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Schulrecht
225
aufgrund der Bestimmungen in § 3 und § 24 SchulG sogar geboten.
(...)
42 Rechtsweggarantie.
-
Der Ausschluss eines Rechtsmittels gegen Entscheide der Beschwer-
dekommission FHNW über das Ergebnis von Prüfungen gemäss § 33
Abs. 6 Satz 2 des Staatsvertrages über die FHNW ist mit Art. 29a BV
und den Vorgaben des BGG nicht mehr vereinbar.
-
Die Beschwerdekommission ist kein "oberes" kantonales Gericht,
weshalb für die Überprüfung ihrer Entscheide über Prüfungsergeb-
nisse das Verwaltungsgericht zuständig ist.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 20. August 2009 in Sachen
C.S. gegen Fachhochschule Nordwestschweiz (WBE.2009.158).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Das Verwaltungsgericht prüft seine Zuständigkeit von Amtes
wegen (§ 8 Abs. 1 VRPG).
2.2.
Die Rechtsweggarantie auf Verfassungsstufe (siehe Art. 29a
BV) ist ein Grundrecht, auf das sich jeder berufen kann; die
kantonalen Verfahrensgesetze haben sich daran zu orientieren. Des-
gleichen sieht das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom
17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) vor, dass
die Kantone als letzte kantonale Instanzen richterliche Behörden ein-
zusetzen haben (Art. 86 Abs. 2 BGG); Ausnahmen sind möglich bei
Entscheiden mit vorwiegend politischem Charakter (Art. 86 Abs. 3
BGG; vgl. zum Ganzen Botschaft des Regierungsrats des Kantons
Aargau an den Grossen Rat vom 14. Februar 2007, 07.27, Gesetz
über die Verwaltungsrechtspflege [Verwaltungsrechtspflegegesetz,
VRPG], Bericht und Entwurf zur 1. Beratung [nachfolgend: Bot-
schaft VRPG], S. 64 f.).
2010
Verwaltungsgericht
226
Die bundesrechtlichen Vorgaben wurden im Kanton Aargau wie
folgt umgesetzt: Gemäss Botschaft soll das Verwaltungsgericht im
Grundsatz als letzte kantonale Instanz in allen verwaltungsrechtli-
chen Streitfällen eingesetzt werden; Ausnahmen bestehen in Fällen
von Art. 86 Abs. 3 BGG (politische Gründe) oder bei Entscheiden
der Spezialverwaltungsgerichte (vgl. Botschaft VRPG, S. 64 ff.). Ge-
gen letztinstanzliche Entscheide der Verwaltungsbehörden und, wenn
vorgesehen, gegen Entscheide der Spezialverwaltungsgerichte ist ge-
mäss § 54 Abs. 1 VRPG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zuläs-
sig. Ausgeschlossen ist die Beschwerde in den in § 54 Abs. 2 VRPG
aufgezählten Sachbereichen. Die Enumeration in Abs. 2 umfasst die
wichtigsten und hauptsächlichsten Ausnahmen vom Zugang zum
Verwaltungsgericht (politisch gefärbte Entscheide). Es ist indessen
denkbar, dass weitere Einzelfälle in anderen (formellen) Gesetzen
genannt werden. Um auf diese Möglichkeit explizit hinzuweisen,
wurde § 54 Abs. 3 VRPG geschaffen ("Vorbehalten bleiben Sonder-
bestimmungen in anderen Gesetzen"). Immerhin soll aber der Weg
geöffnet werden, eine Verletzung der Rechtsweggarantie vor dem
Verwaltungsgericht zu rügen, damit innerkantonal reagiert werden
kann, wenn ein Sachgebiet zu Unrecht dem gerichtlichen Rechts-
schutz entzogen worden ist und nicht zunächst ein Entscheid des
Bundesgerichts ergehen muss, der den Kanton zur Änderung zwingt
(vgl. Botschaft VRPG, S. 66). Gemäss § 54 Abs. 4 VRPG ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde deshalb auch in den Fällen von § 54
Abs. 2 und 3 VRPG zulässig, wenn die Verletzung des Anspruchs auf
Beurteilung von Streitigkeiten durch eine richterliche Behörde gerügt
wird.
2.3.
Im konkreten Fall steht die Überprüfung eines Entscheids der
Beschwerdekommission der FHNW betreffend eines Prüfungser-
gebnisses (Nichtbestehen der Modulprüfung "Sprache und Kommu-
nikation") zur Beurteilung. Gemäss § 33 Abs. 6 Satz 1 des Staatsver-
trags zwischen den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt
und Solothurn über die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)
vom 27. Oktober 2004 / 9. November 2004 / 19. Januar 2005 (Staats-
vertrag FHNW; SAR 426.070) sind Beschwerdeentscheide der Be-
2010
Schulrecht
227
schwerdekommission der FHNW über das Ergebnis von Prüfungen
endgültig.
Der Staatsvertrag FHNW ist ein interkantonaler Vertrag und
wurde vom Grossen Rat am 8. März 2005 genehmigt. Er unterlag ge-
stützt auf Art. 63 Abs. 1 lit. c KV, in der Fassung gemäss Änderung
vom 18. Dezember 2001, in Kraft seit 1. Januar 2003 (AGS 2002
S. 335), dem fakultativen Referendum. Der Staatsvertrag FHNW
erfüllt damit die Anforderungen eines formellen Gesetzes (BGE 126
I 182; 124 I 217; 120 Ia 266). Nach dem Verständnis der Kantons-
verfassung gehen Staatsverträge dem kantonalen Gesetzesrecht vor.
Dieser Vorrang gilt nach dem Verständnis der Kantonsverfassung
auch gegenüber neueren kantonalen Gesetzen (vgl. § 82 Abs. 3 KV;
Kurt Eichenberger, Verfassung des Kantons Aargau, Textausgabe mit
Kommentar, Aarau / Frankfurt am Main / Salzburg 1986, § 82 N 34).
Der Ausschluss eines gerichtlichen Rechtsschutzes betreffend Prü-
fungsergebnisse beruht somit formell auf einer genügenden gesetzli-
chen Grundlage und der Umstand, dass das revidierte Verwaltungs-
rechtspflegegesetz (VRPG) erst am 1. Januar 2009 (also nach dem
Staatsvertrag FHNW) in Kraft getreten ist, vermag an der Geltung
von § 33 Abs. 6 Satz 1 Staatsvertrag FHNW nichts zu ändern.
Zu prüfen ist indessen, ob ein Ausschlusses von Rechtsmitteln
gegen Entscheide der Beschwerdekommission der FHNW über das
Ergebnis von Prüfungen (§ 33 Abs. 6 Satz 1 Staatsvertrag FHNW)
mit der Rechtsweggarantie vereinbar ist. Gemäss § 95 Abs. 2 KV
und § 2 Abs. 2 VRPG sind die Gerichte von Amtes wegen gehalten,
Erlassen die Anwendung zu versagen, die Bundesrecht oder kantona-
lem Verfassungs- oder Gesetzesrecht widersprechen. Diese inzidente
oder akzessorische Überprüfung der anzuwendenden Normen auf
ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht bezieht sich auf die for-
melle und materielle Richtigkeit einer Norm (AGVE 1990, S. 373;
1986, S. 242; vgl. dazu Ulrich Häfelin / Walter Haller / Helen Keller,
Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7.
Auflage, Zürich
2008,
Rz. 1195 f.; Eichenberger, a. a. O., § 95 N 21 ff.).
2010
Verwaltungsgericht
228
Dazu ergibt sich Folgendes:
2.4.
2.4.1
Gemäss Art. 86 Abs. 2 BGG setzen die Kantone als unmittel-
bare Vorinstanzen des Bundesgerichts obere Gerichte ein, soweit
nicht nach einem anderen Bundesgesetz Entscheide anderer richterli-
cher Behörden der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen.
Nach Art. 86 Abs. 3 BGG können die Kantone für Entscheide mit
vorwiegend politischem Charakter anstelle eines Gerichts eine an-
dere Behörde als unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts einset-
zen.
Die Beurteilung eines Prüfungsergebnisses der FHNW stellt
klarerweise keinen Entscheid mit vorwiegend politischem Charakter
dar. Bei Entscheiden aus dem Bereich des Bildungs- und Prüfungs-
rechts muss der Gerichtszugang gewährt werden (Esther Tophinke,
in: Marcel Alexander Niggli / Peter Uebersax / Hans Wiprächtiger
[Hrsg.], Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, Basel
2009,
Art. 86 N 23). Nach den Vorgaben von Art. 29a BV und des BGG
sind Entscheide über Prüfungsergebnisse bei einer richterlichen Be-
hörde überprüfbar und auf kantonaler Ebene hat letztinstanzlich ein
"oberes" Gericht über Entscheide betreffend Prüfungsergebnisse der
FHNW zu befinden (Art. 114 i. V. m. Art. 86 BGG).
2.4.2.
Als "obere" kantonale Gerichte gemäss Art. 86 Abs. 2 erster
Halbsatz BGG, die als unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts
eingesetzt sind, kommen sowohl die höchsten kantonalen Gerichte in
Verwaltungs-, Zivil- oder Strafsachen (Verwaltungs-, Kantons-, Ap-
pellationsgerichte usw.) als auch verwaltungsunabhängige besondere
Justizbehörden (wie kantonale Rekurskommissionen oder -gerichte)
in Frage. Ein doppelter Instanzenzug wird nicht verlangt; das obere
Gericht braucht also nicht eine Rechtsmittelinstanz zu sein. Genauso
wenig ist ein einheitliches Gericht für sämtliche öffentlich-rechtli-
chen Materien erforderlich; besonders geeignete Spezialgerichtsbe-
hörden wie z. B. ein Haftgericht sind also nicht ausgeschlossen. Hin-
gegen setzt das Erfordernis eines oberen Gerichts voraus, dass die
Justizbehörde für das ganze Kantonsgebiet zuständig und hierar-
2010
Schulrecht
229
chisch keiner anderen Gerichtsinstanz unterstellt ist. Diese Voraus-
setzung ist nicht erfüllt, wenn gegen die Entscheide der fraglichen
Justizbehörde noch eine ordentliche Beschwerde an eine andere
kantonale Instanz erhoben werden kann. Massgebend ist dabei nicht
nur, dass der Gerichtsbehörde im gerade fraglichen Sachbereich
Letztinstanzlichkeit zukommt, sondern dass ihre Entscheide allge-
mein, also auch in den übrigen Zuständigkeitsbereichen, nicht an
eine höhere kantonale Instanz weitergezogen werden können
(BGE 135 II 97 f. mit diversen Hinweisen).
Unabhängig davon, ob die Beschwerdekommission der FHNW
als verwaltungsunabhängige Justizbehörde (wie z. B. kantonale Re-
kurskommissionen oder -gerichte) gilt oder nicht, kommt ihr nur ge-
rade im Bereich der Entscheide über das Ergebnis von Prüfungen
Letztinstanzlichkeit zu. In sämtlichen übrigen Zuständigkeitsbe-
reichen können ihre Entscheide an eine höhere kantonale Instanz
weitergezogen werden: So sieht § 33 Abs. 6 Satz 2 Staatsvertrag
FHNW vor, dass die übrigen Beschwerdeentscheide der Beschwer-
dekommission der FHNW mit verwaltungsgerichtlicher Beschwerde
an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau weitergezogen
werden können; darüber hinaus hält § 33 Abs. 7 Staatsvertrag FHNW
fest, dass die Entscheide der Beschwerdekommission der FHNW in
personalrechtlichen Streitigkeiten an das Personalrekursgericht des
Kantons Aargau weitergezogen werden können. Die Beschwerde-
kommission der FHNW hat somit nur in einem einzelnen Sach-
bereich letztinstanzliche Entscheidkompetenz, weshalb ihr von vorn-
herein keine Stellung eines oberen kantonalen Gerichts nach Art. 86
Abs. 2 erster Halbsatz BGG zukommen kann (vgl. BGE 135 II 99).
Der Rechtsmittelausschluss in § 33 Abs. 6 Satz 1 Staatsvertrag
FHNW erweist sich mit dem Ablauf der Übergangsfrist gemäss
Art. 130 Abs. 2 BGG am 31. Dezember 2008 als bundesrechtswidrig.
Die derogatorische Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) be-
zieht sich auf alle Stufen des Bundesrechts und der kantonalen Nor-
men und führt dazu, dass § 33 Abs. 6 Satz 1 Staatsvertrag FHNW
nicht (mehr) angewendet werden kann. Der Regierungsrat wird ein-
geladen, spätestens bei der nächsten Änderung des Staatsvertrages
2010
Verwaltungsgericht
230
die Rechtschutzbestimmungen den bundesrechtlichen Vorgaben an-
zupassen.
Nach den staatsvertraglichen Rechtsschutzbestimmungen gilt
für das Verfahren das Recht des Kantons Aargau (§ 33 Abs. 3 Staats-
vertrag FHNW) und mit Ausnahme der personalrechtlichen Streitig-
keiten ist das Verwaltungsgericht Beschwerdeinstanz gegen Ent-
scheide der Beschwerdekommission FNHW. Bei diesen Gegeben-
heiten und unter Berücksichtigung der allgemeinen Zuständigkeits-
regel in § 54 Abs. 1 VRPG, wonach das Verwaltungsgericht als letzte
kantonale Instanz verwaltungsrechtliche Streitfälle zu beurteilen hat,
ist auch für die Überprüfung von Entscheiden der Beschwerdekom-
mission der FHNW über Prüfungsergebnisse die Zuständigkeit des
Verwaltungsgerichts gegeben. Die Beschwerdekommission FHNW
hat daher in der Rechtsmittelbelehrung zu Recht auf diese Be-
schwerdemöglichkeit verwiesen. | 2,571 | 1,998 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-42_2009-08-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-42.pdf | AGVE_2010_42 | null | nan |
3508ebe5-4204-507a-837e-7dbb1e3ed714 | 1 | 412 | 870,499 | 1,328,313,600,000 | 2,012 | de | 2012
Verwaltungsrechtspflege
221
IX. Verwaltungsrechtspflege
32 Vollstreckung
Gegen Vollstreckungsentscheide der Staatsanwaltschaft betreffend die
Einziehung von Gegenständen ist die Beschwerde an das Verwal-
tungsgericht zulässig.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 3. Februar 2012 in Sachen
A. gegen Staatsanwaltschaft B. (WBE.2011.408).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Gemäss Art. 439 StPO bestimmen Bund und Kantone die für
den Vollzug von Strafen und Massnahmen zuständigen Behörden
sowie die entsprechenden Verfahren, wobei die besonderen Regelun-
gen in der Strafprozessordnung und im Schweizerischen Strafgesetz-
buch vom 21. Dezember 1937 (StGB; SR 311.0) vorbehalten bleiben
(Art. 439 Abs. 1 StPO). Die Vollstreckung von Entscheiden über Ver-
fahrenskosten und weitere finanzielle Leistungen erfolgt nach den
Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 11. April 1889 über Schuld-
betreibung und Konkurs (SchKG; SR 281.1) (Art. 442 Abs. 1 StPO).
Die Kantone haben, soweit sie dafür zuständig sind, die zum Vollzug
der Strafprozessordnung notwendigen Ausführungsbestimmungen zu
erlassen (Art. 445 StPO).
Die kantonale Vollzugsbehörde in Strafsachen ist allgemein das
zuständige Departement (§ 14 Abs. 1 EG StPO). Der Regierungsrat
kann durch Verordnung andere Behörden mit dem Vollzug von Stra-
fen und Massnahmen sowie mit der Einforderung der Kosten beauf-
tragen (§ 14 Abs. 2 EG StPO).
2012
Verwaltungsgericht
222
Für die Beurteilung von Beschwerden gegen Vollzugsmass-
nahmen des Departements ist der Regierungsrat zuständig. Ausge-
nommen davon sind Beschwerdeentscheide des Departements, die
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzufechten sind (§ 14 Abs. 3
EG StPO). Schliesslich kann der Regierungsrat durch Verordnung
Entscheide der Vollzugsbehörden als endgültig bezeichnen, wenn
diesen von Amtes wegen oder auf Antrag hin ein materieller Ent-
scheid einer strafrichterlichen Behörde nachfolgt (§ 14 Abs. 4
EG StPO).
2.2.
Das Einführungsgesetz zur Schweizerischen Strafprozessord-
nung enthält in §§ 42 ff. weitere Bestimmungen über die Voll-
streckung von strafrechtlichen Entscheiden. Gemäss § 45 Abs. 2
EG StPO sind eingezogene Gegenstände der Staatsanwaltschaft ab-
zuliefern und diese trifft die sachgemässen Entscheide.
2.3.
Der Regierungsrat regelt den Straf- und Massnahmevollzug
durch Verordnung, soweit das Bundesrecht und die kantonalen Ge-
setze keine Bestimmungen enthalten (vgl. § 46 Abs. 1 EG StPO). Die
Strafvollzugsverordnung regelt den Vollzug von strafrechtlichen
Sanktionen gegenüber Erwachsenen (§ 1 Abs. 1 SMV). Der Regie-
rungsrat ist zuständige Beschwerdeinstanz gegen Verfügungen und
Entscheide im Straf- und Massnahmevollzug, soweit nicht ausdrück-
lich eine andere Behörde als solche bezeichnet ist (§ 3 Abs. 1 lit. a
SMV).
2.4.
Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft die Verfügung
über die Einziehung von Gegenständen gestützt auf § 45 Abs. 2
EG StPO erlassen. Die Bestimmungen über die Vollzugsbehörden in
§§ 14 ff. EG StPO beschränken sich auf die Regelung der Zuständig-
keiten für den Vollzug von Strafen und Massnahmen. Die Rechts-
schutzbestimmungen in § 102 SMV betreffen den Vollzug strafrecht-
licher Sanktionen (Abs. 1), Verfügungen und erstinstanzliche Ent-
scheide des Departements Volkswirtschaft und Inneres (DVI;
Abs. 2), Entscheide über Vollzugskosten oder die Entlassung aus
dem Straf- und Massnahmevollzug sowie Rechtsmittelentscheide des
2012
Verwaltungsrechtspflege
223
DVI (Abs. 3) und den Rechtschutz in Disziplinarsachen (Abs. 4). Im
Übrigen wird auf die Bestimmungen des Verwaltungsrechtspflege-
gesetzes verwiesen (Abs. 5).
Ausdrückliche Rechtsschutzbestimmungen gegen Verfügungen
und Entscheide der Staatsanwaltschaft gestützt auf § 45 Abs. 2
EG StPO fehlen sowohl in der Strafvollzugsverordnung als auch im
Einführungsgesetz zur Schweizerischen Strafprozessordnung. Die
Zuständigkeits- und Rechtsmittelbestimmungen der Strafvollzugs-
verordnung regeln ausschliesslich den Rechtsschutz im Straf- und
Massnahmevollzug und kommen daher auf die von der Staatsan-
waltschaft eingezogenen Gegenstände nicht zur Anwendung.
Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass weder die
Strafprozessordnung noch das kantonale Einführungsgesetz oder die
Strafvollzugsverordnung besondere Vorschriften für den Rechts-
schutz gegen Entscheide der Staatsanwaltschaft betreffend die Voll-
streckung der Einziehung von Gegenständen kennen.
2.5.
Der Rechtsschutz im Vollstreckungsverfahren ist im Verwal-
tungsrechtspflegegesetz umfassend formuliert (vgl. § 83 Abs. 1
VRPG) und das Gesetz gilt für alle Behörden der öffentlichen Ver-
waltung (vgl. § 1 Abs. 1 und 2 VRPG). Mangels spezialgesetzlicher
Bestimmung ist gegen Vollstreckungsentscheide der Staatsanwalt-
schaft betreffend die Einziehung von Gegenständen daher die Be-
schwerde an das Verwaltungsgericht zulässig. | 1,079 | 831 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2012-32_2012-02-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-32.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-32.pdf | AGVE_2012_32 | null | nan |
3555ab22-fff7-5a26-812b-bf5f83684d8e | 1 | 412 | 871,794 | 1,178,064,000,000 | 2,007 | de | 2007
Kantonale Steuern
99
29
"Ordnungsbusse" wegen Verletzung von Verfahrenspflichten im Steuer-
recht (§ 235 StG).
-
Nach einer ausdrücklichen "letzten Mahnung" zur Abgabe der Steu-
ererklärung braucht die Steuerbehörde auf Fristerstreckungsgesu-
che nicht mehr einzugehen, sondern kann unmittelbar das Bussen-
verfahren einleiten.
-
Anforderungen an eine "letzte Mahnung".
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 2. Mai 2007 in Sachen
Kantonales Steueramt gegen Steuerrekursgericht und R.H. (WBE.2007.74).
Aus den Erwägungen
3.1. Das Steuerrekursgericht geht davon aus, dass das Nichtein-
reichen einer Steuererklärung innert der angesetzten Frist nur Straf-
folgen habe, wenn der Steuerpflichtige seine Säumnis nicht be-
gründe. Ein Steuerpflichtiger, der zur Einreichung einer Steuererklä-
rung aufgefordert worden sei, dieser Aufforderung aber unter fristge-
rechter Anrufung annehmbarer Gründe nicht nachkomme, könne erst
dann mit einer Busse belegt werden, wenn ihm die Veranlagungsbe-
hörde eine weitere Aufforderung zugestellt habe, in welcher die
Gründe für das Beharren auf der Einreichung der Steuererklärung
angeführt seien. ...
3.2. Das KStA hält dem im Wesentlichen entgegen, bei der
Mahnung vom 31. August 2006 handle es sich um eine letzte Mah-
nung im Sinne von Art. 65 Abs. 4 StGV. Der Beschwerdegegner habe
von der Verfahrenssituation her in diesem Stadium überhaupt nicht
mehr mit einer Fristerstreckung rechnen können. Seinen Ver-
fahrenspflichten sei er deshalb nicht genügend nachgekommen, in-
dem er lediglich ein Gesuch um Fristerstreckung gestellt habe. An-
ders wäre es zu beurteilen gewesen, wenn der Beschwerdegegner be-
reits nach Erhalt der ersten Mahnung datierend vom 30. Juni 2006
um Erstreckung der Frist ersucht hätte, da diese noch keine unwider-
rufliche Frist statuiert habe. Das Beharren auf Einreichung der Steu-
ererklärung sei die notwendige Konsequenz der Mitwirkungspflicht
2007
Verwaltungsgericht
100
der steuerpflichtigen Person; von einer tatbestandsaufhebenden Un-
terlassung der Steuerbehörden könne deshalb keine Rede sein.
3.3. Umstritten ist, wie weit der Straftatbestand der Verletzung
von Verfahrenspflichten gefasst ist, d.h. ob der Steuerpflichtige in
strafrechtlicher Hinsicht seinen Verfahrenspflichten auch dann nach-
gekommen ist, wenn er innert der ihm angesetzten Mahnfrist die
Steuererklärung zwar nicht einreicht, vor deren Ablauf aber die
Gründe für das Ausbleiben bekannt gibt. Dies ist durch Auslegung
des Gesetzes zu bestimmen.
4./4.1. Ausgangspunkt bildet § 180 Abs. 2 Satz 1 StG mit fol-
gendem Wortlaut:
"Die Steuerpflichtigen müssen die Steuererklärung wahrheits-
gemäss und vollständig ausfüllen, persönlich unterzeichnen und samt
den vorgeschriebenen Beilagen fristgemäss der zuständigen Behörde
einreichen."
Für den Fall, dass dieser Pflicht nachgekommen wurde, sieht
§ 180 Abs. 3 StG folgende Vorgehensweise vor:
"Die steuerpflichtige Person, welche die Steuererklärung und
die notwendigen Beilagen nicht oder nur mangelhaft einreicht, wird
aufgefordert, das Versäumte innert angemessener Frist nachzuholen."
Hierzu führt § 65 Abs. 4 StGV näher aus:
Steuerpflichtige, welche die Steuererklärung nicht rechtzeitig
eingereicht oder die zur Behebung von formellen Mängeln ange-
setzte Frist nicht eingehalten haben, sind unter Hinweis auf die Fol-
gen der Unterlassung zu mahnen, die Verfahrenspflichten innerhalb
einer letzten Frist von mindestens 20 Tagen vollständig und richtig
zu erfüllen. Die Mahnung ist durch eingeschriebenen Brief oder ge-
gen Empfangsbestätigung zuzustellen.
Als Sanktion sieht § 235 Abs. 1 StG schliesslich vor:
"Wer einer Pflicht, die ihr oder ihm nach den Vorschriften die-
ses Gesetzes oder nach einer auf Grund dieses Gesetzes getroffenen
Anordnung obliegt, trotz Mahnung vorsätzlich oder fahrlässig nicht
nachkommt, insbesondere
a) die Steuererklärung oder die dazu verlangten Beilagen nicht
einreicht,
2007
Kantonale Steuern
101
(...)
wird mit Busse bis zu Fr. 1'000.--, in schweren Fällen oder bei
Rückfall bis zu Fr. 10'000.-- bestraft."
4.3. Sowohl der Wortlaut von § 235 Abs. 1 lit. a StG als auch
derjenige von § 65 Abs. 4 StGV (grammatikalisches Auslegungsele-
ment) sind eindeutig: Wer die Steuererklärung trotz Ansetzung einer
letzten Frist nicht einreicht, erfüllt den Tatbestand der Verletzung von
Verfahrenspflichten. § 235 StG bezweckt (teleologisches Ausle-
gungselement), den Steueranspruch des Gemeinwesens und die
Durchführung des dazu nötigen Verfahrens sicherzustellen. Dieses
Ziel lässt sich nur richtig durch- bzw. umsetzen, wenn die am Steuer-
verfahren beteiligten Personen ihre Mitwirkungspflichten korrekt er-
füllen. Zu diesem Zweck sehen § 180 Abs. 3 StG bzw. § 65 Abs. 4
StGV die Ansetzung einer letzten Frist von mindestens 20 Tagen vor,
um den säumigen Steuerpflichtigen dazu anzuhalten, die Steuererklä-
rung einzureichen.
4.4./4.4.1. Vor dem Hintergrund des Zweckgedankens von
§ 235 StG kann der Schluss der Vorinstanz, das nicht fristgerechte
Einreichen der Steuererklärung trotz Mahnung habe keine Straffol-
gen, wenn bis dahin die Gründe dafür dargelegt werden, so nicht zu-
treffen. Im Gegenteil würde dieses Verständnis einer letzten Mah-
nung einem Missbrauch Tür und Tor öffnen, indem sich der Steuer-
pflichtige trotz Ansetzung einer letzten Frist kurz vor deren Ablauf
durch einfache Mitteilung beliebiger Gründe die Straffolgen abwen-
den könnte. Dies würde die Durchsetzung der Mitwirkungspflichten
erheblich erschweren und dem Zweck des § 235 StG zuwiderlaufen.
Da die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung gesetzlich vorge-
schrieben und inhaltlich klar ist (§ 180 StG), ist die Steuerbehörde
grundsätzlich nicht gehalten zu begründen, dass und warum sie auf
der Erfüllung dieser Pflicht beharrt. Die in der Rechtsprechung be-
gründete Ausnahme bezieht sich auf Fälle, wo der Steuerpflichtige
geltend macht, es sei ihm (zurzeit) unmöglich oder es sei nicht zu-
mutbar, verlangte Unterlagen einzureichen, und dies begründet
(Dieter Egloff, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, Band 2,
2. Aufl., Muri-Bern 2004, § 235 N 23). Anders als die Verpflichtung
zur Einreichung der Steuererklärung ist die Pflicht, Unterlagen vor-
2007
Verwaltungsgericht
102
zulegen, eingeschränkt durch die Erfordernisse der Notwendigkeit
und der Zumutbarkeit (AGVE 1993, S. 285), und sie muss im Einzel-
fall mittels Verfügung konkretisiert werden. Wenn ein Steuerpflichti-
ger (korrekterweise auf die erste Aufforderung hin) begründet,
warum die Verfügung der Steuerbehörde nach seiner Meinung gegen
diese Einschränkungen verstösst, muss auf diesen erstmals erhobe-
nen Einwand eingegangen werden (AGVE 1993, S. 288 f.). Von die-
sem Sachverhalt weicht die letzte Mahnung zur Einreichung der
Steuererklärung erheblich ab, was eine unbesehene Übernahme der
genannten Rechtsprechung ausschliesst: Hier geht es um eine unein-
geschränkte Pflicht (selbst wenn noch Unterlagen fehlen, ist es in
aller Regel möglich, die Steuererklärung unter Hinweis auf die Un-
vollständigkeit einzureichen), auf Gesuch hin erstreckte Fristen müs-
sen zuvor abgelaufen, unbegründete Fristerstreckungsgesuche abge-
wiesen worden sein, und zudem ist bereits eine Mahnung vorausge-
gangen. Grundsätzlich besteht keine Veranlassung, nachdem bereits
die letzte Frist zur Einreichung der Steuererklärung bestimmt wurde,
auf Einwendungen hin nochmals Frist anzusetzen (a.M. Egloff,
a.a.O., § 235 N 24); ob es sich in bestimmten Einzelfällen anders
verhält, kann vorliegend offen bleiben.
4.4.2. Voraussetzung ist allerdings, dass der Steuerpflichtige
überhaupt wusste oder wissen musste, dass es sich um eine
letzte
Frist zur Abgabe der Steuererklärung im Sinne von § 65 Abs. 4 StGV
handelt. Da Fristerstreckungen generell grosszügig gewährt werden,
kann nur dann gesagt werden, er habe sich bewusst sein müssen, dass
er mit keiner (weiteren) Fristerstreckung mehr rechnen könne, son-
dern den Straftatbestand mit dem unbenützten Ablauf der Frist ohne
weiteres erfülle. Dies gebietet letztlich auch der Grundsatz des fairen
Verfahrens (vgl. dazu § 26 Abs. 2 StPO; Hauser/Schweri/Hartmann,
Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel/Genf/München
2005, S. 262 ff.).
4.4.3. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang
eine zweite Mahnung (noch) genügen lassen, in der zwar nicht aus-
drücklich eine letzte Frist angeordnet worden war, sondern sich de-
ren Charakter aus dem Text der Mahnung und der Verweisung auf
§ 65 Abs. 4 StGV ergab; es hielt dazu fest, der Steuerpflichtige könne
2007
Kantonale Steuern
103
von der Verfahrenssituation her aufgrund dieser Mahnung nicht mehr
mit Fristerstreckungen rechnen (VGE II/71 vom 28. September 2006
[WBE.2006.281], S. 6). Problemlos und ohne jeden Zweifel korrekt
ist das Vorgehen der Steuerbehörde jedoch nur dann, wenn sie den
Steuerpflichtigen nach erfolgloser erster Mahnung mit eingeschrie-
bener Post unter
ausdrücklicher
Ansetzung einer
letzten
Frist und
dem Hinweis auf die Straffolgen bei Unterlassung auffordert, das
Versäumte nachzuholen.
5./5.1. Die Mahnung vom 31. August 2006 trägt den Titel
"Zweite Mahnung zur Einreichung der Steuererklärung" und hat fol-
genden Wortlaut: ...
Die Mahnung enthält keinen Hinweis darauf, dass es sich bei
den angesetzten 20 Tagen um eine
letzte
Abgabefrist handelt; auch
fehlt ein Hinweis auf § 65 Abs. 4 StGV, der diesbezüglich Aufschluss
geben könnte. Nichts anderes gilt für die erste Mahnung vom 30.
Juni 2006. Als Laie musste der Beschwerdegegner aufgrund dieser
Mahnungen nicht davon ausgehen, dass ein Fristerstreckungsgesuch
aussichtslos sei. Daran vermag der Titel "Zweite Mahnung zur
Einreichung der Steuererklärung" sowie der Hinweis auf die Ausfäl-
lung einer Busse bei Nichtabgabe der Unterlagen nichts zu ändern,
da dies nicht die Bestimmung der Frist betrifft, sondern deren unbe-
nützten Ablauf vielmehr voraussetzt.
5.2. Wenn dem Steuerpflichtigen, wie es vorliegend zutrifft,
nicht ausreichend zur Kenntnis gebracht wurde, dass es sich um eine
letzte Mahnung bzw. letzte Frist handelt, und er daraufhin ein Frist-
erstreckungsgesuch stellt, treffen die Ausführungen des Steuerre-
kursgerichts über das weitere Vorgehen zu. Mit der Ablehnung wei-
terer Fristerstreckungen, verbunden mit der Ansetzung einer letzten
unwiderruflichen Frist, wird gleichsam der vorher ungenügende
Hinweis nachgeholt.
(Abweisung der Beschwerde des KStA gegen den Freispruch
des Beschwerdegegners) | 2,320 | 1,886 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-29_2007-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-29.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-29.pdf | AGVE_2007_29 | null | nan |
3578a16e-4369-5f1e-a428-1210632c54fa | 1 | 412 | 871,467 | 1,330,646,400,000 | 2,012 | de | 2012
Verwaltungsgericht
106
[...]
17
Bewertung von Beteiligungen
Anwendbarkeit der "Wegleitung zur Bewertung von Wertpapieren ohne
Kurswert für die Vermögenssteuer" (Kreisschreiben Nr. 28 der Schweize-
rischen Steuerkonferenz) (Erw. 2.1)
Grundsatz der Familienbesteuerung: Halten zwei Ehegatten jeweils Min-
derheitsbeteiligungen an einer Gesellschaft, welche zusammengenommen
eine Mehrheitsbeteiligung darstellen, so sind die Beteiligungen auch in
Bezug auf die Besteuerung des Vermögens als Bewertungsgemeinschaft
2012
Kantonale Steuern
107
zu behandeln. Verweigerung des pauschalen Minderheitsabzugs
(Erw. 2.4).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 28. März 2012 in Sachen
S.S. und R.S. (WBE.2011.328).
Aus den Erwägungen
1.1.
Die Beschwerdeführerin und der Beschwerdeführer halten je
124 Namenaktien Fr. 500.00 der X.AG; insgesamt halten sie somit
nominal je Fr. 62'000.00, d.h. einen Anteil am Aktienkapital der
X.AG von Fr. 250'000.00 von je 24.8% mit einer Stimmkraft von je
33.066%. Zusammen halten sie, jedenfalls mit Bezug auf die Stimm-
kraft der Aktien, die Mehrheit der Aktien der X.AG (Fr. 124'000.00,
d.h. einen Anteil am Aktienkapital von Fr. 250'000.00, zusammen
49.6% mit einer Stimmkraft von 66.132%).
(...)
2.1.
Zu Recht nicht umstritten ist zunächst die Anwendbarkeit der
von der Schweizerischen Steuerkonferenz herausgegebenen "Weglei-
tung zur Bewertung von Wertpapieren ohne Kurswert für die Vermö-
genssteuer" (Kreisschreiben 28 vom 21. August 2006 sowie dessen
Vorgängerin, die von der EStV herausgegebene Wegleitung zur
Bewertung von Wertpapieren für die Vermögenssteuer, Ausgabe
1995). Diese Wegleitung bezweckt - wie bereits die früheren Fassun-
gen aus den Jahren 1977 und 1982 - im Interesse der Steuerharmoni-
sierung zwischen den Kantonen, eine in der Schweiz einheitliche
Bewertung nicht kotierter Wertpapiere für die Vermögenssteuer zu
erreichen. Sie ist zwar weder Bundesrecht noch interkantonales
Recht, sondern eine reine Verwaltungsverordnung, die bloss verwal-
tungsinterne Regeln für das Verhalten der Steuerbeamten enthält und
keine Rechte und Pflichten begründet. Sie gilt indessen nach stän-
diger Praxis des Bundesgerichts als zuverlässige Methode zur
Bestimmung des Verkehrswerts, da in ihr die Überlegungen, die für
2012
Verwaltungsgericht
108
die Preisbildung bei den nicht an der Börse kotierten Aktien im All-
gemeinen massgebend sind, zum Ausdruck kommen. Die grundsätz-
liche Massgeblichkeit der Wegleitung wird auch von der kantonalen
Praxis und der Lehre anerkannt (vgl. statt vieler: Urteil des Bundes-
gerichts vom 15. April 2010 [2C_504/2009], Erw. 3.3 mit zahlrei-
chen Hinweisen).
2.2
Die Wegleitung sieht in Ziff. 71 ff. einen pauschalen Minder-
heitsabzug von 30% vor, der für alle Beteiligungen bis und mit 50%
gewährt wird. Massgebend sind die Beteiligungsverhältnisse am
Ende der Steuerperiode. Die Quote von 50% wird bei Gesellschaften,
die wie hier die X.AG Stimmrechtsaktien ausgegeben haben, nicht
auf das Aktienkapital, sondern auf die Gesamtzahl der Stimmrechte
bezogen.
Die Beschwerdeführer verfügen, je für sich allein genommen,
lediglich über Minderheitsbeteiligungen (von je 33.066%). Werden
ihre Beteiligungen dagegen zusammen betrachtet, verfügen sie über
eine Mehrheitsbeteiligung von 66.132%.
2.3.
Obwohl der Grundsatz der Familienbesteuerung seit langem
politisch nicht unumstritten ist, beherrscht er nach wie vor das gel-
tende Schweizerische Steuerrecht. Dahinter steht die Idee, dass die
Ehe nicht nur eine sittliche und rechtliche, sondern auch eine wirt-
schaftliche Einheit darstellt, weshalb für die Bemessung der wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit des Ehepaars bzw. der Familie die
gesamten Einkünfte und das gesamte Vermögen heranzuziehen sind
(ausdrücklich Art. 3 Abs. 3 StHG; vgl. auch P
ETER
L
OCHER
, in:
Kommentar zum DBG, Bd. I, Therwil 2001, Art. 9 N 3 mit Hinwei-
sen). Der Gesetzgeber geht somit für die Besteuerung von Ehegatten
davon aus, dass sie unabhängig davon, welchem Güterstand sie un-
terliegen, jedenfalls solange sie zusammenleben, eine umfassende
Erwerbs- und Vermögensgemeinschaft bilden. Deren innere Recht-
fertigung liegt dabei nicht in erster Linie im gemeinsamen Halten
von Vermögenswerten durch die Ehegatten (so werden etwa auch in
einer einfachen Gesellschaft oder einer Kollektivgesellschaft ge-
meinsam Vermögenswerte gehalten; darauf nimmt das Steuerrecht
2012
Kantonale Steuern
109
aber gerade keine Rücksicht), sondern darin, dass die Ehegatten
Mittel für die gemeinsame Lebensführung zusammen erwirtschaften
und auch verbrauchen (vgl. dazu ausführlich F
RANCIS
C
AGIANUT
,
Gerechte Besteuerung der Ehegatten, Bern 1971, S. 16 f. und 19 f.;
C
AGIANUT
legt insbesondere Gewicht auf die Gebundenheit der Ein-
kommensverwendung infolge der Führung eines gemeinsamen Haus-
halts; vgl. auch F
ERDINAND
Z
UPPINGER
, Die Besteuerung der Ehe-
gatten in der Schweiz, in: H
ANS
M
ICHAEL
R
IEMER
/H
ANS
U
LRICH
W
ALDER
/P
ETER
W
EIMAR
[Hrsg.], Festschrift für Cyril Hegnauer
zum 65. Geburtstag, Bern 1986, S. 657).
2.4.
2.4.1.
Materiellrechtlich wird die Familienbesteuerung in der Regel
mit dem Begriff der
Faktorenaddition
umschrieben, was auch in den
gesetzlichen Formulierungen zum Ausdruck kommt (vgl. Art. 3
Abs. 3 StHG: "Einkommen und Vermögen der Ehegatten, die in
rechtlich und tatsächlich ungetrennter Ehe leben, werden ohne Rück-
sicht auf den Güterstand
zusammengerechnet
". Ebenso § 21 Abs. 1
StG: "Einkommen und Vermögen von Verheirateten, die in rechtlich
und tatsächlich ungetrennter Ehe leben, werden ohne Rücksicht auf
den Güterstand
zusammengerechnet
". So auch Art. 9 Abs. 1 DBG:
"Das Einkommen der Ehegatten, die in rechtlich und tatsächlich
ungetrennter Ehe leben, wird ohne Rücksicht auf den Güterstand
zusammengerechnet
"). Die Definition der Familienbesteuerung als
blosse Faktorenaddition, von welcher die Beschwerdeführer aus-
gehen, greift aber zu kurz, indem sie dem Umstand, dass der Gesetz-
geber die bestehende eheliche Gemeinschaft, solange die Ehegatten
tatsächlich zusammenleben, als umfassende Interessengemeinschaft
behandelt, unzureichend Rechnung trägt.
2.4.2.
Würde sich die materiellrechtliche Familienbesteuerung in der
blossen Faktorenaddition erschöpfen, wären die Eheleute abgesehen
davon als Individualpersonen zu behandeln. So behandelt der Ge-
setzgeber sie indessen gerade nicht, indem er zum einen dort, wo
sich die Frage stellt - nämlich insbesondere bei den Abzügen - ei-
gene Normen für Ehegatten aufstellt (so etwa § 40 lit. g StG und
2012
Verwaltungsgericht
110
Art. 33 Abs. 1 lit. g DBG) und in Befolgung des Prinzips der Fak-
torenaddition "doppelte" Abzüge nur gewährt, wenn er nichts ande-
res bestimmt. Hat der Gesetzgeber nichts Ausdrückliches bestimmt,
ist somit durch Auslegung zu ermitteln, ob die Familienbesteuerung
sich in der blossen Faktorenaddition erschöpft oder in ihren Wirkun-
gen darüber hinausgeht.
2.4.3.
So schweigt der Gesetzgeber etwa bei der Schuldzinsenabzugs-
begrenzung gemäss § 40 lit. a StG (vgl. ebenso Art. 9 Abs. 2 lit. a
StHG und Art. 33 Abs. 1 lit. a DBG). Dabei ergibt indessen die Aus-
legung, dass dieser Abzug rein vermögensbezogen ist, d.h. ausge-
hend von der Basis der Zusammenrechnung des Vermögens der Ehe-
gatten gewährt werden soll und damit für beide Ehegatten zusammen
nur einmal zur Verfügung steht (und sich nicht etwa bei Ehepaaren
auf Fr. 100'000.00 verdoppelt; vgl. dazu ausführlich StE 2004 B 27.2
Nr. 27; D
ANIEL
A
ESCHBACH
, in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/D
AVE
S
IEGRIST
/D
IETER
W
EBER
[Hrsg.], Kommentar zum Aargauer
Steuergesetz, 3. Aufl., Muri-Bern 2009, § 40 N 46).
2.4.4.
Das Gleiche muss auch für die hier streitige Bewertung von
Aktien gelten, die von Ehegatten gehalten werden. Der Familien-
besteuerung liegt, wie dargelegt, der Gedanke einer umfassenden,
auch sämtliche ökonomischen Aspekte umfassenden Gemeinschaft
zugrunde. Dann ist es aber nur konsequent, von Ehegatten gehaltene
Aktienpakete (ebenso wie allfällige weitere, von unter deren elter-
licher Sorge stehenden Kindern gehaltene Aktien) schon für die Ver-
mögensbewertung als Einheit zu behandeln und nicht erst anschlies-
send die Werte der je einzeln bewerteten Aktienpakete zusammenzu-
zählen.
Für ein solches Vorgehen spricht im Übrigen auch die Selbst-
verständlichkeit, mit der der Gesetzgeber bei der Einführung des
Teilsatzverfahrens in § 45a StG - die Bestimmung trat am 1. Januar
2007 in Kraft und ist somit hier bereits anwendbar - davon ausge-
gangen ist, dass die Schwelle von 10%, ab der die Dividendenprivi-
legierung greift, bei verheirateten Personen für beide Ehegatten
gemeinsam gilt: Weder in den Vorentwürfen zu den Reformbestim-
2012
Kantonale Steuern
111
mungen noch in den parlamentarischen Debatten oder in der politi-
schen Diskussion rund um diese Bestimmungen wurde je die Frage
thematisiert, ob für die Privilegierung von Ehegatten die von diesen
gehaltenen Beteiligungen zusammenzuzählen seien. Das wurde viel-
mehr geradezu als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt (vgl. aber
immerhin das vom KStA herausgegebene Merkblatt "Dividendenent-
lastung" vom 14. Juli 2008, S. 4 Ziff. 5.2, welches die ausnahms-
weise Zusammenrechnung von Beteiligungen bei Ehegatten aus-
drücklich vorsieht. Nichts anderes gilt im Übrigen bei den hier noch
nicht anwendbaren bundesrechtlichen Normen der Unternehmens-
steuerreform II [Art. 20 Abs. 1
bis
DBG; Art. 7 Abs. 1 zweiter Satz
StHG], die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten sind; vgl. dazu jetzt
die ausdrückliche Behandlung der Frage im Kreisschreiben Nr. 22
der EStV vom 16. Dezember 2008 Teilbesteuerung der Einkünfte aus
Beteiligungen im Privatvermögen und Beschränkung des Schuld-
zinsenabzugs Ziff. 2.2.2., wo ebenfalls ausdrücklich die Zusammen-
rechnung der Anteile vorgesehen wird). Gerade die Selbstverständ-
lichkeit, mit der alle am Gesetzgebungsprozess Beteiligten stets
davon ausgingen, dass die von Ehegatten gehaltenen Beteiligungen
zusammenzurechnen seien, spricht dafür, die Ehegatten auch in
Bezug auf die Besteuerung des Vermögens als Bewertungsgemein-
schaft zu behandeln. Dass mit dieser Lösung auch allfälligen Miss-
bräuchen - die hier nicht in Frage stehen - vorgebeugt wird, sei
dabei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. | 2,457 | 1,957 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2012-17_2012-03-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-17.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-17.pdf | AGVE_2012_17 | null | nan |
3578a8df-2056-5d0e-bf99-88ce03bfbf4c | 1 | 412 | 870,293 | 1,144,108,800,000 | 2,006 | de | 2006
Spitalfinanzierung
261
XI. Spitalfinanzierung
51
Geltendmachung des sog. "Sockelbetrages" vom Kanton Aargau.
-
Zuständigkeit (Erw. I/1).
-
Anwendbare Verfahrensvorschriften (Erw. I/2).
-
Bedeutung der Vereinbarung des Kantons mit der Hirslandengruppe
über die Zusammenarbeit im Bereich der Herzchirurgie (Art. 49
KVG) (Erw. II).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 11. April 2006 in Sachen
H. gegen den Kanton Aargau.
Aus den Erwägungen
I.
1.
1.1.
Streitgegenstand dieses Klageverfahrens ist die Forderung der
Klägerin des so genannten "Sockelbetrages" vom Kanton Aargau,
d.h. die Differenzzahlungspflicht des Wohnkantons nach Art. 41
Abs. 3 KVG. Die Klägerin macht unter Berufung auf die Recht-
sprechung des Bundesgerichts geltend, der Kanton Aargau sei ver-
pflichtet, für die ärztlichen Dienstleistungen in der Klinik Schachen
im Zusammenhang mit der Behandlung von P.B. einen Betrag von
Fr. 8'700.-- zu bezahlen. Für die Zuständigkeit beruft sie sich auf die
Rechtsmittelbelehrung des Departements Bildung, Kultur und Sport
(DGS) im Schreiben vom 22. Januar 2003.
1.2.
Die sachliche und funktionelle Zuständigkeit hat das Verwal-
tungsgericht von Amtes wegen zu prüfen. Eine unrichtige Rechts-
mittelbelehrung vermag keine im Gesetz nicht vorgesehene Zustän-
digkeit des Verwaltungsgerichts zu begründen (AGVE 1991, S. 376;
2006
Verwaltungsgericht
262
siehe auch BGE 124 III 44 Erw. 1; 120 II 270 Erw. 1 mit Hinweisen;
Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren
nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege
[Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Diss. Zürich 1998, § 51 N 7).
1.3.
Das Verwaltungsgericht urteilt im Klageverfahren als einzige
kantonale Instanz über vermögensrechtliche Streitigkeiten, an denen
der Kanton, eine Gemeinde oder eine öffentlich-rechtliche Körper-
schaft oder Anstalt des kantonalen oder kommunalen Rechts beteiligt
ist, sofern nicht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegeben oder
ein Zivilgericht oder ein Spezialrekursgericht zuständig ist (§ 60
Ziff. 3 VRPG).
Das Verwaltungsgericht beurteilt ebenfalls im Klageverfahren
Streitigkeiten aus öffentlich-rechtlichen Verträgen (§
60 Ziff.
1
VRPG).
1.4.
Die von § 60 Ziff. 3 VRPG geforderte Beteiligung des Kantons
und die Subsidiarität zur sachlichen Zuständigkeit der Spezialrekurs-
gerichte sind gegeben.
1.5.
Die Klägerin fordert vom Kanton Aargau die Bezahlung von
Fr. 8'700.--. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um eine Streitsache
vermögensrechtlicher Natur i.S.v. § 60 Ziff. 3 VRPG.
Aus der Begründung der Forderung ergibt sich sinngemäss,
dass die Klägerin ihren Anspruch letztlich auch aus dem Vertrag zwi-
schen dem Kanton Aargau und der Hirslandengruppe Zürich sowie
dem Aargauischen Krankenkassen-Verband von Anfang 2001 (Spi-
talvertrag) ableitet. Damit dürfte auch eine Zuständigkeit gestützt auf
§ 60 Ziff. 1 VRPG gegeben sein, was aber offen bleiben kann, weil
jedenfalls die Zuständigkeit i.S.v. § 60 Ziff. 3 VRPG gegeben ist
(siehe nachfolgend Erw. 1.6 ff.).
1.6.
Es stellt sich die Frage, ob die Voraussetzung der fehlenden
sachlichen Zuständigkeit eines Zivilgerichts gegeben ist.
Nach dem KVG unterstehen die neben der sozialen Kranken-
versicherung angebotenen Zusatzversicherungen dem Privatrecht.
2006
Spitalfinanzierung
263
Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen gelten daher als zivilrecht-
lich (BGE 124 III 229 Erw. 2b). Die vorliegende Forderungsstreitig-
keit betrifft aber keine Auseinandersetzung aus dem Versicherungs-
verhältnis, an welchem der Beklagte ohnehin nicht beteiligt ist. Der
Anspruch wird vielmehr gestützt auf das öffentliche Recht (KVG)
und gestützt auf den Spitalvertrag geltend gemacht. Beim Spitalver-
trag handelt es sich um einen verwaltungsrechtlichen Vertrag, der
dem öffentlichen Recht untersteht (Gebhard Eugster, Krankenversi-
cherung, in: Heinrich Koller / Georg Müller / René Rhinow / Ulrich
Zimmerli [Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Basel /
Genf / München 1998, FN 655).
Vorliegend besteht daher keine sachliche Zuständigkeit eines
Zivilgerichts.
1.7.
Zu prüfen ist des Weiteren, ob es sich um eine sozialversiche-
rungsrechtliche Streitigkeit handelt, die durch das Versicherungsge-
richt zu behandeln ist.
1.7.1.
Die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen wird im hier
vorliegenden Zusammenhang ausgeübt durch das Versicherungsge-
richt (§ 1 der Verordnung über die Rechtspflege in Sozialversiche-
rungssachen vom 22. September 1964 [SAR 271.131]). § 3 der Ver-
ordnung über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen be-
stimmt die Zuständigkeit des Versicherungsgerichts im Klageverfah-
ren. Die vorliegende Streitigkeit fällt jedoch nicht unter die dort ge-
nannten Sachgebiete.
1.7.2.
Ergänzend sind auch andere zuständigkeitsbegründende Nor-
men in der Bereichsgesetzgebung zu prüfen (§ 1 Abs. 2 VRPG). Ein-
schlägig ist dabei das EG KVG.
Die §§ 30 ff. EG KVG enthalten Sonderbestimmungen über
Rechtsschutz und Zuständigkeit im Bereich des KVG.
Gemäss § 31 Abs. 2 EG KVG besteht die Zuständigkeit des
Verwaltungsgerichts im Beschwerdeverfahren gegen Verfügungen
betreffend die Versicherungspflicht nach Art. 3 KVG. Die Forderung
der Klägerin steht in keinem Zusammenhang mit diesem Sachgebiet
2006
Verwaltungsgericht
264
der sozialen Krankenversicherung, weshalb sich die Zuständigkeit
des Verwaltungsgerichts nicht direkt auf das EG KVG abstützen
lässt.
Das Versicherungsgericht ist im Rahmen des KVG zuständig
für Streitigkeiten der Versicherer unter sich, mit Versicherten und
Dritten (§ 32 Abs. 1 EG KVG). Seine Zuständigkeit erstreckt sich
auch auf Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur obligatorischen
Krankenversicherung (§ 32 Abs. 2 EG KVG).
Das Bundesgericht hat entschieden, dass ein Kanton in Bezug
auf die mit dem vorliegenden Klagethema vergleichbare Differenz-
zahlungspflicht trotz seiner einem Versicherer ähnlichen Stellung
nicht als Versicherer gilt (BGE 123 V 290 Erw. 3b; 130 V 215
Erw. 5.4). Die Kantone können damit trotz der sozialversicherungs-
rechtlichen Natur der hier zur Diskussion stehenden Verpflichtung
nicht als Versicherer oder Dritte gelten (vgl. BGE 130 V 215
Erw. 5.4).
1.7.3.
Zusammenfassend ist vorliegend keine Zuständigkeit des Versi-
cherungsgerichts gestützt auf das EG KVG gegeben.
2.
Sodann stellt sich die Frage nach den anwendbaren Verfahrens-
vorschriften.
2.1.
Die Streitigkeiten über die Anwendung von Art. 49 Abs. 1 KVG
und der Streitgegenstand sind im Grundsatz sozialversiche-
rungsrechtlicher Natur (vgl. BGE 127 V 422 Erw. 1).
Am 1. Januar 2003 ist das ATSG in Kraft getreten. Dieses Ge-
setz koordiniert das Sozialversicherungsrecht des Bundes, indem es
u.a. ein einheitliches Sozialversicherungsverfahren festlegt und die
Rechtspflege regelt (Art. 1 Ingress und lit. b ATSG). Seine Bestim-
mungen sind auf die Krankenversicherung anwendbar, soweit das
KVG keine Abweichungen vom ATSG vorsieht (Art. 2 ATSG i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 KVG). Nach Art. 1 Abs. 1 KVG in der ab 1. Januar
2003 geltenden Fassung sind die Bestimmungen des ATSG auf die
Krankenversicherung anwendbar, soweit das KVG nicht ausdrück-
2006
Spitalfinanzierung
265
lich eine Abweichung vorsieht. Sie finden indessen keine Anwen-
dung in den in Art. 1 Abs. 2 KVG genannten Bereichen.
2.2.
Die Spitalbehandlung des Versicherten P.B. erfolgte vom 14. bis
25. Juni 2002. Es stellt sich somit die Frage der Anwendbarkeit des
ATSG in zeitlicher Hinsicht. Nach der Rechtsprechung des Bundes-
gerichts sind neue Verfahrensvorschriften - vorbehältlich anders lau-
tender Übergangsbestimmungen - in der Regel mit dem Zeitpunkt
des Inkrafttretens sofort und in vollem Umfang anwendbar. Dieser
intertemporalrechtliche Grundsatz kommt dort nicht zur Anwendung,
wo hinsichtlich des verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem
und neuem Recht keine Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht
eine grundlegend andere Verfahrensordnung geschaffen worden ist
(BGE 130 V 215 Erw. 3.2 mit Hinweisen). Der Allgemeine Teil des
Sozialversicherungsrechts, soweit hier von Bedeutung, enthält ledig-
lich eine übergangsrechtliche Regelung formeller Natur. Nach
Art. 82 Abs. 2 ATSG haben die Kantone ihre Bestimmungen über die
Rechtspflege diesem Gesetz innerhalb von fünf Jahren nach seinem
Inkrafttreten anzupassen; bis dahin gelten die bisherigen kantonalen
Vorschriften (BGE 130 V 215 Erw. 3.2).
