitzer Beckens und des Fiener Bruchs sind, so sie aufgrund vorgenommener Entwässerung landwirtschaftlich nutzbar sind, als Böden mit hohem Ertragspotential klassifiziert.
Im Bereich der Karower Platte dominieren Braunerde, Podsol-Braunerde und Fahlerde. Am Südhang zwischen Rogäsen und der östlichen Gemeindegrenze gibt es einen schmalen Streifen Gley-Braunerde. All diesen Bereichen wird kein hohes Ertragspotential zugeschrieben. Auf einem Teil der Platte, westlich und nordwestlich des Dorfes Viesen befindet sich jedoch großflächig Pseudogley beziehungsweise Fahlerde-Pseudogley. Dieses Gebiet mit den fruchtbarsten Flächen der Gemeinde hat ein sehr hohes Ertragspotential.
Flächennutzung
Rosenau ist eine ländliche Gemeinde. Mehr als 93 Prozent des Gemeindegebietes sind landwirtschaftlich genutzt oder Wälder. Den größten Anteil haben mit 70,8 Prozent die landwirtschaftlichen Flächen. Dieser Anteil liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt Brandenburgs von etwa 49 Prozent. Vor allem die Niederungsflächen des Fiener Bruchs und des Wusterwitzer Beckens werden für Ackerbau und Viehwirtschaft genutzt. Unter dem Landesdurchschnitt liegt mit 23 Prozent der Anteil an Waldflächen. Dieser macht brandenburgweit 35,6 Prozent aus. Bewaldet sind in erster Linie unfruchtbarere Flächen der Karower Platte wie die Kuppen des Gollwitzers, des Wein- und des Friedensbergs und der Mahlenziener Sander.
Nur 0,9 Prozent des Gemeindegebiets sind Wasserflächen, was deutlich unter dem Landesdurchschnitt des gewässerreichen Bundeslandes liegt. Brandenburgweit machen Wasserflächen 3,4 Prozent aus. Gründe sind das Fehlen von natürlichen oder künstlichen Seen und die weitgehende Trockenlegung des Fiener Bruchs. So reduzieren sich die Wasserflächen der Gemeinde auf Bäche und eine Vielzahl von Gräben. Ein nur geringer Flächenanteil Rosenaus ist bebaut, in erster Linie im Bereich der Ortskerne. Die Art der tatsächlichen Nutzung der Flächen ist in der Tabelle Flächennutzung 2012 aufgeschlüsselt.
Gewässer
Weniger als ein Prozent der Fläche Rosenaus sind Wasserflächen. Es gibt in der Gemeinde keine Seen, jedoch einige natürliche und eine Vielzahl künstlicher Fließgewässer, vor allem im Bereich des Fiener Bruchs im Süden, das von einem ganzen System von Meliorationsgräben durchzogen wird, und des Wusterwitzer Beckens im Norden. Größtes Fließgewässer ist die Buckau, ein Nebenfluss der Havel. Sie entspringt im Hohen Fläming im Süden, tritt südlich von Rogäsen in das Fiener Bruch ein und fließt in nordöstlicher Richtung durch das Bruchtal. Südlich von Viesen liegt eine der vielen ehemals durch den Fluss angetriebenen Wassermühlen, die Viesener Mühle. An der Gemeindegrenze zur Stadt Brandenburg an der Havel befindet sich eine Staustufe, die den Abfluss reguliert. Weitere Staustufen, auch mehrere Mühlenstaue begleiten den weiteren Verlauf. Die Buckau mündet im Stadtgebiet Brandenburgs am Südufer in den von der Havel durchflossenen Breitlingsee. Die biologische Gewässergüte wird für die Buckau mit der Güteklasse II (mäßig belastet) angegeben.
Die Buckau nimmt im Bruchtal eine Vielzahl von begradigten und umgeleiteten Bächen und Gräben auf, die teilweise schon vor Jahrhunderten zur Entwässerung des moorigen Feuchtgebietes angelegt wurden. Die wichtigsten innerhalb der Gemeinde sind der Buckauer Hauptgraben, der in seinem unbegradigten Oberlauf Kobser Bach heißt, die Holzbuckau, ein begradigter ehemaliger Nebenlauf der Buckau, und der Zitzer Landgraben. Diesen Gräben wird jeweils von mehreren Seiten beziehungsweise von Stichgräben Wasser zugeführt. Die Fließgeschwindigkeit innerhalb des Fiener Bruchs ist aufgrund des nur geringen Gefälles sehr langsam. Das Grabensystem wird über mehrere Wehre gesteuert, wobei teilweise auch eine Änderung der Fließrichtung beispielsweise vom Zitzer in den Karower Landgraben und von diesem in den Elbe-Havel-Kanal möglich ist.
Das Wusterwitzer Becken wird ebenfalls über ein Grabensystem entwässert. Der Grenzgraben oder Beekengraben als Hauptgraben beginnt bei Gollwitz nahe der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt unterhalb des Gollwitzer Berges. Er fließt in östliche Richtung zum nördlichen Wusterwitzer See ab. Er nimmt mehrere rund um Gollwitz und Warchau angelegte kleine Gräben auf. Zwei regulierende Wehre befinden sich im Gemeindegebiet Rosenaus, weitere im Unterlauf.
Einziges natürliches Fließgewässer der Karower Platte und einziger Bach, dessen Quelle in Rosenau liegt, ist der Steinbach. Dieser entspringt zentral in der sonst trockenen Hochfläche nördlich von Rogäsen beziehungsweise südlich von Warchau. Er fließt in westliche Richtung ab. Unmittelbar an der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt befindet sich ein Wehr. Der Steinbach mündet in Sachsen-Anhalt bei Karow im Fiener Bruch in den Karower Landgraben.
Klima
In der Gemeinde Rosenau herrscht ein mitteleuropäisches gemäßigtes Klima, das vom Kontinentalklima im Osten und vom atlantischen Seeklima im Westen beeinflusst wird. Die Niederschläge verteilen sich relativ gleichmäßig über das Jahr mit einem Maximum im Sommer. Trockenmonate, in denen keine Niederschläge fallen, gibt es nicht. Der durchschnittliche jährliche Niederschlag liegt bei 522 mm. Trockenster Monat ist der Februar mit einer Niederschlagsmenge von 31 mm. Der meiste Niederschlag fällt durchschnittlich im Juni mit 62 mm. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 9,1 °C. Der wärmste Monat ist der Juli mit durchschnittlichen 18,3 °C. Im Januar, dem kältesten Monat, beträgt die Durchschnittstemperatur −0,1 °C.
Bevölkerung
Beim Zensus 2011 hatte Rosenau 949 Einwohner. Neun Einwohner der Gemeinde hatten eine ausländische Staatsangehörigkeit. Von ihnen waren drei Österreicher und drei Polen. Der Ausländeranteil lag somit bei 0,9 Prozent. 20,5 Prozent der Bevölkerung beziehungsweise 195 Einwohner zählten sich dem evangelischen, 1,6 Prozent beziehungsweise 16 Einwohner dem katholischen Christentum zu. Die restliche Bevölkerung wurde bei der Frage nach der Religionszugehörigkeit unter „sonstige, keine, ohne Angabe“ zusammengefasst, sodass eine Aussage zu weiteren Religionsgemeinschaften anhand dieser Daten nicht möglich ist. 52,3 Prozent waren männlichen, 47,7 Prozent weiblichen Geschlechts. 23,1 Prozent der Bewohner Rosenaus waren 65 oder älter, 12,9 Prozent unter 20.
Bevölkerungsentwicklung
Vor der Industrialisierung lebten zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Dörfern Gollwitz, Warchau, Rogäsen, Viesen und Zitz weniger als 1000 Menschen. In den folgenden 130 Jahren nahm die Bevölkerung bis zu einem ersten Maximum im Jahr 1910 zu. Insgesamt lebten in diesem Jahr 1652 Menschen in den Orten. In den folgenden drei Jahrzehnten verloren die Dörfer wieder an Bevölkerung, sodass diese 1939 zusammen noch 1337 Einwohner hatten. Dieser Trend wurde nur für kurze Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterbrochen, als Aussiedler aus ehemaligen deutschen Gebieten in den Dörfern untergebracht und angesiedelt wurden. 1950 lag das Allzeithoch bei 2382 Einwohnern. Seit dieser Zeit bis zur Mitte der 1990er Jahre ging die Bevölkerungszahl kontinuierlich zurück. Seither ist der Abwärtstrend abgeschwächt. Seit 1993 gab es in einzelnen Jahren geringe Zuwächse gegenüber den Vorjahren, die jedoch die Gesamtverluste nicht wettmachen konnten und in der Folge wieder verloren gingen. Die genauen Bevölkerungszahlen sind in der Tabelle Bevölkerungsentwicklung im Gebietsstand des jeweiligen Jahres dargestellt.
Dialekte
Bis in das 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert war die regionale Mundart ein mark-brandenburgischer Dialekt, der zur niederdeutschen Sprache gezählt wird und in der Zeit Theodor Fontanes und seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg vom größten Teil der Bevölkerung der Gegend gesprochen wurde. Typisch für die niederdeutschen Mundarten sind unverschobenes p für hochdeutsches f (beispielsweise Dörp statt Dorf), unverschobenes t für hochdeutsches s (beispielsweise grot statt groß) sowie unverschobenes k für hochdeutsches ch (beispielsweise maken statt machen). Im Bereich der Vokale sind die unterbliebene neuhochdeutsche Diphthongierung von ie und u gegenüber diphthonigertem hochdeutschem ei und au typisch (beispielsweise rieden statt reiten und Huus statt Haus).
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wechselte die Sprache von Berlin ausgehend zunächst auf Städte wie Brandenburg an der Havel überspringend und von dort auf die umliegenden Dörfer einwirkend immer mehr vom Niederdeutschen zum Berliner Dialekt. Dieser alltagssprachliche Veränderungsprozess ist weitgehend abgeschlossen, sodass das Niederdeutsche heute im Umland der Stadt Brandenburg als nahezu ausgestorben gilt. Beispielhaft für die Sprache des 20. und 21. Jahrhunderts ist, dass das au als o (lofen statt laufen) und das z als stimmloses s (Ssitrone statt Zitrone) gesprochen wird, beides Reminiszenzen des Niederdeutschen in der Berliner Sprache. Typisch ist auch die häufige Umschreibung des Genitivs. Beispiel dafür ist die Formulierung „Tina ihre neue Frisur“ statt „Tinas neue Frisur“.
Geschichte
Ur- und Frühgeschichte
Der nördliche Rand des Fiener Bruchs war in ur- und frühgeschichtlicher Zeit spätestens im Mesolithikum besiedelt, wie archäologische Funde belegen. Aus dieser Zeit stammt ein in der Gemarkung Rogäsens gefundenes Walzenbeil. Nördlich von Viesen wurde ein Gräberfeld der späten Bronzezeit gesichert, das aus Urnengräbern (Urnen mit Deckschale) bestand. Ein weiteres bronzezeitliches Urnengräberfeld wurde bei Warchau am Rosenberg gefunden. Damit ist eine dauerhafte Besiedlung durch Angehörige einer bäuerlichen Kultur nachgewiesen. Eine der bei Viesen gefundenen Urnen enthielt als Grabbeigabe Anhänger aus Knochen von Hund und Wels. Ein Fund in der Nähe der Viesener Mühle im Fiener Bruch bestand aus zwei Bronzebeilen. Nördlich von Rogäsen und am Friedensberg fanden Archäologen mehrere Gräber, die der vorrömischen Eisenzeit, der Jastorf-Kultur, zugeordnet werden konnten. Eisenzeitliche Funde bei Zitz waren Töpfe, Haushaltsgegenstände, verzierte Gefäße, zwei übereinander liegende Pferde und ein Schwein in einer Opfergrube.
1851 wurde im Zuge von Wiederaufbauarbeiten nach einem Brand der Schule in Rogäsen ein großer Stein gefunden und gesprengt. Beim Abräumen der Bruchstücke wurden auf der abgeflachten Rückseite eingemeißelte runenförmige Schriftzeichen entdeckt. Nach dem Zusammensetzen der Teilstücke des Steins hat dieser eine Höhe von 1,14 Meter und eine Breite von 0,86 Meter. Es handelt sich beim Runenstein von Rogäsen um den einzigen seiner Art in Norddeutschland. Bislang konnte die vermeintliche Inschrift nicht entschlüsselt oder der Stein datiert werden. Er befindet sich seit 1928 im Vorgarten des Kreismuseums Jerichower Land in Genthin.
In seinem Werk Germania beschrieb Tacitus die Gegend östlich der Elbe bis an die Oder als Siedlungsgebiet des suebischen Stamms der Semnonen. Claudius Ptolemäus erwähnte sie im 2. Jahrhundert. Teile der Semnonen verließen ab dem 3. Jahrhundert ihr Siedlungsgebiet in Richtung des Rheins und verschmolzen mit den Alamannen. Ab dem 5./6. Jahrhundert kam die germanische Siedlungstätigkeit östlich der Elbe weitgehend zum Erliegen, sodass von einem nahezu siedlungsleeren Raum gesprochen wird. Es liegt ab dieser Zeit bis ins 8. Jahrhundert nur eine geringe Zahl archäologischer Funde vor. Etwa zu Beginn des 8. Jahrhunderts wanderten Slawen in die Region ein. Auf Kontakte mit der verbliebenen germanischen Bevölkerung deutet die Übernahme germanischer Ortsnamen durch die slawische Bevölkerung hin. Reste germanischer Bevölkerung gingen in der slawischen Mehrheitsbevölkerung auf.
Mittelalter
Um die christliche Mission sicherzustellen, verfügte um 950 der spätere Kaiser Otto I. für Gebiete östlich der Elbe die Gründung des Bistums Brandenburg. Mit dieser Maßnahme war eine Eingliederung der slawischen Gebiete in den Reichs- und Kirchenverband beabsichtigt.
Zitz ist der datiert älteste Ortsteil Rosenaus. Das Dorf wurde erstmals als „Zitzouue“ in einer Urkunde des Kaisers Otto II. vom 10. Mai 974 erwähnt, mit der dieser „seinen Hof Barby mit Zubehör in Zitz“ seiner Schwester Mathilde, der ersten Äbtissin von Quedlinburg schenkte. Es handelte sich bei Zitzouue um ein Fischerdorf am Rande des zu dieser Zeit noch nicht trockengelegten Fiener Bruchs.
Da es 983 zu einem Aufstand der Slawen kam, bei dem Brandenburg und weite Gebiete östlich der Elbe in die Hände heidnischer Slawen zurückfielen, lebten die Brandenburger Bischöfe ab dieser Zeit zwar formal in kontinuierlicher Besetzung, jedoch im Exil in Magdeburg als Titularbischöfe und hatten wie auch die Magdeburger Erzbischöfe keine Herrschaft über die verlorenen Gebiete östlich der Elbe und an der Havel. Dieser Zustand bestand fast 200 Jahre, bis 1157 Albrecht der Bär Brandenburg zurückeroberte beziehungsweise wieder erwarb. Daraufhin wurden die Diözesen auch faktisch wieder hergestellt.
In der Folge trieb man die Christianisierung voran. In den Dörfern Rosenaus entstanden romanische Kirchenbauten, allesamt aus Findlingen errichtete Feldsteinkirchen. Große Teile der Dorfkirche in Warchau stammen wahrscheinlich noch aus dem 12. Jahrhundert. Ebenfalls aus dem 12. beziehungsweise aus dem 13. Jahrhundert stammen die Dorfkirche Viesen, die Dorfkirche Rogäsen, die Dorfkirche Gollwitz und die Grundmauern der Dorfkirche Zitz.
Die erste urkundliche Erwähnung Viesens erfolgte 1282 indirekt über einen Walter von Visene. 1286 nannte eine Urkunde einen Münzmeister Rogosen, die erste bekannte indirekte Erwähnung Rogäsens. 1365 wurden die Dörfer Warchau als „Warchowe“ und Rogäsen als „Rogozen“ erstmals urkundlich genannt. Ein Flurname Dorfstelle in der Gemarkung Warchau deutet auf einen Siedlungsplatz hin, von dem bislang jedoch noch keine archäologischen Funde vorliegen. Gollwitz fand seine erste bekannte Erwähnung in den Lehnsbüchern des Erzbistums Magdeburg 1376. Es wurde in den frühesten Aufzeichnungen „Golwicz“ oder „Cholwicz“ geschrieben.
Die Dörfer Gollwitz, Warchau, Rogäsen und Viesen waren in adligem Besitz und lagen im Erzstift Magdeburg, während das Rundlingsdorf Zitz dem Bischof von Brandenburg und damit zum Hochstift Brandenburg gehörte. Rittergutsbesitzer in Warchau war spätestens seit dem 15. Jahrhundert die Familie von Schildt. Erstmals erwähnt wurde ein Heise Schildt 1417. Ein weiteres Rittergut gehörte der Familie von Förder. Rogäsen war über 500 Jahre im Besitz der Familie von Werder, Viesen gehörte der Familie von Britzke. Die Familie von Werder hatte wie die von Schildt und von Förder Lehen in Gollwitz.
In den Jahrhunderten kam es wiederholt zu militärischen Übergriffen oder Auseinandersetzungen im Gebiet Rosenaus. 1416 beispielsweise plünderten Raubritter um Peter Kotze das Dorf Zitz und die Kirche. Nach der Plünderung befestigten die Zitzer die Dorfkirche als Wehrkirche.
Die Orte Viesen und Rogäsen lagen an der seit dem Mittelalter bedeutenden Heerstraße Brandenburg–Magdeburg, die von der Brandenburger Neustadt über die Dörfer nach Ziesar und von dort weiter nach Magdeburg führte. Sie war Teil der wichtigen West-Ost-Handelsroute von den Reichsgebieten jenseits der Elbe über Magdeburg nach Berlin und weiter beispielsweise nach Königsberg. Die Straße führte von Brandenburg kommend am Südhang der Karower Platte beziehungsweise am Nordrand des Fiener Bruchs entlang. Zwischen Rogäsen und Zitz bog sie an der schmalsten Stelle des Bruchtals scharf nach Süden. Der Fiener Damm, erstmals 1419 erwähnt, diente der Heerstraße als Querung zur gegenüberliegenden Bücknitzer Heide. Im 15. Jahrhundert ließ der brandenburgische Bischof den Fiener Damm erneuern und erhob das Dammgeld, einen Wegzoll. Dieser betrug im Jahr 1495 zwei Pfennig pro Pferd.
Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Mönche des Klosters Lehnin, zu dem der Ort seit 1531 gehörte, betrieben auf dem Zitzer Weinberg Weinbau. 1539 war zunächst im Kurfürstentum Brandenburg und im Hochstift Brandenburg die Reformation eingeführt worden, was zunächst nur das Dorf Zitz betraf. Das Dorf wurde noch vor dem Auflösung des Hochstifts Brandenburg beziehungsweise dessen Aufgehen im Kurfürstentum 1571 nach kurfürstlicher Enteignung des vorher kirchlichen Besitzes Teil des neu gegründeten Amtes Lehnin. Am 25. November 1551 bekam der Amtshauptmann Michael Happe von Happberg vom brandenburgischen Bischof Joachim in Zitz zwei freie Hufen als Lehen. Im Jahr zuvor waren Hans und Peter Bardeleben als Lehnsnehmer im Ort genannt worden. In den 1560er Jahren wurde auch im Erzstift Magdeburg, das seit dem frühen 16. Jahrhundert zunehmend unter brandenburgische Herrschaft geraten war, die Reformation vollzogen, womit die Dorfgemeinden Rosenaus allesamt zur evangelischen Kirche gewechselt waren.
Im Dreißigjährigen Krieg wurden die Ortschaften Rosenaus geplündert und großteils zerstört. Der Krieg traf die Dörfer, als im Sommer 1631 die Schweden unter ihrem König Gustav II. Adolf durch das Gebiet des Elbe-Havel-Winkels zogen. Kurze Zeit vor dem Ende des Krieges, im August 1648, zog ein schwedisches Heer mit etwa 8000 Soldaten ein zweites Mal durch diese Gegend. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Zitzer Dorfkirche bis auf die Grundmauern abgebrannt. Die Kirche wurde erst um 1730 in achtjähriger Bauzeit durch die Zitzer Dorfgemeinschaft wieder aufgebaut. Mittelbare Folgen des Krieges waren Hungersnöte und Ausbrüche der Pest. Als Ergebnis des Westfälischen Friedens von 1648, der das Ende des Dreißigjährigen Krieges bedeutete, fiel das Erzstift Magdeburg und mit ihm Rogäsen, Viesen, Warchau und Gollwitz nach dem Tod seines letzten Administrators 1680 als Herzogtum Magdeburg endgültig an das Kurfürstentum Brandenburg, das 1701 zum Königreich Preußen aufstieg.
Das Leben am Feuchtgebiet bestimmte den Alltag. Laut einer Deichbauverordnung aus dem Jahr 1655 waren die Dörfer Warchau, Rogäsen und Gollwitz, die mit Kade und Karow eine Deichgenossenschaft bildeten, zur Unterhaltung von Deichen verpflichtet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde aufgrund einer königlichen Verordnung die Sumpflandschaft des Fiener Bruchs schließlich planmäßig und groß angelegt entwässert und urbar gemacht. Zwischen 1777 und 1783 wurden die Bäche an die Ränder des Bruchtals verlegt und im Fiener ein verzweigtes Grabensystems angelegt. Die Aufsicht über das Projekt hatte Dietrich von Werder, der Rittergutsbesitzer in Rogäsen war. Im Zuge der Meliorationsmaßnahmen wurde der Fiener Damm, der bis dahin ein Knüppeldamm war, befestigt und gepflastert. Im Zuge der Trockenlegung etablierten sich neue Wirtschaftszweige. So entstand in Zitz eine Ziegelei und Torfabbau entwickelte sich zu einem Erwerbszweig.
Zitz war Teil des erst 1773 dem preußischen Herzogtum Magdeburg angegliederten Ziesarschen Kreises und des historischen königlichen Amtes Ziesar. Es hatte 1782 296 Einwohner. Kirchenpatron war der preußische König. Das Dorf Warchau hatte zur selben Zeit 122 und Gollwitz 119 Einwohner. Gollwitz gehörte je zur Hälfte einer Frau von Werder zu Karow und dem Herren von Werder zu Rogäsen. In Warchau gehörten zwei Rittergüter der Familie von Schildt. Es gab im Ort eine Wasser- und eine Windmühle. Von Schildts hatten sowohl in Warchau als auch in Gollwitz das Kirchenpatronat inne. In Rogäsen wurde neben dem Rittergut der Familie von Werder, die auch das Kirchenpatronat innehatte, eine Windmühle beschrieben. Die Kirche von Rogäsen war im 18. Jahrhundert Filialkirche der Zitzer Dorfkirche. 227 Menschen lebten im Ort. Viesen mit zwei Rittergütern war im Besitz der Familien von Britzke und von Schlabrendorf, deren Gutssitz im nördlichen Bensdorf lag. Es hatte 212 Einwohner. Die Viesener Mühle wurde von der Buckau angetrieben. Die Warchau, Gollwitz, Rogäsen und Viesen gehörten zum Jerichowschen Kreis.
19. Jahrhundert
Nachdem 1806 französische Truppen unter Napoleon Bonaparte in der Schlacht bei Jena und Auerstedt die Preußen vernichtend geschlagen hatten und nach Brandenburg eingerückt waren, brannten sie unter anderem das Gutshaus Rogäsen nieder. In den folgenden Jahren wurde der Ort ein zweites Mal durch Franzosen geplündert.
Am 24. August 1813 kam es während der Befreiungskriege in Viesen, Rogäsen, Zitz und am Fiener Damm im Vorfeld der Schlacht bei Hagelberg zu Kämpfen zwischen preußischen und französischen Truppen. Friedrich August Ludwig von der Marwitz führte einen Aufklärungseinsatz gegen Truppenverbände des französischen Generals Jean-Baptiste Girard. Dabei kam es zunächst zu einem kleinen Scharmützel bei Viesen beziehungsweise Rogäsen, als von der Marwitz’ Kavallerieschwadronen einen Vorposten über den Fiener Damm vertrieben. Aufgrund von Informationen, dass in Zitz eine plündernde französische Einheit lag, kam ein Überqueren des Dammes nicht in Frage. Zur Sicherung der Flanke rieben etwa 30 Reiter des 5. Kurmärkischen Landwehr-Kavallerie-Regimentes unter einem Rittmeister von Erxleben und mit Hilfe der Zitzer Dorfbevölkerung etwa 120 Soldaten der 3. Voltigeur-Kompagnie des 26. leichten französischen Regimentes auf, von denen 100 gefangen gesetzt und nach Brandenburg an der Havel gebracht wurden. Diesem Ereignis zu Ehren wurde im Dorf ein Gedenkstein, ein Denkmal für die Befreiungskriege aufgestellt. Durch die Gefangenen konnte von der Marwitz aufklären, dass bei Ziesar etwa 9.000 Mann Infanterie und bei Bücknitz die französische Kavallerie lagen. In der Folge gelang von preußischer und von französischer Seiten kein Überqueren des jeweils gesicherten Fiener Damms. Von der Marwitz zog sich nach Brandenburg zurück.
Nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich und den damit zusammenhängenden politischen und geographischen Veränderungen wurden 1815 im Königreich Preußen Provinzen gebildet. Das vormalige Herzogtum Magdeburg ging in der neuen preußischen Provinz Sachsen auf. Ein Jahr später wurden die Landkreise Jerichow I und Jerichow II gebildet. Das zuvor zum Ziesarschen Kreis gehörende Zitz wurde dem Landkreis Jerichow I zugeschlagen, die vorher zum Jerichowschen Kreis gehörenden Dörfer Gollwitz, Warchau, Rogäsen und Viesen dem Landkreis Jerichow II.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu mehreren Wechseln der Besitz- beziehungsweise Eigentumsverhältnisse der Güter in den Orten. In den Befreiungskriegen war 1813 der Warchauer Erbherr Wilhelm Carl Ludwig Ferdinand von Schildt gefallen. Daraufhin übernahm Adolph Ferdinand von Britzke um 1820 die Warchauer Rittergüter. Die Grafen von Wartensleben, die auf dem westlichen gelegenen Gut Karow ihren Sitz hatten, erwarben Gollwitz. 1824 wurde in Zitz, welches zum Justizamt Ziesar gehörte, ein erstes Schulhaus gebaut und 1832 ging der Preußische optische Telegraf in Betrieb. Die Station 10 befand sich westlich von Zitz auf dem Steinberg. Sie kommunizierte mit den Stationen auf dem Mühlenberg in Kirchmöser und auf dem Weinberg in Dretzel. In Warchau gab es seit 1831 beziehungsweise 1832 eine Schule, in der auch die Kinder Gollwitz unterrichtet wurden. Warchau hatte 1842 271 Einwohner. In Zitz lebten im gleichen Jahr 336 Einwohner und es bestanden eine Ziegelei und eine Windmühle. Die Viesener Bevölkerung betrug 262 Einwohner. Nachdem dort fünfzehn ansässige Bauern eines der zwei Rittergüter, das der Familie von Schlabrendorf, erworben und aufgeteilt hatten, übernahmen sie gleichzeitig zwei Drittel des Kirchenpatronats, was eine Seltenheit, wenn nicht Einmaligkeit darstellte. Das zweite landtagsfähige Rittergut blieb bei der Familie von Britzke, die jedoch in Berlin und nicht auf dem Gut lebte. An wirtschaftlichen Betrieben existierten zu jener Zeit eine Ziegelei und eine Wassermahl-, Öl- und Schneidemühle an der Buckau. Rogäsen hatte 209 Bewohner und es stand eine Windmühle am Ort. Das Rittergut Rogäsen wechselte 1848 ebenfalls in den Besitz der Karower Familie von Wartensleben. Die Witwe Elisabeth Caroline von Werder, geborene Freiin von der Golz, verkaufte das Gut.
Im Jahr 1881 wurde eine neue Landstraße von Wusterwitz nach Ziesar über die Karower Platte, durch Rogäsen und über den Fiener Damm gebaut beziehungsweise eröffnet. Diese wurde zweimal täglich von der Post und dreimal täglich vom Pferdeomnibus befahren. Die am Fiener Damm abzweigende Straße über Zitz nach Karow wurde 1891 mit einem Pflaster befestigt. Rogäsen hatte zu dieser Zeit etwa 330 Einwohner.
Das 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
1901 wurde die Bahnstrecke Wusterwitz–Görzke eröffnet, die von Norden nach Süden durch das Rosenauer Gemeindegebiet führte. Bei Warchau befand sich ein Haltepunkt, westlich von Rogäsen ein Bahnhof. An der Bahnlinie wurde 1902 die Dampfmolkerei Zitz/Rogäsen in der Nähe des Bahnhofs eröffnet. Sie war ein genossenschaftlicher Betrieb und existierte bis 1971. Der Bau der Dampfmolkerei kostete die Genossenschaftler 55.000 Mark. Eine zweite Bahnlinie, die unmittelbar hinter dem Rogäsener Bahnhof abzweigende und vom Grafen von Wartensleben finanzierte Bahnstrecke Rogäsen–Karow mit einem Halt in Zitz ging 1912 in Betrieb.
In den zwei Weltkriegen verloren viele Dorfbewohner ihr Leben. Im Ersten Weltkrieg fielen 9 Bewohner Warchaus, 4 aus Gollwitz, 14 Rogäsener, 8 Viesener und 7 Zitzer.
In der Zwischenkriegszeit 1923 bis 1926 erfolgte eine weiterreichende Melioration des Fiener Bruchs. Das Grabensystem wurde erneuert und Entwässerungsanlagen instand gesetzt. In Gollwitz bestand 1928 eine Dampfmolkerei, die jedoch nur kurze Zeit existierte und schon bald zu einer Käserei umgerüstet wurde. Bei der Reichstagswahl 1928 bekam die SPD in Warchau 63 von 122 Stimmen. 23 Stimmen erhielt die Deutschnationale Volkspartei, 17 die Deutsche Volkspartei, 12 die Deutsche Demokratische Partei und 7 die KPD. Die NSDAP erhielt im Dorf keine Stimme. Dies änderte sich bis 1932 grundlegend, als bei der Reichstagswahl im Juli die Nazis 47 von 144 Stimmen bekamen. Auf die SPD entfielen 44, auf die KPD 22, auf die DNVP 20, 9 auf die DVP und 2 auf das Deutsche Landvolk. 1931 wurde in Warchau ein neues Schulhaus eingeweiht und 1940 der Mühlbetrieb an der Viesener Buckaumühle aufgegeben und diese später zurückgebaut.
Im Zweiten Weltkrieg starben in der Wehrmacht kämpfend oder in der Kriegsgefangenschaft aus Gollwitz 13, aus Warchau 20, aus Zitz 26, aus Viesen 33 und aus Rogäsen 24, also insgesamt 116 Bewohner. Einen unmittelbaren Kriegsschaden verursachte eine in einem Wohnhaus in Gollwitz eingeschlagene Fliegerbombe, die auf dem Rückweg von einem Bombenangriff auf Brandenburg an der Havel abgeworfen worden war. Am 5. Mai 1945, drei Tage vor Kriegsende, erreichte die Rote Armee die Dörfer und nahm sie kampflos ein.
Sowjetische Besatzungszeit und DDR
Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Orte Gollwitz, Rogäsen, Viesen, Warchau und Zitz in der Sowjetischen Besatzungszone. Durch Zuzügler und Heimatvertriebene war die Dorfbevölkerung trotz über 100 Gefallener innerhalb kurzer Zeit jeweils stark angestiegen. So hatte Zitz unmittelbar vor dem Krieg etwa 440, nach diesem etwa 700 Einwohner. Die Orte wurden 1946 dem neu gegründeten Sachsen-Anhalt angegliedert. Im Zuge der Bodenreform wurden über 100 Hektar Landbesitz, dies betraf vorrangig die Gutsbesitzer, enteignet und unter der landlosen und landarmen Bevölkerung aufgeteilt. Die Familie von Britzke verlor in Warchau 764 Hektar und weitere 124,5 Hektar in Viesen. In Rogäsen verlor Richard Graf von Wartensleben 176 Hektar, in Gollwitz Bernhard Kabelitz 134 Hektar Land. Mehrere Neubauern siedelten sich dauerhaft an. Im Gutshaus Rogäsens war nach der Enteignung die dörfliche Schule untergebracht. Das Gutshaus Warchau wurde als Wohngebäude und Kindergarten genutzt.
1951 stellte die Deutsche Reichsbahn den Betrieb auf der Bahnstrecke von Rogäsen nach Karow ein. Im darauf folgenden Jahr wurde in der 1949 gegründeten DDR eine Verwaltungsreform durchgeführt. Die bestehenden Länder löste man auf und bildete statt derer Bezirke. In diesem Zusammenhang erfolgte auch eine Kreisgebietsreform, die zur Auflösung der bestehenden Kreise und zu Umstrukturierungen beziehungsweise Neuordnungen führte. Die Landkreise Jerichow I und Jerichow II, zu denen die Orte bis dahin gehörten, wurden aufgelöst, die Gemeinden in den neuen Kreis Brandenburg (Land) im Bezirk Potsdam integriert. Gollwitz wurde in die Gemeinde Warchau eingegliedert.
Ebenfalls 1951 oder in den folgenden Jahren gründeten Bauern in den Gemeinden auf staatliche Anordnung die ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). In der Warchauer LPG schlossen sich acht Bauern mit 55 Hektar Land, Gerätschaften und Vieh genossenschaftlich zusammen. Zwei Jahre später wurde diese Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in die LPG Clara Zetkin im benachbarten Wusterwitz eingegliedert. In Zitz wurde am 1. Juni 1953 die LPG „Mutig voran“ gegründet, der bis 1960 alle ortsansässigen Bauern angehörten. 1960 gründeten Bauern in Warchau die LPG „Hoffnung“. Dieser gehörten zehn Bauern mit 60 Hektar landwirtschaftlicher Produktionsfläche an. Die seit den 1950er Jahren bestehenden LPG in Rogäsen und Zitz wurden 1964 beziehungsweise 1965 zur LPG „Einigkeit Rogäsen-Zitz“ zusammengefasst. Die Warchauer LPG „Hoffnung“ bestand bis 1968. Ende der 1960er Jahre wurden in der DDR sogenannte Kooperationsverbände gegründet und ihnen die Pflanzenproduktionen der LPG der Umgebung zugeordnet. Die Kooperative Abteilung Pflanzenproduktion (KAP), Sitz der Verwaltung der lokalen Kooperation war Wusterwitz, bewirtschaftete ab 1968 bis in die 1970er Jahre etwa 5.000 Hektar landwirtschaftlicher Fläche. Nach der Auflösung der KAP bestand die LPG Pflanzenproduktion weiter.
Die Schulen Rogäsens, Viesens, Zitz und Mahlenziens wurden ab 1952 im sogenannten Schulkombinat betrieben. Dies bedeutete, dass die Jahrgänge jeweils zusammengefasst in einem der vier Orte unterrichtet wurden. 1960 schlossen die Schulen in Zitz und Viesen. Die Zentralschule war fortan in Rogäsen im alten Gutshaus untergebracht. 1970 schloss die Schule in Warchau und 1971 die Schule in Rogäsen. Der Unterricht erfolgte ab dieser Zeit an der neu errichteten Polytechnischen Oberschule in Wusterwitz.
Im Jahr 1963 wurde in Warchau das Ferienlager eines Betriebs aus Magdeburg mit mehreren Bungalows eröffnet. Die bestehende Entwässerung des Fiener Bruchs wurde in den Jahren der DDR nochmals ausgeweitet, um mehr Weide- und Ackerland zu gewinnen. Von 1964 bis 1979 baute man das System aus Gräben aus und installierte neue Wehre. Durch die Maßnahmen konnten insgesamt weitere 500 Hektar landwirtschaftlicher Fläche gewonnen werden. Auf der Eisenbahnstrecke zwischen Wusterwitz und Ziesar stellte die Deutsche Reichsbahn 1971 den Personenverkehr und 1974 den gesamten Bahnbetrieb ein, womit die Gemeinden ihren Anschluss an das Schienennetz verloren. Aufgrund des schlechten Zustandes wurde 1978 das Dach der Dorfkirche Rogäsen abgetragen.
Ab 1990
Nach der politischen Wende folgte 1990 die Auflösung der LPG beziehungsweise die Überführung in neue Rechtsformen. Der Magdeburger Betrieb schloss sein Warchauer Ferienlager, das verkauft wurde. Es kam zu umfassenden Neustrukturierungen. Noch 1990 wurden die Bezirke aufgelöst und die Länder erneuert. Warchau, Zitz, Viesen und Rogäsen kamen wie der gesamte Bezirk Potsdam zu Brandenburg. Wenig später trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei. 1993 ging der Landkreis Brandenburg im neu gegründeten Landkreis Potsdam-Mittelmark auf. Die Gemeinde Rosenau entstand am 31. Dezember 2001 durch den freiwilligen Zusammenschluss der bis dahin selbständigen Gemeinden Rogäsen, Viesen und Warchau im Vorfeld der für 2003 geplanten brandenburgischen Gemeindegebietsreform. Die Gemeinde Zitz wurde der neuen Gemeinde ebenfalls zum 31. Dezember 2001 angegliedert und wechselte dabei vom Amt Ziesar in das Amt Wusterwitz.
Gemeinde- und Ortsnamen
Im Vorfeld der Neugründung suchten die Verantwortlichen der beteiligten Gemeinden Rogäsen, Viesen und Warchau nach einem neuen Namen, um zu unterstreichen, dass es sich um keine Eingemeindung, sondern um einen gleichberechtigten Zusammenschluss handeln würde. Die Entscheidung fiel auf den Namen Rosenau, da dieser aus Teilen der drei Ortsnamen zu formen war: Rogäsen, Viesen und Warchau. Nicht im Namen dargestellt sind Zitz, das sich nicht freiwillig der Gemeinde anschloss, sondern aufgrund einer gesetzlichen Verordnung eingegliedert wurde, und das seit den 1950er Jahren zur Gemeinde Warchau gehörende Gollwitz.
Die Ortsnamen der einzelnen zu Rosenau gehörenden Dörfer sind slawischen Ursprungs. Für den Ortsnamen Gollwitz gibt es zwei mögliche Erklärungen. Einerseits könnte Gollwitz, in den frühesten Erwähnungen „Golwicz“ und „Cholwicz“ geschrieben, als Ort, in dem eine Person mit dem slawischen Namen Gol wohnte, erklärt werden. Andererseits scheint ein Zusammenhang zum polabischen Wort goly, das nackt beziehungsweise kahl bedeutet, möglich. Damit wäre Gollwitz eine Siedlung an einer unbewaldeten Stelle.
Warchau wurde urkundlich erstmals 1365 als „Warchowe“ erwähnt. Einer Interpretation folgend enthält der Ortsname den Personennamen Varch. Warchau wäre somit als Ort, an dem eine Person namens Varch lebte, zu erklären. Eine andere Erklärung sieht einen Zusammenhang mit dem altslawischen Wort fercho, das hoch beziehungsweise oben gelegen (gegenüber dem tieferen Umland, dem Feuchtgebiet des Wusterwitzer Beckens) bedeuten soll.
Rogäsen wurde erstmals 1365 in einer Urkunde „Rogozen“ geschrieben. Mehrere Jahrzehnte zuvor war jedoch bereits eine Person Rogosen genannt worden. Der Name enthält wahrscheinlich das polabische Wort rogoz für Schilf beziehungsweise Rohrkolben. Rogäsen wäre also ein Ort, an dem Schilf oder Rohr wuchs, was mit der Lage unmittelbar am Sumpfgebiet Fiener Bruch zu erklären ist. Es wird jedoch auch ein Bezug zum slawischen Wort rog für Horn gesehen.
Die erste Erwähnung Viesens 1282 erfolgte indirekt als „Visene“. Nach einer älteren Erklärung besteht ein Zusammenhang mit dem polabischen Wort vyšny für höher. Als wahrscheinlicher wird jedoch ein Bezug zum polabischen viš angenommen. Es bedeutet Riedgras, Sumpfgras, Schilf. Auch diese Ortsbezeichnung wäre im Zusammenhang mit der Lage am sumpfigen und feuchten Fiener Bruch zu verstehen.
Zitz wurde in der ersterwähnenden Urkunde „Zitzouue“ geschrieben. Es wird ein Zusammenhang zum altslawischen sit für Binsen, einer in Feucht- und Sumpfgebieten wachsenden Pflanze, hergestellt. Auch hier wäre der Ortsname von der Lage am Rand des Fiener Bruchs abgeleitet. Ein anderer möglicher Zusammenhang wird zu Göttin Ciza beziehungsweise Cisa gesehen. Weitere historische Schreibweisen des Ortes in Urkunden waren „Citz“, „Cziez“, „Cytz“, „Zietz“, „Tzietz“, „Cyditz“ und „Scydyz“.
Politik
Bürgermeister
Ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Rosenau ist Hans-Joachim Probst (CDU). Dieser wurde im Juni 2014 durch die Gemeindevertretung mit sieben zu drei Stimmen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Die Wahl durch die Gemeindevertretung war notwendig geworden, da der bisherige Amtsinhaber Rolf Geelhaar von der Wählerinitiative Rosenau W.I.R. bei der Kommunalwahl 2014 am 25. Mai als einziger Kandidat nicht die erforderliche einfache Mehrheit der Stimmen erhalten hatte. Von 457 gültigen Stimmen votierten 226 Wähler (49,45 Prozent) mit Ja und 231 (50,55 Prozent) mit Nein. Die Wahlbeteiligung lag bei 57,5 Prozent. 9 Stimmen waren ungültig. Geelhaar hatte sechs Jahre zuvor, 2008, die Wahl gegen den Amtsinhaber Probst gewonnen. Bei der ersten Bürgermeisterwahl 2003 hatte sich Hans-Joachim Probst gegen eine Mitbewerberin durchgesetzt.
Gemeindevertretung
Der Gemeindevertretung von Rosenau gehören zehn Gemeindevertreter und der ehrenamtliche Bürgermeister an. Die letzte Wahl zur Gemeindevertretung fand im Rahmen der Kommunalwahl 2014 am 25. Mai 2014 statt. Es handelte sich um eine kombinierte Personen- und Listenwahl. Jeder Wähler konnte bis zu drei Stimmen abgeben. Die Wahlbeteiligung lag bei 57,7 Prozent. Dies waren 8,5 Prozent weniger als bei der Wahl 2008, jedoch 11,5 Prozent mehr als im Landesdurchschnitt. Die Wahlbeteiligung brandenburgweit lag bei 46,2 Prozent.
Die meisten Stimmen konnte die Wählerinitiative Rosenau auf sich vereinigen. Sie kam auf 29,4 Prozent, wobei sie um 4,4 Prozent schlechter abschnitt als 2008. Bei der Wahl 2008 waren jedoch nur drei Wählergruppen angetreten. W.I.R. errang 2014 wie schon 2008 drei Sitze. Zweitplatzierte war die neu angetretene Gruppe Freie Bürger und Bauern mit 27,3 Prozent. Mit diesem Wahlergebnis errang sie drei Sitze in der Gemeindevertretung. Die Gruppe Arbeitsgemeinschaft Feuerwehr erzielte 17,9 Prozent. Sie verlor 2,5 Prozent gegenüber 2008, erhielt jedoch wiederum zwei Sitze in der GVV. Auf die Kandidaten der neu angetretenen CDU entfielen 13,2 Prozent, womit sie einen Sitz gewann. Das beste Ergebnis aller zur Wahl stehenden Personen erzielte die Einzelkandidatin Christina Wartenberg. Sie erhielt 164 Stimmen, was 12,2 Prozent entsprach. Insgesamt zogen drei Gemeindevertreterinnen in das Lokalparlament. Neben der Einzelkandidatin Christina Wartenberg gewann eine Kandidatin der Gruppen Wählerinitiative Rosenau und eine der Freien Bürger und Bauern einen Sitz.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
Bauwerke
In der Gemeinde Rosenau gibt es eine Reihe sehenswerter Feldsteinkirchen. Die Dorfkirche Viesen ist ein romanischer Kirchenbau vermutlich aus dem späten 12. oder dem 13. Jahrhundert. Auffällig sind die baulichen Veränderungen in verschiedenen Epochen. So gibt es Rundbogen- und Segmentbogenfenster und mit Ziegelsteinen ummauerte Fenster- und Türöffnungen. Das ursprüngliche und kleine rundbogige Westportal ist vermauert und stattdessen wurde ein Südportal im Kirchenschiff angelegt. Im Inneren der Kirche befindet sich ein hölzerner Altaraufsatz von 1684. Auf diesem sind übereinander das Abendmahl Jesu, die Kreuzigung und die Auferstehung bildlich dargestellt. Der mittlere und der obere Abschnitt sind von gewundenen Säulen flankiert. Seitlich befinden sich die Wappen der Familien von Britzke und von Byern, den Familien des Stifterehepaares des Altaraufsatzes. Eine polygonale verzierte Kanzel stammt aus dem Jahr 1686. Die südliche Empore ist mit Wappenmalereien verziert.
Die Dorfkirche Rogäsen war bis 2015 als Teilruine erhalten. Sie ist in ihren Grundmauern ebenfalls romanisch und aus dem 12. oder 13. Jahrhundert, war jedoch ebenfalls verschiedenen größeren baulichen Veränderungen unterworfen. 1897 wurde an den verlängerten Chor eine neue Apsis angebaut und der Turm aufgestockt. Im Jahr 1978 stürzte das Dach des Kirchenschiffs aufgrund seines schlechten baulichen Zustandes ein. Die Reste des Daches wurden abgetragen und die Fenster und das Inventar entfernt. 1993 erfolgte die bauliche Sicherung des Turms. Saniert wurde dieser 2003. Im Juli 2015 begann der Wiederaufbau des Dachs und die Sanierung des Kirchenschiffs und des Chorraums.
Südöstlich der Rogäsener Kirchenruine befindet sich am Hang zum Fiener Bruch das Gutshaus Rogäsen, ein schlossartiger, zweiflügliger klassizistischer Bau. Dieses Gutshaus war Wohnstätte der Familie von Werder und ab dem 19. Jahrhundert einer Linie der Grafen von Wartensleben. Zum Gutshaus gehören eine kleine Parkanlage und Bedienstetenhäuser. Nach der Enteignung nach 1945 wurde das Gebäude verschiedentlich genutzt. So war in der DDR beispielsweise über mehrere Jahrzehnte eine Schule im Gebäude untergebracht. Seit dem Verkauf in den 1990er Jahren befindet sich das Gutshaus wieder in privatem Besitz.
Ein rundbogiges Südportal zum Chorraum der Dorfkirche Zitz belegt den romanischen Ursprung des Bauwerks. Es handelt sich ebenfalls um eine für die Gegend und das Mittelalter typische Feldsteinkirche. Die Kirche wurde nach ihrer Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg im 18. Jahrhundert wieder aufgebaut. Eine verputzte Apsis kragt weit aus dem Chor heraus. Der Kirchturm im Stil des Barock ist ebenfalls verputzt.
An der Dorfstraße in Zitz erinnert ein Denkmal an die Kämpfe während der Befreiungskriege im August 1813 im Dorf, als ein preußisches Kavallerie-Regiment mit der Hilfe der Zitzer Dorfbevölkerung etwa 120 plündernde französische Soldaten überwältigte und den größten Teil, etwa 100 Mann, festsetzte beziehungsweise gefangen nahm. Dieses Denkmal ließ der Graf von Wartensleben, dessen Rittergut im benachbarten Karow eines der Ziele der plündernden französischen Einheit war, am 29. April 1849 errichtet.
Das Gutshaus Warchau ist ein in Teilen historistischer Bau im Heimatstil. 1650 ließ die Familie von Schildt ein barockes Gutshaus errichten. Friedrich Adolph Ferdinand von Britzke kaufte das Gut 1818. 1871 ließ die Familie von Britzke das Gutshaus umfassend umbauen und mit einem auffälligen Fachwerkaufbau erweitern. Das Gebäude diente in der DDR-Zeit als Wohnhaus und steht seit mehreren Jahren leer. Es ist äußerst baufällig und bedarf einer grundlegenden Sanierung. Westlich des Gutshauses liegt der ehemalige, öffentlich zugängliche Gutspark mit einer Teichanlage.
Eine weitere mittelalterliche Feldsteinkirche ist die Dorfkirche Warchau aus dem 12. Jahrhundert. Sie entstand in mindestens zwei Bauabschnitten. Die ältesten Teile der Kirche sind die Apsis, der Chor und der östliche Teil des Schiffes mit dem Triumphbogen. Später wurde das restliche Kirchenschiff errichtet. Es wird angenommen, dass ein erster größerer Umbau der Kirche bereits um das Jahr 1300 erfolgte. Der in Fachwerk errichtete Kirchturm stammt aus dem Jahr 1727. Wertvolle Schnitzereien im Inneren der Kirche gingen in den 1970er Jahren durch Diebstahl verloren.
Sehr ähnlich der Warchauer ist die Dorfkirche Gollwitz. Sie entspricht bis auf geringfügige Abweichungen in Abmessungen und Proportionen der im Nachbarort. Die Dorfkirche stammt aus dem 13. Jahrhundert. Um das Jahr 1700 wurde der Innenraum im Stil des Barock ausgestattet. Die Kirche enthält einen reich verzierten Kanzelaltar und das alte Patronatsgestühl. Der als Giebelreiter aufgesetzte hölzerne Uhren- und Glockenturm stammt aus dem Jahr 1878. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden Empore und Orgel installiert und Ausmalungen des Innenraumes vorgenommen.
Auf dem Gollwitzer Berg stehen die Überreste eines Turmbaus, den der Graf von Wartensleben in den Jahren 1847 bis 1848 mit einem kleinen Jagdschloss errichten ließ und den er Lebenswarte nannte. Nachdem das Jagdschloss im Laufe der Jahrzehnte verfiel, existiert nur noch die Ruine des Turms.
Kulturveranstaltungen
Im Ortsteil Viesen befindet sich die Lehnschulzenhofbühne. Diese wird von dem im Januar 2009 gegründeten Kulturverein LehnschulzenHofbühne Viesen e. V. getragen. Das Ziel des Vereins ist es, den ehemaligen Lehnschulzenhof in Viesen, einem sanierten Fachwerkhof, als Veranstaltungsort für Schauspiel und Kunst zu etablieren. Der Lehnschulzenhof ist in privatem Besitz und wird in erster Linie für die Zucht von Polopferden und als Übernachtungsstätte genutzt. Wichtigste Veranstaltung der Lehnschulzenhofbühne ist der seit 2009 jährlich stattfindende Viesener Theaterfrühling. Weiterhin finden Gastspiele, Autorenlesungen, Konzerte und Filmvorführungen statt. So gab es beispielsweise Gastspiele des Neuen Theaters Halle, des Uckermärkischen Nationaltheaters und Lesungen des Schriftstellers Gellert Tamas.
Sport
Einziger Sportverein der Gemeinde Rosenau ist der 1993 gegründete SV Rogäsen mit einer Fußball- und einer Tischtennisabteilung. Vereinsfarben sind Grün-Weiß-Schwarz. Die Herren-Fußballabteilung spielt in der Saison 2014/15 in der 1. Kreisklasse, nachdem sie in der Spielzeit 2013/14 aus der 2. Kreisklasse aufgestiegen ist. Die Herren der Abteilung Tischtennis spielen als SV Rogäsen/Zitz in der Kreisliga Brandenburg. Die Vereinsanlagen befinden sich beiderseits der Viesener Dorfstraße am östlichen Ende des Dorfes. So liegt die kommunale Sportanlage mit Trainings- und Spielplätzen der Fußballer und Umkleiden am Friedensberg und eine Kegelbahn und die Tischtennisanlage dem Gutshaus gegenüber.
Schutzgebiete
Gesamtdarstellung
Ein großer Teil der Gesamtfläche Rosenaus ist mit sich teilweise überlappenden Schutzgebieten ausgewiesen. Der südliche Bereich liegt im europäischen Vogelschutzgebiet Fiener Bruch (SPA-Gebiet). Nordöstlich von Viesen hat Rosenau Anteil am Landschaftsschutzgebiet Brandenburger Wald und Seengebiet. Die Buckau und die sie begleitenden Gräben im Fiener Bruch sind als FFH-Gebiet Buckau und Nebenfließe Ergänzung unter Schutz gestellt. Als geschützter Landschaftsbestandteil sind zwei Flächen ausgewiesen, mit dem Namen Fiener Bruch bei Zitz ein Areal südwestlich des Dorfes Zitz und als Warchauer Mühle ein Gebiet zwischen Warchau und Gollwitz. In Viesen ist eine Linde als Naturdenkmal ausgewiesen. Weitere Bereiche sind als geschützte Biotope und einige Straßen als geschützte Alleen deklariert.
Vogelschutzgebiet Fiener Bruch
Mehr als die Hälfte der Gemeinde Rosenau, der gesamte südliche Bereich, liegt im europäischen Vogelschutzgebiet Fiener Bruch. Dieses ist zweigeteilt, reicht über die Landesgrenze nach Sachsen-Anhalt und hat eine Gesamtfläche von etwas über 10.000 Hektar. 6.338,27 Hektar entfallen auf das brandenburgische, 3.667 Hektar auf das sachsen-anhaltische Teilgebiet. Neben Rosenau haben die Städte Brandenburg an der Havel und Ziesar und die Gemeinden Wusterwitz und Wenzlow Flächen am brandenburgischen Teilgebiet. Außer dem Feuchtgebiet Fiener Bruch selbst sind auch angrenzende Fläche, in Rosenau beispielsweise die südliche Karower Platte, eingefasst. Das Fiener Bruch ist ein wichtiges Rast- und Brutgebiet für verschiedene vom Aussterben bedrohte oder gefährdete Vogelarten. So ist es eines von nur noch drei Brutgebieten der äußerst gefährdeten Großtrappen in Deutschland. Die beiden anderen Gebiete sind die Belziger Landschaftswiesen einige Kilometer südöstlicher im Baruther Urstromtal und das Havelländische Luch nördlich der Stadt Brandenburg an der Havel. Zwischen den drei Populationen finden natürliche Wanderungsbewegungen statt. Nachdem der Bestand im Fiener Bruch in den 1990er Jahren bis auf etwa 10 Tiere eingebrochen war und das Erlöschen der Population drohte, erholt sich dieser aufgrund umfassender Schutzmaßnahmen seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts wieder. Im Februar 2015 ergab die alljährlich durchgeführte Zählung wieder etwa 60 Individuen im Fiener Bruch. Weitere brütende Vogelarten im Fiener Bruch und auf angrenzenden Flächen sind beispielsweise das Rebhuhn, Wiesenweihe, Rohrweihe, Kranich, Kiebitz, Großer Brachvogel, Eisvogel, Schwarzspecht, Sperbergrasmücke, Braunkehlchen, Wiesenpieper, Weißstorch, Sumpfohreule und Fischadler. Seeadler, Schwarzstorch, verschiedene Gänse- und weitere Vogelarten nutzen das Bruch als Rast- und Nahrungsgebiet.
Wirtschaft
Die Landwirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Gemeinde Rosenau. Mehr als 70 Prozent der Flächen werden für Ackerbau und Viehzucht genutzt. Nach der politischen Wende wurden die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) aufgelöst oder in andere Rechtsformen überführt. In Rosenau beschäftigt die Agrargenossenschaft „Fiener Bruch“ Rogäsen e.G., die Nachfolgerin der vormaligen LPG, etwa 40 Mitarbeiter. Sie hat sich auf Milchviehwirtschaft spezialisiert. Neben dieser existiert die Mutterkuhhof Viesen GmbH, ein ausgelagertes Unternehmen. Der Firmensitz beider befindet sich in der Rogäsener Dorfstraße. Nach der Trockenlegung des Fiener Bruchs Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Viehwirtschaft in den angrenzenden Orten intensiviert. In Viesen wurde 1915 eine Stammzuchtgenossenschaft für die Zucht schwarzbunter Niederungsrinder gegründet. Nachdem es im Zuge beziehungsweise in Folge des Zweiten Weltkriegs zur starken Dezimierung der Zuchtbestände gekommen war, wurde diese in der Folge wieder aufgebaut und vergrößert. 1953 wurde die privatwirtschaftliche Herdbuchgenossenschaft in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft überführt. Zucht- und Prüfverbände und die Vatertierhaltung lagen in dieser Zeit bei der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). In der DDR errangen Rinder der LPG auf Landwirtschaftsausstellungen häufig vordere Platzierungen. Die ehemalige Wusterwitzer LPG, in der die Warchauer Genossenschaftsbauern eingebunden waren, besteht als Agrargenossenschaft Wusterwitz weiter.
Forstwirtschaftlich genutzt werden in erster Linie Bereiche der Karower Platte, wie die Hügelkuppen. 23 Prozent der Flächen der Gemeinde sind bewaldet. Der größte Teil der Forste ist monokulturell mit Kiefern bewachsen. Kleinere Flächen beispielsweise am Friedensberg bei Rogäsen oder am Weinberg bei Zitz tragen Laubwald.
In Rosenau gibt es keine größeren Industriebetriebe. Ein großer Teil der Berufstätigen pendelt zur Arbeit in das nahegelegene Brandenburg an der Havel. In Rogäsen existiert eine Waffelfabrik der Firma Stenger Waffeln, die den Betrieb 1991/1992 übernahm. Die Fabrik befindet sich in der Stätten der ehemaligen, 1902 eröffneten und 1971 stillgelegten Dampfmolkerei. Bereits 1972 wurde nach erfolgtem Umbau in den Werksanlagen eine Zweigstelle der Waffelfabrik KONSÜ der Konsumgenossenschaft eröffnet. Im 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert gab es in den Dörfern mehrere Ziegeleien, in Viesen eine Stärkefabrik und an der Eisenbahnlinie bei Rogäsen und in Gollwitz Dampfmolkereien.
Seit Oktober 2003 befindet sich auf der Hochfläche der Karower Platte der Windpark Zitz-Warchau. Dieser besteht aus 20 Windkraftanlagen des Typs Neg Micon NM64/1500 mit einer Nennleistung von jeweils 1500 Kilowatt und einer Gesamtnennleistung von 30 Megawatt. Nördlich von Viesen ist eine 7 Hektar große Bergbaufläche ausgewiesen, in der im Tagebau Sand und Kies angebaut werden.
Der Tourismus spielt in der Gemeinde bislang eine nur untergeordnete Rolle. Es gibt nur wenige Übernachtungsmöglichkeiten. Der Lehnschulzenhof in Viesen bietet Bed and Breakfast an und ein Gnadenhof in Rogäsen wird gemeinsam mit einer Pension betrieben. Seit 2014 führt der Telegraphenradweg, ein Radfernweg, der die ehemaligen Stationen des Preußischen optischen Telegrafen verbindet, durch Rosenau. Ein weiterer Radwanderweg ist der Bunte Dörferweg, der als Rundkurs den Bahnhof Wusterwitz über Landstraßen und Feldwege mit Wusterwitz, Viesen, Rogäsen, Zitz, Warchau und Gollwitz verbindet. Der Rundweg hat eine Länge von etwa 27 Kilometer. An neun Stationen im Verlauf des Radwanderwegs vorrangig in den Dorfmitten sind Schautafeln mit Informationen beispielsweise zu Ortsgeschichten und Bauwerken aufgestellt.
Infrastruktur
Verkehr
Straßenverkehr
Durch die Gemeinde führt von Norden nach Süden die Landesstraße 96 (L 96). Aus Richtung Norden von der Bundesstraße 1 kommend führt sie über die Karower Platte und durch Rogäsen. Dort schwenkt sie nach Westen um und folgt über etwa einen Kilometer dem Rand der Hochfläche, ehe sie westlich von Rogäsen wieder nach Süden abbiegt und über den Fiener Damm das Bruch in Richtung Ziesar überquert. Bei Ziesar besteht ein Anschluss zur Bundesautobahn 2. Unmittelbar vor dem Fiener Damm geht von der L 96 die Landesstraße 961 ab und folgt weiter dem Rand der Karower Platte. Sie durchquert Zitz und führt zur Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt, wo sie als Kreisstraße weitergeführt wird. In Rogäsen zweigt ostwärts in Richtung Viesen die Kreisstraße 6939 von der L 96 ab. Sie führt zur Gemeindegrenze zu Brandenburg an der Havel und als kommunale Straße weiter zum Ortsteil Mahlenzien. Eine weitere Hauptstraße, die in der Gemeinde verläuft, ist die Kreisstraße 6954, die von der L 96 in Richtung Wusterwitz abzweigt und von dort nach Warchau führt.
Nahverkehr/Bus
Die Gemeinde Rosenau ist seit 1999 Teil des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB), des flächengrößten Verkehrsverbundes Deutschlands. Als Umlandgemeinde der Stadt Brandenburg ist Rosenau der Tarifzone C zugeordnet. Zwei Buslinien der Verkehrsgesellschaft Belzig verkehren durch die Orte. Es werden in Rosenau sieben Bushaltestellen bedient. Wichtigste Verbindung ist die Linie 560 von Brandenburg über Wusterwitz nach Ziesar. An Schultagen verkehren bis zu zehn beziehungsweise elf Verbindungen, wobei nicht immer alle Halte bedient werden. An Samstagen fährt der Bus drei- und sonn- und feiertags zweimal je Richtung, wobei Viesen, Warchau und Gollwitz an solchen Tagen nicht angefahren werden. Die Linie 562, die über einen anderen Weg von Brandenburg nach Ziesar verkehrt, bedient an Wochentagen mit einzelnen Fahrten die Haltestelle Viesen.
Eisenbahn
Über mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren Warchau, Rogäsen und Zitz an das deutsche Eisenbahnnetz angeschlossen. Es existierten zwei Strecken. Die bedeutendere war die 1901 eröffnete Bahnstrecke Wusterwitz–Görzke. Warchau war mit einem Haltepunkt angebunden. Ein Bahnhof befand sich zwischen den Gemeinden Rogäsen und Zitz unmittelbar vor der Querung des Fiener Bruchs. Durch das Bruch verlief ein Bahndamm parallel zum Fiener Damm. Der Bahnhof, der in den ersten Jahren offiziell Bahnhof Zitz-Rogäsen hieß, gewann 1912 an Bedeutung, als dort die Bahnstrecke Rogäsen–Karow abzweigte. Diese hatte einen Haltepunkt in Zitz. Aufgrund der Eröffnung der Strecke nach Karow und des Haltepunktes Zitz erfolgte die Umbenennung des Bahnhofs Zitz-Rogäsen in Bahnhof Rogäsen. 1914 verkehrten auf der Strecke von Wusterwitz nach Görzke täglich jeweils vier Züge in beiden Richtungen. Ein weiteres Zugpaar fuhr verkürzt von Rogäsen nach Ziesar. Die Verbindung von Rogäsen nach Karow wurde täglich mit drei Fahrten je Richtung bedient. 1939 fuhren auf der Strecke zwischen Wusterwitz und Ziesar täglich vier Züge je Fahrtrichtung und ein Zug von Wusterwitz nach Karow und zurück. Nach 39 Jahren Betrieb stellte die Deutsche Reichsbahn 1951 den Verkehr auf der Linie von Rogäsen nach Karow wieder ein. Die Bahnverbindung zwischen Wusterwitz und Ziesar über Rogäsen und Warchau bestand im Personennahverkehr bis 1971 und im Güterverkehr bis 1974. Anschließend stellte die Reichsbahn auch auf dieser Strecke den Verkehr ein und ließ die Gleisanlagen zurückbauen. Reste des Gleises sind noch auf dem Bahndamm durch das Fiener Bruch vorhanden.
Bildung und öffentliche Einrichtungen
In der Gemeinde Rosenau gibt es keine Schulen mehr. Die nächstgelegenen Grundschulen befinden sich in Wusterwitz, Ziesar und Wollin. Die Thomas-Müntzer-Oberschule mit Grundschule in Ziesar ist gleichzeitig eine weiterführende Schule, die bis zur zehnten Klasse besucht werden kann. Andere weiterführende Schulen wie die Berufsorientierte Oberschule Kirchmöser oder Gymnasien befinden sich in der Stadt Brandenburg an der Havel. Die nächstgelegenen Hochschulen sind die Medizinische Hochschule Brandenburg, die Technische Hochschule Brandenburg und die Universität Potsdam. Die nächstgelegenen Kindertagesstätten befinden sich ebenfalls in Wusterwitz, Ziesar und Wollin.
Die Freiwillige Feuerwehr Rosenau besteht aus den Feuerwehren der Orte. Es gibt in allen Dörfern Feuerwehrhäuser mit Lösch- und Einsatzfahrzeugen. Die Gemeindevertretung führt ihre Sitzungen wechselnd in den Dorfgemeinschaftshäusern der Ortsteile durch. Die zuständigen Behörden im Amt Wusterwitz sind in der August-Bebel-Straße 10 in Wusterwitz angesiedelt.
Medizinische Einrichtungen
Die nächsten niedergelassenen Ärzte, Zahnärzte und Physiotherapeuten befinden sich in Wusterwitz und Ziesar. Die nächstgelegenen Krankenhäuser sind das Universitätsklinikum Brandenburg an der Havel als Krankenhaus der Schwerpunktversorgung, das Sankt-Marien-Krankenhaus als geriatrisches, die Asklepiosklinik als neurologisches und psychiatrisches Spezialkrankenhaus und die Heliosklinik Hohenstücken als neurologische Rehabilitationseinrichtung in der Stadt Brandenburg an der Havel. Für den Rettungsdienst sind die Rettungswachen in Brandenburg und Ziesar zuständig. Der nächstgelegene Standort eines Rettungshubschraubers befindet sich ebenfalls in der Stadt Brandenburg.
Medien
Die Märkische Allgemeine (MAZ) mit Sitz in Potsdam ist die größte Tageszeitung im westlichen Land Brandenburg. Die für den Brandenburger Landkurier und somit die lokalen Nachrichten der Gemeinde zuständige Lokalredaktion hat ihren Sitz in Brandenburg an der Havel. Neben der MAZ gibt es die beiden kostenlosen, über Anzeigen finanzierten Zeitungen Brandenburger Wochenblatt (BRAWO) und PreussenSpiegel, die regionale und lokale Nachrichten publizieren.
Persönlichkeiten
Hans Christian von Brietzke (1705–1783), geboren in Viesen, preußischer Offizier
Dietrich von Werder (1740–1800), geboren in Rogäsen, preußischer Beamter
Franz Ziegler (1803–1876), geboren in Warchau, deutscher Politiker und Schriftsteller, 1840–1849 Oberbürgermeister von Brandenburg an der Havel
Ludwig Graf von Wartensleben (1831–1926), Politiker, Gutsherr, starb in Rogäsen
Eberhardt Bethge (1909–2000), geboren in Warchau, evangelischer Pastor und Theologe
Bertram Hönicke (* 1942), Volkskammer- und Bundestagsabgeordneter, Gemeindevertreter und stellvertretender Bürgermeister in Viesen
Literatur
Weblinks
Amt Wusterwitz (Hrsg.): Rosenau.
Viesen in der RBB-Sendung Landschleicher vom 22. September 2013
Einzelnachweise
Gemeindegründung 2001 |
481515 | https://de.wikipedia.org/wiki/A%20Rake%E2%80%99s%20Progress | A Rake’s Progress | A Rake’s Progress („Der Werdegang eines Wüstlings“) ist eine Serie von Gemälden und Kupferstichen des englischen Künstlers William Hogarth, entstanden zwischen 1733 und 1735. Die acht Bilder des Zyklus zeigen den Abstieg und Fall von Tom Rakewell, der nach dem Tod seines reichen, aber extrem geizigen Vaters ein ausschweifendes Leben in London führt und sein Erbe in Bordellen und Spielhöllen verprasst. Als Folge seines extravaganten und verschwenderischen Lebensstils landet der negative Held im Schuldgefängnis und endet schließlich im Irrenhaus.
Der Titel ist für die Bildserie trefflich gewählt, denn das Wort „rake“ steht im Englischen sowohl für „(Geld) scheffeln“, wie im Falle des verstorbenen Vaters, als auch für einen Lebemann und Wüstling, wie im Falle des unmoralischen Sohns.
Nach A Harlot’s Progress ist A Rake’s Progress Hogarths zweiter Zyklus, der die moralischen Verfehlungen der englischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert beleuchtet. Beim Publikum war die Serie äußerst beliebt; die Kupferstiche verbreiteten sich schnell in ganz Europa. In Deutschland wurden sie im späten 18. Jahrhundert ausführlich vom anglophilen Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg kommentiert.
Um Fälschungen und Raubdrucke zu verhindern, hatte der Künstler kurz vor der eigens verzögerten Auslieferung der Kupferstich-Version seines neuen Werkes den Engraver’s Act erwirkt, ein Urheberrecht, das auch als Hogarth Act bezeichnet wird.
Hintergrund
Persönliches
Hogarths Herkunft ist einer der Schlüssel zu seinem Werk. Sein Vater Richard war Lehrer und erfolgloser Verfasser von Lateinlehrbüchern; die Familie war arm. Als William zehn Jahre alt war, ging das Londoner Kaffeehaus seines Vaters, in dem ausschließlich Latein gesprochen werden sollte, in Konkurs. Als Schuldner wurde Richard Hogarth Ende 1707 ins Fleet-Gefängnis gebracht, wo Schuldner damals inhaftiert wurden, bis sie ihre Schulden bezahlen konnten. Erst 1712 kam er durch eine Amnestie frei, war aber eine gescheiterte Existenz und starb 1718 als gebrochener Mann. Als William Hogarth später als Künstler Erfolg hatte, widmete er dem geschäftlichen Aspekt des Vertriebs seiner Kunstwerke – vor allem der Kupferstiche – große Aufmerksamkeit. Die betrüblichen Erfahrungen des jungen Hogarth mit seinem Vater im Fleet-Gefängnis dürften auch einen Einfluss auf die Gestaltung der siebten Szene der Rake-Serie gehabt haben, die in einem Schuldgefängnis spielt.
Intermedialität
Die massenhafte Verbreitung von Druckwerken, ob als Buch oder Bild, war Anfang des 18. Jahrhunderts in England forciert worden, wo wenig später auch die ersten modernen Romane, etwa die des populären Schriftstellers Henry Fielding, erschienen. Diese zunehmende Öffentlichkeit der Kunstwerke führte zu einer spezifischen Intermedialität zwischen Literatur, Theater und den traditionellen Gattungen der bildenden Kunst.
Zu Beginn des Jahrhunderts erschienen in England mit Joseph Addisons und Richard Steeles Tatler und Spectator die ersten moralisierenden Wochenschriften. Billig produzierte Bildsatiren, die oft zu bestimmten politischen Ereignissen Stellung nahmen, gab es in England auch schon vor dem 18. Jahrhundert, doch zu Hogarths Zeiten wurde der Markt mit einer Fülle derartiger Blätter, die meist als Einblattdrucke erschienen, überschwemmt. Seit 1728 hatte John Gays moralistisch-satirisches Bühnenwerk The Beggar’s Opera als volkstümliche Alternative zur italienischen Oper einen sensationellen Erfolg in London. Hogarth wollte sich mit seinen Werken von der Vielzahl zweitklassiger Karikaturisten abheben und in seinen Bildserien die „Stoffe wie ein Schriftsteller behandeln: Mein Bild ist meine Bühne, und Männer und Frauen sind meine Schauspieler, die durch ihre Handlungen und ihr Mienenspiel ein stummes Spiel aufführen“, schreibt er in seinen handschriftlich überlieferten Autobiographical Notes. Sein Verdienst ist es, dass er als Künstler, ähnlich wie es die literarische Satire im englischen 18. Jahrhundert tat, über die reine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus einen moralisch-satirischen Kommentar in die Bildsprache einfließen ließ, zu dem zahlreiche bedeutungsgeladene Nebenmotive beitragen.
Das „moderne moralische Thema“
A Rake’s Progress ist Hogarths zweiter Zyklus von modernen moralischen Themen (modern moral subjects) nach A Harlot’s Progress (dem „Werdegang einer Dirne“) von 1732. Solche Themen waren für die damalige Kunst relativ neu, die immer noch stark von religiösen und mythologischen Bildwelten geprägt war, auch wenn es vor Hogarth in Holland schon volkstümliche Genre-Szenen aus dem bäuerlichen Milieu gab, seit dem 17. Jahrhundert Moritatensänger ihre moralisierenden Schauergeschichten mit Bild- und Musikbegleitung zum Besten gaben und die Gattung des Konversationsstücks, die vor allem in den Niederlanden, in Frankreich und in England beliebt war, nicht nur Adelsfamilien porträtierte, sondern auch Personengruppen aus dem bürgerlichen Milieu zur Darstellung brachte. Hogarths Sujets greifen auf der einen Seite profane zeitgenössische Themen auf, vor allem auch die Niederungen und Abgründe des modernen Lebens, auf der anderen Seite orientiert er sich aber an Formentraditionen der hohen Kunst. Bis heute ist es umstritten, ob er die Genrekunst damit adeln oder umgekehrt die hohe Kunst damit lächerlich machen wollte. Gegenüber der älteren Parodie, die dem Parodierten ihre Reverenz erweist, erscheint er bereits als selbstbewusster Parodist, der sich über das Parodierte erhebt.
Hogarths Bildserien betrachten aus einem satirisch-sarkastischen Blickwinkel die sozialen Verhältnisse und die moralischen Verfehlungen der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Zwar gab es bereits im 16. und 17. Jahrhundert in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Italien, vereinzelt Vorläuferserien mit moralischer Aussage, doch reichten diese an die Qualität von Hogarths Darstellungen nicht heran. Hogarths A Harlot’s Progress beschreibt die Geschichte eines Mädchens vom Lande, das in der Großstadt London der Prostitution verfällt und nach anfänglichen Erfolgen als Hure an ihrem Lebenswandel elend zugrunde geht. Die Protagonistin Moll oder Mary Hackabout ist dabei eine Art weibliches Gegenstück zum negativen Helden Tom Rakewell aus A Rake’s Progress, wo die Inhalte von Hogarths erstem „modernen moralischen Sujet“ aufgegriffen, weiterentwickelt und auf das gesellschaftliche Scheitern einer unmoralisch agierenden männlichen Person übertragen werden.
Einflüsse aus der Literatur und der religiösen Kunst
Das Wort „Progress“ im gewählten Titel, die verwendete Bildsprache und die Struktur der ersten Hogarthschen Zyklen parodieren zu einem nicht geringen Teil John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678–1684), damals das meistgelesene Buch Englands. Während der Baptistenprediger Bunyan in seinem religiösen Erbauungsbuch die Pilgerreise von „Christian“ (also eines „Christen“), auf dem eine schwere Bürde, nämlich die Sünde, lastet, aus der „Stadt der Zerstörung“ (der irdischen Welt) zur himmlischen Stadt Zion (also zur seligen Ewigkeit im Himmel) beschreibt, handelt es sich in Hogarths Rake-Serie um die bewusste ironische Umkehrung dieses moralisch vorbildhaften Lebenswegs, der für den unchristlich und sündhaft agierenden negativen Helden Tom Rakewell im irdischen Schuldgefängnis und Irrenhaus endet. Der satirische Blick auf das unmoralische Leben und dessen detailreiche Wiedergabe spiegelt vor allem den Stil von Hogarths literarischen Zeitgenossen wie Jonathan Swift, Alexander Pope oder John Gay. Auch Bühnenstücke wie Henry Fieldings Komödie The Temple Beau (1730), die das ausschweifende Leben eines jungen Jurastudenten schildert, dürften einen Einfluss auf A Rake’s Progress gehabt haben. Nach Jarno Jessen ließ sich Hogarth vor allem von den drastischen literarischen Satiren seiner Zeit beeinflussen, die nichts für zartbesaitete Seelen waren:
Darüber hinaus lässt sich durch Motivvergleiche nachweisen, dass sich Hogarth bei seinen weltlichen Darstellungen nicht selten an Bildschemata gehalten hat, die Künstler vergangener Epochen eigentlich für die religiöse Kunst entwickelt hatten. So sind in seinen Bildern oftmals Anleihen an bekannte Motive aus der christlichen Ikonografie zu finden, die er in seinen Werken mit einem gewissen Bildwitz in profane Sinnzusammenhänge stellt. In A Rake’s Progress sind dies vor allem Motive aus der Passion Christi. Die zeitgenössischen Betrachter konnten diese Symbolik entweder traditionell als Verweis auf das göttliche Wunder im Unterschied zu den Niederungen der menschlichen Existenz oder im Gegenteil als Verschleierung der Realität und schales Glücksversprechen verstehen. Weil Hogarth nach Ansicht von Ronald Paulson dem Deismus nahestand, der dem Offenbarungsglauben die Vernunft gegenüberstellte, dürfte wohl eher die letztere Deutung zutreffen. Bilder im Bild, wie sie in seinen Szenen oft an der Wand hängen, verdeutlichen, wie genau Hogarth mit den Werken alter Meister vertraut war.
Die klaren Linien des Kupferstichs ermöglichten es ihm, intensiver mit Emblemen und Symbolen aus der traditionellen Kunst, die er gut kannte, und zugleich mit geschriebenen Texten (im Bild und darunter) gleichsam zu „spielen“, weshalb Charles Lamb die Graphiken des Künstlers mit Büchern verglich und der Ansicht war, dass die Stiche, weil sie die Suggestivkraft von Worten hätten, vor allem „gelesen“ und nicht bloß angeschaut werden müssten. Im Unterschied zu den Sinnbildern der Vanitas-Symbolik, die vom konkret Gesehenen wegführen sollen und in Hogarths Anspielungen etwas Naives oder Sarkastisches bekommen, erschließt sich die Wirklichkeit bei ihm durch Spurensuche und Kombinationsgabe. Auch Peter Wagner verweist auf das vieldeutige Verhältnis von Bild und Wort bei Hogarth und ist geneigt, die Werke des Künstlers als „Ikonotexte“ zu bezeichnen. Beim Arbeiten in Öl hingegen musste sich Hogarth vorrangig auf das Spiel von Licht und Farbe konzentrieren, was gelegentlich zulasten kleinerer satirischer Details ging, die allein die später entstandenen Kupferstiche bereichern.
Entstehung
Ein zeitgenössischer Bericht von George Vertue (1684–1756) nimmt zur Entstehung der Harlot-Serie Anfang der 1730er Jahre Stellung: Danach malte Hogarth gerade am Bild einer hübschen Prostituierten, die sich mittags aus dem Bett erhebt, um zu frühstücken, als Besucher ihn in seinem Atelier ermunterten, weitere Bilder zum Thema zu gestalten und den gesamten Lebenslauf einer Dirne darzustellen. So kam es zur Gestaltung von insgesamt sechs Szenen, die sich in ihrer Kupferstichversion als Verkaufsschlager entpuppten, so dass sich der Künstler ermutigt fühlte, weitere Bildserien mit moralsatirischem Inhalt in Angriff zu nehmen. Für A Rake’s Progress dachte sich Hogarth sogar zwei Szenen mehr aus. Zwischen 1732 und 1734 entstanden zunächst acht Gemälde, die heute zusammen mit den vier Gemälden der später entstandenen Election-Serie in einem eigenen kleinen Raum im Sir John Soane’s Museum, London, ausgestellt sind. Nach diesen acht Gemälden stach Hogarth 1734–35 die für ihn wichtigeren Kupferstichversionen, wobei ihm bei der Ausführung von Bild 2, das als einziges das zugehörige Ölgemälde seitenrichtig wiedergibt, der französische Stecher Louis Gérard Scotin half.
Subskription und Vertrieb
Hogarth begann mit der Planung von A Rake’s Progress schon bald nach dem (auch finanziell) großen Erfolg von A Harlot’s Progress. Die relativ kleinformatigen Gemälde dienten als Grundlage für die Erstellung der Kupferstiche, deren erfolgreicher Vertrieb Hogarths eigentliches Ziel war. Am 22. Dezember 1733 wurde das Subskriptionsangebot in Londoner Zeitungen publiziert – acht Drucke für eineinhalb Guineen. Für alle Käufer der Kupferstichversion radierte der Künstler als Subskriptionsquittung das Blatt The Laughing Audience, das die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums auf eine Komödie repräsentiert und deutlich macht, dass nach Hogarths Auffassung das Leben des Rake aus einer humoristischen Theaterperspektive betrachtet werden sollte.
Hogarth stellte die Gemälde um die Mitte 1734 fertig, begann aber schon vorher, an den Kupferstichen zu arbeiten. Um zu verhindern, dass andere Drucker bereits von Raubkopierern erstellte billigere Kopien seines neuen Werkes verkaufen konnten, wie es bei A Harlot’s Progress geschehen war, ließ Hogarth zusammen mit einigen Künstlerkollegen den Engravers’ Copyright Act (Hogarth Act, ein „Copyright-Gesetz für Stecher“) ausarbeiten und dem Parlament vorlegen. Erst nachdem das neue Urheberrecht am 25. Juni 1735 in Kraft getreten war, wurde A Rake’s Progress an seine Subskriptionskunden ausgeliefert. Ohne die Vorbestellung kostete die Serie zwei Guineen. Hogarth versuchte aber, auch weniger zahlungskräftige Kunden zu bedienen: Mitte August gab er eine erschwinglichere Serie von verkleinerten Drucken des Zyklus, kopiert von Thomas Bakewell, für zwei Shilling und sechs Pence heraus.
Die Bilder
Die Ölbilder als Grundlage der Kupferstiche
Die acht Originalgemälde, die in einem für figurenreiche Ölbilder recht kleinen Format von 62,2 mal 74,9 cm ausgeführt wurden, befinden sich heute im Sir John Soane’s Museum in London. Sie dienten als Grundlage für die Kupferstiche, die von Hogarth im Format von rund 32 mal 39 cm nach diesen Ölbildern angefertigt wurden, wobei – mit Ausnahme der zweiten Szene – die Stiche die meisten Motive in seitenverkehrter Ansicht wiedergeben.
Bei den nach den Ölbildern gestochenen Kupferstichen ergab sich eine Seitenverkehrung, bei der nicht immer konsequent auf eine seitenrichtige Darstellung von Einzelmotiven geachtet wurde. In Bild 2 wird das Original nicht gespiegelt, weil die verkehrte Haltung der Violine in diesem Zusammenhang unpassend gewesen wäre. In Bild 8 ist es dagegen plausibel, dass der Verrückte seine Violine verkehrt spielt. Details wurden jedoch manchmal angeglichen, so wie die Schreibfeder in Bild 6, die in beiden Versionen in der rechten Hand gehalten wird. Weil die Kupferstiche einen höheren Bekanntheitsgrad als die Gemälde haben und auch einige zusätzliche Motive zeigen, die auf den Ölbildern nicht zu sehen sind, ist es vor allem die Stichversion, auf die sich die nachfolgende Interpretation bezieht.
Lichtenbergs Kommentare
Auch aus kommerzieller Sicht waren Hogarths Kupferstiche wegen ihrer weiten Verbreitung viel wichtiger als die Gemälde. Wie bekannt sie in ganz Europa waren, kam seit 1794 in der Ausführlichen Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche durch den berühmten anglophilen Physiker und Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg zum Ausdruck, der bei einem seiner London-Aufenthalte in den 1770er Jahren die Originalstiche von Hogarths Witwe erworben hatte.
Lichtenberg zeigte sich bei seinen England-Aufenthalten von der erfolgreichen Verbindung von Naturwissenschaft und Ingenieurtechnik beeindruckt und setzte sich als Physiker für die Aufwertung des Experiments ein, was in Zusammenhang mit seinem Einsatz für Künstler und Schausteller steht: Die Erklärung von Kunststücken aller Art befreite sie vom Vorurteil, dass sie bloß einen Sensationswert hätten. Bei Hogarth bemerkte er eine Zuwendung zur Realität, wie er sie am britischen Empirismus schätzte, und auch die satirische Tendenz der Kupferstiche gefiel ihm.
Mit diesen Überzeugungen erklärte Lichtenberg Hogarths bildliche Darstellungen. Medizinische und naturwissenschaftliche Bemerkungen machen mitunter den Eindruck, als würde er Schauexperimente kommentieren (wie hier zitiert zu Bild 3:„Gesetze der Schwere“, zu Bild 7: „Störung des Kapillär-Systems“, „So gibt man dem Eisen Polarität.“). Des Weiteren spielt er in seinen Kommentaren öfter ironisch auf Bibeltexte an, wie es auch Hogarth in seinen Bildern tat. Dies hatte, im zeitgeschichtlichen Kontext der Aufklärung, erheblichen Erfolg. Seine Hogarth-Kommentare wurden auch noch im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt und von einer deutschen Leserschaft begeistert konsumiert. Einschlägige Zitate aus Lichtenbergs zeitgenössischen Kommentaren begleiten daher die folgenden Ausführungen. Seitenangaben wie „rechts“ oder „links“ orientieren sich an der bekannteren Kupferstichversion, nicht an der seitenverkehrten Ölbildversion.
Sequenz
Bild 1: Der junge Erbe übernimmt den Besitz des alten Geizhalses
Originaltitel: The Young Heir Takes Possession Of The Miser’s Effects
Nach dem Tod seines reichen Vaters steht Tom Rakewell am Beginn seines verschwenderischen Lebens. Der Name Rakewell ist ein Wortspiel: Englisch to rake in (money) heißt „(Geld) scheffeln“, verbunden mit dem Adjektiv well (gut), das sowohl auf die finanzielle Tugend des Vaters als auch, in einer zweiten Bedeutung (a rake – ein Wüstling, Lebemann und Lotterbube) auf die mangelnde moralische Einstellung des Sohnes hinweisen soll. Lichtenberg meint zur Namenswahl:
Zu erwähnen wäre allerdings, dass Hogarth ursprünglich vorhatte, seinen negativen Helden „Ramble Gripe“ zu nennen, wie aus den Initialen „RG“ auf einer der Kisten in Szene 1 hervorgeht, doch weil zahlreiche Raubkopien diesen Namen übernommen hatten und in Werbeannoncen verbreiteten, wählte er letztlich den Namen „Tom Rakewell“ für seinen Protagonisten.
In Szene 1 hat Tom gerade das Haus seines Vaters übernommen und lässt sich einen Anzug anmessen. Ein Notar oder Prokurator arbeitet an Dokumenten, stiehlt dabei aber auch heimlich einige Geldstücke. An der Tür stehen Sarah Young, die weinende und sichtbar schwangere ehemalige Geliebte des Rake, die einen Ehering in der Hand hält, und deren Mutter. Diese hat Toms Liebesbriefe an Sarah in der Hand und weist, auf Sarahs Bauch deutend, Toms Angebot einer Handvoll Münzen, mit denen er sich vom Eheversprechen freikaufen will, entrüstet ab. Neuerdings wird sogar darüber spekuliert, ob der junge Mann nicht mit Sarah verheiratet gewesen sein könnte.
Truhen und Schränke des Zimmers sind geöffnet und durchwühlt, Verträge und andere Papiere von Toms verstorbenem Vater liegen achtlos weggeworfen auf dem Boden. Ein Diener nagelt schwarzen Stoff an die Wand, dabei fallen aus einem Spalt hinter einer Deckenleiste Goldstücke heraus, die dort versteckt worden waren.
Der alte Herr wird nicht nur durch dieses Nebenmotiv, sondern auch anhand diverser anderer Einzelheiten als Geizhals ausgewiesen: Das ganze Zimmer erscheint baufällig und in schäbigem Zustand, an der Decke und an den Wänden bricht der Putz weg, die Katze ist fast auf ein Gerippe abgemagert, selbst ein lederner Bibeleinband wurde zerschnitten, um daraus eine neue Schuhsohle zu machen. Das Gemälde über dem Kamin schließlich zeigt Toms Vater im Mantel beim Geldwägen – ein Hinweis darauf, dass zu seinen Lebzeiten das Haus im Winter wohl ungeheizt blieb, wohingegen jetzt die alte Bedienstete Holz zum Kamin trägt. Auch der Stil des im Stich abgebildeten Gemäldes ist signifikant: Es ist in niederländischer Tradition gehalten, was für Hogarth und seine Zeitgenossen den Geschmack des zu Geld gekommenen Handwerkers oder Kaufmanns symbolisierte – „niedere“ Kunst.
Das Fensterkreuz direkt neben der Figur des Rake ist eine satirische Anspielung auf das Kreuz, das Christus auf seinem Kreuzweg zu tragen hat, und darauf, dass sich der Antiheld Tom auf dem Weg in eine Art Anti-Passion befindet. Dies ist auch deshalb interessant, weil die Serie A Harlot’s Progress nach Ansicht des Hogarth-Experten Ronald Paulson bereits parodistische ikonographische Anspielungen auf ein Marienleben enthielt.
Bild 2: Umgeben von Künstlern und Professoren
Originaltitel: Surrounded By Artists And Professors
Im zweiten Bild hat Tom Rakewell seine Umgebung grundlegend verändert: Das Zimmer ist groß und hoch, architektonisch auf dem letzten Stand und mit neuen Bildern ausstaffiert. Hier hält er wie ein reicher Adliger sein Lever (den Morgenempfang) ab, weshalb die Szene mit Molières Bourgeois gentilhomme verglichen wurde.
Tom steht in prächtigem neuem Gewand links neben einem Leibwächter, laut dem Papier, das dieser in Händen hält, ein „Ehrenmann“ mit Namen William Stab (engl. to stab = erstechen). Für Lichtenberg ist er „ein so genannter Bravo, ein Eisenfresser, der sich gegen ein billiges für andere Leute haut, und, wie man aus dem Pflaster über der Nase sieht, auch allenfalls hauen läßt.“ Ein Boxer und Meister in den Prügelkünsten (James Figg), ein Fechtmeister und ein französischer Geigenlehrer stehen darüber hinaus bereit, ebenso ein Gartenarchitekt (Charles Bridgeman, der die Gärten von Stowe geplant hat), und vorn rechts kniet ein Stallmeister oder Jockey, der einen Pokal, den Toms Pferd Silly Tom in Epsom gewonnen hat, präsentiert. Lichtenberg schreibt:
Ein Jäger bläst rechts sein Jagdhorn, während links im Bild ein Mann auf einem Cembalo zur Musik der fiktiven Oper The Rape of the Sabines spielt.
Es wurde angenommen, dass der Cembalist entweder Georg Friedrich Händel ist (dafür sprechen auf dem Ölgemälde die Initialen „F. H.“ für den Autor der Oper und der Name Carestini auf der Sängerliste) oder Nicola Porpora, der Direktor des King’s Theatre am Haymarket (dafür sprechen die Namen Farinelli und Senesino auf der Sängerliste, denn diese beiden Kastraten sangen für Porporas Opera of the Nobility), aber Hogarth könnte sich auch einen Spaß mit diesen Hinweisen gemacht und den Betrachter absichtlich verwirrt haben. Auf der Rückenlehne des Klaviersessels sieht man eine lange Liste von Geschenken, die von meist weiblichen, aber auch einigen männlichen aristokratischen Fans an den bekanntesten der Kastraten, nämlich Carlo Broschi, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Farinelli, gesandt worden waren. Hier soll ausgedrückt werden, dass Tom dem Lebensstil des Adels nacheifert.
Dass Reichtum nicht unbedingt mit gutem Geschmack gleichzusetzen ist, wird durch die Gemälde im Hintergrund suggeriert – eine klassizistische und damit dem adligen Kunstgeschmack zuzuordnende Darstellung des Urteils des Paris drückt aus, dass Tom Geld hat, die flankierenden Bilder von Kampfhähnen mit ihrer eher sportlichen Konnotation sagen dagegen aus, dass er zwar modisch sein mag, aber keinen Geschmack hat.
Im Vorraum sieht man noch eine „Putzkrämerin (Milliner)“, die resigniert auf die Reden eines Mannes reagiert, einen französischen Schneider und neben diesem einen französischen „Perüquier; der erste mit dem neuen Galakleide auf dem Arme, der andere mit der neuen Perücke in der Schachtel“, sowie einen Poeten, der ein Gedicht für Tom Rakewell geschrieben hat, um ihm zu schmeicheln.
Bild 2 ist die einzige Darstellung im Zyklus, die erkennbar auf berühmte Personen anspielt, die damals real existierten. Hogarth wusste wohl, dass das Publikum es liebte, in seinen Werken nach bekannten Figuren zu suchen, wollte aber wohl nicht zu viele Prominente durch die Aufnahme in seine Bildwelt vor den Kopf stoßen.
Auffällig ist, dass die Personen, die dem Rake ihre Dienste anbieten, vor seinen Augen teilweise mit ihren Waffen (darunter Schlagstöcke, Degen, Peitsche) herumfuchteln – Details, die satirisch auf eine altdeutsche Geißelung Christi, etwa die Dornenkrönung aus der Grauen Passion von Hans Holbein d. Ä., verweisen könnten.
Bild 3: Szene in der Taverne
Originaltitel: The Tavern Scene
Im dritten Bild wird erstmals moralischer Verfall dargestellt – wir befinden uns in einer Taverne, der Rose Tavern in Drury Lane, die im 18. Jahrhundert in London wegen der dort stattfindenden Ausschweifungen berüchtigt war – Prostitution und Gin-Ausschänken dominierten die Gegend.
Tom, auf einem Sessel links fläzend, wird gerade von zwei Prostituierten um seine Uhr erleichtert. Ein solches Motiv taucht auch auf Darstellungen des Verlorenen Sohns im Bordell auf, an die sich Hogarth erinnert haben könnte. Die Uhr zeigt an, dass es 3 Uhr (wohl nachts) ist, das Glas in seiner Hand deutet seinen Zustand an. Lichtenberg schreibt:
Generell scheint die Stimmung der Gesellschaft schon sehr gelöst zu sein: zwei Frauen am Tisch liefern sich ein Spuckduell, eine Frau im Vordergrund entkleidet sich gerade, um als Stripperin auf einem Tablett, das von rechts herbeigebracht wird, zu posieren – dies war eine Gelegenheit für Schauspielerinnen, deren Leumund ohnehin sehr schlecht war, ihr Gehalt aufzubessern. Lichtenberg war offenbar recht gut darüber informiert, was die Stripperin, die übrigens Aratine hieß, genau darzubieten hatte:
Zeichen von Chaos und Exzess sind überall im Bild zu sehen: ein zerbrochenes Glas auf dem Boden vor Tom, die ebenfalls zerbrochene Lampe des Nachtwächters, der zerbrochene Spiegel und die teils vandalisierten Gemälde der römischen Kaiser an der Wand. Das Gemälde von Nero, der seinerzeit als Urheber des Großen Brands von Rom galt, ist hingegen unversehrt. Vor der mit Bildern behangenen Wand versucht eine offensichtlich sturzbetrunkene Frau, mit einem Kerzenleuchter die Weltkarte in Brand zu stecken. Der Symbolismus liegt auf der Hand.
Eine Straßensängerin gibt die zweifellos zotige Ballade Black Joke zum Besten, mit einem Trompeter und einem blinden Harfenisten hinter der Tür konkurrierend,
Da sich genau zwölf Personen um den zentralen Tisch versammelt haben, könnte man bei diesem Bild nach den Überlegungen von Bernd Krysmanski auch an die Jünger Jesu und eine völlig verweltlichte Abendmahlsszene denken. Der gleiche Autor spekuliert sogar weiter, ob Hogarth nicht auch auf eine Fußwaschungsszene angespielt haben könnte.
Bild 4: Verhaftet wegen der Schulden
Originaltitel: Arrested For Debt
Im vierten Bild hat der Abstieg Toms begonnen – er wird aus seiner gemieteten Sänfte heraus von einem Büttel verhaftet. Der
Für die Darstellung der Sänfte ließ sich Hogarth von Claude Gillots Gemälde Les deux carrosses (ca. 1707, Musée du Louvre, Paris) inspirieren. Den Bildsymbolen kann entnommen werden, wohin Tom wollte: Der Mann links im Bild trägt einen Lauch auf seinem Hut, ein Symbol für den heiligen David, dessen Feiertag der 1. Mai war, – und der Geburtstag der regierenden Königin Caroline, der in St James’s Palace gefeiert wurde.
Sarah Young ist schon zur Stelle, um Tom mit ihren Ersparnissen auszulösen, der Inhalt ihres Nähkästchens ergießt sich dabei von ihr unbemerkt über die Straße. Der von den Ereignissen abgelenkte Lampenanzünder auf der Leiter lässt seine Ölwanne überlaufen, so dass sich das Öl gleich über Toms Kopf ergießen wird. Noch dramatischer ist der Blitz, komplett mit Pfeil am bodennahen Ende, der im Begriff ist in White’s Club einzuschlagen, einem Spielsalon für die Reichen.
Dass Tom nicht zur adligen Gesellschaft in White’s Club passt, verdeutlichen (in der überarbeiteten Stichversion) die sieben Straßenkinder vor ihm, die der Unterschicht angehören und um einen Pfosten mit der Aufschrift „Black’s“ sitzen – sie spielen Glücksspiele, betrügen dabei, und stehlen. Zwei von ihnen, Schuhputzer mit ihren Arbeitsutensilien, spielen eine Art Strip-Poker, einer hat nur mehr das Nötigste an, bei einem zweiten Paar schaut ein Kiebitz über die Schulter eines Spielers, der auch noch einem Kumpan die Karten des Beobachteten signalisiert. Ein weiterer stiehlt gerade dem abgelenkten Tom das Schnupftuch aus der Tasche, und einer sitzt Pfeife rauchend am Boden und liest The Farthing Post, ein billiges Sensationsblatt der Zeit.
Die sternartige Wunde am nackten Oberkörper des einen Knaben spielt auf die Seitenwunde Christi an und lädt den Betrachter dazu ein, die dem Glücksspiel verfallenen Jungen mit den Soldaten unter dem Kreuz Christi zu vergleichen, die um die Kleider Jesu feilschen. Die Begegnung Sarahs mit Tom erinnert zudem an Hans Holbeins Noli me tangere (Hampton Court Palace), also an die Begegnung Maria Magdalenas mit dem auferstandenen Jesus, zumal sich die Gesten des Erstaunens bei Hogarths Rake und Holbeins Christus ähneln.
Bild 5: Verheiratet mit einer alten Jungfer
Originaltitel: Married To An Old Maid
In Bild 5 ist bereits Verzweiflung spürbar: Tom heiratet in Marylebone Old Church eine ältliche Einäugige, um seine Finanzen zu sanieren. Lichtenberg fragt sich: „Ist die Braut noch eine Jungfrau – oder eigentlich: ist die Braut da eine Witwe oder nicht.“ Die Kirche war eine von vielen der damaligen Zeit, in der Priester gegen Geld jeden verheirateten, ohne die Formalitäten (zum Beispiel die Überprüfung, ob beide Partner unverheiratet waren) einzuhalten. Falls der Rake bereits mit der jungen Sarah verheiratet gewesen sein sollte, wovon die neue Braut nichts weiß, wäre die hier eingegangene zweite Ehe natürlich unrechtmäßig.
Im Moment des Ringtausches hat Tom allerdings schon seine Aufmerksamkeit der viel jüngeren (und hübscheren) Brautjungfer zugewandt, während im Hintergrund Sarah Young und ihrem Neugeborenen der Zugang zur Kirche verwehrt wird.
Auch hier geben Symbole der Szene Bedeutung: Das Hundepaar links spiegelt das Brautpaar. Wie Lichtenberg bemerkt, handele es sich dabei um Hogarths Mops Trump, der ebenfalls einem „ältlichen Geschöpfe seiner Gattung“ den Hof mache. Das Immergrün, mit dem die Kirche dekoriert ist, drückt nicht nur die Jahreszeit Winter aus, sondern soll auch auf die Kälte der geschlossenen Verbindung und das Alter der Braut hinweisen. Die Kirche selbst befindet sich im Verfall, ganz wie Toms Leben. Von den Kirchenwänden löst sich der Putz, und eine Spinne baut ihr Netz an einem ungestörten Platz – über dem Opferstock. Die Tafel mit der zweiten Hälfte der Zehn Gebote ist gespalten, die Bruchlinie geht genau durch Gebot 9 – „Lass dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses. Lass dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes“.
Dass sich weiter hinten im Bild Frauen prügeln, dürfte ironisch auf ein traditionelles Bildmotiv anspielen. Florentinische Maler stellten in ihren Szenen von Josephs Vermählung mit Maria die abgewiesenen jüngeren Freier betont aggressiv dar: Sie prügeln auf den alten Joseph ein, der die junge Maria heiraten durfte, weil sein Stab (als göttlicher Fingerzeig, dass er der Auserwählte ist) auf wundersame Weise erblühte, die mitgebrachten Stäbe der anderen Freier aber unverändert blieben. Hogarths Szene findet zudem in einer Marienkirche statt und die Braut scheint wie Maria einen Nimbus zu haben. Lichtenberg schreibt:
Die gesamte Figurenanordnung ähnelt der einer Vermählung Mariä, wobei der Rake die Position des Hohenpriesters eingenommen hat und sich in Hogarths Darstellung die Geschlechter- und Altersverhältnisse ironischerweise verkehrt haben.
Bild 6: Szene im Spielsalon
Originaltitel: Scene In A Gaming House
Tom ist dabei, auch sein zweites, durch die Heirat gewonnenes Vermögen zu verspielen. Er befindet sich in einem Spielsalon, sein Stuhl ist umgeworfen, seine Perücke vom Kopf gerutscht, er kniet am Boden und verflucht sein Schicksal. Wieder ist ein Hund als Spiegelung Toms links von ihm zu sehen.
Die Szene ähnelt Bild 3, nur sind es hier Männer statt Frauen, die Toms Niedergang begleiten. Die Stimmung der Spieler wird von Lichtenberg wie folgt beschrieben:
Der Spielsalon ist von einer weniger feinen Sorte, denn unter den Spielern befindet sich auch ein schlecht gelaunter „Highwayman“, dessen Pistole man aus der Manteltasche ragen sieht und der sein ganzes Diebesgut verspielt zu haben scheint.
Wahrscheinlich hat der Rake, wie auch andere verzweifelte Spieler, die ihre letzten Münzen verspielt haben, die Dienste des Geldverleihers am Tisch links in Anspruch genommen, was sich im nächsten Bild rächen wird. Das Feuer, das sich in Bild 3 andeutete, ist hier tatsächlich ausgebrochen, Rauch steigt im Bildhintergrund auf. Der Nachtwächter ganz links, sowie der Croupier und ein Spieler sind sich der Gefahr bewusst, alle anderen sind zu sehr durch das Spiel abgelenkt.
Die gesamte Szene parodiert darüber hinaus Raffaels berühmte Transfiguration. Toms erhobener Arm mit der verzweifelt geballten Faust ähnelt dem nach oben gewendeten Arm des besessenen Knaben bei Raffael, die runde Tischplatte dem Plateau des Bergs Tabor. Anstelle des vor Wolken am Himmel hell erstrahlenden Christus hat Hogarth allerdings nur zwei Kerzen vor rauchigem Hintergrund dargestellt, weil der verklärte Heiland in einer Spielhölle ohnehin nichts zu suchen hat.
Bild 7: Szene im Gefängnis
Originaltitel: The Prison Scene
Tom hat seine beiden Vermögen endgültig verspielt und ist im Schuldturm, dem Fleet Prison angelangt.
Ein Schuldner wurde damals eingesperrt, bis er seine Schuld begleichen konnte. Der Gefangene hatte keinen Anspruch auf Ernährung durch den Staat, wer es sich leisten konnte, musste die Aufseher für Essen bezahlen. Man sieht, wie der Gefängniswärter und ein Page, der Bier brachte, Geld von Tom einfordern, doch ohne Erfolg. Auf dem Tischchen liegt das Manuskript für ein Theaterstück, das der Rake in seiner Verzweiflung im Schuldgefängnis schrieb, um Geld zu machen. Es kam beim Theatermanager John Rich aber nicht an, wie aus dem beiliegenden Ablehnungsschreiben hervorgeht.
Toms einäugige Gemahlin schimpft mit ihm und wird handgreiflich:
Toms ehemalige Freundin Sarah Young ist in Ohnmacht gefallen, das gemeinsame Kind an den Rockschößen. Zwei Frauen versuchen, sie mit Riechsalz wieder zur Besinnung zu bringen.
Wo in den ersten Bildern noch offene Türen und Fenster eine Möglichkeit des Entkommens und der Umkehr andeuteten, ist hier jeder Fluchtweg vergittert. Im Hintergrund sieht man Toms Zellengenossen, einen Alchemisten, dem wohl auch die an Ikarus erinnernden Flügel rechts oben zuzuschreiben sind – noch ein Mensch, der wie Tom versucht hat, zur Sonne zu gelangen.
Die Haltung des Rake lässt sich mit der eines Christus im Kerker oder eines Christus in der Rast vergleichen.
Bild 8: Im Irrenhaus
Originaltitel: In The Madhouse
Im letzten Bild schließlich sieht man Toms endgültigen Abstieg, er ist zum Insassen des Bedlam, des berüchtigten Londoner Irrenhauses, geworden. Sowohl Toms Pose als auch die des eingebildeten Eremiten links hinter ihm sind Caius Gabriel Cibbers Skulpturen Melancholy und Raving Madness nachempfunden, die damals das Eingangsportal von Bedlam zierten.
Tom wird gerade in Ketten gelegt, immer noch von Sarah Young begleitet, deren Liebe zu ihm ungebrochen ist, die weinend mit ihm leidet und ihm Suppe gebracht hat.
Rund um die beiden sieht man andere „Verrückte“: einen Astronomen mit einem Papierfernrohr und einen Mathematiker, der versucht, Längengrade auf einer Globusabbildung an der Wand einzutragen (die Ermittlung der geographischen Länge war eine bis ins späte 18. Jahrhundert ungelöste und mit einer großen Belohnung verknüpfte Aufgabe). Ein religiöser Schwärmer sitzt in Zelle Nr. 54. Er betet ein Holzkreuz an und begeistert sich für drei Märtyrer: St. Laurentius, St. Athanasius und St. Clemens, wie aus den Bildern an der Zellenwand hervorgeht. In der benachbarten Zelle Nr. 55 scheint sich ein nackter Mann mit Szepter als König zu fühlen. Neben einem irren Geiger und einem unglücklich Verliebten hat sich auf der Treppe rechts ein Mann als Papst ausstaffiert:
Es besteht kein Zweifel: Tom ist umgeben von Realitätsverlust.
Aus heutiger Sicht das vielleicht schockierendste Motiv des Bildes ist das der feinen Dame und ihrer Zofe im Hintergrund. Die beiden vornehmen Frauen repräsentieren Besucherinnen des Irrenhauses, die zu ihrer Belustigung die Irren aufgesucht haben, wie es damals zum Zwecke der Unterhaltung üblich war, und schauen, hinter einem erhobenen Fächer leicht verschämt ihren Blick abwendend, dem nackten „König“ beim Masturbieren zu.
Die Hauptszene um den am Boden sitzenden, in Ketten gelegten irren Rake parodiert eine Beweinung Christi. Die weinende Sarah übernimmt dabei die Rolle der trauernden Maria.
Die Besonderheiten der Ölgemälde
Kupferstich und Ölgemälde sind sehr unterschiedliche künstlerische Medien. Die Öl-Version von A Harlot’s Progress verbrannte 1755, so dass in diesem Fall nur noch Hogarths Kupferstiche überliefert sind; die Gemälde der Rake-Serie dagegen haben sich vollständig erhalten, befinden sich jedoch etwas abseits vom üblichen Kunstbetrieb im wenig bekannten Londoner Sir John Soane’s Museum, so dass auch schon allein aus diesem Grund die Stiche bekannter als die Gemälde sind. Die Kupferstich-Versionen späterer Zyklen stellte Hogarth zum Großteil nicht mehr selbst her, sondern engagierte professionelle Kupferstecher für sie. Die Stiche und Gemälde von A Rake’s Progress sind daher die einzigen seriellen Werke des Künstlers, die einen genaueren Vergleich von Hogarths Technik in beiden Medien ermöglichen. Ein solcher Vergleich verdeutlicht auch, dass Hogarth in seinen Kupferstichen einige Motive abänderte, ja sogar zusätzliche Details zugunsten einer aktuellen, tagespolitischen Anspielung mit in die Stichversion aufnahm, um für seine Zeitgenossen die satirische Aussage zu verstärken. Generell jedoch zeigen die Ölbilder die gleichen Szenen wie die Kupferstiche.
Obwohl manche Motive in den Ölbildern der Rake-Serie wegen Hogarths relativ grober Pinselführung weniger detailgetreu dargestellt sind als in den Kupferstichen, sieht der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe gerade in den gemalten Bildern „eine unheimliche Kraft“ am Werk, wobei sogar das „durch die Einheit der Empfindung“ primitive Detail die Wirkung steigere:
Im sechsten Gemälde, der Szene in der Spielhölle,
Ernst H. Gombrich betont in seiner Geschichte der Kunst, dass Hogarth von venezianischen Meistern von der Art eines Francesco Guardi „abgelauscht“ habe, „wie man eine Gestalt mit ein paar Pinselstrichen zaubert“. Er schreibt in seiner kurzen Besprechung des letzten Gemäldes der Rake-Serie:
Im Gegensatz zur Kupferstichversion der achten Szene, in der der Rake eine Hose trägt, zeigt die Ölbildversion die Hauptfigur mit einem weißen Lendenschurz, was als ein deutlicherer Hinweis auf das Leinentuch zu verstehen sein könnte, das der sterbende Jesus am Kreuz trug. Der Tod des negativen Helden im Irrenhaus wäre demzufolge im Ölbild noch stärker als in der Kupferstichversion mit dem Kreuzestod Christi in Zusammenhang gebracht worden.
Die Bildunterschriften unter den Kupferstichen
Die Texte unter den Drucken der Erstausgabe, die auch für alle späteren Ausgaben beibehalten wurden, stammen von einem Freund Hogarths, der eine dichterische Begabung hatte, nämlich von Reverend John Hoadly (1711–1776), dem Sohn des Bischofs Benjamin Hoadly. Diese Bildunterschriften enthalten im christlichen Sinne moralisierende Kommentare, die relativ wenig mit der Motivation des Künstlers zu tun haben und die gezeigten Details weder erklären noch inhaltliche Ergänzungen liefern. Eine deutsche Übersetzung des 19. Jahrhunderts versucht, den Stil der Originalverse nachzuempfinden. Zum geizigen Vater des Rake, der ja in Szene 1 bereits verstorben ist, lauten beispielsweise die ersten Zeilen:
Und die letzten Verse zur Irrenhaus-Szene in Bild 8 lauten:
Die heute banal wirkenden Verse in der Tradition der Vanitas-Motive beschäftigen sich moralisierend mit abstrakten Begriffen wie Eitelkeit, Wohlstand und zweifelhaften weltlichen Vergnügungen und entsprechen damit den erwarteten Konventionen einer von moralischen Prinzipien und Höflichkeiten („politeness“) geprägten geistigen Kultur. Die Ambivalenz der Vanitas-Motivik ist ein Argument für die Ende des 20. Jahrhunderts vom Kunsthistoriker Bernd Krysmanski aufgestellte These, dass der Künstler seinen Zyklus – in blasphemischer Absicht? – in Form einer „Anti-Passion“ gestaltet und sogar Vergnügen an obszönen Details gehabt haben könnte. Diese Annahme basiert allein auf Motivvergleichen und auf der Analyse von Bilddetails. Den Bildunterschriften ist dazu nichts zu entnehmen.
Versionen der Stiche
Kurz nach der Erstveröffentlichung des Zyklus nahm Hogarth einige größere Änderungen an den Bildern 1, 3 und 4, sowie kleinere an Bild 2 und 7 vor. Zum Beispiel wurde in Szene 1 die Figur der Sarah so abgewandelt, dass sie älter und unattraktiver wirkt und ein schmaleres Gesicht erhalten hat; weiterhin hat der Künstler im Vordergrund links eine Bibel ergänzt, aus deren Einband man das Leder für eine Schuhsohle herausgeschnitten hat. In Szene 3 erscheint die Stripperin stark verändert, das Gesicht des Rake wurde umgestaltet und das Porträt von Caesar an der Wand in ein Porträt des französischen Gastwirts Pontac umgewandelt, der ein Lokal in der Londoner Abchurch Lane betrieb und dessen Luxus berühmt war. In Szene 4 ist die Gruppe der sieben auf dem Straßenpflaster ins Glücksspiel vertieften Jungen erst später hinzugekommen, und auch der Blitz am Himmel wurde von Zustand zu Zustand stark verändert. Nachdem der Künstler 1762–63 durch politische Auseinandersetzungen mit einigen Exfreunden zermürbt worden war, retuschierte er 1763, ein Jahr vor seinem Tod, alle Bilder noch einmal. In Bild 8 trägt beispielsweise die an die Wand gemalte Münze die Jahreszahl 1763.
Die letzten Abzüge von Hogarths Originalplatten stellte 1822 der Kupferstecher James Heath für seinen großformatigen Band The Works of William Hogarth her, wobei allerdings die Linien auf den Platten von ihm nachbearbeitet wurden, also der Originalzustand nicht mehr ganz erhalten ist. Alle im 19. Jahrhundert später erschienenen illustrierten Publikationen über Hogarth enthalten lediglich minderwertige, in Stahl gestochene Kopien seiner Werke. Heaths letzte Version der Abzüge von den Originalplatten ist es, die hier zur Illustration des Wikipedia-Artikels verwendet wird.
Rezeption
Britische und französische Rezeption
Kurz nach dem Erscheinen der Serie gab es in England – neben den üblichen Plagiaten, die nicht zu verhindern waren – etliche literarische Publikationen, die sich mit dem Lebenslauf eines Wüstlings beschäftigten. Hierzu zählen die in Gedichtform verfassten Pamphlete The Rake’s Progress: or, The Humours of Drury Lane, The Rake’s Progress: or, The Humours of St. James’s und The Progress of a Rake: or, The Templar’s Exit, die allerdings nur von einem geringen literarischen Wert sind.
Eine erste kürzere Beschreibung der acht Bilder der Serie erfolgte auf Französisch in Jean André Rouquets Lettres de Monsieur … à un de ses Amis à Paris, pour lui expliquer les Estampes de Monsieur Hogarth (London 1746). Der Autor war Künstler und mit Hogarth befreundet, so dass er für seine Schrift Informationen aus erster Hand erhalten haben dürfte. Eine erste stilkritische Analyse der Rake-Serie verfasste William Gilpin in seinem Essay upon Prints (1768), wobei er, von der Warte der Hochkunst argumentierend, dem Künstler sogar einige formale Schwächen vorwarf.
Es folgten die stark moralisierenden Ausführungen des Pfarrers John Trusler in Hogarth Moralized (London 1768), die wohl überwiegend die Ansichten von Hogarths frömmlerischer Witwe widerspiegeln und auch später noch, vor allem im viktorianischen England, laufend in verschiedenen Versionen kursierten, und seit 1781 John Nichols’ Kommentierungen in den verschiedenen Ausgaben seiner Biographical Anecdotes of William Hogarth, die auf Informationen von Zeitgenossen basierten, einige Figuren in Hogarths Bildern als reale Personen der Zeit identifizierten und im frühen 19. Jahrhundert in überarbeiteter Form in den Genuine Works of William Hogarth (1808–1810) nachgedruckt wurden. Ende des 18. Jahrhunderts wurden auch französische Übersetzungen von Georg Christoph Lichtenbergs deutschen Hogarth-Kommentaren publiziert, die sich vorwiegend an ein gebildetes Publikum richteten.
1811 erschien erstmals Charles Lambs berühmter Essay On the Genius and Character of Hogarth, in dem die Rake-Serie mit Shakespeares Timon of Athens verglichen wird. Seitdem wurde im englischsprachigen Raum in fast jeder größeren Studie des 19. und 20. Jahrhunderts über Hogarth die Serie A Rake’s Progress ausführlich gewürdigt, erschöpfend vor allem in den Interpretationen des amerikanischen Hogarth-Experten Ronald Paulson, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die vielfältigen literarischen und kunsthistorischen Einflüsse auf die Serie aufzeigten. Selbst in Ernst H. Gombrichs Story of Art, laut dem Guardian das berühmteste, populärste Kunstgeschichtsbuch der Welt, das in rund 30 Sprachen übersetzt wurde, werden die Qualitäten von A Rake’s Progress diskutiert.
Deutsches Sprachgebiet
Auch in Deutschland war die Rake-Serie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überaus beliebt. Bereits in der 1754 erschienenen deutschen Ausgabe von Hogarths Schrift The Analysis of Beauty (1753) findet sich als Anhang eine Übersetzung von Rouquets französischen Erläuterungen zur Rake-Serie, und 1769 enthielt die anonyme Schrift Die Werke des Hrn Willm Hogarth in Kupferstichen Moralisch und Satyrisch erläutert ein Kapitel über „Die Begebenheiten eines Lüderlichen“.