2.3.
Die analoge Frage, ob nach Inkrafttreten des ATSG bei Streitig-
keiten zwischen Krankenversicherern und Kantonen betreffend die
Differenzzahlungspflicht des Gemeinwesens (Art. 41 Abs. 3 Satz 1
KVG) als Verfahrensordnung auf kantonaler Ebene das ATSG, kraft
Art. 55 Abs. 1 ATSG das VwVG oder weiterhin nach BGE 123 V
300 Erw. 5 kantonales Recht anzuwenden ist, hat das Bundesgericht
in BGE 130 V 215 Erw. 6.1 zunächst offen gelassen, dann aber in ei-
nem obiter dictum in dem Sinn geklärt, dass Zuständigkeit und Ver-
fahren weiterhin grundsätzlich Sache der Kantone sind (BGE 130 V
215 Erw. 6.3).
Damit gilt für das vorliegende Verfahren das VRPG.
3. (...)
2006
Verwaltungsgericht
266
II.
1.
1.1.
Die Klägerin stützt ihre Forderung in erster Linie auf Art. 49
Abs. 1 KVG und Art. 1 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes über die
Anpassung der kantonalen Beiträge für die innerkantonalen stationä-
ren Behandlungen nach dem Bundesgesetz über die Krankenversi-
cherung vom 21. Juni 2002 (SR 832.14 [dringliches Bundesgesetz]).
Sie macht geltend, die Klinik im Schachen sei ein öffentlich subven-
tioniertes Spital, weil der Beklagte Beiträge an die Betriebskosten
leiste. Nach dem Urteil des Bundesgerichts vom 30. November 2001
(BGE 127 V 422) sei der sog. Sockelbeitrag auch bei stationärer Be-
handlung auf der privaten oder halbprivaten Abteilung in einem öf-
fentlich subventionierten Spital oder Abteilung auszurichten, wes-
halb für den Spitalaufenthalt ihres zusatzversicherten Versicherungs-
nehmers der Beklagte den Kantonsbeitrag schulde. Der Spitalvertrag
zwischen dem Beklagten und der Hirslandengruppe enthalte zudem
eine vertraglich vereinbarte Kostenbeteiligung des Beklagten an den
Betriebskosten der Klinik im Schachen.
1.2.
Der Beklagte macht demgegenüber geltend, bei der Klinik im
Schachen handle es sich um ein Privatspital, welches zwar auf der
Spitalliste des Kantons Aargau aufgeführt sei, aber nicht um ein öf-
fentlich subventioniertes Spital. Zudem sei der Sockelbeitrag im
konkreten Fall nicht geschuldet, weil im Spitalvertrag nur Ansprüche
bzw. Leistungen hinsichtlich der Grundversicherung vereinbart seien.
Der Spitalvertrag mit diesem beschränkten Inhalt sei auch für die
Klägerin verbindlich. Schliesslich fehle es an einer für die Leis-
tungspflicht des Kantons erforderlichen vorgängigen Kostengutspra-
che.
2.
2.1.
Im Urteil vom 30. November 2001 (BGE 127 V 422) entschied
das Eidgenössische Versicherungsgericht, dass sich der Wohnkanton
auch bei den Grundversicherten, welche sich mit einer Zusatzversi-
cherung ausweisen und in privaten oder halbprivaten Abteilungen öf-
2006
Spitalfinanzierung
267
fentlicher oder öffentlich subventionierter innerkantonaler Spitäler
behandelt werden, an den Kosten zu beteiligen hat. Die Kostenbetei-
ligung entspricht dem Anteil der in der allgemeinen Abteilung dieses
Spitals zu Lasten des Kantons gehenden anrechenbaren Kosten (BGE
127 V 422 Regeste). Art. 49 Abs. 1 KVG bezeichne mit allgemeiner
Abteilung nicht den physischen Ort im Spital, sondern der Begriff
beziehe sich auf ein funktionales Konzept (BGE 127 V 422 Erw. 4c).
Bei stationärer Behandlung in einem öffentlichen oder öffentlich
subventionierten Spital oder Abteilung (Art 39 Abs. 1 KVG) des
Wohnkantons hätten deshalb alle KVG-Versicherten - unabhängig
von weiteren Versicherungsdeckungen - Anspruch auf den Beitrag
des Kantons (BGE 127 V 422 Erw. 5; vgl. auch BGE 127 V 409; Be-
richt der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des
Ständerates vom 13. Februar 2002, in: BBl 2002, S. 4368 [Kommis-
sionsbericht]).
Weil bis zu diesem Urteil die Kosten bei innerkantonalem Spi-
talaufenthalt in einer Privat- oder Halbprivatabteilung - mit Aus-
nahme des von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ent-
richteten Sockelbetrages - von der Zusatzversicherung getragen wor-
den waren, hätte der EVG-Entscheid vom 30. November 2001 bei
sofortiger Umsetzung eine nicht budgetierte Mehrbelastung der
Kantone von schätzungsweise mindestens 700 Millionen Franken zur
Folge gehabt. Zur Abfederung dieser Mehrbelastung erliess die Bun-
desversammlung das dringliche Bundesgesetz und setzte es rückwir-
kend auf den 1. Januar 2002 in Kraft (Art. 3 des dringlichen Bundes-
gesetzes; Kommissionsbericht, a.a.O., S. 4368). In Abweichung von
Art. 49 Abs. 1 und 2 KVG beteiligen sich die Kantone ab dem
1. Januar 2002 an den Kosten der innerkantonalen stationären Be-
handlung in Halbprivat- und Privatabteilungen von öffentlich und öf-
fentlich subventionierten Spitälern mit 60 % (ab 2003 mit 80 %
[lit. b] und ab 2004 mit 100 % [lit. c]) der von den Versicherern für
Kantonseinwohnerinnen und Kantonseinwohner geschuldeten Tarife
der allgemeinen Abteilung des jeweiligen Spitals (Art. 1 Abs. 1 lit. a
des dringlichen Bundesgesetzes [Fassung vom 21. Juni 2002]).
2.2.
2006
Verwaltungsgericht
268
Dem Urteil des Bundesgerichts vom 30. November 2001 und
dem dringlichen Bundesgesetz kann nicht entnommen werden, dass
die Kantonsbeiträge auch für den stationären Aufenthalt von zusatz-
versicherten Patienten in einem Privatspital geschuldet sind.
Das dringliche Bundesgesetz diente lediglich dazu, eine abge-
dämpfte Mitfinanzierungsregelung zu erlassen (Kommissionsbericht,
a.a.O., S. 4368). Für die Frage, ob der Wohnkanton zur Leistung des
Sockelbeitrages verpflichtet ist, ist daher weiterhin auf Art. 49 KVG
abzustellen. Höhe des Beitrags und Art der Rechnungsstellung rich-
ten sich demgegenüber nach dem dringlichen Bundesgesetz.
Das geltende Krankenversicherungsgesetz folgt dem System
der Objektfinanzierung. Kanton und Gemeinden einerseits und die
Krankenversicherer andererseits beteiligen sich an der Finanzierung
des stationären Spitalbereichs, wobei die Kantone die Investitions-
kosten mit mindestens 50 % der anrechenbaren Betriebskosten und
zusammen mit den Gemeinden die Defizite der öffentlichen und öf-
fentlich subventionierten Spitäler tragen. Die Krankenversicherer ih-
rerseits übernehmen bis zu 50 % der anrechenbaren Betriebskosten
(Art. 49 Abs. 1 KVG). Diese Bestimmungen beziehen sich auf die
öffentlichen und öffentlich subventionierten Spitäler. Eine Gleichbe-
handlung der privaten Spitäler mit den öffentlichen und öffentlich
subventionierten Spitälern ist im Gesetz somit nicht vorgesehen. Zu-
satzversicherte, die sich in nicht subventionierte Privatspitäler bege-
ben, haben daher - entgegen der Auffassung der Klägerin - keinen
Anspruch auf einen Kantonsbeitrag.
Es verhält sich hier gleich wie bei der Differenzzahlungspflicht
des Wohnkantons bei ausserkantonaler Hospitalisation gemäss
Art. 41 Abs. 3 KVG: Diese entfällt nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung, wenn sich ein Versicherter in einem privaten, nicht
öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spital stationär behan-
deln lässt (BGE 130 V 479 Erw. 5.3.3 = Pra 94/2005, S. 1045; 123 V
310 Erw. 4 = Pra 87/1998, S. 537). Das dringliche Bundesgesetz vom
21. Juni 2002 beschränkt sich auf die Regelung des Kantonsbeitrags
für die stationäre Behandlung in den öffentlichen und öffentlich sub-
ventionierten Spitälern (Art. 1 Abs. 1 des dringlichen Bundesgeset-
zes). Die Aufhebung des Unterschieds zwischen den Subventions-
2006
Spitalfinanzierung
269
und Vergütungsregeln in der Krankenversicherung ist Teil der lau-
fenden Revisionsvorhaben zum KVG (vgl. die Botschaft betreffend
die Änderung des KVG [Spitalfinanzierung] vom 15. September
2004, in: BBl 2004, S. 5566 ff.; Teilrevision des KVG, Teil Spitalfi-
nanzierung, Erläuternder Bericht, S. 16).
Zu prüfen ist daher, ob die Klinik im Schachen ein öffentlich
subventioniertes Spital ist, wie dies von der Klägerin geltend ge-
macht wird.
2.3.
2.3.1.
Nach den gesetzlichen Finanzierungsgrundsätzen im obligatori-
schen Krankenversicherungsbereich (Art. 49 KVG) gilt ein privates
Spital nur dann als öffentlich subventioniert, wenn es vom Kanton
über einen Leistungsauftrag verfügt und Beiträge an die Betriebs-
kosten erhält. Die (alleinige) Übernahme von Investitionskosten stellt
demgegenüber keine Subventionierung dar (Eugster, a.a.O.,
Rz.
303). Nach dem Grundsatzentscheid des Bundesrates vom
26. März 1997 in Sachen X. gegen den Kanton Aargau (Tarife der
Aargauer Rheuma- und Rehabilitationskliniken) liegt eine öffentlich
subventionierte Privatklinik nur vor, wenn der Standortkanton der
Klinik nach kantonalem Recht Betriebsbeiträge gewährt (Entscheid
des Bundesrates vom 26. März 1997, in: Rechtsprechung und Ver-
waltungspraxis der Kranken- und Unfallversicherung [RKUV]
4/1997, S. 236; Entscheid des Bundesrates vom 29. April 1998, in:
RKUV 4/1998, S. 270).
2.3.2.
Die Subventionierung der aargauischen Spitäler regelt seit
1.
Januar 2004 das Spitalgesetz vom 25.
Februar 2003 (SpiG;
SAR 331.200). Dieses unterscheidet bei der Abgeltung durch den
Kanton zwischen den Investitionsbeiträgen (§§ 14 f. SpiG) und der
Leistungsfinanzierung (§ 16 ff. SpiG) und schliesst die Privatspitäler
von Investitionsbeiträgen ausdrücklich aus (§ 1 Abs. 3 SpiG). Vor
Inkrafttreten des SpiG war die Spitalfinanzierung im Gesetz über den
Bau, Ausbau und Betrieb sowie die Finanzierung der Spitäler und
Krankenheime vom 19. Oktober 1971 (Spitalgesetz; SAR 331.100)
geregelt und bildete die gesetzliche Grundlage für die öffentliche
2006
Verwaltungsgericht
270
Subventionierung der Spitäler. Dieses Gesetz bestimmte als öffentli-
che und öffentlich subventionierte Spitäler die in § 4a (Fassung vom
5. September 1995) aufgeführten beitragsberechtigten Leistungser-
bringer. Mit Inkrafttreten des SpiG wurde diese Bestimmung in Be-
zug auf die Spitäler aufgehoben und gilt nur noch für die dort aufge-
führten Kranken- und Pflegeheime (§ 26 SpiG). Die Klinik im Scha-
chen ist weder im SpiG noch im Spitalgesetz unter den vom Kanton
subventionierten Spitälern aufgeführt.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Klinik im Schachen
keinen gesetzlichen Subventionsanspruch besitzt.
2.3.3.
Zwischen dem Kanton Aargau und der Hirslandengruppe Zü-
rich bestehen seit 1994 vertragliche Vereinbarungen über die Zu-
sammenarbeit im Gesundheitswesen. Anfangs 2001 haben der Kan-
ton Aargau, die Hirslandengruppe Zürich sowie der Aargauische
Krankenkassen-Verband einen neuen Vertrag über die Zusammenar-
beit im Bereich der Herzchirurgie und Radiofrequenzablation sowie
die Abgeltung der Leistungen mit Wirkung ab 1. Januar 2000 abge-
schlossen (siehe vorne Erw. I/1.5). Der Spitalvertrag gilt für die sta-
tionäre Behandlung von
allgemein versicherten
Patienten und Patien-
tinnen mit Wohnsitz im Kanton Aargau für herzchirurgische Ein-
griffe (mit Ausnahmen) und für die Radiofrequenzablation. Gemäss
dessen Ziff. 4.1 verrechnet die Klinik im Schachen für die erbrachten
Leistungen eine Fallpauschale, welche im Anhang vereinbart ist, di-
rekt den Krankenversicherern und dem Kanton. Die Fallpauschalen
umfassen insbesondere den Spitalaufenthalt (inkl. die notwendige
Intensivpflege), alle notwendigen präoperativen diagnostischen Un-
tersuchungen, alle ärztlichen und medizinischen Leistungen, die In-
frastrukturkosten usw., welche unmittelbar mit dem Spitalaufenthalt
der Patienten oder mit der medizinischen Behandlung im Zusam-
menhang stehen.
Die Klinik im Schachen wurde mit dieser Leistungsvereinba-
rung im Spitalvertrag in die Spitalliste des Kantons Aargau (Art. 39
Abs. 1 lit. e KVG) aufgenommen. Die Spitalliste des Kantons Aar-
gau enthält eine Unterteilung in Kategorien, welche die angebotenen
medizinischen Spezialitäten und die Aufgaben eines Spitals im Rah-
2006
Spitalfinanzierung
271
men der kantonalen Spitalplanung umschreiben. Die Aufnahme eines
Privatspitals in die Spitalliste bedeutet indessen grundsätzlich noch
keine Leistungs- bzw. Beitragspflicht des Kantons (vgl. Entscheid
des Bundesrates vom 26. März 1997, a.a.O., S. 233 f.; Spitalliste des
Kantons Aargau, S. 3 ff. [http://www.ag.ch/gesundheitsversorgung/
shared/dokumente/pdf/spitalliste_05.pdf]).
Der Spitalvertrag begründet somit keinen vertraglichen An-
spruch der Klinik im Schachen auf öffentliche Subventionen.
2.4.
Der Spitalvertrag beschränkt sich auf die Regelung der herz-
chirurgischen Behandlungskosten an Patienten, die obligatorisch
krankenversichert sind. Nach Auffassung des Beklagten geht es um
patientenbezogene Beiträge für eine spezielle Behandlung von
grundversicherten Patientinnen und Patienten. Nur in diesem spezi-
ellen Segment nehme die Klinik im Schachen eine Versorgungsauf-
gabe im aargauischen Gesundheitswesen wahr.
2.4.1.
Die Klinik im Schachen war 2002 und ist heute noch in der
Spitalliste des Kantons Aargau als Institution mit Zulassung von Pa-
tienten in der Halbprivat- und Privatabteilung sowie mit dem be-
schränkten Leistungsauftrag in der Herzchirurgie zu Lasten der obli-
gatorischen Krankenpflegeversicherung aufgeführt. Im Rahmen der
Spitalplanung des Kantons sind der Klinik im Schachen keine Betten
zugewiesen (vgl. Spitalkonzeption vom 29.
Juni 1998, S.
6
[http://www.ag.ch/gesundheitsversorgung/shared/dokumente/pdf/spi-
talkonzeption.pdf]; Revision der Spitalkonzeption 2005, Ersatz Ka-
pitel 9, Leistungsauftrag für die Akutspitäler, August 1999, S. 3 f.
[http://www.ag.ch/gesundheitsversorgung/shared/dokumente/pdf/ka-
pitel9.pdf]). Die Spitalliste legt die anwendbare Tarifierung und den
Tarifschutz nicht fest und umschreibt die Leistungen, welche die
Halbprivat- und Privatabteilungen anbieten, nicht. Die Aufnahme ei-
nes Leistungsauftrages in die Spitalliste des Kantons Aargau bedeutet
nicht, dass die Spitäler verpflichtet werden, bestimmte Leistungen zu
erbringen (vgl. Entscheid des Bundesrates vom 12. Februar 1999 in
Sachen Spitalliste des Kantons Aargau, zitiert in: Revision der
Spitalkonzeption 2005, Ersatz Kapitel 9, a.a.O., S. 4).
2006
Verwaltungsgericht
272
2.4.2.
Zu beachten ist nun allerdings, dass der Spitalvertrag mit der
Klinik im Schachen für die herzchirurgischen Patienten mit Wohnsitz
im Kanton die Koordination der medizinischen-pflegerischen Be-
treuung gewährleistet. Aus den Materialien im Zusammenhang mit
Genehmigung des Spitalvertrages durch den Grossen Rat ergibt sich,
dass die Kooperation mit der Klinik im Schachen zur Sicherstellung
der Versorgung in der Herzchirurgie und damit in Erfüllung von § 41
Abs. 1 KV im Jahr 1994 begonnen hat und eine erste Vereinbarung
zu diesem Zweck abgeschlossen wurde. Der Kanton entschloss sich
infolge von Kapazitätsengpässen und zur Sicherstellung der Gesund-
heitsversorgung der Kantonseinwohner in der Herzchirurgie für ei-
nen Zusammenarbeitsvertrag mit dem Universitätsspital Basel und
der Klinik im Schachen unter Verzicht auf einen Vollausbau der
Herzchirurgie am Kantonsspital Aarau oder eine vertraglich abgesi-
cherte Versorgung in andern ausserkantonalen Zentren (vgl. Bot-
schaft des Regierungsrates des Kantons Aargau an den Grossen Rat
vom 2. März 1994, S. 9 ff.). Mit dem Abschluss dieser beiden Ver-
träge steht einem grundversicherten Patienten das Wahlrecht zu
(Art. 41 Abs. 1 KVG).
Der Spitalvertrag hat die ursprüngliche Grundlage nicht verän-
dert; vielmehr werden mit diesem Vertrag weiterhin die Vorausset-
zungen für die angemessene medizinische Versorgung der Bevölke-
rung geschaffen. Mit dem Spitalvertrag wird demgemäss und in An-
wendung von Art. 39 Abs.1 lit. d KVG für den Bereich der Herz-
chirurgie und der Radiofrequenzablation die bedarfsgerechte statio-
näre Spitalversorgung der Kantonseinwohner gewährleistet. Die Kli-
nik im Schachen ist in diesem medizinischen Leistungssegment eine
Leistungserbringerin, welche innerhalb des Kantonsgebiets und für
die Kantonseinwohner eine definierte Aufgabe zulasten der sozialen
Krankenversicherung im Auftrag des Kantons wahrnimmt.
In der Spitalliste ist die Klinik im Schachen mit der Leistungs-
vereinbarung für Herzchirurgie (exkl. thorakale Gefässe, Transplan-
tationen und Kinderherzchirurgie) auch ausdrücklich aufgeführt
(Spitalliste des Kantons Aargau, a.a.O., S. 14 ["Bemerkungen"]).
2006
Spitalfinanzierung
273
Damit ist die Klinik im Schachen für diesen spezifischen Leistungs-
auftrag auch ausdrücklich zugelassen (Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG).
Aus diesen Erwägungen folgt, dass die Klinik im Schachen für
die herzchirurgischen Eingriffe an Patienten mit Wohnsitz im Kanton
Aargau Teil der kantonalen Spitalplanung und Grundversorgung bil-
det. Aufgrund des Spitalvertrages ist diesen Patienten und Patientin-
nen die Wahl zwischen dem Universitätsspital Basel und der Klinik
im Schachen möglich. Ein gleichwertiges medizinisches Angebot ei-
nes andern, öffentlichen oder öffentlich subventionierten Leistungs-
erbringers besteht für die im Spitalvertrag und im Spitalabkommen
mit dem Kanton Basel Stadt vereinbarte herzchirurgische Behand-
lung nicht.
Die Auffassung der Beklagten, dass die Klinik im Schachen nur
im Bereich der herzchirurgischen Behandlung einen Versorgungs-
auftrag besitzt, ist somit zutreffend. Zu prüfen ist, ob der kantonale
Anteil an der Fallpauschale im Spitalvertrag für die herzchirurgi-
schen Leistungen als Subventionen im Sinne von Art. 49 KVG zu
qualifizieren ist.
2.4.3.
Der Gesetzeswortlaut von Art. 49 Abs. 1 KVG lässt nicht darauf
schliessen, dass objekt- und fallbezogene Betriebsbeiträge unter-
schiedlich zu behandeln sind. Die Kantone besitzen eine finanzielle
Verantwortung für die stationären Infrastrukturen, die sie errichtet
oder zumindest gefördert haben. Im vorliegend streitigen Fall handelt
es sich um eine Spitalbehandlung im stationären Leistungsbereich,
der vom Kanton durch finanzielle Beiträge gefördert wird. Dabei
handelt es sich um einen vom Regierungsrat genehmigten Tarif
(Fallpauschalen) und somit um Betriebsbeiträge.
Es ist nicht zu übersehen, dass Art. 49 KVG zur Folge hat, dass
die Kantone als Leistungserbringer zugelassene Spitäler entweder
gar nicht subventionieren dürfen oder dann mit mindestens 50% sub-
ventionieren müssen. Es kann aber nicht sein, dass sich ein Kanton
dieser Regelung entzieht, indem er fallbezogene Betriebsbeiträge
ausrichtet. Ziel der Regelung von Art. 49 Abs. 1 KVG ist es, die öf-
fentlich subventionierten Spitalträger zu veranlassen, koordiniert zu
planen, zu investieren und zu wirtschaften, indem diese einen spür-
2006
Verwaltungsgericht
274
baren Teil der Kostenfolgen mitzutragen haben, welche sie selber
verursachen. Mit der auf maximal 50 % der anrechenbaren Kosten
festgelegten Deckungsquote für die Krankenversicherung sollte einer
in den vergangenen Jahren geübten Praxis ein Riegel geschoben
werden, wonach die öffentliche Hand zunehmend dazu übergegan-
gen sei, die hohen Spitalkosten, die bis zu einem gewissen Grad auch
aus Fehlplanungen und Fehlbelegungen resultierten, der sozialen
Krankenversicherung zu überwälzen (Botschaft über die Revision
der Krankenversicherung vom 6. November 1991, in: BBl 1992,
S. 185).
Dieses Ziel würde auch unterlaufen, wenn sich die Kantone
durch die Wahl der Art der Betriebsbeiträge der Pflicht zur Leistung
des Sockelbeitrags entziehen könnten. Dabei ist gleichgültig, dass
der Kanton die Betriebsbeiträge nicht aufgrund einer gesetzlichen
Verpflichtung, sondern einer freiwilligen Vereinbarung leistet. Für
eine solche Differenzierung findet sich weder im Gesetzestext noch
in der Botschaft eine Stütze. Es läuft auf eine Umgehung des Geset-
zeszwecks hinaus, wenn Spitälern die gesetzliche Subventionsbe-
rechtigung nicht gewährt oder aufgehoben werden könnte und diese
durch freiwillige Beiträge ersetzt würde, um der Pflicht zur Leistung
eines Sockelbeitrags zu entgehen. Die Gewährung freiwilliger Bei-
träge durch den Kanton ist anders zu behandeln als der Fall, in dem
einem Leistungserbringer die Subventionen definitiv gestrichen wer-
den und der nur dann als missbräuchlich anzusehen ist, wenn etwa
die Privatisierung eines Spitals aus rein tariflichen Gründen zwecks
Umverteilung der Kosten erfolgt (Entscheid des Bundesrates vom
29. April 1998, a.a.O., S. 275).
Nach Auffassung der Gerichtsmehrheit ist die herzchirurgische
Abteilung der Klinik im Schachen daher ein partiell öffentlich sub-
ventionierter Leistungserbringer. Unter diesen Umständen hat der
Beklagte gemäss Art. 1 Abs. 1 des dringlichen Bundesgesetzes (Fas-
sung vom 21. Juni 2002) den Kantonsbeitrag für die Behandlung von
P.B. in der Klinik im Schachen zu entrichten.
Einer Minderheit des Gerichts geht diese Schlussfolgerung aus
dem partiellen Einkauf von Spitalleistungen mit Leistungspauschalen
angesichts des beschränkten Inhalts der Vereinbarungen im Spital-
2006
Spitalfinanzierung
275
vertrag zu weit. Sie hätte am grundsätzlichen Ausschluss der Ko-
stenübernahme durch den Kanton in der allgemeinen Abteilung eines
Privatspitals festgehalten (BGE 130 V 479 Erw. 5.3 und 5.4 = Pra
94/2005, S. 1044 ff.), die Leistungspflicht des Beklagten aber nach
den Grundsätzen der freien Wahl des Leistungserbringers (Art. 41
Abs. 1 Satz 1 KVG), der Austauschbefugnis der Zusatzversicherten
(BGE 130 I 306 Erw. 2.2; 126 III 345 Erw. 3; 120 V 280 Erw. 4a;
Eugster, a.a.O., Rz. 218 und 325) und in analoger Anwendung von
Art. 49 Abs. 1 und Art. 41 Abs. 3 KVG bejaht. | 6,733 | 5,253 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-51_2006-04-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-51.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-51.pdf | AGVE_2006_51 | null | nan |
361d4998-7b4f-5f4b-8337-005fbfa45a5b | 1 | 412 | 870,345 | 1,262,476,800,000 | 2,010 | de | 2010
Verwaltungsgericht
142
[...]
27
Zonenkonformität von Kindertagesstätten in einer Wohnzone.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 26. Januar 2010 in Sachen
X. und Y. gegen Kantonsspital Aarau AG (WBE.2008.252).
Aus den Erwägungen
1.
Die Beschwerdegegnerin betreibt auf den Liegenschaften
Westallee 9 (Parzelle Nr. 1205) und Westallee 13 (Parzelle Nr. 1206)
zwei Kindertagesstätten. Beide Gebäude wurden zuvor als Personal-
häuser genutzt. Die jetzt eingerichteten Kindertagesstätten sind von
6.30 Uhr bis 19.00 Uhr geöffnet. Abends, an Samstagen sowie an
Sonn- und Feiertagen sind sie geschlossen. Die Kinder werden zwi-
schen 6.30 Uhr und 9.00 Uhr gebracht und zwischen 16.00 Uhr und
19.00 Uhr abgeholt. Die Kinder in der Liegenschaft Westallee 9 sind
im Kindergarten- und Primarschulalter. An der Westallee 13 werden
Kinder von drei Monaten bis und mit viertem Lebensjahr betreut.
Die Westallee 9 hat zehn Plätze, an der Westallee 13 können 14 Kin-
der betreut werden. Beide Kindertagesstätten verfügen über einen
Garten, wobei ein Zaun die beiden angrenzenden Gärten trennt. Im
Garten der Westallee 9 befanden sich zum Zeitpunkt des verwal-
tungsgerichtlichen Augenscheins vom 24. August 2009 zwei Fuss-
balltore, ein Sandplatz sowie ein Partyzelt mit drei Bänken, welches
gemäss der Leiterin der Kindertagesstätten im Herbst entfernt wer-
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
143
den sollte. Ferner befanden sich eine "Experimentierküche", ein von
den Kindern angelegter Kräutergarten sowie verschiedene Autoreifen
auf der Nordseite des Gebäudes. Der Garten der Westallee 13 war
ausgerüstet mit einer Rutschbahn, einem Trampolin, einem Sandplatz
sowie einer Schaukel. Die Beschwerdegegnerin verfügt über eine
dritte Kindertagsstätte an der Westallee 19 (östlich der Westallee 13).
Die Gärten der drei Kindertagesstätten sind durch einen Zaun
getrennt. Die Kinder können jedoch (mit Erlaubnis der Betreu-
ungsperson) von einer zur anderen Liegenschaft zirkulieren. Die
Parzelle Nr. (...) der Beschwerdeführer grenzt unmittelbar nördlich
an die Parzelle Nr. 1205 (Westallee 9).
2.
Die umgenutzten Liegenschaften befinden sich gemäss Zonen-
plan der Stadt Aarau vom 11. Mai 1981 / 11. September 1984 (Stand
September 2007) in der Wohnzone W3
bis
, welche der Empfindlich-
keitsstufe II zugeordnet ist. Gemäss § 6 Abs. 1 der Bau- und Nut-
zungsordnung (BNO) der Stadt Aarau vom 24. März 2003 / 25. Juni
2006 sind Wohnzonen in erster Linie für Wohnbauten bestimmt. Der
Anteil der Wohnnutzung an der realisierten Bruttogeschossfläche hat
in den Zonen E, W2, W3 und W3
bis
mindestens 60 % zu betragen
(§ 6 Abs. 3 BNO).
3.
3.1.-3.3. (...)
3.4.
Zu prüfen ist, ob der Gemeinderat § 6 BNO richtig angewandt
hat. Geht es, wie hier, um die Anwendung einer kommunalen Be-
stimmung, muss berücksichtigt werden, dass die Gemeinden bei der
Ausscheidung und Definition der verschiedenen Zonen (§ 13 Abs. 1,
§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 BauG) aufgrund von § 106 KV verfassungs-
rechtlich geschützte Autonomie geniessen; hierin eingeschlossen ist
die Anwendung des autonomen Gemeinderechts. Daraus folgt, dass
sich das Verwaltungsgericht bei der Überprüfung einschlägiger ge-
meinderätlicher Entscheide zurückzuhalten hat, zumindest soweit es
bei den zu entscheidenden Fragen um rein lokale Anliegen geht und
weder überörtliche Interessen noch überwiegende Rechtsschutz-
anliegen berührt werden. Die Gemeinde kann sich in solchen Fällen
2010
Verwaltungsgericht
144
bei der Auslegung kommunalen Rechts insbesondere dort auf ihre
Autonomie berufen, wo eine Regelung unbestimmt ist und verschie-
dene Auslegungsergebnisse rechtlich vertretbar erscheinen. Die
kantonalen Rechtsmittelinstanzen sind hier gehalten, das Ergebnis
der gemeinderätlichen Rechtsauslegung zu respektieren und nicht
ohne Not ihre eigene Rechtsauffassung an die Stelle der gemein-
derätlichen zu setzen. Die Autonomie der Gemeindebehörden hat je-
doch auch in diesen Fällen dort ihre Grenzen, wo sich eine Aus-
legung mit dem Wortlaut sowie mit Sinn und Zweck des Gesetzes
nicht mehr vereinbaren lässt (AGVE 2001, S. 299 f. mit Hinweis).
3.5.
3.5.1.
Wohnzonen sind hauptsächlich für Wohnbauten bestimmt (§ 15
Abs. 2 BauG i.V.m. § 6 Abs. 1 BNO). Ein bundesweit einheitlicher
Begriff der Wohnnutzung existiert nicht. Die Wohnnutzung kann in
erster Linie als eine Reihe verschiedener Zwecke und Tätigkeiten be-
schrieben werden, zu denen etwa Erholung, Schlafen, Essen und
Hausarbeit gezählt werden. Darüber hinaus werden der Wohnnut-
zung auch Einrichtungen für die Freizeitbeschäftigung und andere
Nutzungen zugerechnet, sofern diese einen hinreichenden Bezug
zum Wohnen aufweisen (AGVE 2001, S. 301 mit Hinweis; Bernhard
Waldmann / Peter Hänni, Raumplanungsgesetz, Bundesgesetz vom
22. Juni 1979 über die Raumplanung [RPG], Bern 2006, Art. 22
N 25).
3.5.2.
Zu prüfen ist zunächst, ob der Betrieb der Kindertagesstätten
unter den Begriff der Wohnnutzung fällt. Entscheidend ist, was die
Kindertagesstätten bezwecken und welche Tätigkeiten sie umfassen.
Die Kinder der Kindertagesstätte verbringen entweder den gan-
zen oder den halben Tag in den Kindertagesstätten. Sie essen, schla-
fen, spielen und teilweise besuchen sie den Kindergarten oder die
Schule. Insofern kann die Nutzung der Kindertagesstätten in Über-
einstimmung mit den Vorinstanzen durchaus als Wohnnutzung ange-
sehen werden, zumal die Kinder - wie die Vorinstanz zutreffend aus-
führt - die gleichen Aktivitäten ausüben wie im Elternhaus. Die Be-
schwerdeführer erklären denn auch nicht, dass die Tätigkeiten der
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
145
Kinder nicht dem Zweck der Wohnzone entsprechen ("Die Vorin-
stanz erachtet Kinderhorte und Kinderspielplätze in der Wohnzone
als zonenkonform. Im Grundsatz ist dies richtig."). Die Beschwerde-
führer stören sich vielmehr daran, dass nicht Quartierkinder betreut
werden, sondern die Kinder von Angestellten der Beschwerde-
gegnerin. Woher die betreuten Kinder kommen, spielt jedoch bei der
Beurteilung der Frage, ob es sich um eine Wohnnutzung oder eine
gewerbliche Nutzung handelt, keine entscheidende Rolle. Massge-
bend ist, dass die Kinder denjenigen Tätigkeiten nachgehen, die dem
Charakter der Wohnnutzung vollumfänglich entsprechen. Spiel und
Bewegung sind feste Elemente im Tagesrhythmus eines Kindes,
weshalb Geräusche spielender Kinder mit der Wohnnutzung un-
trennbar verbunden sind. Entgegen der Ansicht der Beschwerdefüh-
rer, fehlt es einer Kindertagestätte auch nicht am Element der Dauer.
Zwar sind nicht jeden Tag die gleichen Kinder anwesend. Es handelt
sich aber auch nicht um eine stundenweise Betreuung von immer
wechselnden Kindern. Aufgrund der vorgeschriebenen Mindestbe-
treuungsverhältnisse ist jedes Kind durchschnittlich zwei Tage bzw.
vier Halbtage pro Woche anwesend und dies während eines längeren
Zeitraums. Es ist folglich durchaus gerechtfertigt, von einer auf eine
gewisse Dauer ausgerichteten Wohnnutzung zu sprechen, auch wenn
sich diese auf den Tag beschränkt. Dementsprechend werden Kinder-
tagesstätten in der Wohnzone nach der Praxis der Stadt Aarau gene-
rell bewilligt ([...]: in der Wohnzone befinden sich [teilweise] das
[...] mit 60 Plätzen, die [...] mit 34 Plätzen, die [...] mit 24 Plätzen
sowie die [...] mit 12 Plätzen). Hinzu kommt, dass dem Betrieb der
Kindertagesstätten im konkreten Fall die Absicht zur Gewinnerzie-
lung fehlt. Die Kinderkrippen werden betrieben, um die Kinder der
Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin während der Arbeitszeit zu be-
treuen. Es steht somit ein soziales Motiv und nicht ein Erwerbszweck
im Vordergrund. Es liegt deshalb kein Gewerbebetrieb, sondern eine
soziale Einrichtung vor, deren Betrieb einer Wohnnutzung entspricht.
3.5.3.
Zusammenfassend erscheint es vor dem Hintergrund der kom-
munalen Autonomie haltbar, wenn der Stadtrat von einer Wohnnut-
zung ausgeht. Qualifiziert man den Betrieb der Kindertagesstätten als
2010
Verwaltungsgericht
146
Wohnnutzung, bedarf es keines funktionalen Zusammenhangs zwi-
schen dem Betrieb der Kindertagesstätte und der übrigen Wohnnut-
zung. Ein funktionale Betrachtungsweise ist von vornherein nur bei
Gewerbebetrieben erforderlich (Waldmann / Hänni, a.a.O., Art. 22
N 26).
4.
Die Beschwerdeführer erachten das Bauvorhaben auch unter
lärmschutzrechtlichen Gesichtspunkten als nicht bewilligungsfähig.
4.1.
4.1.1.
Gemäss Art. 74 Abs. 1 BV erlässt der Bund Vorschriften über
den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schäd-
lichen und lästigen Einwirkungen; er sorgt dafür, dass solche Einwir-
kungen vermieden werden (Art. 74 Abs. 2 Satz 1 BV). Diesem Auf-
trag ist mit dem Erlass des USG und der einschlägigen Ausführungs-
verordnungen entsprochen worden.
Einwirkungen im Sinne von Art. 74 Abs. 1 BV sind insbeson-
dere Luftverunreinigungen, Lärm, Erschütterungen, Strahlen sowie
Verunreinigungen des Bodens, die durch den Bau oder Betrieb von
Anlagen oder den Umgang mit Stoffen oder Abfällen erzeugt werden
(Art. 7 Abs. 1 USG). Gemäss der Rechtsprechung geht es dabei nicht
nur um den Lärm technischen Ursprungs; der unmittelbar mit dem
Betrieb einer Anlage verbundene Verhaltenslärm von Menschen und
Tieren wird ebenfalls erfasst (BGE 123 II 79 = Pra 86/1997, S. 561
mit Hinweisen). Auf solchen Lärm sind das USG und die LSV eben-
falls anwendbar (Christoph Zäch / Robert Wolf, Kommentar zum
Umweltschutzgesetz, 2. Auflage, Zürich 2004, Art. 15 N 40 [nachfol-
gend Bearbeiter, Kommentar USG]; BGE 123 II 79 = Pra 86/1997,
S. 561 mit Hinweis; AGVE 1999, S. 272 mit Hinweis auf den Ent-
scheid des Verwaltungsgerichts vom 28. Mai 1991, in: URP 6/1992,
S. 155 ff. betreffend einen Kinderspielplatz).
4.1.2.
Das USG will, entsprechend dem Verfassungsauftrag (Art. 74
Abs. 1 BV), den Menschen und seine natürliche Umwelt gegen
schädliche und lästige Einwirkungen schützen (Art. 1 Abs. 1 USG;
siehe dazu Schrade / Loretan, Kommentar USG, Art. 11 N 3, 16,
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
147
16a). Das USG will dabei kein Verhinderungs-, sondern ein Mass-
nahmengesetz sein, das seinem Konzept nach die Quellen der Um-
weltbelastung nicht als solche in Frage stellt; die Nachfrage soll nicht
untersagt, sondern befriedigt werden, wobei aber gleichzeitig die den
Umweltschutzanforderungen entsprechenden Vorkehren getroffen
werden sollen (Pra 80/1991, S. 179; BGE 124 II 233). In diesem Sin-
ne sind Einwirkungen, die schädlich oder lästig werden könnten, un-
abhängig von der bestehenden Umweltbelastung frühzeitig so weit
zu begrenzen, als dies technisch und betrieblich möglich und wirt-
schaftlich tragbar ist (sog. Vorsorgeprinzip gemäss Art. 1 Abs. 2 und
Art. 11 Abs. 2 USG; Art. 7 Abs. 1 lit. a und Art. 8 Abs. 1 LSV; siehe
BGE 126 II 305 ff. und 118 Ib 238 sowie AGVE 1999, S. 272 f., je
mit Hinweisen). Allerdings gibt es Geräusche, die nicht mit emis-
sionsbeschränkenden Massnahmen reduziert werden können, ohne
dass damit der eigentliche Zweck der Tätigkeit in Frage gestellt wür-
de. Dazu sind auch kindliche Lautäusserungen beim Spiel im Freien
zu zählen. Solche Geräusche können nicht völlig verboten, sondern
im Wesentlichen nur einschränkenden Betriebszeiten unterstellt wer-
den, wobei eine Interessenabwägung zwischen dem Ruhebedürfnis
der Bevölkerung und dem Interesse an der lärmverursachenden
Tätigkeit vorzunehmen ist (Entscheid des Verwaltungsgerichts Zü-
rich vom 8. April 2004 [VB.2004.00035], Erw. 4.1; BGE 126 II 369).
4.1.3.
Auf einer zweiten Stufe setzt das USG bei den Immissionen an:
Die Emissionsbegrenzungen werden verschärft, wenn feststeht oder
zu erwarten ist, dass die Einwirkungen unter Berücksichtigung der
bestehenden Umweltbelastung schädlich oder lästig werden (Art. 11
Abs. 3 USG). Als Massstab für die Beurteilung der schädlichen oder
lästigen Einwirkungen dienen Immissionsgrenzwerte (Art. 13 - 15
USG). Der Bundesrat hat solche Immissionsgrenzwerte für den
Strassenverkehrslärm, den Eisenbahnlärm, den Lärm der Regional-
flughäfen und Flugfelder, den Industrie- und Gewerbelärm, den
Lärm von Schiessanlagen sowie den Lärm von Militärflugplätzen
festgelegt (Anhänge 3-8 zur LSV); für den Lärm öffentlicher Ein-
richtungen wie Schul- und Sportanlagen tat er dies nicht.
2010
Verwaltungsgericht
148
4.2.
Die streitbetroffenen Kindertagesstätten bzw. die dazugehörigen
Kinderspielplätze stellen unbestrittenermassen ortsfeste Anlagen im
Sinne von Art. 7 Abs. 7 USG dar, durch deren Betrieb Lärmimmis-
sionen verursacht werden.
4.3.
Die Lärmimmissionen ortsfester Anlagen sind grundsätzlich
anhand der vom Bundesrat festgelegten Belastungsgrenzwerte zu be-
urteilen. Für die Lärmbelastung durch Begegnungs- und Kinder-
spielplätze hat er keine Grenzwerte festgelegt. Fehlen Belastungs-
grenzwerte, so beurteilt die Vollzugsbehörde die Lärmimmissionen
im Einzelfall anhand der Kriterien, die den gesetzlichen Belastungs-
grenzwerten (Planungs-, Immissions- und Alarmwerte) zu Grunde
liegen (vgl. Art. 15, 19 und 23 USG). In der hier interessierenden
Zone mit Empfindlichkeitsstufe II entspricht den Planungswerten ein
Immissionsniveau, bei dem nach richterlicher Beurteilung höchstens
geringfügige Störungen auftreten dürfen (BGE 126 II 368 ff. mit
Hinweisen; 123 II 335; BGE vom 4. März 2002 [1A.73/2001], in:
URP 16/2002, S. 105). Das Ausmass der Störung hängt ab vom Cha-
rakter des Lärms, dem Zeitpunkt und der Häufigkeit seines Auf-
tretens sowie von der Lärmempfindlichkeit bzw. Lärmvorbelastung
der Zone, in der die Immissionen auftreten. Aufgrund richterlicher
Erfahrung ist zu beurteilen, ob eine unzumutbare Störung vorliegt.
Dabei ist nicht auf das subjektive Lärmempfinden einzelner Personen
abzustellen, sondern eine objektivierte Betrachtung unter Berück-
sichtigung von Personen mit erhöhter Empfindlichkeit (Art. 13
Abs. 2 USG) vorzunehmen (BGE 126 II 368 ff. mit Hinweisen; 123
II 335; BGE vom 4. März 2002 [1A.73/2001], in: URP 16/2002,
S. 105). Allein der Umstand, dass sich einige wenige Nachbarn durch
den Lärm belästigt fühlen, belegt also noch keine unzulässige
Lärmbelastung (BGE 123 II 86).
4.3.1.
Die Beschwerdeführer beantragen die "Beiziehung" einer Lärm-
prognose. Der Antrag wird einzig mit allgemeinen rechtlichen Aus-
führungen und Hinweise auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung
begründet.
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
149
Die kantonale Behörde ist verpflichtet, die Lärmimmissionen
ortsfester Anlagen anhand einer Lärmprognose zu ermitteln, wenn
sie Grund zur Annahme hat, dass die Belastungsgrenzwerte über-
schritten sind oder ihre Überschreitung zu erwarten ist (Art. 25
Abs. 1 USG, Art. 36 Abs. 1 LSV). Die Ermittlungspflicht gilt grund-
sätzlich auch bei Anlagen, deren Lärmimmissionen direkt aufgrund
von Art. 15 USG zu beurteilen sind.
Im konkreten Fall liesse sich zwar der Schallpegel des hier zur
Diskussion stehenden Verhaltenslärms spielender Kinder ermitteln,
es besteht jedoch kein rechtlich verbindlich vorgegebenes und wis-
senschaftlich anerkanntes Mess- und Beurteilungsverfahren für diese
Lärmart. Es fehlt überdies an Grenzwerten, die auf ein solches Ver-
fahren abgestimmt sein müssten und nach denen das Messresultat
beurteilt werden könnte. Ein Lärmgutachten wäre daher von be-
schränktem Nutzen. Die Behörde darf die Immissionen in solchen
Fällen auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen und ohne Gutachten
beurteilen. Sie soll sich dieser Verantwortung nicht entziehen, indem
sie den wertenden Entscheid darüber, ob die Immissionen als erheb-
lich störend einzustufen sind oder nicht, einem Akustikbüro über-
trägt. Sie hat die Gesamtumstände des konkreten Einzelfalles selber
abzuwägen, wobei sie dem Charakter des Lärms, dem Zeitpunkt und
der Häufigkeit seines Auftretens sowie der Lärmempfindlichkeit
bzw. Lärmvorbelastung der Zone Rechnung tragen muss. Diese Be-
urteilung kann in Fällen der vorliegenden Art ohne Unterstützung
von Akustikern erfolgen. Es lässt sich daher nicht beanstanden, dass
der Stadtrat auf ein Lärmgutachten verzichtet hat.
4.3.2.
Den Charakter des Lärms beschrieb die Beschwerdeführerin
anlässlich der verwaltungsgerichtlichen Augenscheinsverhandlung
als Jauchzen, Johlen und Schreien der Kinder. Gemäss den benach-
barten Zeuginnen umfasst der Lärm Schreien, Heulen, Kreischen,
Weinen, Brüllen, Rufen und Quietschen. Die Beschwerdeführer - wie
auch die Zeuginnen - beklagen sich somit generell über den Lärm,
den die Kinder beim Spielen im Garten erzeugen. Derartiger Lärm
passt jedoch vom Charakter her in eine Wohnzone. Kinder sollen in
Wohnzonen die Möglichkeit haben, sich im Freien zu bewegen und
2010
Verwaltungsgericht
150
zu spielen. Sie gehören mit allen ihren lauten und leisen Äusserun-
gen zum Wohnen und sind in einer Wohnzone zu akzeptieren, auch
wenn sie auf einem Platz zum Spielen zusammenkommen und des-
halb mit einem erhöhten Lärmpegel zu rechnen ist (Entscheid der
Baurekurskommission Zürich vom 30. März 2004, in: URP 2004,
S. 347). Lärm, der von seinem Charakter her dieser üblichen Ge-
räuschkulisse entspricht, wird von der Mehrheit der Bevölkerung
auch in einer ruhigen Wohnzone als ortsüblich und deshalb nicht als
störend empfunden (Urs Walker, Umweltrechtliche Beurteilung von
Alltags- und Freizeitlärm, in: URP 1/2009, S. 82; siehe auch
BGE vom 7. März 2005 [1A.241/2004], Erw. 2.5.4. mit Hinweisen;
VGE III/46 vom 28. August 2007, S. 11 f.). Derartiger Lärm hat
somit grundsätzlich als sozialadäquat zu gelten und muss in einer
Wohnzone hingenommen werden.
Störend und rechtlich relevant wird derartiger Lärm erst, wenn
er eine besondere Lautstärke annimmt. Das ist hier nicht der Fall.
Die zwei strittigen Kindertagesstätten an der Westallee 9 und 13
bieten insgesamt 24 Plätze an. Berücksichtigt man noch die angren-
zende Tagesstätte in der Zone Oe (Westallee 19), sind es 46 Plätze.
Die Konzentration aller Kinder auf einer Parzelle ist entgegen der
Ansicht der Beschwerdeführer unwahrscheinlich, zumal alle drei
Kindertagesstätten über einen grossen Garten verfügen, welche je-
weils unterschiedliche Spielgeräte aufweisen. Geht man mit den Be-
schwerdeführern von acht bis (an schönen Sommertagen und bei
Schnee) 20 im Freien spielenden Kindern aus, lässt sich die Situation
noch mit einem kleineren Spielplatz vergleichen, welcher in einer
Wohnzone üblich und objektiv nicht störend ist.
4.3.3.
Zum Zeitpunkt und der Häufigkeit des Lärms: Der gleiche
Lärm stört nachts mehr als am Tag, und er stört auch stärker während
der Erholungszeiten am Wochenende oder abends als während der
Arbeitszeiten (Walker, a.a.O., S. 82).
Die Kinder werden montags bis freitags zwischen 6.30 Uhr und
9.00 Uhr in die Kindertagesstätte gebracht und zwischen 16.00 Uhr
und 19.00 Uhr abgeholt. Die Kinder der Westallee 9 besuchen die
Schule oder den Kindergarten und halten sich höchstens an schul-
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
151
freien Nachmittagen oder ab ca. 16.00 Uhr im Freien auf. Die Kinder
der Westallee 13 sind je nach Programm und Witterung jeweils mor-
gens und nachmittags nach dem Mittagsschlaf im Garten. Gemäss
Aussage einer Zeugin anlässlich der verwaltungsgerichtlichen Au-
genscheinsverhandlung ist der Lärm zwischen 17.00 Uhr und
18.00 Uhr am schlimmsten. Laut Beschwerdeführerin tritt der Lärm
von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr auf, wobei von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr
die Mittagsruhe eingehalten werde. Der Lärm tritt somit ausserhalb
der Zeiten auf, die durch das Polizeireglement der Stadt Aarau vom
14. April 1980 speziell geschützt sind (vgl. § 12 des erwähnten Reg-
lements). Hinzu kommt, dass die Entstehung des Lärms sowie dessen
Wahrnehmung von der Witterung und von der Jahreszeit abhängig
ist.
Somit zeigt sich, dass der Lärm nicht in Zeiten auftritt, welche
normalerweise zur Entspannung und Erholung genutzt werden. Die
Ruhezeiten am Mittag und am Abend werden vielmehr eingehalten.
Die Lärmimmissionen konzentrieren sich auf eine Zeitspanne, in der
auch lärmintensivere Tätigkeiten des Arbeitslebens vorgenommen
werden. Diesem Umstand ist bei der Beurteilung besonderes Ge-
wicht beizumessen. Das Spiel der Kinder im Freien werktags wäh-
rend einer begrenzten Anzahl Stunden (insbesondere nachmittags)
erweist sich als eine zum Wohnen gehörende Aktivität, welche nicht
als störend bezeichnet werden kann.
4.3.4.
Zu prüfen ist ferner die Lärmempfindlichkeit und die Lärmvor-
belastung der Zone, in welcher der Lärm auftritt. Im konkreten Fall
befinden sich die überbauten Liegenschaften der Beschwerdeführer
in der Zone E, für welche die Empfindlichkeitsstufe II gilt (§ 5 Abs.
2 BNO, Zonenplan der Stadt Aarau; Art. 43 Abs. 1 lit. b LSV). Die
Zone E ist für den Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern bestimmt
(§ 6 Abs. 2 BNO). Es sind nur stilles Gewerbe und Quartierläden
zulässig (Anhang zur BNO). In solchen Zonen, die überwiegend dem
Wohnen dienen, ist auf die Wohnqualität Rücksicht zu nehmen. Aber
auch in Zonen, die dem Wohnen dienen, kommt es jedoch zu
Lärmimmissionen, beispielsweise wie hier durch spielende Kinder,
die hinzunehmen sind (vgl. vorne Erw. 4.3.2.).
2010
Verwaltungsgericht
152
Eine relevante Lärmvorbelastung liegt trotz des angrenzenden
Kantonsspitals nicht vor, worüber sich alle Verfahrensbeteiligten ei-
nig sind.
4.3.5.
Zusammenfassend erlaubt die heutige Situation betreffend die
Kindertagesstätten an der Westallee 9 und 13 den Schluss, dass
höchstens eine geringfügige Störung vorliegt und somit das zulässige
Immissionsniveau (noch) nicht überstiegen wird. Der Entscheid der
Vorinstanz ist insofern nicht zu beanstanden.
4.4.
Zu prüfen bleibt, ob die Emissionen durch vorsorgliche Mass-
nahmen begrenzt werden können (Art. 11 Abs. 2 USG). Die Be-
schwerdeführer haben subeventualiter beantragt, die Baubewilligun-
gen seien mit Auflagen zu versehen. Denkbar seien etwa die Aufla-
gen, dass sich maximal sechs Kinder auf dem Kinderspielplatz auf-
halten dürfen oder dass die Mittagsruhe von 12.00 Uhr - 13.30 Uhr
einzuhalten sei (keine Kinder im Freien).
4.4.1.
In beiden Kindertagesstätten werden gleichzeitig 24 Kinder be-
treut (vgl. vorne Erw. 1). Die verlangte Beschränkung würde bedeu-
ten, dass man an warmen Sommertagen nur einem Teil der betreuten
Kinder erlauben würde, sich draussen aufzuhalten, was weder prakti-
kabel noch den Kindern zumutbar ist. Im Hinblick darauf, dass der
Kinderlärm nur werktags, ausserhalb der im Polizeireglement spe-
ziell geschützten Ruhezeiten auftritt und sich die Beschwerdeführer
nur dann gestört fühlen, wenn sie sich selber im Garten befinden,
erweist sich die beantragte Massnahme als unverhältnismässig. Den
Kindern soll die Möglichkeit gegeben werden, sich im Freien zu be-
wegen und zu spielen. Es entspricht dem Zweck einer Kindertages-
stätte, den Kindern eine optimale Betreuung (welche zweifelsohne
auch die Möglichkeit umfasst, sich im Freien aufzuhalten) zu bieten.
Das Ruhebedürfnis der Beschwerdeführer vermag eine generelle
Beschränkung der Anzahl Kinder, die sich im Garten aufhalten dür-
fen, nicht zu rechtfertigen.
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
153
4.4.2.
Die Beschwerdeführer verlangen, dass die Mittagsruhe zu ge-
währleisten sei. Einzig die Kinder der Westallee 13 essen im Freien,
wofür ein Holztisch im Garten aufgestellt wurde. Die Kinder essen
um 11.30 Uhr bis 12.00 Uhr und halten danach einen Mittagsschlaf.
Die Kinder der Westallee 9 nehmen das Essen im Haus ein. Anläss-
lich der verwaltungsgerichtlichen Augenscheinsverhandlung erklärte
die Beschwerdeführerin, von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr sei kein Lärm
zu hören. Vor diesem Hintergrund lässt sich die beantragte Auflage
nicht rechtfertigen.
(Hinweis: Das Bundesgericht hat eine Beschwerde gegen diesen
Entscheid abgewiesen, soweit es darauf eintrat; Urteil vom
6. September 2010 [1C_148/2010]). | 5,398 | 4,418 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-27_2010-01-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-27.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-27.pdf | AGVE_2010_27 | null | nan |
362f107d-85b7-5fc6-b3ec-d6c212f64658 | 1 | 412 | 871,309 | 1,196,553,600,000 | 2,007 | de | 2007
Verwaltungsgericht
214
[...]
49 Beschwerdelegitimation.
Grundbuchabgaben.
-
Kein schutzwürdiges Interesse - als Voraussetzung der Beschwerde-
legitimation -, soweit es lediglich um die theoretische Klärung einer
Rechtsfrage geht (Erw. I/2).
-
Richtiges Vorgehen, wenn eine Befreiung von der Abgabe zufolge
Arrondierung (§ 2 Abs. 1 GBAG) beansprucht wird (Erw. I/3).
-
Auch wenn Vorbringen verspätet erfolgen, hebt dies den Untersu-
chungsgrundsatz (§ 20 Abs. 1 VRPG) nicht auf (Erw. I/3).
-
Kostenverlegung, wenn wesentliche Vorbringen erst verspätet (im
Beschwerdeverfahren) erfolgen (Erw. II/2).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 17. Dezember 2007 in
Sachen M.M. gegen Departement Volkswirtschaft und Inneres
(WBE.2007.340).