Der Erfolg lässt sich auch daran ablesen, dass es für den deutschen Markt konzipierte vergleichbare Bilderzyklen gab, etwa Daniel Chodowieckis zwölf Blätter zum Leben eines Lüderlichen (1772), die den Werdegang des Protagonisten allerdings weniger drastisch als Hogarth schildern, denn hier erhält der von seinen Eltern schon bei seiner Geburt vernachlässigte Lüderliche sogar eine passable Ausbildung inklusive Reitunterricht, vernachlässigt aber sein Universitätsstudium, verschuldet sich beim Umgang mit Huren und beim Kartenspiel, entkommt dem Gefängnis durch eine Eheschließung, endet aber letztlich doch in völligem Ruin. Nur stirbt er hier nicht wie bei Hogarth im Irrenhaus, sondern aus Krankheitsgründen. Daneben gab es umfangreiche Bücher wie Christoph Friedrich Bretzners Das Leben eines Lüderlichen. (Leipzig 1787), ein Werk, das sowohl auf Hogarths als auch auf Chodowieckis Darstellungen Bezug nimmt.
Georg Christoph Lichtenberg publizierte die Urfassung seiner berühmten Kommentare zur Rake-Serie erstmals 1785 im Göttinger Taschen-Calender, zu denen Ernst Ludwig Riepenhausen Kupferstiche nach Hogarth beisteuerte. Diese mit viel Wortwitz geschriebenen Erläuterungen kommen den satirischen Auffassungen von Hogarth, vergleicht man alle frühen Kommentatoren, wohl am nächsten. 1796 erweiterte der Autor diese Kommentare für seine Ausführlichen Erklärungen (1794–1799), die im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder nachgedruckt wurden. Einen Einfluss hatten diese Erklärungen auch auf Ludwig Tiecks Briefroman Die Geschichte des Herrn William Lovell (1795/96). Im 19. Jahrhundert erschienen in mehreren Auflagen von Franz Kottenkamp geschriebene Paraphrasierungen der Lichtenbergischen Kommentare, was ihre anhaltende Beliebtheit beim Publikum unterstreicht.
Im 20. Jahrhundert befassten sich in Deutschland unzählige Studien und Lehrveranstaltungen zu Hogarth und zu Lichtenberg mit der Rake-Serie. Zum Beispiel behandelte der bekannte Berliner Kunsthistoriker Werner Busch in seinem Funkkolleg Kunst Mitte der 1980er Jahre und in seinen im Internet publizierten Unterrichtseinheiten zur englischen Kunst des 18. Jahrhunderts die Ikonografie der ersten und letzten Szene und gehörten an der Fernuniversität und Gesamthochschule Hagen unter der Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans seit Mitte der 1990er Jahre Lichtenbergs Hogarth-Erklärungen zur Standardlektüre für Germanistik-Studenten. Umfangreiche Universitätsstudien über Lichtenberg wie Hans-Georg von Arburgs Kunst-Wissenschaft um 1800: Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren (Göttingen 1998) beleuchten meist ausführlich auch die Kommentare des deutschen Aufklärers zum Lebenslauf eines Wüstlings.
Bildende Kunst, Bühne, Film und Musik
Künstlerisch inspirierte Hogarths Serie in Deutschland Graphiker wie Johann Heinrich Ramberg, zum Beispiel dessen Blätter aus dem Leben Strunks des Emporkömmlings (1822–1825), sowie einige Grafiken von Wilhelm von Kaulbach, etwa seinen Verbrecher aus verlorener Ehre (1831) oder sein Narrenhaus von 1833/34. Des Weiteren sind die Einflüsse von Hogarths Bildwelten auf etliche Karikaturisten und die Präraffaeliten des 19. Jahrhunderts nicht zu verkennen.
Vor allem im 20. Jahrhundert hatte dann Hogarths Serie einen beachtlichen internationalen Einfluss auf ganz unterschiedliche Kunstformen: das Ballett, den Film, die Oper, die Graphik, die Malerei und die Rockmusik.
1935 wurde das Ballett The Rake’s Progress am Sadler’s Wells Theatre, London, uraufgeführt, zu dem Gavin Gordon (1901–1970) die Musik schrieb. Für die Choreographie war Ninette de Valois und für das Bühnenbild Rex Whistler (1905–1944) verantwortlich.
Val Lewtons und Mark Robsons Horrorfilm Bedlam (1945) mit Boris Karloff und Anna Lee in den Hauptrollen ist von Hogarths A Rake’s Progress und besonders von der letzten Szene, die ja im Londoner Irrenhaus spielt, inspiriert.
1951 schrieb Igor Strawinsky die Oper The Rake’s Progress, deren Libretto von W. H. Auden und Chester Kallman lose auf Hogarths Gemälden basiert.
1961–63 schuf David Hockney seine 16-teilige grafische Version des Rake’s Progress, in der er seine eigenen New Yorker Erlebnisse zu Hogarths Szenen in Beziehung setzt und zum Beispiel den Empfang einer Erbschaft, eine Trinkszene an der Bar, die Heirat einer alten Jungfer und eine Bedlam-Szene darstellt, aber sich dabei doch so stark von der Vorlage löst, dass das Vorbild kaum noch erkennbar ist. Außerdem war Hockney 1975 Bühnenbildner für eine Inszenierung von Strawinskis Oper. Hierbei ließ er sich stärker als bei seiner grafischen Serie von Hogarths Bildwelten des 18. Jahrhunderts inspirieren.
1970/71 entstand Alfred Hrdlickas achtteiliger Radierzyklus The Rake’s Progress, der sich weitaus enger an Hogarths Originalserie orientiert, als dies die Werke anderer moderner Künstler tun, dabei aber versucht, den gesamten Lebenslauf des Wüstlings aus der Sicht des Verrücktgewordenen zu sehen und daher den Zyklus mit der Szene im Irrenhaus startet.
1991 veröffentlichte die Progressive-Rock-Band Marillion den Titel The Rakes Progress auf dem Album Holidays in Eden. Das nur 1:54 Minuten kurze Stück verbindet die Titel This Town und 100 Nights zu einer fast zwölfminütigen Einheit. Der kurze Text stammt von dem Marillion-Sänger Steve Hogarth, der sich inhaltlich an seinen Namensvetter anlehnt und den weit verbreiteten Verfall innerer Werte im urbanen Raum thematisiert.
1994 gestaltete Jörg Immendorff für eine Inszenierung von Strawinskis The Rake’s Progress während der Salzburger Festspiele die Bühnenbilder, wobei er in selbstironischer Weise auf unterschiedliche Motive von Hogarth zurückgriff. Daneben entstand eine Serie von Gemälden und Druckgrafiken, in denen der deutsche Künstler das Thema des jungen Rake immer wieder variierte.
2006 vereinte eine Ausstellung der Eremitage in St. Petersburg die Werke von Hogarth, Strawinski und Hockney
2012 präsentierte der englische Künstler Grayson Perry unter dem Titel The Vanity of Small Differences erstmals sechs Wandteppiche, die von Hogarths Rake-Serie inspiriert sind, die sich mit dem Leben von Tim Rakewell und seiner sozialen Mobilität in der modernen englischen Konsumgesellschaft von seiner Kindheit an bis hin zu seinem tödlichen Autounfall beschäftigen, in denen sich aber auch wie bei Hogarth Anspielungen auf die religiöse Kunst alter Meister der Renaissancezeit finden lassen.
2013 kreierte die deutsche Künstlerin Ulrike Theusner eine Serie von Zeichnungen unter dem Titel A Rake’s Progress: Der Werdegang eines Wüstlings.
Literatur
Englisch:
Ronald Paulson: Hogarth. Bände 1–3, Rutgers University Press, New Brunswick 1991–1993.Das Standardwerk zu Hogarth.
Ronald Paulson: Hogarth’s Graphic Works. 3. Aufl., The Print Room, London 1989.Das Standardwerk zu Hogarths Kupferstichen.
Ronald Paulson: The Art of Hogarth. Phaidon, London 1975.
Robert L. S. Cowley: An Examination and Interpretation of Narrative Features in ‘A Rake’s Progress’. Magisterarbeit, University of Birmingham 1972.
David Bindman: Hogarth. Thames and Hudson, London 1981.
Jenny Uglow: Hogarth: A Life and a World. Faber and Faber, London 1997.
Robin Simon und Christopher Woodward (Hrsg.): ‘A Rake’s Progress’: From Hogarth to Hockney. Ausst.-Kat., Sir John Soane’s Museum, London 1997.
Mark Hallett: The Spectacle of Difference: Graphic Satire in the Age of Hogarth. Yale University Press, New Haven und London 1999.
Mark Hallett: Hogarth. Phaidon Press, London 2000.
Christine Stevenson: Hogarth’s Mad King and his Audiences. In History Workshop Journal 49 (2000), S. 25–43.
Christina Scull: The Soane Hogarths. 2. Aufl., Sir John Soane’s Museum, London 2007.
Anaclara Castro: The Rake’s (Un)lawfully Wedded Wives in William Hogarth’s A Rake’s Progress. In: Eighteenth-Century Life. Band 40, Heft 2 (2016), S. 66–87.
Elizabeth Einberg: William Hogarth: A Complete Catalogue of the Paintings. Yale University Press, New Haven und London 2016.Das Standardwerk zu Hogarths Gemälden.
Deutsch:
G. C. Lichtenbergs Ausführliche Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche. Darin: The Rake’s Progress – Der Weg des Liederlichen. (1796). In: Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies, Dritter Band, München 1972, S. 821–910.
Frederick Antal: Hogarth und seine Stellung in der europäischen Kunst. VEB Verlag der Kunst, Dresden 1966.
Werner Busch: Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip: Ikonographische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfolge. Georg Olms, Hildesheim und New York 1977.
Berthold Hinz u. a.: William Hogarth. 1697–1764. Katalog zur Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e. V. in der Staatlichen Kunsthalle Berlin vom 28. Juni bis 10. August 1980. Berlin 1980.
Hermann Josef Schnackertz: Form und Funktion medialen Erzählens: Narrativität in Bildsequenz und Comicstrip. Wilhelm Fink, München 1980.
Herwig Guratzsch, Karl Arndt: William Hogarth: Der Kupferstich als moralische Schaubühne. Ausst.-Kat. Wilhelm-Busch-Museum Hannover 1987. Gerd Hatje, Stuttgart 1987.
Bernd Krysmanski: Hogarth’s ‚A Rake’s Progress‘ als ‚Anti-Passion‘ Christi (Teil 1 und 2). In: Lichtenberg-Jahrbuch 1998. S. 204–242, und Lichtenberg-Jahrbuch 1999. S. 113–160.
Freie Universität Berlin: Die englische Kunst des 18. Jahrhunderts. Teil 1: William Hogarth: A Rake’s Progress. Der Lebenslauf eines Liederlichen.
Katy Barrett: „Diese Linien sind so überaus fein“: William Hogarth und John Harrison lösen das Längengradproblem. In: Deutsche Gesellschaft für Chronometrie 52 (2013), S. 27–36.
Hans-Peter Wagner: William Hogarth: Das graphische Werk: Ein kommentierter Auswahlkatalog. WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2013.
Weblinks
A Rake’s Progress By William Hogarth – Seven Ages of Britain (Dokumentation von BBC One)
Die englische Kunst des 18. Jahrhunderts, Teil 1: William Hogarth (sehr gute und umfangreiche Beschreibung der ersten Szene)
James Heath: The Works of William Hogarth (1822): William Hogarth: The Rake’s Progress (englischer Kommentar von John Nichols)
Art of the Print, A Rake’s Progress
Hogarth: Hogarth’s Modern Moral Series. The Rake’s Progress auf der Website der Tate Gallery
Einzelnachweise
William Hogarth
Gemälde (18. Jahrhundert)
Prostitution in der Kultur
Milieustudie |
534150 | https://de.wikipedia.org/wiki/Vintl | Vintl | Vintl ([]; mundartlich die Vintl; italienisch Vandoies) ist eine italienische Gemeinde mit Einwohnern (Stand: ) im unteren Pustertal in Südtirol. Ihr Hauptort Niedervintl liegt an der Mündung des Pfunderer Bachs in die das Pustertal von Ost nach West durchfließende Rienz.
Die Fraktion Obervintl befindet sich etwa drei Kilometer weiter östlich im Pustertal. Weitere Ortschaften der Gemeinde sind Weitental und Pfunders im etwa 20 km langen Pfunderer Tal. Daneben gibt es zahlreiche Weiler, Streusiedlungen und Einzelhöfe, die oft weitab der Ortskerne im Talgrund und an den zumeist sehr steilen Seitenhängen liegen.
Nächster größerer Ort ist das etwa 10 km süd-südwestlich gelegene Brixen.
Geographie
Lage
Das Gebiet der Gemeinde Vintl liegt im westlichen Pustertal und umfasst eine Fläche von 110,51 km². Damit liegt sie flächenmäßig an 21. Stelle unter den 116 Südtiroler Gemeinden. Zwei Talsysteme geben dem Gemeindegebiet das Gepräge:
Das von der Rienz durchflossene Pustertal zwischen der Mühlbacher Klause und Obervintl liegt in einer Meereshöhe von etwa . Es weist eine bis zu 600 m breite flache Talsohle auf, die an einigen Stellen durch Schwemmfächer gegliedert ist. An diese schließen sich seitlich sehr steile Talhänge an.
Das vom Norden her einmündende, von den Pfunderer Bergen der Zillertaler Alpen umschlossene Pfunderer Tal weitet sich an mehreren Stellen und macht dort Platz für vergleichsweise bescheidene landwirtschaftlich nutzbare Kulturräume. Einige Talabschnitte sind sehr eng und schluchtartig. In seinem Verlauf vom hoch liegenden Mündungsgebiet über Weitental () und Pfunders () bis zur nahe an den Zillertaler Hauptkamm heranreichende Hochgebirgswelt durchsticht das Tal mehrere geologisch interessante Gesteinsformationen. Seine höchste Erhebung findet das Gemeindegebiete am hohen Niederen Weißzint.
Territoriale Gliederung der Siedlungen
Das Gemeindegebiet umfasst vier Fraktionen: Niedervintl, Obervintl, Weitental und Pfunders. Der Ortskern von Niedervintl liegt im Mündungsbereich des Pfunderer Tales ins Pustertal auf einer niedrigen Erhebung, die vom Pfunderer Bach erst nach einem Rechtsschwung überwunden wird. Am Fuß der gegenüberliegenden Talseite nützen die Höfe von Priel den knappen Kulturgrund zwischen Rienzbett und dem bewaldeten Steilhang der hier abfallenden Lüsner Berge (einer Untergruppe der Dolomiten). Am südexponierten Hang des Pustertales, der sich westlich an das Pfunderer Tal anschließt, liegt die zu Niedervintl gehörende, ausgedehnte Streusiedlung von Sergs, die an die östlichen Höfe von Meransen angrenzt. Im Talgrund des Pustertales ist die Ortschaft von Obervintl () heute über den schmalen Siedlungskorridor der Gewerbezone an der orografisch rechten Seite mit Niedervintl verbunden. Am nordexponierten Hang des Pustertales weist der Getzenberg bei Obervintl an manchen Stellen ein flacheres Hangrelief auf, sodass sich verstreut liegende Bauernhöfe ansiedeln konnten.
Im etwa 3 km langen Eingangsbereich ins Pfunderer Tal befinden sich bis zur Ortschaft Weitental nur wenige Höfe. Die Ortsteile Außerdrittel, Dorf, Huntsdorf und Hinterdrittel sind in der Talsohle oder an den daran angrenzenden talnahen Hängen angesiedelt. Kegelberg, am Steilhang des Gitschberges gelegen, kann auch über eine von Meransen über den Stolbergsattel führende Straße erreicht werden. Auf der gegenüberliegenden Talseite grenzen die Höfe des Honigberges an die zu Terenten gehörenden Ortsteile Talson und Margen. Weiter im Talinnern liegen auf dem Schwemmkegel des Schmansenbaches die Streusiedlung von Schaldern und auf einem steilen Mittelgebirgsplateau die Höfe von Kammerschien.
Der Talkessel von Pfunders weitet sich erst nach einer Talenge, verursacht von einem vom Gitschberg herunterstreichenden Felsriegel aus widerstandsfähigem Biotitplagioklasgneis, bei dem die imposante Schalderwand besonders ins Auge sticht. Die Benennung der Ortsteile von Pfunders hat zum Teil mit deren geografischer Lage zu tun: So wird der am Westhang liegende und am Abend schattige Ortsbereich Schattseite, der gegenüberliegende Sonnseite genannt. Mit der Sonnseite über eine Straße verbunden ist die Höfegruppe von Riegl. Die Eggerseite wird durch den besiedelbaren Stirnbereich einer mächtigen Talsperre gebildet, die dort aus querverlaufenden harten, quarzlinsenreichen Tonschiefern besteht, und nach deren Überwindung man in den Weiler Dun gelangt, verstreut und steil liegende Höfe auf der orografisch linken Talseite. Der höchste dauerhaft besiedelte Hof ist der Walderhof auf . In Dun gabelt sich das Tal. Der Hauptast, der sich hier zur Schlucht verengt, führt in ausgedehnte Almgebiete, von denen das größte der Weitenberg auf Meereshöhe ist, und auf das Pfunderer Joch (), über das Pfitsch erreicht werden kann. Der Nebenast führt zur Boden-Alm und nach einer mächtigen Talstufe in die Eisbrugg-Alm mit dem Eisbruggsee und zum Eisbruggjoch mit der Edelrauthütte.
Nachbargemeinden
Nachbarin im Westen ist die Gemeinde Mühlbach, im Norden ist es Pfitsch, im Osten sind es Mühlwald, Terenten und Kiens und im Süden Rodeneck. Keine direkten Straßenverbindungen gibt es nach Pfitsch, Mühlwald und Rodeneck. Von Niedervintl führt eine gut ausgebaute Straße auf das auf einem Mittelgebirgsplateau liegende Terenten hinauf. Das Pfunderer Tal ist verkehrstechnisch gesehen eine Sackgasse, sieht man von der Kegelbergstraße ab, die Weitental mit Meransen über den Stolbergsattel verbindet.
Flächennutzung
Der hohe Gebirgsanteil bringt es mit sich, dass landwirtschaftliche Nutzflächen in Form von Äckern und Wiesen nur in sehr geringem Maße verfügbar sind. Nur 7,85 % des Gemeindegebietes eignen sich dafür. Diese Flächen finden sich bevorzugt in der Talsohle des Pustertales und des Pfunderer Tales. Früher nahmen die Äcker selbst im Hochtal von Pfunders eine größere Fläche ein als die Wiesen. Heute überwiegt die Grünlandwirtschaft. 16,8 % sind Ödland. Gewässer nehmen 0,4 % der Fläche ein und bebaut sind 1,45 %. Mit 73,1 % ist der Anteil jener Flächen, die Vegetationsbewuchs in Form von Wäldern oder Almweiden aufweisen, relativ hoch. Die meisten und ausgedehntesten Almgebiete besitzt Pfunders. Dort nehmen sie eine Fläche von 4600 ha ein und machen damit 75 % der gesamten land- und forstwirtschaftlich nutzbaren Fläche aus. Um die 900 Rinder wurden früher auf den Pfunderer Almen gesommert. Die größte Alm ist die Weitenberger Alm. Sie ist eine mit 370 Weiderechten genutzte Gemeinschaftsalm. Bei der Landwirtschaftszählung 2000 wurden 275 landwirtschaftliche Betriebe gezählt, 16 davon mit Urlaub auf dem Bauernhof.
Flüsse und Gewässer
Seen sind nur auf dem nördlichen Rand des Gemeindegebietes anzutreffen. Sie sind fast alle in Felsbecken entstanden, die in den Eiszeiten von den Gletschermassen ausgeschürft wurden, so der Weitenbergersee, das „Pollackl“, der Grindlberger See und das „Korseabl“ östlich der Eisbruggalm. Der größte See hingegen, der Eisbruggsee oberhalb der Eisbruggalm, hat sich hinter einer Stirnmoräne gebildet, wobei eine vorhergehende Vertiefung des Geländes durch Gletschereinwirkung aber nicht ausgeschlossen werden kann.
Das größte Fließgewässer ist die Rienz, der Fluss, der das Pustertal entwässert. Sie nimmt bei Obervintl den Terner Bach und bei Niedervintl den Pfunderer Bach auf. Der Pfunderer Bach bekommt aus den weitläufigen Almgebieten des hinteren Pfunderer Tales den üppigsten Nachschub, wobei der Eisbruggbach eine wichtige Rolle spielt. Ein großer Anteil dieses Wassers wird in Dun beim „Sandl“ in ein Stollensystem abgeleitet, das ein Elektrizitätswerk in Mühlbach beschickt. Für den Betrieb eines gemeindeeigenen E-Werkes reicht die über das Jahr ziemlich gleichmäßige Wasserführung des Schmansnerbaches aus, der bei Schaldern in den Pfunderer Bach mündet.
Die Pfunderer Berge
Die südwestlich dem Zillertaler Hauptkamm vorgelagerten Gebirgszüge werden Pfunderer Berge genannt und nehmen eine Fläche von etwa 300 km² ein. Das Pfunderer Tal ist in sie eingebettet. Sie umschließen zudem im Westen das Valler Tal, bilden die Bergkette zum Pfitscher Tal hin und greifen im Osten auf die Gemeindegebiete von Mühlwald und Terenten über. Zu den markantesten Gipfeln auf Vintler Gemeindegebiet zählen neben dem Niederen Weißzint () die Grabspitze () in der Nähe des Pfunderer Jochs als höchste Erhebung des Bergkammes zwischen Pfitscher Tal und Weitenberger Kar, die Wurmaulspitze () als höchste Erhebung westlich der Weitenberger Alm, die Napfspitze () südlich des Eisbruggjochs, die Hochgrubbachspitze () als eine der höchsten Erhebungen der östlichen Pfunderer Berge und ihr vorgelagert die Eidechsspitze (), der Vintler Hausberg. Ein bekannter Wanderweg ist der Pfunderer Höhenweg, der von Sterzing ausgeht und durch die Pfunderer Berge bis in die Gegend von Bruneck führt.
Klima
Die klimatischen Bedingungen lassen in Vintl und Weitental den Anbau von Weizen zumindest an den sonnenbeschienenen Hängen zu. In Pfunders mussten die Bauern mit den widerstandsfähigeren Getreidesorten Roggen, Hafer und Gerste vorliebnehmen, als der Ackerbau noch in einem größeren Maßstab betrieben wurde. Die Niederschlagsmengen, die im langjährigen Durchschnitt in Vintl 779 mm, in Weitental 733 mm und in Pfunders 944 mm betragen, sind für eine ertragsreiche Grünlandwirtschaft normalerweise ausreichend. Am ehesten unter Trockenheit leiden Bauern an südexponierten Hängen wie in Sergs.
Flora
Westlich von Niedervintl sind die südexponierten Hänge des Rienztales von Resten eines Bergmischwaldes mit Laubbäumen bewachsen. Sonst überwiegen auf diesen Hängen mit Granituntergrund Föhrenwälder. Der schattigere Getzenberg südlich der Rienz ist von Fichtenwäldern bedeckt, in denen einzelne Tannenbestände vorkommen. Die Hänge des Pfunderer Tales weisen die typischen alpinen Fichten-Lärchen-Mischwälder auf, wobei gegen die Waldgrenze hin, die hier bis auf bis maximal hinaufreicht, schüttere Lärchenbestände überwiegen. Was auffällt, ist das Fehlen der Zirbe. In der Tat ist die ganze Südflanke des Zillertaler Hauptkammes ein Zirbenfehlgebiet. Im Talgrund werden Bäche und Feuchtgebiete von Grauerlen begleitet, weiter oben überwuchern Grünerlen („Lutterstauden“) Bachränder, schattige Hänge und heute vermehrt vernachlässigte Weidegebiete. Große Flächen werden von Zwergstrauchheiden eingenommen: von der rostroten Alpenrose („Zetten“) im Verein mit der Schwarzbeere, der Preiselbeere („Granten“) und der Moosbeere („Moosefacken“), weiters vom Heidekraut („Hoadra“) und von der Gemsheide („Jochhoadra“).
Fauna
In der Gemeinde Vintl kommen zahlreiche der charakteristischen Wildtiere der Alpen wie Gämsen, Murmeltiere, Rothirsche, Rehe, Füchse, Marder und Schneehasen vor. 1987 wurde eine Steinbockkolonie mit 4 Böcken und 4 Geißen aus Pontresina im Engadin im Eggerseiterberg im hinteren Pfunderer Tal ausgewildert. Daraus ist eine Steinwildpopulation von ca. 30 bis 40 Köpfen entstanden. Ebenfalls vorhanden sind Auerhuhn, Birkhuhn und Schneehuhn. Die Hege des Wildes obliegt den Jägern aus den zwei Jagdrevieren Pfunders und Vintl mit Weitental und Obervintl.
Geologie
Das Gemeindegebiet von Vintl wird von der Pustertal-Linie, einem Teilstück einer langgezogenen tektonischen Bruchlinie, der Periadriatischen Naht, in west-östlicher Richtung durchschnitten. Die Streichrichtung der Hauptgesteinsserien verläuft parallel zu dieser Linie, so dass das Pfunderer Tal eine ganze Serie verschiedener Gesteinsformationen durchschneidet. Im Süden schiebt sich das Südalpin in Gestalt des Getzenberges bis an die Talfurche des Pustertales heran. Er gehört dem Deckensystem des Brixner Quarz-Phyllits an, ein karbonatfreies, bleigraues bis blaugraues metamorphes Sedimentgestein aus dem Paläozoikum. Daran schließen sich im Norden die noch zum Südalpin gehörenden Schichten des Brixner Granits an, granitische Plutonite aus dem Zeitalter des Perms. Ihr nördlicher Rand bildet zugleich die Bewegungsfuge der Periadriatischen Naht und weist deutlich ausgeprägte Zerreibungs- und Schleifspuren (Mylonite) auf. Parallel dazu ist im Tertiär der Granitkeil des Rensengranits als ein bis 1 km breiter westost verlaufender Gebirgsstreifen in dieses Gefüge eingedrungen.
Das Ostalpin ist in einem relativ schmalen Streifen zwischen Weitental und der Ortschaft Pfunders in Gestalt der „Alten Gneise“ vertreten. Die Grenze wird von den Gräben des Stoller und des Margener Baches oberhalb von Weitental in etwa vorgezeichnet. Die ostalpine Decke besteht hier in der Hauptsache aus kristallinen Schiefern, vor allem aus Paragesteinen (ehemalige Sedimentgesteine) und aus Orthogesteinen mit Quarz, Feldspat und Glimmern (von ehemaligen magmatischen Schmelzen abstammend).
Die Grenzlinie zum anschließenden penninischen Tauernfenster verläuft vom Schellenberg in der Nähe der Furkelscharte ins Tal hinunter Richtung Pfunderer Pfarrkirche und streicht anschließend die Hänge querend oberhalb der Ast-Alm vorbei zum Passenjoch () hinauf. Kalkglimmerschiefer und Kalkphyllite, die den Bündnerschiefern im Bereich des Engadinerfensters in Graubünden entsprechen, bilden die bis hinter Dun reichenden Schichten der Oberen Schieferhülle. Grüngesteine, vor allem Chloritschiefer und in geringerem Ausmaß Serpentine sind als metamorphe Schubeinschlüsse an vielen Stellen der Oberen Schieferhülle empor gepresst worden. Sie streichen als mächtiger Keil von Pfitsch her kommend über die Grabspitze () und der Faßnacht () immer schmaler werdend nach Osten. Grünschieferzüge gibt es im westlichen Weitenberg und südlich der Steinlerbergscharte, wo sie über die Paulscharte in die Bergflanken hinunterreichen. Auf der gegenüberliegenden Talseite stecken südlich des Dengelsteins schollenartige Kleinvorkommen von Serpentin. Dort wurde dieser teils schieferig-faserig ausgeformte, teils massig und sogar talkig vorkommende „griene Marbel“ aus Pfunders ab 1722 abgebaut.
An diese keilförmigen Ausläufer der Grüngesteine schließt die Untere Schieferhülle des Tauernkristallins an, die vor allem aus kalkfreien kristallinen Schiefern besteht. Sie liegt der tektonisch tiefsten Einheit des Tauernfensters auf, dem Zentralgneis. Dieser berührt das Gemeindegebiet nur randlich. Ein schmaler Streifen des Zentralgneises ist in der Unteren Schieferhülle eingebettet und zieht sich von der Eisbruggspitze nördlich des Tschirn vorbei bis zum Sente-Kar. Das Gestein ist auffallend hell und besteht vorwiegend aus granitischem, gelegentlich auch aus tonalitischem Orthogestein. Der Verlauf dieser hellen Tauerngneisausläufer ist auch auf Satellitenbildern der Region gut erkennbar.
Morphologie
Im Pfunderer Tal sind an manchen Stellen Altflächen- und Talbodenreste zu erkennen. Das sind manchmal weitläufige, sanfter ansteigende Oberflächensysteme oder Geländestufen, wobei es sich um die Reste voreiszeitlicher Oberflächenformen oder Talböden handelt. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass der Hebungsprozess des Gebirges hin und wieder von Ruhephasen unterbrochen wurde. Eine dieser Talbodenstufen beginnt in Dun, streicht über Eggerseite, Riegl und Kammerschin talauswärts nach Talson bis hin zum Margenkopf.
Die Gletschermassen der Eiszeiten haben auf den aus dem Tertiär überkommenen fluviatil – also durch Fließgewässer – geprägten Altformen deutliche Spuren hinterlassen. Eckigere Geländeformen wurden gerundet, Kare und Felswannen ausgeschürft, Rundbuckel entstanden, Täler wurden durch glaziale Einwirkung von Kerbtälern zu Trogtälern. Einige Almtäler im hinteren Pfunderer Tal sind Beispiele dafür. Viele als Moränenreste identifizierbare Geländeformationen stammen jedoch nicht von den großen Vereisungen her, sondern sind das Ergebnis von Gletschervorstößen aus dem Schlern-, Gschnitz- und Daun-Stadium, also eines Zeitabschnittes von vor 9000–7000 Jahren, in dem die Durchschnittstemperaturen erneut stark absackten. So sank die Schneegrenze während des Schlern-Stadiums auf herab und die Gletscherzungen stießen bis in die Täler vor. Der heutige Kirchbühel in Pfunders entpuppt sich als Stirnmoräne eines Gletschervorstoßes des Schlernstadiums. Überreste einer Seitenmoräne aus dieser Zeit bilden einen hangquerenden Wall auf der Eggerseite.
Ein morphologisches Landschaftsmerkmal sind die Schwemmkegel der Flüsse und Bäche in den Talniederungen. Im Rienztal sind es der Winnebach, der Ternerbach, der Kaserbach und der Pfunderer Bach, die ausgedehnte Schwemmfächer gebildet haben. Im Talgrund des Pfunderer Tales haben die Materialablagerungen verschiedener Seitenbäche den Talboden aufgefüllt. In Weitental haben die Schuttablagerungen der Bäche zweier direkt gegenüberliegender Grabensysteme (Stoller und Talsoner Graben) immer wieder den Pfunderer Bach gestaut und dadurch taleinwärts eine ausgedehnte Aufschüttungsebene geschaffen, während talauswärts eine deutlich abfallende Talstufe entstand.
Geschichte
Name und Etymologie
Vintl wird urkundlich erstmals in einer Freisinger Traditionsnotiz von ca. 993/94–1005 als „in valle Uintulla“ (‚im Tal von Vintl‘) erwähnt. Unter Namenkundler gilt Vintl als einer der wenigen Tiroler Ortsnamen mit relativ gesicherten keltischen Wurzeln. Über den im ladinischen Exonym Vandoies (heute auch im Italienischen verwendet) erhaltenen Lautstand kann man den Ortsnamen zu Vendoglio im Friaul und Vendeuil in der Picardie stellen. Als Bedeutung lässt sich ‚weißes Feld‘ oder ‚weiße Lichtung‘ erschließen, alternativ auch ein ‚Feld des Vindos‘.
Weil einige Ortsnamen im Gemeindegebiet romanische Ursprünge haben, kann davon ausgegangen werden, dass vor der Ankunft der bajuwarischen Siedler im 7. Jh. n. Chr. auch schon entlegenere Orte im Pfunderer Tal bewohnt waren: So steckt im Namen Pfunders – die erste urkundliche Erwähnung erfolgte um 1067 – das romanische fondus (Boden, Landgut, Grund), im Namen Schaldern erkennen Namenkundler scala (Stiege, Stufenfolge) mit dem Suffix are, Kammerschien kann hergeleitet werden von campus (Acker, Feld) ursinus (vom lat. ursus), also Bärenfeld. Flurnamen wie „Kamp“, „Gampis“, „Falmetz“, Furkel haben ebenfalls romanische Wurzeln. 1456 ist für Niedervintl die Ortsbezeichnung zu der Niderenvintull urkundlich bezeugt.
Mittelalter
Was den Archäologen in Vintl die Arbeit erschwert, ist der Umstand, dass zahlreiche historisch interessante Relikte bar jeder systematischen Sorgfalt geborgen wurden. Daher haben sich in einigen Fällen überhaupt nur mehr wenig hilfreiche Schriftstücke oder Aufzeichnungen erhalten, und bei anderen fehlen genaue Ortsangaben. Die Funde lassen jedoch auf Siedlungstätigkeiten an den südexponierten Kuppen und Hängen des Rienztales bei Niedervintl und Obervintl in vorrömischer und römischer Zeit schließen.
Im Mittelalter haben die Bajuwaren das Gemeindegebiet ab dem 7. Jh. kapillar besiedelt. Bis weit in die heutige Zeit hinein behielten fast alle Ortschaften den für die Landnahme der Bajuwaren typischen Streusiedlungscharakter, bei dem die Ortskerne am ehesten mit dem Standort der Kirchen gleichzusetzen sind. Vintl gehörte zur Grafschaft Pustertal, die bis zur Mühlbacher Klause reichte und im Jahr 1091 von Kaiser Heinrich IV. dem Brixner Bischof Altwin übergeben wurde. Die Bischöfe übertrugen die Verwaltung ihren Ministerialen, den Herren von Schöneck und Rodeneck, die seit 1140 nachweisbar sind. Diese führten 1290 eine Besitzteilung und 1320 eine Erbteilung durch, bei der ein eigenes Gericht Niedervintl entstand, das Arnold von Schöneck zugesprochen wurde. Obervintl verblieb beim Gericht Schöneck und nahm damit einen anderen verwaltungshistorischen Verlauf. Als Arnold von Schöneck 1336 einen Teil seiner Besitzungen verkaufte, war es der Brixner Bischof Albert I. von Enn, der Niedervintl um 200 Mark erwarb. Fortan blieb das Gericht Niedervintl bis zur Säkularisation im Jahre 1803 in bischöflichem Besitz.
Bedeutend für die Siedlungsgeschichte sind die Grundherrschaften, weil sie den Siedlungsausbau organisiert haben. Ihre Besitzstandsverzeichnisse, soweit sie noch vorhanden sind, und die Beurkundungen über Besitzstandswechsel ermöglichen erste Einblicke und die Rekonstruktion der frühen Geschichte. Die frühesten urkundlich fassbaren Grundherrschaften gehörten dem weltlichen Adel an. Durch Schenkungen erlangten das Kloster Neustift, das Brixner Domkapitel, aber vor allem das Hochstift Brixen im Laufe der Zeit große Besitzzuwächse. Das Hochstift Brixen wurde zur weitaus größten Grundherrschaft und besaß um 1400 im Gericht Niedervintl 72 grundherrschaftlich belastete Höfe.
Neuzeit
Niedervintl, Weitental und Pfunders bildeten bis 1803 ein fürstbischöfliches Gericht, dem die Verwaltung und die Rechtsprechung oblag. Nach der Säkularisation der geistlichen Fürstentümer ging es in staatliche Verwaltung über. Nachdem Tirol 1805 unter bayrische Verwaltung gekommen war, wurde das Gericht Niedervintl Teil des Gerichtes Rodeneck mit Sitz in Mühlbach. Eine Verwaltungsreform im Jahre 1811 führte im Sinne eines modernen Staatswesens die Gewaltenteilung ein und errichtete als neue Verwaltungseinheiten die Gemeinden Niedervintl, Weitental und Pfunders, die 1850 dem Bezirksgericht Brixen unterstellt wurden. Die Gemeinde Obervintl wurde 1827 dem Landgericht Bruneck unterstellt.
Während der Zeit der Franzosenkriege beteiligten sich die örtlichen Schützenkompanien unter der Führung des damaligen Postmeisters von Niedervintl, Bartlmä von Guggenberg und des Kuraten von Weitental, Georg Lantschner, an mehreren Gefechten. Sie kamen nach dem Kriegseintritt Italiens am 23. Mai 1915 an der Dolomitenfront zum Einsatz. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der südliche Teil Tirols dem italienischen Staat zugesprochen. Infolge der faschistischen Machtübernahme wurde nach und nach die deutsche Sprache aus den Gemeindestuben und aus den Schulen verbannt. Ab 1925 wurden in allen Ortschaften illegale Katakombenschulen eingerichtet, in denen Hilfslehrerinnen bis 1943 den Kindern Unterricht in deutscher Sprache erteilten. 1926 ersetzten die Amtsbürgermeister (Podestà) die gewählten Bürgermeister. Im Jahre 1929 schloss ein Regierungsdekret die Gemeinden Obervintl, Niedervintl, Weitental und Pfunders zur Gemeinde Vintl in ihrem heutigen Umfang zusammen. Im Zuge der Option – der aus dem Hitler-Mussolini-Abkommen hervorgehenden Aufforderung an die Südtiroler, entweder Reichsdeutsche zu werden oder sich der Italianisierung zu unterwerfen – wanderten im Zeitraum von 1939 bis 1943 etwa 540 Personen aus der Gemeinde ab.
In der Nacht vom 15. auf den 16. August 1956 kam in Pfunders der Finanzbeamte Raimondo Falqui zu Tode, in dessen Folge es zum viel beachteten „Pfunderer Prozess“ kam.
Im Schuljahr 1963/64 wurde in Niedervintl eine Mittelschule eingerichtet. In den Jahren ab 1960 siedelten sich auch zunehmend auswärtige Betriebe in der Gemeinde an.
Im Mai 2012 wurde ein Brandanschlag auf das Asylantenheim Fischerhaus verübt.
Kirchenbauten
Die alte, dem hl. Urban geweihte Chorquadratkirche in Vintl, deren Ursprünge in die romanische Bauperiode zurückreichen wurde 1378 erstmals urkundlich erwähnt. Sie steht heute unscheinbar neben der 1760–1763 neu erbauten und von Josef Anton Zoller ausgemalten Barockkirche. Kunsthistorisch interessant sind die Fresken in der alten Kirche, die teilweise den Meistern Hans von Bruneck und Leonhard von Brixen zugeschrieben werden.
Für Weitental wurde bereits 1180 ein Kirchenbau erwähnt. Die dem hl. Thomas geweihte Kirche wurde 1777 mit einem neuen Langhaus im Barockstil versehen, das Johann Mitterwurzer aus Mühlbach ausgemalt hat.
Einen landschaftlich beeindruckenden Platz haben die Bewohner von Pfunders für den Standort ihrer Martinskirche gewählt. Die erste Erwähnung einer seelsorglichen Tätigkeit, die die Existenz einer Kirche bezeugt, stammt aus dem Jahr 1397. Das Langhaus wurde in den Jahren bis 1808 umgebaut und von Franz Altmutter ausgemalt.
Das Nikolauspatrozinium weist für Obervintl auf eine Kirche hin, die schon lange vor ihrer ersten Erwähnung um 1300 vorhanden gewesen sein könnte. Der einheitlich gotische Bau aus dem auslaufenden 15. Jahrhundert wurde 1749 barockisiert und 1891 mit Deckenfresken versehen. Von dem von Hans Klocker stammenden Schnitzaltar aus dem Jahre 1490 ist nur mehr die später übermalte Figur des Kirchenpatrons erhalten.
Bergbau in Pfunders
Für Pfunders sind mehrere Anläufe überliefert, um die nicht sehr ergiebigen Erzlagerstätten auszubeuten. So wurde dem Bischof von Brixen 1541 hinterbracht, dass Fugger’sche Knappen im Weitenberg ohne seine Einwilligung Gold- und Kupferbergbau betrieben und das Erz über das Pfundererjoch nach Sterzing säumten. Der Bischof ließ die Schürftätigkeiten einstellen und versagte auch weiteren Bemühungen in den Jahren 1707 und 1736, die auf eine Initiative der Regierung der Oberösterreichischen Länder in Innsbruck zurückgingen, seine Einwilligung. Ein letzter Versuch in den Jahren 1807–1809 scheiterte an der zu geringen Ergiebigkeit des Erzvorkommens.
Erfolgreicher war der Marmorabbau (Chloritschiefer), von dem 1722 das erste Mal berichtet wird. Damals gingen Lieferungen nach Bayern für den Bau der Klosterkirche in Ettal. 1724 verbot der Brixner Hofrat den Steinmetzen aus Bayern Bearbeitung und Abtransport, weil die Verwendung dieses Steins vermutlich schon für den Neubau des Brixner Domes (1745–1755) geplant gewesen sein dürfte. In Vintl wurde zu diesem Zweck 1727 der Bau einer Marmorsäge genehmigt. Wie sich die Tätigkeit des Abbaus weiter entwickelte, ist nicht überliefert. 1822 berichtet Beda Weber, dass im Gaiskofel der Marmor in schönen Platten herunter breche, die dann beim Bau der Franzensfeste Verwendung fanden. 1963 hat der Unternehmer Dieter Grünig aus Erlenbach/Odenwald in Deutschland den Abbau dieser Steine (Chloritschiefer und Serpentin in Dun, Quarzit am Gaiskofel) wieder aktiviert und zu diesem Zweck in Pfunders ein Werk gegründet.
Bevölkerung
Eine Feuerstättenzählung von 1596 überliefert, dass in Niedervintl 68, in Weitental 58 und in Pfunders 60 Feuerstätten gezählt wurden. Gewisse Rückschlüsse auf die Bevölkerungsanzahl in früheren Zeiten lassen sonst höchstens die dürftigen Hinweise und Schilderungen einzelner Kuraten zu, die die Dörfer seelsorglich betreuten. Demnach hat die Bevölkerungsanzahl in Pfunders in bestimmten Epochen die Tausendermarke überschritten. Die Wohnverhältnisse waren nach heutigen Maßstäben katastrophal, lebten doch bis zu 30 Personen in einem größeren Haus. Im Laufe des 19. Jh. nahm die Einwohnerzahl kontinuierlich ab. Erst nach dem Ersten Weltkrieg kehrte sich dieser Trend wieder um.
Bei der letzten amtlichen Volkszählung 2001 wurden in Vintl 3108 Personen gezählt, davon waren 97,9 % deutsch-, 1,9 % italienisch- und 0,2 % ladinischsprachig (die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe spielt in Südtirol im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle). Dabei betrug die Anzahl der weiblichen Personen 1521, die Anzahl der männlichen Personen 1587.
Brauchtum
Das alte Brauchtum, dem oft Totenverehrung, Geisterglaube, Fruchtbarkeitszauber und Notsituationen zugrunde lagen und das nicht selten eine religiöse Überprägung erfuhr, hat das tägliche Leben der früher ganz dem Leben in der Berglandwirtschaft verhafteten Bevölkerung im Jahresablauf begleitet. Viele der alten Bräuche sind heute abgekommen, weil ihnen mit den modernen Lebensweisen (Mobilität, Fernsehen, Rückgang der Bedeutung der Landwirtschaft) die Existenzgrundlage abhandengekommen ist. Manche haben überlebt, wenn auch in abgesunkener, verfremdeter Form. Ein alter Brauch ist das Krapfenbetteln. Er hat sich in Pfunders erhalten.
Dialekt
Im Gemeindegebiet wird hauptsächlich Pustrerisch gesprochen. Dazu gehört, dass das mittelhochdeutsche uo (z. B. muoter, bruoder also Mutter, Bruder) als ui (Muito, Bruido) ausgesprochen wird. Das mittelhochdeutsche ei (Stein, Bein), das östlich von Bruneck im oberen Pustertal als langes a (Staan, Baan) erscheint, wird im mittleren und unteren Pustertal als oa (Stoan, Boan) ausgesprochen. Das lange o (in Brot, rot, groß, Ohr) wird zu oa bzw. ue (Broăt, roăt, groăß).
In Pfunders hat eine auffällige sprachliche Besonderheit überlebt, wofür die Pfunderer bei den Eingeweihten gern belächelt wurden (Pfundra Stééßa) oder fragendes Unverständnis heraufbeschwörten, wenn sie auswärts ihren Dialekt gebrauchten. In Pfunders nämlich würde Rotkäppchen im berühmten Märchen so fragen: „Muito, wos hosch’en du wella grééßa rééta Éérn?“ (Mutter, was hast du denn für große rote Ohren?), wobei sich das helle e | és, das das oă oder ue in roăt, groăß ersetzt, sich so anhört . Viele Pfunderer passen sich deswegen heute auswärts an die dort übliche Mundart an, sind aber zu Hause bis heute dem altertümlichen Zungenschlag treu geblieben.
Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Gemeinde
Christian Peintner d. J. (1652–1733), Gastwirt, Gerichtsanwalt und Zollaufseher, 1707 in den Adelsstand erhoben: von Trojensbach
Remigius Weißsteiner (1843–1913), Propst des Stiftes Neustift 1883–1913
Arthur von Wallpach zu Schwanenfeld (1866–1946), Dichter und Schriftsteller
Severin Leitner (1945–2015), römisch-katholischer Theologe, Jesuit
Mit der Gemeinde verbundene Persönlichkeiten
Christian Peintner d. Ä. (1603–1686), Gastwirt und Gerichtsanwalt in Niedervintl, hier verstorben
Franz Altmutter (1745–1817), Maler, schuf die Fresken in der Martinskirche von Pfunders
Karl Gruber (1943–2022), römisch-katholischer Theologe und Kunsthistoriker, Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, wuchs in Vintl auf
Philipp Achammer (* 1985), Politiker (SVP)
Politik
Bürgermeister
Bürgermeister seit 1951:
Hubert Achammer: 1951–1956
Viktor Seebacher: 1956–1964
Anton Weissteiner: 1964–1969
Johann Mayr: 1969–1978
Josef Seebacher: 1978–1995
Rudolf Cerbaro: 1995–2010
Walter Huber: seit 2010
Zusammenarbeit mit Nachbargemeinden
Die Gemeinde Vintl ist Mitglied der Bezirksgemeinschaft Pustertal. Die Bezirksgemeinschaften sind übergemeindliche Verwaltungsstrukturen und sind seit der Verabschiedung des Landesgesetzes Nr. 7 vom 20. März 1991 Körperschaften öffentlichen Rechts, die im Sinne einer administrativen Dezentralisierung sowohl eigene als auch delegierte Aufgaben wahrnehmen. Vorläufer der Bezirksgemeinschaften waren die Talschaften, die die gesamten wirtschaftlichen Interessen der Berggebiete fördern sollten. Wichtige Aufgaben der Bezirksgemeinschaften sind die Abfallbeseitigung im weitesten Sinne (Abfallwirtschaft, Abwässer, technische Dienste) und die Führung der Sozialdienste (z. B. finanzielle Sozialhilfe, Beratungsstellen, Wohngemeinschaften etc.).
Gemeindewappen
Blasonierung: Das Gemeindewappen zeigt auf rotem Grund zwei aufrechte, einander zugekehrte weiße Bärentatzen.
Wappenerklärung: Es ist dem Stammwappen der Familie Vintler entlehnt, die vermutlich ursprünglich aus Vintl stammte und 1140 in Bozen erwähnt wird. Diese Familie gelangte später zu großem Reichtum. Niklaus Vintler erwarb 1385 gemeinsam mit seinem Bruder Franz die Burg Runkelstein am Eingang des Sarntales in Bozen. Sie ließen die Anlage umbauen und zwischen 1388 und 1410 mit einem profanen Freskenzyklus ausstatten, der sich mit dem höfischen Leben und mit der Erzählung von Tristan und Isolde befasst. Die Fresken sind im „Weichen Stil“ gemalt, so wird die „Höfische Kunst“ oder die „Internationale Gotik“ um 1400 genannt.
Ortspartnerschaften
Pfunders pflegt seit 1970 eine Ortspartnerschaft mit Siegsdorf im oberbayrischen Landkreis Traunstein. Diese Partnerschaft hat sich ursprünglich aus Schülerbriefwechseln entwickelt, die der Pfunderer Grundschullehrer Albin Oberhofer nach einem Besuch 1962 angeschoben hat.
Historischer Baubestand
Auf dem Gebiet der Gemeinde Vintl bestehen 34 (Stand: 2012) denkmalgeschützte Objekte. Darunter befindet sich neben den Kirchen und Kapellen vor allem bäuerliche Architektur wie etwa Bauernhöfe, Mühlen oder Kornkästen.
Bildung
Vintl ist Sitz eines deutschen Schulsprengels. Dieser umfasst auf dem Gemeindegebiet die vier Grundschulen in Niedervintl, Obervintl, Weitental und Pfunders, sowie die Mittelschule in Niedervintl. Dem Schulsprengel angeschlossen ist auch die Grundschule der Nachbargemeinde Terenten.
Wirtschaft und Infrastruktur
Landwirtschaft
Bis in die 1960er-Jahre war die Landwirtschaft und die Viehzucht in der Gemeinde Vintl die fast alleinige Erwerbsgrundlage der Bevölkerung. Die bergbäuerlichen und auf strikte Selbstversorgung ausgerichteten Lebensweisen waren bis dahin für den Großteil der Menschen durch die Jahrhunderte fast gleich geblieben. Diese in alten Traditionen verhaftete und in einem komplexen Netz von religiösen und weltlichen Sitten und Gebräuchen eingebettete Welt der Bergbauern begann seit den 60er Jahren einen bis dahin nie gekannten Umbruch zu erleben. Die Errungenschaften der Technik, wie die Elektrizität und die neuen Maschinen, waren weniger der Grund für den fundamentalen Mentalitätswandel, der in der bäuerlichen Welt um sich griff. Was – mit den Augen der Bauern gesehen – schwerer wog und die Aufrechterhaltung des Status quo nicht mehr zuließ, waren die Beschäftigungsalternativen für all die Dienstboten, an denen bisher kein Mangel geherrscht hatte, und die scharenweise in die neu entstandenen Industriebetriebe abwanderten oder vom boomenden Dienstleistungssektor, wie dem Tourismus im Dolomitengebiet, abgeworben wurden.
Die Bauern mussten erkennen, dass viele arbeitsintensive Tätigkeiten, die früher im bäuerlichen Jahresablauf eine Selbstverständlichkeit darstellten (und im heutigen Verständnis mitgeholfen hatten, diese einzigartige Kulturlandschaft zu schaffen und zu erhalten), nun nicht mehr durchgeführt werden konnten, weil das Personal nicht mehr da war. Die Folge war ein Umstrukturierungsprozess, bei dem sich die meisten auf dieser Höhenlage auf die Milchwirtschaft und auf die Grünlandbewirtschaftung spezialisierten. Die Milch wird seitdem vom Tankwagen des Milchhofes Brixen eingesammelt, der sie zu Mozzarella, Käse und Joghurtprodukten verarbeitet. Viele bäuerliche Kleinbetriebe konnten letztendlich nur als Zuerwerbsbetriebe überleben. Einen wichtigen Beitrag leistete die öffentliche Hand, die dafür sorgte, dass mittlerweile alle Höfe auf dem Gemeindegebiet und viele Almgebiete durch Zufahrtsstraßen erschlossen sind. Die Bergbauern werden heute immer mehr als Hüter einer alten Kulturlandschaft gesehen, für deren Pflege die öffentliche Hand Beiträge zusichert.
Bei der Landwirtschaftszählung 2000 wurden 275 landwirtschaftliche Betriebe gezählt, 126 davon waren Haupterwerbsbetriebe, 124 Nebenerwerbsbetriebe und zu den Sonstigen wurden 25 gereiht. 124 Betriebe gaben damals an, Rinder zu halten.
Nach Fraktionen aufgeschlüsselt, herrscht in Pfunders eine gewisse Ausgeglichenheit zwischen den verschiedenen Betriebsgrößen vor, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass Pfunders die weitaus meisten Almgebiete besitzt. In Weitental besitzen beinahe zwei Drittel aller Bauern weniger als 5 ha Acker- und Wiesenflächen und können von der Landwirtschaft allein nicht leben. Ähnlich sind in Obervintl die kleinstrukturierten Betriebe vorherrschend, doch stehen ihnen einige stattliche Höfe gegenüber. Niedervintl ist ein Fall für sich. Der Großteil der Betriebe ist dort in der Hand weniger Besitzer und die übrigen Betriebe sind wegen ihres geringen Umfangs Zuerwerbsbetriebe. Von der etwa 4600 ha großen Nutzfläche werden heute nur mehr 2,4 % als Ackerfläche genutzt, alles Übrige wird für die Grünlandbewirtschaftung hergenommen. An Viehbestand wurden im Jahre 2000 2117 Rinder, 31 Pferde, 84 Schweine und 748 Schafe und Ziegen statistisch festgehalten. Im Vergleich dazu ergab eine Zählung um 1930 1344 Rinder, 90 Pferde, 398 Ziegen und 892 Schafe.
Die Kleinbauern nutzen verschiedene Möglichkeiten des Zuerwerbs. Manche finden im Winter Anstellung in den nahe gelegenen Skigebieten von Vals und Meransen, andere betätigen sich als Handlanger bei Baufirmen oder haben sich auf die Herstellung bäuerlicher Gebrauchsgegenstände spezialisiert, die meisten jedoch haben Arbeit in den Industriebetrieben gefunden und bewirtschaften ihr Höfe mit Hilfe der Familienangehörigen nur mehr nebenher.
Die Bewohner des Pfunderertales haben ihre Lebensweise zwar den modernen Anforderungen angepasst, ganz verschwunden sind die Spuren des heute archaisch anmutenden ehemaligen Bauerndaseins jedoch nicht. In Pfunders wurde vieles konserviert. Dem interessierten Besucher werden auf geführten Rundwanderungen über den Pfunderer Höfeweg, der vom Landschaftsplaner Stefan Gasser gestaltet wurde, und der im Herbst 2012 offiziell seiner Bestimmung übergeben wurde, viele Nuancen der bäuerlichen Welt eindrucksvoll vor Augen und Gaumen geführt.
Handwerk und Industrie
In den alten Chroniken werden Handwerker zwar immer wieder benannt, aber wie sie früher ihr Leben gefristet haben und ob sie dauerhaft ihrem Beruf nachgegangen sind, geht aus diesen schriftlichen Unterlagen nicht hervor. Aus Quellen von anderen Gegenden Tirols ist bekannt, dass sich Handwerker in ländlichen Gebieten früher immer sehr schwer getan haben. Sie waren hauptberuflich meist selbst Kleinbauern und verdienten sich als Handwerker in einer bestimmten Sparte ein Zubrot. Es gibt Hinweise darauf, dass in Niedervintl Weber, Bäcker und Schmiede existierten, die sich durch bischöfliches Privileg vor den „Stearern“ zu schützen trachteten. Die „Stearer“ waren demnach illegal oder wild handelnde Handwerker. Von Hausnamen in den einzelnen Dörfern lässt sich ebenfalls auf die zumindest zeitweise Existenz eines entsprechenden Handwerkers, wie Schneider, Binder, Schuster, Müller oder Gerber ableiten. Auf jeden Fall war das Gemeindegebiet für die Handwerker kein goldener Boden. Die Lage änderte sich allmählich erst in den 60er Jahren. Betriebe siedelten sich an, die Leute fanden nun Arbeit außerhalb der Landwirtschaft und konnten sich Anschaffungen leisten, wovon auch die Handwerker zu profitieren begannen. Es war eine Zeit, in der es in ganz Südtirol wirtschaftlich fühlbar voranging. In Vintl wurden im Jahre 2006 89 Handwerks- und Industriebetriebe gezählt, davon etwa 90 % Kleinstbetriebe mit bis zu 9 Beschäftigten, 7,5 % Kleinbetriebe mit 10 bis 49 Beschäftigten und 2,1 % Mittelbetriebe.
Wichtige Arbeitgeber
Eine Unternehmerfamilie, die sich durch ihre Beständigkeit, Innovationsfreudigkeit und durch stete Expansion für Vintl in beschäftigungspolitischer Hinsicht besonders hervorgetan hat, stammt selber aus Niedervintl und hatte schon im 19. Jahrhundert dort wichtige Weichen für die Zukunft gestellt, die Familie Rieper. Alois Anton Rieper hatte 1860 den renommierten Postgasthof in Niedervintl erworben, mit dem noch ein stattlicher landwirtschaftlicher Betrieb und ein Sägewerk verbunden waren. In der Folge nutzten die Riepers 1901 als erste Unternehmer in Südtirol die Wasserkraft für die Gewinnung elektrischer Energie. Durch Zukauf des Brücklechneranwesens stockte die Familie 1907 ihre Wasserrechte weiter auf und gelangte zudem in den Besitz einer kleinen Kunstmühle, der sogenannten „Rieper-Mühle“, die 1914 ausgebaut und schließlich das wirtschaftliche Hauptbetätigungsfeld wurde. 1948 kam die Kraftfuttererzeugung als neue Sparte dazu, die heute Umsatzträger Nummer eins ist. Mit derzeit 115 Mitarbeitern ist die Firma A. Rieper AG im Kunstmühlenbereich Marktführer in Südtirol.
Ein weiterer Betrieb, der für die wirtschaftliche Entwicklung des Pfunderer Tales einen wichtigen Beitrag geleistet hat, ist die Firma Grünig. 1963 errichtete Dieter Grünig aus Erlenbach/Odenwald ein Werk in Pfunders, die Grünig Marmorindustrie, um den Abbau des „Pfunderer Marmors“ zu reaktivieren. Damit gemeint ist der Chloritschiefer und der Serpentin, die schon 1722 abgebaut worden sind. Zudem wurde der Abbau von Kristallquarzit im Gaiskofel in die Wege geleitet. Die Firma hat zwischendurch auch mit anderen Produktlinien experimentiert und zeitweise 80 Personen allein im Werk Pfunders Beschäftigung gegeben. Heute nennt sich die Firma Grünig Natursteine GmbH mit Sitz in Sterzing mit einem Beschäftigtenbestand von etwa 40 Personen.
Beschäftigungsmäßig am meisten zugelegt hat ein Zweigwerk des Fahrzeugtechnik-Unternehmens AL-KO mit Stammsitz in Kötz in Schwaben. Gestartet ist die Vintler Produktionsstätte 1970 mit 27 Beschäftigten, heute sind es etwa 150. Die Produkte sind Achsen für Nutzfahrzeuge, Rahmenprofile, Stabilisatorkupplungen, Fahrgestelle, Auflaufvorrichtungen und andere spezielle Fahrzeugteile für PKW-Anhänger.
„Lodencity“
Im Jahr 1960 hatte sich ein textilverarbeitender Betrieb aus Aschaffenburg unter dem Namen Panva in Vintl angesiedelt, der ab 1970 unter dem Namen Pantex bis zu 100 Personen, bevorzugt Frauen, beschäftigte. Dieser Betrieb geriet in der Mitte der 90er Jahre in den Strudel der allgemeinen Krise, die die Textilbranche in Europa in die Knie zwang.
Das Ausscheiden der Pantex aus dem Firmengefüge der Gemeinde war ein herber Schlag für die Beschäftigungslage. Weil der Standort verkehrsmäßig sehr günstig liegt, gingen ein paar Jahre später ein lokaler Unternehmer, Manfred Profanter, und der Bozner Unternehmer Heiner Oberrauch das Wagnis ein, eine Umstrukturierung dieses Teils des Gewerbegebietes von Vintl in die Wege zu leiten. Dabei entstand ein gastronomisches Zentrum (Hotel/Restaurant Lodenwirt) und eine Lodenfabrik mit angeschlossener Lodenerlebniswelt, einer Art Museum, in dem die Produktion des Lodens den Besuchern „multisensoriell“ nahegebracht wird. Dieser Gewerbepark hat sich sehr rasch zu einem überraschend dynamischen Wirtschaftszentrum entwickelt. Für Außenstehende nicht ganz verständlich, dass Vintl trotzdem teilweise darunter leidet. Es wird von einigen Vintlern beklagt, dass die „Loden–Erlebniswelt“, außerhalb des Ortskerns gelegen, der angestammten Gastronomie und somit der Infrastruktur eher Schaden als Nutzen bringe.
Gastgewerbe
Das Wirtshaus, das die urkundlich früheste Erwähnung aufweist, war der „Wirt an der Bruggen“ in Niedervintl, der 1500 in Zusammenhang mit einer Bürgschaft genannt wurde, später Gasthof zur Post hieß und 1928 aufgelassen wurde. Der Gasthof Hochrainer folgt 1601 und 1640 werden in einer Schankpfennigrechnung auch die Weinschenken Gisser und Obwieser in Weitental und jene des Georg Weisstainer, Valtin Untergasser und Sebastian Obergasser in Pfunders genannt. In den Jahren 1700 und 1719 zahlten in Niedervintl der „Wirt an der Bruggen“, der Hochrainer und der Rosenwirt, in Weitental der Gisser und in Pfunders der Untergasser den Schankpfennig, eine Getränkesteuer. In bestimmten Notlagen gab der Brixner Bischof auch anderen Personen die Berechtigung, zeitweise eine Weinschenke zu führen. Diese Berechtigung wurde dann widerrufen, wenn die Notlage nicht mehr gegeben war. Die Wirte in Niedervintl hatten die Pflicht, Vorspanndienste zu leisten und für die Verpflegung und Unterkunft durchziehender Militäreinheiten zu sorgen. Die damit verbundenen Kosten wurden aus dem Topf der eingehobenen Getränkesteuern beglichen, soweit sie dafür ausreichten. Die Differenzen trug die Brixner Hofkammer.
Erste touristische Bewegungen kamen nach der Eröffnung der Pustertalbahn 1871 in Gang. Schon vor der Jahrhundertwende muss ein zaghafter Alpintourismus in die Zillertaler Alpen eingesetzt haben, weil schon 1895 vom Bau einer Schutzhütte auf dem Eisbruggjoch die Rede ging. 1908 wurde die Edelrauthütte auf dem Eisbruggjoch eröffnet. Es ist aktenkundig, dass Gäste zur Finanzierung der Blasmusik in Niedervintl beigetragen haben. Diese Anfänge des Tourismus gingen mit dem Ersten Weltkrieg unter. Von Tourismus kann im Gemeindegebiet seitdem erst wieder ab den 1950er Jahren gesprochen werden. 1959 wurde der Verkehrsverein gegründet. 1978 traten alle Ortschaften dem Verkehrsverein Vintl / Pfunderer Tal bei. Die Nächtigungszahlen stiegen langsam an: 1960: 7.583, 1970: 7.066, 1976: 19.682, sie machten 1978 einen Sprung auf 42.000 und erreichten 1980 51.962.
Die Entwicklung der Nächtigungszahlen in der Tabelle lässt die Vermutung zu, dass das Tourismuspotential noch nicht ausgeschöpft ist. Der Wintertourismus wird allerdings durch die für Wintersportaktivitäten völlig ungeeignete geomorphologische Ausgestaltung des gesamten Pfunderer Tales limitiert. Die Hänge des Tales sind zu steil und zu lawinengefährlich, die für Wintersportaktivitäten geeigneten Hänge im Talgrund zu kurz bemessen. Eine öfters anvisierte Anbindung an das Skigebiet Gitschberg-Meransen von Weitental aus ist nie zustande gekommen.
Verkehr
Vintl liegt verkehrsmäßig günstig. Schon 1871 war die Pustertalbahn eröffnet worden, die die Brennerbahnlinie ab Franzensfeste mit der Südbahnstrecke nach Wien verbindet. Der nahe am Niedervintler Ortskern gelegene Bahnhof Vintl bietet eine Zugangsstelle.
An Ober- und Niedervintl führt die Staatsstraße 49 – welche Teil der Europastraße 66 ist – vorbei. Bis zum 28. Oktober 1935 durchquerte die Straße die Ortschaft. Dann wurde die neue Staatsstraße, die das Ortszentrum umfährt, ihrer Bestimmung übergeben. Am 17. Juni 2011 wurde eine großräumigere Umfahrungsstraße eröffnet. Diese umfährt Niedervintl etwa 50 m weiter südlich und wurde 2015 durch eine Umfahrung für Obervintl ergänzt.
Von Vintl zweigt die Straße nach Terenten ab, die durch brüchige Granithänge auf ein ausgedehntes Mittelgebirgsplateau führt. Die Orte im Pfunderer Tal sind verkehrsmäßig ebenfalls ohne Probleme zu erreichen. Alle Höfe auf dem Gemeindegebiet verfügen über eine Straßenzufahrt. Von Weitental zweigt eine Straße auf den Kegelberg ab, die zahlreiche Höfe dort mit dem Tal verbindet und über den Stoller Sattel nach Meransen weiterführt.
Das Gemeindegebiet wird zudem von der Radroute 3 „Pustertal“ durchquert.
Kultur und Sport
Das kulturelle Leben von Vintl wird geprägt durch die ortsansässigen Vereine. Neben drei Musikkapellen (Trachtenkapellen) in Niedervintl, Pfunders und Weitental existieren vier Kirchenchöre in Niedervintl, Obervintl und Weitental und Pfunders, ein junger Frauenchor in Obervintl (GeVauO), ein Frauenchor und ein Jugendchor in Weitental, eine Frauensinggruppe in Pfunders, drei Jugendkapellen ("Young Music Band Vintl","Weitntola Spotzn" und "Jugendkapelle Pfunders") und zwei Theatergruppen (Heimatbühne Pfunders und Theatergruppe Weitental). Drei Schützenkompanien (Schützenkompanie „Bartlmä v. Guggenberg“ Vintl, Schützenkompanie "G. Lantschner" Weitental sowie Schützenkompanie Pfunders) tragen zur Brauchtumspflege bei.
Breitensport wird vom ASV (Schwerpunkt Fußball sowie Zehnkampfgruppe) und einem Kampfsportclub (Yoseikan Budo Vintl) angeboten. Es existiert zudem eine Ortsgruppe des Alpenvereins Südtirol (AVS).
Katastrophenchronik
Brände
Die Ortschaften waren bis weit in die heutige Zeit hinein fast alles ausgesprochene Streusiedlungen. So sind zumeist nur einzelne Höfe oder Häuser von Bränden betroffen gewesen. Am ehesten hat sich in Niedervintl schon früher ein dichter besiedeltes Ortszentrum herausgebildet, das anfälliger für häuserübergreifende Brände war. Ein solcher hat sich am 18. Mai 1917 ereignet. Damals zerstörte ein von zündelnden Kindern verursachter Großbrand fünf Häuser. Dass sich der Brand nicht noch mehr ausbreitete, ist auch den russischen Kriegsgefangenen zuzuschreiben, die bei der Brandbekämpfung mithalfen.
Eine der größten Brandkatastrophen in Pfunders war die Einäscherung des Ober- und Unterkircherhofes in der Nacht vom 26. zum 27. August 1930.
Überschwemmungen
Schwere Katastrophen bleiben oft sehr lange in der kollektiven Erinnerung haften. Für Obervintl muss der Jahrhundertwolkenbruch über Terenten vom 11. Juli 1837 ein solches Ereignis gewesen sein. 6 Tote waren damals zu beklagen und der Mühlbach in Obervintl führte so viel Geröll mit, dass die Rienz aufgestaut wurde und bis St. Sigmund alle tiefer gelegenen Grundstücke unter Wasser gesetzt wurden.
Als besonders schwere Überschwemmung gilt auch jene vom September 1882, als der Bahndamm zwischen Ehrenburg und Niedervintl auf einer Länge von 3 km weggerissen wurde. Im Jahre 1917 ging der „Samerbruch“ in Pfunders nieder und der Schneidergraben vermurte und zerstörte 15 Gebäude.
Ungewöhnlich starke Regenfälle, die im Gebiet des Eisbruggsees zusätzlich eine plötzliche Schneeschmelze verursachten, ließen den Pfunderer Bach am 29. Juni 1959 zu einem reißenden Strom anschwellen, der talauswärts schwere Zerstörungen anrichtete.
Lawinen
Die Seitenhänge des Pfunderer Tales sind sehr steil, so dass es viele potentielle Lawinenstriche gibt, die nach außergewöhnlich ergiebigen Schneefällen bestimmte Ortsteile von Pfunders und Weitental bedrohen können.
Die Pfarrchronik von Pfunders berichtet von 27 Lawinentoten im Jahre 1689.
Ein denkwürdiger Katastrophenwinter war jener des Jahres 1888, als neben schweren Sachschäden in Pfunders acht und in Weitental ein Menschenleben zu beklagen waren.
Gewaltige Schneemengen lösten im Winter 1951 zahlreiche Lawinenabgänge aus. In Pfunders kamen sechs Menschen ums Leben, wobei die Familie des Dorferbauern zur Hälfte ausgelöscht wurde. In Weitental tötete die Lawine des berüchtigtsten Lawinenstrichs, des Kammerschiener Grabens, einen Mann.
Literatur
Paul Gruber (Hrsg.): Vintl: Geschichte und Gegenwart einer Gemeinde. Vintl 1981 (online).
Karl Gruber: Kirchenkunst in Niedervintl, Obervintl, Weitental und Pfunders. Tappeiner Verlag, Lana 1994, ISBN 88-7073-171-5.
Einzelnachweise
Als Hauptquelle für diesen Artikel diente das Buch: Paul Gruber (Hrsg.): Vintl: Geschichte und Gegenwart einer Gemeinde.
Weblinks
Website der Gemeinde Vintl
Gemeinde in Südtirol
Ersterwähnung 993 |
572659 | https://de.wikipedia.org/wiki/Marcel%20Junod | Marcel Junod | Marcel Junod (* 14. Mai 1904 in Neuchâtel; † 16. Juni 1961 in Genf) war ein Schweizer Arzt. Nach seinem Studium der Medizin und einer kurzen Tätigkeit als Chirurg wurde er Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Er war in dieser Funktion im Einsatz in Äthiopien während des Italienisch-Äthiopischen Krieges (1935/1936), in Spanien während des Spanischen Bürgerkrieges (1936–1939) sowie in Europa und Japan während des Zweiten Weltkrieges (1939–1945). Über seine Erlebnisse bei diesen Einsätzen schrieb er ein Buch mit dem Titel «Kämpfer beidseits der Front». Nach dem Krieg war er zunächst für das UN-Kinderhilfswerk UNICEF als Repräsentant in China tätig. Er kehrte 1950 nach Europa zurück und trug entscheidend zur Gründung einer Abteilung für Anästhesiologie am Kantonalen Krankenhaus in Genf bei. Einige Jahre später wurde er der erste Professor für Anästhesiologie an der Universität Genf. Im Jahr 1952 kooptierte das IKRK ihn als Mitglied, und von 1959 bis zu seinem Tod war er Vizepräsident des Komitees.
Leben
Kindheit und Ausbildung
Geboren wurde Marcel Junod als fünftes von sieben Kindern von Richard Samuel Junod (1868–1919) und Jeanne Marguerite Bonnet (1866–1952). Sein Vater arbeitete als Pastor für die Unabhängige Protestantische Kirche von Neuchâtel, zunächst in Bergarbeiterdörfern in Belgien und später in ärmeren Gemeinden in der Nähe von Neuchâtel und La Chaux-de-Fonds in der Schweiz. Hier verbrachte Marcel Junod seine Kindheit. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte seine Mutter mit den Kindern in ihre Heimatstadt Genf zurück. Dies ermöglichte Marcel Junod und seinen zwei jüngeren Schwestern, das Genfer Bürgerrecht anzunehmen. Seine Mutter eröffnete mit Unterstützung ihrer Schwester eine Pension, um für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt zu verdienen.
Marcel Junod besuchte bis zu seinem Abschluss im Jahr 1923 das Collège de Genève in Genf, dieselbe Schule, die bereits der Rotkreuzgründer Henry Dunant Mitte des 19. Jahrhunderts absolviert hatte. Bereits während seiner Schulzeit war er als einer der Direktoren der damals in Genf bestehenden Hilfsbewegung für russische Kinder tätig. Aufgrund der großzügigen finanziellen Unterstützung seines Onkels Henri-Alexandre Junod konnte er, seinen Wünschen und Neigungen entsprechend, in Genf und Strasbourg Medizin studieren und erwarb 1929 seinen Abschluss als Doktor der Medizin. Er entschied sich für eine Spezialisierung in Chirurgie und arbeitete diesem Ziel entsprechend als Assistenzarzt am Kantonalen Krankenhaus in Genf und von 1931 bis 1935 an einem Krankenhaus in Mülhausen (Frankreich), wo er seine Ausbildung als Facharzt abschloss und als Leiter einer chirurgischen Klinik tätig war.
Einsätze als Delegierter für das IKRK
Abessinienkrieg 1935/1936
Unmittelbar nach der Invasion Äthiopiens durch Italien erhielt Marcel Junod am 15. Oktober 1935 einen Anruf eines Freundes aus Genf. Dieser schlug ihm einen Einsatz als Delegierter des IKRK in Äthiopien vor. Ermutigt durch seinen Chefarzt im Krankenhaus in Mülhausen nahm er dieses Angebot an und reiste kurze Zeit später zusammen mit Sidney Brown, einem zweiten IKRK-Delegierten, nach Addis Abeba. Er blieb bis zum Ende des Italienisch-Äthiopischen Krieges im Mai 1936 als IKRK-Delegierter in Äthiopien im Einsatz.
Sidney Brown kümmerte sich aufgrund seiner Erfahrungen in juristischen Fragen der Rotkreuz-Tätigkeit vor allem um den Aufbau einer arbeits- und einsatzfähigen nationalen Rotkreuzgesellschaft. Die Tätigkeit von Marcel Junod konzentrierte sich auf die Arbeit vor Ort, vor allem die Unterstützung und Koordinierung der im Land tätigen ausländischen Rotkreuzambulanzen. Diese wurden von den nationalen Gesellschaften Ägyptens, Finnlands, Großbritanniens, der Niederlande, Norwegens und Schwedens bereitgestellt. Während das erst unmittelbar vor Beginn des Krieges vom IKRK anerkannte Äthiopische Rote Kreuz das Hilfsangebot des IKRK annahm, lehnte das Italienische Rote Kreuz jede Unterstützung durch das IKRK ab.
Zu den schwerwiegendsten Erlebnissen Marcel Junods während dieses Krieges gehörten mehrere Angriffe auf Ambulanzen des Roten Kreuzes durch die italienischen Streitkräfte und durch äthiopische Banden. Allein bei der Bombardierung der Schwedischen Ambulanz am 30. Dezember 1935 wurden 28 Rotkreuzmitarbeiter und Patienten getötet und 50 Menschen verwundet. Darüber hinaus wurde er Zeuge einer Reihe von weiteren Ereignissen während dieses Krieges, der in seinem gesamten Verlauf durch extreme Unterschiede in der technischen und personellen Ausstattung der beteiligten Streitkräfte und ihrer Sanitätsdienste gekennzeichnet war. Hierzu zählen unter anderem die Bombardierung der Stadt Dessie durch die italienische Luftwaffe, der Einsatz des Kampfstoffes Yperit (Senfgas) gegen die äthiopische Bevölkerung in den Städten Dagabur und Sassabaneh, und die Plünderung von Addis Abeda in den letzten Tagen des Krieges.
Spanischer Bürgerkrieg 1936–1939
Im Juli 1936 suchte das IKRK einen Delegierten für eine Erkundungsmission nach Spanien, wo unmittelbar zuvor der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Die Wahl fiel erneut auf Marcel Junod. Aus einer geplanten Dauer von ca. drei Wochen wurde ein Einsatz von über drei Jahren. Das IKRK erweiterte im Laufe des Krieges seine Mission in Spanien auf zeitweise bis zu neun Delegationen in den verschiedenen Regionen des Landes. Marcel Junod wurde zum leitenden Delegierten der gesamten Mission.
Erschwert wurde die Tätigkeit des Roten Kreuzes in diesem Konflikt insbesondere durch die Tatsache, dass die Genfer Konventionen als rechtliche Grundlage der IKRK-Aktivitäten keine Relevanz für Bürgerkriegssituationen besaßen. Als Lösung für dieses Problem machte Marcel Junod den Vorschlag, eine Kommission aus Repräsentanten des IKRK sowie der Rotkreuz-Gesellschaften der beteiligten Konfliktparteien zu bilden. Diese Kommission sollte sich vor allem um die Freilassung von Frauen und Kindern, die Einrichtung von neutralen Internationalen Zonen und die Erstellung vollständiger Gefangenenlisten kümmern. In den Wirren des Krieges wurde dieser Vorschlag jedoch nie umgesetzt.
Trotz der sich aus der unklaren Rechtslage ergebenden Schwierigkeiten gelang es Marcel Junod, die beteiligten Konfliktparteien von der Unterzeichnung und weitestgehenden Einhaltung einer Reihe von Abkommen zu überzeugen und vor allem durch die Aushandlung von Gefangenenaustauschen eine große Zahl von Menschenleben zu retten. Vor dem Fall Barcelonas erreichte er die Freilassung von 5.000 Gefangenen, deren Leben durch die Kämpfe um die Stadt akut bedroht waren. Des Weiteren organisierte er die Nachforschung und den Informationsaustausch über Vermisste und Gefangene durch Rot-Kreuz-Karten, von denen bis Ende des Spanischen Bürgerkrieges rund fünf Millionen Stück ausgetauscht wurden.
Zweiter Weltkrieg 1939–1945
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Marcel Junod durch einen Brief des IKRK nach Genf gerufen und für einen erneuten Einsatz als Delegierter von seiner Tätigkeit als Sanitätsoffizier in der Schweizer Armee entbunden. Er begann seine Mission am 16. September 1939 in Berlin und blieb für lange Zeit der einzige IKRK-Delegierte in Deutschland sowie allen im weiteren Kriegsverlauf besetzten Gebieten. Bereits elf Tage später, am 27. September, besuchte er erstmals ein Lager mit polnischen Kriegsgefangenen. Im Juni 1940 gelang es ihm durch einen Besuch in Frankreich, die angedrohte Erschiessung von französischen Kriegsgefangenen zu verhindern, die von der deutschen Seite als Vergeltungsmaßnahme für die irrtümlich angenommene Hinrichtung von gefangenen deutschen Fallschirmjägern geplant war. Darüber hinaus organisierte er erneut den Austausch und die Weiterleitung von Informationen über Kriegsgefangene, diesmal mit Unterstützung durch die IKRK-Zentralstelle für Kriegsgefangene in Genf.
Schwerpunkt seiner Tätigkeit in diesem Krieg wurde die Überwachung der Einhaltung der Genfer Konventionen in den Kriegsgefangenenlagern sowie die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfeleistungen. Der Einsatz für die Zivilbevölkerung war nicht Teil der durch die Genfer Konventionen definierten Aufgaben und Kompetenzen des IKRK. Diesem Umstand wurde durch den Abschluss der Vierten Genfer Konvention (Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten) im Jahr 1949 Rechnung getragen. Für die logistische Unterstützung der Aktivitäten des IKRK zugunsten der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges setzte Marcel Junod den erstmaligen Einsatz von Rotkreuz-Schiffen durch, die mit spezieller, weithin sichtbarer Markierung den neutralen Transport von Hilfsgütern abwickelten. Bereitgestellt wurden diese Schiffe unter anderem von Belgien («Caritas I», «Caritas II» und «Henri Dunant»), der Türkei («Kurtulus», «Dumlupinar») und Schweden («Hallaren», «Stureborg»). Trotz ihrer deutlich erkennbaren Markierung als Rotkreuz-Transport wurde die «Stureborg», unterwegs mit internationaler Besatzung, am 9. Juni 1942 durch einen Bombentreffer eines italienischen Flugzeugs versenkt.
Im Dezember 1944 heiratete Marcel Junod Eugénie Georgette Perret (1915–1970), eine Angestellte der IKRK-Zentralstelle für Kriegsgefangene. Nach einer Pause als IKRK-Delegierter von 1943 bis 1944, in der er unter anderem im IKRK-Hauptquartier in Genf tätig war, wurde er im Juni 1945 vom IKRK nach Japan geschickt, während seine Frau ein Kind erwartete. Seine ursprüngliche Mission war der Besuch der in Japan internierten Kriegsgefangenen und die Überwachung der Einhaltung der Genfer Konventionen in den japanischen Lagern. Am 9. August kam er in Tokio an.
Nach dem Abwurf US-amerikanischer Atombomben am 6. August 1945 auf Hiroshima und am 9. August 1945 auf Nagasaki sowie der darauf folgenden Kapitulation Japans am 15. August 1945 organisierte Marcel Junod die Evakuierung der Kriegsgefangenenlager und die Rettung der oft schwer kranken Gefangenen durch alliierte Streitkräfte. Am 30. August erhielt er durch einige Fotos sowie einen telegrafischen Bericht erstmals eine Schilderung der Zustände in Hiroshima nach dem Atombombenabwurf. Er stellte daraufhin eine Hilfsmission für Hiroshima zusammen und war am 8. September der erste ausländische Arzt, der die Stadt erreichte, zusammen mit einer amerikanischen Untersuchungskommission, zwei japanischen Ärzten und 15 Tonnen medizinischen Hilfsgütern. Er verbrachte dort fünf Tage, in denen er alle Krankenhäuser besuchte, die Verteilung der Hilfsgüter überwachte und selbst ärztliche Hilfe leistete. Die Fotos aus Hiroshima, die er dem IKRK zur Verfügung stellte, gehörten zu den ersten Bildern der Stadt nach dem Atombombenabwurf, die Europa erreichten.
Leben nach dem Zweiten Weltkrieg
Seine Mission in Japan sowie anderen Ländern in Asien dauerte noch bis April 1946, bevor er in die Schweiz zurückkehren konnte. Die Geburt seines Sohnes Benoit im Oktober 1945 erlebte er deshalb nicht selbst mit. Nach seiner Rückkehr schrieb Marcel Junod sein Buch «Le Troisième Combattant» (englischer Titel «Warrior Without Weapons»), das 1947 deutschsprachig unter dem Titel «Kämpfer beidseits der Front» erschien, und in dem er in sehr persönlicher Weise seine Erlebnisse während seiner Missionen für das IKRK beschreibt (weitere Veröffentlichungen in Spanisch, Dänisch, Schwedisch, Holländisch, Japanisch und Serbokroatisch). Dieses Buch wird deshalb manchmal auch als «Bettlektüre aller jungen IKRK-Delegierten» bezeichnet.
Von Januar 1948 bis April 1949 war er, auf Einladung des damaligen UNICEF-Direktors Maurice Pate, als Repräsentant des Kinderhilfswerkes der Vereinten Nationen in China aktiv, musste diese Tätigkeit jedoch wegen einer Erkrankung abbrechen. Aufgrund dieser Erkrankung wurde es ihm unmöglich, für längere Zeit zu stehen. In der Folge musste er eine Tätigkeit für die Weltgesundheitsorganisation WHO ebenso ablehnen wie seinen Beruf als Chirurg aufgeben. Er suchte und fand mit der Anästhesiologie eine neue Spezialisierungsrichtung, die ihm eine Tätigkeit im Sitzen ermöglichte. Seine Ausbildung als Anästhesist führte ihn unter anderem nach Paris und London. Im Jahr 1951 kehrte er nach Genf zurück, wo er zunächst eine eigene Praxis eröffnete. Er arbeitete damit, nach über 15 Jahren, erstmals seit seiner Zeit am Krankenhaus in Mülhausen wieder in seinem ursprünglichen Beruf als Arzt. 1953 gelang es ihm, die Leitung des Kantonalen Krankenhauses von Genf von der Einrichtung einer Abteilung für Anästhesiologie zu überzeugen, deren Leiter er später wurde. Darüber hinaus konnte er sich nun auch Forschungsarbeiten widmen, deren Ergebnisse er in mehreren Kongressbeiträgen und Veröffentlichungen präsentierte.
1946 sollte ihm für seinen Einsatz für alliierte Soldaten in Japan die Medal of Liberty der Vereinigten Staaten verliehen werden. Dies war jedoch nicht möglich aufgrund einer Bestimmung, die Schweizer Staatsbürgern während ihrer Verpflichtung für die Schweizer Armee die Annahme ausländischer Auszeichnungen untersagte.
Vier Jahre später erhielt er für seine humanitäre Tätigkeit die «Prinz Karl von Schweden» Goldmedaille für Frieden. Am 23. Oktober 1952 wurde er als Mitglied in das IKRK berufen und 1959 zu dessen Vizepräsidenten gewählt. Zu Beginn des Jahres 1953 verlegte er seinen Wohnsitz nach Lullier (Gemeinde Jussy), einem kleinen Dorf in der Nähe von Genf, um Ruhe und Ausgleich für seine doppelte Belastung durch seinen Beruf als Arzt und seine Tätigkeit für das IKRK zu finden. Seinen Urlaub verbrachte er in dieser Zeit oft in Spanien bei Freunden in Barcelona, die er während seines Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg kennengelernt hatte. Seine Funktionen als Mitglied und Vizepräsident des IKRK führten ihn unter anderem 1957 nach Budapest, Wien, Kairo sowie zur Internationalen Rot-Kreuz-Konferenz nach Neu-Delhi. Im gleichen Jahr wurde das IKRK von der Rotkreuz-Gesellschaft Nordkoreas um Vermittlung bei Verhandlungen mit dem Südkoreanischen Roten Kreuz zur Zusammenführung von Familien gebeten. Marcel Junod reiste aus diesem Grund im September 1959 zu Gesprächen nach Seoul. Weitere Reisen im Auftrag des Komitees führten ihn 1960 unter anderem zu mehreren Besuchen nationaler Rot-Kreuz-Gesellschaften in die Sowjetunion, nach Taiwan, Thailand, Hong Kong, Japan, Kanada und die USA. Im Dezember 1960 wurde er zum Professor für Anästhesiologie an die Medizinische Fakultät der Universität Genf berufen.
Am 16. Juni 1961 starb Marcel Junod an den Folgen eines massiven Herzinfarkts, den er bei seiner Tätigkeit als Anästhesist während einer Operation erlitt. Das IKRK bekam über 3.000 Beileidsbekundungen aus aller Welt. Am 8. September 1979 erhielt Marcel Junod – als einzige Person – eine Gedenkstätte im Friedenspark Hiroshima. Seit 1990 findet dort jedes Jahr an seinem Todestag eine Gedenkveranstaltung zu seinen Ehren statt. Postum im selben Jahr erhielt er den japanischen Orden des Heiligen Schatzes. Am 13. September 2005, 60 Jahre nach dem Ende seines Einsatzes in Hiroshima, wurde in Genf ein ähnliches Denkmal durch die Stadt- und Kantonsverwaltungen eingeweiht.
Schriften (Auswahl)
Kämpfer beidseits der Front. Europa Verlag, Zürich und Wien 1947 (deutsche Erstausgabe), IKRK, Genf 1982
Le Troisième Combattant. Ringier & Cie, Zofingen 1947 (französische Erstausgabe), IKRK, Genf 1982
Warrior without Weapons. Jonathan Cape, London 1951 (englische Erstausgabe), IKRK, Genf 1982
The Hiroshima Disaster. IKRK, Genf 1982
Literatur
Charles Wassermann: Helden ohne Waffen. Das Rote Kreuz in zwölf Kriegen. Mosaik-Verlag, Hamburg 1965
Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.): Krieger ohne Waffen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Eichborn, Frankfurt 2001, ISBN 3-8218-4500-7 (enthält Auszüge aus Marcel Junod: Kämpfer beidseits der Front)
André Durand: History of the International Committee of the Red Cross. Volume 2: From Sarajevo to Hiroshima. Henry Dunant Institute, Genf 1984, ISBN 2-88-044009-2.
Caroline Moorehead: Dunant's dream – War, Switzerland and the history of the Red Cross. HarperCollins, London 1998, ISBN 0-00-255141-1 (gebundene Ausgabe); HarperCollins, London 1999, ISBN 0-00-638883-3 (Taschenbuch-Ausgabe)
David P. Forsythe: The Humanitarians. The International Committee of the Red Cross. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-61281-0.
Rainer Baudendistel: Force versus law – The International Committee of the Red Cross and chemical warfare in the Italo-Ethiopian war 1935–1936. In: International Review of the Red Cross. 322/1998. ICRC, S. 81–104,
François Bugnion: Remembering Hiroshima. In: International Review of the Red Cross. 306/1995. ICRC, S. 307–313,
Maggie Black: The children and the nations: The story of Unicef. Unicef, New York 1986, ISBN 9-21-100302-4.
The Third Combatant. Marcel Junod. In: Meir Wagner, Moshe Meisels, Andreas C. Fischer (Hrsg.), Graham Buik (Hrsg.): The Righteous of Switzerland: Heroes of the Holocaust. Ktav Publishing House, Jersey City, NJ 2000, ISBN 0-88125-698-6, S. 114–118
Weblinks
Genealogy of the Junod Families of Neuchâtel (Switzerland) – Dr Marcel Junod (1904–1961) (englisch)
Marcel Junod (1904–1961): centenary of a «warrior without weapons» (englisch)
Marcel Junod (1904–1961): the Red Cross doctor who personified «the spirit of the thing» (Bildersammlung des IKRK) (englisch)
Telegramm von Fritz Bilfinger an Marcel Junod vom 30. August 1945 über die Zustände in Hiroshima (PDF-Datei) (englisch; 68 kB)
ICRC-Nachdruck der englischen, französischen und spanischen Ausgabe von «Warrior without Weapons» (englisch)
Einzelnachweise
Mediziner (20. Jahrhundert)
Anästhesist
Hochschullehrer (Universität Genf)
Person (Internationales Komitee vom Roten Kreuz)
Person (humanitäre Hilfe)
Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki
Träger des Ordens des Heiligen Schatzes
Schweizer
Geboren 1904
Gestorben 1961
Mann |
600569 | https://de.wikipedia.org/wiki/Doppelkopf | Doppelkopf | Doppelkopf ist ein Kartenspiel für vier Personen. Daneben gibt es Variationen für drei bis sieben Spieler. Über die Geschichte des Spiels ist nicht viel bekannt. Wahrscheinlich ist Doppelkopf aus dem Schafkopfspiel entstanden, das schon seit 1895 ein Regelwerk besitzt. Das Doppelkopfblatt besteht aus zwei kurzen Schafkopfblättern. Das Spiel besitzt einige Gemeinsamkeiten mit dem Skatspiel, das vermutlich ebenfalls aus dem Schafkopfspiel entstanden ist. Im Turnierdoppelkopf sind auch Einflüsse aus Bridge eingeflossen.
Doppelkopf ist vor allem in vielen Regionen des nördlichen Deutschlands sehr populär, wobei die Spielregeln regional variieren. Es gibt viele Variationen und Sonderregeln, sodass schon die Einigung auf die verwendeten Regeln vor jedem Spiel schwierig werden kann, wenn sich die beteiligten Spieler noch nicht kennen. Der Deutsche Doppelkopf-Verband (DDV) bemüht sich daher seit seiner Gründung am 27. März 1982 im Rahmen der 1. Deutschen Meisterschaft in Braunschweig um eine Vereinheitlichung der Regeln. Sofern nicht anders dargestellt, orientieren sich die Notation und die in diesem Artikel dargestellten Regeln an den Turnierspielregeln des DDV. Im privaten Umfeld werden jedoch meist abweichende Regelsätze verwendet.
Doppelkopfblatt
Das Doppelkopfblatt besteht aus 24 doppelt vorhandenen Spielkarten, insgesamt also 48 Karten. Diese teilen sich in vier Farben mit je sechs doppelt vorhandenen Karten auf, die unabhängig von der Farbe einen eigenen Zählwert (auch Augen genannt) besitzen.
Die Turnierspielregeln des DDV sprechen von den Farben Kreuz, Pik, Herz und Karo mit jeweils zweimal den Karten Ass (11 Augen), Zehn (10 Augen), König (4 Augen), Dame (3 Augen), Bube (2 Augen) und Neun (0 Augen) und orientieren sich damit an dem in Deutschland heutzutage stärker verbreiteten Französischen Blatt.
Viele Doppelkopfspieler bevorzugen jedoch das Deutsche Blatt, mit den Farben Eichel, Grün (oft auch Laub, Blatt, Gras oder Schippe genannt), Rot (oft auch Herz genannt) und Schellen (oft auch Bolle genannt) und den Karten Ass (oft auch Daus genannt), Zehn, König, Ober, Unter und Neun. Auf das Spiel hat die Wahl des Blattes keinen Einfluss, da die Farben und Karten in den genannten Reihenfolgen einander entsprechen.
Da alle Karten doppelt vorkommen, sind in jeder Farbe 60 Augen vorhanden (2×(11+10+4+3+2+0)), insgesamt also 240 Augen (4×60) im gesamten Doppelkopfblatt.
Steht kein spezielles Doppelkopf-Blatt zur Verfügung, können zwei Skat-Blätter kombiniert werden, aus denen die Siebener und Achter aussortiert werden.
Grober Spielablauf
Eine Doppelkopfrunde besteht aus mehreren Spielen. Beim Doppelkopf nach den Turnierspielregeln ist die Zahl der Spiele auf 24 festgelegt. Beim Freizeitspiel richtet man sich meist nach den Vorlieben der einzelnen Spieler. Verlangt ist aber in der Regel eine durch vier teilbare Zahl an Spielen, damit jeder Spieler gleich oft Geber und Ausspieler ist.
Spielvorbereitung
Ein Spiel beginnt mit dem Mischen der Karten durch den Geber. Anschließend lässt dieser vom Spieler rechts neben sich einmal abheben und legt den liegen gebliebenen Teil der Karten auf den abgehobenen Teil. Danach teilt der Geber im Uhrzeigersinn, beginnend beim Spieler links neben sich, jedem Spieler viermal jeweils drei Karten aus. Insgesamt erhält jeder der vier Spieler also zwölf Karten, d. h. alle 48 Karten werden ausgeteilt. Beim nächsten Spiel wechselt die Rolle des Gebers im Uhrzeigersinn (bei Turnieren nach den Turnierspielregeln gibt es Ausnahmen, zum Beispiel, wenn ein Spieler ein Pflichtsolo spielt, damit dem nächsten an sich vorne sitzenden Spieler nicht durch das Solo sein Ausspielrecht bzw. seine Ausspielpflicht genommen wird).
Wie das Mischen, Abheben und Geben der Karten zu erfolgen hat, ist in den Turnierspielregeln genau beschrieben und soll Schummeleien verhindern (siehe unten). So müssen beim Abheben mindestens drei Karten abgehoben werden und liegen bleiben. Insbesondere ist in den Turnierspielregeln auch geregelt, wie zu verfahren ist, wenn sich der Geber falsch gibt (vergibt) oder beim Geben unabsichtlich Karten aufgedeckt werden. Im Freizeitspiel werden diese Regeln häufig nicht so genau beachtet, da so eine entspanntere und unverkrampftere Spielatmosphäre herrscht und Fehler bei der Spielvorbereitung selten großen Einfluss auf das eigentliche Spiel haben.
Spielfindung
Als Nächstes folgt der Prozess der Spielfindung. Beim Freizeitspiel wird meist von einem Normalspiel ausgegangen und ein Spieler, der eine andere Spielart spielen will oder auf Grund seiner Karten spielen muss, meldet diese an. Die Turnierspielregeln schreiben hier einen etwas komplizierteren Prozess vor, der weitgehend verhindern soll, dass auf die Karten der anderen Spieler geschlossen werden kann, und festlegt, welche Spielart Vorrang hat, wenn mehrere Spieler eine abweichende Spielart spielen möchten (siehe unten).
Parteien
In jedem Spiel gibt es eine Re-Partei und eine Kontra-Partei. Jeder Spieler gehört einer der beiden Parteien an. Die Spieler einer Partei spielen zusammen und erhalten am Ende eines Spiels die gleiche Punktzahl gutgeschrieben oder abgezogen. Es kommt also nicht nur darauf an, selbst gut zu spielen, sondern auch gut mit seinem Spielpartner zusammenzuarbeiten.
Im Normalfall bilden die beiden Spieler, die die Kreuz-Damen (die sogenannten Alten, oftmals auch die Ollen) besitzen, die Re-Partei und die anderen beiden Spieler die Kontra-Partei. Beim Solospiel (siehe unten) ist der allein spielende Spieler die Re-Partei, während die anderen drei Spieler die Kontra-Partei bilden. Spätestens nach der Spielfindung weiß jeder Spieler, zu welcher Partei er gehört. Eine Ausnahme bildet hier lediglich die sogenannte Hochzeit, bei der ein Spieler die beiden Alten besitzt und einen Partner sucht.
Ein besonderer Reiz des Spieles besteht darin, dass im Normalspiel einem Spieler die Parteizugehörigkeit der anderen Spieler nicht von Anfang an bekannt ist und er infolgedessen eine Zeit lang auch nicht weiß, mit wem er zusammenspielt. Dies klärt sich erst im Verlauf des Spiels und erschwert die Zusammenarbeit mit dem Spieler der eigenen Partei vor allem in der Anfangsphase ungemein.
Spiel
Das eigentliche Spiel teilt sich in zwölf Stiche. Der Spieler links vom Geber ist der Aufspieler und spielt den ersten Stich an, indem er eine ihm geeignet erscheinende Karte offen auf den Tisch legt. Im Uhrzeigersinn tun ihm die anderen Spieler dies gleich, bis von jedem Spieler eine Karte auf dem Tisch liegt. Dabei haben die Spieler bestimmte Regeln einzuhalten. Je nach Spielart und der als erstes im Stich ausgespielten Karte entscheidet sich, wer die höchste Karte gelegt hat und damit alle vier Karten des Stiches erhält. Diese zieht er ein und legt sie wieder verdeckt vor sich auf einen Stapel.
Im Normalfall darf nur der letzte gespielte Stich eingesehen werden. Die Turnierspielregeln regeln genau, wie die Stiche abgelegt werden müssen oder dürfen. Dies soll verhindern, dass durch geschicktes Ablegen der Karten doch nachträgliche Rückschlüsse auf schon gespielte Karten möglich sind. Besondere Stiche, die zu Sonderpunkten führen, dürfen speziell abgelegt werden, um sie bei der Spielauswertung nicht zu vergessen. Solange die Spieler noch Karten auf der Hand haben, spielt der Gewinner des vorangegangenen Stiches den nächsten Stich an.
Während der ersten Stiche ist es möglich, Ansagen zu machen, die den Spielwert des Spieles erhöhen und dem einzelnen Spieler ermöglichen, mehr Punkte für seine Partei zu sichern. Auch hier gibt es eine Regelung in den Turnierspielregeln (siehe unten).
Die prinzipiellen Regeln, nach denen Karten gelegt werden dürfen, unterscheiden sich nicht von den Regeln im Schafkopf oder Skat. Die Karten sind in jedem Spiel – abhängig von der Spielart – in Trumpfkarten und verschiedene Fehlfarbkarten mit bestimmter Rangfolge unterteilt. Der Spieler, der den Stich anspielen muss, kann frei entscheiden, welche Karte er anspielen möchte. Spielt er Trumpf, so müssen die anderen Spieler ebenfalls eine Trumpfkarte ausspielen, sofern sie noch eine auf der Hand haben (so genanntes Bedienen). Andernfalls können sie eine beliebige Fehlfarbkarte ausspielen (so genanntes Abwerfen). Spielt der Spieler, der den Stich anspielt, eine Fehlfarbkarte an, so müssen die anderen Spieler dieselbe Fehlfarbe bedienen, sofern sie eine Karte der entsprechenden Fehlfarbe besitzen. Andernfalls können sie entweder eine andere Fehlfarbkarte abwerfen oder mit einem Trumpf stechen. Den Stich erhält, wer die höchste Trumpfkarte gelegt hat. Falls niemand Trumpf gespielt hat, erhält derjenige den Stich, der die höchste Karte der angespielten Fehlfarbe gelegt hat. Da alle Karten doppelt vorhanden sind, kann es passieren, dass die höchste Karte im Stich zweimal gespielt wurde. In diesem Fall erhält der Spieler den Stich, der die Karte zuerst ausgespielt hat.
Spielabkürzung
Im Normalfall wird ein Spiel zu Ende gespielt. Es kann jedoch vorkommen, dass ein Spieler weiß, dass er die restlichen Stiche bekommt. Dann kann er seine Karten offenlegen und die restlichen Karten der Mitspieler einziehen. Die Turnierspielregeln regeln diesen Vorgang genau (siehe unten), um zu verhindern, dass andere Spieler benachteiligt werden, wenn sie noch Sonderpunkte erhalten könnten. So ist dort zum Beispiel nur einem Solospieler die Abkürzung erlaubt.
Spielauswertung
Bei der Spielauswertung zählt jede Partei die Augen ihrer Stiche. Die Partei, die mehr Augen in ihren Stichen enthält, hat das Spiel gewonnen. Durch Ansagen kann ein Sieg auch mehr oder weniger Augen verlangen. Je nach Anzahl der Augen erhält die Gewinnerpartei mehr oder weniger Punkte gutgeschrieben. Durch besondere Regeln können dann noch Zusatzpunkte dazukommen oder abgezogen werden. Es gibt viele verschiedene Varianten für die Bewertung eines Spiels. Die Berechnung der Punkte sowie die zum Gewinn des Spiels nötige Augenzahl (abhängig von den Ansagen) werden ebenfalls in den Turnierspielregeln festgelegt (siehe unten).
Normalspiel
In der einfachsten Variante des Normalspieles bilden die Damen die höchsten Trümpfe, gefolgt von den Buben, jeweils mit den Rangfolgen Kreuz, Pik, Herz und Karo untereinander. Die restlichen Karten der Farbe Karo in der Rangfolge Ass, Zehn, König, Neun bilden die niedrigsten Trümpfe. Alle restlichen Karten bilden je nach Farbe die Fehlfarben Kreuz, Pik und Herz, jeweils mit der gleichen Rangfolge Ass, Zehn, König und Neun.
Im Normalspiel spielen die beiden Personen zusammen, die die Kreuz-Damen, also die höchsten Trümpfe besitzen.
Das Normalspiel wird meist noch um Sonderregeln ergänzt, die die Trümpfe und Fehlfarben modifizieren oder Sonderpunkte ermöglichen. Insbesondere das Spiel mit Dullen (Herz 10 als höchster Trumpf) ist so verbreitet, dass es vielen Spielern als Normalvariante gilt.
Hochzeit
Es kann vorkommen, dass ein Spieler nach dem Geben die beiden Alten (d. h. die Kreuz-Damen) besitzt. In diesem Fall kann er während der Spielfindung entweder eine sogenannte Hochzeit ansagen oder heimlich allein spielen (Stilles Solo bzw. Stille Hochzeit).
Es gibt drei verschiedene Varianten, nach denen sich bei der Ansage einer Hochzeit entscheidet, wer mit dem Spieler zusammenspielt, der beide Alte besitzt. Diese Varianten erlauben es dem Spieler, sich bestimmte Karten oder Stiche zu wünschen. Derjenige, der die genannte Karte zuerst ausspielt oder der den Stich der genannten Art zuerst bekommt, spielt dann mit dem Spieler zusammen, der die Hochzeit angesagt hat. Manchmal kann es vorkommen, dass niemand einen Stich der genannten Art bekommt, sodass der Spieler mit den beiden Alten dann (meist ungewollt) doch allein spielen muss. Die Turnierspielregeln verwenden hier eine wesentlich einfachere Form, die Konformität zu den möglichen Ansagen während der ersten Stiche ermöglicht (siehe unten).
Solo
Neben dem Normalspiel gibt es Solospiele, bei denen ein Spieler alleine gegen die anderen drei spielt. Der allein Spielende ist dabei die Re-Partei und die anderen drei Spieler bilden die Kontra-Partei.
In der Regel verändern sich bei einem Solo die Trümpfe und Fehlfarben sowie ihre Reihenfolge. Es gibt verschiedene Arten von Soli. Die gleichen Arten von Soli werden regional unterschiedlich bezeichnet. Umgekehrt meinen gleiche Namen für Soli regional unterschiedliche Varianten. Die Turnierspielregeln legen Bezeichnung und mögliche Varianten eindeutig fest (siehe unten).
Es werden in der Regel wenigstens acht Stiche benötigt, mit neun Stichen wird ein Solo mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit gewonnen. Beim Spiel ohne Neunen (siehe unten) sind in der Regel mindestens sechs Stiche nötig. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird ein Solo mit sieben Stichen gewonnen.
Manchmal kommt es vor, dass mehrere Spieler ein Solospiel bestreiten wollen. Welches Solospiel dann gespielt wird, hängt von der festgelegten Rangfolge für Solospiele oder der Sitzposition der Spieler ab.
Es kann vereinbart werden, dass der Solospieler immer die erste Karte legen darf, das heißt, dass er das Aufspielrecht erhält. In diesen Fällen wird dann oft auch vereinbart, dass der Geber das nächste Spiel erneut gibt.
Regelcharakteristika
Zwei Aspekte machen das Doppelkopfspiel besonders herausfordernd. Zum einen ist es ein Partnerspiel, und die gute Kooperation der Partner ist wesentlich für den Erfolg. Zum anderen müssen die Mitspieler die Unsicherheit bewältigen, wer der Partner ist und wie die Karten verteilt sind. Das Regelwerk des DDV betont die Eigenschaft des Partnerspiels. Sie erleichtern Spielstrategien, die die Kooperation herausfordert.
Regeln, die die Unsicherheit verstärken, sind zum Beispiel: Zweite Dulle sticht Erste, Klopfen statt Ansagen, Spiel ohne Neunen und Genschern. Ferner gibt es Regeln, die besondere Härten der Kartenverteilung abmildern sollen, zum Beispiel Armut, Einmischen und Schweinchen.
Spielregeln nach den Turnierspielregeln des DDV
Sonderregeln für das Normalspiel nach den Turnierspielregeln
Für das Normalspiel kennen die Turnierspielregeln im Wesentlichen vier Sonderregeln, die das oben erläuterte Normalspiel verändern. Davon variiert eine Regel die Trümpfe und Fehlfarben. Die anderen drei Regeln beziehen sich auf mögliche Sonderpunkte.
Spiel mit Dullen
Bei dieser Variante werden die Herz-Zehnen zum höchsten Trumpf im Spiel. Häufig werden diese Karten dann Dullen (örtlich auch Tollen, Tullen, Pinnen, Messer, Spitzen oder Totschläger) genannt. Die Turnierspielregeln sprechen aber immer nur von den Herz-Zehnen. Diese Variante ist so verbreitet, dass sie meist nicht als Sonderregel aufgefasst wird.
Durch die Verwendung der Herz-Zehnen als Dullen besteht die Fehlfarbe Herz im Normalspiel nur noch aus 6 statt aus 8 Karten. Daher ist hier die Wahrscheinlichkeit größer, dass diese Fehlfarbe gestochen wird.
Die Turnierspielregeln besagen explizit, dass – wie bei allen anderen Karten auch – die erste Dulle Vorrang vor der zweiten Dulle besitzt. Die umgekehrte Regel, bei der die zweite Dulle die erste Dulle sticht, ist eine häufige Variation, die aber von den Turnierspielregeln ausgeschlossen wird.
Doppelkopf
Eine genauso weit verbreitete Variante ist die Möglichkeit, Sonderpunkte zu sammeln, indem Stiche gemacht werden, die mindestens 40 Augen enthalten, sogenannte Doppelköpfe (örtlich auch Fette). Ein solcher Stich enthält nur Volle, d. h. Asse oder Zehnen, egal welcher Farbe. Nach den Turnierspielregeln gibt es dafür einen Sonderpunkt für die Partei, die den Stich bekommen hat.
Karlchen
Ebenfalls weit verbreitet ist die Möglichkeit, einen Sonderpunkt zu erhalten, wenn der letzte Stich mit dem Kreuz-Buben gemacht wird, der häufig auch Karlchen (auch Karlchen Müller oder Charlie, regional auch Mäxchen) genannt wird. Dies führt zu der Situation, dass sich viele Spieler genau diese Karte möglichst lange aufheben und bemüht sind, höhere Karten vorher loszuwerden. Oft wird dann auch die Karo-Dame möglichst lange auf der Hand behalten, um einen solchen Stich noch abzufangen.
Fuchs
Als Fuchs wird das Karo-Ass bezeichnet, also der Trumpf mit der höchsten Augenzahl. Gelingt es einer Partei, der gegnerischen Partei diese Karte in einem Stich abzujagen (sogenanntes Fuchs fangen), erhält sie dafür einen Sonderpunkt. Da alle Karten doppelt im Spiel sind, ist es natürlich auch möglich, zwei Füchse zu fangen und damit zwei Sonderpunkte zu bekommen. Es kann auch vorkommen, dass die Parteien gegenseitig ihre Füchse fangen und sich die Sonderpunkte so wieder aufheben.
Hochzeit nach den Turnierspielregeln
Bei der Hochzeit nach den Turnierspielregeln spielt der Besitzer der beiden Alten immer mit demjenigen der verbleibenden Spieler zusammen, der von diesen den ersten Stich macht (der erste Fremde). Macht der Spieler, der die beiden Alten hält, die ersten drei Stiche, so spielt er automatisch ein Trumpfsolo (Farbsolo in Karo). In der Regel hat er in diesem Fall aber relativ gute Gewinnchancen, da er mindestens drei Stiche hat, die zumeist viele Augen bringen. Da er beim dritten Stich im Anspiel ist, sollte es ihm andernfalls relativ leicht möglich sein, eine Karte auszuspielen, die dafür sorgt, dass er den dritten Stich nicht bekommt.
Bei einer Hochzeit wird der Stich, der klärt, wer mit wem zusammenspielt, auch Klärungsstich genannt. Dies ist spätestens der dritte Stich. Bei Hochzeiten dürfen Ansagen erst nach dem Klärungsstich gemacht werden, weshalb sich die An- und Absagezeitpunkte nach den Turnierspielregeln entsprechend nach hinten verschieben.
Diese Regel ist allerdings umstritten, da sie einen überdeutlichen Vorteil für das Hochzeitspaar bedeutet. Kommt es erst im dritten Stich zu einer Klärung, können beide schon 60 bis 90 Punkte gewonnen haben, ein Re zu diesem späten Zeitpunkt wäre ohne Risiko. Deshalb wird heutzutage meistens eine andere Regel befolgt: Re oder Kontra müssen zum gleichen Zeitpunkt wie in einem gewöhnlichen Spiel angesagt werden. Kommt es im weiteren Spielverlauf dazu, dass Kontra mit dem Re-Spieler ein Team bildet, so wird sein Kontra in ein Re umgewandelt.
Das Hochzeitspaar hat wie in einer normalen Runde erst gewonnen, wenn 121 Punkte erreicht wurden.
Soli nach den Turnierspielregeln
Die Turnierspielregeln unterscheiden einerseits in Pflicht- und Lustsolo, andererseits in die fünf Soloarten Farbsolo, Damensolo, Bubensolo, Fleischloser und „normales“ Solo.
Pflichtsolo
Nach den Turnierspielregeln besteht eine Doppelkopfrunde aus 24 Spielen. Jeder Spieler ist verpflichtet, innerhalb einer Runde ein Pflichtsolo zu spielen. Der Solospieler muss in diesem Fall zum ersten Stich aufspielen. Wenn die Anzahl der ausstehenden Spiele gleich der Anzahl der noch ausstehenden Pflichtsoli ist, so muss derjenige, der noch ein Pflichtsolo spielen muss und als Nächster links vom Geber sitzt, sein Pflichtsolo spielen. In diesem Fall wird auch von einer Vorführung gesprochen.
Das Pflichtsolo darf einem Spieler, der vorgeführt wird, nicht abgenommen werden. Dieser muss gegebenenfalls auch seine eigene Vorführung geben, sofern er als Geber an der Reihe ist. Wird ein Pflichtsolo gespielt, gibt der Geber das nächste Spiel erneut, es sei denn, es handelt sich um eine Vorführung. Als Pflichtsolo kann jede nach den Turnierspielregeln gestattete Soloart gespielt werden.
Lustsolo
Hat ein Spieler sein Pflichtsolo bereits gespielt, darf er ein Lustsolo spielen. Auch hier sind alle nach den Turnierspielregeln gestatteten Soloarten erlaubt. Allerdings bleibt das Recht und die Pflicht, den ersten Stich aufzuspielen, beim Spieler links vom Geber. Nur Pflichtsoli haben Vorrang vor Lustsoli.
Farbsolo
Das Farbsolo wird in vier Varianten unterschieden. Jede der vier Farben Kreuz, Pik, Herz, Karo kann als Trumpffarbe gewählt werden. Entsprechend werden die Soli dann als Kreuz-, Pik-, Herz- oder Karosolo bezeichnet. Wird mit deutschem Blatt gespielt, so werden die Soli natürlich nach den Farben des deutschen Blattes (Eichel, Blatt/Grün, Herz/Rot, Schelle) benannt.
Im Vergleich zum Normalspiel ersetzen die Karten Ass, Zehn (außer beim Herzsolo), König und Neun in der gewählten Farbe das Ass, die Zehn, den König und die Neun in der Farbe Karo.
Beim Karosolo ist die Rangfolge der Karten also dieselbe wie im Normalspiel. Diese Konstellation wird von einigen Spielern auch als Trumpfsolo bezeichnet. Beim Herzsolo existieren weniger Trümpfe als in den anderen Varianten, da die Dullen weiterhin die höchsten Trümpfe bleiben.
In manchen Regionen werden die Dullen entsprechend dem Farbsolo mitverschoben, so dass immer die Farbe der Dullen die kurze Farbe ist. Z. B. beim Herzsolo sind die Dullen dann die beiden Pik-Zehnen und beim Kreuzsolo die beiden Karo-Zehnen.
Damensolo und Bubensolo
Beim Damensolo sind nur die Damen Trumpf, wobei ihr Rang beibehalten wird. Die anderen Karten bilden dann entsprechend ihrer Farbe die vier Farbkategorien Karo, Herz, Pik und Kreuz, mit der Rangfolge Ass, Zehn, König, Bube und ggf. Neun.
Beim Damensolo gibt es also 8 Trumpfkarten und 40 Fehlfarbenkarten. Wird mit deutschem Blatt gespielt, so wird das Solo als Obersolo bezeichnet. Da die Turnierspielregeln nur vom französischen Blatt ausgehen, kommt diese Bezeichnung dort natürlich nicht vor.
Das Bubensolo funktioniert wie das Damensolo, mit dem Unterschied, dass hier nur die Buben Trumpf sind. Der Bube in der Fehlfarbenrangfolge wird durch die Dame ersetzt.
Wie beim Damensolo gibt es beim Bubensolo also 8 Trumpfkarten und 40 Fehlfarbenkarten. Wird mit deutschem Blatt gespielt, so wird das Solo als Untersolo bezeichnet.
Fleischloser (Assesolo)
Beim so genannten fleischlosen Solo (kurz Fleischloser, auch Nackter, Kopfloser, Knochenloser oder Gehirnloser) gibt es keine Trümpfe. In den vier Fehlfarben Kreuz, Pik, Herz, Karo ist die Rangfolge der Karten Ass, Zehn, König, Dame, Bube, Neun. Da es hier keine Trümpfe gibt, ist jeder Stich ein Fehlfarbenstich und kann nicht gestochen werden. Wer ein fleischloses Solo spielt, sollte daher möglichst in der Vorderhand sein, das heißt, als Erster ausspielen dürfen, falls er von einer Farbe nur wenige oder nicht die höchsten Karten besitzt.
Dieses Solo wird vielfach auch als Assesolo oder Knochensolo bezeichnet. Die Turnierspielregeln verwenden den Begriff Fleischloser und geben Assesolo als Alternativbezeichnung an. Die Bezeichnung Assesolo ist insofern irreführend, als die Asse keine Trümpfe sind.
Manchmal wird dieses Solo auch als reines Farbsolo oder Fehlsolo bezeichnet, da es nur Fehlfarben gibt. Die Bezeichnung reines Farbsolo ist jedoch irreführend, da im privaten Bereich darunter ein Solo verstanden wird, bei dem nur die 12 Karten einer Farbe Trumpf sind (ohne Dullen, Damen und Buben der anderen Farben). Diese reinen Farbsoli sind nicht Bestandteil der Turnierspielregel.
Spielvorbereitung nach den Turnierspielregeln
Ein einzelnes Spiel beginnt mit dem Geben der Karten durch den Geber. Die Aufgabe des Gebens wechselt im Uhrzeigersinn nach jedem Spiel. Eine Ausnahme tritt dann ein, wenn ein Spieler ein Pflichtsolo spielt. In diesem Fall gibt der Geber das nächste Spiel erneut. Der Grund hierfür ist, dass beim Pflichtsolo der Solospieler das Recht und die Pflicht zum Aufspiel besitzt, welches normalerweise beim Spieler links vom Geber liegt. Dieser könnte andernfalls benachteiligt werden.
Der Geber muss die Karten gründlich mischen. Werden die Karten dabei gestochen oder geblättert, so muss anschließend noch einmal durchgemischt werden. Die Turnierspielregeln führen nicht genau aus, was mit gestochen, geblättert oder durchmischen gemeint ist.