Sachverhalt
In der Beschwerde gegen die Gebührenfestsetzung durch das
Grundbuchamt wurde beantragt, die Handänderungsgebühr sei her-
abzusetzen. In der Begründung wurde als Eventualstandpunkt vorge-
bracht, wegen der erzielten Arrondierung hätte überhaupt keine
Handänderungsgebühr erhoben werden dürfen. Das Departement
Volkswirtschaft und Inneres (DVI) prüfte den (Haupt-)Antrag ma-
2007
Verwaltungsrechtspflege
215
teriell, setzte, unter Vorbehalt einer nachträglichen Abgabenbefrei-
ung, die Handänderungsgebühr in teilweiser Gutheissung der Be-
schwerde herab und wies die Sache ans Grundbuchamt zurück, damit
dieses die Frage der Abgabenbefreiung zufolge vollständiger Arron-
dierung prüfe; die Rückweisung wurde damit begründet, dass erst im
Beschwerdeverfahren vorgebracht worden sei, die erzielte Arrondie-
rung führe zur Abgabenbefreiung.
Aus den Erwägungen
I/2./2.1. Gemäss § 2 Abs. 1 GBAG werden keine Abgaben er-
hoben "auf grundbuchlichen Vorgängen, die mit Bodenverbesserun-
gen (Art. 954 Abs. 2 und Art. 703 des Schweizerischen Zivilgesetz-
buches) oder Entschuldungsmassnahmen [...] im Zusammenhang
stehen, oder die einen Bodenaustausch zur Abrundung landwirt-
schaftlicher Betriebe zum Gegenstand haben, sofern dabei eine volle
Arrondierung erreicht wird" (im Folgenden als Arrondierungstatbe-
stand bezeichnet). Aufgrund der Stellungnahme des Grundbuchamtes
Baden steht fest, dass diese Bestimmung zur Anwendung kommt und
die Beschwerdeführer lediglich die unstreitig geschuldeten Fr. 46.--
(für Auslagen) bezahlen müssen.
2.2. Die Beschwerdebefugnis (Beschwerdelegitimation) setzt
ein schutzwürdiges eigenes Interesse voraus (§ 38 Abs. 1 VRPG). An
einem solchen Rechtsschutzinteresse fehlt es regelmässig dann, wenn
die Beschwerde dem Beschwerdeführer keinen Vorteil bringen kann
(Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren
nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege
[Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Zürich 1998, § 38 N 129 ff.
mit Hinweisen). Die Beschwerdeführer haben kein schutzwürdiges
Interesse an einem Entscheid, um wie viel höher die Abgabe wäre,
wenn sie nicht ohnehin nur Fr. 46.-- zu berappen hätten. Zur theoreti-
schen Klärung einer Rechtsfrage (in der Eingabe vom 23. November
2007 wird geltend gemacht, ohne jetzige Entscheidung werde wahr-
scheinlich bald eine nächste Beschwerde mit diesem Thema einge-
reicht) steht das Beschwerdeverfahren nicht zur Verfügung (Merker,
2007
Verwaltungsgericht
216
a.a.O., § 38 N 130). Auf die Beschwerde ist daher aufgrund des feh-
lenden Rechtsschutzinteresses nicht einzutreten.
3. Aus dem Wortlaut von § 2 Abs. 1 GBAG ergibt sich unmiss-
verständlich, dass der Arrondierungstatbestand nicht zu einem nach-
träglichen, in einem zweiten Verfahren zu prüfenden Erlass der Ab-
gabe führt; vielmehr werden von vornherein keine Abgaben gemäss
GBAG, sondern lediglich (Kanzlei-)Gebühren erhoben. (Anders ver-
hält es sich bei teilweiser Arrondierung gemäss § 2 Abs. 2 GBAG, da
dort der Regierungsrat, also eine andere Instanz als das die Abgabe
festsetzende Grundbuchamt, die Abgabe "angemessen herabsetzen"
kann.)
Vor diesem Hintergrund ist die Durchführung des vorinstanzli-
chen Verfahrens zu beanstanden. In der Beschwerde an das DVI be-
antragten die Beschwerdeführer die Herabsetzung der Handände-
rungsabgabe von Fr. 1'105.-- auf Fr. 100.--; eventualiter machten sie
geltend, es dürfe gar keine Handänderungsabgabe erhoben werden.
Wohl ist es widersprüchlich, einen Eventualantrag zu stellen, der
materiell weiter geht als der Hauptantrag. In einem solchen Fall
macht es Sinn, vorerst den sog. "Eventualantrag" zu prüfen (da bei
einer Gutheissung der "Hauptantrag" gegenstandslos wird). Es geht
aber nicht an, über den "Eventualantrag" gar nicht zu entscheiden;
dies gilt umso eher, als im verwaltungsinternen Beschwerdeverfah-
ren ohnehin keine Bindung an die Begehren besteht (§ 43 Abs. 1
VRPG). Das DVI hätte deshalb - aufgrund der eingeholten Stellung-
nahme des Grundbuchamtes, worin dieses den Arrondierungstatbe-
stand ohne Vorbehalt bejahte - selber entscheiden sollen, ob der
Arrondierungstatbestand gegeben sei; allenfalls hätte es (verfahrens-
ökonomisch wenig sinnvoll) die Abgabenverfügung vollumfänglich
aufheben und die Sache zur Prüfung des Arrondierungstatbestandes
und anschliessendem Erlass einer neuen Verfügung an das Grund-
buchamt zurückweisen können. Verspätete Vorbringen heben den
Untersuchungsgrundsatz (§ 20 Abs. 1 VRPG) nicht auf und führen -
vorbehältlich abweichender gesetzlicher Bestimmungen (wie z.B.
§ 21 Abs. 2 VRPG; § 193 Abs. 3 StG) - nicht zu einer abweichenden
materiellen Beurteilung, sondern sind bei der Kostenverlegung zu
berücksichtigen (siehe § 33 Abs. 2 Satz 3 VRPG; AGVE 1976,
2007
Verwaltungsrechtspflege
217
S. 307 ff.; 1972, S. 328). Die vorgenommene Aufteilung in ein Verfü-
gungs- und ein anschliessendes Erlassverfahren war denn auch für
eine angemessene Kostenverlegung nicht erforderlich (siehe dazu
hinten Erw. II/2).
II/2. Die dem Grundbuchamt zum grundbuchlichen Vollzug ein-
gereichten Unterlagen (Kauf-, Tauschvertrag mit Beilagen) werden
praktisch nie eine Beurteilung erlauben, ob es sich um einen Arron-
dierungstatbestand handelt, und es ist dem Grundbuchamt nicht zu-
mutbar, von sich aus danach forschen zu müssen (vgl. § 20 Abs. 1
VRPG: "Die Behörden prüfen den Sachverhalt
unter Beachtung der
Vorbringen der Beteiligten
von Amtes wegen ..."). Die Vorinstanz
hat zu Recht festgehalten, dass es Sache der anmeldenden Vertrags-
parteien (die damit geringere Kosten erreichen wollen) bzw. des No-
tars ist, gegenüber dem Grundbuchamt den Arrondierungstatbestand
geltend zu machen. Die Beschwerdeführer haben dies im vorliegen-
den Fall unterlassen. ... Hätten die Beschwerdeführer den Arrondie-
rungstatbestand bereits im erstinstanzlichen Verfahren beim Grund-
buchamt geltend gemacht und belegt, hätte dieses auf die Abgaben-
erhebung von vornherein verzichtet. Es war ausschliesslich das
saumselige Verhalten der Beschwerdeführer im erstinstanzlichen
Verfahren, welches das Beschwerdeverfahren vor dem DVI über-
haupt nötig machte; deshalb hätte das DVI die Verfahrenskosten so-
gar vollumfänglich den Beschwerdeführern auferlegen und Partei-
kostenersatz gänzlich verweigern können (§ 33 Abs. 2 Satz 3 VRPG;
AGVE 1976, S. 307 ff.). | 1,697 | 1,298 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-49_2007-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-49.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-49.pdf | AGVE_2007_49 | null | nan |
3670664c-3fb1-5032-9436-962172ba971c | 1 | 412 | 871,092 | 1,157,155,200,000 | 2,006 | de | 2006
Kantonale Steuern
113
[...]
25
Liegenschaftsunterhaltskosten (§ 39 StG; § 24 StGV).
-
Generelle Umschreibung der abzugsfähigen Liegenschaftsunterhalts-
kosten (Erw. 1).
-
Anwendung der "Dumont-Praxis" unter neuem Recht. Auslegung
der aktuellen, auch für das kantonale Recht verbindlichen Praxis des
Bundesgerichts (Erw. 2).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 18. September 2006 in
Sachen Kantonales Steueramt gegen Steuerrekursgericht und J.G. Publikation
in StE 2007 vorgesehen.
Aus den Erwägungen
1./1.1. Bei Liegenschaften im Privatvermögen können die Un-
terhaltskosten, die Versicherungsprämien und die Kosten der Ver-
waltung durch Dritte abgezogen werden. Den Unterhaltskosten sind
Investitionen gleichgestellt, die dem Energiesparen und dem Um-
weltschutz dienen, soweit sie bei der direkten Bundessteuer abzieh-
bar sind (§ 39 Abs. 2 StG).
1.2./1.2.1. Als Kosten für den Unterhalt von Liegenschaften
gelten bloss die werterhaltenden Aufwendungen (§ 24 Abs. 1 StGV;
§ 41 lit. d StG e contrario). Sie dienen dazu, die Liegenschaft im ein-
kommenssteuerrechtlich massgebenden Nutzwert zu erhalten. Durch
solche Massnahmen bleiben Gestalt und Zweckbestimmung des Ge-
bäudes unverändert. Lediglich die mangelhaften Installationen wer-
den ersetzt bzw. die vorhandenen, aber schadhaft gewordenen Ge-
bäudeteile repariert. Die Liegenschaft wird unterhaltsmässig wieder
in denjenigen Zustand versetzt, in dem sie einmal war. Der bisherige
Verwendungszweck, allenfalls modernisiert, bleibt erhalten (vgl. Pe-
ter Locher, Kommentar zum DBG, I. Teil, Therwil/Basel 2001, Art.
32 N 24; Dieter Egloff, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz,
Band 1, 2. Aufl., Muri/Bern 2004, § 39 N 38; Richner/Frei/ Kauf-
2006
Verwaltungsgericht
114
mann/Meuter, Kommentar zum harmonisierten Zürcher Steuergesetz,
2. Aufl., Zürich 2006, § 30 N 38). Die Liegenschaftsunterhaltskosten,
die dementsprechend als Gewinnungskosten abzugsfähig sind, lassen
sich wie folgt unterscheiden (vgl. Locher, a.a.O., Art. 32 N 24;
Egloff, a.a.O., § 39 N 38; Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., §
30 N 41ff.):
- Instandhaltungskosten
sind die in kürzeren Zeitabständen an-
fallenden Auslagen, welche dem Erhalt der Liegenschaft in ihrer
technischen Funktionsfähigkeit dienen (Reparaturen, Ausbesserun-
gen, Servicearbeiten an fest installierten Geräten).
- Instandstellungskosten
fallen in grösseren Zeitabständen an
und dienen der Erhaltung der Ertragsfähigkeit des Objektes (z.B.
Fassadenrenovation, Neuanstrich).
(Der Unterbegriff
Wiederinstandstellungskosten
wird im Fol-
genden dort verwendet, wo die Instandstellung über Gebühr hinaus-
geschoben wurde.)
- Ersatzanschaffungskosten
für den zeitgemässen, gleichwerti-
gen und gleichen Komfort bietenden Ersatz von unbrauchbar gewor-
denen Einrichtungen (Heizungsanlagen, Kücheneinrichtungen, sani-
täre Installationen, Bodenbeläge).
1.2.2. Wenn nach objektiven technischen Kriterien, unter funk-
tionaler Betrachtungsweise, die Liegenschaft jedoch in einen besse-
ren Zustand mit höherem Nutzungswert gebracht wird und damit in
den Rang eines besser ausgestatteten, wertvolleren Gebäudes rückt,
handelt es sich insoweit um wertvermehrende Kosten, die nicht ab-
ziehbar sind (Locher, a.a.O., Art. 32 N 25; Egloff, a.a.O., § 39 N 59
f.; Richner/Frei/Kaufmann/ Meuter, a.a.O., § 30 N 48).
Für die Abgrenzung der werterhaltenden von den wertvermeh-
renden Aufwendungen wird der ersetzte oder renovierte Bauteil dar-
auf untersucht, ob er eine Wertsteigerung erfahren hat, ob er gegen-
über dem alten Bauteil eine höhere Qualität oder einen besseren
Komfort bietet. Ist dies nicht der Fall, können die Unterhaltskosten
vollständig abgezogen werden. Weist ein neuer Bauteil demgegen-
über eine bessere Qualität bzw. einen höheren Komfort als der er-
setzte Bauteil auf, dann liegen im Umfang der Wertsteigerung nicht
abzugsfähige Anlagekosten vor (vgl. Egloff, a.a.O., § 39 N 30; Rich-
2006
Kantonale Steuern
115
ner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., § 30 N 48). Weisen Arbeiten an
einer Liegenschaft sowohl werterhaltende wie wertvermehrende
Komponenten auf, ist eine Aufteilung der Kosten nach pflichtge-
mässem Ermessen vorzunehmen (Egloff, a.a.O., § 39 N 40).
1.3. Läuft die Instandstellung, Umgestaltung oder Modernisie-
rung der Liegenschaft auf eine grundlegende Neugestaltung hinaus,
die einer eigentlichen Neuerstellung gleichkommt (als Merkmale
oder Indizien hierfür werden genannt: Steigerung des Miet-/Pacht-
ertrags, geänderte Nutzung [Locher, a.a.O., Art. 32 N 46]), werden
die dafür aufgewendeten Kosten behandelt wie die Kosten von Neu-,
Um-, Ein- und Ausbauten; sie sind nicht - auch nicht teilweise - als
Unterhalt abziehbar (vgl. Locher, a.a.O., Art. 32 N 30, Art. 34 N 27;
Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., § 30 N 48).
2./2.1. Gemäss § 39 Abs. 3 StG können die Unterhaltskosten
vollumfänglich auch von der neuen Eigentümerschaft zum Abzug
gebracht werden, sofern die Liegenschaft nicht in vernachlässigtem
Zustand erworben wurde. Diese Bestimmung beruht auf der 1973
eingeführten und später präzisierten bzw. relativierten sog. Dumont-
Praxis des Bundesgerichts (BGE 99 Ib 362 ff.; 123 II 218 ff.; StE
2005, A 23.1 Nr. 10 mit weiteren Hinweisen). Die ursprünglich rein
bautechnische Betrachtungsweise der abzugsfähigen Liegenschafts-
kosten wurde zu Gunsten einer wirtschaftlichen aufgegeben. Unter
dem Aspekt der Rechtsgleichheit soll der Steuerpflichtige, der eine
Liegenschaft in schlechtem Zustand erwirbt, nicht besser gestellt sein
als derjenige, der ein bereits durch den Verkäufer saniertes Objekt zu
entsprechend höherem Preis erwirbt (StE 2005, A 23.1 Nr. 10;
Egloff, a.a.O., § 39 N 71). "Handelt es sich um eine vom bisherigen
Eigentümer vernachlässigte Liegenschaft, so sind die Kosten, die der
Erwerber zur Instandstellung in den ersten fünf Jahren aufwenden
muss, steuerlich grundsätzlich nicht abziehbar ... Geht es dagegen
um eine nicht vernachlässigte Liegenschaft, kann der neue Eigentü-
mer die "anschaffungsnahen" Kosten steuerlich abziehen, soweit sie
für den normalen, periodischen Unterhalt (und nicht zum Nachholen
unterbliebenen Unterhalts) aufgewendet werden. Davon zu unter-
scheiden ist der Fall, wo der neue Vermieter oder Verpächter die Lie-
genschaft renoviert, um den Miet- oder Pachtertrag zu steigern, oder
2006
Verwaltungsgericht
116
wo eine (auch selbst genutzte) Liegenschaft ganz oder teilweise um-
gebaut oder einer neuen Nutzung zugeführt wird. Insofern dienen die
Ausgaben nicht dazu, die Liegenschaft in ihrem bisherigen vertrags-
oder nutzungsmässigen Zustand zu erhalten, sondern zielen darauf
ab, die Einkommensquelle zu verbessern" (StE 2005, A 23.1 Nr. 10
mit weiteren Hinweisen).
2.2. Das Bundesgericht hat im soeben erwähnten Entscheid
ausdrücklich erkannt, dass der Begriff der Unterhaltskosten unter
dem Geltungsbereich des StHG im kantonalen Recht nicht anders
ausgelegt werden darf als auf dem Gebiet der direkten Bundessteuer
(vertikale Steuerharmonisierung). Ebenso gilt die Dumont-Praxis des
Bundesgerichts uneingeschränkt auch für das kantonale Steuerrecht
(StE 2005, A 23.1 Nr. 10 Erw. 3). Die Vorgabe des Bundesgerichts,
wonach die Zulässigkeit der Abzüge von Liegenschaftsunterhalts-
kosten nach einer Eigentumsübertragung (Dumont-Praxis) für die
ganze Schweiz einheitlich beurteilt werden muss, schliesst grund-
sätzlich die Berücksichtigung des kantonalen Rechts (§ 39 Abs. 3
StG; § 24 Abs. 2 und 3 StGV; Merkblatt Liegenschaftsunterhalt des
KStA vom 30. September 2001 [Merkblatt LUK]) selbst im Sinne
einer Auslegungshilfe aus.
2.3./2.3.1. Die vom Bundesgericht zur Dumont-Praxis ergange-
nen publizierten Entscheide betrafen weit überwiegend vernachläs-
sigte, einer umfassenden Renovation unterzogene Liegenschaften.
- BGE 2A.71/2006 vom 21. Juni 2006: Kaufpreis Liegenschaft
Fr. 2'000'000.--, Renovation für Fr. 600'000.--, davon der grösste Teil als
Unterhalt geltend gemacht.
- StE 2005, A 23.1 Nr. 10: Renovation Einfamilienhaus Baujahr 1931
für rund Fr. 120'000.--
- BGE 2A.389/2003 vom 10. März 2004: Kaufpreis Einfamilienhaus
Fr. 925'000.--, Renovation für Fr. 460'000.--
- BGE 123 II 218: Kaufpreis Mehrfamilienhaus Fr. 2'280'000.--, um-
fassende Renovation mit Um- und Anbauten für Fr. 3'380'000.--, davon
Fr. 2'310'000.-- als Unterhalt geltend gemacht
- BGE 99 Ib 362: Umbau- und Renovationskosten von Fr. 168'000.--,
davon Fr. 89'000.-- Unterhalt.
2006
Kantonale Steuern
117
- ASA 70/2001-02, S. 155 ff.: Kaufpreis Liegenschaft Fr. 1'400'000.--.
Soweit ersichtlich, liess das Bundesgericht hier ohne nähere Prüfung, ob es
tatsächlich um die Nachholung unterlassenen Unterhalts ging, die anschaf-
fungsnahen Kosten für den Ersatz von Kühlschrank, Waschmaschine und
Rollläden (Kosten total rund Fr. 9'700.--), zum Abzug nicht bzw. nur zur
Hälfte (Energiesparmassnahmen) zu - möglicherweise weil nur die Recht-
mässigkeit der Regelung betreffend Energiesparmassnahmen streitig war.
Bei diesen Fällen (ausser dem letztgenannten) stellten die Höhe
der Renovationskosten sowie das Verhältnis zwischen Erwerbspreis
und Instandstellungskosten ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen
einer im Unterhalt vernachlässigten Liegenschaft dar. Art und Um-
fang der Bauarbeiten gingen über den normalen periodischen Unter-
halt offensichtlich weit hinaus. Es konnte ohne weiteres davon aus-
gegangen werden, dass der Preis für derart vernachlässigte Liegen-
schaften deutlich niedriger lag als für ordnungsgemäss unterhaltene
bzw. renovierte Vergleichsobjekte.
2.3.2. Für weniger klar liegende Fälle löst die bundesgerichtli-
che Umschreibung der Dumont-Praxis (vorne Erw. 2.1 zitiert) nicht
alle Zuordnungsprobleme, denn die Formulierungen sind, wie das
Verwaltungsgericht schon früher festgehalten hat (StE 2000, B 25.6
Nr. 38 [noch zum aStG, bevor das StHG direkte Anwendung bean-
spruchte]), nicht durchwegs eindeutig.
Das Bundesgericht unterscheidet zunächst zwischen vernach-
lässigten und nicht vernachlässigten Liegenschaften. Bei den ver-
nachlässigten Liegenschaften sind die in den ersten fünf Jahren nach
dem Erwerb aufgewendeten Kosten als Wiederinstandstellungs-
kosten grundsätzlich nicht abzugsfähig. Bei den nicht vernachlässig-
ten Liegenschaften kann der neue Eigentümer die Unterhaltskosten
von Anfang an vollumfänglich abziehen. Der hier in Klammern an-
gebrachte Vorbehalt der Kosten zum Nachholen unterbliebenen Un-
terhalts ist aus systematischen Überlegungen (da es sich immer noch
um die Kategorie der nicht vernachlässigten Liegenschaften handelt)
offenbar so zu verstehen, dass bei einzelnen Bauteilen und Einrich-
tungen, wo der frühere Eigentümer einzelne bereits überfällige In-
standstellungsarbeiten sowie Ersatzanschaffungen nicht mehr vor-
nahm (ohne dass deswegen die Liegenschaft insgesamt als vernach-
2006
Verwaltungsgericht
118
lässigt zu bezeichnen wäre), die dadurch anfallenden Wiederinstand-
stellungskosten - gleich wie bei vernachlässigten Liegenschaften - in
den ersten fünf Jahren nach dem Erwerb nicht abgezogen werden
können. Dagegen ist bei Instandstellungskosten, die im gewöhnli-
chen Lauf der Dinge anfallen, die Abzugsfähigkeit gegeben. Unab-
hängig vom Zustand beim Erwerb ist der Fall der Neugestaltung
(dazu vorne Erw. 1.3; von Renovation zu sprechen, wirkt missver-
ständlich, da dieser Begriff auch im Zusammenhang mit der Instand-
stellung des Gebäudes verwendet wird) zu behandeln; diese Kosten
stellen nicht Unterhaltskosten dar.
2.3.3. Dies führt, bezogen auf die ersten fünf Jahre nach dem
Erwerb, zu folgenden Ergebnissen:
- Neugestaltung:
Keine Unterhaltskosten, kein Abzug.
- Vernachlässigte Liegenschaft:
Alle Kosten gelten als Wie-
derinstandstellungskosten, kein Abzug.
- Nicht vernachlässigte Liegenschaft:
Abzug der Instandhal-
tungs-, der Ersatzanschaffungs- und der (normalen) Instandstel-
lungskosten, kein Abzug der Kosten von Wiederinstandstellungsar-
beiten und überfälligen Ersatzanschaffungen. Bei grundsätzlicher
Abzugsfähigkeit, insbesondere bei den Ersatzanschaffungskosten, ist
gegebenenfalls nach Werterhaltung/Wertvermehrung aufzuteilen.
2.3.4. Die Abgrenzung zwischen Neugestaltung, vernachläs-
sigter und nicht vernachlässigter Liegenschaft muss aufgrund einer
Gesamtbetrachtung erfolgen. Für die Abgrenzung (bei den nicht ver-
nachlässigten Liegenschaften) zwischen den normalen Instandstel-
lungsarbeiten einerseits und den Wiederinstandstellungsarbeiten und
überfälligen Ersatzanschaffungen andererseits kommt nur eine Ein-
zelbetrachtung in Frage (siehe Locher, a.a.O., Art. 32 N 18; Egloff,
a.a.O., § 39 N 29 ff.).
3./3.1. Sofern die obige Auslegung der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zutrifft - was letztlich nur durch das Bundesgericht
selber zu beantworten ist -, entsprechen ihr die einschlägigen Be-
stimmungen des aargauischen Rechts (§ 39 Abs. 2-4 StG; § 24 StGV;
Merkblatt LUK), namentlich soweit es um die Dumont-Praxis geht,
nur teilweise (nachfolgend Erw. 3.2). Wegen des Vorrangs des Bun-
desrechts (Art. 72 Abs. 2 StHG) ist dies jedoch bedeutungslos.
2006
Kantonale Steuern
119
3.2./3.2.1. Nach § 24 Abs. 2 und 3 StGV gilt eine Liegenschaft
als vernachlässigt, wenn die in grösseren Zeitabständen (15 und mehr
Jahre) anfallenden Unterhaltsarbeiten unterblieben sind und erst
durch die neue Eigentümerschaft ausgeführt werden. Bei einer ver-
nachlässigten Liegenschaft können innert 5 Jahren seit Erwerb nur
die den Unterhaltskosten gleichgestellten Investitionskosten gemäss
§ 39 Abs. 2 StG abgezogen werden.
Im Übrigen werden gemäss Merkblatt LUK sämtliche Aufwen-
dungen für den Ersatz von Bauteilen mit einer Lebensdauer von we-
niger als 15 Jahren stets, auch bei umfassenden Renovationen, zum
Abzug zugelassen. Demgegenüber gelten Aufwendungen für den Er-
satz von Bauteilen mit einer Lebensdauer von mehr als 15 Jahren in
den ersten 5 Jahren seit dem Erwerb der Liegenschaft generell als
nicht abzugsfähig (Merkblatt LUK, Ziff. 5.1.2. S. 8 ff.).
3.2.2. § 24 Abs. 2 StGV definiert die Vernachlässigung einer
Liegenschaft danach, ob die in grösseren Zeitabständen (15 und mehr
Jahre) anfallenden Unterhaltsarbeiten unterblieben sind und erst vom
neuen Eigentümer nachgeholt werden. Dagegen knüpft das Merkblatt
LUK allein an die Lebensdauer des ersetzten Bauteils an, ohne
Rücksicht darauf, wie alt dieser tatsächlich ist und in welchem Un-
terhaltszustand er sich befindet. Baujahr der Liegenschaft und letzt-
maliger Ersatz oder Reparatur des entsprechenden Bauteils bleiben
ohne Bedeutung. Der Ersatz einer intakten Holzbaukonstruktion bei-
spielsweise, ob sie 2-, 10- oder 20-jährig ist, würde gemäss Merk-
blatt somit in jedem Fall als nicht abzugsfähige Instandstellung gel-
ten, weil die mittlere Lebensdauer (60-80 Jahre) die 15-Jahres-
Grenze überschreitet. Demgegenüber kann der Ersatz eines 20-jähri-
gen, zerschlissenen Spannteppichs vollumfänglich zum Abzug ge-
bracht werden, weil die Lebensdauer nach dem Merkblatt lediglich
8-12 Jahre beträgt, es sich daher um Instandhaltung, nicht Instand-
stellung handeln soll.
Die Regelung mag durch Praktikabilität bestechen, doch ist sie
mit der massgebenden Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht zu
vereinbaren. Das Vorliegen einer vernachlässigten Liegenschaft
hängt von einer über § 24 Abs. 2 StGV hinausgehenden Gesamtbe-
trachtung ab; für die übrigen Fragen kann nicht einzig auf die gene-
2006
Verwaltungsgericht
120
relle durchschnittliche Lebensdauer eines Bauteils, ohne Berück-
sichtigung des tatsächlichen Alters des zu ersetzenden Bauteils, ab-
gestellt werden.
3.3. Ob und wie die Widersprüche zu beheben sind, ist nicht
hier zu erörtern. Für die Unterscheidung, ob es sich um Instand-
stellungs- oder Wiederinstandstellungskosten handelt bzw. ob Er-
satzanschaffungen im normalen Zeitablauf erfolgten oder überfällig
waren, wird es aber (überkantonale) Grundlagen brauchen, bei denen
eine Normalgebrauchsdauer (übliche Gebrauchsdauer, "Lebens-
dauer", "Lebenserwartung") von Bauteilen und Einrichtungen festge-
setzt wird, und zwar aus Praktikabilitätsgründen - wie beispielsweise
in der "Lebensdauertabelle", herausgegeben vom Hauseigentümer-
verband Schweiz und dem Schweizerischen Mieterinnen- und Mie-
terverband vom Dezember 2005 (Lebensdauertabelle HEV/MV),
aber anders als im Merkblatt LUK - nicht mit Zeitrahmen, sondern
mit fester Normalgebrauchsdauer.
4./4.1. Die Beschwerdegegner haben kurz nach dem Erwerb der
17-jährigen Liegenschaft (Kaufpreis Fr. 850'000.--) Renovationsar-
beiten für rund Fr. 53'000.-- getätigt, wovon rund Fr. 43'000.-- als
Liegenschaftsunterhaltskosten geltend gemacht werden.
4.2. Eine detaillierte Beschreibung des Vorzustandes der Lie-
genschaft fehlt. Sie wird jedoch von den Beschwerdegegnern wie
auch von den Steuerbehörden übereinstimmend als in gutem, nicht
vernachlässigtem Zustand geschildert. Hierauf ist abzustellen. | 4,046 | 3,051 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-25_2006-09-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-25.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-25.pdf | AGVE_2006_25 | null | nan |
36b22849-d781-52ca-be04-dead3e569244 | 1 | 412 | 870,260 | 1,228,348,800,000 | 2,008 | de | 2008
Verwaltungsgericht
312
[...]
59 Rechtliches
Gehör.
-
Anspruch auf Beweisabnahme (Erw. 3).
-
Gewährung des rechtlichen Gehörs im Zusammenhang mit einem
Augenschein (Erw. 4).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 23. Dezember 2008 in Sa-
chen Einwohnergemeinde X. gegen das Bezirksamt Bremgarten
(WBE.2008.315).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Zum rechtlichen Gehör gehört u.a. das Recht der Verfahrensbe-
teiligten, sich vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung eingreifenden
Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen,
Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen
gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entwe-
der mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äus-
sern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen
(BGE 126 I 15 Erw. 2a/aa; 124 I 49 Erw. 3a; 124 I 241 Erw. 2, je mit
Hinweisen).
Aus dem Gehörsrecht ergibt sich somit der Anspruch auf Be-
weisabnahme. Der Verzicht auf die Durchführung beantragter Be-
weismassnahmen ist indessen zulässig, wenn das Gericht auf Grund
2008
Verwaltungsrechtspflege
313
bereits abgenommener Beweise oder gestützt auf die Aktenlage seine
Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener
Beweiswürdigung annehmen kann, dass seine Überzeugung durch
weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde (BGE 122 II 464
Erw. 4a; 115 Ia 97 Erw. 5b).
3.2.
In seinem Beschluss vom 21. Januar 2008 rechnete der Stadtrat
X. dem Beschwerdegegner u.a. die Miete von drei Bastelräumen als
hypothetisches Einkommen an, da davon ausgegangen werden
müsse, dass der Beschwerdegegner mit den in den Bastelräumen ein-
gelagerten Teppichen Handel betreibe und damit ein Einkommen er-
ziele oder andere Geldquellen habe, da es seiner Familie andernfalls
nicht möglich wäre, allen zusätzlichen finanziellen Verpflichtungen
auf Dauer nachzukommen.
Im Verwaltungsbeschwerdeverfahren beantragte der Stadtrat X.
den Beizug eines Sachverständigen zur Bewertung der eingelagerten
Gegenstände (Teppiche usw.).
3.3. (...)
3.4.
3.4.1.
Es ist zutreffend, dass das Bezirksamt dem Beweisantrag des
Stadtrats X. stillschweigend nicht stattgegeben hat. Allein darin liegt
jedoch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, sofern hinreichende
Gründe für einen Verzicht auf die Beweisabnahme gegeben waren
und dies mit genügender Klarheit aus dem angefochtenen Entscheid
hervorgeht (BGE vom 18.
November 2003 [1P.452/2003],
Erw. 2.2.2).
3.4.2.
Aus den Erwägungen des Beschwerdeentscheids ergibt sich,
dass die Vorinstanz einen Augenschein am Wohnort des Beschwer-
degegners durchgeführt hat, um zu prüfen, ob der Beschwerdegegner
mit den in seinen Bastelräumen eingelagerten Teppichen Einkommen
erzielt. Dabei ist die Vorinstanz zum Schluss gekommen, die in den
Bastelräumen eingelagerten Teppiche hätten keinen besonderen wirt-
schaftlichen Wert. Ob sie mit dieser Beurteilung den wirtschaftlichen
Wert der Teppiche selbst abschätzen konnte und deshalb stillschwei-
2008
Verwaltungsgericht
314
gend den Beweisantrag des Stadtrats X. abgelehnt hat, ergibt sich aus
den Erwägungen nicht eindeutig, kann aber offen gelassen werden.
Im angefochtenen Beschluss vom 21. Januar 2008 hat die So-
zialbehörde X. dem Beschwerdegegner weder ein (hypothetisches)
Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit angerechnet noch
wurde er verpflichtet, in den Bastelräumen befindliche Vermögens-
werte zu liquidieren. Der Beweisantrag der Einwohnergemeinde X.
zielte denn auch auf die "Rückschlüsse zur Frage der Erwerbstätig-
keit" des Beschwerdegegners. Ein allfälliges Einkommen aus selb-
ständiger Tätigkeit war indessen nicht Gegenstand der Beschwerde.
Zur Beurteilung der im Beschwerdeverfahren umstrittenen Aufrech-
nungen der Mieten für die drei Bastelräume war keine sachverstän-
dige Schätzung der eingelagerten Gegenstände erforderlich. Beweise
müssen nur über (rechts-) erhebliche streitige Tatsachen erhoben
werden, und Beweisanträge, welche eine nicht erhebliche Tatsache
betreffen, offensichtlich nicht tauglich sind oder das Beweisergebnis
nicht ändern, können in antizipierter Beweiswürdigung abgelehnt
werden (BGE 131 I 153 Erw. 3 mit Hinweisen; 124 I 208 Erw. 4a;
AGVE 2003, S. 311). Indem die Vorinstanz vom beantragten Gut-
achten zu einer nicht streitgegenständlichen Frage Abstand nahm und
bei der Beurteilung nicht auf die Feststellungen des Augenscheins
abstellte, hat sie das Recht auf Beweisofferte der Einwohnergemein-
de X. nicht verletzt.
4.
4.1.
Wenn sich eine Behörde des Beweismittels des Augenscheins
bedient, muss sie es in den vorgeschriebenen Formen tun und die
Grundsätze des rechtlichen Gehörs beachten (BGE 104 Ib 119
Erw. 2c). Unter dem Titel "Beweiserhebung" ist in § 22 Abs. 1
VRPG vorgesehen, dass die Verwaltungsbehörde oder deren Beauf-
tragte zur Ermittlung des Sachverhalts u.a. auch Beteiligte und Aus-
kunftspersonen befragen und Augenscheine vornehmen können. In
welcher Form dies zu geschehen hat, wird anders als im für das Ver-
waltungsgericht geltenden § 22 Abs. 3 VRPG, wo für die Beweisab-
nahme auf die Regeln der Zivilprozessordnung verwiesen wird (für
den Augenschein: § 249 ZPO), nicht näher bestimmt. § 22 Abs. 1
2008
Verwaltungsrechtspflege
315
VRPG enthält somit weder spezifische Vorschriften über die Art der
Protokollführung noch ergibt sich daraus auch nur eine unmittelbare
Verpflichtung der Verwaltungsbehörden zur Protokollierung von Au-
genscheinen. Vom Gesetzgeber war klarerweise beabsichtigt, den
Verwaltungsinstanzen allgemein ein weniger förmliches Vorgehen zu
ermöglichen als den Justizbehörden (AGVE 1986, S. 336 f. mit
Hinweis auf die Materialien; AGVE 1986, S. 112). Anderseits gelten
die allgemeinen Verfahrensvorschriften des VRPG (§§ 15 ff.) grund-
sätzlich uneingeschränkt auch für die Verwaltungsbehörden des
Kantons und der Gemeinden (§ 1 Abs. 1 VRPG). Insbesondere die
Bestimmungen über das rechtliche Gehör sind auch für die Be-
weiserhebung durch Verwaltungsinstanzen von grösster Bedeutung
(AGVE 1986, S. 337). Wo sich die kantonalen Verfahrensvorschrif-
ten als unzureichend erweisen, greifen zudem die unmittelbar aus
Art. 29 Abs. 2 BV folgenden bundesrechtlichen Minimalgarantien
Platz (BGE 116 Ia 94 Erw. 3a; ferner AGVE 1980, S. 305 f.; zum
Ganzen: AGVE 2001, S. 371; 2000, S. 342 f.).
4.2.
Im Hinblick auf die spätere Gewährung des Akteneinsichts-
rechts, zur Schaffung einwandfreier Entscheidgrundlagen sowie zur
Wahrung des Beschwerderechts ist es unumgänglich, dass die an-
lässlich eines Augenscheins gemachten Feststellungen in einem
Protokoll schriftlich festgehalten werden. Das Recht auf Aktenein-
sicht begründet daher auch eine Aktenerstellungspflicht. Die Ver-
waltungsbehörden haben über die wesentlichen Ergebnisse des Au-
genscheins immer ein Protokoll zu erstellen, das den Parteien nach
dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs auch jederzeit zur Einsicht-
nahme offen stehen muss (BGE 130 II 473 Erw. 2.3; Alfred Kölz /
Jürg Bosshart / Martin Röhl, VRG, Kommentar zum Verwaltungs-
rechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, § 7
N 49; Thomas Merkli / Arthur Aeschlimann / Ruth Herzog, Kom-
mentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton
Bern, Bern 1997, Art. 19 N 33; Attilio R. Gadola, Das verwaltungs-
interne Beschwerdeverfahren, Diss. Zürich 1991, S. 409; zum Gan-
zen: AGVE 2001, S. 372 f.; 2000, S. 344).
2008
Verwaltungsgericht
316
4.3.
In den Akten findet sich kein Protokoll über die anlässlich des
Augenscheins am Wohnort des Beschwerdegegners (siehe vorne
Erw. 3.4.2) gemachten Feststellungen. Obwohl der Augenschein für
die Beurteilung der Beschwerdebegehren ohne jegliche Relevanz
blieb, handelt es sich bei der Pflicht zur Aktenerstellung um eine
elementare Anforderung an ein rechtstaatliches Verfahren, weshalb
der Verzicht auf jegliche Protokollierung - selbst ein Handprotokoll
fehlt - eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt (siehe
AGVE 2001, S. 374).
4.4.
Die Vorinstanz ist ergänzend auf die im Verwaltungsverfahren
geltenden Mitwirkungs- und Äusserungsrechte der Betroffenen hin-
zuweisen. Dient ein Augenschein dazu, einen streitigen, unabgeklär-
ten Sachverhalt festzustellen, so müssen die am Verfahren Beteilig-
ten aufgrund von § 15 Abs. 2 VRPG und Art. 29 Abs. 2 BV grund-
sätzlich zum Augenschein beigezogen werden. Auf Beweismittel darf
nicht abgestellt werden, ohne dem Betroffenen Gelegenheit zu
geben, an der Beweisabnahme mitzuwirken oder wenigstens nach-
träglich zum Beweisergebnis Stellung zu nehmen. Ein Augenschein
darf nur dann unter Ausschluss einer Partei erfolgen, wenn schüt-
zenswerte Interessen Dritter oder des Staates oder eine besondere
Dringlichkeit dies gebieten oder wenn der Augenschein seinen
Zweck überhaupt nur dann erfüllen kann, wenn er unangemeldet er-
folgt (BGE 121 V 150 Erw. 4a und 4b; 116 Ia 94 Erw. 3b; zum Gan-
zen: BGE vom 15. Juli 2003 [1P.318/2003], Erw. 2.1).
5.
5.1.
Zusammenfassend hat die Vorinstanz das rechtliche Gehör der
Verfahrensbeteiligten mehrfach verletzt. Sie erstellte kein Protokoll
über den durchgeführten Augenschein und verunmöglichte damit
auch eine nachträgliche Stellungnahme zum Beweisergebnis des Au-
genscheins. | 2,118 | 1,681 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-59_2008-12-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-59.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-59.pdf | AGVE_2008_59 | null | nan |
37601d5b-be21-5771-81a4-dabc075493c3 | 1 | 412 | 870,927 | 1,038,873,600,000 | 2,002 | de | 2003
Verwaltungsgericht
160
[...]
46
Ausnützungsberechnung (§ 9 ABauV). Fairness im Verfahren (§ 22 KV).
- Ratio legis von § 9 Abs. 5 ABauV; Begriff der parzellenübergreifenden
Überbauung (Erw. 2/a/bb).
- Auf Grund einer Baurechtsdienstbarkeit errichtete Bauten (i.c. Gara-
gen) zählen nach Massgabe von § 9 Abs. 4 ABauV zur anrechenbaren
Grundstücksfläche (Erw. 2/a/cc).
- Ratio legis von § 9 Abs. 2 lit. a al. 3 ABauV; Begriff der Angemessen-
heit (Erw. 2/b/aa).
- Auslegung einer kommunalen Norm, welche in Ausnützung der Re-
gelungskompetenz gemäss § 9 Abs. 3 Satz 1 ABauV die Fläche in
Dach-, Attika- und Untergeschossen als nicht anrechenbar erklärt,
wenn sie zur Fläche der Vollgeschosse eine bestimmte Relation wahrt
(Erw. 2/b/bb).
- Rechtsstaatliche Anforderungen, wenn der Sachbearbeiter, der eine
Verhandlung durchführt, mit dem Sachbearbeiter, der den Ent-
scheidentwurf verfasst, nicht identisch ist (Erw. 6/a/aa,bb); Heilung
des Verfahrensmangels, um einen prozessualen Leerlauf zu vermeiden
(Erw. 6/a/cc).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 9. Dezember 2002 in
Sachen B. und Mitb. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
1. Das am 6. September 1999 bewilligte erste Baugesuch um-
fasst eine hangseitige Erweiterung des Ober- und des Dachgeschos-
ses um eine Bruttogeschossfläche (BGF) von 49.97
m
2
bzw.
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
161
78.25 m
2
. Das neue Dachgeschoss kommt dabei grösstenteils auf das
erweiterte Obergeschoss, teilweise auch auf das bisherige Oberge-
schoss zu liegen und verfügt über ein eigenes Satteldach, das auf
dem unteren Teil der bestehenden nordwestlichen Dachseite aufliegt.
Die Firsthöhe des Anbaus beträgt 10.10 m. Das abgeänderte Bauge-
such vom 6. September 2000 unterscheidet sich vom ersten Bauge-
such in erster Linie hinsichtlich der äusseren Gestaltung, indem die
Flucht des talseitigen Dachs mit einer Dachneigung von 43° bis zu
einer Firsthöhe von 11.05 m nach oben gezogen wird; die übrigen
Aussenmasse bleiben unverändert, ebenso die Grundrisse.
2. Hauptstreitpunkt bildet die Ausnützungsberechnung.
a) aa) Bei der Ermittlung der anrechenbaren Grundstücksfläche
ging der Gemeinderat davon aus, dass von der Fläche der Parzelle
Nr. 608 von 806 m
2
keine Abzüge zu machen seien, namentlich auch
nicht in Bezug auf die drei Doppelgaragen auf der Parzelle Nr. 608,
an welchen den Eigentümern der Parzellen Nrn. 2678, 2679 und
2680 seinerzeit eine Baurechtsdienstbarkeit eingeräumt worden ist.
Das Baudepartement schloss sich dem an und stellte unter Verwei-
sung auf § 9 Abs. 5 ABauV gleichzeitig fest, dass es sich vorliegend
um eine parzellenübergreifende Überbauung handle, bei der die Aus-
nützungsziffer gesamthaft, ohne Aufteilung des Baugrundstücks in
Einzelparzellen, einzuhalten sei. Die Beschwerdeführer sind der
Meinung, dass diese Bestimmung hier nicht zur Anwendung kommt.
bb) aaa) Aus dem Amtsbericht des Baudepartements (Rechts-
abteilung) vom 26. November 2002 ist ersichtlich, dass hinter dem
Erlass von § 9 Abs. 5 ABauV offenbar die Zielsetzung stand, im
Interesse der haushälterischen Nutzung des Bodens (§ 46 BauG)
Überbauungen zu ermöglichen, die nicht an vorhandene Parzellen-
strukturen gebunden sind und auch nicht zwingend die Vorausset-
zungen einer Arealüberbauung erfüllen müssen. Die Materialien zu
den §§ 46 und 50 BauG enthalten dem Vernehmen nach keine ein-
schlägigen Aussagen; lediglich in der politischen Diskussion sei zum
Ausdruck gekommen, dass die Siedlungsqualität trotz verdichteter
Bauweise gewährleistet bleiben solle.
Rein von der Wortwahl her wäre unter einer "parzellenüber-
greifenden" Überbauung im Sinne von § 9 Abs. 5 ABauV am ehesten
2003
Verwaltungsgericht
162
eine Überbauung zu verstehen, bei der bereits eine bestimmte Auf-
teilung von Grundstücken besteht und über die Grundstücks-
grenze(n) hinweg gebaut wird. So betrachtet fiele die hier in Frage
stehende Überbauung nicht darunter, bestand doch im Zeitpunkt der
Baubewilligungserteilung am 22. August 1988 nur die Parzelle
Nr. 608 mit einer Grundstücksfläche von 2'472 m
2
und erfolgte die
Aufteilung in die vier Parzellen Nrn. 608, 2678, 2679 und 2680 erst
ungefähr ein Jahr später. In einem Entscheid vom 11. Dezember
1996 in Sachen E. u.M. (publiziert in AGVE 1997, S. 309 ff.) hat
nun allerdings das Verwaltungsgericht eine Überbauung als "parzel-
lenübergreifend" qualifiziert, die ebenfalls auf einem ungeteilten
Grundstück entstanden war. Als massgebend erachtete das Gericht
dabei, dass die - nach der Realisierung der letzten Bauetappe - 12
Häuser umfassende Überbauung einem einheitlichen Konzept folge,
was namentlich aus ihrem Erscheinungsbild sowie den gemeinsamen
Infrastrukturanlagen (Autoabstellplätze, Kinderspielplatz) ersichtlich
sei (AGVE 1997, S. 312). Diese Sicht der Dinge erscheint nach wie
vor zutreffend. Die "parzellenübergreifende" Überbauung zeichnet
sich also weniger durch die sachenrechtliche Konstellation als durch
ein qualitatives Kriterium aus, nämlich die Einheitlichkeit der Über-
bauung, die haushälterische Planung der Erschliessung (einschliess-
lich der Autoabstellplätze) und weiterer gemeinsamer Anlagen (z.B.
Spielplätze) usw. Eine solche Auslegung stimmt auch damit überein,
dass in § 9 Abs. 5 ABauV primär die Arealüberbauungen erwähnt
werden (in einem ersten Entwurf von Absatz 5 war nebst den
Arealüberbauungen von "Überbauungen nach Gesamtkonzept" die
Rede).
bbb) Auch bei Zugrundelegung dieses Normverständnisses
kann im vorliegenden Falle nicht von einer "parzellenübergreifen-
den" Überbauung gesprochen werden. Wohl gehorchen die vier
Einfamilienhäuser äusserlich einem einheitlichen Muster, doch fin-
den sich ausser dem Garagentrakt auf der Parzelle Nr. 608 (ein der
Erschliessung der oberen Grundstücke dienender Fussweg fällt in
diesem Zusammenhang kaum ins Gewicht) keine gemeinsamen An-
lagen, und diese Planung diktierte wohl weniger das (öffent-
lichrechtliche) Anliegen einer möglichst rationellen Erschliessung,
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
163
sondern vielmehr eine simple Zweckmässigkeitsüberlegung, indem
sich die Erstellung sämtlicher Autogaragen direkt am Schürbergweg
als die kostengünstigste Lösung anbot. Demnach ist die Ausnüt-
zungsberechnung pro Grundstück vorzunehmen, und es ist belanglos,
ob auf der Parzelle Nr. 2680 - oder auf einem andern Grundstück der
Überbauung - ausnützungsrelevante Um-, Aus- oder Anbauten vor-
genommen wurden.
cc) Die Beschwerdeführer halten dafür, die Fläche der drei
Doppelgaragen samt Vorplätzen (211.50 m
2
) zählten nicht zur anre-
chenbaren Grundstücksfläche. Die vom Baurecht erfassten Flächen
und Bauten dienten den Eigentümern der Parzellen Nrn. 2678, 2679
und 2680 und dürften von den Beschwerdegegnern nicht belastet
werden, auch nicht in Form eines Einbezugs in die massgebliche
Grundstücksfläche. Der Anspruch der Beschwerdeführer, sich bei der
Ermittlung der massgebenden Fläche ihrer Grundstücke die auf den
betreffenden Baurechtsflächen ruhende Ausnützungsreserve zurech-
nen zu lassen, ergebe sich aus der erwähnten subjektiv-dinglichen
Verknüpfung.
Die anrechenbare Grundstücksfläche ist die Fläche der von der
Baueingabe erfassten, baulich noch nicht ausgenützten Grundstücke
oder Grundstücksteile innerhalb der Bauzone; Flächen bestehender
und projektierter öffentlicher Strassen und ihrer Bestandteile werden
nicht angerechnet (§ 9 Abs. 4 ABauV). Grundsätzlich ist danach stets
von der gesamten Grundstücksfläche auszugehen. Die nicht anre-
chenbaren Flächen sind klar und abschliessend definiert. Bauten, die
wie im vorliegenden Falle auf Grund einer Baurechtsdienstbarkeit
errichtet worden sind, werden in § 9 Abs. 4 ABauV nicht erwähnt
und sind demgemäss anrechenbar. Der von den Beschwerdeführern
in diesem Zusammenhang als Beleg angeführte Fall E. u.M. lag in
sachenrechtlicher Hinsicht insofern anders, als die Autoabstellplätze
und der Kinderspielplatz auf je einem separaten Grundstück angelegt
und entsprechende Anteile subjektiv-dinglich mit den betreffenden
Hausgrundstücken verknüpft worden waren (AGVE 1997, S. 311 f.).
b) Kontrovers ist auch die Ermittlung der anrechenbaren BGF:
aa) Als anrechenbare BGF gilt die Summe aller ober- und un-
terirdischen Geschossflächen, einschliesslich der Mauer- und Wand-
2003
Verwaltungsgericht
164
querschnitte; nicht angerechnet werden u.a. angemessene Einstell-
räume für Motorfahrzeuge (§ 9 Abs. 2 lit. a al. 3 ABauV). Die Be-
schwerdeführer sind der Meinung, auf Grund dieser Bestimmung
müsse die Fläche der drei nicht der Parzelle Nr. 608 dienenden Dop-
pelgaragen samt Vorplätzen ebenfalls der BGF zugeschlagen werden.
Das Baudepartement argumentiert, da mit den fraglichen Garagen-
plätzen bezüglich aller vier Liegenschaften die Parkplatzstellungs-
pflicht erfüllt werde, seien bei der Beurteilung der Angemessenheit
nur die beiden der Parzelle Nr. 608 dienenden Einstellräume zu be-
rücksichtigen. Der Gemeinderat ist gleicher Ansicht.
Das Verwaltungsgericht teilt den Standpunkt der Vorinstanzen.
In Fällen wie dem vorliegenden ist die "Angemessenheit" von Gara-
gen auf sämtliche Baurechtsberechtigten und nicht allein auf den
Eigentümer des mit dem Baurecht belasteten Grundstücks zu be-
ziehen. Andernfalls würde dieser dafür "bestraft", dass auf seinem
Grundstück Fremdgaragen erstellt worden sind, und das kann nicht
der Sinn von § 9 Abs. 2 lit. a al. 3 ABauV sein. Diese Bestimmung
will offensichtlich nur verhindern, dass auf einem Grundstück ohne
entsprechende Anrechnung überdimensionierte Einstellräume für
Motorfahrzeuge erstellt werden. Im Übrigen führt es nicht zu einem
Widerspruch, wenn die Fläche der Fremdgaragen einerseits zur anre-
chenbaren Grundstücksfläche gerechnet (siehe vorne Erw. a/cc) und
anderseits bei der Ermittlung der anrechenbaren BGF nicht berück-
sichtigt wird. Dies zeigt folgende einfache Überlegung: Wären im
vorliegenden Falle statt der Sammelgarage die einzelnen Doppelga-
ragen auf den betreffenden Grundstücken erstellt worden, wäre das
Ergebnis der Ausnützungsberechnung genau dasselbe; aus dieser
"Neunerprobe" ist ersichtlich, dass es für die Auffassung der Be-
schwerdeführer keine öffentlichrechtlich relevante Begründung gibt.
bb) Als anrechenbare BGF gilt wie bereits erwähnt grundsätz-
lich die Summe
sämtlicher
ober- und unterirdischen Geschossflä-
chen, also auch jener in Dach- und Untergeschossen (§ 9 Abs. 2 Satz
1 ABauV). Die Gemeinden können nun aber die Anrechenbarkeit
von Räumen in Dach-, Attika- und Untergeschossen abweichend
regeln (§ 9 Abs. 3 Satz 1 ABauV). Die Gemeinde Brittnau hat von
dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht und in § 28 der Bau- und
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
165
Nutzungsordnung (BNO) vom 27. November 1998 / 15. Juni 1999
Folgendes festgelegt:
"Betreffend Ausnützungsziffer gelten die Definitionen gemäss
kantonalem Recht. Zudem wird die Fläche in Dach-, Attika- und
Untergeschossen nicht zur anrechenbaren Bruttogeschossfläche
gezählt, sofern sie gesamthaft die Fläche von 11⁄2 Vollgeschossen
nicht überschreitet".
Der Gemeinderat hat aus dieser Bestimmung abgeleitet, dass im
vorliegenden Falle das Dachgeschoss nicht angerechnet werden
muss. Das Baudepartement ist dieser Auffassung beigetreten und hat
dazu ausgeführt, nach Sinn und Zweck von § 28 BNO könne es sich
nur um diejenigen Flächen von Dach-, Attika- und Untergeschossen
handeln, welche gemäss § 9 ABauV für die Ausnützungsberechnung
relevant seien. Die Beschwerdeführer sind demgegenüber der Mei-
nung, dass diese Auslegung durch den Wortlaut der Bestimmung
nicht gedeckt sei.