Nach dem Mischen lässt der Geber die Karten vom Spieler rechts neben ihm genau einmal abheben. Dies ist Pflicht und der Vorgang muss so erfolgen, dass mindestens drei Karten liegenbleiben und mindestens drei Karten abgehoben werden. Der Geber legt danach den Stapel der liegengebliebenen Karten auf den Stapel der abgehobenen Karten.
Anschließend teilt der Geber beginnend beim linken Nachbarn im Uhrzeigersinn jedem Spieler viermal jeweils drei Karten aus. Die Vorderseite der Karten darf dabei für keinen Spieler sichtbar werden. Wird eine Karte beim Geben aufgedeckt, so muss neu gemischt, abgehoben und gegeben werden, unabhängig davon, ob das Aufdecken der Karte vom Geber allein oder mitverschuldet ist.
Jeder Spieler muss selbst darauf achten, dass ihm vom Geber die richtige Anzahl Karten (also 12) gegeben wird.
Ist der Geber kurzzeitig nicht anwesend, so kann der Spieler links neben ihm diese Aufgabe übernehmen, sofern sich der Geber das Recht zu geben nicht ausdrücklich vorbehalten hat. Er muss die Karten dabei so austeilen wie der eigentliche Geber, das heißt, er gibt sich selbst zuerst drei Karten.
Ebenso kann der Spieler rechts vom Abheber die Aufgabe des Abhebens übernehmen, wenn der Abheber kurzzeitig nicht anwesend ist, sofern der Abheber sich dieses Recht nicht ausdrücklich vorbehalten hat.
Einsprüche gegen sofort offensichtliche Inkorrektheiten beim Mischen, Abheben und Geben können von einem Spieler nur geltend gemacht werden, solange er noch keine seiner Karten aufgenommen hat. Können Regelverstöße erst während der Kartenaufnahme erkannt werden, so können diese auch noch bei ihrer Erkennung reklamiert werden. Insofern ist also niemand indirekt verpflichtet zu warten, bis er vom Geber alle Karten bekommen hat (zum Beispiel um abzuwarten, ob der Geber auch jeweils viermal genau drei Karten austeilt).
Spielfindung nach den Turnierspielregeln
Um die Art des Spiels zu ermitteln, wird nach dem Geben jeder Spieler im Uhrzeigersinn, beginnend beim Spieler links vom Geber, nach Vorbehalten abgefragt. Möchte ein Spieler ein Solo oder eine Hochzeit anmelden, so muss er laut und deutlich „Vorbehalt“ sagen. Andernfalls sagt er „gesund“. Die Anmeldung eines Vorbehaltes kann dann nur zurückgenommen werden, wenn sich der nächste Spieler noch nicht zum Vorbehalt geäußert hat beziehungsweise eine Karte gespielt oder eine Ansage (siehe unten) getätigt wurde. Andernfalls muss der betreffende Spieler eventuell ungewollt ein Solo spielen.
Ein Normalspiel wird durchgeführt, wenn alle Spieler „gesund“ melden. Andernfalls erfolgt, wieder reihum, die Abfrage nach einem Pflichtsolo bei allen Spielern, die einen Vorbehalt angemeldet haben. Die Abfrage endet, wenn ein Spieler ein Pflichtsolo meldet. In diesem Fall muss dieser Spieler sein Pflichtsolo taufen (benennen), welches dann gespielt wird. Meldet kein Spieler ein Pflichtsolo, so erfolgt nach demselben Prinzip die Abfrage nach einem Lustsolo. Der Spieler, der am weitesten vorn sitzt, muss dieses dann taufen und spielen. Meldet kein Spieler ein Lustsolo, so kann nur ein Spieler einen Vorbehalt genannt haben mit dem Ziel, eine Hochzeit anzusagen. Dennoch muss er seinen Vorbehalt dann noch durch lautes und deutliches Ansagen von „Hochzeit“ taufen.
Ein Spieler kann seinen Vorbehalt sofort taufen, wenn er sicher ist, dass sein Vorbehalt der höchstrangige ist. Er muss in diesem Fall auch nicht an der Reihe sein. Danach darf sofort der erste Stich aufgespielt werden, ohne die Vorbehaltsfrage zu Ende zu führen. Andere Spieler dürfen dann weder einen Vorbehalt anmelden noch diesen taufen.
Bei einer Vorführung steht fest, welcher Spieler ein Pflichtsolo spielen muss. Daher wird in einem solchen Fall keine Vorbehaltsfrage durchgeführt. Der betroffene Spieler muss lediglich sein Solo taufen.
Ansagen nach den Turnierspielregeln
Während der ersten Stiche haben die Spieler die Möglichkeit durch An- und Absagen den Wert eines Spieles und die damit erreichbare Punktzahl zu erhöhen (siehe unten) sowie die Parteienfindung und das Spiel zu beeinflussen.
An- und Absagen
Wird keine Hochzeit gespielt, so wissen alle Spieler, zu welcher Partei sie gehören. Jeder Spieler kann dann durch Ansagen von „Re“ (falls er zur Re-Partei, mit Kreuz-Dame, gehört) oder „Kontra“ (falls er zur Kontra-Partei gehört) einerseits seine Zugehörigkeit zu einer Partei bekanntgeben, andererseits den Spielwert erhöhen, solange er noch 11 Karten auf der Hand hat. Mit der Ansage von Re oder Kontra wird behauptet, dass die eigene Partei das Spiel gewinnen wird.
Zusätzlich ist es den Spielern möglich, der Gegenpartei abzusagen, dass sie eine bestimmte Augenzahl erreichen wird. Die 240 Augen im Spiel sind dazu in verschiedene Stufen eingeteilt, die jeweils 30 Augen umfassen. Durch Absagen von keine 90, keine 60 und keine 30 kann behauptet werden, dass die Gegenpartei diese Augenzahl nicht erreicht. Die Absage „schwarz“ behauptet, dass die Gegenpartei keinen einzigen Stich machen wird. Für die Absagen keine 90, keine 60, keine 30 bzw. schwarz muss der absagende Spieler mindestens 10, 9, 8, bzw. 7 Karten auf seiner Hand besitzen.
Jede der An- und Absagen kann auch früher getätigt werden, jedoch nicht bevor der Spieltyp geklärt ist.
Eine Absage ist nur nach einer Ansage gestattet. Dabei genügt es, wenn die eigene Partei die Ansage vorgenommen hat. Es muss also nicht der gleiche Spieler eine Absage machen, der die Ansage gemacht hat. Allerdings muss der absagende Spieler im Zweifelsfall (also wenn beide Parteien eine Ansage gemacht haben) zu erkennen geben, welcher Partei er angehört.
Das Überspringen von Absagen ist nur gestattet, so lange die übersprungenen Absagen noch möglich sind. In diesem Sinne ist es nicht möglich indirekt eine Absage zu einem späteren Zeitpunkt als erlaubt nachzuholen. Beide Parteien haben das Recht Absagen zu machen. Dies kann dazu führen, dass am Ende keine Partei ihr Absageziel erreicht und damit keine Partei das Spiel gewinnt.
Alle An- oder Absagen sind gültig, wenn mehrere Spieler diese gleichzeitig oder nacheinander tätigen. Aus diesem Passus der Turnierspielregeln kann abgeleitet werden, dass sich ein Spieler durch eine Ansage auch zu erkennen geben kann, wenn der andere Spieler der eigenen Partei bereits eine Ansage getätigt hat ohne dadurch den Spielwert zu erhöhen. Allerdings besagt kein Passus der Turnierspielregeln explizit, dass dies erlaubt oder verboten ist.
Erwiderung
Auf eine An- beziehungsweise Absage der Gegenpartei kann stets noch mit einer Karte weniger als für die entsprechende An- beziehungsweise Absage nötig erwidert werden. Mit Kontra erfolgt die Erwiderung gegen die Re-Partei und mit Re die Erwiderung gegen die Kontra-Partei. Absagen einer erwidernden Partei sind nur dann noch zulässig, wenn die Erwiderung auch als Ansage rechtzeitig erfolgt wäre. Das Überspringen von Absagen ist auch hier nur gestattet, so lange die übersprungenen Absagen noch möglich sind.
An- und Absagezeitpunkte bei einer Hochzeit
Bei einer Hochzeit ist die Parteien-Zugehörigkeit erst nach dem Klärungsstich klar. Eine Ansage ist hier immer erst nach dem Klärungsstich erlaubt. Die An- und Absagezeitpunkte verschieben sich hier um eine Karte nach hinten, wenn der Klärungsstich der zweite Stich ist und um zwei Karten nach hinten, wenn der Klärungsstich der dritte Stich ist. Ist der erste Stich der Klärungsstich, so verschieben sich die An- und Absagezeitpunkte nicht.
Diese Regelung ist aber umstritten, da es theoretisch möglich ist – insbesondere wenn ohne Neunen (siehe unten) gespielt wird – mit 3 Stichen mehr als 120 Augen zu bekommen, so dass das Spiel nicht mehr verloren und damit ohne Risiko Re angesagt werden kann.
Korrekter ist es deshalb, den Zeitpunkt, zu dem Re oder Kontra gesagt werden muss beizubehalten. Im Falle, dass ein Kontra-Spieler im weiteren Verlauf des Spieles mit dem Hochzeit-Spieler zusammengeht, wird sein Kontra dann als ein Re betrachtet.
Spielabkürzung nach den Turnierspielregeln
Die Turnierspielregeln erlauben eine Spielabkürzung grundsätzlich nur einem Solospieler. Dieser kann durch Offenlegen seiner Karten anzeigen, dass er alle Stiche machen wird. Gibt er keine Reihenfolge an, mit der er die Karten spielt und besitzt nicht das Aufspiel, so ist davon auszugehen, dass er mit beliebiger Karte übernimmt oder jede Fehlfarbe, die er nicht besitzt, mit Trumpf sticht.
Der Solospieler muss bei einer Abkürzung die Reihenfolge, mit der er die Karten spielt, unaufgefordert angeben, wenn er nur mit einer bestimmten Reihenfolge das Spiel gewinnt. Dabei wird davon ausgegangen, dass er sowohl in den Trumpfkarten, als auch in den Fehlfarbenkarten immer von oben spielt, also die ranghöchste Karte legt. Es muss nicht davon ausgegangen werden, dass er zuerst Trumpf spielt, außer er gibt dies bei der Abkürzung an.
Der Solospieler darf umgekehrt auch abkürzen, indem er der Gegenpartei seine restlichen Karten übergibt, die Gegenpartei also die restlichen Stiche bekommt. Regelverstöße, die zuvor erfolgt sind, können vom Solospieler dann aber nicht mehr reklamiert werden. Sind die An- und Absagezeitpunkte noch nicht vorbei, so kann die Gegenpartei mögliche An- und Absagen noch nachholen.
Spielauswertung nach den Turnierspielregeln
Gewinnkriterien
Die Re-Partei gewinnt das Spiel, wenn sie in ihren Stichen wenigstens 121 Augen findet und selbst keine Absagen getätigt hat. Sie gewinnt das Spiel auch mit 120 Augen, wenn sie selbst keine Ansage gemacht hat und die Kontra-Partei Kontra angesagt hat.
Die Kontra-Partei gewinnt das Spiel bereits mit 120 Augen, wenn keine An- oder Absagen getätigt wurden. Tätigt nur die Kontra-Partei eine Ansage ohne eine Absage zu machen, so benötigt sie zum Gewinn 121 Augen.
Für beide Parteien gilt, dass sie wenigstens 151, 181 beziehungsweise 211 Augen erreichen müssen, um zu gewinnen, wenn sie der Gegenpartei keine 90, keine 60 beziehungsweise keine 30 abgesagt haben. Wurde der Gegenpartei schwarz abgesagt, darf diese keine Stiche bekommen. Hat sich eine Partei nicht durch Absage an die andere Partei zu einer höheren Augenzahl verpflichtet, so genügen ihr 90, 60 beziehungsweise 30 Augen, wenn die Gegenpartei ihr keine 90, keine 60 beziehungsweise keine 30 abgesagt hat. Eine Partei gewinnt mit dem ersten Stich, wenn sie selbst keine Absage getätigt hat und die Gegenpartei ihr schwarz abgesagt hat.
Erreichen beide Parteien ihr abgesagtes Ziel nicht, so hat keine Partei gewonnen. In diesem Fall werden bestimmte Zusatzpunkte (siehe unten) nicht verteilt.
Spielwerte
Die Spielwerte der einzelnen Spiele werden in Punkten ausgedrückt, die nach der Plus-Minus-Wertung vergeben werden. Das bedeutet, dass die Spieler der Siegerpartei die Punkte mit positivem Vorzeichen aufgeschrieben bekommen, während die Spieler der Verliererpartei die Punkte mit negativem Vorzeichen aufgeschrieben bekommen. Es ist zu beachten, dass durch Sonderpunkte die Gewinnerpartei dadurch dennoch Punkte abgezogen bekommen kann, während die Verliererpartei Punkte gutgeschrieben bekommt (der Spielwert ist dann selbst negativ). Bei einem Solospiel wird die Punktzahl für den Solospieler verdreifacht.
Durch die Plus-Minus-Wertung ist eine einfache Überprüfung möglich. Zum einen muss die Summe der Punktzahlen über alle Spieler nach jedem Spiel Null ergeben. Zum anderen müssen alle Spieler eine gerade oder alle Spieler eine ungerade Punktzahl besitzen, sofern keine Strafpunkte zugunsten eines Solospielers verteilt wurden.
Für ein gewonnenes Spiel ist der Grundwert ein Punkt. Wird die Verliererpartei zusätzlich unter 90, 60, 30 beziehungsweise schwarz gespielt, so erhält die Gewinnerpartei jeweils einen Punkt zusätzlich. Gibt es keinen Gewinner, so werden nur die zusätzlichen Punkte an die Partei verteilt, die die Gegenpartei unter 90, 60 beziehungsweise 30 gespielt hat.
Bei angesagtem Re oder Kontra werden je zwei Punkte zusätzlich an die Gewinnerpartei vergeben. Gibt es keinen Gewinner, so verfallen diese Punkte. Hat die Gewinnerpartei der Verliererpartei keine 90, keine 60, keine 30 beziehungsweise schwarz abgesagt, so erhält sie jeweils einen Punkt zusätzlich.
Erreicht die Gewinnerpartei 120, 90, 60, beziehungsweise 30 Augen gegen eine Absage keine 90, keine 60, keine 30 beziehungsweise schwarz, so erhält sie jeweils einen Punkt zusätzlich. Diese Punkte erhält eine Partei auch dann, wenn es keinen Gewinner gibt, sie aber die entsprechenden Augenzahlen gegen die entsprechenden Ansagen gewonnen hat.
Sonderpunkte können von beiden Parteien nur beim Normalspiel (inkl. Hochzeit), nicht aber bei einem Solo (inkl. stille Hochzeit) gewonnen werden. Die Sonderpunkte werden ggf. zuerst untereinander und dann mit den restlichen Punkten verrechnet.
Die Kontra-Partei erhält einen Zusatzpunkt, wenn sie gegen die Alten (Kreuz-Damen) gewinnt. Für jeden gewonnenen Doppelkopf, also einen Stich mit 40 oder mehr Augen, erhält die entsprechende Partei einen Sonderpunkt. Gleiches gilt, wenn ein Fuchs (Karo Ass) der Gegenpartei gefangen wird oder Karlchen (Kreuz Bube) den letzten Stich macht.
Weiterer Inhalt der Turnierspielregeln
Neben dem eigentlichen Spiel regeln die Turnierspielregeln auch eher nebensächliche Dinge. Dazu gehört die Festlegung, wie die Sitzposition der einzelnen Spieler bestimmt wird, wer die Spielliste zu führen hat und wie diese überprüft werden sollte. Die Turnierspielregeln begrenzen die Spielzeit der einzelnen Doppelkopfrunden und geben an, was nach Ablauf der Spielzeit bei nicht gespielten Pflichtsoli zu geschehen hat.
Ferner wird geregelt, wie Regelverstöße durch Strafpunkte zu ahnden sind. Dabei wird grob in unerhebliche, geringfügige und schwerwiegende Regelverstöße unterschieden, die unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen. Ferner kennt das Regelwerk unsportliches Verhalten, welches zur Verwarnung, zu Punktabzug oder zur Disqualifikation führen kann. Es regelt auch, wann und in welchen Situationen Spieler zur Reklamation berechtigt sind.
Die Turnierspielregeln erklären auch Abweichungen und Empfehlungen für das Spiel mit fünf Personen. So wird die Spielzeit einer Spielrunde hier von 24 auf 30 Spiele und von 100 auf 125 Minuten erhöht. Der Kartengeber spielt in diesem Fall nicht mit. Es wird darauf hingewiesen, dass bei 5 Spielern die Möglichkeit besteht, dass ein Spieler im Extremfall nur 21 Spiele spielt, während die anderen 24 beziehungsweise 25 Spiele haben, da der Geber beim Pflichtsolo erneut geben muss.
Die Turnierspielregeln sprechen auch von der Möglichkeit mit 6 oder 7 Personen zu spielen, gehen aber nicht darauf ein, wie derartige Spiele zu erfolgen haben.
Häufige Spielvarianten
Die hier genannten Varianten des Doppelkopfspiels entsprechen nicht den Turnierspielregeln. Sie finden dennoch häufig in privaten Spielrunden Anwendung und können größtenteils beliebig kombiniert werden. Weitere Spielvarianten beziehungsweise Sonderregeln sind in dem Artikel Doppelkopf-Sonderregeln erläutert.
Spiel ohne Neunen
Eine weit verbreitete Variante ist das Spiel ohne Neunen (so genanntes scharfes Blatt oder ohne Luschen). Dabei werden die Neunen aus dem Spiel genommen und jeder Spieler erhält nur 10 Karten (beim Geben werden erst 3, dann 4 und dann wieder 3 Karten ausgeteilt). Entsprechend besteht ein Spiel dann auch nur aus 10 Stichen. Das Spiel ohne Neunen ist die Variation, die den stärksten Einfluss auf Taktik und Strategie hat.
Das Entfernen der Neunen hat zur Folge, dass generell Farbstiche seltener herumgehen, also häufiger mit Trumpf gestochen wird. Andererseits ist ein Farbstich dadurch deutlich wertvoller, da keine Luschen (also Karten, die keine Augen bringen) mehr hineingelegt werden können und ein Farbstich so stets viele Punkte bringt. Ferner kann eine Farbe jetzt nur noch einmal herumgehen. Das Fehlen der Neunen der Farbe Karo wirkt sich kaum aus.
Herzdurchlauf
In Kombination mit Dullen ist das Herumgehen der Farbe Herz besonders unwahrscheinlich, da jeder Spieler genau eine der vier Karten dieser Farbe bekommen oder Fehlkarten abwerfen muss. Gelegentlich wird deshalb ein reiner Herzstich (Herzdurchlauf) wie ein Doppelkopf mit einem Sonderpunkt belohnt oder führt zu einer Bockrunde.
An- und Absagen sind nun natürlich mit 2 Karten weniger möglich, wenn die Variante der Turnierspielregeln verwendet wird. Im Extremfall kann so bei einer Hochzeit mit Klärung im dritten Stich die Erwiderung auf ein schwarz mit lediglich 2 Karten auf der Hand erfolgen.
Spiel mit zwei Neunen
Dabei bleiben die beiden Herzneunen im Spiel. Die Karten werden wie beim Skat gegeben (3-4-3). Nach den ersten drei Karten werden zwei Karten in einen Stock in die Tischmitte gelegt. Nun können die Spieler miteinander wie beim Skat um den Stock reizen. Dabei gelten die üblichen Ansagen (keine 120, keine 90, keine 60, keine 30, schwarz das jeweils mit der Möglichkeit des Hand-Spiels, also ohne die Karten aufzunehmen). Der Gewinner hat zunächst anzusagen, ob er ein Solo spielt. Danach darf er die Karten aufnehmen und austauschen. Bevor er weiterspielt muss er zwei Karten wieder zurücklegen, die bei der Endauswertung für ihn zählen. Schließlich muss er noch ansagen, ob er Re oder Kontra spielt. Danach wird wie oben gespielt mit dem Unterschied, dass wenn man mit den Dullen spielt, auch hier sechs Herz-Fehlfarben vorhanden sind.
Karlchen fangen
Wird der Kreuz-Bube (Karlchen) im letzten Stich von der Gegenpartei überstochen, erhält diese einen Sonderpunkt. In manchen Variationen berechtigt allerdings nur das Stechen mit der Karo-Dame zum Aufschreiben des Sonderpunkts.
Schmeißen
In bestimmten Fällen ist es möglich, das Spiel einmischen zu lassen. Dies wird auch als schmeißen oder werfen bezeichnet. Das Spiel braucht in diesem Fall nicht geführt zu werden und es kann stattdessen verlangt werden, dass der Geber die Karten neu ausgibt. Dies gilt in einer häufigen Variante regelmäßig nicht für Solospiele. Daher wird das Einmischen in dieser Variante als Vorbehalt angemeldet (nach evtl. Solomeldungen).
Häufig sind folgende Varianten, die beliebig kombiniert werden können. Nach diesen kann ein Spieler einmischen lassen,
wenn er fünf Neunen (oder im Spiel ohne Neunen fünf Könige) auf der Hand hat,
wenn er vier Neunen und vier Könige auf der Hand hat,
wenn er vier Neunen aller vier Farben (oder im Spiel ohne Neunen vier Könige aller vier Farben) auf der Hand hat,
wenn er sieben Volle, also sieben Karten mit zehn oder mehr Augen besitzt oder
wenn er nur Trümpfe besitzt, die kleiner oder gleich dem Karo Buben sind (alternativ nur kleiner oder gleich dem Karo Ass).
wenn er nur zwei Trümpfe oder weniger besitzt.
In allen Fällen zeigt der werfende Spieler den anderen Spielern seine Karten und es wird neu eingemischt.
Wiederholung eines Spiels
Eine regional anzutreffende Variante besagt, dass ein Spiel wiederholt werden muss, wenn nach Verrechnung der Punkte (mit Sonderpunkten) die Siegespartei 1 oder weniger beziehungsweise 0 oder weniger Punkte erhält. Das Spiel wird nicht notiert und der Geber muss noch einmal austeilen.
Armut
Armut (auch verkaufen, schieben, pinkeln, Krankheit oder Trumpfabgabe genannt) liegt vor, wenn ein oder zwei Spieler nur drei oder weniger Trümpfe besitzen. Manchmal sind noch weitere zusätzliche Trümpfe (zum Beispiel die Karo-Asse) erlaubt. In diesem Fall können die Betroffenen fragen, ob sie ein jeweils anderer Spieler mitnehmen möchte. Dies gilt in einer häufigen Variante regelmäßig nur für Normalspiele. Daher wird Armut in dieser Variante als Vorbehalt angemeldet (nach evtl. Solomeldungen und evtl. Einmischen, aber vor Hochzeit). Teilweise wird das Zusammentreffen von "Armut" und "Hochzeit" zum Anlass für das Schmeißen gerechnet.
Wird ein betroffener Spieler nicht mitgenommen, so wird eingemischt. Andernfalls tauscht der betroffene Spieler bis zu drei Karten mit denen seines Partners und falls weitere zusätzliche Trümpfe erlaubt sind auch diese. Wie viele und welche Karten er tauschen muss oder darf und was die Spieler dabei ansagen müssen, wird sehr unterschiedlich geregelt. Häufig muss die Anzahl der getauschten Trümpfe angesagt werden, und falls der Mitnehmende Trümpfe zurückgeben muss (da er nicht genügend Fehlfarben hält), so dürfen dies in der Regel nur die niedrigsten Trümpfe sein. Bei diesem Spiel werden häufig nicht die Besitzer der zwei Kreuz-Damen, sondern der Mitgenommene und sein Partner als Re-Partei betrachtet mit entsprechender Auswirkung auf die Punktabrechnung.
Im Wesentlichen gibt es zwei konkurrierende Varianten dieser Spielart.
Der Mitnehmende muss der Partner sein.
Die Karten werden im Uhrzeigersinn jedem Spieler angeboten. Der Besitz der Alten spielt hier keine Rolle. In der strengen Version dieser Spielart muss ggf. der letzte Spieler den Spieler mit der Armut mitnehmen.
Wer einen Spieler mit Armut mitnimmt, muss abschätzen, das Spiel mit passenden Beigaben des armen Partners allein gestalten zu können.
Zweite Dulle sticht die erste Dulle
Eine weitere Variante ist das Fangen der Dullen. Dabei wird häufig vereinbart, dass die zweite Dulle die erste stechen kann, das heißt in diesem Fall erhält der Spieler den Stich, der die zweite Dulle gelegt hat. Damit fängt er natürlich auch die zuerst gelegte. Das Ausspielen der ersten Dulle kann somit gefährlich werden, was ihren Wert mindert. Eine weitere Variante besteht darin, diese Regel im letzten Stich außer Kraft zu setzen.
Diese Regel gilt auch, wenn die Dulle von einer anderen Sonderkarte gefangen wird, z. B. von einem doppelten Fuchs ("Schwein").
Diese Regel gilt nicht im Fall eines Solos.
Für das Fangen der Dulle werden manchmal bis zu zwei Sonderpunkte vergeben.
Fuchs macht letzten Stich (Fuchs am End)
In manchen Varianten wird auch ein Sonderpunkt (oder zwei) vergeben, wenn der Fuchs den letzten Stich macht. Zuweilen wird dies Fuchs im Letzten, Fuchs am Pinn oder Fuchs am End genannt.
Schweine
Findet ein Spieler bei einem Normalspiel beide Karo-Asse in seinem Blatt, so werden je nach Regel ein oder beide Karo-Asse zum höchsten Trumpf. Diese werden dann Schwein, Schweinchen oder Sau genannt. Es gibt viele Varianten dieser Spielart. So können beide Karo-Asse Schweine sein und der Spieler, der sie besitzt, muss dies, je nach Variante, beim Nennen der Vorbehalte oder vor dem Ausspielen des ersten Karo-Ass ansagen. Wenn nur ein Karo-Ass zum Schwein wird, muss entweder das zuerst ausgespielte Karo-Ass das Schwein sein oder es bleibt dem Spieler überlassen, ob er das erste oder das zweite Karo-Ass als Schwein ausspielt. Eine Variante besteht darin, dass das zweite Karo-Ass nur dann zum Schwein wird, wenn das erste einen regulären Stich gemacht hat.
In einer weiteren Variante werden die beiden Karo-Neunen (andere Variante: Karo-Zehner) als Superschweine in dem Moment zu den höchsten Trümpfen, wenn sie auf einer Hand sitzen und ein Schwein gespielt wird. Ohne Schweine sind die Karo-Neunen die niedrigsten Trümpfe. Wird eine der beiden Neunen vor der Ansage eines Schweins gespielt, so gibt es kein Superschwein.
Gans
Eine weitere regionale Spielvariante ist das Spiel mit Gans. Diese Variante unterstreicht die Praxis „niemals unterm Fuchs stechen“. Wird ein Stich mit einer Gans (Karo König) von einem Fuchs (Karo Ass) gewonnen, fängt der Fuchs die Gans. Gehören die Spieler von Gans und Fuchs zu verschiedenen Parteien, erhält die Partei die die Gans gefangen hat am Ende der Stichrunde einen Sonderpunkt.
Diese Regel tritt nicht oft in Kraft, trägt allerdings erstaunlich viel zur allgemeinen Erheiterung und Spielfreude bei.
Weitere Solovarianten
Reines Farbsolo
In Konkurrenz zum Farbsolo nach den Turnierspielregeln gibt es noch die vier Varianten eines Farbsolo in Kreuz, Pik, Herz und Karo, bei denen wie beim Assesolo alle Karten bis auf die genannte Trumpffarbe Fehlfarben sind. Sowohl unter Trümpfen als auch unter den Fehlfarben ist die Rangfolge dann Ass, Zehn, König, Dame, Bube, Neun. Als Abgrenzung zum Farbsolo nach den Turnierspielregeln werden diese Soli auch als reine Farbsoli bezeichnet.
Königsolo
Das Königsolo funktioniert wie das Damensolo, mit dem Unterschied, dass hier nur die Könige Trumpf sind. Der König in der Fehlfarbrangfolge wird durch die Dame ersetzt.
Wie beim Damensolo gibt es beim Königsolo also 8 Trumpfkarten und 40 Fehlfarbenkarten.
Buben-Damen-Solo
Beim Buben-Damen-Solo, auch Damen-Buben-Solo, Damenbauernspiel, Hurenhaus oder Grand genannt, sind die Damen und Buben Trumpf, wobei die Damen wie beim Normalspiel Vorrang vor den Buben haben. Die Rangfolge ist hier jeweils wieder Kreuz, Pik, Herz, Karo. Die Fehlfarben haben die Rangfolge Ass, Zehn, König, Neun.
Eine Sonderform dieses Solos ist der Sokrates. Hier sind die Buben und Damen nacheinander Trumpf. Der Solospieler entscheidet mit dem Aufspiel, ob zunächst die Damen oder die Buben Trumpf sind. Nach dem sechsten Stich erfolgt dann der Wechsel. Während der Trumpfphase z. B. der Damen gelten die Buben als „normale“ Fehlfarben. Dies bedeutet, dass man einen Buben ggf. als Fehlfarbe bedienen muss, wenn der Solospieler die entsprechende Farbe fordert. Als Grundregel gilt, dass man mindestens die zwei Kreuzdamen bzw. Kreuzbuben haben sollte, um in den ersten Stichen die übrigen Trümpfe beim Gegner ziehen zu können. Des Weiteren sollte man bis zum siebten Stich am Aufspiel bleiben, damit man selbst nach dem Trumpfwechsel die siebte Karte aufspielen kann. Der Sokrates ist ein Solo, bei dem man immer wieder Überraschungen erlebt, da der Spielverlauf wegen des Trumpfwechsels sehr schwer vorherzusagen ist.
Köhler
Beim Köhler, auch K 1000, Iwan der Schreckliche oder Bilderbuch genannt, sind alle Bilder Trumpf, also die Könige, Damen und Buben, wobei die Könige die höchsten Trümpfe und die Buben die niedrigsten Trümpfe sind.
Weitere Varianten
Weitere, noch seltener gespielte Varianten kombinieren die Buben mit Königen („Mönchskloster“) oder die Könige mit den Damen („Edelpuff“) zu Trumpf. Ebenfalls gibt es ein Zehnen-Solo, bei dem nur die Zehnen Trumpf sind. Gut spielbar sind auch Varianten mit 4 Trümpfen. Z.B. Pik-Damen und Pik-Buben ("Pauli") oder Karo-Buben und Karo-Könige ("Landadel").
Überstich
Wird vom aufspielenden Spieler Trumpf gefordert, muss der nächste Spieler (falls er einen höheren Trumpf auf der Hand hat) unbedingt einen höheren Trumpf ausspielen. Der folgende Spieler muss ebenso verfahren. Wird eine Fehlfarbe gestochen, muss ein weiterer Spieler, falls er die Fehlfarbe nicht bedienen kann und keine andere Fehlfarbe abwerfen will oder kann, unbedingt über den Trumpf gehen (natürlich nur, wenn er einen höheren Trumpf besitzt).
Alternative An- und Absagen
Es gibt verschiedene Alternativen zu den Turnierspielregeln bezüglich der An- und Absagezeitpunkte. Eine Möglichkeit besteht darin, die Zeitpunkte statt nach der Anzahl der Karten auf der Hand des an- oder absagenden Spielers nach der Anzahl der bereits gespielten Stiche beziehungsweise Karten zu beschränken. Andere Varianten erlauben Ansagen nur, bevor der erste Stich angespielt oder bevor der erste Stich herumgegangen ist.
Ebenfalls denkbar ist das Verbot einer Absage, wenn die Gegenpartei bereits eine Absage getätigt hat. Dies stellt sicher, dass es immer einen Gewinner gibt. In diesem Fall sollte eine An- oder Absage aber nur dem Spieler gestattet sein, der die nächste Karte des Stiches ausspielen muss, um gleichzeitige Ansagen zu vermeiden.
Die Unterteilung in Stufen von je 30 Augen ist eigentlich nur eine Erweiterung gegenüber dem einfachen Schneider und schwarz, wie es vom Schafkopf oder Skat bekannt ist. Dort gibt es insgesamt nur 120 Augen, weshalb dort auch eine Unterteilung in Stufen von 30 Augen vorliegt. Wird beim Doppelkopf nur mit Schneider und schwarz gespielt, so werden Stufen von 60 Augen verwendet. Eine Ansage von Schneider entspricht hier also der Absage keine 60. Die Absagen keine 90 und keine 30 sind dann nicht möglich. Die Spielauswertung muss dann natürlich auch entsprechend angepasst werden (siehe unten).
Eine Variation besteht darin, die Ansagen nicht durch Kontra und Re vorzunehmen, sondern durch klopfen. Dies führt dazu, dass zwar der Spielwert erhöht wird, aber keine Informationen über die Parteizugehörigkeit preisgegeben wird.
Alternative Spielauswertung
Die Gewinnkriterien entsprechen meist denen der Turnierspielregeln. Eine leichte Variationsmöglichkeit besteht darin, von der Re-Partei auch dann 121 Augen zum Gewinn zu verlangen, wenn nur die Kontra-Partei ein Kontra angesagt hat. Wird nur mit Schneider und schwarz gespielt (siehe oben), so fallen lediglich die Gewinnkriterien für keine 90 und keine 30 weg.
Bei der Spielwertung gibt es hingegen unzählige Alternativen. Im einfachsten Fall werden die Gewinnpunkte einfach addiert, wobei sie ggf. noch mit einem festen Vorfaktor multipliziert werden.(zum Beispiel 5 oder 10). Auf das Spiel selbst hat dies natürlich keinen Einfluss, ist aber sinnvoll, wenn um Geld (zum Beispiel Cent-Beträge) gespielt wird. Alternativ werden für die gewinnende Partei Pluspunkte und für die verlierende Partei Minuspunkte aufgeschrieben. Beim Solospiel erhält dann der Solospieler den dreifachen Punktwert. Dies hat den Vorteil, dass die Quersumme der Punkte aller Mitspieler immer Null ergibt. Falls dies nicht mehr der Fall ist kann (besonders am fortgeschrittenen Abend) der Fehler schnell gefunden werden.
Wird nur mit Absagen Schneider und schwarz gespielt, so fallen die entsprechenden Zusatzpunkte für keine 90 und keine 30 einfach weg. Bei abgesagtem Schneider wird dann erst ein Zusatzpunkt für die Gegenpartei gegeben, wenn sie trotzdem über 120 Augen erreicht.
Eine häufige Variante ist es, die Punkte nicht zu summieren, sondern zu verdoppeln. Ausgenommen davon sind dann meist Sonderpunkte für Karlchen, gefangene Füchse oder gefangene Dullen, oft aber auch für Doppelköpfe, die am Ende der Spielauswertung dazu addiert werden. Bei Doppelköpfen wird manchmal aber auch verdoppelt, wobei dies immer der Gewinnerpartei nützt, unabhängig davon, ob sie den Doppelkopf gewonnen hat oder nicht. Oft gelten Doppelköpfe auch bei Soli. Karlchen, gefangene Füchse oder Dullen können auch bei bestimmten Solovarianten gelten gelassen werden, die dem Normalspiel ähneln.
Erreichen beide Parteien 120 Augen (meist analog zum Skat gespaltener Arsch, manchmal auch geteilter Arsch oder Spaltarsch genannt), so wird oft vier Spiele in Folge der Spielwert (ohne Sonderpunkte) verdoppelt. Diese Spiele werden auch als Bockrunde bezeichnet. Bockrunden können auch gespielt werden, wenn ein angesagtes Re oder Kontra verloren wird oder wenn ein Spiel null Punkte zählt. Mehrere Böcke können dann aneinander angeschlossen werden, oder sie werden parallel laufengelassen. Letzteres bedeutet, dass bei k parallelen Böcken der Spielwert mit 2k multipliziert wird. Daneben gibt es weitere vielfältige Regeln, die Bockrunden bei bestimmten Ereignissen implizieren.
Rangfolge der Vorbehalte
Die Rangfolge der Vorbehalte in privaten Runden ist meist komplizierter als die der Turnierspielregeln, da einige Sonderregeln, die nicht Standard sind, als Vorbehalt angemeldet werden können.
Eine gängige Hierarchie ist etwa: Pflichtsolo, Lustsolo, Schmeißen, Armut, Hochzeit. Bei Anwendung der entsprechenden Regel könnte also ein Spieler mit z. B. fünf Luschen auch dann schmeißen, wenn eine Hochzeit angemeldet wurde (nicht jedoch gegen ein Solo).
Gelegentlich werden auch die Soli in eine Rangfolge gebracht, sodass bei mehreren Pflicht- oder Lustsoli diese Rangfolge relevant ist anstelle der Sitzreihenfolge. Eine gebräuchliche Rangfolge hierfür ist: Trumpfsolo (Farbsolo Karo), Damensolo, Bubensolo, andere Farbsoli, Fleischloser.
Variante für sechs Spieler
Eine in Mitteldeutschland bekannte Variante für sechs Spieler ist das sogenannte „Wildwechsel“. Anders als beim üblichen Doppelkopf werden hier die 48 Karten an sechs Spieler verteilt. Zusätzlich zu den bekannten Parteien ergibt sich eine dritte Partei, die sogenannten Hirsche, welche die Spieler bilden, die die beiden Herz Damen auf der Hand halten. Sollte es passieren, dass es Überschneidungen der Parteien gibt (sollten einer oder beide Hirschspieler auch Kreuz-Damen aufweisen), so ergibt sich die Situation, dass die Runde nicht im üblichen 2 gegen zwei gegen zwei-Modus aufgetragen wird, sondern sich die Parteien der Kreuz- und Herz-Damen vereinigen und somit ein zwei gegen vier- oder drei gegen drei-Spiel stattfindet.
Die üblichen Regeln sind wie bei dem klassischen Doppelkopf, ebenfalls Sonderpunkte. Die einzige Ausnahme bildet die Gewinnpunktzahl. Gewonnen hat hierbei die Partei, die am meisten Punkte erringen konnte. Dies ist bei 120 erworbenen Punkten im klassischen Wildwechsel gegeben, kann jedoch schon bei 81 Punkten erfolgen. Bei einem Unentschieden gewinnt auch hierbei die Kontrapartei.
Taktik und Spielverlauf
Taktik und Spielverlauf hängen von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen ist hier das verwendete Regelwerk zu nennen. Vor allem das Spiel ohne Neunen verlangt eine starke Modifikation der Spielweise.
Zu den taktischen Grundlagen für die Phase nach der Parteienfindung zählt vor allem die Wippe beziehungsweise klassische Hoch-Tiefbauweise (einer niedrig, der andere hoch). Dabei spielen die Partner abwechselnd niedrige Trumpf oder Fehl an und der jeweils andere nimmt den Stich mit einem seiner hohen (so hoch wie nötig) Trumpf mit. Die Wippe beruht auf der empirischen Annahme, dass bei einem Spiel die beiden potentiellen Partner sowohl niedrige als auch hohe Trümpfe besitzen und es ineffektiv wäre, wenn jeweils die niedrigen und hohen Trümpfe zusammen in einem Stich fielen. Es soll also die Zahl der stichwirksamen Trümpfe maximiert werden. Ob die Wippe eine brauchbare Taktik ist, hängt sehr stark vom Spielverlauf, der Kartenauswahl und diesbezüglich auch der Sitzkonstellation der Partner ab.
Daneben beeinflusst vor allem auch die Spielstärke der einzelnen Spieler das Spielgeschehen. Anfänger sind zumeist nur bemüht, regelkonform zu spielen. Später besteht der Drang, innerhalb eines Spieles auch selbst die Initiative zu übernehmen und nicht nur zu reagieren. An- und Absagen werden aber meist nur mit besonders guten Karten auf der Hand gemacht, weil noch die Sicherheit fehlt den Spielverlauf einzuschätzen. Gute Spieler achten verstärkt darauf, durch An- und Absagen die Erwartungswerte der Gewinnpunkte gezielt zu erhöhen, um dadurch bessere Chancen auf den Gesamtsieg bei einer Doppelkopfrunde zu bekommen. Besonders gute Spieler lassen sich durch geschickte Wahl der An- und Absagezeitpunkte und Wartezeiten vor dem Ausspielen einer Karte (so genannte stille Abfrage) Informationen über ihr Blatt zukommen. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Essener System zu nennen. Hier wurden seitens professioneller Klubspieler die meisten informellen Konventionen zusammengefasst, verfeinert sowie ihre Bedeutung und Wirkungsweise erklärt. Ziel ist, dass sich auf diese Weise innerhalb der einzelnen Doppelkopf-Clubs eine breite und verlässliche Basis von Konventionen bildet.
Literatur
Altenburger Spielkartenfabrik, Herausgeber: Spielregelbüchlein, 1981, Seite 96–101.
Michael von Borstel: Das Geheimnis der Herz-Dame. Lehrbuch der Doppelkopf-Taktik. Shaker, Herzogenrath 2002, ISBN 3-83-220240-4.
Rita Danyliuk: Schafkopf und Doppelkopf. Humboldt, Baden-Baden 2004, ISBN 3-899-94023-7.
Bernhard Kopp: Gewinnen beim Doppelkopf. Rau, Düsseldorf 1988, ISBN 3-7919-0289-X. 3. Auflage: Books on Demand, 2002, ISBN 3831133204.
Peter Lincoln: Doppelkopf. Regeln und Strategien leicht erklärt. Urania, Stuttgart 2005, ISBN 3-33-201621-0.
Matthias Mala: Doppelkopf. Regeln, Taktik, Varianten. (rororo 8929) Rowohlt, Reinbek 1993, ISBN 3-499-18929-1. Neuausgabe: Books on Demand, Norderstedt 2005, ISBN 3-8334-2409-5.
Emilio Serra: Das Tübinger Doppelkopf-Regelwerk. Schöppe und Schwarzenbart, Tübingen/Hamburg 1991, ISBN 3-928111-00-0.
Weblinks
Doko-Verband – Verband der Doppelkopfspieler in Deutschland mit Vereinen und Ansprechpartnern
– Skript der Fachschaft Mathematik Mainz
Doppelkopf-Regeln (Memento vom 21. September 2017 im Internet Archive) – Lernanleitung „Doppelkopf zum Selbststudium“ von Hans-Uwe Scharnweber (Microsoft-Word-Datei, 189 kB)
Einseitige Doppelkopfregeln – Kurzregeln (mit 44 kB PDF zum Download)
Doppelkopf Wissensdatenbank – Sehr ausführliche Wissensdatenbank rund um das Doppelkopf Spiel
Konventionen im DDV Doppelkopf – Artikel und Foliensätze um Konventionen im Vereinsdoppelkopf zu erlernen
Kartenspiel mit traditionellem Blatt
Denksport
Stichspiel |
606890 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ahoi | Ahoi | Ahoi [] () ist ein Signalwort, um ein Schiff oder Boot anzurufen, und entstammt der deutschen Seemannssprache. Der Ruf galt als veraltet, ist aber mit zunehmender Beliebtheit des Segelsports wieder gebräuchlicher geworden. In Nebenbedeutungen dient ahoi als Gruß, Warnung oder Abschiedsformel. Im deutschen Brauchtum wird ahoi als regionaler Karnevals- beziehungsweise Fastnachtsgruß verwendet.
Ursprungswort ist das englische ahoy. Die maritime Bezeichnung kommt in ähnlicher Aussprache und Schreibung in mehreren Sprachen vor. Als Gruß ist ahoj in Tschechien und der Slowakei alltäglich. Im Telefonverkehr in den USA setzte sich das von Erfinder Alexander Graham Bell vorgeschlagene ahoy nicht gegen Thomas Alva Edisons hello durch.
Vorformen und Entstehung
„a, hoy, hoay“
Der Ausdruck ist aus den beiden Bestandteilen a und hoy zusammengewachsen. Die Partikel a wurde vorangestellt, um mehr Aufmerksamkeit hervorzurufen. Sie tritt „in ähnlichen Formen in verschiedenen indogermanischen Sprachen [auf], ohne dass unbedingt etymologische Verwandtschaft anzunehmen ist.“
Hoy geht auf einen gleichnamigen Ruf zurück, der in England gebräuchlich war, um Vieh anzutreiben. Der früheste bekannte Beleg stammt von William Langland, der um 1393 in seinem mittelenglischen Versepos Piers Plowman („Piers der Pflüger“) schrieb: „And holpen to erie þis half acre with ’hoy! troly! lolly!“, auf Deutsch sinngemäß: „Und half, diesen halben Acre mit Juchhe, Tirili und Tirila zu pflügen.“
Seeleute benutzten hoy in der Nebenform hoay. Der schottische Dichter William Falconer, Autor eines nautischen Wörterbuchs, schrieb 1769: „If the master intends to give any order to the people in the main-top, he calls, Main-top, hoay! To which they answer, Holloa!“, deutsch sinngemäß: „Wenn der Kapitän den Matrosen oben im Großmast Befehle zu geben beabsichtigt, ruft er: ‚Main-top, hoay!‘ Worauf sie antworten: ‚Holloa!‘“ Noch in zwei Fachwörterbüchern von 1805 wird wie bei Falconer als Ruf hoay, als Antwort holloa angeführt. Ahoy ist darin nicht erhalten.
Funktional mit hoy verwandt ist eine ähnlich lautende Gruppe von Ausrufen und Grüßen im germanischen Sprachraum: mittel- und neuenglisch hey, dessen Parallelform hi, deutsch und niederländisch hei, schwedisch hej, ferner die niederländische Grußform hoi und die gleichlautende alemannische Anrede. Die Vorformen des deutschen ahoi sind ah und hoi. Dabei verleiht ah einem Wunsch oder einer Aufforderung Nachdruck. hei und hoia haben aufmunternde Bedeutung.
Für die Ableitung des englischen Rufs ahoy vom an der Nordsee verbreiteten Schiffstyp Hoie, Heude (siehe unten) fehlen Nachweise. Die einfachste Ansicht über ahoi hat der deutsche Sprachforscher Gustav Goedel formuliert: „Man muss sich hüten, tiefere Bedeutungen suchen zu wollen, wo keine sind. Das Wort ist eine einfache Interjektion, weiter nichts, gebildet und gewählt von dem Bedürfnis weithin gehört zu werden.“
„ahiu, â hui“
Zwei Fundstellen in der mittelhochdeutschen Literatur zeigen ahoi-ähnliche Interjektionen. Ihre Formen weisen keine Verbindung zum mittelenglischen hoy auf, ihre Bedeutungen bieten wenig Anschluss an einen Ruf zur Kontaktaufnahme.
Heinrich von Freiberg verwendete um 1290 in seiner Tristan-Bearbeitung zwei Mal ahiu zur Begrüßung: „ahiu, Parmenois Tristan!“, etwa „ahiu, Tristan von Parmenien!“, sowie „ahiu, wie schône sie het sich ûz gefêgetieret“, neuhochdeutsch „ahiu, wie schön sie sich herausgeputzt hat“. Ahiu ist bedeutungsgleich mit den ebenfalls hier auftretenden Interjektionen ahiv, ahiw und hiu. Als Teil einer Wortgruppe mit ahî, ay und ahei, die Schmerz, Verlangen und Bewunderung ausdrückt, steht ahiu vor Ausrufe- und Wunschsätzen und in emphatischer Anrede.
Zwischen 1331 und 1341 formulierte Nikolaus von Jeroschin in seiner Kronike von Pruzinlant, der Chronik des Preussenlandes: „â hui! sô wêr ich hôchgemût / sô ich ir stirne sêhe blôz“, neuhochdeutsch etwa „ach, was wär’ ich frohen Muts, säh’ ich ihre Stirne nackt“. Ahui gehört mit aheia, ahi und ahu zu einer Gruppe von Ausdrücken hochgemuter Freude, Hochachtung und ähnlicher positiver Haltungen.
Verbreitung und Verwendung
Allgemeines
Seeleute benutzten das Wort sicherlich länger, als es gedruckt nachweisbar ist. Mündliche Quellen sind nur als Liedertexte erhalten. Zu handschriftlichen Belegen etwa in Aufzeichnungen oder Briefen von Seefahrern fehlen Untersuchungen. Druckwerke haben deshalb hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Verbreitung der Ahoy-Wortfamilie nur begrenzte Aussagekraft.
Das englische ahoy stellt die Ursprungsform dar und ist, in maritimer Verwendung zuerst für 1751 nachgewiesen, als Wort der Seemannssprache recht jung. Der früheste Beleg für das deutsche ahoi stammt von 1828. Im Nord- und Ostseeraum ist die Gruppe um ahoy dicht belegt. Semantisch drückt sie eine Distanzänderung aus oder setzt sie voraus. Im ganzen Verbreitungsgebiet als Interjektion benutzt, kommen in einzelnen Sprachen außerdem Verwendungen als Verb (z. B. englisch „to ahoy“, deutsch „ahoi sagen“) und als Substantiv (z. B. schwedisch „ohoj“, deutsch „das Ahoi“) vor. Nicht erforscht ist, wie sich das Wort in Hafenstädten und auf Schiffen mit internationaler Besatzung ausgebreitet hat, insbesondere wie ähnlich lautende Interjektionen in einer Nachbarsprache die Übernahme dorthin behindert oder begünstigt haben.
Im Deutschen wird der Adressat vor- oder nachgestellt, z. B. „‚Pfeil‘ ahoi!“ oder „Ahoi ‚Pfeil‘!“ Im schriftlichen Deutsch steht zwischen Anruf und Angerufenem kein Komma. In anderen Sprachen ist dies uneinheitlich.
Englisch
Frühe Belege
Als frühester englischer Beleg gilt ein Ausruf in Tobias Smolletts The Adventures of Peregrine Pickle (1751): „Ho! the house a hoy!“, deutsch zeitgenössisch mit „Holla, he da, Wirtshaus!“ übersetzt. Der Rufer war Seemann. Eine frühe fachsprachliche Erwähnung stammt aus William Falconers Marine-Wörterbuch von 1780: „The usual expression is, Hoa, the ship ahoay!“, deutsch: Der übliche Ausdruck ist: „Hoa, Schiff ahoi!“ Die Erstausgabe des Wörterbuchs hatte 1769 noch die Vorform hoay genannt.
In den 1780er Jahren wurde ahoy in London bereits auf der Bühne als Kolorit für maritime Themen eingesetzt und erreichte damit ein breiteres Publikum. In der Komödie The Walloons, deutsch: Die Wallonen, 1782 vom Dramatiker Richard Cumberland inszeniert, leitete der Ruf eine Anrede ein: „Ahoy! you Bumboat, bring yourself this way“, deutsch etwa: „Ahoi! Du Bumboot, komm einmal her.“ Der Text wurde 1813 posthum veröffentlicht.
In einer anderen, ebenfalls später belegten frühen Quelle drückte ahoy ein Heranrufen aus. Im Text eines Shantys, eines Arbeitsliedes der Matrosen, war ahoy wahrscheinlich 1789 öffentlich zu hören, als der englische Komponist und Schriftsteller Charles Dibdin (1745–1814) sein Varieté-Programm The Oddities in London aufführte. Es enthielt sein Lied Ben Backstay über einen Bootsmann mit der Beschreibung: „And none as he so merrily / Could pipe all hands ahoy“, deutsch sinngemäß: „Und niemand sonst konnte so fröhlich alle Matrosen an die Arbeit pfeifen.“ Gedruckt erschien der Text erst 1826.
Konsolidierung
Im Wörterbuch von Samuel Johnson, Ausgabe von 1799, fehlt ahoy (gesprochen ) noch, wurde aber in der Ausgabe von 1824 als „fast so wichtig wie holla“ bezeichnet und mit dem Zitat von Cumberland 1813 belegt. Der erste Eintrag in dieses weit verbreitete Nachschlagewerk kann als Aufnahme in den etablierten Wortschatz des Englischen gelten. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann das Wort in viele Nachbarsprachen abzustrahlen. Eine Spekulation von 1835 über die Herkunft aus französisch oyez, deutsch „hört!“ bedeutet eine frühe philologische Beschäftigung mit dem Wort.
Schon zuvor trat es in metaphorischem Zusammenhang auf. In der US-amerikanischen Handelsstadt Philadelphia begann 1819 ein Prediger, eine Seemannskirche aufzubauen. Seinen Memoiren zufolge grüßten ihn die Matrosen mit „Schiff ahoi“ und fragten, wohin die Fahrt gehe. Der Prediger antwortete: „Zum Hafen von Neu-Jerusalem. Wir segeln unter dem Admiral Jesus, einem guten Kommandanten. Wir brauchen Männer.“ Wie bei einem Heuergespräch sagten die Matrosen: „Nun, wir kommen herein und hören uns Eure Bedingungen an.“
Die Nebenform ohoy
Als Synonym für ahoy ist die Nebenform ohoy früh bezeugt. In einer Anekdote, abgedruckt 1791, lautete der ironische Gruß eines Kapitäns, der seinen neu eingekleideten und nun wie ein stämmiges Romney-Schaf aussehenden Bootsmann im Theater traf: „Ohoa, the boatswain, the Romney, Ohoy!“ Der antwortete „Holloa“ und verschwand. Der schottische Dichter Thomas Campbell veröffentlichte 1821 ein Spottgedicht, in dem ein Reiter rief: „Murderer, stop, ohoy, oh!“ 1836 schrieb der schottische Romancier Allan Cunningham: „Ohoy, Johnnie Martin! Ohoy, Tom Dempster! be busy my merry lads, and take me on board“, deutsch etwa: „… eilt euch, gute Kerls, und nehmt mich an Bord.“
Die Form „ohoy“ wurde in mehrere nordische Sprachen entlehnt. Deren Wörterbücher geben englisch ohoy als einziges Ausgangswort, als erstes vor ahoy oder als zweite nach ahoy an.
Deutsch, Verbreitung
Forschung
Der Ausdruck blieb deutschen Lesern bis in die 1840er Jahre weitgehend unbekannt, weil ihn Übersetzer der ihrerzeit beliebten Seemannsliteratur oftmals vermieden. 1843 lautete die deutsche Übersetzung für das Wort å-hoj in einem schwedischen Roman noch „hiaho“. 1847 wurde das englische ahoy mit „holla!“ und die Wendungen all hands ahoy!, all hands (a-)hoay! mit „Alles auf’s Verdeck! Überall! Überall!“ ins Deutsche übersetzt.
Die frühesten Belege in deutscher Sprache stammen nicht aus seemännischen Sachtexten, sondern sind der maritimen Prosa entnommen. Die Umstände bezeugen anfangs noch Unsicherheiten in der Anwendung des Wortes. Seit Ende der 1820er Jahre ist ahoy und ahoi mit dem Auslaut -i, der die Eindeutschung von ahoy kennzeichnet, in Übersetzungen englischer Romane und Erzählungen nachweisbar. Fast zeitgleich setzt auch die Nutzung in deutschsprachigen Originaltexten ein, wenn auch zunächst selten. Ab Mitte der 1840er Jahre verwendeten es mehrere viel gelesene Autoren, so dass ahoi um 1850 als festgesetzt gelten kann.
Wörterbucheinträge blieben im 19. Jahrhundert selten. Im Urduden von 1880 ist es nicht aufgenommen. Das Deutsche Wörterbuch (DWB) der Brüder Grimm kannte das Wort noch nicht; der erste Bogen mit Einträgen bis zum Stichwort allverein erschien 1852. Die zweite Auflage des DWB von 1998 nennt als früheste Belegjahre 1846 und 1848. Auch die Zettelkartei für das Wörterbuch, in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt, enthält keine früheren Nennungen. Das Standardwerk Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge führt ahoi erst seit der Ausgabe von 1999 mit eigenem Stichwort an.
Das automatische Durchsuchen digitalisierter Bücher im Internet und in Offline-Datenbanken nach passenden Stichwörtern führt nur zu wenigen brauchbaren Ergebnissen. Die deutsche Unterhaltungsliteratur war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so schlecht gedruckt, dass auch gute Erkennungssoftware heute noch eine große Zahl von Lesefehlern produziert, so dass Belege nicht gefunden werden. Katalogrecherche ist bei systematischer Suche weiterhin unumgänglich.
Frühe Belege in Übersetzungen
Die früheste bislang feststellbare Verwendung des Wortes ahoi datiert von 1828. Im Jahr 1827 hatte der US-amerikanische Erzähler James Fenimore Cooper seinen Piratenroman The Red Rover veröffentlicht. Schon im Folgejahr erschien Der rothe Freibeuter in Frankfurt am Main. Der Übersetzer Karl Meurer hat zwar nicht alle Nennungen wörtlich genommen. So wurde aus dem Befehl „All hands make sail, ahoy!“ ein „Alle zu Hauf! Die Segel hißt!“, an anderer Stelle geriet ahoy zu aho, vielleicht eine Unaufmerksamkeit. Aber Meurer übersetzte auch genau: Aus „All hands to mischief, ahoy!“, der Genehmigung für ein Bordvergnügen, entstand „Alle zu Hauf! zu Possen, ahoi!“ Die Wendung „Good humour, ahoy!“ übersetzte Meurer mit „Bei den Possen gehalten, ahoi!“
In einer Erzählung, der ein Schiff namens Water Witch (deutsch „Wassernixe“) ihren Titel gab, gebrauchte Cooper 1830 fünf Mal das ahoy-Wort. Noch im selben Jahr erschien eine Übersetzung von Gottfried Friedenberg, der vier Mal ahoi wählte. Nur beim ersten Auftreten von ahoy im Text rutschte Friedenberg noch die originale Schreibung durch. Möglicherweise war ihm 1830 das deutsche Wort noch recht neu. In späteren Auflagen wurde der Fehler korrigiert. Friedrich Knickerbocker, der 1831 die zweite Übersetzung veröffentlichte, überging oder umschrieb ahoy auch falsch mit „Holüber!“
Das von ihm einmal eingesetzte „Wer da“ war nicht neu. 1824 und 1827 erschienen deutsche Ausgaben von Coopers Roman The pilot, in denen ahoi durch die ähnlichen Anrufungen „Wer da!“, „Wer da?“, „heda“ oder „He! He!“ übersetzt waren. Erst 1842 erhielt Der Lotse durch eine weitere Übersetzung von Eduard Mauch eine interjektivische Vereinheitlichung, allerdings mit vier Mal ahoy und einem Mal ahoi.
Mit ahoy als Fremdwort belässt es 1835 und 1836 auch der ungenannte Übersetzer der zweibändigen Erzählung Trelawney’s Abentheuer in Ostindien, die der Seemann und spätere Schriftsteller Edward John Trelawny 1832 veröffentlicht hatte.
1837 erschien in dänischer und vom Autor Carl Bernhard selbst übersetzter deutscher Fassung die Novelle Lykkens Yndling/Das Glückskind. Bernhard war das Pseudonym des dänischen Romanciers Andreas Nikolai de Saint-Aubain. Mit der Wendung „Ahoi, ein Segler!“ für „Ahoi, en Sejler!“ liegt hier der wohl früheste Import aus einer skandinavischen Sprache vor.
Frühe Belege in deutschen Originaltexten
Für 1829 ist die Verwendung von ahoi in einem deutschen Originaltext belegt. In ihrer Erzählung Die Armenierin setzte die sächsische Schriftstellerin Wilhelmine von Gersdorff das Wort mehrmals in fachkundigem Kontext als Anrufung ein, aber auch zur Anfeuerung. Unter dem Pseudonym F. P. E. Richter übersetzte die Autorin aus dem Englischen.
Der Österreicher Charles Sealsfield benutzte zunächst die Ausgangsform ahoy. Sealsfield, der mit bürgerlichem Namen Carl Anton Postl hieß, lebte zeitweilig in New Orleans und hatte viel Kontakt mit Seeleuten. In seinem 1835 in Zürich erstveröffentlichten Roman Morton oder die große Tour lässt er eine erregte Menge am Piccadilly Circus in London „Gare! Gare! take care! Hallo ho! A hoy!“ rufen; so auch in Ausgaben von 1844 und 1846. Im Apparat eines Nachdrucks wird zwar zutreffend „Gare“ zu „Care“, deutsch „Vorsicht“, korrigiert, aber fälschlich angegeben, in allen drei Ausgaben habe die Menge „Gare! Gare! take care! Hallo ho! Ahoi!“ gerufen. Korrekt ist die englische Schreibung in der damals durchaus üblichen getrennten Variante.
In Sealsfields Roman Pflanzerleben, Zürich 1836, lautet ein Befehl, als hoher Besuch eintrifft: „Ahoi! Ahoi! (…) Hört ihr nicht? die Pferde dem Herrn Grafen abnehmen.“ Das Buch erschien 1844 in den USA in englischer Übersetzung. In ihr behielt das ahoi seine deutsche Form. Auch in Sealsfields letztem Roman, Süden und Norden von 1843, verwendet er den englischen Ruf noch einmal in getrennter Schreibung: „Sail a hoy – an ennemys sail!“ Die selbst am Fuß der Seite vermerkte Übersetzung lautet: „Kapitän, ein fremdes (feindliches) Segel.“
Im Jahr 1838 ließ der Schriftsteller Ernst Willkomm seinen Lotsen Jans mit Donnerstimme „Schiff ahoi!“ von den Helgoländer Klippen herabrufen. Die Zeitung für die elegante Welt, in der Willkomms Lootsenerzählungen zuerst erschienen, verdruckte den Ruf zu „Schiff ahni!“, in der Buchausgabe von 1842 korrigiert. Offenbar ohne die Bedeutung des Wortes zu kennen, zitiert im gleichen Jahrgang 1838 der Zeitung für die elegante Welt ein ungenannter Verfasser in der Erzählung Johann Pol. Ein Lebensbild auf den Antillen einige Matrosen, die beim Beladen eines Schiffes „ihr eintöniges Ahoi, ohe! sangen, welches die Seeleute aller Völker und Erdtheile anstimmen, wenn sie arbeiten.“
Von 1844 datiert der Schwank Politik an einer Wirthstafel von Friedrich Giehne, bei der die Bedienung eines Wirtshauses mit „Kellner! Ahoi!!“ gerufen wurde. Das Buch, in dem Giehnes Text erschien, versammelt meist Nachdrucke von Texten aus den Jahren 1836 bis 1843, doch ist dem Vorwort nicht zu entnehmen, wann Politik an einer Wirthstafel erstmals erschien und ob der Text überhaupt ein Nachdruck ist. Erstaunlich ist der „Landgang“ der Interjektion. Er erinnert an die Verwendung in Smolletts Roman The Adventures of Peregrine Pickle von 1751: „Ho! the house a hoy!“ ruft dort Commodore Trunnion. Verdeutscht wurde er etwas später, 1789, als „Holla, he da, Wirtshaus!“, ähnlich auch 1827 und 1841. Ein Zusammenhang von Smollett und Giehne ist dennoch vorstellbar. Giehne könne Smollett in Georg Nikolaus Bärmanns Übersetzung von 1840 gelesen haben, in der Trunnion ausruft: „Halloh, Wirtshaus, ahoi!“
Der Schriftsteller Heinrich Smidt verwendete ahoi 1844 in einem Teilvorabdruck seines 1846 in Buchform erschienenen Romans Michael de Ruiter. Bilder aus Holland’s Marine im Magazin für die Literatur des Auslandes, dessen Redakteur er war. Ebenfalls 1844 kam ahoi in seiner Erzählung Hexen-Bootsmann vor. In heute digitalisiert vorliegenden Büchern, die Smidt zwischen 1837 und 1842 veröffentlichte, hat er ahoi nicht verwendet, gebrauchte es aber dann stetig von 1844 bis zu seinem letzten Roman, der 1866 erschien. Das Wort dürfte also um 1843 in Smidts Wortschatz eingedrungen sein.
Friedrich Gerstäcker gehörte im 19. Jahrhundert zu den erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Autoren von Abenteuerromanen. Ebenso wie bei Smidt ab 1844 trat bei Gerstäcker, der viel aus dem Englischen übersetzte, ab 1847 ahoi schlagartig auf. „Ahoi – ho – ahoi! meine braven Burschen“, heißt es in den Mississippi-Bildern. 1848 folgt in den Flusspiraten des Mississippi der Satz: „Boot ahoi! schrie da plötzlich der gebundene Steuermann“.
Die Nebenform ohoi
Vereinzelt ist die Nebenform ohoi nachweisbar. 1846 schrieb die schwedische Autorin Emilie Flygare-Carlén in einem Roman: „,Båt, ohoj – hvarifrån, hvathän?‘“ „,Boot, ohoi – woher, wohin?‘“ übersetzte Gottlieb von Rosen die Stelle in der deutschen Ausgabe Der Einsiedler auf der Johannis-Klippe von 1847. In der Novellen-Zeitung vom 18. August 1847 verwendete ein Autor in der Kurzgeschichte Ein Contrast das Wort ohoi, 1867 auch der Schriftsteller Friedrich Spielhagen im Roman Hammer und Amboß.
Nachträgliche Einfügungen
Die zunehmende Popularität von ahoi ist auch daran zu erkennen, das es im Nachhinein in Werke eingefügt wurde. Karl Meurer übertrug 1828 die Liedzeile „The cry’s: A sail! a sail!“ aus Coopers Red Rover mit „Ein Segel! Ein Segel! hoho“. 1841 machte Gottfried Friedenberg daraus „Ein Segel dort! ahoi!“, was 1845 der österreichische Dichter Wilhelm Gärtner in seiner Novelle Die Fledermaus verbreitete. Weiter reichte ein Eingriff in das Werk des schottischen Schriftstellers Walter Scott. Er hatte 1816 in seinem Roman The Antiquary den Ausruf „hilli hilloa, hilli-ho-a!“ verwendet, in den folgenden Jahrzehnten korrekt von seinen deutschen Übersetzern rezitiert. Benno Tschischwitz erdichtete daraus 1876 bei seiner Edition von Der Alterthümler, 1888 auch illustriert aufgelegt, „ahoi ahoi! hoi hoi hoi!“
Deutsch, Verwendung
Maritimes
Für den Weltreisenden Wilhelm Heine war der Ruf 1859 „üblich“. Heine war allerdings mit amerikanischen Seeleuten unterwegs, die die bereits gebräuchliche englische Form benutzten. Für Deutsche in Livland an der Ostsee erklärte 1864 ein Wörterbuch noch den Gebrauch: „ahoi […], zweisylbig, und die zweite betont“. In Deutschland im 19. Jahrhundert „insgesamt noch selten“, um 1910 eine „moderne Nachahmung“ des englischen ahoy, ist der Ruf dann ungebräuchlich geworden. Im nichtmaritimen Bereich wird ahoi auch zur Verabschiedung gebraucht. In literarischer Verwendung, meist mit maritimer Thematik, erscheint ahoi etwa bei:
Paul Heyse (1900): „Er sah mit übermütig herausforderndem Blick zu den drohenden Wolken empor und ließ ein helles Ahoi! ertönen.“
Carl Sternheim (1909) als Mitteilung an die Crew: „Eine Stimme vom Mast: Land ahoi!“
Anna Seghers (1928): „Ein paar Burschen von vorn liefen auf eine Höhe, schrien Ahoi, winkten mit den Armen.“
Hans Fallada (1934) als Warnruf: „Ahoi! Ahoi! Mann über Bord!“
Friedrich Dürrenmatt (1951): „Ahoi! Die Segel gelichtet [sic!], weg, zu anderen Küsten, zu anderen Bräuten!“
Günter Grass (1959): „Warum aber Matzerath winkte und solch einen Blödsinn wie ‚Schiff ahoi!‘ brüllte, blieb mir schleierhaft. Denn der verstand als gebürtiger Rheinländer überhaupt nichts von der Marine“.
Hermann Kant (1972): „Da ging dieser Mensch aus dem Haus, sagte ahoi, Franziska, küßte einen auf die Nase, alles wie immer …“
Ulrich Plenzdorf (1973): „Ahoi! Hast auch schon besser gehustet, no?“
In Liedern, die nach der Großseglerzeit komponiert wurden, stellte das Wort maritime Atmosphäre her, ohne noch dem traditionellen Gebrauch zu folgen. Wir lagen vor Madagaskar mit dem Refrainbeginn „Ahoi Kameraden“ entstand 1934 und kann als Fahrtenlied gelten. Der Schlager Schön ist die Liebe im Hafen mit den Ausgangszeilen im Refrain „Auch nicht mit Fürsten und Grafen / Tauschen wir Jungens, ahoi!“ beruht auf einem Walzerlied aus dem Film Herz ist Trumpf, ebenfalls von 1934. Bei den Edelweißpiraten wurde ahoi wohl von tschechischen Jugendlichen übernommen und auch nach ihrem Verbot 1933 als Gruß gebraucht.
Wassersport
Hobbysegler haben ahoi von den Berufsschiffern übernommen. Von 1884 bis 1887 erschien das Blatt Ahoi!, zunächst als Zeitschrift für deutsche Segler, dann für den Wassersport. Der Berliner Segel-Club Ahoi wurde 1892 gegründet. Als „Ruf der Segler“ ist ahoi in den 1920er Jahren für den Bodensee belegt. Mit zunehmender Beliebtheit des Wassersports kam er seit den 1960er Jahren wieder auf. Seither wird ahoi! auch als Formelgruß an einen Funktionsträger an Bord benutzt, z. B. „Käptn ahoi!“, oder ganz ohne Zusatz. Die Verwendung gilt unter Professionellen als unseemännisch, und „diesen Aufschrei [‚ahoi!‘] vermeiden Sie lieber ganz. Sein Gebrauch wird an Bord übel vermerkt und kann die ganze Sphäre des mühsam geschaffenen Vertrauens zerstören. Dieses schon gestorbene Wort haben die Schlagerdichter wieder aufpoliert.“ Eine Schlauchbootwerft verbreitete von 1964 bis 1992 ihre Kundenzeitschrift Wiking ahoi.
Karneval/Fastnacht
Ahoi ist wie helau und alaaf ein Narrenruf zu Karneval beziehungsweise Fastnacht. Nachdem Schiffer, Hafenarbeiter und Fischer des Binnenlandes den Ausdruck von der Küste übernommen hatten, popularisierten ihn die Karnevalsvereine. In den Umzügen grüßt die Besatzung eines Narrenschiffs das Volk am Straßenrand mit Ahoi! und erhält denselben Gruß zurück. Traditionell ist er in der Kurpfalz verbreitet, etwa in Mannheim mit „Monnem ahoi“ oder „Mannem ahoi!“ und in Ludwigshafen, aber auch in angrenzenden Gebieten wie dem nordbadischen Altlußheim sowie im südthüringischen Wasungen, dort mit „Woesinge ahoi!“ Die 1908 gegründete Faschingsgesellschaft Milka im oberschwäbischen Ravensburg grüßt mit „Milka – ahoi!“ Auf dem Backfischfest der Fischerzunft in Worms wird ebenfalls mit „ahoi“ gegrüßt. Auch jüngere Karnevalsaktivitäten, etwa in einem norddeutschen Verein oder in einer Kölner Neugründung, verweisen auf den Ruf.
Militär
In der deutschen und der österreichischen Marine wurden vor dem Ersten Weltkrieg Boote, die sich einem vor Anker liegenden Kriegsschiff näherten, mit „Boot ahoi!“ angerufen, um festzustellen, wer darin ist. Die Antworten von den Kriegsschiffbooten hingen von der höchstgestellten Person an Bord ab: „Standarte!“ beim Herannahen mit einer „Fürstlichkeit“ an Bord, „Flagge!“ mit einem Admiral, „Ja, ja!“ mit Offizier und „Nein, nein!“ ohne Offizier. Ähnliches galt mit „boat ahoy“ in der U.S. Navy, wo das Verfahren 1893 erstmals geregelt wurde, und in der Royal Navy. In der Deutschen Marine ist der Gruß „Ahoi“ heutzutage nicht mehr üblich, als formloser Gruß wird meist das norddeutsche „Moin“ verwendet.
Von den deutschen Kriegsschiffen zwischen 1815 und 1945 hieß nur ein Motorboot der Kriegsmarine Ahoi. Es wurde 1940 übernommen, trug den Namen also vermutlich bereits vorher, und fuhr auf dem Kaiser-Wilhelm-Kanal. Im Juni 1945 erhielt es der Eigner J. Pieper & Co. zurück. Das 1942 in Dienst gestellte deutsche Schleuderschiff Bussard wurde als Kriegsbeute der USA 1947 an die belgische Reederei Heygen in Gent verkauft und in Ahoy umbenannt.
In Zittau stellten die Phänomen-Werke Gustav Hiller von 1940 bis 1943 unter der Bezeichnung Phänomen Ahoi 125-Kubikzentimeter-Motorräder für die deutsche Wehrmacht her.
„Nebel – ahoi!“ ist der Ruf der ABC-Abwehrtruppe der Bundeswehr und gehört offiziell zum militärischen Brauchtum des Heeres. Der Ruf geht auf die Nebeltruppe zurück, eine Kampfgruppe der Wehrmacht ab 1935, die das Gefechtsfeld chemisch einzunebeln und schlagartig mit Massenfeuer Flächenziele zu vernichten hatte, und „entstand aus Freude über einen gelungenen Nebeleinsatz, wenn also der Nebel ‚gut im Ziel lag‘.“
Akronyme
Deutschsprachige Gegner des Nationalsozialismus benutzten ahoi als Abkürzung für „Adolf Hitler ohne Interesse“, so im 1936 veröffentlichten Roman Unsere Straße des Schriftstellers Jan Petersen, als von Felix Graf von Luckner stammender Spitzname für den Luftfahrtpionier Ulf Weiß-Vogtmann sowie für den AHOI-Klub, ein Netzwerk um Georg Ferdinand Duckwitz, das die Flucht der dänischen Juden nach Schweden 1943 unterstützte. Belegt ist die Verwendung als Scherz 1944, auch in der Bedeutung „Adolf Hitler ohne Italien“. Der Schriftsteller und Conferencier Kurt Neuburger gab an, mit dem Namen seiner Band Ahoi gegen Hitler agitiert zu haben.
Ebenfalls als Akronym wurde ahoj im Tschechischen und Slowakischen verwendet.
Brausepulver
Ahoj heißt ein 1925 in Stuttgart entwickeltes Brausepulver. Nach dem Ruf ahoi benannt, wird es seit 1930 mit der Abbildung eines Matrosen und einer mit „Ahoj“ beschrifteten Flagge beworben. Zu dieser Zeit waren Matrosenanzüge als Kinderkleidung in Mode. Auch in den USA ist die Markenbezeichnung im Süßwarensegment bekannt. Chips Ahoy! ist dort eine populäre Keksmarke des Lebensmittelkonzerns Nabisco, deren Name mit dem Anruf „ships ahoy!“ spielt.
Viehtrieb
Einen Einzelfall stellt åhoi als Ruf an das Zugvieh zum Langsamgehen an. Er ist vor dem Ersten Weltkrieg für das Erzgebirge bezeugt und wurde wie eha und oha, ooha(a) verwendet. Hier kann eine Kombination aus zwei Interjektionen wie im Mittelenglischen vorliegen, jedoch stammt die erste möglicherweise von erzgebirgisch eh „ein, inne“ wie ee halten „an-, ein-, innehalten“. Ein Lemma åhoi, ahoi oder ohoi fehlt im neuen Standard-Wörterbuch für diese Sprachregion. In einem Tal des Triglav-Gebirges in Slowenien unterhielten sich Hirten mit Ohoi!-Rufen über weitere Strecken, wie ein Bericht von 1838 erwähnt.
Niederländisch, Friesisch
Herkunftstheorien
Der Ruf existiert auch im Niederländischen . Läge sein Ursprung in dieser Sprache, könnte hoy von hoie stammen, dem Namen eines Seglers, der heute unter der Bezeichnung Hoie oder Heude bekannt ist. Der verbreitete Schiffstyp beförderte Passagiere und Fracht längs der Nordseeküste und über den Ärmelkanal. „An Hoye of Dorderyght“, aus der holländischen Handelsstadt Dordrecht, wird 1495 in einem Brief erwähnt; zwei Jahre später taucht „an hoye of Andwarpe“, in den Akten des englischen Königs Heinrich VII. auf. In einer Reisebeschreibung von 1624 kommt der allerdings zu Übertreibungen neigende Kapitän John Smith für die Region zwischen Vlissingen und dem IJsselmeer auf eine gewaltige Zahl von Segeln: „Holland and Zeeland hath twenty thousand saile of Ships and Hoies.“
Direkte Belege für eine Herkunft von ahoi aus der Partikel a und dem Substantiv hoie fehlen jedoch. Der Ruf gilt in der niederländischen und deutschen Sprachforschung als Übernahme aus dem Englischen. Dafür sprechen die Dichte der Belege im Englischen und deren Fehlen im Niederländischen sowie Zweifel an der Vermutung, dass in der Frühneuzeit eine einzelne Schiffsbezeichnung wortbildend sein konnte, selbst wenn sie verbreitet war.
Der Zusammenhang von ahoi und hoi, einer im Niederländischen verbreiteten Anredeform, ist unklar. Hoi, bereits 1552 als Jauchzer belegt, kann eine Kurzform von ahoi sein oder ahoi eine Erweiterung von hoi. Wahrscheinlich gehört hoi aber zu einer Gruppe von Rufen wie hó, hé und ist mit ahoi nicht enger verwandt.
Quellenlage
Im Niederländischen kommen aho(o)i, ahoy und ehoi eher selten vor und sind in zahlreiche Fachwörterbücher nicht aufgenommen. Möglicherweise liegt dies an der Verbreitung des ähnlichen, schnelleren Anrufs hoi.
Die Quellenlage zur frühen Verwendung des Wortes ist mangelhaft, weil ahoi im Woordenboek der Nederlandsche Taal (WNT) kein eigenes Lemma erhielt, obwohl dieses Großwörterbuch auch Interjektionen erfasst. Auch in den Ergänzungslieferungen der letzten Jahrzehnte zum WNT fehlt dieser Eintrag. Innerhalb der Einträge im WNT stammen die frühesten Belege, die Formen von ahoi enthalten, aus der Zeit um 1900. In einem 1897 erschienenen Mädchenbuch schrieb die Schriftstellerin Tine van Berken: „A-hoi! A-hoi! riep Beer onvermoeid, de hand trechters gewijze aan de mond“, deutsch „… rief Beer unermüdlich, die Hand trichterförmig am Mund.“ 1908 ließ der Schriftsteller George Frans Haspels Sturmgewalten „met donderend ahoei“, deutsch „mit donnerndem Ahoi“, auf die Küste prallen. Hier ist die Bedeutung zu Lärm oder Begrüßung erweitert. Die Schreibung ahoei, gesprochen, enthält zudem ein lautmalerisches Element, falls Haspels mit [] auf das Geräusch des Windes anspielte.
In den 1950er Jahren galt ahoi als „veraltet“. Der Ausdruck ist aber noch allgemein bekannt. Belege für einen Gebrauch von ahoy im Friesischen fehlen in Großwörterbüchern für diese Sprache.
Ahoy in Rotterdam
Ahoy lautet die Kurzform für das Ahoy Rotterdam, ein großes Veranstaltungszentrum in den Niederlanden. Es bestand zunächst aus einer Halle der 1950 veranstalteten Ausstellung Rotterdam Ahoy! zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt und hieß anfangs Ahoy’; der Akzent sollte an das Ausrufezeichen der Ausstellung erinnern. 1968 siedelte es in den Stadtteil Charlois um, wo mit der Zeit ein ausgedehnter Baukomplex entstand.
Aus Charlois stammte das 1955 gegründete Tamboer- en Trompetterkorps Ahoy, deutsch Tambour- und Trompeterkorps Ahoy. Ob es so benannt wurde, weil das maritim inzwischen als veraltet geltende ahoy in Rotterdam seinerzeit Aufbaugeist ausdrückte, ist nicht erforscht. Der Spielmannszug trat erstmals am Koninginnedag 1956 auf und wurde mit seinem innovativen Figurenlaufen, zuvor unüblichen Wechselgesängen und schneller Marschmusik bekannt. 1962 gewann er einen 1. Preis im Wereld Muziek Concours in Kerkrade und spielte später auf dem Sanremo-Festival. Aus Mangel an Nachwuchs löste sich das Korps 2003 auf. In Hamburg entstand 1975 das Show-Musikkorps Ahoy-Hamburg.
Nordische Sprachen
Formen
Skandinavische Sprachen haben Abkömmlinge der englischen Formen ahoy und ohoy in vielen Schreibungen aufgenommen. Im Dänischen sind es ahoj und ohoj, auch ohjø, aahøj oder ohej, im Norwegischen ohoi, im Schwedischen ohoj und å-hoj. Im Isländischen kann ohoj mit vorgestelltem englisch ship kombiniert sein; als Anrufung tritt die Form Sjipp og hoj auf.
Frühe Belege
1837 benutzte der dänische Romancier Andreas Nikolai de Saint-Aubain, der unter dem Pseudonym Carl Bernhard veröffentlichte, mit „‚Ahoi, en Sejler!‘ raabte Matrosen fra Mærset“ die Wendung. Saint-Aubins Übersetzung ins Deutsche aus demselben Jahr, „‚Ahoi, ein Segler!‘, rief der Matrose vom Mers“, ist zugleich ein früher deutschsprachiger Beleg. Die schwedische Autorin Emilie Flygare-Carlén schrieb 1842: „Örnungen reddes till en ny färd på den klarnade böljan; manskabet skrek sitt muntra ‚å-hoj!‘“ Der deutsche Übersetzer von 1843 vermied å-hoj und formulierte: „Der junge Adler ward zu einer neuen Fahrt durch die klaren Wellen in Bereitschaft gesetzt; die Mannschaft ließ ihr munteres Hiaho erschallen.“ In der englischen Übersetzung von 1844 heißt es hingegen: „The crew of the young Eagle […] shouted their cheerful ahoys.“ 1846 schrieb Flygare-Carlén: „Båt, ohoj – hvarifrån, hvathän?“, deutsch „Boot, ohoi – woher, wohin?“
Noch in zwei englisch-dänischen Wörterbüchern von 1863 ist ahoy mit „Hey! Holla!“ und „holla! heida!“ übersetzt.
Finnisch
Im nicht zur germanischen Sprachfamilie gehörenden Finnischen ist die Interjektion aus schwedisch ohoj zur Form ohoi entlehnt. In einem deutsch-finnischen Wörterbuch wurde deutsch ahoi mit finnisch hoi angegeben. Eine Übersetzung von englisch ahoy ins verwandte Estnische nennt ahoi.
Tschechisch und Slowakisch
Herkunftstheorien
In den beiden Binnenländern Tschechien und Slowakei, 1918 zur Tschechoslowakei vereint und 1993 verselbständigt, ist ahoj (gesprochen , ) als Gruß alltäglich. Zu den vielen im Verbreitungsgebiet kursierenden Erklärungen dafür gehört:
Tschechische Seeleute brachten den Ruf aus Hamburg mit. Die Spedition Tschechoslowakische Elbe-Schifffahrt betrieb den dortigen Moldauhafen, 1929 an die Tschechoslowakei verpachtet, als Terminal für den Frachtverkehr, komplett mit Wohnschiff Praha.
Wenn der Landgang tschechischer Matrosen in den Industriehäfen an Moldau und Oberelbe endete, warnten die Freudenmädchen aus den Hafenbars ihre Freier zum Abschied vor ihrer Berufskrankheit Syphilis mit dem Wortspiel hoj/(ne)hojit: „A hoj! Kdo nehojil, tomu upad“, deutsch „Und holla! Wer ihn nicht geheilt hat, dem ist er abgefallen!“
Seeleute der tschechoslowakischen Handelsmarine mit ihren zeitweilig 13 Hochseeschiffen brachten das Wort in den Sommerurlauben mit.
Über die ursprünglich aus Böhmen und Mähren stammenden evangelischen Herrnhuter Brüder, die im 18. Jahrhundert nach Amerika zogen, floss maritimes Wissen, auch um diese Anrufung, zurück in die alte Heimat.
Eine Erfindung ist die Rückführung des internationalen Rufs auf einen böhmischen Seemann des 17. Jahrhunderts.
nazdar, ahoj, čau
Tatsächlich geht die Verbreitung von ahoj auf die 1920er Jahre zurück, als tschechische Jugendliche und Studenten das Kanufahren auf den südmährischen und -böhmischen Flüssen popularisierten. Die Kanuten bildeten eine Art Wandervogelbewegung; manche nannten sich trampové, Tramps, oder skauti, Scouts, Pfadfinder. Schon in den 1930er Jahren sahen tschechische Sprachforscher in diesen skauti Träger und Verbreiter des ahoj.
Die Gruppen bildeten eine romantische Opposition gegen das als nationalistisch empfundene tschechische Bürgertum. Dessen Sokol-Sportvereine mit ihrer Vorliebe für die traditionelle Gymnastik passten nicht zur Aufbruchstimmung der Jugendlichen, die deswegen einen als international und schick empfundenen Sport mit eigenem Gruß kultivierten. Sie stellten ihr aus der Seemannssprache stammendes ahoj, möglicherweise aus dem Niederdeutschen übernommen, gegen den Sokol-Ruf nazdar, deutsch etwa Heil wie in Ski Heil. Nazdar war in der tschechischen und tschechoslowakischen Gesellschaft allgemein gebräuchlich, doch innerhalb weniger Jahrzehnte legte sich das modernere ahoj über den dadurch ältlich werdenden Ausdruck.
Zur Verbreitung des ahoj hat die ironisierende tschechische und slowakische Sprachlust beigetragen. In der Slowakei kursieren ahoj-Abkömmlinge wie das verniedlichende „ahojček“, deutsch etwa „Ahoichen“, das zum Trinkergruß taugende „ahojka“, „Prösterchen“, ferner die Plural-Anrede „ahojťe“, „ahoi, Ihr!“ sowie die grammatisch korrekte Wir-Form „ahojme sa“, „wir ahoien, wir sagen ahoi“. Im Tschechischen wie im Slowakischen wird ahoj langsam vom wiederum als moderner empfundenen „čau“ verdrängt, das vom italienischen Gruß ciao stammt. Dies soll bemerkbar gewesen sein, seit die tschechoslowakische Regierung in den 1960er Jahren die Aufführung von italienischen Kinofilmen zuließ.
Jugendkulturelle Benennungen
Die zum Verlag Melantrich in Prag gehörende Tageszeitung České slovo (deutsch Tschechisches Wort) nannte eine von 1933 bis 1943 erschienene humoristische Beilage Ahoj na neděli (deutsch Ahoi am Sonntag). Sie wurde freitags verbreitet, „um die Tramps rechtzeitig mit ihrer Wochenendlektüre zu versehen.“ Von 1969 bis 1997 erschien im České slovo-Nachfolger Svobodné slovo (deutsch: Freies Wort) die Freizeitbeilage Ahoj na sobotu, deutsch Ahoj am Samstag.
Mit amtlichem Namen Ahoj heißt ein Distrikt im Stadtteil Nové Mesto der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Dort trafen sich vor dem Zweiten Weltkrieg, als die Gegend noch kaum bebaut war, Jugendliche.
Der Autohersteller Škoda benannte 2001 seine Konzeptstudie für einen Kleinwagen Škoda Ahoj!
Spottwort in Theresienstadt
Im Konzentrationslager Theresienstadt nannten tschechisch sprechende Juden einen an die tschechische Gesellschaft assimilierten, nicht mehr gläubigen Insassen spöttisch Ahojista, deutsch etwa „Ahojist“. Ein jüdisch-tschechischer Assimilant, der sich gegenüber den jüdischen Verwaltungsstellen im Lager aus Opportunismus als Zionist ausgab, hieß Šahojista, das aus den Grüßen Schalom und Ahoj zusammengesetzt war.
Akronyme
Im von Deutschland besetzten Tschechien, dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, konnte ahoj als Akronym für die Parole „Adolfa Hitlera oběsíme jistě“, deutsch: „Klar, wir hängen Adolf Hitler“, verstanden werden. Unter kommunistischer Regierung entwickelte sich ahoj auch im slowakischen Landesteil zum Initialwort. Seit dem Kirchenkampf von 1950 galt es als Abkürzung für die Trostformel Aj hriešnych ochraňuje Ježiš, deutsch Jesus schützt auch die Sündigen, oder für das lateinische ad honorem Jesu, deutsch Jesus zur Ehre. Demonstrativ benutzten es katholische Jugendliche untereinander. Selbst Pfarrer sprachen die Gläubigen von der Kanzel herab damit an.
Ebenfalls als Akronym wurde ahoi im Deutschen verwendet.
USA, Telefonverkehr
In den USA konkurrierten die beiden Erfinder Alexander Graham Bell und Thomas Alva Edison nicht nur um die Technik der Telefonie, sondern auch um das Wort, mit dem ein Telefonat eröffnet werden sollte. Bell favorisierte ahoy, benutzte den Ruf bis an sein Lebensende und gab an, niemals „hello“ gesagt zu haben. Edison forderte hello und entschied diese Auseinandersetzung innerhalb weniger Jahre für sich. Angaben über die Dichotomie von ahoy und hello in der Frühphase der Telefongeschichte sind widersprüchlich.
Bells ahoy
Die nach Bells Tod verbreitete Überlieferung, dass Ahoy! Ahoy! die ersten Worte gewesen seien, die durch ein Telefon gesprochen wurden, trifft nicht zu. Eine Übertragung von Sprache gelang bereits früheren Erfindern von Telefonen. Zudem waren Bells erste Worte, am 10. März 1876 über Draht an seinen Mechaniker Thomas A. Watson im Nebenraum gerichtet: „Mr. Watson – Come here – I want to see you.“
Belegt ist Bells Wortgebrauch, seit das frühe Telefon Wechselsprache und nicht nur Einwegnachrichten übertragen konnte. Beim ersten öffentlich geführten Telefonat in beide Richtungen, mit einer Leitung zwischen Boston und dem zwei Meilen entfernten East Cambridge am 9. Oktober 1876, benutzte er die maritime Anrufung. Watson, den ein technisches Problem aufgehalten hatte, erinnerte sich: „Lauter und vernehmlicher, als ich sie je zwischen zwei Räumen vernommen hatte, vibrierte Bells Stimme [vom Relais] und rief: ‚Ahoy! Ahoy! Sind Sie da? Was ist los?‘ Ich konnte sogar hören, dass er heiser wurde, weil er die ganze Zeit gerufen hatte, während ich durch das Fabrikgebäude lief. Ich ahoite zurück und konnte seinen Stoßseufzer hören, als er mich fragte: ‚Wo waren Sie denn die ganze Zeit?‘“
Ende Oktober 1876 eröffnete Bell regelmäßig seine Telefonate mit Watson innerhalb Cambridges mit der Frage: „Ahoy, Watson, are you there?“ Am 3. Dezember 1876 benutzte Bell den vertrauten Ausdruck wieder, als er mit Watson vor Publikum ein Ferngespräch über 143 Meilen Telegrafendraht der Eastern Railroad nach North Conway in New Hampshire mit den Worten eröffnete: „Ahoy! Ahoy! Watson, are you there?“ Am 12. Februar 1877, als sich Watson in Salem aufhielt und Bell in Boston, begann Watson das öffentliche Gespräch mit „Ahoy! Ahoy!“ Für eine von Bell verwendete Form ahoy-hoy als Verschleifung seines üblich gewordenen doppelten ahoy ahoy fehlen Belege.
Ahoy-ahoy soll ferner der erste Testruf eines Telefonisten gewesen sein und datiert dann vermutlich aus dem Jahr 1878. Als Sprecher in Betracht kommen George Willard Coy, der am 28. Januar 1878 in New Haven, Connecticut eine kommerzielle Telefonvermittlung eröffnete und zum ersten hauptberuflich arbeitenden operator wurde, oder der junge Louis Herrick Frost, der erste regulär angestellte boy operator.
Edisons hello
Edison befürwortete die Verwendung des Rufs hello. Am 18. Juli 1877, als ihm die erste Tonaufzeichnung glückte, rief er noch das verbreitete halloo in das Mundstück seines Phonographen. Frühester Beleg für die Verwendung von hello am Telefon ist ein Brief Edisons vom 5. August 1877 an einen Geschäftsfreund: „I do not think we shall need a call bell as Hello! can be heard 10 to 20 feet away“, deutsch: „Ich glaube nicht, dass wir eine Rufglocke brauchen werden, weil Hello! 10 bis 20 Fuß weit gehört werden kann.“
Späteren Erinnerungen zufolge war der Gebrauch von hello 1878 in Edisons Laboratorium üblich, wenngleich Edison entgegen ersten Nachforschungen hello nicht entwickelt hatte. Die Anrede ist in den USA bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisbar und geht mit Formen wie hullo, hallo und halloa auf das seit dem 16. Jahrhundert belegte hollo zurück. Dessen im maritimen Bereich gebräuchliche Nebenform holloa wurde ab etwa 1800 teilweise durch ahoy ersetzt.
Unterlegenes ahoy
Wie sich Edison gegen Bell durchsetzte, ist bisher nicht untersucht. In der Literatur werden soziale und technische Gründe genannt.
Der gesellschaftliche Bedarf nach einem Kurzwort war groß, denn zunächst wurden Anreden wie „What is wanted?“ oder „Are you ready to talk?“, deutsch: „Was wird gewünscht?“, „Sind Sie gesprächsbereit?“ benutzt. Eines Tages soll Edison einfach „hello“ gerufen haben, anstatt das Telefonat mit „unamerikanischen“ Umständlichkeiten zu beginnen. Hello, noch nicht mit Konventionen belegt, erlaubte, schnell zur Sache zu kommen. Zudem verlangte ahoy traditionell die Beifügung eines Namens, was zu Beginn eines anonym eingehenden Telefonats nicht möglich war. Als Seemannsausdruck galt es zudem als zu männlich, seit Frauen als Telefonvermittlerinnen eingestellt wurden. Ahoy war, wie der US-Kolumnist William Safire zusammenfasste, „für Land- und Telefonratten“ zu maritim und als Formel zu wenig auf Konversation ausgerichtet.
Technisch verfolgten Bell und Edison bei ihren Entwicklungsarbeiten verschiedene Konzepte. Während Bell den Kunden bei Gesprächsbedarf jeweils eine neue Gesprächsverbindung anzubieten plante, favorisierte Edison zunächst Standleitungen, die zwischen den Teilnehmern ständig offen blieben. Um einen Angerufenen ans Telefon zu bekommen, hielt Edison 1877 ein lautes Rufwort, das über längere Distanz gehört werden konnte, für nötig. In Betracht kam eine durch die Telefonleitung hörbare Glocke, deren englische Bezeichnung bell Edison aber an seinen Konkurrenten erinnerte. Als sich Bells Konzept der Einzelverbindungen durchsetzte, begann Edison zwar die dafür nötigen Vermittlungsschränke zu bauen, soll in der Gebrauchsanleitung für die Vermittlerinnen aber seine Meldung hello vorgeschrieben haben.
Hello setzte sich in New York schon 1880 durch. Die Teilnehmer der ersten Konferenz der Telefongesellschaften im November 1880 in Niagara Falls trugen eine Plakette mit dem Aufdruck Hello zur Begrüßung. Hello girl als Bezeichnung für die jungen Frauen in den Rufvermittlungen ist seit 1883 belegt und vom US-amerikanischen Schriftsteller Mark Twain 1889 popularisiert.
Rezeption
William Safire formulierte, auf die Zerlegung des US-Telefonmonopolisten AT&T im Jahr 1984 anspielend: „… thus, Ahoy! became A.T.&T.’s first divestiture“, deutsch etwa: „So führte Ahoy! zur ersten Entflechtung bei AT&T“. AT&T war aus Bells 1877 gegründeter Telefongesellschaft hervorgegangen.
Das Spannungsfeld von ahoy und hello wurde in verschiedenen Medien genutzt und literaturtheoretisch betrachtet:
Der englischsprachige Schriftsteller Oswald Kendall setzte es 1916 in einem Roman ein: „,Amerikanisches Schiff ahoy!‘, kam die Stimme. […] ‚Hello!‘ schrie Captain Hawks zurück, und aus seinem Ton konnte ich Gelächter heraushören, das Gelächter des Vergnügens.“
Montgomery Burns, Atomkraftwerksbesitzer in der Zeichentrick-Fernsehserie Die Simpsons, benutzt am Telefon den Gruß ahoy! hoy!, der in einer Episode von seinem unfähigen Angestellten Homer Simpson mit hello beantwortet wird. Mit dem Gruß ahoy! hoy! wollten die Autoren auf Burns' hohes Alter anspielen.
Ein Literaturwissenschaftler sah eine semantische Übereinstimmung der wasserhaften Elektrizitätsterminologie (Welle, Fluss, Strom) im Fernsprechwesen mit dem nautischen ahoy als Anrede am Telefon sowie dem zu hello entwickelten hallo, das im Gleichklang mit französisch à l‘eau, deutsch „zum Wasser“ stehe.
Ahoi, Ahoj als Abkürzung
Ahoi und Ahoy werden als Abkürzungen verwendet. Dazu gehören
Acute haemorrhagic oedema of infancy (AHOI), eine Kinderkrankheit
Committee on Atherosclerosis, Hypertension, and Obesity in the Young (AHOY), eine Arbeitsgruppe von Kardiologen
Australian Humanist of the Year (AHOY), eine Auszeichnung
Als Akronyme des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus wurden ahoi im Deutschen sowie ahoj im Tschechischen und Slowakischen verwendet.
Ahoi-Wörter in Titeln
Ahoi, Ahoy und Ahoj sind populäre Bestandteile in Titeln von Filmen, Büchern, Bühnenstücken, Kunst- und musikalischen Werken.
→ Diese Auswahl enthält nur Beispiele, die in der deutschsprachigen Wikipedia belegt sind.
Filme
Schiff ahoi (schwed. Skepp ohoj!, mit Gunnar Björnstrand, 1932)
Nordpol – Ahoi! (mit Walter Riml, 1933)
Jack Ahoy (mit Tamara Desni, 1934)
Shirley Ahoi! (engl. Captain January, 1936)
Bridge Ahoy! (ein Popeye-Film, 1936)
Trolley Ahoy (die Comicverfilmung einer Episode der Toonerville Folks, 1936)
Ship Ahoy (mit Eleanor Powell, 1942)
Skihaserl ahoi! (Nebentitel von Seitensprünge im Schnee, 1950)
Mädels Ahoi (engl. Skirts Ahoy! von Joe Pasternak, mit Esther Williams, 1952)
Doktor Ahoi! (engl. Doctor at Sea, von Ralph Thomas, 1955)
Mörder ahoi! (engl. Murder ahoy, ein Miss-Marple-Film, 1964)
Seemann ahoi! (engl. Easy Come, Easy Go, mit Elvis Presley, 1967)
Schiffsjunge ahoi! (engl. Cabin Boy, mit Chris Elliott, 1994)
Tits ahoy 4 (mit Amy Ried, 2006)
Scooby-Doo! Pirates Ahoy! (Cartoon Network Studios, 2006)
Bücher
Gode Wind ahoi! (Otto Bernhard Wendler, 1933)
Hölle Ahoi (Georg Mühlen-Schulte, 1939)
Galaxis ahoi! (Jesco von Puttkamer, 1958)
Feuerland ahoi! (Eberhard Hilscher, 1961)
Ortil’s Youth Ahoy (Hajo Ortil, 1967)
Ahoi, dufte Wanne (Ludwig Turek, 1974)
Daddeldu, ahoi! (über Joachim Ringelnatz, 1981)
Hans Leip ahoi (über Hans Leip, 1988)
Pit ahoy! (Marcus Pfister, 1993)
Bühnenstücke
Tobias ahoi! (Theater Junge Generation, Dresden 1949)
Käptän Ahoi (Ruth Megary, München 1955)
Chef Ahoi (Comoedia Mundi, Tournee 1985)
Mädchen Matrosen Ahoi (Antje Otterson, Kiel 2006)
Werke der Bildenden Kunst
Ahoi der Angst (Jonathan Meese, 1998)
Lieder und Tonträger
Mädel ahoi (Walter Kollo, 1936)
Husum ahoi (Fiete Lemke, 1960; Iris Paech, 2008)
Ahoi-Ohe (Blue Diamonds, 1961)
Ahoy (The Beach Boys, 1962)
Ship Ahoy (The O’Jays, 1973)
Ahoi, ay ay Capt’n (Ricky King, 1982)
Ahoi (Lüül, 1997)
Schiff ahoi (Totenmond, 2000)
Ahoj! (Goran Karan, 2003)
Ahoi (Die Raketen, 2004)
Chips Ahoy (The Hold Steady, 2006)
Ships Ahoy! (Quadriga Consort, 2011)
Ahoy! (Punch Brothers, 2012)
Ahoii (Cultus Ferox, 2013)
Solex Ahoy (Elisabeth Esselink, 2013)
Spree Ahoi (Thomas Lizzara, 2014)
ahoi:berlin (Thomas Lizzara, 2016)
Rundfunk
Welt Ahoi! (österreichische Radiosendung, 2009/10)
Literarisches Pseudonym
Ahoi Polloi (Karikaturist)
Literatur
Außer Einträgen in Wörterbüchern und anderen Nachschlagewerken sind als Literatur zur Wortgruppe um ahoy nachweisbar:
Dietmar Bartz: Wie das Ahoj nach Böhmen kam. In: mare, Die Zeitschrift der Meere. Heft 21, 2000, S. 33–37
Dietmar Bartz: Ahoi! Ein Wort geht um die Welt. In: ders.: Tampen, Pütz und Wanten. Seemannssprache, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-86539-344-9, S. 301–319
A. Cecil Hampshire: Boat ahoy. Hailing in the Navy. In: Chambers’ journal. 9. Serie Bd. 4, 1950, S. 551–553
Ľubor Králik: O pôvode pozdravu ahoj a skratky SOS [deutsch: Über den Ursprung des Grußes ahoj und der Abkürzung SOS]. In: Slovenská reč. Jahrgang 70, Nummer 3, 2005, S. 191,
Weblinks
Belege
Um Belegstellen schneller zu finden, Wörterbücher mit verschiedenen Ausgaben heranziehen zu können oder den Kontext der Stelle zu verdeutlichen, ist bei einigen alphabetisch geordneten Werken an Stelle oder neben der Seitenzahl das Stichwort mit der Abkürzung s. v. angegeben. Abgekürzt zitiert sind hier:
Interjektion
Grußformel
Telefon
Telefonnetz
Karneval
Seemannsbrauchtum
Wassersport
Literatur (19. Jahrhundert)
Literarische Stoffe und Motive
Literatur (Englisch)
Literatur (Dänisch) |
630953 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zystenniere | Zystenniere | Zystennieren sind eine Gruppe ernsthafter, meist erblich bedingter Erkrankungen der Nieren.
Die Gruppe umfasst die Autosomal-dominante polyzystische Nierenkrankheit (ADPKD) und die Autosomal-rezessive polyzystische Nierenkrankheit (ARPKD) sowie die Multizystische Nierendysplasie. Durch die Bildung einer Vielzahl ( ‚viel‘) von flüssigkeitsgefüllten Kammern beziehungsweise Bläschen, den sogenannten Zysten, sind die Nieren in ihrer Filterfunktion erheblich eingeschränkt. Bei einer Nierenzyste handelt es sich demgegenüber um eine einzelne Zyste, die im Rahmen einer Untersuchung als in aller Regel harmloser Zufallsbefund erwähnt wird.
Genetisch bedingte Zystennieren sind die häufigste lebensbedrohliche Erbkrankheit beim Menschen und eine der Hauptursachen für chronisches Nierenversagen. Eine Heilung ist nur durch eine Nierentransplantation möglich.
Symptome
Erste Symptome, die auf Zystennieren hinweisen können, sind Bluthochdruck, blutiger Urin (Hämaturie), wiederholte Harnwegsinfekte, eine Zunahme des Bauchumfangs und Schmerzen im Bauchraum. Solange die Nieren etwaige Funktionseinschränkungen kompensieren können, sind häufig keine Symptome vorhanden. Etwa ein Drittel der Patienten bleibt, selbst bis zum Zeitpunkt des terminalen (endgültigen) Nierenversagens (end-stage renal failure, ESRF), ohne Symptome. Dies erschwert eine frühzeitige Diagnose erheblich.
Die zunehmende Zerstörung des Nierengewebes führt durch die zurückgehaltenen Abfallprodukte und das Wasser zu immer stärkeren Beschwerden an verschiedenen Organen. Dazu gehören Leistungsknick und Unwohlsein, die Gelbfärbung und das Jucken der Haut durch die eingelagerten Harngifte, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Wadenkrämpfe, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Geschmacksstörungen. Auch zu hoher Blutdruck, Herzrhythmusstörungen oder -entzündungen und Atemprobleme treten auf. Daneben kommt es zur Blutarmut (durch die Verminderung des von der Niere gebildeten Erythropoetins, das zur Blutbildung dient), zu Gerinnungsstörungen, erhöhter Infektanfälligkeit, zerebrale Blutung und Knochenerweichung (da die Niere auch am Vitamin-D-Stoffwechsel beteiligt ist).
Die von polyzystischen Nieren betroffenen Patienten klagen häufig über Schmerzen in der seitlichen Flanke des Rückens oder des Bauches. Die Schmerzen können dabei vorübergehend oder dauerhaft dumpf und quälend sein. Der Schmerz ist vermutlich durch das ausgedehnte Zystenwachstum bedingt. Zudem werden umgebende Organe durch die extreme Dehnung der Nierenkapsel (Capsula fibrosa renalis) verdrängt.
Die Schmerzen können durch Punktion der Zysten, beispielsweise perkutan, das heißt durch die Haut hindurch, oder minimalinvasiv durch laparoskopische Dekortikation der Zysten, kurzfristig gelindert werden. Durch die Neubildung von Zysten sind diese Maßnahmen nicht nachhaltig, so dass die entsprechenden Eingriffe wiederholt werden müssen. Die Behandlung ändert zudem nichts am Verlauf der Krankheit.
Bei etwa 30 bis 50 % der Patienten erfolgt die Erstdiagnose „polyzystische Nieren“ über blutigen Urin (Hämaturie). Die Ursache für die Blutungen sind meist Risse der Zysten. Die Blutungen selbst sind weitgehend ungefährlich und kommen von selbst zum Stillstand.
Patienten mit Zystennieren scheiden – bedingt durch die eingeschränkte Nierenfunktion – erhöhte Mengen von körpereigenen Eiweißen (Proteine) über den Urin aus. Scheidet der Körper tgl. 30 bis 300 Milligramm Albumin aus, so spricht man von einer Mikroalbuminurie. Werden noch größere Mengen an Albumin ausgeschieden, so wird dies Makroalbuminurie genannt. Sind im Harn größere Proteine als Albumin nachweisbar, liegt eine Proteinurie vor. Letztere ist mit Teststreifen, die in den Urin gehalten werden, einfach nachweisbar. Die Mikroalbuminurie ist deutlich schwieriger feststellbar. Protein- und Mikroalbuminurie sind ein Indiz für eine eingeschränkte Funktion der Niere. Polyzystische Nieren sind nur eine von mehreren möglichen Erkrankungen, die zu dieser Funktionsstörung führen können.
Eine arterielle Hypertonie („Bluthochdruck“) liegt bei 50 bis 75 % der Patienten mit polyzystischen Nieren vor. Der Blutdruck der Betroffenen ist häufig bereits vor einem Leistungsabfall der Nierenfunktion (Glomeruläre Filtrationsrate, GFR) deutlich erhöht.
Diagnostik
Die Diagnose wird in der Regel durch eine Sonografie („Ultraschall“) oder durch andere bildgebende Verfahren, wie beispielsweise die Magnetresonanztomografie, gestellt. Mit der Sonografie können mit modernen Geräten Zysten bis herab zu einer Größe von 5 mm diagnostiziert werden. Die Früherkennungsrate bei 20-jährigen Patienten liegt bei etwa 90 %. Die Computertomografie bietet zwar eine höhere Auflösung mit besserer Bildqualität, sie wird jedoch vor allem wegen der Strahlenbelastung nicht für Patienten-Screenings, sondern nur bei speziellen diagnostischen Fragestellungen eingesetzt.
Die Biopsie, bei der eine kleine Menge von Nieren-, aber auch Lebergewebe entnommen wird, dient im Kindesalter der Differenzierung zwischen ARPKD und ADPKD (early-onset). Damit können morphologische Veränderungen der Basalmembran schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt nachgewiesen werden. Über die Bestimmung einer kongenitalen Leberfibrose erfolgt die Diagnose einer ARPKD.
Nach Osathanondh und Potter werden die Zystennieren pathologisch-anatomisch in folgende Typen eingeteilt:
Die so definierten Typen ermöglichen in der Praxis jedoch oft keine eindeutige Klassifikation. Neben der pathoanatomischen Beschreibung von Nieren und Leber spielt daher die familiäre Vorgeschichte (Anamnese) eine wichtige Rolle. Für die erblich bedingten Fälle von Nierenzysten werden daher meist die genetisch fundierten Begriffe autosomal-dominant und autosomal-rezessiv verwendet.
Durch die Identifizierung von potenziell betroffenen Genen ist eine nichtinvasive beweisende molekulargenetische Diagnostik möglich. Dieses Verfahren kann in vielen Fällen die invasive Biopsie-Diagnostik ersetzen und eine ätiologische Klassifizierung ermöglichen. Diese Klassifizierung eröffnet wiederum Wege für differentialtherapeutische Möglichkeiten zur Behandlung der Erkrankung. Die Sensitivität für ein richtig positives Ergebnis liegt dabei bei ungefähr 95 %.
Eine Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp ist nur eingeschränkt möglich. Die Mutationsanalytik gestaltet sich beim PKD1-Gen durch seine Größe (46 codierende Exons und 14,2 kb des Transkripts) schwierig. Hinzu kommt, dass bei dem betroffenen Chromosom 16 auf Genlocus p13.1 die ersten 33 Exons von PKD1 in drei homologen Kopien (HG-A ≈21 kb, HG-B ≈17 kb und HG-C ≈8,5 kb; HG = homologes Gen) vorliegen. Dies erschwert die spezifische Vervielfachung mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) erheblich.
Aus der molekulargenetischen Diagnostik ergibt sich eine besondere Problematik. Die frühe Diagnose der genetischen Veranlagung des Patienten ermöglicht auf der einen Seite prophylaktische Maßnahmen und eine frühe unterstützende Therapie. Auf der anderen Seite werden Angehörige und Patient möglicherweise schon im Kindesalter des Betroffenen mit der Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer lebensbedrohlichen Krankheit in mehreren Jahrzehnten konfrontiert. Risiken und Nutzen müssen vor einer Diagnose daher sorgfältig abgewogen werden.
Bei Patienten mit familiärer Veranlagung (Prädisposition) kann die Diagnose per Sonografie ab dem 20. Lebensjahr gestellt werden, wenn pro Niere mindestens zwei Nierenzysten nachweisbar sind. Fehlende Zysten schließen dagegen bei über 30-Jährigen die Erkrankung aus.
Pathogenese
Die Entstehung und Entwicklung von Zystennieren, die Pathogenese, beruht auf einer zystischen Degeneration der sogenannten Tubuli (Nierenkanälchen, auch: Harnkanälchen) in den Nieren. Diese führt bei der autosomal-dominant vererbten PKD im Verlauf von Jahrzehnten zu einer zunehmenden Vergrößerung der Nieren. Es kann dabei zu einer Funktionseinschränkung bis hin zum völligen Verlust der filtrativen Nierenfunktion kommen. Beide Nieren sind gleichmäßig betroffen. Mehrere hundert Zysten, die in ihrer Erscheinung prall elastisch sind, können dabei pro Organ ausgebildet werden. Masse und Volumen der Nieren können dadurch erheblich anwachsen. Während eine gesunde Niere durchschnittlich eine Masse von 160 g aufweist, können polyzystische Nieren bis zu 8 kg bei bis zu 40×25×20 cm³ (= 20 Liter) Volumen erreichen (gesunde Niere: 12×6×3 cm³ = 0,216 Liter). Trotz des erheblich gesteigerten Platzbedarfs des Organs kommt es nur relativ selten zu Funktionsstörungen der benachbarten Organe.
Die Zysten finden sich sowohl am Nierenmark (Medulla renis) als auch an der Nierenrinde (Cortex renalis). Prinzipiell kann dabei jeder Bereich eines Nephrons eine Zyste ausbilden. Bevorzugt betroffen sind jedoch die Glomeruli und die Henlesche Schleife. Gefüllt sind die Zysten mit dem sogenannten Tubulusharn. Der Durchmesser einer einzelnen Zyste kann von wenigen Millimetern bis über 100 mm sehr stark variieren. Große Zysten können so mehrere hundert Milliliter Tubulusharn enthalten. Das Innere der Zysten besteht aus einem einschichtigen Plattenepithel oder einschichtigem isoprismatischen (kubischen) Epithel. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung können sowohl die Anzahl als auch die Größe der vorhandenen Zysten zunehmen.
Ätiologie
Polyzystische Veränderungen in den Nieren sind ein Krankheitsbild, das bei einer Reihe von Erkrankungen auftritt.
Sie können als Abweichung von der normalen Entwicklung der Nieren sporadisch entstehen oder im Erwachsenenleben erworben werden (Erworbene Zystennieren). Die weitaus häufigere Ursache (Ätiologie) für diese Erkrankung sind aber durch Vererbung übertragene Defekte in bestimmten Genen (Erbliche Zystennieren).
Den mit Abstand größten Anteil hat dabei die autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung (, ADPKD). Diese Erkrankung ist die häufigste erbliche Ursache eines chronischen Nierenversagens: Etwa 7 % aller Dialysepatienten leiden an ihr.
Daneben verursachen verschiedene andere – erheblich seltenere – Erbkrankheiten Zystennieren. Auch erworbene Zystennieren können sich – vor allem bei Dialysepatienten – einstellen. Da der weitaus größte Teil von Zystennieren durch die ADPKD hervorgerufen wird, findet der Begriff „Zystenniere“ oft eine synonyme Anwendung für die ADPKD.
Erbliche Zystennieren
Die Mehrzahl polyzystischer Nierenerkrankungen ist erblich (hereditär) bedingt. Dabei kann eine Vielzahl von verschiedenen Genen betroffen sein und so die Krankheit auslösen. Die nachfolgend aufgeführten Syndrome stellen eine Auswahl der wichtigsten erblich bedingten polyzystischen Nierenerkrankungen dar. Ein Teil der Erkrankungen wird dem sogenannten NPH-MCKD-Komplex zugerechnet.
Autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung
Die autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD), auch zystische Nierendegeneration Potter Typ III genannt, ist die häufigste lebensbedrohende Erbkrankheit beim Menschen. Weltweit gibt es etwa 5 Millionen von der ADPKD betroffene Menschen. Die Inzidenz liegt bei 1:500 bis 1:1000. In den USA ist die Erkrankung beispielsweise zweimal häufiger als Multiple Sklerose und zehnmal häufiger als Sichelzellenanämie. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Ebenso spielen Ethnie und Herkunft keine Rolle. Die Symptome werden in der Regel erst im Erwachsenenalter beobachtet. Der Erbgang der ADPKD ist autosomal-dominant (monogenetisch) mit vollständiger Penetranz. Bedingt durch den autosomal-dominanten Erbgang erbt im statistischen Mittel die Hälfte der Kinder von ihren Eltern das mutierte Gen und wird selbst an ADPKD erkranken. Etwa 50 % aller Mutationsträger erleiden eine progressive Niereninsuffizienz.
Im Alter von durchschnittlich 58 Jahren ist bei der Hälfte der ADPKD-Patienten eine Nierenersatztherapie indiziert.
Als systemische Erkrankung sind bei der ADPKD häufig auch andere Organe – in den meisten Fällen die Leber – von einer Zystenbildung betroffen. Je nach Autor haben bis zu 75 % der von der ADPKD Betroffenen Leberzysten.
Genetik
Bisher wurden Mutationen in zwei verschiedenen Genen als Ursache der Erkrankung bei ADPKD-Patienten nachgewiesen: Die Gene PKD1 und PKD2. PKD1 liegt beim Menschen auf Chromosom 16 Genlocus 16p13.3-p13.12. Es codiert das Protein Polycystin-1. Bei Patienten mit signifikanten Mutationen in PKD1 erreicht die Niereninsuffizienz im Alter von durchschnittlich 50 Jahren ihr Endstadium, womit eine Nierenersatztherapie angezeigt ist. Patienten mit Mutationen in PKD2, das auf Chromosom 4 Genlocus q21-q23 liegt und Polycystin-2 codiert, erreichen dieses Stadium erheblich später, im Alter von durchschnittlich 70 Jahren (late onset). Etwa 85 % der Patienten mit ADPKD tragen eine oder mehrere Mutationen in PKD1. Die restlichen circa 15 % entfallen auf Mutationen in PKD2.
Auf zellulärer Ebene betrachtet handelt es sich bei der ADPKD um einen rezessiven Mechanismus. Eine Bedingung für die Krankheit ist als erstes eine Keimbahnmutation in einem der PKD1- beziehungsweise PKD2-Allele. Als zweites muss eine somatische Mutation, ein sogenannter second hit stattfinden, damit die Zystenbildung initiiert wird. Dieser Verlust der Heterozygotie (loss of heterocygosity, LOH) findet bei der ADPKD offensichtlich immer statt.
Die initiale somatische Mutation kann auf dem jeweils anderen Gen liegen. In diesem Transheterozygotie genannten Fall ist die Keimbahnmutation auf PKD1 und die somatische Mutation auf PKD2, beziehungsweise umgekehrt. Im Tiermodell wurde festgestellt, dass Keimbahnmutationen, die beide Allele eines PKD–Gens betreffen, perinatal tödlich sind. Mit dem second hit verliert die betroffene Zelle die Fähigkeit, die Proliferation zu hemmen, und wird so der Ausgangspunkt für die Bildung einer neuen Zyste.
Ein wichtiges Indiz für die Richtigkeit der Second-hit-Theorie sind Versuche mit Knockout-Mäusen, bei denen PKD1 beziehungsweise PKD2 abgeschaltet (Gendeletion) wurden. So erkranken nur homozygote Tiere, während die Heterozygoten eine nahezu normale Entwicklung nehmen. Die Second-hit-Theorie dient auch als Erklärung dafür, dass nur etwa 1 % aller Nephrone bei der ADPKD Zysten bilden, obwohl alle Zellen die vererbte Mutation tragen.
Ab 1995 vermutete man noch ein drittes Gen, PKD3 genannt, als weitere mögliche Ursache für die ADPKD. Später wurden bei vier weiteren Familien mit Zystennieren aus verschiedenen Ländern Mutationen beobachtet, die ihre Ursache weder in PKD1 noch in PKD2 hatten.
Die Existenz dieses Gens wird mittlerweile bezweifelt.
Molekulare Ursachen und Zystenbildung
Die von den betroffenen Genen codierten Proteine Polycystin-1 und Polycystin-2 sowie das vom PKHD1-Gen codierte Fibrocystin liegen an der Basis des primären Zilium der Zellen des Nierenkanälchens (Nierentubuluszellen). Das Primärzilium ist ein haarfeiner Zellfortsatz, von dem jede Zelle jeweils nur einen einzigen ausbildet. Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen spielt bei allen zu Zystennieren führenden Erkrankungen eine Fehlfunktion des Primärziliums die entscheidende Rolle für die Ausbildung von Zysten. Die Primärzilien der Tubuluszellen ragen in das Tubuluslumen und dienen dort wahrscheinlich der Wahrnehmung der Flüssigkeitsströmung. Zudem ist das Primärzilium bei der Zellteilung an der räumlichen Ausrichtung der Mitosespindel beteiligt. Die beiden Polycystine bilden einen Calcium-regulierenden Ionenkanal, der für Calcium-Ionen durchlässig ist. Der Polycystin-Komplex spielt mit mehreren Signalwegen und mechano-sensorischen Funktionen eine wichtige Rolle im Primärzilium. Die physiologische Funktion dieses Zellorganells ist bisher noch weitgehend unverstanden.
Der Ursprung der Zysten kann in jedem Abschnitt eines Nephrons – vom Glomerulum bis zu den Sammelgängen (Tubulus renalis colligens) – seinen Ausgangspunkt haben. Erreichen die Zysten einen Durchmesser von über 0,2 mm, so haben sie keine Verbindung mehr zu den Nierenkanälchen (Tubuli).
Damit sich die Zysten ausbilden können, muss sich die Anzahl der Zellen innerhalb der Zystenwand erhöhen. Dies geschieht durch eine exzessive Proliferation der Epithelzellen der Nieren. Dabei ist das Protein mTor (mammalian Target of Rapamycin) hochreguliert. Im Zystenlumen muss sich außerdem, durch eine erhöhte Sekretion und/oder einen verminderten Abfluss, Flüssigkeit ansammeln. Diese transepitheliale Flüssigkeitssekretion ist abhängig von der sekundär aktiven Chloridionen-Sekretion. Die Chloridionen-Sekretion wird über den CFTR (cystic fibrosis transmembrane conductance regulator) oder über einen kalziumabhängigen Chloridkanal geregelt. Beide befinden sich in der apikalen Zellmembran.
Verlauf und Prognose
Der Verlauf der ADPKD ist langsam progredient (fortschreitend). Bereits vor dem Einsetzen der Niereninsuffizienz ist bei den betroffenen Patienten eine Störung der Harnkonzentrierung (Wasserrückresorption) feststellbar.
Die Nierenfunktion erfährt im Anfangsstadium der Erkrankung durch die Zystenbildung keine Einschränkung. Erst ab einer Nierengröße von 1000 cm³ nimmt die Leistung ab. Liegt das Nierenvolumen oberhalb von 1500 cm³, so reduziert sich die glomeruläre Filtrationsrate jährlich um etwa 4 bis 5 ml·min−1. Durchschnittlich nimmt das Volumen der Nieren bei Patienten mit einem Nierenvolumen über 750 cm³ pro Jahr um über 5 % zu. Die ersten Symptome der Erkrankung werden meist im Alter zwischen 30 und 40 Jahren wahrgenommen. Allgemein liegt hier jedoch eine große Variationsbreite – oft auch innerhalb einer Familie – vor.
In fast allen Fällen führt die Erkrankung zur terminalen Niereninsuffizienz (endgültiges Nierenversagen). Frauen erreichen dieses Stadium durchschnittlich sechs Jahre später als Männer.
Ein weiteres Überleben ist dann nur noch durch eine Nierenersatztherapie, das heißt Dialyse oder Nierentransplantation, gewährleistet. Es ist noch nicht vollständig geklärt, warum polyzystische Nieren letztlich zur terminalen Niereninsuffizienz führen. Über die Druckatrophie des Parenchyms alleine lässt sich der Mechanismus nicht erklären. Chirurgische Eingriffe wie beispielsweise Punktionen bewirken keine Verzögerung des Krankheitsverlaufes. Aus histologischen Untersuchungen lässt sich schließen, dass die Hypertonie ein wichtiger Faktor für das Fortschreiten (Progression) der Niereninsuffizienz ist.
Neben der Genetik haben auch die Umgebung und die Lebensweise des Patienten einen Einfluss auf den Verlauf der ADPKD. Bei Frauen wurde beispielsweise festgestellt, dass mehrere Entbindungen sowie andere estrogene Faktoren den Krankheitsverlauf erheblich verschlechtern. Das im Vergleich zu Frauen beschleunigte Wachstum der Zysten und das frühzeitigere Erreichen des terminalen Nierenversagens bei Männern werden ebenfalls auf hormonelle Einflüsse zurückgeführt. Auch das Tabakrauchen beeinflusst – insbesondere bei Männern – die Progression der ADPKD negativ. Eine mögliche Erklärung sind hierbei die bekannten negativen Effekte des Rauchens auf die Blutgefäße.
Lebenserwartung
In einer Studie wurden 333 Patienten aus 31 Familien mit PKD1 und 291 Patienten mit PKD2 aus ebenfalls 31 Familien mit einer 398 Personen starken, geografisch identischen Kontrollgruppe verglichen. PKD1-Patienten erreichten ein mittleres Alter von 53,0 Jahren (±1,8 Jahre; 95 % Wahrscheinlichkeit). PKD2-Patienten kamen dagegen auf durchschnittlich 69,1 Jahre (±2,2 Jahre; 95 %), während die Personen aus der Kontrollgruppe 78,0 Jahre (±4,2 Jahre; 95 %) wurden (siehe dazu nebenstehende Grafik).
Todesursachen
In einer retrospektiven Studie wurde die Todesursache von 129 Patienten mit ADPKD analysiert. Danach starben 36 % an einer Herzerkrankung und 24 % an Infektionen. Bei den Infektionen lag in 94 % der Fälle eine Sepsis (Blutvergiftung) vor. Bei den Obduktionen wurden bei 89 % aller Patienten eine Herzhypertrophie und bei 81 % eine Koronare Herzkrankheit festgestellt. Ein neurologisches Ereignis führte bei 12 % der Patienten und die Ruptur eines Hirn-Aneurysma bei 6 % zum Tod. Durch Bluthochdruck bedingte Hirnblutungen waren in 5 % und ein ischämischer Schlaganfall bei 1 % der Patienten die Todesursache. Kein Patient starb an Nierenkrebs.
Autosomal-rezessive polyzystische Nierenerkrankung
Die autosomal-rezessive polyzystische Nierenerkrankung (ARPKD), auch als Schwammniere oder Potter-I-Niere bezeichnet, manifestiert sich bereits in der Kindheit. Die Prävalenz dieser Erkrankung liegt bei Neugeborenen im Bereich von 1:6.000 bis 1:40.000, durchschnittlich bei 1:20.000. Die Erkrankung ist somit relativ selten. Die Penetranz ist vollständig. Etwa jeder siebzigste Mensch ist Träger der Mutation (siehe Grafik autosomal-rezessiver Erbgang).
Mutationen im PKHD1–Gen – das beim Menschen auf Chromosom 6, Genlocus p21.1-p12 liegt – können zur Ausbildung von Zystennieren führen. Das von PKHD1 codierte Protein Fibrocystin findet sich zusammen mit Polycystin-2 im Basalkörper der primären Zilien. In der apikalen Domäne polarisierter epithelialer Zellen ist es offensichtlich in die Bildung der Tubuli und/oder der Aufrechterhaltung der Architektur des Lumens des Sammelrohrs involviert.
Dementsprechend sind bei der ARPKD im Wesentlichen die Sammelrohre von der Zystenbildung betroffen.
Die autosomal-rezessive polyzystische Nierenerkrankung geht mit einer kongenitalen Leberfibrose einher.
Die ARPKD manifestiert sich bei Patienten bereits in sehr jungen Jahren (early onset). Der Altersbereich beträgt 0 bis 20 Jahre. Die mittlere Lebenserwartung der betroffenen Kinder beträgt sechs Jahre. Man unterscheidet zwischen perinataler (28. Schwangerschaftswoche bis sieben Tage nach der Geburt), neonataler (neugeboren), infantiler (kindlich) und juveniler (jugendlich) Form. Je geringer das Alter bei der Manifestation ist, desto schlechter ist die Prognose.
NPH-MCKD-Komplex
Der NPH-MCKD-Komplex (nephronophthisis-medullary cystic kidney disease) ist eine Gruppe von genetisch bedingten Erkrankungen der Niere, die zu einer Zystenniere führt. Der Erbgang ist im Fall der Nephronophthisis autosomal-rezessiv, während er bei den beiden Formen der medullär-zystischen Nierenerkrankung autosomal-dominant ist. Die Erkrankungen haben als gemeinsames Krankheitsbild die Ausbildung von Zystennieren an der Rinde-Mark-Grenze (kortikomedulläre Grenze). Alle Krankheiten des NPH-MCKD-Komplexes führen in Abhängigkeit vom betroffenen Gen in bestimmten Altersbereichen zum terminalen Nierenversagen.
Bardet-Biedl-Syndrom
Das Bardet-Biedl-Syndrom (BBS) ist eine sehr seltene oligogenetische Erbkrankheit mit autosomal-dominantem Erbgang. Die Ursache der Erkrankung sind Mutationen auf den BBS-Genen 1 bis 12. Neben der Ausbildung von polyzystischen Nieren kommt es zu einer Degeneration der Netzhaut, kindlicher Adipositas, geistiger Behinderung, Missbildungen des Harn- und Geschlechtsapparates und Polydaktylie (Vielfingerigkeit).
Tuberöse Sklerose
Bei der autosomal-dominant vererbten tuberösen Sklerose sind einzelne Nierenzysten häufig. Seltener tritt auch eine polyzystische Nierenerkrankung auf. Ursache hierfür sind meist größere Deletionen, die sowohl das bei der tuberösen Sklerose betroffene TSC2-Gen als auch das PKD1-Gen betreffen; beide Gene sind in enger Nachbarschaft auf Chromosom 16 lokalisiert.
Oro-fazio-digitales Syndrom Typ 1 (OFD 1)
Das oro-fazio-digitale Syndrom Typ 1, auch Papillon-Leage-Psaume-Syndrom genannt, ist eine sehr seltene X-chromosomal-dominant vererbte Krankheit. Die Prävalenz liegt bei Neugeborenen bei etwa 1:250.000. Die Krankheit weist eine Reihe unterschiedlicher Symptome, vor allem im Gesichts- und Mundbereich, auf sowie die bei vielen Patienten zu beobachtende Neigung zu polyzystischen Nieren. Letztere werden meist oft sehr spät diagnostiziert, wenn die Niereninsuffizienz schon weit fortgeschritten ist.
Die Erkrankung ist für das männliche Geschlecht pränatal tödlich.
Beim Oro-fazio-digitales Syndrom Typ 2, OFD2 beziehungsweise Mohr-Syndrom genannt, werden keine Veränderungen an den Nieren beobachtet.
Erworbene Zystennieren
Eine besondere Form der Endstadiumniere, die als sekundäre polyzystische Transformation oder auch als erworbene Zystenniere (engl. , ACKD) bezeichnet wird, entwickelt sich bei 40 bis 50 % aller Patienten nach Langzeitdialyse. Sie ist eine sehr ernst zu nehmende Komplikation beim terminalen Nierenversagen ().
Bei Transplantierten können dabei sowohl die eigenen Nieren als auch das Transplantat betroffen sein. Ursache für die Ausbildung der erworbenen dialysebedingten Zystennieren ist meist eine mehrjährige Dialyse wegen Analgetikanephropathie. Bei Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz treten Zysten an den Nieren sehr häufig auf. Häufigkeit und Zystengröße wachsen mit zunehmender Dialysedauer an. Von der Erkrankung sind beide Geschlechter gleich häufig betroffen, wobei das Alter der Patienten keine Rolle spielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich als weitere Komplikation eine Nierenkrebserkrankung einstellt, ist signifikant – insbesondere bei männlichen Patienten – erhöht.
Therapie
Derzeit gibt es nur ein zugelassenes Medikament zur Behandlung einer polyzystischen Nierenerkrankung (Tolvaptan, siehe unten). Bei etwa 50 % aller ADPKD-Patienten – die das Gros der Patienten mit einer polyzystischen Nierenerkrankung bilden – wird im Laufe ihres Lebens eine Nierenersatztherapie notwendig. Eine Heilung ist nur durch eine Nierentransplantation möglich.
Adjuvante Maßnahmen
Die Einstellung des arteriellen Blutdruckes, meist mit Hilfe von ACE-Hemmern, hat als adjuvante Maßnahme eine besondere Bedeutung bei polyzystischen Nieren. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Empfehlungen für Patienten mit Zystennieren, die zwar ebenfalls keine Heilung ermöglichen, aber den Krankheitsfortschritt (Progression) für den Patienten günstiger gestalten.
Da Koffein im Verdacht steht, das Zystenwachstum zu beschleunigen, sollten Patienten auf koffeinhaltige Getränke möglichst verzichten. Eine salzarme Diät hilft, den Blutdruck zu senken, der mit einer gestörten Ausscheidung von Natrium-Ionen in Zusammenhang steht. Nichtsteroidale Antirheumatika, Mischanalgetika, bestimmte Antibiotika und andere nierentoxische Medikamente sollten weitgehend gemieden werden. Zysteninfektionen werden dagegen möglichst frühzeitig mit zysten- beziehungsweise gallengängigen Antibiotika behandelt.
Nierenersatztherapie
Nur die Nierenersatztherapie, das heißt Dialyse oder Nierentransplantation, sichert bei der terminalen Niereninsuffizienz das Überleben des Patienten. In den meisten Fällen erfolgt die Dialyse in Form der Hämodialyse, da durch die übergroßen Nieren – und oft auch Leber – der Bauchraum sehr beengt ist und eine Peritonealdialyse somit nicht möglich ist. Die Nierentransplantation ist – wenn möglich – der Dialyse vorzuziehen. Sie ermöglicht die Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit, der Lebensqualität und der sozialen Integration der Patienten. Sie verbessert außerdem die Lebenserwartung gegenüber der Dialyse erheblich. Problematisch sind die langen Wartezeiten auf Spendernieren, bedingt durch die geringe Anzahl an verfügbaren Spendernieren.
Polyzystische Nieren werden – gegenüber der früheren üblichen Praxis – nur in Ausnahmefällen, wenn beispielsweise die Nierenvolumina eine kritische Größe angenommen haben, prätransplantativ entfernt.
Zukünftige Therapieansätze
Die Behandlung von Patienten mit Zystennieren verursacht alleine in den USA jährliche Kosten in Höhe von über 1 Mrd. US$. Diese Summe ergibt sich im Wesentlichen aus den Kosten für die beim terminalen Nierenversagen notwendige Nierenersatztherapie.
Die Vermehrung und die Größenzunahme der dünnwandigen, flüssigkeitsgefüllten Zysten hängen von zwei Prozessen ab: Proliferation von Zellen des Zystenepithels und Sekretion von Flüssigkeit in die Zysten. Beide Prozesse sind von cAMP abhängig. cAMP stimuliert den Ras/MAP-Kinase-Weg und führt so zu einem abnormalen Zellwachstum. Zudem aktiviert cAMP den CFTR-Chloridkanal und fördert so die Flüssigkeitssekretion in die Zysten. Derzeit in Erprobung befindliche Therapieansätze setzen an beiden cAMP-abhängigen Prozessen an, um Zystenbildung und -wachstum zu verlangsamen.
Erforscht werden auch eine mögliche Beteiligung des Proteins C-Met und damit verbunden eine Therapie mit C-Met-Inhibitoren, die im Tierversuch mit Mäusen vielversprechende Ergebnisse lieferten.
Bildgebende Verfahren und Untersuchung neuer Therapieansätze
Das Durchschnittsalter bei Diagnosestellung der ADPKD liegt derzeit bei 27 Jahren. Wenn eine Nierenfunktionseinschränkung eintritt, kommt es zu einer raschen Abnahme der GFR von ≈5,9 ml/min pro Jahr. Bislang war keine randomisierte Studie in diesem späten Stadium der Erkrankung in der Lage, den günstigen Effekt einer Behandlung nachzuweisen. Wegen der langen präsymptomatischen Phase und des späten Auftretens der Niereninsuffizienz sind die primären Endpunkte, welche üblicherweise bei Studien zu chronischen Nierenerkrankungen untersucht werden, wie Zeit bis zur Dialysebehandlung, Verdoppelung des Serum-Kreatinins oder Tod, bei Studien zu polyzystischen Nierenerkrankungen nur bedingt brauchbar. Aus diesem Grund wurde das Consortium for Radiologic Imaging Studies of Polycystic Kidney Disease. (CRISP) gegründet, dessen Aufgabe es ist, bildgebende Verfahren zu untersuchen, die in den Frühstadien Aussagen zum Erkrankungsverlauf ermöglichen. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen von CRISP mittels Magnetresonanztomographie ist, dass bei Patienten mit ACPKD die Zysten kontinuierlich und quantifizierbar wachsen und dass das Zystenwachstum mit der Abnahme der Nierenfunktion korreliert. Das heißt, eine stärkere Zunahme der Zystengröße ist mit einer schnelleren Abnahme der Nierenfunktion assoziiert.
HALT-Polycystic Kidney Disease (HALT-PKD) ist eine prospektive Studie, mit der aktuell die Auswirkungen einer Blockade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems und/oder einer strikten Blutdruck-Kontrolle im Frühstadium der Erkrankung auf das Zystenwachstum untersucht werden bzw. in späteren Stadien der Erkrankung die Auswirkungen auf Verdopplung des Serum-Kreatinins, auf Dialysebeginn und auf Tod.
Hemmung der Zellproliferation
In den letzten Jahren konnten mit dem zunehmenden molekularbiologischen Wissen über die Ursachen der PKD neue Therapieansätze gefunden werden. Einige dieser Ansätze befinden sich zurzeit in der klinischen Erprobung. Initiierend war dabei aber eher ein Zufallsbefund: Bei einigen Patienten, die eine Fremdniere erhalten hatten, wurde in einer retrospektiven Studie festgestellt, dass die verbliebene polyzystische Niere an Volumen nicht weiter zunahm, sondern teilweise sich die Zysten etwas zurückbildeten. Die Anzahl der Patienten in der ersten Studie war mit n=4 statistisch zwar nicht aussagekräftig, in verschiedenen Tiermodellen konnte der Effekt jedoch statistisch sicher nachgewiesen werden. Die offensichtliche Ursache für diese Verbesserung war die Einnahme von Sirolimus (Rapamycin), das den Patienten als Immunsuppressivum verabreicht wurde. Patienten mit einer Spenderniere müssen, um eine Abstoßung des Fremdorgans durch das körpereigene Immunsystem zu vermeiden, zeitlebens Immunsuppressiva einnehmen. In Studien am Menschen konnte zwar durch die Behandlung mit den mTOR-Inhibitoren Sirolimus und Everolimus die Zunahme des Nierenvolumens verlangsamt werden, nicht jedoch die fortschreitende Abnahme der Nierenfunktion.
Neben Sirolimus und Derivaten dieser Verbindung wird auch an anderen potenziellen Substanzen geforscht, die zum Teil andere Signalwege nutzen. So sind beispielsweise die cAMP-Antagonisten Somatostatin und Vasopressin potenzielle Wirkstoffe, da erhöhte Werte von cAMP die Proliferation und Sekretion zystischer Epithelzellen stimulieren.
Triptolid ist ein kleines Molekül, das aus einem traditionellen chinesischen Medikament (Thunder God Vine) isoliert wurde und das anti-proliferative und pro-apoptotische Eigenschaften aufweist. Triptolid fördert die Calcium-Freisetzung durch einen Polycystin-2 abhängigen Stoffwechselweg und hemmt im Tiermodell Zystenbildung und Zystenwachstum.
Hemmung der Flüssigkeitssekretion
Bei Patienten mit polyzystischer Nierenerkrankung sind die Spiegel von antidiuretischem Hormon (Vasopressin) erhöht. Der V2-Vasopressin-Rezeptor wird im distalen Tubulus und Sammelrohr exprimiert. Dies sind die Stellen des Nephrons, an denen die Zystenbildung stattfindet. Vasopressin stimuliert über den V2-Rezeptor die Bildung von cAMP im distalen Tubulus.
Im Tiermodell hemmen V2-Rezeptor-Antagonisten die Bildung von cAMP, die Größenzunahme der Nieren sowie die Zystenbildung und schützen die Nierenfunktion.
Der V2-Rezeptor-Antagonist Tolvaptan erwies sich bei Patienten mit ADPKD in Phase II/III-Studien als sicher und gut verträglich. Eine placebokontrollierte Doppelblindstudie an Patienten mit ADPKD, mit normaler Nierenfunktion und mit einem Nierenvolumen von über 750 ml wurde durchgeführt. Das Fortschreiten der Erkrankung kann durch Tolvaptan verlangsamt werden. Seit Mai 2015 hat Tolvaptan in Europa die Zulassung zur Behandlung der ADPKD.
Komplikationen
Typische Komplikationen bei Zystennieren sind Blutdruckerhöhung durch Stimulation des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems und Harnwegsinfekte.
Von den Harnwegsinfekten sind – bedingt durch die kürzeren Harnwege – insbesondere weibliche Patienten stark betroffen. In den meisten Fällen handelt es sich um Infektionen der Harnblase durch gramnegative und nosokomiale Keime. Die Behandlung der Harnwegsinfekte erfolgt symptomatisch, vorzugsweise mit lipophilen Antibiotika. Extreme Infektionen, wie beispielsweise eine Pyonephrose (eine eitrige Hydronephrose), können zur Entfernung der betroffenen Niere (Nephrektomie) führen.
Während die Häufigkeit von Nierensteinen in der Bevölkerung bei etwa 5 % liegt, sind 10 bis 34 % der Patienten mit polyzystischen Nieren von diesen Ablagerungen betroffen. Eine mögliche Ursache für das erhöhte Vorkommen von Nierensteinen ist der niedrige pH-Wert im Urin der Betroffenen.
Je nach Autor und durchgeführter Studie haben 25 bis 75 % aller ADPKD-Patienten mit Zystennieren auch Leberzysten. Die Anzahl der Leberzysten nimmt mit dem Alter der Patienten zu. Frauen sind von größeren und einer höheren Anzahl von Zysten an der Leber betroffen.
Durch die Zysten kann die Leber erheblich vergrößert und regelrecht von Zysten durchsetzt sein. Die Funktion der Parenchymzellen ist in den meisten Fällen jedoch nicht beeinträchtigt. So sind beispielsweise die Werte der Leberenzyme und des Bilirubins normal. Weiterreichende Komplikationen ergeben sich eher durch die Platzbeanspruchung der teilweise extrem vergrößerten Leber. Möglich sind dabei beispielsweise ein Hochstand des Zwerchfells, eine Verengung einzelner Darmabschnitte, was zu einem erschwerten Nahrungstransport führen kann, und die Obstruktion größerer Blutgefäße, wie beispielsweise der Vena cava inferior.
Die ARPKD führt in der Leber zu einer Fibrose, Zirrhose, und zu einem erhöhten Druck in der Pfortader (portale Hypertension).
In anderen Organen wie beispielsweise Bauchspeicheldrüse, Milz oder Eierstöcken finden sich Zysten bei Patienten mit polyzystischen Nieren erheblich seltener.
Bereits 1904 wurde ein Zusammenhang zwischen polyzystischen Nieren und zerebralem Aneurysma beschrieben. Die Daten über die Prävalenz schwanken zwischen 4,5 und 22,5 %.
Ein möglicher Riss (Ruptur) des betroffenen Blutgefäßes ist eine der gefürchtetsten Komplikationen bei Zystennieren und in nahezu 50 % der Fälle tödlich.
Geschichte
Der Pariser Chirurg Félix Lejars (1863–1932) benutzte in seiner Dissertation 1888 erstmals den Begriff polyzystische Nieren.
Der kanadische Mediziner William Osler beschrieb sie 1915. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts befassten sich nur wenige Veröffentlichungen mit diesem Krankheitsbild. Dalgaard erkannte 1957 in seiner Dissertation als erster den autosomal-dominanten Erbgang der ADPKD. 1985 wurde von Reeders und Kollegen der Genlocus von PKD1 auf Chromosom 16 beim Menschen entdeckt.
Literatur
Fachartikel
W. Kühn, G. Walz: Autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung. In: Dtsch Arztebl., 104, 2007, S. A3022–A3028.
I. Ishikawa: Acquired renal cystic disease. In: The Cystic Kidney. Kluwer, 1990, ISBN 0-7923-0392-X, S. 351–377.
J. J. Grantham,P. A. Gabow: Polycystic Kidney Disease. In: Diseases of the Kidney. Little Brown, 1988, S. 583–615.
Joachim Frey: Cystennieren und andere angeborene Anomalien. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 974 f.
Fachbücher
M. L. Watson (Hrsg.): Polycystic kidney disease. Oxford Univ. Press, 1996, ISBN 0-19-262578-0.
H. M. Sass, P. Schröder (Hrsg.): Patientenaufklärung bei genetischem Risiko. LIT Verlag, 2003, ISBN 3-8258-4987-2, S. 147–198.
Patienteninformationen
A. B. Chapman, L. M. Guay-Woodford: The Family and ADPKD: A Guide for Children and Parents. Polycystic Kidney Research Foundation, 1997, ISBN 0-9614567-5-2.
Infoblätter zu Zystennieren in einem Ringordner. Patientenverband PKDeV
Populärwissenschaftlich
T. Kotlorz: Neue Hoffnung für Nierenkranke. In: Die Welt, 23. Juli 2007
H. Jänz: Hoffen auf die Niere. In: Die Welt, 3. Juni 2006
Weblinks
PKD Familiäre Zystennieren e. V.
Urologielehrbuch: Autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD)
zystennieren.de Ruhr-Universität Bochum
Videos
Professor Obermüller:
Einzelnachweise
Krankheitsbild in der Nephrologie
Krankheitsbild in der Urologie
Fehlbildung
Erbkrankheit
Ziliopathie
Proteinfehlfaltungserkrankung |
631463 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fluoreszenzmikroskopie | Fluoreszenzmikroskopie | Die Fluoreszenzmikroskopie ist eine spezielle Form der Lichtmikroskopie. Sie beruht auf dem physikalischen Effekt der Fluoreszenz. Wenn fluoreszierende Stoffe mit Licht bestimmter Wellenlängen angeregt werden, strahlen sie Licht anderer, längerer Wellenlängen ab (Stokes-Verschiebung).
Bei der Fluoreszenzmikroskopie wird das erzeugte, vergrößerte Bild des untersuchten Objekts nur durch abgestrahltes (emittiertes) Licht erzeugt. Farbfilter verhindern, dass Anregungslicht auf das Bild gelangt. Fluoreszenzmikroskopische Bilder sind dann informativ, wenn nicht das ganze mikroskopische Präparat gleichmäßig fluoresziert, sondern wenn nur einige Strukturen leuchten. Diese Strukturen erzeugen helle Signale vor dunklem Hintergrund.
Jedes fluoreszierende Molekül im Präparat kann dabei als neue Lichtquelle angesehen werden. Liegt die Intensität der von diesen Molekülen abgestrahlten Fluoreszenz über der Nachweisgrenze, können mit der Fluoreszenzmikroskopie auch Strukturen nachgewiesen werden, die weit kleiner sind als die Auflösungsgrenze des Mikroskops. Die Auflösungsgrenze wird bei der klassischen Fluoreszenzmikroskopie aber nicht überwunden, da bei kleinem Abstand zwar ein Nachweis möglich ist, aber keine Aussage darüber, ob das Signal von einer oder von mehreren Strukturen hervorgerufen wird. In dieser Hinsicht besteht Ähnlichkeit zur Dunkelfeldmikroskopie.
Neben der klassischen gibt es zahlreiche weiterentwickelte Spezialformen der Fluoreszenzmikroskopie. Hierzu gehören beispielsweise die konfokale Laserscanningmikroskopie und die Multi-Photonen-Fluoreszenzmikroskopie. Ab den 1990er-Jahren wurden verschiedene Verfahren entwickelt, die tatsächlich eine deutlich verbesserte Auflösung ermöglichen. Diese sogenannten Höchstauflösungs- oder Superresolution-Verfahren sind ebenfalls fluoreszenzmikroskopischer Art.
Grundlagen
Fluoreszenz
Ein fluoreszierendes Molekül hat ein Elektron, das durch Absorption eines Photons von einem energiearmen Grundzustand (S0) in einen energiereicheren, angeregten Zustand (S1) übergehen kann. Sowohl S0 als auch S1 haben mehrere Unterzustände, die sich jeweils im Gehalt der Schwingungsenergie (auch: Vibrationsenergie) des Elektrons unterscheiden.
Der Energieunterschied zwischen dem Ausgangs-Schwingungszustand innerhalb von S0 und dem erreichten Schwingungszustand in S1 entspricht genau dem Energiegehalt des absorbierten Photons.
Fällt das Elektron auf einen Grundzustand zurück, wird ein Photon ausgesendet. Diese Lichtemission erfolgt wenige Nanosekunden nach der Absorption – das ist die Fluoreszenz. Damit sie zustande kommt, muss zwischen S0 und S1 ein deutlicher Unterschied im Energiegehalt liegen und es dürfen keine weiteren Energieniveaus dazwischen liegen, da angeregte Elektronen sonst über nichtstrahlende Prozesse in den Grundzustand zurückkehren.
Da sowohl der Grundzustand S0 als auch der angeregte Zustand S1 mehrere Unterzustände haben, können nicht nur Photonen mit genau einem bestimmten Energiegehalt absorbiert oder emittiert werden, sondern auch Photonen mit ähnlichen Energiegehalten. Da sich der Energiegehalt eines Photons umgekehrt proportional zu seiner Wellenlänge verhält, bedeutet das, dass ein fluoreszierender Stoff durch einige ähnliche Wellenlängen angeregt wird: Man spricht vom Anregungsspektrum. Genauso strahlt er einige ähnliche Wellenlängen ab, das Emissionsspektrum.
Das Abstrahlen der Fluoreszenz geschieht grundsätzlich vom niedrigsten angeregten Energieniveau aus (Kasha-Regel). Wird das Elektron durch die Absorption des Anregungsphotons auf einen höheren angeregten Zustand gehoben, so gelangt es zunächst durch nichtstrahlende Energieabgabe auf das niedrigste angeregte Energieniveau, bevor es zur Emission eines Photons kommt. Dies hat für die Fluoreszenzmikroskopie mehrere wichtige Konsequenzen:
Stoffe, die fluoreszieren, werden als Fluorophore bezeichnet. Fluorophore, die verwendet werden um Präparate anzufärben, werden als Fluoreszenzfarbstoffe oder Fluorochrome bezeichnet.
Autofluoreszenz und Fluorochrome
Wenn ein Präparat von selbst fluoresziert, wird dies als Autofluoreszenz, Eigenfluoreszenz oder Primärfluoreszenz bezeichnet. Viele Pflanzen haben in verschiedenen Teilen sehr starke Autofluoreszenz, zum Beispiel Samenpflanzen in den hölzernen Teilen ihrer Sprossachsen. Das Chlorophyll in den Chloroplasten der grünen Pflanzenzellen ist stark rot fluoreszierend. Tierische Zellen fluoreszieren im Vergleich dazu nur schwach, jedoch noch stark genug, um Fluoreszenzmarkierungen unter Umständen zu verschleiern. Die Hauptquellen hier sind Flavine, die in den Mitochondrien vorkommen und Lipofuscin in den Lysosomen. Das Coenzym NADPH zeigt ebenfalls Autofluoreszenz.
Eine in einem Präparat mit Fluorochromen künstlich erzeugte Fluoreszenz ist eine Sekundärfluoreszenz. Der Prozess, der dazu führt, heißt Fluoreszenzmarkierung. Gute Fluorochrome vereinigen mehrere Eigenschaften: (1) Sie haben eine hohe Wahrscheinlichkeit ein Photon zu absorbieren, das heißt, sie haben einen hohen Absorptionskoeffizienten. (2) Die meisten der absorbierten Photonen führen tatsächlich zur Emission eines Flureszenzphotons (hohe Quanteneffizienz). Beides zusammen führt zu einer großen Helligkeit. (3) Fluorochrome sollten ein geringes Bleichen aufweisen, das heißt, dass sie sich oft anregen lassen, ohne zerstört zu werden. (4) Außerdem sollten Fluorochrome in einem möglichst schmalen Bereich des Lichtspektrums fluoreszieren, damit möglichst viele Fluorochrome mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarben gleichzeitig verwendet werden können, um unterschiedliche Strukturen anzufärben.
Farbkanäle
Wenn sich die Anregungs- und Emissionsspektren zweier Fluorochrome stark überlappen, dann können diese nicht voneinander unterschieden werden. Beispielsweise haben Fluorescein, Grün fluoreszierendes Protein, Spectrum Green und eine Reihe weiterer kommerziell erhältlicher Farbstoffe sehr ähnliche Spektren, so dass sie anhand ihrer Fluoreszenzfarbe nicht unterschieden werden können. Wenn verschiedene Fluoreszenzfarbstoffe nebeneinander eingesetzt werden sollen, um verschiedene Strukturen anzufärben, müssen diese Farbstoffe unterschiedliche Spektren haben. Typischerweise regt UV-Licht blau fluoreszierende Fluorochrome an, blaues Licht grüne Fluorochrome und grünes Licht rote Fluorochrome. Diese drei Farbkanäle lassen sich also verwenden, um im gleichen Präparat unterschiedliche Strukturen darzustellen.
Damit ist die Zahl der gleichzeitig nachweisbaren Farben jedoch nicht erschöpft. Acht verschiedene Fluorochrome wurden bereits parallel eingesetzt. Dazu verwendete man DAPI als blau fluoreszierende Gegenfärbung für DNA sowie sieben weitere Farbstoffe, die an Gensonden für Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung gekoppelt wurden: Diethylaminocoumarin (Deac), Spectrum Green und die Cyanin-Farbstoffe Cy3, Cy3.5, Cy5, Cy5.5 und Cy7. Die meisten Fluoreszenzmikroskope haben drei bis fünf Farbkanäle.
Aufbau von Fluoreszenzmikroskopen
Bei der „normalen“ Lichtmikroskopie, der Durchlicht-Hellfeldmikroskopie, wird das Bild durch Licht erzeugt, welches das Präparat durchstrahlt. Dies ist bei der Fluoreszenzmikroskopie nicht der Fall. Hier wird das Bild durch Fluoreszenzlicht erzeugt, das erst im Präparat entsteht. Das Anregungslicht, welches das Präparat bestrahlt, wird dagegen durch spezielle Filter von der Bilderzeugung ausgeschlossen. Da sich Fluoreszenzlicht unter normalen Bedingungen gleichmäßig in alle Raumrichtungen ausbreitet, ist es daher grundsätzlich egal, ob das Anregungslicht von oben, von unten oder von der Seite kommt. Tatsächlich wurden alle drei Varianten umgesetzt.
Zu Beginn der Fluoreszenzmikroskopie, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurden Durchlicht-Fluoreszenzmikroskope gebaut. Sie sind heute nur noch von historischem Interesse (siehe Abschnitt Geschichte unten). Durch die Verfügbarkeit Dichroitischer Spiegel (auch: dichroitischer Strahlteiler) wurde es ab etwa 1970 möglich, Auflicht-Fluoreszenzmikroskope zu bauen, bei denen das Anregungslicht über das Objektiv in das Präparat eingestrahlt wird. Sie werden auch Epifluoreszenzmikroskope genannt, nach griechisch für „auf“. Seit Ende des 20. Jahrhunderts wird dieser Bautyp fast ausschließlich verwendet. Die seitliche Beleuchtung findet bei einem spezialisierten Fluoreszenzmikroskop Anwendung, dem Lichtscheibenmikroskop (siehe unten).
Das Epifluoreszenzmikroskop: das typische Fluoreszenzmikroskop
Im Vergleich zu Durchlicht-Hellfeldmikroskopen haben Epifluoreszenzmikroskope eine zusätzliche Auflicht-Beleuchtungsachse für das Fluoreszenz-Anregungslicht. Das zu beobachtende Objekt wird durch das Objektiv beleuchtet. Die folgende Nummerierung bezieht sich auf die Schemazeichnung.
Durch einen passend ausgewählten optischen Filter, den Anregungsfilter, wird von der verwendeten Lampe nur der Teil des erzeugten Lichts durchgelassen, der die für die Anregung des Fluoreszenzfarbstoffs notwendigen Wellenlängen enthält. Der Bereich des Spektrums, in welchem der Fluoreszenzfarbstoff leuchtet, darf vom Anregungsfilter nicht durchgelassen werden.
Ein Strahlteiler spiegelt das Anregungslicht zum Objektiv, worauf im Präparat die Fluoreszenz entsteht. Das Objektiv übernimmt also auch die Funktion des Kondensors. Die Fluoreszenz ist langwelliger als das Anregungslicht.
Der Anteil des Fluoreszenzlichts, der vom Objektiv gesammelt wird, gelangt wiederum zum Strahlteiler. Durch dessen besondere Eigenschaften wird dieses längerwellige Licht in Richtung Okular oder Detektor durchgelassen (und nicht gespiegelt). Anregungslicht, das im Präparat reflektiert wird, wird dagegen weitgehend wieder zur Lampe gelenkt.
Da Strahlteiler nicht ganz perfekt arbeiten, gelangt ein geringer Teil des im Präparat reflektierten Anregungslichts trotzdem in Richtung Okular beziehungsweise Detektor. Da die Intensität der Fluoreszenz im Vergleich zur Anregung sehr schwach ist, ist deshalb ein weiterer optischer Filter, genannt Sperrfilter oder Emissionsfilter, erforderlich, um dieses restliche Anregungslicht zu eliminieren.
Die drei genannten Filter sind in heutigen Fluoreszenzmikroskopen oft in einen gemeinsamen Block eingebaut. Dieser befindet sich bei aufrechten Mikroskopen in der optischen Achse über dem Objektiv. Bei inversen Fluoreszenzmikroskopen befindet er sich entsprechend unter dem Objektiv. Bei Geräten mit Unendlich-Optik liegt er im Unendlichraum zwischen Objektiv und Tubuslinse.
Lichtquellen
Die Erzeugung der Fluoreszenz im Präparat ist kein effektiver Prozess: Nur ein Bruchteil des Anregungslichts wird von den Fluoreszenzfarbstoffen absorbiert. Um trotzdem helle, mit dem Auge sichtbare Signale erzeugen zu können, sind daher sehr hohe Leuchtstärken erforderlich.
Typischerweise sind Fluoreszenzmikroskope mit Quecksilberdampflampen, Halogenmetalldampflampen, Xenon-Gasentladungslampen oder, seit dem 21. Jahrhundert, mit LED-Lampen ausgestattet. Die meisten Lichtquellen leuchten über das gesamte sichtbare Spektrum sowie im ultravioletten Bereich. Die für das jeweils zu untersuchende Fluorochrom erforderlichen Wellenlängen werden durch einen entsprechenden Filter ausgewählt und alle anderen unterdrückt.
Filter
Während früher Farbfilter aus gefärbtem Glas zum Einsatz kamen, werden heute oft Interferenzfilter verwendet. Interferenzfilter sind jedoch deutlich teurer, so dass gefärbtes Glas immer noch zur Anwendung kommt. Für Anregungs- und Emissionsfilter können beide Typen verwendet werden. Der dichroitische Strahlteiler kann nur als Interferenzfilter hergestellt werden.
Interferenzfilter bestehen aus einer Glasscheibe, auf die mehrere dünne Materialschichten aufgetragen werden. Zwischen den Schichten entstehen Interferenzen, so dass bestimmte Wellenlängen durchgelassen werden, andere aber gespiegelt werden. Im Gegensatz zu farbigem Glas wird das Licht also nicht absorbiert. Durch die Wahl geeigneter Materialien und Schichtdicken können Filter für unterschiedliche Wellenlängen hergestellt werden. Licht, das in unterschiedlichen Winkeln auf Interferenzfilter auftrifft, legt unterschiedlich lange Strecken in den jeweiligen Schichten zurück. Daher ändern sich die Filtereigenschaften in Abhängigkeit vom Einfallswinkel des Lichts. Ein Interferenzfilter muss deswegen im vorgesehenen Winkel im Mikroskop eingebaut werden, um richtig zu funktionieren.
Von der Funktionsweise her werden Kurzpass-, Langpass- und Bandpass-Filter unterschieden. Kurzpassfilter lassen Licht bis zu einer bestimmten Wellenlänge durch. Ein KP480 würde also Licht bis zu 480 nm durchlassen und Licht längerer Wellenlängen blockieren. Im Gegensatz dazu lassen Langpass-Filter Licht ab einer bestimmten Wellenlänge durch, ein LP520 also Licht mit Wellenlängen länger als 520 nm. Bandpass-Filter lassen nur einen bestimmten Abschnitt des Spektrums durch. Ein Bandpassfilter mit der Bezeichnung 525/50 lässt ein spektrales Fenster von 50 nm passieren, dessen Mitte bei 525 nm liegt, also ein Fenster von 500–550 nm. Die Eigenschaften eines Filters werden meist nur auf den sichtbaren Bereich und direkt angrenzende spektrale Bereiche bezogen. Es kann daher sein, dass zum Beispiel ein Bandpassfilter für den sichtbaren Bereich im Infrarot wieder durchlässig wird. Dies kann bei Zwei-Photonen-Fluoreszenzanregung (siehe unten) zu Problemen führen.
Mit Interferenzfiltern lassen sich auch komplexere spektrale Eigenschaften realisieren. Beispielsweise kann ein Filter mehrere spektrale Fenster durchlassen, die Bereiche dazwischen aber blockieren (Multi-Bandpass). Auch dichroitische Strahlteiler, die mehrere spektrale Bereiche spiegeln und dazwischen liegende Bereiche durchlassen, sind machbar (Multi-Dichroic). Dadurch wird es möglich, mehrere Fluoreszenzkanäle gleichzeitig zu sehen. Manche Lichtquellen können sehr schnell zwischen verschiedenen Anregungswellenlängen hin und herschalten, zum Beispiel einige LED-Geräte. Unter Verwendung eines Multi-Dichroics und eines Multi-Bandpassfilters als Emissionsfilter können verschiedene Fluoreszenzkanäle sehr schnell abwechselnd verwendet werden, da keine Filter bewegt werden müssen.
In Epifluoreszenzmikroskopen sind Anregungsfilter, Strahlteiler und Emissionsfilter meist zu Filterblöcken zusammengefasst. Von einem Kanal zum anderen werden dabei alle drei Filter gemeinsam ausgetauscht, indem man entweder einen Schieber verschiebt, in dem Kombinationen für drei bis vier Farben enthalten sind, oder indem ein Rad gedreht wird, auf dem mehrere Filterwürfel für jeweils einen Kanal montiert sind.
In manchen Laserscanningmikroskopen, die mit Fluoreszenz funktionieren, wird die Funktion von Anregungsfiltern oder Strahlteilern durch Akustooptische Modulatoren (AOM, auch: acousto-optical tunable filter (AOTF) oder acousto-optical beam splitter (AOBS)) ersetzt. Der Emissionsfilter kann ersetzt werden, indem das Fluoreszenzlicht, das in diesen Geräten nur von einem Punkt kommt, vor der Detektion spektral aufgetrennt wird und dann nur gewünschte Teile des Spektrums detektiert werden. Eine solche Auftrennung wird mit einem Prisma oder einem Beugungsgitter erreicht.
Detektoren
Präparate mit heller Fluoreszenz im für das menschliche Auge gut sichtbaren Bereich bis etwa 620 nm Wellenlänge können direkt durch das Okular betrachtet werden. Zur Dokumentation werden Kameras eingesetzt. Während früher fotografischer Film verwendet wurde, fand Ende des 20. Jahrhunderts eine Umstellung auf elektronische Kameras statt. Häufig werden CCD-Kameras verwendet, die Schwarzweißbilder aufnehmen. Durch den Verzicht auf Farbfilter in der Kamera können alle Pixel jede Farbe aufnehmen, das Bild wird heller, als es bei Farbkameras der Fall wäre. Welche Farbe von der Kamera tatsächlich aufgenommen wird, wird durch den vorgeschalteten Emissionsfilter festgelegt. Verschiedenfarbige Fluoreszenzfarbstoffe in einem Präparat werden nacheinander aufgenommen und können im Computer übereinander gelegt werden. Dabei kann den jeweiligen Farbstoffen eine beliebige Farbe zugeordnet werden, wahlweise ihre natürliche Farbe oder eine andere, letzteres etwa um Farben besser zu kontrastieren.
Schwierigkeiten bei der Fluoreszenzmikroskopie
Ausbleichen der Fluoreszenz
Fluoreszierende Moleküle lassen sich nicht beliebig oft anregen, da sie durch das Anregungslicht zerstört werden können. Der als Photobleichung bezeichnete Prozess geschieht je nach Photostabilität der fluoreszierenden Präparate schneller oder langsamer. Für ein einzelnes fluoreszierendes Molekül ist Ausbleichen dann mehr oder weniger wahrscheinlich.
Ein Molekül im angeregten Zustand kann nicht nur durch Fluoreszenz wieder in den Grundzustand (S0) übergehen. Eine zweite Möglichkeit ist die Innere Umwandlung, bei der die Energie beim Übergang in den Grundzustand in Wärme umgewandelt wird. Eine dritte ist das Ausbleichen, bei der es zur Zerstörung des Farbstoffs durch photochemische Reaktionen kommt. Diese Reaktionen hängen mit den Spin-Zuständen der Elektronen zusammen.
Die Elektronen eines Fluorochroms befinden sich normalerweise in einem Singulett-Zustand, in dem alle Elektronen des Moleküls Spin-gepaart sind. Daher wird der Grundzustand auch als S0, der „normale“ angeregte Zustand als S1 bezeichnet (siehe Abbildung mit Energiediagramm). Wie oben beschrieben haben S0 und S1 mehrere Unterzustände, die sich im Energieniveau jeweils wenig unterscheiden. Zusätzlich gibt es aber weitere, noch energiereichere angeregte Zustände, die im Energieniveau deutlich höher liegen als S1. Sie werden als S2, S3 und so weiter bezeichnet. Auch diese haben mehrere Unterzustände. Durch ein energiereiches Photon kann ein Molekül aus dem Grundzustand auch in einen dieser Zustände befördert werden. Das Absorptionsspektrum zeigt dann bei Wellenlängen mit dem entsprechenden Energiegehalt ein lokales Maximum (siehe Abbildung der Spektren). Das Fluoreszenzspektrum bleibt aber gleich, da das Fluoreszenz-Photon immer vom niedrigsten angeregten Zustand ausgesandt wird (siehe auch oben).
Neben den Singulett-Zuständen kommen auch Triplett-Zustände vor. Der energieärmste Triplett-Zustand wird als T1 bezeichnet (siehe Energiediagramm), energiereichere als T2, T3 und so weiter. Der Übergang von einem Singulett- in einen Triplett-Zustand wird als Intersystem Crossing bezeichnet. Bei diesem Übergang muss sich der Spin eines Elektrons umdrehen, so dass dann ein ungepaartes Set von Elektronenspins vorliegt. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist normalerweise gering, steigt aber deutlich, wenn sich das Molekül in einem der höheren angeregten Zustände befindet, also S2 oder höher. Um die Wahrscheinlichkeit für einen Übergang zu den Triplett-Zuständen zu minimieren, sollte die Anregung nach S2 oder höher nach Möglichkeit vermieden werden, denn aus Triplett-Zuständen kann keine Fluoreszenz entstehen, und diese Zustände sind langlebig.
Aus dem Triplett-Zustand kann das Elektron seine Energie entweder als Wärme abgeben, um wieder in den Grundzustand zu gelangen, oder es gibt ein Photon ab. Dieses Photon entsteht deutlich später nach der Anregung als Fluoreszenz, es handelt sich um Phosphoreszenz.
Aus dem Triplett-Zustand heraus kann das Fluorochrom aber auch zerstört werden, also Ausbleichen. Im Gegensatz zu den angeregten Singulett-Zuständen ist die Verweildauer im Triplett-Zustand deutlich länger, daher ergibt sich hier eher die Möglichkeit mit anderen Molekülen der Umgebung chemisch zu reagieren.
Hat der Fluoreszenzfarbstoff chemisch reagiert, ist das Reaktionsprodukt in der Regel nicht fluoreszierend und der Farbstoff ist ausgebleicht. Von besonderer Bedeutung ist die Reaktion mit molekularem Sauerstoff, O2, da dieser einen Triplett-Grundzustand hat und Triplett-Triplett-Reaktionen sehr effektiv ablaufen.
Bleichen kann daher verringert werden, wenn Sauerstoff aus dem Präparat entfernt wird. Dies kann durch sogenannte Antifade-Substanzen (englisch für Antibleichmittel) erreicht werden, die reduzierende Wirkung haben. Zum Einsatz kommen Antioxidantien, zum Beispiel para-Phenylamin-Diamin, DABCO oder Gallate.
Ganz lässt sich das Bleichen jedoch nicht verhindern. Daher ist es wichtig, für die Fluoreszenzmarkierung Fluorochrome auszuwählen, die möglichst photostabil sind.
Phototoxizität
Die im vorigen Abschnitt beschriebenen Reaktionen treten auch bei der Fluoreszenzmikroskopie von lebenden Zellen oder Organen auf. Hier kommt es nicht nur zum Ausbleichen, sondern die bei der Reaktion mit Sauerstoff entstehenden reaktiven Sauerstoffspezies können in einer Nachfolgereaktion zelluläre Komponenten schädigen und so zum Tod der Zelle führen. Auch hier kann die Zugabe von reduzierenden Stoffen helfen, etwa Ascorbinsäure oder Trolox.
Kurzwelliges Licht, besonders UV-Licht, kann Zellen aber auch direkt schädigen, ohne dass Fluoreszenz hervor gerufen wird. Dies stellt ein Problem bei Lichtquellen mit breitem Spektrum und hohem UV-Anteil dar, wie bei Quecksilberdampflampen. Der hohe UV-Anteil der Lichtquelle kann durch Filter nicht vollständig blockiert werden. Die Verwendung von UV-freien Lichtquellen wie LED, Lasern oder Halogenlampen ist daher für Lebendbeobachtungen von Vorteil.
Beide Probleme verringern sich, wenn die Belichtung für die jeweilige Fragestellung so gering wie möglich gehalten wird. Hierzu können auch besonders empfindliche Kameras oder andere Detektoren beitragen. Die Bildung reaktiver Sauerstoffspezies kann verringert werden, wenn das Aufsuchen des Bildbereichs (Zellen) und das Fokussieren nicht mit Fluoreszenz, sondern mit Hellfeld, Phasenkontrast, Differentialinterferenzkontrast oder vergleichbaren Verfahren erfolgt und die fluoreszenzmikroskopische Untersuchung dadurch auf ein Minimum beschränkt wird.
Neben den genannten phototoxischen Effekten kann es bei zu hohen Konzentrationen der für die Fluoreszenzmarkierung verwendeten Substanzen zur direkten Vergiftung der Zellen kommen.
Übersprechen von Signalen in benachbarte Farbkanäle
Als (englisch für durchbluten) oder , also Übersprechen, wird es bezeichnet, wenn bei einer Mehrfachmarkierung ein Signal auch im benachbarten Farbkanal zu sehen ist. Das langwellige Ende des Emissionsspektrums der meisten Fluorochrome fällt nur sehr langsam gegen Null ab. Daher kommt es bei gleichzeitiger Anregung und Detektion von im Spektrum benachbarten Fluorochromen häufig zum Übersprechen, beispielsweise eines grünen Fluorochroms in den benachbarten orangefarbenen Kanal. Dies kann verhindert oder zumindest vermindert werden, wenn enge Bandpass-Filter verwendet werden und/oder die Farbstoffe nicht gleichzeitig, sondern nacheinander angeregt werden.
Präparateerstellung und Anwendungen in den Lebenswissenschaften
In den Biowissenschaften wird Fluoreszenzmikroskopie vielfältig eingesetzt. Manche zu untersuchende Objekte sind von selbst fluoreszierend. Dies wird als Autofluoreszenz bezeichnet. Beispielsweise haben Pflanzen Chlorophylle und andere Pigmente, die natürlicherweise fluoreszieren. Autofluoreszenz ist aber häufig unerwünscht, da sie als Hintergrundfluoreszenz das Erkennen von künstlichen Fluoreszenzen erschwert.
Für biomedizinische Anwendungen ist eine Vielzahl von Methoden für die Fluoreszenzmarkierung entwickelt worden. Manche Fluoreszenzfarbstoffe binden auf Grund ihrer chemischen Eigenschaften direkt an die zu untersuchende Struktur. In diese Gruppe fallen beispielsweise DNA-Farbstoffe wie DAPI, Acridinorange und Hoechst 33342 oder Membranfarbstoffe wie Nilrot oder DiI. Einige solcher Farbstoffe können auch lebende Zellen anfärben.
In anderen Fällen wird ein nicht-fluoreszierendes Molekül, das an die zu untersuchende Struktur bindet, chemisch mit einem Fluoreszenzfarbstoff gekoppelt. Beispiele für diesen Ansatz sind die Immunfluoreszenz, bei der Fluoreszenz-markierte Antikörper verwendet werden, die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung, eine Technik zum mikroskopischen Nachweis von größeren DNA-Abschnitten, oder die Färbung von Aktin mit fluoreszenzmarkiertem Phalloidin.
Proteine können gentechnisch mit einem fluoreszierenden Protein wie GFP fusioniert werden. Aus dem fluoreszenzmikroskopischen Bild können anschließend Rückschlüsse auf die Verteilung und Anordnung des untersuchten Proteins in der lebenden und meist fixierten Zelle gezogen werden, (etwa im Zellkern, im Cytoplasma, Zellmembran-gebunden oder nach außen exportiert) beziehungsweise Zellbestandteile durch ihre spezifischen Proteine visualisiert werden (wie Aktinfilamente durch Aktin oder Mikrotubuli durch Tubulin). Auch Interaktionen von Proteinen untereinander sind beobachtbar, wenn diese mit verschiedenen fluoreszierenden Proteinen fusioniert werden.
Fluoreszierende Proteine können auch unter Kontrolle eines Zelltyp-spezifischen Promotors exprimiert werden, um bestimmte Zelltypen zu identifizieren.
Eine weitere Gruppe bilden Sonden, deren Fluoreszenzverhalten sich in Abhängigkeit vom Zustand ihrer Umgebung ändert. Calcium-abhängige Farbstoffe wie Aequorin, Fura-2, Furaptra, Calcein und Indo-1 können Schwankungen der Konzentration an Calciumionen in einer Zelle anzeigen. Mit spannungsabhängigen Farbstoffen oder den Reporterproteinen VSFP oder PROPS können Spannungsänderungen in einer Zelle dargestellt werden. Mit Redox-sensitiven Reporterproteinen wie roGFP, rxYFP oder HyPer können Redox-Potentiale verfolgt werden. Fluoreszierende pH-Indikatoren können unterschiedliche pH-Werte in einer Zelle sichtbar machen.
Anwendungen in den Materialwissenschaften
Im Gegensatz zu den Lebenswissenschaften werden in den Materialwissenschaften selten Fluoreszenzfarbstoffe eingesetzt. Die Anwendung von Fluoreszenzmikroskopie beschränkt sich meist auf Fälle, in denen das Material autofluoreszent ist. So sind manche Bestandteile von Verbundwerkstoffen fluoreszierend und können von anderen nicht fluoreszierenden Bestandteilen unterschieden werden. Zur besseren Darstellung der Gegebenheiten kann in einem Konfokalmikroskop Fluoreszenz mit Reflexion kombiniert werden. Dadurch lassen sich etwa in glasfaser-verstärkten Verbundwerkstoffen fluoreszierende Bindemittel (Grundpolymer) von nicht fluoreszierenden Fasern unterscheiden.
Organische Fasern in Papier, Holz oder Bast wurden in etlichen Studien untersucht, um deren Anordnung oder Zusammensetzung zu bestimmen.
Auch verschiedene Typen von Solarzellen können fluoreszenzmikroskopisch untersucht werden. Häufig kommt dabei konfokale Fluoreszenzmikroskopie zum Einsatz, auch in Kombination mit konfokaler Reflexions-Mikroskopie. In organischen Solarzellen kann der Verlust von fluoreszierenden organischen Komponenten untersucht werden, der durch Oxidation mit in die Zelle eingedrungenem Sauerstoff verursacht wird; vorausgesetzt die Abbauprodukte sind nicht fluoreszierend.
In Perowskit-Solarzellen wurde analysiert, welchen Einfluss Licht auf die Bildung der gleichnamigen Perowskit-Schicht hat.
Obwohl etliche Mineralien fluoreszieren, wird Fluoreszenzmikroskopie in der Petrologie wenig genutzt. Eine bemerkenswerte Ausnahme sind Untersuchungen von Kohle und von organischen Einschlüssen in Sedimenten. Reine Mineralien sind meist nicht fluoreszierend, eine Fluoreszenz kann aber durch verschiedene anorganische oder organische Verunreinigungen hervorgerufen werden. Solche gesteinsbildenden Komponenten von Kohle, die einen organischen Ursprung haben, werden als Mazerale bezeichnet. Eine Untergruppe sind die lipidreichen Liptinite. Diese fluoreszierenden Bestandteile können besonders gut an polierten Oberflächen mikroskopisch von nicht-fluoreszierenden anorganischen Bestandteilen unterschieden werden. Während der Kohleentstehung ändern sich die fluoreszenten Eigenschaften, so dass sich Materialien aus verschiedenen Lagerstätten unterscheiden lassen.
Spezielle fluoreszenzmikroskopische Verfahren
Lichtscheibenmikroskopie
Bei der Lichtscheibenmikroskopie (; auch Lichtblattmikroskopie oder single plane illumination microscopy, SPIM) wird das Anregungslicht von der Seite als Lichtscheibe beziehungsweise Lichtblatt eingestrahlt. Dies kann durch ein zweites Objektiv oder eine entsprechende Zylinderlinse geschehen, das oder die senkrecht zum Beobachtungsobjektiv steht und eine eng begrenzte Ebene des Präparats ausleuchtet. Nur in dieser ausgeleuchteten Scheibe wird Fluoreszenz erzeugt und diese Ebene wird im Beobachtungsobjektiv scharf gestellt. In anderen Ebenen wird also keine unscharfe Hintergrundfluoreszenz erzeugt, die bei normaler Fluoreszenzmikroskopie zu einer Verminderung des Kontrasts führt. Das Verfahren erlaubt es, die axiale Auflösung eines normalen Fluoreszenzmikroskops zu verbessern, wenn das Lichtblatt dünner als die Schärfentiefe des Beobachtungsobjektivs ist. Die seitliche Beleuchtung des Untersuchungsobjekts ähnelt der Anordnung im Spaltultramikroskop.
Konfokale und Zwei-Photonen-Fluoreszenzmikroskopie
Bei konfokalen wie auch bei Zwei-Photonen-Mikroskopen wird das Präparat abgerastert: Das Anregungslicht wird auf einen Punkt fokussiert, die Fluoreszenz von diesem Punkt gelangt zum Detektor. Der Punkt wird über das Präparat bewegt und die jeweils gemessenen Fluoreszenzintensitäten werden in einem Steuerungscomputer zu einem Bild zusammengesetzt.
Bei der konfokalen Fluoreszenzmikroskopie entsteht im Beleuchtungskegel über und unter der Schärfeebene ebenfalls Fluoreszenz. Diese gelangt jedoch nicht zum Detektor, da sie von einer Lochblende (engl. pinhole) in der Zwischenbild-Ebene blockiert wird. Durch das Blockieren dieser Hintergrundfluoreszenz tritt das Signal in der Schärfeebene gegenüber dem Hintergrund besser hervor als in der klassischen Fluoreszenzmikroskopie. Auf Grund dieser deutlich kontrastreicheren Bilder sind konfokale Mikroskope in der biologischen Forschung weit verbreitet.
Ein Fluoreszenzfarbstoff kann statt durch Absorption eines Photons auch durch eine Zwei-Photonen-Absorption angeregt werden. Voraussetzung dafür ist, dass diese beiden Photonen quasi gleichzeitig am Fluoreszenzfarbstoff eintreffen, und dass beide zusammen den richtigen Energiegehalt haben, um ein Elektron des Farbstoffes auf ein angeregtes Energieniveau zu heben. Beide Bedingungen können erfüllt werden, wenn zur Anregung ein gepulster Laser verwendet wird, der, je nach anzuregendem Fluoreszenzfarbstoff, Wellenlängen zwischen 700 und 1200 nm mit hoher Intensität erzeugt, und dieses Licht durch das Objektiv auf einen Punkt fokussiert wird. Die Photonendichte ist dann so hoch, dass eine ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass zwei Photonen gleichzeitig am fluoreszierenden Molekül eintreffen, gegeben ist. Im Gegensatz zur Konfokalmikroskopie, wo das Auslesevolumen beschränkt wird, ist hier das Anregungsvolumen limitiert. Längerwelliges Licht hat eine höhere Eindringtiefe in biologische Gewebe, da es von diesen weniger stark absorbiert und auch weniger stark gestreut wird. Zwei-Photonen-Fluoreszenz-Mikroskopie wird daher eingesetzt, um tiefer in Gewebe einzudringen, als dies mit anderen Verfahren möglich ist. Zusammen mit Methoden, die nicht auf Fluoreszenz beruhen, wird dieses Verfahren als Multiphotonenmikroskopie oder Nicht-lineare Mikroskopie bezeichnet.
Fluoreszenzkorrelationsspektroskopie
Die Fluoreszenzkorrelationsspektroskopie (abgekürzt FCS nach englisch fluorescence correlation spectroscopy) ist zwar eine fluoreszenzmikroskopische Methode, bei ihr wird jedoch kein Bild erzeugt. In einem Konfokalmikroskop wird der Anregungslaser nicht über das Präparat gerastert, sondern auf einer Stelle geparkt. Es wird somit ein sehr kleines Volumen über einen längeren Zeitraum beobachtet. Bewegen sich fluoreszierende Moleküle in dieses Volumen hinein oder hinaus, so ändert sich die gemessene Helligkeit. Anhand einer solchen Messreihe kann beispielsweise bestimmt werden, wie schnell Moleküle in einer Lösung diffundieren. Da die Diffusionsgeschwindigkeit unter anderem von der Größe abhängt, lässt sich beispielsweise untersuchen, ob ein fluoreszenzmarkiertes Protein an ein zweites, ebenfalls in der Lösung vorhandenes Protein bindet und sich dadurch langsamer bewegt.
Verfahren mit erhöhter Auflösung
Als Auflösung wird in der Mikroskopie der Abstand bezeichnet, den zwei Strukturen haben müssen, um als getrennte Strukturen wahrgenommen zu werden. Ernst Abbe hat im 19. Jahrhundert als erster verstanden, dass diese Auflösung fundamental durch Beugung begrenzt ist. Diese Grenze wird daher als Abbe-Limit bezeichnet. Sie kann mit entsprechenden Formeln genau berechnet werden und liegt für gute Mikroskope bei Verwendung von Ölimmersion und in Abhängigkeit von der Wellenlänge bei etwa 200 nm.
Das Abbe-Limit galt lange als unüberwindbar. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden jedoch einige mikroskopische Verfahren entwickelt, deren Auflösung besser ist als vom Abbe-Limit vorhergesagt. Das mit Abstand älteste dieser Verfahren ist die Konfokalmikroskopie (siehe auch den Abschnitt Auflösung im Artikel Konfokalmikroskop.) Die theoretische Verbesserung liegt jedoch nur beim Faktor Wurzel von 2 ≈ 1,41. Aus praktischen Gründen kann auch dieser nicht erreicht werden.
In den 1980er-Jahren wurde die TIRF-Mikroskopie () vorgeschlagen. Mit ihr werden ausschließlich Fluoreszenzfarbstoffe im Präparat angeregt, die sich sehr nah am Deckglas befinden. Ist das Präparat, zum Beispiel lebende Zellen, in wässrigem Medium, so dringt die Anregung vom Deckglas ausgehend nur in eine Schicht von 100–200 nm Dicke ein. Die Schichtdicke ist damit deutlich geringer als es beugungsbedingt mit normaler Mikroskopie möglich wäre. Dadurch ergibt sich ein deutlich höherer Kontrast, da nur wenig Material zur Fluoreszenz angeregt wird. Diese spezielle Form der Anregung wird erreicht, indem das Präparat in einem Winkel angestrahlt wird, der so groß ist, dass an der Kante vom Deckglas zum wässrigen Medium Totalreflexion auftritt und der Lichtstrahl somit gar nicht in das Präparat eindringt. An der Kante tritt jedoch eine evaneszente Welle auf, die zur Anregung führen kann, die sich aber mit zunehmender Entfernung vom Deckglas sehr schnell abschwächt.
Während „Auflösung“ per Definition den Mindestabstand zwischen zwei Strukturen bezeichnet, kann man die genaue Position eines Objekts sehr genau messen. Fluoreszenzmikroskopisch kann man daher das Abbe-Limit umgehen, wenn man die genaue Position von Objekten in verschiedenen Farbkanälen bestimmt und danach den Abstand zwischen diesen misst. Diese Technik wurde in den 1990er-Jahren entwickelt und später als Spektrale Präzisions-Distanz-Mikroskopie (SPDM) bezeichnet. Zwar ließen sich mit ihr Abstände von kleinen fluoreszierenden Strukturen bis auf etwa 70 nm genau messen. Sie führt jedoch nicht zu einer generellen Auflösungsverbesserung, da jeder der aufgenommenen Farbkanäle für sich der Beugung unterliegt.
Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts sind jedoch einige Methoden entwickelt worden, mit denen eine generelle Verbesserung möglich ist. Sie werden gemeinschaftlich im Englischen als superresolution microscopy, manchmal auch als nanoscopy bezeichnet. Allen ist gemeinsam, dass sie auf Fluoreszenzmikroskopie beruhen. Drei dieser Verfahren haben eine gewisse Verbreitung erfahren und sind kommerziell erhältlich: STED, strukturierte Beleuchtung und Lokalisationsmikroskopie. Daneben gibt es weitere Verfahren, die sich nicht gegen die genannten behaupten konnten, oder die bisher nur von einzelnen Gruppen angewendet werden. Einige Verfahren werden auf Grund von gemeinsamen Eigenschaften als RESOLFT-Mikroskopie zusammengefasst.
Die hochauflösende Fluoreszenzmikroskopie wurde von der Zeitschrift Nature Methods zur Methode des Jahres 2008 gekürt. William Moerner, Eric Betzig und Stefan Hell erhielten 2014 den Nobelpreis für Chemie für die Entwicklung einiger dieser Methoden.
STED-Mikroskopie
Bei der STED-Mikroskopie () wird die Beugungsgrenze deutlich überwunden. Der Anregung eines beugungsbegrenzten Volumens im Präparat folgt eine ringförmige Abregung durch Licht längerer Wellenlänge. Dabei fallen die angeregten Moleküle im Bereich der Abregung über stimulierte Emission wieder in den Grundzustand. Das Fluoreszenz emittierende Volumen verkleinert sich dadurch wesentlich und die Auflösung des Mikroskops erhöht sich.
Strukturierte Beleuchtung
Bei der strukturierten Beleuchtung oder 3D-SIM-Mikroskopie (englisch structured illumination microscopy) werden nicht alle Fluorochrome angeregt, sondern nur ein Teil des Präparats in Form einer bestimmten ‚Struktur‘, einem Streifenmuster. Bei der Überlagerung des bekannten Beleuchtungsmusters mit der unbekannten Fluorochrom-Verteilung im Präparat entstehen Moiré-Effekte, deren Größe über der Auflösungsgrenze liegt, selbst wenn die unbekannte Struktur kleiner ist. Durch Verschiebung und Verdrehung des Beleuchtungsmusters lässt sich durch die zusätzliche Information aus den Moiré-Mustern der jeweiligen Bilder durch Computerberechnung ein endgültiges Bild mit bis zu zweifach erhöhter Auflösung erzeugen.
Lokalisationsmikroskopie
Als Lokalisationsmikroskopie (englisch localization microscopy) werden mikroskopische Verfahren zusammengefasst, die auf einem gemeinsamen Grundprinzip beruhen: Während bei klassischer Fluoreszenzmikroskopie alle Fluorochrome gleichzeitig angeregt werden, werden sie hier zeitlich nacheinander angeregt, so dass immer nur ein kleiner Teil von ihnen leuchtet. Von einer Schärfeebene werden viele Bilder hintereinander gemacht, oft über Tausend. In jedem dieser Bilder wird nun die genaue Position der jeweils leuchtenden Fluorochrome bestimmt und diese Position wird in das endgültige Bild übertragen. Die Verfahren unterscheiden sich in der Methode, wie die einzelnen Farbstoffmoleküle ein- und ausgeschaltet werden, also zum „Blinken“ gebracht werden.
Die Photoactivated Localization Microscopy (PALM) beruht auf Varianten des Grün Fluoreszierenden Proteins, die sich mit Licht bestimmter Wellenlängen ein- und ausschalten lassen. STORM und dSTORM verwenden geeignete Fluoreszenzfarbstoffe, die in bestimmten Pufferlösungen nur selten fluoreszieren. Ground State Depletion (GSD) beruht darauf, dass sich zu jedem Zeitpunkt die Mehrzahl der Fluorochrome in einem nicht fluoreszierenden Triplett-Zustand befindet, der durch starke Lichtanregung erzeugt werden kann. DNA-Paint beruht auf einer vorübergehenden Bindung von kurzen, einsträngigen DNA-Molekülen an komplementäre Zielmoleküle.
Weitere Verfahren zur Auflösungsverbesserung
4Pi-Mikroskopie war die erste kommerziell verfügbare Superresolution-Technik, ist jedoch heute nicht mehr verfügbar. Eine weitere Technik ist Vertico-SMI, die in Heidelberg entwickelt wurde.
Fluoreszenzlebensdauer-Mikroskopie (FLIM)
Nach der Anregung verbleibt ein fluoreszierender Stoff eine kurze Zeitspanne im angeregten Zustand, bevor er das Fluoreszenzlicht abstrahlt. Die Dauer dieser Zeitspanne variiert für einen konkreten Stoff in einem bestimmten Bereich, so dass eine mittlere Fluoreszenzlebensdauer für einen jeweiligen Stoff bestimmt werden kann. Sie liegt im Nanosekundenbereich, beispielsweise für Fluorescein bei 3,25 ns, für Texas Red bei 3,41 ns und für Eosin bei 1,1 ns. Wenn die Fluoreszenzanregung im mikroskopischen Präparat mit einem gepulsten oder modulierten Laser erfolgt und spezielle Detektoren verwendet werden, dann lässt sich mittels spezieller Messverfahren die Zeitspanne bestimmen, nach welcher die Fluoreszenz am Detektor eintrifft. Nicht nur durch ihre Farbe, sondern auch durch ihre Lebenszeit können daher Fluoreszenzfarbstoffe voneinander unterschieden werden. Dies wird in der Fluoreszenzlebensdauer-Mikroskopie (englisch fluorescence lifetime imaging microscopy, FLIM) ausgenutzt. Gepulste und modulierte Laser gibt es im sichtbaren Wellenlängenbereich für die Anregung mit einem Photon. FLIM kann aber auch in Kombination mit Multi-Photonen-Anregung (siehe oben) verwendet werden, für die ohnehin gepulste Laser erforderlich sind.
Förster-Resonanzenergietransfer (FRET)
Beim Förster-Resonanzenergietransfer (manchmal auch: Fluoreszenz-Resonanzenergietransfer) wird die Energie eines angeregten Fluoreszenzfarbstoffs, des Donors, nicht durch Fluoreszenz abgegeben, sondern direkt auf einen anderen Fluoreszenzfarbstoffs (Akzeptor) übertragen. Dies ist möglich, wenn erstens Donor und Akzeptor weniger als 10 nm voneinander entfernt sind und zweitens die Emissionsenergie des Donors der Anregungsenergie des Akzeptors entspricht. Das Emissionsspektrum des Donors muss also mit dem Anregungsspektrum des Akzeptors überlappen. Beispielsweise kann ein grün fluoreszierender Farbstoff als Donor für einen orange fluoreszierenden Akzeptor dienen. Ein weiteres Beispiel ist das cyan fluoreszierende Protein CFP als Donor für das gelb fluoreszierende Protein YFP.
Tritt FRET auf, so wird trotz Anregung des Donors von diesem keine Fluoreszenz ausgesendet, stattdessen kann die Fluoreszenz des Akzeptors beobachtet werden. Die FRET-Effizienz nimmt mit der sechsten Potenz des Abstands zwischen Donor und Akzeptor ab. Das Auftreten von FRET zeigt daher die direkte Nachbarschaft der beiden an, mit einer Genauigkeit, die weit unter der Auflösungsgrenze liegt.
Absichtliches Bleichen zur Diffusionsmessung (FRAP und FLIP)
Bei FRAP (engl. fluorescence recovery after photobleaching) wird ein fluoreszenzmarkiertes Molekül in einer lebenden Zelle in einem Teilbereich der Zelle durch kurzfristige, starke Lichteinwirkung absichtlich gebleicht, meist durch einen fokussierten Laserstrahl. Anschließend wird beobachtet, wie schnell Moleküle aus dem nicht gebleichten Teil der Zelle in den gebleichten Teil zurückkehren. Über die ermittelte Diffusionsgeschwindigkeit können Rückschlüsse auf das Bindungsverhalten des Moleküls gezogen werden.
Bei FLIP (engl. fluorescence loss in photobleaching) wird dagegen ein Bereich der Zelle kontinuierlich gebleicht. Es wird beobachtet, wie schnell die Fluoreszenz im nicht gebleichten Teil der Zelle abnimmt.
Geschichte
1904: Köhlers Entdeckung
Die ersten fluoreszenzmikroskopischen Beobachtungen waren zufällig und ein Ärgernis. August Köhler, Mitarbeiter beim Mikroskophersteller Carl Zeiss, wollte die lichtmikroskopische Auflösung steigern. Die Auflösung hängt von der Wellenlänge ab, daher baute er ein Mikroskop für UV-Licht, um dessen kürzere Wellenlänge zu nutzen. Das damit erzeugte Bild war zwar für die Augen nicht sichtbar, konnte aber fotografisch aufgefangen werden. Er stellte dabei fest, dass
Bereits früh war Köhler also bewusst, dass die bei der UV-Mikroskopie störende Fluoreszenz auch nützliche Anwendungen ermöglichen könnte.
1910–1913: Erste Fluoreszenzmikroskope und Anwendungen
Das erste kommerziell erhältliche Fluoreszenzmikroskop wurde von Oskar Heimstädt entwickelt, der beim Wiener Mikroskopbauer Karl Reichert das Rechen- und Konstruktionsbüro leitete. Es wurde von Reichert persönlich 1911 auf der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte vorgestellt. Im gleichen Jahr veröffentlichte Heimstädt eine Arbeit mit dem Titel „Das Fluoreszenzmikroskop“ in der Zeitschrift für wissenschaftliche Mikroskopie.
UV-Licht war für die Fluoreszenzanregung gut geeignet, da es für das Auge nicht sichtbar und somit kein Sperrfilter erforderlich war. Eine gute Anregung erforderte, dass von der Lichtquelle kein sichtbares, aber möglichst viel UV-Licht zum Präparat gelangte. Ein geeigneter Anregungsfilter wurde kurz zuvor, 1910, von Hans Lehmann bei Zeiss entwickelt. Er bestand aus einer Filterküvette, die entlang der optischen Achse aus zwei Kammern bestand. Die drei Wände waren aus Jenaer Blau-Uviolglas, eine Kammer wurde mit gesättigter Kupfersulfat-Lösung, die andere mit verdünnter Nitrosodimethylanilin-Lösung gefüllt. Das so erzeugte Anregungslicht wurde als „gefiltertes Ultraviolett“ bezeichnet. Da normales Glas UV-Licht absorbiert, wurde wenig später ein Kondensor aus Quarz eingesetzt, um hohe Beleuchtungsstärken zu erhalten. Es entstand jedoch ein neues Problem: Die Glaslinsen im Objektiv fingen an zu fluoreszieren. Daher setzte Lehmann einen Dunkelfeldkondensor ein: So wurde das Anregungslicht am Objektiv vorbei geleitet und auch Reste von sichtbarem Licht aus der Lichtquelle im mikroskopischen Bild wurden vermieden.
Über die Möglichkeiten und Zukunftsaussichten der Fluoreszenzmikroskopie schrieb Heimstädt
Ebenfalls 1911 wurde von Michail Tswett die Fluoreszenz der Chloroplasten beschrieben. Stanislaus von Prowazek veröffentlichte 1913 die erste Arbeit, in der mit Fluoreszenzfarbstoffen gearbeitet wurde, namentlich mit Eosin und Neutralrot.
Ein Jahr nach dem Reichert’schen Fluoreszenzmikroskop wurde auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1912 das von Lehmann entwickelte Zeiss’sche „Lumineszenzmikroskop“ vorgestellt. Eine Dunkelfeld-Beleuchtung führt zu einer verringerten Numerischen Apertur und somit zu einer verringerten Auflösung. Daher setzte Lehmann auf eine normale Hellfeldbeleuchtung mit UV-Licht. Um zu verhindern, dass UV-Licht ins Auge drang, setzte er auf einen UV-blockierenden Glasfilter aus Euphosglas, der als Deckglas verwendet wurde. Der Filter musste zwischen Präparat und Objektiv liegen, um Fluoreszenzanregung im Objektiv zu vermeiden, daher war keine andere Position für den Filter möglich. Der Kondensor hatte Quarz-Linsen, die verwendeten Objektträger waren aus Bergkristall, um UV-Durchlässigkeit zu gewährleisten. Die empfohlene Standardvergrößerung lag bei 62× (inklusive Okularvergrößerung), 300× sollte nicht überschritten werden. Die Fluoreszenz-Zusatzausstattung, also ohne das eigentliche Mikroskop, kostete mit der billigsten Anregungslichtquelle, einer von Hand regulierbaren Bogenlampe, etwa 500 Mark. Hinzu kamen 4,50 M für einen 0,5 mm dicken 30×25 mm Bergkristall-Objektträger und eine Mark pro Euphosglas-Deckglas. Neben Schwarzweiß-Fotografien konnten auch Farbbilder mit dem Autochromverfahren erstellt werden.
1933–1940: Max Haitinger und die Fluorochromierung
In der Anfangszeit der Fluoreszenzmikroskopie wurden fast ausschließlich autofluoreszente Objekte betrachtet. Auch Max Haitinger, zunächst Privatforscher in Weidling bei Wien, später an der Universität Wien, begann mit der Untersuchung der Fluoreszenz von Wein und Obstweinen. Ab 1933 entwickelte er jedoch Fluoreszenzfärbungen, die er als „Fluorochromierungen“ bezeichnete. Von ihm stammen die Begriffe Sekundärfluoreszenz für zu erzeugende Signale und Primärfluoreszenz für im Präparat von selbst vorhandene. Auch die Bezeichnung Fluorochrom für einen Fluoreszenzfarbstoff wurde von ihm eingeführt. Als Fluorochrome setzte er erst Pflanzenextrakte ein und später eine Reihe von Chemikalien. Dadurch gelang es ihm, Dünnschnitte von tierischen und menschlichen Geweben anzufärben, so dass sich auch Histologen für die Fluoreszenzmikroskopie zu interessieren begannen. Da nur sehr geringe Konzentrationen der Fluorochrome benötigt wurden, waren auch Lebendfärbungen möglich, die hauptsächlich in der Botanik angewendet wurden. Mit Auramin O gelang die Färbung von Tuberkulose-Bakterien. Auch Mehrfachfärbungen waren möglich. Eine erste Abhandlung veröffentlichte Haitinger 1934, sein Buch „Fluorescenzmikroskopie – Ihre Anwendung in der Histologie und Chemie“ erschien 1938.
Haitinger arbeitete eng mit der Firma Reichert zusammen, um deren Fluoreszenzmikroskop zu verbessern. Das neue Modell „Kam F“ wurde ab 1931 verkauft. Auch dieses hatte eine Bogenlampe mit Eisenelektroden als Lichtquelle, da diese einen vergleichsweise hohen UV-Anteil zwischen 300 nm und 400 nm hatte. Trotzdem benötigte er bis zu 20 Minuten Belichtungszeit für seine Fotografien. Für schwache Vergrößerungen nennt er Belichtungszeiten mit Kohlebogenlampen von einer bis zehn Minuten. Die Nitrosyldimethylanilin-Lösung in der Anregungsfilter-Küvette konnte durch Nickeloxid-haltige Schwarzglasfilter ersetzt werden. Die Kupfersulfat-Lösung, die den verbleibenden Rotanteil im Anregungslicht filterte, wurde erst Anfang der 1940er-Jahre durch blaue Glasfilter ersetzt. Die Beleuchtung erfolgte durch einen Hellfeldkondensor mit normalem Glas; es hatte sich gezeigt, dass Quarzglas hierfür nicht erforderlich ist. Das verbleibende Anregungslicht wurde am Okular blockiert, indem ein Sperrfilter aus 1 mm dickem gelben Glas aufgesetzt wurde. Falls ein farbloser Sperrfilter benötigt wurde, konnte stattdessen eine Küvette mit einer 5 mm dicken Schicht Natriumnitrit-Lösung verwendet werden. Deckgläser aus Euphosglas waren dank des gelben Sperrfilters nicht mehr nötig, auch zeigte sich, dass normale Objektträger geeignet waren. Dadurch sanken die laufenden Kosten erheblich.
In seinem Buch von 1938 beschreibt Haitinger auch Auflicht-Beleuchtungen für die Fluoreszenzmikroskopie von undurchsichtigen Gegenständen (Epikondensor von Zeiss-Jena, Epilum der Optischen Werke C. Reichert-Wien (siehe Schemazeichnung), Ultropak von E. Leitz-Wetzlar und Univertor von E. Busch-Rathenow). Sie sind jedoch nicht mit heutiger Auflichtfluoreszenzanregung mit Hilfe eines dichroitischen Strahlteilers vergleichbar. Als Anwendungsbeispiele nennt er die Untersuchung von Nahrungsmitteln, Drogen und Farbstoffen sowie Erstuntersuchungen von Präparaten, von denen Dünnschliffe hergestellt werden sollen. Als „ganz besonders wertvoll“ bezeichnet er Auflichtbeleuchtungen für Studien am lebenden Tier.
Um 1940 brachte Osram Quecksilberhöchstdrucklampen auf den Markt, für die bald bei Zeiss und unter Mitentwicklung von Haitinger bei Reichert (Lux UV und Lux UW) Beleuchtungseinrichtungen ins Programm genommen wurden. Neben der wesentlich vereinfachten Handhabung und einer größeren Helligkeit gaben diese Lampen nicht nur einzelne Linien ab, sondern ein kontinuierliches Spektrum, mit der sich alle fluoreszierenden Stoffe anregen ließen. Auch produzierten sie keine unangenehmen Dämpfe wie Eisenbogenlampen. Vergleichbare Lampen sind auch heute noch in Verwendung.
In den 1940er-Jahren begann sich Farbdiafilm zur Dokumentation durchzusetzen. Trotz aller Fortschritte lagen die Belichtungszeiten meist noch im zweistelligen Minutenbereich.
1942–1958: Entwicklung der Immunfluoreszenz und die Fluoreszenz herkömmlicher Farbstoffe
Ein Durchbruch für die Fluoreszenzmikroskopie war die Einführung der Immunfluoreszenz. 1942 veröffentlichten Albert Hewett Coons und Kollegen die Kopplung von Fluorescein-Isocyanat an Antikörper. Mit seiner hellen grünen Fluoreszenz hob sich dieses Fluorochrom besser von der bläulichen Autofluoreszenz vieler Gewebe ab als das zuvor probierte Anthracen-Isocyanat. Die Antikörper waren gegen Pneumokokken gerichtet, die so in Mausgeweben fluoreszenzmikroskopisch nachgewiesen werden konnten.
Die Kopplung der Antikörper war jedoch technisch anspruchsvoll und die Konjugate waren instabil.
Siegfried Strugger stellte fest, dass manche bekannten herkömmlichen Farbstoffe auch fluoreszieren, so etwa Neutralrot und Rhodamin B. Auch Acridinorange führte er in die Fluoreszenzmikroskopie ein. In einem Buch beschrieb er 1949 detailliert die Möglichkeiten der Fluoreszenzanregung mit blauem Licht statt mit UV. Strugger nutzte Auflichtbeleuchtung, um den Fluss von Wasser in Pflanzen zu verfolgen.
Eine wesentliche Verbesserung der Immunfluoreszenz gelang 1958 J. L. Riggs und Kollegen, indem sie Isothiocyanate statt Isocyanaten verwendeten. Einer anderen Arbeitsgruppe war zwischenzeitlich ein Zwei-Farben-Nachweis mit Fluorescein-Isocyanat und dem orange fluoreszierenden Rhodamin B-Isocyanat gelungen. Riggs und seinen Mitstreitern gelang nun die Markierung von Antikörpern mit den deutlich stabileren Fluoresceinisothiocyanat (FITC) und Rhodamin B-isothiocyanat.
1962–1972: Johan Sebastiaan Ploem und die Einführung der Interferenzfilter
Noch in den 1950er-Jahren wurde Fluoreszenzmikroskopie ausschließlich mit UV, violettem oder blauem Anregungslicht durchgeführt. Dies änderte sich erst mit der durch den Niederländer Johan Sebastiaan Ploem vorangetriebenen Einführung von Interferenzfiltern in den 1960er-Jahren.
Die ersten, die einen dichroitischen Strahlteiler in der Mikroskopie einsetzten, waren die Russen Brumberg und Krylova im Jahr 1953. Die auf Russisch veröffentlichte Arbeit blieb jedoch im Westen unbekannt und wurde erst später „wiederentdeckt“.
Angetrieben durch die Entwicklung zahlreicher Antikörper für Immunfluoreszenzen entstand ein Bedarf an Fluorochromen unterschiedlicher Farben. Diese ließen sich jedoch durch die herkömmliche Verwendung mit UV-Licht oft nur schlecht anregen. Um 1962 begann Ploem eine Zusammenarbeit mit den Schott-Werken in Mainz zur Entwicklung dichroitischer Strahlteiler, die blaues oder grünes Licht reflektierten. Schott stellte zuvor schon viele der in der Fluoreszenzmikroskopie gebräuchlichen Glasfilter her. Die Firma Leitz lieferte Ploem eine Opak-Auflichtbeleuchtung mit einem halbdurchlässigen, farbunabhängigen Spiegel. Diese wurde an der Universiteit van Amsterdam umgebaut und erhielt einen Schieber mit vier Positionen für dichroitische Strahlteiler zur Anregung mit UV, Violett, Blau und Grün, so dass die jeweilige Anregungswellenlänge bequem ausgewählt werden konnte. Erstmals erfolgte die Anregung damit wie heute üblich durch das Objektiv. Durch die Wahl von schmalbandigen Interferenzfiltern für blaues beziehungsweise grünes Anregungslicht konnten außerdem die in der Immunfluoreszenz häufig verwendeten Farbstoffe FITC (grün fluoreszierend) und Tetramethylrhodamin-Isothiocyanat (TRITC; orange fluoreszierend) nahe an ihrem Absorptionsmaximum angeregt werden, ohne gleichzeitig große Mengen Autofluoreszenz durch überflüssige Anregungswellenlängen auszulösen. Seine Ergebnisse veröffentlichte Ploem in mehreren Arbeiten ab 1965.
Im Anschluss entwickelte Leitz den PLOEMOPAK, eine Einrichtung, auf der vier Strahlteiler durch Rotation abwechselnd in den Strahlengang eingeschwenkt werden konnten. Spätere Versionen wurden um Sperrfilter und Anregungsfilter ergänzt bis schließlich um 1972 eine Variante auf den Markt kam, die vier Fluoreszenzfilterwürfel mit je einem Anregungsfilter, Strahlteiler und Sperrfilter enthielt. Die Würfel konnten durch den Anwender ausgetauscht werden, um sie den jeweils verwendeten Fluorochromen anzupassen.
Damit war die Entwicklung des Epifluoreszenzmikroskops, wie es heute noch verwendet wird, im Prinzip abgeschlossen. Es sollte jedoch noch etliche Jahre dauern, bis sich dieser Bautyp allgemein durchsetzte. Britische Mikroskopie-Lehrbücher von 1975 und 1977 erwähnen ausschließlich die Möglichkeit der UV-Anregung und Durchlichtbeleuchtung.
Ein späteres von 1982 meinte, dass die Beleuchtung für gewöhnlich mit einem Dunkelfeldkondensor erfolge, beschrieb aber auch die Auflichtbeleuchtung mit dichroitischem Strahlteiler und stellte diese als die lichtempfindlichere vor. Die Möglichkeit, durch den Austausch aller Filter Fluorochrome wie FITC und Rhodamin nacheinander nachweisen zu können, wurde ebenfalls erwähnt.
Ein westdeutsches Lehrbuch von 1985 beschrieb alle drei Möglichkeiten, Durchlicht-Hell- und -Dunkelfeld sowie Auflicht-Hellfelderregung durch das Objektiv, schrieb letzterer besonders einfache Einstellung (da kein Kondensor benötigt wird) sowie hohe Anregungsintensität bei ausgezeichnetem Kontrast zu und erwähnte die Möglichkeit, Filterblöcke schnell auszutauschen. Als Hersteller solcher Systeme wurden Leitz, Olympus, Reichert, Zeiss und Jena genannt, womit wohl der VEB Carl Zeiss Jena gemeint war.
Ein Lehrbuch von 1988 erwähnte zwar die älteren Methoden, stellte dann aber fest: „Moderne Fluoreszenzmikroskope arbeiten nach dem Prinzip der Auflicht-Hellfeldanregung“ mit dichroitischer Teilerplatte. Im Weiteren hieß es: „Die meisten Mikroskophersteller bieten Einrichtungen für die Durchlicht- und Auflicht-Fluoreszenzmikroskopie an“.
Weblinks
Multi-Wavelength Epi-Illumination in Fluorescence Microscopy by Johan Sebastiaan Ploem and Friedrich Walter on Leica Science Lab.
Datenbanken für Fluoreszenzfarbstoffe: Fluorophores.org, Spectra Database an der University of Arizona, Fluorescence SpectraViewer bei Thermo Fisher.
Einzelnachweise
Lichtmikroskop-Art oder lichtmikroskopisches Verfahren |
662157 | https://de.wikipedia.org/wiki/Snookerweltmeisterschaft | Snookerweltmeisterschaft | Die Snookerweltmeisterschaft (offiziell World Snooker Championship) ermittelt alljährlich den Weltmeister im Profi-Snooker. Ausrichter des Turniers ist der Snooker-Weltverband WPBSA.
Die höchsten Preisgelder und die meisten vergebenen Weltranglistenpunkte machen die Weltmeisterschaft zum wichtigsten und prestigeträchtigsten Turnier der Saison. Darüber hinaus ist sie ein Snookerturnier mit einer sehr langen Tradition, die WM wurde bereits 1927 zum ersten Mal ausgetragen.
Seit 1977 findet die Endrunde ab Ende April für die Dauer von 17 Tagen im Crucible Theatre in Sheffield statt und bildet jeweils den Saisonabschluss der World Snooker Tour. Amtierender Weltmeister ist der Belgier Luca Brecel, der als erster Kontinentaleuropäer überhaupt den Titel gewinnen konnte. Joe Davis aus England, der bis 1946 die ersten 15 WM-Titel in Folge gewann, ist Rekordweltmeister. Den Rekord der modernen Ära halten Stephen Hendry und Ronnie O’Sullivan mit je insgesamt sieben Titeln.
Geschichte
Überblick
Zum ersten Mal wurde die Snookerweltmeisterschaft 1927 in Birmingham ausgetragen. Der Engländer Joe Davis, der auch in der Folgezeit das Snooker klar dominierte, war der erste Weltmeister. Bis 1940 – ab dann konnten die Titelkämpfe wegen des Zweiten Weltkrieges nicht mehr ausgetragen werden – blieb er in allen 14 Weltmeisterschaftsturnieren ungeschlagen. Als das Turnier 1946 wieder ausgetragen wurde, gewann er seinen 15. und letzten Titel und trat als ungeschlagener Champion ab. In den späten 1940er und frühen 1950er Jahre waren sein jüngerer Bruder Fred Davis und der Schotte Walter Donaldson die erfolgreichsten Spieler.
1952 kam es zum Bruch zwischen dem damaligen Verband BACC (Billards Association and Control Council) und der Spielervereinigung, sodass in diesem Jahr zwei Weltmeisterschaften ausgetragen wurden. In den folgenden Jahren wurde nur das von den Spielern organisierte Turnier als Professional Matchplay Championship fortgesetzt. Fred Davis dominierte diese Epoche, bis die Titelkämpfe 1958 eingestellt wurden.
1964 kehrte man zur Weltmeisterschaft in Form von Challenge-Matches zurück, bei denen jeweils ein Herausforderer gegen den Titelverteidiger antrat. In dieser Zeit war der Engländer John Pulman Seriensieger. 1969 kehrte man zur Austragung in Turnierform zurück. In den 1970er Jahren ragte der Waliser Ray Reardon mit insgesamt sechs Weltmeistertiteln heraus.
Der Austragungsort des Turniers wechselte zunächst häufig, bis das Crucible Theatre in Sheffield 1977 fester Austragungsort wurde. Ein Jahr später begann die BBC mit ihrer umfangreichen Berichterstattung im Fernsehen. Diese beförderte die zunehmende Popularität der Weltmeisterschaft, was sich auch in höheren Preisgeldern niederschlug. In den 1980er Jahren war es der Engländer Steve Davis, der mit modernem, breakorientiertem Spiel die Konkurrenz beherrschte. Er konnte zwischen 1981 und 1989 sechs Mal den Titel gewinnen, zwei weitere Male stand er im Finale. Das Endspiel 1985 zwischen Davis und Dennis Taylor erzielte die höchsten Einschaltquoten einer Sportübertragung im britischen Fernsehen.
Die beginnenden 1990er Jahre waren von dem Duell der Spieler Stephen Hendry und Jimmy White geprägt, die zwischen 1990 und 1994 gleich viermal im Finale aufeinandertrafen. Hendry hatte stets das bessere Ende für sich. Jimmy White dagegen ging mit insgesamt sechs Finalniederlagen als einer der besten Spieler ohne Weltmeistertitel in die Snookergeschichte ein. Hendry ist gemeinsam mit Ronnie O’Sullivan mit sieben Titeln Rekordweltmeister der modernen Snooker-Ära.
Seit Ende der 1990er Jahre ist die Weltspitze enger zusammengerückt. Nach Hendry gelang es bis 2013 (Ronnie O’Sullivan) keinem Spieler mehr, seinen Titel zu verteidigen. Neben O’Sullivan gehören John Higgins und Mark Selby mit jeweils vier Weltmeistertiteln zu den erfolgreichsten Spielern des neuen Jahrtausends.
Die frühen Jahre: 1927 bis 1940
Bereits ab 1870 wurden Weltmeisterschaften in der Disziplin English Billiards veranstaltet. Daraus entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts der Snookersport, der 1919 ein einheitliches Regelwerk bekam.
1924 regten einige Spieler dann die Veranstaltung einer offiziellen Snookerweltmeisterschaft beim Verband an. Das BACC befand jedoch, dass der Snookersport dafür noch nicht populär genug sei.
In den Anfangsjahren der Weltmeisterschaft wurde an verschiedenen Orten und über einen Zeitraum von mehreren Monaten (meist von November bis Mai) gespielt. So wurde die erste WM-Partie am 29. November 1926 gestartet und am 6. Dezember beendet. Ausgetragen wurde sie zwischen Melbourne Inman und Tom Newman in der Thurston’s Hall am Leicester Square in London und sie endete mit 8:5 für Inman. Das Finale der WM 1927 wurde schließlich vom 9. bis 12. Mai 1927 in der Camkin’s Hall in Birmingham ausgetragen. Joe Davis gewann das Endspiel gegen Tom Dennis mit 20:11 Frames. Als Sieger erhielt er ein Preisgeld von 6,10 £. Mit 60 Punkten erzielte Albert Cope das höchste Break der Erstauflage der Weltmeisterschaft, gefolgt von Davis mit 57. Insgesamt nahmen 10 Spieler an der WM teil.
Bei der zweiten Weltmeisterschaft im folgenden Jahr spielten zunächst sechs Spieler um das Recht, Titelverteidiger Davis herauszufordern. Dabei setzte sich Fred Lawrence durch, der Tom Newman im Entscheidungsspiel mit 12:7 bezwang. Davis verteidigte seinen Titel mit einem 16:13-Erfolg gegen Lawrence.
1929 sank die Teilnehmerzahl auf fünf Spieler. Davis konnte seinen Titel im Finale, das diesmal in Nottingham stattfand, durch einen 19:14-Sieg über Tom Dennis verteidigen.
In den folgenden Jahren stagnierte die WM in Bezug auf die Teilnehmerzahl. Während bei Davis’ abermaligem Sieg 1930 in London, bei dem er mit 79 zudem ein neues höchstes Break bei Weltmeisterschaften erzielte, noch sechs Teilnehmer an den Start gingen, erreichte die Teilnehmerzahl 1931 mit zwei Spielern einen historischen Tiefstand. Davis gewann das Spiel gegen Dennis im Hinterzimmer eines Pubs in Nottingham, das auch noch Dennis selbst gehörte. Bis 1935 betrug die Teilnehmerzahl zwischen zwei und fünf Spieler, wobei Davis seinen Titel stets verteidigen konnte. Mit dem Neuseeländer Clark McConachy, der 1932 im Halbfinale Dennis bezwang, konnte dann erstmals ein Nicht-Engländer Joe Davis im Finale herausfordern.
Ab 1935 wurde die Thurston’s Hall in London fester Austragungsort für die folgenden sechs Weltmeisterschaften. Dort wurde auch das erste Century-Break der Weltmeisterschafts-Historie erzielt, im Halbfinale 1935 gelang Joe Davis eine Serie von 110 Punkten.
1936 gab es mit zwölf Akteuren einen neuen Teilnehmerrekord. Davis’ Dominanz blieb jedoch ungebrochen: Mit 34:27 bezwang er Horace Lindrum aus Australien. Zur Neuauflage dieses Endspiels kam es ein Jahr später; erneut behielt Davis die Oberhand, auch wenn sein Sieg mit 32:29 knapper ausfiel. 1938 nahm Lindrum nicht an der Weltmeisterschaft teil, so dass es mit dem Engländer Sidney Smith einen neuen Finalgegner für Seriensieger Davis gab. Smith schaltete im Halbfinale Fred Davis, den jüngeren Bruder von Joe, aus, der im Jahr zuvor erstmals teilgenommen hatte. Allerdings musste sich auch Smith im Finale Joe Davis mit 27:34 geschlagen geben. 1939 nahmen bereits 15 Spieler am Turnier teil; erneut waren es Joe Davis und Smith, die ins Finale einzogen, das Davis mit 43:30 gewann.
1940 fand wegen des Zweiten Weltkriegs zum vorläufig letzten Mal eine Weltmeisterschaft statt. Erstmals kam es im Endspiel zum Duell der Brüder Joe und Fred Davis. Joe gewann seinen vierzehnten Weltmeistertitel mit 37:36.
Wiederaufnahme des Spielbetriebs ab 1946
1946 gewann Joe Davis zum 15. und letzten Mal, er ist damit Rekordweltmeister. Da er fortan nicht mehr an den Weltmeisterschaften teilnahm, blieb er ungeschlagen.
1947 galt Joes jüngerer Bruder Fred als klarer Favorit auf den Titel. Es war jedoch der Schotte Walter Donaldson, der als erster Weltmeister nach der Ära von Joe Davis in die Snookergeschichte einging, als er in London im Finale Fred Davis überraschend mit 82:63 besiegte. Auch in den folgenden Jahren dominierte der Zweikampf zwischen Fred Davis und Donaldson die Endspiele. 1948 und 1949 gelang es Davis, den Titel zu gewinnen; 1950 hingegen konnte sich Donaldson bei der erstmals im Tower Circus in Blackpool ausgetragenen Weltmeisterschaft wieder gegen Davis durchsetzen.
Professional Matchplay Championship: 1952 bis 1957
1952 kam es nach Streitigkeiten zwischen dem Billiards Association and Control Council (BACC) und einigen Spielern zur Austragung von zwei Weltmeisterschaften. Die Spielervereinigung, die von Joe Davis angeführt wurde, warf dem BACC vor, einen zu großen Teil der WM-Einnahmen einzubehalten. Am BACC-Turnier nahmen lediglich zwei Spieler (Horace Lindrum aus Australien und Clark McConachy aus Neuseeland) teil. Es wurde in der Houldsworth Hall in Manchester ausgetragen. Lindrum, der das längste Finale der Geschichte mit 94:49 gewann, wird in einigen Statistiken nicht als Snookerweltmeister geführt, da das von den Spielern organisierte Professional Matchplay Championship zumeist als die „echte“ Weltmeisterschaft angesehen wird (so auch vom derzeitigen Snooker-Weltverband WPBSA). Andererseits erwähnen die beiden größten Snookerarchive im Internet Lindrums Erfolg in ihren Statistiken. Die beiden vorherigen Weltmeister, Donaldson und Davis, boten Lindrum nach seinem Sieg jeweils ein Spiel um 500 £ an, um den „wahren Weltmeister“ zu ermitteln. Dieser bestritt jedoch, jemals eine schriftliche Einladung zu solch einem Duell bekommen zu haben.
Davis setzte seine Siegesserie beim Professional Matchplay Championship fort, indem er zwischen 1952 und 1954 – erneut jeweils im Finale gegen Donaldson – den Titel errang. Ab 1955 trat Donaldson nicht mehr an und so gelang es dem Engländer John Pulman erstmals in das Finale einzuziehen; dort behielt jedoch Davis mit 37:34 die Oberhand. Die Neuauflage des Endspiels ein Jahr später entschied Davis mit nur drei Frames Differenz erneut für sich. 1957 kam es auf Jersey zum vorerst letzten Weltmeisterschaftsturnier. In Abwesenheit von Davis bezwang Pulman den Nordiren Jackie Rea mit 39:34. Inzwischen war die Beteiligung am Turnier stark rückläufig und das Teilnehmerfeld auf zuletzt vier Spieler geschrumpft.
Zwischen 1958 und 1963 wurde die Weltmeisterschaft nicht mehr ausgetragen.
Challenge Matches: 1964 bis 1968
Mit dem Einverständnis des BACC führte Rex Williams die Weltmeisterschaft 1964 auf Basis von Herausforderungsduellen (engl.: Challenge Matches) wieder ein. Die Weltmeisterschaften wurden fortan nicht mehr in Turnierform ausgetragen, sondern ein einzelner Spieler durfte den amtierenden Weltmeister herausfordern; ähnlich wird dies beispielsweise im Boxen oder Schach gehandhabt.
Die Duelle fanden unregelmäßig und manchmal sogar mehrmals pro Jahr statt. Insgesamt kam es in den fünf Jahren zwischen 1964 und 1968 zu sieben Duellen. Der amtierende Weltmeister aus dem Jahr 1957, John Pulman, entschied alle seine Challenge Matches für sich. Als Herausforderer traten Davis (3×), Williams (2×), der Südafrikaner Fred Van Rensburg sowie Eddie Charlton aus Australien an.
1965 erzielte Rex Williams mit 142 Punkten gegen Pulman ein neues höchstes Break. Damit brach er den 19 Jahre alten Rekord von Joe Davis. Zwei der drei Duelle, die 1965 stattfanden, wurden an verschiedenen Orten in Südafrika gespielt. Somit wurde erstmals eine Snookerweltmeisterschaft nicht im Vereinigten Königreich entschieden.
Knockout-Turniere: 1969 bis 1976
Ab 1969 kehrte man wieder zur klassischen Turnierform zurück. Die 1968 gegründete World Professional Billiards & Snooker Association (WPBSA) ist seither der organisierende Weltverband. Mit John Spencer gab es einen neuen Weltmeister, der sich in einem Feld von acht Teilnehmern in London durchsetzte. Mit der Zigarettenmarke Player’s No. 6 gab es erstmals einen Hauptsponsor für das Turnier.
Im Folgejahr gewann Ray Reardon aus Wales seinen ersten Weltmeisterschaftstitel. 1971 wechselte der Austragungsort des Turniers von London nach Australien. Dort spielte man zunächst in einer Gruppenphase, in der sich die vier bestplatzierten Spieler für das Halbfinale qualifizierten. Spencer holte schließlich seinen zweiten Titel. 1972 kehrte das Turnier nach England (Birmingham) zurück. Dort siegte der Nordire Alex Higgins im Finale gegen Titelverteidiger Spencer.
1973 und 1974 siegte jeweils Reardon in Manchester durch Finalerfolge über Charlton bzw. Graham Miles. Ein Jahr darauf wurde die Weltmeisterschaft erneut in Australien ausgetragen. In Melbourne besiegte Reardon in einer Neuauflage des Endspiels von 1973 Lokalmatador Charlton mit 38:30.
1976 wurde mit der Zigarettenmarke Embassy ein Hauptsponsor gewonnen, der bis ins Jahr 2005 als Namensgeber des Turniers fungierte. Das Turnierpreisgeld konnte so auf 6.000 £ für den Sieger angehoben werden. In Middlesbrough siegte Reardon zum vierten Mal in Folge, diesmal gegen Alex Higgins, den Weltmeister von 1972.
Crucible-Ära
Mit Einführung der Snookerweltrangliste in der Saison 1976/77 wurde das Turnier ins Crucible Theatre in Sheffield verlegt. Der 980 Zuschauer fassende Hauptsaal ist seitdem Austragungsort der Titelkämpfe. Die Fortführung der Traditionsveranstaltung ist bis 2027 vertraglich gesichert.
Der Unternehmer und Snookerspieler Mike Watterson übernahm 1977 die Aufgabe als Promoter der Snookerweltmeisterschaft. Sein Ziel war es, das Image des Snookersports insgesamt zu verbessern. Laut eigener Aussage hatte er es satt, professionelles Snooker an Orten wie Flugzeug-Hangars zu sehen, die kalt und verraucht waren und wo die Zuschauer auf Bänken sitzen mussten. Dies wären Bedingungen, die er weder als Spieler noch als Zuschauer ewig aushalten wollte. Auf Anraten seiner Frau Carole sah er sich im August 1976 das Crucible Theatre etwas genauer an. Mit den abgestuften Sitzreihen und der tiefergelegenen Grube erinnerte ihn das Innere des Gebäudes an die Thurston’s Hall, die in den 1930er Jahren als Austragungsort einiger Snookerweltmeisterschaften gedient hatte. Obwohl Watterson zunächst keinen Sponsor für das Turnier gefunden hatte, versprach er den Spielern ein Preisgeld von 17.000 £. Nachdem die Suche nach einem lokalen Sponsor endgültig gescheitert war, schloss er schließlich einen Vertrag mit Embassy ab, das schon das Turnier in Manchester im Jahr zuvor gesponsert hatte – damit war das Preisgeld garantiert.
Eine Eintrittskarte kostete damals 0,75 £ für eine Vormittagssession und 3,50 £ für das Finale. Bereits am ersten Tag wurden die erwarteten Besucherzahlen weit überschritten. Während am Vormittag 350 zahlende Zuschauer kamen, waren es am ersten Abend bereits 550. Insgesamt kamen während des Turniers mehr als 20.000 Zuschauer.
Der Wechsel ins Crucible Theatre gilt als Beginn der „modernen Ära“ im Snooker, da sich die Sportart fortan zu dem Leistungssport mit der heutigen Popularität entwickelte. Begünstigt durch die 1978 einsetzende tägliche TV-Übertragung durch die BBC wurden auch das Teilnehmerfeld, die Leistungsdichte, das Preisgeld und das allgemeine Interesse daran kontinuierlich größer. Ein weiterer Erfolgsfaktor war ein nun nahezu gleichbleibender Turniermodus.
1977 bis 1989
Beim ersten Turnier im Crucible Theatre gewann Spencer seinen insgesamt dritten Titel durch einen Finalsieg über Cliff Thorburn aus Kanada. In den folgenden Jahren kam es zu einer Verbreiterung der Leistungsdichte unter den Spielern, daher konnte zunächst kein Teilnehmer mehr zweimal hintereinander den Weltmeisterschaftstitel gewinnen.
Nachdem 1978 Ray Reardon seine sechste und letzte Trophäe gewonnen hatte, war es ein Jahr später sein Landsmann Terry Griffiths, der völlig überraschend als ungesetzter Spieler bei seinem erst zweiten Profiturnier den Titel gewann. Das Preisgeld war inzwischen auf 35.500 £ gestiegen, wovon 10.000 £ an den Sieger gingen.
1980 siegte mit Thorburn erstmals ein Kanadier und damit zum zweiten Mal ein Nicht-Europäer bei einer Weltmeisterschaft. Neben Thorburn gab es zu dieser Zeit mit Spielern wie Kirk Stevens, Bill Werbeniuk und Bob Chaperon auch andere Kanadier in der Weltspitze. Die letzten Frames des Endspiels wurden von dem Ereignis der Geiselnahme in der Iranischen Botschaft in London überschattet.
1981 war es dann mit Steve Davis – nicht verwandt mit Joe und Fred Davis – wieder ein Engländer, der den Titel gewann. Nachdem er im Viertel- und Halbfinale die Weltmeister der beiden vorangegangenen Jahre, Griffiths und Thorburn, bezwungen hatte, sicherte er sich den Titel mit einem 18:12-Sieg über Doug Mountjoy aus Wales. 1982 setzte sich noch einmal Alex Higgins durch, der zehn Jahre zuvor seinen ersten Weltmeisterschaftstitel gewonnen hatte. Sein Gegner war Reardon, der mit 49 Jahren sein letztes Weltmeisterschaftsfinale bestritt. Das insgesamt ausgeschüttete Turnierpreisgeld überschritt erstmals die Marke von 100.000 £.
Cliff Thorburn gelang 1983 im Achtelfinale gegen Griffiths das erste Maximum Break bei einer Weltmeisterschaft. Es war zudem erst das zweite offizielle Break dieser Art, das bei einem Profiturnier gespielt wurde. Für diese Leistung gab es eine Extraprämie in Höhe von 8.000 £. Weltmeister wurde allerdings zum zweiten Mal Steve Davis, der Thorburn im Finale mit 18:6 deutlich besiegte.
Mit der immer größer werdenden Beliebtheit des Turniers und dem jährlich wachsenden Preisgeld stieg auch die Zahl der Spieler, die an der Weltmeisterschaft teilnehmen wollten, deutlich an. 1984 waren es beispielsweise bereits 94 Teilnehmer, sodass bereits mehrere Vorrundenspiele nötig waren. Steve Davis verteidigte als erster Spieler seinen Weltmeistertitel im Crucible Theatre. Fred Davis stellte bei seiner letzten Teilnahme im Alter von 70 Jahren den immer noch gültigen Rekord auf für den ältesten Spieler in einer Weltmeisterschaftspartie der Crucible-Ära.
Beim Finale 1985 zwischen Steve Davis und Dennis Taylor verfolgten noch weit nach Mitternacht 18,5 Millionen Briten die Entscheidung, die nach 35 Frames erst mit dem letzten schwarzen Ball fiel. Taylor gewann beim sogenannten Black ball final, das als eines der knappsten und spannendsten der Snookergeschichte gilt, seinen einzigen Weltmeisterschaftstitel. Die Einschaltquote war die bis dahin höchste bei einem britischen Sportereignis und bei einer Übertragung nach Mitternacht.
Mit Joe Johnson – 18:12-Sieg gegen Davis – gewann 1986 ein Außenseiter das Turnier. Nie zuvor hatte er ein Match im Crucible Theatre gewonnen, sodass er von Wettanbietern bei einer Quote von 1:150 gehandelt wurde. Ein Jahr später nahm Davis mit einem 18:14-Finalsieg über Johnson Revanche. Auch in den Jahren 1988 und 1989 gewann Davis den Titel, wobei er 1989 John Parrott mit 18:3 die deutlichste Finalniederlage aller Zeiten beibrachte.
1990 bis 2000
Im Jahr 1990 erreichte Davis erstmals seit 1982 nicht das Finale. Im Halbfinale unterlag er mit 14:16 gegen Jimmy White, der das Finale jedoch mit 12:18 gegen den damals 21-jährigen Schotten Stephen Hendry verlor. Hendry ist seitdem der jüngste Snookerweltmeister der Geschichte. Im Jahr darauf scheiterte Hendry schon im Viertelfinale gegen Steve James. Das Finale wurde zwischen Parrott und White ausgespielt, Parrott gewann die Partie mit 18:11.
Jimmy White gelang 1992 das zweite Maximum Break bei einer Weltmeisterschaft im Erstrundenmatch gegen Tony Drago aus Malta. Eine weitere Besonderheit in der ersten Runde war das 10:0 von Parrott gegen den Australier Charlton, der einzige Zu-Null-Sieg (engl.: whitewash) im Crucible Theatre. Im Finale kam es zur Neuauflage des Endspiels von 1990. Hendry gewann seinen zweiten Titel durch einen Lauf von 10 Framegewinnen in Folge (Rekord in einem Finale), nachdem White schon mit 14:8 geführt hatte.
1993 gelang James Wattana aus Thailand als erstem Spieler aus dem ostasiatischen Raum der Sprung ins Halbfinale, wo er allerdings White unterlag. Dieser musste sich abermals Hendry geschlagen geben, wobei die Niederlage mit 5:18 sehr deutlich ausfiel. Das Gesamtpreisgeld war mit exakt einer Million Pfund erstmals siebenstellig.
1994 kam es zum vierten und letzten Mal zum Aufeinandertreffen von White und Hendry in einem Weltmeisterschaftsfinale. Beim Stand von 17:17 verschoss White im entscheidenden Frame einen vermeintlich einfachen schwarzen Ball vom Spot, worauf Hendry mit einem 58er Break Frame und Match gewann. Das Duell zwischen White und Hendry wurde 1995 wiederholt, diesmal jedoch bereits im Halbfinale. Erneut gewann Hendry, wobei ihm im zwölften Frame ein Maximum Break gelang. Im Finale traf Hendry auf Nigel Bond, den er mit 18:9 bezwang. Andy Hicks gelang bei seinem Crucible-Debüt sofort der Sprung ins Halbfinale; der letzte Spieler, dem dies gelungen war, war Terry Griffiths gewesen, der Überraschungsweltmeister des Jahres 1979.
Im Weltmeisterschaftsfinale 1996 schaffte der Engländer Peter Ebdon neben Hendry den Finaleinzug. Ebdon schaltete auf dem Weg dahin White und Davis aus, doch gegen Hendry musste er sich mit 12:18 geschlagen geben. Mit insgesamt 48 Century-Breaks wurde bei dieser Weltmeisterschaft ein neuer Rekord aufgestellt, der jedoch schon zwei Jahre später wieder gebrochen werden sollte.
In der ersten Runde 1997 spielte Ronnie O’Sullivan das schnellste Maximum Break der Snookergeschichte. In nur 5 Minuten und 20 Sekunden erzielte er 147 Punkte. Die Weltmeisterschaft in diesem Jahr gewann als erster Ire Ken Doherty. Außerdem war er der erste Spieler, der sowohl IBSF-Amateurweltmeister (1989) als auch Profi-Weltmeister (1997) wurde. Mit dem 18:12-Finalerfolg über Hendry beendete er auch dessen Rekordserie von 29 hintereinander gewonnenen Begegnungen im Crucible.