Bei der Auslegung einer kommunalen Norm darf sich die be-
treffende Gemeinde auf ihre autonome Stellung innerhalb des Staats-
gefüges berufen (§ 106 Abs. 2 KV; siehe AGVE 1998, S. 319 f. mit
Hinweisen; VGE III/92 vom 11. November 2002 [BE.2002.00055] in
Sachen M., S. 13). Dies bedeutet, dass von der Interpretation, welche
der Gemeinderat als richtig ansieht, nicht ohne Not abgewichen wer-
den darf bzw. im Wesentlichen nur, wenn das Ergebnis in der Sache
nicht zu überzeugen vermag. Dies trifft im vorliegenden Falle nicht
zu. Schon der Wortlaut führt zu einem klaren Ergebnis. So gelten
gemäss § 28 Satz 1 BNO "die Definitionen gemäss kantonalem
Recht", also namentlich jene von § 9 Abs. 1 ABauV, wonach die
Ausnützungsziffer die Verhältniszahl zwischen der
anrechenbaren
BGF und der anrechenbaren Grundstücksfläche ist. Dass nur die
anrechenbaren Geschossflächen gemeint sein können, ist auch daraus
zu folgern, dass bei einer Überschreitung von 11⁄2 Vollgeschossflä-
chen logischerweise nur die gemäss § 9 Abs. 2 ABauV anrechenba-
ren Flächen der betreffenden Dach- und Untergeschosse in die Aus-
nützungsberechnung eingestellt werden können. Dazu kommen te-
leologische Gesichtspunkte. Die in § 9 Abs. 3 Satz 1 ABauV enthal-
tene Regelungskompetenz ist nämlich vor dem Hintergrund zu se-
2003
Verwaltungsgericht
166
hen, dass der Gesetzgeber die verdichtete Bauweise gefördert wissen
wollte (§ 46 Satz 2 BauG) und die Gemeinden dementsprechend u.a.
ermächtigte, für Neubauten vorzusehen, dass Dach- und Unterge-
schoss bei der Berechnung der Ausnützungsziffer nicht berücksich-
tigt werden (§ 50 Abs. 2 Satz 3 BauG; siehe auch die Botschaft des
Regierungsrats an den Grossen Rat vom 17. August 1992 zur 2. Be-
ratung des neuen Baugesetzes, S. 20 oben zu § 48). § 28 BNO stellt
gemessen an dieser Ermächtigung eine mildere Variante dar, indem
die Privilegierung bei der Ausnützungsziffer davon abhängig ge-
macht wird, dass die Fläche in Dach- und Untergeschossen zur Flä-
che der Vollgeschosse eine bestimmte Relation wahrt. Es ist nun
offensichtlich, dass das gesetzgeberische Verdichtungsziel weitge-
hend toter Buchstabe bliebe, wenn - wie die Beschwerdeführer mei-
nen - die in § 28 BNO vorgegebene Verhältniszahl auf der Basis der
betreffenden Grundrissflächen ermittelt werden müsste. Gerade in
Wohnzonen, namentlich in Zonen für Einfamilienhäuser, besteht die
herkömmliche Bauweise darin, dass neben einer Unterkellerung auf
der gesamten Grundfläche auch ein Dachgeschoss geschaffen wird;
die Grundflächen des Dach- und des Untergeschosses würden hier
die Fläche von 11⁄2 Vollgeschossen regelmässig überschreiten. Die
von den Beschwerdeführern befürchtete und am Augenschein vom
9. Dezember 2002 mit einer Skizze erläuterte Missbrauchsgefahr hält
das Verwaltungsgericht nicht für gegeben. Die erwähnten Bedenken
beziehen sich einzig darauf, dass gemäss § 28 Satz 2 BNO das
arithmetische Mittel der Dach- und Untergeschossflächen massge-
bend ist, was beispielsweise ein überproportioniertes Dachgeschoss
ermögliche. Dabei wird übersehen, dass jedes Bauvorhaben die all-
gemeinen öffentlichrechtlichen Randbedingungen wie maximale
Gebäude- und Firsthöhen, Grenzabstände, Einordnung in das Orts-
bild usw. (§ 6 Abs. 1 und § 45 Abs. 1 BNO) zu beachten hat und dass
dies in aller Regel wirksame Schranken gegen eine exzessive Bau-
weise sind.
c) Gemäss der Ausnützungsberechnung der Beschwerdegegner
vom 31. August 2000, auf welche sich auch die Beschwerdeführer
abstützen, betragen die anrechenbare BGF des bestehenden Erdge-
schosses 85.27 m
2
(ohne Gartensitzplatz [siehe § 9 Abs. 2
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
167
lit. a al. 5 ABauV]), jene des bestehenden Obergeschosses 88.47 m
2
,
gesamthaft also 173.74 m
2
bzw. im Mittel 86.87 m
2
. Dies ist die nach
§
28 BNO massgebende Fläche eines Vollgeschosses. Der
Schwellenwert für die Anrechnung bzw. Nichtanrechnung des Dach-
und des Obergeschosses beträgt demgemäss 130.31 m
2
(86.87 m
2
x
11⁄2). Die anrechenbare BGF des Dachgeschosses beträgt 78.25 m
2
,
jene des Untergeschosses 37.04 m
2
, was eine Gesamtfläche von
115.29 m
2
ergibt, womit der erwähnte Schwellenwert nicht
überschritten wird und das Dach- wie das Untergeschoss bei der
Ausnützungsberechnung ausser Betracht zu bleiben haben. (...).
6. Die Beschwerdeführer erheben verschiedene Rügen formeller
Art:
a) aa) Die Beschwerdeführer machen geltend, dass einer der
Entscheide des Baudepartements von einem andern Sachbearbeiter
redigiert worden sei als demjenigen, der die Augenscheinsverhand-
lung vom 23. Mai 2001 geleitet habe; zudem habe der Entscheidver-
fasser nicht über die Abschrift der Protokollnotizen verfügt. Das
Baudepartement räumt ein, dass die Entscheidredaktion zumindest
teilweise von einem mit der Beschwerdesache vorher nicht befassten
Sachbearbeiter besorgt wurde, erachtet dies aber als formell korrekt,
weil der Fall wegen des Gesuchs um Baueinstellung dringlich gewe-
sen sei.
bb) Nach aargauischem Recht wird im Verwaltungsverfahren
das Unmittelbarkeitsprinzip durchbrochen. Gemäss § 22
Abs. 1 VRPG dürfen Beweiserhebungen auch durch "Beauftragte"
der Verwaltungsbehörden vorgenommen werden. Im Weiteren hat
der Gesetzgeber ausdrücklich festgelegt, dass -
mit Ausnahme
lediglich der Fälle von Vorbefassungen - Beschwerdeentscheide des
Regierungsrats durch eine untergeordnete Behörde, beispielsweise
ein Departement, instruiert werden dürfen (§ 50 VRPG; § 28 des
Gesetzes über die Organisation des Regierungsrates und der
kantonalen Verwaltung [Organisationsgesetz; SAR 153.100] vom
26. März 1985); in derartigen Fällen handelt es sich regelmässig um
Geschäfte, die vom Regierungsrat "am grünen Tisch" entschieden
werden. Von da her ist die Identität zwischen dem Sachbearbeiter,
der die Augenscheinsverhandlung durchführt, und dem
2003
Verwaltungsgericht
168
Sachbearbeiter, der den Entscheidentwurf verfasst, ebenfalls nicht
zwingend; der Grundsatz, dass die betreffende Verwaltungsbehörde
in der vom Gesetz vorgeschriebenen Zusammensetzung entscheidet
(siehe Kurt Eichenberger, Verfassung des Kantons Aargau vom
25.
Juni 1980 [Textausgabe mit Kommentar], Aarau 1986,
§
22
N
19), ist gewahrt. Allerdings verlangt der Anspruch der
Betroffenen auf ein faires Verfahren (§ 22 Abs. 1 KV), dass in
derartigen Fällen auf die Vollständigkeit und Richtigkeit der
Sachverhaltsermittlung (§
20 Abs.
1 VRPG) ein besonderes
Augenmerk zu richten ist. Insofern sind Konstellationen, wie sie hier
gerügt werden, auch nicht ganz unproblematisch. U.a. hängt einiges
von der Qualität der betreffenden Verhandlungsprotokolle ab; diese
müssen überdies dem Entscheidverfasser in endgültig ausgefertigter
Form vorliegen, d.h. blosse Handnotizen genügen nicht (siehe zum
Ganzen den VGE III/28 vom 26. Februar 1998 [BE.1996.00194] in
Sachen B. AG u.M., S. 5 f.; AGVE 2000, S. 341 ff.).
Gemessen an diesen Vorgaben ist das Vorgehen des Baudepar-
tements in der Tat zu beanstanden. Es genügte nicht, dass der Verfas-
ser des Augenscheinsprotokolls im Zeitpunkt der Entscheidredaktion
greifbar war; vielmehr hätten die Handnotizen in gedruckter Form
vorliegen müssen, was auf Grund der Datierung (22. Oktober 2001)
klarerweise nicht der Fall war. Da der verfassungsrechtlich
gewährleistete Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV;
§ 22 Abs. 1 KV) den Anliegen der wirkungsorientierten Verwaltung
vorgeht (AGVE 2000, S. 346), ist der Einwand der Dringlichkeit
nicht stichhaltig; abgesehen davon nimmt das Diktieren eines durch-
schnittlich langen Verhandlungsprotokolls erfahrungsgemäss nicht
viel Zeit in Anspruch.
cc) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur;
seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Be-
schwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Ent-
scheids (BGE 120 Ib 383 mit Hinweisen). Eine Heilung in einem
Rechtsmittelverfahren ist nur ausnahmsweise möglich; dies hängt
namentlich von der Schwere und Tragweite der Gehörsverletzung so-
wie davon ab, ob die Rechtsmittelinstanz den angefochtenen Ent-
scheid in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht frei überprüfen kann
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
169
(BGE 120 V 362 f. und 121 V 156, je mit Hinweisen; AGVE 1997,
S. 374). Wird die Heilungsmöglichkeit bejaht, so ist die Gehörsver-
letzung jedenfalls beim Kostenentscheid zu berücksichtigen
(AGVE 1974, S. 362; siehe zum Ganzen auch den VGE III/4 vom
10. Januar 2002 [BE.2000.00349] in Sachen H., S. 13).
Dem Verwaltungsgericht steht die Ermessensüberprüfung im
vorliegenden Falle nicht zu. Trotzdem ist der festgestellte Verfah-
rensmangel heilbar, da sonst klarerweise ein prozessualer Leerlauf
betrieben würde (vgl. BGE 107 Ia 2 f.; Bundesgericht, in: ZBl
90/1989, S.
367; VGE III/141 vom 21.
November 2000
[BE.1999.00189] in Sachen Einwohnergemeinde B., S. 17); der Be-
schwerdeführer stellt denn auch keinen Rückweisungsantrag. Die
Gehörsverletzung ist aber beim Kostenentscheid angemessen zu
berücksichtigen. (...). | 4,776 | 3,785 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-46_2002-12-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-46.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-46.pdf | AGVE_2003_46 | null | nan |
37687d59-3817-560d-b39c-a53845d1b4c5 | 1 | 412 | 871,012 | 1,146,528,000,000 | 2,006 | de | 2006
Verwaltungsgericht
248
[...]
49
Opferhilfe, Genugtuung (Art. 12 Abs. 2 OHG).
-
Wenn der Täter immaterielle Leistungen für das Opfer erbringt, eine
Versöhnung erfolgt und das Opfer gegenüber dem Täter keine Ge-
nugtuungsforderungen mehr in Betracht zieht, entfällt der Anspruch
auf Genugtuung nach OHG.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 10. Mai 2006 in Sa-
chen J.M. gegen Kantonalen Sozialdienst.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin wurde von ihrem Arbeitskollegen und
ehemaligen Freund während eines Streits niedergeschlagen und erlitt
erhebliche Verletzungen, teils bleibender Art, die zu längerer, mögli-
cherweise dauernder Arbeitsunfähigkeit führten.
Aus den Erwägungen
2. (Voraussetzungen für Genugtuung nach OHG; siehe AGVE
2006
48
243)
3./3.1. Angesichts der erheblichen und andauernden Folgen,
welche die Straftat für die Beschwerdeführerin hatte, ist eine schwere
Betroffenheit ohne weiteres zu bejahen.
3.2. Zu prüfen ist, ob im konkreten Fall besondere Umstände
vorliegen, welche die Ausrichtung einer Genugtuung rechtfertigen
bzw. ob besondere Umstände gegen die Ausrichtung der Genugtuung
sprechen.
3.2.1. Bereits Jahre vor der Tat hatte die Beschwerdeführerin
ein persönliches Verhältnis zum Täter. Unmittelbar nach der Körper-
verletzung liess sie sich durch ihn betreuen. Gemäss eigenen, gut ei-
2006
Opferhilfe
249
nen Monat nach der Tat gemachten Aussagen hatte sie weiterhin
Kontakt zu ihm und hat ihm in dieser Sache verziehen. Die Be-
schwerdeführerin verzichtete ausdrücklich auf einen Strafantrag und
unternahm auch keine zivilrechtlichen Schritte gegen ihn. Die Vorin-
stanz stellte eine besonders enge Beziehung zwischen Opfer und
Täter fest: Der Täter kümmerte sich auch nach der Tat andauernd -
mit ihrem Einverständnis - um die Beschwerdeführerin. Er hielt sich
mehrheitlich bei ihr auf, half im Haushalt und brachte sie zu Arzt-
terminen.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, dass aufgrund dieser an
sich zutreffenden Beobachtungen fundierte Aussagen über die Be-
ziehung zum Täter nicht möglich seien und der Schluss der Vorin-
stanz auf eine fehlende Betroffenheit mangels eigentlicher Anhalts-
punkte willkürlich sei. Dem kann nicht gefolgt werden. Die äusseren
Beobachtungen lassen durchaus Schlüsse auf die Intensität der Be-
ziehung zu. Dass der Täter nach wie vor einen engen Kontakt mit der
Beschwerdeführerin pflegt und weiterhin ein Freund der Familie ist,
äusserte sich neben den erwähnten Feststellungen der Vorinstanz ins-
besondere dadurch, dass er bei der Hochzeit ihres Sohnes Trauzeuge
war. Die nahe Beziehung wird von der Beschwerdeführerin denn
auch nicht bestritten. Aufgrund dieser Umstände ist somit davon aus-
zugehen, dass die Beschwerdeführerin dem Täter nicht bloss verzie-
hen, sondern sich mit ihm versöhnt hat. Die Bemühungen des Täters
sind als eine Art persönliche Genugtuungsleistung anzusehen, auch
wenn diese nicht in Form einer geldwerten Leistung ergingen.
3.2.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei gerichts-
notorisch, dass geschlagene Frauen oft grösste Mühe haben, sich von
ihrem Peiniger zu trennen. Diese Behauptung bleibt völlig abstrakt;
obwohl anwaltlich vertreten, macht die Beschwerdeführerin keinerlei
konkrete Angaben oder Hinweise, inwieweit sie persönlich in einem
Abhängigkeitsverhältnis zum Täter stehen soll. Es besteht weder eine
soziale noch eine finanzielle Abhängigkeit und ebenso wenig ergibt
sich eine solche aus der Arbeitstätigkeit oder aus fremdenpolizeili-
chen Gründen; auch eine gleichsam schicksalshafte emotionale Ab-
hängigkeit zum Täter wird nicht behauptet. Es liegt keine Konstella-
tion vor, wo das Opfer vom Täter nicht wegkommt; die Aufrechter-
2006
Verwaltungsgericht
250
haltung einer nahen Beziehung zum Täter erfolgt vielmehr aus freien
Stücken (vgl. vorne Erw. 3.2.1).
3.3. Wegen der andauernden engen Beziehung zum Täter muss
davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin ihm ge-
genüber keine Genugtuungsforderung in Betracht zieht, und zwar
unabhängig davon, ob er zahlungsfähig ist oder nicht. Zumindest hat
sie den gegenteiligen Schluss nicht glaubhaft gemacht: Sie legt in
keiner Weise dar, dass sie vom Täter selbst bei geeigneten Durchset-
zungsversuchen keine oder nur ungenügende Genugtuungsleistungen
erhalten kann. Dies ist jedoch nach Art. 1 OHV Voraussetzung für
die Ausrichtung von Leistungen, und es entspricht nicht dem Gedan-
ken der staatlichen Hilfeleistung, stattdessen auf den opferhilferecht-
lichen Genugtuungsanspruch zurückgreifen zu können. Wenn sogar
zivilrechtlich die Genugtuungsforderung scheitert, falls das Opfer
diese gegenüber der Täterin (dort die Ehefrau) nicht einmal in Be-
tracht zieht, sondern sie ausschliesslich gegenüber deren Haftpflicht-
versicherung durchsetzen will (BGE 115 II 156 Erw. 2a), so muss
dies umso eher im Bereich der Opferhilfe gelten.
4. Die konkreten Umstände des vorliegenden Falles rechtferti-
gen keine opferhilferechtliche Genugtuungsleistung, und auch der
Grundsatz der Subsidiarität steht dieser entgegen. Demzufolge be-
steht kein Anspruch auf Genugtuung nach OHG. Dies führt zur Ab-
weisung der Beschwerde. | 1,102 | 902 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-49_2006-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-49.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-49.pdf | AGVE_2006_49 | null | nan |
376cc8fa-0bd1-580b-b727-9a68aedd92cf | 1 | 412 | 871,720 | 1,072,915,200,000 | 2,004 | de | 2004
Anwaltsrecht
267
X. Anwaltsrecht
64 Rechtliches Gehör (§ 14 Abs. 1 AnwT). Solidarhaftung für die
Prozesskosten. Festsetzung der Parteientschädigung (§ 36 VRPG; § 8
AnwT).
- Handhabung von § 14 Abs. 1 AnwT (Erw. 1).
- Solidarische Haftung des während des Beschwerdeverfahrens
ausscheidenden Konsorten (Erw. 2).
- Handhabung von § 8 AnwT nach der Abschaffung des Zwangstarifs
(Erw. 3 a und b).
vgl. AGVE 2004 77 279 | 125 | 102 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-64_2004 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-64.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-64.pdf | AGVE_2004_64 | null | nan |
378e9ce6-c642-58a7-8725-2b43853da7e8 | 1 | 412 | 871,334 | 1,099,440,000,000 | 2,004 | de | 2005
Verwaltungsrechtspflege
329
X. Verwaltungsrechtspflege
64 Rechtliches
Gehör.
Verfügungsform.
-
In Gesuchsverfahren kann von einer Anhörung grundsätzlich abge-
sehen werden; dies gilt auch bezüglich der Erhebung von Gebühren
im Zusammenhang mit der Gesuchsstellung (Erw. 2/b).
- Ist eine Verfügung von einer nicht unterschriftsberechtigten Person
unterzeichnet worden, kann dieser Mangel nicht geheilt werden
(Erw. 2/c).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 30. November 2004 in Sa-
chen N. AG gegen Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
2. (...)
b) (...). In Verfahren, welche durch Einreichung eines Gesuchs
eingeleitet werden, bedarf es nach bundesgerichtlicher Rechtspre-
chung grundsätzlich keiner Anhörung mehr; es findet gewissermas-
sen eine Vorverlagerung des rechtlichen Gehörs statt, indem der Ge-
suchsteller sein Gesuch entsprechend zu begründen hat (BGE
111 Ia 103 f.; Michele Albertini, Der verfassungsmässige Anspruch
auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staa-
tes, Bern 2000, S. 263). Damit ist allerdings nur der begünstigende
Teil der Bewilligung abgedeckt. Aber auch wenn mit der Bewil-
ligung belastende Nebenbestimmungen verknüpft oder - wie im vor-
liegenden Falle - Gebühren erhoben werden, braucht der Bewilli-
gungsnehmer in aller Regel nicht angehört zu werden. Nebenbe-
stimmungen bilden als mildere Massnahme (in Befolgung des Ver-
hältnismässigkeitsprinzips) eine Alternative zur Bewilligungsver-
weigerung (Albertini, a.a.O., S. 38; AGVE 2002, S. 242 f.). Mit der
Gebührenerhebung wiederum muss der Gesuchsteller normalerweise
2005
Verwaltungsgericht
330
rechnen, was offenbar auch die Beschwerdeführerin anerkennt.
Zudem hat sich die verfügende Behörde in materieller Hinsicht an
die gesetzlichen Grundlagen sowie an das Kostendeckungs- und das
Äquivalenzprinzip zu halten (siehe Ulrich Häfelin / Georg Müller,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zürich 2002, Rz. 2636
ff., 2656 ff., 2693 ff.). Vor diesem Hintergrund kann die Hinweis-
und Warnfunktion des Äusserungsrechts, die den Rechtsunterwor-
fenen vor überraschenden Entscheidungen schützen soll (Albertini,
a.a.O., S. 259), nicht zum Tragen kommen. (...). Der Regierungsrat
hat deshalb eine Gehörsverletzung zu Recht verneint.
c) Nicht einig geht das Verwaltungsgericht dagegen mit der
Schlussfolgerung des Regierungsrats, auf die Gültigkeit der Ver-
fügung vom 18. Juli 2002 wirke sich nicht weiter aus, dass diese von
einer nicht unterschriftsberechtigten Sachbearbeiterin unterzeichnet
worden sei. Nach der Rechtsprechung kann insbesondere die Ver-
letzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wieder gutgemacht
werden, wenn die unterlassene Anhörung, Akteneinsicht oder Be-
gründung in einem Rechtsmittelverfahren nachgeholt wird, das eine
Prüfung im gleichen Umfang wie die Vorinstanz erlaubt; eine Rück-
weisung der Sache käme in solchen Fällen einem formalisierten
Leerlauf gleich (BGE 125 I 219; AGVE
1997, S.
374; Häfe-
lin/Müller, a.a.O., Rz. 986 f.). Eine "Heilung" des formellen Mangels
hat das Bundesgericht auch in einem Fall angenommen, in welchem
die Steuerbehörde in einer Verfügung allein den Ehemann als
Adressaten nannte, obschon sie von Gesetzes wegen verpflichtet
gewesen wäre, sämtliche Mitteilungen an verheiratete Steuerpflich-
tige, die in rechtlich und tatsächlich ungetrennter Ehe leben, an die
Ehegatten gemeinsam zu richten; der Ehefrau sei durch den Fehler
kein Nachteil entstanden, nachdem die Verfügung an den gemeinsa-
men Vertreter der Beschwerdeführer zugestellt worden sei und beide
dagegen rechtzeitig Beschwerde erhoben hätten (BGE vom 12. Mai
2004 [2A.442/2003] in Sachen A. und Mitb., S. 2). Demgegenüber
stellt das Fehlen einer rechtsgültigen Unterzeichnung einen for-
mellen Mangel der Verfügung dar, der naturgemäss einzig durch die
verfügende Behörde selbst behoben werden kann. Eine "Heilung"
des Fehlers im Beschwerdeverfahren ist anders als bei der Verletzung
2005
Verwaltungsrechtspflege
331
des rechtlichen Gehörs nicht möglich. Beseitigt werden kann der
Mangel nur durch die vollumfängliche Aufhebung der fehlerhaften
Verfügung und deren Ersatz durch einen korrekt erlassenen Verwal-
tungsakt. Letzteres kann geschehen, indem die Rechtsmittelinstanz
die Angelegenheit zum Erlass einer neuen Verfügung zurückweist
oder aber die entsprechenden materiellen Anordnungen selbst erlässt.
Bei der Überprüfung des vorinstanzlichen Kostenentscheids ist
deshalb davon auszugehen, dass die hier in Frage stehende Verfah-
rensrüge zu Recht erhoben worden ist. | 1,013 | 828 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-64_2004-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-64.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-64.pdf | AGVE_2005_64 | null | nan |
383394c2-c314-5007-9f29-53951e432193 | 1 | 412 | 870,201 | 1,030,838,400,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
196
[...]
60
Zwangsmassnahme, Abgrenzung freiwillige Medikation/ Zwangsmedika-
tion.
-
Wird jemand gegen seinen Willen behandelt, wenn er vor die Wahl
gestellt wird, entweder in die Medikation einzuwilligen oder auf den
Ausgang zu verzichten? (Erw. 5/c/bb)
2002
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
197
-
Keine gegen die Grundrechtsgarantie verstossende Behandlung,
wenn bei der Motivation eines ambivalenten Patienten zur (medika-
mentösen) Behandlung dessen Selbstbestimmungsrecht und seine
persönliche Freiheit nicht beeinträchtigt werden (Erw. 5/c/bb/aaa
und bbb).
-
Die Grenze einer sinnvollen und rechtmässigen Überzeugungsarbeit
für eine freiwillige Medikation wird überschritten, wenn die freie
Willensbildung des Patienten beeinträchtigt wird, z.B. durch Ge-
waltanwendung, Drohung oder Täuschung (analoge Anwendung von
Art. 28-30 OR) (Erw. 5/c/bb/aaa und bbb).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 24. September 2002 in
Sachen F.L. gegen Entscheid der Klinik Königsfelden.
Aus den Erwägungen
5.c) bb) Die Beschwerdeführerin willigte am 2. September 2002
in die verordnete Medikation erst nach langem und intensivem Zure-
den und unter dem Hinweis, sie erhalte sonst keinen Ausgang, ein.
Nach Ansicht der Klinik handelte es sich um eine freiwillige Me-
dikation, weshalb auf den Erlass eines entsprechenden Zwangsmass-
nahmen-Entscheids verzichtet wurde. Im Zwangsmassnahmen-Ent-
scheid bezüglich der Isolation, welche kurz nach der Medikation er-
folgte, wurde entsprechend darauf hingewiesen, dass keine Zwangs-
medikation erfolgt sei. Demgegenüber macht die Beschwerdeführe-
rin geltend, die Medikation - vermutlich insbesondere die Depot-
Injektion - sei gegen ihren Willen erfolgt. Es stellt sich somit die
Frage, ob die Beschwerdeführerin dadurch, dass sie vor die Wahl
gestellt wurde, entweder in die Medikation einzuwilligen oder auf
den Ausgang zu verzichten, i.S. von § 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB gegen
ihren Willen behandelt worden sei.
aaa) Es ist bei der Behandlung von psychisch kranken Men-
schen ohne Krankheitseinsicht durchaus üblich und für eine erfolg-
reiche Behandlung notwendig, dass die Ärzte in einer Psychiatri-
schen Klinik bei den Patienten betreffend Medikation viel Überzeu-
2002
Verwaltungsgericht
198
gungsarbeit leisten müssen und dabei im Rahmen ihres Behand-
lungsauftrags und mit Hilfe der Gestaltung des individuellen Klinik-
alltags auch einen gewissen Spielraum für die Ausübung eines sanf-
ten Drucks bedürfen. So kann z.B. das In-Aussicht-Stellen gewisser
Annehmlichkeiten einen ambivalenten Patienten zur Behandlung
motivieren. Mit ärztlichen Zusicherungen wie die Verlegung auf eine
offene Abteilung oder die Gewährung von Ausgang sollen die
Patienten ermuntert werden, sich die nötige Behandlung zukommen
zu lassen. Es handelt sich dabei um "pädagogische" Methoden, wel-
che die Würde der Patienten achten und das Selbstbestimmungsrecht
sowie die persönliche Freiheit nicht beeinträchtigen. Bei derartigen
Vorgehensweisen von Klinikärzten ist keine erniedrigende und
herabsetzende, gegen die Grundrechtsgarantie verstossende Be-
handlung ersichtlich. Die Grenze einer sinnvollen und rechtmässigen
Überzeugungsarbeit wird dann überschritten, wenn die freie
Willensbildung des Patienten beeinträchtigt wird, sei es durch Ge-
waltanwendung, Drohung oder Täuschung. In diesem Zusammen-
hang können Art. 28 - 30 OR zur Auslegung analog herangezogen
werden. So wäre eine medikamentöse Behandlung dann gegen den
Willen des Patienten, wenn dieser auf Grund einer Täuschung einem
wesentlichen Irrtum unterlag und nur deshalb in die Medikation
einwilligte, z.B. durch die ärztliche Falschaussage, ein neurolepti-
sches Medikament sei zur Behandlung der Herzbeschwerden not-
wendig. Eine Drohung oder Nötigung würde z.B. vorliegen, wenn
der Patient in die Medikation einwilligte, weil ihm beispielsweise
Essensentzug oder Zwangsinjektion unter Anwendung körperlicher
Gewalt angedroht wurde. Analog Art. 30 Abs. 1 OR ist von einer
Zwangsmassnahme i.S. von § 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB auszugehen,
wenn ein Patient nach den Umständen annehmen muss, dass er oder
eine ihm nahe verbundene Person an Leib und Leben, Ehre oder
Vermögen mit einer nahen und erheblichen Gefahr bedroht sei, falls
er sich nicht mit der verordneten Medikation einverstanden erklärt.
bbb) Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorlie-
genden Fall ist Folgendes festzuhalten. Die Beschwerdeführerin
weist eine ausgesprochen ambivalente Haltung auf. Sie unterzog sich
oft einer medikamentösen Behandlung mit Neuroleptika und nahm
2002
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
199
die Medikamente aus freiem Willen ein; umgekehrt hat sie sich einer
derartigen Medikation auch oft widersetzt. Dem Pflegebericht ist zu
entnehmen, dass man sowohl vor dem 2. September 2002 als auch
später jeweils versuchte, die Beschwerdeführerin zur Medikamenten-
einnahme zu bewegen, indem man ihr in Aussicht stellte, dass sie
andernfalls nicht in den Ausgang könne. Ein weiteres Mal wurde ihr
die offene Abteilung in Aussicht gestellt, falls sie die Medikamente
einnehme. Sie protestierte und schimpfte jeweils, willigte dann aber
in der Regel in die Medikation ein. Es kam aber durchaus vor, dass
sie vor die entsprechende Wahl gestellt, die Medikation verweigerte
und auf Ausgang verzichtete. Im vorliegenden Fall hatte die Be-
schwerdeführerin somit eine echte Wahlmöglichkeit und es fand eine
freie Willensbildung statt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die
Beschwerdeführerin zu Recht mittels fürsorgerischer Freiheitsent-
ziehung in die Klinik eingewiesen worden war und die Gewährung
des Ausgangs grundsätzlich im Ermessen der behandelnden Kli-
nikärzte liegt, ähnlich wie die Wahl des Medikaments oder die kon-
krete Dosierung. Die Handlungsalternative, vor welche die Be-
schwerdeführerin gestellt wurde, war nicht grundsätzlich geeignet,
eine besonnene Person in der gleichen Lage gegen ihre Überzeugung
gefügig zu machen. Die Beschwerdeführerin konnte zwischen zwei
Alternativen wählen, sie konnte sich entweder für die Medikation
und damit für den Ausgang entscheiden oder die Medikation
verweigern und auf den Ausgang verzichten. Gelegentlich ging sie
denn auch auf diesen "Handel" nicht ein und verweigerte die Medi-
kamenteneinnahme, weil es ihr "egal" war, ob sie Ausgang bekam
oder nicht. In diesen Fällen verzichtete die Klinik konsequenterweise
auf die Medikation und übte keinen Zwang aus.
ccc) Für das Verwaltungsgericht ist damit erstellt, dass es sich
im vorliegenden Fall nicht um eine Behandlung gegen den Willen
der Beschwerdeführerin und damit um keine Zwangsmedikation im
Sinne von § 67e
bis
EG ZGB handelt. Unter diesen Umständen erüb-
rigt sich eine Verhältnismässigkeitsprüfung. Es steht sodann fest,
dass die konkrete ärztliche Anordnung keinesfalls als unangemessen
oder gar als missbräuchlich zu beurteilen ist. Das entsprechende
2002
Verwaltungsgericht
200
Feststellungsbegehren betreffend Behandlung vom 2. September
2002 ist somit abzuweisen. | 1,481 | 1,251 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-60_2002-09-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-60.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-60.pdf | AGVE_2002_60 | null | nan |
3840313e-4c07-504e-ade4-5da98a082979 | 1 | 412 | 870,977 | 1,425,340,800,000 | 2,015 | de | 2015
Übriges Verwaltungsrecht
271
XV. Übriges Verwaltungsrecht
42
Familienausgleichskassen
-
Verfügungen, welche das DGS als Aufsichtsbehörde über die Fami-
lienausgleichskassen erlässt, unterliegen der Beschwerde an das Ver-
waltungsgericht.
-
Die Festsetzung und Erhebung der Beiträge obliegt gemäss Art. 15
Abs. 1 lit. b FamZG den Familienausgleichskassen; der aargauische
Gesetzgeber hat auf einen Lastenausgleich verzichtet.
-
§ 16 EG FamZG ist keine ausreichende gesetzliche Grundlage, um
den Familienausgleichskassen einen einheitlichen Beitragssatz vorzu-
schreiben.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 4. März 2015 in Sachen
Familienausgleichskasse A. gegen Regierungsrat (WBE.2014.213).
Aus den Erwägungen
1.
1.1. (...)
1.2.
Die Familienausgleichskassen stehen unter der Aufsicht der
Kantone (Art. 17 Abs. 2 Satz 1 FamZG). Die Kantone regeln die
Aufgaben und Pflichten der Familienausgleichskassen und Arbeitge-
ber (lit. f). Die Kantone haben somit das administrative Verfahren zur
korrekten Durchführung des Familienzulagengesetzes zu bestimmen
(BGE 135 V 172, Erw. 7.2).
Die Aufsicht über die Familienausgleichskassen wird durch das
DGS ausgeübt (§ 18 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Bundesge-
setz über die Familienzulagen vom 24. März 2009 [EG FamZG;
SAR 815.200], § 1 der Verordnung zum EG Familienzulagengesetz
vom 11. November 2009 [V EG FamZG; SAR 815.211]). Als Auf-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
272
sichtsbehörde ist das DGS insbesondere zu Weisungen an die
Kassenorgane, beispielsweise bei ungenügender Schwankungsre-
serve, befugt (U
ELI
K
IESER
/M
ARCO
R
EICHMUTH
, Bundesgesetz über
die Familienzulagen, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2010,
Art. 17 N 26).
1.3.
Verfügungen, welche das DGS als Aufsichtsbehörde nach EG
FamZG erlässt, können gemäss § 50 Abs. 1 lit. a VRPG beim Regie-
rungsrat mit Beschwerde angefochten werden. Dessen Entscheid un-
terliegt der Verwaltungsgerichtsbeschwerde (§ 54 Abs. 1 VRPG).
Der Rechtsmittelweg der ordentlichen Verwaltungsrechtspflege wird
durch das ATSG nicht berührt. Art. 17 Abs. 2 FamZG überträgt den
Kantonen die Regelung der Aufsicht über die Familienausgleichskas-
sen. Gelangt das ATSG wie vorliegend auf das Verfahren nicht zur
Anwendung, ist nicht gestützt auf Art. 55 Abs. 1 ATSG das Verwal-
tungsverfahrensgesetz des Bundes, sondern ein Rechtssystem insge-
samt massgebend. Dies hat zur Konsequenz, dass auf kantonaler
Ebene grundsätzlich kantonales Recht zur Anwendung gelangt und
von Bundesrechts wegen keine Zuständigkeit des kantonalen
Versicherungsgerichts besteht (vgl. U
ELI
K
IESER
, ATSG-Kommentar,
2. Auflage, Zürich 2009, Art. 55 N 11; BGE 130 V 215, Erw. 5 f.).
1.4. (...)
2.-3. (...)
4.
4.1.
Nach Art. 17 Abs. 2 FamZG stehen die Familienausgleichskas-
sen unter der Aufsicht der Kantone. Unter Vorbehalt dieses Gesetzes
und in Ergänzung dazu sowie unter Berücksichtigung der Organisa-
tionsstrukturen und des Verfahrens für die AHV erlassen die Kantone
die erforderlichen Bestimmungen. Sie regeln die Finanzierung,
insbesondere den allfälligen Verteilschlüssel für die Beiträge der Ar-
beitgeber sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (lit. j), so-
wie den allfälligen Lastenausgleich zwischen den Kassen (lit. k). Die
Festsetzung und Erhebung der Beiträge obliegt den Familienaus-
gleichskassen (Art. 15 Abs. 1 lit. b FamZG).
2015
Übriges Verwaltungsrecht
273
Art. 17 FamZG regelt die Kompetenzen der Kantone. Während
der Bund im Wesentlichen die materiell-rechtlichen Bereiche regelt,
bleibt die Durchführung grundsätzlich weiterhin Sache der Kantone;
zu dieser gehören die Fragen der Organisation, der Aufsicht und
Finanzierung. Art. 17 FamZG ist dabei als Zuständigkeitsnorm zu
verstehen, Ausführungsbestimmungen insbesondere in den in diesem
Artikel genannten Bereichen zu erlassen (K
IESER
/R
EICHMUTH
,
a.a.O., Art. 17 N 6 ff. mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts vom
7. Mai 2010 [8C_931/2009], Erw. 3.1).
Mit Art. 17 Abs. 2 lit. k FamZG besteht eine genügende gesetz-
liche Grundlage für die Kantone, einen Lastenausgleich zwischen
den Kassen einzuführen (BGE 135 V 172, Erw. 6.2). Der aargauische
Gesetzgeber hat auf die Einführung eines Lastenausgleichs verzichtet
(Botschaft des Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen
Rat vom 28. Januar 2009, Bericht und Entwurf zur 2. Beratung [Bot-
schaft 2], GR.09.30, S. 2).
4.2.
Nach Art. 15 Abs. 1 lit. b FamZG obliegt die Festsetzung und
Erhebung der Beiträge den Familienausgleichskassen.
Als deren Hauptaufgabe, welche im Bundes- und kantonalen
Recht nicht explizit genannt, sondern vorausgesetzt werde, nennen
K
IESER
/R
EICHMUTH
den Lastenausgleich zwischen den der Kasse
angeschlossenen Arbeitgebern. Der Zweck einer Familienausgleich-
kasse bestehe darin, die unterschiedlichen Belastungen der ange-
schlossenen Arbeitgeber auszugleichen und diese zu einer Risikoge-
meinschaft zu vereinigen. Dadurch verlören die Arbeitgeber das Inte-
resse, Arbeitnehmer ohne Familienlasten denjenigen mit Lasten
vorzuziehen (K
IESER
/R
EICHMUTH
, a.a.O., Art. 15 N 6 mit Hinwei-
sen).
Unter den Parteien ist zu Recht unumstritten, dass das Bundes-
recht den anerkannten Familienausgleichskassen nicht verbietet,
branchenspezifische Risikogemeinschaften zu bilden und für ange-
schlossene Branchen unterschiedliche Beitragssätze anzuwenden.
Der Kanton kann einen einheitlichen Beitragssatz mit einem Lasten-
ausgleich unter den Familienausgleichskassen vorschreiben oder wie
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
274
bisher unterschiedliche Beitragssätze zulassen (D
IETER
W
IDMER
, Die
Sozialversicherung in der Schweiz, 9. Auflage, Zürich 2013, S. 311).
Art. 12 Abs. 1 FamZV enthält die Einschränkung, dass Be-
triebskassen bzw. Familienausgleichskassen eines einzelnen Arbeit-
gebers nicht als Familienausgleichskassen im Sinne von Art. 14 lit. a
FamZG anerkannt werden dürfen (vgl. K
IESER
/R
EICHMUTH
, a.a.O.,
Art. 14 N 32; Wegleitung des BSV zum Familienzulagengesetz
[FamZWL], Fassung 1. Januar 2015, Rz. 533).
5.
5.1.-5.2. (...)
5.3.
Nach der Botschaft 1 (Botschaft des Regierungsrats des Kan-
tons Aargau an den Grossen Rat vom 29. Oktober 2008, Bericht und
Entwurf zur 1. Beratung, GR.08.316, S. 20) sollen die Familienaus-
gleichskassen
ihren Beitragssatz
selber festlegen, wobei wie im Ge-
setzestext, der Singular verwendet wird. Dabei darf nicht übersehen
werden, dass sich die Ausführungen der Botschaft 1 am ursprünglich
vorgeschlagenen (und vom Grossen Rat abgelehnten) Lastenaus-
gleich ausrichteten (S. 8 ff.). Der Grosse Rat lehnte diesen ab (Bot-
schaft 2, S. 2), stimmte aber dem Gesetzestext von § 16 EG FamZG
entsprechend der Vorlage zu (Protokoll des Grossen Rats vom
16. Dezember 2008, Art. 2116, S. 2). Aus der Botschaft 2 ergibt sich,
dass § 16 EG FamZG aufgrund des abgelehnten Lastenausgleichs
redaktionell angepasst wurde (S. 2). Diese Anpassung beschränkte
sich auf die Streichung des Lastenausgleichs in Satz 2 von § 16
EG FamZG (keine Berücksichtigung des Lastenausgleichs bei der
Festlegung der Höhe des Beitragssatzes; vgl. Beilage zur Botschaft
09.30, Synopse EG Familienzulagengesetz).
Im Hinblick auf die Interpretation des Gesetzestextes ist somit
relevant, ob ein einheitlicher Beitragssatz, wie ihn die Vorinstanzen
als vorgeschrieben erachten, im Zusammenhang mit dem verworfe-
nen Lastenausgleich stand und ob sich der Verzicht darauf auswirkte.
Gemäss Botschaft 1 wurde dem Grossen Rat kein sog. "reiner Las-
tenausgleich", sondern "eher eine Form des Risikoausgleichs" vor-
geschlagen (Botschaft 1, S. 9; vgl. hierzu K
IESER
/R
EICHMUTH
,
Art. 17 N 101 ff.). Danach sollten die Familienausgleichskassen "die
2015
Übriges Verwaltungsrecht
275
Höhe ihres Beitragssatzes weiterhin selber festlegen". Der Mechanis-
mus des Lastenausgleichs beruhte indessen (einem reinen Lastenaus-
gleich entsprechend) auf der Ausgleichung des Verhältnisses von
individuellem Risikosatz der Ausgleichskasse und dem (für den ge-
samten Kanton ermittelten) Risikoausgleichssatz. Der individuelle
Risikosatz ergab sich aus dem Verhältnis von Einkommens- und
Zulagensumme der Kasse, der Risikoausgleichssatz aus dem Verhält-
nis der gesamten Einkommens- und Zulagensumme (Botschaft 1,
S. 10; § 17 f. gemäss Entwurf vom 29. Oktober 2008 [Beilage 1 zur
Botschaft 1]; K
IESER
/R
EICHMUTH
, a.a.O., Art. 17 N 103; vgl. hierzu
den vergleichbaren Lastenausgleich im Kanton Basel-Landschaft:
§§ 25 ff. des Einführungsgesetzes zum Bundesgesetz über die Fa-
milienzulagen vom 5. Mai 2009 [SGS 838]; und im Kanton Luzern:
§§ 19 ff. des Gesetzes über die Familienzulagen vom 8. September
2008 [SRL 885]). Eine Beschränkung hinsichtlich der Lohnsumme
oder Modifikationen waren nicht vorgesehen (vgl. U
ELI
K
IESER
,
Strukturen von Familienausgleichskassen, in: AJP 2013, S. 1180).
Der vorgeschlagene Lastenausgleich hätte zum vollständigen
Risikoausgleich im Kanton geführt und unterschiedliche Beitrags-
sätze innerhalb der Familienausgleichskasse wären kaum sinnvoll
bzw. realistisch gewesen (zu den versicherungsmathematischen Kon-
sequenzen vgl. K
IESER
/R
EICHMUTH
, a.a.O., Art. 17 N 104, wonach
ein einheitlicher Beitragssatz zwingend ist; vgl. auch K
IESER
,
Strukturen von Familienausgleichskassen, a.a.O., S. 1178). Die Ent-
scheidungen über internen Beitragssatz und externen Lastenausgleich
liessen sich beim vorgeschlagenen Mechanismus nicht voneinander
trennen. Mit dem Verzicht des Gesetzgebers auf das Lastenaus-
gleichssystem unter den Familienzulagenkassen stellte sich die Frage
eines einheitlichen Beitragssatzes der Ausgleichskassen neu (zu den
Regelungen anderer Kantone vgl. hinten Erw. 7.3).
Nach der Ablehnung des Lastenausgleichs durch den Grossen
Rat mit bloss redaktioneller Anpassung des Gesetzeswortlautes kann
nicht auf einen Willen des Gesetzgebers geschlossen werden, dass
§ 16 EG FamZG den Familienausgleichskassen einen einheitlichen
Beitragssatz vorschreibt.
6.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
276
6.1.-6.2. (...)
6.3.
(...)
Das Familienzulagengesetz ist ein Rahmengesetz, bei welchem
der Bund nicht alle Fragen regelt, sondern den Kantonen einen
gewissen gesetzgeberischen Freiraum lässt (M
ARIE
-P
IERRE
C
ARDINAUX
, Umsetzung des Familienzulagengesetzes: Standpunkt
der kantonalen Ausgleichskassen, in: Soziale Sicherheit [CHSS]
2/2008, S. 97; Parlamentarische Initiative, Leistungen für die Fami-
lie, Zusatzbericht der Kommission für soziale Sicherheit und
Gesundheit des Nationalrates vom 8. September 2004, 91.411, in:
BBl 2004 6900). Den Kantonen steht dabei ein grosser Rege-
lungsspielraum zu, welcher durch das Bundesrecht nur punktuell ein-
geschränkt wird, zum Beispiel durch die Unterstellung sämtlicher
Arbeitgeber ohne Befreiungsmöglichkeit sowie die Pflicht, die von
AHV-Ausgleichskassen geführten Familienausgleichskassen anzuer-
kennen (K
IESER
/R
EICHMUTH
, a.a.O., Art. 17 N 6).
Dass das FamZG als Rahmengesetzgebung mit punktuellen
bundesrechtlichen Einschränkungen ausgestaltet ist, bedeutet für sich
alleine nicht, dass § 16 EG FamZG im Verhältnis zum Bundesrecht
eigenständige Bedeutung zukommt. Wie die Vorinstanz festhielt,
ergibt sich aus den Materialien nicht, dass der kantonale Gesetzgeber
von seiner Kompetenz Gebrauch machen wollte und im Verhältnis
zum Bundesrecht eine Einschränkung statuierte (vgl. vorne
Erw. 5.3). Unter diesen Umständen kann - wie die Beschwerdeführe-
rin zu Recht ausführen lässt - eine Wiederholung bundesrechtlicher
Vorschriften nicht ausgeschlossen werden.
Indessen ergibt sich aus der Kompetenzordnung im Bundesge-
setz, dass der Kanton insbesondere die Finanzierung der Fami-
lienausgleichskassen regelt (Art. 17 Abs. 2 lit. j FamZG). Aufgrund
der den Kassen zustehenden Befugnis zur Festsetzung und Erhebung
der Beiträge nach Art. 15 Abs. 1 lit. b FamZG steht fest, dass beim
Fehlen konkretisierender kantonaler Vorschriften im Verhältnis von
Bundes- und kantonalem Recht keine zu füllende Gesetzeslücke be-
steht. Aufgrund der Stellung des EG FamZG und dessen § 16 ist da-
von auszugehen, dass die Befugnis der Kasse zur Beitragsfestsetzung
2015
Übriges Verwaltungsrecht
277
beim Fehlen expliziter Gesetzesvorschriften nicht eingeschränkt ist
(anders im Bereich der [obligatorischen] Krankenversicherung: Ur-
teil des Bundesgerichts vom 14. Oktober 2014 [9C_8/2014 und
9C_9/2014], Erw. 4.3.2 zu Art. 62 Abs. 1 KVG, welcher abschlies-
send sei und auch nicht stillschweigend die Bildung besonderer Risi-
kogemeinschaften zulasse).
6.4. (...)
7.
7.1.-7.2. (...)
7.3.
7.3.1.
Die Hauptaufgabe der Familienausgleichskassen wird von
K
IESER
/R
EICHMUTH
darin gesehen, die Lasten zwischen den der
Kasse angeschlossenen Arbeitgebern auszugleichen (vgl. K
IESER
/
R
EICHMUTH
, a.a.O., Art. 15 N 6 f.). Das Bundesrecht hat ein Verbot
von Betriebskassen aufgestellt und die Befreiungsmöglichkeiten
abgeschafft (vorne Erw. 4.2, 6.3).
7.3.2.
Fraglich ist, inwieweit ein einheitlicher Beitragssatz der Zielset-
zung von § 16 EG FamZG immanent ist. Die Auslegung, wonach für
die einer anerkannten Ausgleichskasse angeschlossenen Arbeitgeber
ein einheitlicher Beitragssatz gilt, erscheint im interkantonalen Ver-
gleich nicht zwingend:
In den anderen Kantonen, welche ebenfalls keinen Lastenaus-
gleich eingeführt haben, bestehen folgende Gesetzesvorschriften:
Nach § 5 Abs. 2 des Einführungsgesetzes über die Familienzulagen
des Kantons Zürich vom 19. Januar 2009 (LS 836.1) legt
jede Fami-
lienausgleichskasse
die Höhe
der Beitragssätze
fest. Gemäss Art. 15
Abs. 1 des bernischen Gesetzes über die Familienzulagen vom
11. Juni 2008 (BSG 832.71) hat die Familienausgleichskasse auf
ei-
nen während längerer Zeit gleich bleibenden Beitragssatz
zu achten.
In den Kantonen Basel-Landschaft und Luzern, welche einen
reinen Lastenausgleich eingeführt haben, bestehen folgende Vor-
schriften: Nach § 20 Abs. 1 lit. b des Baselbieter Einführungsgeset-
zes zum Bundesgesetz über die Familienzulagen vom 5. Mai 2009
(SGS 838) haben die Familienausgleichskassen folgende Aufgaben:
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
278
Ausrichtung der Familienzulagen sowie
Festsetzung und Erhebung
der Beiträge
. § 9 Abs. 1 lit. b des luzernischen Gesetzes über die Fa-
milienzulagen vom 8. September 2008 (SRL 885) lautet:
Die Famili-
enausgleichskassen
setzen die Beiträge generell fest (...)
.
7.3.3.
Durch die Bildung von branchenspezifischen Arbeitgebergrup-
pen innerhalb der Kasse entstehen zusätzliche Risikogemeinschaften.
Es obliegt dem kantonalen Gesetzgeber, über das bundesrechtliche
Verbot der Betriebskasse hinaus weitere Vorschriften aufzustellen,
um einen aus rechtspolitischer Sicht unzureichenden Ausgleich
innerhalb der Kasse zu unterbinden (vgl. hierzu: C
ARDINAUX
, a.a.O.,
S. 97; S
TEFAN
A
BRECHT
, Das BG über Familienzulagen aus der
Sicht der Verbandsausgleichskassen, in: CHSS 2/2008, S. 99). Auf-
grund des Gesetzmässigkeitsprinzips bedürfen entsprechende
Anforderungen einer klaren Regelung im Gesetz selbst, welche nach
dem Gesagten nicht vorliegt.
§ 6 Abs. 1 lit. a EG FamZG setzt für die Anerkennung einer Fa-
milienausgleichskasse eine minimale Anzahl von acht angeschlosse-
nen Arbeitgebern mit insgesamt mindestens 600 Arbeitnehmenden
voraus, weshalb sich das Problem der Betriebskassen nicht mehr
stellt (vgl. K
IESER
/R
EICHMUTH
, a.a.O., Art. 14 N 33). Diese Rege-
lung ermöglicht in der Praxis auch Zusammenschlüsse von Arbeitge-
bern einer Branche. Unter Berücksichtigung des Gesetzgebungs-
verfahrens ist nicht anzunehmen, dass der aargauische Gesetzgeber
eine zusätzliche Entscheidung über einheitliche Beitragssätze getrof-
fen hat (vgl. vorne Erw. 5.3). Der Botschaft 1 lässt sich zu § 6 EG
FamZG lediglich entnehmen, die bisherigen Anerkennungsvorausset-
zungen würden mit der bundesrechtlichen Bezeichnung übernommen
(S. 18). Angesichts dessen und des verhältnismässig jungen Gesetzes
ist eher von einem qualifizierten Schweigen auszugehen, als von ei-
ner auf gesetzgeberischem Versehen beruhenden Lücke (vgl.
BGE 130 V 546, Erw. 4.3 = Pra 95 [2006] Nr. 23). Weiter ist zu
beachten, dass das Verwaltungsgericht mit der Ableitung eines Ver-
bots unterschiedlicher Beitragssätze aus § 16 EG FamZG eine Ent-
scheidung mit (rechts)politischem Charakter treffen würde, was nicht
seine Aufgabe ist, sondern diejenige des Gesetzgebers. Das Prinzip
2015
Übriges Verwaltungsrecht
279
der Gewaltenteilung schützt die Einhaltung der verfassungsmässigen
Zuständigkeitsordnung. Für den Bereich der Rechtssetzung bedeutet
der Grundsatz, dass generell-abstrakte Normen vom zuständigen
Organ in der dafür vorgesehenen Form zu erlassen sind (§ 68 Abs. 2
KV; BGE 128 I 327, Erw. 2.1).
8.
In der Konsequenz besteht mit § 16 EG FamZG keine ausrei-
chende gesetzliche Grundlage, um einer anerkannten Familienaus-
gleichskasse unterschiedliche (risikogewichtete bzw. branchenbezo-
gene) Beitragssätze zu untersagen.
(...) | 4,119 | 3,216 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-42_2015-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-42.pdf | AGVE_2015_42 | null | nan |
38798b53-0b5b-5eb4-847f-9e48c6672626 | 1 | 412 | 871,939 | 1,122,940,800,000 | 2,005 | de | 2005
Kantonale Steuern
107
[...]
28
Mindeststeuer auf Grundstücken (§ 89 StG).
- Die Regelung stellt eine genügende gesetzliche Grundlage dar und ist
verfassungsmässig (Erw. 1, 5).
- Die Steuer beträgt 1,5 %o des Buchwerts der Grundstücke, ohne Zu-
schläge (Erw. 4.2).
- Miethäuser einer Immobiliengesellschaft gelten nicht als Betriebs-
grundstücke (Erw. 3).
- Die Ausnahme betreffend WEG gilt für Träger und Organisationen
des gemeinnützigen Wohnbaues, nicht aber - hier nur bezogen auf
einzelne Grundstücke - bei anderen Organisationen (Erw. 4.1).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 24. August 2005 in
Sachen E. Immobilien AG gegen Steuerrekursgericht. Zur Publikation in StE
2006 vorgesehen.
2005
Verwaltungsgericht
108
Sachverhalt
Von den juristischen Personen erhebt der Kanton eine Gewinn-
und eine Kapitalsteuer, basierend auf dem Reingewinn und dem Ei-
genkapital (§ 1 Abs. 1 lit. b, § 67, § 82 StG; vgl. auch Art. 2 Abs. 1
lit. b, Art. 24 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1 StHG). In § 88 StG wird eine
allgemeine Mindeststeuer statuiert, in § 89 StG eine Mindeststeuer
auf Grundstücken. Die genannten Bestimmungen lauten:
§ 88
Kapitalgesellschaften und Genossenschaften entrichten eine Mindest-
steuer. Diese beträgt als einfache (100%ige) Kantonssteuer Fr. 500.-- für
Kapitalgesellschaften, Fr. 100.-- für Genossenschaften und Fr. 5'000.-- für
internationale Konzernkoordinationszentralen.
§ 89
1
Kapitalgesellschaften und Genossenschaften entrichten eine Min-
deststeuer von 1,5 %
o
auf dem Buchwert ihrer im Kanton gelegenen Grund-
stücke, sofern diese Mindeststeuer höher ist als die geschuldete ordentliche
Gewinn- und Kapitalsteuer.
2
Von dieser Mindeststeuer sind ausgenommen
a) neu gegründete Kapitalgesellschaften und Genossenschaften für
die ersten 2 Geschäftsjahre, wenn sie nicht durch Umstrukturierung aus
einem andern Unternehmen entstanden sind;
b) Kapitalgesellschaften und Genossenschaften für Grundstücke, auf
denen sie zur Hauptsache ihren Betrieb führen;
c) Kapitalgesellschaften und Genossenschaften, welche die Voraus-
setzungen für Bundeshilfe nach Art. 51 und 52 des Wohnbau- und Eigen-
tumsförderungsgesetzes vom 4. Oktober 1974 erfüllen.
In § 90 StG mit der Marginalie "Zuschläge zur Kantonssteuer"
wird festgelegt:
§ 90
Juristische Personen entrichten nebst den in andern Gesetzen festge-
legten Zuschlägen folgende Zuschläge auf der einfachen Kantonssteuer vom
steuerbaren Reingewinn und Eigenkapital:
a) einen Kantonssteuerzuschlag von 5 %;
b) einen Zuschlag von 50 % an die Einwohnergemeinden, in denen
die juristische Person steuerpflichtig ist.
2005
Kantonale Steuern
109
Bei den Zuschlägen gemäss anderen Gesetzen handelt es sich
um die Zuschläge gemäss § 15 Abs. 1 des Spitalgesetzes vom
19. Oktober 1971 und gemäss § 6 lit. a und b des Finanzausgleichs-
gesetzes vom 29. Juni 1983 (in der Fassung gemäss § 260 StG).