1998 gelang Doherty erneut der Sprung ins Finale, in dem er jedoch dem erst 22-jährigen Schotten John Higgins unterlag. Im Jahr darauf gewann Hendry seinen siebten und letzten Weltmeistertitel. Damit überholte er Reardon und Steve Davis und wurde Rekordweltmeister der modernen Snooker-Ära. Im Finale gewann er gegen Mark Williams aus Wales mit 18:11. Dieser wurde dann ein Jahr später als erster Linkshänder Weltmeister. Im Finale bezwang er seinen Landsmann Matthew Stevens knapp mit 18:16.
Ab 2001
Mit den Siegen bei den Weltmeisterschaften 2001, 2004, 2008, 2012, 2013, 2020 und 2022 konnte Ronnie O’Sullivan als erster Spieler im neuen Jahrtausend sieben Weltmeisterschaften für sich entscheiden. Auch wenn er 2003 schon in der ersten Runde scheiterte, so konnte er zu diesem Zeitpunkt als einziger Spieler ein zweites Maximum Break bei einer Snookerweltmeisterschaft verbuchen. 2009 schaffte dies auch Hendry; allerdings hatte O’Sullivan im Jahr zuvor auf drei Maximum Breaks erhöht.
Dafür konnte Hendry einen anderen Rekord aufstellen: Ihm gelangen 2002 im Verlauf der Weltmeisterschaft 16 Century Breaks. Trotzdem musste er sich in seinem neunten Finale Peter Ebdon mit 17:18 geschlagen geben.
2003 holte sich Mark Williams seinen zweiten Weltmeisterschaftstitel. In einem engen Endspiel bezwang er Ken Doherty mit 18:16. Auch Dohertys vorherige Ergebnisse fielen allesamt knapp aus (10:9, 13:12, 13:8, 17:16), sodass er mit 132 von 137 möglichen Frames das bisher größte „Arbeitspensum“ eines Crucible-Finalisten absolvieren musste. 2003 erreichte das Turnierpreisgeld mit 1.682.900 £ ein Allzeithoch.
Der Überraschungsweltmeister des Jahres 2005, Shaun Murphy, hatte zu Beginn der Saison nur auf Platz 48 der Snookerweltrangliste gestanden. Somit ist Murphy der seit Einführung der Weltrangliste am niedrigsten gesetzte Spieler, der Weltmeister wurde. Obwohl er mit seinem Sieg lediglich auf Platz 21 vorrückte, war er als Weltmeister in der folgenden Saison bei allen Main-Tour-Turnieren gesetzt.
Die beiden folgenden Weltmeisterschaften gingen mit ihren langen Finalpartien in die Geschichte ein: 2006 musste Graeme Dott bis 0:52 Uhr Ortszeit kämpfen, um Ebdon mit 18:14 zu besiegen. Der längste Frame zwischen den beiden Kontrahenten dauerte 74 Minuten und 8 Sekunden und ist damit der längste Frame der Turniergeschichte. Obwohl John Higgins im Jahr 2007 einen Frame weniger benötigte, um Mark Selby mit 18:13 zu bezwingen, dauerte es noch einmal drei Minuten länger (bis 0:55 Uhr Ortszeit), bis er den Pokal schließlich zum zweiten Mal gewonnen hatte. Im Halbfinale gelang Higgins dabei das eintausendste Century Break, das im Crucible Theatre gespielt wurde.
Higgins’ dritter und vierter Titel folgten in den Jahren 2009 und 2011. Mit dem Australier Neil Robertson konnte 2010 erstmals nach 30 Jahren wieder ein Nicht-Europäer die Weltmeisterschaft gewinnen.
Bei der Weltmeisterschaft 2012 kam es im Finale zur Wiederauflage des Endspiels von 2008 zwischen O’Sullivan und Allister Carter, das O’Sullivan mit 18:11 gewann. Nach seiner Viertelfinalniederlage gegen Stephen Maguire gab Stephen Hendry seinen Rücktritt bekannt. In Runde eins hatte er noch sein drittes Maximum Break im Crucible erzielt. In der Saison nach seinem vierten Titel nahm O’Sullivan unter anderem aus gesundheitlichen Gründen an fast keinem Turnier teil, trat aber 2013 zur Titelverteidigung an. Obwohl er praktisch keine Turnierpraxis hatte, erreichte er wieder souverän das Finale und besiegte schließlich Barry Hawkins mit 18:12. Damit war er der dritte Spieler nach Steve Davis und Stephen Hendry, der seinen Crucible-Sieg im Jahr darauf wiederholen konnte.
Bei der Snookerweltmeisterschaft 2014 kam O’Sullivan zum dritten Mal in Folge ins Finale. Er schien nach einer 10:5-Führung auf einem guten Weg zum Titelhattrick, doch mit einem entschlossenen zweiten Finaltag drehte Mark Selby das Match zum 18:14 und festigte damit seinen Ruf als Comeback-Player. Für O’Sullivan war es die erste WM-Finalniederlage.
Im Jahr 2015 gab es ein Außenseiterfinale, das Stuart Bingham mit 18:15 gegen Shaun Murphy gewann.
Im Jahr darauf bei der Snookerweltmeisterschaft 2016 schaffte es mit dem Chinesen Ding Junhui erstmals ein Asiate, das Finale zu erreichen, wo er sich allerdings Mark Selby, dem Weltmeister von 2014, mit 14:18 geschlagen geben musste.
2017 gelang es Selby dann als viertem Spieler, im Crucible Theatre seinen WM-Titel zu verteidigen. Die Neuauflage der Paarung des Finales von 2007 gewann der Engländer mit 18:15. Drei Titel in Folge, wie es bis dahin nur Steve Davis und Hendry geschafft hatten, verpasste er aber 2018. Stattdessen gewann Mark Williams 15 Jahre nach seinem letzten Titel zum dritten Mal die WM. Damit war er mit 43 Jahren der zweitälteste Crucible-Weltmeister; nur Ray Reardon war 1978 noch zwei Jahre älter gewesen.
2019 gewann Judd Trump erstmals den Titel; er besiegte in der Wiederauflage des Finals von 2011 John Higgins mit 18:9. Die Ausgabe 2020 wurde im Zuge der COVID-19-Pandemie verschoben. Sie fand drei Monate später zwischen Ende Juli und Mitte August statt. Sieger wurde Ronnie O’Sullivan, der damit seinen sechsten WM-Titel gewann und damit auch der erste Spieler seit Joe Davis wurde, der 19 Jahre nach seinem ersten WM-Titel erneut erfolgreich war.
Bei der Snookerweltmeisterschaft 2021 sicherte sich Mark Selby im Finale gegen Shaun Murphy seinen vierten Weltmeistertitel. Erstmals in der WM-Geschichte standen sich Kontrahenten gegenüber, die mit Chris Henry von demselben Trainer gecoacht wurden. Wegen der COVID19-Pandemie wurden im Crucible Theater erst im Finale alle Plätze durch Zuschauer besetzt.
Im Jahr 2022 gewann Ronnie O’Sullivan seinen siebten Titel und stellte somit den Rekord von Stephen Hendry in der modernen Ära ein. Zugleich wurde er zum bis dato ältesten Weltmeister der Crucible-Ära.
2023 gelang es Luca Brecel als ersten Kontinentaleuropäer den Weltmeistertitel zu gewinnen. Er ist zudem der jüngste Titelträger seit 2005 als Shaun Murphy den Titel holte.
Aktueller Modus
Qualifikation
Da das Teilnehmerfeld der Endrunde im Crucible Theatre auf 32 Spieler begrenzt ist, wird im Vorfeld eine Qualifikation ausgespielt. Automatisch gesetzt für die Endrunde sind die 16 besten Spieler der Snookerweltrangliste. Der amtierende Weltmeister ist automatisch qualifiziert; falls er sich nicht in den Top 16 der Weltrangliste befindet, muss der Weltranglistensechzehnte in die Qualifikation.
Die Qualifikation wird in drei Hauptrunden im Best-of-19-Modus gespielt. Dabei treten die Spieler gemäß ihrer Weltranglistenposition gegeneinander an. In der ersten Runde werden 64 Partien gespielt. Die Sieger treten dann in der zweiten Runde gegeneinander an. Die 32 Spieler, die Runde 2 überstanden haben, ermitteln dann in der 3. Runde die 16 Spieler, die sich für die Endrunde im Crucible Theatre qualifizieren.
Bevor die Snooker Main Tour Anfang der 2000er Jahre auf (in der Regel) 96 Spieler begrenzt wurde, gab es noch deutlich mehr Qualifikationsrunden, die auch für Amateurspieler zugänglich waren. So gab es 1999 beispielsweise 14 Qualifikationsrunden, wobei die favorisierten Spieler erst deutlich später eingestiegen sind.
Auch wenn es eine eigene Snookerweltmeisterschaft der Frauen gibt, ist die Weltmeisterschaft der WPBSA nicht auf männliche Spieler begrenzt. Den wenigsten Frauen gelingt jedoch der Sprung ins professionelle Snooker und damit die Qualifikation für dieses Turnier. Mit Reanne Evans hat aber eine der erfolgreichsten Spielerinnen des Frauensnookers bereits mehrmals an der Qualifikation teilgenommen. Des Weiteren gibt es noch eine Amateurweltmeisterschaft, die von der IBSF ausgerichtet wird.
Endrunde
Seit 1969 wird die Hauptrunde im K.-o.-System gespielt. Dabei treten 32 Spieler gegeneinander an, die im besten Fall fünf Runden (1. Runde, Achtelfinale, Viertelfinale, Halbfinale, Finale) vor sich haben. Die folgende Tabelle gibt an, wie viele Frames in welcher Runde gespielt werden.
Seit 1982 wird die Weltmeisterschaft über einen Zeitraum von 17 Tagen ausgetragen. An jedem Tag werden gewöhnlich drei Sessions gespielt. Lediglich am 6., 9. (manchmal auch am 10.) und 13. Tag sowie an den beiden Finaltagen entfällt die Vormittags-Session. Der letzte Finaltag fiel seit 1983 (mit drei Ausnahmen) immer auf den ersten Montag im Mai, ein in Großbritannien arbeitsfreier Spring Bank Holiday.
Die Vormittags-Session startet jeweils um 10:00 Uhr, die Nachmittags-Session zwischen 13:00 und 14:30 Uhr und die Abend-Session zwischen 19:00 und 20:00 Uhr (alle Angaben in GMT). In jeder Session gibt es nach dem vierten Frame ein mid-session interval, eine kurze Pause, in der sich die Spieler zurückziehen können.
Nachfolgend ist die Einteilung der 46 Sessions auf die 17 Turniertage am Beispiel der Snookerweltmeisterschaft 2011 tabellarisch dargestellt:
Einfluss auf die Weltrangliste
Die Weltrangliste wurde nach der Weltmeisterschaft 1976 eingeführt und bezog sich zunächst ausschließlich auf die Resultate der vergangenen drei Weltmeisterschaften. Das Punktesystem der damaligen Zeit war noch recht simpel; es gab fünf Punkte für den Sieger, vier für den unterlegenen Finalisten, drei für die beiden unterlegenen Halbfinalisten und so weiter.
Erst ab der Saison 1982/83 kamen mit den International Open und dem Professional Players Tournament weitere Turniere hinzu, die sich auf die Weltrangliste auswirkten. Die Weltmeisterschaft wurde dabei mit zehn Punkten für den Sieger aufgewertet und die einfließenden Punkte auf die letzten beiden (statt drei) Jahre begrenzt. Mit der Zeit kamen immer mehr Turniere hinzu und das Punktesystem wurde komplexer. Die Weltmeisterschaft hatte von allen Turnieren jedoch stets den mit Abstand größten Einfluss auf die Weltrangliste.
Die zuletzt angewendete Punktevergabe ist in der rechts abgebildeten Tabelle dargestellt. Die Zahlen in Klammern geben hierbei die Punktzahl für eine Auftaktniederlage eines gesetzten Spielers an. Zum Vergleich: Das Turnier mit den zuletzt zweitmeisten Punkten ist die UK Championship mit 8.000 Zählern für den Sieger.
Mit der Saison 2014/15 wurde das Punktesystem abgeschafft und durch die Summierung der über zwei Jahre erspielten Preisgelder ersetzt, wobei nur die bei Weltranglistenturnieren erzielten Preisgelder gezählt werden. Da die Preisgelder bei der Weltmeisterschaft die höchsten sind, hat das dortige Abschneiden nach wie vor den größten Einfluss auf die Weltrangliste.
Preisgeld
Das Preisgeld wird nach einem bestimmten Schlüssel verteilt. 2019 wurden insgesamt 2.231.000 £ ausgeschüttet, wovon der Sieger allein mehr als ein Fünftel erhielt. Das Preisgeld stieg ab Mitte der 70er Jahre ständig an; 1982 betrug es erstmals über 100.000 £, 1989 erstmals über 500.000 £, 1993 erstmals 1.000.000 £ und von 2001 bis 2003 sogar über 1.500.000 £. Mit dem Wechsel des Hauptsponsors kam es zu einem Einbruch, so dass 2006 und 2007 wieder eine Million Pfund unterschritten wurde. Ab 2009 wurde mehrere Jahre ein Gesamtpreisgeld von 1.110.000 £ ausgeschüttet, das ab 2014 kontinuierlich anstieg. 2019 überschritt es mit 2.231.000 £ erstmals die Zwei-Millionen-Marke.
Einen Sonderpreis gibt es für den Spieler mit dem höchsten Break des Turniers. Dabei wird zwischen Qualifikations- und Hauptrunde unterschieden. Erreichen mehrere Spieler ein höchstes Break bzw. ein Maximum Break, wird die Summe geteilt.
Für ein Maximum Break gab es von 1978 bis 2010 eine Extraprämie. Betrug diese zu Beginn noch 10.000 £, wurde sie in den 1980er Jahren schrittweise erhöht; ab der Weltmeisterschaft 1995 wurden schließlich 147.000 £ ausgeschüttet. Da die Anzahl gespielter Maximum Breaks auch bei anderen Turnieren in den 2000er Jahren kontinuierlich anstieg, wurde die Summe für den Weltsnookerverband zu einem erheblichen Kostenfaktor. Bei der Weltmeisterschaft 2011 gab es erstmals seit 1978 keine Extraprämie mehr. Nach Unmutsbekundungen einiger Spieler wurde dann zu Beginn der Snookersaison 2011/12 ein Jackpot-System eingeführt, nach dem sich die Prämie für ein Maximum Break bei jedem großen Ranglisten-Turnier um 5.000 £ erhöht, wenn keinem Spieler ein 147er Break gelingt.
Fernsehberichterstattung
Britischer Raum
Obwohl man in den 1950er Jahren einige Versuche unternommen hatte, Snooker im Schwarz-Weiß-Fernsehen zu etablieren, indem man die verschiedenen Bälle mit ihrem jeweiligen Zahlenwert (ähnlich wie beim Poolbillard) beschriftete, setzten sich regelmäßige Übertragungen erst mit der Verbreitung des Farbfernsehens Ende der 1960er Jahre und der Fernsehberichterstattung der BBC vom Pot Black Cup 1969 durch. Dies sorgte für eine Popularisierung des Snookersports in Großbritannien.
In den Jahren 1969 und 1970 sponserte das Unternehmen John Player die Snookerweltmeisterschaften. Da das Fernsehen jedoch noch kein Interesse an der Übertragung des langen Weltmeisterschaftsformats zeigte, zog man sich wieder aus dem Snookersport zurück. In den frühen 1970er Jahren gelang es jedoch der West Nally Group (ein Sportmarketing-Unternehmen) zusammen mit der Gallaher Group, als Sponsor einige Snookerturniere zu veranstalten und im Fernsehen zu platzieren. So entschied man sich auch, die Snookerweltmeisterschaften von 1972 bis 1974 mit Gallaghers Marke Park Drive zu sponsern. Das Fernsehen übertrug zunächst jedoch nur entscheidende Sessions der Halbfinal- und Final-Partien. Damals zog sich ein komplettes Finalmatch beispielsweise mit 75 möglichen Frames noch über fünf Tage hin und erschien so zu lang für eine vollständige Berichterstattung.
In der ersten von Embassy gesponserten Weltmeisterschaft 1976 plante die BBC eine Übertragung der Höhepunkte des Finales. Ursprünglich wollte man erst am letzten Finaltag auf Sendung gehen, jedoch führte Ray Reardon gegen Alex Higgins bereits frühzeitig mit großem Abstand, so dass man einen Tag früher als geplant beginnen musste. Die hektisch aufgestellten TV-Lichter schienen die Spieler jedoch so sehr zu stören, dass Reardon irgendwann heftig aufbrauste und die Lichter umgehängt werden mussten.
Nachdem sich die West Nally Group schon 1975 aus dem Snookersport zurückgezogen hatte, übernahm 1977 der Snookerspieler und Unternehmer Mike Watterson die Aufgabe des Promoters. Die BBC-Übertragung wurde auf die drei letzten Finaltage ausgedehnt. Die hohen Einschaltquoten sorgten dafür, dass es im Folgejahr schließlich eine tägliche Berichterstattung gab, worauf sich die Snookerweltmeisterschaft fortan zu einem medialen Großereignis entwickelte. 1978 zeigte die BBC täglich eine 50-minütige Zusammenfassung der Spiele und berichtete zudem insgesamt 26 Stunden live vom Turnier. 1980 umfasste die Live-Berichterstattung bereits 70 Stunden.
Die Einschaltquoten stiegen von Jahr zu Jahr kontinuierlich an: Waren es 1978 noch 7 Millionen Zuschauer, die das Finale verfolgten, sahen es 1980 bereits 14,5 Millionen Zuschauer und 1981 schließlich 15,6 Millionen. Auch die Vormittags-Sessions während der Werktage erreichten mit durchschnittlich 1,5 Millionen Zuschauern eine vergleichsweise hohe Einschaltquote. Der Anstieg des Zuschauerinteresses gipfelte in einer Rekord-Einschaltquote von 18,5 Millionen Zuschauern während des Black ball finals zwischen Steve Davis und Dennis Taylor 1985. Eine weitere hohe Einschaltquote wurde für das Weltmeisterschaftsfinale 1994 ermittelt, als 13,8 Millionen Zuschauer den Sieg von Stephen Hendry über Jimmy White sahen.
Das enge Finale zwischen Stephen Hendry und Peter Ebdon bei der Snookerweltmeisterschaft 2002 sahen auf BBC2 im Durchschnitt 5,4 Millionen Menschen, zu Spitzenzeiten sogar fast acht Millionen. Damit übertraf das Finale sogar das parallel auf BBC1 übertragene Endspiel des englischen Fußballpokals (FA Cup) zwischen dem FC Arsenal und dem FC Chelsea.
In der jüngeren Vergangenheit brachte die Weltmeisterschaft 2011 mit insgesamt 27,1 Millionen Zuschauern über das gesamte Turnier (im Finale 6,6 Millionen zu Spitzenzeiten und 3,9 Millionen im Schnitt) eine deutliche Steigerung zu den Vorjahren.
Außerhalb Großbritanniens
Laut Angaben der WPBSA wird die Weltmeisterschaft derzeit in über 75 Staaten der Erde übertragen.
Lange Zeit war die Popularität von Snooker – und somit auch der Snookerweltmeisterschaft – hauptsächlich auf Großbritannien beschränkt. Etwa seit dem Jahrtausendwechsel überträgt Eurosport die Snookerweltmeisterschaft jedoch auch in vielen anderen europäischen Staaten. In Deutschland sind die Einschaltquoten mit bis zu einer Million Zuschauer zu Spitzenzeiten für kontinentaleuropäische Verhältnisse besonders hoch und machen die Snookerweltmeisterschaft neben der Tour de France zu einer der meistgesehenen Sportveranstaltungen des Senders.
Inzwischen ist der größte Markt für Snooker nach Gesamtzuschauern jedoch die Volksrepublik China. Der Sportkanal des Staatsfernsehens (CCTV-5) und die Shanghai Media Group übertragen dort. Das Halbfinale der Weltmeisterschaft 2011 zwischen Ding Junhui und Judd Trump sahen in der Spitze 31,8 Millionen Chinesen, im Durchschnitt waren es 19,4 Millionen.
Sponsoren
In den Jahren 1969 und 1970 sponserte John Player mit der Marke Player’s No. 6 die Weltmeisterschaft. Mit der Gallaher Group (Marke: Park Drive, 1972–1974) und Imperial Brands (Marke: Embassy, 1976–2005) folgten weitere Tabakkonzerne. Mit einer Gesetzesänderung 2003 wurde die Tabakwerbung in Großbritannien jedoch deutlich eingeschränkt. Schon in den 80er Jahren gab es regelmäßig Antiraucher-Proteste vor dem Crucible Theater, bei denen Plakate mit der Aufschrift „Smoking Kills“ oder „Snooker Blood Money“ gezeigt wurden.
Nach einer zweijährigen Übergangsfrist übernahm mit der 888 Holding ein Wettanbieter das Sponsoring. Obwohl ein Fünfjahresvertrag vereinbart war, zog sich 888 nach drei Jahren zurück. Von 2009 bis 2012 hatte der Wettanbieter Betfred einen Sponsorenvertrag. Im Jahr 2013 war Betfair Sponsor der Weltmeisterschaft, im Jahr 2014 Dafabet. Ab 2015 übernahm erneut Betfred längerfristig das Sponsoring.
Statistiken
Finalergebnisse
(inklusive aller Endspielresultate)
Spieler-Statistiken
Anzahl Weltmeisterschaftstitel
Stand: nach der WM 2023
„Fluch des Crucible“
Der sogenannte „Fluch des Crucible“ (engl.: Crucible curse) bezeichnet den Umstand, dass in der Crucible-Ära kein Snookerweltmeister seinen erstmals gewonnenen Titel im folgenden Jahr verteidigen konnte. Joe Johnson (1987) und Ken Doherty (1998) schafften es im Jahr darauf immerhin ins Finale. Mit Steve Davis, Stephen Hendry, Ronnie O’Sullivan und Mark Selby schafften überhaupt erst vier Spieler zwei Titelgewinne in Folge, für alle vier waren es aber nicht die ersten beiden Titel gewesen.
Vor der Crucible-Ära konnten die Spieler Joe Davis, Fred Davis und John Pulman ihren ersten Titel bei der folgenden Weltmeisterschaft verteidigen.
Nationen-Statistiken
Anzahl WM-Titel
Stand: nach der WM 2023
Anzahl nach Nationen
Gilt für den Zeitraum 1977–2023.
Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz
Lange Zeit konnte sich kein Snookerspieler aus den D-A-CH-Ländern für die Endrunde der Snookerweltmeisterschaft qualifizieren. Die deutschen Profis Lasse Münstermann (2001, 1. Qualifikationsrunde) und Patrick Einsle (2007, 2. Qualifikationsrunde) und der Nachwuchsspieler Lukas Kleckers (2015, 2016, 2018 und 2019, jeweils 1. Qualifikationsrunde) scheiterten jeweils in der frühen Phase der Qualifikation. Auch der Schweizer Alexander Ursenbacher verpasste mehrmals die Qualifikation, 2017 jedoch erst in der entscheidenden Runde nach einem 4:10 gegen Yan Bingtao. Drei Jahre später schaffte er als erster D-A-CH-Teilnehmer die Qualifikation.
Quellen
Literatur
Clive Everton: Guinness Book of Snooker. Guinness Superlatives Limited, Middlesex 1982, ISBN 0-85112-256-6.
Chris Downer: Crucible Almanac (2011 edition). Bournemouth 2011.
Hugo Kastner: Humboldt Ratgeber Snooker: Spieler, Regeln & Rekorde. Humboldt Verlags GmbH, Baden-Baden 2006, ISBN 3-89994-098-9.
Geoffrey Kemp: Snooker’s Crucible: How Sheffield Became the Snooker Capital of the World. Sheffield City Libraries, Sheffield 1988, ISBN 0-86321-079-1.
Luke Williams, Paul Gadsby: Masters of the Baize: Cue Legends, Bad Boys and Forgotten Men in Search of Snooker’s Ultimate Prize. Mainstream Publishing, Edinburgh 2006, ISBN 1-84018-872-3.
Weblinks
World Snooker (offizielle Seite des Weltsnookerverbandes)
(Übersicht aller Snookerweltmeisterschaften und Finalrundenergebnisse)
Einzelnachweise
Snookerturnier |
663556 | https://de.wikipedia.org/wiki/Eug%C3%A8ne%20Fran%C3%A7ois%20Vidocq | Eugène François Vidocq | Eugène François Vidocq [] (* 23. Juli 1775 in Arras; † 11. Mai 1857 in Paris) war ein französischer Krimineller und Kriminalist, dessen Leben zahlreiche Schriftsteller wie Victor Hugo und Honoré de Balzac inspirierte. Durch seine Aktivitäten als Begründer und erster Direktor der Sûreté nationale sowie die anschließende Eröffnung einer Privatdetektei, die wahrscheinlich die erste der Welt war, wird er von Historikern heute als „Vater“ der modernen Kriminalistik und der französischen Polizei betrachtet und gilt als erster Detektiv überhaupt.
Leben
Eugène François Vidocq wurde in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1775 als drittes Kind des Bäckermeisters Nicolas Joseph François Vidocq (1744–1799) und der diesem am 2. September 1765 angetrauten Frau Henriette Françoise Vidocq (1744–1824, geborene Dion) in Arras in der Rue du Mirroir-de-Venise (1856 umbenannt in Rue des Trois Visages) geboren.
Kindheit und Jugend (1775–1794)
Über die Kindheit von Vidocq ist nur wenig bekannt. Der Vater war gebildet und, da er sich auch als Getreidehändler betätigte, für damalige Verhältnisse vermögend. Vidocq hatte sechs Geschwister: zwei ältere Brüder (von denen einer bereits gestorben war, als Vidocq geboren wurde), zwei jüngere Brüder und zwei jüngere Schwestern.
Vidocqs Jugendjahre waren turbulent. Er wird als unerschrocken, rauflustig und durchtrieben, sehr begabt, jedoch auch sehr faul beschrieben. Er verbrachte viel Zeit in den Waffensälen von Arras und erwarb den Ruf eines furchterregenden Fechters und den Beinamen „le Vautrin“ (dt. Wildschwein). Mit kleinen Diebereien verschaffte er sich einigen Luxus.
Mit dreizehn Jahren stahl er das Silbergeschirr seiner Eltern, brachte das dafür erhaltene Geld jedoch innerhalb eines Tages durch. Drei Tage nach dem Diebstahl wurde er verhaftet und in das lokale Gefängnis Baudets gebracht. Erst nach zehn Tagen erfuhr er, dass sein eigener Vater den Arrest veranlasst hatte. Nach insgesamt vierzehn Tagen wurde er wieder entlassen, aber selbst diese Warnung und weitere Strafen vermochten ihn nicht zu bändigen.
Mit vierzehn entwendete er einen großen Betrag aus der Geldkassette seiner Familie und versuchte, sich in Ostende nach Amerika einzuschiffen. Dabei betrog man ihn und so stand er schließlich mittellos da. Um zu überleben, verdingte er sich als Gaukler, wobei er sich trotz regelmäßiger Prügel vom Stalljungen zum Jahrmarktsmonster hinaufarbeitete. In dieser Rolle als karibischer Kannibale musste er rohes Fleisch essen. Lange hielt er das nicht aus. Er wechselte zu einer Gruppe von Puppenspielern, aus der er jedoch verjagt wurde, weil er mit der jungen Frau seines Arbeitgebers angebandelt hatte. Nach einer Arbeit als Straßenhändler kehrte er nach Arras zurück, wo er seine Eltern um Verzeihung anflehte und von seiner Mutter mit offenen Armen empfangen wurde.
Am 10. März 1791 verpflichtete er sich dem Régiment de Bourbon und bestätigte seinen Ruf als furchterregender Duellant. Innerhalb von sechs Monaten focht er 15 Duelle und tötete dabei zwei Männer. Obwohl er weitere Schwierigkeiten verursachte, verbrachte er in dieser Zeit nur insgesamt 14 Tage im Gefängnis. Dabei half er einem Mitgefangenen erstmals bei einer erfolgreichen Flucht.
Nachdem Frankreich am 20. April 1792 Österreich den Krieg erklärt hatte, musste sich Vidocq während des ersten Koalitionskrieges oft an Kämpfen beteiligen. So nahm er im September 1792 an der Schlacht bei Valmy teil und wurde am 1. November zum Caporal der Grenadiere befördert. Während der Feier zum Anlass seiner Beförderung forderte er einen höheren Offizier zu einem Duell heraus. Als man ihn dafür vor das Kriegsgericht stellen wollte, desertierte er von seinem Regiment und wechselte zu den 11e bataillon de chasseurs (Jäger zu Fuß), natürlich ohne seine Vorgeschichte zu erwähnen. Am 6. November 1792 kämpfte er unter Général Dumouriez in der für die Franzosen erfolgreichen Schlacht bei Jemappes gegen die Österreicher. Im April 1793 wurde er jedoch als Deserteur identifiziert und folgte daraufhin dem General bei dessen Wechsel ins feindliche Lager. Nach einigen Wochen kehrte Vidocq ins französische Lager zurück, da er sich aus Beteiligungen an Kampfhandlungen gegen seine Landsleute nicht mehr herauszureden vermochte. Ein befreundeter Jäger Capitaine vermittelte für ihn, woraufhin er wieder bei den Jägern aufgenommen wurde. Schließlich trat er aus der Armee aus, nachdem er bei seinen Kameraden nicht mehr gern gesehen war.
Mit 18 kehrte er nach Arras zurück und machte sich als Frauenheld einen Ruf. Da seine Verführungen oft in Duellen endeten, fand er sich am 9. Januar 1794 in dem ihm bereits bekannten Gefängnis Baudets wieder, aus dem man ihn am 21. Januar wieder entließ.
Am 8. August 1794 heiratete der gerade 19 Jahre alt gewordene Vidocq die fünf Tage ältere Marie Anne Louise Chevalier, nachdem sie vorgetäuscht hatte, schwanger zu sein. Die Ehe war von Anfang an nicht glücklich, und als Vidocq bemerkte, dass seine Frau ihn mit dem 14 Jahre älteren Adjutanten Pierre Laurent Vallain betrog, schwindelte er ihr ein wenig Geld ab und flüchtete zurück zur Armee. Erst 1805 sahen sie sich aus Anlass ihrer Scheidung wieder.
Abenteuerjahre und Gefängnis (1795–1800)
Vidocq blieb nicht lange bei der Armee. Im Herbst 1794 hielt er sich meist in Brüssel auf und lebte von kleinen Betrügereien. Dann geriet er eines Tages in eine Kontrolle der Polizei, Vidocq hatte jedoch als Deserteur keine gültigen Papiere. Er gab sich als Herr Rousseau aus Lille aus und entkam, während seine Angaben noch überprüft wurden.
1795 trat er – noch immer unter dem Namen Rousseau – der armée roulante (dt. Fliegenden Armee) bei. Diese Armee bestand aus Offizieren, die kein Patent und kein Regiment hatten. Mit Hilfe gefälschter Marschrouten, Ränge und Uniformen verschafften sie sich Unterkünfte und Rationen, blieben jedoch weit weg von den Schlachtfeldern. Vidocq alias Rousseau begann als Sous-lieutenant der Jäger, beförderte sich jedoch nach und nach zum Capitaine der Husaren. In dieser Rolle lernte er eine reiche Witwe kennen, die Gefallen an ihm fand. Ein Vorgesetzter Vidocqs machte sie glauben, einen jungen Adeligen auf der Flucht vor sich zu haben. Kurz vor der geplanten Hochzeit bekam Vidocq jedoch Skrupel und beichtete. Danach verließ er die Stadt mit einem großzügigen Geldgeschenk ihrerseits.
Am 2. März 1795 erreichte er Paris, wo er in der Unterwelt nicht Fuß fassen konnte und einen Großteil seines Geldes wegen einer Frau verlor. Er ging zurück in den Norden und schloss sich einer Gruppe böhmischer Zigeuner an, die er wiederum für eine Frau – Francine Longuet – verließ, die ihn kurze Zeit später mit einem Soldaten betrog. Er überraschte und verprügelte die beiden, worauf ihn der Soldat verklagte. Vidocq wurde im September 1795 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die er im Tour Saint-Pierre in Lille absitzen sollte.
Vidocq war 20 und passte sich schnell an das Leben im Gefängnis und die dort üblichen Gepflogenheiten an. Als seine drei Monate abgelaufen waren, wurde er jedoch nicht freigelassen. Drei seiner Mitgefangenen hatten ihn in eine Flucht verwickelt und nun wurde er der Dokumentenfälschung und Fluchtbeihilfe verdächtigt. Mit viel Ideenreichtum und Frechheit, aber auch dank der Unterstützung der mittlerweile reuigen Francine, flüchtete er in den nächsten Wochen mehrmals, wurde jedoch immer wieder schnell aufgegriffen. Bei einem seiner Ausflüge aus dem Gefängnis ertappte ihn Francine, bei der er sich immer versteckte, mit einer anderen Frau. Daraufhin tauchte er für mehrere Tage völlig unter und erfuhr erst später, dass Francine durch mehrere Messerstiche verletzt aufgefunden worden war. Plötzlich sah er sich auch noch einer Anklage wegen versuchten Mordes gegenüber, die erst fallen gelassen wurde, als Francine angab, sich die Wunden selbst zugefügt zu haben. Sein Kontakt zu Francine brach schließlich ab, als sie wegen Fluchtbeihilfe zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Als er sie Jahre später das nächste Mal traf, war sie verheiratet.
Nach langer Verzögerung kam es doch noch zu dem Prozess wegen Dokumentenfälschung. Am 27. Dezember 1796 wurden Vidocq, der stets seine Unschuld beteuert hatte, und ein zweiter Angeklagter, César Herbaux, schuldig gesprochen und zu je acht Jahren Schwerstarbeit in einem Bagno verurteilt.
Im Gefängnis von Bicêtre musste er mehrere Monate auf den Transport ins Bagno von Brest warten. Ein Mitgefangener lehrte ihn die Kampftechnik Savate, was ihm später noch oft nützlich wurde. Ein Fluchtversuch am 3. Oktober 1797 scheiterte und brachte ihm acht Tage Kerkerhaft ein. Am 21. November erfolgte schließlich der Transport nach Brest. Obwohl sich auf dem Weg dorthin keine Gelegenheit für eine Flucht eröffnete, hatte er im Bagno selbst Glück. Bereits am 28. Februar 1798 glückte ihm als Matrose verkleidet die Flucht. Er wurde zwar unterwegs wegen fehlender Papiere noch einmal aufgegriffen, doch während man seine neuen Identitätsangaben als Auguste Duval überprüfte, entwendete er im Gefängnisspital den Habit einer Nonne und entkam mit dieser Tarnung erneut. In Cholet heuerte er als Ochsentreiber an und gelangte so bis nach Paris, Arras, Brüssel, Ancer und schließlich Rotterdam, wo ihn Holländer schanghaiten. Nach einer nur kurzen Karriere als Freibeuter wurde er erneut verhaftet und nach Douai gebracht, wo er als Vidocq identifiziert wurde. Daraufhin überstellte man ihn in das Bagno von Toulon, wo er am 29. August 1799 eintraf. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch entkam er schließlich am 6. März 1800 mit Hilfe einer Prostituierten erneut.
Die Wende (1800–1811)
Vidocq kehrte heimlich nach Arras zurück. Sein Vater war 1799 verstorben, so kam er bei seiner Mutter unter. Er versteckte sich fast ein halbes Jahr bei ihr, bevor er erkannt wurde und wieder floh. Unter einer falschen Identität als Österreicher lebte er einige Zeit mit einer Witwe zusammen, mit der er um 1802 auch nach Rouen zog. Vidocq baute sich einen guten Ruf als Kaufmann auf und ließ seine Mutter nachkommen. Schließlich holte ihn seine Vergangenheit aber wieder ein, er wurde verhaftet und nach Louvres gebracht. Dort erfuhr er, dass er in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, wogegen er auf Anraten des dortigen Staatsanwaltes Berufung einlegte. Während der folgenden fünf Monate, in denen er im Gefängnis auf ein Ergebnis wartete, benachrichtigte ihn Louise Chevalier von der Scheidung. Am 28. November 1805 entwich er schließlich erneut, indem er in einem unbeaufsichtigten Moment aus einem Fenster in die daran vorbeifließende Scarpe sprang. Die nächsten vier Jahre verbrachte er wieder auf der Flucht.
So hielt er sich einige Zeit in Paris auf, wo er Zeuge der Hinrichtung von César Herbaux wurde, jenes Mannes, mit dem Jahre zuvor durch die Verurteilung wegen Fälschung seine Probleme angefangen hatten. Bei Vidocq setzte erstmals ein Umdenkprozess ein. Gemeinsam mit seiner Mutter und einer Frau – er nannte sie in seinen Memoiren Annette –, die er auch Jahre später noch als Liebe seines Lebens bezeichnete, zog er in den nächsten Jahren mehrmals um. Immer wieder begegneten ihm Personen aus seiner Vergangenheit, die den mittlerweile als Kaufmann zu Geld Gekommenen erpressten.
Am 1. Juli 1809 wurde Vidocq kurz vor seinem 34. Geburtstag erneut verhaftet. Er beschloss nun endgültig, sein Leben am Rand der Gesellschaft zu beenden, und bot der Polizei seine Dienste an. Sein Angebot wurde angenommen, und so sperrte man ihn am 20. Juli in Bicêtre ein, wo er seine Arbeit als Spitzel begann. Am 28. Oktober setzte er diese Arbeit im Pariser Staatsgefängnis La Force fort. Insgesamt 21 Monate lang horchte er seine Mitgefangenen aus und leitete über Annette seine Informationen zu gefälschten Identitäten und bisher unaufgeklärten Verbrechen an den Pariser Polizeichef Jean Henry weiter.
Schließlich wurde Vidocq auf Empfehlung von Henry aus dem Gefängnis entlassen. Um kein Misstrauen unter seinen Mitgefangenen zu verursachen, arrangierte man eine „Flucht“, die am 25. März 1811 stattfand. Frei war er deshalb jedoch nicht, denn nun war er Henry verpflichtet. Deshalb setzte er seine Tätigkeit für die Pariser Polizei als Geheimagent fort. Er nutzte seine Kontakte und den Ruf seines Namens in der Halb- und Unterwelt, um sich Vertrauen zu erschleichen, verkleidete sich als entflohener Sträfling, tauchte in das Netzwerk von Helfern der kriminellen Szene ab und nahm, teils eigenhändig, gesuchte Straftäter fest. Seine Erfolgsrate war hoch.
Die Sûreté (1811–1832)
Ende 1811 organisierte Vidocq inoffiziell die Brigade de la Sûreté (dt. Sicherheitsbrigade). Nachdem das Polizeiministerium den Wert der Zivilagenten erkannt hatte, wurde aus dem Experiment im Oktober 1812 offiziell eine Sicherheitsbehörde unter dem Dach der Pariser Polizei. Vidocq wurde zu ihrem Chef ernannt. Am 17. Dezember 1813 schließlich unterschrieb Napoleon Bonaparte ein Dekret, das aus der Brigade eine staatliche Sicherheitspolizei machte, die sich ab diesem Tag Sûreté nationale nannte.
Die Sûreté hatte anfangs acht, dann zwölf, 1823 schließlich 20 Mitarbeiter, und erfuhr im folgenden Jahr noch eine Aufstockung auf 28 Geheimagenten. Dazu kamen acht Personen, die im Geheimen für die Sicherheitsbehörde arbeiteten, aber statt eines Gehaltes die Lizenz für eine Spielhalle erhielten. Wie Vidocq selbst stammte ein Großteil seiner Untergebenen aus dem kriminellen Milieu. Manche holte er für ihre Tätigkeit erst aus den Bagnos heraus, wie etwa Coco Lacour, den er selbst in seiner Anfangszeit als Spitzel ins Gefängnis gebracht hatte und der später sein Nachfolger als Chef der Sûreté werden sollte. Vidocq beschrieb den Dienst aus dieser Zeit:
Vidocq bildete seine Agenten persönlich aus, z. B. in Hinsicht auf die richtige Kostümierung für einen Auftrag. Auch selbst ging er immer noch auf die Jagd nach Kriminellen. Seine Memoiren enthalten zahlreiche Geschichten darüber, wie er Verbrecher unterschiedlichster Gattung überlistete, sei es nun als verlassener Ehemann, der die Blüte seiner Jahre schon längst hinter sich hatte, oder aber als Bettler. Er schreckte nicht mal vor der Simulation seines eigenen Todes zurück.
Doch trotz seiner Position als Chef einer Polizeibehörde war Vidocq nach wie vor ein gesuchter Krimineller. Seine Verurteilung wegen Dokumentenfälschung hatte er nie vollständig abgesessen und so erhielten seine Vorgesetzten neben Beschwerden und Denunziationen immer wieder auch Anfragen des Gefängnisdirektors von Douai, die jedoch ignoriert wurden. Erst am 26. März 1817 veranlasste Comte Jules Anglès, der Pariser Polizeipräfekt, auf eine Petition von Vidocq hin dessen offizielle Begnadigung durch König Ludwig XVIII.
Im November 1820 heiratete Vidocq erneut, die mittellose Jeanne-Victoire Guérin, über deren Herkunft nichts bekannt ist, was damals zu einigen Spekulationen führte. Sie zog in sein Haus in die Rue de l’Hirondelle 111, wo auch Vidocqs Mutter und deren Nichte, die 27-jährige Fleuride-Albertine Maniez (* 22. März 1793), lebten. 1822 lernte er Honoré de Balzac kennen, der Vidocq als Vorbild mehrerer Figuren in seinen Werken verwendete. Vidocqs Ehefrau, die zeit ihres Ehelebens kränklich war, starb keine vier Jahre nach der Eheschließung im Juni 1824 in einem Krankenhaus. Sechs Wochen später, am 30. Juli, starb auch seine 83-jährige Mutter, die er in allen Ehren bestatten ließ.
Während der 1820er Jahre traten einige Ereignisse ein, die sich auch auf den Polizeiapparat auswirkten. Nach der Ermordung des Duc de Berry im Februar 1820 musste der bisherige Polizeipräfekt Anglès zurücktreten und wurde durch den Jesuiten Guy Delavau ersetzt, der großen Wert auf die Religiosität seiner Untergebenen legte. 1824 starb Ludwig XVIII. Sein Nachfolger wurde der ultrareaktionäre Karl X., der repressiv herrschte und zu diesem Zweck immer wieder Agenten von ihren eigentlichen Tätigkeiten abberief. Schließlich ging auch noch Polizeichef Henry, der Vidocq Jahre zuvor angestellt hatte, in Pension. Ihm folgte Parisot, den man aber rasch durch den ambitionierten, aber auch sehr formellen Marc Duplessis ersetzte. Die Abneigung zwischen ihm und Vidocq war groß. Immer wieder beschwerte sich Duplessis wegen der Aufenthalte von Vidocqs Agenten in Bordellen und Lokalen mit üblem Ruf, wo diese Kontakte knüpften und Informationen sammelten. Nachdem Vidocq innerhalb kürzester Zeit zwei Verwarnungen erhielt, hatte er genug. Am 20. Juni 1827 reichte der 52-Jährige seinen Rücktritt ein:
Anschließend schrieb er seine Memoiren, in denen er die Notwendigkeit und die Effektivität seiner Sicherheitspolizei darstellte und sich strikt gegen die politische Polizei wandte:
Vidocq, der nach seinem Rücktritt ein reicher Mann war, wurde nun Unternehmer. In Saint-Mandé, einem Ort nördlich von Paris, wo er am 28. Januar 1830 auch seine Cousine Fleuride Maniez heiratete, gründete er eine Papierfabrik und stellte vorwiegend entlassene Zuchthäusler – sowohl Männer als auch Frauen – ein. Das stellte einen unerhörten Skandal dar, der zu Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft führte. Dazu kosteten die Maschinen Geld, die Arbeiter, die erst angelernt werden mussten, brauchten Essen und Kleidung, und schließlich weigerten sich seine Kunden Marktpreise zu bezahlen. Der Betrieb konnte sich nicht lange halten – Vidocq machte 1831 als Fabrikant Bankrott. Polizeipräfekt Delavau und Polizeichef Duplessis mussten in seiner Abwesenheit zurücktreten und Karl X. während der Julirevolution 1830 abdanken. Nachdem Vidocq wertvolle Tipps zur Aufdeckung eines Einbruchs lieferte, setzte ihn der neue Polizeipräfekt Henri Gisquet wieder als Chef der Sûreté ein.
Doch die Kritik an ihm und seiner Organisation wuchs. Am 5. Juni 1832 ging seine Truppe angeblich mit großer Härte gegen Unruhen vor, die im Rahmen einer Cholera-Epidemie beim Begräbnis von General Jean Maximilien Lamarque ausbrachen und den Thron des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe gefährdeten. Dazu kam, dass Vidocq im Verdacht stand, jenen Diebstahl, dessen Aufklärung ihm seine Wiedereinstellung einbrachte, selbst initiiert zu haben, um seine Unentbehrlichkeit zu beweisen. Einer seiner Agenten wurde wegen dieser Affäre zu zwei Jahren Haft verurteilt. Schließlich beriefen sich immer öfter Verteidiger darauf, dass er und seine Agenten durch ihre Vergangenheit als Kriminelle als Augenzeugen unglaubwürdig wären. Damit wurde Vidocqs Position endgültig unhaltbar. Am 15. November 1832 reichte er unter dem Vorwand einer Krankheit seiner Frau erneut seinen Rücktritt ein.
Noch am selben Tag wurde die Sûreté aufgelöst und neu gegründet. Agenten mit Vorstrafen waren nun nicht mehr erlaubt. Vidocqs Nachfolger wurde Pierre Allard.
Le bureau des renseignements (1833–1848)
Vidocq gründete 1833 Le bureau des renseignements (dt. Nachrichtenbüro), ein Unternehmen, das zwischen einem Detektiv- bzw. Auskunftsbüro und einer Privatpolizei einzustufen ist und als erstes Unternehmen dieser Art gilt. Wieder stellte er vorwiegend ehemalige Kriminelle ein. Seine Truppe, die anfangs aus elf Detektiven, zwei Beamten und einem Sekretär bestand, nahm im Auftrag von Geschäfts- und Privatleuten den Kampf gegen Faiseurs (Gauner, Betrüger, Bankrotteure) auf, wobei sie gelegentlich auch illegale Mittel nutzte. Ab 1837 stand er wegen seiner Tätigkeit und diffusen Beziehungen zu diversen Regierungsbehörden wie dem Kriegsministerium in ständigen Auseinandersetzungen mit der offiziellen Polizei. Am 28. November 1837 unternahm die Polizei eine Hausdurchsuchung und beschlagnahmte über 3.500 Akten und Dokumente. Vidocq wurde einige Tage später festgenommen und verbrachte Weihnachten und Neujahr im Gefängnis. Ihm wurden drei Verbrechen zur Last gelegt, nämlich Aneignung von Geld durch arglistige Täuschung, die Korruption von Beamten des öffentlichen Dienstes und die Anmaßung öffentlicher Funktionen. Im Februar 1838 lehnte der zuständige Richter nach Anhörung zahlreicher Zeugen alle drei Anklagen ab, Vidocq war wieder frei.
Vidocqs Person wurde zunehmend zum Gegenstand der Literatur und der öffentlichen Diskussion. Balzac schrieb mehrere Romane und Theaterstücke, in denen Figuren nach Vidocqs Vorbild auftauchten.
Die Agentur florierte, doch Vidocq schuf sich weiter zum Teil mächtige Feinde. Am 17. August 1842 stürmten 75 Polizeibeamte im Auftrag des Pariser Polizeipräfekten Gabriel Delessert sein Bürogebäude und verhafteten ihn und einen seiner Agenten, diesmal schien der Fall eindeutig. Er hatte in Ermittlungen wegen Unterschlagung eine unrechtmäßige Verhaftung vorgenommen und dem verhafteten Betrüger einen Wechsel über das erschwindelte Geld abverlangt. Die nächsten Monate verbrachte der mittlerweile 67-jährige Vidocq in Untersuchungshaft in der Conciergerie. Erst am 3. Mai 1843 fanden die ersten Anhörungen vor dem Richter Michel Barbou, einem engen Bekannten von Delessert, statt. Während der Verhandlungen musste Vidocq auch für viele andere Fälle Rechenschaft ablegen, so unter anderem für die Entführung mehrerer Frauen, die er angeblich gegen deren Willen im Auftrag ihrer Familien in Klöster gebracht hatte. Auch seine Tätigkeit als Geldgeber und eventuelle Vorteile, die er daraus gezogen hatte, wurden durchleuchtet. Schließlich verurteilte ihn das Gericht zu fünf Jahren Haft und 3.000 Franc Geldstrafe. Vidocq ging sofort in Berufung und erhielt durch die Intervention politischer Freunde wie des Grafen Gabriel de Berny und des Generalstaatsanwaltes Franck-Carré rasch einen neuen Prozess, dieses Mal vor dem Vorsitzenden Richter des court royale. Die Verhandlung am 22. Juli 1843 war eine Sache von Minuten, nach elf Monaten in der Conciergerie war Vidocq wieder ein freier Mann.
Doch der Schaden war angerichtet. Das Verfahren war sehr teuer und sein Ruf hatte Schaden genommen, weshalb auch die Geschäfte in der Agentur nicht mehr richtig liefen. Dazu versuchte Delessert ihn als ehemaligen Kriminellen der Stadt verweisen zu lassen. Der Versuch scheiterte zwar, doch Vidocq überlegte immer öfter, die Agentur loszuwerden. Einzig qualifizierte und zugleich einigermaßen seriöse Käufer fehlten.
Vidocq veröffentlichte in den kommenden Jahren mehrere kleine Bücher, in denen er sein Leben darstellte, in direkter Auseinandersetzung mit den freien Schilderungen, die über ihn kursierten. Außerdem legte er 1844 einen Essay über Gefängnisse, Zuchthäuser und die Todesstrafe vor. Am Morgen des 22. September 1847 starb auch seine dritte Frau Fleuride nach 17 Ehejahren. Vidocq heiratete nicht mehr, lebte aber bis an sein Lebensende mit Partnerinnen zusammen.
1848 brach in Paris die Februarrevolution aus, bei der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe abgesetzt wurde. Die Zweite Republik mit Alphonse de Lamartine an der Spitze einer Übergangsregierung wurde ausgerufen. Und obwohl Vidocq vorher auf seine Empfänge bei Hof stolz war und sich seines Zugangs zu Louis-Philippe rühmte, bot er seine Dienste nun unmittelbar der neuen Regierung an. Seine Aufgabe in den nächsten Monaten bestand in der Überwachung politischer Gegner wie Charles-Louis-Napoléons, des Neffen von Napoleon Bonaparte. Währenddessen versank die neue Regierung in Chaos und Gewalt. Bei den für den 10. Dezember 1848 angesetzten Präsidentenwahlen erhielt Lamartine weniger als 8000 Stimmen. Vidocq selbst stellte sich im 2. Arrondissement auch zur Wahl auf, erhielt aber nur eine Stimme. Eindeutiger Gewinner und damit Präsident der Zweiten Republik wurde Charles-Louis-Napoléon, der auf Vidocqs Angebot, für ihn zu arbeiten, nicht reagierte.
Die letzten Jahre (1849–1857)
Vidocq musste 1849 noch ein letztes Mal kurz ins Gefängnis, die Anklage wegen Betrugs wurde jedoch fallen gelassen. Er zog sich mehr und mehr ins Privatleben zurück und übernahm meist nur noch kleine Aufträge. In den letzten Jahren seines Lebens litt er unter massiven Schmerzen an einem im Kampf gebrochenen und nie richtig verheilten Arm. Dazu hatten ihn Fehlinvestitionen einen großen Teil seines Vermögens gekostet, weshalb er seinen Lebensstandard einschränken und wieder zur Miete wohnen musste. Im August 1854 überlebte er trotz anders lautender Prognosen seines Arztes die Cholera. Erst im April 1857 verschlechterte sich sein Zustand derart, dass er nicht mehr aufzustehen vermochte. Am 11. Mai 1857 starb Vidocq im Alter von 82 Jahren im Beisein seines Arztes, seines Anwalts und eines Pfarrers.
Seine Leiche wurde in die Kirche Saint-Denys gebracht, wo auch der Trauergottesdienst stattfand. Es ist nicht bekannt, wo Vidocq begraben ist, weshalb sich darum einige Gerüchte ranken. Eines davon, das beispielsweise in der Biografie von John Philip Stead erwähnt wird, ist, dass sein Grab am Friedhof von Saint Mandé liegt. Dort befindet sich ein Grabstein mit der Aufschrift „Vidocq 18“. Laut Auskunft der Stadt ist dieses Grab jedoch auf Vidocqs letzte Ehefrau Fleuride-Albertine Maniez registriert.
Sein Vermögen bestand zum Schluss aus 2907,50 Franc aus dem Verkauf seiner Güter und 867,50 Franc Pension. Insgesamt elf Frauen meldeten sich als Besitzer eines letzten Willens, den sie für ihre Gunst anstelle von Geschenken erhalten hatten. Sein verbliebenes Vermögen erhielt Anne-Heloïse Lefèvre, bei der er zum Schluss gewohnt hatte. Vidocq hatte keine Kinder, zumindest keine, die bekannt wären. Anerkennungsversuche von Emile-Adolphe Vidocq, dem Sohn seiner ersten Ehefrau, der zu diesem Zweck seinen Nachnamen geändert hatte, scheiterten. Vidocq hatte Beweise hinterlassen, die seine Vaterschaft ausschlossen. Zum Zeitpunkt der Empfängnis war er im Gefängnis.
Vidocqs Person
Auch wenn eine Vielzahl literarischer und vermeintlich realer Schriften das Leben und die Person Vidocqs darstellen oder sich zumindest an ihm anlehnen, bleiben doch seine Memoiren aus dem Jahr 1827 die beste Quelle, um seine Persönlichkeit zu erfassen. Seine Biografen sind sich einig: Vidocq war ein eindimensionaler Mensch mit einem engen Blickwinkel auf das Leben und seine Zeit.
Er lebte in turbulenten Zeiten, die französische Revolution prägte das Umfeld seiner Jugend, Napoleon Bonaparte und die napoleonischen Kriege waren der Grund seines Eintritts in die Armee. Die Restauration bot ihm die Möglichkeit, nicht nur in die Pariser Polizei einzutreten, sondern sie zu formen, und die Unruhen des Jahres 1832 und schließlich der Februarrevolution würfelten die Gesellschaft durcheinander. Vidocq sah das alles nicht. Ihn interessierte nur sein eigenes Leben.
Die Kriege waren nur Gelegenheit zum Untertauchen, der Staat existierte in der Frage nach dem Namen, dem Pass und den Vorstrafen. Irgendein eigenes Verständnis von Staat oder Gesellschaft entwickelte Vidocq nie. Seine lockere Art, die Seiten zu wechseln, war die logische Folge; er kannte keine Loyalität, er fühlte sich nichts verbunden – nicht seinen Frauen, seinen Kameraden, den Mitgliedern seiner Truppe oder einer Idee.
Kriminalistisches Vermächtnis
Vidocq gilt unter Historikern heute als „Vater“ der modernen Kriminalistik. Seine Vorgehensweise war für die damalige Zeit neuartig und einmalig. Ihm werden die Einführung der Undercover-Arbeit, Ballistik-Tests und des Dateikartensystems bei der Polizei zugeschrieben. Dabei wurde sein Wirken aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit in Frankreich lange nicht anerkannt. Im September 1905 stellte die Sûreté Nationale eine Gemäldereihe mit den ehemaligen Oberhäuptern der Behörde aus. Das erste Gemälde der Reihe zeigte allerdings Pierre Allard, den Vidocq als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte. Die Zeitung L’Exclusive berichtete am 17. September 1905, dass sie auf Anfrage bezüglich der Auslassung die Auskunft erhalten hätte, dass Vidocq nie Chef der Sûreté gewesen sei.
Umgestaltung des Polizeiapparates
Als Vidocq um 1810 auf die Seite der Polizei wechselte, gab es in Frankreich zwei Polizeiorganisationen: Zum einen die police politique (dt. politische Polizei), deren Agenten sich mit der Aufdeckung von Verschwörungen und Intrigen beschäftigten, zum anderen die normale Polizei, die alltägliche Verbrechen wie Diebstahl, Betrug, Prostitution und Mord untersuchte. Bereits im Mittelalter trugen deren Gendarmen Identifizierungsinsignien, aus denen sich im Laufe der Zeit vollständige Uniformen entwickelt hatten. Im Gegensatz zu der auch verdeckt agierenden politischen Polizei waren sie leicht zu erkennen. Die uniformierten Gendarmen konnten sich in manche Pariser Stadtteile aus Furcht vor Übergriffen nicht wagen, ihre Möglichkeiten bei der Kriminalprävention waren dementsprechend eingeschränkt.
Vidocq überredete seine Vorgesetzten, die Agenten seiner Sicherheitsbrigade, zu denen auch Frauen gehörten, in Zivil oder der Situation entsprechend verkleidet einzusetzen. Sie fielen somit nicht auf und kannten als ehemalige Kriminelle die Schlupfwinkel und Methoden der Kriminellen. Über ihre Kontakte erfuhren sie teils von geplanten Verbrechen und fassten die Verbrecher dadurch oft auf frischer Tat. Auch Vidocqs Verhöre liefen anders ab als üblich: In seinen Memoiren erzählt er mehrmals, wie er mit gerade Verhafteten nicht direkt zum Gefängnis gefahren ist, sondern sie zuvor zum Essen einlud, bei dem er sich mit ihnen unterhielt. Neben Informationen zu anderen Verbrechen, die er dabei oft beiläufig erhielt, führte diese gewaltlose Methode auch oft zu Geständnissen und dem Anwerben künftiger Informanten und sogar Agenten.
August Vollmer, erster Polizeichef von Berkeley und eine der führenden Persönlichkeiten in der Entwicklung der Kriminalpolizei in den Vereinigten Staaten, beschäftigte sich im Rahmen der Polizeireform vor allem mit den Werken von Vidocq und dem österreichischen Kriminologen Hans Gross. Seine Reformen wurden von der International Association of Chiefs of Police (IACP) übernommen, deren Präsident er war, und wirkten sich infolgedessen aus auf J. Edgar Hoover und das von ihm geleitete FBI, das 1908 von Bonapartes Großneffen Charles Joseph Bonaparte gegründet worden war. Robert Peel, der 1829 in seiner Funktion als britischer Innenminister Scotland Yard gründete, entsandte 1832 eine Kommission nach Paris, die sich mehrere Tage mit Vidocq besprach. 1843 reisten erneut zwei Kommissare von Scotland Yard zur Weiterbildung nach Paris. Sie verbrachten allerdings nur zwei Tage mit dem Sûreté-Chef Allard und sprachen anschließend bei Vidocq vor. Eine Woche lang begleiteten sie ihn und seine Agenten bei deren Arbeit.
Identifikation von Verbrechern
Jürgen Thorwald bescheinigt Vidocq in seinem Werk Das Jahrhundert der Detektive ein fotografisches Gedächtnis, das es ihm ermöglichte, bereits auffällig gewordene Kriminelle selbst in Verkleidung jederzeit zu erkennen. Der Biograf Samuel Edwards berichtet in The Vidocq Dossier von einer Verhandlung gegen den Betrüger und Fälscher Lambert, in der er sich selbst auch auf sein Gedächtnis bezog. Vidocq besuchte regelmäßig die Gefängnisse, um sich die Inhaftierten einzuprägen. Auch seine Agenten waren zu diesen Besuchen verpflichtet. Die englische Polizei übernahm diese Methode. Noch bis in die späten 1980er Jahre besuchten englische Detektive Gerichtsverhandlungen, um die Zuschauer auf den öffentlichen Galerien zu beobachten und auf eventuelle Komplizen aufmerksam zu werden.
Wie Vidocq bei der Lambertschen Gerichtsverhandlung sagte, war zwar sein Gedächtnis phänomenal, er konnte dies jedoch nicht bei seinen Agenten voraussetzen. Deshalb legte er zu jedem Verhafteten sorgfältig eine Karteikarte an, die eine Personalbeschreibung, Pseudonyme, frühere Verurteilungen, die typische Vorgehensweise und sonstige Informationen enthielt. Die Karteikarte vom Fälscher Lambert enthielt unter anderem eine Schriftprobe. Das Karteikartensystem wurde nicht nur von der französischen Polizei beibehalten, sondern auch von Polizeieinheiten anderer Länder übernommen. Allerdings offenbarte es in den nächsten Jahren auch seine Schwächen. Als Alphonse Bertillon 1879 als Hilfsschreiber zur Sûreté kam, waren die auf den Kärtchen festgehaltenen Beschreibungen der Kriminellen schon längst nicht mehr detailliert genug, um Verdächtige auch tatsächlich nur mit deren Hilfe identifizieren zu können. Das veranlasste Bertillon zur Entwicklung eines anthropometrischen Systems der Personenidentifizierung, der Bertillonage. Die Sortierung der Karteikästen, die zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Räume füllten, wurde auf Körpermaße umgestellt, der erste von vielen Versuchen, Struktur und Aufbau der Sortierung zu verbessern. Mit Beginn des Informationszeitalters wurden die Karteikarten digitalisiert und die Karteikartensysteme von Datenbanksystemen abgelöst. Dazu gehören unter anderem vom FBI verwaltete Datenbanken wie das biometrische IAFIS, ein AFIS, das alle in den Vereinigten Staaten gesammelten Fingerabdrücke enthält, das MUPS (Missing/Unidentified Persons System), das Daten zu vermissten Personen und unidentifizierten Leichen enthält, und das NIBRS (National Incident Based Reporting System), das kriminelle Vorfälle dokumentiert.
Experimente – Der Glaube an die Wissenschaft
Eine forensische Wissenschaft gab es zu Vidocqs Zeiten noch nicht. Trotz zahlreicher wissenschaftlicher Abhandlungen war der praktische Nutzen durch die Polizei noch nicht erkannt worden, was auch Vidocq nicht ändern sollte. Dennoch war er Experimenten gegenüber nicht so abgeneigt wie seine Vorgesetzten, hatte im jeweiligen Bürogebäude auch meist ein kleines Laboratorium eingerichtet. In den Archiven der Pariser Polizei befinden sich einige Berichte von Fällen, zu deren Aufklärung er bereits Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Anerkennung forensische Methoden anwandte.
Chemische Verbindungen
Im Frankreich zu Vidocqs Zeit gab es bereits Schecks und Wechsel. Fälscher kauften Schecks auf und änderten diese zu ihren Gunsten. Um dem Problem zu begegnen, beauftragte Vidocq 1817 zwei Chemiker mit der Entwicklung eines fälschungssicheren Papiers. Dieses Papier, für das Vidocq ein Patent anmeldete, war mit Chemikalien behandelt, die bei nachträglichen Änderungen die Tinte verschmieren ließen, wodurch Scheckfälschungen zu erkennen waren. Laut dem Biografen Edwards nutzte Vidocq seine Kontakte ausgiebig und bewarb das Papier gegenüber den Betrogenen, hauptsächlich Bankiers, die ihn mit der Ausforschung der Betrüger beauftragten. Dadurch fand das Papier weite Verbreitung. Vidocq nutzte es zusätzlich für seine Karteikarten, um dadurch deren Zuverlässigkeit vor Gericht hervorheben zu können. Zudem ließ er eine Tinte herstellen, die sich nicht mehr unsichtbar machen ließ. Diese wurde unter anderem ab Mitte der 1860er Jahre von der Französischen Regierung für den Druck von Banknoten genutzt.
Tatortuntersuchungen
Louis Mathurin Moreau-Christophe, zeitgenössischer Generalinspektor der französischen Gefängnisse, beschreibt in seinem Buch Le monde des coquins, wie Vidocq Spuren am Tatort nutzte, um anhand seiner Kenntnisse über die Verbrecher und deren Vorgehensweise den Täter zu ermitteln. Als konkretes Beispiel nennt Moreau-Christophe einen Einbruchsdiebstahl in der Bibliothèque Royale 1831, bei dessen Untersuchung er selbst auch anwesend war. Vidocq inspizierte dabei ein Paneel der Tür, die der Täter aufgebrochen hatte, genauer und erklärte, dass aufgrund der angewendeten Methode und der Perfektion, mit der diese ausgeführt worden wäre, eigentlich nur ein Täter infrage kommen könne, der Dieb Fossard, der allerdings momentan im Gefängnis säße. Er erhielt daraufhin von dem ebenfalls anwesenden Polizeichef Lecrosnier die Auskunft, dass Fossard vor acht Tagen ausgebrochen sei. Zwei Tage später konnte Vidocq den Dieb verhaften, der den Einbruch auch tatsächlich begangen hatte.
Spurensicherung
Die Karteikarte für den Dieb Hotot dokumentiert einen der ersten Fälle der Überführung eines Kriminellen durch seine am Tatort hinterlassenen Schuhabdrücke. Der ihm bekannte Dieb war Vidocq wegen dessen nasser und mit Schlamm beschmutzter Kleidung aufgefallen. Als er zum Tatort eines Diebstahls gerufen wurde, fielen ihm im Garten des Hauses Schuhabdrücke auf. Er holte die Schuhe des Diebes und ließ sie mit den Spuren vergleichen. Mit der Übereinstimmung der Abdrücke konfrontiert, gestand der Dieb. Um 1910 formulierte der forensische Pionier Edmond Locard, Direktor des französischen Polizeilabors in Lyon, das bereits von Vidocq genutzte Prinzip als Locard’sche Regel: Kein Kontakt ohne Materialübertragung. Dessen Anwendung, das neben Finger- und Schuhabdrücken auch Reifen- und Schmauchspuren, Fasern, DNA-Rückstände und vieles mehr umfasst, ist heute gängiges Mittel zur Täterüberführung und wird durch Experten durchgeführt.
Daktyloskopie
Fingerabdrücke wurden bereits von den antiken Babyloniern und den amerikanischen Ureinwohnern von Nova Scotia als Unterschriften genutzt. 1684 schrieb der britische Botaniker Nehemiah Grew erstmals eine Arbeit über die Muster an den Fingerkuppen, die er dem Royal College of Physicians of London präsentierte. 1823 veröffentlichte Jan Evangelista Purkyně eine Arbeit, in der er über die Individualität von Fingerabdrücken schrieb und eine erste Klassifikation vornahm. Es ist nicht bekannt, ob Vidocq diese Arbeit gelesen hat, aber sowohl Balzac als auch Hugo haben beide laut dem Biografen Edwards Notizen hinterlassen, aus denen hervorgeht, dass er sich ab etwa dieser Zeit mit Fingerabdrücken beschäftigte und sich zu diesem Zweck auch ein Huygens-Mikroskop zulegte. Anscheinend diskutierte er mit seinen Freunden über seine Experimente und war fest davon überzeugt, sie zur Identifizierung von Verbrechern nutzen zu können. Dumas schrieb, dass sich Vidocq auf die Suche nach einem Physiker gemacht habe, den er von seinen Ideen überzeugen konnte. Währenddessen ‚überredete‘ er Gefangene aus Bicêtre zur Abnahme ihre Fingerabdrücke. Dabei stellte er fest, dass normale Tinte bei diesem Vorgang verschmierte. Auch seine eigene Tinte brachte keinen Erfolg, da diese zu schnell trocknete, dadurch nur schwache Abdrücke hinterließ und zudem wochenlang an den Fingern seiner Versuchskaninchen haften blieb. Feuchte Lehmplatten erzeugten zwar deutlich bessere Abdrücke, brauchten dafür jedoch zu viel Platz in den Archivräumen. Bis zu seinem ersten Austritt aus der Sûreté hatte Vidocq keine zufrieden stellende Lösung für die Sicherstellung von Fingerabdrücken gefunden und verfolgte dieses Projekt später nicht mehr weiter, da er auch keinen Physiker überzeugen konnte, ihn zu unterstützen. Er erfuhr nicht mehr, dass Ivan Vučetić mit einfacher Tusche ein verwendbares Mittel gefunden hatte. Allerdings glaubte er bis zu seinem Lebensende an die Nutzbarkeit von Fingerabdrücken und diskutierte das Thema oft, unter anderem 1845 in einem Interview mit zwei Reportern der London Times und der New York Post. Ein Jahr nach seinem Tod führte William Herschel in Indien die Verwendung von Fingerabdrücken zur Vermeidung von Pensionsbetrug ein. 1888 veröffentlichte Francis Galton seine erste Arbeit über die Einzigartigkeit von Fingerabdrücken und ebnete damit der Daktyloskopie ihren Weg in Europa. 1892 wurde in Argentinien erstmals ein Mord mit Hilfe dieser Wissenschaft aufgeklärt, die heute ein Standardverfahren ist.
Ballistik
Alexandre Dumas hinterließ Aufzeichnungen, die einen Mordfall von 1822 beschreiben. Die Comtesse Isabelle d’Arcy, die sehr viel jünger als ihr Ehemann war und diesen betrogen hatte, war erschossen aufgefunden worden, worauf die Polizei den Comte d’Arcy verhaftete. Vidocq hatte mit dem Mann gesprochen und war der Meinung, dass der ‚alte Gentleman‘ nicht die Persönlichkeit eines Mörders hätte. Er untersuchte dessen Duellpistolen und stellte fest, dass diese entweder nicht abgefeuert oder seither gereinigt wurden. Daraufhin überredete er einen Arzt, heimlich die Kugel aus dem Kopf der Adeligen zu entfernen. Ein einfacher Vergleich zeigte, dass die Kugel viel zu groß war, um aus den Pistolen des Comte zu stammen. Daraufhin durchsuchte Vidocq die Wohnung des Liebhabers der Ermordeten und fand darin neben zahlreichen Schmuckstücken auch eine große Pistole, zu der die Kugeln von der Größe her passten. Der Comte identifizierte die Schmuckstücke als die seiner Frau. Vidocq fand daraufhin außerdem einen Hehler, bei dem der Verdächtige bereits einen Ring versetzt hatte. Mit den Beweisen konfrontiert, gestand der Liebhaber den Mord. Der erste richtige Abgleich zwischen einer Waffe und einer Kugel fand 1835 durch Henry Goddard, einen „Bow Street Runner“, statt. Am 21. Dezember 1860 berichtete die London Times über ein Gerichtsurteil, bei dem der Mörder Thomas Richardson in Lincoln erstmals nur mit Hilfe der Ballistik zum Tod verurteilt wurde.
1990 wurde in Philadelphia die Vidocq Society gegründet. Deren Mitglieder sind forensische Experten, FBI-Profiler, Ermittler der Mordkommission, Wissenschaftler, Psychologen und Leichenbeschauer, die bei ihren monatlichen Treffen unentgeltlich unaufgeklärte alte Fälle aus aller Welt durchleuchten und gemäß ihrem Motto Veritas veritatum (dt. Wahrheit erzeugt Wahrheit) versuchen, den jeweiligen Ermittlern neue Anhaltspunkte zu verschaffen.
Kulturelle Rezeption
Literarisches
Um 1827 verfasste Vidocq eine Autobiografie über sein bisheriges Leben, die er im Sommer 1828 bei dem Buchhändler Emile Morice veröffentlichen wollte. Die befreundeten Autoren Honoré de Balzac, Victor Hugo und Alexandre Dumas fanden das dünne Büchlein jedoch zu kurz, worauf Vidocq sich einen neuen Verleger suchte. Dieser, Louis François L’Héritier, brachte noch im Dezember desselben Jahres die Memoiren heraus, die mit Hilfe einiger Ghostwriter auf vier Bände angewachsen waren. Das Werk wurde zu einem Bestseller und verkaufte sich bereits im ersten Jahr laut Biograf Samuel Edwards über 50.000 Mal. Der Erfolg regte Nachahmer an. 1829 veröffentlichten zwei Journalisten unter dem Pseudonym des Kriminellen Malgaret das Buch Mémoires d’un forçat ou Vidocq dévoilé, das Vidocqs angebliche kriminelle Aktivitäten aufdecken sollte. Auch andere Polizeibeamte folgten Vidocqs Beispiel und schrieben in den nächsten Jahren eigene Biografien, so auch der Polizeipräfekt Henri Gisquet.
Vidocq inspirierte mit seiner Lebensgeschichte auch viele zeitgenössische Schriftsteller, von denen er viele zu seinem engen Bekanntenkreis zählte. So bildet er in Balzacs Schriften regelmäßig das Vorbild literarischer Figuren. Im dritten Teil von Illusions perdues (1837–1843, dt. Verlorene Illusionen) – Souffrance de L’Inventeur (dt. Die Leiden des Erfinders) – werden seine Erfahrungen als gescheiterter Unternehmer aufgegriffen, in Gobseck (1829) stellt Balzac erstmals den Polizisten Corentin vor, am deutlichsten wird aber die Verbindung Vidocqs mit der Figur des Vautrin. Dieser tritt erstmals in Balzacs Roman Vater Goriot (1834, frz. Le Père Goriot) auf, dann in Illusions perdues, Splendeurs et misères des courtisanes (als Hauptfigur), La Cousine Bette, Le Contrat de mariage und ist schließlich die Hauptfigur des Theaterstücks Vautrin von 1840. Vidocqs Methoden und Verkleidungen inspirieren Balzac auch zu vielen weiteren Bezügen in seinem Werk.
In Victor Hugos Les Misérables (1862, dt. Die Elenden) sind die Charaktere sowohl Jean Valjeans als auch Inspektor Javerts Vidocq nachempfunden; ebenso der Polizist Jackal aus Les Mohicans de Paris (1854–1855, dt. Die Mohikaner von Paris) von Alexandre Dumas. Er war die Grundlage für Monsieur Lecoq, einen Inspektor, der in zahlreichen Abenteuern von Émile Gaboriau die Hauptrolle spielte, und für Rodolphe de Gerolstein, der in den Zeitungsromanen von Eugène Sue allwöchentlich für Gerechtigkeit sorgte. Und er kann auch in dem das Genre der Kriminalliteratur begründenden Werk Der Doppelmord in der Rue Morgue von Edgar Allan Poe und den Geschichten Moby Dick von Herman Melville und Great Expectations von Charles Dickens wiedergefunden werden.
Theater
Vidocq war ein großer Freund des Theaters. In der Pariser Bevölkerung war zu seinen Lebenszeiten der so genannte Boulevard du Crime (dt. Boulevard des Verbrechens) recht beliebt. An dieser Straße lagen mehrere Theaterhäuser, in denen allabendlich Kriminalgeschichten in Form von Melodramen dargestellt wurden. Eines dieser Theater war das Théâtre de l’Ambigu-Comique, das von Vidocq in großem Ausmaß gefördert und unterstützt wurde. Laut Biograf James Morton reichte er auch selbst ein Stück ein, das allerdings nie produziert wurde. Auch hatte er Pläne, sich selbst als Darsteller zu versuchen, die er aber nie verwirklichte.
Zahlreiche seiner Geliebten waren Schauspielerinnen, aber auch viele seiner Freunde und Bekannten stammten aus der Theater-Szene. Zu ihnen gehörte der bekannte Schauspieler Frédérick Lemaître, der unter anderem die Hauptrolle in der Inszenierung von Balzacs Vautrin übernahm, als das Stück am 14. März 1840 nach zahlreichen Problemen mit der Zensur im Théâtre de la Porte Saint-Martin uraufgeführt wurde. Er bemühte sich dabei, sein Aussehen möglichst dem von Vidocq anzupassen, auf dem die Figur ja basierte. Bereits bei der Premiere kam es zu Tumulten, da die gewählte Perücke zu große Ähnlichkeit mit der des Königs Louis-Philippe hatte, weshalb das Stück nach einem entsprechenden Verbot durch den französischen Innenminister kein zweites Mal aufgeführt wurde.
Aber nicht nur die durch Vidocq inspirierten Werke schafften es auf die Bühne, auch seine eigene Lebensgeschichte mit den Memoiren als literarischer Vorlage wurde mehrmals aufgeführt. Besonders in England war die Begeisterung für Vidocq groß. Seine Memoiren wurden rasch ins Englische übersetzt und schon wenige Monate später fand am 6. Juli 1829 im Surrey Theater im Londoner Stadtteil Lambeth die Uraufführung von Vidocq! The French Police Spy statt. Das Melodram in 2 Akten, das von Robert William Elliston produziert wurde, stammte aus der Feder von Douglas William Jerrold. Vidocqs Rolle wurde von T. P. Cooke übernommen, der auch in Jerrolds Erfolgsstück Black-eyed Susan aus demselben Jahr die Hauptrolle spielte. Obwohl die Kritiken u. a. in The Times durchaus positiv waren, wurde das Stück im ersten Monat nur neun Mal aufgeführt und danach abgesetzt.
Einige Jahre nach Vidocqs Tod wurde im Dezember 1860 im Britannia Theater in Hoxton unter dem Titel Vidocq or The French Jonathan Wild ein weiteres Theaterstück basierend auf Vidocqs Memoiren aufgeführt, das von F. Marchant geschrieben wurde, aber nur eine Woche auf dem Spielplan stand.
1909 schrieb Émile Bergerat das Melodram Vidocq, empereur des policiers in 5 Akten und 7 Szenen. Die Produzenten Hertz und Coquelin lehnten es aber ab, worauf Bergerat sie erfolgreich auf 8.000 Franc Schadenersatz verklagte. Das Stück wurde dann 1910 im Théâtre Sarah Bernhardt uraufgeführt. Jean Kemm, der Jahre später auch an einem Film über Vidocq beteiligt sein sollte, übernahm die Hauptrolle.
Die Renaissance des Vidocq-Stoffs zeigte sich auch im Theater. 2017 brachte das Ensemble Freuynde + Gaesdte mit der Tragikomödie Kaschemme, Punkt acht von Zeha Schröder eine moderne Theatralisierung von Vidoqcs Leben in Münster zur Uraufführung. Das Stück zeigt den Ganoven am Wendepunkt seiner Biografie, als er dem Polizeichef Henry 1809 seine Dienste anbietet, um der Kriminalität zu entkommen. Die Gesprächssituation in einer zwielichtigen Kaschemme ist zwar fiktiv, doch der Stücktext basiert zu weiten Teilen auf den Memoiren Vidocqs von 1828.
Verfilmungen
Bereits 1909 entstand der erste Film über Vidocq. Am 13. August 1909 erschien der auf Vidocqs Memoiren basierende Kurz-Stummfilm La Jeunesse de Vidocq ou Comment on devient policier in Frankreich. Vidocq wurde von Harry Baur dargestellt, der die Rolle auch in den beiden Fortsetzungen L’Évasion de Vidocq (1910) und Vidocq (1911) verkörperte.
Unter der Regie von Jean Kemm entstand 1922 der nächste Stummfilm Vidocq, dessen Drehbuch von Arthur Bernède nach den Memoiren konzipiert worden war. Die Hauptrolle spielte René Navarre.
Der erste Tonfilm wurde 1938 veröffentlicht. Jacques Daroy drehte den wieder nach der Hauptfigur benannten Film mit André Brulé als Vidocq. Der Film, der sich größtenteils mit der Verbrecherlaufbahn Vidocqs beschäftigt, war im Vergleich zu zeitgenössischen Kriminalfilmen eher glanzlos, wurde aber dennoch auch außerhalb Frankreichs gespielt.
Am 19. Juli 1946 erschien der erste von Amerikanern gedrehte Film über Vidocq – Ein eleganter Gauner. George Sanders stellte Vidocq in Douglas Sirks Verfilmung dar, die den Aufstieg eines Gauners in der Gesellschaft verbunden mit einer Liebesgeschichte zeigt. Bereits im April 1948 folgte wieder eine französische Version der Lebensgeschichte Vidocqs. Le Cavalier de Croix-Mort wurde 1947 von Lucien Ganier-Raymond mit Henri Nassiet in der Hauptrolle gedreht.
Ab dem 7. Januar 1967 sendete der französische Fernsehsender ORTF die erste von zwei Fernsehserien. Vidocq mit Bernard Noël in der Titelrolle, 13 Folgen zu je 26 Minuten, wie alle bisherigen Verfilmungen in Schwarzweiß. Die zweite Serie Les Nouvelles Aventures de Vidocq hatte am 5. Januar 1971 Premiere. In 13 Folgen in Farbe zu je 55 Minuten wird Vidocq von Claude Brasseur verkörpert.
2001 erschien Vidocq schließlich unter der Regie von Pitof als eine Mischung aus Fantasy und Horror. Die Figur Vidocq wird darin durch Gérard Depardieu mit all seinen Eigenheiten und Talenten relativ authentisch dargestellt, die dargestellten Ereignisse rund um den „Alchemisten“ sind jedoch nie wirklich geschehen.
2018 erschien mit Vidocq - Herrscher der Unterwelt eine weitere Verfilmung von Jean-François Richet mit Vincent Cassel in der Titelrolle.
Anmerkungen
Weiterführende Informationen
Werke von Vidocq
Mémoires de Vidocq, chef de la police de Sûreté, jusqu’en 1827. 1828 (Digitalisat). Deutsche Übersetzung von Ludwig Rubiner aus dem Jahr 1920: Landstreicherleben als Volltext auf Wikisource (Biografie).
Les voleurs. Paris 1836, Roy-Terry (Digitalisat, eine Studie über Diebe und Betrüger).
Dictionnaire d’Argot. 1836 (PDF; 982 kB; ein Argot-Wörterbuch).
Considérations sommaires sur les prisons, les bagnes et la peine de mort. 1844 (PDF; 208 kB; Überlegungen über Mittel zur Verringerung der Kriminalität).
Les chauffeurs du nord. 1845 (Erinnerungen an seine Zeit als Bandenmitglied).
Les vrais mystères de Paris. 1844 (Roman geschrieben von Horace Raisson und Maurice Alhoy, aber aus Werbegründen unter Vidocqs Namen veröffentlicht).
Biografien (Auswahl)
Samuel Edwards: The Vidocq Dossier. The story of the world’s first detective. Houghton Mifflin, Boston, Mass. 1977, ISBN 0-395-25176-1 (Dieses Werk enthält allerdings viele teils sehr offensichtliche Fehler).
Louis Guyon: Biographie des Commissaires et des Officiers de Paix de la ville de Paris. Édition Goullet, Paris 1826.
Edward A. Hodgetts: Vidocq. A Master of Crime. Selwyn & Blount, London 1928.
Barthélemy Maurice: Vidocq. Vie et aventures. Laisné, Paris 1861.
John Philip Stead: Vidocq. Der König der Detektive (Vidocq. Picaroon of Crime). Union Deutsche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1954.
James Morton: The first detective. The life and revolutionary times of Vidocq; criminal, spy and private eye. Ebury Press, London 2005, ISBN 0-09-190337-8.
Jean Savant: La vie aventureuse de Vidocq. Librairie Hachette, Paris 1973.
Über Vidocqs Auswirkungen auf die Kriminalistik
Clive Emsley, Haia Shpayer-Makov: Police Detectives in History, 1750–1950. Ashgate Publishing, Aldershot 2006, ISBN 0-7546-3948-7.
Gerhard Feix: Das große Ohr von Paris. Fälle der Sûreté. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1979.
Dominique Kalifa: Naissance de la police privée. Détectives et agences de recherches en France, 1832–1942 (Civilisations et Mentalitès). Plon, Paris 2000, ISBN 2-259-18291-7.
Paul Metzner: Crescendo of the Virtuoso. Spectacle, skill and self-promotion in Paris during the age of revolution. University of California Press, Berkeley, Cal. 1998, ISBN 0-520-20684-3 (ark.cdlib.org).
Jürgen Thorwald: Wege und Abenteuer in der Kriminalistik. Droemer Knaur, München 1981, ISBN 3-85886-092-1 (früherer Titel: Das Jahrhundert der Detektive).
Über Vidocqs Einfluss auf die Literatur
Paul Gerhard Buchloh, Jens P. Becker: Der Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1978, ISBN 3-534-05379-6.
Sandra Engelhardt: The investigators of crime in literature. Tectum Verlag, Marburg 2003, ISBN 3-8288-8560-8.
Régis Messac: Le „Detective Novel“ et l’influence de la pensée scientifique. Neue Ausgabe: Les Belles Lettres, coll. Travaux, Paris 2011, ISBN 978-2-251-74246-5 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1929).
Alma E. Murch: The development of the detective novel. P. Owen, London 1968.
Charles J. Rzepka: Detective Fiction. Polity Press, Cambridge 2005, ISBN 0-7456-2941-5.
Ellen Schwarz: Der phantastische Kriminalroman. Untersuchungen zu Parallelen zwischen „roman policier“, „conte fantastique“ und „gothic novel“. Tectum Verlag, Marburg 2001, ISBN 3-8288-8245-5 (zugl. Dissertation, Universität Giessen 2001).
Julian Symons: Bloody Murder. From the Detective Story to the Crime Novel; a history. Pan Books, London 1994, ISBN 0-330-33303-8.
Weblinks
Vidocq – Du Bagne à la Police de Sûreté (französisch)
Vidocq. In: Arras-Online.com (Arras zählt Vidocq neben dem 17 Jahre früher geborenen Maximilien de Robespierre zu den berühmtesten Söhnen der Stadt; französisch)
The Vidocq Society beschäftigt sich mit lange ungelösten und komplexen Verbrechen. Die Mitglieder sind Spezialisten aus zahlreichen Bereichen der Kriminalistik (englisch)
Einzelnachweise
Kriminalist
Betrüger
Räuber
Ballistiker
Polizist (Frankreich)
Verurteilte Person
Person (Duell)
Franzose
Geboren 1775
Gestorben 1857
Mann |
671894 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zingst | Zingst | Das Ostseeheilbad Zingst ist eine amtsfreie Gemeinde im Nordwesten des Landkreises Vorpommern-Rügen in Mecklenburg-Vorpommern, Landesteil Vorpommern. Zur Gemeinde gehört fast die gesamte gleichnamige Halbinsel sowie die ihr südlich vorgelagerten Inseln Kirr und Barther Oie. Die Gemeinde ist seit 2002 ein staatlich anerkanntes Seeheilbad.
Geographie
Geographische Lage
Die Halbinsel Zingst oder der Zingst ist der östliche Teil der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, die zwischen den Städten Rostock und Stralsund an der südlichen Ostseeküste liegt. Der Zingst schließt sich in einer Länge von knapp 20 km und einer Breite von 2 bis 4 km von Westen nach Osten östlich an die Halbinsel Darß an und wird nördlich von der Ostsee und südlich vom Barther Bodden und Grabow begrenzt, die zur Darß-Zingster Boddenkette gehören. Durch Versandung ist die ehemals östlich vorgelagerte Insel Großer Werder eine Halbinsel am Zingst geworden.
Die Verbindung zum Darß im Westen ist eine nur etwa 100 m breite Landbrücke direkt an der Ostsee. An dieser Stelle wurde im Jahre 1874 nach dem großen Ostseesturmhochwasser 1872 der Prerower Strom künstlich geschlossen, der vorher Bodden und Ostsee verbunden hatte. Erst seit dieser Zeit ist Zingst keine Insel mehr.
Der Siedlungskern des Ortes Zingst liegt zwischen dem Freesenbruch im Westen, der Ostsee im Norden, der Alten Straminke, einem ehemaligen Meeresarm mit einem ihn umgebendem Sumpfgebiet, im Osten und dem Zingster Strom im Süden. Die Gemeinde liegt kaum oberhalb des Meeresspiegels, so dass der Ort zum Schutz vor Sturmhochwassern von Deichen eingeschlossen ist. Östlich des Hauptortes am Zingster Strom befindet sich die Ortslage Müggenburg. Östlich der Gemeinde liegt ein größeres, sehr wildreiches Waldgebiet, der Osterwald. Daran schließen sich die Sundischen Wiesen an. Östlichster Punkt der Halbinsel ist der Pramort.
Gemeindegliederung
Das Gebiet der Gemeinde ist nicht in Ortsteile aufgeteilt. Zur Ortslage Müggenburg südöstlich des Hauptortes am Zingster Strom gehört die Ansiedlung Klein Kirr auf der Insel Kirr.
Geologie
Die ursprüngliche Insel Zingst ist eine geologisch sehr junge Landschaft. Der Entstehungsprozess begann vor zirka 12.000 Jahren mit dem Ende der Weichseleiszeit, die hier eine Jungmoränenlandschaft hinterließ. Durch das Abtauen des Inlandeises hob sich das darunter liegende Land und die Senken wurden mit Wasser gefüllt, der Vorgänger der späteren Ostsee, der Ancylussee entstand. So blieben nur noch die herausragenden Höhenrücken als Inseln bestehen. Die Großformen der Küsten im südlichen Bereich der Ostsee formten sich durch die Littorina-Transgression vor etwa 7.000 bis 2.500 Jahren. Vor zirka 5.000 Jahren erreichte der Meeresspiegel sein heutiges Niveau, die Kerne des heutigen Darß und Zingst wurden zu Inseln. Vor 4.500 Jahren wurde der Salzwasserzustrom aus der Nordsee stark eingeschränkt. Die Ostsee süßt seitdem langsam aus. Durch die Küstenerosion (Landabtragung, Verdriftung und Ablagerung) erlangten die damaligen Inseln im Laufe der Zeit ihre heutige Gestalt. Vor etwa 1.500 Jahren kam es durch die immer länger werdenden Nehrungen zur Abschnürung der dahinter liegenden Buchten, so dass die Darß-Zingster Boddenkette entstand. Im Jahr 1874 schließlich wurde der Prerower Strom zwischen dem Darß und dem Zingst künstlich geschlossen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die ehemalige Insel Großer Werder durch Versandung der Meeresenge zeitweise an den Zingst angeschlossen. Dieses Gebiet stellt ein Windwatt dar. Der Prozess der Landbildung geht im Osten der Halbinsel auch heute weiter. Zingst liegt zwischen den Anlandungsgebieten Darßer Ort und Bock, dadurch findet in West-Ost-Richtung ein Sedimenttransport statt, und der Strand vor Zingst verliert jährlich 40 cm. Der Verlust wurde aber meist durch Sturmhochwasser verursacht, so dass dieser Prozess heute stark abgeschwächt ist.
Flora und Fauna
Der Osterwald gilt als einziges Regenmoor in Mecklenburg-Vorpommern, das aber durch den menschlichen Eingriff teilweise ausgetrocknet wurde. Die Baumbestände umfassen hier unter anderem Birken, Stieleichen, Buchen und Kiefern. Weitere durch den Menschen angesiedelte Baumarten sind Erle, Fichte und die Tanne. Als Besonderheit gelten die 1955 gepflanzten Mammutbäume. Bei den Tierarten gibt es Populationen von Waldkauz, Gabelweihe und Sumpfohreule. Auch Baummarder sind häufiger anzutreffen.
Daran schließen sich östlich die Sundischen Wiesen an. Dieser Teil der Halbinsel sowie die umliegenden Ostsee- und Bodden-Gewässer und die südlich der Ortschaft Zingst gelegenen Vogelinseln Kirr und Barther Oie gehören zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Der Bereich der Sundischen Wiesen ist sogar als Schutzzone I ausgewiesen. Am Beginn der Wiesen steht eine Station des Nationalparkamtes mit einer kleinen Ausstellung. Im Dünengebiet wachsen Strandhafer und Strandroggen mit ihren langen tiefgehenden Wurzeln, in den feuchten Spülsaumgebieten Salzkraut und Salzmiere. Im Gebiet nördlich der Fahrstraße dominieren Zwergsträucher wie Krähenbeere und Heidekraut. Vereinzelt gibt es Kiefernwäldchen. In den südlich liegenden Gebieten an der Boddenküste wachsen die Bodden-Binse, Flutstraußgras, Grasnelke, Queller und die Salzmiere.
Im Bereich der Sundischen Wiesen und den umliegenden Uferbereichen rasten während der Vogelzugzeit 9 der 15 bekannten Gänsearten und 35 verschiedene Küstenvogelarten.
Östlich des Zingstes liegt einer der größten Rastplätze für Kraniche in Europa, die hier bis zu einigen Wochen Rast machen. Die aus Skandinavien oder Nordrussland stammenden Kraniche ziehen ab Mitte August in größeren Rastgruppen über die Halbinsel. Die Zahl der rastenden Vögel erreicht zwischen Mitte und Ende Oktober ihren Höhepunkt mit mehreren 10.000 Vögeln. Der Abzug der Kraniche findet zwischen Mitte August und Mitte Oktober statt, gelegentlich auch noch im November. In Pramort an der Ostspitze der Halbinsel befindet sich ein Beobachtungspunkt. Der Zugang zum Pramort ist während der Zeit des Kranichzuges im Herbst reglementiert. Auch in der Nähe des Ortes Zingst befinden sich gegenüber der Insel Kirr einige Beobachtungsplätze.
Geschichte
Anfänge bis 1700
Die ersten Besiedlungsspuren auf der ursprünglichen Insel stammen aus der mittleren Steinzeit vor 5000 bis 6000 Jahren. Am Ende der Weichseleiszeit lag der Meeresspiegel tiefer, und die Insel war deshalb mit dem Festland verbunden. So wurden bei der heutigen Ortslage Müggenburg, auf den Sundischen Wiesen und an der Hohen Düne Feuersteinwerkzeuge aus dieser Zeit gefunden. In der jüngeren Steinzeit erreichte der Meeresspiegel das heutige Niveau. Aus dieser Zeit stammen Funde bei Prerow. Danach brach die nachweisbare Besiedlung der Insel ab. Sie wurde aber weiterhin wirtschaftlich vor allem durch bei Barth ansässige Slawen genutzt. So bedeutet der Name Zingst Heuinsel und leitet sich aus dem slawischen Zeno (Heu) ab.
Im sumpfigen Umland des Prerower Stroms befinden sich Reste eines slawischen Burgwalls, die Hertesburg.
Die nachfolgende deutsche Besiedlung im Rahmen der Ostkolonisation setzte sehr zögerlich ein. Bis zum Jahr 1292 gehörte die Insel zum Fürstentum Rügen. Die am Prerower Strom liegende Hertesburg nutzte der Landesfürst als Zollstelle. Im gleichen Jahr verkaufte Wizlaw II. von Rügen dem Zisterzienserkloster Neuenkamp für 2000 Sundische Mark die Insel. Dieses begann, erste Bauern auf Zingst anzusiedeln. Der Ostteil der Insel gehörte seit 1290 der Stadt Stralsund. Davon zeugen noch einige Grenzsteine im Osterwald. Stralsund nutzte das Land vor allem als Viehweide, woher sich auch der Name „Sundische Wiesen“ ableitet. Im 15. Jahrhundert waren die Likedeeler rund um den Zingst aktiv. Bis 1441 waren große Teile der Insel im Besitz des Klosters auf Hiddensee, dann wurde sie an den Herzog Barnim VIII. verkauft. Mit Einverständnis seiner Vettern verpfändete er später das Land Zingst zusammen mit den Ländern Barth und Damgarten für 20.000 Gulden an seine Nichte Katharine von Werle.
Im Jahr 1532 fanden die beiden Ortsteile von Zingst, Pahlen und Hanshagen, sowie der fürstliche Viehhof Rothem Haus erstmals urkundlich Erwähnung. Andere Quellen sprechen dafür, dass Pahlen und Hanshagen bereits im 13. Jahrhundert als deutsch-slawische Siedlungen erwähnt wurden. Dabei ist der Name Pahlen slawischen und Hanshagen deutschen Ursprungs. Im Jahr 1578 kam es zum Grenzstreit zwischen Stralsund, Barth und Zingst, in dessen Folge Grenzsteine auf der Insel gesetzt wurden. Heute noch findet man einen Stein am so genannten „Dreiländereck“ im Osterwald. Im Jahr 1660 wurde an der Ostspitze von Zingst das Bauerndorf Pramort gegründet. Weitere Siedlungen wurden Müggenburg, Bey den Wiesen und Straminke (später Forstgehöft). Die Siedlung Straminke fiel bis auf wenige Häuser dem Sturmhochwasser im Jahr 1625 zum Opfer. Im Jahr 1648 kam Zingst wie ganz Vorpommern infolge des Dreißigjährigen Krieges unter schwedische Herrschaft. Auch nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges gehörte der Zingst bis zum Kieler Frieden vom 14. Januar 1814 zu Schwedisch-Pommern. Ab 1815 wurde das Gebiet preußisch und gehörte zur Provinz Pommern.
Zingster Seefahrtsgeschichte (1700–1914)
Die Haupterwerbsquellen um das Jahr 1700 waren neben dem Holz- und Torfabbau die Fischerei und in einem geringen Maße die Landwirtschaft. Schon frühzeitig spielte, bedingt durch die Insellage, auch die Seefahrt für Zingst eine große Rolle. Der Fischfang und auch die Verbindung zum Festland waren lebensnotwendig. Im 16. und 17. Jahrhundert kamen dann der Holz- und auch der Viehtransport hinzu. So bestanden Schiffsverbindungen zu den Eigentümern der Insel, der Hansestadt Stralsund und der Stadt Barth. Diese nutzten den Wald und auch die Wiesen auf der Insel. Der Schiffsverkehr stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts stark an. So nahmen auch die Schiffsgrößen und die Seefestigkeit mit dem Ansteigen der Warenströme zu. Zingst besaß, dank der günstigen Lage am Bodden und den damals noch zwei vorhandenen Zugängen zur Ostsee (Prerower Strom und über die Enge bei Barhöft), ideale Voraussetzungen zum Schiffshandel. In den meisten Fällen wurde Holz (meist wertvolles Kronholz) und Getreide nach Skandinavien verschifft. Im 18. Jahrhundert gelang es Zingst, im Warenhandel sogar Barth zu überflügeln. Für Zingst begann das „Goldene Zeitalter der Segelschifffahrt“. Schiffe und Besatzungen vom Zingst befuhren die Ostsee, die Nordsee, das Mittelmeer und auch die Ozeane. Die wirtschaftliche Bedeutung des Handels nahm stark zu.
In der Zingster Werftstraße wurden auf drei Werften Schiffe mit einer Länge von bis zu 40 m gebaut. Sie wurden teilweise in anderen Häfen komplett aufgetakelt. Die umliegenden größeren Hafenstädte waren sich der immer mehr zunehmenden Konkurrenz durch die „Schiffbauer“ bewusst und versuchten, den schwedischen König zu überzeugen, die an die kleinen Orte verliehenen Seefahrtsprivilegien zurückzunehmen, allerdings vergeblich. Der König nutzte die gut ausgebildeten Seeleute lieber als „Kraunmatrosen“ in der eigenen Kriegsflotte. Bedingt durch die äußeren Faktoren, wie den Wegfall der Navigationsakte in England und die günstige Lage, wurde die Schifffahrt zum dominierenden Wirtschaftszweig in Zingst. Die Reedereien befanden sich meist in Barth (hier war ausreichend Geld vorhanden), während die Mannschaften in Zingst zu Hause waren. Ein anderer Teil der Schiffe wurde über die Partenreedereien betrieben. Im Jahr 1862 wohnten 63 Schiffer und 53 Steuerleute in Zingst. Um 1880 lebten über 80 Kapitäne in Zingst. Die Fischerei versank ebenso wie die Landwirtschaft in der Bedeutungslosigkeit.
Durch die im 19. Jahrhundert abnehmenden Warenströme in der Ostsee befuhren die Zingster Schiffer zunehmend auch die Ozeane. Die Mannschaften bzw. die Schiffe kamen teilweise jahrelang nicht mehr in ihre Heimathäfen zurück. Zwischen 1781 und 1823 wurden in Zingst 76 Schiffe gebaut, darunter vier Barken, 19 Schoner und 14 Galeassen. Im Raum der Boddenlandschaft mit Ribnitz und Barth entstanden 909 Schiffe. Im Vergleich dazu wurden in Rostock nur 600 Schiffe gebaut. Das größte je auf Zingst gebaute Schiff war die im Jahr 1864 gebaute Bark Nordpol mit 367 Registertonnen. Das Schiff war 36 Meter lang und hatte einen beachtlichen Tiefgang von 5,2 Metern. Im Jahr 1844 eröffnete in Zingst die Navigationsvorschule, die der Grundausbildung zukünftiger Kapitäne und Steuerleute diente.
Durch die aufkommende Dampfschifffahrt und die damit steigenden Schiffsgrößen kam es zu einem Ende der steten Aufwärtsbewegung. Die modernen Großsegler und Dampfschiffe konnten in der Region nicht mehr rentabel betrieben werden. Hinzu kam der 1879 von Otto von Bismarck eingeführte Schutzzoll auf Getreide, der viele skandinavische Handelspartner vertrieb. Ende des 19. Jahrhunderts gab es noch einmal ein höheres Frachtaufkommen durch den Zubringerverkehr für die Häfen in Rostock, Stettin, Stralsund und Barth. An Zingst ging dieser Aufschwung vorbei. Viele Zingster Seeleute wanderten aus, so dass die Einwohnerzahl von 2.170 im Jahr 1879 auf 1.272 im Jahr 1912 sank. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Schifffahrt auf dem Zingst bedeutungslos. Der aufkommende Fremdenverkehr sorgte aber für eine teilweise Kompensation der verlorengegangenen Arbeitsplätze.
Auch von Unglücken wurde die Zingster Schifffahrt nicht verschont. So starben auf der Zingster Reede am 13. Mai 1867 viele Seeleute, als sich ihr vor Anker liegendes Schiff bei aufkommendem Sturm losriss und an einer Sandbank zerschellte. Der auf Landgang befindliche Kapitän musste den Untergang seines Schiffes und der Mannschaft hilflos mit ansehen.
Zingst als Seebad (1800 bis Zweiter Weltkrieg)
Die beiden Hauptorte von Zingst, Pahlen und Hanshagen, zählten schon im Jahr 1700 als eine Gemeinde und hatten nur einen Schulzen. Pahlen lag im Südwesten des jetzigen Ortes und Hanshagen im Gebiet um den Hafen. Im Jahr 1823 entstand durch die Zusammenlegung der Orte Pahlen, Hanshagen und Am Rothem Haus der jetzige Ort Zingst.
Nachdem Georg Christoph Lichtenberg im Jahr 1793 auf die heilende Wirkung von Seebädern hinwies und nach englischem Vorbild solche auch für Deutschland forderte, eröffnete 1794 in Heiligendamm das erste deutsche Seebad. Wenig später entstanden entlang der Ostseeküste weitere Seebäder.
Durch die abgeschiedene Lage der damaligen Insel Zingst kamen erst Mitte des 19. Jahrhunderts erste Urlauber nach Zingst. Das Sturmhochwasser von 1872 sorgte deutschlandweit für Schlagzeilen, und das Interesse an der Insel wuchs. Im Jahr 1880 wurde die Straße von Barth nach Bresewitz gebaut. Von dort gab es eine kurze Fährverbindung nach Zingst zum Timmort (an der heutigen Meiningenbrücke). 1881 wurde das so genannte Bade-Comité in Zingst gegründet. Gründungsväter waren der Gastwirt Christian Rammin und der Schiffskapitän Rudolf Parow. Rammin eröffnete auch das erste Strandrestaurant an der Ostsee. Die im gleichen Jahr gegründete Aktiengesellschaft errichtete am Ostseestrand ein Herren- und Damenbad. Die beiden Bäder waren jedoch über einen Kilometer voneinander entfernt. Diese Aufteilung hielt sich bis zum Ersten Weltkrieg. Im Jahr 1898 übernahm die Gemeinde die Aktiengesellschaft und verwaltete das Badewesen nun selbst. Der Vorsitzende der Badverwaltung war der jeweilige Gemeindevorsteher. Die beiden Mitbegründer des Badewesens waren für das Warmbad (Parow) und das Kaltbad (Rammin) zuständig. Das Warmbad wurde 1898 eröffnet.
Nachdem bereits 1906 über die Eröffnung eines Familienbades nachgedacht worden war, konnte dieses nach Ablehnung durch den Landrat jedoch erst 1913 eröffnen. Im Jahr 1913 erfolgte die Unterbringung der Gäste in fünf Hotels, neun Pensionen und zu 50 Prozent in Privathäusern in Zingst. Zur Versorgung gab es zwölf Gaststätten und Cafés. Die Zahl der Gäste überstieg im Jahr 1913 die Zahl der Einwohner um mehr als das Doppelte. Der Anstieg der Übernachtungszahlen war auch eine Folge der Eröffnung der Bahnstrecke Barth-Zingst-Prerow im Jahr 1911, durch die der Ort von Berlin oder Hamburg in weniger als fünf Stunden zu erreichen war. Eine weitere Steigerung wurde jedoch durch die doch hohen Preise verhindert. So kostete die Übernachtung in einer Pension zwischen 3,50 und 5 Mark, während der Monatslohn eines Arbeiters 25 bis 30 Mark betrug. Der ausbrechende Erste Weltkrieg brachte den Badebetrieb fast völlig zum Erliegen.
Nach dem Krieg erholte sich das Badewesen sehr schnell. Man badete jetzt nicht mehr in getrennten Bädern, sondern zusammen (Herren und Damen) vom Strandkorb oder der Sandburg aus. Deswegen wurden das Herren- und Damenbad 1925 abgebrochen. Das Familienbad existierte noch bis 1937. In den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise nahm die Zahl der Übernachtungen stark zu. So wurden 1939 über 8.000 Übernachtungen gezählt. Der Charakter und die Ortsgröße änderten sich aber kaum. 1937 wurde Zingst Wehrmachtsstandort und KdF-Bad. Im selben Jahr brachten sieben Sonderzüge 3.538 KdF-Urlauber nach Zingst. Der ausbrechende Zweite Weltkrieg brachte allerdings den Badebetrieb wieder völlig zum Erliegen. Von 1940 bis 1945 befand sich auf dem Flakschießplatz ein Kriegsgefangenenlager, dessen Insassen in den Werken der Ernst Heinkel Flugzeugwerke von Barth Zwangsarbeit verrichten mussten.
DDR-Zeit (1945–1990)
Die Gemeinde war bis 1952 Teil des Landkreises Franzburg-Barth und gehörte danach bis 1990 zum Kreis Ribnitz-Damgarten im Bezirk Rostock.
Nach dem Krieg wurde Zingst Zufluchtsort für viele Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten; für sie wurden sämtliche Ferienunterkünfte benötigt. Durch die Neueinwohner erhöhte sich die Einwohnerzahl von 2.100 im Jahr 1938 auf 3.340 im Jahr 1946. Anfangs war daher an einen Urlauberbetrieb nicht zu denken, doch bereits im Jahr 1946 übernachteten wieder 1.269 Urlauber, im Jahr 1949 über 10.000 Urlauber in Zingst.
Der im Jahr 1947 gegründete FDGB übernahm aus politischen Gründen verstärkt das Erholungswesen. Meist wurden die FDGB-Urlauber noch in privaten Unterkünften untergebracht. 1948 konnte jedoch ein neues Kurhaus am Hauptübergang zum Strand eröffnet werden, zu dem im Juni 1946 der Grundstein gelegt wurde.
1950 wurde der gesamte Ort an das Trinkwassernetz angeschlossen. Im Jahr 1952 wurde die Gemeinde Müggenburg mit ihrem Ortsteil Sundische Wiese nach Zingst eingemeindet.
In den 1950er Jahren stieg die Zahl der Übernachtungen kontinuierlich an. Da für diesen Bedarf nicht genügend FDGB-Hotels zur Verfügung standen, wurden 1953 – wie an der gesamten Ostseeküste – viele private Besitzer unter falschen Anschuldigungen unrechtmäßig enteignet (Aktion Rose). In den 1960er Jahren entstanden eine Vielzahl von Kinderferienlagern und Betriebsferienheimen. Im Jahr 1970 wurde das FDGB-Heim „Claus Störtebecker“ eingeweiht. Es bot über 200 Urlaubern Platz.
In den Sundischen Wiesen befand sich seit den 1960er Jahren eine nicht besonders ergiebige Förderstätte von hochwertigem Erdöl. Dieses Öl wurde mit Tanklastwagen und später per Eisenbahn in die Sowjetunion transportiert, wo es als Brennstoff für die Raumfahrt benötigt wurde. Vermutlich wurde es daher auch als „weißes Öl“ bezeichnet.
Der verstärkte Seedeich wurde 1972 im Ortsbereich als Promenade freigegeben. Im Jahr 1979 wurde Zingst dann staatlich anerkannter Erholungsort. Während die Zahl der Einwohner nahezu konstant blieb, stieg die Zahl der Gäste auf über 65.000 pro Jahr an. Die höchsten Übernachtungszahlen gab es 1989, davon waren etwa zwei Drittel FDGB-Urlauber. Auch die Einwohnerzahl stieg leicht an, so lebten im Jahr 1989 in Zingst 3.500 Menschen. Dies ist bis heute die höchste erreichte Einwohnerzahl.
Militärstandort Zingst (1937–1993)
Bei der Wiederaufrüstung vor dem Zweiten Weltkrieg fehlte der neu aufgebauten Luftwaffe ein Bombenabwurf- und Schießgelände. Die Wahl fiel auf die Sundischen Wiesen. Am 30. Juni 1937 wurden die Bewohner von Pramort und der Sundischen Wiesen zwangsumgesiedelt. In Zingst selbst entstand im Osten der Gemeinde die Garnison einer Flaklehreinheit und in den Sundischen Wiesen ein Flakschießstand, ein Behelfsflugplatz und ein Bombenabwurfsgelände.
Nach einer kurzen Unterbrechung nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Sundische Wiese und auch Flächen beim Ort Zingst weiterhin militärisch genutzt. So unterhielt die Kasernierte Volkspolizei im Bereich der Hohen Düne bei Pramort einen Schießplatz. Nach Gründung der NVA wurde das Gelände der nördlichen Sundischen Wiesen wieder als Flak-Schießplatz genutzt. Auf dem Kasernengelände befanden sich unter anderem eine Ausbildungseinheit für Flugabwehrraketen SA-4 Ganef sowie eine Seefunkstelle der Volksmarine. Auch der Südteil der Halbinsel wurde militärisches Sperrgebiet. Auf dem Übungsplatz wurden zwischen 1970 und 1992 auch diverse Experimente mit Höhenforschungsraketen durchgeführt. Der NVA-Truppenstandort bestand bis zum 31. Dezember 1990.
Nach der Auflösung des Flaraketenausbildungszentrums 40 der NVA (FRAZ 40) wurde Zingst Standort einer Bundeswehrgarnison. Auch über eine Weiternutzung des Truppenübungsplatzes auf den Sundischen Wiesen wurde nachgedacht. Ende des Jahres 1991 aber gab die Bundeswehr den Standort an den Sundischen Wiesen auf, und am 31. Mai 1993 schloss auch die Kaserne in Zingst ihre Pforten. Nach Schließung des Standortes wurden alle militärischen und auch landwirtschaftlichen Gebäude im Bereich der Sundischen Wiesen bis auf das Wachgebäude (jetzt Nationalparkinformationsstelle) zurückgebaut. Im Ort selbst wurde ein Teil des Kasernengeländes als Campingplatz umgestaltet, ein Teil wird vom Wasserschutz und von der Gemeindeverwaltung genutzt.
Raketenstartplatz Zingst (1970–1992)
Artikel: Raketenexperimente auf Zingst
Vom früheren NVA-Übungsplatz in den Sundischen Wiesen aus wurden von 1970 bis 1992 diverse Experimente mit Höhenforschungsraketen durchgeführt.
Zu Beginn der 1970er Jahre starteten hier fünf Raketen des polnischen Typs Meteor 1E. Ab dem 21. Oktober 1988 wurden russische Raketen des Typs MMR06-M gestartet. Auch nach der Wende wurden die Versuche zunächst weitergeführt. Zwischen dem 14. Februar 1992 und dem 10. April 1992 wurden in Zingst noch einmal 19 russische Raketen des Typs MMR06-M gestartet. Obwohl noch weitere Raketen verfügbar waren, musste der Start von MMR06-M Raketen im April 1992 in Zingst eingestellt werden, da die zur Absicherung des Sperrgebiets benötigte Bundeswehr den Platz räumte.
Seit 1991
Im Jahr 1991 wurden alle Ferieneinrichtungen des FDGB und der Bundeswehrstandort geschlossen. Die Folge war eine hohe Arbeitslosenzahl im Ort. Durch den Ausbau der Infrastruktur und den Bau von Hotels und Ferienhäusern begannen die Übernachtungszahlen wieder zu steigen. Das ehemalige Kasernengelände wurde zu einem Campingplatz umgebaut. Im Jahr 1991 zog das Heimatmuseum an seinen jetzigen Standort im „Haus Morgensonne“.
Schon 1992 erhielt Zingst als einer von wenigen Badeorten in den neuen Bundesländern die „Blaue Europaflagge“ für seine hervorragende Badewasserqualität.
Im Jahr 1993 wurde die neue, 270 Meter lange Seebrücke Zingst am Hauptübergang neben dem Kurhaus eingeweiht. Im Jahr 1994 eröffnete die „Mutter-Kind-Kurklinik“ der Barmer Ersatzkasse und 1996 das privatwirtschaftlich betriebene Kurmittelzentrum. Für dieses wurde 1997 eine Wasserleitung von der Ostsee gebaut. Das alte Kurhaus wurde 1998 abgerissen und im Jahr 2000 durch einen Neubau an gleicher Stelle ersetzt.
Im Jahr 2001 wurden erstmals über eine halbe Million Gästeübernachtungen registriert. Dem Ostseebad Zingst wurde im Jahr 2002 der staatlich anerkannte Titel „Ostseeheilbad“ verliehen. Im Jahr 2006 gab es laut Statistischem Landesamt 525.757 Übernachtungen von 93.066 Urlaubern und im Jahr 2010 836.060 Übernachtungen von 141.018 Urlaubern.
Von 1990 bis 1994 gehörte Zingst zum Kreis Ribnitz-Damgarten im Land Mecklenburg-Vorpommern. 1994 wurde die Gemeinde in den Landkreis Nordvorpommern eingegliedert. Seit der Kreisgebietsreform 2011 liegt sie im Landkreis Vorpommern-Rügen.
Sturmhochwasser und Küstenschutz
Von einem Sturmhochwasser wird gesprochen, wenn der Wasserspiegel 1,5 Meter über dem mittleren Wasserspiegel liegt. Fünfzig Sturmhochwasser wurden in Zingst seit 1308 registriert. Allein zwischen 1596 und 1881 wurde Zingst von 15 schweren Sturmhochwassern heimgesucht, die tiefe Spuren in der Landschaft in Form von teils wassergefüllten Senken, wie Ellerbeck, Alte Tief, Hundetief und Alte Straminke (welche 1625 entstand) hinterließen. Das schlimmste war das Ostseesturmhochwasser von 1872 mit 2,92 Meter über NHN. Im 20. Jahrhundert wurden sieben Sturmhochwasser registriert.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde begonnen, erste Küstenschutzmaßnahmen zu ergreifen. So wurde 1848 die gesamte Ortschaft eingedeicht. Nach den schlimmen Erfahrungen im Jahr 1872 wurde der Ortsdeich verstärkt und 1874 ein Deich bis Prerow gebaut. Im Jahr 1913 wurde dieser Deich durchbrochen, da er im Laufe der Jahre einiges an Höhe verloren hatte. Nach 1900 wurde ein Schutzwald hinter dem Deich angelegt. In den Jahren von 1924 bis 1930 wurden über 400 Buhnen angelegt und von 1964 bis 1971 erneuert. 1964 wurde auch der Seedeich erneuert und auf vier Meter über NHN erhöht. Den boddenseitigen Deich erhöhte man ab 1976 auf drei Meter. Die Deicherneuerung am Bodden findet immer noch statt. Das jetzige Deichsystem ist neben seiner ursprünglichen Schutzfunktion auch ein beliebter Rad- und Fußgängerweg.
Bevölkerung
Seit dem Ortszusammenschluss im Jahr 1823 stieg die Einwohnerzahl bis 1879 stetig an. Durch den Rückgang des Seefahrtsgeschäftes und die damit verbundenen Einschränkungen fiel die Einwohnerzahl in den folgenden Jahren stark ab. Erst durch den aufkommenden Fremdenverkehr stieg sie seit 1890 wieder an und überschritt vor dem Zweiten Weltkrieg die 2.000-Einwohner-Marke.
Durch die Vertreibung und Umsiedlung von Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten stieg die Zahl der Einwohner in Zingst kurzfristig auf 3.340 im Jahr 1946 an. Bis 1965 nahm die Bevölkerung wieder bis auf 3.000 Einwohner ab, um dann kontinuierlich bis 1989 auf einen Höchststand von rund 3.500 zu steigen.
Nach der Wende blieb die Einwohnerzahl nahezu konstant, da keine größeren Industriebetriebe geschlossen wurden, wodurch die Abwanderung gering blieb.
ab 1990: Stand 31. Dezember des jeweiligen Jahres
Politik
Gemeindevertretung
Die Gemeindevertretung von Zingst besteht aus 15 Mitgliedern. Die Kommunalwahl am 26. Mai 2019 führte zu folgendem Ergebnis:
Bürgermeister
1994–2019: Andreas Kuhn (CDU)
seit 2019: Christian Zornow (CDU)
Zornow wurde in der Bürgermeisterwahl am 26. Mai 2019 mit 90,3 % der gültigen Stimmen für eine Amtszeit von neun Jahren gewählt.
Wappen
Das Wappen wurde am 16. März 1994 durch das Innenministerium genehmigt und unter der Nr. 16 der Wappenrolle von Mecklenburg-Vorpommern registriert.
Blasonierung: „Halbgespalten und durch Wellenschnitt geteilt, vorn oben in Blau ein goldener Dreizack, hinten oben in Silber pfahlweise drei auffliegende schwarze Kraniche, unten in Gold ein roter Greif mit roter ausgeschlagener Zunge und goldener Bewehrung, in den Fängen einen silbernen Anker haltend.“
Die heraldischen Symbole von Wappen und Flagge weisen sowohl auf die Lage am Meer als auch auf die frühere Zugehörigkeit zur historischen Region Pommern hin.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
Sehenswürdigkeiten
→ Siehe auch Liste der Baudenkmale in Zingst
Die neugotische Peter-Pauls-Kirche von 1862 wurde nach Vorarbeiten pommerscher Architekten von Friedrich August Stüler vollendet. Die Kirche ist einer der jüngeren Kirchenbauten in der Region. Auf dem Friedhof befinden sich außer dem Grab von Martha Müller-Grählert auch einige Kapitänsgräber.
Der Zingsthof ist ein kirchliches Erholungs- und Rüstzeitheim der Berliner Stadtmission. Die „Bonhoeffer-Kapelle“, in der eine Gedenktafel angebracht ist, erinnert daran, dass der Theologe und Widerstandskämpfer in den 1930er Jahren zweimal auf dem Zingsthof weilte. Zingst wird deshalb von vielen Menschen, die Bonhoeffers Geschichte nachgehen, besucht.
Das neue Kurhaus steht an der Stelle des alten Kurhauses, welches 1948 das Strandrestaurant ablöste. Es wurde im Jahr 1998 neu gebaut und im April 2000 eröffnet. Es beherbergt eine Touristeninformation, ein Restaurant und einen Bereich für Informations- und Kulturveranstaltungen.
Das Max-Hünten-Haus ist ein 2011 erbautes Gebäude, das neben einer Bibliothek auch eine Touristeninformation sowie ein Printstudio für Fotografien bereithält. Außerdem präsentieren Teilnehmer der ebenfalls dort ansässigen Fotoschule ihre Werke in wechselnden Themenausstellungen.
Der Zingster Hafen ist ein kleiner Hafen am Zingster Strom mit der Anlegestelle der Weißen Flotte und einem Fischverkauf. Er verfügt über 42 Liegeplätze und eine Slipanlage. Neben dem Hafen befinden sich das Traditionsschiff Mona Lisa und ein Wasserwanderrastplatz. Im Rettungsschuppen wurden früher die Ruderrettungsboote und deren Ausrüstung untergebracht. Heute befindet sich hier ein Traditionskabinett der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, das die Arbeit und Geschichte der Rettungswache Zingst zeigt. Die Ortssektion Zingst wurde 1868 gegründet, der erste Rettungsschuppen im selben Jahr gebaut. Er wurde 1872 beim Sturmhochwasser zerstört, aber bereits 1873 durch das jetzige Gebäude ersetzt. Heute befindet sich die Gesellschaft am Müggenburger Weg, Ecke Hägerende.
Die 270 Meter lange und 2,5 Meter breite Seebrücke Zingst wurde am 22. Mai 1993 eingeweiht. Vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich hier ein Anlegesteg für Schiffe. Ein Vorgängerbau, ein Steg, war 1947 durch Sturm und Eisgang abbruchreif.
Seit Juni 2013 befindet sich am Ende der Seebrücke eine Tauchgondel, die vierte ihrer Art. Mit ihr ist es möglich, drei Meter unterhalb der Wasseroberfläche die Ostsee zu erkunden.
Die Hertesburg war eine ehemalige slawische Burg und mittelalterliche Zollstelle am Prerower Strom. Heute sind nur noch Reste des Burgwalls erhalten.
Die Meiningenbrücke ist eine Eisenbahndrehbrücke aus dem Jahr 1911. Sie wurde bis 1947 von der Darßbahn der Strecke Barth-Zingst-Prerow genutzt. Die Bahnstrecke wurde 1947 zurückgebaut, die Brücke wurde bis 2012 für den Straßenverkehr genutzt. Seither rollt der Verkehr über eine westlich der Meiningenbrücke errichtete Behelfsbrücke. Es gibt Planungen zu einem Neubau für den Straßen- und Bahnverkehr.
Die Sundischen Wiesen sind ein renaturiertes Heide- und Feuchtwiesengebiet im Ostteil der Halbinsel. Eine Informationsstelle des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft befindet sich in einem ehemaligen Wachgebäude. Die bis zu 14 Meter „Hohe Düne“ liegt an der Nordostecke der Halbinsel Zingst. In der Nähe befindet sich ein Aussichtspunkt, der vom Pramort aus zu erreichen ist. Der Osterwald ist das größte Waldgebiet auf dem Zingst. Es liegt zwischen dem Ort Zingst und den Sundischen Wiesen und verfügt über einen wertvollen Baumbestand (Mammutbäume).
Pramort ist der östlichste Teil der Halbinsel Zingst und ehemaliger Ortsteil von Zingst. Heute befindet sich hier eine Kranich-Beobachtungsstelle.
Museen und Ausstellungen
Das Heimatmuseum mit Pommernstube, ehemals Haus Morgensonne, ist ein als Kapitänshaus im Jahr 1867 errichteter Bau. Die Nutzung des Hauses wechselte vom Kapitänshaus zur Pension und Dependance (Unterkunft für in Ausbildung befindliche Jugendliche) und wird seit 1991 als Heimatmuseum und Museumsbäckerei genutzt. Die ersten Kapitänshäuser wurden Mitte des 17. Jahrhunderts in Zingst gebaut. Diese Häuser waren meist größer als die anderen Gebäude im Ort und zur Unterscheidung zu den Steuermannhäusern (meist blau oder bunt) meist weiß gestrichen. Sie hatten ein voll ausgebautes Dachgeschoss und im Normalfall ein rotes Ziegeldach. Typische Kapitänshäuser sind die Häuser in der Strandstraße 47 und Hafenstraße 12.
In der für Kinder angelegten Ausstellung Experimentarium werden an 25 bis 30 interaktiven Spielgeräten und Experimenten Naturgesetze auf den Gebieten der Mechanik, Optik und Elektrotechnik veranschaulicht. Daneben befindet sich ein Erlebnisspielplatz.
Regelmäßige Veranstaltungen
Das Hafenfest in Zingst findet am dritten Wochenende im April statt. Mit einem Volksfest im Hafen und verschiedenen Schiffen wird der Beginn der Schifffahrtssaison gefeiert.
Meist im Juni treffen sich im und vor dem Hafen die Zeesenboote, um ihre traditionelle Regatta durchzuführen.
Am zweiten Septemberwochenende findet in Zingst ein Shantychortreffen auf der Freilichtbühne am Zingster Kurhaus statt.
Die Zingster Klaviertage wurden von Lutz Gerlach im Jahr 2001 ins Leben gerufen und haben sich mittlerweile zu einem deutschlandweit bekannten Festival mit internationalen und nationalen Künstlern entwickelt. An unterschiedlichen Spielorten in Zingst können Besucher dieses Festivals von Jazz bis Klassik alle Facetten der Klaviermusik genießen. Das Ziel des Festivals ist es, die Vielseitigkeit dieses Instrumentes zu zeigen.
Bei der Zingster Kunstmagistrale treffen sich Profi- und Hobbykünstler aus dem Bundesgebiet und stellen Werke ihres Schaffens zur Schau.
Auf dem Fotofestival Horizonte stellen bekannte Fotografen sowie auch regionale Fotografen ihre Werke vor. Im Mittelpunkt stehen der Mensch und seine Beziehung zu Landschaft, Flora und Fauna.
Zingst ist einer der drei Veranstaltungsorte des Darsser Naturfilmfestivals, auf dem jedes Jahr im Herbst der Deutsche Naturfilmpreis vergeben wird.
Sprache
Auf Zingst wird Westpommersch – heute auch Vorpommersch genannt – ein Dialekt der Ostniederdeutschen Sprache gesprochen. Das Westpommersche weist einige westslawische Einflüsse auf. Typisch ist eine harte, knappe Aussprache. Beispiele finden sich in der deutschsprachigen Literatur insbesondere bei den beiden Märchen der Brüder Grimm „Von dem Fischer un syner Fru“ und „Von dem Machandelboom“ sowie in dem später vertonten Gedicht „Mine Heimat“ (Wo die Ostseewellen trecken an den Strand …), in dem die Barther Dichterin Martha Müller-Grählert ihre vorpommersche Heimat beschreibt.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft
Der dominierende Wirtschaftsfaktor auf der Halbinsel ist der Tourismus. Durch den Bau zahlreicher Ferienhäuser und Hotels stieg die Zahl der Übernachtungen seit der Wende stetig an. Mehrere Zeltplätze befinden sich auf der Halbinsel. So wurden im Jahr 2001 erstmals über eine halbe Million Übernachtungen registriert. Die beiden größten Hotels sind das Steigenberger-Hotel und das Resort-Hotel Vier Jahreszeiten mit jeweils rund einhundert Betten.
Im Jahr 1994 eröffnete die „Mutter-Kind-Kurklinik“ der Barmer Ersatzkasse als nicht unwesentlicher Wirtschaftsfaktor ihre Pforten. Es gibt ein Pflegeheim des Roten Kreuzes mit über vierhundert Betten.
Ehemals sehr wichtige Wirtschaftszweige, wie die Land- und Fischereiwirtschaft, spielen nur noch eine unbedeutende Rolle. Auch durch die Auflösung des Bundeswehrstandortes gingen Arbeitsplätze verloren.
Verkehr
Zingst ist im Straßenverkehr über die Landesstraße 21, die westlich am Ort vorbeiführt, zu erreichen. Diese verläuft von Ribnitz-Damgarten (45 km entfernt) über Prerow entlang der Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst bis nach Barth (13 km entfernt). Durch Zingst führt eine Straße von der Meiningenbrücke durch den Ort und am Ostseedeich zurück zur Landstraße 21. Die Straße wurde 1880 von Zingst zum Timmort an der jetzigen Meiningenbrücke gebaut. Dort gab es eine Fähre zur anderen Seite nach Bresewitz. Nach Osten führt eine Fahrstraße über die Ortslage Müggenburg bis zum Sundschlösschen am Rande der Sundischen Wiesen. Der weitere Fahrweg bis zum Pramer Ort ist für den Kfz-Verkehr gesperrt und nur für Fahrräder zugelassen.
Der Ort ist über die Buslinie 210 (Barth–Zingst–Prerow–Ahrenshoop–Ribnitz-Damgarten) der Verkehrsgemeinschaft Nordvorpommern erreichbar.
Der nächstliegende Bahnhof ist Barth. Hier verkehrt die Regionalbahnlinie RB 25 nach Velgast mit Anschluss nach Stralsund. Von 1911 bis 1947 war Zingst über die Darßbahn an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Im Osten des Ortes steht noch das Bahnhofsgebäude, die Gleise wurden aber nach dem Zweiten Weltkrieg abgebaut und als Reparationsgut in die UdSSR gebracht. Es gibt Untersuchungen zur Reaktivierung der Eisenbahnstrecke nach Zingst/Prerow, wobei zunächst der Abschnitt von Barth bis Zingst wieder aufgebaut werden soll.
Durch Zingst führt der Ostseeküsten-Radweg. Die Deiche zum Zingster Strom und zur Ostsee sind als Fuß- und Radwege ausgewiesen. Große Teile des Ortes sind verkehrsberuhigt bzw. Fußgängerzone.
Von dem am Zingster Strom liegenden Hafen werden Schifffahrtslinien nach Vitte auf Hiddensee, Ahrenshoop, Barth und Stralsund bedient. Neben dem Hafen existiert noch ein Wasserwanderrastplatz.
In der Nähe von Barth befindet sich der Flughafen Barth.
Rettungsstation der DGzRS
Die alte königlich preußische Rettungsstation war 1857 eingerichtet und 1867 von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) übernommen worden. Nach der Wende bezog die DGzRS die Station wieder und stationierte ein Seenotrettungsboot für die Einsätze auf der Ostsee und dem hinterliegenden Bodden.
Bildung
In Zingst existiert die Regionale Schule mit Grundschulteil (Realschule mit Hauptschulteil) in der Schulstraße 1.
Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Gemeinde
Carl Matthias Ernst Prützmann (1864–1929), war ein Windjammerkapitän der Hamburger F. Laeisz-Reederei
Gerhard Krause (1887–1950), Pastor in Zingst, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus
Kurt Klamann (1907–1984), Zeichner und Karikaturist
Werner Kuhn (* 1955), Politiker (CDU)
Mit Zingst verbundene Persönlichkeiten
Hermann Bendix (1859–1935), Pädagoge und Komponist, Lehrer in Zingst
Reinhold Hoberg (1859–1932), Maler, lebte in Zingst
Franz Pflugradt (1861–1946), Maler, lebte in Zingst
Otto Lämmerhirt (1867–1935), Maler, lebte in Zingst
Max Hünten (1869–1936), Maler, lebte in Zingst
Martha Müller-Grählert (1876–1939), Heimatdichterin, lebte in Zingst
Karl Schneider-Carius (1896–1959), Meteorologe, gründete das Maritime Observatorium in Zingst
Hans Stubbe (1902–1989), Agrarwissenschaftler, lebte in Zingst
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), Theologe und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, leitete das Predigerseminar der Bekennenden Kirche auf dem Zingsthof
Karl-Heinrich Kluge (1915–2005), Maler, lebte in Zingst
Hans-Joachim Behrendt (* 1937), Kinderbuchillustrator, lebt in Zingst
Literatur
Geschichte und Kultur
Gerta Anders, Käthe Miethe (Hrsg.): Die Halbinsel Darß und Zingst. Hinstorff, Rostock 2000, ISBN 3-356-00860-9.
Konrad Billwitz, Haik Thomas Porada (Hrsg.): Die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst und das Barther Land. Eine landeskundliche Bestandsaufnahme im Raum Wustrow, Prerow, Zingst und Barth. (Landschaften in Deutschland, Band 71). Verlag Böhlau, 2009, ISBN 978-3-412-09806-3.
Heinz Kiecksee, P. Thran, H. Kruhl: Die Ostseesturmflut 1872. (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums, Bd. 2). Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens, Heide, ISBN 3-8042-0116-4.
Jörg Scheffelke: 110 Jahre Badewesen – Ostseebad Zingst. Ostsee-Zeitung, Greifswald 1991, .
Jörg Scheffelke: 125 Jahre Ostseebad Zingst. Sutton, Erfurt 2006, ISBN 3-89702-980-4. (Teilansicht bei Google books)
Jörg Scheffelke, Wolfgang Eggert, Edwin Held, Joachim Schomann: Der Zingst. Sutton, Erfurt 2005, ISBN 3-89702-812-3.
Gustav Berg: Beiträge zur Geschichte des Darsses und des Zingstes. (Schriftenreihe des Vereins zur Förderung der Heimatpflege und des Darß-Museum e.V., Nr. 1) Scheunen-Verlag, Kückenshagen 1999, ISBN 3-929370-83-2.
Rudolf van Nahl: Zingstballade. Gefundenes und Erfundenes vom Zingst an der Ostsee. (Küstenkieker 3). Bülten Verlag, Kückenshagen 2008, ISBN 978-3-938510-40-7.
Karten
Fischland, Darß, Zingst. (Doppelkarte), 1 : 30.000, grünes herz, Ilmenau/ Ostseebad Wustrow 1997, ISBN 3-929993-33-3.
Natur
Harald Benke (Hrsg.): Die Darß-Zingster Bodden. Monographie einer einzigartigen Küstenlandschaft. (Meer und Museum. Bd. 16). Deutsches Meeresmuseum, Stralsund 2001, .
Günter Schlungbaum, Henning Baudler, Mathias Krech, Bernd Kwiatkowski: Die Darß-Zingster Bodden. Eine Studie. (Schriftenreihe des Landesamtes für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern, Heft 2001,1). Korrigierte 2. Fassung. Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern, Güstrow 2001, .
Reiseführer und Bildbände
Roland Buchwald: Fischland, Darß und Zingst. Landschafts- und Reiseführer für Wanderer, Wassersportler, Rad- und Autofahrer. grünes herz, Ilmenau, ISBN 3-929993-52-X.
Horst Prignitz, Thomas Grundner: Fischland, Darß, Zingst. Carl Hinstorff, Rostock, ISBN 3-356-01056-5.
Frank Thamm: Darß, Fischland und Zingst. Ellert und Richter, Hamburg, ISBN 3-89234-815-4.
Weblinks
Ostseeheilbad Zingst
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Vorpommern-Rügen
Halbinsel (Mecklenburg-Vorpommern)
Halbinsel (Europa)
Halbinsel (Ostsee)
Ehemalige Insel
Ort in Pommern
Seebad in Mecklenburg-Vorpommern
Heilbad
Deutscher Ortsname slawischer Herkunft |
677943 | https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nig-Otto-Tropfsteinh%C3%B6hle | König-Otto-Tropfsteinhöhle | Die König-Otto-Tropfsteinhöhle ist eine natürliche Karsthöhle bei Sankt Colomann (Velburg), einem Ortsteil der Oberpfälzer Stadt Velburg im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz in Bayern.
Sie befindet sich südöstlich von Neumarkt in der Oberpfalz und gilt als eine der schönsten Tropfsteinhöhlen Deutschlands. Sie hat eine Gesamtlänge von 450 Metern, wobei 270 Meter in einer 30- bis 40-minütigen Führung begehbar sind. Entdeckt wurde die Höhle durch den Schäfer Peter Federl am 30. September 1895, am Namenstag des Bayernkönigs Otto, daher der Name. Im Advent 1972 wurde ein weiterer, bisher unbekannter Höhlenteil – die Adventhalle – entdeckt, später von der Haupthöhle aus erschlossen und ebenfalls allgemein zugänglich gemacht. Die Höhle gehört zu den in der Gruppe Erlebniswelt Jurahöhle zusammengefassten Schauhöhlen.
Geschichte
Entdeckung
Der Schäfer Peter Federl aus dem Weiler Sankt Colomann bemerkte am 30. September 1895 am Bockenberg, wie ein Fuchs im Berg verschwand. Federl war diese Stelle am nahe gelegenen Bockenberg schon mehrmals aufgefallen, da dort der Schnee schnell wegtaute und der Wald nur spärlich wuchs. Er räumte eine Felsspalte etwas frei und folgte dem Fuchs. Dabei durchkroch er einen in die Tiefe führenden Gang und gelangte in eine weite, flache Höhle. Ohne Licht wagte er es nicht, weiterzugehen.
Federl konnte den Kaminkehrermeister Josef Erl und den Mechanikermeister Josef Kuhn aus Velburg für weitere Untersuchungen der Höhle gewinnen. Die drei beherzten Männer entdeckten am 30. September 1895 mit Kerzenlicht eine schöne Tropfsteinhöhle mit vielen verschiedenen weißen Tropfsteingebilden. Sie erkundeten die unterirdischen Räume, die zu diesem Zeitpunkt größtenteils nur kriechend oder gebückt zu begehen waren. Da der Entdeckungstag der Höhle auf den Namenstag des Bayernkönigs Otto fiel, wurde die Höhle nach ihm benannt.
Die Kunde von der Entdeckung der Höhle verbreitete sich sehr schnell. Die Verantwortlichen des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Velburg erkannten die Chance, mit dieser Tropfsteinhöhle eine überregionale Besucherattraktion zu schaffen. In den nächsten acht Monaten wurde die Höhle mit großem Eifer etwas erweitert und Wege wurden tiefer gelegt. Im Mai 1896 konnten die ersten Besucher durch die Höhle geführt werden. Diese Führungen wurden bis 1954 nur mit Kerzen-, Fackel- oder Magnesiumlicht durchgeführt.
Ausbau zur Schauhöhle
Der Verein sorgte auch in den folgenden Jahren für die Aufrechterhaltung des Schauhöhlenbetriebes. Die Höhle hatte inzwischen ihren festen Platz unter den Schauhöhlen. In den 1930er-Jahren wurden eine Holztreppe und andere Erleichterungen für den Führungsbetrieb in die Höhle eingebaut. Sie geriet 1951 in ernste Gefahr, aufgegeben werden zu müssen, da sie auf dem Gebiet des nach den alten Plänen wieder zu errichtenden Truppenübungsplatzes Hohenfels lag. Daraufhin mauerten die Höhleneigentümer die Höhle zum Schutz vor Beschädigungen vorsorglich zu. Als dann bekannt wurde, dass die Höhle doch außerhalb des Truppenübungsplatzes blieb, wurde sie wieder geöffnet.
1952 pachtete der Fremdenverkehrsverein Velburg die Höhle und baute sie im Laufe der nächsten zwei Jahre um. Dabei wurden die Wege vertieft und feste Stufen eingebaut. 1953 wurde die Höhle erstmals wieder für Besucher geöffnet. Man installierte elektrisches Licht, wodurch die für die Tropfsteine nachteiligen Fackeln nicht mehr benötigt wurden. Die elektrische Ausleuchtung der Höhle war 1954 fertiggestellt. Die ersten regelmäßigen Führungen fanden ab 1954 mit Hans Federl, dem Sohn des Entdeckers, statt.
Adventhalle
Im August 1968 untersuchten der 17-jährige Helmut Schlierf, der zwei Jahre vorher die Höhle mit seinen Eltern erstmals besucht hatte und von ihr angetan war, und sein Freund Michael Kirnberger die Höhle, um sie zu erforschen. Der Höhlenführer Hans Wieser erteilte ihnen die Genehmigung, die Höhle zu besuchen, wann immer sie wollten, um in ihr nach Fortsetzungen zu suchen.
Am 19. Oktober 1969 hatten sie eine Spalte entdeckt, in der sie ab Mai 1970 immer wieder gruben. Im März 1971 kamen die beiden Forscher mit der Forschungsgruppe Höhle und Karst Franken (FHKF) in Berührung. Mitglieder dieser Gruppe waren am 11. Mai 1972 zum ersten Mal an den Grabungen in der Spalte beteiligt. Am 2. Dezember 1972 wurde mit vielen Helfern und starkem Gerät ein großer Block zerkleinert, der den Weiterweg versperrt hatte. Helmut Schlierf, der Erstentdecker der Spalte, kroch als Erster hindurch und gelangte in einen kleinen Raum. Die anderen Höhlenforscher folgten ihm und mussten noch durch eine Engstelle einen Verbruchhang hinaufsteigen. Sie gelangten in die Adventhalle, eine große, hallenartige Grotte, mit einer Vielzahl von Tropfsteinformationen. Die Entdeckung des neuen Höhlenteils fiel in den Advent, weshalb die Erforscher ihm den Namen Adventhalle gaben. An der Entdeckung des Höhlenteils waren sieben Personen beteiligt.
Am 3. Dezember 1972 begann die Vermessung der neuen Räume, die bis März 1973 abgeschlossen wurde. Die Außenvermessung erfolgte in den Jahren darauf, so dass im Herbst/Winter 1976/1977 nach vorherigen Probebohrungen ein Stollen von der Nordseite des Bockenberges in die Adventhalle getrieben werden konnte. In der Zwischenzeit wurden auch die alten Anlagen erneuert oder verbessert, ein Gang beim Erlhain wurde 1976 gegraben und ein weiterer von der alten Höhle zur Adventhalle vorgetrieben.
Während der Erschließungsarbeiten an der Adventhalle wurde diese stark verändert und teilweise zerstört. Über ein großes Sinterbecken wurden eine Betonbrücke mit beidseitigem Stahlrohrgeländer und eine Besucherplattform errichtet. Es wurden Tropfsteine, die im Wege waren, entfernt und ein einst weißes Knöllchensinter teilweise verschmutzt und zertreten. Das Sinterbecken ist bei den Erschließungsarbeiten auch fast trockengefallen. Das Aussehen der Höhle hat sich durch diese Maßnahmen erheblich verändert. Am 3. Juni 1977 wurde die Adventhalle für den Besucherverkehr eröffnet.
Beschreibung
In das Höhleninnere gelangt man abwärts über 47 Stufen und erreicht die Federlhöhle, die sich direkt am Fuß der Treppe befindet. Sie wurde nach dem Erstentdecker, dem Schäfer Peter Federl benannt. Von dort gelangt man durch einen schmalen Gang in die Königsgrotte. Die Decke des in den Fels gebrochenen Ganges wird in geringer Höhe von mächtigen, wie abgebrochen wirkenden Sintersäulen gebildet. Die Königsgrotte wird nach dem Namensgeber der Höhle, König Otto, bezeichnet.
In der Höhle wurden Höhlenpartien nach Personen benannt, die an der Höhlenentdeckung und -erschließung beteiligt waren. Andere Teile weisen in ihren Namen auf Erscheinungsbilder der Tropfsteinformationen hin. Bei der Königsgrotte handelt es sich um einen Raum, der unregelmäßig auf acht bis zehn Meter Höhe ansteigt. Dort befinden sich viele niedrige, haubenförmige Stalagmiten. Diese verschiedenen Tropfsteingebilde haben Namen wie „Buddha“, „Schloss“ und „Eremiten“.
Der Weg führt vorbei an einem großen Stalagmiten und über einen Felsrücken in die Niederwaldgrotte'. Dieser Raum ist nur etwa mannshoch. Aus der Decke wachsen zahllose Sinterröhrchen, die wegen der unterschiedlichen Mineralienbeimengungen unterschiedliche Färbungen aufweisen. Viele dieser Sinterröhrchen sind mit Wasser gefüllt, das auf die darunter befindlichen Stalagmiten tropft, welche dadurch mitwachsen. Es gibt aber auch manche Partien, die sehr trocken sind, dies ist auf einen stellenweise geringen oder fehlenden Wasserdurchfluss zurückzuführen. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass die Niederschläge unterschiedlich stark in die Höhle einsickern. Bei einem 1976 gegrabenen Gang in diesem Höhlenteil ist auf den Seiten ersichtlich, wie die Höhle im Laufe der Jahrhunderte zugewachsen ist. In der Niederwaldgrotte befindet sich eine Nische, die als „Schatzkammer“ bezeichnet wird. Dort sammelt sich Wasser in einem kleinen Becken, dessen Ränder aus Sintermaterial gebildet sind. Dort ragen Stalagmiten ungleicher Größe, ähnlich wie kleine Inseln, aus dem Wasser, manche sehen wie gekappte Pilze oder kleine Mützen aus. Dieses Wasserbecken bleibt immer gefüllt. Die Tropfsteine in der Höhle haben eine dunkle bis schwarze Färbung. Die Ursache hierfür liegt darin, dass die Höhle früher mit rußenden Fackeln begangen wurde. Seitdem elektrisch ausgeleuchtet wird, bilden sich an vielen Stellen wieder weiße Sinterablagerungen.
Bei einem neuen Durchgang befindet sich der Erlhain, benannt nach dem Mitentdecker, Kaminkehrermeister Josef Erl. Das mächtige Gewölbe aus Kalkstein wird durch Säulen gestützt und „Märchenwald“ genannt. Diese Säulen, Stalagnaten genannt, gebildet aus zusammengewachsenen Stalaktiten und Stalagmiten, wirken wie ein Wald aus knorrigen Eichenstämmen. In diesem Märchenwald versteckt sich auch ein Tropfsteingebilde mit dem Namen „Liebespaar“. In einer Vitrine werden Knochen von Höhlenbären gezeigt. Anschließend geht es eine Treppe aufwärts und durch einen 70 Meter langen Gang zur Kuhngrotte, die nach dem weiteren Mitentdecker, Mechanikermeister Josef Kuhn, benannt ist. Am Anfang des Ganges befindet sich auf der rechten Seite der alte Höhlenausgang. Umfangreiche Sinterbildungen wirken wie erstarrte Kaskaden. Am Boden ist ein dinosaurierähnliches Tropfsteingebilde zu sehen. Tief nach unten fällt der Blick in die Traubenkammer. Unter Wasser sind dort perlenartige Tropfsteine gewachsen. Dieser Teil ist jetzt wieder trockengefallen.
Durch einen langen Gang, in dem man Bruchzonen gut erkennen kann, kommt man zur 1972 entdeckten Adventhalle, die zu den schönsten Höhlenräumen der Fränkischen Alb zählt. Schon in der Vorhalle fallen die weißen Tropfsteine auf und bilden einen Kontrast zu den fast schwarzen im alten Höhlenteil. In der Adventhalle wurde nie mit Fackeln geführt, deswegen sind keine Sinterbildungen vom Ruß geschwärzt. Am Boden liegen überall große Steinquader, die von einstigen Deckenabstürzen herrühren. Auf den herabgestürzten Deckenteilen befinden sich bereits wieder reichhaltige Tropfsteingebilde. Diese Bruchstücke sind oftmals bereits wieder miteinander versintert.
Von hier geht es wenige Schritte weiter zur eigentlichen Adventhalle. Dies ist eine hallenartige Grotte, die eine Fülle von Tropfsteinen in den unterschiedlichsten Formen und in verschiedenen Farben aufweist. Die Wände sind über und über mit farbigen Sinterperlen besetzt, ein Beweis dafür, dass die Höhle lange unter Wasser stand. Es lassen sich an den Wasserstandslinien verschieden hohe Wasserstände deutlich erkennen. Unzählige Sinterröhrchen mit Wassertropfen ragen von der Decke. Auffallend sind auch sägezahnartige Sinterfahnen und kleine spiralförmige Stalaktiten. Bis heute gibt es für deren exzentrisches Wachstum keine schlüssige Erklärung. In der Adventhalle befinden sich auch einige mehrere Meter hohe Stalagnaten. Von der Adventhalle geht es durch einen kurzen Gang mit zwei Türen zum künstlich geschaffenen Ausgang.
Geologie
Die König-Otto-Tropfsteinhöhle liegt im Frankendolomit des Malm im Jura. Es handelt sich um den Typ Hallenhöhle. Sie liegt fast vollständig hangparallel in Nord-Süd-Richtung, so dass auch der heutige Ausgang in der Adventhalle relativ einfach anzulegen war. Die Höhle weist mehrere größere Hallen auf. Die Adventhalle, der größte Raum der Höhle, hat eine Überdeckung von fast zehn Metern. Die Königsgrotte ist der zweitgrößte Raum und weist einen mächtigen Versturzberg auf. In der Königsgrotte konnte bei mehreren Grabungen an keiner Stelle der tatsächliche Boden erreicht werden. Die Bodensinterschichten, die im Profil aufgeschlossen sind, erreichen eine Mächtigkeit von 1,8 Metern mit Fortsetzungen nach unten. In diesen Profilen sind alte Tropfsteingenerationen enthalten, wobei der größte Stalagmit eine Höhe von etwa 0,7 Meter erreicht. Wie man festgestellt hat, ist der Versturzberg durch mindestens zwei bis drei Deckeneinbrüche entstanden. Er setzt sich bis zur Erdoberfläche fort, wobei die Geländeüberformung nicht mehr auf einen Einbruch hindeutet.
Geotop
Die Höhle ist vom Bayerischen Landesamt für Umwelt als Geotop 373H001 ausgewiesen. Siehe hierzu auch die Liste der Geotope im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz.
Tourismus
Touristische Erschließung
Von April bis Oktober finden regelmäßig Führungen über gut begehbare Wege und vereinzelte Treppen in die einzelnen Abteilungen und zu den Tropfsteinformationen statt. In den Wintermonaten von November bis März finden Führungen nur nach Anmeldung und ab 20 Personen statt. Vom Ausgang der Höhle geht es über einen Waldlehrpfad zurück zum Höhlengebäude.
Besucherzahlen
Die König-Otto-Tropfsteinhöhle zählt seit der Entdeckung zu einem großen Tourismusfaktor in der Region. Die Besucherzahlen lagen jedoch immer erheblich hinter denen der Teufelshöhle und knapp hinter den Besucherzahlen der Binghöhle und der Sophienhöhle. Allerdings sind die Besucherzahlen der König-Otto-Tropfsteinhöhle höher als die der Maximiliansgrotte und der Osterhöhle. Die höchste Besucherzahl mit 31.955 aus dem Jahre 1989 fiel danach etwas auf Werte knapp unter 25.000 ab. Im Jahre 2004 lagen die Werte mit 25.170 letztmals über 25.000 Besucher. Im Jahr 2006 fielen die Besucherzahlen mit 19.658 dann erstmals unter die 20.000 ab. Im Jahr 2008 war der bisherige Tiefstwert mit 15.977 Besuchern. Im Jahr 2009 lagen die Besucherzahlen bei 17.034, 2010 bei 18.392, 2011 bei 19.443. In den Jahren 1989 bis 1993 lag die durchschnittliche Besucherzahl bei 31.000, was den höchsten Fünfjahresdurchschnitt bedeutet. Im Jahre 2009 besichtigte der millionste Besucher die Höhle. In den Jahren 2007 bis 2011 lag die durchschnittliche Besucherzahl bei 18.177.
Siehe auch
Liste der Schauhöhlen in Deutschland
Einzelnachweise
Literatur
Fremdenverkehrsverein Velburg (Hrsg.): König-Otto-Tropfsteinhöhle bei Velburg. Druckerei Semmler, 2003.
Forschungsgruppe Höhle und Karst Franken e. V. (Hrsg.): Der Fränkische Höhlenspiegel, Heft 28. Nürnberg 1988, S. 9–15.
Helmut Seitz: Schaubergwerke, Höhlen und Kavernen in Bayern. Hrsg. v. Rosenheimer Verlagshaus, Rosenheim 1993, ISBN 3-475-52750-2, S. 67–70.
Hans Binder, Anke Luz, Hans Martin Luz: Schauhöhlen in Deutschland. Hrsg. v. Aegis Verlag, Ulm 1993, ISBN 3-87005-040-3, S. 78–79.
Stephan Kempe: Welt voller Geheimnisse – Höhlen. Reihe: HB Bildatlas Sonderausgabe. Hrsg. v. HB Verlags- und Vertriebs-Gesellschaft, 1997, ISBN 3-616-06739-1, S. 102–103.
Weblinks
König-Otto-Tropfsteinhöhle
Schauhöhlen in Deutschland – König-Otto-Tropfsteinhöhle
König-Otto-Tropfsteinhöhle bei Lochstein.de
Entdeckung der Adventhalle
Schauhöhle
Höhle in Bayern
Höhle der Fränkischen Alb
Geotop im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz
Geographie (Velburg)
Höhle in Europa
Naturdenkmal im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz
Karsthöhle in Deutschland |
845844 | https://de.wikipedia.org/wiki/Alte%20Br%C3%BCcke%20%28Frankfurt%20am%20Main%29 | Alte Brücke (Frankfurt am Main) | Die Alte Brücke in Frankfurt am Main ist die älteste und war bis Mitte des 19. Jahrhunderts die einzige steinerne Brücke am Unterlauf des Mains. Sie verband vom Mittelalter bis zum Jahr 1914 die Fahrgasse in der Frankfurter Altstadt mit der Brückenstraße in Sachsenhausen. Seit sie 1222 erstmals urkundlich erwähnt wurde, war die Entwicklung Frankfurts untrennbar mit ihr verbunden. Sie wurde im Laufe der Jahrhunderte mindestens 18 Mal zerstört und erneuert. Mit ihren 13 gemauerten Rundbögen galt die Sachsenhäuser Brücke als bedeutendstes Bauwerk der Stadt. Weil sie den Anforderungen des modernen Straßen- und Schiffsverkehrs nicht mehr gewachsen war, wurde sie 1914 abgerissen.
Die heutige Alte Brücke, korrekter als Neue Alte Brücke bezeichnet, wurde am 15. August 1926 durch den damaligen Oberbürgermeister Ludwig Landmann eingeweiht. Zwei ihrer ursprünglich acht mit rotem Mainsandstein verkleideten Gewölbebögen wurden am 26. März 1945 von deutschen Soldaten gesprengt. Nach einem zunächst provisorischen Wiederaufbau wurde das Mittelstück durch eine stählerne Kastenbrücke ersetzt und am 15. September 1965 in Betrieb genommen. Mit dem Neuen Portikus erhielt die Alte Brücke 2006 wieder ein Gebäude, das an die frühere Brückenmühle erinnert. Ihr heutiges, von vier Portalwänden zu beiden Seiten des Mittelteils geprägtes, Erscheinungsbild erhielt die Brücke bei der Sanierung 2014. Wahrzeichen der Alten Brücke sind der Brickegickel und das Standbild des mythischen Stadtgründers Karls des Großen.
Geschichte
11. bis 14. Jahrhundert
Ursprünglich befand sich nahe der Frankfurter Mainbrücke, möglicherweise etwas flussabwärts in Höhe des Fahrtors, eine für Personen und Fuhrwerke passierbare Furt, nach der die Stadt ihren Namen erhielt. Wann die älteste Brücke zwischen Frankfurt und dem 1193 urkundlich erwähnten Stadtteil Sachsenhausen erbaut wurde, ist nicht sicher. Erstmals wird in einer Urkunde des Bartholomäusstiftes von 1222 eine dem Magister Nikolaus gehörige Hofstätte an der Brücke erwähnt. Wahrscheinlich ist die Brücke jedoch älter: Der Frankfurter Chronist Achilles Augustus von Lersner schrieb Anfang des 18. Jahrhunderts: Die Brücke welche die beyde Städte an einander hänget ist 1035 von Holtz gebauet worden und hat solche viele Jahre gestanden, auch offters dessentwegen großen Schaden vom Gewässer erlitten, zumalen 1192. Der Historiker Johann Georg Battonn kommentierte dies im 19. Jahrhundert: Sie ist aber weit älter, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich ihre erste Grundlage Karl dem Grossen zueigene, welcher ums Jahr 782 hier ein Palatium, und wahrscheinlich um die nämliche Zeit auch die steinerne Brücke über den Main erbaute.
Diese Vermutungen sind aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Die älteste mittelalterliche Steinbrücke, die Drususbrücke in Bingen, stammt aus dem 11. Jahrhundert, und größere Steinbrücken, wie z. B. in Regensburg, Prag und Würzburg, wurden erst im 12. Jahrhundert gebaut. Dies spricht dafür, dass die Frankfurter Mainbrücke tatsächlich, wie von Lersner beschrieben, im 11. Jahrhundert oder im frühen 12. Jahrhundert aus Holz gebaut und nach 1192 erneuert wurde – möglicherweise auf Veranlassung des Reichsministerialen Kuno von Münzenberg, der auf beiden Seiten des Flusses große Liegenschaften besaß. Auch diese Brücke war, wie die ältesten Urkunden belegen, teilweise noch aus Holz gebaut, lediglich die Pfeiler waren aus Stein. Erst 1276 wird eine Steinerne Brücke erwähnt.
In den 1920er Jahren waren bei Niedrigwasser ein Stück flussaufwärts der Alten Brücke eine Reihe von alten Eichenpfählen zutage gekommen. Dies führte zu der Spekulation, dass es sich um Reste einer ehemaligen Brücke aus der Römerzeit handele. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Anlage aus dem Mittelalter stammt und der Fischerei oder dem Hochwasserschutz diente.
Im 12. und 13. Jahrhundert wuchs Frankfurt zu einem der bedeutendsten Handelszentren des Reiches heran, nicht zuletzt aufgrund der überragenden Bedeutung seiner Brücke, die sie als wichtigster Bestandteil der Nord-Süd-Achse der Mainmetropole noch über Jahrhunderte beibehalten sollte. Am 10. Mai 1235 gewährte König Heinrich (VII.) den Bürgern der Stadt bedeutende Privilegien: Die Hälfte des Ertrages der Frankfurter Münze sowie Holz aus dem Wildbann Dreieich wurden der Stadt für den Unterhalt der Brücke überlassen. Es existiert auch eine aus Rom datierte Urkunde aus dem Jahre 1300, in der 15 italienische Bischöfe all denen einen Ablass zusicherten, die für den Unterhalt der Frankfurter Mainbrücke stifteten.
Im 14. Jahrhundert wurde die Brücke mehrfach durch Hochwasser und Eisgang zerstört: Anno 1306 an unser Frauen Lichtmeß Abend (1. Februar) ist der Meyn allhier von Eyß und Gewässer so groß gewesen, daß er die zwey Thürn und den mehrern Theil an der Brücken hinweg gestossen ein groß Volck ist damahls auff der Brücken gestanden, darvon 10 Personen ertruncken. Dabei wurden auch die beiden Brückentürme weggerissen, die bei diesem Ereignis erstmals erwähnt werden. 1342 ereignete sich das schwerste jemals in Mitteleuropa registrierte Hochwasser, das Magdalenenhochwasser vom 22. Juli. Dabei stürzten auf der Sachsenhäuser Seite, die wegen der Maininsel der Strömung stärker ausgesetzt war, sechs Bögen mit der erst 1338 geweihten Katharinenkapelle und wiederum der Brückenturm ein. Seitdem fand bis zur Reformation jährlich am Magdalenentag, dem 22. Juli, eine Bußprozession von der Mainbrücke zur Weißfrauenkirche statt.
15. bis 18. Jahrhundert
Anfang des 15. Jahrhunderts wurden 10 der 13 Brückenbögen sowie die beiden Brückentürme grundlegend erneuert. Verantwortlicher Baumeister war möglicherweise Madern Gerthener, der sich am 30. November 1399 gegenüber dem Rat persönlich für die Sicherheit der Gewölbe und Bögen verbürgte. Gerthener hatte auf seiner Wanderschaft in Prag die kurz zuvor durch Peter Parler erbaute Karlsbrücke kennengelernt. Die älteste Darstellung der Brücke stammt von 1405: Das Bedebuch (im Zweiten Weltkrieg verbrannt) zeigt sie in stilisierter Form, mit den beiden Türmen, drei Bögen und dem Kruzifix des Brickegickels. Die älteste Gesamtdarstellung der Brücke findet sich in der Cosmographia von Sebastian Münster als Teil der Vogelschau Frankfurts in der zweiten Auflage von 1550 und ist in dem Holzschnitt selbst mit 1545 datiert. Bald darauf erschien 1552 eine weitere Darstellung auf dem sogenannten Belagerungsplan des Conrad Faber von Creuznach, der die Brücke bereits 1535 im Hintergrund seines Doppelportraits von Anna und Gilbrecht von Holzhausen skizziert hatte. Er zeigt die Brücke während der dreiwöchigen Belagerung der protestantischen Stadt durch ein Heer der protestantischen Fürsten unter der Führung des Kurfürsten Moritz von Sachsen im Sommer 1552, als sie durch kaiserliche Truppen verteidigt wurde. Die Brücke war in dieser Zeit mit Tüchern verhängt, der Main durch versenkte Schiffe und eine eiserne Kette unpassierbar gemacht. Die Belagerung begann am 17. Juli und endete nach dem Abschluss des Passauer Vertrages am 2. August. Für die Stadt zahlte sich ihre Kaisertreue aus, ab 1562 fanden alle Kaiserkrönungen in Frankfurt statt.
Anfang des 17. Jahrhunderts wurde auch der letzte hölzerne Pfeiler, nördlich der Brückenmühle gelegen, durch einen steinernen Bogenpfeiler ersetzt. Die Brückendecke bestand jedoch weiterhin aus Holzbalken, die bei Bedarf schnell entfernt werden konnten, um die Brücke unpassierbar zu machen.
Die Brücke war 31 Schuh breit (knapp 9 m), einschließlich der steinernen Brückengeländer, die jeweils einen Schuh breit waren. Der höchste Bogen lag bei normaler Wasserführung 30 Schuh (8,50 m) über dem Wasserspiegel, die anderen Bögen waren zwei bis drei Schuh niedriger. Die Durchfahrtsbreite der Bögen lag zwischen 7,50 m und 9 m. Die eigentliche Fahrbahn war nur ca. 4,70 m breit, das war gerade genug, damit zwei Wagen einander passieren konnten. Die Fußwege waren so schmal, dass ein Einbahnverkehr eingeführt werden musste: Fußgänger hatten jeweils die in Gehrichtung rechte Brückenseite zu nehmen.
Auch im Dreißigjährigen Krieg war die Brücke Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen. Im August 1635 griffen kaiserliche Truppen die Schweden an, die Sachsenhausen besetzt hielten und sich in der Brückenmühle sowie im Sachsenhäuser Brückenturm verschanzt hatten. Im Verlauf des Gefechtes ging die Brückenmühle in Flammen auf. Sie wurde durch zwei Neubauten ersetzt.
Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts verschlechterte sich der Bauzustand der Brücke zunehmend. In dieser Zeit trafen immer wieder Hochwässer und Eisgang die Brücke und fügten ihr Schäden zu, die teilweise nur notdürftig ausgebessert wurden. 1739 ordnete der Rat an, dass die baufällige Brücke nicht mehr als 50 Zentner Last tragen durfte. Trotzdem stürzte am 16. Dezember 1739 der Kreuzbogen ein, wobei der Brickegickel verloren ging. Die beiden angrenzenden Bögen, der Flößerbogen und der Ausschüttbogen, wo der Unrat in den Main gekippt wurde, wurden ebenfalls schwer beschädigt.
Der Rat entschloss sich daraufhin zu einem vollständigen Neubau der Brücke. Die Bauleitung erhielt Johann Friedrich von Uffenbach. Zunächst wurde eine hölzerne Notbrücke errichtet, die beispielsweise bei der Krönung Kaiser Karls VII. gute Dienste leistete. Der Grundstein für den steinernen Neubau wurde am 18. September 1741 gelegt, der Schlussstein am 14. September 1744 gesetzt. 1748 wurde die Brücke gepflastert, anschließend erhielt sie eine repräsentative Sandsteinbrüstung. Die Portale an den Abgängen zur Maininsel wurden geschmückt durch Sandsteinreliefs des Flussgottes Moenus und der beiden Kanonesteppel, einer karikaturartigen Darstellung zweier Artilleristen. Das Relief ging im Zweiten Weltkrieg verloren.
Am 27. Februar 1784 wurde die Brücke erneut durch Eisgang beschädigt.
Während des Sechsten Koalitionskrieges lieferten sich am 31. Oktober 1813 französische Truppen der napoleonischen kaiserlichen Garde, die die Stadt verteidigen sollten, ein heftiges Gefecht mit den bayerischen und österreichischen Truppen, die von Sachsenhausen her vorrückten. Erneut wurden dabei beide Brückenmühlen ein Opfer der Flammen. Die französischen Truppen mussten zurückweichen, konnten sich jedoch einer Verfolgung durch die Alliierten wirksam entziehen, indem sie die hölzernen Balken über den beiden mittleren Brückenbögen entfernten. Erst 1840 wurden die Brückenbögen endgültig vermauert.
19. Jahrhundert
Die Brücke wies auch nach dem Neubau ein ungünstiges Verhältnis der freien Öffnungsbreite von 172,17 Meter zur Gesamtlänge von 264,87 Metern auf. Dadurch kam es fast jeden Winter zu Eisstau oberhalb der Brücke. Die vor den Pfeilern angebrachten Eisbrecher gefährdeten die durchfahrenden Schiffe und wurden deshalb entfernt; ohnehin kam es in den schmalen, langen Bogendurchfahrten zwischen den Pfeilern zu starken Turbulenzen und Strömungen, da die Pfeiler leicht schräg zur Hauptfließrichtung standen. Auskolkungen und Unterspülungen führten immer wieder zu Schäden an der Brücke. Berichte des Stadtbaumeisters Johann Friedrich Christian Hess aus den Jahren 1816 bis 1844 wiesen auf den desolaten Zustand der Pfeiler und der Vorlager mit Rissen von bis zu 10 Zoll hin. Allein in den Jahren 1825 bis 1859 beliefen sich die Instandhaltungskosten auf 230.000 Gulden.
Im Jahr 1848 wurde für die Bahnstrecke Frankfurt am Main–Heidelberg eine zweite Brücke über den Main gebaut. 1869 folgte der Eiserne Steg, eine Fußgängerbrücke. Trotzdem war die Mainbrücke, nunmehr Alte Brücke genannt, dem zunehmenden Verkehr nicht mehr gewachsen. Seit 1859 gab es Pläne zur Verbreiterung der Brücke. 1865 entstanden erste Pläne für einen Neubau mit acht statt 13 Bögen, und einer Breite von 14 m. Es war vorgesehen, auch die Maininsel für diesen Neubau zu entfernen.
Als die Freie Stadt Frankfurt 1866 von Preußen annektiert wurde, ging die Brücke in den Besitz des preußischen Staates über. Die Neubaupläne wurden zunächst auf Eis gelegt, stattdessen entstanden in den folgenden Jahrzehnten zunächst weitere neue Brücken: 1874 wurde die flussabwärts gelegene Untermainbrücke dem Verkehr übergeben, 1878 die Obermainbrücke (heute Ignatz-Bubis-Brücke). In den 1880er Jahren wurde der Main kanalisiert, dadurch stieg der Wasserspiegel um etwa zwei Meter. 1908 bis 1910 entstand der Osthafen. Spätestens jetzt war die Alte Brücke zum Verkehrshindernis für die Mainschifffahrt geworden.
Die am 18. Februar 1884, auf Bestreben eines Offenbacher Konsortiums, bestehend aus dem Kommerzienrat Weintraut, dem Bankier Weymann und dem Bankhaus Merzbach, eröffnete Strecke der Frankfurt-Offenbacher Trambahn-Gesellschaft (FOTG), von der Alten Brücke in Sachsenhausen ausgehend, war die erste kommerziell betriebene öffentliche elektrische Straßenbahn in Deutschland. Die Strecke führte zunächst bis zur Buchrainstraße in Oberrad und ab 10. April bis zum Mathildenplatz in Offenbach. Die FOTG benutzte damals noch eine Spurweite von 1000 mm (Meterspur).
20. Jahrhundert: Die Neue Alte Brücke
Das Tiefbauamt der Stadt verfasste 1909 eine Denkschrift, in der die Grundsätze für den Neubau zusammengefasst wurden: Bau an der alten Stelle, Erhalt der Maininsel, Konstruktion aus rotem Mainsandstein. Den 1911 ausgeschriebenen Architektenwettbewerb, an dem die Architektengemeinschaft aus Franz von Hoven mit Hermann von Hoven beteiligt war, gewannen Franz Heberer und Carl Friedrich Wilhelm Leonhardt. Am 23. Mai 1912 wurde auf der Maininsel der Grundstein für den Neubau gelegt. Die Brücke sollte 14 m breit werden und acht Bögen erhalten.
Im Frühjahr 1914 errichtete man eine aus Dresden angekaufte Notbrücke, die westlich der alten Brücke 279 m lang auf 15 Holzpfeilern den Fluss überspannte. Am 3. Juli sperrte man die Alte Brücke für den Verkehr und begann unmittelbar mit dem Abriss. Die Namen der beiden Frankfurter, die als letzte die Brücke überquerten, sind bekannt: Ein Herr Heymann aus der Heidestraße und der Gastwirt Effelsberger vom Alten Markt. Damit ging die jahrhundertealte Geschichte der Brücke zu Ende.
Die Bauarbeiten an der neuen Brücke, die auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung den Namen Kaiserbrücke erhalten sollte, begannen 1915 auf der Sachsenhäuser Seite mit den beiden Pfeilern, die den Müllermain überspannen. Durch den Ersten Weltkrieg kamen die Arbeiten jedoch ins Stocken. Am 22. Januar 1924 wurde die Notbrücke durch starken Eisgang weggerissen. Daraufhin gründete die Stadt einen Brückenbauverein, dessen Vorsitz Oberbürgermeister Georg Voigt übernahm. Anfang Juni 1924 wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen, die Brücke sollte nunmehr Neue Alte Brücke heißen und 19 m breit werden. Dafür mussten die bereits entstandenen Pfeiler aufwendig umgebaut werden. Im Dezember 1925 mussten die Bauarbeiten nochmals wegen Eisgang unterbrochen werden. Am 15. August 1926 konnte die Neue Alte Brücke durch Oberbürgermeister Ludwig Landmann endlich eröffnet werden.
Bei deren Einweihung am 15. August 1926 sprach Franz Heberer im Namen der Architekten die Worte:
Die Brücke war 237,40 m lang und 19,5 m breit (davon 11 m für die Fahrbahn, je 4 m für die beiden Fußwege). Ihre acht Bögen (5 über den Hauptstrom, einer auf der Maininsel und zwei über den Müllermain) waren unterschiedlich weit, am breitesten die beiden Mittelbögen mit jeweils 29,5 m. Die Bauweise stellte einen Kompromiss dar, um einerseits leistungsfähig genug für den modernen Schiffs- und Straßenverkehr zu sein, andererseits die Traditionen der Alten Brücke zu wahren.
Die Neue Alte Brücke wurde nur 18 Jahre alt: Am 26. März 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, sprengte die deutsche Wehrmacht die beiden schiffbaren Brückenbögen in der Flussmitte, um den vorrückenden Alliierten Streitkräften die Überquerung des Mains zu erschweren. Ein sinnloses Unternehmen, denn schon innerhalb der folgenden drei Tage besetzten Einheiten der US-Armee die gesamte Stadt.
Schon Ende 1945 begann man mit der Reparatur der Alten Brücke (nunmehr ohne das Attribut neu). Aus Panzerplatten und anderem Kriegsmaterial wurde ein stählernes Mittelstück mit einer Tragfähigkeit bis ca. 24 Tonnen Gesamtgewicht gefertigt und eingesetzt. Gestützt wurde die Konstruktion von einem breiten stählernen Behelfspfeiler. Am 13. September 1947 wurde die Alte Brücke als zweite Frankfurter Mainbrücke nach dem Eisernen Steg wieder für den Verkehr freigegeben.
Da das provisorische Mittelstück nur zwei Fahrspuren zuließ, plante man schon bald einen kompletten Neubau der Brücke. Allerdings scheiterte der Neubau an den veranschlagten hohen Kosten. Mitte der 1960er Jahre entschloss man sich daher zu einer Renovierung, um die zunehmenden Verkehrsbehinderungen zu beenden. Insbesondere seit dem Bau der breiten Kurt-Schumacher-Straße, die heute die nördliche Brückenzufahrt bildet, staute sich der Verkehr oft bis weit in die Innenstadt zurück. 1964 wurde zur Entlastung der Alten Brücke östlich der Obermainbrücke die Flößerbrücke gebaut und am 1. Juni 1965 die Alte Brücke für den Verkehr gesperrt. Es wurden zwei neue, zirka 70 m lange und knapp 10 m breite stählerne Brückenteile zwischen die alten Pfeiler eingeschwommen. Wegen der anstehenden Internationalen Automobilausstellung wurden die Bauarbeiten in Rekordzeit abgeschlossen, so dass die Brücke am 16. September 1965 – pünktlich zur Eröffnung der IAA – wieder für den Verkehr freigegeben wurde. Über die fünf Fahrspuren rollen heute rund 29.000 Fahrzeuge täglich.
Die an der Alten Brücke aufgetretenen Schäden wurden 1996 behelfsmäßig saniert. Im Dezember 2000 beschloss die Stadtverordnetenversammlung eine Grundinstandsetzung der gesamten Brücke. Einen 2001 durchgeführten Architektenwettbewerb gewann der Architekt Christoph Mäckler mit einem Entwurf, der die historischen Elemente des Baus betont und künftig stärker zur Geltung kommen lassen will. 2004 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, dass die Sanierung unmittelbar nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 beginnen sollte. Die Bauarbeiten verzögerten sich jedoch, weil sie mit der ebenfalls erforderlichen Instandsetzung der Kurt-Schumacher-Straße kombiniert werden sollten, um den Individualverkehr in der Innenstadt nicht über längere Zeit zu beeinträchtigen. Zwischenzeitlich war der Baubeginn für Mitte 2009 vorgesehen, die Baukosten wurden im Haushalt 2008 mit etwa 29 Millionen Euro angegeben.
Da die Alte Brücke die am stärksten ausgelastete innerstädtische Omnibus-Verbindung darstellt, sollte die Fahrbahn für die Aufnahme von Straßenbahn-Gleisen vorbereitet werden, um später auch eine Straßenbahnverbindung von der Konstablerwache über die Alte Brücke nach Sachsenhausen einzurichten. Die bestehenden fünf Fahrspuren einschließlich der Abbiegespuren sollten erhalten bleiben und die Brücke auf beiden Seiten getrennte Fuß- und Radwege erhalten. Dafür hätte die Brücke jedoch verbreitert werden müssen. Nachdem noch 2013 zwei Kilometer östlich als neue Mainquerung die Osthafenbrücke eröffnet werden sollte, hatte das Stadtparlament jedoch beschlossen, die Brücke zunächst nicht zu verbreitern und nur den Bestand zu sanieren – für vergleichsweise günstige 4,5 Millionen Euro. Die Sanierungsarbeiten fanden zwischen Juni und Dezember 2014 statt. Zugunsten der Rad- und Fußwege wurde auf die mittlere fünfte Fahrspur für Linksabbieger verzichtet. Die Brücke erhielt neue Brüstungen aus Sandstein und eine neue Beleuchtungsanlage.
Die Entwicklung der Maininsel und des Müllermains
Eine Besonderheit der Alten Brücke ist die Maininsel, die ihre Gestalt im Laufe der Jahrhunderte immer wieder veränderte. Auf den älteren Plänen, z. B. dem Plan von Merian aus dem Jahr 1628, sieht man drei kleine Inseln oberhalb der Alten Brücke, während sich unterhalb der Brücke nur eine Sandbank im Fluss befand. Auf Stadtplänen des 18. Jahrhunderts sind diese Inseln weitgehend verschwunden. Erst im 19. Jahrhundert findet sich auf Bildern und Plänen wieder eine Insel, die von mehreren kleinen Kanälen durchzogen war, den Zu- und Abläufen der Brückenmühlen.
Damals lag das Sachsenhäuser Mainufer wesentlich weiter südlich als heute. Der rund 20 m breite Hochkai mit der Uferstraße und der 23 m breite Tiefkai wurden erst nach 1880 angelegt, bis dahin reichte der Main unmittelbar an die Fassaden der ersten Häuser. Oberhalb der Brücke reichte die Sachsenhäuser Stadtmauer bis an den Fluss. Der Mainarm zwischen der Insel und dem Sachsenhäuser Ufer wird bis heute als Müllermain bezeichnet, weil er das Flusswasser zu den beiden Brückenmühlen und der etwas weiter westlich am Ufer gelegenen Sachsenhäuser Mühle leitete.
Beim Bau der Neuen Alten Brücke wurde auch die Maininsel befestigt. Sie ist heute etwa 300 m lang und 30 m breit. Durch die Brücke wird sie in eine obere und eine untere Insel geteilt. Sie ist dicht mit hohen Bäumen, hauptsächlich Pappeln und Weiden, bewachsen und ein Brutgebiet für zahlreiche Wasservögel. Außerdem ist sie ein wichtiger Rastplatz für Zugvögel. Die Insel ist deshalb nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Sie steht zwar nicht unter Naturschutz, der Magistrat der Stadt hat sich in seinem Beschluss vom 23. Juni 1977 allerdings selbst verpflichtet, sie so zu behandeln.
Der schmale Müllermain ist wegen seiner geringen Wassertiefe für die Schifffahrt gesperrt, nur für Sportboote gibt es dort einige Schwimmstege.
Auf der Maininsel entstand 2005 bis 2006 westlich der Brücke ein Neubau der Ausstellungshalle Portikus für zeitgenössische Kunst. Der massive Ziegelbau mit steilem Satteldach und einem der Brücke zugewandten Spitzgiebel ist ein Entwurf des Architekten Christoph Mäckler, nach dessen Plänen 2014 auch die Alte Brücke saniert wurde. Der Gebäudename Neuer Portikus leitet sich ursprünglich als Portikus von der Säulenvorhalle der Alten Stadtbibliothek an der Obermainbrücke ab. Dort befand sich viele Jahre die Ausstellungshalle, bis sie beim Wiederaufbau der Alten Stadtbibliothek 2003 bis 2005 verlegt wurde.
Auch östlich der Alten Brücke plante Mäckler ein rund 30 Meter hohes Gebäude. Es sollte im unteren Teil einen Durchgang für den Ruderverein und ein Restaurant aufnehmen, in den oberen Geschossen vier Eigentumswohnungen. Das Projekt war jedoch umstritten, da es ein weitgehend naturbelassenes Areal mitten in der Stadt bebaut sowie mehrere Bäume und die Brutplätze zahlreicher Vögel bedroht hätte. Außerdem hätte sich der ursprünglich angestrebte gemeinnützige Charakter laut einer Bürgerinitiative zu einem „privaten Investorenwunschtraum“ mit 4 Millionen Euro Baukosten gewandelt. Nachdem die Bürgerinitiative mehr als 6000 Unterschriften gesammelt hatte und mehrere Oppositionsfraktionen im Frankfurter Stadtparlament Anträge gegen den Bau gestellt hatten, sprachen sich auch die dortigen Mehrheitsfraktionen CDU und Grüne in einer gemeinsamen Presseerklärung gegen den Bau aus, das Projekt ist somit vom Tisch.
Bauten auf der Alten Brücke
Die Brückentürme
Erstmals werden die beiden Brückentürme 1306 urkundlich erwähnt, als sie durch Hochwasser und Eisgang zerstört wurden. 1342 wurde der Sachsenhäuser Turm erneut Opfer des Hochwassers, aber umgehend wieder aufgebaut. Sein Dachgeschoss war mit fünf Türmchen geschmückt. 1729 erhielt er eine Schlaguhr.
Der Frankfurter Brückenturm war reich mit Malereien verziert: 1392 wurde der Durchgang mit einem Fresko des Martyriums Christi ausgemalt, um 1500 ließ der Rat ein sogenanntes Judenschandbild, die Judensau, ergänzen. Trotz aller Eingaben der jüdischen Gemeinde blieb dieses Zeugnis für öffentlichen Antijudaismus bis zum Abriss des Turmes erhalten, es wurde sogar immer wieder erneuert.
Auf der Südseite (der Brückenseite) trug die Turmfassade seit 1502 eine Sonnenuhr und einen Reichsadler, auf der Nordseite (der städtischen Seite) einen städtischen Adler (die gleiche Situation hat sich bis heute am Eschenheimer Turm erhalten). 1610 fügte der Maler Philipp Uffenbach eine Illustrierung der Brückenfreiheit hinzu.
Die Tore der Brückentürme wurden nachts geschlossen, so dass bei Nacht niemand die Brücke überqueren konnte.
Da der Frankfurter Brückenturm früher errichtet war, hieß er auch der Alte Brückenturm. Er diente als Gefängnis, und 1693 wurde die Folter aus der Katharinenpforte hierher verlegt. 1616 wurden die Köpfe von Vinzenz Fettmilch und drei weiteren Anführern des Fettmilch-Aufstandes an der Südseite des Turmes angebracht. Johann Wolfgang Goethe berichtet in Dichtung und Wahrheit, dass sie noch 150 Jahre später dort hingen, einer der Köpfe war sogar noch bis zum endgültigen Abriss des Brückenturmes 1801 dort vorhanden. Der Sachsenhäuser Brückenturm war bereits 1769 abgebrochen worden. Nach seinem Vorbild wurde Anfang des 20. Jahrhunderts der große Rathausturm, der Lange Franz, errichtet.
Die Brückenmühlen
1411 wurde auf der Brücke die erste Mühle gebaut. Es war die bei weitem größte und bedeutendste Mühle Frankfurts. Sie wurde 1635 bei dem bereits erwähnten Gefecht zwischen schwedischen und kaiserlichen Truppen zerstört. An ihrer Stelle wurden zwei etwas kleinere Mühlen erbaut, eine westliche, nach Sachsenhausen hin gelegene, und eine östliche, nach Frankfurt zu. Auch diese Mühlen mussten immer wieder erneuert werden, z. B. 1718 nach einem durch Blitzschlag ausgelösten Brand. 1852 wurde die westliche Mühle abgerissen und an ihrer Stelle 1856 bis 1858 ein dampfbetriebenes Pumpwerk errichtet, das die Sachsenhäuser Gärtnereien mit Mainwasser versorgte. Das Pumpwerk wurde bereits 1890 wieder stillgelegt und abgerissen. Die östliche Mühle stand noch bis 1914, dann wurde sie mit der Alten Brücke abgebrochen. Die in den beiden Mühlen geborenen Frankfurter nannte man Gickelbürger.
Die Katharinenkapelle
Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts gab es eine kleine, wohl aus Holz errichtete, Kapelle auf der Brücke, die beim Hochwasser 1306 zerstört wurde. 1322 erwähnte Albrecht von der Hofstatt in seinem Testament eine neue Kapelle beim Sachsenhäuser Brückenturm. Erst 1338 wurde die schöne und reich geschmückte Kapelle vollendet und am 27. September der Heiligen Katharina geweiht, der Schutzheiligen der Schiffer. Bereits 1342 wurde die Kapelle beim Magdalenenhochwasser zerstört und nicht wieder aufgebaut. Wenige Jahre darauf stiftete der Patrizier Wicker Frosch die Katharinenkirche in der Neustadt. 1866 und 1878 fand man bei Bauarbeiten an der in den Schriftquellen erwähnten Stelle tatsächlich gut erhaltene Überreste der Kapelle.
Weitere Bauten
Das Rattenhäuschen befand sich von 1499 bis 1569 auf einem Pfeiler an der Ostseite der Brücke. Im 15. Jahrhundert hatten in der Stadt die Ratten überhandgenommen. Der Aufseher im Rattenhäuschen, der Rattenmesser, zahlte für jede getötete Ratte einen Heller, schnitt ihr den Schwanz als Quittung ab und warf den Rest in den Main. Für die Finanzierung zog man die Strafgelder heran, die die Juden bei Übertretungen zahlen mussten. 1569 wurde das Rattenhäuschen in ein Pulvermagazin umgewandelt, nachdem offenbar einige Bürger begonnen hatten, die Rattenzucht als Einnahmequelle zu nutzen.
Auf der westlichen Brückenseite nördlich vom ungewölbten Pfeiler befanden sich die beiden seit dem 15. Jahrhundert erwähnten Heimlichen Gemache, öffentliche Bedürfnisanstalten für Männer und für Frauen. Sie waren vom Rat gestiftet worden.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde der Rudersport populär, dem seit dieser Zeit auch auf dem Main nachgegangen wird. Mit dem Frankfurter Ruder-Verein von 1865 wurde am 28. Juli 1865 die erste Ruderergemeinschaft im deutschen Binnenland gegründet, die ab 1871 die erste internationale Regatta auf dem Main ausrichtete. Seitdem ist der Verein auch auf der Maininsel ansässig. Das Bootshaus zwischen zwei Pfeilern der Alten Brücke wurde in seiner heutigen Form 1948 gebaut.
Das Denkmal Karls des Großen
Am 23. August 1843 zum tausendsten Gedenktag der Reichsteilung von Verdun schenkte das Städelsche Kunstinstitut der Stadt ein Standbild Kaiser Karls des Großen. Die Skulptur aus rotem Mainsandstein, eine Arbeit des Bildhauers Johann Nepomuk Zwerger, wurde auf dem östlichen, der Stadt zugewandten Mittelpfeiler der Brücke aufgestellt. Beim Abriss der Alten Brücke 1914 kam das Standbild in den Hof des Historischen Museums. Während der Bombenangriffe im März 1944 wurde die Statue dort schwer beschädigt (Kopf und Hände wurden zerstört). 1986 wurde sie vor dem Eingang des Historischen Museums am Römerberg neu aufgestellt, nachdem der Bildhauer Edwin Hüller der Figur Kopf und Hände neu gestaltet hatte. 2011 wurde das Museum für einen Neubau abgerissen und die Skulptur landete einstweilen wieder im Depot. Als die Pläne zur Erweiterung und notwendigen Sanierung der Alten Brücke diskutiert wurden, kam der Wunsch aus der Bevölkerung, die Skulptur wieder an ihrem angestammten Platz auf der Brücke aufzustellen. Da die Finanzen der Stadt ein derartiges Projekt damals nicht erlaubten, gründete sich unter anderem zu diesem Zweck 2006 der Brückenbauverein Frankfurt e. V. unter dem Vorsitz des Architekten Christoph Mäckler. Ende 2014 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, das Original im Neubau des Historischen Museums zu belassen und stattdessen eine Kopie auf der Alten Brücke aufzustellen, und zwar dort, wo 1967 bis 2013 der Standort des Brickegickels war. Am 1. Oktober 2016 weihte Oberbürgermeister Feldmann das von dem Bildhauer Andreas Hoferick rekonstruierte Denkmal ein.
Der Brickegickel
Untrennbar mit der Geschichte der Alten Brücke ist der Brickegickel (Brückenhahn) verbunden. 1401 wurde ein Kruzifix auf dem mittleren Bogen der Brücke, dem Kreuzbogen, aufgestellt, um die Stelle des tiefsten Fahrwassers zu markieren. An der Spitze des Kruzifixes befand sich ein goldener Hahn, als Symbol der Wachsamkeit, aber auch der Reue über den Verrat des Petrus an seinem Herrn Jesus. Der Hahn sollte also die Schiffsleute zur Wachsamkeit mahnen, wenn sie ihr Schiff durch die Strömung unter dem engen Brückenbogen steuern mussten. Außerdem fanden an dieser Stelle jahrhundertelang Hinrichtungen statt. Wenn die letzten Blicke des Verurteilten auf den Brickegickel fielen, ermahnte ihn der Hahn zur Buße, während das Kruzifix ihm die göttliche Gnade und Vergebung seiner Sünden verhieß.
Fünfmal musste der Brickegickel im Laufe der Jahrhunderte erneuert werden:
Der erste versank bereits 1434 bei einem Orkan im Main,
Der zweite wurde 1635 im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Truppen heruntergeschossen. Während der Belagerung Frankfurts im Fürstenkrieg 1552 war er bereits beschädigt worden.
Der dritte versank am 16. Dezember 1739 beim Einsturz der Brücke in den Fluten und wurde nicht mehr gefunden.
Der vierte wurde mit einem neuen Sockel und einem Kruzifix – beide in spätbarocken Formen – 1750 gefertigt und stand bis zu ihrem Abriss 1914 auf der Alten Brücke sowie von 1926 bis 1945 auf der an ihrer Stelle errichteten Neuen Alten Brücke. Auch der spätbarocke Sandsteinsockel und die Kunstschlosserarbeit des Kruzifixes stammten in ihren Formen noch aus dieser Zeit. Im Zweiten Weltkrieg wurden am 26. März 1945 zwei Bögen der Brücke von der deutschen Wehrmacht gesprengt, um den Vormarsch der US-Armee aufzuhalten. Dabei wurden Sockel und Kruzifix zerstört, der Brickegickel fiel in den Main, konnte aber geborgen werden. Anschließend wurde er im Historischen Museum verwahrt. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass er mehrere Einschusslöcher aufwies, die er wahrscheinlich am 31. Oktober 1813 bei Gefechten zwischen französischen und bayerischen Truppen erhalten hatte.
Der fünfte wurde zusammen mit getreuen Kopien des verlorenen Sockels und des Kruzifixes am 7. Dezember 1967 auf der renovierten Alten Brücke aufgestellt.
Der sechste Brickegickel wurde im September 1994 errichtet, nachdem sein Vorgänger 1992 gestohlen worden war. Eine Spende von Helmut Gärtner, langjähriger Frankfurter Ortsvorsteher, aus Anlass seiner Wahl zum Ersten Stadtrat von Eschborn ermöglichte seine Herstellung durch den Bildhauer Edwin Hüller, der auch den Vorgänger von 1967 gestaltet hatte. Der heutige Brickegickel ist aus Bronze und mit einer Schicht aus Gold überzogen. 2013 bis 2017 wurde der Brickegickel saniert und am 13. November 2017 an der stromaufwärts gelegenen Seite in der Mitte der Brücke wieder aufgestellt, also an seinem historischen Standort.
Sagen um die Alte Brücke
Die Brüder Grimm überliefern in ihren Deutschen Sagen die Geschichte von der Sachsenhäuser Brücke zu Frankfurt:
Diese Sage wird in ganz ähnlicher Form auch über andere Brücken erzählt, z. B. die Teufelsbrück, die Steinerne Brücke in Regensburg und den Bau des Domes und der Brücke in Bamberg. Anstelle eines Hahns werden allerdings oft andere Lebewesen über die Brücke getrieben, z. B. ein Ziegenbock oder eine Gams. Hinter diesen Brückensagen steckten wahrscheinlich uralte Überlieferungen, z. B. der Glaube an heidnische Flussgötter, die nur durch ein Opfer zu besänftigen waren. Außerdem gehörte der Brückenbau seit den Zeiten der Antike zu den schwierigsten und meistbewunderten technischen Aufgaben; für abergläubische Naturen war es leicht vorstellbar, dass er nur mit Hilfe übernatürlicher Mächte gelingen konnte.
Mit den Kämpfen zwischen schwedischen und kaiserlichen Truppen im August 1635 verbindet sich die Sage vom Schwedenschuß:
Die Alte Brücke und das Recht
Die Brückenfreiheit
Auf der Mainbrücke galt seit alters her ein besonderes Gewohnheitsrecht, die sogenannte Brückenfreiheit. Streng genommen lag die Brücke jenseits der Stadtmauern und damit außerhalb der Stadt. Allabendlich wurden die Brückentore geschlossen, der Aufenthalt auf der Brücke war bei Nacht strengstens verboten. Die Brückenfreiheit war mit der Pflicht verbunden, auf der Brücke Frieden zu halten. Zuwiderhandlungen waren mit drakonischen Strafen belegt. Eine Illustration, die der Maler Philipp Uffenbach 1610 für den Frankfurter Brückenturm schuf, zeigt das sehr drastisch: Das Bild zeigt drei Männer in einer Rauferei auf der Brücke. Im Vordergrund sieht man, wie demjenigen die Hand abgehackt wird, der den Streit begonnen hatte: Wer dieser Brucken Freyheit bricht, dem wird sein frevel Hand gericht. Mit solchen Darstellungen wurden die Konsequenzen von Streit und Gewalt auch denen deutlich gemacht, die nicht lesen konnten. Auch in einer 1630 von Daniel Meissner erstellten Sammlung von Kupferstichen, dem politischen Schatzkästlein, findet sich eine Darstellung der Brückenfreiheit. Neben lateinischen Gemeinplätzen, nicht das Recht zu brechen, die Übeltäter streng zu bestrafen und die Guten zu beschützen, enthält die Tafel den deutschen Text: Dieser Brücken freÿheit vermag, Daß niemand drauf beÿ nacht odr tag, Treib frevel, mutwill und gewalt, Sonst haut man ihm die Handt ab baldt.
Die Alte Brücke als Hinrichtungsstätte
Im Mittelalter war das Ertränken die häufigste Hinrichtungsart in Frankfurt. Zuständig für die Strafverfahren war seit 1387 der Frankfurter Rat. Aus den erhaltenen Gerichtsakten ist zu ersehen, dass zwischen 1366 und 1500 91 Menschen ertränkt wurden, gefolgt von Hängen mit 70 und Enthaupten mit 58 Fällen. Im 17. Jahrhundert wurden nur noch 38 Menschen ertränkt, dagegen 133 gehängt und 28 enthauptet. Die letzte Hinrichtung durch Ertränken fand 1613 statt. Nach der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., der sogenannten Constitutio Criminalis Carolina war das Ertränken die vorgesehene Strafe für die Delikte Diebstahl, Kindsmord, Blutschande, Bruch der Urfehde, Vergiftung und Abtreibung.
Der Ablauf einer Hinrichtung ist in der Lersnerschen Chronik beschrieben: Die Verurteilten – zu denen auch Frauen gehörten, denn auch zum Tode verurteilte Frauen wurden im Allgemeinen ertränkt – wurden vom Brückenturm, in dem sie inhaftiert waren, auf die Alte Brücke geführt bis an die stat, da man pfleget zu richten: dem Brickegickel am Kreuzbogen. Dort band man ihnen Knie, Arme, Hände und Hals und schob sie auf einem Brett über das Brückengeländer in den Main. Wenn die letzten Blicke der Verurteilten auf den Brickegickel fielen, sollte sie der Hahn zur Buße ermahnen, während das Kruzifix ihnen die göttliche Gnade und Vergebung ihrer Sünden verhieß. An dieser Stelle war die Strömung des Flusses am stärksten, so dass der Verurteilte sofort mitgerissen wurde und ertrank. Bei hinreichendem Wasserstand wurde die Leiche erst außerhalb der Stadt wieder angelandet, so dass man sich nicht mehr darum zu kümmern brauchte. Nur bei niedrigem Wasserstand konnte es geschehen, dass ein Ertränkter noch auf Frankfurter Territorium an Land gespült wurde. In diesem Fall wurde der Leichnam auf dem Friedhof beim Gutleuthof beigesetzt. Im Gegensatz zu den anderen Hinrichtungen fanden Ertränkungen auch des Nachts statt, um auf der Brücke die sonst bei Hinrichtungen üblichen Menschenansammlungen zu vermeiden.
Die Alte Brücke in Malerei und Literatur
Die Alte Brücke galt jahrhundertelang als bedeutendstes und schönstes Bauwerk Frankfurts. Das Panorama der Stadt und der Brücke hat daher vor allem viele Maler inspiriert, u. a. Conrad Faber, Matthäus Merian, Anton Kirchner, Anton Radl, Domenico Quaglio, Carl Morgenstern, Friedrich Wilhelm Delkeskamp, Carl Theodor Reiffenstein und Gustave Courbet. Im 20. Jahrhundert widmeten sich Alfred Oppenheim und Jakob Nussbaum dem Motiv. Ein bedeutender Vertreter der Kronberger Malerkolonie, Fritz Wucherer, und Otto Meisner schufen die letzten Darstellungen der Alten Brücke vor ihrem Abriss oder hielten diesen in Bildern fest.
Zahlreiche Dichter beschäftigten sich mit der Mainbrücke. Goethe schrieb über die Frankfurter Mainbrücke in Dichtung und Wahrheit:
Später urteilte er: „Man kann fast sagen, daß die Mainbrücke das einzige schöne und einer so großen Stadt würdige Monument aus der frühern Zeit sei.“
Jahrhundertelang galt die Sachsenhäuser Brücke als eine der vier berühmtesten alten Brücken Deutschlands: Die Dresdner ist die längste und schönste, die Prager die breiteste und frömmste, die Regensburger die stärkste und die Sachsenhäuser die röteste.
Die Frankfurter Dichter Friedrich Stoltze, Adolf Stoltze und Karl Ettlinger hinterließen besonders viele Gedichte über die Alte Brücke. Unter den Dichtern des 20. Jahrhunderts ist Fritz von Unruh hervorzuheben, der jahrelang in Sichtweite der Alten Brücke lebte. Zur Brückenweihe 1926 schrieb er das Festgedicht.
Seit 1843 wohnte der Philosoph Arthur Schopenhauer an der Schönen Aussicht in unmittelbarer Nähe der Mainbrücke. In seinem Traktat Ueber Lärm und Geräusch (1851) zürnt er besonders über das vermaledeite infernale Peitschenknallen der Fuhrleute in den hallenden Gassen der Städte:
Es ist wahrscheinlich, dass die Frankfurter Fuhrknechte diesen Zorn auslösten, wenn sie ihre Gespanne mit lautem Rufen und Peitschenknallen antrieben und die eisenbeschlagenen Reifen der schweren Wagen über das Pflaster der Fahrgasse und der Alten Brücke rumpelten:
Siehe auch
Liste mittelalterlicher Steinbrücken in Deutschland
Literatur
Friedrich Bothe: Geschichte der Stadt Frankfurt am Main. Verlag Wolfgang Weidlich, Frankfurt am Main 1977. ISBN 3-8035-8920-7
Walter Gerteis: Das unbekannte Frankfurt. Verlag Frankfurter Bücher, Frankfurt am Main 1960.
Bernhard Müller: Bilderatlas zur Geschichte der Stadt Frankfurt am Main. Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main 1916, Reprint im Verlag W. Weidlich, Frankfurt am Main 1976. ISBN 3-8035-8904-5
Dieter Rebentisch: Stadt am Fluß – Frankfurt und der Main. Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Bd. 70. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 2004. ISBN 3-7829-0559-8
Björn Wissenbach: Frankfurts Alte Brücke. Gestern, Heute, Morgen. Begleitbuch zur Ausstellung „Es führt über den Main …“ des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main in Kooperation mit dem Amt für Straßenbau und Erschließung Frankfurt am Main im Karmeliterkloster. Herausgeber: Evelyn Brockhoff und Gabriele Dehmer. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-7973-1176-4
Weblinks
Panoramabild der Alten Brücke
Einzelnachweise
Brücke in Frankfurt am Main
Straßenbrücke in Hessen
Mainbrücke
Bogenbrücke
Hinrichtungsstätte in Deutschland
Verkehrsbauwerk in Frankfurt-Sachsenhausen
Bauwerk in Frankfurt-Altstadt
Verkehrsgeschichte (Frankfurt am Main)
Brücke in Europa |
899091 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gerokreuz | Gerokreuz | Das Gerokreuz (auch Gerokruzifix) im Kölner Dom ist eines der ältesten erhaltenen Großkruzifixe im Europa nördlich der Alpen. Das 2,88 m hohe Kreuz aus Eichenholz stammt aus der ottonischen Zeit zum Ende des 10. Jahrhunderts und gilt als eine der ersten Monumentalskulpturen des Mittelalters. In der Geschichte der abendländischen Ikonografie steht es als Beispiel für die Wende in der Darstellung des christlichen Erlösers, der – zuvor meist heldenhaft und siegreich in aufrechter Position dargestellt – erstmals leidend und menschlich gezeigt wird. Die Skulptur gilt deshalb als ein Vorbild für viele folgende Christusdarstellungen des Mittelalters.
Geschichte
Entstehung
Mutmaßlicher Auftraggeber des Gerokreuzes ist der Kölner Erzbischof Gero. Er reiste 971 im Auftrag Kaiser Ottos I. nach Konstantinopel, um eine Tochter des oströmischen Kaisers als Braut für den Kaisersohn Otto, den späteren Kaiser Otto II., zu vermitteln. Nach längeren Verhandlungen brachte er als Braut schließlich die zwölfjährige Kaisernichte Theophanu mit ins Heilige Römische Reich. Sie hatte zahlreiche Künstler und Handwerker in ihrem Gefolge, die zum wachsenden Einfluss byzantinischer Kunst im Reich beitrugen – wobei auch Gero selbst während seines längeren Aufenthalts in Konstantinopel die dortige Kunst gut kennengelernt und seinen Einfluss auf die Gestaltung des Kreuzes geltend gemacht haben könnte.
Das Kreuz wurde in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts von einem unbekannten Künstler angefertigt. Sicher ist aufgrund der Holzherkunft, dass es in Köln oder Umgebung hergestellt wurde. Das Kreuz wurde im Alten Dom (auch Hildebold-Dom), der Vorläuferkirche des heutigen Kölner Doms, in der Mitte des Langhauses am Sarkophag seines Stifters Gero aufgestellt.
Der Chronist Thietmar von Merseburg berichtete in seiner Chronik zu Beginn des 11. Jahrhunderts von dem Kreuz und einem damit zusammenhängenden Wunder des Gero, der einen Riss im Kopf der Skulptur durch Einlegen einer geweihten Hostie und eines Reliquiensplitters sowie inbrünstiges Beten zum Verschwinden gebracht haben soll:
Spätere Erwähnungen und Ereignisse
Nachdem im August 1248 der Grundstein für den neuen, gotischen Dom gelegt worden war, brannte der alte karolingische Dom bei den Abbrucharbeiten vollständig ab. Das Gerokreuz überstand den Brand und wurde seit 1270 im Kapellenkranz des neuen Kirchengebäudes, vermutlich über dem Altar der Stephanuskapelle, aufgestellt, wo sich noch heute der Sarkophag des Gero befindet.
Spätestens 1351 wurde das Kreuz an die Ostwand der Kreuzkapelle versetzt, wo es bis in die Gegenwart hängt. Dies ist durch eine Stiftungsurkunde belegt, in der die von der Schneiderzunft gegründete Heiligkreuzbruderschaft dem Dom einen Kerzenbalken („Schneiderbalken“) stiftete, der noch heute vor der Kreuzkapelle hängt; dabei ist die Rede von ante introitum chori versus altare s. crucis, einige Jahrzehnte später heißt es zu diesem Ereignis:
In der Vita der Irmgard von Süchteln aus dem 14. Jahrhundert wird das Gerokreuz ebenfalls erwähnt; die Legende berichtet, dass während ihrer dritten Pilgerfahrt nach Rom ein Kreuz in einer dortigen Kirche zu ihr gesprochen und „Grüße“ an das Gerokreuz in Köln ausgerichtet habe. Auch hier ist von dem Kreuz …in ecclesia S. Petri prope sacristiam bzw. später in einer Übersetzung von …in St. Peterskirchen zu Collen vur der gherkammere, also von einem Standort vor der Sakristei die Rede; der Eingang zur Sakristei befindet sich an der Nordwand der Kreuzkapelle.
Der das Kreuz umgebende, nach römischem Vorbild gestaltete Barockaltar und der goldene Strahlenkranz (Mandorla) mit wechselnd geformten Strahlen wurden 1683 von dem Domherrn Heinrich Friedrich von Mering gestiftet, der für die Ausgestaltung des Domchores zuständig war. Der Altar erhielt eine lateinische Inschrift:
Zu diesem Zeitpunkt wurde das Kreuz auch erstmals in einer Halterung befestigt, vorher stand es vermutlich frei, mit einigen wenigen Befestigungen, an die Altarwand gelehnt.
Die letzte umfassende Bearbeitung des Kreuzes wurde 1900 von Wilhelm Batzem durchgeführt; unter modernen restauratorischen Gesichtspunkten richtete sie einigen Schaden an.
Beschreibung und restauratorischer Zustand
Die Beschreibung orientiert sich u. a. an einem Untersuchungsbericht von Christa Schulze-Senger und Bernhard Matthäi aus dem Jahr 1976.
Korpus
Der Korpus (Crucifixus) ist vom Kopf bis zu den Füßen 1,87 Meter hoch, vom Suppedaneum bis zur Handoberkante genau zwei Meter. Die Spannbreite beträgt 1,66 Meter, und am Kopf erreicht die Skulptur ihre maximale Tiefe von 33 Zentimetern. Sie wurde aus einem Eichenholzstamm hoher Qualität gefertigt; vermutlich wurde das frische Holz grob vorgeformt und später, nach einer Trocknungs- und Lagerphase, in seine endgültige, fein ausgearbeitete Form geschnitzt, um Rissen vorzubeugen.
Die Holzfläche ist sehr sorgfältig geglättet, so dass an der Außenseite fast keine Bearbeitungs- bzw. Werkzeugspuren zu sehen sind. An Finger und Bart wurden offenbar später einige Konturen mit schärferem Werkzeug nachgearbeitet. Die Hautoberfläche enthält mindestens sieben Bemalungsschichten (Inkarnate). Die letzte von 1900 ist fast verschwunden; die unterste – vermutlich originale – Schicht ist am besten erhalten. Die meisten Schäden an den früheren Inkarnaten stammen von der Batzem-Behandlung im Jahr 1900. Insgesamt sind die Farbschichten der Fassung so dünn, dass die Skulptur nicht entstellt wird. Nur beim Lendenschurz dürfte die letzte, sehr dicke Goldschicht in grober Ausführung die ursprüngliche Textur verfälschen.
Der Korpus ist von hinten großvolumig ausgehöhlt und hat deshalb nur ein Gewicht von 36,5 Kilogramm. Möglicherweise war der Hohlraum früher mit einer Leinwand-Leim-Mischung ausgefüllt; er ist nur durch Abnehmen des Korpus vom Kreuz sichtbar und zeigt die groben, aber sauber gearbeiteten Schnitzspuren von einfachem Werkzeug.
Die Arme sind angesetzt und wurden mit Holzdübeln am Körper befestigt.
Die lebensgroße Christusfigur wird mit geschlossenen Augen, hervorgewölbtem Bauch, eingefallener Brust und an Armen und Beinen heraustretenden Sehnen dargestellt. Die Daumen an den von Nägeln durchbohrten Händen hängen herunter. Das dunkel- bis tiefbraune schulterlange Haar der Skulptur ist vorne sehr fein ziseliert und sehr großzügig quer angeordnet. Der Kopf enthält zwar hinten ein Bohrloch und einige Nägel ungeklärten Verwendungszwecks, jedoch nachweislich keinen Riss oder versteckten Hohlraum für Reliquien, wie es in der Literatur bis zu der Untersuchung von 1976 noch als sicher angenommen worden war (Haussherr, Imdahl u. a.).
Das Lendentuch ist außen vergoldet und an den Innenseiten rot gestrichen; darunterliegende Schichten wurden hier größtenteils abgewaschen. Es ist möglich, dass es im Original rot war, was im Zusammenspiel mit einem goldbeschlagenen Kreuz eine völlig andere Wirkung erzielt haben dürfte.
Die Füße stehen auf dem Suppedaneum und sind mit je einem Nagel ans Kreuz geschlagen, was typisch für die so genannte Vierpunkt-Phase in der christlichen Ikonographie ist (bei der Dreipunkt-Phase werden mit einem Nagel beide Füße durchschlagen). Am linken Fuß fehlen durch Bruch und/oder Verwitterung zwei Zehen, am rechten Fuß die große Zehe. Die Fersen sind hinten stark verwittert. Ansonsten ist die Skulptur für ihr Alter überdurchschnittlich gut erhalten.
Kreuz
Die zwei das Kruzifix bildenden Eichenholzbretter sind im Schnitt etwa 40 cm breit und 4,3 bis 4,7 Zentimeter dick. Der Längsbalken misst 2,88 Meter, der Querbalken 1,98 Meter. Das obere Ende geht auf einer Höhe von 20 Zentimetern in den Titulus über, ein 49 Zentimeter breites Feld mit der Inschrift I·N·R·I in schwarzen gotischen Minuskeln. Am unteren Ende des Längsbalkens wurde (vermutlich um 1683) auf drei Zentimetern Höhe ein Schaft ausgeschnitten, um das Kreuz in eine Halterung zu setzen.
Quer- und Längsbalken sind im oberen Drittel des Längsbalkens überblattet; befestigt wurde der Querbalken zunächst mit fünf Holznägeln. Später kamen noch vier Eisennägel und acht – heute fast nicht mehr vorhandene – Metallklammern hinzu. Auf dem Querbalken befinden sich zwei Ringschrauben, die vermutlich der Verhüllung des Kreuzes während der Fastenzeit dienten.
Die Vorderseite des Kreuzes ist bei der letzten größeren Bearbeitung von Wilhelm Batzem im Jahr 1900 vergoldet worden. Zahlreiche kleine Nägel im Kreuz weisen auf eine früher eventuell vorhandene Goldblechbeschlagung hin. Die Rückseite ist braun gestrichen.
An der Schnittstelle von Längs- und Querbalken befindet sich ein vermutlich aus Nussbaumholz geschnitztes, rundes Relief mit einem Durchmesser von 50,5 cm, das den Heiligenschein (Nimbus) des Gekreuzigten darstellt. Das sechs Zentimeter dicke Relief wird von einem gleichschenkligen Kreuz in vier Felder unterteilt, die wiederum mit vier tropfenförmigen Mulden versehen sind. Am äußeren Rand des Reliefs und auf dem Kreuz sind abwechselnd rote und grüne Bergkristalle als Verzierung angebracht; der größte von ihnen befindet sich in der Mitte, er wurde vermutlich aus einem Knauf o. ä. hergestellt, was zusammen mit der fächerförmigen Gestaltung darauf schließen lässt, dass der Heiligenschein nicht zur Originalausstattung des Kreuzes gehörte. Er stammt vermutlich aus dem 12. Jahrhundert.
Datierung
Kunstgeschichtliche Datierung
Kunstgeschichtlich war der Zusammenhang zwischen den Gero-Legenden und dem Kreuz im 19. Jahrhundert nicht mehr präsent; so übermalte etwa der Restaurator Wilhelm Batzem das Altargemälde in der Stephanuskapelle (s. Foto) dergestalt mit einem Mittelbogen, dass nicht mehr deutlich wurde, dass das Kreuz einst in der Mitte des Bildes vor der leeren roten Fläche gestanden hatte.
Erst 1924 und 1930 zog Richard Hamann Stilvergleiche mit verschiedenen ottonischen Plastiken, darunter die genau datierte Bernwardstür des Hildesheimer Doms von 1015, und brachte in zwei Arbeiten die Thietmar-Beschreibung erneut mit dem Kölner Kreuz in Zusammenhang. Hamanns Frühdatierung ins 10. Jahrhundert war ein Durchbruch für die Kunstgeschichte, die das Gerokreuz bis dahin dem 12. Jahrhundert zugeordnet hatte (u. a. bei Beenken).
Die hellblaue Hintergrundfläche des Altars stammt erst aus dem Jahr 1976; Paul Clemen beschrieb sie 1937 noch als rot.
Dendrochronologische Datierung 1976
Im Jahr 1976 wurde das Kreuz wegen der Restaurierung des barocken Altars abgenommen; der Korpus wurde für eine umfassende Untersuchung und Konservierung vom Kreuz gelöst und konnte so auch erstmals von der Rückseite detailliert beschrieben werden. Entgegen anfänglichen Bedenken des Landeskonservators und anderer Fachleute, die eine Beschädigung des Kunstwerkes befürchteten, wurde bei dieser Gelegenheit nicht nur am Kreuz, sondern auch am Korpus eine dendrochronologische Untersuchung durchgeführt, die die Frühdatierung ans Ende des 10. Jahrhunderts im Wesentlichen bestätigt.
Der Dendrochronologe Ernst Hollstein (1918–1988) vom Rheinischen Landesmuseum Trier führte eine Untersuchung von Kreuz und Korpus durch, um eine genauere Datierung zu erzielen. Zu diesem Zweck konnte er an der oberen Kante des Kreuzes 209 aufeinanderfolgende Jahresringe sehr genau messen und beim Korpus anhand von Jahresringzählungen an verschiedenen Stellen Messungen und verwertbare Schätzungen vornehmen. Außerdem konnte er in einer Regionaldiagnose die Wuchsregion der verwendeten Eichen auf das Gebiet der Erzdiözese Köln eingrenzen – mit hoher Wahrscheinlichkeit stammt das Holz aus der nördlichen Eifel, nicht ganz auszuschließen sei allerdings auch eine Herkunft aus der Gegend um Wiedenbrück.
Untersuchung des Kreuzes
Die Untersuchung des Kreuzes ergab, dass die Eiche bei ihrer Fällung etwa 250 Jahre alt war. Der Ausgangspunkt für die Datierung war die gesicherte Tatsache, dass das Kreuz spätestens 1683 existierte und die Annahme, dass es frühestens um 800 entstand. Eine signifikante Übereinstimmung der 209 Jahresringe mit der Westdeutschen Eichenchronologie wurde für die Jahre von 757 bis 965 gemessen. Hollstein ging nun aufgrund seiner Erfahrung davon aus, dass beim Anfertigen des Kreuzes nicht wesentlich mehr als das unbrauchbare Splintholz vom Eichenstamm entfernt wurde; die Fällung des Baums falle deshalb mit Sicherheit in die Zeit von 971 bis 1012. Dies war insofern ein signifikantes Ergebnis, als Kunsthistoriker das Kreuz bis dahin in eine deutlich spätere Periode datiert hatten, wobei zwischen Fälldatum und Fertigung des Kreuzes durchaus eine längere Zeit vergangen sein kann.
Untersuchung des Korpus
Die Untersuchung der Skulptur gestaltete sich komplizierter, da man aus restauratorischen Gründen weder Proben entnehmen noch eine so hohe Anzahl zusammenhängender Jahresringe messen konnte wie beim Kreuz. Genaue Werte ergaben sich nur für die Jahresringe zwischen 647 und 779, weitere Jahresringsequenzen wurden nach Fotos vermessen und abgeschätzt. Die Wachstumsphase der Eiche begann folglich um 570; der Baum wurde etwa 400 Jahre alt. Hollstein schätzte die am weitesten außen liegende Stelle des geschnitzten Korpus am Stirnscheitel aufgrund dieser Erkenntnisse auf das Jahr 940. Auch hier ging er mit hoher Wahrscheinlichkeit und aus Erfahrung davon aus, dass zur Herstellung nur die etwa 25 Jahre umfassenden äußeren Splintholzjahrringe entfernt wurden und nicht wesentlich mehr an hochwertigem Kernholz verschwendet wurde; daraus ergibt sich eine Fällungszeit um das Jahr 965. Aufgrund der genannten Einschränkungen bei der Untersuchung schätzt Hollstein die Datierung der Skulptur zwar weniger gesichert als beim Kreuz ein, sieht sie aus wissenschaftlicher Sicht jedoch als „wahrscheinlich“ an.
Kunsthistorische Einschätzung und Diskussion der Untersuchung
Das kunsthistorische Resümee von Rolf Lauer im Anschluss an die dendrochronologische Untersuchung greift die wissenschaftlichen Ergebnisse auf und sieht sie als erneute Bestätigung der Frühdatierung des Gerokreuzes. Dieser Auffassung folgten die meisten Autoren bis in die Gegenwart. Demgegenüber steht die Arbeit des Kölner Kunsthistorikers Günther Binding von 1982, der erhebliche Zweifel an den Schlussfolgerungen der Untersuchung erhebt und für eine Datierung ins letzte Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts plädiert. Binding konstatiert, dass es im alten Dom zwei verschiedene Kreuze gegeben habe, und heute nicht mehr geklärt werden könne, von welchem in den historischen Quellen jeweils die Rede sei. Gegen eine Identität mit dem ursprünglichen, von Gero gestifteten Kreuz spreche auch gerade das fehlende Reliquienrepositorium. Kunsthistorisch gebe es zur ersten Jahrtausendwende eine stilistisch geschlossene Gruppe von Kunstwerken, darunter das Lotharkreuz und der Gereon-Sakramentar, in die sich das Gerokreuz nahtlos einordne. Es sei darüber hinaus keinesfalls als sicher anzunehmen, dass nur das Splintholz vom Baumstamm entfernt worden sei, um die Skulptur anzufertigen. Binding datiert aus diesen weiteren Argumenten das „sogenannte Gero-Kruzifix“ in die Amtszeit des Erzbischofs Everger, der auch die ottonische Kölner Malerschule begründet und einige weitere bedeutsame Kunstwerke in Auftrag gegeben habe.
Die meisten jüngeren Arbeiten zum Gerokreuz und seinem Umfeld schließen sich Bindings Interpretation nicht an oder widersprechen ihr explizit als „nicht überzeugend“. Die Autoren eines Aufsatzes von 2008, der sich mit Untersuchungen an einer Reihe von Bildwerken im Osten Deutschlands befasst, kritisieren die Schlussfolgerungen Holsteins aus dendrochronologischer Sicht hingegen als ungenau. Sie schließen die Frühdatierung zwar nicht aus, stimmen der methodischen Kritik Bindings jedoch zu und empfehlen weitere Untersuchungen mit modernen Mitteln, etwa eine Computertomographie oder andere zerstörungsfreie Methoden.
Kunstgeschichtliche und ikonographische Einordnung
Einflüsse
Nach der vergleichsweise spät erfolgten kunstgeschichtlichen Datierung des Gerokreuzes in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts ist immer wieder die Frage gestellt worden, unter welchen Einflüssen dieses Werk der ottonischen Kunst entstanden ist. Eine Herleitung von Typ und Stil zu zeitgenössischen einheimischen Traditionen galt mangels erhaltener Objekte als nicht möglich. Sakrale Monumentalskulpturen, vor allem Heiligenfiguren, aus der vorottonischen Zeit werden zwar in historischen Quellen beschrieben, die meisten von ihnen blieben jedoch nicht erhalten; eine Ausnahme bildet die Goldene Madonna von Essen. Zu typologischen und stilistischen Vergleichen wurden deshalb meistens kleinere Skulpturen, beispielsweise karolingische Elfenbeinschnitzereien, herangezogen.
Einen Schwerpunkt in der kunstgeschichtlichen Rezeption bildet die genaue anatomische Darstellung der Christusfigur: Die Arme sind angespannt, das Gewicht des hängenden Körpers zieht sie nach unten und die Sehnen und Muskeln treten hervor. Beckenknochen zeichnen sich ab, die Brust ist eingedrückt und der Rippenkorb tritt hervor. Die Füße sind getrennt auf dem Suppedaneum festgenagelt. Durch den entstehenden Gegendruck von unten sackt der Oberkörper nach links, ebenso die Beine, an den Knien eingeknickt. Diese spannungsreiche kontrapostische Haltung (Haedeke) mit Stand- und Spielbein findet im Hüftbereich die größte seitliche Ausbiegung (Ponderation). Die Skulptur stellt Christus im Augenblick seines Todes mit „starken Effekten“ dar.
Vergleicht man diese Körperhaltung mit den vorhandenen karolingischen Kleinplastiken, so sind die beschriebenen Typelemente kaum nachzuweisen und nur angedeutet wiederzufinden. Vorottonische Kruzifixe stellen Christus als strahlenden Sieger dar – er steht oder „schwebt“ geradezu aufrecht und mit geöffneten Augen am Kreuz. Ein Beispiel hierzu ist etwa das 1006 entstandene Giselakreuz, das sich heute in der Schatzkammer der Münchner Residenz befindet. Durch diesen augenfälligen Unterschied der Körperhaltung der Christusfigur des Gerokreuzes zu bisherigen westlichen Kruzifixen wurde lange – zuerst von Albert Boeckler – ein starker byzantinischer Einfluss angenommen.
Beispiele für ähnliche, byzantinisch geprägte Werke waren etwa das Sakramentar aus St. Gereon (jetzt in der Französischen Nationalbibliothek Paris) oder das Aachener Lotharkreuz; diese stammen jedoch aus späterer Zeit.
Die stilistischen Unterschiede zwischen dem Gerokreuz und den wenigen erhaltenen byzantinischen Christusdarstellungen werden dennoch als zu deutlich beschrieben, um Byzanz als festes und einziges Vorbild anzunehmen. Im Detail sind Übereinstimmungen zu finden, so etwa in der asymmetrischen Anordnung des Lendenschurzes, die man auch bei einer byzantinischen Elfenbeinplastik aus dem 8. Jahrhundert findet (Metropolitan Museum New York). Ist jedoch beim Gerokreuz vor allem der schmerzverzerrte, leidende Mensch im Mittelpunkt, findet man bei byzantinischen Skulpturen eher einen Christus als stillen, edlen Dulder allen Leidens. In der Form sind diese Figuren außerdem sanfter und fließender und bilden einen ponderierten byzantinischen Typus.
Zusammenfassend werden dem Gerokreuz also verschiedene stilistische und theologische Einflüsse zugeschrieben, bis hin zur völligen Verneinung der byzantinischen Vorbilder (bei Kröger). Haedeke bereits ordnet die ikonographischen Details im Einzelnen fünf verschiedenen Richtungen zu: der malerische Stil und der asymmetrische Lendenschurz sei typisch frühbyzantinisch, die Schärfe und Klarheit der Gewanddarstellung der Strenge der mittelbyzantinischen Romanos-Gruppe geschuldet, während die klassische Körperhaltung antike Vorbilder habe. „Spätantiker Illusionismus“ sei in der ziselierten Gestaltung des Haars zu finden. Aber auch diese Einordnung deutet die wichtigste Eigenart des Gerokreuzes als neu und abendländisch: die harte, asketische Ausdruckskraft, die Spannung und Zerrung der Arme, der körperliche Schmerz sei so auch in Byzanz nicht zu finden. Dort seien Christusfiguren entweder würdevoll repräsentativ oder in ihrem Leiden von „schönheitsvoller Schmerzlichkeit“ geprägt. Bei Haussherr werden außerdem stilistische Parallelen zu Kruzifixbildern in französisch-maasländischen Gebieten (z. B. Reims) aufgezeigt, wie sie noch in karolingischer Zeit vorkamen.
Andere Kruzifixe der Zeit
Eine echte Kontinuität in der Darstellung des gekreuzigten Christus ist – wie beschrieben – vom 10. bis 12. Jahrhundert nicht auszumachen, was die Datierung einzelner Stücke erschwert. Stil- und Typvergleiche beschränken sich deshalb meist auf Details. Bei der Beschäftigung mit dem Gerokreuz werden Vergleiche mit den erhaltenen Kruzifixen des 11. und 12. Jahrhunderts gezogen, darunter der 2003 restaurierte Georgskruzifixus in Köln oder das Mindener Kreuz. Ein in der Dorfkirche des oberbayerischen Ortes Schaftlach (Gmd. Waakirchen) aufbewahrtes Monumentalkreuz wird um 1020 datiert; das Enghausener Kreuz im bayerischen Landkreis Freising wurde nach einer Restaurierung im Jahr 2006 auf eine Entstehungszeit um 890/900 rückdatiert. Zu erwähnen ist auch das Gerresheimer Kruzifix in der Basilika St. Margareta.
Alternative Entstehungstheorien
In einer Arbeit von 1989 stellte Wilhelm Jordan die These auf, das Gerokreuz sei nach dem Turiner Grabtuch bzw. einer Pergamentkopie davon gestaltet worden. Er geht davon aus, dass es sich bei dem 944 nachweislich von Edessa nach Konstantinopel überführten Tuch um das Turiner Grablinnen handelte und dass Erzbischof Gero es deshalb während seines Aufenthaltes in Konstantinopel sehen konnte. Die Radiokarbon-Analyse von 1988, die das Turiner Grabtuch erst in das 14. Jahrhundert datiert, zweifelte Jordan als fragwürdig an.
Jordan konstatierte, dass Gero eine Kopie des Grabtuches auf Pergament nach Köln mitgebracht und hier einen Künstler mit der Anfertigung der Skulptur nach dieser Vorlage beauftragt habe. Die Textstelle aus der Thietmar-Chronik ex ligno studiose fabricari precepit. – „[Das Kreuz] ließ er [Gero] kunstfertig herstellen.“ übersetzt er alternativ mit „ließ er mit Sorgfalt herstellen“, also genau nach dem (Vor-)Bild des Tuches. Eine Reihe von Ähnlichkeiten des Tuches mit der Christusskulptur des Gerokreuzes seien nicht als zufällig anzusehen, so etwa die fast genau übereinstimmende Größe, die Ähnlichkeit des Gesichts, eine „Asymmetrie in Bezug auf die stärker oder geschwollen erscheinende linke Wange“ und eine Anomalie beim rechten Ohr.
Die Rezeption dieser Theorie ist unter Theologen und Kunstwissenschaftlern eher gering. Ein Einfluss des Bildes auf dem Turiner Grabtuch auf spätere Christusdarstellungen ist wohl nicht auszuschließen, allerdings ist nicht wissenschaftlich nachzuweisen, dass die Entstehung des Gerokreuzes direkt mit dem Tuch in Konstantinopel in Zusammenhang steht.
Theologische Aspekte
Neben den geschilderten ikonographischen Details spielt in der Interpretation besonders die Tatsache eine Rolle, dass beim Gerokreuz der tote Christus gezeigt wird. Das Hängen – nicht Stehen – am Kreuz, die geschlossenen Augen und der im Johannesevangelium (19,34) erwähnte Todesnachweis durch den Lanzenstich in die rechte Körperseite sind bezeichnend hierfür.
Altchristliche, frühbyzantinische Darstellungen stellten zwar die Seitenwunde dar, jedoch an einem Gekreuzigten mit weit geöffneten Augen, am Kreuz „stehend oder schwebend“ (Haussherr). Im Abendland hingegen herrschte der Typ des lebenden Triumphators am Kreuz vor. Die Ursachen für eine so deutliche Weiterentwicklung der Ikonographie können nicht unabhängig von theologischen Dogmen und Glaubensentwicklungen betrachtet werden.
Da nun im frühen Mittelalter keine umwälzenden Dogmenveränderungen bekannt sind (wie etwa die Christologie), geht man in der theologischen Interpretation eher von einer Veränderung des abendländischen Christusbildes innerhalb der gegebenen Dogmen aus. Die Entstehungszeit des Gerokreuzes lag genau zwischen der Patristik und dem Beginn der Scholastik. Für das ganze Abendland dürfen allerdings Einflüsse der Cluny-Bewegung angenommen werden, die den Gekreuzigten ins Zentrum des religiösen Denkens stellte (Kröger).
Verwirft man nicht gänzlich den möglichen byzantinischen Einfluss auf das Gerokreuz, so könnte auch der Bilderstreit der Ostkirche im 7. und 8. Jahrhundert eine Rolle bei der veränderten Christusdarstellung gespielt haben. Gerade das Menschsein Christi, das Sterblichkeit und Tod einschließt, galt den Ikonodulen – den Bilder-Verteidigern – als Argument für eine bildliche Darstellung des Erlösers.
Haussherr führt als Beispiel für die Kreuzesfrömmigkeit der betrachteten Zeit eine Gebetssammlung von Petrus Damiani an, in der einerseits die Passion Christi als Sieg über „Sünde, Tod und Teufel“ gefeiert wird, andererseits aber auch schon der Opfercharakter des Kreuzestodes, Demut und Verwundbarkeit des Gekreuzigten herausgearbeitet wurde. Die theologischen Anschauungen über den Charakter des Kreuzestodes variieren in dem betrachteten Zeitraum also ebenso wie die künstlerische Kreuzesdarstellung in dieser Zeit. Bis ins 12. Jahrhundert hinein existierten viele Anschauungen parallel zueinander.
Weitere Belege für den Glaubenshintergrund der mittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen finden sich bei Jonas von Orléans und Bernhard von Angers, die beide ebenfalls das Opfer betonen, den wichtigsten Aspekt der katholischen Eucharistiefeier: Im Messopfer wird das Kreuzesopfer für die Vergebung der Sünden vergegenwärtigt.
Für den karolingischen Einflussbereich des 8. und 9. Jahrhunderts dokumentieren die Libri Carolini den vorherrschenden Kreuzesglauben; hier ist die Rede vom „Banner, Zeichen unseres Siegers“ – betont wird also noch das Gottsein Christi. Allerdings kristallisieren sich schon zu Beginn des 9. Jahrhunderts Sakrament, Messe und die Eucharistie als religiöse Mittelpunkte stärker heraus. Aus dieser Bedeutungsverschiebung lassen sich auch die Veränderung in der bildlichen Darstellung von Kruzifixen deuten: Blut aus der Seitenwunde korrespondiert mit dem Blut des Messopfers; Leiden und Tod des menschgewordenen Gottes, „die Heilstat schlechthin“ werden veranschaulicht und begreiflich gemacht.
Diese theologische Bildaussage des Gerokreuzes wird in späteren wichtigen Arbeiten, etwa von Bernhard von Clairvaux oder Anselm von Canterbury, weiter herausgearbeitet – Bernhard stellt den Menschen Jesus in den Mittelpunkt des Glaubens, Anselm betont vor allem die Erlösung der Menschheit durch den Kreuzestod des „Gottmenschen“.
Siehe auch
Literatur
Hermann Beenken: Romanische Skulptur in Deutschland (11. und 12. Jahrhundert). Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1924, S. 214 f.
Hanns-Ulrich Haedeke: Das Gerokreuz im Dom zu Köln und seine Nachfolge im 11. Jh., in: Kölner Domblatt 14–15 (1958), S. 42 ff.
Reiner Haussherr: Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes. Dissertation, Universität Bonn 1963.
Max Imdahl: Das Gerokreuz im Kölner Dom. (= Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universalbibliothek; B 9097). Reclam, Stuttgart 1964.
Rudolf Wesenberg: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schule rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Schwann, Düsseldorf 1972, ISBN 3-508-00179-2.
Günther Binding: Die Datierung des sogenannten Gero-Kruzifixes im Kölner Dom. in: Egon Boshof (Hrsg.), Archiv für Kulturgeschichte, Band 64, Heft 1, Böhlau Verlag, Köln/Wien.
Wilhelm Jordan: Das Gerokreuz in Köln und das Turiner Grablinnen. Neue Entdeckungen. Queckenberg, 1989.
Christa Schulze-Senger, Bernhard Matthäi, Ernst Holstein, Rolf Lauer: Das Gero-Kreuz im Kölner Dom. Ergebnisse der restauratorischen und dendrochronologischen Untersuchung im Jahre 1976, in: Jahrbuch der rheinischen Denkmalpflege, 32, 1987, S. 11–54.
Ludwig Kröger: Das Gero-Kreuz im Kölner Dom und seine glaubensdidaktische Vermittlung. Diplomarbeit, Universität Bonn 1989 (Exemplar: Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln).
Bruno Klein: Das Gerokreuz. Revolution und Grenzen figürlicher Mimesis im 10. Jahrhundert, in: Bruno Klein, Harald Wolter-von dem Knesebeck (Hrsg.), Nobilis Arte Manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten. Selbstverlag Bruno Klein, Dresden 2002, ISBN 3-00-009205-6, S. 43–60.
Manuela Beer: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. in: Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer, Michael Imhof (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte, 2002, ISBN 3-932526-91-0, S. 129–152.
Günther Binding: Noch einmal zur Datierung des sogenannten Gero-Kreuzes im Kölner Dom. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. 64/2003, S. 321–328. Online (PDF; 122 kB).
Tilo Schöfbeck, Karl-Uwe Heußner: Dendrochronologische Untersuchungen an mittelalterlichen Kunstwerken zwischen Elbe und Oder. in: Peter Knüvener, Adam Labuda und Dirk Schumann (Hrsg.), Tradition – Transformation – Innovation. Die bildende Kunst des Mittelalters in der Mark Brandenburg. Lukas Verlag, Berlin 2008, S. 172–187.
Weblinks
Seite des Kölner Doms zum Gerokreuz
Anmerkungen
Weltkulturerbe Kölner Dom
Ottonische Kunst
Kruzifix (10. Jahrhundert) |
910975 | https://de.wikipedia.org/wiki/Nordreich%20Israel | Nordreich Israel | Das Nordreich Israel war ein Staat, der während der Eisenzeit (9./8. Jahrhundert v. Chr.) im östlichen Mittelmeerraum bestand. Die königliche Residenz war Samaria. Das Nordreich Israel ist aus den biblischen Königsbüchern bekannt, die allerdings mit deutlichem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen verfasst wurden. Es wird außerdem in außerbiblischen Quellen seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. erwähnt. In assyrischen Quellen heißt es auch „Haus Omri“ (Bīt Ḫumrī) oder „Land Omri“ (KUR(māt) Ḫu-um-ri-i). Es fand sein Ende in der Eroberung durch die Assyrer 722/720 v. Chr. „Nordreich“ ist eine in der Fachliteratur übliche Präzisierung, da mit „Israel“ in der Hebräischen Bibel auch eine Ethnie oder eine Glaubensgemeinschaft bezeichnet werden kann.
Unter der Königsdynastie der Omriden war Israel im 9. Jahrhundert v. Chr. ein unabhängiger Staat, der im Bündnis mit Aram-Damaskus und anderen kleineren Staaten die assyrische Expansion nach Syrien-Palästina mittelfristig erfolgreich aufhalten konnte. Im 8. Jahrhundert v. Chr. war Israel assyrischer Vasall. Das hatte nicht nur Nachteile. Israel nahm nun am internationalen Handel teil und produzierte vor allem Olivenöl und Textilien für den Export. Die lange Regierungszeit Jerobeams II. gilt als zweite Blütezeit, die durch Wohlstand, Bevölkerungswachstum, aber auch gesellschaftliche Polarisierung gekennzeichnet war.
Quellen
Für die Geschichte des Nordreichs Israel stehen archäologische Befunde von mehreren Grabungsstätten, zeitgenössische außerbiblische Texte und die biblischen Bücher der Könige zur Verfügung.
Die Bücher der Könige wurden mit erheblichem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen verfasst (6. Jahrhundert v. Chr.), sie setzen in ihrer heutigen Form das Ende des Nordreichs Israel und des Südreichs Juda voraus und wollen erklären, wie es so weit kommen konnte. Manche Exegeten nehmen eine „erste Ausgabe“ an, die im Südreich Juda zur Zeit von König Joschija (7. Jahrhundert v. Chr.) abgefasst worden sei: „Somit zeugen sie viel mehr von der Zeit, in der sie verschriftlicht wurden (7. oder 6. Jahrhundert v. Chr.), als von der Zeit, von der sie erzählen.“ (Barbara Schmitz) Trotzdem und mangels anderer Quellen entnimmt man den Königsbüchern Informationen zu Namen und Regierungszeiten der Könige Israels. In den beiden Königsbüchern werden Angaben zur Regierungszeit der Könige des Nordreichs Israel gemacht, die durch Synchronismen zu den Regierungszeiten der Könige des Südreichs Juda in Beziehung gesetzt werden. Die Synchronismen sind das Werk einer in Jerusalem ansässigen Redaktion, die auf listenartiges Material aus beiden Reichen zugreifen konnte. Ungereimtheiten entstanden durch unterschiedlich gezählte Koregentschaften und Jahresanfänge im Frühjahr bzw. im Herbst. Wenn man mit der Möglichkeit rechnet, dass die Herrscher Ahasja, Joram und Joasch von Israel und Ahasja, Joram und Joasch von Juda nicht zufällig gleich hießen, sondern dass es sich dabei auch um die gleichen historischen Personen handelt, bedeutet das, dass die Verfasser der Königsbücher die Geschichte beider Staaten im 9. Jahrhundert v. Chr. stark umgeschrieben haben. Diese These wird im deutschsprachigen Raum von Christian Frevel vertreten.