Aus den Erwägungen
1.1. Das frühere, bis 2000 geltende Recht kannte ab 1991 eine
allgemeine Mindeststeuer der juristischen Personen (§ 19
ter
AStG in
der Fassung vom 11. September 1990), entsprechend § 88 StG, nicht
aber eine Mindeststeuer auf Grundstücken analog zu § 89 StG. Le-
diglich für die steuerbefreiten juristischen Personen war eine Grund-
steuer von § 2 %
o
auf dem Steuerwert derjenigen Grundstücke sta-
tuiert, die ihnen zur Hauptsache durch den Vermögenswert und -er-
trag dienten (§ 13 Abs. 2 des Steuergesetzes [aStG] vom 13. Dezem-
ber 1983; vgl. dazu Marianne Klöti-Weber, in: Kommentar zum Aar-
gauer Steuergesetz, [1. Auflage] Muri/Bern 1991, § 13 aStG N 94 ff.
sowie den BGE in StE 2001, A 21.16 Nr. 7, der die Grundsteuer in
dieser Ausgestaltung als verfassungswidrig erkannte).
Für das neue Steuergesetz war ursprünglich keine Änderung
vorgesehen. Erst in der Vorlage zur zweiten Beratung durch den
Grossen Rat schlug der Regierungsrat einen neuen § 86a "Mindest-
steuer auf Grundstücken" vor (vgl. dazu Botschaft des Regierungs-
rats zur Totalrevision des aargauischen Steuergesetzes [Bericht und
Entwurf zur 2. Beratung] vom 19. August 1998, S. 48 f.). Zur Be-
gründung wurde ausgeführt:
"Seit Jahren entrichten die grossen Versicherungsgesellschaften ohne
Sitz und Betriebsstätte im Kanton äusserst bescheidene, den wirtschaftli-
chen Verhältnissen nicht angemessene Steuern. ... Die Mehrheit der Kantone
kennt deshalb eine Mindeststeuer auf Grundeigentum, um zumindest ein
minimales Steuersubstrat sicherzustellen. ... Die Grundsteuer soll einfach
ausgestaltet sein. Als Vorlage könnte die Grundsteuer der juristischen Per-
sonen mit besonderen Zwecken dienen, welche auf den Steuerwerten basie-
ren. Da für die Liegenschaften von ordentlich besteuerten juristischen Per-
sonen keine Steuerwerte existieren, wird hier auf die Buchwerte abgestellt.
2005
Verwaltungsgericht
110
Die Buchwerte dürften im Durchschnitt tendenziell höher liegen als die
Steuerwerte nach § 50, doch ist durchaus vertretbar, dass die ordentlich
besteuerten Gesellschaften etwas stärker belastet werden als die gemein-
nützigen Institutionen. Eine Mindeststeuer von 2 %o bringt auf der Basis
der Buchwerte schätzungsweise einen Ertrag von rund 2,5 Mio. Franken. ...
Die Mindeststeuer tritt an die Stelle der Gewinn- und Kapitalsteuer, wenn
sie die auf Reingewinn und Eigenkapital geschuldeten Steuern übertrifft. ..."
Der vorgeschlagene § 86a wurde unter Herabsetzung des Steu-
ersatzes auf 1,5 %
o
und mit einer textlichen Verbesserung zum jetzi-
gen § 89 StG.
1.2. In der Botschaft wurde ausdrücklich auf die "grossen
ausserkantonalen Versicherungsgesellschaften" hingewiesen, auf
welche die neue Bestimmung gemünzt sei. Noch weitergehend
wurde in der grossrätlichen Kommission anfänglich behauptet, von
der neuen Regelung seien nur die grossen ausserkantonalen Versiche-
rungsgesellschaften betroffen, die im Kanton Liegenschaften be-
sitzen (Protokoll der Sitzung vom 25. September 1998, S. 126 f.,
Voten Dr. D. Siegrist). Schon an der gleichen Sitzung wurden an
dieser Auffassung jedoch Zweifel geäussert (Protokoll, S. 128, Voten
Dr. U. Hofmann), und ein Antrag Dr. E. Stieger, die Bestimmung
ausdrücklich auf Kapitalgesellschaften und Genossenschaften ohne
Sitz und Betriebsstätte im Kanton einzuschränken, wurde wegen der
möglichen Rechtsungleichheit abgelehnt (Protokoll, S. 127 f., Voten
RR Dr. U. Siegrist, Dr. D. Siegrist, R. Gloor, Kommissionspräsident
Dr. R. Rohr), mit der ausdrücklichen Begründung, entgegen dem
Wortlaut der Botschaft müsse diese Bestimmung im Extremfall auch
auf eine aargauische Gesellschaft zutreffen können (Protokoll,
S. 128, Votum Dr. R. Rohr). Nach zusätzlichen Abklärungen durch
das KStA war man sich an der Sitzung vom 26. Oktober 1998 einig,
dass auch ertragslose kantonale Immobiliengesellschaften von der
Mindeststeuer erfasst würden, es sich dabei allerdings um eine kleine
Anzahl handeln werde (Protokoll, S. 269 f., Voten E. Hunziker,
Dr. E. Stieger). Im Plenum des Grossen Rates führte der Kom-
missionspräsident Dr. R. Rohr aus, die neue Bestimmung betreffe
insbesondere ausserkantonale Gesellschaften, die im Aargau über
Liegenschaftsbesitz verfügten, aus rechtlichen Gründen unterstünden
2005
Kantonale Steuern
111
ihr aber auch Unternehmungen mit Sitz im Aargau. Die neue Steuer
solle gemäss Nachrechnung, wegen des Einbezuges innerkantonaler
Gesellschaften, trotz reduziertem Satz unverändert 2,5 Mio. Fr. ein-
bringen (Protokoll des Grossen Rates, 1997-2001, S. 1468).
Ohnehin war von Anfang an offensichtlich, dass auch "ge-
wöhnliche" innerkantonale Gesellschaften erfasst werden sollten
bzw. zumindest darunter fallen würden; sonst wären beispielsweise
die bereits im regierungsrätlichen Entwurf vorhandenen Ausnahmen
gemäss Abs. 2 gar nicht erforderlich gewesen (was sich auch klar aus
der Botschaft, S. 49, ergibt). Hätte der Grosse Rat dies verhindern
wollen, wäre dazu klarerweise eine Änderung des vorgeschlagenen
Gesetzestextes im Sinne des Antrags Dr. E. Stieger erforderlich ge-
wesen.
Dass der Gesetzgeber mit der grundsätzlichen Anwendbarkeit
auch auf innerkantonale (Immobilien-)Gesellschaften einig ging,
ergibt sich aus dem Vorangehenden mit Klarheit. Die Behauptung der
Beschwerdeführerin, nach dem historischen Willen des Gesetzgebers
hätten nur die ausserkantonalen Versicherungsgesellschaften von
dieser Gesetzesbestimmung betroffen sein sollen, beruht auf einer
Selektion aus den Materialien und stellt vor dem dargestellten
Hintergrund eine unzulässige Behauptung dar. Sie unterstellt dem
Gesetzgeber (Grosser Rat, Stimmbürger) ausserdem, er sei unfähig,
einen klaren und in dieser Beziehung zu keinerlei Missverständnis-
sen Anlass gebenden Gesetzestext zu begreifen.
1.3. Minimalsteuern auf Grundstücken sind Objektsteuern, wel-
che in zahlreichen Kantonen erhoben werden, wenn sie zu einem
höheren Steuerbetrag als die ordentlichen Steuern führen. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind sie verfassungsrechtlich
zulässig, wenn sie auf juristische Personen Anwendung finden, bei
denen die ordentliche Besteuerung, basierend auf dem ausgewiese-
nen Reinertrag und dem Eigenkapital, nicht zu einer hinreichenden
Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit führt (in
diesem Sinne dienen sie dazu, den Effekt legaler Vorkehren zur Steu-
erminimierung zu beschränken); weiter ist es zulässig, mit einer sol-
chen Steuer eine minimale fiskalische Belastung der im Kanton ge-
legenen unbeweglichen Güter sicherzustellen (BGE vom 12. Dezem-
2005
Verwaltungsgericht
112
ber 2003 in Sachen X.-Baugenossenschaft [2P.80/2003], Erw. 2.1.2
mit Hinweisen). Diese beiden Zwecke (angemessene Berücksich-
tigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; minimale fiskalische
Belastung der Immobilien im Kanton) stehen auch hinter dem neuen
§ 89 StG (vorne Erw. 1.1).
3.1. Die Beschwerdeführerin behauptet, sie besitze ausschliess-
lich
Betriebsgrundstücke
im Sinne von § 89 Abs. 2 lit. b StG, welche
von der (Bemessung der) Mindeststeuer ausgenommen seien. Dies
begründet sie damit, dass die Ausnahmen von § 89 Abs. 2 StG weit
auszulegen seien, um dem Willen des Gesetzgebers auf äusserste
Zurückhaltung bei der Anwendung der Mindeststeuer auf Grund-
stücken Rechnung zu tragen. Bei Immobiliengesellschaften, deren
Tätigkeit über die blosse Vermögensverwaltung hinausgehe, komme
einem grösseren Immobilienkomplex eine eigenständige betriebliche
Funktion zu.
3.2. Schon der Ausgangspunkt dieser Argumentation ist zu
verwerfen. Wie bereits ausgeführt (vorne Erw. 1), ist kein gesetzge-
berischer Wille zu erkennen, die Anwendung von § 89 StG vollstän-
dig oder weitestgehend auf ausserkantonale Versicherungsgesell-
schaften zu beschränken. Demgemäss ist der Bereich der Ausnahmen
in Abs. 2 nach normalen Auslegungskriterien zu erschliessen.
Begriffe wie Unternehmen oder Unternehmung, Betrieb, Ge-
schäft und Gewerbe werden alles andere als einheitlich verwendet
(vgl. BGE 110 Ib 18 ff.; BGE 115 Ib 266 ff. = StE 1990, B 23.7
Nr. 3; StE 1990, B.72.15.3 Nr. 1; Francis Cagianut/Ernst Höhn,
Unternehmungssteuerrecht, 3. Aufl. Bern/Stuttgart/Wien 1993,
§ 1
Rz. 2
). Wie sich aus den zitierten Entscheiden des Bundesgerichts
ohne weiteres erkennen lässt, muss ihr Inhalt jeweils aus dem
konkreten Regelungskontext abgeleitet werden. Die Vorinstanz ist
davon ausgegangen, dass unter "Betrieb" eine Tätigkeit im Industrie-
oder Gewerbebereich und nicht eine Handels- oder Ver-
waltungstätigkeit u.ä. verstanden wird. Ob das in dieser allgemeinen
Form zutrifft, oder ob bei Handels- oder Verwaltungsbetrieben allen-
falls darauf abzustellen ist, ob am fraglichen Ort - wie beispielsweise
bei einer Handels- oder Verwaltungszentrale - Arbeitnehmer beschäf-
tigt werden, braucht vorliegend keiner abschliessenden Beurteilung,
2005
Kantonale Steuern
113
da § 89 Abs. 2 lit. b StG jedenfalls das vorinstanzliche Verständnis
zugrunde liegt. Dies lässt sich vor allem daraus ableiten, dass es bei
einer Auslegung, wie sie von der Beschwerdeführerin befürwortet
wird, der weiteren Ausnahmebestimmung von lit. c gar nicht mehr
bedurft hätte, da die unter das WEG fallenden Gesellschaften und
Genossenschaften wohl durchwegs mit allen ihren Grundstücken
schon unter die Ausnahme der lit. b fielen. Mit der Vorinstanz ist
deshalb festzuhalten, dass die der Beschwerdeführerin gehörenden
Miethäuser nicht als Betriebsgrundstücke im Sinne von § 89 Abs. 2
lit. b StG gelten können (vgl. auch BGE 110 Ib 21, wonach bei der
Annahme, die Vermietung von Liegenschaften sei Gegenstand eines
geschäftlichen Betriebes "grösste Zurückhaltung" geboten sei, selbst
wenn wegen des Umfangs eine kaufmännische Buchhaltung geführt
werde). Inhaltlich entspricht dies der basel-städtischen Regelung, die
das Bundesgericht in ASA 58/1989-90, S. 58 ff. zu beurteilen hatte
und die ausdrücklich statuiert, die blosse Verwaltung und Nutzung
des Grundstückes oder der Handel mit diesem gelte nicht als Betrieb
(siehe ASA 58/1989-90, S. 61).
4.1.1. Gemäss § 89 Abs. 2 lit. c StG sind Kapitalgesellschaften
und Genossenschaften, welche die Voraussetzungen für Bundeshilfe
nach Art. 51 und 52 WEG erfüllen, von der Mindeststeuer ausge-
nommen. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe für eines
ihrer Grundstücke Bundeshilfe nach WEG erhalten und sei somit mit
Bezug auf dieses Grundstück dem WEG unterstellt. Aus dem Zweck
der genannten StG-Bestimmung ergebe sich, dass diese auch an-
teilsmässig auf einzelne Grundstücke angewendet werden sollte).
4.1.2. In einer groben Unterteilung unterscheidet das WEG vier
Arten von finanzieller Hilfe: Erschliessungshilfe und Hilfe für vor-
sorglichen Landerwerb (Art. 12 ff., 21 ff.), Massnahmen zur Verbilli-
gung der Mietzinse (Art. 35 ff.), Förderung des Wohneigentums
(Art. 47 ff.) und Förderung von Trägern und Organisationen des
gemeinnützigen Wohnungsbaus (Art. 51 f.). Für die Mietzins-
verbilligung und die Wohneigentumsförderung werden Leistungen
an die Eigentümer/Vermieter (Art. 39, 42 WEG; Art. 14 VWEG)
bzw. an die potentiellen Eigentümer (Art. 47 f. WEG; Art. 36
VWEG) erbracht, und zwar immer bezogen auf eine bestimmte
2005
Verwaltungsgericht
114
Wohnliegenschaft. Als Empfänger der Erschliessungshilfe und Hilfe
für vorsorglichen Landerwerb kommen öffentlichrechtliche
Körperschaften sowie Träger und Organisationen des Wohnungs-
baues, die aufgrund öffentlichrechtlicher Verpflichtungen Land für
den Wohnungsbau erschliessen, in Frage (Art. 12, 22 WEG; Art. 3
VWEG). Die Förderung von Trägern und Organisationen des
gemeinnützigen Wohnungsbaues erfolgt durch direkte finanzielle
Leistungen, die nicht an ein bestimmtes Wohnobjekt gebunden sind,
wobei die Leistungsempfänger gewichtige Mindestanforderungen
hinsichtlich Zweckbestimmung, Zwecksicherung, Geschäftsführung
und Statuten erfüllen müssen (Art. 51 f. WEG; Art. 55 f. VWEG).
Indem § 89 Abs. 2 lit. c StG auf Art. 51 f. WEG verweist, steht
nur die vollständige Steuerbefreiung einer Gesellschaft oder Ge-
nossenschaft in Frage; eine anteilsmässige Steuerbefreiung, wie von
der Beschwerdeführerin beantragt, ist ausgeschlossen; sie würde den
Gesetzeszweck denn auch nur unvollständig erfüllen. Der erwähnte
BGE vom 12. Dezember 2003, wo der Anspruch auf Zusatzverbilli-
gungen (nach Art. 35 ff. WEG), der eine grundstücksbezogene Be-
trachtungsweise und Befreiung von der Steuerpflicht ermöglichen
würde, als taugliches Abgrenzungskriterium bezeichnet wurde, be-
zieht sich auf das Luzerner Recht, das die Ausnahme von der Mini-
malsteuer auf Grundstücken anders regelt (vgl. Erw. 2.1.1 des ge-
nannten BGE), und kann daher nicht herangezogen werden.
4.1.3. Die Beschwerdeführerin behauptet selber nicht, sie falle
unter die Träger und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungs-
baus im Sinne von Art. 51 f. WEG. Es fällt daher weder eine voll-
ständige noch eine teilweise Ausnahme von der Mindeststeuer auf
Grundstücken in Betracht.
4.2.1.1. Die
Zuschläge gemäss § 90 lit. a und b StG
erfolgen
"auf der einfachen Kantonssteuer vom steuerbaren Reingewinn und
Eigenkapital". Was die einfache (100%ige) Kantonssteuer ist, wird in
§ 2 Abs. 1 StG definiert, nämlich die im ersten und zweiten Teil des
Gesetzes festgelegten Einkommens-, Vermögens- und Grundsteuern
"sowie die im dritten Teil festgelegten Gewinn- und Kapitalsteuern".
Die Gewinn- und die Kapitalsteuer sind im dritten Teil "Gewinn- und
Kapitalsteuern der juristischen Personen" in den Abschnitten "B: Ge-
2005
Kantonale Steuern
115
winnsteuer" (§§ 67-81 StG) bzw. "C: Kapitalsteuer" (§§ 82-87 StG)
geregelt und basieren, in Übereinstimmung mit dem allgemeinen
Begriffsverständnis, auf dem Reingewinn und dem Eigenkapital als
Bemessungsgrundlage (vorne lit. A). Die allgemeine Mindeststeuer
(§ 88 StG) und die Mindeststeuer auf Grundstücken (§ 89 StG) sind
demgegenüber im Abschnitt "D: Mindeststeuer und Zuschläge zur
Kantonssteuer" untergebracht. Während sich aber § 88 StG nahtlos in
das generelle System der Steuerbemessung einfügt (vgl. dazu
nachfolgend Erw. 4.2.1.2.), handelt es sich bei § 89 StG um etwas
anderes als die Gewinn- und die Kapitalsteuer, wie sich namentlich
aus der Bemessungsgrundlage ersehen lässt; die Mindeststeuer auf
Grundstücken tritt vielmehr, sofern sie höher ist,
an die Stelle
der
Gewinn- und Kapitalsteuer (Peter Eisenring, in: Kommentar zum
Aargauer Steuergesetz, 2. Auflage, Muri/Bern 2004, § 89 N 5). Wohl
lautet der Titel des dritten Teils, in dem auch die §§ 88-90 StG
stehen, "Gewinn- und Kapitalsteuern der juristischen Personen";
doch kann dieser Titel allein, wenn noch weitere Steuern geschaffen
werden, nicht bewirken, dass diese anderen Steuern zu Gewinn- und
Kapitalsteuern transformiert würden. Wenn schliesslich in § 2 Abs. 4
StG ausdrücklich festgehalten ist, auf den Erbschafts- und Schen-
kungssteuern und auf den Grundstückgewinnsteuern würden keine
Zuschläge erhoben, so kann das zwar als Hinweis gewertet werden,
dass auf den hier nicht ausdrücklich erwähnten Steuern Zuschläge
vorgesehen sind; doch kommt diesem Argument wenig Gewicht zu,
da die Nichterwähnung in einer "Negativliste" dem bei Steuern
strengen Erfordernis an die gesetzliche Grundlage für die Steuerer-
hebung - bzw. hier für die Erhöhung des Steuerbetrages -
(vgl. Art. 127 Abs. 1 BV; BGE 128 II 117) kaum genügen kann.
In seinem mehrfach zitierten Präjudiz (Entscheid vom 11. Sep-
tember 2003 in Sachen R. GmbH) geht das Steuerrekursgericht von
der Formulierung in § 88 StG aus, wo die statuierten Ansätze aus-
drücklich als einfache (100%ige) Kantonssteuer bezeichnet werden.
Dass eine analoge Formulierung in § 89 StG fehle, könne einerseits
bedeuten, dass die Mindeststeuer auf Grundstücken nicht als einfa-
che Kantonssteuer zu begreifen sei, andererseits aber ebenso gut die
Meinung haben, dass die Regelung bei der allgemeinen Mindest-
2005
Verwaltungsgericht
116
steuer sich auch auf die besondere Mindeststeuer auf Grundstücken
beziehe; der Wortlaut lasse somit keine eindeutigen Schlüsse zu.
Dem könnte indessen nur zugestimmt werden, wenn die Mindest-
steuer auf Grundstücken tatsächlich als ein Unterfall zur allgemeinen
Mindeststeuer erschiene. Dies trifft jedoch nicht zu; vielmehr handelt
es sich um eine besondere, von speziellen Voraussetzungen ab-
hängige und im Anwendungsfall viel höhere Steuer als die allge-
meine Mindeststeuer (vgl. dazu im Einzelnen nachfolgend
Erw. 4.2.1.2.), weshalb es unsachgemäss ist, zu ihrer Auslegung
(oder Lückenfüllung) auf die Regelung bei der allgemeinen Mindest-
steuer zurückzugreifen.
4.2.1.2. Die Mindeststeuer gemäss § 88 StG kommt zum Zuge,
wenn die einfache Kantonssteuer, berechnet auf der ordentlichen
Bemessungsgrundlage (Reingewinn, Eigenkapital), weniger als die
dort genannten Mindestbeträge ergibt. Reingewinn und Eigenkapital
werden fiktiv so angehoben, dass sich für die einfache Kantonssteuer
diese Mindestbeträge ergeben.
Die Steuer von 1,5 %
o
auf dem Buchwert der im Kanton gele-
genen Grundstücke kommt dagegen zum Zuge, "sofern
diese Min-
deststeuer
höher ist als die geschuldete ordentliche Gewinn- und
Kapitalsteuer" (§ 89 Abs. 1 StG), wobei als "ordentliche Gewinn-
und Kapitalsteuer" - im Gegensatz zur "einfachen Kantonssteuer"
(§ 88 StG) - unstreitig die Steuer unter Berücksichtigung aller Zu-
schläge gilt. Als Bemessungsgrundlage dienen bei § 89 Abs. 1 StG
nicht der Reingewinn und das Eigenkapital (in effektiver oder ge-
mäss § 88 StG erhöhter Grösse), sondern der Buchwert der Grund-
stücke, und die Bemessung der Steuer erfolgt auf grundlegend andere
Weise. Für die subsidiäre Anwendung als Mindeststeuer muss diese
in ihrer
endgültigen
Höhe
mit der ordentlichen Gewinn- und Kapital-
steuer verglichen werden, und ist die Umschreibung in § 89 Abs. 1
StG als solche anzusehen. Anschliessende Erhöhungen, gemäss § 90
StG, erscheinen als systemwidrig.
4.2.1.3. Zur Berechnung der Mindeststeuer auf Grundstücken
bzw. zum Zusammenhang zwischen § 89 und § 90 StG ist den Mate-
rialien nichts zu entnehmen. Dem Hinweis in der Botschaft (S. 49),
dass die Grundsteuer gemäss § 13 Abs. 2 aStG (wo die Zuschläge
2005
Kantonale Steuern
117
erfolgten [StE 1997, B 71.62 Nr. 6]) als Vorlage diene, kommt in
diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu, da jene nicht als subsi-
diäre Mindeststeuer ausgestaltet war.
4.2.1.4. Das KStA bringt vor, ohne Anwendung der Zuschläge
fehlte es an einer Regelung für die Aufteilung der Steuererträge zwi-
schen Kanton und Gemeinden (Einspracheentscheid, S. 5). Das trifft
zwar zu, ist aber von geringer Bedeutung, da es hier zunächst um die
Frage geht, ob die gesetzliche Regelung für die Erhebung der Zu-
schläge ausreicht. So wie das Fell des Bären erst verteilt werden
kann, wenn er erlegt ist, kann eine Aufteilung a priori nur bezüglich
derjenigen Steuern erfolgen, für die eine genügende gesetzliche
Grundlage besteht.
4.2.1.5. Wortlaut und Gesetzessystematik sprechen insgesamt
recht eindeutig gegen die Zulässigkeit der Zuschläge gemäss § 90
lit. a und b StG bei der Mindeststeuer auf Grundstücken. Gewichtige
Gegenargumente, die zu einem anderen Schluss führen müssten,
fehlen. Zusammenfassend ergibt die Auslegung somit, dass die Zu-
schläge gemäss § 90 lit. a und b StG auf die Mindeststeuer auf
Grundstücken (§ 89 StG) keine Anwendung finden.
4.2.2. Der Zuschlag gemäss § 6 lit. b des Finanzausgleichsge-
setzes beträgt 15 % "auf der einfachen Gewinn- und Kapitalsteuer"
gemäss StG. § 15 Abs. 1 Spitalgesetz spricht von einem zweckge-
bundenen Zuschlag zur hundertprozentigen Staatssteuer der natürli-
chen und juristischen Personen. Schon vom Wortlaut her können für
die Auslegung von § 89 Abs. 1 StG die vorangehenden Darlegungen
zu den Zuschlägen gemäss § 90 StG ohne Einschränkung übertragen
werden. § 6 lit. a des Finanzausgleichsgesetzes enthält zwar eine
auffällig abweichende Terminologie (Zuschlag "auf der ordentlichen
Kantonssteuer"), doch spricht auch diese im vorliegend interessie-
renden Zusammenhang nicht für eine abweichende Betrachtungs-
weise.
4.3. Die in § 89 Abs. 1 StG statuierte Mindeststeuer auf Grund-
stücken beträgt somit 1,5 %
o
des Buchwerts der im Kanton gelege-
nen Grundstücke,
ohne Zuschläge
.
5.1.1. Die Steuern sind grundsätzlich so auszugestalten, dass sie
der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
der Steuersubjekte Rechnung
2005
Verwaltungsgericht
118
tragen (Art. 127 Abs. 2 BV; § 119 Abs. 1 KV). Die grundsätzliche
Zulässigkeit von "Minimalsteuern auf Ersatzfaktoren" (d.h. auf einer
anderen Bemessungsgrundlage als dem Reingewinn und dem Eigen-
kapital) bei juristischen Personen ergibt sich aus Art. 27 Abs. 2 StHG.
Die Beschwerdeführerin ist indessen der Meinung, bei ge-
winnstrebigen Unternehmungen dürften als Massstab für die wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit ausschliesslich der Reinge-
winn/Reinverlust und das Eigenkapital herangezogen werden; werde
in einem bestimmten Geschäftsjahr ein Verlust ausgewiesen, sei eine
Mindeststeuer unzulässig.
5.1.2. In einem Entscheid aus dem Jahre 1988 (ASA 58/1989-
90, S. 58 ff.) hat sich das Bundesgericht ausführlich mit der Frage
befasst, ob eine Minimalsteuer auf dem Grundeigentum ver-
fassungswidrig sei, und dabei zum Argument, diese sei mit dem Ge-
bot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
unvereinbar und verstosse daher gegen Art. 4 der Bundesverfassung
[aBV] vom 29. Mai 1974, ausgeführt (S. 63):
"Wo unter den Aktiven einer Kapitalgesellschaft Grundstücke von be-
sonderer Bedeutung sind, wie namentlich bei einer Immobiliengesellschaft,
kann sie sich nicht nur mittels Grundpfandsicherheiten überdurchschnittlich
viel Kredit beschaffen und so mit besonders wenig Eigenkapital und Ertrag
auskommen. Sie kann ausserdem von steigenden Grundstückwerten profi-
tieren und ein anhaltendes Wachstum ihres Vermögenswerts erzielen, ohne
entsprechende Reinerträge auszuweisen. Beides erhöht offensichtlich ihre
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, ohne dass die Ertragskraft in steuerbaren
Reinerträgen erfassbar wäre und die Kapitalbesteuerung auf der Grundlage
der Bilanzwerte die entsprechend erhöhten Fiskaleinnahmen brächte, ge-
schweige denn das Vermögenswachstum erfassen liesse. Sucht der Steuer-
gesetzgeber daher die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit juristischer Perso-
nen mit bedeutendem Grundstückbesitz im System der Reinertrags- und
Kapitalbesteuerung durch besondere Massnahmen wie eine Minimal-
Grundstücksteuer zu erfassen, so verletzt diese noch nicht Art. 4 (aBV)."
Selbst im interkantonalen Verhältnis werde ein Anspruch des
Liegenschaftskantons anerkannt, in Fällen, in denen seine ordentli-
chen Ertrags- und Kapitalsteuern auf dem Grundeigentum niedriger
ausfallen würden, wenigstens eine minimale Abgabe an die dem
2005
Kantonale Steuern
119
Gemeinwesen zugunsten des Grundeigentums erwachsenden Lasten
sicherzustellen (S. 67 f.).
Hieran hat das Bundesgericht in späteren Entscheiden festge-
halten (StR 1995, S. 555 ff. Erw. 1/b; erwähnter BGE vom
12. Dezember 2003, Erw. 2.1.2). Im letztgenannten Entscheid hat es
ausgeführt, eine Minimalsteuer könne sowohl von nicht gewinnstre-
bigen als auch von gewinnstrebigen Unternehmungen erhoben wer-
den, "sofern geeignete Vorkehren gewährleisten, dass sie nicht not-
leidende Unternehmen trifft, die nicht in der Lage wären, den der
Besteuerung zu Grunde gelegten minimalen Gewinn zu erzielen"
(Erw. 2.1.4). Dieses Argument wurde allerdings vorher - so auch in
den vom Bundesgericht zitierten älteren Entscheiden (BGE 96 I 572;
ASA 54/1985-86, S. 171) - einzig bei Minimalsteuern auf den
Bruttoeinnahmen
verwendet, und die Übernahme dieses Kriteriums
auf die Minimalsteuer auf Grundstücken wird nicht näher begründet.
Sie ist inhaltlich keineswegs selbstverständlich (die Minimalsteuer
auf Grundstücken beruht, anders als die Minimalsteuer auf den
Bruttoeinnahmen, nicht auf der Zugrundelegung eines erzielbaren
minimalen Gewinns) und verneint im Ergebnis den (in der Begrün-
dung, Erw. 2.1.2, weiterhin bejahten) Anspruch des Kantons, eine
minimale Abgabe auf dem Grundeigentum sicherzustellen. Dement-
sprechend wäre eine begründete Aussage über das gegenseitige Ver-
hältnis der beiden Grundsätze bzw. Argumentationen erforderlich. Da
es hieran vollständig fehlt, ist zu bezweifeln, dass das Bundesgericht
bezüglich der Minimalsteuer auf Grundstücken eine Praxisänderung
im Sinne einer Verschärfung der Voraussetzungen beabsichtigte.
Auch seine neueste Rechtsprechung mit dem Ziel, Ausschei-
dungsverluste einzuschränken, anerkennt die weiterhin geltende
Steuerhoheit des Liegenschaftskantons (StE 2005, A 24.43.1 Nr. 15,
Erw. 4.1), was eine entsprechende Gestaltungsfreiheit - innerhalb der
Vorgaben des StHG - mit umfasst.
Im Folgenden ist deshalb davon auszugehen, dass § 89 StG
nach der bisherigen und weiterhin geltenden bundesgerichtlichen
Rechtsprechung grundsätzlich auch bei Anwendung auf gewinnstre-
bige juristische Personen mit dem Grundsatz der Besteuerung nach
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vereinbar ist. Daran ändert
2005
Verwaltungsgericht
120
auch die (nur) bei der ordentlichen Steuerbemessung mögliche Ver-
lustverrechnung (Art. 25 Abs. 2 StHG; § 74 Abs. 1 StG) nichts.
5.1.3. ... Bei Immobilien-Anlagen im Buchwert von immer
noch Fr. 11'300'000.-- (welche der Beschwerdeführerin eine relativ
hohe, aber nicht ungewöhnliche Fremdfinanzierung ermöglichten),
Brutto-Mieteinnahmen von fast Fr. 1'000'000.-- und ausgewiesenen
Reinverlusten, die primär durch auffallend hohe Abschreibungen
bewirkt wurden, kann nicht im Ernst gesagt werden, die Steuer von
knapp Fr. 17'000.-- im Jahr verletze den Grundsatz der Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
5.2. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung braucht es
ausserordentlich viel, um eine gegen die Eigentumsgarantie ver-
stossende
konfiskatorische Besteuerung
zu bejahen (vgl. StE 1997,
A 22 Nr. 2; ASA 56/1987-88, S. 441 f.). Im vorliegenden Fall, wo in
den Jahren 2000 und 2001 ohne Abschreibungen Reingewinne von
mehreren Hunderttausend Franken ausgewiesen worden wären, sind
diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
5.3. Gestützt auf eine Kommentarstelle (Eisenring, a.a.O., § 89
N 4) macht die Beschwerdeführerin geltend, das Abstellen auf den
Buchwert statt auf den Steuerwert bedeute eine ungeeignete und
damit willkürliche Bemessungsgrundlage. Dadurch würden Immobi-
liengesellschaften, die ihre Liegenschaften erst vor kurzer Zeit er-
worben hätten und demzufolge vergleichsweise hohe Buchwerte
auswiesen, gegenüber Gesellschaften mit Altbesitz und vergleichs-
weise niedrigen Buchwerten benachteiligt. Dies trifft allerdings von
vornherein nur dann zu, wenn Abschreibungen zugelassen werden,
welche die tatsächliche Wertverringerung übersteigen (andernfalls
sind die Buchwertunterschiede ja wirtschaftlich durch den unter-
schiedlichen Wert der Liegenschaften gerechtfertigt), zur Bildung
von stillen Reserven führen und damit streng genommen nicht im
Sinne von § 36 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a StG geschäftsmässig begrün-
det sind. Selbst wenn in der Veranlagungspraxis die Zulassung ten-
denziell zu hoher Abschreibungen alltäglich ist (vgl. insbesondere
§ 19 Abs. 2 StGV vom 11. September 2000; Philip Funk, in:
Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, § 36 N 10 f.), lässt sich
nicht sagen, das Abstellen auf den Buchwert sei derart unsachgemäss
2005
Kantonale Steuern
121
und geradezu willkürlich, dass die ganze Norm als nichtig erscheine
und nicht angewendet werden dürfe.
Der Beschwerdeführerin gehört ausschliesslich "Altbesitz", der
aus der Einzelfirma ihrer Rechtsvorgängerin übernommen wurde und
auf dem schon in der Einzelfirma Abschreibungen vorgenommen
werden konnten. Selbst wenn das Abstellen auf den Buchwert un-
sachgemäss sein sollte, würde sich dies tendenziell zu Gunsten, nicht
zu Ungunsten der Beschwerdeführerin auswirken, sodass sie keinen
Grund hat, sich über eine allfällige Benachteiligung zu beschweren.
5.4. Bei einer Mindeststeuer von 1,5 %
o
des Buchwertes kann,
auch wenn es an der exakten Vergleichbarkeit fehlt, davon ausg-
egangen werden, dass keine Schlechterstellung gegenüber einer in-
terkantonal geltenden Höchstgrenze von 2 %
o
des Steuerwertes vor-
liegt (vgl. auch Sitzung der grossrätlichen Kommission vom
26. Oktober 1998, Protokoll, S. 270, Votum Dr. D. Siegrist). Selbst
wenn es also bei vollständig innerkantonalen Verhältnissen ein
Konstrukt wie ein "
umgekehrtes Schlechterstellungsverbot
" gäbe,
käme es hier nicht zur Anwendung. | 7,014 | 5,730 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-28_2005-08-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-28.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-28.pdf | AGVE_2005_28 | null | nan |
38bd9fba-2c57-5578-ac16-54a20776f8c5 | 1 | 412 | 871,961 | 1,133,654,400,000 | 2,005 | de | 2006
Sozialhilfe
225
VIII. Sozialhilfe
43 Berücksichtigung von bevorschussten Kinderunterhaltsbeiträgen als
eigene Mittel.
-
Streitgegenstand; Form der Wiedererwägung (Erw. I/2-3).
-
Formelle Anforderungen an die Gewährung und Anpassung der
Alimentenbevorschussung (Erw. II/3).
-
Die Berücksichtigung der bevorschussten Unterhaltsbeiträge als ei-
gene Mittel genügt i.c. den formellen Anforderungen nicht
(Erw. II/4.1).
-
Die Bevorschussung von Kinderzulagen ist nicht zulässig
(Erw. II/4.2).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 22. Dezember 2005 in Sa-
chen R.G. gegen das Bezirksamt Lenzburg.
Aus den Erwägungen
I.
2.
2.1.
Das Rechtsmittelverfahren ist durch den Streitgegenstand be-
grenzt, der seinerseits durch die angefochtene Verfügung, das An-
fechtungsobjekt, bestimmt wird. Nur was Gegenstand des Verwal-
tungsverfahrens war oder im verwaltungsinternen Beschwerdever-
fahren zusätzlich geregelt wurde, kann im verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahren Streitgegenstand sein. Der Verfügungsge-
genstand ergibt sich aus der erstinstanzlichen Verfügung in Verbin-
dung mit dem entsprechenden Gesuch, soweit sie auf ein solches hin
erging. Als zweites Element sind die Parteibegehren heranzuziehen,
die den Streitgegenstand auf Teile des jeweiligen Anfechtungsobjekts
beschränken können (vgl. BGE 125 V 413 Erw. 1 f.; AGVE 1999,
2006
Verwaltungsgericht
226
S. 368; Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontroll-
verfahren nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungs-
rechtspflege [Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Diss. Zürich
1998, § 38 N 3, § 39 N 24 f.; Alfred Kölz / Jürg Bosshart / Martin
Röhl, VRG, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des
Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, Vorbem. zu §§ 19-28 N 86;
Alfred Kölz / Isabelle Häner, Verwaltungsverfahren und Verwal-
tungsrechtspflege des Bundes, 2. Auflage, Zürich 1998, Rz. 403 ff.).
2.2.
Eine Verfügung kann gemäss § 25 Abs. 1 VRPG auf Gesuch ei-
nes Betroffenen durch die erstinstanzlich zuständige Behörde in
Wiedererwägung gezogen werden. Die Wiedererwägung ist ein
formloser Rechtsbehelf, der keinen Anspruch auf Prüfung und Be-
urteilung vermittelt, sofern die Pflicht zur Behandlung nicht gesetz-
lich vorgesehen, sich aus einer entsprechenden Verwaltungspraxis
bzw. aus dem Verbot der formellen Rechtsverweigerung und dem
Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt (siehe Merker, a.a.O., § 45
N 50; Ulrich Häfelin / Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht,
4. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2002, Rz. 1828 ff., insb. Rz. 1832
f.). Wird von der verfügenden Instanz ein neuer Sachentscheid erlas-
sen, wird die ursprüngliche Verfügung gegenstandslos, und gegen die
neue Verfügung steht das Rechtsmittelverfahren offen (AGVE 1994,
S.
459 f. mit Hinweisen; BGE 116 V 62 Erw.
3a und
117 V 8 Erw. 2a).
3.
3.1.
Mit Beschluss vom 10. November 2003 hat die Gemeinde A die
materielle Hilfe für die Beschwerdeführerin neu berechnet und dem
Bezirksamt beantragt, die Beschwerde "im vorerwähnten Sinne ab-
zuhandeln". Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführerin die mate-
rielle Hilfe in der neu berechneten Höhe ausbezahlt. Es stellt sich da-
her die Frage, ob die Gemeinde A dadurch ihren Entscheid vom
22. September 2003 in Wiedererwägung gezogen hat.
3.2.
Gemäss § 23 VRPG sind Verfügungen und Entscheide als sol-
che zu bezeichnen (Abs. 1). Soweit einem Begehren nicht voll ent-
2006
Sozialhilfe
227
sprochen wird, hat die Eröffnung der Verfügung eine Rechtsmittel-
belehrung zu enthalten (Abs. 3). Diese allgemeinen formellen Erfor-
dernisse gelten auch für Verfügungen und Entscheide, mit denen eine
frühere Verfügung in Wiedererwägung gezogen wird (§ 25 i.V.m.
§ 23 Abs. 1 VRPG; siehe vorne Erw. 2.2).
Vorliegend hat der Gemeinderat A am 10. November 2003 we-
der eine neue Verfügung erlassen noch diese als solche bezeichnet,
und der Beschluss enthält auch keine Rechtsmittelbelehrung. Abge-
sehen davon, dass die Beschwerdeführerin nicht Adressatin dieses
Entscheides war, war für sie auch gar nicht erkennbar, dass der Ge-
meinderat A damit die ursprüngliche Verfügung aufgehoben hat, zu-
mal er in Ziff. 1 seines Beschlusses einen Antrag zuhanden des Be-
zirksamtes stellte. Der Beschluss vom 10. November 2003 vermag
somit den formellen Anforderungen an eine Wiedererwägungsverfü-
gung nicht zu genügen.
3.3.-4.2. (...)
II.
1.-2.1. (...)
2.2.
Das Verwaltungsgericht hat vom Gemeinderat A die Verfügun-
gen zur Bevorschussung der Unterhaltsbeiträge der Kinder und der
Kinderzulagen angefordert. Aus den eingereichten Verfügungen er-
gibt sich Folgendes:
- Mit Verfügung vom 21. Juni 1993 wurden Kinderunterhaltsbei-
träge im Gesamtbetrag von Fr. 1'653.35 bevorschusst und der Be-
schwerdeführerin persönlich eine materielle Unterstützung in der
Höhe von Fr. 1'054.-- gewährt.
- Am 6. Dezember 1993 verfügte der Gemeinderat A die Bevor-
schussung der Kinderzulagen von Fr. 420.-- in Ergänzung zum Be-
schluss vom 21. Juni 1993, wobei der Unterstützungsbeitrag für
die Beschwerdeführerin um die Kinderzulagen auf Fr. 1'474.-- er-
höht wurde.
- In der Verfügung vom 22. September 2003 wurden als eigene
Mittel der Klägerin Unterhaltsbeiträge von Fr. 1'981.-- eingesetzt.
Dieser Betrag ergibt sich aus den bevorschussten Unterhaltsbeiträ-
2006
Verwaltungsgericht
228
gen für den Sohn D. von Fr. 685.--, für M. von Fr. 634.-- und für
S. von Fr. 662.--.
- Den im Beschluss vom 10. November 2003 angerechneten Unter-
haltsbeiträgen von Fr. 2'039.-- liegen die unveränderten Unter-
haltsbeiträge für D. und M. sowie die Erhöhung für S. ab dem
13. Altersjahr zugrunde.
3.
Über die Gesuche um Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen
nach § 32 ff. SPG entscheidet die zuständige Gemeinde (§ 36 Abs. 1
SPG). Sie hat die erforderlichen Verfügungen zu erlassen (§ 44
SPG). Gemäss § 29 Abs. 5 SPV hat die Gemeinde den Anspruch auf
Bevorschussung mindestens einmal jährlich zu überprüfen. Für das
Verfahren gelten die Bestimmungen des VRPG (§ 58 Abs. 4 SPG).
Gemäss § 23 VRPG sind Verfügungen und Entscheide als solche zu
bezeichnen, zu eröffnen (Abs. 1) und zu begründen oder mit Hin-
weis, dass eine Begründung verlangt werden kann (Abs. 4), im Dis-
positiv zu eröffnen (siehe vorne Erw. I/3.2).
4.
4.1.
Wie sich aus den nachgereichten Verfügungen ergibt, hat der
Gemeinderat seit dem Entscheid über die Bevorschussung der Unter-
haltsbeiträge vom 21. Juni 1993 keine Verfügungen über die An-
passung oder Änderung der Bevorschussung eröffnet. Die Berück-
sichtigung der bevorschussten Unterhaltsbeiträge als eigene Mittel
(Einnahmen) in den Entscheiden über die (persönliche) materielle
Hilfe an die Beschwerdeführerin mit dem blossen Hinweis, dass die
Kinderalimente von der Gemeinde bevorschusst werden, genügt den
formellen Anforderungen an einen Entscheid über die Bevorschus-
sung oder Anpassung der Kinderalimente nicht. Aus den Beschlüssen
vom 22. September 2003 und 10. November 2003 ist auch nirgends
ersichtlich, dass und wie der Gemeinderat über die Bevorschussung
der Kinderalimente neu entschieden hat.
Gleiches gilt für die Abänderung der mit Verfügung vom
6. Dezember 1993 gewährten Bevorschussung der Kinderzulagen. Es
ist aus den Akten und den Verfügungen nirgends ersichtlich, ob und
wann der Gemeinderat diese zusätzliche Bevorschussung der Kin-
2006
Sozialhilfe
229
derzulagen seit Dezember 1993 aufgehoben oder angepasst hat. Auch
der Widerruf oder die Aufhebung der Verfügung vom 6. Dezember
1993 betreffend die Bevorschussung der Kinderzulagen bedarf einer
entsprechenden formell rechtmässigen Verfügung (siehe vorne
Erw. I/3.2).
4.2.
In diesem Zusammenhang ist allerdings festzuhalten, dass nach
dem System des SPG nur die Kinderunterhaltsbeiträge bevorschusst
werden können (§ 32 SPG und § 27 Abs. 4 SPV). Die Kinderzulagen
dürfen nach dem Gesetz nicht bevorschusst werden. Sie sind gemäss
Art. 285 Abs. 2 ZGB vom Unterhaltspflichtigen zusätzlich zum Un-
terhaltsbeitrag zu zahlen, sofern sie ihm zustehen. Ihre Ausrichtung
an die Kinder bzw. deren gesetzliche Vertreterin kann mittels einer
Anweisung an den Arbeitgeber des Unterhaltsverpflichteten voll-
streckt werden (Art. 291 ZGB).
Die fehlende Bevorschussung von Kinderzulagen in der ange-
fochtenen Verfügung vom 22. September 2003 und im Antrag der
Gemeinde vom 11. November 2003 ist daher materiell nicht zu bean-
standen, entbindet aber die Sozialbehörden nicht, über ein ent-
sprechendes Gesuch der Beschwerdeführerin oder über die Aufhe-
bung einer unrechtmässigen Bevorschussung in einer formell recht-
mässigen Verfügung zu entscheiden. | 2,082 | 1,624 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-43_2005-12-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-43.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-43.pdf | AGVE_2006_43 | null | nan |
39067a4a-3988-5047-be58-793ab9d35799 | 1 | 412 | 869,846 | 1,556,755,200,000 | 2,019 | de | 2019
Steuern und Abgaben
65
7
Schenkungssteuer
Privilegierter Steuersatz bei Schenkungssteuer für in Wohngemeinschaft
Lebende: Voraussetzungen, unter denen eine Wohngemeinschaft ange-
nommen werden kann
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 1. Mai 2019,
in Sachen C. gegen KStA (WBE.2018.378).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Die Vorinstanz verneinte das Vorliegen einer Wohngemeinschaft
im Sinne von § 147 Abs. 2 lit. a StG, weil die Beschwerdeführerin
eine 3 Zimmer-Wohnung im ersten Stock links und der Lebens-
partner eine 3 Zimmer-Wohnung im Parterre links bewohnen würden
und somit zwei eigenständige, voll ausgerüstete Wohnungen mit
zwei separaten Eingängen zur Verfügung stünden.
1.2.
Die Beschwerdeführerin macht dagegen geltend, sie und ihr
Lebenspartner bewohnten nicht je eine separate Wohnung, sondern
gemeinsam vor allem die Wohnung im ersten Stock. Die Wohnung
im Parterre werde aus Platzgründen gemeinsam bspw. für Besuche
von Familienangehörigen benutzt. Sie würden gemeinsam in den
beiden Wohnungen zusammenwohnen.
1.3.
Das KStA will demgegenüber, gleich wie die Vorinstanz, den
privilegierten Tarif der Klasse 1 nur dann gewähren, wenn eine
klassische Wohngemeinschaft vorliegt. Darunter sei eine Gemein-
schaft in einer einzigen Wohnung oder in einem Einfamilienhaus zu
verstehen. Dabei müsse das Näheverhältnis vollständig ausgeblendet
werden, da der Art der Beziehung keinerlei Bedeutung zukomme.
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
66
2.
2.1.
Gemäss § 147 Abs. 1 StG, in der vom 1. Januar 2011 bis
31. Dezember 2012 geltenden Fassung, wird die Steuer nach dem
steuerbaren Betrag des Vermögensanfalls und nach dem Verwandt-
schaftsgrad der steuerpflichtigen Person zur erblassenden, schenken-
den oder zuwendenden Person berechnet. Für die Verwandtschafts-
grade gelten gemäss Abs. 2 folgende Klassen:
a) Klasse 1: Eltern, Stiefeltern und Pflegeeltern, sofern das
Pflegeverhältnis während mindestens 2 Jahren bestanden hat, sowie
Personen, die mit der zuwendenden Person während mindestens 5
Jahren in Wohngemeinschaft (gleicher Wohnsitz) gelebt haben;
b) Klasse 2: Geschwister und Grosseltern;
c) Klasse 3: alle weiteren steuerpflichtigen Personen.
Die Steuersätze für die verschiedenen Klassen sind in § 149
Abs. 1 StG festgelegt. § 54a Abs. 2 StGV konkretisiert die Wohnge-
meinschaft als gemeinsamen Haushalt an gleicher Adresse am
gleichen steuerlichen Wohnsitz. Der gemeinsame Haushalt muss bis
zum Zeitpunkt des Vermögensanfalls ununterbrochen angedauert
haben (§ 54a Abs. 1 StGV). Obwohl die Bestimmung erst am
1. Januar 2014 und damit nach der hier umstrittenen Schenkung in
Kraft getreten ist, darf diese bei der Auslegung des geltenden Rechts
mitberücksichtigt werden. Eine solche Konkretisierung bewirkt keine
unzulässige Vorwirkung (vgl. dazu Urteile des Verwaltungsgerichts
WBE.2013.524 vom 11. September 2014 E. 2.1 sowie BGE 117 II
467 E. 5a).
2.2.
Daraus hat das Verwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung in
einem Erbschaftssteuerfall geschlossen, dass das Erfordernis des ge-
meinsamen Haushalts gemäss § 147 Abs. 2 StG i.V.m. § 54a Abs. 2
StGV angesichts der vom Gesetzgeber gewollten moralischen Bei-
standspflicht ebenfalls als eng zu verstehende Wohngemeinschaft
auszulegen ist. Konkret muss danach zum einen ein gemeinsamer
Wohnsitz der Betroffenen vorliegen (Urteil des Verwaltungsgerichts
WBE.2013.524 vom 11. September 2014 E. 2.3). Darüber hinaus ist
erforderlich, dass der Erblasser mit der bedachten Person zwar nicht
2019
Steuern und Abgaben
67
im Konkubinat, aber in Wohngemeinschaft gelebt haben muss. Dabei
liegt die Beweislast für das Vorliegen einer solchen Wohngemein-
schaft als steuermindernde Tatsache beim Bedachten. Bei der
Nutzung von zwei vollständig ausgestatteten Wohnungen ist nicht
von einem gemeinsamen Haushalt im Sinne dieser Bestimmung aus-
zugehen, da jede Person ihren Alltag völlig autonom in der eigenen
Wohnung verbringen kann. Damit erfolgte eine Abgrenzung, die un-
abhängig von weiteren Kriterien im Einzelfall für die Frage einer
Wohngemeinschaft auf das Merkmal der gemeinsamen Wohnung ab-
stellt. Die auf diese Weise vorgenommene Abgrenzung, nämlich dass
eine Wohngemeinschaft bei zwei komplett ausgestatteten Woh-
nungen auszuschliessen ist, ist vor dem Hintergrund, dass in dieser
Situation das Leben jederzeit vollumfänglich auf die eigene Woh-
nung beschränkt werden kann, sachlich begründet (Urteil des Ver-
waltungsgerichts WBE.2017.74 vom 9. Juni 2017 E. 2.3 und 2.4, be-
stätigt durch das Urteil des Bundesgerichts 2C_685/2017 vom
6. Februar 2018 E. 4.4.4).
2.3.
Im Unterschied zu den soeben zitierten Urteilen, wo eine Erb-
schaft respektive eine Wohngemeinschaft unter Geschwistern zu be-
urteilen war, handelt es sich vorliegend um eine Schenkung zwischen
zwei Konkubinatspartnern. Solche nicht verwandtschaftlichen, je-
doch unter Umständen einer Ehe ähnlichen Beziehungen sind erst
mit Erlass des Steuergesetzes vom 15. November 1998 privilegiert
worden und auch dann nur, wenn während fünf Jahren eine Wohn-
gemeinschaft bestanden hat. Davor fielen solche Konstellationen in
die damals noch existierende Klasse 6 unter die Kategorie alle wei-
teren steuerpflichtigen Personen (§ 90 aStG vom 13. Dezember
1983). Die Aufnahme von mindestens fünfjährigen Wohngemein-
schaften begründete der Gesetzgeber mit der Nähe, welche zwischen
den in langjährigen Wohngemeinschaften lebenden Personen ent-
stehe (vgl. nichtständige Kommission Nr. 07 Steuergesetz , 23.
Sitzung vom 27. November 1997, Votum Dr. U. Hofmann, S. 378).
Diese stünden sich oftmals näher als Kinder und Eltern, Stiefeltern
und Pflegekinder, welche zu dieser Zeit noch in der ersten respektive
zweiten Klasse eingestuft waren. Solche Personen sollten steuerlich
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
68
honoriert werden, als wären sie Ehepaare (1. Lesung, 47. Sitzung des
Grossen Rats vom 5. Mai 1998, Votum M. Kuhn, S. 934).
Dabei wurde der Begriff Konkubinat bewusst vermieden, da
der Nachweis eines solchen kaum zu erbringen sei. Eine Wohn-
gemeinschaft unter gleichem steuerlichen Wohnsitz lässt sich hin-
gegen alleine aus den Akten belegen. Die Frist von fünf Jahren soll
sicherstellen, dass nur bevorzugt behandelt wird, wer zur zuwenden-
den Person ein persönliches Verhältnis hat, welches aufgrund seiner
Dauer nicht nur Rechte, sondern auch Beistandspflichten moralischer
Art begründet hat. (Botschaft des Regierungsrats vom 21. Mai 1997
zur Totalrevision der aargauischen Steuergesetze 97.002968, Bericht
und Entwurf zur 1. Beratung, § 146 S. 106). Das KStA wies bereits
in seinem Kurzkommentar vom 26. November 1993 zu den Vorent-
würfen für das revidierte Steuergesetz in den Ausführungen zu § 90
StG darauf hin, dass mit der Vermeidung des Begriffs Konkubinat
eine Ausweitung des Kreises der Begünstigten über das Konkubi-
natsverhältnis hinaus einhergehe.
2.4.
In Erbschaftssachen ist die Tatsache, ob der Erblasser mit einer
Person während fünf Jahren in Wohngemeinschaft gelebt hat, im
Nachhinein oft schwer überprüfbar. In solchen Fällen ist eine Beur-
teilung gestützt auf gewisse schematische Abgrenzungen zulässig
(Urteil des Bundesgerichts 2C_685/2017 vom 6. Februar 2018
E. 4.4.4). Solche Abklärungen zu Wohngemeinschaften bereiten
unter Umständen auch in Schenkungssteuerfällen Schwierigkeiten,
doch können hier, im Unterschied zu Sachverhalten bei der Erb-
schaftssteuer, wo der Erblasser naturgemäss nicht mehr befragt wer-
den kann, der Schenker und die Beschenkte Auskunft geben. Der
vorliegende Fall gibt daher Anlass, die mit Urteil des Verwaltungs-
gerichts WBE.2017.74 vom 9. Juni 2017 E. 2.3 und 2.4 (bestätigt
durch das Urteil des Bundesgerichts 2C_658/2017 vom 6. Februar
2018 E. 4.4.4) eingeführte Auslegung für die Belange der
Schenkungssteuer zu präzisieren.
Entgegen der Befürchtung des KStA erweisen sich die Beweis-
schwierigkeiten in Schenkungssteuerfällen nicht als unüberwindbar.