Im 9. Jahrhundert v. Chr. begegnen Israel und Juda erstmals als politische Akteure in außerbiblischen Quellen, insbesondere auf der schon seit 1868 bekannten Inschrift der Mescha-Stele in moabitischer Sprache, zu der 1993 die fragmentarische aramäische Tel-Dan-Inschrift kam. 2003 tauchte auf dem Antikenmarkt eine angeblich aus Jerusalem stammende, althebräische Joasch-Inschrift auf, die jedoch als Fälschung eingeschätzt wird. Daraus folgt, dass weiterhin keine Monumentalinschrift eines Königs von Israel oder von Juda bekannt ist. In assyrischen Quellen ist mehrfach von Samaria oder vom Haus Omri die Rede. Unter diesen Quellentexten in akkadischer Sprache haben folgende für die Geschichte des Nordreichs Israel besonderes Gewicht:
Geographie
Das Kernland von Israel war das Bergland mit dem Zentrum Samaria. Es besaß fruchtbare Täler, in denen Getreide angebaut wurde, während sich die Berghänge terrassieren und für Oliven- und Weinanbau nutzen ließen. Nördlich davon, bei Megiddo, schloss sich die Jesreelebene an. Nicht durchgängig, sondern nur in den Blütezeiten des Reichs konnten die Könige des Nordreichs diese kontrollieren. Dann hatten sie Zugriff auf ein sehr reiches landwirtschaftliches Gebiet. Außerdem verlief hier eine wichtige Fernhandelsroute zwischen Ägypten und Mesopotamien. Auf nebenstehender Landkarte gehört Dor an der Mittelmeerküste mit seinem Naturhafen zum Territorium Israels. Im archäologischen Befund ist das nicht eindeutig zu belegen. Es lässt sich lediglich wahrscheinlich machen. Israel Finkelstein hält Dor für den wichtigsten Hafen des Nordreichs. Atlit, 12 km weiter nördlich, war nach Finkelstein ein phönizischer Handelsposten an der israelitischen Küste.
Juda, Israels Nachbarstaat im Süden, hatte aufgrund seiner kärglicheren Landesnatur einen Entwicklungsrückstand von über 100 Jahren gegenüber Israel. Daraus folgte im 9. und bis ins 8. Jahrhundert eine starke Abhängigkeit vom Nordreich Israel. Eine eigenständige Politik war für Juda erst im 8. Jahrhundert und verstärkt sogar erst nach dem Untergang des Nordreichs möglich.
Geschichte
Hintergrund: Assyrische Expansion
Palästina befand sich aufgrund seiner geografischen Lage stets im Spannungsfeld zwischen Ägypten und Mesopotamien. Hintergrund der gesamten Geschichte Israels ist die Expansion des neuassyrischen Reichs in den syrisch-palästinischen Raum. Nach dem Palästina-Feldzug des Pharaos Scheschonq I. 920/917 v. Chr. folgte eine Periode außenpolitischer Schwäche Ägyptens. Und als Ägypten in Palästina mit der antiassyrische Koalition mit den Kleinstaaten der südlichen Levante, 713 v. Chr. wieder stärker aktiv wurde, existierte das Nordreich Israel bereits nicht mehr.
Erstmals machte sich das Erstarken Assurs am Ende des 10. Jahrhunderts unter Adad-nirari II. (912–891) durch Feldzüge gegen Babylonier und Aramäer bemerkbar. Assur-nasirpal II. (884–859) gewann Staaten im Westen seines Reiches als Vasallen hinzu. Sein Nachfolger Salmanassar III. (859–824) vergrößerte das Territorium Assurs weiter, wobei aber das Reich von Urartu die Expansion im Norden aufhielt. Die verbündeten aramäischen Kleinstaaten leisteten im Westen Widerstand. Den Höhepunkt der Annexionspolitik bildete die Herrschaft von Tiglat-pileser III. (745–727), die auch religiös legitimiert wurde: Nach offizieller assyrischer Ideologie hatten die Götter dem König von Assur zusammen mit dem Königtum auch die Weltherrschaft verliehen. Der Altorientalist Andreas Fuchs erläutert, dass die Assyrer daher niemals der Meinung gewesen seien, einen Angriffskrieg zu führen. Ihr König „setzte vielmehr nur sein gutes Recht dort durch, wo ihn böse Menschen an dessen Wahrnehmung hinderten.“ Aus dieser Grundannahme resultierte eine brutale Kriegführung. Weniger eine innovative Waffentechnik als die Kampferfahrung durch ständige Einsätze und die zahlenmäßige Überlegenheit der assyrischen Streitmacht gelten als Gründe für den Erfolg Assurs.
Die kleineren Staaten an der Peripherie, darunter Israel, reagierten auf die assyrische Bedrohung nach einem sich wiederholenden Muster: Konfrontiert mit starker assyrischer Präsenz, unterwarfen sie sich und zahlten Tribut. Ließ der assyrische Druck nach, bildeten sie Koalitionen untereinander und stellten die Zahlungen an Assur ein. Die Zentrale reagierte nach Möglichkeit direkt durch militärische Strafmaßnahmen, erhöhte Abgabenforderungen und Gebietsverkleinerungen. Widerständige Bevölkerungsgruppen wurden in andere Gebiete des Reichs deportiert und an ihrer Stelle neue Bevölkerungsgruppen, die aus anderen Reichsteilen stammten, angesiedelt (Zwei-Wege-Deportation).
Stammesverbundsstaat
Bei seinem Palästinafeldzug stieß Pharao Scheschonq I. 920/917 v. Chr. von Gaza über Geser nach Megiddo vor, ohne dass sich ihm im Süden oder Norden Palästinas ein für das ägyptische Militär ernstzunehmender Gegner in den Weg gestellt hätte. Eine Siegesinschrift, die im Tempel von Karnak angebracht wurde, listet 150 Orte auf, die Scheschonq verwüstete; sie liegen im Bergland Palästinas sowie in der Jesreel- und Küstenebene. Für das Netz von Dörfern des Berglandes war dieser einmalige Vorstoß Ägyptens nicht so folgenreich, aber den spätbronzezeitlichen Städten der Jesreelebene, die gerade in einer Aufwärtsentwicklung waren, bereitete Scheschonqs Feldzug ein jähes Ende: Tel Rechov, Bet Sche’an, Taanach und vor allem Megiddo. Hier entstand ein Machtvakuum. Für die Menschen im nördlichen Bergland bot es die Gelegenheit, ein eigenes Königreich zu etablieren.
Als erster König Israels wird Jerobeam I. gezählt. Dass seine Regierungsjahre überliefert sind, deutet auf den Beginn königlicher Annalenschreibung hin. Doch herrschte er nur über einen Stammesverbundsstaat, einen „Kleinststaat des Berglandes.“ Später war das Nordreich ein „potenter Flächenstaat“, eine Mittelmacht der südlichen Levante. Aber für die Zeit Jerobeams I. gilt das noch nicht. Das Territorium des Nordreichs umfasste nämlich nicht von Anfang an das gesamte Gebiet von Dan im Norden bis Bet-El im Süden. Dies sind vielmehr Vorstellungen, die aus dem theologischen Konzept von der Aufteilung des Landes an die Zwölf Stämme Israels und dem Davidisch-salomonischen Großreich abgeleitet wurden. Andere regionale Akteure waren zunächst mächtiger: In Syrien wurde Aram-Damaskus im Verlauf des 9. Jahrhunderts immer stärker und brachte unter anderem das aramäische Reich von Geschur (Gegend um den See Genezareth) unter seine Kontrolle, mit der Tendenz, sich weiter Richtung Süden auszudehnen. Über die aramäischen Häuptlingstümer weiß man noch wenig, ihr kultureller Einfluss auf das Nordreich Israel dürfte aber erheblich gewesen sein. Hier ist die Ausgrabung eines aramäischen Zentralorts der Eisenzeit IIB in et-Tell/Bethsaida hervorzuheben. Möglicherweise ist et-Tell das eisenzeitliche Geschur, aber diese Identifikation ist nicht sicher. Zu den Funden gehört eine Kultinstallation mit einem Podium und einer Basaltstele, die wahrscheinlich eine Mondgottheit in Stiergestalt darstellt. Ikonographisch interessant ist die Kombination von abstrakt-symbolischer und tiergestaltiger Darstellungsweise der Gottheit.
An der Küste befanden sich als weitere regionale politische Akteure die Stadtstaaten Tyros und Sidon sowie weiter südlich die Städte der Philister.
Erste Blütezeit unter den Omriden
Ein Heerführer namens Omri (882/878 – 871/870) gründete die erste Dynastie des Nordreichs, das in dieser Phase territoriale Staatlichkeit und politische Bedeutung erreichte. Die Interessen dieses aufstrebenden Staates waren nach Norden und nach Osten gerichtet. Kurzzeitig kontrollierte Israel auch die Jesreelebene, Bet Sche’an und Galiläa, wirtschaftlich prosperierende Gebiete.
Heiratspolitik
Von Omri sind weder ein Herkunftsort noch der Vatersname bekannt. Er agierte innen- und außenpolitisch sehr geschickt. Die Verheiratung seines Sohnes und Thronfolgers Ahab mit der phönizischen Königstochter Isebel (von der Bibel negativ bewertet: ) brachte Israel politische und wirtschaftliche Vorteile.
Ahab und Isebel hatten die zwei Söhne Ahasja und Joram und eine Tochter Atalja. Die Namengebung der Kinder zeigt, dass JHWH von ihnen als höchste Gottheit verehrt wurde.
Unter der Annahme, dass die Königebücher die massive Abhängigkeit Judas von Israel im 9. Jahrhundert verschleiern, ergibt sich folgendes Szenario: Die beiden Söhne Ahabs teilten die Herrschaft über Samaria und Jerusalem untereinander auf, wobei sie anscheinend einmal die Rollen tauschten; das Reich Juda war als Sekundogenitur dem Nordreich Israel zugeordnet. Solche Sekundogenituren sind aus der Umwelt Israels mehrfach bezeugt. Atalja war Schwestergemahlin von Joram.
Folgt man der biblischen Darstellung und unterscheidet den Omriden Joram in Samaria und den Davididen Joram in Jerusalem, so wäre Atalja mit letzterem verheiratet worden, um Juda eng an Israel zu binden.
Über Vermutungen kommt man nicht hinaus, da die Königsbücher eine rein davidische Dynastie für das Südreich Juda konstruieren. Christian Frevel betont aber, man müsse sich, um den Geschichtsverlauf rekonstruieren zu können, von der Erzählung der Königsbücher lösen.
Baumaßnahmen
Repräsentative Bauten in Samaria, Megiddo, Geser, Jesreel und anderen Orten dienten der Herrschaftskommunikation der Omriden.
Omri ließ um 880 v. Chr. Samaria zur königlichen Residenz ausbauen, was auch im archäologischen Befund erkennbar ist. Der Ort bot sich durch seine verkehrstechnisch günstige Lage an. Es gab zuvor ein schlichtes Dorf oder Gehöft auf der Anhöhe, das Omri einebnen ließ. Da die Lage auf einem Hügel nicht genügend Platz für Repräsentationsbauten bot, wurde mit großem Aufwand Erde zu einer künstlichen Plattform aufgeschüttet, die von einer Stützmauer umzogen wurde. Die Erdfüllung war stellenweise fast 6 m hoch; die Kasemattenkammern der Mauer, die ebenfalls mit Erde gefüllt waren, sollten den Druck der Füllung auffangen. Die so geschaffene Akropolis war etwa 2 ha groß. Der nur teilweise ergrabene Palast zeigt (so Israel Finkelstein) das qualitätvollste eisenzeitliche Mauerwerk, das Archäologen in Israel/Palästina freigelegt haben. Das Hauptgebäude hat eine Grundfläche von etwa 2000 m2. Protoäolische Kapitelle, die die Archäologen im Schutt fanden, hoben wahrscheinlich das Haupttor hervor. Andere Archäologen ordnen die Kasemattenmauer allerdings erst dem 8. Jahrhundert, also wahrscheinlich der Herrschaft Jerobeams II., zu.
Hazor wurde als Grenzfestung gegen die Aramäer ausgebaut. Es war die bedeutendste Stadt der Omriden im Norden, wo sie aramäische Gebiete beanspruchten. Geser dagegen war der Grenzort Israels im Südwesten.
In Jesreel sollte wohl die Kavallerie des Nordreichs stationiert werden. Hier gab es gute Voraussetzungen für die Pferdehaltung, so ließen sich Wasser, Gerste und Heu aus der Umgebung leicht bereitstellen. Eine militärische Nutzung der Anlage ist jedenfalls plausibler als der von der früheren Forschung hier vermutete „Winterpalast“ der Könige Israels. Diese Deutung war letztlich den biblischen Erzählungen geschuldet, die in Jesreel spielen (z. B. Nabots Weinberg, ). Wie in Samaria hatten die Erbauer in Jesreel ein künstliches Plateau aufgeschüttet, das mit einer Kasemattenmauer umfangen war. Da Jesreel nur kurzzeitig im 9. Jahrhundert bewohnt war, bot sich den Archäologen hier die Gelegenheit, Kriterien für omridische Architektur und Keramik zu entwickeln, die sich für andere Orte mit komplexer Besiedlungsgeschichte nutzen ließen.
Sowohl in Hazor als auch in Megiddo schufen die Baumeister der Omriden aufwändige Tunnelsysteme, um die Versorgung mit Trinkwasser zu sichern. Dabei ging es nicht nur um den praktischen Wert einer solchen Anlage im Fall der Belagerung, sondern auch um das Prestige, das der königliche Bauherr damit gewann. Unter den Palastbauten ist der Südpalast von Megiddo hervorzuheben, der dem nordsyrischen bit-ḫilani-Typ folgte und eine Grundfläche von etwa 20 × 35 m hatte. Auch hier wurden zwei protoäolische Kapitelle gefunden, wahrscheinlich gehörten sie zum Palasttor. Interessant ist der Gebäudetyp des Pfeilerbaus, dem man an mehreren Orten begegnet. Für Megiddo ist eine Nutzung als Pferdeställe wahrscheinlich gemacht worden. Über die Nutzung der Pfeilerbauten an anderen Orten besteht kein Konsens; anscheinend waren sie multifunktional und konnten z. B. als Lagerräume dienen.
Unter Omri griff Israel ins Ostjordanland aus und brachte Moab unter seine Oberherrschaft, wobei Atarot (Ḫirbet ʿAṭārūs) und Jahaz (Ḫirbet el-Mudēyine eṯ-Ṯemed) als Grenzfestungen ausgebaut wurden. Diese beiden Festungen, die in der Mescha-Inschrift erwähnt werden, zeigen architektonische Merkmale, die von omridischen Bauten in Samaria, Jesreel, Megiddo VA–IVB, Hazor X und Gezer VII bekannt sind: Podien, Kasemattenmauern, Torbauten, Glacis und Graben. Das von der Befestigung umschlossene Areal hat meist einen rechteckigen Grundriss (Ausnahme: Hazor) mit großen Freiflächen zwischen den Gebäuden.
Schlacht bei Qarqar
Omris Sohn Ahab (871/870 – 852/851) verfügte über eines der größten Berufsheere in der Region und setzte die Expansionspolitik zunächst erfolgreich fort, wie die Inschrift der Mescha-Stele belegt. Er beteiligte sich an einem antiassyrischen Bündnis, dem unter anderem die phönizischen Städte und Aram-Damaskus angehörten und das der assyrischen Streitmacht unter Salmanassar III. in der Schlacht bei Qarqar (853 v. Chr.) entgegentrat. Die Taktik der Assyrer scheint generell darin bestanden zu haben, den Gegner in einer ersten Phase durch einen Hagel von Pfeilen sturmreif zu schießen und darauf den Angriff mit Streitwagen folgen zu lassen, von dem man die militärische Entscheidung erwartete.
Nach der Inschrift auf dem Kurkh-Monolith stellte Ahab das größte Kontingent von Streitwagen in der antiassyrischen Koalition. Die in dieser assyrischen Quelle genannten Zahlen wurden immer wieder von Historikern angezweifelt: Ahab hätte demnach 2000 Streitwagen und 10.000 Fußsoldaten eingebracht. Er hätte ungefähr so viele Streitwagen zur Verfügung gehabt wie das gesamte assyrische Heer. Mit Nadav Na’aman hält Hermann Michael Niemann 200 Streitwagen für ein realistisches Kontingent, das Israel unter Ahab hätte stellen können. Eher widerwillig brachte Ahab, so Niemann, die Streitwagentruppe in die antiassyrische Koalition ein. Was von dieser prestigeträchtigen Militäreinheit nach der Schlacht von Qarqar noch übrig war, ist nicht bekannt. Salmanassar beanspruchte auf dem Kurkh-Monolithen zwar den Sieg für sich, aber die direkten Konsequenzen sprechen dafür, dass er unterlag. Denn Salmanassar brach seinen Vorstoß ab und kehrte nach Assyrien zurück.
Ende der Omridendynastie
Nach Omer Sergi war das Engagement in der antiassyrischen Koalition in den Jahren 853–845 v. Chr. auf Dauer eine Überforderung der militärischen Möglichkeiten der kleineren Verbündeten. Am meisten hatte Hamat zu leiden, auf dessen Gebiet die Kämpfe ausgetragen wurden. Aufgrund des anhaltenden assyrischen Drucks scherte es aus der Koalition aus und unterwarf sich den Assyrern. Auch Israel war militärisch damit überfordert, immer wieder Kontingente weit gen Norden zu schicken, um sich an diesen Kämpfen zu beteiligen. Das zeigte sich deutlich, als Mescha von Moab Festungen der Omriden im Ostjordanland einnehmen konnte. Joram von Israel versuchte vergeblich, die Oberhoheit des Nordreichs über Moab wiederherzustellen – ein Indiz schwindender militärischer Stärke. Nun bereitete auch Samaria seinen Übergang in ein assyrisches Vasallenverhältnis vor. Damit machte sich Joram freilich Aram-Damaskus, den früheren Verbündeten, zum Feind. Joram hielt die Situation für günstig, gerade dann, als die Assyrer Damaskus angriffen, selbst auf aramäisches Territorium, nach Gilead, vorzustoßen. Bei Ramot-Gilead kam es zur Schlacht mit den Aramäern. Joram von Israel erlitt eine Niederlage und fiel in diesen Kämpfen wahrscheinlich, ebenso Ahasja von Juda. Möglicherweise bekamen die siegreichen Aramäer bei dieser Schlacht auch Jehu, den Heerführer Israels, in ihre Gewalt, begnadigten ihn aber und installierten so einen Vasallen auf dem Thron von Samaria.
Dynastie der Jehuiden (oder Nimschiden)
Jehus „Revolution“
Mit Jehu (Jehu ben Joschafat ben Nimschi) bestieg ein Usurpator den Thron und begründete eine Dynastie, die mit fünf Generationen die am längsten regierende Dynastie des Nordreichs war. Er zahlte 841 v. Chr. Tribut an die Assyrer; durch seine Erwähnung auf dem Schwarzen Obelisken ist hier ein fixes außerbiblisches Datum gegeben. Damit blieb er außenpolitisch der von Joram eingeschlagenen Linie treu. Aber wann kam Jehu an die Macht? Setzt man die biblischen Angaben der Regierungsjahre seiner Vorgänger Ahasja und Joram als zuverlässig voraus, so putschte Jehu im gleichen Jahr 841. In diesem Fall bleibt kein Spielraum für eine eigenständige Politik bzw. Kooperation mit Hasael von Damaskus, der bei seinem Putsch eventuell im Hintergrund stand, sondern Jehu unterwarf sich unmittelbar den Assyrern. Um dieses Szenario zu vermeiden, wird der Putsch Jehus traditionell etwas früher datiert, auf das Jahr 845 v. Chr. Dann lässt sich die Tel-Dan-Inschrift auf diese Vorgänge beziehen. Nach dem weit verbreiteten Verständnis des fragmentarischen Textes rühmt sich der Verfasser, die Könige Joram von Israel und vermutlich Ahasja von Juda (dem hier sogenannten „Haus Davids“) getötet zu haben, Aktionen, die die Bibel Jehu zuordnet. Schon wegen der aramäischen Sprache der Inschrift ist unwahrscheinlich, dass Jehu eine solche Stele setzen ließ. So wird meist Hasael von Damaskus als Verfasser vermutet, wozu auch der Fundort Tel Dan als Grenzort gut passt. Dass Jehu allerdings mit aramäischer Unterstützung putschte, um sich dann gegen aramäische Interessen den Assyrern zu unterwerfen, ist sehr spekulativ. Die in der Fachliteratur übliche Bezeichnung des Militärputschs als „Revolution Jehus“ ist der biblischen Darstellung verpflichtet, wonach Jehu mit einem Brief die Stadtaristokratie zur Teilnahme aufforderte ().
In Jerusalem hielt sich mit Atalja zunächst eine Angehörige der Omridendynastie nach dem Tod ihres Mannes an der Macht. Es scheint aber, dass die Jerusalemer Eliten erkannten, dass sich auf die Dauer keine Politik gegen die Interessen Samarias machen ließ, wo nun die Nimschiden an der Macht waren. Atalja wurde also ermordet und durch Joasch ersetzt, ein Kind, dessen davidische Abstammung, wie Christian Frevel vermutet, von den biblischen Autoren fingiert wurde; in Wirklichkeit habe es sich um einen Angehörigen der Nimschi-Familie gehandelt.
Aramäischer Feldzug
Trotz aller Anstrengungen gelang es Salmanassar III. nicht, Damaskus zu erobern. Nun wurde deutlich, dass die Aufkündigung des Bündnisses mit Aram-Damaskus Israel einen Preis kosten würde. Hasael von Damaskus stieß ab etwa 837 von Norden auf das Territorium Israels vor. Einen Zerstörungshorizont, der sich diesem Feldzug Hasaels zuordnen lässt, findet man an verschiedenen archäologischen Stätten: Hazor IX, Megiddo VA–IVB, Tel Jokneam XIV, Jesreel und Taanach IIB. Von Israel blieb nur mehr das Kerngebiet im Bergland von Samaria übrig, der ganze Norden fiel an Hasael, der Dan, Hazor und Bethsaida als aramäische Städte ausbaute. Damit nicht genug: an der Küste stieß Hasael bis weit in den Süden vor. Er zerstörte Tell es-Safi/Gat (um 830, vgl. und ). Seine Expedition in den Süden zielte wahrscheinlich darauf, den Kupferhandel mit den Edomitern unter seine Kontrolle zu bekommen. Joasch von Juda erreichte durch hohe Tributzahlung, dass Hasael Jerusalem verschonte ().
Zweite Blütezeit Israels unter Joasch und Jerobeam II.
Das Kräfteverhältnis verschob sich wieder zugunsten Israels in der Zeit von Adad-nīrārī III. Joasch von Israel (800–785) zahlte diesem assyrischen Herrscher 796 v. Chr. Tribut, während die Aramäer unter starkem assyrischem Druck standen. Joaschs Sohn und Nachfolger Jerobeam II. (785–745) gelang es, Israel zu konsolidieren und an die Aramäer verlorene Gebiete im Norden teilweise zurückzugewinnen. Mit der Jesreelebene, Gilead, Baschan und Galiläa sowie den Städten Hazor und Abel-Bet-Maacha kontrollierte Samaria wieder wirtschaftlich starke Regionen, in denen Textilien hergestellt wurden, ein wichtiges Exportgut Israels. Das Süd- und Westufer des Sees Genezareth gehörte zum Nordreich Israel, das Nord- und Ostufer verblieb allerdings bei Aram-Damaskus. Eine archäologische Stätte, an der man diese Entwicklung nachvollziehen kann, ist Tell el-Oreme/Kinneret, ein Ort, der in Stratum II zur israelitischen Grenzfestung ausgebaut wurde. In dieser zweiten Blütezeit des Nordreichs Israel fällt auch der Ausbau Megiddos zum Verwaltungszentrum (Stratum IVA). Adad-nīrārī III. übertrug anscheinend seinem Vasallen Israel die Kontrolle über die Handelsroute nach Arabien, da es den Assyrern reichte, ihre Interessen hierbei indirekt gewahrt zu wissen.
Antiassyrische Koalition und Fall Samarias
Im Jahr 738 v. Chr. erhielt der assyrische Herrscher Tiglat-pileser III. Tribut von Menahem von Israel und Rezin von Damaskus. Er war danach aber militärisch im Osten und Süden seines Reichs gebunden, und die lokalen Akteure im syrischen Raum nutzten dies, um ihren Widerstand gegen die assyrischen Oberherrschaft zu organisieren. Als Tiglat-Pileser III. im Jahr 734 v. Chr. an der Küste entlang bis zur ägyptischen Grenze (bei Gaza) vorstieß, beeilten sich die Kleinstaaten Juda, Ammon, Moab und Edom, ihm Tribut zu entrichten. Rezin von Damaskus, Hiram II. von Tyros und Pekach von Israel dagegen erneuerten die frühere antiassyrische Koalition. Sie drängten Ahas von Juda, ihrem Bündnis beizutreten, der sich jedoch klugerweise weigerte – hier erkennt man, wie das Südreich sich aus der Dominanz des Nordens löste und versuchte, einen eigenen politischen Weg zu gehen. Juda blieb getreuer assyrischer Vasall und bat die Assyrer möglicherweise um Militärhilfe. In der alttestamentlichen Fachliteratur wird dieser Konflikt traditionell als Syrisch-Ephraimitischer Krieg bezeichnet. Es ist aber nicht deutlich, ob es überhaupt zu einer militärischen Konfrontation zwischen Damaskus, Israel und Juda kam. Jedenfalls griff Tiglat-pileser III. die Koalition seiner Gegner 733 an. Damaskus fiel im Jahr 732 v. Chr. und wurde in eine assyrische Provinz umgewandelt. Israel verlor Galiläa, die Jesreelebene, Megiddo, Dor und Transjordanien, Gebiete, aus denen die Assyrer zwei neue Provinzen Megiddo und Karnajim formten. Das Nordreich Israel war zu einem Rumpfstaat zusammengeschmolzen und hatte seine wirtschaftlich stärksten Gebiete verloren; hinzu kam die Deportation von Teilen der Bevölkerung. Pekach wurde von den Assyrern abgesetzt, die Hoschea als neuen König in Samaria auf den Thron hoben. Dieser verhielt sich anfangs auch als assyrischer Vasall und zahlte Tribut; auf die Nachricht vom Tod Tiglat-Pilesers III. hin wagte er jedoch den Aufstand.
Salmanassar V. belagerte Samaria ab 724 v. Chr. Es gelang ihm, Hoschea gefangen zu nehmen; 722/721 nahm er die Stadt ein. Da er aber vor der vollständigen Eroberung verstarb, führte sein Nachfolger Sargon II. das Werk zu Ende und musste anscheinend Samaria im Jahr 720 ein zweites Mal erobern. Nun wurde Samaria und Umland in eine assyrische Provinz umgewandelt. Hierbei gibt es allerdings eine Merkwürdigkeit. Eine zwei- bis dreijährige Belagerung und anschließende Zerstörung Samarias wird weder durch außerbiblische Texte noch durch archäologische Befunde bestätigt. Die Bibel berichtet eine Belagerung und Einnahme, aber keine Zerstörung Samarias. Hermann Michael Niemann schlägt deshalb vor, die Akropolis von Samaria nicht als Hauptstadt im eigentlichen Sinn zu sehen, sondern als königliche Residenz, die den Herrschern des Nordreichs zu Repräsentationszwecken diente und deren Befestigung nur ausgereicht habe, um herumstreifende aramäische Banden von einem Raubzug abzuhalten. So seien die Assyrer problemlos in Samaria eingedrungen und hätten König Hoschea gefangengesetzt. Zu propagandistischen Zwecken ließ Sargon II. die frühere Residenz als Hauptstadt der Provinz Samarien (Šāmirīna) ausbauen und wurde so zum eigentlichen Stadtgründer Samarias.
Als assyrische Untertanen befanden sich die Israeliten in der gleichen Situation wie die Assyrer selbst, da es so etwas wie ein assyrisches Bürgerrecht und damit verbundene Privilegien nicht gab. Aus der Sicht des Königs und seines Machtapparats waren die Untertanen lebendes Inventar und konnten auf dem Gebiet des Reichs so hin- und hergeschoben werden, wie er das für nützlich hielt. Ein erwünschter Nebeneffekt war, dass die durch Deportationen durcheinandergewürfelten Bevölkerungen uneinig und zu einem geschlossenen Widerstand unfähig waren. Die in der Bibel berichtete Deportation () entspricht den historischen Tatsachen. Deportiert wurde nur eine Minderheit: städtische Eliten und Spezialisten. Insbesondere die Streitwagenkämpfer waren solche Spezialisten, sie wurden der assyrischen Armee eingegliedert. Aufgrund ihrer Personennamen, die den Namen des Gottes JHWH enthalten, lassen sich in assyrischen Quellen rund 50 deportierte Personen an ihrem neuen Wohnort mehr oder weniger sicher identifizieren. Einzelne Deportierte machten demnach Karriere beim Militär oder in der Beamtenschaft, andere wurden als Bürgen oder Zeugen in juristischen Texten erwähnt. Aufgrund dieser Lebenszeichen der Exilierten erklärt Manfred Weippert den in der Spätantike aus 2 Kön 17,23 herausgesponnenen Mythos der Zehn Verlorenen Stämme und ihrer Schicksale für „ein Produkt exegetischer Phantasie, … das sich hart an der historischen Wirklichkeit stößt.“ Auch die in der Wissenschaft vertretene Variante, alle Exilierten seien im Schmelztiegel des Neuassyrischen Reichs aufgegangen und hätten ihre Identität verloren, sei zu revidieren.
Die Mehrheit der Bevölkerung des Nordreichs wurde nicht deportiert, sondern blieb, wo sie war. „Die Ansiedlungen neuer Bevölkerungselemente in Samaria und Samarien brachten […] neue kulturelle Impulse in die Region, doch war ethnische und kulturelle Inhomogenität hier nichts Neues.“ (Angelika Berlejung)
Militär
Dass die Dynastiegründer Omri und Jehu zum Militäradel gehörten, ist typisch für eisenzeitliche Könige in der Levante: Damaliges Königtum war die „Herrschaft einer Ritterkaste über eine bäuerliche, in Dorf- und Stammesgemeinschaften lebende Bevölkerung,“ so Christoph Levin.
Schon die ersten Könige Israels hatten eine Streitwagentruppe aufgebaut, obwohl diese im bergigen Kernland Israels kaum einsetzbar war. Sie wollten in die Ebenen vorstoßen. Dort gab es mehrere lukrative Ziele: Scharonebene, Jesreelebene, Untergaliläa, Hule-Becken, Jordantal, Bucht von Besan, Golan, Baschan, Mischor. Ahab konnte ein bedeutendes Streitwagenkontingent in der Schlacht bei Qarqar einsetzen, was auch die Wirtschaftskraft Israels in der Omridenzeit zeigt. Denn Streitwagen waren teuer, besonders durch die je zwei bis vier Pferde, die für ihre Bespannung nötig waren. Da Ahab sie nicht im großen Stil erbeuten oder als Tribut einfordern konnte, musste er sie kaufen, und weitere Investitionen waren für Unterbringung der Pferde und Instandhaltung der Streitwagen erforderlich. Die Streitwagenkämpfer waren eine Gruppe der Oberschicht, die mit Land und anderen Privilegien versorgt wurde, um sich ganz dem Training ihrer besonderen Kriegstechnik zu widmen.
Nach Finkelstein datieren die bekannten, von den Ausgräbern Salomo zugeschriebenen Pferdeställe Megiddos ins 8. Jahrhundert. Hier, im fruchtbarsten Teil des Landes, wurden Pferde gehalten, was ein sehr lukratives Geschäft war. Die großen nubischen Pferde, die für die Streitwagen der assyrischen Armee gesucht wurden, importierte Israel aus Ägypten. In Megiddo wurden sie gezüchtet und dressiert und dann nach Assur und an andere Kunden im Norden weiterverkauft.
Wirtschaft und Verwaltung
Megiddo hatte als Verwaltungszentrum des Nordreichs Israel einen anderen Charakter als davor (spätbronzezeitlicher Stadtstaat) und danach (assyrische Provinzhauptstadt). In der israelitischen Zeit gab es kaum Wohnquartiere. Nur die staatlichen Funktionäre lebten in der Stadt, ihre Untertanen betrieben Landwirtschaft mit Überschussproduktion in der Umgebung. Entsprechendes wurde auch in gleichzeitigen Straten in Hazor festgestellt.
1910 fanden Archäologen in der Akropolis von Samaria 102 Ostraka mit Wirtschaftstexten, möglicherweise eine Palastregistratur, die Abgaben der Landbevölkerung an den königlichen Hof dokumentierte. Die Stratigraphie war 1910 noch nicht ausgereift, so dass die Datierung der Ostraka erfolgt, indem man das Alter der Buchstabenformen (paläografisch) abschätzt. Die Ostraka stammen demnach aus der Regierungszeit Jerobeams II. Inhaltlich geht es um Lieferungen von Öl und Wein. Im Bergland südlich von Samaria wurden zahlreiche Produktionsstätten für Olivenöl aus der Eisenzeit IIB identifiziert. Man nimmt an, dass die Olivenölproduktion im 8. Jahrhundert gesteigert wurde. Olivenöl war ein wichtiger Exportartikel Israels, da Olivenbäume in Ägypten, Phönizien und Mesopotamien weniger gut gediehen. Unter assyrischer Oberherrschaft nahm Israel am internationalen Handel teil. Die Folge war eine soziale Spaltung: Großgrundbesitzer, die ihr Land verpachteten, profitierten vom Olivenanbau. Die Existenz als Pächter war dagegen prekär. Verschuldung in Folge einer Missernte führte leicht in immer größere finanzielle Abhängigkeit. Texte aus dem biblischen Buch Amos illustrieren diese Verhältnisse (z. B. , ); allerdings wurden sie mit zeitlichem Abstand niedergeschrieben. Barbara Schmitz vermutet: „Der Anteil an ‚echten‘ Worten des ‚historischen‘ Amos dürfte gering sein. Doch die Schlagkraft seiner Verkündigung zeigt sich eben auch darin, dass seine Worte einen solchen Eindruck hinterlassen haben, dass sie von kommenden Generationen gesammelt, erweitert und unter seinem Namen weiterentwickelt wurden.“
Kuntillet ʿAdschrud im Nordosten der Sinai-Halbinsel wird als israelitischer Handelsposten des frühen 8. Jahrhunderts interpretiert. Diese festungsartig gesicherte Anlage war eine Station am Handelsweg Darb el-Ġazze, die Tell el-Qedērat/Kadesch-Barnea mit Tell el-Ḫulēfe/Eilat verband. In Kuntillet ʿAdschrud fanden die Archäologen größere Mengen gefärbter Textilien, die hier offenbar weiterverarbeitet wurden und ein Exportgut Israels darstellten. Eine fragmentarische Wandmalerei im Eingangsbereich zeigt eine sitzende Herrscherfigur bzw. einen offiziellen Repräsentanten Israels, der an einer Lotosblüte riecht.
Schreiberausbildung
In der Karawanserei von Kuntillet ʿAdschrud fanden die Archäologen Briefformulare, die zeigen, dass ausgebildete Schreiber für das Nordreich tätig waren. Archäologisch lässt sich die Literaturproduktion in Tell Deir Alla (Ostjordanland, um 800 v. Chr.) belegen. In einem Gebäude, das einem schweren Erdbeben zum Opfer fiel, fanden sich zwei literarisch gestaltete aramäische Wandinschriften:
A: eine weisheitlich gefärbte Erzählung mit dem Propheten Bileam in der Hauptrolle;
B, sehr fragmentarisch: ein weisheitlicher Dialog.
Es gibt keine Hinweise auf eine religiöse oder staatlich-repräsentative Funktion des Gebäudes. Erhard Blum vermutet, dass es sich um eine Schule handelte. Dafür spricht, dass die Ausgräber eine L-förmige bankartige Erhöhung des Fußbodens feststellten. Wer darauf saß, hatte die in einer eleganten Kursivschrift mit roter und schwarzer Tinte beschriebene Wand im Blick. Man kann sich vorstellen, dass sie wie eine Tafel im Unterricht genutzt wurde. Nach Bedarf konnte man sie übertünchen und neu beschreiben. Tell Deir Alla, zwar nur ein Dorf, aber verkehrstechnisch günstig gelegen, gehörte zum Herrschaftsbereich von Aram/Damaskus. Nach Blum wurden hier Angehörige der lokalen israelitischen Oberschicht unterrichtet, um die aramäische Herrschaft in der Region zu festigen. Wegen der kulturellen Nähe zu den Aramäern kann man sich die Schreiberausbildung des Nordreichs Israel ähnlich vorstellen.
Literarische Werke
Insbesondere in der Regierungszeit Jerobeams II., die mit einem kulturellen Aufschwung einherging, ist mit Sammlung und Verschriftlichung nordisraelitischer Traditionen zu rechnen. Einige literarische Werke wurden nach dem Ende des Nordreichs in den Süden gebracht und in Jerusalem einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen. Literatur des Nordreichs Israel ging auf diesem Wege in die Hebräische Bibel ein, soweit sie für die Jerusalemer Redaktoren akzeptabel war.
Eine Urfassung im Nordreich Israel wird für folgende Texte diskutiert:
Psalm 45, Dichtung eines Hofpoeten anlässlich der Hochzeit des Königs: Es handelt sich um einen im Buch der Psalmen singulären Text, der durch sprachliche Merkmale (Aramaismen) in den Norden bzw. an den Hof von Samaria weist und zur Heiratspolitik der Omriden passt.
Jakobsüberlieferungen im Buch Genesis: Die literarische Figur Jakob ist in besonderer Weise mit dem Höhenheiligtum in Bet-El verbunden () und besucht mit Sichem, Mahanajim und Pnuel weitere Orte, die im Nordreich liegen, dagegen nie Jerusalem, Hebron, Gerar oder Mamre, Schauplätze der Abraham- und Isaak-Erzählungen. Unumstritten ist eine solche Lokalisierung des Jakobszyklus allerdings nicht, denn die für die Komposition zentralen Erzählungen zeigen Jakob als Exulanten in Mesopotamien und setzen, wenn Jakob eine Art Identifikationsfigur sein soll, den Fall Samarias und die Exilierung seiner Eliten nach 720 v. Chr. voraus: „Die literarisch-topographische Inszenierung der Jakobsgeschichte, die Jakob mit den exilierten Israeliten und mit der ostjordanischen Diaspora in Verbindung bringt, ist demnach nicht vor dem 7./6. Jh. v. Chr. denkbar.“ (Detlef Jericke) Konsens ist nach wie vor, dass die Jakobserzählungen sich auf das Nordreich beziehen, der Dissens besteht in der Frage, ob sie vor oder nach 720 entstanden, d. h. ob sie einen Kult in Bet-El und einen König in Samaria voraussetzen oder den Verlust beider literarisch verarbeiten.
Mose-Exodus-Erzählung: Wie immer der historische Kern der Exodustradition bestimmt wird, sie wurde an den beiden Heiligtümern Bet-El und Dan gepflegt (; der Plural – zwei Stierbilder entsprechend den beiden Kultstätten – findet sich auch in ) und spielt auch bei den im Nordreich tätigen Propheten Hosea und Amos eine wichtigere Rolle als bei den Propheten des Südens.
Weisheitsliteratur, die in einem gelehrten Schreibermilieu mit Kontakten nach Ägypten (Buch der Sprichwörter, Kapitel 10–29, besonders 22–24) abgefasst wurde.
Die Niederschrift von Prophetenworten steht in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Ende des Nordreichs. Hosea und Amos als historische Akteure wirkten im Nordreich, ihre mündliche Lehre ist allerdings nicht mehr fassbar. Im Buch Hosea, Kapitel 4–9 und 10–11 ist eine besonders altertümliche Form von Schriftprophetie erkennbar. Dieser Textzusammenhang lässt erkennen, dass er in einen Übergang mündlicher Kultur zur Schriftkultur gehört. Er setzt beim Leser viel Hintergrundwissen voraus und bleibt daher relativ dunkel.
Kunst
Von der Inneneinrichtung der Residenz Samaria blieben Elfenbeintäfelchen mit syrisch-phönizischen und ägyptischen Motiven erhalten und Einlegearbeiten der nicht mehr vorhandenen Möbel. Der Ausgräber John W. Crowfoot brachte sie mit dem „Haus aus Elfenbein“ in Verbindung. Er glaubte 1932, am Fundort der Elfenbeinplättchen auf Ahabs Palast gestoßen zu sein. 1938 nahmen die Crowfoots diese Identifikation wieder zurück und räumten ein, kein Palastgebäude in diesem Bereich gefunden zu haben. Tatsächlich wurden die Elfenbeinschnitzereien nicht in situ gefunden, sondern in hellenistisch-römischen Kontexten, wo sie sekundär deponiert worden waren.
Die Schnitzereien zeigen einen hohen kunsthandwerklichen Standard unter Verwendung wechselnder Techniken, teilweise mit farbigen Glaseinlagen und Goldapplikationen. Die Motivwahl ist der Spätbronzezeit verpflichtet und bezieht sich auf die Königsideologie. Da auch Produktionsabfälle in Samaria gefunden wurden, erscheint eine Herstellung vor Ort durchaus möglich. Auch in Megiddo und Hazor wurden Elfenbeinfragmente gefunden, die ins 8. Jahrhundert datiert werden können. Die meisten der Elfenbeinschnitzereien dürften aber aufgrund stilistischer Kriterien Importe aus Damaskus gewesen sein.
In Glyptik und Kunsthandwerk des Nordreichs Israel mischten sich verschiedene religiöse Symbolsysteme. Besonders bei Amuletten waren ägyptische Motive (Sonnenscheibe, Skarabäus, Uräus) seit der Spätbronzezeit ungebrochen beliebt. Außerdem wurde die Gottheit als „Herr der Strauße“ wie auch als „Herr der Capriden“ dargestellt. Angelika Berlejung schreibt: „Die ägyptisch beeinflusste religiöse Sonnen- und Schutzmachtsymbolik (Flügelwesen) wurde durch phönizische Vermittlung in Israel seit dem 9. Jh. (am produktivsten im 8. Jh.) und damit früher und intensiver rezipiert als in Juda,“ was z. B. auch in seinen Niederschlag gefunden hat.
Zu den bedeutendsten Funden der Megiddo-Ausgrabung 1903–1905 unter Leitung von Gottlieb Schumacher gehörte das offizielle Siegel eines hohen Beamten Jerobeams II. Das Objekt ist ein Jaspis, die ovale, 3,7 cm lange Siegelfläche zeigt einen ausschreitenden, brüllenden Löwen und den Schriftzug „(Siegel) des Šēmaʿ, Dieners des Yārobʿām.“
Religion
JHWH als höchster Gott
Die Religionsgeschichte des Nordreichs Israel ist eng mit seiner politischen Geschichte verbunden. JHWH war der höchste Gott der Bergbauern- und Viehzüchtergesellschaft in Zentralpalästina. Die aus den Samaria-Ostraka bekannten Personennamen der Oberschicht zeigen deutlich, dass JHWH die wichtigste Gottheit dieser Menschen war. Die Omriden führten den Stämmeverbund zu einem Territorialstaat zusammen, der z. B. ins Ostjordanland vordrang. Damit war zugleich eine Verbreitung des JHWH-Kultes verbunden: Mescha von Moab berichtete in seiner Bauinschrift, dass er neben seinen militärischen Erfolgen gegen Israel auch den Kult des Gottes JHWH schädigte oder beendete, indem er dessen offenbar wertvolles Kultinventar in Nebo plünderte.
In Regionen, die Israel nur zeitweise politisch kontrollierte (Jesreelebene, Bet Schean, Galiläa), ist kaum damit zu rechnen, dass die Bevölkerung ihren höchsten Gott Hadad/Baal gegen JHWH austauschte. „Ob die Verehrung des JHWH in Abgrenzung zu Hadad/Baal in diesen Ortslagen Wurzeln schlagen konnte, ist u. a. darum so schwer zu profilieren, weil diese Götter als Wettergötter engstens miteinander verwandt waren und auch miteinander identifiziert werden konnten.“ Eine weitere verehrte Gottheit war Aschera, eine syrisch-kanaanäische Meeresgöttin sumerischen Ursprungs. Archäologische Funde lassen vermuten, dass Aschera von Israeliten als Ehefrau von JHWH verehrt wurde. So fand sich in der Karawanenstation Kuntillet 'Adschrud ein Vorratskrug (Krug A) aus dem 8. bis 7. Jahrhundert v. Chr. mit folgender Inschrift:
Heiligtümer und ihre Ausstattung
Biblische Quellen nennen Dan und Bet-El als überregional wichtige JHWH-Heiligtümer des Nordreichs.
In Dan befand sich ein traditionelles Quellheiligtum, an dem nach ein namenloser „Gott von Dan“ verehrt wurde. Die Präsenz des Nordreichs Israel in Dan war aber von so kurzer Dauer, dass diese archäologische Stätte als Quelle für die Religionsgeschichte des Nordreichs ohne besondere Bedeutung ist.
Bet-El spiegelt im Fundgut der Eisenzeit II den für das Nordreich zu erwartenden guten technischen Standard, wobei Luxuswaren selten sind – insgesamt verglichen mit dem nahegelegenen Tell-en-Nasbeh ein recht bescheidener Ort. Ein JHWH-Heiligtum konnte nicht identifiziert werden. Deshalb sind auch keine Aussagen darüber möglich, ob es ein Stierbild () oder eine Mazzebe () besaß. Möglicherweise befand es sich außerhalb der Siedlung und bestand auch nach der Plünderung durch die Assyrer weiter (vgl. ).
In ihrer Baupolitik scheinen die Omriden abgesehen von einer Kapelle in Samaria keinen besonderen Wert auf Stadttempel gelegt zu haben, und der Kult an außerstädtischen Heiligtümern („Kulthöhen“) ist archäologisch nicht fassbar. Eine Ausnahme bildet der Tempel in Bet-Schean, Stratum V, der wohl einen lokalen Tempeltyp (dreischiffig mit Pfeilerbauweise und hinteren Nebenräumen) zeigt.
Der epigraphisch (Pithos A aus Kuntillet ʿAdschrud, spätes 9. / frühes 8. Jahrhundert) für die Residenz Samaria belegte Kult „JHWHs und seiner Aschera“ ist durch die archäologische Erforschung Samarias nicht bestätigt worden. Das Nimrud-Prisma Sargons II. erwähnt, dass sich bei der assyrischen Einnahme Samarias anthropomorphe Kultstatuetten im dortigen JHWH-Heiligtum befanden, die die Assyrer mitnahmen: „27280 Menschen zusammen mit [ihren] Str[eitwagen] und den Göttern, ihren Helfern, rechnete ich [als] Beute.“
Religionsgemeinschaft nach 720 v. Chr.
Benedikt Hensel kommt vor allem aufgrund des archäologischen Befunds zu der These, dass das Nordreich Israel nicht anders unterging als das Südreich Juda rund 140 Jahre später. Damit widerspricht er einer älteren Forschungsmeinung, wonach die Bevölkerung des Nordreichs aus der Geschichte verschwunden sei, während es der Bevölkerung des Südreichs gelungen sei, auch nach dem Verlust eigener Staatlichkeit als soziale und religiöse Gemeinschaft weiter zu bestehen. Religiöse, kulturelle und ethnische Kontinuitäten blieben, so Hensel, bei beiden Bevölkerungen bis in die Perserzeit bestehen. Deshalb sei der JHWH-Monotheismus in zwei unterschiedlich konturierten, regionalen Ausformungen entwickelt worden. Das Verhältnis beider Gruppen sei nicht von tiefen Konflikten geprägt, sondern ein Nebeneinander gewesen, dessen greifbares Produkt der gemeinsam geschaffene Pentateuch sei, ein „Kompromissdokument der Kultgemeinden vom Garizim und Zion.“ Erst seit der Ptolemäerzeit (3./2. Jahrhundert v. Chr.) seien Konflikte zwischen Samaritanern und Juden greifbar, die dann auch die Geschichtskonstruktion des Flavius Josephus prägten. Josephus habe Verhältnisse seiner eigenen Zeit in die Perserzeit rückprojiziert.
Wirkungsgeschichte
Israel: vom eisenzeitlichen Staat zur Glaubensgemeinschaft
Mit dieser Formulierung weist Israel Finkelstein darauf hin, dass die Selbstbezeichnung „Israel“ nach dem Ende des politischen Akteurs 722/720 v. Chr. quasi frei wurde für neue Inhalte. Als rund 140 Jahre nach Samaria auch Jerusalem fiel, war „Israel“ die gemeinsame Identität, die Juden im Babylonischen Exil mit den in Eretz Israel verbliebenen Menschen verband. Das Israel, das sich nach dem Exil konstituierte, hatte sein Zentrum im Jerusalemer Tempel. Konsequent durchgeführt wurde dieses Programm in der Perserzeit und frühen hellenistischen Zeit von den Verfassern der Chronikbücher. Diese sind ein klassisches Beispiel für das Phänomen der Rewritten Bible. Die Autoren schrieben die Bücher der Könige in der Weise um, dass die Geschichte des Nordreichs ausgeblendet wurde: Was nicht Jerusalem als Mittelpunkt hat, ist für die Chronik nicht Israel im eigentlichen Sinn. Das war zur Abfassungszeit der Chronikbücher auch als Einladung an die Samaritaner gemeint, sich nach Jerusalem zu orientieren.
Schlechte Könige
Die biblischen Bücher der Könige gelten als Teil des Deuteronomistischen Geschichtswerks. Sie bewerten alle Könige des Nordreichs negativ, weil sie alle in Kontinuität zur „Sünde Jerobeams“ gehandelt hätten, d. h. dem ersten König des Nordreichs, Jerobeam I., wird ein nach der „Reichsteilung“ initiierter illegitimer JHWH-Kult in Bet-El und Dan zugeordnet (; ), während der einzig legitime Ort der JHWH-Verehrung der Jerusalemer Tempel sei. Historisch gesehen, lag Dan außerhalb des Territoriums, das Jerobeam I. kontrollierte. Unter Jerobeam II., dem letzten bedeutenden Herrscher des Nordreichs, gehörten diese beiden Orte zum Nordreich. Es ist möglich, dass eine Erinnerung an religionspolitische Maßnahmen dieses Königs als „Sünde Jerobeams“ weit zurück in die Vergangenheit projiziert wurde, und jeden König des Nordreichs diskreditierte.
Omri, der Dynastiegründer, bleibt in den Königsbüchern ganz im Schatten seines Sohnes und Nachfolgers Ahab und dessen Frau Isebel. An Ahab interessiert freilich nicht sein Beitrag zur antiassyrischen Koalition in der Schlacht bei Qarqar, sondern seine Auseinandersetzung mit dem Propheten Elija. Elija ist für den biblischen Erzähler ein Streiter für die Alleinverehrung JHWHs und damit ein Kritiker des Königspaars in Samaria. Die historische Gestalt Elijas ist kaum zu fassen, „am Anfang der Traditionsbildung scheint ein Wundertäter und Regenmacher gestanden zu haben, der erst im Zuge der […] Rezeptionsgeschichte zum Paradigma für einen JHWH-Propheten wurde, dessen Wort in jedem Fall in Erfüllung ging.“ (Jan Christian Gertz)
Ahab und Isebel
Der Ahab-Stoff wurde nachbiblisch wenig rezipiert; die große Ausnahme hierbei ist Herman Melvilles Roman Moby-Dick. Nicht nur wird Ahab, der Kapitän des Unglücksschiffs Pequot, erklärtermaßen zum gleichnamigen König Israels in Beziehung gesetzt; dem Ich-Erzähler Ishmael wird durch eine Reihe düsterer Vorzeichen und Prophezeiungen der Untergang der Pequot angekündigt. Noch vor der Abfahrt warnt ihn ein abgerissener Prophet, der sich Elijah nennt, und als letztes Unglücksorakel in dieser Reihe begegnet die Pequot dem Walfänger The Jeroboam, der aufgrund einer an Bord herrschenden ansteckenden Krankheit auf Abstand bleiben muss; die Kommunikation zwischen beiden Schiffen wird immer wieder unterbrochen und reißt schließlich ab.
Im Jesuitendrama des 16. Jahrhunderts stehen Ahab und Isebel für den Protestantismus; die Gegenseite sah in Isebel eine Chiffre für das Papsttum in Rom. Die literarische Figur Isebel wurde weit häufiger rezipiert als Ahab. Wenn Ahab neben Isebel überhaupt genannt wird, ist er ein schwacher, von seiner Frau manipulierter König. Seit dem Altertum und bis in die Neuzeit ist Isebel der Archetyp der gefährlichen, bösen Königin. Elisabeth I., Maria Stuart, Caterina de’ Medici wurden von ihren Kritikern als Isebel gekennzeichnet.
Zum Isebel-Bild in Literatur, Kunst und Musik kommt eine Komponente hinzu, die durch die Johannesoffenbarung des Neuen Testaments verstärkt wurde: Isebel als sexuell aggressive Frau (, vgl.). In der urchristlichen Gemeinde von Thyatira gab es eine Prophetin, die (ebenso wie Paulus von Tarsus) den Verzehr von Fleisch, das aus Schlachtungen in paganen Tempeln stammte, für akzeptabel hielt. Der biblische Seher Johannes brandmarkte diese liberale Haltung als Götzendienst. Indem er die Prophetin aus Thyatira mit dem Namen Isebel belegte, brachte er zum Ausdruck: Sie spielt in der dortigen Christengemeinde die gleiche Rolle der Verführerin wie die Königin Isebel im Nordreich Israel. Der Name Isebel wurde zu einem „Synonym für religiös und sexuell nicht gebilligtes Verhalten“. Das bestimmte die weitere Wirkungsgeschichte.
In den Vereinigten Staaten erhielten afroamerikanische Sklavinnen von ihren Herren häufig den Namen Jezebel (Isebel). Indem sie so als sexuell gefährlich etikettiert wurden, schien eine Vergewaltigung durch weiße Männer entschuldbar. Entsprechende Jezebel-Figuren begegnen auch in amerikanischer Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert wurde Jezebel/Isebel in künstlerischen Gegenkulturen zu einer positiven Figur. Meist gilt sie als Opfer oppressiver Sexualnormen. Dabei wird die Geschichte Isebels, wie sie in den biblischen Königsbüchern dargestellt wird, allerdings nicht rezipiert. Eine Ausnahme bildet der Song Jezebel (1994, aus dem Album When the Kite String Pops) der Band Acid Bath, der sich auf das blutige Ende der israelitischen Königin () bezieht: „…how she cries in agony as her fingers are cut off…“
Forschungsgeschichte
Konsens der älteren Forschung war, dass das Davidisch-salomonische Großreich nach dem Tod Salomos in ein Nordreich Israel und ein Südreich Juda zerbrochen sei (1 Kön 12). Diese sogenannte Reichsteilung im Jahr 926 galt als das erste feste Datum der Geschichte Israels. Israel und Juda übernahmen nach dieser Hypothese aus Salomos Großreich eine Erbmasse staatlicher Strukturen (Hof, Finanzverwaltung und Streitkräfte) und waren daher als Nachbarstaaten quasi auf Augenhöhe, meistens als Konkurrenten, gelegentlich als Verbündete. Das Südreich sei politisch gefestigter gewesen als das Nordreich. Hier hätten sich immer nur kurzfristig Dynastien etablieren können, die durch blutige Umstürze wieder beseitigt wurden. Ein weiteres Symptom mangelnder Stabilität sei gewesen, dass es zunächst wechselnde Residenzen der Nordreichskönige gab (Sichem, Pnuel, Tirza), ehe Samaria dauerhaft zur Königsstadt wurde. Außerdem sei die Bevölkerung des Nordreichs durch einen hohen Anteil an Kanaanäern mit „eigenen politischen, rechtlichen, sozialen und religiösen Anschauungen“ gekennzeichnet gewesen. Um diese Menschen zu integrieren, habe insbesondere König Ahab den Synkretismus gefördert bzw. die „Baalreligion“ toleriert.
Die Mehrheit der heutigen Fachleute vertritt die Hypothese Großreich nicht mehr. Jerusalem war als Ort zu klein und wirtschaftlich zu schwach, um von hier aus den Norden Palästinas regieren zu können. Aber alle Versuche einer historischen Rekonstruktion der Ära Salomos haben gemeinsam, „dass sich der Mangel an außerbiblischen Quellen durch Imagination nicht beheben lässt“, fasst Angelika Berlejung die Problematik zusammen. „Wie vom davidischen so fehlt auch vom salomonischen Reich archäologisch und epigraphisch jede Spur.“
Hayim Tadmor (1969)
Die Omridenzeit stellte der israelische Altorientalist Hayim Tadmor unter den Titel „Die Zeit des engen Bündnisses“. Ihr Hauptmerkmal sei die Eintracht der Bruderstaaten Israel und Juda, bekräftigt durch eine königliche Heirat. Daraus seien Frieden und Wohlstand entstanden. Die Urbanisierung schritt voran. Das Nordreich Israel expandierte territorial und gewann an Gewicht in der internationalen Politik. Die Gründung Samarias dokumentierte Omris Stärke und Unabhängigkeit. König Ahab ergriff eine diplomatische Initiative, um gemeinsam mit Hamat und Damaskus der aufziehenden assyrischen Bedrohung zu begegnen. Ahabs Beitrag zur antiassyrischen Koalition in der Schlacht von Qarqar zeigte Israels ökonomische und militärische Stärke. Es waren primär König Jorams militärische Fehlleistungen, die aus Tadmors Sicht das Ende der Dynastie herbeiführten. Als zu den militärischen Misserfolgen noch eine von einer Dürre verursachte Wirtschaftskrise kam, habe die Armee unter Anführung von Jehu gemeutert. Jehus Aufstand sei darin erfolgreich gewesen, dass er fremdländische Einflüsse auf Israel ausschaltete, allerdings um einen hohen Preis. Es folgte ein 40-jähriger Niedergang. Außenpolitisch isoliert, stand Israel allein seinem Feind Aram-Damaskus gegenüber, und Jehus Sohn Joahas sei nicht mehr gewesen als ein aramäischer Vasall. Paradoxerweise kamen ausgerechnet die Assyrer Israel gegen die Aramäer zu Hilfe. Nach der Niederlage von Damaskus konnte Israel als dessen Nachfolger die Rolle als führender Staat im syrisch-palästinischen Raum einnehmen. So bedeutete die Regierungszeit Jerobeams II. „sicherlich die bedeutendste Zeit in der Geschichte des Nordreichs“, auch wenn die biblischen Königsbücher sie nur knapp darstellen. Jerobeams II. Gebietsgewinnen in Baschan, Hauran und Nordgilead folgte eine intensive israelitische Siedlungstätigkeit in diesen Regionen. Indem Israel einen wichtigen Handelsweg zwischen Ägypten und Mesopotamien kontrollierte, blühte auch die Wirtschaft auf. Die Archäologie bestätigt mit den Grabungsfunden aus Samaria dieses Bild des Wohlstands, durch das biblische Buch Amos wird aber auch deutlich, dass sich soziale Gegensätze verschärften und die Periode der Stabilität nach Jerobeams II. Herrschaft endete.
Antonius H. Gunneweg (1989)
Während Juda in den ersten Jahrzehnten nach der hypothetischen Reichsteilung, wenn auch vom Großstaat zum Kleinstaat reduziert, doch eine relativ gute Zeit erlebt habe, stellte sich die Geschichte des Nordreichs für den Bonner evangelischen Alttestamentler Antonius H. Gunneweg anfangs krisenhaft dar. Das Territorium schrumpfte, da die Aramäer nun Gebiete kontrollierten, die nach der Hypothese Großreich zuvor von Salomo beherrscht worden waren. Eine Wende brachte die Königsherrschaft Omris, den Gunneweg als umsichtigen und tatkräftigen Staatsmann würdigte. Omri sei es gelungen, das bislang stärkere Südreich Juda unter die Dominanz des Nordens zu bringen. Gunnewegs Darstellung der Geschichte des Nordreichs, ausgehend vom Großreich Salomos und der Reichsteilung, konvergiert nun zu der Geschichte dieses Staates, die ohne beide Hypothesen auskommt. Auch Gunneweg würdigte den Erfolg der antiassyrischen Koalition in der Schlacht bei Qarqar und schrieb Ahab eine Führungsrolle in diesem Bündnis zu.
Gegen die „moderne“ Religionspolitik der Omriden habe sich eine konservativ-jahwistische Opposition in der Bevölkerung formiert, erkennbar hinter den Prophetenlegenden um Elija und Elischa, den Rechabitern (für Gunneweg eine Art Orden, der alte nomadische Ideale gepflegt habe), vor allem aber in der Revolution Jehus, die religiös motiviert gewesen sei. Mit seinem Fanatismus für den traditionellen JHWH-Glauben habe Jehu Israel außenpolitisch isoliert. Die Konsequenzen illustriere die Darstellung auf dem Schwarzen Obelisken: „Jehu der Blutige bringt in Proskynese vor dem assyrischen Großkönig seinen Tribut dar.“ Als die Aramäer Assur tributpflichtig wurden, diese aber vorübergehend nicht weiter nach Westen expandierten, sei noch einmal ein Gleichgewicht der Kräfte entstanden. Die Propheten Amos, Hosea und Jesaja hätten allerdings in dieser Zeit wirtschaftlicher Blüte „tiefer geblickt und die tödlichen Gefahren erkannt,“ nämlich die Polarisierung zwischen Arm und Reich. Ihre Kritik daran sei in qualifizierter Weise „Predigt“ gewesen, die das „Kerygma von Kreuz und Auferstehung präfiguriert.“ (Dass der Alttestamentler Gunneweg von der Theologie Rudolf Bultmanns beeinflusst ist, wird hier offenkundig.) Die Ereignisse unmittelbar vor dem Fall Samarias rekonstruiert Gunneweg so, dass Hoschea eigentlich der Mann Assurs auf dem Thron in Samaria gewesen sei, seine Beteiligung am Aufstand eine Verzweiflungstat oder ein nur scheinbares Mittun. Die Assyrer hätten ihn im Vorfeld der Belagerung verhaftet. Aber auch ohne den König habe sich die Festung Samaria drei Jahre gegen die Übermacht der assyrischen Armee gehalten, ehe sie schließlich fiel. Danach sei die Bevölkerung des Nordreichs durch Deportationen „gleichgeschaltet“ worden, während es Ahas von Juda gelang, sein Land vor der totalen Unterwerfung unter die Assyrer zu bewahren, ein vorsichtiges Lavieren, aber „von weltgeschichtlicher Bedeutung“. Denn „von nun an wird Juda Israel repräsentieren.“
Literatur
Angelika Berlejung: Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel. In: Jan Christian Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments. Vandenhoeck & Ruprecht, 6., überarbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8252-5086-7, S. 59–192.
Israel Finkelstein, Neil Asher Silberman: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. (Original: The Bible Unearthed, Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origins of its Sacred Texts, New York 2001) Beck, München 2002 / dtv 2004, ISBN 3-423-34151-3.
Israel Finkelstein: Das vergessene Königreich. Israel und die verborgenen Ursprünge der Bibel. (Original: The Forgotten Kingdom, The Archaeology and History of Northern Israel.) Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66960-6.
Israel Finkelstein, Oded Lipschits: Omride Architecture in Moab. In: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins Band 126, Nr. 1, 2010, S. 29–42. (pdf; 2,4 MB).
Christian Frevel: Geschichte Israels. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, Kohlhammer, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-17-035420-3.
Lester L. Grabbe (Hrsg.): Ahab Agonistes: The Rise and Fall of the Omri Dynasty. Bloomsbury T&T Clark, London/New York 2007, ISBN 978-0-567-04540-9.
Lester L. Grabbe: Ancient Israel: What Do We Know and How Do We Know It? 2. Auflage, Bloomsbury T&T Clark, London/New York 2017, ISBN 978-0-567-67043-4.
Reinhard Gregor Kratz: Historisches und biblisches Israel: drei Überblicke zum Alten Testament. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-155125-3.
Nadav Na’aman: Ancient Israel and Its Neighbors: Interaction and Counteraction. Collected Essays, Volume 1. Eisenbrauns, Winona Lake 2005, ISBN 1-57506-108-2.
Nadav Na’aman: Royal Inscription versus Prophetic Story, Mesha’s Rebellion according to Biblical and Moabite Historiography. In: Lester L. Grabbe (Hrsg.): Ahab Agonistes: The Rise and Fall of the Omri Dynasty. Bloomsbury T&T Clark, London/New York 2007, S. 145–183 (pdf; 8,9 MB).
Hermann Michael Niemann: Royal Samaria – Capital or Residence? or: The Foundation of the City of Samaria by Sargon II. In: Lester L. Grabbe (Hrsg.): Ahab Agonistes: The Rise and Fall of the Omri Dynasty. Bloomsbury T&T Clark, London/New York 2007, S. 184–207 (pdf; 351 kB).
Hermann Michael Niemann: „Wagen Israels und sein(e) Lenker“ (2 Kön 2,12): Neue Erwägungen zur Militär- und Wirtschaftspolitik der Omriden. In: Susanne Gillmayr-Bucher, Annett Giercke, Christina Nießen (Hrsg.): Ein Herz so weit wie der Sand am Ufer des Meeres. Festschrift für Georg Hentschel. (= Erfurter Theologische Studien. Band 90), Würzburg 2006, S. 15–35 (pdf; 1,5 MB).
Bernd U. Schipper: Geschichte Israels in der Antike. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72686-6, S. 34–54.
Barbara Schmitz: Geschichte Israels. 2., aktualisierte Auflage, Schöningh, Paderborn 2015, ISBN 978-3-8252-3547-5.
Omer Sergi: Die Schlacht von Ramoth-gilead und der Niedergang der Omriden-Dynastie: Versuch einer historischen Rekonstruktion. In: Manfred Oeming, Petr Sláma (Hrsg.): A king like all the nations?: Kingdoms of Israel and Judah in the Bible and history. LIT Verlag, Wien/ Zürich 2015, ISBN 978-3-643-90674-8, S. 33–50.
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Ron E. Tappy: The Archaeology of Israelite Samaria, Band 2: The Eighth Century BCE (= Harvard Semitic Studies. Band 50). Eisenbrauns, Winona Lake 2001, ISBN 978-1-57506-916-6.
David Ussishkin: Samaria, Jezreel, and Megiddo: Royal Centres of Omri and Ahab. In: Lester L. Grabbe (Hrsg.): Ahab Agonistes: The Rise and Fall of the Omri Dynasty. Bloomsbury T&T Clark, London/New York 2007, S. 293–309. (pdf; 3,2 MB).
Dieter Vieweger: Geschichte der biblischen Welt, II. Band: Eisenzeit. Gütersloher Verlag, Gütersloh 2019, ISBN 978-3-579-01479-1.
Einzelnachweise
Bücher der Könige
Israel, Nordreich
Israel, Nordreich
Jüdische Geschichte (Antike)
fj:Na Matanitu Cokovata ni Isireli#Na matanitu e rua ni Isireli |
927873 | https://de.wikipedia.org/wiki/Operation%20Phantom%20Fury | Operation Phantom Fury | Die Operation Phantom Fury ( für gespenstische Wut), auch bekannt unter dem Namen Operation Al-Fadschr (Operation Al Fajr) ( für Morgendämmerung), war eine Offensive von amerikanischen und irakischen Soldaten gegen die Stadt Falludscha. Infolge des Irakkriegs hatte sich die Stadt in der Zeit der amerikanischen Besatzung als Rebellenhochburg etabliert. Die Operation wurde von der irakischen Übergangsregierung genehmigt und begann am 8. November 2004. Das US-Militär gab nach der Schlacht bekannt, dass es sich um den schwersten Häuserkampf seit der Schlacht um Huế in Vietnam, die im Jahre 1968 stattfand, gehandelt habe.
Die Operation Phantom Fury war die zweite Offensive, die gegen die Aufständischen in Falludscha durchgeführt wurde. Sie erfolgte im Anschuss an die Operation Vigilant Resolve, die vom 4. bis 9. April desselben Jahres stattgefunden hatte. Diese Operation war beendet worden, nachdem lokale Führer versprochen hatten, für eine Entspannung der Situation in Falludscha zu sorgen. Im Anschluss an Phantom Fury wurde ab dem 23. November 2004 die Operation Plymouth Rock durchgeführt.
Die Kampfhandlungen während der Operation werden zunehmend auch als die Zweite Schlacht von Falludscha bezeichnet.
Falludscha vor der Operation
Am 29. April 2003 kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung vor einem Schulgebäude am Stadtrand von Falludscha. Dort demonstrierten – nach Berichten von Einwohnern unbewaffnete – Jugendliche und Eltern gegen die Besetzung der Schule durch US-Truppen, die dort einen Stützpunkt eingerichtet hatten. Aus der Demonstration entwickelte sich ein Feuergefecht zwischen US-Truppen und den Demonstranten, bei dem 16 Iraker starben und 65 verletzt wurden. Nach Angaben der US-Regierung seien die Soldaten vorher aus der Menge heraus beschossen worden und hätten auf den Angriff reagiert. Eine unmittelbare Folge dieses Zwischenfalls war ein massiver Guerillakampf der sunnitischen Bevölkerung im sunnitischen Dreieck gegen die Besatzungsmacht, dem auch zwei französische Zivilisten zum Opfer fielen. Aufgrund dieses Kampfes musste sich die 82. Luftlandedivision der US-Armee im Dezember 2003 aus der Stadt zurückziehen. Am 20. März 2004 übernahm die 1st Marine Expeditionary Force die militärische Verantwortung für die Stadt.
Die bei Falludscha in der Basis Mercury stationierten Einheiten der 82. Luftlandedivision wurden von den Einwohnern Falludschas als die „mörderischen Wahnsinnigen“ bezeichnet (Murderous Maniacs), weil diese Gefangene misshandelt haben sollen.
Durch den Rückzug der amerikanischen Truppen wurde die Stadt zu einer Hochburg für Rebellen und Aufständische und bot Terroristen wie dem Jordanier Abu Musab az-Zarqawi einen Zufluchtsort. Az-Zarqawi hatte die Terrorgruppe at-Tauhīd wa-l-Dschihād gegründet, die für zahlreiche Entführungen und Morde verantwortlich ist, darunter auch die Enthauptung des amerikanischen Aufbauhelfers Nick Berg.
Am 31. März 2004 kam es zu einem Überfall in Falludscha, bei dem Aufständische einen Wagen mit vier Amerikanern (US-Berichte sprachen zunächst von zivilen Wiederaufbauhelfern) beschossen und die Insassen töteten. Eine aufgebrachte Menge zerrte die Körper aus dem Auto und schändete die Leichname. Die Leichen der Amerikaner wurden verbrannt und die verkohlten Überreste auf der Euphrat-Brücke aufgehängt. Das Geschehen wurde von Fernsehkameras festgehalten und die Bilder gingen um die Welt. Besonders in Amerika verursachten sie einen Schock, denn sie erinnerten an die Schlacht von Mogadischu in Somalia, während der zwei getötete US-Soldaten, SFC Randy Shughart und MSG Gary Ivan Gordon, durch die Straßen der Hauptstadt Somalias geschleift worden waren. Später stellte sich heraus, dass es sich bei den getöteten Amerikanern um Mitarbeiter des US-Unternehmens Blackwater Security Consulting handelte.
Eine Folge des Anschlags war die Operation Vigilant Resolve. Diese Operation sah die Abriegelung Falludschas und die anschließende Rückeroberung durch US Marines vor. Die US-Soldaten sollten bei dieser Operation durch die von ihnen ausgebildete irakische Nationalgarde unterstützt werden. Zu Beginn des Angriffs am 5. April 2004 waren jedoch viele irakische Soldaten desertiert und einige kämpften auf der Seite der Rebellen.
Trotz massiven Vorgehens gelang es den US-Streitkräften nicht, Falludscha zurückzuerobern. Am 9. April boten die US-Truppen erstmals Verhandlungen über einen Waffenstillstand an, zu denen es aber nicht kam. Nach vierwöchiger Belagerung und Verlusten von mehr als 50 US-Soldaten wurde die Operation am 29. April vorerst eingestellt. Durch die Ereignisse während der Kämpfe, bei denen unter anderem das einzig noch betriebsfähige Krankenhaus der Stadt durch US-Truppen unter Beschuss geriet, sowie den Missbrauch von Moscheen und Krankenwagen durch irakische Kämpfer (was wiederum den Beschuss dieser Ziele durch US-Soldaten nach sich zog), wurde die Lage weiter verschärft. Ein Militärgouverneur wurde eingesetzt und sollte die Lage in der Stadt beruhigen. Als Bevollmächtigten setzten die Amerikaner den General Dschasim Mohammed Saleh ein und unterstellten ihm eine Brigade der neuen irakischen Armee, die Falludscha-Brigade. Der Blockadering wurde aufgelöst.
Saleh, ein ehemaliger General der Republikanischen Garden unter Saddam Hussein, wurde nach vier Tagen von der Stabsführung durch Mohammed Latif ersetzt. Dschasim Mohammed Saleh als Führer der Falludscha-Brigade einzusetzen, wurde von der Militärführung als Fehler bezeichnet.
Vorbereitung auf die Offensive
Politische Situation im Vorfeld
Auch durch den Einsatz der Falludscha-Brigade konnte die Region nicht befriedet werden und die Stadt fiel schließlich zurück in die Hände der Aufständischen. Während des Sommers 2004 kam es immer wieder zu Entführungen, Bombenattentaten und Angriffen auf die US-Truppen und zivilen Wiederaufbauhelfer. Das US-Militär reagierte mit Luftangriffen auf die vermuteten Aufenthaltsorte von Terroristen. Des Weiteren kam es immer wieder zu kleineren und größeren Kampfhandlungen zwischen den Rebellen und US-Truppen.
Im Oktober 2004 verdichteten sich – nach mehreren gescheiterten Waffenstillstandverhandlungen – die Anzeichen für eine Großoffensive gegen die Rebellen in Falludscha. Der Ministerpräsident der Übergangsregierung Ijad Allawi forderte die Auslieferung des in der Stadt vermuteten Terroristen Abu Musab az-Zarqawi, der als Drahtzieher zahlreicher Attentate und Entführungen gilt. Die geistliche Führung von Falludscha erklärte ihrerseits, dass sich az-Zarqawi nicht in der Stadt aufhalte.
Allawi verkündete gegen Ende Oktober, dass sich das Fenster für Verhandlungen schließe und verhängte am Vortag der Offensive für insgesamt 60 Tage den Ausnahmezustand über den gesamten Irak. Die Operation war die erste größere Militäraktion nach der Wiederwahl von George W. Bush am 2. November 2004.
Militärische Vorbereitung
Im Oktober wurden britische Soldaten aus dem Süden des Irak in den Norden verlegt. Die Briten sollten amerikanische Verbände ablösen, damit diese nach Falludscha verlegt werden konnten. Das britische Militär half den amerikanischen Truppen bei der erneuten Abriegelung der Stadt. Bei der Eroberung der Stadt waren jedoch keine britischen Truppen beteiligt.
Ein Blockadering wurde um die Stadt errichtet. Er sollte die Flucht der Aufständischen verhindern. Die zivile Bevölkerung wurde aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Nach Angaben des US-Militärs kamen schätzungsweise 50.000 bis 60.000 Bewohner dieser Aufforderung nach.
Die Aufklärung erfolgte durch unbemannte Drohnen des Typs Dragon Eye. Diese Aufklärungsflüge lieferten dem Generalstab die Angriffsziele für die Bombardierung und die spätere Eroberung. Die Luftangriffe auf die Stadt wurden im Vorfeld der Offensive forciert.
Die Aufständischen in Falludscha erahnten Monate im Voraus das Eintreten der Offensive und bereiteten sich dementsprechend auf die bevorstehende Invasion vor. Sie legten Munitionsdepots an, verminten Straßen und bauten Autobomben. Die Truppen der Aufständischen setzten sich aus mehreren Gruppen zusammen:
Ehemalige Mitglieder des Hussein-Regimes;
Ausländische Al-Qaida-Kämpfer;
Einwohner von Falludscha, die sich gegen die Besatzungsmacht auflehnten oder ein getötetes Familienmitglied rächen wollten.
Die Aufständischen trugen keine Uniform, sondern lediglich ihre zivile Kleidung. Diese Tatsache machte es dem US-Militär schwer, zwischen Feind und Zivilist zu unterscheiden. Das US-Militär schätzte die Zahl der aufständischen Kämpfer auf 5.000 bis 6.000.
Rules of Engagement
Die Rules of Engagement sind ein Regelwerk für den Kampfeinsatz der US-Streitkräfte. Diese Regeln wurden für die Operation Phantom Fury von der militärischen Führung angepasst.
Wurden die Bodentruppen aus einem Gebäude heraus angegriffen, so wurde das Gebäude mit Bomben von Kampfflugzeugen oder Artilleriefeuer bekämpft. Eine Aufklärung, ob sich Zivilisten in dem Gebäude aufhielten, fand nicht statt.
Die Stadt wurde vom Militär zum uneingeschränkten Beschuss freigegeben (Free Fire Zone). Jeder, der sich gegenüber den US-Truppen verdächtig oder gefährdend verhält, durfte bekämpft oder getötet werden.
Beteiligte Truppenteile
Bei der Operation waren laut US-Regierung zwischen 10.000 und 15.000 britische und amerikanische Soldaten im Einsatz. Die britischen Soldaten sollten die amerikanischen Verbände bei der Abriegelung Falludschas unterstützen, aber ein Kampfeinsatz der britischen Truppen bei der Offensive war nicht geplant. An der Operation Al-Fadschr, wie die Offensive von irakischer Seite genannt wurde, waren ca. 2.000 irakische Soldaten der Übergangsregierung beteiligt. Die irakischen Einheiten spielten bei der Operation nur eine untergeordnete Rolle.
1. Marine-Regiment (Regimental Combat Team 1, RCT-1)
3. Bataillon, 1. US-Marineinfanterieregiment
3. Bataillon, 5. US-Marineinfanterieregiment
2. Bataillon, 7. Kavallerieregiment, US Army (TF 2-7)
7. Marine-Regiment (Regimental Combat Team 7, RCT-7)
1. Bataillon, 8. US-Marineinfanterieregiment
1. Bataillon, 3. US-Marineinfanterieregiment
2. Bataillon, 2. Infanterieregiment, US Army (TF 2-2)
3. Bataillon, 82. Feldartillerie-Regiment, US Army
Irakische Streitkräfte
1. Bataillon, 1. Brigade, irakische Eingreiftruppe
2. Bataillon, 1. Brigade, irakische Eingreiftruppe
4. Bataillon, 1. Brigade, irakische Eingreiftruppe
5. Bataillon, 3. Brigade, irakische Nationalgarde
6. Bataillon, 3. Brigade, irakische Nationalgarde
36. Kommando-Bataillon, irakische Nationalgarde
Sanitätseinheit der irakischen Polizei
Zeitlicher Verlauf der Offensive
Montag, 8. November
Mit Artilleriefeuer begann in der Nacht vom 7. auf den 8. November die Operation Phantom Fury. Die US-Armee feuerte mit 155-mm-Artilleriegeschützen und mit den 120-mm-Kanonen der M1-Abrams-Kampfpanzer auf die Stellungen der Rebellen in der Stadt.
Zur gleichen Zeit wurden aus der Luft Ziele mit F-18 Hornet und AC-130 Spectre angegriffen. Nach dem Artilleriebeschuss rückten Marines und Verbände der US Army in die Stadt ein. Die 4.000 Mann starke Einheit RCT-1 (Regimental Combat Team 1), bestehend aus je einem Bataillon des 1. und 5. Marineinfanterieregiments und der Task Force 2-7 (TF 2-7) stieß von der Bahnlinie im Norden in das Viertel Dscholan vor, und weitere 4.000 Soldaten der RCT-7 (Regimental Combat Team 7), bestehend aus je einem Bataillon des 3. und 8. Marineinfanterieregiments und der Task Force 2-7 (TF 2-7) rückten von Nordosten in das Viertel Al-Askari ein. Ziel war, in einer ersten Phase die Stadt bis zum Highway 10 zu kontrollieren. Die 2. Kampfbrigade der 1. US-Kavalleriedivision isolierte unterdessen die Stadt von Süden her. Die verschanzten Aufständischen leisteten durch Platzierung von unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen und RPG-Angriffe Widerstand, konnten aber die anrückenden US-Einheiten nicht aufhalten. Nachdem die Marines die Verteidigungsstellungen der Rebellen durchbrochen hatten, gelang es ihnen, einen Kilometer in das Stadtgebiet vorzurücken. Im Westen wurden ebenfalls am ersten Tag der Bodenoffensive das Zentralkrankenhaus und die beiden Brücken über den Euphrat von dem 3rd Light Armored Reconnaissance Battalion und dem 36. irakischen Kommandobataillon eingenommen. Bereits am ersten Tag der Operation berichteten amerikanische Soldaten von Beschuss aus den zahlreichen Moscheen heraus, darunter auch von Frauen und Kindern.
Die Versorgung der in der Stadt verbliebenen Zivilbevölkerung brach weitgehend zusammen. Es gab weder Strom noch Wasser und auch keine Lebensmittel. Zudem war die medizinische Versorgung praktisch nicht mehr vorhanden, da Krankenhäuser und Krankenwagen beschossen wurden und das medizinische Personal geflohen war.
Als Mittel der psychologischen Kriegführung wurden die Aufständischen mit Liedern der Rockgruppe AC/DC beschallt.
Dienstag, 9. November
Am zweiten Tag der Offensive rückten die Amerikaner bis zum Stadtzentrum an die Hatra-Muhammadia-Moschee vor. Um die Moschee wurde mehrere Stunden erbittert gekämpft. Bei der Eroberung der Moschee starben acht amerikanische Soldaten. Die Erstürmung der Hatra-Muhammadia-Moschee wurde von General George W. Casey Jr. als die härteste Herausforderung während der ganzen Offensive bezeichnet. Einheiten, die von Westen vorrückten, nahmen die strategisch wichtigen Brücken über den Euphrat ein. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten soll zu diesem Zeitpunkt bereits ein Drittel von Falludscha unter amerikanischer Kontrolle gewesen sein. General Abdel Qader Mohammed Jassim wurde von der Übergangsregierung des Iraks zum Verwalter der Stadt ernannt.
Als Reaktion auf die Kämpfe in Falludscha wurden in Bagdad von Rebellen drei Angehörige des Ministerpräsidenten Ijad Allawi der Übergangsregierung entführt. Die Gruppe der Entführer forderte eine Einstellung der Kämpfe innerhalb von zwei Tagen.
Mittwoch, 10. November
Auch am dritten Tag gingen die Kämpfe zwischen den Rebellen und dem US-Militär weiter. Im Verlauf des Tages konnten die amerikanischen Einheiten weitere Stadtteile einnehmen und die Frontlinie weiter nach Süden verschieben. Laut offizieller Stellen der Regierung sei die Stadt zu 70 % unter Kontrolle gewesen. Die amerikanischen Truppen hatten die Stadt nördlich der Autobahn besetzt.
Reporter aus der Stadt berichten von schrecklichen Zuständen in den umkämpften Vierteln. Die Leichen der getöteten Rebellen und Zivilisten lagen überall auf der Straße. Es wurde davon berichtet, dass verwahrloste Hunde die Leichen in den Straßen angefressen hätten.
Donnerstag, 11. November
Am vierten Tag nach dem Beginn der Offensive rückten die US-Truppen in das Industrieviertel der Stadt vor. Zur Überraschung der amerikanischen Soldaten nahm der Widerstand der Rebellen wieder zu. Eine vergleichsweise kleine Gruppe von Aufständischen verzögerte das Vordringen der US-Marinesoldaten westlich des Industrieviertels um Stunden.
Am Ende des Tages war das Industrieviertel in amerikanischer Hand, aber die Streitkräfte westlich des Viertels hatten keine großen Raumgewinne verzeichnet. Nach Angaben der US-Streitkräfte wurden bis zum Abend des 11. November 18 amerikanische und fünf irakische Soldaten getötet. Verwundet wurden bis zu diesem Zeitpunkt 164 Soldaten. Die geschätzte Zahl der getöteten und verwundeten Rebellen wurde mit 600 angegeben.
Bei den Durchsuchungen der Häuser im eroberten Stadtgebiet fanden irakische Soldaten Depots von Waffen und Munition und Räume, die als „Schlachthäuser“ bezeichnet wurden. Die Terroristen hatten in diesen Räumen ihre entführten Opfer und deren Enthauptungen gefilmt.
Freitag, 12. November
Am Freitag wurde die zweite Phase der Operation Phantom Fury eingeleitet. Im amerikanisch kontrollierten Bereich gingen die Soldaten von Haus zu Haus und durchsuchten jedes einzelne nach versteckten Terroristen und Rebellen. Das US-Militär bezeichnete dieses Vorgehen auch als „Aufräumarbeiten“. Gleichzeitig schritt die Rückeroberung der Stadt fort. Die Einheiten der USA rückten weiter nach Süden vor.
Die Nachricht von der Situation in Falludscha und besonders das Leiden der zivilen Bevölkerung hatte sich im ganzen Irak herumgesprochen. Eine Welle der Hilfsbereitschaft ging durchs Land und es wurden Lebensmittel und Wasser für die Bürger von Falludscha gespendet. Die Hilfsorganisation Roter Halbmond wollte die Bevölkerung der Stadt mit den Hilfsgütern versorgen, jedoch verweigerte das US-Militär ihren Lkw den Zugang zur Stadt.
Samstag, 13. November bis Dienstag, 16. November
Am Samstag wurde im Süden der Stadt weiter gekämpft. Die letzten Widerstandsnester der Rebellen wurden mit Artillerie, Panzern und Kampfflugzeugen beschossen, bevor die Bodentruppen vorrückten. Am Abend gelangte das letzte Viertel unter die Kontrolle der amerikanischen Einheiten. Der Zwei-Sterne-General Richard F. Natonski stellte am Samstagabend fest, dass die Hauptkampfhandlungen beendet seien und die Truppen nun mit den Aufräumarbeiten beschäftigt seien. Diese Aufräumarbeiten zogen sich bis zum Dienstag hin.
Auch an diesen Tagen blieb es den Hilfsorganisationen verwehrt, in die Stadt zu fahren, um dort die zivile Bevölkerung zu versorgen. Die US-Regierung erklärte, dass sie nicht glaube, dass noch Zivilisten in der Stadt seien.
Am neunten Tag der Bodenoffensive war die Stadt Falludscha weitestgehend eingenommen und unter amerikanischer Kontrolle.
Falludscha nach der Operation
Auswertung
Das Ziel, den Terroristen Abu Musab az-Zarqawi entweder zu töten oder gefangen zu nehmen, wurde nicht erreicht. Der gesuchte Terrorist konnte aus der abgeriegelten Stadt entkommen, sofern er zu Beginn der Operation noch dort war. Es konnten viele Aufständische bereits vor der Belagerung aus der Stadt fliehen und den Kampf gegen die Amerikaner in anderen Städten fortführen.
Das zweite Ziel, für Stabilität bei den Wahlen am 30. Januar zu sorgen, konnte nicht vollständig erreicht werden. Zwar konnten die Wahlen abgehalten werden, jedoch kam es im Vorfeld vermehrt zu Selbstmordanschlägen und Boykottaufrufen. Im sunnitischen Dreieck wurden die Wahlen unter strengen Sicherheitsvorschriften durchgeführt. Viele sunnitische Iraker folgten den Aufrufen und boykottierten die Wahl. Viele Wähler im sunnitischen Dreieck gingen auch aus Angst nicht wählen, weil die Terrorgruppe Tawid wal-Jihad von az-Zarqawi zum Mord an den Wählern aufrief.
Verluste
Das US-Militär schätzte die Zahl der getöteten Aufständischen auf 1.200. Eine genaue Zahl der Verwundeten wurde nicht bekanntgegeben und ist nicht zu ermitteln. Im Rahmen der Operation Phantom Fury wurden etwa 1.500 Aufständische vom US-Militär festgenommen oder werden noch vermisst. Viele der Vermissten werden in den Trümmern von eingestürzten Wohnhäusern vermutet. Die Gefangenen wurden der Militärpolizei überstellt und im Abu-Ghuraib-Gefängnis inhaftiert.
Im Vergleich zu den aufständischen Irakern hatte das US-Militär nur geringe Verluste. Diese Verluste beliefen sich auf 64 gefallene und 425 verwundete Soldaten. Drei US-Soldaten kamen durch einen Unfall ums Leben und 61 starben durch feindliches Feuer. Die irakischen Streitkräfte auf Seiten der amerikanischen Truppen hatten sechs Gefallene und eine unbekannte Zahl an Verwundeten.
Das US-Militär stellte fest, dass seine Verluste beim Kampf im städtischen Gebiet (US-Bezeichnung MOUT = Military Operations in Urban Terrain) pro Tag um 20 Prozent höher lagen als während der Hauptkampfhandlungen im März und April 2003.
Fazit
Die Operation Phantom Fury zerstörte fast die ganze Stadt Falludscha. 65 Prozent der Häuser wurden zerbombt und der verbliebene Wohnraum stark beschädigt. Die Hälfte der 120 Moscheen der Stadt wurde bei der Offensive zerstört oder beschädigt. Von den 350.000 Menschen, die vor der Offensive in der Stadt gelebt hatten, waren 25.000–30.000 in der Stadt geblieben oder kurz nach den Kämpfen zurückgekehrt. Zurückkehrende Bürger mussten sich die Fingerabdrücke abnehmen und die Iris scannen lassen, womit Personalausweise erstellt wurden. Die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Strom, Benzin und Trinkwasser war schlechter als vor dem Einmarsch. Das General Hospital als einzig verbliebenes Krankenhaus konnte die medizinische Versorgung nicht abdecken. Der überwiegende Teil der Einwohner lebte in einem Flüchtlingscamp außerhalb der Stadt.
Kriegsverbrechen
Während der Operation Phantom Fury wurden Aufständische mit Phosphor-Granaten aus geschützten Stellungen getrieben, um sie dann mit anderen Waffen bekämpfen zu können. US-Streitkräfte hätten nach RAI-Angaben in Falludscha zudem eine Art Napalm und weißen Phosphor gegen Zivilisten eingesetzt. Die Autoren beriefen sich auf Aussagen amerikanischer Soldaten, die Szenen von durch Phosphorgranaten verbrannten Körpern zahlreicher Zivilisten schilderten. Dies wurde vom US-Außenministerium bestritten. Die United States Army leugnete den Einsatz zunächst, gab ihn jedoch später zu. Ein GI berichtete, er habe Leichen von Phosphorwaffen-Opfern beseitigen müssen. Die USA haben die Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949, die unterschiedslose Angriffe untersagen, nicht unterzeichnet. Sie rechtfertigen den Einsatz weißen Phosphors damit, dass er nicht als chemische Waffe auf Grund seiner Giftigkeit verwendet werde, sondern als Brandmittel für eine konventionelle Waffe.
Am 16. November berichtete der US-Nachrichtensender NBC von einem Vorfall, der sich während der Operation Phantom Fury ereignete und die der Journalist Kevin Sites mit einer Videokamera festgehalten hatte. Der US-Amerikaner gehörte zu denjenigen Presseleuten, die sich mit den kämpfenden US-Einheiten in Falludscha bewegten. Sein Bericht schildert das Verhalten eines US-Marinesoldaten während der Offensive Phantom Fury. Das Video zeigte, wie eine Gruppe von US-Soldaten eine Moschee in Falludscha betrat und wie einer von ihnen einem verwundeten und unbewaffneten Iraker in den Kopf schoss. Vor dem tödlichen Schuss sagte der betreffende Soldat zu seinen Kameraden: Verdammt noch mal, er tut nur so, als ob er tot sei, er simuliert nur seinen verdammten Tod. Nach der Tat war er mit den Worten Nun, jetzt ist er tot zu hören. Der erschossene Araber war einer von fünf Gefangenen, die am sechsten Tag der Offensive in einer eroberten Moschee zurückgelassen worden waren. Die Veröffentlichung dieses Videofilms hatte weltweite Empörung hervorgerufen. Im Nahen Osten kam es aufgrund des NBC-Berichts zu Protesten gegen die Vorgehensweise der USA in Falludscha.
Der betreffende Soldat wurde von der Front abgezogen und suspendiert. Das Pentagon leitete eine öffentliche Untersuchung des Vorfalls ein. Sollte es sich bei diesem Vorfall um ein Kriegsverbrechen handeln, so würde der betreffende Soldat vor ein Kriegsgericht gestellt, hieß es aus dem Pentagon. Nach einer Untersuchung durch den Kriminalermittlungsdienst der US-Navy (NCIS) wurde beschlossen, keine Anklage gegen den Soldaten zu erheben.
Amnesty International rügte das Vorgehen des US-Militärs in Falludscha und sprach von Kriegsverbrechen (Tötung von Zivilisten), die von US-Soldaten begangen worden seien. Amnesty International berief sich dabei auf Augenzeugenberichte von Ärzten, Reportern und Zivilisten. Das US-Verteidigungsministerium behauptet weiterhin, alle Zivilisten hätten die Stadt vor dem Beginn der Offensive verlassen. Tatsächlich wurde allen männlichen Bürgern im Alter zwischen 17 und 60 Jahren die Flucht aus der Stadt verweigert.
Aufarbeitung
Im September 2006 räumte Oberstleutnant Barry Venable für das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten in einem Interview mit der BBC den Einsatz von Phosphorwaffen über den üblichen Rahmen als Blendwaffe hinaus ein.
Captain James T. LaCour berichtet über den Einsatz von Weißem Phosphor zu tödlichen Zwecken (lethal missions) während des Beschusses von Falludschah.
Zitate
Donald Rumsfeld behauptete: „Es wird keine großen Verluste bei der Zivilbevölkerung geben und erst recht nicht durch US-Streitkräfte“.
General George W. Casey junior beschrieb die in der Stadt verbliebenen Menschen als eine amorphe Gruppe von Terroristen und Aufständischen.
Robert Burns, Militärjournalist von AP schrieb: „Jede militärische Operation bekommt einen Decknamen und bei dieser wurde der Name auf Allawis Bitten hin in Operation Al-Fadschr geändert.“
Literatur
Bettina Gaus: Frontberichte. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2004, ISBN 3-593-37543-5.
Mohammed Hassan, David Pestieau: Irak. Der Widerstand. Auge in Auge mit den Besatzern. Zambon-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-88975-110-5.
Reiner Luyken: Die Falludscha-Falle. In: Die Zeit. Hamburg 28. Juli 2005, S. 15ff, .
Sascha Lange: Falludscha und die Transformation der Streitkräfte. Häuserkampf in Städten als dominante Kernfähigkeit der Zukunft? Diskussionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik. Januar 2005, 7 Seiten.
Bing West, Francis J. West: No True Glory. A Frontline Account of the Battle for Fallujah. Bantam Books, New York 2005 (englisch),. ISBN 0-553-80402-2.
Patrick K. O'Donnell: We Were One: Shoulder to Shoulder with the Marines Who Take Fallujah. Da Capo Press, Cambridge (Massachusetts) Oktober 2007, ISBN 0306815737
Dick Camp: Operation Phantom Fury: The Assault and Capture of Fallujah, Iraq. Motorbooks Intl November 2009 (englisch)
Weblinks
Caught In The Crossfire: The Untold Story of Fallujah by Mark Manning, Pt.1 (Video)
Caught In The Crossfire: The Untold Story of Fallujah by Mark Manning, Pt.2 (Video)
Einzelnachweise
Phantom Fury
Schlacht des Irakkriegs
Konflikt 2004
Gouvernement al-Anbar |
931579 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zahnschema | Zahnschema | Ein Zahnschema ist ein System für Zahnbezeichnungen, mit denen Zähne in ihrer Position im Kiefer und im Zahnbogen eindeutig benannt werden. International ist in der Zahnmedizin vornehmlich das Zahnschema der Fédération Dentaire Internationale (FDI) in Gebrauch. Daneben wird in den USA das amerikanische Zahnschema und im Vereinigten Königreich das Palmer-Zahnschema verwendet. Ferner sind historisch bzw. lokal die Zahnschemata nach Zsigmondy und Haderup von Bedeutung. Insgesamt wurden weltweit an die 40 verschiedene Zahnschemata entwickelt.
Zahnschemata werden sowohl zur Befunddokumentation (Zahnstatus) als auch bei der Behandlungsplanung und der Erstellung eines Heil- und Kostenplans verwendet. Sie dienen der Kommunikation zwischen Ärzten, Zahnärzten, Zahnmedizinischen Fachangestellten, Zahntechnikern, Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen. Sie werden auch für oralepidemiologische Studien und in der internationalen Kommunikation gebraucht. In der forensischen Zahnmedizin und der Rechtsmedizin baut auf dem Zahnschema die Dokumentation bei der Identitätsfeststellung unbekannter Toter und der Analyse von Bissspuren auf. Der Vergleich des Zahnstatus im Zahnschema des Unbekannten mit dem eines Vermissten ist eine primäre Identifizierungsmethode neben dem Fingerabdruckvergleich und der DNA-Analyse.
Das Zahnschema nach Triadan wird von Tierärzten bei Hunden, Katzen und Pferden angewandt.
Zahnformel des Menschen
Die Zahnformel ist eine Übersicht über die vorkommenden Zähne. Sie wird nur für eine Hälfte des Ober- und Unterkiefers dargestellt (in der Formel im rechten Bild: jeweils die beiden linken Gebisshälften). Gebisse sind immer vertikal spiegelsymmetrisch. Jeder Quadrant besteht aus zwei Schneidezähnen, einem Eckzahn, zwei Prämolaren und drei Molaren: 2 • 1 • 2 • 3. (4 × 8 = 32).
Das menschliche Gebiss ist heterodont (; ὀδόντ odont Zahn), was bedeutet, dass es unterschiedliche Zahnformen enthält:
Dens incisivus (medialis / lateralis; superior / inferior) – Incisivus (Schneidezahn)
Dens caninus (superior / inferior) – Caninus (Eckzahn)
Dens praemolaris (primus / secundus; superior / inferior) – Prämolar (Vormahlzahn)
Dens molaris (primus / secundus / tertius (Dens serotinus bzw. sapientiae); superior / inferior) – Molar (Mahlzahn)
Der erste große Molar wird auch Sechsjahrmolar genannt, weil er in der Regel um das sechste Lebensjahr durchbricht.
Das menschliche Gebiss ist diphyodont (), was bedeutet, dass es einem Zahnwechsel unterliegt:
Milchzähne: Erste (lacteale) Dentition
Bleibende Zähne: Zweite (permanente) Dentition (Zahnwechsel)
Das menschliche Gebiss ist außerdem thekodont (), was bedeutet, dass die Zähne im Kiefer in einem Knochenfach verankert sind.
Es ist brachyodont (), die Zähne bestehen aus einer niedrigen Krone und voll entwickelten Wurzeln, die länger als die Krone sind.
Als bunodont () werden die Backenzähne bezeichnet, weil sie mit Höckern versehen sind. Sind vier Höcker vorhanden sind die Zähne oligobunodont (ὀλίγος olígos wenig), bei mehr Höckern sind sie polybunodont (πολύς polýs viele). Bunodonte Zähne charakterisieren das „Allesfressergebiss“.
Ansicht
Wie in der Medizin üblich, liegen allen Schemata Seitenbezeichnungen aus Sicht des Patienten, nicht aus Sicht des Betrachters zugrunde. Die Anordnung in den Aufzeichnungen ist aber so, wie der Zahnarzt die Zähne sieht, also von vorne betrachtet, d. h. die rechte Seite des Gebisses ist im Schema links aufgeschrieben. Wenn man als Patient sein (beispielsweise in Papierform) dokumentiertes Zahnschema betrachtet, dann sieht man sein Gebiss wie auf einem Photo, nicht etwa wie im Spiegel. Seine rechte Gebisshälfte sieht man demnach „auf Papier“ links und umgekehrt.
Im Folgenden werden die verschiedenen gebräuchlichen und ehemaligen Zahnschemata dargestellt.
Die gebräuchlichsten Zahnschemata
FDI-Zahnschema
Das FDI-Zahnschema ist nach der Fédération Dentaire Internationale (FDI), dem Zahnärzteweltverband, bezeichnet, der im Jahre 1970 auf seiner Jahrestagung in Bukarest dieses vom Berliner Hochschullehrer Joachim Viohl entwickelte Zahnschema mit absoluter Mehrheit als international gültiges Zahnschema verabschiedet hat. Es wird seitdem durchwegs im deutschsprachigen Raum verwendet.
Historie
Zahnschema nach Viohl
IBM ließ sich 1928 ein 80-Spalten-Lochkarten-Format mit rechteckigen Löchern patentieren, das bis in die 1970er Jahre hinein als IBM-Card weite Verbreitung fand. Sie kam im System/360, einer Großrechnerarchitektur der Firma IBM, als Datenträger zum Einsatz. Die Freie Universität Berlin benutzte ein Zahnschema seit 1960, das auf diesem Lochkartenformat aufsetzte und von Joachim Viohl (* 1933) nach einer Idee des österreichischen Kinderarztes Clemens von Pirquet (1874–1929) im Jahre 1924 entwickelt worden war. George B. Denton (1885–1963) hatte 1963 – kurz vor seinem Ableben – eine ähnliche Systematik vorgeschlagen, jedoch mit einer abweichenden Quadrantennummerierung.
Durch die Limitierung auf 80 Spalten, gleich 80 Zeichen, wurden die Zahnbezeichnungen im Zahnschema auf nur zwei Ziffern je Zahn komprimiert. Die 32 Zähne des menschlichen Gebisses konnten damit mit 64 Ziffern, gleich 64 Zeichen, dargestellt und erfasst werden. Aus der Bezeichnung „oberer, rechter, bleibender, erster Molar“ wurde die Kurzbezeichnung „16“. Damit war der Einstieg in die Datenverarbeitung geschaffen.
FDI
Als die FDI ein einheitliches, international anerkanntes System für Zahnbezeichnungen für die internationale Kommunikation, insbesondere von Untersuchungen im Rahmen der forensischen Zahnmedizin, suchte, schlug Viohl 1970 dem FDI-Sonderkomitee für einheitliche Befunderhebung des Subcommittee on Forensic Odontology sein zweiziffriges Schema zur Bezeichnung der Zähne vor. Auf Grund des mehrjährigen erfolgreichen Einsatzes der Dokumentation zahnärztlicher Befunde an der Zahnklinik der Freien Universität Berlin war sein Vorschlag die Lösung für die FDI. Es wird seitdem auch von der Weltgesundheitsorganisation (, WHO) mit der Bezeichnung WHO-Zahnschema () und der International Association for Dental Research (IADR, deutsch: Internationale Gesellschaft für zahnmedizinische Forschung) verwendet. Es ist auch als ISO 3950 Notation bekannt. Es wird ebenso Two-Digit System (dt.: Zwei-Ziffern-System) genannt.
Systematik des Zahnschemas
Unter einem Quadranten versteht man eine Kieferhälfte. Damit besteht das Gebiss aus vier Quadranten. Im FDI-Schema wird die Quadranten-Ziffer der Kennziffer des Zahnes vorangestellt. Dabei werden die Quadranten aus Sicht des Patienten gegen den Uhrzeigersinn durchnummeriert, beginnend mit dem Oberkiefer rechts. Die Nummerierung der Quadranten erfolgte entsprechend dem auch damals schon üblichen Vorgehen bei der Untersuchung, die „im Kreis herum“ durchgeführt wird. Die Zähne wiederum werden jeweils von der Mitte aus nach hinten durchnummeriert. So wird der obere rechte Eckzahn mit den Kennziffern „13“ bezeichnet. Die „1“ steht für den oberen rechten Quadranten, die „3“ für den dritten Zahn von der Mitte aus gerechnet. Der untere linke erste Prämolar erhält analog die Kennziffern „34“.
Da es sich um eine zweiziffrige Kennung und nicht um eine zweistellige Zahl handelt, werden die Ziffern nacheinander genannt und daraus keine Zahl gebildet; es heißt demzufolge „eins-drei“ und „drei-vier“, nicht „dreizehn“ und „vierunddreißig“.
Die Milchzahnquadranten werden entsprechend von 5 bis 8 durchnummeriert, so dass der obere linke seitliche Schneidezahn die Kennziffern „62“ (sechs-zwei) erhält, der untere rechte zweite Milchmolar die Kennziffern „85“ (acht-fünf). Dies stieß zuweilen auf Kritik, da die Milchzähne zuerst durchbrechen und deshalb die Quadranteneinteilung des Milchgebisses 1, 2, 3, 4 hätte lauten sollen und bei den bleibenden Zähnen 5, 6, 7, 8, so wie es ursprünglich Pirquet vorgeschlagen hatte.
Incisivi (Schneidezähne),
Canini (Eckzähne),
Prämolaren (Vormahlzähne),
Molaren (Mahlzähne)
Anwendung
Für das FDI-Schema gibt es Stempel oder Aufkleber, mit denen das Schema in die Patientenkarteikarte eingetragen wird, um dort den Zahnbefund zu erfassen. In anderen Karteikarten ist das FDI-Schema bereits eingedruckt. Im Jahre 1979 stellte die Firma Siemens ein Computerprogramm zur Praxisadministration namens Sirodata vor. Hierfür wurde eine neue Tastatur entwickelt, die zur vereinfachten elektronischen Befundaufnahme über den üblichen Tasten zwei zusätzliche Tastenreihen mit den Zahnangaben des FDI-Schemas besaß. In Praxisverwaltungssystemen ist das FDI-Zahnschema einprogrammiert, in vorgeschriebenen Formularen wie dem Heil- und Kostenplan für gesetzlich Krankenversicherte in Deutschland eingedruckt. (Beim Ausfüllen eines Heil- und Kostenplans für gesetzlich versicherte Patienten in Deutschland gelten spezielle Regeln und Abkürzungen.)
Befundaufnahme
Im Zahnschema hält der Zahnarzt den Befund des Gebisses bei der Vorsorgeuntersuchung fest. Dazu gehört vor allem die Eintragung der fehlenden, kariösen, zerstörten, überkronten, überbrückten und ersetzten Zähne, vorhandener Implantate, retinierter (nicht durchgebrochener) und zu extrahierender Zähne. In erweiterten Befundschemata werden auch parodontologische und kieferorthopädische Befunde dokumentiert. Die Eintragungen erfolgen mit Abkürzungen, meist mit den Anfangsbuchstaben der Befunde, beispielsweise „f“ für einen fehlenden Zahn, „e“ für einen ersetzten Zahn. Diese Kürzel werden an der jeweiligen Zahnbezeichnung eingegeben. In großem Maßstab erfolgen mit diesen Angaben Auswertungen innerhalb epidemiologischer und wissenschaftlicher Studien. Die Erfassung der Befunde gehört zu den Dokumentationspflichten des Zahnarztes gemäß BGB.
Beispiele für Befundungen im Zahnschema:
f = fehlend
z = zerstört
c = kariös
x = extraktionswürdig
e = ersetzt
k = Krone
b = Brückenglied
i = Implantat
Für weitere Bezeichnungen siehe Lage- und Richtungsbezeichnungen an den Zähnen
Gekippte oder elongierte (scheinbar verlängerte) Zähne werden im Befundschema mit Pfeilen charakterisiert, die die Richtung der Kippung, Elongation oder Zahnwanderung angeben: → bzw. ←, ↑ bzw. ↓. Ein Lückenschluss wird durch zwei gegenläufige Klammern )( angezeigt. Ist der Lückenschluss durch Zahnwanderung entstanden, werden zusätzlich Pfeile vor oder nach den Klammern angegeben: → )( ←, je nachdem, ob der distal oder medial der Lücke befindliche Zahn gewandert ist.
Behandlungsplanung
Zahnschemata werden auch für die Behandlungsplanung eingesetzt. Um Befunde und Planungen auseinanderhalten zu können, werden Befunde in Kleinbuchstaben, Behandlungsplanungen in Großbuchstaben eingetragen. Die folgende Eintragung im FDI-Zahnschema zeigt im linken Oberkiefer den Befund, dass Zahn 26 fehlt (f) und die Zähne 25 und 27 kariös sind (c). Die Planung sieht deshalb eine Brücke vor: Die Zähne 25 und 27 werden mit einer Krone (K) versorgt, der fehlende Zahn 26 wird mit einem Brückenglied (B) überbrückt.
OMS-Zahnschema
1981 wurde der Versuch unternommen, im FDI-Zahnschema die Zähne deutlicher nach den Quadranten zu unterscheiden. Im hierzu entwickelten OMS-Zahnschema (engl.: Oral & maxillofacial surgery tooth numbering system) wurden die Zahnbezeichnungen des FDI-Zahnschemas um einen Punkt zwischen den Ziffern ergänzt, also 1.1 statt 11 oder 4.5 statt 45, um die getrennte Aussprache – wie oben ausgeführt – zu unterstreichen. Es hat sich jedoch nicht durchgesetzt. P. S. Sharma und P. Wadhwa schlugen vor, die beiden Ziffern durch einen Bindestrich zu verbinden, demnach 1-1 statt 11 oder 4-5 statt 45. Sie wollten dadurch eine Verwechslungsgefahr mit dem amerikanischen Zahnschema vermeiden helfen.
Das amerikanische Zahnschema
Im amerikanischen Zahnschema (Universal Numbering System), das 1883 vom Briten George Cunningham (1852–1919) nach einer Idee von Gustav Julius Parreidt (1849–1933) entwickelt wurde, werden die Zähne beginnend beim oberen rechten Weisheitszahn und endend beim unteren rechten Weisheitszahn im Uhrzeigersinn von 1 bis 32 durchnummeriert. Es wird unverändert bevorzugt in den USA verwendet und ist seit 1975 das offizielle Zahnschema der American Dental Association (ADA). Eine Kennzeichnung der Quadranten entfällt. So bekommt der obere rechte Eckzahn die Kennzahl „6“, der untere linke erste Prämolar die Kennzahl „21“.
Die Milchzähne werden analog von rechts oben beginnend im Uhrzeigersinn mit den Buchstaben „A“ bis „T“ bezeichnet, so dass der obere linke seitliche Schneidezahn die Kennzeichnung „G“ erhält, der untere rechte zweite Milchmolar die Kennzeichnung „T“. Alternativ werden die Milchzähne ebenfalls durchnummeriert und erhalten als Unterscheidungsmerkmal ein nachfolgendes „d“ (von deciduous dentition, dt.: Milchgebiss). Der rechte obere Milchmolar erhält somit entweder die Bezeichnung „A“ oder „1d“.
Im amerikanischen Zahnschema werden die Zähne so notiert, dass der aus Patientensicht rechts befindliche Zahn im Schema aus Zahnarztsicht rechts notiert wird. Der aus Patientensicht rechte obere Weisheitszahn wird im Schema deshalb oben rechts eingetragen. Der Patient sieht sein Zahnschema deshalb im amerikanischen System – im Gegensatz zum FDI-Zahnschema – wie im Spiegel.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Die Verwendung des amerikanischen Zahnschemas ist nicht einheitlich, so dass auch eine Notation verwendet wird, bei der die Zähne – wie im FDI-Zahnschema – aus Patientensicht aufgezeichnet werden.
Es kann sich nur die Aufzeichnungsweise im amerikanischen Zahnschema ändern, die Zahnbezeichnung selbst ändert sich nicht. Beispielsweise hat der obere rechte Weisheitszahn in beiden Varianten immer die Zahnbezeichnung „1“.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
In den Streitkräften der USA werden Modifikationen des Universal numbering systems verwendet:
Zahnschema der US-Armee
Im Zahnschema der US-Armee werden die bleibenden Zähne des Oberkiefers jeweils von der Mitte aus nach hinten von 1 bis 8 durchnummeriert, im Unterkiefer von 9 bis 16. Die Milchzähne werden im Oberkiefer jeweils von der Mitte aus mit den Buchstaben A bis E und im Unterkiefer mit den Buchstaben F bis J bezeichnet.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema der US-Marine
Die US-Marine verwendet das Universal numbering system, jedoch mit dem Unterschied, dass die Nummerierung im jeweiligen rechten Kiefer beginnt und nicht „im Kreis herum“ erfolgt. Im Milchgebiss werden in der gleichen Systematik entweder Buchstaben oder römische Zahlen verwendet.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema nach Zsigmondy
Dieses Zahnschema wurde 1861 von Adolph Zsigmondy (1816–1880) entwickelt. Es wird auch als Altes deutsches System bezeichnet. Es findet sich noch in älteren Aufzeichnungen in Karteikarten.
Er hat die Zähne durch einen rechten Winkel mit einem waagerechten und einem senkrechten Schenkel ihrem Quadranten zugeordnet, der die Mittellinie und die Kauebene repräsentiert. Die horizontale Linie des Winkels liegt bei den Oberkieferzähnen unter der Ziffer, im Unterkiefer darüber. Der senkrechte Teil des Winkels liegt im ersten und vierten Quadranten rechts von der Ziffer, im zweiten und im dritten links. So bekommt der obere rechte Eckzahn die Kennzeichnung 3, der untere linke erste Prämolar die Kennzeichnung 4. Gesprochen wird: „oben rechts drei“ bzw. „unten links vier“.
Die Milchzähne werden mit römischen Zahlen bezeichnet, so dass der obere linke seitliche Schneidezahn die Kennzeichnung II erhält, der untere rechte zweite Milchmolar die Kennzeichnung V.
Bei einer früheren Variante wurde der Schrägstrich „/“ (für oben) und der umgekehrte Schrägstrich „\“ (für unten) – (slash und backslash) – verwendet, die der Ziffer vorangestellt (für links) oder nachgestellt (für rechts) wurden. So bekam der obere rechte Eckzahn früher die Kennzeichnung 3/, später 3, der untere linke erste Prämolar die Kennzeichnung \4, später 4.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema nach Palmer
Der Zahnarzt Corydon Spencer Palmer (1820–1917, Ohio, USA) hat das Zahnschema nach Zsigmondy für das bleibende Gebiss beibehalten, jedoch im Jahre 1870 für das Milchgebiss abgeändert. Er hat die Milchzähne mit lateinischen Großbuchstaben bezeichnet, um die Verwechslungsgefahr zu reduzieren. In der amerikanischen Schreibweise wird die „1“ ohne Aufwärtsstrich als „I“ geschrieben, wodurch im Zahnschema nach Zsigmondy bei der Zahnangabe I keine Unterscheidung zwischen dem Milchfrontzahn und dem bleibenden Frontzahn möglich war. Der Zahn II wurde fälschlicherweise als 11 gelesen. Deshalb hat Palmer die Milchzähne in jedem Quadranten jeweils von der Mitte aus nach hinten mit den Buchstaben A bis E bezeichnet. Die seitdem nach ihm bezeichnete Palmer Notation wird von Studenten und Zahnärzten im Vereinigten Königreich bevorzugt. Aber auch Kieferorthopäden und Kieferchirurgen in den USA verwenden bevorzugt die Palmer Notation.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschemata im Vergleich
Nachfolgend sind die gebräuchlichsten Zahnschemata im Vergleich dargestellt. Die Zahnbezeichnungen überzähliger Zähne werden nur bei Bedarf zusätzlich angegeben.
Bleibendes Gebiss
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Milchzahngebiss
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Verwechslungsgefahr
Es besteht bei internationaler Verwendung von Zahnbezeichnungen, beispielsweise bei einer Überweisung eines Patienten, eine Verwechslungsgefahr mit dem FDI-Zahnschema. Beispielsweise bezeichnet ein Zahnarzt, der das amerikanische System benutzt, den zweiten Molaren der linken Oberkieferhälfte mit „15“ (fifteen – fünfzehn). Ein Zahnarzt, der das internationale System verwendet, liest die Bezeichnung nach FDI als Zahn eins-fünf, demnach als den oberen rechten Prämolaren, den fünften Zahn des ersten Quadranten, obwohl nach FDI-Zahnschema der Zahn 27 (zwei-sieben) gemeint war.
Ungebräuchliche Zahnschemata
Insbesondere in älterer Fachliteratur findet man früher gebräuchliche Zahnschemata, die nachfolgend beschrieben werden.
Zahnschema nach Haderup
Im Zahnschema nach dem dänischen Zahnarzt Victor Haderup (1845–1913), der es 1887 entwickelt hatte, werden die Zähne durch ein Pluszeichen im Oberkiefer und ein Minuszeichen im Unterkiefer ihrem Quadranten zugeordnet. Es wird auch als das Skandinavische System, beziehungsweise als das Dänische System bezeichnet. Es ist in älteren Aufzeichnungen zu finden, wird aber in Dänemark und in der Schweiz auch heute noch verwendet. Die Plus- und Minuszeichen sind jeweils zur Mittellinie hin angeordnet, das heißt, sie sind im ersten und vierten Quadranten der Ziffer nachgestellt, im zweiten und im dritten vorangestellt. So bekommt der obere rechte Eckzahn die Kennzeichnung „3+“, der untere linke erste Prämolar die Kennzeichnung „–4“. Gesprochen wird: „oben rechts drei“ bzw. „unten links vier“.
Bei den Milchzähnen wird den Ziffern eine „0“ vorangestellt, so dass der obere linke seitliche Milchschneidezahn die Kennzeichnung „+02“ erhält, der untere rechte zweite Milchmolar die Kennzeichnung „05–“. Es gab zuvor die Variante, Milchzähnen statt der „0“ ein „l“ (für lat.: lacteus, milchig) voranzustellen.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Das französische Zahnschema
Im französischen Zahnschema (franz.: Numérotation de la denture humaine) wurde früher eine Kombination aus Buchstaben und arabischen bzw. römischen Ziffern verwendet. Dabei steht „D“ für droite (franz. rechts) und „G“ für gauche (links). Die Großbuchstaben werden für den Oberkiefer, die Kleinbuchstaben für den Unterkiefer verwendet. Die arabischen Ziffern bezeichnen bleibende Zähne und die römischen Ziffern die Milchzähne.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema nach Bosworth
Der US-Amerikaner Bosworth entwickelte eine eigene Zahnschemasystematik. Er verzichtet auf Quadrantenbezichnungen und nummeriert die Zähne des Oberkiefers jeweils von der Mitte aus nach distal (hinten) von 1 bis 8. Im Unterkiefer verwendet er jeweils von der Mitte aus die Buchstaben A bis H. Milchzähnen wird dabei ein „D“ (für deciduous teeth, Milchzähne) vorangestellt.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema nach Hillischer
Der Wiener Zahnarzt Hermann Theodor Hillischer (1850–1926) veröffentlichte 1885 ein Zahnschema, das die Kennzeichnung der Quadranten mittels Punkten und Unter- und Oberstrichen vornahm. Die Zahnangaben wurden durch ein Komma getrennt. Beispielsweise wurde im rechten oberen Quadranten der Punkt rechts der Ziffer des Zahns angebracht, im linken oberen Quadranten links von der Ziffer. Die Bezeichnung erfolgte oberhalb eines Striches, um den Zahn als dem Oberkiefer zugehörig zu kennzeichnen. Im Unterkiefer steht die Zahnangabe unterhalb eines Striches. Bei Milchzähnen wird statt des Punkts ein Doppelpunkt rechts oder links vom Zahn platziert. Zur Kennzeichnung der Milchmolaren werden jedoch die Zahnnummerierungen der bleibenden Zähne verwendet. Befunde werden dem jeweiligen Zahn mit Buchstaben in Klammern, die Abkürzungen für die Zahnflächen darstellen, zugeordnet. Beispielsweise wird der Befund eines bleibenden, oberen, rechten ersten Molaren mit einer mesialen (m), coronalen (c) und distalen (d) Karies wie folgt erfasst:
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema nach Dubois
Der französische Zahnarzt Paul Dubois entwickelte 1890 ein Zahnschema, das die Zähne des rechten Kieferquadranten mit geraden und die Zähne des linken Kieferquadranten mit ungeraden Zahlen bezeichnete. Um die Oberkieferzähne von den Unterkieferzähnen zu unterscheiden, erhielten die Unterkieferzahnangaben einen Unterstrich.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschema nach Sarjeev
Der indische Zahnarzt Sonkurla S. Sarjeev versucht sich an einem neuartigen Zahnschema, um überzählige Zähne besser darstellen zu können. Er benennt die Quadranten mit Kleinbuchstaben aus dem griechischen Alphabet. Der untere bleibende rechte Eckzahn heißt dabei „Delta-drei“, der untere rechte Milcheckzahn „Eta-drei“. 3,1 % der Männer und 2,6 % der Frauen haben überzählige Zähne. Die Inzidenz variiert je nach Literatur zwischen 0,45 % und 3 %, wobei der größte Anteil (80 %) auf den Mesiodens entfällt, einem überzähligen, mittigen Frontzahn, gefolgt von vierten Molaren. Die Zahnangaben der überzähligen Zähne im System nach Sarjeev sind jedoch nicht eindeutig.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Das lateinische Zahnschema
Das lateinische Zahnschema wurde 1870 vom Salzburger Zahnarzt Eduard Mühlreiter (1839–1917) entwickelt und besteht aus den Anfangsbuchstaben der lateinischen Bezeichnung der Zähne. Die bleibenden Zähne wurden mit Groß-, die Milchzähne mit Kleinbuchstaben bezeichnet und jeweils durchnummeriert. Die Bezeichnung war jedoch nur aus dem gesamten Zahnschema ersichtlich, weil beispielsweise die Bezeichnung M1 nicht ausgedrückt hat, um welchen ersten Molaren (Oberkiefer oder Unterkiefer, rechts oder links) es sich handelt.
(I – Incisivi, C – Canini, P – Prämolaren, M – Molaren).
MICAP-Zahnschema
Eine Neuentwicklung des Jahres 2011 ist das MICAP-Zahnschema. Es ähnelt eher einer Zahnformel, wie sie bereits im 19. Jahrhundert für vergleichende anatomische Studien in der zahnärztlichen Fachliteratur in Deutschland gebräuchlich war und vom Leiter der Würzburger Zahnklinik Jakob Berten (1855–1934) gelehrt und 1888 publiziert wurde. Die Abkürzung steht für die ersten Buchstaben der lateinischen Zahnbezeichnungen, unterbrochen vom Initial des malaysischen Zahnarztes Ashfaq Akram und seines Entwicklerteams, demnach Molar, Incisor, Caninus, Akram, Prämolar. Die Zähne selbst werden als ANAASEA-Buchstaben bezeichnet, die als Abkürzungen für die englischen Kontinentbezeichnungen Asia, North America, South America, Europe und Africa stehen, mit der Bedeutung, dass alle Menschen dieser Kontinente die gleichen Zahntypen aufweisen. Beispielsweise stehen In den vier Ecken des „I“ (Incisor, Schneidezahn) die Nummerierungen der beiden Schneidezähne, demnach im linken oberen Eck die beiden rechten oberen Schneidezähne, im rechten oberen Eck die beiden linken oberen Schneidezähne, im rechten unteren Eck die beiden unteren linken Schneidezähne und im linken unteren Eck die beiden unteren rechten Schneidezähne. Analog werden die Eckzähne (C), die beiden Prämolaren (P) und die drei Molaren (M) jeweils von der Mitte aus nach hinten nummeriert. Die Milchzähne unterscheiden sich dadurch, dass nach der Raute # ein „d“ (für decidous teeth, Milchzähne) gesetzt wird. Die Angabe #2dM bezeichnet den unteren, rechten, zweiten Milchmolaren, die Angabe #dC1 bezeichnet den oberen linken Milcheckzahn. Im zugehörigen Befundbogen (Parodontalstatus) können für jeden Zahn zwei Taschentiefen der Zahnfleischtaschen und der Mobilitätsgrad eingetragen werden. Die übrigen Befunde und eine eventuelle Behandlungsplanung werden in einen Befundbogen befundorientiert eingetragen. Dies bedeutet, dass beispielsweise in einem Feld „Karies“ alle kariösen Zähne mit der MICAP-Bezeichnung eingetragen werden, alle fehlenden Zähne im Befundfeld „fehlende Zähne“ und so fort.
Holländisches Zahnschema
Im Holländischen System wurde der Versuch unternommen, die unklaren Bezeichnungen des lateinischen Systems zu präzisieren, indem unter dem jeweiligen Zahn eine lateinische Zusatzbezeichnung als Abkürzung angefügt wurde. Dabei steht
sd für superior dexter (oben rechts)
id für inferior dexter (unten rechts)
ss für superior sinister (oben links)
is für inferior sinister (unten links)
(I – Incisivi, C – Canini, P – Prämolaren, M – Molaren).
Zahnschemata mit Zahlen-/Buchstabenkombinationen
In Anlehnung an das französische Zahnschema wurden ähnliche Zahlen-/Buchstabenkombinationen in den verschiedenen Sprachen für die vier Quadranten angewandt, wobei die Zähne wie im FDI-Zahnschema von der Mitte aus nach dorsal (hinten) gezählt werden:
Englisch:
UR – upper right
UL – upper left
LR – lower right
LL – lower left
„UL3“ bezeichnet im Englischen den Eckzahn im linken Oberkiefer.
Deutsch:
OR – oben rechts
OL – oben links
UR – unten rechts
UL – unten links
„UL3“ bezeichnet im deutschen Zahnschema den Eckzahn im linken Unterkiefer.
Historisches Befundschema
Die S. S. White Company vertrieb 1907 in den USA Karteikarten, die von S. H. Guilford entwickelt worden waren. Dort wurden die Befunde mit speziellen Symbolen eingetragen.
Allgemeines
Zahnloser Kiefer
Im zahnlosen Kiefer werden auch die Kieferbereiche nach denjenigen Zähnen benannt, die im jeweiligen bezahnten Kieferabschnitt stehen sollten. Fehlt beispielsweise der Zahn 46 (wegen Nichtanlage oder nach Extraktion) und soll der fehlende Zahn beispielsweise durch ein Implantat oder durch ein Brückenglied oder eine Teilprothese ersetzt werden, so wird der zahnlose Kieferbereich als 46 bezeichnet. Auch die ersetzten Zähne erhalten in der Folge die gleiche Bezeichnung wie die bleibenden Zähne.
Hyperdontie
Bei einer Hyperdontie (Zahnüberzahl) erfolgt die Zählung (außer im amerikanischen Zahnschema) konsequent im jeweiligen System weiter. Im FDI-Schema heißt beispielsweise ein (überzähliger) Zahn hinter dem rechten oberen Weisheitszahn, der die Bezeichnung 18 hat, konsequenterweise Zahn 19. Bei allen Schemata zugleich besteht allerdings das Problem der Benennung einer Hyperdontie innerhalb einer geschlossenen Zahnreihe. So findet zum Beispiel ein überzähliger Frontzahn im Unterkiefer keine eindeutige Bezeichnung. Den oben beschriebenen Vorschlag Sharmas und Wadhwas, nämlich die beiden Ziffern des FDI-Zahnschemas durch einen Bindestrich zu verbinden, forderten 1986 erneut der polnische Hochschullehrer Zdzisław Krysiński und 1989 Manuel Alfonso Villa Vigil, der Präsident des spanischen Zahnärzteverbandes, um auch überzählige Zähne darstellen zu können, die insbesondere bei einigen ethnischen Gruppen vorkommen. Die Kieferorthopäden Leo Toureno und Jae Hyun Park schlagen vor, die drei gebräuchlichsten Zahnschemata um einen Buchstaben oder eine Ziffer zu ergänzen. Im amerikanischen Zahnschema würde ein überzähliger mittlerer unterer Schneidezahn die Bezeichnung „24A“ („twenty-four-A“) oder „24.1“ („twenty-four-Dot-1“) erhalten; im FDI-Zahnschema lautete dann seine Zahnbezeichnung „31A“ („drei-eins-A“) oder „31.1“ („drei-eins-Punkt-1“); im Palmer/Zsigmondy-Zahnschema würde der zweite Prämolar die Bezeichnung 5.1 oder 5A erhalten (gesprochen: „unten rechts fünf-Punkt-eins“ oder „unten rechts fünf-A“).
Zahnschemata in der Tiermedizin
Tierzahnschemata werden von Tierärzten verwendet, wenn sie Behandlungsaufzeichnungen analog den Zahnärzten durchführen.
Zahnschema nach Triadan
Die Zahnbenennung beim Hund, bei der Katze oder beim Pferd erfolgt im Zahnschema nach Zahnarzt Hugo Triadan (1930–1987), der es 1972 an der Universität Bern entwickelt hat. Triadan hat sich an das FDI-Zahnschema des Menschen angelehnt. Im Triadan-Zahnschema werden – zur Unterscheidung mit dem FDI-Zahnschema des Menschen – nach den Quadrantenziffern die Zahnziffern von der Mitte aus rachenwärts mit einer „0“ beginnend gezählt. Der jeweils erste Zahn hat deshalb die Bezeichnung „01“. Es wird auch Three-Digit System (dt.: Drei-Ziffern-System) genannt. Demnach erhält der obere rechte erste Schneidezahn die Benennung „101“ (eins – null – eins), „1“ für den ersten Quadranten, „01“ für den ersten Zahn dieses Quadranten; der untere linke Eckzahn (Fangzahn) erhält die Benennung „304“ (drei – null – vier). (Hunde, Katzen und Pferde haben drei Schneidezähne je Quadrant.) Im Milchgebiss erfolgt die Quadrantennummerierung analog dem FDI-Zahnschema mit den Ziffern 5, 6, 7, 8. Das bleibende Gebiss des Hundes hat 42 Zähne, das der Katze 30 Zähne, des Pferdes 36–44 Zähne.
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
(Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren).
Zahnschemata verschiedener Lebewesen
Die Zahnformel (auch: Gebissformel) ist eine Übersicht über die bei einem Säugetier vorkommenden Zähne. Sie wird in der Regel nur für eine Hälfte des Ober- und Unterkiefers dargestellt, da Gebisse immer vertikal spiegelsymmetrisch sind. Die Kenntnis der Zahnformeln ermöglicht das Erkennen von nicht ausgebildeten Zähnen. In der Tierzucht werden solche Individuen häufig von der Zucht ausgeschlossen. In der Zoologie wird eine kürzere Art von Zahnformeln verwendet, um die Gebisse verschiedener Arten oder höherer Taxa miteinander zu vergleichen.
Siehe auch
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Zahn
Zahnmedizin
Tierzahnheilkunde |
1028293 | https://de.wikipedia.org/wiki/Heller%20Tigerpython | Heller Tigerpython | Der Helle Tigerpython (Python molurus) ist eine Schlangenart aus der Familie der Pythons (Pythonidae) und wird dort in die Gattung der Eigentlichen Pythons (Python) gestellt. Er ist in großen Teilen der Tropen und der Subtropen Südasiens verbreitet. Dort bewohnt er viele bewaldete Habitate, die nicht allzu weit von Gewässern entfernt sind, und lebt gelegentlich auch am Rande menschlicher Siedlungen.
Die Nahrung besteht je nach Größe der Pythons aus kleinen bis mittelgroßen, sehr selten auch großen Wirbeltieren bis hin zu halbwüchsigen Schweinshirschen und erwachsenen Leoparden. Tigerpythons sind wie alle Arten der Gattung Python eierlegend (ovipar) und gehören zu den Arten, bei denen die Weibchen die Bebrütungstemperatur durch Muskelzittern deutlich erhöhen können. Der Tigerpython wird aufgrund der Bestandsbedrohung durch direkte Verfolgung und Habitatzerstörung von der IUCN als „gefährdet“ („vulnerable“) eingestuft.
Beschreibung
Körperbau und Erbgut
In Pakistan erreichen Helle Tigerpythons meist eine Gesamtlänge von 2,4 bis 3 Metern. In Indien werden Helle Tigerpythons durchschnittlich 3 Meter lang. Das bestätigt eine Studie im indischen Keoladeo-Nationalpark, wo im Jahr 1990 Helle Tigerpythons von über 1,5 Meter Gesamtlänge vermessen wurden. Von den 135 Individuen waren die größten 25 % 2,7 bis 3,3 Meter lang. Nur zwei Exemplare erreichten beinahe 3,6 Meter. Wegen zahlreicher Verwechslungen mit dem Dunklen Tigerpython in der Vergangenheit sind gesicherte Angaben zur maximalen Körperlänge für die Art aber kaum verfügbar. Ein sehr großes Exemplar ist aus Pakistan bekannt, es maß gesamthaft 4,6 Meter und wog 52 Kilogramm.
Juvenile Tiere sind recht schlank gebaut, adulte Tigerpythons haben jedoch einen sehr kräftigen Körper. Hinsichtlich Körperlänge und -gewicht ist ein deutlicher Geschlechtsdimorphismus vorhanden: Weibchen sind im Mittel erheblich größer und schwerer als Männchen. Der Kopf ist wuchtig, beinahe zweimal so lang wie breit und mäßig vom Hals abgesetzt. Die seitliche Anordnung der Augen ergibt ein Sehfeld von 135°. Der kräftige Greifschwanz macht bei Weibchen etwa 12 % und bei Männchen bis zu 14 % der Gesamtlänge aus. Aftersporne sind bei Männchen deutlich prominenter ausgebildet als bei Weibchen.
Das Erbgut besteht aus 36 diploiden Chromosomen (2n = 36) mit 16 Makrochromosomen und 20 Mikrochromosomen.
Beschuppung
Die Nasenlöcher sind dorsal angeordnet und jeweils von einer großen nasalen Schuppe umgeben. Die Nasalia (Nasenschilde) sind voneinander durch ein Paar kleiner, aber deutlich erkennbarer Internasalia (Zwischennasenschilde) getrennt. An diese grenzen wiederum rechteckähnliche Präfrontalia (Vorstirnschilde) an. Ein zweites, viel kleineres Paar Präfrontalia, welches oftmals in mehrere kleine Schuppen geteilt ist, liegt zwischen den vorderen Präfrontalia und den sehr ähnlich geformten paarigen Frontalia (Stirnschilde). Über den Augen befindet sich ein großes Supraoculare (Überaugenschild). Das Rostrale (Schnauzenschild) hat, wie bei den meisten anderen Pythons, zwei tiefe Labialgruben.
An den Kopfseiten folgen den nasalen Schuppen Richtung Auge mehrere Lorealia (Zügelschilde), welche in Größe und Aussehen variieren. Normalerweise sind zwei Präocularia (Voraugenschilde) und drei bis vier Postocularia (Hinteraugenschilde) vorhanden. Die Subocularia (Unteraugenschilde) sind artspezifisch ausgebildet. Es gibt 11 bis 13 Supralabialia (Oberlippenschilde), von denen die ersten und zweiten tiefe Labialgruben tragen. Von den 16 bis 18 Infralabialia (Unterlippenschilde) besitzen mehrere vordere und hintere undeutliche Labialgruben. Der sechste oder siebte Oberlippenschild (Supralabiale) grenzt direkt an den Augenunterrand. Beim Dunklen Tigerpython ist das Auge durch eine vollständige Reihe Unteraugenschilde (Subocularia) von den Supralabialia getrennt.
Die Anzahl der Ventralia (Bauchschilde) variiert je nach Herkunft der Individuen zwischen 245 und 270, die Anzahl der dorsalen Schuppenreihen in der Körpermitte zwischen 58 und 73. Die Anzahl der paarigen Subcaudalia (Schwanzunterseitenschilde) beträgt 57 bis 83. Das Anale (Analschild) ist ungeteilt.
Färbung
Die helle Grundfarbe des Tigerpythons wird zu den Flanken hin blasser. Über den Rücken ziehen 30 bis 38 große, oft rechteckförmig ausgebildete, dunkle Sattelflecken. Auf den Flanken verlaufen alternierend zur Rückenmusterung große dunkle Flecken, welche unterartspezifisch geformt sind. Die helle Bauchseite ist zum Schwanz hin dunkel gesprenkelt. Auf den Kopfseiten verläuft ein spitz zulaufendes, dunkles Band vom Auge Richtung Nase. Ein breiteres, schwarz umrandetes Band zieht vom Auge bis unter den Mundwinkel. Dieses schließt zusammen mit einem unterhalb des Auges liegenden keilförmigen dunklen Fleck ein weißes Areal ein. Von der Nase über die Augen bis zum Nacken verläuft ein pfeilspitzenförmiges braunes Muster mit einem hellen Punkt in der Mitte. Die Farbintensität der Pfeilzeichnung ist unterartspezifisch ausgeprägt.
Die Grundfarbe ist weißlich, hellgrau, gelblich oder beige und bei Jungtieren oftmals mit einem rosa Schimmer versehen. Tiere aus den Bergwäldern in West-Ghats, Assam und Sri Lanka sind generell dunkler gezeichnet als solche vom Dekkan-Plateau und der Ostküste Indiens. Die großen beige bis kastanienbraunen Sattelflecken werden von einer feinen dunklen Linie umrandet. Auf dem Festland sind die Sattelflecken meist etwa rechteckig ausgeprägt, während sie besonders bei Tieren von Sri Lanka oft eine unregelmäßige Form zeigen.
Die schmalen Flankenflecken sind rundlich, dreieckig bis rhombusartig und weisen oftmals einen hellen Kern auf. Die Bauchseite ist weißlich, gelblich oder leicht orange. Das pfeilspitzenförmige braune Muster auf der Kopfoberseite ist bei Jungtieren oft noch gut ausgeprägt, jedoch bei Erwachsenen typischerweise von der Nasenspitze zu den Augen hin verwaschen. Bei einigen Individuen verschwindet der Pfeil beinahe komplett und ist nur noch im Bereich des Hinterhauptes erkennbar. Herkunftsunabhängig kann die Kopfoberseite zusätzlich blassrosa gefärbt sein. Die Zunge ist rosa.
Gebiss
Die dünnen, länglichen Zähne sind durchgehend spitz und zum Rachen hin gebogen. Am vorderen Teil der oberen Mundhöhle befindet sich das Zwischenkieferbein mit vier kleinen Zähnen. Die Oberkieferknochen tragen jeweils 18 bis 19 Zähne. Hiervon sind der 2. bis 6. Zahn am größten und gleich lang. Zur Maulspitze und zum Rachen hin werden die übrigen Zähne stetig kleiner. Gegen die Mitte der oberen Mundhöhle liegen parallel zu den Oberkieferknochen vorne das Gaumenbein und weiter hinten das Flügelbein. Ersteres hat sechs Zähne, die der Länge derjenigen des vorderen Oberkieferknochenabschnittes entsprechen. Die 8 bis 10 Zähne auf dem Flügelbein sind so lang wie die des hinteren Oberkieferknochens. Die Unterkiefer tragen jeweils 16 bis 19 Zähne. Die Zähne 2 bis 8 sind die größten und etwa gleich lang. Zur Maulspitze und zum Rachen verlieren die übrigen Zähne an Größe.
Systematik
Der wissenschaftliche Name des Hellen Tigerpythons wurde im Jahr 1758 durch Carl von Linné, den Begründer der binären Nomenklatur, in seiner Systema Naturae geprägt. Im Jahr 1820 beschrieb der deutsche Naturforscher Heinrich Kuhl eine weitere Riesenschlange, den Dunklen Tigerpython, die lange Zeit als Unterart von Python molurus angesehen wurde (Python molurus bivittatus). Über die innere Systematik der Tigerpythons wurde etwa 200 Jahre lang kontrovers diskutiert. Die Verbreitungsgebiete der beiden Formen überschneiden sich mit Sicherheit in Nordost-Indien, Nepal, West-Bhutan, Südwest-Bangladesch und eventuell auch in Nordwest-Burma. Bisherige Beobachtungen in Indien und Nepal zeigen, dass die beiden Arten bei sympatrischem Vorkommen entgegen früheren Annahmen verschiedene, teilweise sogar dieselben Habitate bewohnen und sich untereinander nicht verpaaren. Jacobs und Mitarbeiter schlugen deshalb im Jahr 2009 vor, den beiden Formen gestützt durch die zwei charakteristischen morphologischen Unterschiede in Kopfseitenbeschuppung und Kopfoberseitenmusterung jeweils Artstatus zu verleihen. Die Trennung in zwei Arten ist inzwischen auch in der Reptile Database, einer wissenschaftlichen Online-Datenbank zur Taxonomie der Reptilien, vollzogen worden.
1945 wurde eine Population auf der Insel Sri Lanka von Deraniyagala als eigenständige Unterart namens P. m. pimbura beschrieben. Anhand von Färbung, Musterung und Anzahl der Subcaudalia (Schwanzunterseitenschilde) weniger Tiere wies er auf Unterschiede zur Festlandform von P. molurus hin. Jedoch betrachtete bereits Constable 1949 die Unterschiede als nicht ausreichend. Für ihn spiegelten sie eine zu erwartende Variationsbreite von Individuen innerhalb einer Population wider. Seither wurden die Tigerpythons von Sri Lanka nicht mehr ausführlicher morphologisch oder genetisch untersucht. Dennoch findet ihr Unterartstatus heute allgemein keine Unterstützung mehr. Sie werden wieder als Inselpopulation von Python molurus geführt.
Innerhalb der Eigentlichen Pythons sind der Helle und der Dunkle Tigerpython nach einer molekulargenetischen Untersuchung am nächsten mit dem Nördlichen und Südlichen Felsenpython verwandt. Dies geht aus einer neueren molekulargenetischen Untersuchung hervor, die den Nördlichen Felsenpython und den Hellen Tigerpython einschließt.
Verbreitung
Das Verbreitungsgebiet des Hellen Tigerpythons reicht von Südost-Pakistan über Indien und Sri Lanka bis nach Nepal, Bhutan und Bangladesch.
In Nordost-Indien, Nepal, West-Bhutan, Südwest-Bangladesch und eventuell auch in Nordwest-Burma überschneidet sich die Verbreitung mit dem Dunklen Tigerpython. Sie bewohnen hier benachbarte Lebensräume, an einigen Orten sogar dieselben.
Lebensraum
Tigerpythons besiedeln ein breites Spektrum von Habitaten, dazu zählen tropischer Regenwald, Bergwald, Nebelwald, Galeriewald, Mangrovenwald, Sumpfland, Grasland, saisonal trockenes Buschland bis hin zu steinigem, sandigem Hügelland. Voraussetzung ist dabei stets Gewässernähe. Die meisten Vorkommen befinden sich unter 200 Meter über Meer.
In Teilen Indiens, wo die beiden Arten sehr nahe nebeneinander existieren, wird der Helle Tigerpython in trockenen Wäldern und in ariden, sandigen Arealen gefunden, während der Dunkle Tigerpython feuchtes, von Fließgewässern durchzogenes Grasland besiedelt. Tigerpythons werden im Gegensatz zu Netzpythons weitgehend als Kulturflüchter beschrieben. In der Nähe und auf landwirtschaftlichen Nutzflächen macht er aber immer wieder Jagd auf Nagetiere. In Indien wurden Individuen wiederholt in Wohngebieten und Stadtgärten aufgegriffen.
Lebensweise
Verhalten
Trotz seines riesigen Verbreitungsgebietes und seiner Häufigkeit in einigen Bereichen des Areals ist über das Verhalten dieses Pythons nur wenig bekannt. Der Tigerpython ist eine vorwiegend bodenbewohnende Schlange, die sich auf dem Untergrund gemächlich und in gerader Linie fortbewegt. Als langsamer, guter Kletterer hält er sich oft auch im Geäst von Büschen und Bäumen auf, um gut getarnt Beute aufzulauern. Die Tiere klettern gelegentlich in erhebliche Höhen, in Südindien wurde beispielsweise ein Heller Tigerpython von 1,5 Meter Gesamtlänge in einer Baumkrone in 15 Meter Höhe beim Verspeisen eines Flughundes beobachtet.
In Bereichen mit Seen, Flüssen und sonstigen Gewässern führen die Schlangen ein semi-aquatisches Leben. Im Wasser bewegen sie sich viel schneller und flinker als an Land. Beim Schwimmen ist ihr Körper mit Ausnahme der Schnauzenspitze vollständig ins Wasser eingetaucht. Oft liegen sie auch stundenlang partiell oder ganz untergetaucht am seichten Ufer. Dabei verharren sie bis zu einer halben Stunde komplett unter Wasser ohne Luft zu holen, oder es ragen nur die Nasenlöcher über die Wasseroberfläche hinaus.
Im Gegensatz zum ebenfalls wasserliebenden Netzpython scheint der Tigerpython das Meer zu meiden.
Ihre bevorzugten Versteck- und Ruheplätze sind Erdhöhlen, Felsspalten, verlassene Säugetierbauten, Termitenhügel, hohle Baumstämme, Mangrovenwurzeldickicht und hohes Gras.
Tigerpythons sind überwiegend dämmerungs- und nachtaktiv. Allerdings hängt die tageszeitliche Aktivität eng mit der Umgebungstemperatur zusammen. In Gebieten mit deutlichen jahreszeitlichen Temperaturunterschieden sucht sie in kühlen und heißen Monaten ein Versteck mit angenehmerem, konstanterem Mikroklima auf.
Eine Untersuchung Heller Tigerpythons im nordwestindischen Keoladeo-Nationalpark zeigte, dass sie sich bevorzugt bei Temperaturen zwischen 20 und 30 °C bewegen. Im Winter von Mitte Dezember bis Ende Januar verlassen sie ihr Versteck nur während der warmen Mittagszeit, um sich in der Nähe für bis zu 6 Stunden zu sonnen. Die Futtersuche unterbleibt meist. Im Frühling zwischen Februar und März, wo das Mikroklima in den Höhlen eigentlich günstiger ist, sind Tigerpythons sowohl am Tag als auch in der Nacht aktiv. Grund dafür ist die Paarungszeit. Ab April bis in den Sommer hinein zeigen sie Aktivitätsmaxima während Sonnenaufgang und Abenddämmerung. Sie meiden die Mittagshitze und die kühle Nacht. Die zunehmende Wärme im Sommer führt zu einer verstärkt nächtlichen Aktivität. Der günstigere Temperaturdurchschnitt in dieser Jahreszeit senkt die Bindung an feste Verstecke und fördert die Wanderschaft. Bei starker Hitze, besonders in Kombination mit niedriger Luftfeuchtigkeit, sinkt die Aktivität wieder. Kühlende Verstecke gewinnen dann an Bedeutung.
In Nordpakistan, Nordindien und Nordburma fallen Tigerpythons über die kühlen Monate in eine Kältestarre, meist von Dezember bis Februar, im südwestlichen Teil von Jammu sogar noch länger. Dabei verringern sie ihren Stoffwechsel erheblich. An Überwinterungsstellen unter Steinen, Laubhaufen oder in Baum- und Erdhöhlen finden sich manchmal mehrere Individuen zusammen.
Auf der Suche nach Beute sind besonders jüngere Tigerpythons aktiv. Dabei liegen zwischen Versteckplatz und Jagdrevier teilweise mehrere Kilometer Distanz. Sehr große Tigerpythons scheinen sich außerhalb der Paarungszeit eher weniger zu bewegen. Sie lassen sich meist in einem idealen, beutereichen Territorium mit gutem Versteckplatz nieder. Über das Sozialverhalten der Art gibt es ebenfalls noch erhebliche Wissenslücken. An verschiedenen Orten Indiens teilen sich mehrere Helle Tigerpythons, teilweise über das ganze Jahr hinweg, ihre Versteckplätze. Im Keoladeo-Nationalpark wurden gleichzeitig schon 12 Individuen in einer Erdhöhle gefunden.
Im Keoladeo-Nationalpark, wo es an hohlen Bäumen, Felsspalten oder sonstigen Verstecken mangelt, ist der Helle Tigerpython auf schützende Erdhöhlen des Indischen Stachelschweines angewiesen. Erstaunlicherweise bewohnen die Pythons die meisten Höhlen zusammen mit Stachelschweinen, obwohl diese Säugetiere normalerweise zur Beute des Tigerpythons gehören. In einer Erdhöhle wurden neben 3 Pythons 5 indische Stachelschweine und 350 Rundblattnasen-Fledermäuse gezählt. Eine mögliche Erklärung für das verträgliche Zusammenleben könnte an der Enge der Höhlen liegen, welche dem Python das Fangen, Erdrosseln und Verschlingen verunmöglicht.
Nahrung
Das Beutespektrum reicht von Säugetieren und Vögeln bis zu wechselwarmen Echsen und Amphibien: Frösche, Kröten, Warane, Fledermäuse, Flughunde, Hirschferkel, Zibetkatzen und zahlreiche Nagetiere werden gefressen. Auch fängt er Wasser-, Stelz- und Hühnervögel. Die Größe des Beutetieres korreliert dabei mit der Größe des Tigerpythons. Von großen Exemplaren ist ausnahmsweise Beute bis zur Größe von kleinen Affen wie junge Hanuman-Languren, Wildschwein-Ferkeln, Goldschakalen, Muntjaks, Indischen Gazellen, halbwüchsigen Schweinshirschen als auch Pferdehirsch- und Axishirsch-Kitzen belegt. Ein Individuum mit 4,5 Meter Gesamtlänge hat beispielsweise einen Schweinshirsch mit 18 Zentimeter langen Hörnern verschlungen. Allzu große Hörner stellen aber ein Verschlinghindernis dar und bergen die Gefahr innerer Verletzungen. Zu den größten und wehrhaftesten nachgewiesenen Beutetieren gehört auch ein Leopard. Im Magen eines gesamthaft 5,4 Meter langen Tigerpythons wurde ein adultes Exemplar mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 1,25 Meter gefunden.
Systematische Untersuchungen zur Zusammensetzung des Beutespektrums wurden bisher offenbar nicht veröffentlicht. In der Studie von Bhatt und Choudhury (1993) im Keoladeo-Nationalpark waren offenbar Vögel die Hauptnahrung. Wahrscheinlich ist die Ernährungsweise an das Beuterepertoire des jeweiligen Habitats und an jährliche Fluktuationen durch Nagerwanderungen und Vogelzug adaptiert.
Als Lauerjäger passt er seine Beute bevorzugt aus Verstecken, im Geäst oder im Wasser ab. Hat der Tigerpython ein Beutetier erkannt, bewegt er sich langsam darauf zu und wackelt dabei oftmals arttypisch mit dem Schwanz. Blitzschnell wird dann das Opfer gepackt, umschlungen und im für Würgeschlangen typischen Griff erstickt. Wenn nötig, kann der Würgegriff für mehr als eine Stunde aufrechterhalten werden. Je nach Größe des Beutetieres kann das anschließende Verschlingen mehrere Stunden dauern. Kleine Beute ist oft schon innerhalb einer Woche verdaut.
Der Verdauungstrakt passt sich an die Verdauungsverhältnisse an. So wächst die Dünndarmschleimhaut zwei Tage nach der Fütterung bis auf das Dreifache an. Nach etwa einer Woche schrumpft sie wieder auf ihre Normalgröße zurück. Für den gesamten Verdauungsvorgang werden bis zu 35 % der mit der Beute aufgenommenen Energie benötigt.
Fortpflanzung
Zur Fortpflanzung im Freiland ist ebenfalls sehr wenig bekannt. In Nordindien finden sich Paare in den kühlen Monaten von Dezember bis Februar in einem gemeinsamen Überwinterungsquartier zusammen. Trotz niedriger Temperaturen und verringertem Stoffwechsel gelingt in dieser Zeit die Paarung. Entlang des Ganges-Beckens wird Balz und Kopulation ebenfalls während der Überwinterung von Ende Dezember bis Mitte Februar beobachtet. Im nordwestindischen Keoladeo-Nationalpark liegt die Paarungszeit Heller Tigerpythons in der zweiten Hälfte der kühlen Saison, von Mitte Februar bis März. In dieser Periode unterbleibt die Nahrungsaufnahme nahezu vollkommen. Die Paarungsbereitschaft des Weibchens wird dem Männchen durch einen braunen, flüssigen Sexuallockstoff (Pheromon) aus der Kloake signalisiert. Nach einer Verfolgungs- und Annäherungszeit kriecht das Männchen über seine Partnerin, drückt seinen Kopf an sie und beginnt sie mit seinen Afterspornen zu kratzen. Das stimulierte Weibchen hebt seinen Schwanz an. Nun kann das Tigerpython-Männchen einen seiner zweigelappten, abgeflachten Hemipenisse in die Kloake des Weibchens einführen. Die Kopulation dauert in Gefangenschaft zwischen zehn Minuten und sieben Stunden und wird in den kommenden Tagen, zum Teil auch über Monate hinweg, mehrfach wiederholt.
Über die Interaktionen zwischen Männchen in der Paarungszeit ist aus der Natur noch nichts bekannt. In Gefangenschaft werden Tigerpython-Männchen in dieser Zeit teilweise territorial und liefern sich mit Nebenbuhlern Kommentkämpfe. Treffen zwei Konkurrenten aufeinander, bezüngeln sie sich anfangs, beginnen sodann nebeneinander her zu kriechen, stellen sich mit dem vorderen Drittel auf, steigen aneinander empor und versuchen den Gegner zu Boden zu drücken. Bleibt eine Unterwerfung aus, kommt es zum heftigen Kratzen mit den Afterspornen und schließlich zu heftigen Beißereien.
In Mittelindien dauert die Trächtigkeit 2 bis 4 Monate. In der Mitte der heißen Saison um den Monat Mai sucht sich das Weibchen einen Eiablageplatz. Dieser Platz besteht aus einem ungestörten Versteck unter einem Haufen aus Ästen und Blättern, einem hohlen Baum, einem Termitenhügel oder einer unbewohnten Höhle. Abhängig von Größe und Verfassung des Weibchens werden durchschnittlich 8 bis 30 Eier gelegt. Aus Nordindien ist ein Rekordgelege von 107 Eiern bekannt. Die weichschaligen, weißen Eier messen 74–125 × 50–66 Millimeter und wiegen 140–270 Gramm. Die zusammenklebenden Eier werden vom Weibchen umringt und beschützt. Durch die Schlingenanordnung wird die Feuchtigkeit und Wärme reguliert. Zudem ist das Tigerpython-Weibchen zum Muskelzittern befähigt. Es erhöht mit diesem Effekt die Temperatur um bis zu 7,3 °C. Das erlaubt das Brüten in kälteren Regionen unter Beibehaltung der optimalen Inkubationstemperatur um 30,5 °C. In der Regel nimmt das Weibchen während der Bebrütungszeit keine Nahrung zu sich und verlässt das Nest nicht.
Frische Eierschalen und frisch geschlüpfte Jungtiere werden im indischen Keoladeo-Nationalpark Ende Juli bis Anfang August gefunden. Danach dauert die Brutzeit etwa 2 Monate. Die frisch geschlüpften, von nun an auf sich allein gestellten Jungtiere besitzen im größten Teil des Verbreitungsgebietes eine Gesamtlänge zwischen 40 und 60 Zentimeter und wiegen 80 bis 150 Gramm. Die Geschlechtsreife erlangen Tigerpythons mit zirka drei Jahren.
Alter und Lebenserwartung
Angaben zum Durchschnitts- und Maximalalter freilebender Individuen sind unbekannt. Es wird jedoch angenommen, dass Tigerpythons in der Natur unter günstigen Bedingungen mehr als 30 Jahre alt werden. In Gefangenschaft wird ein Durchschnittsalter von 25 Jahren erreicht.
Natürliche Feinde
Abgesehen vom Menschen hat der Tigerpython besonders in seiner Jugend viele Feinde. Dazu gehören beispielsweise Königskobras, Indische Mungos, Großkatzen wie Tiger und Leoparden, Bären, verschiedene Eulen sowie einige Greifvögel wie der Schwarzmilan. Zu den Nesträubern zählt unter anderem der Bengalenwaran (Varanus bengalensis).
Gefährdung und Populationsstatus
Die kommerzielle Ausbeutung des Hellen Tigerpythons für die Lederindustrie hat in zahlreichen Ländern seines Verbreitungsgebietes einen signifikanten Populationsrückgang bewirkt. In Indien und Bangladesch war der Tigerpython um 1900 noch häufig und weit verbreitet. Es folgte eine exzessive Bejagung über mehr als ein halbes Jahrhundert, wobei aus Indien jährlich bis 15.000 Häute nach Japan, Europa und in die USA exportiert wurden. In den meisten Gebieten führte das zum massiven Rückgang der Population und an zahlreichen Orten sogar zur kompletten Ausrottung. 1977 wurde der Export in Indien gesetzlich verboten. Der illegale Handel hält aber bis heute an. Gegenwärtig ist der Tigerpython in Indien außerhalb von Schutzgebieten nur noch selten zu finden. In Bangladesch ist er auf wenige Gebiete im Südosten beschränkt.
Bestimmte Volksstämme in Indien und Sri Lanka jagen den Tigerpython des Fleisches wegen. In Indien und auf Sri Lanka wird das Fett äußerlich zur Linderung von Prellungen, Verstauchungen, Brüchen, Rheuma und innerlich gegen Aussatz angewendet.
Ausgedehntes Kahlschlagen von Wäldern, Waldbrände und Bodenerosionen sind in Tigerpythonhabitaten ein zunehmendes Problem. Auch die zunehmende Zersiedelung und Landwirtschaftsausdehnung einer ständig wachsenden Bevölkerung schränkt seinen Lebensraum immer mehr ein. Das alles führt zur Schrumpfung, Isolierung und letztendlich zur Ausrottung einzelner Populationen. Habitatverluste sind in Pakistan, Nepal und Sri Lanka hauptverantwortlich für den Rückgang des Tigerpythons, einen bedeutenden Handel gab es in diesen Ländern nie. Deswegen musste diese Schlange in Pakistan 1990 für bedroht erklärt werden. In Nepal gilt der Tigerpython als gefährdet und ist nur noch im Chitwan-Nationalpark häufig. Auf Sri Lanka beschränkt sich sein Lebensraum zunehmend auf den unberührten Dschungel.
Als unmittelbar bedroht wird der Helle Tigerpython im Anhang I des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens geführt und darf nicht gehandelt werden. Der Tigerpython wird von der IUCN als „gefährdet“ („vulnerable“) eingestuft.
Tigerpython und Mensch
Verhalten gegenüber Menschen
Wildlebende Tigerpythons sind normalerweise wenig aggressiv. Werden sie gestört, zischen sie warnend oder kriechen weg und versuchen sich zu verstecken. Erst bei massiver Beunruhigung verteidigen sie sich durch kräftige, schmerzhafte Abwehrbisse. Nur wenige Tiere sind schnell reizbar und gehen von Anfang an zur Abwehr über. Das gilt insbesondere für einzelne Individuen von Sri Lanka. In der Wildnis lebenden Tigerpythons wurde wiederholt nachgesagt, Menschen getötet zu haben. Hauptsächlich unbeaufsichtigte Babys und kleine Kinder sollen im Verbreitungsgebiet Opfer geworden sein. Es gibt jedoch keine seriösen Belege dafür.
Kulturelles
Bereits in frühen indischen Kulturen nutzten Priesterinnen das ruhige Naturell des Hellen Tigerpythons für den Schlangentanz. Diese Tiere wurden jung gefangen und in Tempeln in stabilen Körben aufgezogen. Durch ständigen Kontakt mit dem Menschen legten sie meist jegliche Bissigkeit ab. Auch die später aufgekommenen zahlreichen ehemaligen indischen Fürstenstaaten hielten an ihren Höfen Tigerpythons als Beschützer der Herrscherfamilie. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert behängten sich Schlangenbeschwörer und Fakire Indiens ebenfalls gerne mit Tigerpythons. Im heutigen Indien ist Schlangenbeschwören, Besitz oder Töten dieses vom Aussterben bedrohten Pythons verboten. Die Strafe beläuft sich auf eine Buße und bis zu 6 Jahre Gefängnis.
In Europa sind Tigerpythons schon lange populäre Tiere. Seit im Tower of London 1245 eine königliche Kollektion von wilden und gefährlichen Tieren eröffnete, wurden hier immer wieder Tigerpythons aus Indien und Sri Lanka ausgestellt. 1829 gelang hier bereits beinahe die Nachzucht. Im Jardin des Plantes in Paris konnte 1842 anhand eines brütenden Dunklen Tigerpythonweibchens erstmals das Muskelzittern und die daraus resultierende Temperaturerhöhung studiert werden.
Im späten 19. Jahrhundert durften diese imposanten Exoten in Menagerien zahlreicher Schlösser und Parkanlagen nicht fehlen. Lange Zeit dienten diese Pythons auch in Schlangenvorführungen im Zirkus und Varieté als Attraktion.
Gegenwärtig erfreut sich der Tigerpython bei privaten Haltern in Europa und den USA großer Beliebtheit. Auch Hybride zwischen Hellem Tigerpython und Dunklem Tigerpython, Tigerpython und Netzpython, Tigerpython und Königspython sowie Tigerpython und den Felsenpythons sind aus Verpaarungen in Gefangenschaft bekannt.
Gesetzliche Haltungsvoraussetzungen
Der Helle Tigerpython ist im Anhang A der Europäischen Artenschutzverordnung geführt und darf ohne Genehmigung nicht gehalten werden. Damit Tigerpythons als potenziell gefährliche Wildtiere artgerecht und sachkundig gepflegt werden und keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen, haben viele Länder zudem gesetzliche Haltungsvoraussetzungen geschaffen.
In der Schweiz gelten laut Tierschutzverordnung von 2008 Mindestanforderungen für die Haltung von Tigerpythons. Das kantonale Veterinäramt stellt Haltebewilligungen aus und führt periodische Kontrollen bei Haltern durch.
In Deutschland gilt in acht Bundesländern ein Gefahrenabwehrrecht für sehr groß werdende Riesenschlangen. Die Haltung von Tigerpythons ist dort genehmigungspflichtig.
In Österreich unterliegt die Tigerpythonhaltung gemäß Tierschutzgesetz von 2004 (§ 25) einer Meldepflicht und der 2. Tierhaltungsverordnung von 2004 Mindestanforderungen. Darüber hinaus herrschen bundeslandspezifische sicherheitspolizeiliche Regelungen. So ist die private Haltung des Dunklen Tigerpythons oder beider Unterarten in gewissen Bundesländern verboten. In anderen gelten teilweise Bewilligungspflichten und stichprobenartige bis periodische Kontrollen.
Einzelnachweise
Weblinks
Pythons |
1053200 | https://de.wikipedia.org/wiki/Aufbahrung%20der%20M%C3%A4rzgefallenen | Aufbahrung der Märzgefallenen | Die Aufbahrung der Märzgefallenen ist ein Gemälde des deutschen Malers Adolph Menzel aus dem Jahr 1848. Es zeigt eine Menschenmenge auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Die Figuren wohnen der Sargaufbahrung von Zivilisten bei, die während der Berliner Märzrevolution ums Leben kamen. Menzel hatte persönlich an der Zeremonie teilgenommen. Noch während des Ereignisses oder kurz danach begann er mit der Arbeit an ersten Vorstudien zum Gemälde. Die linke untere Ecke des Bildes ist nicht in Ölfarbe ausgeführt, weshalb es in der Forschung überwiegend als unvollendet gilt. Über die möglichen politischen oder ästhetischen Beweggründe des Malers dafür besteht unter Kunsthistorikern Uneinigkeit. Das Bild gehört zu der Gruppe der in Deutschland nur selten entstandenen Revolutionsgemälde.
Menzel folgte mit seinem Bild nicht den Vorgaben der traditionellen Historienmalerei. Es wird von der Kunstkritik somit einerseits als „Historienmalerei der Gegenwart“ eingeordnet, andererseits wird die Einordnung als „Historienmalerei“ auch ganz zurückgewiesen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielte die Aufbahrung der Märzgefallenen zunächst keine Rolle, da es im Künstleratelier des Malers verblieb. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde es nach Zürich an eine Privatgalerie verkauft und ging erst 1902 in den Besitz der Hamburger Kunsthalle über, die es erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte.
Bildbeschreibung
Bei dem Gemälde handelt es sich um eine mit Ölfarbe bearbeitete, 45 × 63 Zentimeter messende Leinwand. Der Betrachter blickt leicht erhöht über eine Menschenmenge hinweg, die sich vor dem nördlichen Säulengang des Deutschen Doms auf dem Berliner Gendarmenmarkt versammelt hat. Die meisten Särge sind bereits auf den Stufen der Kirche aufgestellt worden. Sie bilden einen pyramidenförmigen, verschwommen wirkenden, dunklen Fleck, der vom Zentrum des Gemäldes etwas nach links verschoben ist. In seiner Mitte – auf der Höhe der waagerechten Horizontlinie – befindet sich der Fluchtpunkt des Gemäldes. Die zentrale Achse des Bildes wird links durch eine Gruppe Trauernder und rechts durch die Treppenmauern des Schauspielhauses hervorgehoben.
Die im Vordergrund befindliche Menschenmenge nimmt den Großteil des Bildes ein. Sie macht einem weiteren herangetragenen, hellbraunen Sarg Platz, der ebenfalls auf den Stufen des Deutschen Doms abgesetzt werden soll. Die meisten Menschen haben den Blick auf die Särge gerichtet, einige sind jedoch in Gespräche vertieft. Sie scheinen sich, wie der amerikanische Historiker Peter Paret vermutet, über die Ereignisse der letzten Tage und der Zukunft auszutauschen. Vor der Treppenmauer des Schauspielhauses sind weitere Menschen zu sehen, die die dort angeschlagenen Kundmachungen lesen.
Die Berliner Bürgerwehr hat bei dem herangetragenen hellbraunen Sarg Aufstellung genommen. Sie verwehrt Zuschauern den Zutritt in die unmittelbare Nähe der auf der Domtreppe aufgestellten Särge. Eine Gruppe aus drei Figuren, die von der Treppe des Schauspielhauses aus versucht, die Absperrung zu umgehen, wird von einem Mitglied der Bürgerwehr zurückgewiesen. Zwei davon sind bereits im Begriff, wieder umzukehren. Die dritte Person bleibt jedoch stehen und blickt zu den Särgen. Am rechten Bildrand haben sich auf den Treppenmauern des Schauspielhauses mehrere Figuren niedergelassen, wohl des besseren Überblicks wegen. Im linken Hintergrund zieren schwarz-rot-goldene Flaggen mehrere Häuser. Sie stehen als Symbole für die Forderung nach nationaler Einheit Deutschlands. Die Nationalfarben tauchen auch im Vordergrund auf: Rechts, unterhalb des hellbraunen Sargs, trägt ein kleines Mädchen lustlos eine schwarz-rot-goldene Flagge verkehrt herum und unterhält sich dabei mit einem größeren Mädchen. Neben beiden scheint ein Herr in grünem Mantel dem Betrachter entgegenzutreten. Er ist die am größten wirkende Figur des Bildes, die sich auch durch ihre dunkler gehaltene Erscheinung von der Umgebung absetzt. Die Kuppel des Deutschen Doms wird vom Bild ausgespart.
Menzel hielt die soziale Heterogenität der Menge fest; zu sehen sind Bürger, Handwerker, Studenten und Angehörige der Bürgerwehr, auch einige Frauen, Kinder und ein Arbeiter. Nach Ansicht Peter Parets sind die meisten dargestellten Personen Gruppen zuzuordnen, welche den Großteil der Barrikadenkämpfer gestellt hatten, vor allem Gesellen, Handwerksmeister und die soziale Mittelschicht. Obwohl üblicherweise bei öffentlichen Zusammenkünften Uniform getragen wurde, sind – abgesehen von den Studenten – die meisten Bürger zivil gekleidet. Die Figuren formieren sich zwar partiell um den herangetragenen Sarg, nehmen aber keine zeremoniell vorgegebene Aufstellung ein.
An der linken unteren Ecke des Bildes wurde die Unterzeichnung nicht farbig übermalt. In dem Bereich befinden sich auch die Künstlersignatur „Ad. Menzel 1848“ und zwei trauernde weibliche Figuren. Ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. Rechts von ihnen blickt eine männliche Figur, die der Bürgerwehr angehört, zu dem gerade Richtung Kirche getragenen Sarg. Sie trägt über der Schulter ein Gewehr und nimmt eine aufrechte, stolze Pose ein. Zu ihrer linken Seite bilden mehrere Studenten ein Spalier um den Sarg. Im Vordergrund der Szene hat ein großbürgerlich gekleideter Herr seinen Zylinder gezogen. Er erweist damit dem Sarg, aber auch dem Mann der Bürgerwehr die Ehre. Sein Blick ist gleichzeitig abgewandt von dem eigentlichen Geschehen vor dem Deutschen Dom. Die Figur behält ihre linke Hand in einer Manteltasche und steht in einem leeren, halbkreisförmigen Raum.
Entstehungsgeschichte
Das historische Ereignis und der Künstler
Der Maler des Bildes Adolph Menzel war einer der bedeutendsten Vertreter des Realismus, einer Stilform der ungeschönten, detailreichen Bilddarstellung. In seinem langen Leben (1815–1905) wurde der Künstler Zeuge zahlreicher soziopolitischer Ereignisse. Hierzu zählen auch die untrennbar mit dem Bild verbundenen politischen Entwicklungen des Revolutionsjahres 1848.
In diesem Jahr kam es in europäischen Hauptstädten wie Paris und Wien zu gewaltsamen Konfrontationen. Am 18./19. März ereigneten sich auch in Berlin schwere Straßenkämpfe zwischen Zivilisten und königlichen Soldaten. Ziel der Aufständischen in Berlin waren unter anderem eine freiheitliche preußische Verfassung, Pressefreiheit und ein deutscher Nationalstaat. Den Gefechten fielen mehr als 300 Zivilisten und 20 Soldaten zum Opfer. Die umgekommenen Revolutionäre gingen als sogenannte Märzgefallene in die Geschichte ein. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. die Situation in den Straßen Berlins nicht hatte militärisch zu seinen Gunsten entscheiden können und seine Soldaten aus Berlin abgezogen hatte, wurde die Beisetzung der Märzgefallenen organisiert.
Menzel hielt sich während der Kampfhandlungen noch in Kassel auf. Erst am 21. März 1848 kehrte er in die preußische Hauptstadt zurück. Am selben Tag besichtigte er die Überreste von Barrikaden und sah sich Einschusslöcher an den Wänden an. Am Morgen des 22. März 1848 nahm er wahrscheinlich an der Begräbnisfeier der Märzgefallenen teil. Die Zeremonie nahm ihren Anfang auf dem Gendarmenmarkt: Auf den Stufen des Deutschen Doms wurden die mit Kränzen und Schleifen verzierten Särge von 183 Gefallenen aufgebahrt. Menzel beobachtete diese Szene aller Wahrscheinlichkeit nach von den Stufen des Französischen Doms aus. Eben jene Perspektive zeigte er später auf dem Gemälde.
Die Versammelten drückten auf dem Gendarmenmarkt ihre Solidarität mit den Märzgefallenen aus. Sie gehörten allen Gesellschaftsschichten an, darunter waren Kaufleute, Mitglieder des Berliner Handwerkervereins, die Fabrikarbeiter des Lokomotivenherstellers August Borsig und Delegationen aus anderen Städten. Darüber, wie viele tausend Menschen an der Trauerfeier teilnahmen, gibt es unterschiedliche zeitgenössische Angaben. Nach heutigen Schätzungen waren es aber etwa 20 000 Teilnehmer. Am Mittag hielten protestantische, katholische und jüdische Geistliche Predigten im Deutschen Dom. Nach dem Ende der kurzen Gottesdienste brach der Trauerzug in Richtung des eigens angelegten Friedhofs der Märzgefallenen vor den Toren der Stadt auf. Dort wurden die Märzgefallenen in ihren Särgen beigesetzt.
Menzel schilderte seine Eindrücke seinem Freund und Förderer, dem Tapetenfabrikanten Carl Heinrich Arnold, in einem Brief wie folgt:
Als Augenzeuge wohnte Menzel auch einem weiteren symbolischen Akt bei. Als sich die Särge dem Berliner Stadtschloss näherten, forderte die Menge den König und sein Gefolge dazu auf, vor den Märzgefallenen ehrerweisend die Kopfbedeckung abzunehmen. Menzel schrieb darüber: „So oft nun ein neuer Zug Särge vorbeikamen, trat der König baarhaupt heraus, und blieb stehen, bis die Särge vorüber waren. Sein Kopf leuchtete von ferne wie ein weisser Flecken. Es mag wohl der fürchterlichste Tag seines Lebens gewesen sein“. Aussagen wie diese belegen, dass Menzel einerseits Mitleid mit dem König empfand, sich angesichts der Ereignisse andererseits aber auch begeistert zeigte. Da Menzel auch die Gräber der Märzgefallenen in Friedrichshain zeichnete, geht der Kunsthistoriker Werner Busch davon aus, dass er den Trauerzug bis zum Ende begleitete.
Vorstudien und Arbeit am Gemälde
Der 22. März 1848 schien zunächst symbolisch für den Sieg der Revolution in Berlin zu stehen. Davon beeindruckt begann Menzel das Gemälde Aufbahrung der Märzgefallenen anzufertigen. Das Bild sollte den morgendlichen Gendarmenmarkt kurz vor dem eigentlichen Beginn der Trauerfeier zeigen. Menzel erinnerte sich noch etwa ein halbes Jahrhundert nach den Geschehnissen daran, dass er „auf den Beinen [war], fast wie ein Zeitungsreporter, um zu skizzieren“. Tatsächlich haben sich in dem Skizzenbuch des Künstlers mehrere Bleistiftzeichnungen erhalten. Mit ihnen lässt sich der Entstehungsprozess des Gemäldes nachvollziehen. Der Großteil dieser Vorstudien zeigen vor allem architektonische Elemente des Gendarmenmarktes. Auf die noch wenigen im Vordergrund stehenden menschlichen Figuren wird nur mit Strichen verwiesen. Die aufgebahrten Särge der Märzgefallenen kommen in den Zeichnungen noch nicht vor. Nur ein zum Deutschen Dom getragener Sarg ist bereits zentral im Bild zu erkennen. Die Skizze zeigt noch mehrere Passanten, die den Gendarmenmarkt offenbar überqueren wollen. Sie ließ Menzel im Gemälde weg.
Wann Menzel mit den Vorarbeiten zum Gemälde begann, ist Gegenstand einer Debatte unter Kunsthistorikern. Werner Busch nimmt an, dass die der Forschung bekannten Zeichnungen erst nach der Begräbniszeremonie entstanden. Er begründet seine Vermutung mit dem Fehlen von Flaggen und aufgebahrten Särgen, die während der Zeremonie noch zu sehen gewesen waren. Beide Elemente treten erst in der Ölfassung wieder in Erscheinung. Es sei wahrscheinlicher, dass Menzel während des Ereignisses selbst mit der Skizzierung von Personengruppen auf dem Gendarmenmarkt beschäftigt war. Die dazugehörigen Vorarbeiten gingen jedoch verloren. Christopher B. With geht von anderen Entstehungsumständen aus: Die ersten nur flüchtig ausgeführten Vorarbeiten sprechen ihm zufolge dafür, dass Menzel während der Begräbniszeremonie emotional zu überwältigt war, um bereits Details wie Personengruppen auf dem Gendarmenmarkt zeichnerisch festzuhalten. In der Konsequenz hätte er das Gemälde wesentlich aus der Erinnerung schaffen müssen.
Menzels Motivation
Hoch umstritten sind Menzels Motive bei der Entstehung des Bildes. Die Frage besteht darin, ob oder inwieweit er eine politische Botschaft bezweckte. Peter Paret misst der Aufbahrung der Märzgefallenen keine von Menzel beabsichtigte politische Bedeutung bei. Vielmehr sei das Bild ein „Werk von auffallender Unparteilichkeit“. Vergleiche mit schriftlichen Beschreibungen des Ereignisses würden nahelegen, dass Menzel den Moment genau so festhielt, wie er sich tatsächlich zutrug. With meint, dass Menzel eine Kompromisslösung zwischen der miterlebten Wirklichkeit des Ereignisses und einer politischen Botschaft anstrebte. Für den Versuch einer Annäherung an die Realität beruft sich With auf mehrere Gemeinsamkeiten zwischen der Bleistiftzeichnung und dem späteren Gemälde. So steht bereits in der Bleistiftzeichnung die Mehrzahl der Personen im Vordergrund. Auch der Bildausschnitt entspricht dem des Gemäldes. Gleichzeitig sei das Gemälde aber auch als eine politische Botschaft entstanden. Es sei Menzel darum gegangen, Kritik an der Herrschaft Friedrich Wilhelms IV. zu üben. Mit den Särgen werde an die blutige, vom König verschuldete Eskalation erinnert. Die verschiedenen dargestellten sozialen Gruppen sollten eine revolutionäre Geschlossenheit zum Ausdruck bringen. Dieser Einschätzung schließt sich teilweise auch Claude Keisch an. Die Kunsthistorikerin hält allerdings die „Utopie einer sozialen Eintracht“ für zentraler als konkrete demokratische Ideale: Das Bild zeige bezeichnenderweise gerade nicht die Szene, bei welcher der preußische Monarch vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus den Märzgefallenen die Ehre erwies, sondern die Anwesenheit sämtlicher sozialer Gruppen während der Sargaufbahrung auf dem Gendarmenmarkt.
Für Werner Busch spricht die möglichst realistische Darstellungsweise dagegen, das Gemälde als ein „politisches Bekenntnisbild“ zu deuten. Vielmehr habe Menzel versucht, die „widerstreitenden Impulse [der …] Ordnung und Unordnung“ einer versammelten Menschenmenge einzufangen: Einzelne Personengruppen seien zwar zu erkennen, bilden aber keine klaren Einheiten. Ein Ordnungselement sei hingegen der Bereich der schwarzen Särge vor dem Deutschen Dom. Er akzentuiert die waagerechte Mittelachse des Gemäldes.
Françoise Forster-Hahn hält die Entscheidung Menzels, die Morgenstunden kurz vor der offiziellen Zeremonie festzuhalten, für ein Indiz der politischen Unentschiedenheit des Künstlers. Die Abbildung eines morgendlichen Zeitpunktes ermöglichte es ihm, eine weniger auf die Särge beziehungsweise die Revolution konzentrierte Menschenmenge darzustellen. Im Vergleich dazu, so Françoise Forster-Hahn, beschwört eine Zeichnung des Trauerzuges von Johann Jakob Kirchhoff in der Leipziger Illustrirten Zeitung vom 15. April 1848 eine geschlossene Einigkeit der Versammelten.
Möglicher Arbeitsabbruch
Die nicht kolorierte linke untere Ecke des Bildes wird in der Forschung meist als Indiz dafür gedeutet, dass Menzel die Arbeit am Gemälde abbrach. Diskutiert wird dabei vor allem, ob dafür politische Enttäuschungen oder eher ästhetische Probleme verantwortlich waren. Laut With habe Menzel zunächst noch erwartet, dass der gemeinsam auf den Barrikaden errungene Sieg eine zukünftige Annäherung zwischen Adel, Bürgertum und Proletariat bewirken würde. Angesichts des weiteren Verlaufs der Revolution habe sich diese Hoffnung dann allerdings spätestens im September 1848 als Illusion erwiesen. Auch Françoise Forster-Hahn bringt die Arbeitseinstellung mit politischer Erbitterung in Zusammenhang, denn der dargestellte Gendarmenmarkt wurde bereits im November 1848 zu einem Schauplatz für das sich abzeichnende Ende der Revolution: General Wrangel besetzte den Platz, und die im Schauspielhaus tagende preußische Nationalversammlung musste ihre Sitzungen in Berlin beenden. Außerdem sei vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse die Wahrscheinlichkeit gesunken, das Gemälde öffentlich präsentieren zu können.
Paret sieht hingegen die wahrgetreue visuelle Schilderung als entscheidenden Grund dafür, dass Menzel das Bild nicht vollendete: Während sich die Figuren im mittleren Vordergrund nicht zufällig eher statisch und weniger kommunikativ zu verhalten scheinen, sind bei den Akteuren auf der rechten Bildseite viel stärker Bewegungen und Gespräche angedeutet. Menzel sei es nicht gelungen, den historisch korrekt gezeigten Widerspruch zwischen „feierliche[m] Ernst“ und der „große[n] Erregung“ überzeugend in Einklang zu bringen. Zudem störe die individuelle Ausgestaltung einiger Figuren ihre Integration in eine einheitlich wirkende Menschenmenge. Diese ästhetischen Probleme hätten Menzel frustriert und daher die Arbeit an dem Bild einstellen lassen. Busch zufolge beendete Menzel keineswegs seine Arbeit an dem Bild aus politischer Enttäuschung: Die Aufbahrung der Märzgefallenen hing immerhin in Menzels Atelier. Auch seine für den privaten Gebrauch verwendeten Gemälde Balkonzimmer und Schlafzimmer blieben in einem ähnlichen Zustand. Als in der Öffentlichkeit wenig anerkannte Ölskizze schienen die Chancen eines Verkaufs gering. Der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried meint, dass Menzel die Arbeit abgebrochen habe, da er mit der verschwommenen fleckhaften Darstellung der 183 Särge unzufrieden gewesen sein könnte. Folglich sei das Bild nicht den vielen individuellen Schicksalen der Märzgefallenen gerecht geworden. Unklar ist auch der genaue Zeitpunkt der Signierung beziehungsweise der Aufgabe des Bildes. Nach Ansicht von Detlef Hofmann könnte die Signatur noch im Jahr 1848 entstanden sein, da diese eine konkrete Jahreszahl angibt („Ad. Menzel 1848“). Dieser Interpretation widerspricht Fried, da nicht selbstverständlich sei, wann Menzel die Signatur tatsächlich auftrug.
Die Meinung einer Unabgeschlossenheit des Bildes ist in der Forschung nicht unwidersprochen geblieben: Die Verwendung einer Künstlersignatur sieht die österreichische Kunsthistorikerin Karin Gludovatz als Beleg für eine Fertigstellung des Bildes an. Signaturen seien nur bei vollendeten Bildern üblich gewesen. Menzel habe bewusst den Produktionsprozess sichtbar gelassen, um so auf den subjektiven Konstruktionscharakter seines Gemäldes aufmerksam zu machen. Es zeige nicht die Realität, sondern lediglich seine Wahrnehmung und künstlerische Verarbeitung des Ereignisses. Werner Busch argumentiert, dass die Signatur zwar durchaus eine Abgeschlossenheit betonen sollte, durch die Platzierung am unfertigen Rand das Bild jedoch gleichzeitig als nicht vollwertiges Werk ausweisen sollte.
Provenienz und Äußerung Menzels zum Bild
Die Aufbahrung der Märzgefallenen blieb zunächst im Atelier des Künstlers, wo es nur wenige Gäste wie der Maler Alexander von Ungern-Sternberg zu Gesicht bekamen. Folglich spielte das Bild in der öffentlichen Wahrnehmung anders als Revolutionsgemälde wie Eugène Delacroixs Die Freiheit führt das Volk keine Rolle. Der genaue Standort des Bildes in Menzels Atelier lässt sich unter anderem dank einer Fotografie präzise rekonstruieren. Es hing nahe einer Tür, links davon reihten sich mehrere Pferdestudien aneinander. Auch sie nahmen teilweise, wie vermutet wird, auf die Revolution von 1848 Bezug: Als Vorlage verwendete Menzel im April 1848 nämlich abgeschlagene Pferdeköpfe aus einer Berliner Schlachterei. Die Studien thematisieren somit wie das Aufbahrungsbild gewaltsam zu Tode gekommene Körper. In Menzels Atelier befand sich rechts von der Aufbahrung der Märzgefallenen seine Skizze Friedrich der Große in Lissa: Bonsoir, Messieurs!.
Aus Anlass von Menzels 80. Geburtstag 1895 stellte die Berliner Akademie der Künste das Bild erstmals aus. 1896 folgte eine Präsentation in der Menzel-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde das Bild für eine Schweizer Privatsammlung aufgekauft. Käufer war der Seidenfabrikant und Kunstfreund Gustav Henneberg, welcher in Zürich 1897 eine eigene Galerie ins Leben rief. Er zeigte sich an mehreren Hauptwerken Menzels interessiert, darunter die Aufbahrung der Märzgefallenen und Friedrich der Große in Lissa: Bonsoir, Messieurs.
1902 gelang dem Direktor der Kunsthalle, Alfred Lichtwark, die Eingliederung des Bildes in die Hamburger Sammlung. Der Direktor hatte auch die Gelegenheit, den Maler über das Bild zu befragen. Dieser antwortete ihm, er „wäre mit Herzklopfen und hoher Begeisterung für die Ideen, in deren Dienst die Opfer gefallen [sind] an die Arbeit gegangen, aber ehe es fertig gewesen wäre, hätte er gesehen, dass alles Lüge oder dummes Zeug gewesen wäre. Daraufhin hätte er das Bild mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt und in seinem Ekel keine Hand mehr daran legen mögen“.
Menzels Distanzierung von dem Bild wird von Kunsthistorikern wie Helmut Börsch-Supan kritisch hinterfragt: Das Interview fand immerhin 54 Jahre nach der Entstehung des Gemäldes statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kaiser Wilhelm II. den Künstler bereits zum Ritter des Schwarzen Adlerordens ernannt. In den gehobenen Kreisen des kaiserzeitlichen Berlins genoss er eine Reputation, welche er mit einem zu offensichtlichen Bekenntnis zur Revolution von 1848 gefährdet hätte. Gegen eine Abneigung Menzels seinem Bild gegenüber spricht ebenfalls die Fotografie von Menzels Atelier in der Berliner Sigismundstraße, welche das Gemälde an der Wand hängend zeigt. Keisch sieht Menzels Kommentar als eine Ablehnung weiterer sozialer Unruhen: Mit Blick auf Ereignisse wie den Berliner Zeughaussturm vom 14. Juni 1848 habe Menzel seine Position zur Revolution überdacht. Als Beleg führt sie einen Brief Menzels vom September 1848 an, in welchem er die aktuelle politische Entwicklung bewertete: „Zur (gerechten) Indignation über Oben ist nun nur die Indignation über Unten gekommen“. Auch Fried meint, dass Menzel „als typischer Liberaler sich vor allem der Bourgeoisie verbunden fühlte und angesichts der Bereitschaft der Arbeiter, Gewalt anzuwenden“ von der Revolution abwandte.
Einordnung
Bedeutung für Menzels Werk
Menzels Malerei wandte sich nach seiner Arbeit an der Aufbahrung der Märzgefallenen erneut Friedrich dem Großen zu und begann mit Vorarbeiten zu den Gemälden Tafelrunde in Sanssouci und Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci. Die genauen Gründe für diese Interessensverschiebung werden in der Forschung diskutiert. Laut dem Kunsthistoriker Gisold Lammel wollte Menzel in dem längst verstorbenen preußischen Herrscher einen Monarchen sehen, der den Wünschen des Volkes entgegengekommen sei. Eine vom Volk angestoßene Reformierung der Staatsordnung wurde hingegen unrealistischer. Der Kunsthistoriker Hubertus Kohle kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Menzel schätzte König Friedrich Wilhelm IV., der als Monarch für die Eskalation der Gewalt im März 1848 verantwortlich war, als einen schwachen Herrscher ein und setze dem folglich das Ideal des heroischen Königs der Aufklärungszeit gegenüber. Er betont gleichzeitig auch Kontinuitäten: Die „Aufbahrung der Märzgefallenen“ sei als ein „Vorgriff auf die Eigenarten der Friedrich-Bilder“ zu verstehen, denn bereits das Aufbahrungsbild stelle „einen eher marginalen, wenig fruchtbaren Moment“ dar. Es werde nicht der dramatische Höhepunkt des Ereignisses selbst, sondern das Geschehen davor oder danach thematisiert.
Die Aufbahrung der Märzgefallenen war Menzels erster Beitrag zu einer „Historienmalerei der Gegenwart“. Auch seine Berlin-Potsdamer Eisenbahn von 1847, Die Abreise Wilhelms I. aus Berlin im Juli 1870 und das Eisenwalzwerk von 1875 können zeitgenössischen Themen zugeordnet werden. Diese Bilder nehmen entweder auf moderne städtische Räume oder Gesellschaftsausschnitte Bezug. Zum Teil setzen sie sich – wie die Aufbahrung der Märzgefallenen – mit großstädtischen Menschenmengen auseinander, welche Ordnungsstrukturen und soziale Hierarchien negieren. Menzel hat nach Meinung von Keisch diese in dem Märzgefallenenbild angelegte Darstellung noch etwa 50 Jahre lang weiterentwickeln können. So gehe beispielsweise der preußische Monarch in dem Gemälde Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 in der Menschenmenge unter und trete nicht als Hauptfigur in Erscheinung. Bedeutend für Menzels Werk ist die Aufbahrung der Märzgefallenen noch aus einem weiteren Grund: Menzel erprobte hier erstmals eine Ansicht, bei welcher die Vordergrundfiguren gleichzeitig aus der Nähe und einem erhöhten Standpunkt aus betrachtet werden. Dadurch musste er eine perspektivische Verzerrung berücksichtigen und die Körper von oben nach unten verkürzend darstellen. Die Köpfe der Vordergrundfiguren scheinen sich somit räumlich weiter vorne zu befinden als die Füße. Es entsteht der Eindruck, als würden sich die Vordergrundfiguren vom Platz entfernen wollen und aus dem Bild in den Betrachterraum streben.
Opposition zum Historienbild
Eine Gattungszuordnung der Aufbahrung der Märzgefallenen erweist sich als schwierig. Das Bild kann nach Meinung von Karin Gludovatz nicht der Historienmalerei zugesprochen werden, denn es bezieht keine klare Position zu dem historischen Ereignis. Die Aufbahrung der Märzgefallenen könne einerseits als Ausdruck der Ehrerweisung gegenüber den Aufständischen interpretiert werden. Andererseits verzichte das Gemälde auf eine Verklärung des Kampfes. Es unterscheidet sich auch von anderen Revolutionsbildern, da es die Opfer in den Fokus rückt und damit keine Erzählung der nationalen Identität stützt. Die Aufbahrung der Märzgefallenen war nicht Menzels erstes Historienbild, welches die traditionellen akademischen Regeln unterlief. Das sogenannte Kasseler Karton entstand bereits 1847/1848 in Kassel und stellt den Einzug der Herzogin von Brabant in Marburg dar. Die zentrale Figur der Szene, der Dynastiegründer des Hauses Hessen, sticht jedoch nicht aus der versammelten Menge hervor. Die für Historienbilder charakteristische Handlungserzählung eines Helden wird auf diese Weise gestört.
Laut Susanne von Falkenhausen existiert auch in dem Aufbahrungsbild weder eine eindeutig zu identifizierende Haupthandlung noch eine Hauptperson. Im kompositorischen Zentrum – dort, wo üblicherweise die zentrale Figur wirkt – befindet sich eine menschenleere Bodenfläche. Der Sarg, der dorthin getragen wird, scheint sich in der Weite bis zum Deutschen Dom zu verlieren. Der amerikanische Kunsthistoriker Albert Boime wertet die Leerstelle als ein Mittel, mit dem Menzel einen Gegensatz zwischen der Menschenmenge und der Haupthandlung – den aufgebahrten Särgen – konstruiert. Auch die im Bild angedeuteten Bewegungen würden nicht alle auf die Särge verweisen, sondern darauf abzielen, den Eindruck einer zufällig erscheinenden Wirklichkeit zu erwecken. Zu einer ähnlichen Bewertung des Bildes gelangt auch der deutsche Kunsthistoriker Detlef Hoffmann: Menzel wolle mit seiner fotografisch anmutenden Darstellung vieler, auch unwichtiger Details – die vom Hauptgeschehen ablenken – veranschaulichen, „wie sich auch große historische Momente in Zufälligkeiten auflösen“. Dies sei ganz im Sinne der Malerei des Realismus gewesen.
Bedeutung als Revolutionsbild
Jost Hermand stuft die Aufbahrung der Märzgefallenen als das „bedeutendste Bild der deutschen Revolution von 1848“ ein. Es handle sich um ein Bild, welches ganz im Sinne der Malerei des Realismus festhalte, was Menzel als Augenzeuge des Ereignisses tatsächlich gesehen habe. Das Gemälde zeichne dabei „weniger die Hoffnung auf einen möglichen Sieg [der Revolution] als die Trauer um Verlorenes“ aus. Der nach Meinung von Jost Hermand unfertige Zustand habe das Bild zu einem „aufrüttelnden Mahnmal“ werden lassen. Es rufe dazu auf, die noch fehlgeschlagene Revolution von 1848 in der Zukunft erfolgreicher zu verwirklichen. Die in dem Gemälde formulierte radikal ungeschönte „Zeitzeugenschaft“ hält Verena Hein für einmalig in Deutschland beziehungsweise charakteristisch allein für Menzel. Ein derartiges Phänomen lasse sich sonst vor allem bei französischen Malern wie Ernest Meissonier beobachten. Dessen Barrikade in der Rue de la Mortellerie zeige die bei der Revolution getöteten Zivilisten allerdings deutlich schonungsloser als Menzel. Die Aufbahrung der Märzgefallenen zeigt keine Leichen. Die Särge sind geschlossen. Nach Einschätzung der Kunsthistorikerin Claude Keisch verunklart Menzel auf diese Weise eine politische Positionierung. Wolfgang Kemp wertet das Revolutionsbild als „bezeichnend für die deutschen Verhältnisse“. Die Menschenmenge ist, so Kemp, durch das Trauerritual gebändigt und tritt nicht als ein handelnder Akteur auf.
Neben der Aufbahrung der Märzgefallenen existieren nur wenige Bilder bedeutender deutscher Künstler, die auf die Revolution von 1848 referieren. Dazu gehören beispielsweise der Totentanz von Alfred Rethel und der Barrikadenkampf im Mai 1849 von Julius Scholtz. Werner Busch vergleicht die Aufbahrung der Märzgefallenen mit dem „Schwur im Ballhaus“ von Jacques-Louis David. Das Werk thematisiert ebenso wie Menzels Bild ein Ereignis, welches zu seinem Entstehungszeitpunkt noch nicht lange zurücklag. Es wird ein Moment der Französischen Revolution dargestellt: Die Abgeordneten des Dritten Standes geloben im Ballhaus von Versailles nicht auseinanderzugehen, bevor sie Frankreich eine Verfassung gegeben hätten. Das Gemälde hat David nie vollendet, da viele der auf dem Bild zu sehenden Persönlichkeiten kurz darauf der Guillotine zum Opfer fielen. Durch die veränderten politischen Verhältnisse schien das Thema an Relevanz und Angemessenheit verloren zu haben. Ähnliches gälte laut Busch auch für Menzels Aufbahrung der Märzgefallenen. Erst mit großem zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen hätten sowohl Davids als auch Menzels Revolutionsbild ihre ursprüngliche historische Bedeutung zurückgewonnen.
Die Aufbahrung der Märzgefallenen stand vor allem zur Zeit des Deutschen Kaiserreiches im Schatten der Friedrich-Bilder Menzels. Während der preußische König aus dem 18. Jahrhundert als Wegbereiter zum deutschen Nationalstaat umgedeutet wurde und Menzels Königsbilder entsprechend populär wurden, schien die Erinnerung an die Revolution von 1848 zu verblassen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Interesse an dem Bild zu. Zum einen lag dies an einer politischen Rehabilitierung der Revolution von 1848 als Thema. Zum anderen passte das Bild zu dem Trend eines in den 1970er Jahren neu aufkommenden Realismusstils. In der kollektiven Erinnerung an die Begräbniszeremonie vom 22. März 1848 kommt dem Aufbahrungsbild inzwischen eine Schlüsselrolle zu. Der amerikanische Historiker Peter Paret meint, dass ohne Menzels Gemälde heute „die gemeinschaftsstiftenden und politischen sowie die menschlichen Züge der Feier“ unterschätzt werden würden. Die Aufbahrung der Märzgefallenen inspirierte 1953 den Leipziger Maler Bernhard Heisig zu mehreren gleichnamigen Zeichnungen und Lithografien. Vorlage für den DDR-Maler war dabei nicht Menzels Original in der Hamburger Kunsthalle, sondern eine fotografische Reproduktion des Bildes. Wie Menzel zeigt auch Heisig in einer Bleistiftzeichnung die Beförderung der Särge auf den Berliner Gendarmenmarkt. Anders als bei Menzel versammelt sich die Menge jedoch um einen einzelnen Sargkarren. Die aus der Nähe gezeigten Figuren scheinen im Vergleich zu denjenigen in Menzels Gemälde einen größeren Anteil am Schicksal des Märzgefallenen zu nehmen. Die US-amerikanische Kunsthistorikerin April Eisman hält die Bilder für eine Reaktion auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der Deutschen Demokratischen Republik. Da ein öffentliches Trauern um die bei dem Protest getöteten Bürger verboten war, habe Heisig stellvertretend ein länger zurückliegendes Ereignis thematisiert.
Die Aufbahrung der Märzgefallenen fand auch Einzug in Schulbücher und Geschichtsatlanten, wobei es häufig zur Illustration des revolutionären Lagers genutzt wird. Der Kunsthistoriker Andreas Köstler kritisiert eine solche Verwendung. Das Bild sei politisch zu unbestimmt und zu unvollendet, um als „Abbild […] eines historischen Ereignisses“ geeignet zu sein. So macht Köstler darauf aufmerksam, dass die auf den Treppenwänden des Schauspielhauses niedergelassenen Figuren den Eindruck erwecken, als gäbe es keine freien Flächen mehr auf dem Platz. Tatsächlich weist der von Menzel dargestellte Gendarmenmarkt aber eine große Lücke in direkter Nähe zu den aufgebahrten Särgen auf. Für den Kunsthistoriker ist Menzels Gemälde ein „Stellvertreterbild des an mangelnder Entschiedenheit gescheiterten Berliner Revolutionsversuchs“. Zu einer ähnlichen Beurteilung kommt auch Hubertus Kohle: Menzel habe einen sozialen Gegensatz zwischen dem Bürgertum und den „unteren Klassen“ im Bild festgehalten: Während erstere eine feierliche Haltung annehmen, würden letztere lebhafter miteinander debattieren und gestikulieren. Diese Uneinigkeit habe auch entscheidend zum Fehlschlagen der Revolution beigetragen.
Deutung einzelner Figuren
In der Forschung gilt die soziale Zugehörigkeit der Figur, die vor dem Sarg steht und ihren Hut zieht, als strittig. With hält sie für einen Repräsentanten des Adels und Anhänger des preußischen Königs. Paret stuft sie dagegen als einen „Gebildeten und wirtschaftlich Saturierten“ ein. Es handle sich um einen Befürworter des Barrikadenkampfes und liberal gesinnten Bürger. Dem schließt sich auch Gludovatz an. Die Figur sei als ein Vertreter des Bürgertums anzusehen. Nach ihrer Meinung zeigt die Figur ebenso wie das Bürgertum eine ambivalente Haltung zur Revolution. Das Hutziehen könne einerseits als grüßendes Zeichen gegenüber dem Bürgerwehrmann interpretiert werden. Dies würde eine politische Zustimmung zum Ausdruck bringen. Andererseits erinnere die Szene an den preußischen König. Friedrich Wilhelm IV. selbst war auf Druck der versammelten Menschenmenge dazu gezwungen, sein Haupt vor den auf den Hof des Berliner Stadtschlosses getragenen Särgen der Märzgefallenen zu entblößen. Der Monarch erwies mit der Geste ähnlich wie die genannte Figur in Menzels Bild zwar den Revolutionären die Ehre. Dieser Akt geschah jedoch nicht aus Überzeugung. So lässt Menzel die Figur halbherzig abgewendet zu der eigentlichen Handlung stehen. Gleichzeitig belässt der Herr seine linke Hand in der Tasche, was Paret als eine Respektlosigkeit deutet: Menzel könnte damit auf die eigentliche ablehnende Haltung der Figur angespielt haben. Boime sieht in der Figur einen Offizier, der in ziviler Kleidung an der Zeremonie teilnimmt. Der Kunsthistoriker begründet seine Zuordnung mit einer militärisch-aristokratisch wirkenden Körperhaltung und hervorstechend vornehmen Kleidung der Figur. Sie scheint sich genau in die entgegengesetzte Richtung zu jenem Sarg zu drehen, welcher Richtung Deutschen Dom getragen wird. Die durch den Sarg beziehungsweise Märzgefallenen betonte diagonale Achse werde somit von der Figur gestört.
Gludovatz meint, dass Menzel auch sich selbst im Bild positionierte. So berührt seine Künstlersignatur einerseits die trauernden Frauen. Andererseits scheint der gezogene Hut der besonders vornehm gekleideten Figur dem Bürgerwehrsoldaten und der Signatur Respekt zu zollen. Die Huldigung des bewaffneten Bürgers scheine so auch im Sinne Menzels zu sein. Busch hält die obere, auf der Treppe des Schauspielhauses stehengebliebene Figur für zentral. Die Bürgerwehr verwehrt ihr den Zutritt zu den Särgen. Somit bleibt ihr – ebenso wie Menzel als historischem Zeugen des Ereignisses – nur die Möglichkeit des Beobachtens. Von dem eigentlichen Bildgeschehen bleibt die Figur ausgeschlossen.
Literatur (Auswahl)
Werner Busch: Adolph Menzel, Leben und Werk, Beck, München 2004, ISBN 978-3-406-52191-1, S. 85–91.
Susanne von Falkenhausen: „Zeitzeuge der Leere. Zum Scheitern nationaler Bildformeln bei Menzel“, in: Claude Keisch/Marie Ursula Riemann-Reyher (Hrsg.), Ausstellungskatalog Adolph Menzel. 1815-1905, das Labyrinth der Wirklichkeit, Berlin 1996, ISBN 978-3-7701-3704-6, S. 494–502.
Françoise Forster-Hahn: „Die Aufbahrung der Märzgefallenen“. Menzel’s Unfinished Painting as a Parable of the Aborted Revolution of 1848. In: Christian Beutler, Peter-Klaus Schuster, Martin Warnke (Hrsg.): Kunst um 1800 und die Folgen. Prestel, München 1988, ISBN 978-3-7913-0903-3, S. 221–232 (englisch).
Karin Gludovatz: Nicht zu übersehen. Der Künstler als Figur der Peripherie in Adolph Menzels „Aufbahrung der Märzgefallenen in Berlin“ (1848). In: Edith Futscher u. a. (Hrsg.): Was aus dem Bild gefällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur. München u. a. 2007, ISBN 978-3-7705-4347-2, S. 237–263.
Françoise Forster-Hahn: Das unfertige Bild und sein fehlendes Publikum. Adolph Menzels „Aufbahrung der Märzgefallenen“ als visuelle Verdichtung politischen Wandels. In: Uwe Fleckner (Hrsg.): Bilder machen Geschichte: Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst. De Gruyter, Berlin 2014, ISBN 978-3-05-006317-1, S. 267–279.
Christopher B. With: Adolph von Menzel and the German Revolution of 1848. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 24 (1979), S. 195–215.
Weblinks
Information der Hamburger Kunsthalle zum Bild
Einzelnachweise
Gemälde (19. Jahrhundert)
Historiengemälde
Gruppenbildnis
Hamburger Kunsthalle
Gemälde von Adolph Menzel
Tod in der Malerei
Deutsche Revolution 1848/1849 |
1327302 | https://de.wikipedia.org/wiki/Georg%20Lindemann | Georg Lindemann | Georg Lindemann (* 8. März 1884 in Osterburg (Altmark); † 25. September 1963 in Freudenstadt) war ein deutscher Heeresoffizier (seit Juli 1942 Generaloberst). Als Offizier diente Lindemann während des Ersten Weltkrieges im preußischen Heer und machte, nachdem er kurzzeitig in einem Freikorps gedient hatte, Karriere in Reichswehr und Wehrmacht. Während des Zweiten Weltkrieges (1939–1945) befehligte Lindemann zunächst die 36. Infanterie-Division und das L. Armeekorps, bevor er 1942 die 18. Armee übernahm. Nachdem er Anfang Mai 1944 zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord aufgestiegen war, wurde er wegen seiner Weigerung, die Besatzung des „festen Platzes“ Polozk zu opfern, von Adolf Hitler Anfang Juli 1944 entlassen. Das Kriegsende erlebte Lindemann als „Wehrmachtbefehlshaber Dänemark“, wo er noch im Mai 1945 für die Fortsetzung des „Endkampfes“ plädierte. Er führte die deutschen Besatzungstruppen zurück ins Deutsche Reich und in britische Gefangenschaft. Er selbst kam in alliierte und anschließend in dänische Haft, aus der er 1948 entlassen wurde.
Leben
Jugend und Erster Weltkrieg
Beförderungen
26. Februar 1903 Fahnenjunker
18. Oktober 1903 Fähnrich
18. August 1904 Leutnant
18. August 1912 Oberleutnant
28. November 1914 Rittmeister
1. April 1926 Major
1. Februar 1931 Oberstleutnant
1. Juni 1933 Oberst
20. April 1936 Generalmajor
20. April 1938 Generalleutnant
1. November 1940 General der Kavallerie
5. Juli 1942 Generaloberst
Lindemann wurde am 8. März 1884 als Sohn des königlich-preußischen Landesgerichts- und Geheimen Justizrates Hermann Lindemann und dessen Ehefrau Elisbeth (geb. Placke) in Osterburg geboren. Er besuchte das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Hannover und machte dort sein Abitur.
Nach dem Schulabschluss trat Lindemann am 26. Februar 1903 als Fahnenjunker in das Magdeburgische Dragoner-Regiment Nr. 6 in Mainz ein. Nachdem er dort bis in den Rang eines Oberleutnants aufgestiegen war, wurde er am 1. Oktober 1913 zum Jäger-Regiment zu Pferde Nr. 13 in Saarlouis versetzt. Ab dem 1. April 1914 war er zum Dienst in den Großen Generalstab in Berlin abkommandiert, obwohl er zuvor nicht, wie sonst üblich, die Kriegsakademie besucht hatte. Im Generalstab lernte er seinen späteren Vorgesetzten Georg von Küchler kennen, der gleichzeitig dorthin abkommandiert war. Lindemann heiratete 1907 Annemarie von der Osten, mit der er die Kinder Ernst (1908), Rosemarie (1910) und Erika (1912) hatte.
Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges konnte Lindemann seine Ausbildung im Generalstab nicht beenden. Bei der Mobilmachung seines Regimentes kehrte er zu diesem zurück und wurde an der Westfront als Eskadronschef eingesetzt. Nachdem er hier Ende November 1914 zum Rittmeister befördert worden war, wechselte er zum 6. Dezember in den Generalstab des Korps Posen. Anschließend folgten Verwendungen im Generalstab des Garde-Reserve-Korps (3. Februar 1915), des Armeeoberkommandos 12 (7. Juni 1915) an der Ostfront, des Armeeoberkommandos 11 (29. Oktober 1915) auf dem Balkan, des VII. Reserve-Korps (31. März 1916) und des Armeeoberkommandos 1 (19. Juli 1916) an der Westfront. Am 12. Januar 1917 wurde Lindemann Generalstabschef der 220. Infanterie-Division, bis er am 16. Mai 1918 als Offizier von der Armee zur Verfügung der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht von Bayern versetzt wurde. Im August 1918 wurde er leicht verwundet. Am 2. September 1918 übernahm Lindemann erneut den Posten eines Stabschefs, diesmal bei der 200. Infanterie-Division. Während des Ersten Weltkrieges hatte Lindemann also nur kurzzeitig im direkten Fronteinsatz gestanden, aber trotz unvollendeter Stabsausbildung Dienst in verschiedenen Stäben geleistet.
Während des Krieges erhielt er am 9. September 1914 das Eiserne Kreuz der II. und am 28. Juli 1915 das der I. Klasse. Am 20. Mai 1917 wurde ihm zudem das Ritterkreuz des Königlichen Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern verliehen.
Revolutionszeit
Das Jahr 1919 bedeutete für Lindemann einen schweren Einschnitt. Er resümierte in einem späteren Aufsatz: „Mit dem Sturz aller bis dahin für unumstößlich gehaltenen Begriffe der Staatsform, der nationalen Ehre und Würde, von Pflicht und Recht, von Anstand und Sitte zerbrach für den Offizier ein Weltbild.“ In der Überzeugung „das Reich, zunächst einmal als Reich in irgendeiner Form, vor dem Abgrund zu retten“ beteiligte er sich in diesem Jahr an der Niederschlagung kommunistischer Aufstände in München, Halle, dem Ruhrgebiet und Hamburg.
Bald nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Compiègne (11. November 1918) und dem Ausbruch der Novemberrevolution gelangte Lindemann am 10. Januar 1919 als Offizier der Armee z. b. V. zum Oberbefehlshaber Ost. Gleichzeitig gehörte er zum Generalstab des XXII. Reservekorps, das zum Grenzschutz Ost gehörte. Doch nur wenige Wochen darauf versetzte man ihn zurück in seinen Stammtruppenteil, das Jäger-Regiment zu Pferde Nr. 13, welches inzwischen in Colmar lag. Dies diente jedoch nur der Demobilisierung der Einheit, die kurz darauf aufgelöst werden sollte. Lindemann gelangte deshalb schon am 10. März 1919 als Eskadronschef zum Grenadier-Regiment zu Pferde Nr. 3. Fast gleichzeitig erfolgte am 23. März 1919 seine Kommandierung zur Garde-Kavallerie-Schützen-Division und damit auch zum Generalstab der Freiwilligen-Division von Lettow-Vorbeck. Mit diesem Verband nahm Lindemann Anfang Mai 1919 an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik teil und marschierte mit ihm wegen der „Sülze-Unruhen“ am 1. Juli 1919 in Hamburg ein. Hier verließ Lindemann die Freikorps-Verbände. Im August 1919 wurde er als Generalstabsoffizier zum Garnisonsältesten in Hamburg, Altona und Wandsbek kommandiert. Gleichzeitig gehörte er ab dem 1. Oktober auch dem Wehrkreiskommando II an. Am 30. November 1919 erhielt er eine weitere Kommandierung, diesmal als Lehrer an der Infanterie-Schule in München.
Karriere in Reichswehr und Wehrmacht
Lindemann wurde 1921 in die Reichswehr übernommen und zunächst auf seinem Posten als Lehrer belassen. Am 15. September 1922 übernahm er als Truppenoffizier die 2. Eskadron im Reiter-Regiment 7 in Breslau, bevor er am 1. März 1925 in den Stab der 2. Kavallerie-Division (ebenfalls in Breslau) wechselte. Hier erhielt er am 1. April 1926 die Beförderung zum Major. Dies war seit fast zwölf Jahren die erste Beförderung Lindemanns. Zwei Jahre später wurde er Lehrgangsleiter an der Kavallerieschule in Hannover. Nachdem Lindemann am 1. Februar 1931 zum Oberstleutnant aufgestiegen war, übernahm er am 1. Oktober des Jahres den Befehl über das Reiter-Regiment 13. In dieser Funktion wurde er am 1. Juni 1933 Oberst und am 1. Oktober 1934 Kommandeur der Kriegsschule Hannover. Am 20. April 1936 erhielt Lindemann die Beförderung zum Generalmajor und am 6. Oktober die Ernennung zum Kommandeur der 36. Infanterie-Division, welche gerade in Kaiserslautern neu aufgestellt wurde. Dem folgte am 1. April 1938 die Beförderung zum Generalleutnant.
In diesen Jahren betätigte sich Lindemann auch als Militärschriftsteller; er verfasste mehrere Aufsätze. Im Jahr 1936 erschien der Aufsatz Die staatserhaltende Kraft des deutschen Soldatentums im ersten Jahrgang der Militärwissenschaftlichen Rundschau. Darin sah er im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) und der preußischen Niederlage von 1806/07 Beispiele dafür, dass allein der Durchhaltewille und das Ethos der Offiziere in Krisenzeiten einen Staat vor dem Zerfall retten können, wie dies auch von 1918 bis 1923 geschehen sei. Mit Zitaten aus Adolf Hitlers Mein Kampf sprach er in Bezug auf die Ereignisse der Novemberrevolution mehrfach von dem „drohenden Gespenst des Bolschewismus […] mit seinen unabsehbaren Folgen für unsere Kultur.“
In einem weiteren Aufsatz profilierte sich Lindemann als Verfechter des Bewegungskrieges. Allerdings wollte er dabei den motorisierten Truppen keine entscheidende Wirkung zugestehen. Er argumentierte, dass motorisierte Truppen in einem neuzeitlichen Krieg immer auf die motorisierten Truppen des Gegners stoßen würden und sie deshalb keine Neuerung in die operative Kriegführung bringen könnten. Auch Panzerwagen wären nach der Entwicklung von Panzerabwehrwaffen kaum mehr in der Lage, eigenständig eine gegnerische Stellung zu durchbrechen. Er plädierte deshalb dafür, die Panzer zur Unterstützung der Infanterie und nur taktisch einzusetzen, nicht aber operativ in größeren Verbänden. Diese Einstellung stieß auf die entschiedene Ablehnung von Generalmajor Heinz Guderian, dem Kommandeur der 2. Panzer-Division und „Schöpfer der deutschen Panzerwaffe“. Guderian antwortete noch im selben Jahr mit einem eigenen Text auf Lindemanns Aufsatz.
Zweiter Weltkrieg
Divisionskommandeur und Kommandierender General eines Armeekorps
Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde auch die 36. Infanterie-Division mobilisiert. Sie wurde der 1. Armee (Generaloberst Erwin von Witzleben) unterstellt und während des Sitzkrieges, in welchem mit den gegenüberliegenden französischen Truppen nur wenige Berührungen stattfanden, an die Westgrenze in den Raum Mörsbach verlegt. Bei Beginn des Westfeldzuges am 10. Mai 1940 unterstand Lindemanns Division dem VII. Armeekorps (General der Infanterie Eugen von Schobert), das seinerseits dem Armeeoberkommando 16 des Generaloberst Ernst Busch angegliedert war. Schobert wie Busch waren beide im gleichen Dienstalter, möglicherweise sogar jünger als Lindemann und standen trotzdem bereits höher im Rang. Der Historiker Johannes Hürter urteilte: „Georg von Lindemann war […] nach wie vor nur Divisionskommandeur und hinkte gleichaltrigen Kameraden wie Busch oder Reichenau beträchtlich hinterher.“ Ab dem 14. Juni 1940 beteiligte sich die 36. Infanterie-Division am Durchbruch der Heeresgruppe C durch die französische Maginot-Linie. Für seine umsichtige Führung erhielt Lindemann am 5. August 1940 das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen.
Am 1. Oktober 1940 wurde Lindemann Kommandierender General des neu eingerichteten L. Armeekorps und einen Monat später in den Rang eines Generals der Kavallerie erhoben. Das L. Armeekorps wurde im Frühjahr 1941 nach Bulgarien verlegt und von dort aus unter dem Befehl der 12. Armee (Generalfeldmarschall Wilhelm List) vom 6. bis zum 23. April 1941 im Balkanfeldzug eingesetzt. Das Korps gehörte hier den größten Teil der Zeit zur Armee-Reserve und kam kaum ins Gefecht. Im Anschluss an den Balkanfeldzug wurde Lindemanns Generalkommando im Juni/Juli 1941 nach Ostpreußen in den Bereich der Heeresgruppe Nord (Generalfeldmarschall Ritter von Leeb) verlegt, um dort am Angriff auf die Sowjetunion teilzunehmen. Lindemanns Dienststelle war in die unmittelbare Vorbereitung zum Angriff nicht einbezogen gewesen. Er selbst gab später an, erst wenige Tage vor dem 22. Juni 1941 von dem geplanten „Unternehmen Barbarossa“ erfahren zu haben.
Das L. Armeekorps trat im Juli 1941 wieder unter den Befehl der 16. Armee und drang mit ihr an der Südflanke der Heeresgruppe Nord in Richtung Welikije Luki vor. Am 28. Juli 1941 wurde Lindemanns Korps kurzzeitig der 9. Armee der Heeresgruppe Mitte unterstellt. Am 2. August kam es zu erbitterten Kämpfen um die Höhen südwestlich von Welikije Luki, in deren Verlauf die 251. Infanterie-Division des L. Armeekorps schwere Verluste erlitt und hinter die Lowat ausweichen musste, nachdem ihr die Munition ausgegangen war. Lindemann wälzte die Schuld für den Fehlschlag auf den Kommandeur der Division Generalleutnant Hans Kratzert ab, der infolgedessen von seinem Posten enthoben wurde. Eine Untersuchung sprach Kratzert von jeglicher Schuld frei und setzte ihn als Höheren Artilleriekommandeur bei der 18. Armee wieder ein. Der Stabschef der 251. Infanterie-Division und spätere Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr Major Hans Meier-Welcker schrieb über Lindemanns Führung am 5. August 1941 in einem Brief:
Unter Führung des Panzergruppen-Kommandos 4 nahm Lindemanns L. Armeekorps im September 1941 am Vorstoß auf Leningrad teil. Einige Zeit lang war das Korps für den Einmarsch in Leningrad vorgesehen, wobei es eng mit der Einsatzgruppe A zusammenarbeiten sollte. Lindemann selbst sollte Stadtkommandant werden. Die Panzergruppe 4 wurde in der zweiten Septemberhälfte jedoch für die geplante Offensive gegen Moskau (→ Unternehmen Taifun) abgezogen. Lindemanns L. Armeekorps verblieb südlich von Puschkino und hielt die „Leningrader Blockade“ weiter aufrecht. Es unterstand dabei dem Befehl der 18. Armee unter Generaloberst Georg von Küchler, den Lindemann seit 1914 kannte.
Im Winter 1941/42 kam es während der Abwehr der sowjetischen Gegenoffensiven am Wolchow (→ Schlacht am Wolchow) und südlich des Ilmensees (→ Kesselschlacht von Demjansk) im Bereich der Heeresgruppe Nord zu einer Führungskrise. Am 17. Januar 1942 nahm Hitler den von Ritter von Leeb angebotenen Abschied an. An dessen Stelle übernahm Generaloberst von Küchler den Befehl über die Heeresgruppe Nord. Die Wahl eines neuen Oberbefehlshabers der 18. Armee fiel auf Georg Lindemann, der am 18. Januar 1942 diesen Posten antrat. Das Kommando über das L. Armeekorps übernahm dafür General der Kavallerie Philipp Kleffel.
Armee- und Heeresgruppenbefehlshaber
Unter Lindemanns Führung gelang es der 18. Armee, die sowjetische 2. Stoßarmee am Wolchow einzuschließen und sie bis Ende Juni 1942 aufzureiben. Lindemann erhielt dafür am 5. Juli 1942 die Beförderung zum Generaloberst. In den folgenden Wochen wurden auf Weisung des Oberkommandos des Heeres (OKH) Teile der 11. Armee unter Generalfeldmarschall Erich von Manstein in den Bereich von Lindemanns Truppen verlegt. Ihr Auftrag bestand in der Einnahme Leningrads im Rahmen des „Unternehmens Nordlicht“. Als Ende August 1942 eine sowjetische Offensive zum Entsatz der Stadt im Bereich der 18. Armee begann (→ Erste Ladoga-Schlacht), beauftragte Hitler wiederum Manstein mit deren Abwehr. Manstein war „diese offenbare Zurücksetzung“ Lindemanns „etwas peinlich“, er nannte Lindemann „einen alten Bekannten aus dem Ersten Weltkrieg“. Im Herbst 1942 wurde das AOK 11 wieder abgezogen, weil das „Unternehmen Nordlicht“ auf unbestimmte Zeit verschoben worden war. Lindemann war nun wieder selbst dafür verantwortlich, die Blockade Leningrads aufrechtzuerhalten.
Im Januar 1943 gelang es Lindemann jedoch nur noch teilweise, eine weitere sowjetische Entsatzoffensive (→ Zweite Ladoga-Schlacht) abzuwehren. Der sowjetischen Leningrader und Wolchow-Front gelang es, die Blockade der Stadt am 18. Januar 1943 zu durchbrechen und einen schmalen Korridor zu gewinnen. Als sie im Sommer 1943 jedoch versuchten, diesen Erfolg auszuweiten (→ Dritte Ladoga-Schlacht), wurden sie von Lindemanns Verbänden abgewiesen. Für diesen Erfolg wurde ihm am 21. August 1943 das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen.
Laut den amerikanischen Historikern Samuel W. Mitcham und Gene Mueller soll Generalfeldmarschall von Küchler in den folgenden Monaten die Rücknahme seiner Heeresgruppe beantragt haben. Der von Hitler um eine Stellungnahme hierzu gebetene Lindemann soll sich zuversichtlich geäußert haben, auch weitere Offensiven der Roten Armee abwehren zu können. Gleichwohl wurde dann der Heeresgruppe eine frühzeitige Absetzbewegung untersagt. Der sowjetischen Großoffensive im Januar 1944 (→ Leningrad-Nowgoroder Operation) konnte die 18. Armee allerdings kaum mehr etwas entgegensetzen. Nachdem ihre Stellung an den Flanken durchbrochen worden war, erhielt die Armee am 28. Januar endlich die Genehmigung zum Ausweichen an die Luga. Generaloberst Walter Model übernahm am 31. Januar 1944 die Führung der Heeresgruppe Nord. Er setzte bei Hitler die Entscheidung zum weiteren Rückzug in die ausgebaute „Panther-Stellung“ durch, den die 18. Armee ab dem 17. Februar antrat. Am 1. März 1944 machte sie in der neuen Stellung erneut Front. Der Zusammenbruch der Heeresgruppe war damit vorerst vermieden. Model wurde an die Spitze der Heeresgruppe Nordukraine versetzt. Sein Nachfolger im Oberbefehl der Heeresgruppe Nord wurde am 31. März 1944 Georg Lindemann. Zunächst wurde er nur mit der Führung der Heeresgruppe beauftragt, erst am 6. Mai 1944 ernannte man ihn offiziell zum Oberbefehlshaber.
Die Heeresgruppe war bei Lindemanns Befehlsübernahme den gegenüberliegenden Verbänden der Roten Armee weit unterlegen. Sie bestand nur noch aus 30 Infanteriedivisionen mit 110.248 Mann Gefechtsstärke, 30 Kampfpanzern und 206 Sturmgeschützen. Die sowjetische Überlegenheit wurde auf 8:1 geschätzt. Als die Rote Armee ihre erwartete Sommeroffensive (Operation Bagration) begann und schnell tiefe Einbrüche bei der benachbarten Heeresgruppe Mitte erzielte, riss die Verbindung zwischen den Heeresgruppen ab. Zwischen ihnen entstand eine mehr als 40 km breite Lücke, durch die sowjetische Verbände in Richtung der Ostsee vorstießen. Einzig der „Feste Platz“ Polozk konnte noch gehalten werden. Lindemann trat vehement für eine Aufgabe der Stadt und den Rückzug der gesamten Heeresgruppe Nord an die Düna ein. Durch die Räumung des Baltikums sollte die Front verkürzt und die frei werdenden Verbände für operative Gegenangriffe eingesetzt werden. Hitler verbot jedoch eine derartige Bewegung und befahl, Polozk zu halten und die ursprüngliche Lage durch einen Gegenangriff wiederherzustellen. Lindemann bot daraufhin seinen Rücktritt an, der jedoch nicht gewährt wurde. Für den befohlenen Gegenangriff konnten nur zwei Divisionen mit acht Bataillonen und 44 Sturmgeschützen bereitgestellt werden, die 60 km durch zwei sowjetische Armeen vorstoßen sollten. Der Angriff südlich von Polozk begann am 2. Juli und war erfolglos. Gleichzeitig wurde die Lage dadurch verschlechtert, dass die sowjetische 4. Stoßarmee nördlich von Polozk einen tiefen Einbruch erzielte und drohte, die gesamte deutsche Gruppierung einzuschließen. Lindemann befahl daher eigenmächtig den Abbruch des Gegenangriffs und beantragte zudem die Räumung der Stadt, die auch genehmigt wurde, worauf Hitler sein Rücktrittsangebot schließlich annahm. Am 4. Juli 1944 übergab er den Befehl über die Heeresgruppe Nord an General der Infanterie Johannes Frießner. Durch sein eigenmächtiges Handeln bewahrte Lindemann nach Einschätzung des Militärhistorikers Karl-Heinz Frieser seine „Truppen vor einer Katastrophe“.
Wehrmachtbefehlshaber in Dänemark
Die folgenden Monate verbrachte Lindemann ohne weitere Verwendung in der Führerreserve. Er heiratete in dieser Zeit Maria Woller. Am 27. Januar 1945 wurde Lindemann als „Wehrmachtbefehlshaber Dänemark“ eingesetzt, um hauptsächlich verfügbare militärische Ressourcen für den „Endkampf“ zu mobilisieren. Die deutsche Besatzungsmacht in Dänemark wurde zugunsten der Westfront weitgehend ausgedünnt, bis sie im Ernstfall nicht einmal mehr größere Städte wie Kopenhagen hätte verteidigen können. Lindemann konzentrierte sich nun auf die Vorbereitung von „Riegelstellungen“ am Großen und Kleinen Belt.
Am 26. Februar 1945 explodierte unter einem Eisenbahnzug, mit dem Lindemann in Dänemark unterwegs war, eine Bombe. Einige Menschen starben, Lindemann blieb unverletzt. Sein Schlafwagen entgleiste durch die Explosion.
Als sich das Ende des Krieges abzeichnete, beurteilte Lindemann gegenüber dem Nachfolger Hitlers und neuen Regierungschef Großadmiral Karl Dönitz die Verteidigung Dänemarks als aussichtslos. In einer Lagebesprechung zwischen den deutschen zivilen und militärischen Spitzen der Besatzungstruppen von Dänemark und Norwegen mit der letzten Reichsregierung am 3. Mai 1945 im Sonderbereich Mürwik war Lindemann dann jedoch, ähnlich wie Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Generaloberst Alfred Jodl und der Wehrmachtbefehlshaber Norwegen Franz Böhme, der Idee eines letzten „Endkampfes“ nicht abgeneigt. Noch nach Hitlers Suizid wollte Lindemann die „letzte anständige Schlacht dieses Krieges“ schlagen. Dönitz lehnte dies ab und so kam es am 4. Mai bei Lüneburg-Wendisch Evern zur Teilkapitulation der Wehrmacht für Nordwestdeutschland, Dänemark und die Niederlande. Lindemann konnte sich auch nicht mit seiner Forderung durchsetzen, den Hitlergruß beizubehalten.
Als das Gerücht aufkam, der Reichsbevollmächtigte in Dänemark, SS-Obergruppenführer Werner Best, habe sich unter den Schutz der dänischen Freiheitsbewegung gestellt, meldete Lindemann an Dönitz, dass er Best „als Verräter […] standrechtlich erschießen lassen“ wolle. Der Großadmiral erlaubte allerdings lediglich dessen Verhaftung. Das Gerücht erwies sich als falsch, und Werner Best wurde nicht verhaftet. Dönitz forderte Lindemann sogar auf, mit den britischen Verbänden zu kooperieren. Der britische Feldmarschall Bernard L. Montgomery verlangte den Abzug aller deutschen Truppen aus Dänemark mit Ausnahme von Flüchtlingen, Verwundeten, Kranken und ausländischen Hilfskräften. Daraufhin wurde aus den deutschen Verbänden am 6. Mai 1945 die „Armeegruppe Lindemann“ formiert und dem Oberbefehlshaber Nordwest Generalfeldmarschall Ernst Busch unterstellt. Lindemann koordinierte die Einzelheiten der geplanten Rückführung der militärischen Verbände in den folgenden Tagen mit dem britischen General Richard Dewing. Beim Abzug kam es zu Übergriffen dänischer Zivilisten und britischer Soldaten auf Wehrmachtangehörige, gegen die Lindemann scharf protestierte. Der Historiker John Zimmermann schrieb 2006 dazu, Lindemann habe nur Tage vorher seine Soldaten in einem sinnlosen „Endkampf“ verheizen wollen; Lindemanns Verhalten sei entweder ein Zeichen „besonderer Naivität oder Schamlosigkeit“ gewesen.
Nachkriegszeit
Während der Rückführung seiner Verbände blieb Lindemann in seinem Hauptquartier im dänischen Silkeborg auf freiem Fuß; er wurde am 6. Juni 1945 von britischen Truppen gefangen gesetzt. Aus der Haft wurde er am 21. Juli 1947 entlassen. In dieser Zeit sagte er mehrmals bei Befragungen für die Nürnberger Prozesse aus. Er selbst wurde nicht angeklagt. Am 26. September des Jahres wurde er jedoch erneut festgenommen und an Dänemark ausgeliefert, um dort angeklagt werden zu können. Es kam jedoch keine Anklage zustande. Lindemann wurde am 15. Mai 1948 aus der dänischen Kriegsgefangenschaft entlassen. Danach lebte er zurückgezogen in Freudenstadt, wo er 1963 starb.
Nach eigener Aussage hatte Lindemann im Krieg gegen die Sowjetunion den berüchtigten „Kommissarbefehl“ nicht an seine Untergebenen weitergeleitet. In einer Befragung im Zuge der Nürnberger Prozesse erklärte er: „Befehl ist Befehl, aber trotzdem haben die älteren Führer nicht jeden Befehl ausgeführt, und ich gehörte auch dazu.“ Ähnlich verhielt er sich nach eigener Aussage später auch im Hinblick auf den „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ vom 13. Mai 1941, der den Verfolgungszwang gegen Wehrmachtangehörige wegen Straftaten gegen die Zivilbevölkerung aufhob. Als Oberbefehlshaber der 18. Armee bestätigte er gegen deutsche Soldaten verhängte Todesurteile. In einem Fall betraf dies einen Feldpostsekretär, der ein russisches Mädchen getötet hatte, in einem anderen einen Gefreiten, der einen russischen Mann getötet hatte, weil dieser gegen die Beziehung seiner Schwester zu dem deutschen Soldaten gewesen war.
Charles Whiting beschrieb Lindemann dennoch als „glühenden Nazi“ (). Richard Brett-Smith hielt dem entgegen, Lindemann habe im Sommer 1942 selbst in Streit mit dem Reichssicherheitshauptamt der SS gelegen, weil er sich über Gefangenenerschießungen durch die 2. SS-Infanterie-Brigade beklagt hatte. Er sehe deshalb keinen Beweis für die Behauptung, Lindemann sei ein Nazi gewesen. Lindemann selbst versicherte 1948 bei einer Aussage, er habe NSDAP-Parteiführern zu verstehen gegeben: „Ich mische mich nicht in die politischen Belange der Partei, mischen Sie sich nicht in meine militärischen Belange, sonst werde ich feindlich.“ Der ehemalige Luftwaffengeneral Herbert Rieckhoff äußerte hingegen 1945: „War man z. B. am Tisch des Generaloberst Georg Lindemann von der 18. Armee zu Gast, so war bei strenger Auffassung beinahe jedes Wort Hochverrat, sobald über die ›höhere Führung‹ gesprochen wurde.“
Später versuchten Samuel W. Mitcham und Gene Mueller Beweise für Lindemanns positive Einstellung zum Nationalsozialismus darzulegen. Sie erklärten, dass nur Lindemanns „nazifreundliche Einstellung“ () seine Ernennung zum Befehlshaber der 18. Armee erklären könne, denn er habe sonst nichts getan, um sich besonders auszuzeichnen. Tatsächlich waren von den drei anderen Korpskommandeuren der Armee zwei (General der Artillerie Albert Wodrig und General der Infanterie Kuno-Hans von Both) rangälter als Lindemann und der dritte (General der Infanterie Mauritz von Wiktorin) wenigstens ranggleich gewesen. Außerdem hatte Lindemann im Herbst 1943 von Hitler eine stattliche Zuwendung von 200.000 Reichsmark erhalten.
Literatur
Richard Brett-Smith: Hitler’s Generals. Osprey Publishing, London 1976, ISBN 0-85045-073-X.
Karl-Heinz Frieser (Hrsg.): Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, ISBN 978-3-421-06235-2, S. 278–339 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 8), Hrsg.: Militärgeschichtliches Forschungsamt.
Johannes Hürter: Hitlers Heerführer – Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. 2. Auflage. R. Oldenbourg Verlag, München 2006, ISBN 978-3-486-58341-0 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Bd. 66).
Georg Lindemann: Die staatserhaltende Kraft des deutschen Soldatentums. In: Militärwissenschaftliche Rundschau. Nr. 1, 1936, S. 291–308.
Georg Lindemann: Feuer und Bewegung im Landkrieg der Gegenwart. In: Militärwissenschaftliche Rundschau. Nr. 2, 1937, S. 362–377.
Samuel W. Mitcham, Gene Mueller: Hitler’s Commanders. Scarborough House, London 1992, ISBN 0-8128-4014-3.
John Zimmermann: Die deutsche militärische Kriegführung im Westen 1944/45. In: Rolf-Dieter Müller (Hrsg.): Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 und die Folgen des Zweiten Weltkrieges. Deutsche Verlags Anstalt, München 2008, ISBN 3-421-06237-4, S. 277–489 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 10/1).
Weblinks
Nachlass BArch N 985
Einzelnachweise
Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe (Heer der Wehrmacht)
Person (deutsche Besetzung Dänemarks 1940–1945)
Zeuge in den Nürnberger Prozessen
Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich)
Person im Zweiten Weltkrieg (Deutsches Reich)
Rittmeister (Preußen)
Oberst (Reichswehr)
Generaloberst (Heer der Wehrmacht)
Kommandeur einer Infanterie-Division (Heer der Wehrmacht)
Kommandierender General des L. Armeekorps (Heer der Wehrmacht)
Oberbefehlshaber einer Armee (Heer der Wehrmacht)
Träger des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes mit Eichenlaub
Ritter des Königlichen Hausordens von Hohenzollern
Deutscher
Geboren 1884
Gestorben 1963
Mann |