Infolgedessen ist eine schematische Beurteilung, wie sie in Erb-
2019
Steuern und Abgaben
69
schaftsfällen als richtig erscheint, jedenfalls dann nicht gerechtfer-
tigt, wenn sich ein wirklich gelebtes gefestigtes Konkubinat in einer
Wohngemeinschaft nachweisen lässt. Der Gesetzgeber hat zwar auf
die formalen Kriterien einer Wohngemeinschaft bei gleichem steuer-
lichem Wohnsitz abgestellt. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich
indessen klar, dass er dadurch in erster Linie Beweisschwierigkeiten
vermeiden, nicht jedoch gefestigte Konkubinate, bei denen die Part-
ner am gemeinsamen steuerlichen Wohnsitz zusammenleben, allein
deswegen, weil sie zwar räumlich eng miteinander verbunden, aber
nicht notwendigerweise in einer einzigen Wohnung zusammenleben,
von der durch § 147 Abs. 1 StG gewährten Privilegierung ausschlies-
sen wollte. Die Beschwerdeführerin ist daher zum Nachweis der
Wohngemeinschaft zuzulassen. Grundsätzlich bleibt es aber dabei,
dass eine Wohngemeinschaft das Zusammenleben von mindestens
zwei Personen in einer Wohnung, respektive in einem Einfamilien-
haus erfordert. Verfügen die Bewohner über mehrere Wohnungen,
bedarf es für die Annahme einer Wohngemeinschaft einer besonde-
ren Begründung durch den Nachweis eines langjährig gelebten Kon-
kubinats. Sehr gute nachbarliche Beziehungen in einem Mehrfami-
lienhaus fallen nicht unter den Begriff der Wohngemeinschaft
(MARTIN IMTHURN, in: MARIANNE KLÖTI-WEBER/DAVE
SIEGRIST/DIETER WEBER [Hrsg.], Kommentar zum Aargauer Steuer-
gesetz, 4. Auflage, Muri/Bern 2015, § 147 N 4).
3.
3.1.
Die Beschwerdeführerin und ihr Lebenspartner führen seit An-
fang der neunziger Jahre eine Paarbeziehung und bewohnen seit
1998 zwei Wohnungen im Mehrfamilienhaus des Lebenspartners,
welches über sechs Wohnungen verfügt. Unbestrittenermassen
handelt es sich bei der Lebensform der Beschwerdeführerin und ihres
Lebenspartners um ein Konkubinat. Während die Vorinstanz von
einer eheähnlichen Beziehung ausgeht, ist das KStA der Ansicht, die
Art der Beziehung müsse vollständig ausgeblendet werden. Entgegen
dieser Meinung ist die Art der Beziehung jedoch nicht unbedeutend,
denn der Gesetzgeber hatte den Begriff des Konkubinats ausschliess-
lich wegen Beweisschwierigkeiten vermieden und nicht, weil die
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
70
Beziehungsebene keine Rolle spielen sollte. Dies zeigt sich auch
darin, dass er Beistandspflichten moralischer Art, welche durch ein
enges und langjähriges Konkubinat entstehen, privilegieren wollte.
Ziel war es denn auch, eheähnliche Lebensweisen steuerlich zu
begünstigen (vgl. vorne E. 2.3).
3.2.
Wie aus der Rechtsprechung zum Ehe- und Scheidungsrecht
hervorgeht, wird unter einem gefestigten Konkubinat eine auf
längere Zeit, wenn nicht auf Dauer angelegte umfassende Lebensge-
meinschaft zweier Personen (...) mit grundsätzlich Ausschliesslich-
keitscharakter, die sowohl eine geistig-seelische als auch eine
wirtschaftliche Komponente aufweist , verstanden. In diesem Zu-
sammenhang ist auch von Wohn-, Tisch- und Bettgemeinschaft die
Rede. Massgebend sind die gesamten Umstände des Zusammen-
lebens. Ein gefestigtes Konkubinat hat zudem zur Folge, dass ein all-
fälliger Unterhaltsanspruch gegenüber dem (früheren) Ehepartner
entfällt, wenn eine derart enge Beziehung besteht, die ähnliche Vor-
teile bietet wie eine Ehe. Entscheidend ist dabei, ob der Unterhalts-
berechtigte mit seinem neuen Partner eine so enge Lebensgemein-
schaft bildet, dass dieser bereit ist, ihm Beistand und Unterstützung
zu leisten, wie es Art. 159 Abs. 3 ZGB von Ehegatten fordert (BGE
138 III 97 E. 2.3.3).
3.3.
Die Beschwerdeführerin vereinbarte mit ihrem Ex-Mann im
Jahre 2004, aufgrund des gelebten Konkubinats auf Unterhalt zu ver-
zichten. Bereits geraume Zeit davor, per 1. Dezember 1997, hatte der
aktuelle Lebenspartner eine Lebensversicherung über
CHF 250'000.00 abgeschlossen und die Beschwerdeführerin als Be-
günstigte eingesetzt. Im Jahre 2010 meldete der Lebenspartner die
Beschwerdeführerin ausserdem bei seiner Pensionskasse für eine Le-
benspartnerrente an. Im Unterschied zum Urteil des Verwaltungs-
gerichts WBE.2017.74 vom 9. Juni 2017, in dem es sich um eine
Erbschaft zwischen zwei Geschwistern handelte und die gesetzliche
Erbfolge zum Zug kam, geht es vorliegend um eine Schenkung von
CHF 250'000.00 zwischen zwei Konkubinatspartnern. Eine
Schenkung in dieser Grössenordnung zeigt bereits an sich eine er-
2019
Steuern und Abgaben
71
hebliche Verbundenheit, wie sie einer Ehe gemeinhin nachgesagt
wird. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten denn auch solche
Konkubinatspaare von der privilegierten Besteuerung gemäss der
Klasse 1 profitieren können. Jedenfalls zeigen diese Umstände ein-
deutig, dass es sich um ein gefestigtes Konkubinat handelt, was
durch die gerichtliche Befragung des Beschwerdeführers sowie ihres
Konkubinatspartners zur Wohnsituation bestätigt wurde.
4.
4.1.
4.1.1.
Befragt zur Wohnsituation führten die Beschwerdeführerin und
ihr Lebenspartner aus, dass sämtliche Wohnungen im Mehrfamilien-
haus vermietet seien mit Ausnahme der Parterre-Wohnung links,
welche zusammen mit der an die Beschwerdeführerin vermieteten
Wohnung im ersten Stock als Wohngemeinschaft genutzt werde. Die
anfangs verfolgte Absicht, die Parterre-Wohnung links mit jener
rechts zu verbinden und damit zu einer gemeinsamen Wohnung um-
zubauen, wofür auch Architekten-Pläne ausgearbeitet worden seien,
zeigt, dass eine tatsächlich gelebte Nähe zwischen der Beschwerde-
führerin und ihrem Lebenspartner bestand (und immer noch besteht)
sowie ein Bedürfnis nach einer grösseren, gemeinsamen Wohnung.
Aus sozialen Gründen - einer langjährigen Mieterin wollte der Le-
benspartner nicht kündigen - wurde das Projekt schliesslich nicht
mehr weiterverfolgt. Nach dem Versterben der langjährigen Mieterin
wäre zwar grundsätzlich die Gelegenheit zum Verbinden der beiden
Wohnungen da gewesen, da jedoch bereits etliche Sanierungsmass-
nahmen an der Parterre-Wohnung durchgeführt worden seien, habe
man aus ökonomischen Gründen darauf verzichtet. Der Verzicht ist
unter diesen Umständen durchaus nachvollziehbar - auch weil der
Lebenspartner bei der Befragung glaubhaft ausführte, es mache für
ihn keinen Unterschied, ob er nun innerhalb oder ausserhalb der
Wohnung in den ersten Stock gelange.
4.1.2.
Während die Küche im ersten Stock gemeinsam für die Ein-
nahme des Frühstücks und des Mittagessens genutzt werde, diene die
Küche im Parterre vorwiegend als Abstellplatz für grössere oder sel-
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
72
ten genutzte Küchengeräte sowie als Kochgelegenheit anlässlich von
Männerabenden des Lebenspartners. Beim Einzug der Beschwer-
deführerin in die vom Lebenspartner vorher allein bewohnte Woh-
nung hätten sich die Möbel in dem Sinne vermischt, dass einige der
Möbel im ersten Stock geblieben und einige in das Parterre verscho-
ben worden seien. Dies und die Tatsache, dass die Kleider auf beide
Wohnungen verteilt sind, spricht eher für das gemeinsame Bewohnen
beider Wohnungen.
Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände - die Be-
schwerdeführerin arbeitete bis zur Pensionierung im Jahre 2012 im
Unternehmen des Beschwerdeführers, welches sich im selben Ge-
bäude wie die beiden Wohnungen befindet - spricht die Inanspruch-
nahme der unteren Wohnung als temporärer Rückzugsort für den
Lebenspartner während ungefähr einer Stunde pro Tag nicht gegen
die Annahme einer Wohngemeinschaft in zwei Wohnungen. Auch in
einer grossen Wohnung mit zwei Etagen oder einem Einfamilienhaus
kann eine solche räumliche Trennung ohne weiteres ebenfalls statt-
finden. Beide Konkubinatspartner verfügen zudem über Schlüssel für
beide Wohnungen, wobei die Haustüren die meiste Zeit nicht abge-
schlossen seien.
4.1.3.
Gegen das Bestehen eines gemeinsamen Haushalts spricht der
von der Beschwerdeführerin mit dem Lebenspartner abgeschlossene
Mietvertrag über die Wohnung im ersten Stock. Anlässlich der Be-
fragung erklärten beide unabhängig voneinander, dass dieser zu Ab-
sicherungszwecken für die Beschwerdeführerin im Falle eines Vor-
versterbens des Lebenspartners erstellt worden sei, was nachvoll-
ziehbar erscheint. Eher ungewöhnlich erscheint, dass die Beschwer-
deführerin den Mietzins tatsächlich bezahlt. Der Lebenspartner be-
zahle im Gegenzug jedoch Einkäufe, Auswärtsessen und Ferien, wo-
bei er die Entrichtung des Mietzinses als Beitrag an das gemeinsame
Wohnverhältnis erachte. Eine solche Aufteilung der Lebenshaltungs-
kosten zwischen Konkubinatspaaren spricht nicht per se gegen ein
Vorliegen einer Wohngemeinschaft. Auch das Bestehen von zwei se-
paraten Festnetzanschlüssen erscheint zwar eher eigentümlich. Da
der Lebenspartner aber nach wie vor beruflich aktiv ist und sein Tele-
2019
Steuern und Abgaben
73
fonanschluss auf das Unternehmen lautet, wobei nicht entgegen-
genommene Anrufe offenbar in die Büroräumlichkeiten umgeleitet
werden, spricht auch dieser Umstand nicht gegen die Annahme einer
Wohngemeinschaft. Schliesslich verfügen die Beschwerdeführerin
und ihr Lebenspartner mit Ausnahme des Mietzinskontos für eine
gemeinsam erworbene Liegenschaft über kein gemeinsames Konto,
welches als Indiz für eine Gemeinschaftlichkeit der Mittel für die
Haushaltskosten zu werten wäre, doch werden die Haushaltskosten
offenbar tatsächlich gemeinsam bestritten. Es existiere weder ein
Budget, noch werde Buch geführt, mit Ausnahme betreffend den
Wohnraum.
Auf die Frage, ob sich die Beschwerdeführerin und ihr Lebens-
partner auch das Schlafzimmer teilen würden, machten sie folgende
Angaben: Während die Beschwerdeführerin ausführte, dass sie ein
schmales Bett in einem Zimmer habe und in der unteren Wohnung
ein Doppelbett stehe, wo gemeinsam genächtigt werde, sagte der Le-
benspartner aus, dass im ersten Stock ein Eheschlafzimmer bestehe
und dort gemeinsam geschlafen werde - im Parterre könne man aber
ebenso gemeinsam nächtigen. In besonderen Situationen (Schnar-
chen, medizinische Gründe) würden sie separat schlafen - in solchen
Fällen packe sie ihre Sachen und gehe hinauf in den ersten Stock.
Ungefähr drei Mal in der Woche würden sie beieinander schlafen.
Auf nachträgliche schriftliche Aufforderung hin, ihre Ausführungen
zu konkretisieren, stellte die Beschwerdeführerin dem Gericht am
19. Februar 2019 fotografische Aufnahmen von der Schlafsituation
zur Verfügung. Auf diesen Aufnahmen befinden sich ein Einzelbett
und ein Bettsofa in je einem Zimmer in der Wohnung im ersten
Stock und ein Doppelbett, aufgenommen in einem Zimmer der Par-
terre-Wohnung. Die Vertreterin der Beschwerdeführerin wies in die-
sem Zusammenhang darauf hin, dass gemäss übereinstimmenden
Aussagen der Beschwerdeführerin und des Lebenspartners in beiden
Wohnungen gemeinsam geschlafen werden könne. Beide Woh-
nungen würden gemeinsam genutzt und es werde regelmässig im
selben Bett genächtigt.
4.2.
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
74
Gestützt auf die gerichtliche Befragung ist davon auszugehen,
dass die Beschwerdeführerin und ihr Lebenspartner tatsächlich eine
Wohngemeinschaft in zwei übereinanderliegenden Wohnungen des-
selben Gebäudes führen.
Der Begriff Konkubinat wurde im Gesetzgebungsverfahren,
wie ausgeführt, bloss deshalb bewusst vermieden, weil der Nachweis
eines solchen problematisch ist. Ist aber in einem Schenkungssteuer-
fall eine Wohn-, Tisch- und Bettgemeinschaft mit einer über 20-
jährigen Dauer und entsprechenden moralischen Beistandspflichten
nachgewiesen, darf die steuerliche Privilegierung nicht einfach mit
dem formalen Kriterium Vorliegen von zwei Wohnungen verwehrt
werden, wenn Umstände wie hier gegeben sind (zwei direkt über-
einander liegende Wohnungen, gesamte Liegenschaft im Eigentum
eines Konkubinatspartners, langjährige Mitarbeit der Beschwerde-
führerin im Betrieb des Lebenspartners, Begünstigung der Be-
schwerdeführerin durch eine Lebensversicherung auf das Leben des
Lebenspartners, Schenkung dieses Versicherungskapitals von
CHF 250'000.00 im Erlebensfall, Anmeldung der Beschwerdeführe-
rin für eine Lebenspartnerrente bei der Pensionskasse des Lebens-
partners) und ein echtes Konkubinat vorliegt. In einer solchen
Konstellation erscheint es gerechtfertigt, vom Erfordernis abzu-
weichen, wonach die Wohngemeinschaft in ein und derselben Woh-
nung gelebt werden muss.
4.3.
Entgegen dem KStA liegt im vorliegenden Fall auch keine
systemwidrige Öffnung des Begünstigtenkreises vor, handelt es sich
doch eben gerade um ein langjähriges Konkubinat, welches der Ge-
setzgeber privilegieren wollte. Die vom KStA befürchteten Beweis-
schwierigkeiten sprechen auch nicht gegen die Zulassung des Nach-
weises einer Wohngemeinschaft in zwei unmittelbar angrenzenden
Wohnungen durch die Steuerpflichtigen. Der Beweis für solche
steuermindernden Tatsachen obliegt bekanntlich nicht den Steuer-
behörden, daher geht die Beweislosigkeit zu Lasten der Steuerpflich-
tigen. Die Steuerbehörden werden damit, entgegen der Befürchtung
des KStA, nicht wesentlich durch aufwendige und unangenehme
Beweisverfahren belastet, dies auch aufgrund der Tatsache, dass eher
2019
Steuern und Abgaben
75
von einer geringen Anzahl von Schenkungssteuerfällen auszugehen
ist, in denen eine tatsächlich gelebte Wohngemeinschaft in zwei un-
mittelbar benachbarten Wohnungen behauptet wird. In der Mehrzahl
solcher Sachverhaltskonstellationen mit zwei separaten Wohnungen
dürfte eben gerade keine vom Gesetz privilegierte Wohngemein-
schaft vorliegen. | 4,472 | 3,647 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-7_2019-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-7.pdf | AGVE_2019_7 | null | nan |
396530cc-38a8-5e02-9bb1-2555c6cb578b | 1 | 412 | 869,984 | 1,064,966,400,000 | 2,003 | de | 2003
Verwaltungsgericht
148
[...]
43 Anstaltseinweisung; Wiedererwägung; Rechtliches Gehör; Zwangsbe-
handlung im Rahmen einer Einweisung zur Untersuchung.
- Wird eine Einweisungsverfügung in Wiedererwägung gezogen, ist die
ursprüngliche Verfügung formell aufzuheben und eine neue Verfü-
gung zu erlassen. Dabei müssen wiederum alle formellen Erforder-
nisse erfüllt sein, insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör
(Erw. 2/a).
- Grundsätzliche Unterscheidung zwischen ordentlicher Einweisung
(zur Behandlung) und Einweisung zur Untersuchung (Erw. 2/b/aa-
dd).
- Eine Zwangsbehandlung i.S.v. § 67e
bis
Abs. 1 EGZGB ist
ausnahms-
weise
auch bei einer Anstaltseinweisung zur Untersuchung zulässig,
aber nur, wenn die verlangten und notwendigen Abklärungen nicht
anders bewerkstelligt werden können (Erw. 2/b/dd)
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 21. Oktober 2003 in
Sachen M.M. gegen Verfügung des Bezirksarztes B.
Aus den Erwägungen
2. a) Der Beschwerdeführer wurde am 1. Mai 2003 mit Verfü-
gung des Bezirksarztes B. zur Untersuchung betreffend Fremdge-
fährlichkeit und Beurteilung der Betreuungstauglichkeit in die PKK
eingewiesen. Der Beschwerdeführer liess jedoch die zur Abklärung
notwendigen Untersuchungen nicht zu. Auf Anregung des Oberarztes
der Klinik passte der Bezirksarzt am 2. Mai 2003 seine Verfügung
an, indem er den Auftrag auf "Behandlung und/oder Untersuchung"
erweiterte.
Dies ist aus dem Erscheinungsbild der Verfügung jedoch nicht
ersichtlich. Vielmehr wird der Eindruck vermittelt, als habe es nur
die Verfügung zur "Behandlung und/oder Untersuchung" gegeben, da
2003
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
149
auch die abgeänderte neue Verfügung mit dem 1. Mai 2003 datiert
ist. Die Vorgehensweise des Bezirksarztes entspricht einer Wieder-
erwägung i.S.v. § 25 VRPG. Um eine für alle Beteiligten unzumut-
bare Rechtsunsicherheit zu vermeiden, ist dann, wenn eine Einwei-
sungsverfügung in Wiedererwägung gezogen wird, die ursprüngliche
Einweisungsverfügung formell aufzuheben und eine neue, neu da-
tierte Verfügung zu erlassen; dabei müssen wiederum alle formellen
Erfordernisse erfüllt sein, insbesondere - jedenfalls wenn die neue
Verfügung für den Betroffenen belastender ausfällt als die ursprüng-
liche - der Anspruch auf eine persönliche Anhörung gemäss § 67k
lit. a EGZGB und § 15 VRPG (vgl. AGVE 1983, S. 121). Die neue
Verfügung des Bezirksarztes war somit formell mangelhaft.
b) aa) In AGVE 1982, S. 130 f. hat das Verwaltungsgericht ent-
schieden, dass die massgeblichen Einweisungsgründe und -zwecke in
der Einweisungsverfügung selber enthalten sein und so dem Einge-
wiesenen und der Anstalt zur Kenntnis gebracht werden müssen.
Insbesondere muss der Klarheit halber in der Einweisungsverfügung
selber ausdrücklich angeführt sein, wenn es sich nicht um eine or-
dentliche Einweisung (im Sinne von Art. 397a ZGB), sondern um
eine Einweisung zur Untersuchung gemäss § 67d EGZGB handelt
(AGVE 1994, S. 350 f.; 1982, S. 138).
bb) Die erste Verfügung des Bezirksarztes B. lautete auf "Un-
tersuchung - bis über die Fremdgefährlichkeit entschieden werden
kann. Beurteilung der Betreuungstauglichkeit". Die zweite Verfü-
gung lautet genau gleich mit dem Zusatz, dass neu die Rubrik "Be-
handlung" angekreuzt wurde. Die zweite Verfügung enthält somit
Elemente einer Einweisung zur Untersuchung und einer (definitiven)
Einweisung zur Behandlung. Beiden Verfügungen ist jedoch kein
Hinweis zu entnehmen, dass der Bezirksarzt B. das Vorliegen einer
Geistesschwäche oder Geisteskrankheit als Einweisungsgrund ab-
schliessend bejaht hätte, was Voraussetzung für eine definitive Ein-
weisung wäre. In seiner Eingabe vom 9. Mai 2003 bestätigt der Be-
zirksarzt denn auch, dass er in seiner Verfügung keine Geistesschwä-
che oder Geisteskrankheit diagnostiziert habe. Sein Auftrag habe auf
Abklärung und Behandlung gelautet. Mit der Beurteilung der
Fremdgefährlichkeit hätte auch eine Diagnose einhergehen sollen.
2003
Verwaltungsgericht
150
In seiner Eingabe vom 9. Mai 2003 hält der Bezirksarzt weiter
fest, dass der zuständige Klinikarzt ihm telefonisch mitgeteilt habe,
dass auf Grund des schweren Erregungszustands des Beschwerde-
führers eine Abklärung nicht möglich sei. Der Klinikarzt bat ihn
deshalb, die Verfügung auf "Behandlung" auszuweiten, um eine Se-
dation (und als Folge davon die verlangte Abklärung) zu ermögli-
chen.
cc) Hieraus geht deutlich hervor, dass die Einweisung des Be-
schwerdeführers einzig der Untersuchung und Abklärung einer
Fremdgefährlichkeit und der Behandlungs- und Betreuungsmöglich-
keit dienen sollte. Offensichtlich hielt der zuständige Klinikarzt zur
Durchführung der Abklärungen eine Zwangsmedikation für notwen-
dig, sah jedoch in der Einweisung zur Untersuchung keine rechtsge-
nügliche Grundlage dazu. Mit der Ausweitung der Verfügung auf
"Behandlung" wollte der Bezirksarzt eine Zwangsmedikation als
Voraussetzung der verlangten Abklärung ermöglichen. Nach wie vor
war indessen bloss eine Einweisung zur Untersuchung beabsichtigt.
dd) Eine Zwangsbehandlung im Sinne von § 67e
bis
Abs. 1
EGZGB ist in aller Regel nur im Rahmen einer definitiven fürsorge-
rischen Freiheitsentziehung zulässig, ausnahmsweise aber auch bei
einer Anstaltseinweisung zur Untersuchung, wenn die verlangten und
notwendigen Abklärungen anders nicht bewerkstelligt werden kön-
nen (vgl. VGE I/145 vom 23. Juli 2002 [BE.2002.00244] in Sachen
M.Z., S. 5). Es ist verständlich, dass sich der zuständige Klinikarzt
absichern wollte. Wenn der Bezirksarzt aber ohne die verlangte Un-
tersuchung ausserstande war, die Voraussetzungen und die Begrün-
detheit einer ordentlichen Anstaltseinweisung zu bejahen, hätte er
nicht eine Einweisung zur Behandlung (was zwingend eine definitive
Einweisung impliziert) anordnen dürfen. Korrekt wäre es gewesen,
an der Einweisung zur Untersuchung festzuhalten und die Klinik
darauf hinzuweisen, dass diese Einweisung zur Untersuchung ganz
ausnahmsweise auch eine Zwangsbehandlung rechtfertigen könne,
wobei der Ausnahmesachverhalt nach den Ausführungen des Klinik-
arztes offenbar gegeben sei.
ee) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es sich bei der an-
gefochtenen Verfügung
materiell
um eine Einweisung zur Untersu-
2003
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
151
chung im Sinne von § 67d EGZGB handelt. Dies wurde indessen erst
im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens klar,
da das
formelle
Vorgehen des Bezirksarztes fehlerhaft war und zu
erheblicher Unsicherheit führte.
(...) | 1,463 | 1,172 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-43_2003-10-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-43.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-43.pdf | AGVE_2003_43 | null | nan |
3a2e8787-747d-5f3c-bca2-92fd93730b80 | 1 | 412 | 870,852 | 1,327,449,600,000 | 2,012 | de | 2012
Verwaltungsgericht
150
[...]
22 Gewässerschutz;
Normenkontrolle
-
§ 91 Abs. 2
bis
lit. a der Kantonsverfassung ermächtigt den Regie-
rungsrat zum Erlass von kantonalem Ausführungsrecht innerhalb
der vom Bundesrecht vorgegebenen inhaltlichen Gestaltungsmög-
lichkeiten (Erw. 4.2 und 4.3).
-
Nach Bundes- und kantonalem Bau- und Umweltrecht ist die Recht-
setzungsbefugnis des Regierungsrats auf den Erlass von Vollzieh-
ungsbestimmungen im engeren Sinn beschränkt (Erw. 4.4).
-
Die §§ 3-6 der Vollzugsverordnung zur Gewässerschutzverordnung
des Bundes (VV GSchV) vom 25. Januar 2012 (SAR 781.221) sind
wegen fehlender Rechtsetzungsbefugnis des Regierungsrats aufzuhe-
ben (Erw. 5).
-
Bis zur Festlegung des Gewässerraumes gelten die Gewässerabstän-
de gemäss Abs. 2 der Übergangsbestimmungen zur Änderung der
Gewässerschutzverordnung vom 4. Mai 2011 (AS 2011, S. 1963)
(Erw. 6).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 27. September 2012 in
Sachen A. et al. gegen Kanton Aargau (WNO.2012.2).
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
151
Aus den Erwägungen
4.
4.1.
Nach dem Grundsatz der Gesetzmässigkeit (Legalitätsprinzip)
ist jedes staatliche Handeln an das Gesetz gebunden (Art. 5 Abs. 1
BV; § 2 KV). Das Gesetzmässigkeitsprinzip hat neben der rechts-
staatlichen Funktion auch eine demokratische Dimension, indem es
die Rechtsetzungsbefugnis des ordentlichen Gesetzgebers vom
Kompetenzbereich anderer rechtsetzender Behörden abgrenzt. Mit
dem Vorrang des Gesetzes als Teilgehalt gewährleistet das Gesetz-
mässigkeitsprinzip sodann die Gewaltenteilung, indem es die Re-
gelungsbefugnisse auf die verschiedenen am Rechtsetzungsprozess
beteiligten Behörden verteilt (Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/
Markus Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Bern 2009,
Rz. 2 und Rz. 12 zu § 19).
4.2.
Der Erlass von Verordnungen durch den Regierungsrat gestützt
auf § 91 Abs. 2
bis
lit. a KV setzt in erster Linie voraus, dass ein Bun-
desgesetz den Zweck und die Grundsätze der inhaltlichen Gestaltung
der Verordnung festlegt, so dass ein Rahmen vorgegeben ist, in wel-
chem der Regierungsrat in eigener Kompetenz Recht setzen kann.
Fehlt eine solche Rahmenordnung auf Gesetzesstufe, besteht grund-
sätzlich und mit Ausnahme von - im vorliegenden Fall nicht rele-
vantem - Dringlichkeitsrecht (§ 91 Abs. 2
bis
lit. b KV) keine Recht-
setzungskompetenz des Regierungsrats. Die Rechtsetzungsbefugnis
des Regierungsrats in § 91 Abs. 2
bis
KV ist keine delegierte, sondern
eine unmittelbare Verordnungskompetenz, die sich nicht auf Voll-
zugsregeln im engeren Sinn beschränkt. Die verfassungsrechtliche
Verordnungskompetenz begründet indessen keine Kompetenz zu
eigenständiger Rechtsetzung; sie ist vielmehr inhaltlich beschränkt:
Zweck und Grundsätze ("alle wichtigen Bestimmungen") müssen
vom Grossen Rat in einem formellen Gesetz oder Dekret erlassen
werden (vgl. Kurt Eichenberger, Verfassung des Kantons Aargau,
Textausgabe mit Kommentar, Aarau/Frankfurt a.M./Salzburg 1986,
N 13 zu § 78, N 4 und 5 zu § 91 Abs. 2).
2012
Verwaltungsgericht
152
4.3.
Auf Grund der Materialien ist davon auszugehen, dass für die
Rechtsetzung zur Ausführung von Bundesrecht gestützt auf § 91
Abs. 2
bis
lit. a KV die gleichen Voraussetzungen wie beim Ausfüh-
rungsrecht zum kantonalen Recht gelten (vgl. dazu Botschaft des
Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 30. Mai
2001, 01.158 [sogenannte Demokratiereform; Bericht und Entwurf
zur zweiten Beratung], S. 11 und 12; Protokoll des Grossen Rates
[Prot. GR] vom 18. Dezember 2008, Art. 375, S. 495 [Votum des
Präsidenten der Kommission]). Es geht daher um Bestimmungen, die
von ihrer Bedeutung her auch in einem rein kantonalen Rechtset-
zungsverfahren ebenfalls auf Verordnungsstufe normiert werden
könnten. Der Erlass von Vollzugsbestimmungen zu Bundesrecht auf
dem Verordnungsweg durch den Regierungsrat erfordert daher, dass
der Zweck und die Grundsätze der inhaltlichen Gestaltung der Ver-
ordnung sich aus dem Bundesrecht ergeben müssen und keine wich-
tigen Bestimmungen zu erlassen sind (vgl. dazu AGVE 2004, S. 257;
1997, S. 154; Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtsetzung als
Problem der demokratischen Kompetenzordnung, Basel 1979,
S. 110 f.).
Nach den von der Lehre entwickelten Kriterien beurteilt sich
die Wichtigkeit von Bestimmungen insbesondere nach der Zahl der
Adressaten und der geregelten Sachverhalte, der Intensität eines Ein-
griffs, der politischen Bedeutung sowie der finanziellen Auswirkun-
gen, Akzeptanz und Üblichkeit (vgl. dazu Georg Müller, Elemente
einer Rechtsetzungslehre, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2006, N 211;
Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 6. Aufl., Zürich/St. Gallen 2010, N 397 f.; Giovanni
Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft,
Zürich 2007, Art. 164 N 5 f.; BGE 128 I 113, Erw. 3c).
Auch wenn § 91 Abs. 2
bis
lit. a KV als Delegationsnorm ver-
standen wird, sind die Grundsätze der Delegation legislatorischer
Befugnisse auf die Exekutive (Verordnungsgeber) zu beachten
(BGE 134 I 322, Erw. 2.6.3, in: Praxis 2009 Nr. 62, S. 403;
AGVE 2007, S. 148 f.). Der Regierungsrat kann ergänzende Verfah-
rensregeln erlassen, einzelne Gesetzesbestimmungen präzisieren oder
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
153
Gesetzeslücken durch Verordnung schliessen; ausgeschlossen ist
hingegen die Einführung von Normen auf dem Verordnungsweg,
welche die Grundrechte beschränken oder den Rechtsgenossen
Pflichten auferlegen, selbst dann, wenn diese Bestimmungen mit
dem Gesetzeszweck übereinstimmen (BGE 136 I 29, Erw. 3.3). Für
den Erlass solcher Bestimmungen bedarf der Regierungsrat einer
ausdrücklichen Delegation im übergeordneten (Gesetzes-) Recht
(vgl. dazu BGE 134 I 125; 134 I 322, Erw. 2.2, 2.4, in: Praxis 2009
Nr. 62, S. 403; BGE 133 I 110, Erw. 6, in: Praxis 2007 Nr. 123,
S. 829 mit Hinweisen; AGVE 2004, S. 257 mit Hinweis; Ulrich
Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaats-
recht, 8. Aufl., Zürich 2012, Rz. 1872; Häfelin/Müller/Uhlmann,
a.a.O., Rz. 407 und 411; Tschannen/Zimmerli/Müller, a.a.O., Rz. 38
zu § 19; Biaggini, a.a.O., Art. 164 N 5 f.).
4.4.
4.4.1.
Art. 36a Abs. 1 GSchG in der ab 1. Januar 2011 geltenden Fas-
sung verpflichtet die Kantone, den Raumbedarf der oberirdischen
Gewässer so festzulegen, dass sie die natürliche Funktion der Ge-
wässer, den Schutz vor Hochwasser und die Gewässernutzung ge-
währleisten; Einzelheiten regelt der Bundesrat (Abs. 2). Sodann sor-
gen die Kantone dafür, dass die Gewässer bei der Richt- und Nut-
zungsplanung berücksichtigt sowie extensiv gestaltet und bewirt-
schaftet werden (Abs. 3 Satz 1).
Gestützt auf die Delegationsnorm erliess der Bundesrat in den
Art. 41a GSchV (Gewässerraum für Fliessgewässer), Art. 41b
GSchV (Gewässerraum für stehende Gewässer), Art. 41c GSchV
(extensive Gestaltung und Bewirtschaftung des Gewässerraums) und
Art. 41d GSchV (Planung von Revitalisierungen) Ausführungsvor-
schriften zur Festlegung des Gewässerraums. Die Werte für die
Ausdehnung des Gewässerraums in Art. 41a f. GSchV enthalten
Minimalvorschriften, welche zur Gewährleistung des Schutzes vor
Hochwasser und der natürlichen Funktionen der Gewässer notwen-
dig sind. Sie tragen den weiteren Interessen insoweit Rechnung, als
die Breite des Gewässerraumes im dicht überbauten Gebiet den bau-
lichen Gegebenheiten angepasst werden kann. Der Bundesrat hat
2012
Verwaltungsgericht
154
darauf verzichtet, eine Mindestbreite bei grossen Fliessgewässern
festzuschreiben. Art. 41a Abs. 2 lit. b GSchV regelt den Gewässer-
raum für Fliessgewässer bis 15 m Breite. Bei den über 15 m breiten
Flüssen und Seen wollte er den Kantonen genügend Möglichkeiten
geben, den Gewässerraum im Einzelfall funktionsgerecht festzule-
gen. Die allgemeine Regelung zur Festlegung des Gewässerraums in
der Gewässerschutzverordnung ist nicht abschliessend, d.h. es bedarf
kantonaler Ausführungsvorschriften, welche Regelungslücken
schliessen (vgl. dazu Hans W. Stutz, Raumbedarf der Gewässer - die
bundesrechtlichen Vorgaben für das Planungs- und Baurecht, in:
Zürcher Zeitschrift für öffentliches Baurecht [PBG] 2011/4, S. 15 f.;
ders., Uferstreifen und Gewässerraum - Umsetzung durch die Kan-
tone, in: URP 2012, S. 109 ff.).
Die Kantone haben den Gewässerraum nach Anhörung der Ei-
gentümer und betroffenen Grundstückbenutzer im Einzelfall festzu-
legen. Nach den Intentionen des Bundesgesetzgebers vollziehen die
Kantone die Sicherung des Gewässerraums in einem raumplaneri-
schen Verfahren (Erläuternder Bericht des Bundesamts für Umwelt
[BAFU] vom 20. April 2011, S. 4, abrufbar unter: www.news.ad-
min.ch; vgl. auch Stellungnahme des Bundesrates zur Motion
"Vollzug der Revitalisierung der Gewässer" vom 23. Mai 2005,
Ziff. 6 [Curia Vista 12.3334], abrufbar unter: www.parlament.ch; vgl.
dazu auch Stutz, a.a.O., URP 2012, S. 116 ff.).
4.4.2.
Die Vollzugskompetenzen beim Gewässerschutzgesetz liegen
generell bei den Kantonen, welche die erforderlichen Vorschriften
erlassen (Art. 45 GSchG). Der Bund beaufsichtigt den Vollzug und
koordiniert die Gewässerschutzmassnahmen der Kantone (Art. 46
Abs. 1 und 2 GSchG). Die Bundesvollzugskompetenzen in Art. 48
GSchG betreffen Ausnahmen, welche ihre Rechtsgrundlage in an-
dern Bundesgesetzen oder Staatsverträgen haben und im vorliegen-
den Fall nicht relevant sind. Die Delegation der Vollzugskompetenz
im Gewässerschutzgesetz bedeutet, dass der Bund einen Teil seiner
Rechtsetzungsbefugnis an den Kanton überträgt und die Kantone
beauftragt und damit ermächtigt, die delegierten Sachbereiche durch
kantonale Normen zu regeln. Form und Inhalt des kantonalen Aus-
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
155
führungsrechts und auch die Zuständigkeit zur Rechtsetzung be-
stimmen sich nach kantonalem Recht (Häfelin/Haller/Keller, a.a.O.,
Rz. 1151 f.).
Art. 45 GSchG erfasst den Vollzug im engeren Sinn (vgl. dazu
Tobias Jaag, Die Verordnung im schweizerischen Recht, in: ZBl
112/2011, S. 642 ff. mit Hinweisen), d.h. all jene Anordnungen und
Massnahmen, die zur Umsetzung des materiellen Bundesrechts im
Gewässerschutzgesetz und den Ausführungsvorschriften notwendig
sind. Dieses Verständnis des Vollzugsbegriffs ergibt sich für die Vor-
schriften über den Gewässerraum aus Art. 36a Abs. 2 GSchG, der den
Erlass von (materiellen) Ausführungsregeln dem Bundesrat vorbe-
hält.
4.4.3.
Auch die Bestimmungen in den Art. 41a bis 41d GSchV und die
Übergangsbestimmungen zur Verordnungsrevision vom 4. Mai 2011
(AS 2011, S. 1955; vgl. dazu hinten Erw. 5.2) ermächtigen den Re-
gierungsrat nicht zu kantonalem Verordnungsrecht, welches die bun-
desrechtlichen Vorgaben abändert oder (materiell) ergänzt. Nach
Art. 2 Abs. 1 lit. h GSchV regelt die Verordnung in der Fassung ge-
mäss Ziff. I der Verordnung vom 4. Mai 2011 die Verhinderung und
Behebung nachteiliger Einwirkungen auf Gewässer umfassend.
Abgesehen davon wäre eine Kompetenzdelegation vom Bun-
desrat auf den Regierungsrat mit Art. 46 Abs. 1 BV und der kanto-
nalen Organisationsautonomie (Art. 47 BV) nicht vereinbar. Nur auf
einer Grundlage in der Bundesverfassung könnte der Bund den
Kantonen vorschreiben, in welcher Form und funktionaler Rechtset-
zungszuständigkeit sie die Umsetzung von bundesrechtlichen
Rechtsetzungsaufträgen durchzuführen haben (vgl. dazu Häfelin/
Haller/Keller, a.a.O., Rz. 945 f.; Regula Kägi-Diener, St. Galler
Kommentar zur BV, 2. Aufl., 2008, Art. 46 N 19 mit Hinweisen;
Georg Müller, Darf der Bund die Rechtsform kantonaler Aus-
führungserlasse bestimmen?, in: ZBl 75/1974, S. 369 f.; BGE 131 I
291 zu Art. 72 Abs. 2 des Steuerharmonisierungsgesetzes als Beispiel
für eine bundesrechtliche Delegation zu gesetzesergänzendem Ver-
ordnungsrecht).
2012
Verwaltungsgericht
156
4.4.4.
Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass das Bundes-
recht dem Regierungsrat keine (funktionale) Rechtsetzungsbefugnis
erteilt, über den reinen Vollzug hinaus (gesetzesergänzende oder
-ändernde) Ausführungsvorschriften zu den bundesrechtlichen Be-
stimmungen über den Gewässerraum und die Revitalisierung der
Gewässer zu erlassen.
4.5.
4.5.1. (...)
4.5.2.
Im kantonalen Gesetzesrecht bestehen Besonderheiten in Bezug
auf die Rechtsetzungsbefugnisse des Regierungsrats im Bau-, Um-
welt- und Planungsrecht:
Gemäss § 164a BauG in der Fassung vom 10. März 2009, in
Kraft seit 1. Januar 2010 (AGS 2009, S. 237), wird der Regierungsrat
zum Erlass von Ausführungsvorschriften zum Baugesetz ermächtigt.
Mit dieser Bestimmung wurden anlässlich der Revision des Bauge-
setzes vom 10. März 2009 verschiedene Delegationsnormen über den
Vollzug, welche vor der Teilrevision auf einzelne Bestimmungen
verteilt waren, zusammengefasst (Begleitbericht zum Entwurf der
Teilrevision BauG vom 3. November 2006, S. 130). Eine generelle
Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen durch den Regie-
rungsrat ist damit nicht verbunden. Diese Delegationsnorm meint mit
dem Erlass von Ausführungsvorschriften auch ausschliesslich den
Vollzug im engeren Sinn (vgl. zur Rechtslage vor der Revision 2008:
AGVE 1997, S. 156).
Den Bestimmungen des Baugesetzes über die Gewässer
(§§ 114 ff. BauG) lassen sich ebenfalls keine besonderen Delegati-
onsnormen entnehmen, welche den Regierungsrat zum Erlass von
(gesetzesergänzendem) Verordnungsrecht zum Gewässerabstand
ermächtigt (vgl. demgegenüber § 52 Abs. 3 BauG zur Regelung der
Details über die Anforderungen an Bauten in Bezug auf den Hoch-
wasserschutz).
Ändernde Bestimmungen über die Organisation und das Verfah-
ren, welche zur Umsetzung von Bundesrecht auf dem Gebiet der
Raumentwicklung, Umwelt- oder des Natur- und Heimatschutzes
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
157
erforderlich sind, kann gemäss § 165 BauG nur der Grosse Rat, nicht
der Regierungsrat, erlassen und auch der Grosse Rat nur unter der
Einschränkung, dass keine erhebliche Entscheidungsfreiheit besteht.
Schliesslich gibt auch das Einführungsgesetz zur Bundesge-
setzgebung über den Schutz von Umwelt und Gewässer vom 4. Sep-
tember 2007 (EG Umweltrecht, EG UWR; SAR 781.200) dem Re-
gierungsrat nur Kompetenzen, die für den Vollzug dieses Gesetzes
notwendig sind (§ 40 EG UWR). Bereits aus den jeweiligen Randti-
teln (Ausführungsvorschriften) dieses Gesetzes wird deutlich, dass
der Regierungsrat nur Vorschriften erlassen kann, die das im Gesetz
in den Grundzügen Vorgegebene näher ausführen und damit dem
Gesetzesvollzug dienen.
5.
5.1.
Art. 41a GSchV unterscheidet zwischen dem Gewässerraum für
Fliessgewässer in Biotopen von nationaler und kantonaler Bedeu-
tung, in Moorlandschaften von nationaler Bedeutung, in Wasser- und
Zugvogelreservaten von internationaler und nationaler Bedeutung
sowie bei gewässerschutzbezogenen Schutzzielen in Landschaften
von nationaler Bedeutung und kantonalen Landschaftsschutzgebieten
(Abs. 1), und dem Gewässerraum für Fliessgewässer ausserhalb
solcher Gebiete (Abs. 2).
Die minimale Breite des Gewässerraums ausserhalb der ge-
nannten Objekte des Natur- und Landschaftsschutzrechts entspricht
11 m für Fliessgewässer mit einer Gerinnesohle von weniger als 2 m
natürlicher Breite (Art. 41a Abs. 2 lit. a GSchV); bei Fliessgewässern
mit einer Gerinnesohle von 2 bis 15 m natürlicher Breite beträgt der
Gewässerraum 2,5 mal die Breite plus 7 m (Art. 41a Abs. 2 lit. b
GSchV). Der minimale Gewässerraum für stehende Gewässer beträgt
mindestens 15 m, gemessen ab der Uferlinie (Art. 41b Abs. 1
GSchV). Diese minimalen Raumbedürfnisse der Gewässer dürfen
nicht unterschritten werden. Im Gegenteil sind die Kantone ver-
pflichtet, den Gewässerraum zur Gewährleistung verschiedener Ziele
weitergehend zu sichern (Art. 36a Abs. 1 lit. a-c GSchG; Art. 41b
Abs. 2 lit. a-d GSchV; vgl. dazu Stutz, a.a.O., PBG 2011, S. 6; vgl.
auch "Gewässerraum gemäss Gewässerschutzverordnung", abrufbar
2012
Verwaltungsgericht
158
unter: www.ag.ch). Bei den grossen Fliessgewässern, d.h. bei Flüssen
mit einer Gerinnesohle von mehr als 15 m, müssen die Kantone die
Breite des Gewässerraums festlegen. In dicht überbauten Gebieten
können die Kantone die Breite des Gewässerraums den baulichen
Gegebenheiten anpassen, soweit der Schutz vor Hochwasser ge-
währleistet ist (Art. 41a Abs. 4 und Art. 41b Abs. 3 GSchV). Die
Gewässerschutzverordnung erlaubt unter bestimmten Voraussetzun-
gen einen Verzicht auf die Festlegung eines Gewässerraums (Art. 41a
Abs. 5 und Art. 41b Abs. 4) und regelt schliesslich die Nutzung des
Gewässerraums und die Bestandesgarantie (Art. 41c GSchV).
Vom Bundesrecht vorgeschrieben ist eine "Anhörung der betrof-
fenen Kreise" vor der Festlegung der Gewässerräume (Art. 36a
Abs. 1 GSchG).
Dem Gesuchsgegner kann zugestimmt werden, dass die Min-
destvorschriften in Art. 41a und Art. 41b GSchV sehr weitreichende
Vorgaben zur Festlegung des Raumbedarfs enthalten. Die Ermächti-
gung des Bundesrates (Art. 36a Abs. 2 GSchG) beschränkt sich in-
dessen nicht auf "gewisse" Einzelheiten. Aus dem Begriff "Raumbe-
darf" in Art. 36a Abs. 1 GSchG und dem Auftrag an die Kantone zur
Festlegung des Gewässerraums ist keine Kompetenzbeschränkung
des Bundesrates erkennbar. Zur Regelung von Einzelheiten bei der
Bemessung eines Gewässerraums gehört auch der Erlass von Min-
destvorschriften.
Im Bereich des Gewässerschutzes hat der Bund eine sogenannte
konkurrierende Kompetenz (vgl. dazu Häfelin/Haller/Keller, a.a.O.,
Rz. 1092 f.). Die kantonalen und kommunalen Kompetenzen gehen
jeweils in dem Umfang unter, als der Bund seine Zuständigkeit zum
Erlass von Gesetzen ganz oder teilweise wahrgenommen hat. Mit
dem Erlass des Gewässerschutzgesetzes und der Revision von
Art.
36a GSchG hat der Bund seine Gesetzgebungskompetenz
(Art. 76 Abs. 2 und 3 BV) genutzt und die Kantone dürfen seit In-
krafttreten dieser Bestimmung keine dem Bundesrecht wider-
sprechenden Regelungen erlassen oder beibehalten. Nur soweit der
Bundesgesetzgeber eine ihm zugewiesene Kompetenz nicht nutzt,
bleibt Raum für (materielles) kantonales Recht.
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
159
5.2.
5.2.1.
Die Kantone sind verpflichtet, den Gewässerraum bis zum
31. Dezember 2018 festzulegen; so lange eine Festlegung des Ge-
wässerraums fehlt, kommt Abs. 2 der Übergangsbestimmung zur
Änderung vom 4. Mai 2011 (AS 2011, S. 1963) zur Anwendung.
Diese Bestimmung lautet:
So lange sie den Gewässerraum nicht festgelegt haben, gelten
die Vorschriften für Anlagen nach Art. 41c Absätze 1 und 2
entlang von Gewässern auf einem beidseitigen Streifen mit einer
Breite von je:
a) 8 m plus die Breite der bestehenden Gerinnesohle bei
Fliessgewässern mit einer Gerinnesole bis 12 m Breite;
b) 20 m bei Fliessgewässern mit einer bestehenden Gerinne-
sohle von mehr als 12 m Breite;
c) 20 m bei stehenden Gewässern mit einer Wasserfläche von
mehr als 0,5 ha.
Die Übergangsbestimmung regelt die Abstände bis zur Festle-
gung der Gewässerräume durch die Kantone abschliessend (vgl.
Urteil des Bundesgerichts vom 1. Februar 2012 [1C_505/2011],
Erw. 3.2 und 3.3).
Die Abstände beziehen sich auf die aktuelle Gerinnesohlebreite
der Fliessgewässer und nicht auf die natürliche Gerinnesohlebreite,
wie dies Art. 41a GSchV vorsieht. Damit wird berücksichtigt, dass
viele Fliessgewässer begradigt und verbaut sind, wodurch die ak-
tuelle Gerinnesohlebreite kleiner ist als die natürliche. Hingegen
verlangt die Übergangsbestimmung links und rechts von Fliessge-
wässern einen Streifen mit einer bestimmten Breite. Entlang von
Gewässern mit einer Gerinnesohlebreite von bis zu 12 m beträgt
dieser Uferstreifen beidseitig je 8 m plus die Breite der bestehenden
Gerinnesohle, beidseitig je 20 m bei Fliessgewässern mit einer Ge-
rinnesohlebreite von mehr als 12 m. Bei stehenden Gewässern über
0,5 ha Wasserfläche gelten die Nutzungseinschränkungen betreffend
Anlagen (Art. 41c Abs. 1 und 2 GSchV) auf einer Breite von 20 m
(vgl. dazu Erläuternder Bericht des Bundesamtes für Umwelt
[BAFU] vom 20. April 2011, S. 30 f.).
2012
Verwaltungsgericht
160
5.2.2.
Mit Blick auf die rechtlichen Vorgaben (Rahmenordnung) des
Bundesrechts ist festzuhalten, dass die Gewässerschutzverordnung
die Messmethode für den Gewässerraum in den Art. 41a und 41b
GSchV und auch in der Übergangsbestimmung regelt. Die Gesuch-
steller beanstanden daher zu Recht, dass die §§ 3 und 4 VV GSchV
die bundesrechtlichen Vorschriften über die Messmethode abändern.
Keine Norm der Gewässerschutzgesetzgebung des Bundes sieht vor,
dass die Kantone statt der bundesrechtlichen Übergangsordnung eine
davon (oder von den Art. 41a - 41d GSchV) abweichende kantonale
abstrakte Regelung über die Abstände und deren Messweise auf-
stellen dürfen. Ohne ausdrücklichen Vorbehalt im Bundesrecht ist
aber der Erlass von abweichendem kantonalen Recht nicht zulässig
(Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz. 1163).
Massgebende Regeln für die Messmethode zur Festlegung der
Gewässerräume sind ausschliesslich die Bestimmungen der Ge-
wässerschutzverordnung. Die Übergangsbestimmungen regeln zu-
sätzlich die Mindestabstände, bis die Gewässerräume von den Kan-
tonen festgelegt sind. Die bundesrechtliche Ordnung ist in dieser
Hinsicht weder lückenhaft, noch sind einzelne Bestimmungen der
Gewässerschutzverordnung rechtswidrig, so dass auch kein Aus-
nahmefall vorliegt, welcher eine Änderung oder ein Abweichen vom
Bundesrecht oder einem kantonalen Gesetz ausnahmsweise und
vorübergehend zuliesse (vgl. dazu BGE 130 I 140; Jaag, a.a.O.,
S. 628 f. mit Hinweis).
6.
6.1.
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass das Gewässer-
schutzrecht des Bundes dem Regierungsrat keine Rechtsetzungsbe-
fugnis zur Regelung der Messmethode und der Abstände bei der
Festlegung des Gewässerraums einräumt. Für die Festlegung des
Gewässerraums an Fliessgewässern mit einer Breite von über 15 m
schreibt das Bundesrecht die Festlegung im Einzelfall, die Anhörung
der Betroffenen und die Berücksichtigung der verschiedenen Gewäs-
serfunktionen, inkl. Hochwasserschutz und Gewässernutzung, vor
(Art. 36a GSchG). Eine generell-abstrakte Regelung durch kantona-
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
161
les Recht für einzelne Fliessgewässer schliesst der Wortlaut damit
zwar nicht zum vornherein aus, die kantonale Regelung hat aber die
Messmethode und das Verfahren zu beachten. Ausgeschlossen ist
eine kantonale Übergangsordnung, die von den bundesrechtlichen
Vorgaben abweicht.
Das kantonale Bau- und Gewässerschutzrecht sieht den Erlass
von Rechtsverordnungen über Gewässerabstandsvorschriften durch
den Regierungsrat höchstens im Vollzugsrecht im engeren Sinn vor.
Die Rechtsetzungsbefugnis steht ihm verfassungsrechtlich nur zu,
soweit die Voraussetzungen für eine selbständige Verordnung gemäss
§ 91 Abs. 2
bis
lit. a KV vorliegen. Der Erlass von selbständigen Vor-
schriften, die das Bundesrecht abändern, erlaubt auch die Kantons-
verfassung nicht (vorne Erw. 4.3).
6.2.
6.2.1.
Mit dem Regierungsrat ist davon auszugehen, dass es sich bei
den Bestimmungen zum Gewässerraum und den Übergangsbestim-
mungen um nicht unerhebliche Eingriffe in die Eigentumsgarantie
handelt, welche einer gesetzlichen Grundlage bedürfen (Art. 36
Abs. 1 BV). Eine inzidente Normenkontrolle der Art. 41a, Art. 41b
GSchV und der Übergangsbestimmungen vom 4. Mai 2011 mit dem
Ergebnis, dass die bundesrechtlichen Bestimmungen dem Gesetzes-
vorbehalt nicht genügen, könnte allerdings die fehlende Rechtset-
zungsbefugnis des Regierungsrates nicht begründen. Fehlte dem
Bundesrat die Kompetenz zum Erlass der Ausführungsregeln zu
Art. 36a ff. GSchG, weil das Gewässerschutzgesetz die erforderliche
Rahmenordnung nicht enthalten würde, stünde diese Befugnis dem
Regierungsrat auch nicht zu. Der Regierungsrat müsste sich das (ge-
wünschte) Ergebnis der inzidenten Normenkontrolle, d.h. den Geset-
zesvorbehalt, ebenfalls entgegenhalten lassen.
6.2.2.
Beim bundesstaatlichen Subsidiaritätsprinzip (Art. 5a und
Art. 46 BV) handelt es sich um eine staatspolitische Maxime, nicht
um eine Kompetenzverteilungsregel (vgl. Rainer Schweizer/Lucien
Müller, St. Galler Kommentar zur BV, a.a.O., Art. 5a N 15 mit Hin-
weisen; a.A. Paul Richli, in: ZSR 126/2007 I S. 78 f.). Gemäss
2012
Verwaltungsgericht
162
Art. 46 Abs. 1 BV steht die Umsetzung von Bundesrecht den
Kantonen nach Massgabe von Verfassung und Gesetz zu. Die
Zuständigkeit für die Regelung des Gewässerraums liegt gestützt auf
Art. 76 Abs. 3 BV beim Bund und er hat diese Kompetenz mit dem
Erlass von Art. 36a ff. GSchG ausgeübt. In diesem Umfang ist die
kantonale Rechtsetzungszuständigkeit untergegangen und den
Kantonen ist es verwehrt, widersprechende Bestimmungen zu erlas-
sen.
Der Raumbedarf der oberirdischen Gewässer soll die natürli-
chen Funktionen der Gewässer, den Hochwasserschutz und die Ge-
wässernutzung gewährleisten (Art. 36a GSchG). Mit der Konkreti-
sierung dieser Grundsätze beauftragte der Gesetzgeber den Bundes-
rat (Art. 36a Abs. 2 GSchG). Bezugspunkt des Gesetzesvorbehalts ist
damit materiell Art. 36a Abs. 1 lit. a-c GSchG. Inhaltliche Vorgaben
für die Konkretisierung des Gewässerraumes finden sich zusätzlich
in den Art. 37 Abs. 2 GSchG (Gestaltung von Gewässern und Ge-
wässerraum) und Art. 43a Abs. 1 und 2 GSchG (Geschiebehaushalt),
welche die massgeblichen Interessen und Funktionen des Gewässer-
raums ergänzend umschreiben. Der Rahmen der Delegation wird
zudem durch den Gesetzeszweck und von allgemeinen Prinzipien
präzisiert. Wie bei den Ausführungsvorschriften zum Umweltschutz-
gesetz sind die gesetzlichen Bestimmungen über den Gewässerraum
wenig konkret und die Tragweite wird erst mit der Verordnung sicht-
bar. Die Umsetzung der Grundsätze und der konzeptionelle Schutz-
mechanismus eines planungsrechtlichen Verfahrens erfordern für
eine effiziente und einheitliche Rechtsanwendung eine grössere
Normdichte und Bestimmtheit auf Verordnungsebene. Angesichts der
erwähnten Vorgaben im Gewässerschutzgesetz und dem Geset-
zeszweck (vgl. Art. 1 lit. c-h GSchG) ist der Rahmen der Ermächti-
gungsnorm eingehalten. Die konkreten Werte des Raumbedarfs, die
dann Eingang in die Gewässerschutzverordnung fanden, waren in
den parlamentarischen Beratungen auch bekannt (Bericht der stände-
rätlichen Kommission UREK vom 12. August 2008, in: BBl 2008,
S. 8059). Vergleichbare Vorgaben einer Rahmenordnung finden sich
auch im Bereich Hochwasserschutz (vgl. Merkblatt für die Umset-
zung Gefahrenkarte Hochwasser, abrufbar unter: www.ag.ch; Hoch-
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
163
wasserschutz an Fliessgewässern [Wegleitungen des BWG, 2001]).
Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass den Kantonen im dicht
überbauten Gebiet und bei den grossen Fliessgewässern ein erheb-
licher Ermessensspielraum eingeräumt ist, der unter Vorbehalt der
Interessen des Hochwasserschutzes auch die Anpassung des Gewäs-
serraums an bestehende bauliche Gegebenheiten erlaubt.
Die Übergangsbestimmungen sichern den Gewässerraum bis
zur Festlegung durch die Kantone, indem Abstandsvorschriften be-
zogen auf die aktuelle Gerinnesohlebreite und ohne den Korrektur-
faktor (Art. 41a GSchV) festgelegt wurden. Diese Uferstreifen sind
breiter als die altrechtlichen kantonalen Gewässerabstände. Indessen
schliessen die Übergangsregeln im Siedlungsgebiet die Berücksichti-
gung baulicher Gegebenheiten nicht aus und sie lassen eine Interes-
senabwägung im Baubewilligungsverfahren und in der Nutzungs-
planung zu, soweit die Vorgaben aus dem Hochwasserschutz einge-
halten sind.
Eine allfällige Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen der
Gewässerschutzverordnung und der Übergangsordnung über den
Gewässerraum hätte schliesslich nicht zur Folge, dass die Delegati-
onsnorm (Art. 36a Abs. 2 GSchG) nicht zur Anwendung gelangte
und anstelle des Bundesrats die Kantone die Einzelheiten regeln
könnten. | 6,654 | 5,177 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2012-22_2012-01-25 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-22.pdf | AGVE_2012_22 | null | nan |
3a4b99d8-c2df-505f-bc94-89ee6480bdde | 1 | 412 | 870,160 | 1,017,878,400,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
276
[...]
71
Koordination der Nutzungsplanung zwischen Nachbargemeinden.
-
Das Nutzungsplanverfahren erfordert eine Koordination und Planab-
stimmung über die Gemeindegrenze hinaus.
-
Eine gemeinsame und gleichzeitige Planung für gemeindeübergrei-
fende Schutzmassnahmen ist gesetzlich aber nicht vorgeschrieben.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 26. April 2002 in Sa-
chen Oe. gegen Genehmigungsbeschluss des Grossen Rats.
Aus den Erwägungen
5. a) Die Beschwerdeführerin rügt die mangelnde Koordination
der Planungen der Gemeinden O. und E. Das Fabrikareal der Be-
schwerdeführerin liege teils auf Gemeindegebiet von O., teils auf
Gemeindegebiet von E., wobei das streitbetroffene Gebäude Nr. 3 als
einziges vollständig auf E.-Boden stehe. Das gesamte Fabrikareal
bilde jedoch eine bauliche Einheit, welche eine getrennte Betrach-
tungsweise unter dem Aspekt des Denkmalschutzes nicht zulasse,
sondern ein Planungshandeln erfordere, welches über die Gemeinde-
grenzen von E. hinausgehe. Die Gemeinde O. habe anlässlich der
Zonenplanung vom 31. März 1998 auf eine Unterschutzstellung der
sich auf ihrem Gemeindegebiet befindlichen Gebäudekomplexe ver-
zichtet. Damit könne die Gemeinde E. ihre Planung lediglich noch
derjenigen von O. angleichen, weshalb eine Unterschutzstellung der
Gebäude auf dem Gemeindegebiet von E. ebenfalls ausgeschlossen
sei.
b) Bund, Kanton und Gemeinden erarbeiten die für ihre raum-
wirksamen Aufgaben nötigen Planungen und stimmen sie aufeinan-
2002
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
277
der ab (Art. 2 Abs. 1 RPG). Unter Planabstimmung wird die Pflicht
jedes einzelnen Aufgabenträgers verstanden, über den Ressorthori-
zont hinauszudenken und die eigenen Planungen sowohl inhaltlich
als auch verfahrensmässig zu den Planungen berührter Aufgabenträ-
ger in konstruktive Beziehung zu setzen (Pierre Tschannen, in: Heinz
Aemisegger/Alfred Kuttler/Pierre Moor/Alexander Ruch, Kommen-
tar zum Bundesgesetz über die Raumplanung, Zürich 1999, Art. 2
N 52). Damit der Abstimmungsbedarf erkannt werden kann, stellen
die Behörden fest, wie sich ihre raumwirksamen Tätigkeiten auswir-
ken und unterrichten einander darüber rechtzeitig (Art. 2 Abs. 2
RPV). Diese Abstimmungspflicht besteht nicht nur in vertikaler son-
dern auch in horizontaler Hinsicht, d.h., dass eine Gemeinde im
Rahmen ihrer Nutzungsplanung verpflichtet ist, die gemeindeüber-
greifenden Auswirkungen mit den Nachbargemeinden zu koordinie-
ren. Somit sind die Gemeinden E. und O. verpflichtet, ihre Schutz-
massnahmen, welche das Areal der Beschwerdeführerin betreffen,
aufeinander abzustimmen. Eine einheitliche, d.h. gemeinsame und
gleichzeitige, Planung der Gemeinden O. und E. für dieses Areal ist
daher zweckmässig, gesetzlich aber nicht vorgeschrieben und nicht
der einzig zulässige Weg für eine wirksame Koordination.
c) Die Gemeinde O. hat mit Beschluss vom 31. März 1998 ih-
ren Zonenplan erlassen und das Areal der Beschwerdeführerin in die
WG 3 eingewiesen. Eine Unterschutzstellung der Fabrikgebäude ist
in diesem Zonenplan nicht vorgesehen. Im Zeitpunkt der Zonenpla-
nung war jedoch das kantonale Kurzinventar der Kulturgüter der
Gemeinde O. noch nicht erstellt, weshalb aus der Nichtunterschutz-
stellung der Gebäude im Zonenplan nicht geschlossen werden kann,
diese Gebäude würden grundsätzlich als nicht schutzwürdig erachtet.
Der Erlass des Kurzinventars im April 2000, welches die Bauten der
Beschwerdeführerin unter den Nrn. 929/930 inventarisiert, erfordert
eine Überarbeitung des Zonenplanes von 1998. Entsprechende Ab-
klärungen zum kommunalen Schutz sind im Gange. Als die Ge-
meinde E. am 10. Juni 1999 ihren Zonenplan beschloss, war das
Kurzinventar für die Gemeinde O. noch nicht erstellt. Dass die Ge-
meinde E. das Gebäude Nr. 3 ohne detaillierte Abstimmung mit der
Gemeinde O. unter kommunalen Substanzschutz gemäss § 24 BNO
2002
Verwaltungsgericht
278
gestellt hat, ist nicht zu beanstanden: Die bisher fehlende Koordina-
tion führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Unterschutzstellung des Ge-
bäudes Nr. 3 durch die Gemeinde E. Eine künftige Koordination
unter Berücksichtigung der Massnahmen der Gemeinde O. - insbe-
sondere auch für das Gebäude Nr. 2 - bleibt mit der erfolgten Unter-
schutzstellung möglich. Das Vorgehen der Gemeinde E. ist rechtlich
auch deshalb nicht zu beanstanden, weil das Gebäude Nr. 3 für sich
alleine, d.h. unabhängig von den restlichen Gebäuden auf dem Fa-
brikareal, schützenswert ist. Somit kann die Beschwerdeführerin aus
der mangelnden Koordination zwischen den beiden Nutzungspla-
nungen nichts zu ihren Gunsten ableiten. | 992 | 807 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-71_2002-04-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-71.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-71.pdf | AGVE_2002_71 | null | nan |
3a583cfb-8b17-5b83-9dd1-59f53a5aa93c | 1 | 412 | 870,372 | 970,444,800,000 | 2,000 | de | 2000
Kantonales Steuerrecht
159
42
Nichtigkeit einer fehlerhaften Verfügung? Rechtliches Gehör.
- Nichtigkeit beim Zusammentreffen mehrerer inhaltlicher und ver-
fahrensmässiger Fehler, zumal wenn zweifelhaft ist, ob die Behörde
gutgläubig gehandelt hat (Erw. 2, 3).
- Handlungen des Gemeindesteueramts sind der Gemeindesteuerkom-
mission zuzurechnen; Fehler im Veranlagungsverfahren sind gesamt-
haft zu bewerten (Erw. 3/a).
- Die beabsichtigte Veranlagung aufgrund einer Vermögensvergleichs-
rechnung ist dem Steuerpflichtigen zuvor bekannt zu geben
(Erw. 3/b).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 18. Oktober 2000 in
Sachen R.H. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts.
Aus den Erwägungen
2. Zu entscheiden ist, ob die Veranlagungsverfügung vom
11. Dezember 1997 nichtig ist. Nach der Rechtsprechung des Bun-
desgerichts und des Verwaltungsgerichts ist die normale Folge der
Fehlerhaftigkeit von Verfügungen ihre
Anfechtbarkeit
. Nur aus-
nahmsweise ist auf Nichtigkeit zu schliessen, so, wenn der Mangel
besonders schwer wiegt, wenn er offensichtlich oder zumindest
leicht erkennbar ist und wenn die Rechtssicherheit durch die An-
nahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtig-
keitsgründe fallen hauptsächlich schwere Verfahrensmängel sowie
die Unzuständigkeit der verfügenden Behörde in Betracht; dagegen
haben inhaltliche Mängel nur in seltenen Ausnahmefällen die Nich-
tigkeit einer Verfügung zur Folge (vgl. BGE 122 I 98 f.; 118 Ia 340;
116 Ia 219; AGVE 1994, S. 217 mit Hinweisen; vgl. auch Max Im-
boden/René A. Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
6. Aufl., Basel/Stuttgart 1986, und René A. Rhinow/Beat Krähen-
mann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband,
Basel/Frankfurt a.M. 1990, je Nr. 40 B IV/V; Ulrich Häfelin/Georg
Müller, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. Aufl.,
2000
Verwaltungsgericht
160
Zürich 1998, Rz. 769). Die Grenzziehung zwischen Nichtigkeit und
Anfechtbarkeit ist nach Massgabe einer teleologischen
Rechtsauslegung und einer Interessenabwägung vorzunehmen.
Nichtigkeit tritt erst dann ein, wenn die Verletzung der in Frage
stehenden Vorschrift schwerer wiegt als die sich aus der
Unwirksamkeit der Anordnung ergebende Beeinträchtigung der
Rechtssicherheit und des verfahrensökonomischen staatlichen Inte-
resses (Imboden/Rhinow und Rhinow/Krähenmann, a.a.O., je Nr. 40
B IV; vgl. auch AGVE 1978, S. 138 f.; 1975, S. 165). Demgemäss
hat das Verwaltungsgericht auch schon aufgrund zusätzlicher Argu-
mente auf Nichtigkeit erkannt, so bei einer Häufung von erheblichen
formellen und materiellen Mängeln (AGVE 1981, S. 274 f.) und wo
die verfügende Behörde bewusst und für den Gesuchsteller
erkennbar eine rechtswidrige Bewilligung erteilte (VGE III/95 vom
26. Juni 2000 in Sachen M.F. AG und P.W., S. 16 f.).
3. a) Die Gemeindesteuer
kommission
ist zuständig zur Beurtei-
lung der Steuerpflicht und zur Veranlagung der Einkommens-, Ver-
mögens- und der Grundstückgewinnsteuer (§ 116 StG); ihr gehört ein
kantonaler Steuerkommissär von Amtes wegen an (§ 117 Abs. 2
StG). Daneben besteht in jeder Gemeinde ein Gemeindesteuer
amt
,
das u.a. die Veranlagung vorbereitet, zuhanden der Steuerkommis-
sion eine Voreinschätzung erstellt, im Anschluss an die Veranlagung
die Steuerbeträge errechnet und die Veranlagungsverfügungen und
Einspracheentscheide zustellt (§ 119 StG). Das Veranlagungsverfah-
ren wird in enger Zusammenarbeit zwischen Gemeindesteuerkom-
mission und -steueramt (das funktionell als zudienendes und ausfüh-
rendes Organ der Kommission bezeichnet werden kann) durchge-
führt, das von aussen, speziell aus Sicht der Steuerpflichtigen, als
einheitliches Handeln erscheint. Diese Sichtweise drängt sich auf,
wenn es um die Beurteilung von Verfahrensmängeln geht; für die
veranlagten Steuerpflichtigen sind alle genannten Vorgänge Hand-
lungen der Steuerbehörde, eine Unterscheidung je nach handelndem
Organ wäre künstlich und nicht sachgerecht.
2000
Kantonales Steuerrecht
161
b) (Die Steuererklärung des Beschwerdeführers basierte auf
dem beigelegten, formell ordnungsgemässen Buchhaltungsab-
schluss.) Der kantonale Steuerkommissär erstellte eine Vermögens-
vergleichsrechnung, die offensichtliche Fehler und Auslassungen
enthält. Insbesondere wurde beim Privataufwand der Eigenmietwert
eingesetzt, obwohl ein grosser Anteil davon schon im Posten "private
Lebenshaltungskosten gemäss Selbstdeklaration" enthalten war, und
die Möglichkeit steuerfreier Kapitalgewinne wurde kurzerhand
verneint, obwohl aus dem Wertschriftenverzeichnis ersichtlich war,
dass der Beschwerdeführer in den Bemessungsjahren Aktien der
SBG verkauft hatte, und nicht auszuschliessen, sondern im Gegenteil
wahrscheinlich war, dass er dabei einen Gewinn erzielt hatte.
Beabsichtigt die Steuerkommission, die Veranlagung aufgrund
einer Vermögensvergleichsrechnung vorzunehmen, ist diese dem
Steuerpflichtigen vorher zur Kenntnis zu bringen und ihm eine Stel-
lungnahme zu ermöglichen, da der Steuerkommission vollständige
und gesicherte Erkenntnisse regelmässig abgehen (z.B. hinsichtlich
steuerfreier Einkünfte). Dieses allgemein übliche Vorgehen wurde
hier nicht eingehalten.
Entgegen der Behauptung im Bericht KStA ist es offenkundig,
dass die Vermögensvergleichsrechnung der Veranlagung nicht bei-
gelegt wurde. ... Mit den "Details zur Steuerveranlagung" wurde die
Abweichung von der Steuererklärung wie folgt bekannt gegeben:
Bemessungsgrundlage
01.01.1993
bis
31.12.1994
Durchschn.
1 Einkünfte selb. Tätigkeit
122'427
120'152
121'289
Reingewinn/Reinverlust
72'427
70'152
71'289
Div. Aufrechnungen
50'000
50'000
50'000
Es fehlte mithin jeglicher Hinweis auf die Veranlagung gestützt
auf eine Vermögensvergleichsrechnung. Vielmehr deutete der auf-
grund seiner Platzierung im unmittelbaren Anschluss an die Buch-
haltungsergebnisse aufgeführte Hinweis auf Aufrechnungen darauf
2000
Verwaltungsgericht
162
hin, dass bei einzelnen Positionen der
Buchhaltung
Aufrechnungen
erfolgt seien.
Wenn man die erwähnten Verfahrensmängel (insbesondere die
Bekanntgabe bei der Veranlagung, die geradezu als Verschleierung
des vorgenommenen Vermögensvergleichs zu bezeichnen ist) in
Zusammenhang mit den
offenkundigen
Fehlern bei der Vermögens-
vergleichsrechnung bringt, kommt der Verdacht auf, die Steuerbe-
hörde sei sich bewusst gewesen, dass jeder Hinweis an den Be-
schwerdeführer, es handle sich um eine Vermögensvergleichsrech-
nung, diese Fehler auffliegen lassen würde; dies gilt umso mehr, als
nach den unbestrittenen Ausführungen des Beschwerdeführers schon
in den Vorperioden der Privataufwand Gegenstand von Abklärungen
gewesen war, die jeweils mittels Rückfrage beim Treuhänder des
Steuerpflichtigen vorgenommen wurden. Ein strikter Nachweis ist
natürlich nicht möglich, und wer das Vorgehen bestimmte, wird sich
nicht mehr ermitteln lassen, ist aber auch nicht entscheidend (vgl.
vorne Erw. 3/a).
c) Die der Steuerbehörde anzulastenden Fehler (grobe Fehler
bei der Vermögensvergleichsrechnung; Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör, indem der Beschwerdeführer keine Gelegenheit
erhielt, zur Vermögensvergleichsrechnung Stellung zu nehmen;
Eröffnung der Veranlagungsverfügung unter Verschleierung des Um-
stands, dass diese auf einer Vermögensvergleichsrechnung basierte)
mögen, je einzeln betrachtet, nicht zur Annahme der Nichtigkeit
ausreichen. Jeder von ihnen ist allerdings erheblich, und das Zusam-
mentreffen macht sie besonders gravierend. Dazu tritt der Umstand,
dass der Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und des verfahrens-
ökonomischen staatlichen Interesses geringeres Gewicht zukommt,
wenn zweifelhaft ist, ob die Behörde gutgläubig verfügt hat, da be-
wusstes Fehlverhalten ihr keine Vorteile verschaffen soll; im Übrigen
sind ausser der Steuerbehörde und dem Beschwerdeführer keine
Dritten beteiligt, deren Interessen zu berücksichtigen wären.
2000
Kantonales Steuerrecht
163
Zusammenfassend erachtet das Verwaltungsgericht die darge-
stellten Mängel insgesamt für derart gewichtig, dass die Veranla-
gungsverfügung auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung als
nichtig zu bezeichnen ist. | 1,806 | 1,406 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-42_2000-10-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-42.pdf | AGVE_2000_42 | null | nan |
3a7507ec-f3ad-5cb9-b5bf-418088fdde91 | 1 | 412 | 870,932 | 1,427,846,400,000 | 2,015 | de | 2015
Personalrecht
243
XII. Personalrecht
37
§ 10 Abs. 1 lit. c PersG
Inhalt und Funktion der personalrechtlichen Mahnung (wegen Mängeln
in der Leistung oder im Verhalten des Arbeitnehmers); die Mahnung bil-
det nach aargauischem Recht keine Verfügung. Der Betroffene kann sich
grundsätzlich nicht mittels Klage gegen die Mahnung wehren, soweit die-
se lediglich an die bestehenden gesetzlichen und vertraglichen (Arbeits-)
Pflichten erinnert bzw. diese konkretisiert und keine neuen Pflichten be-
gründet.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 22. April
2015 in Sachen A. gegen Kanton Aargau (WKL.2015.4).
Aus den Erwägungen
I.
6.
6.1.
In Antrag 2 verlangt die Klägerin, es seien "Ziff. 1 bis 3 des
Entscheids des Beklagten vom 19. Juni 2014 (inkl. Verfügung vom
31. Juli 2013) ersatzlos aufzuheben." Gemäss den entsprechenden
Ziffern des Entscheids des Generalsekretärs DVI wurden die Mah-
nung vom 31. Juli 2013 aufrechterhalten (Ziffer 1), die Bewährungs-
zeit von vier Monaten neu festgelegt (Ziffer 2) und die ursprüngli-
chen Leistungs- und Verhaltensziele bestätigt (Ziffer 3).
6.2.
Gemäss § 59 Abs. 1 ZPO tritt das Gericht auf eine Klage ein,
sofern die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind. Zu den Prozessvor-
aussetzungen gehört insbesondere, dass die klagende Partei ein
schutzwürdiges Interesse hat (Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO).
6.3.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
244
6.3.1.
Die Mahnung mit Ansetzung einer Bewährungszeit gemäss § 10
Abs. 1 lit. c PersG erfüllt grundsätzlich zwei Funktionen: Einerseits
hält der Mahnende dem Betroffenen eine Vertragsverletzung vor und
mahnt ihn zu künftigem vertragsgemässem Verhalten (Rügefunk-
tion), andererseits drückt sie die Androhung einer Sanktion aus
(Warnfunktion). Die Mahnung bildet eine Massnahme zum Schutz
der Angestellten, da eine ordentliche Kündigung wegen Mängeln in
der Leistung oder im Verhalten grundsätzlich nur rechtmässig ist,
wenn zuvor erfolglos gemahnt wurde. Der Mahnung nach § 10
Abs. 1 lit. c PersG kommt insofern die gleiche Bedeutung zu wie
derjenigen nach Art. 12 Abs. 6 lit. b des Bundespersonalgesetzes
vom 24. März 2000 in der bis zum 30. Juni 2013 in Kraft stehenden
Fassung (aBPG; AS 2001 894; vgl. Urteil des Bundesverwaltungs-
gerichts vom 18. September 2008 [A-8518/2007], Erw. 4.2 mit zahl-
reichen Hinweisen). Ebenfalls vergleichbar ist sie mit der (privat-
rechtlichen) Verwarnung, welche unter Umständen notwendig ist, da-
mit (bei einem erneuten Fehlverhalten) ein wichtiger Grund für eine
fristlose Entlassung gemäss Art. 337 OR zu bejahen ist (vgl. U
LLIN
S
TREIFF
/A
DRIAN VON
K
AENEL
/R
OGER
R
UDOLPH
, Arbeitsvertrag,
7. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2012, Art. 337 OR N 13).
Die Mahnung gemäss § 10 Abs. 1 lit. c PersG ist zu unterschei-
den vom Verweis gemäss § 36 PersG. Dabei handelt es sich um eine
(lediglich für Beamtinnen und Beamte, d.h. auf Amtsdauer gewählte
Mitarbeitende vorgesehene) Disziplinarmassnahme. Sie kann erst
nach Durchführung eines Disziplinarverfahrens angeordnet werden
und hat Sanktionscharakter (vgl. analog Art. 25 BPG).
6.3.2.
In Bezug auf Art. 12 Abs. 6 lit. b (a)BPG stellte sich bereits
wiederholt die Frage, ob die Mahnung in der Form einer Verfügung
zu erfolgen hat oder nicht. Gemäss der Rechtsprechung entscheidet
sich dies danach, ob mit der Mahnung in rechtlich geschützte Interes-
sen eingegriffen wird. Soweit dies nicht der Fall ist bzw. soweit die
Mahnung nicht über die gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben
hinausgeht, erfolgt die Mahnung nach Art. 12 Abs. 6 lit. b (a)BPG
grundsätzlich nicht in der Form einer Verfügung; entsprechend kann
2015
Personalrecht
245
dagegen keine Beschwerde erhoben werden (Urteil des Bundesver-
waltungsgerichts vom 23. Mai 2011 [A-6708/2010]; Urteil des Bun-
desgerichts vom 8. März 2010 [8C_358/2009], Erw. 4.3.1; Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts
vom
18. September
2008
[A-
8518/2007], Erw. 4.4 mit weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung
und Lehre). Kommt es in der Folge zu einer Kündigung, so kann sich
der Betroffene gegen die entsprechende Verfügung zur Wehr setzen
und in einem allfälligen Beschwerdeverfahren (auch) geltend ma-
chen, sie sei mitunter deshalb unrechtmässig, weil bereits die Mah-
nung nicht gerechtfertigt gewesen sei (Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 23. Mai 2011 [A-6708/2010], Erw. 3.2.2). Analog
lässt sich die Rechtmässigkeit einer privatrechtlichen Verwarnung
nicht separat mittels Klage überprüfen
.
Wird aber eine fristlose Kün-
digung gemäss Art. 337 OR ausgesprochen, so ist im Rahmen deren
Überprüfung unter Umständen auch darüber zu befinden, ob die all-
fällige vorgängige Verwarnung gerechtfertigt war oder nicht.
6.3.3.
Wie bereits erwähnt (vorne Erw. 6.3.1), bildet nach dem aar-
gauischen Recht die Mahnung gemäss § 10 Abs. 1 lit. c PersG keine
Verfügung. Analog zur zitierten Rechtsprechung zu Art. 12 Abs. 6
lit. b (a)BPG sowie zu Art. 337 OR lässt sich jedoch festhalten, dass
die Mahnung - soweit sie lediglich an die bestehenden gesetzlichen
und vertraglichen (Arbeits-)Pflichten erinnert bzw. diese näher aus-
führt, jedoch keine neuen (Arbeits-)Pflichten begründet - keine
schutzwürdigen Interessen tangiert. Demzufolge kann sich der Be-
troffene grundsätzlich nicht mittels Klage gegen die Mahnung weh-
ren.
Derselbe Schluss ergibt sich auch aus anderen Gründen: Erweist
sich eine Kündigung nachträglich als widerrechtlich, hat der Be-
troffene Anspruch auf eine Entschädigung von maximal sechs Mo-
natslöhnen (§ 12 Abs. 1 PersG in Verbindung mit Art. 336a Abs. 2
OR); ein Anspruch auf Wiedereinstellung besteht nicht (§ 12 Abs. 2
PersG). Eine Kündigung ist mithin unabhängig davon, ob sie wider-
rechtlich ist oder nicht, stets rechtsgültig (Ausnahme: Nichtigkeit).
Dies gilt namentlich auch für den Fall, dass wegen Mängeln in der
Leistung oder im Verhalten gekündigt wurde, ohne dass vorgängig
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
246
eine Mahnung erfolgt wäre. Die Mahnung ist mithin nicht Gültig-
keitsvoraussetzung für eine allfällige spätere Kündigung. Selbst mit
einer erfolgreichen Klage betreffend die Mahnung könnte somit eine
rechtsgültige Kündigung nicht verhindert werden. Auch daraus ergibt
sich, dass ein schutzwürdiges Interesse an einer entsprechenden
Klage fehlt. | 1,494 | 1,250 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-37_2015-04-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-37.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-37.pdf | AGVE_2015_37 | null | nan |
3b1e0ebb-884e-5ec1-bdbb-908c00c11eb3 | 1 | 412 | 871,295 | 988,848,000,000 | 2,001 | de | 2001
Verwaltungsrechtspflege
369
[...]
79 Akteneinsicht.
- Regeln für die Beweiserhebung (§ 22 Abs. 1 und 2 VRPG) durch die
Verwaltungsbehörden (Erw. 1/b).
- Recht auf Einsichtnahme in ein Verhandlungsprotokoll; Korrelat der
Aktenerstellungspflicht (Erw. 1/c und d).
- Einspracheverhandlungen des Gemeinderats sind zu protokollieren,
und den Einsprechern ist auf Verlangen Einsicht in das Protokoll zu
gewähren (Erw. 1/e und f).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 10. Mai 2001
in Sachen M. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
1. Der Beschwerdeführer rügt wie schon vor dem Baudeparte-
ment eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, da ihm keine Einsicht
in das Protokoll der vom Gemeinderat am 14. Oktober 1997 durch-
geführten Einspracheverhandlung gewährt worden sei.
2001
Verwaltungsgericht
370
a) Es ist unbestritten, dass anlässlich der Einspracheverhand-
lung vom 14. Oktober 1997 vom Hochbauadjunkten schriftliche Auf-
zeichnungen (Handnotizen) erstellt wurden. Der Gemeinderat hat das
Begehren um Einsichtnahme in diese Aufzeichnungen abgewiesen
mit der Begründung, es handle sich um eine handschriftliche interne
Aktennotiz. Es sei kein Protokoll erstellt worden; die Notizen seien
ganz klar für den verwaltungsinternen Gebrauch bestimmt gewesen.
An der Einspracheverhandlung sei von keiner Seite die Erstellung
eines Protokolls verlangt worden. Das Baudepartement hat den
Standpunkt des Gemeinderats geschützt. Zur Begründung führt es im
Wesentlichen aus, die Durchführung der Einspracheverhandlung am
Ort des Augenscheins habe der Vorinstanz dazu gedient, die tatsäch-
lichen Gegebenheiten, namentlich das Ausmass der bereits erfolgten
Umnutzung in Erfahrung zu bringen, und das Baugesuch, soweit es
unklar oder unvollständig gewesen sei, ergänzen zu lassen. In der
Baubewilligung seien die entsprechenden Hinweise über die nachge-
reichten und zu den Akten genommenen Pläne und über den vorge-
fundenen baulichen Zustand enthalten. Dass an der Verhandlung die
Parteien zusätzliche Anträge oder neue Argumente vorgebracht hät-
ten und diese im Entscheid zu Unrecht nicht berücksichtigt worden
seien, werde vom Beschwerdeführer nicht behauptet. Insofern kom-
me der Aktennotiz über den Augenschein bloss die Funktion einer
Gedankenstütze zu; sie habe keine beweisrechtliche Bedeutung. Dem
vom Beschwerdeführer behaupteten Interesse an der Einsichtnahme
in die Aktennotiz stehe das Interesse der Parteien entgegen, ihre
Sicht der Dinge möglichst frei und ungebunden darzustellen. Das
schriftliche Festhalten solcher nur flüchtig geäusserter Voten sei na-
mentlich in einem erstinstanzlichen, nicht formenstrengen Verfahren,
das nicht nur der Sachverhaltsermittlung, sondern auch der Suche
nach gütlichen Lösungen diene, problematisch. Anders entschieden
werden müsse einzig, wenn sich eine Partei, deren (für sie mög-
licherweise nachteilige) Aussage für den Ausgang des Verfahrens be-
deutsam sein könne, ausdrücklich bei ihrer Aussage behaften lasse
und im Baubewilligungsentscheid darauf abgestellt werde. Im vorlie-
genden Fall stütze sich der Baubewilligungsentscheid auf keine Aus-
sagen der Parteien ab. Die Aktennotiz über die Verhandlung diene
2001
Verwaltungsrechtspflege
371
demnach keinerlei Beweiszwecken und sei mit Grund als bloss inter-
nes Papier nicht zur Einsicht freigegeben worden.
Diesen Auffassungen kann aus den nachfolgend darzulegenden
Gründen nicht gefolgt werden.
b) Wenn sich eine Behörde des Beweismittels des Augenscheins
bedient, muss sie es in den vorgeschriebenen Formen tun und die
Grundsätze des rechtlichen Gehörs beachten (BGE 104 Ib 122). Un-
ter dem Titel ,,Beweiserhebung" ist in § 22 Abs. 1 VRPG vorgese-
hen, dass die Verwaltungsbehörde oder deren Beauftragte zur Er-
mittlung des Sachverhalts u.a. auch Beteiligte und Auskunftsperso-
nen befragen und Augenscheine vornehmen können. In welcher
Form dies zu geschehen hat, wird anders als im für das Verwaltungs-
gericht geltenden § 22 Abs. 3 VRPG, wo für die Beweisabnahme auf
die Regeln der Zivilprozessordnung verwiesen wird (für den Augen-
schein: § 249 ZPO), nicht näher bestimmt. § 22 Abs. 1 VRPG enthält
somit weder spezifische Vorschriften über die Art der Protokollfüh-
rung, noch ergibt sich daraus auch nur eine unmittelbare Verpflich-
tung der Verwaltungsbehörden zur Protokollierung von Augenschei-
nen. Vom Gesetzgeber war klarerweise beabsichtigt, den Verwal-
tungsinstanzen allgemein ein weniger förmliches Vorgehen zu er-
möglichen als den Justizbehörden. Die Verwaltungsbehörden sollten
bei der Verfahrensleitung möglichst frei sein, namentlich auch bei
der Beweiserhebung möglichst grosse Freiheit und Beweglichkeit
geniessen (AGVE 1986, S. 336 f. mit Hinweis auf die Materialien;
AGVE 1986, S. 112). Anderseits gelten die allgemeinen Verfahrens-
vorschriften des VRPG (§§ 15 ff.) grundsätzlich uneingeschränkt
auch für die Verwaltungsbehörden des Kantons und der Gemeinden
(§ 1 Abs. 1 VRPG). Insbesondere die Bestimmungen über das recht-
liche Gehör sind auch für die Beweiserhebung durch Verwaltungs-
instanzen von grösster Bedeutung (AGVE 1986, S. 337). Wo sich die
kantonalen Verfahrensvorschriften als unzureichend erweisen, grei-
fen zudem die unmittelbar aus Art. 29 Abs. 2 BV folgenden bundes-
rechtlichen Minimalgarantien Platz (BGE 116 Ia 98; ferner AGVE
1980, S. 305 f.; Kurt Eichenberger, Kommentar zur Verfassung des
Kantons Aargau, Aarau/Frankfurt a.
M./Salzburg 1986, §
22
N 14 ff.).
2001
Verwaltungsgericht
372
c) Die Frage des rechtlichen Gehörs ist in den §§ 15 VRPG
(Anhörung) und 16 VRPG (Akteneinsicht) geregelt. In Bezug auf die
hier vor allem interessierende Frage der Akteneinsicht bestimmt § 16
Abs. 1 VRPG, wer von einer Verfügung oder von einem Entscheid
betroffen werde, habe grundsätzlich das Recht, in die Akten Einsicht
zu nehmen. Die Einsichtnahme könne u.a. in ,,nur dem verwaltungs-
internen Gebrauch" dienende Akten verweigert werden. Das Verwal-
tungsgericht hat in seiner unveröffentlichten Rechtsprechung fest-
gestellt, das Protokoll einer Augenscheinsverhandlung bilde in erster
Linie ein Arbeitsinstrument der entscheidenden Behörde, weshalb es
vor der Entscheidfällung nicht zur Stellungnahme den Parteien zuge-
stellt werden müsse (VGE III/86 vom 23. Dezember 1983 in Sachen
M., S. 6 f.). Hingegen stehe den Parteien, die den Entscheid anfech-
ten wollten, aufgrund von § 16 VRPG das Recht auf Einsichtnahme
auch in ein Augenscheinsprotokoll zu (VGE III/74 vom 28. August
1989 in Sachen L., S. 5 f.; VGE II/66 vom 3. Mai 1994 in Sachen L.,
S. 6). Das Recht auf Akteneinsicht setzt voraus, dass überhaupt
Akten vorhanden sind, die eingesehen werden können, d.h. es be-
gründet auch eine Aktenerstellungspflicht (BGE 115 Ia 99; Thomas
Cottier, Der Anspruch auf rechtliches Gehör [Art. 4 BV], recht 1984,
S. 123; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage,
Bern 1999, S. 531 f.; Alexander Dubach, Das Recht auf Aktenein-
sicht, Berner Diss., Zürich 1990, S. 92 f.). Sämtliche Verfahrensele-
mente, wie Sachverhalt, Beweiserhebungen und Protokolle sind
durch Aktenführung ausreichend zu dokumentieren (Dubach, a.a.O.,
S. 92 unten; Müller, a.a.O., S. 531; BGE 115 Ia 99).
d) Nach der sich auf Art. 4 aBV stützenden Rechtsprechung des
Bundesgerichts genügt es grundsätzlich, die wesentlichen Ergebnisse
des Augenscheins in einem Protokoll oder Aktenvermerk festzuhal-
ten oder zumindest - soweit sie für die Entscheidungen erheblich
sind - im Entscheid klar zum Ausdruck zu bringen (BGE 106 Ia 75;
104 Ia 212, 322; vgl. auch den erwähnten VGE in Sachen L., S. 5 f.).
In der Literatur wird aber zu Recht die Auffassung vertreten, es sei
im Hinblick auf die spätere Gewährung des Akteneinsichtsrechts
sowie zwecks Schaffung einwandfreier Entscheidgrundlagen unum-
gänglich, dass die anlässlich des Augenscheins gemachten Feststel-
2001
Verwaltungsrechtspflege
373
lungen in einem Protokoll schriftlich festgehalten werden. Die mit
der Instruktion betraute Behörde habe daher über die wesentlichen
Ergebnisse des Augenscheins immer ein Protokoll zu erstellen, das
den Parteien nach dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs auch jeder-
zeit zur Einsichtnahme offen stehen müsse (Alfred Kölz/Jürg Boss-
hart/Martin Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz
des Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, § 7 N 49; Thomas
Merkli/Arthur Aeschlimann/Ruth Herzog, Kommentar zum Gesetz
über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997,
Art. 19 N 33; Attilio R. Gadola, Das verwaltungsinterne Beschwer-
deverfahren, Diss. Zürich 1991, S. 409; Georg Müller, in: Kom-
mentar BV, Art. 4 N 111; Cottier, a.a.O., S. 123). Diese Rechtsauf-
fassung hat in einem unlängst ergangenen Urteil auch das Verwal-
tungsgericht übernommen (VGE IV/54 vom 7. November 2000
[BE.98.00152] in Sachen F. und Mitbet., S. 11 ff., insbes. S. 14 ff.).
e) Die vorstehenden Überlegungen haben auch Gültigkeit für
die Einspracheverhandlungen des Gemeinderats. Auch diese sind
grundsätzlich jedenfalls in den wesentlichen Punkten zu protokollie-
ren, und den Einsprechern ist auf Verlangen Einsicht in das Protokoll
zu geben. Als unzutreffend erweist sich somit der Standpunkt, es
handle sich bei den anlässlich des Augenscheins erstellten Handnoti-
zen um rein interne Akten (vgl. schon AGVE 1990, S. 408 f. mit
weiteren Hinweisen). Das Argument des Baudepartements, das
erstinstanzliche Verfahren diene auch der Suche nach gütlichen Lö-
sungen, steht einer Verpflichtung, die wesentlichen Ergebnisse der
Sachverhaltsermittlung und die wesentlichen Aussagen, Äusserungen
und Auskünfte der an der Verhandlung Beteiligten in einem Protokoll
festzuhalten, nicht entgegen. Die Einspracheverhandlung ist in der
Regel keineswegs eine ausschliessliche Einigungs- oder Schlich-
tungsverhandlung; sie dient vielmehr zugleich der Sachverhaltsab-
klärung und bildet damit (auch) Grundlage für die gemeinderätliche
Rechtsfindung. Damit besteht eine Protokollierungspflicht. Der Ge-
meinderat W. stellt in seinem Beschluss vom 3. November 1997 denn
auch fest, der Adjunkt der Bauverwaltung habe Handnotizen
gemacht, ,,welche für die Ausfertigung der Baubewilligung ver-
wendet wurden". Die Entscheidrelevanz der Verhandlungsnotizen im
2001
Verwaltungsgericht
374
Hinblick auf die zu erteilende Baubewilligung wird damit vom Ge-
meinderat anerkannt. Die Einspracheverhandlung vom 14. Oktober
1997 diente somit - zumindest auch, wenn nicht sogar vor allem - der
Sachverhaltsermittlung, u.a. der Abklärung der Frage, wieweit die
Umnutzung bereits erfolgt war; zudem waren die vom Beschwerde-
führer erhobenen und jedenfalls teilweise berechtigten Rügen bezüg-
lich der Vollständigkeit der Baugesuchsunterlagen Gegenstand dieser
Verhandlung. Gemäss den Angaben des Beschwerdeführers in der
Verwaltungsbeschwerde vom 17. November 1997 wurden seitens der
Bauherrschaft angeblich auch Zusicherungen dahingehend abgege-
ben, dass keine Terrainveränderungen geplant seien. Entgegen der
Ansicht des Baudepartements erscheint es klar, dass solche Aussagen
von Verfahrensbeteiligten, die einen in der Einsprache aufgeworfe-
nen Punkt (Forderung nach einer einwandfreien Darstellung der Ter-
raingestaltung und entsprechender Profilierung im Gelände) betref-
fen, schriftlich festzuhalten sind.
f) Aus dem Gesagten folgt, dass dem Beschwerdeführer entge-
gen der Ansicht der beiden Vorinstanzen ein Anspruch auf Einsicht in
das Protokoll über die seine Einsprache betreffende Verhandlung
vom 14. Oktober 1997 zukommt (und zwar ohne dass er substantiiert
dartun muss, zu welchem Zweck er Akteneinsicht begehrt). Die Be-
anstandung des Beschwerdeführers, durch das Nichtvorliegen des
Augenscheinsprotokolls sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt worden, erweist sich damit als begründet. | 2,673 | 2,153 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-79_2001-05-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-79.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-79.pdf | AGVE_2001_79 | null | nan |
3b47e076-de2d-5e31-9366-f792747e7b60 | 1 | 412 | 871,018 | 1,209,686,400,000 | 2,008 | de | 2008
Verwaltungsgericht
98
[...]
21
Höchstbelastung (§ 56 Abs. 1 StG).
-
Grundsätze und Berechnung der Höchstbelastung (Erw. 1).
-
Keine Verletzung des Schlechterstellungsverbots, wenn die im Ergeb-
nis höhere Gesamtsteuerbelastung von der Besteuerung in mehreren
Kantonen verursacht wird (Erw. 2).
-
Berechnung der Steuerreduktion im interkantonalen Verhältnis
(Erw. 3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 27. Mai 2008 in Sachen R.
(WBE.2008.48).
Aus den Erwägungen
1.
1.1
Die periodisch geschuldeten Einkommens- und Vermögenssteu-
ern von Kanton, Gemeinde und Kirche werden gemäss § 56 Abs. 1
StG auf Antrag der steuerpflichtigen Person auf 70 % des Reinein-
kommens herabgesetzt, jedoch höchstens auf die Hälfte der geschul-
deten Vermögenssteuern. § 56 StG legt damit für natürliche Personen
eine Höchstgrenze der Steuerbelastung fest. Damit soll bei Steuer-
pflichtigen mit grossem Vermögen und geringem Einkommen - also
2008
Kantonale Steuern
99
namentlich bei ertragsschwachem Vermögen - eine in Relation zum
Einkommen übermässige steuerliche Belastung vermieden werden.
Die bereits im Steuergesetz vom 13. Dezember 1983 (aStG) festge-
setzte Höchstgrenze von 70 % der Einkommens- und Vermögens-
steuern (§ 47 Abs. 1 aStG) wurde so gewählt, dass sie eine verfas-
sungswidrige konfiskatorische Besteuerung ungeachtet der Unge-
wissheit, wann eine solche im konkreten Fall zu bejahen ist (siehe
dazu BGE 106 Ia 342 Erw. 6c mit Hinweisen), von vornherein ver-
hindern sollte (Walter Koch, in: Kommentar zum Aargauer Steuerge-
setz, [1. Aufl.] Muri/Bern 1991, § 47 aStG N 1; Conrad Walther, in:
Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, 2. Aufl., Muri/Bern 2004,
§ 56 N 1 f.). Im Übrigen stellt sie auch eine Konkretisierung des Ge-
bots der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
(Art. 127 BV; § 119 Abs. 1 und 2 KV) dar.
1.2.
Die Berechnung der Höchstbelastung stützt sich auf zwei Kom-
ponenten, die periodisch geschuldete Einkommens- und Vermögens-
steuer einerseits und das erzielte Reineinkommen andererseits. Strei-
tig ist im vorliegenden Verfahren, wie die Höchstbelastung gemäss
§ 56 StG zu berechnen ist, wenn der Steuerpflichtige nicht aus-
schliesslich im Kanton Aargau steuerpflichtig ist. Das Verwaltungs-
gericht hatte diese Frage noch nicht zu entscheiden, und soweit er-
sichtlich besteht dazu keine kantonale Praxis.
1.3.
Die Steuerkommission Z. hat die im Kanton Aargau geschulde-
ten Einkommens- und Vermögenssteuern auf 70 % des gesamten
(also nicht nur des im Kanton Aargau erzielten) Reineinkommens
reduziert. Die Berücksichtigung des gesamten Reineinkommens wur-
de auch vom KStA befürwortet und vom Steuerrekursgericht unter
Berufung auf die Gesetzesmaterialien geschützt. Sie wird von den
Beschwerdeführern zu Recht nicht mehr in Frage gestellt.
2.
2.1.
Die Beschwerdeführer bringen vor, wenn man lediglich die im
Kanton Aargau geschuldeten Steuern mit dem Gesamteinkommen in
Relation setze, würden Personen mit Steuerpflicht in mehreren Kan-
2008
Verwaltungsgericht
100
tonen benachteiligt. Ihnen gegenüber werde das Schlechterstellungs-
verbot verletzt. Um dies zu verhindern, sei bei Steuerpflicht in meh-
reren Kantonen zunächst die hypothetische aargauische Steuer auf
dem gesamten Einkommen und Vermögen zu berechnen, wenn die
Steuerpflicht ausschliesslich im Kanton Aargau bestünde. Bestehe
nach dieser Berechnung Anspruch auf Herabsetzung gemäss § 56
StG, so sei die Reduktion quotenmässig auf die im Kanton Aargau zu
entrichtende Steuer anzurechnen.
2.2.
Aus dem Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung
(Art. 127 Abs. 3 BV; zuvor Art. 46 Abs. 2 der Bundesverfassung vom
29. Mai 1974) leitet das Bundesgericht ein Schlechterstellungsverbot
ab. Danach dürfen die Kantone Steuerpflichtige, die nur für einen
Teil des Vermögens oder Einkommens steuerpflichtig sind, aus die-
sem Grund nicht anders und stärker belasten als die ausschliesslich
im Kanton steuerpflichtigen Personen (BGE 132 I 29 Erw. 2.1; 131 I
249 Erw. 3.1; Ernst Höhn/Peter Mäusli, Interkantonales Steuerrecht,
4. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien 2000, § 4 Rz. 17).
2.3.
Die kantonalen Steuern wurden in Anwendung von § 56 Abs. 1
StG auf Fr. ... (= 70 % des Gesamtreineinkommens) herabgesetzt.
Die Herabsetzung wäre in gleicher Weise erfolgt, wenn die Be-
schwerdeführer ausschliesslich im Kanton Aargau steuerpflichtig
wären. Die im Ergebnis höhere Gesamtsteuerbelastung rührt daher,
dass daneben auch der Kanton B. Steuern erhebt. Da aber der Kanton
Aargau die Beschwerdeführer nicht anders und höher besteuert, als
wenn sie ausschliesslich im Kanton steuerpflichtig wären, hat das
Steuerrekursgericht zutreffend festgehalten, dass beim gegebenen
Sachverhalt das Schlechterstellungsverbot nicht verletzt ist. Damit
muss auf den Einwand des KStA, der speziellere Grundsatz der aus-
schliesslichen Besteuerung des Grundeigentums am Ort der gelege-
nen Sache gehe dem allgemeineren Verbot der Schlechterstellung
vor, nicht mehr eingegangen werden.
Da keine Doppelbesteuerung vorliegt und das StHG keine ein-
schlägigen Vorgaben enthält, liegt kein Verstoss gegen Bundesrecht
vor.
2008
Kantonale Steuern
101
3.
3.1.
Zu prüfen bleibt, ob die Beschwerdeführer bei richtiger Ausle-
gung aus § 56 StG etwas für sich ableiten können. Aus dem Wortlaut
von § 56 Abs. 1 StG allein ergibt sich nicht, welche Einkommens-
und Vermögenssteuern bei interkantonalen Verhältnissen als Berech-
nungsgrundlage dienen. Die Norm ist deshalb auszulegen.
3.2.
(Grundsätze und Ziel der Auslegung; Verweis auf BGE 125 II
326 Erw. 5; 114 Ia 191 Erw. 3b/aa; Ernst Höhn/Robert Waldburger,
Steuerrecht, Band I, 9. Aufl., Bern/ Stuttgart/Wien 2001, § 5 N 33;
AGVE 1992, S. 154 f. mit zahlreichen Hinweisen; 1990, S. 214;
StE
1997, B 71.62 Nr. 6; VGE II/49 vom 2.
Juli 2003
[BE.2003.00039], S. 6; Höhn/Waldburger, a.a.O., § 5 N 20 ff.).
3.3.
3.3.1.
§ 56 Abs. 1 StG hat zum Ziel, eine übermässige steuerliche
Belastung zu verhindern, und zwar möglichst schon unterhalb der
Grenze, welche die Eigentumsgarantie der Besteuerung setzt (Koch,
a.a.O., § 47 aStG N 1; Walther, a.a.O., § 56 N 1 ff.). Dabei ist es aus
Sicht des Steuerpflichtigen irrelevant, ob sein Einkommen und Ver-
mögen ausschliesslich im Kanton Aargau oder in mehreren Kantonen
der Besteuerung unterliegt. Nur bei Berücksichtigung des gesamten
Reineinkommens sowie der gesamten geschuldeten Steuern kommt
seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zutreffend zum Ausdruck.
Andererseits liegen die in anderen Kantonen erhobenen Steuern
ausserhalb des Einflussbereichs des Kantons Aargau, und es ist auch
nicht Sache des Kantons Aargau, gestützt auf § 56 StG die gesamte
Reduktion des Steuerertrags auf sich zu nehmen, wenn andere Kan-
tone mitbeteiligt sind und ihrerseits keine entsprechende Steuerre-
duktion gewähren, sei es, dass eine solche überhaupt nicht vorgese-
hen ist, sei es, dass es im konkreten Fall an den Voraussetzungen
fehlt.
3.3.2.
Die Berechnungsweise, bei der auch in interkantonalen Verhält-
nissen die
im Kanton
geschuldeten Steuern mit dem
Gesamt
reinein-
2008
Verwaltungsgericht
102
kommen verglichen werden, erscheint unumgänglich. Einerseits
kann der Kanton nur die Herabsetzung der eigenen Steuern regeln,
andererseits wäre eine Steuerreduktion ungewollt und sachlich
falsch, wenn im Kanton grössere Vermögenswerte - namentlich
Grundstücke - liegen und gleichzeitig hier nur ein geringes Einkom-
men anfällt, was bei Bezugnahme auf das im Kanton erzielte Ein-
kommen Anspruch auf die Steuerreduktion gäbe, selbst wenn das
Gesamteinkommen diese in keiner Weise rechtfertigt.
Diese Berechnungsweise führt jedoch bei interkantonalen Ver-
hältnissen in aller Regel zu einer Benachteiligung derjenigen Steuer-
pflichtigen, welche die Herabsetzung der Steuern beanspruchen kön-
nen, selbst dann, wenn alle beteiligten Kantone einheitlich die Be-
stimmung von § 56 StG anwenden; denn in den Kantonen, wo Ein-
kommen, aber kein (oder nur geringes) Vermögen der Besteuerung
unterliegt, wird das dortige Steuerbetreffnis, weil es weniger als
70 % des Gesamtreineinkommens ausmacht, nie herabgesetzt.
3.3.3.
Die Beschwerdeführer beantragen, bei interkantonalen Verhält-
nissen sei zuerst die Steuerreduktion zu berechnen, wie wenn das ge-
samte Einkommen und Vermögen im Aargau steuerbar wäre. Von
dieser Reduktion sei derjenige Prozentsatz zu gewähren, der dem
aargauischen Steuerbetreffnis im Verhältnis zu den gesamten Steuern
entspreche. Diese Berechnungsweise erscheint geeignet, um dem
Ziel und Zweck des Gesetzes (steuerliche Belastungsgrenze in Rela-
tion zum Reineinkommen) möglichst nahe zu kommen, ohne dass
der Kanton dazu verhalten wird, für Steuerreduktionen einzusprin-
gen, welche andere Kantone nicht gewähren.
Gewichtige Gründe im Zusammenhang mit anderen Ausle-
gungselementen, die einer solchen Auslegung nach Sinn und Zweck
sowie nach der Systematik des Gesetzes entgegenstehen könnten,
werden nicht vorgebracht und sind nicht ersichtlich. Auch das KStA
hat in seiner Stellungnahme vom 22. Mai 2008 anerkannt, dass die
Berechnungsweise grundsätzlich geeignet ist, um bei interkantonalen
Verhältnissen eine Benachteiligung zu vermeiden. | 2,132 | 1,732 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-21_2008-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-21.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-21.pdf | AGVE_2008_21 | null | nan |
3bda53cb-b4c9-5229-a7f4-1b9e865c07c5 | 1 | 412 | 870,568 | 1,498,867,200,000 | 2,017 | de | 2017
Personalrecht
211
IX. Personalrecht
39
Arbeitszeugnis; Mahnung; Voraussetzungen eines Schadenersatz-
anspruchs infolge Persönlichkeitsverletzung im Anstellungsverhältnis;
Bemessung der Genugtuung (§ 19 Abs. 1 GAL; § 11 Abs. 1 lit. c GAL;
§ 23 Abs. 1 GAL; § 4 Abs. 3 Satz 1 GAL i.V.m. Art. 28a Abs. 3 ZGB und
Art. 97/49 OR)
-
Ein Arbeitszeugnis darf sich auch zu relevanten Tatsachen äussern,
die sich nicht aus einem (unvollständigen) Personaldossier ergeben
(Erw. 2.1).
-
Ein Zwischenzeugnis entfaltet eine gewisse Bindungswirkung für das
Schlusszeugnis, indem der Arbeitgeber für Tatsachen, die zu einer
schlechteren Beurteilung des Arbeitnehmers im Schlusszeugnis füh-
ren, sowie für zwischenzeitlich eingetretene Veränderungen beweis-
pflichtig ist. In der Formulierung des Schlusszeugnisses ist der
Arbeitgeber allerdings frei (Erw. 2.2).
-
Der Gehörsanspruch verpflichtet den Arbeitgeber nicht dazu, dem
Arbeitnehmer schon vor der Mahnung anzukündigen, welche Punkte
er zu rügen gedenkt (Erw. 3.3.1).
-
Eine teilweise ungerechtfertigte Mahnung des Arbeitnehmers ist un-
ter den gegebenen Umständen (kein langwieriger Arbeitskonflikt;
keine anhaltenden Fürsorge- bzw. Persönlichkeitsverletzungen)
keine adäquat kausale Ursache für die Kündigung des Anstellungs-
verhältnisses und einen daraus resultierenden Verdienstausfall; der
Arbeitgeber ist dafür nicht ersatzpflichtig (Erw. 4.2).
-
Bemessung der Genugtuung im Falle von Persönlichkeitsverletzun-
gen, die keinen irreversiblen psychischen Gesundheitsschaden des
Arbeitnehmers verursachen und an denen der Arbeitgeber nur ein
geringes Verschulden trägt (Erw. 4.3)
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 5. Juli 2017,
i.S. A. gegen Einwohnergemeinde B. (WKL.2016.15)
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
212
Aus den Erwägungen
II.
2.1.
(...)
An der Verhandlung vor Verwaltungsgericht kritisierte die
Rechtsvertreterin des Klägers, ein Arbeitszeugnis dürfe sich nur zu
solchen Tatsachen äussern, die im Personaldossier des Arbeitnehmers
abgebildet seien. Werde auf Partei- und Zeugenaussagen abgestellt,
für die es im Personaldossier keine Anhaltspunkte gebe, sei dies aus
Gründen der Wahrung des rechtlichen Gehörs und des Datenschutzes
problematisch. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein lückenhaftes Per-
sonaldossier nicht zu einem unwahren und/oder unvollständigen Ar-
beitszeugnis führen darf, und dass für den Zeugnisprozess keine Be-
weismittelbeschränkung vorgesehen ist. Berichtet eine befragte Per-
son nur vom Hörensagen, ist darauf bei der Beweiswürdigung gebüh-
rend Rücksicht zu nehmen; ebenso darauf, dass der Kläger zu vagen
Vorwürfen unbestimmter Quelle nicht angemessen Stellung nehmen
kann. Inwiefern die Verwendung von Partei- und Zeugenaussagen
zum Beweis von Tatsachen, über die sich ein Arbeitszeugnis ausspre-
chen darf und muss, gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen
verstossen könnte, ist nicht ersichtlich.
2.2.
(...)
Für Tatsachen, die sich vor der Ausstellung dieses Zwischen-
zeugnisses zugetragen haben und die zu einem schlechteren Schluss-
zeugnis führen, ist daher die Arbeitgeberin beweispflichtig (R
OLAND
M
ÜLLER
/P
HILIPP
T
HALMANN
, Streitpunkt Arbeitszeugnis, 2. Aufla-
ge, Basel 2016, S. 16). Nach der Ausstellung eines guten Zwischen-
zeugnisses darf die Qualifikation im Schlusszeugnis nur dann
schlechter ausfallen, wenn in der Zwischenzeit einschneidende
Änderungen eingetreten sind, die eine erheblich unterschiedliche Be-
urteilung rechtfertigen (S
TEPHAN
F
ISCHER
, Arbeitszeugnis - Beurtei-
lung und Durchsetzung, Zürich/St. Gallen 2016, S. 58; U
LLIN
S
TREIFF
/A
DRIAN VON
K
AENEL
/R
OGER
R
UDOLPH
, Arbeitsvertrag,
7. Auflage, Zürich/ Basel/Genf 2012, Art. 330a N 5a). Somit trifft die
2017
Personalrecht
213
Beklagte die Beweislast für ihre Behauptung, dass das Zwischen-
zeugnis nicht den Tatsachen entsprochen habe, dass sich C. lediglich
eine positive Auswirkung davon erhofft habe und dass es zwischen
diesem und dem Kläger zu verschiedenen Meinungsverschiedenhei-
ten betreffend die Anwendung von Lehrmitteln sowie die Einhaltung
von Dienstwegen und Vorgaben bei der Beschaffung von Mobiliar
gekommen sei. Diesbezüglich gilt es vorauszuschicken, dass der an
der Verhandlung vor Verwaltungsgericht als Zeuge einvernommene
C. nach wie vor hinter dem Wortlaut des von ihm formulierten Zwi-
schenzeugnisses steht, das seiner Ansicht nach nicht nur die guten
Leistungen des Klägers angemessen würdigt, sondern auch kritische
Punkte mit Bezug auf das Verhalten des Klägers gegenüber der
Schulleitung und seine Einstellung gegenüber der Integrativen Schu-
lung beinhalte. Auf den Wahrheitsgehalt einzelner Zeugnisaussagen
wird weiter unten zurückzukommen sein.
Weil aber dem Arbeitgeber trotz zahlreicher Rahmenbedingun-
gen bei der Schöpfung des Wortlauts in den Schranken des Verkehrs-
üblichen ein breites Ermessen zusteht und der Arbeitnehmer keinen
Anspruch auf die Verwendung bestimmter Formulierungen hat
(S
TREIFF
/
VON
K
AENEL
/R
UDOLPH
, a.a.O., Art. 330a N 3b mit diver-
sen Hinweisen), ist dem eingeklagten Zeugnisanspruch grundsätzlich
der von der Beklagten vorgeschlagene Zeugnistext zu Grunde zu le-
gen und dieser mit den allenfalls notwendigen Korrekturen/Ergän-
zungen zu versehen. Die Formulierungen des Zwischenzeugnisses
müssen im Schlusszeugnis nicht übernommen werden (Urteil des
Bundesgerichts vom 5. September 2003 [4C.129/2003], Erw. 6.1).
Dies gilt hier umso mehr, als sich das Zwischenzeugnis vom Juni
2015 der Natur der Sache nach nicht zur Leistung und zum Verhalten
des Klägers in der letzten Phase der Anstellungsdauer (erstes Semes-
ter des Schuljahrs 2015/16) äussert und das Schlusszeugnis ein faires
Abbild der gesamten Anstellungsdauer zu geben hat (S
TREIFF
/
VON
K
AENEL
/R
UDOLPH
, a.a.O., Art. 330a N 3a). Der Einwand des Klä-
gers, im Schuljahr 2015/16 habe er wegen seiner Krankschreibung
und seiner Freistellung kaum mehr ordentlich unterrichten können,
ist insofern nicht stichhaltig, als sich in dieser Schlussphase, die no-
minell immerhin einen Drittel der gesamten Anstellungsdauer aus-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
214
macht, Dinge zugetragen haben, die für die Beurteilung seines Ver-
haltens (gegenüber der neuen Schulleitung und der Schulpflege) rele-
vant sind. Auch sein Einwand, in dieser letzten Phase könne das An-
stellungsverhältnis kaum mehr als regulär bezeichnet werden und sei
deshalb bei der Beurteilung seiner Leistungen und seines Verhaltens
auszuklammern, ist nicht zu hören. Für den neuen Arbeitgeber bzw.
den neuen Vorgesetzten sind gerade auch die Leistungen und das
Verhalten des Arbeitnehmers in der letzten Zeit des Anstellungsver-
hältnisses von besonderer Bedeutung (S
TREIFF
/
VON
K
AENEL
/
R
UDOLPH
, a.a.O., Art. 330a N 3a).
Es gebietet sich aber wenigstens eine sinngemässe Übernahme
derjenigen Bestandteile des Zwischenzeugnisses, die auch in einer
Gesamtbetrachtung des Anstellungsverhältnisses weiterhin richtig
und für die Beurteilung der Qualifikation des Klägers von Bedeutung
sind (vgl. A
LEX
E
NZLER
, Der arbeitsrechtliche Zeugnisanspruch,
Diss. Zürich/Basel/Genf 2012, S. 64).
2.3.-3.2. (...)
3.3.
3.3.1.
Die Mahnung mit Ansetzung einer Bewährungszeit gemäss § 11
Abs. 1 lit. c GAL erfüllt grundsätzlich zwei Funktionen: Einerseits
hält der Mahnende dem Betroffenen eine Vertragsverletzung vor und
mahnt ihn zu künftigem vertragsgemässem Verhalten (Rügefunk-
tion), andererseits drückt sie die Androhung einer Sanktion aus
(Warnfunktion). Die Mahnung bildet eine Massnahme zum Schutz
der Angestellten, da eine ordentliche Kündigung wegen Mängeln in
der Leistung oder im Verhalten grundsätzlich nur rechtmässig ist,
wenn zuvor erfolglos gemahnt wurde. Die Mahnung muss als solche
erkennbar sein und der Arbeitnehmer muss daraus ersehen können,
welche Verhaltensweisen nicht mehr toleriert werden und wie er sich
inskünftig zu verhalten hat (Urteil des Bundesgerichts vom 2. März
2009 [1C_245/2008], Erw. 5.3; Urteil des Bundesverwaltungsge-
richts vom 3. Mai 2012 [A-5670/2011], Erw. 8.1; VGE I/79 vom
4. Juni 2014 [WKL.2013.20], Erw. II/4.2.2). Ihre Rügefunktion er-
füllt die Mahnung nur dann, wenn die Arbeitgeberin dem Angestell-
ten die Mängel im Verhalten nicht nur summarisch aufzeigt, sondern
2017
Personalrecht
215
detailliert mitteilt und die Mängel durch Verweis auf bestimmte Vor-
kommnisse belegen kann (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vom 3. Mai 2012 [A-5670/2011], Erw. 8.1; H
ARRY
N
ÖTZLI
, Die
Beendigung von Arbeitsverhältnissen im Bundespersonalrecht: unter
besonderer Berücksichtigung der Arbeitsverhältnisse bei der Bundes-
verwaltung, dem Bundesgericht und dem ETH-Bereich, Bern 2005,
Rz. 197).
Soweit die Mahnung nicht über die gesetzlichen und vertragli-
chen Vorgaben hinausgeht und neue Pflichten begründet, sondern le-
diglich daran erinnert bzw. diese näher ausführt, stellt sie keine (selb-
ständig anfechtbare) Massnahme dar. Kommt es in der Folge zu einer
Kündigung, so kann sich der Betroffene gegen die entsprechende
Verfügung / Gestaltungserklärung zur Wehr setzen und in einem all-
fälligen Beschwerde- oder Klageverfahren (auch) geltend machen,
die Kündigung sei mitunter deshalb unrechtmässig, weil bereits die
Mahnung nicht gerechtfertigt gewesen sei (VGE I/82 vom 22. April
2015 [WKL.2015.4], Erw. I/6.3.2 f. mit Hinweisen auf die Recht-
sprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts).
Insofern gelten für eine Mahnung nicht die gleichen (rechtsstaatli-
chen) Verfahrensgarantien wie für die Kündigung des Anstellungs-
verhältnisses, die zwar bei vertraglicher Grundlage "nur" eine ver-
tragliche (Gestaltungs-)Erklärung (anstelle einer Verfügung im
Rechtssinne) darstellt, aber durch die unmittelbare Beendigung des
Anstellungsverhältnisses den weit schwerwiegenderen Eingriff in
existenzielle Interessen des betroffenen Vertragspartners beinhaltet
(vgl. dazu VGE I/213 vom 10. November 2016 [WKL.2015.19],
Erw. II/2.2). Entsprechend kommt der verfassungsmässige Anspruch
auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 1 BV und § 22 Abs. 1 KV) res-
pektive das daraus fliessende Recht auf vorgängige Anhörung im
Kontext einer Mahnung nicht oder höchstens beschränkt zum Tra-
gen. Vom Arbeitgeber kann namentlich nicht verlangt werden, dass
er dem Arbeitnehmer schon im Vorfeld der Mahnung bekanntgibt,
welche Mängel er zu rügen gedenkt.
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
216
3.3.2.-3.7. (...)
4.
4.1.
Verletzt der Arbeitgeber seine Fürsorgepflichten respektive die
Persönlichkeitsrechte seiner Angestellten, haben die Lehrpersonen in
Anwendung von § 23 Abs. 1 GAL Anspruch auf Schadenersatz. Weil
die Minimalansprüche zum Schutz der Lehrpersonen denjenigen des
Schweizerischen Obligationenrechts entsprechen und in jedem Fall
einzuhalten sind (§ 4 Abs. 3 Satz 1 GAL), stehen den Lehrpersonen
neben dem vertraglichen Schadenersatzanspruch (bei Persönlich-
keitsverletzungen) - analog zu privatrechtlich Angestellten - alle
Rechtsbehelfe des Art. 28a ZGB, einschliesslich des in Art. 28a
Abs. 3 ZGB vorbehaltenen Anspruchs auf Genugtuung zu. Wie im
Anwendungsbereich von Art. 97 OR muss zwischen der Vertragsver-
letzung (Persönlichkeitsverletzung) und dem von der Lehrperson gel-
tend gemachten Schaden ein natürlicher und adäquater Kausalzusam-
menhang bestehen. Von natürlicher Kausalität spricht man, wenn
eine Ursache "conditio sine qua non" eines Erfolges ist. Das fragli-
che Verhalten darf nicht weggedacht werden können, ohne dass auch
der eingetretene Erfolg entfiele. Das Kriterium der adäquaten Kausa-
lität ist erfüllt, wenn die schädigende Handlung nach dem gewöhnli-
chen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet
ist, den entstandenen Schaden herbeizuführen (statt vieler:
W
OLFGANG
W
IEGAND
, Basler Kommentar Obligationenrecht I,
Art. 1-529 OR, 6. Auflage, Basel 2015, Art. 97 N 41). Die Voraus-
setzungen des Genugtuungsanspruchs richten sich nach Art. 49 OR
(BGE 130 III 699, Erw. 5.1 = Pra 94/2005, S. 581). Das Vorliegen
einer Persönlichkeitsverletzung begründet demnach noch keinen Ge-
nugtuungsanspruch. Art. 49 OR setzt zusätzlich eine gewisse objekti-
ve Schwere der Persönlichkeitsverletzung und beim betroffenen Ar-
beitnehmer eine ausreichend starke moralische Unbill voraus, die es
als legitim erscheinen lässt, an den Richter zu gelangen, um ein
Schmerzensgeld zu erhalten (S
TREIFF
/
VON
K
AENEL
/R
UDOLPH
,
a.a.O., Art. 328 N 19). Der Umfang der Genugtuung hängt in erster
Linie von der Schwere des physischen und psychischen Leidens als
Folge der vom Geschädigten erlittenen Beeinträchtigung ab und von
2017
Personalrecht
217
der Möglichkeit, die entstandene Unbill mit einem Geldbetrag spür-
bar zu lindern. Irgendeine leichte Beeinträchtigung des beruflichen,
wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Ansehens vermag eine Ge-
nugtuung nicht zu rechtfertigen (BGE 130 III 699, Erw. 5.1 = Pra
94/2005, S. 581).
4.2.
4.2.1.
Dem Kläger ist es anscheinend nicht gelungen, nach der Been-
digung des Anstellungsverhältnisses mit der Beklagten per 5. Februar
2016 eine Anstellung mit gleich hohem Beschäftigungsgrad zu fin-
den, woraus er einen Verdienstausfall von Fr. 9'375.00 (recte:
Fr. 9'376.00; 5 Monate à Fr. 1'875.20) berechnet. Diesen führt er da-
rauf zurück, dass ihn die Schulpflege/Schulleitung mit der unrecht-
mässigen Mahnung vom 7./8. September 2015 quasi dazu genötigt
habe, das Arbeitsverhältnis von sich aus zu kündigen. Die Kündi-
gung sei ihm als einzige Möglichkeit verblieben, aus der unhaltbaren
Situation bei der Beklagten herauszukommen und nicht noch mehr
krank zu werden. Es habe keine weniger einschneidenden Massnah-
men gegeben, insbesondere nicht die von der Schlichtungskommis-
sion angeführten. Die Vertreter der Beklagten hätten ihm das Ge-
spräch und eine Schlichtungsverhandlung verweigert.
4.2.2.
Es ist durchaus möglich, dass der Kläger trotz des angespannten
Verhältnisses mit der Schulleiterin das Anstellungsverhältnis ohne
die Mahnung vom 7./8. September 2015 nicht von sich aus gekündigt
hätte. Die Kündigung wiederum war die Ursache dafür, dass der Klä-
ger ab 1. März 2016 nur noch mit einem reduzierten Pensum vom
74 % tätig sein konnte
.
Damit ist der natürliche Kausalzusammen-
hang zwischen der Mahnung und dem eingeklagten Verdienstausfall
erstellt. Hingegen fehlt es aus den folgenden Überlegungen an einem
adäquaten Kausalzusammenhang: Die Schulpflege musste nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung
nicht damit rechnen, dass ihre Mahnung, welche in der Hauptstoss-
richtung (Verletzung der Loyalitäts- und Treuepflicht) berechtigt war,
und ihre Weigerung, auf die Mahnung zurückzukommen, den Kläger
gleich zu einer Kündigung des Anstellungsverhältnisses veranlassen
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
218
würde. Von der Unausweichlichkeit dieser Massnahme kann ohnehin
nicht ausgegangen werden. Zweifelsohne kann eine Mahnung das
psychische Wohlbefinden des Betroffenen beeinträchtigen, vor allem
wenn sie in weiten Teilen nicht gerechtfertigt ist. Eine sofortige Kün-
digung des Anstellungsverhältnisses allein wegen einer Mahnung er-
scheint aber bei objektiver Betrachtung als eher ungewöhnlicher
Schritt, den eine Mehrheit von Arbeitnehmern in einer vergleichba-
ren Situation nicht vollziehen würde. Vielmehr hätte es nahe gelegen,
den Verhaltensanweisungen punkto Loyalitäts- und Treuepflicht best-
möglich nachzuleben, Auseinandersetzungen mit der Schulleitung
und der Schulpflege tunlichst zu meiden, die Weisungen der Schul-
leitung zu beachten und sich in der Zwischenzeit (in aller Ruhe) nach
einer anderen, gleichwertigen Stelle umzuschauen. Dass der Kläger
das Anstellungsverhältnis ohne ein neues gleichwertiges Stellenange-
bot kündigen und darauf nur noch eine Teilzeitstelle finden würde,
war für die Schulpflege in der gegebenen Situation nicht vorherseh-
bar. Der Kläger hat sein entsprechendes Handeln und die Konsequen-
zen daraus selber zu verantworten. Dabei muss man sich vor Augen
halten, dass der Kläger nicht etwa in einem langwierigen Arbeitskon-
flikt mit anhaltenden Eingriffen in seine Persönlichkeitsrechte und
fortwährender Vernachlässigung der Fürsorgepflicht durch den Ar-
beitgeber feststeckte. Er arbeite im Kündigungszeitpunkt gerade ein-
mal rund zweieinhalb Monate unter der Schulleitung von D. und trug
durch sein uneinsichtiges und auflehnendes Verhalten im Zusammen-
hang mit der Vorbereitung und Organisation des Schullagers im Au-
gust 2016 erhebliche Mitschuld am entstandenen Arbeitskonflikt.
Der Kläger kann ferner nichts daraus ableiten, dass sich die Ver-
treter der Beklagten (Schulpflegepräsidentin) ebenfalls mit dem Ge-
danken an eine Kündigung des Anstellungsverhältnisses trugen. Mit-
tels ordentlicher Kündigung hätte die Beklagte das Anstellungsver-
hältnis frühestens auf Ende des Schuljahrs 2015/16 (1. Juli 2016) und
auch nur dann auf diesen Termin hin beenden können, wenn sich die
dem Kläger nachgewiesenen Verhaltensmängel in der bis 26. Februar
2016 limitierten Bewährungszeit fortgesetzt hätten (vgl. § 10 Abs. 3
lit. b und Abs. 4 GAL). Eine fristlose Auflösung gemäss § 12 GAL
wäre nur bei einem gravierenden Fehlverhalten des Klägers in Frage
2017
Personalrecht
219
gekommen. Dass es so oder so (im Sinne einer überholenden Kausa-
lität) dazu gekommen wäre, steht nicht fest, auch wenn solche Dis-
kussionen stattgefunden haben. Die alleinige Ursache für den einge-
klagten Schaden hat der Kläger mit seiner Kündigung des Anstel-
lungsverhältnisses gesetzt. Alles Weitere ist rein hypothetisch und
spekulativ.
Die übrigen Fürsorgepflicht- und Persönlichkeitsverletzungen
(...) haben sich nach der Kündigung des Anstellungsverhältnisses
durch den Kläger am 27. Oktober 2015 zugetragen und fallen als (na-
türliche) Ursache für den eingeklagten Verdienstausfall schon des-
halb ausser Betracht.
(...)
4.3.
Dem Gericht kommt bei der Bemessung der Genugtuungsleis-
tung ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Bei der Bemessung der
Basisgenugtuung (erste Phase) ist vor allem (objektiv) auf die Art
und Schwere der Verletzung, die Intensität und die Dauer der Aus-
wirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen sowie auf den
Grad des Verschuldens des Schädigers abzustellen. Bei Vorliegen
von Reduktions- und Herabsetzungsgründen ist die Basisgenugtuung
in analoger Anwendung von Art. 43 Abs. 1 und Art. 44 Abs. 1 OR zu
kürzen (zweite Phase), dies insbesondere bei bloss geringem Ver-
schulden des Schädigers, bei (adäquat-kausalem) Mitverschulden des
Geschädigten oder mit Blick auf dessen Vorzustand (M
ARTIN
A.
K
ESSLER
, Basler Kommentar Obligationenrecht I, a.a.O., Art. 47
N 20a und b).
Bezüglich der vom Kläger erlittenen seelischen Unbill fällt ins
Gewicht, dass der Kläger nicht während eines längeren Zeitraums
stetigen und systematischen Attacken auf seine psychische Integrität
ausgesetzt war. Mit einem Monat dauerte die während des Anstel-
lungsverhältnisses mit der Beklagten eingetretene Arbeitsunfähigkeit
aus psychischen Gründen auch nicht besonders lange. An der Ver-
handlung vor Verwaltungsgericht machte der Kläger zwar neu einen
psychischen Langzeitfolgeschaden geltend. Seinen Angaben zufolge
kann er heute aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Lehrer
tätig sein, was alles eine Nachwirkung davon sei, wie er von den Ver-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
220
tretern der Beklagten behandelt worden sei. Als Beleg dafür hat er
das ärztliche Attest des ihn behandelnden Psychiaters vom 9. Juni
2017 ins Recht gelegt. Eine bleibende Arbeitsunfähigkeit (als Lehrer)
wird dem Kläger darin allerdings nicht bescheinigt, sondern eine sol-
che bis Ende Schuljahr 2016/17. Im Weiteren darf der Arbeitskon-
flikt an der Schule B., für den die Schulleitung und die Schulpflege
ohnehin nicht die alleinige Verantwortung tragen, maximal als Teil-
ursache für die psychische Beeinträchtigung des Klägers gewertet
werden, heisst es doch im Attest, der "B. Konflikt stehe am Anfang
einer schwer belastenden Berufsphase, aus welcher A. erheblicher
gesundheitlicher und seelischer Schaden entstanden sei". An den
Schulen E. und F. bekundete der Kläger offenbar erneut Schwierig-
keiten mit der Schulleitung und den Schulpflegen. Um für diese
Schwierigkeiten allein das angeschlagene berufliche Selbstverständ-
nis des Klägers und dafür wiederum allein die den Vertretern der Be-
klagten anzulastenden Vorfälle an der Schule B. verantwortlich ma-
chen zu können, wären vertiefte Abklärungen im jeweiligen Schul-
umfeld erforderlich. Schliesslich ist mit der Beklagten festzuhalten,
dass dem Attest nicht der Beweiswert und die Aussagekraft eines
(neutralen) medizinischen bzw. psychiatrischen Gutachtens zu-
kommt. Somit bleibt letztlich unbewiesen, dass die Vertreter des Be-
klagten dem Kläger einen ernsthaften und irreversiblen Gesundheits-
schaden zugefügt haben.
Die Umstände, welche die Beklagte zur Mahnung, zur Benach-
richtigung der Polizei und zum Schreiben an die Lehrerschaft vom
17. Dezember 2015 bewogen haben, waren vom Kläger teilweise
mitverschuldet. Er hat sich als nicht besonders anpassungsfähiger
und konzilianter Mitarbeiter ausgezeichnet.
Auf der anderen Seite kann das Verschulden der Beklagten
nicht als schwer eingestuft werden. Die gesamten Prozessakten ver-
mitteln den Eindruck, dass der Umgang mit einer eigenwilligen und
anspruchsvoll zu führenden Lehrperson die kommunalen Schulbe-
hörden in den konkreten Situationen ganz einfach überfordert hat.
Deren Vorgehensweise lässt keine bösen Absichten vermuten, was
sich nicht zuletzt daran zeigt, dass sie in dieser Phase mehrfach die
2017
Personalrecht
221
Beratung des BKS in Anspruch nahmen und offenkundig darum be-
müht waren, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Unter diesem Umständen erscheint dem Verwaltungsgericht
auch bei einem Vergleich mit Präjudizien (vgl. S
TREIFF
/
VON
K
AE
-
NEL
/R
UDOLPH
, a.a.O., Art. 328 N 16, S. 552 f.) eine Genugtuung von
Fr. 2'500.00 als angemessen. | 5,062 | 4,030 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-39_2017-07-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-39.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-39.pdf | AGVE_2017_39 | null | nan |
3c5236e0-ba39-5251-8bdd-4c5c5619975e | 1 | 412 | 871,977 | 1,380,672,000,000 | 2,013 | de | 2013
Migrationsrecht
145
[...]
32
Widerruf der Niederlassungsbewilligung; Verstoss gegen die öffentliche
Sicherheit und Ordnung; Verhältnismässigkeit
-
Ein Widerrufsgrund im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG liegt vor,
wenn die relevanten Aspekte in ihrer Gesamtheit als schwerwiegen-
den Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu quali-
fizieren sind (Erw. 2.3.5.).
-
Fehlen strafrechtliche Verurteilungen, ist das öffentliche Interesse
daran zu bemessen, welche Bereiche der öffentlichen Sicherheit und
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
146
Ordnung tangiert wurden und wie gravierend der Verstoss dagegen
war (Erw. 3.2.1.).
-
I.c. erweisen sich der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und
die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz als verhält-
nismässig (Erw. 3.).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 22. Oktober
2013 in Sachen A. gegen das Amt für Migration und Integration
(WBE.2011.1064).
Sachverhalt (Zusammenfassung)
Der Beschwerdeführer reiste 1991 im Alter von zehn Jahren in
die Schweiz ein. Er wurde schon bald nach seiner Einreise erstmals
straffällig und konsumierte ab 1995 illegale Suchtmittel. Bis im Jahr
2010 kam es regelmässig zu Verurteilungen (hauptsächlich wegen
Vermögensdelikten sowie Widerhandlungen gegen das Betäubungs-
mittelgesetz), wobei der Beschwerdeführer zu Freiheitsstrafen von
insgesamt über 17 Monaten verurteilt wurde. Auch vermochte er sei-
nen öffentlich- und privatrechtlichen Verpflichtungen kaum je nach-
zukommen und musste in erheblichem Umfang von der öffentlichen
Fürsorge unterstützt werden. Nachdem das MKA den Beschwerde-
führer mehrmals erfolglos verwarnt respektive ermahnt hatte, wurde
schliesslich am 27. Mai 2011 der Widerruf seiner Niederlassungs-
bewilligung verfügt und der Beschwerdeführer aus der Schweiz weg-
gewiesen.
Aus den Erwägungen
2.2.
Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG liegt ein Widerrufsgrund vor,
wenn eine ausländische Person in schwerwiegender Weise gegen die
öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland
verstossen hat oder sie gefährdet.
2013
Migrationsrecht
147
(...)
2.3.
2.3.1. - 2.3.4. (...)
2.3.5.
Die erwähnten Gesichtspunkte [wiederholte Straffälligkeit wäh-
rend mehr als zehn Jahren, langjähriger Konsum von illegalen Sucht-
mitteln, Verstoss gegen öffentlich- und privatrechtliche Verpflichtun-
gen, erfolglose Androhung von migrationsrechtlichen Massnahmen]
erscheinen unterschiedlich gravierend und vermögen je für sich al-
leine kaum die Voraussetzungen eines Widerrufs nach Art. 63 Abs. 1
lit. b AuG zu erfüllen. In ihrer Gesamtheit ergibt sich aber, dass der
Beschwerdeführer durch die Vielzahl sowie zum Teil die Tragweite
der von ihm begangenen Straftaten, seine seit 17 Jahren andauernde
Suchtproblematik, die regelmässige Nichterfüllung seiner öffentlich-
und privatrechtlichen Verpflichtungen sowie das Ignorieren der An-
ordnungen des MIKA in schwerwiegender Art und Weise gegen die
öffentliche Sicherheit und Ordnung verstossen hat. Damit ist der Wi-
derrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG erfüllt.
3.
3.1.
Der Widerruf bzw. die Verweigerung einer Bewilligung recht-
fertigt sich nur, wenn die jeweils im Einzelfall vorzunehmende Inte-
ressenabwägung die entsprechende Massnahme als verhältnismässig
erscheinen lässt (BGE 135 II 377, Erw. 4.3). Konkret muss bei Ge-
genüberstellung aller öffentlichen und privaten Interessen ein über-
wiegendes öffentliches Interesse an der Entfernung aus der Schweiz
resultieren.
Ob sämtliche relevanten Kriterien berücksichtigt und richtig an-
gewandt worden sind bzw. ob sich der Widerruf als verhältnismässig
erweist, ist als Rechtsfrage durch das Verwaltungsgericht frei zu prü-
fen.
3.2.
3.2.1.
Liegt ein Widerrufsgrund vor, weil ein Betroffener in schwer-
wiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in
der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder sie gefährdet hat,
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
148
bestimmt sich das Mass des öffentlichen Interesses vorab anhand der
Schwere des Verschuldens des Betroffenen.
Wurde der Betroffene strafrechtlich belangt, sind die vom Straf-
richter verhängten Strafen Ausgangspunkt und Massstab für die Be-
messung des öffentlichen Interesses. Das heisst, je höher die Strafen
ausfallen, umso höher ist das Verschulden eines Betroffenen zu qua-
lifizieren. Bei Festsetzung des Strafmasses werden strafmildernde
Umstände überdies stets mitberücksichtigt, weshalb auf die Beurtei-
lung des Strafrichters grundsätzlich abzustellen ist (BGE 129 II 215,
Erw.
3.1 sowie Urteil des Bundesgerichts vom 12.
Juni 2012
[2C_797/2011], Erw. 2.2). Wird ein Strafurteil in Bezug auf die
Strafzumessung nicht angefochten, bleibt damit in der Regel kein
Raum, im migrationsrechtlichen Verfahren die diesbezügliche Beur-
teilung des Strafrichters zu relativieren (Urteil des Bundesgerichts
vom 19. Januar 2005 [2A.570/2004], Erw. 3.3). Bei schweren Straf-
taten, insbesondere bei Gewalt-, Sexual- und schweren Betäubungs-
mitteldelikten, sowie bei wiederholter Delinquenz bzw. erneuter De-
linquenz nach Untersuchungshaft, nach verbüsster Freiheitsstrafe
oder nach migrationsamtlicher Verwarnung erhöht sich aus migrati-
onsrechtlicher Sicht das öffentliche Interesse am Widerruf bzw. an
der Verweigerung der Bewilligung entsprechend.
Wurde der Betroffene nicht strafrechtlich belangt, ist das öffent-
liche Interesse daran zu bemessen, welche Bereiche der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland tangiert
wurden und wie gravierend der Verstoss dagegen war. Je gewichtiger
die tangierten Bereiche der öffentliche Sicherheit und Ordnung ein-
zustufen sind und je grösser das Verschulden des Betroffenen zu qua-
lifizieren ist, umso höher ist das öffentliche Interesse am Widerruf
bzw. an der Verweigerung einer Bewilligung.
(...)
Der Beschwerdeführer wurde zwischen Februar 2000 und No-
vember 2010 zu Freiheitsstrafen von insgesamt rund 17 Monaten und
Geldstrafen von insgesamt 135 Tagessätzen sowie zu diversen Bus-
sen verurteilt. Die längste Freiheitsstrafe von sechs Monaten datiert
aus dem Jahr 2002, die letzte Freiheitsstrafe von 75 Tagen Gefängnis
wurde im Mai 2005 und die letzte Geldstrafe von 30 Tagessätzen im
2013
Migrationsrecht
149
November 2010 ausgesprochen. Seither sind keine Verurteilungen
gegen den Beschwerdeführer mehr ergangen. Jedoch wurde im Feb-
ruar 2013 gegen den Beschwerdeführer ein Strafverfahren wegen Er-
schleichens einer Leistung sowie Urkundenfälschung eröffnet, wel-
ches mit Verfügung der Staatsanwaltschaft B. vom 16. Mai 2013 sis-
tiert wurde. Die Sistierung erfolgte, da der Ausgang des Strafverfah-
rens gegen den Beschwerdeführer vom Verfahren gegen eine Dritt-
person abhängig ist, weshalb der Ausgang dieses Verfahrens ab-
zuwarten ist.
Der Beschwerdeführer delinquierte damit während einer Zeit-
spanne von mehr als zehn Jahren und liess sich von keinerlei straf-
und/oder migrationsrechtlichen Massnahmen beeindrucken. Zudem
wurde gegen den Beschwerdeführer bereits wieder ein Strafverfahren
eröffnet, welches derzeit sistiert ist. Das Verschulden an diesem ins-
gesamt als schwerwiegend zu qualifizierenden Verstoss gegen die
öffentliche Sicherheit und Ordnung wiegt dementsprechend schwer,
auch wenn die Art der begangenen Delikte das öffentliche Interesse
nicht weiter erhöht. Insgesamt ist aufgrund der Vielzahl der begange-
nen Delikte und der ausgefällten Strafen von einem grossen öffentli-
chen Interesse am Widerruf der Niederlassungsbewilligung des Be-
schwerdeführers auszugehen.
3.2.2.
Soweit der Beschwerdeführer im Weiteren geltend macht, von
ihm gehe im heutigen Zeitpunkt keine Gefahr mehr aus, da seine De-
linquenz (fast) ausschliesslich durch seine Drogensucht bedingt ge-
wesen sei und er noch dazu im jungen Erwachsenenalter gewesen
sei, ist darauf hinzuweisen, dass gemäss bundesgerichtlicher Recht-
sprechung eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung
der öffentlichen Sicherheit lediglich bei Staatsangehörigen (und de-
ren Angehörigen) von Mitgliedstaaten des FZA verlangt wird. Der
Beschwerdeführer kann sich daher nicht auf die entsprechende Praxis
zu Art. 5 Anhang I FZA berufen (vgl. BGE 130 II 176, Erw. 4.2). Das
Verwaltungsgericht geht zudem in Fortführung der konstanten Recht-
sprechung des RGAR davon aus, dass bei Staatsangehörigen von
Drittstaaten grundsätzlich auch generalpräventive Überlegungen bei
der Bemessung des öffentlichen Interesses mitberücksichtigt werden
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
150
können (RGAE vom 16.
November 2010 [1-BE.2009.31],
Erw.
II./3.2.2, bestätigt durch Urteil des Bundesgerichts vom
22. März 2011 [2C_13/2011], Erw. 2.2).
(...)
Im vorliegenden Verfahren fällt auf, dass bezüglich des Verhal-
tens des Beschwerdeführers in den vergangen zwei bis drei Jahren in
verschiedener Hinsicht gewisse Besserungen eingetreten sind und die
letzte Verurteilung beinahe drei Jahre zurück liegt. Jedoch musste ge-
gen den Beschwerdeführer bereits wieder ein Strafverfahren wegen
Erschleichen einer Leistung und Urkundenfälschung eröffnet wer-
den. Dieses Strafverfahren ist derzeit sistiert. Die Dauer von knapp
drei Jahren seit der letzten Verurteilung bietet aber - selbst unter
Ausserachtlassung des laufenden Strafverfahrens - mit Blick auf die
über zehn Jahre andauernde Straffälligkeit keine Gewähr für ein
künftiges Wohlverhalten. So hat sich der Beschwerdeführer auch
zwischen Mai 2005 und Mai 2007 über zwei Jahre hinweg wohl ver-
halten und ist anschliessend erneut (und wiederholt) straffällig
geworden.
Der Beschwerdeführer lässt ausführen, er konsumiere seit Ja-
nuar 2010 keine harten Drogen mehr. Jedoch wurde anlässlich des
mit Beschluss vom 27. Mai 2013 angeordneten Drogentests durch
das Kantonsspital A. in der untersuchten Haarprobe Methadon sowie
dessen Abbauprodukt nachgewiesen. Aufgrund der untersuchten
Haarprobe konnten Rückschlüsse für den Zeitraum des Konsums
(Mitte Januar bis Mitte März 2013) gezogen werden. Damit ist er-
stellt, dass der Beschwerdeführer im Zeitraum von Mitte Januar bis
Mitte März 2013 Methadon konsumiert hat. Der Beschwerdeführer
hat anlässlich der Haarentnahme angegeben, das methadonhaltige
Schmerzmittel Ketalgin eingenommen zu haben. Gemäss den Anga-
ben des Hausarztes des Beschwerdeführers hat dieser ihm jedoch zu-
letzt am 4. Januar 2010 Methadon als Substitutionsmittel verschrie-
ben. Dem Schreiben des Hausarztes des Beschwerdeführers vom
19. August 2013 lässt sich entnehmen, dass er dem Beschwerdefüh-
rer für die Zeit vom 9. Januar 2010 bis 8. Februar 2010 Methadon
zur täglichen Einnahme verschrieben hat. Weiter lässt sich diesem
Schreiben entnehmen, dass die im Anschluss an diese Zeit durchge-
2013
Migrationsrecht
151
führten Urinproben jeweils negativ auf Opiate bzw. Methadon gewe-
sen seien. Die im Juni 2013 nachgewiesenen Rückstände von Metha-
don und dessen Abbauprodukt können somit nicht vom damals ver-
schriebenen Methadon herrühren. Gemäss dem Schreiben des Haus-
arztes des Beschwerdeführers muss der Beschwerdeführer das
Methadon von einer dem Hausarzt unbekannten Stelle erhalten ha-
ben. Der Beschwerdeführer führt in seiner Stellungnahme vom
21. August 2013 diesbezüglich lediglich aus, für welchen Zeitraum
er im Jahr 2010 durch seinen Hausarzt Methadon verschrieben erhal-
ten hat und vermag darüber hinaus keine plausible Erklärung des an-
lässlich des Drogentests im Juni 2013 nachgewiesenen Methadons zu
liefern. Insbesondere führt der Beschwerdeführer nicht aus, weshalb
er das methadonhaltige Schmerzmittel Ketalgin genommen haben
will und durch welchen Arzt ihm dieses verschrieben worden sei. Im
Gegenteil: der Beschwerdeführer macht in seiner Stellungnahme
vom 21. August 2013 nicht einmal mehr geltend, das Methadon über-
haupt von ärztlicher Seite verschrieben erhalten zu haben. Die Absti-
nenz von harten Drogen kann ausserdem nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass anerkanntermassen eine Suchtproblematik in Bezug auf
Alkohol und leichte Drogen besteht. Der Beschwerdeführer aner-
kennt deren Ernsthaftigkeit selber, indem er zugibt, er habe sie "bis
heute wohl verharmlost". Die angebliche Bereitschaft, sich dem
Problem zu stellen, vermag für sich allein noch keine günstige Prog-
nose zu begründen.
Ab dem 24. September 2010 arbeitete der Beschwerdeführer in
einer festen Anstellung als Call Center Mitarbeiter. Seit dem
21. Januar 2013 hatte der Beschwerdeführer einen unbefristeten Ar-
beitsvertrag bei einem Verlagshaus. Dieses Arbeitsverhältnis wurde
jedoch per 31. August 2013 durch die Arbeitgeberin aufgelöst. Auf-
grund der vormaligen Festanstellung kann mitnichten davon gespro-
chen werden, dass sich der Beschwerdeführer nunmehr beruflich
etabliert hätte. Hinzu kommt, dass der Lohn von monatlich netto
CHF 2'150.00 (Stand Oktober 2011) dem Beschwerdeführer nur ei-
nen sehr geringen finanziellen Spielraum gelassen hat; entgegen sei-
nen Aussagen war keine "markante Verbesserung der wirtschaftli-
chen Situation" erkennbar, die eine "günstige Zukunftsprognose" be-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
152
gründet hätte. Zudem wurde dieses Arbeitsverhältnis per Ende Au-
gust 2013 durch die Arbeitgeberin gekündet und es ist aktenkundig,
dass der Beschwerdeführer derzeit keiner Arbeitstätigkeit mehr nach-
geht.
Der Beschwerdeführer ist seit dem 28. Februar 2013 bis min-
destens 31. Oktober 2013 zu 100% krank geschrieben. Dem Bericht
der Psychiatrischen Dienste A. (PDAG) ist zu entnehmen, dass beim
Beschwerdeführer eine anamnestisch emotional instabile Persön-
lichkeitsstörung vom Borderline Typus mit Verdacht auf Aktivitäts-
und Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert wurde. Diesem Bericht
lässt sich jedoch auch entnehmen, dass sich der Behandlungsverlauf
schleppend gestalte, da der Beschwerdeführer Konsultationen unent-
schuldigt verpasst habe und auch die vereinbarte Behandlung im
Beratungszentrum B. (Suchtberatungsstelle) nicht wie vereinbart auf-
genommen habe. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass der Beschwer-
deführer gemäss dem Schreiben des Beratungszentrums B. diese Be-
ratungsstelle zuletzt im Jahr 2006 konsultiert hat. Die PDAG führen
in ihrem Bericht vom 7. August 2013 aus, dass aus psychiatrischer
Sicht zunächst eine stationäre oder teilstationäre intensive Behand-
lung zu empfehlen sei. Der Beschwerdeführer spreche sich jedoch
gegen ein derartiges Vorgehen aus. Offenbar hat der Hausarzt für den
Beschwerdeführer überdies ein Gesuch um Leistungen der Invaliden-
versicherung gestellt.
Nach dem Gesagten kann der Beschwerdeführer unter dem As-
pekt des Wohlverhaltens nichts zu seinen Gunsten ableiten. Abgese-
hen davon, dass er nach wie vor THC konsumiert, kann ihm entge-
gen seiner Behauptung auch nicht attestiert werden, er lebe frei von
harten Drogen. Hinzu kommt, dass keine Rede davon sein kann,
seine Beschäftigungssituation wirke sich stabilisierend auf sein Le-
ben aus. Zwar ist der Beschwerdeführer aus psychiatrischer Sicht
auffällig und es wird gar eine stationäre oder teilstationäre intensive
Behandlung empfohlen. Dies bedeutet aber nicht, dass ihm sein Ver-
halten nicht zugerechnet werden könnte und von einem tieferen
öffentlichen Interesse an einer migrationsrechtlichen Massnahme we-
gen vermindertem Verschulden ausgegangen werden müsste.
2013
Migrationsrecht
153
Schliesslich ist zu beachten, dass der Druck des vorliegenden
Verfahrens betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung bzw.
Wegweisung einen positiven Effekt auf den Beschwerdeführer ge-
habt haben dürfte, für eine Nachhaltigkeit dieses Einflusses besteht
indessen keine Gewähr.
3.2.3.
Insgesamt ist das öffentliche Interesse am Widerruf der Nieder-
lassungsbewilligung des Beschwerdeführers und an seiner Wegwei-
sung unter Berücksichtigung der Verbesserung in seinem Verhalten
als sehr gross zu beurteilen.
3.3.
Dem festgestellten sehr grossen öffentlichen Interesse an der
Entfernung des Beschwerdeführers aus der Schweiz ist sein privates
Interesse an einem weiteren Verbleib gegenüberzustellen.
3.4.
3.4.1.
Bezüglich des privaten Interesses ist im Rahmen der Verhältnis-
mässigkeitsprüfung vorab die Anwesenheitsdauer in der Schweiz zu
berücksichtigen. Je länger eine ausländische Person in der Schweiz
anwesend war, desto strengere Anforderungen sind grundsätzlich an
den Widerruf der Niederlassungsbewilligung zu stellen (BGE 130 II
176, Erw. 4.4.2). (...)
Der Beschwerdeführer ist seit September 1991, d.h. seit gut
22 Jahren, mit einer Niederlassungsbewilligung in der Schweiz
wohnhaft. Selbst unter Berücksichtigung dessen, dass die Aufent-
haltsdauer abstrakt - unter Abzug der in Unfreiheit verbrachten Zeit-
spanne
-
zu berechnen ist (vgl. RGAE vom 25.
Juni 2010
[1-BE.2009.23], Erw. II/4.3.1), ergibt sich ein anrechenbarer Zeit-
raum von über 15 Jahren, während dem der Beschwerdeführer unun-
terbrochen in der Schweiz lebte. Aufgrund dieser langen Aufenthalts-
dauer ist ihm ein entsprechend grosses privates Interesse am Verbleib
in der Schweiz zuzubilligen.
3.4.2.
In Bezug auf die Umstände des Einzelfalls spielen insbesondere
die familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers, d.h. seine Bezie-
hungssituation, und dabei namentlich die Auswirkungen und Nach-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
154
teile eines Widerrufs der Niederlassungsbewilligung auf sie eine
Rolle.
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der volljährige
Beschwerdeführer ledig ist und keine Kinder hat. Obwohl es nach-
vollziehbar ist, dass ihm und seinen in der Schweiz lebenden Fa-
milienangehörigen (Mutter, Bruder, Stiefvater) eine Wegweisung
grosse Mühe bereiten würde, bildet dies keinen Grund, dem Be-
schwerdeführer die Niederlassungsbewilligung zu belassen. Dies gilt
umso mehr, als er den Kontakt mit seiner Familie - wenngleich ein-
geschränkt - auch vom Heimatland aus pflegen kann. Schliesslich
besteht - auch nach Massgabe seiner eigenen Darlegungen - nicht der
geringste Anhaltspunkt dafür, dass der Beschwerdeführer besonderer
Strukturen oder einer besonderen Betreuung bedürfte, die ihm einzig
seine Familie bieten könnten. Schliesslich gilt es darauf hinzuweisen,
dass nach den Darstellungen des Sozialdienstes W. (Schreiben vom
22. Oktober 2010) die innerfamiliäre Beziehung eher schwierig zu
sein scheint und folglich die gegenteiligen Ausführungen in der Be-
schwerde bzw. die gegenteiligen Beteuerungen der Familienangehö-
rigen entsprechend relativiert werden müssen.
Bezüglich der Beziehung zu seiner Mutter, seinem Bruder und
seinem Stiefvater kann dem Beschwerdeführer somit bestenfalls ein
leicht erhöhtes privates Interesse am weiteren Verbleib in der
Schweiz zugebilligt werden.
3.4.3.
In persönlicher Hinsicht ist sodann insbesondere auf die wirt-
schaftliche Integration des Beschwerdeführers einzugehen sowie auf
seine Chancen einer ökonomischen Wiedereingliederung in die hei-
matlichen Verhältnisse.
Der Beschwerdeführer verfügt über keine Berufsausbildung.
Offenbar gelang es ihm im Laufe der letzten Jahre dennoch, diverse
Anstellungen zu finden und auszuüben. So war er ab 2006 unter
anderem als Betriebsmitarbeiter/Hilfsmonteur, als Gartenarbeiter, als
Logistikmitarbeiter und als Betriebsmitarbeiter-Aushilfe im Bereich
Wohnungs- und Geschäftsumzüge sowie Räumungen und Entsorgun-
gen tätig. Der Beschwerdeführer arbeitete ab dem 24. September
2010 als Call-Agent in B.. Vom 21. Januar 2013 bis 31. August 2013
2013
Migrationsrecht
155
war der Beschwerdeführer bei einem Verlagshaus angestellt, wobei
er seit dem 28. Februar 2013 zu 100 % arbeitsunfähig war. Der Be-
schwerdeführer vermag über diese Festanstellung kein Arbeitszeug-
nis vorzuweisen, sondern hat lediglich eine Arbeitsbestätigung erhal-
ten. Seit September 2013 steht der Beschwerdeführer nicht mehr in
einem Arbeitsverhältnis.
Der Beschwerdeführer vermochte seinen Lebensunterhalt zeit-
weise selber zu bestreiten und war zwischenzeitlich nicht mehr
erheblich von der Sozialhilfe abhängig. Mit Ausnahme dieser Unter-
brüche musste der Beschwerdeführer aber jeweils vom Sozialdienst
W. unterstützt werden. Allein aufgrund der diversen Gelegenheitsar-
beiten sowie der Tätigkeit als Call Center Mitarbeiter und in einem
Verlagshaus kann keine Rede von einer gelungenen beruflichen
Integration sein. Da das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers mit
einem Verlagshaus per Ende August 2013 beendet wurde und der Be-
schwerdeführer derzeit keiner Arbeitstätigkeit nachgeht, müsste er
bei einem Verlassen der Schweiz kein stabiles Arbeitsumfeld aufge-
ben, welches er im Heimatland nicht wieder aufbauen könnte. Dies
gilt namentlich in Anbetracht der fehlenden Berufsbildung sowie der
langen Erwerbslosigkeit. Aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen
Bedingungen im Heimatland ist dem Beschwerdeführer in diesem
Zusammenhang bestenfalls ein leicht erhöhtes privates Interesse am
weiteren Verbleib in der Schweiz einzuräumen.
Über die finanzielle Situation des Beschwerdeführers lässt sich
den Akten nichts entnehmen, was sein Interesse am Verbleib in der
Schweiz erhöhen würde; im Gegenteil: Insgesamt musste der Be-
schwerdeführer bis zum 4. Juli 2013 vom Sozialdienst W. mit einem
Betrag von CHF 294'665.25 unterstützt werden, wobei der Unterstüt-
zungsumfang pro Monat rund CHF 1'700.00 beträgt. Per Anfang
März 2011 wies der Beschwerdeführer zudem Betreibungen von
über CHF
6'000.00 sowie offene Verlustscheine von über
CHF 18'500.00 auf. Auch das zwischenzeitlich in seiner Festanstel-
lung bei einem Verlagshaus erzielte monatliche Nettoeinkommen
von CHF 2'150.00 (Stand Oktober 2011) eröffnete ihm keine nen-
nenswerten wirtschaftlichen Spielräume.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
156
Nach Massgabe der wirtschaftlichen Integration besteht somit
kein Anlass, dem Beschwerdeführer ein relevant erhöhtes privates
Interesse an einem weiteren Verbleib in der Schweiz zuzubilligen.
3.4.4.
Zur Feststellung der privaten Interessen des Beschwerdeführers,
die gegen einen Widerruf der Niederlassungsbewilligung sprechen,
sind weiter mit Blick auf den Grad der Integration insbesondere die
sprachlichen Fähigkeiten und das persönliche Umfeld sowie seine
Persönlichkeitsentwicklung zu beachten. Zu prüfen ist mithin, ob der
Beschwerdeführer bei einem Verlassen der Schweiz in unzumutbarer
Weise aus einem sozialen Umfeld herausgerissen bzw. ob er im Hei-
matland auf unüberwindbare (Re-)Integrationsprobleme stossen wür-
de oder ob durch die Ausreise eine positive Persönlichkeitsentwick-
lung zunichte gemacht würde.
Der Beschwerdeführer hat die ersten zehn Jahre seines Lebens
in Marokko bei seiner Grossmutter verbracht. Dadurch sowie durch
die Vermittlung seiner Mutter ist ihm die dortige Kultur vertraut.
Ebenso hat er den von seiner Grossmutter gesprochenen Dialekt als
Muttersprache erlernt; in arabischer und französischer Sprache kann
er sich aber offenbar nicht verständigen. Da der Beschwerdeführer
zudem über keine näheren familiären Bindungen mehr zu Marokko
verfügt und er demzufolge auf keine Unterstützung vor Ort zählen
kann, dürfte ihm die Integration in sein Heimatland nicht leicht fal-
len. Diese Schwierigkeiten schliessen indessen eine erfolgreiche
Wiedereingliederung keineswegs aus. Der Vollständigkeit halber ist
darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer sich immerhin inso-
fern in seinem Heimatland zu behaupten weiss, als er 1999 im
Zusammenhang mit Unklarheiten mit seinem Pass kurzerhand nach
Marokko reiste und die Probleme zu lösen vermochte.
Inwiefern der Beschwerdeführer - abgesehen von seinen hier le-
benden Familienangehörigen - überdurchschnittlich enge Beziehun-
gen pflegen würde, deren Abbruch bei einem Widerruf der Niederlas-
sungsbewilligung und einer damit verbundenen Wegweisung zu einer
unzumutbaren Entwurzelung führen könnte, ist nicht ersichtlich und
wird nicht dargetan.
2013
Migrationsrecht
157
Der Beschwerdeführer macht geltend, er zeige "erstmals Anzei-
chen einer deutlichen Besserung" und "diese positive Entwicklung"
dürfe nicht durch eine Wegweisung "zunichte gemacht" werden. Zu-
dem konsumiere er seit Januar 2010 keine harten Drogen mehr. Dem
kann nicht gefolgt werden. Immerhin wurden in der kürzlich unter-
suchten Haarprobe Rückstände von Methadon und dessen Abbaupro-
dukt nachgewiesen, wobei der Beschwerdeführer die Einnahme
methadonhaltiger Medikamente behauptet, jedoch nicht zu begrün-
den vermag, unter welchen Umständen er die Medikamente einge-
nommen haben will. Nachdem es sich um verschreibungspflichtige
Medikamente handelte, ist aus dem Umstand, dass der Beschwerde-
führer keinen entsprechenden Nachweis einer ärztlichen Verordnung
der Medikamente erbringen konnte, einzig zu schliessen, dass er sich
die Medikamente illegal beschafft hatte. Anzeichen einer Besserung
liegen damit im Bereich des Drogenkonsums nicht vor. Gleiches gilt
für seine Beschäftigungssituation. (...) Seine zeitweise Berufstätig-
keit erlaubte es ihm zwar, seinen Lebensunterhalt zwischenzeitlich
selber zu finanzieren und nicht mehr erheblich der Sozialhilfe zur
Last zu fallen. Derzeit geht der Beschwerdeführer jedoch keiner
Erwerbstätigkeit mehr nach und ist zu 100% krankgeschrieben. Dem
Bericht der PDAG vom 7. August 2013 lässt sich sodann entnehmen,
dass beim Beschwerdeführer eine anamnestisch emotional instabile
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus diagnostiziert wurde
und aus psychiatrischer Sicht zu Beginn eine stationäre oder teilsta-
tionäre intensive Behandlung zu empfehlen sei, der Beschwerdefüh-
rer sich aber dagegen ausspreche. Zudem wurde gegen den Be-
schwerdeführer im Februar 2013 bereits wieder ein Strafverfahren
eröffnet. Eine positive Persönlichkeitsentwicklung, die bei einem
Verlassen der Schweiz zunichte gemacht würde, ist damit nicht er-
kennbar.
Insgesamt ist in diesem Bereich einzig aufgrund der zu erwar-
tenden Schwierigkeiten, sich wieder im Heimatland integrieren zu
können von einem erhöhten privaten Interesse an einem Verbleib in
der Schweiz auszugehen.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
158
3.4.5.
Zusammenfassend beruht das private Interesse des Beschwerde-
führers an einem weiteren Verbleib in der Schweiz primär auf seiner
langen Aufenthaltsdauer in der Schweiz, auf der Beziehung des Be-
schwerdeführers zu seinem sozialen Umfeld sowie gewissen, jedoch
nicht unüberwindbaren Reintegrationsproblemen im Heimatland und
ist als gross zu qualifizieren.
3.5.
Bei einer Gesamtwürdigung der sich gegenüberstehenden Inte-
ressen ist das sehr grosse öffentliche Interesse an der Entfernung des
Beschwerdeführers gegenüber dessen privaten Interesse, weiter in
der Schweiz leben zu können, höher zu gewichten. Ausschlaggebend
für diese Beurteilung ist letztlich, dass die zahlreichen migrations-
rechtlichen Massnahmen über viele Jahre hinweg nichts fruchteten.
Der Beschwerdeführer zeigte zwar zwischenzeitlich Anzeichen einer
Besserung, war aber nicht in der Lage, zu zeigen, dass er sich
nachhaltig ändern kann. Damit sind der Widerruf der Niederlas-
sungsbewilligung und die Wegweisung des Beschwerdeführers aus
der Schweiz nach nationalem Recht nicht zu beanstanden.
(Hinweis: Gegen diesen Entscheid wurde eine Beschwerde
beim Bundesgericht erhoben [2C_1113/2013]. Das Verfahren war bei
Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen.) | 5,613 | 4,583 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-32_2013-10-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-32.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-32.pdf | AGVE_2013_32 | null | nan |
3c9bd15f-ecdf-5856-a579-b26d17a3b6e6 | 1 | 412 | 871,894 | 1,191,456,000,000 | 2,007 | de | 2007
Submissionen
157
[...]
38
Varianten; Qualitätsbewertung; Preisbewertung.
-
Varianten (§ 16 SubmD): Bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit
einer Variante mit der Amtslösung kommt der Vergabestelle ein gros-
ser Ermessensspielraum zu (Erw. 3.2-3.3).
-
Allgemeine Ausführungen zum Gesamteindruck genügen den An-
forderungen an die Prüfung der Qualitätskriterien mit einer Gewich-
tung von 50 % nicht (Erw. 7.1.3-7.5).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 3. Oktober 2007 in Sachen
A. AG gegen den Gemeindeverband V. (WBE.2007.167).
Aus den Erwägungen
3.
3.1. (...)
3.2.
3.2.1.
Den Anbietenden steht es frei, Offerten für Varianten und Teil-
angebote einzureichen (§ 16 Abs. 1 SubmD). Die Vergabestelle be-
zeichnet in den Ausschreibungsunterlagen die Mindestanforderungen
an Varianten und Teilangebote (§ 16 Abs. 2 SubmD). Das Angebot
einer Variante ist ungültig, wenn damit nicht eine Offerte für das
Grundangebot eingereicht wird. Ausnahmen von diesem Grundsatz
2007
Verwaltungsgericht
158
sind in den Ausschreibungsunterlagen festzulegen (§ 16 Abs. 3
SubmD).
3.2.2.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts beinhaltet
eine Variante im Sinne von § 16 Abs. 1 SubmD immer eine leis-
tungsbezogene Abweichung von den Ausschreibungsbedingungen;
mit ihr soll den Anbietern die Möglichkeit eingeräumt werden, von
der Amtslösung abweichende, innovative Alternativen anzubieten
(AGVE 2003, S. 281). Beim Entscheid, ob sie einer Variante den Zu-
schlag erteilen oder auf der von ihr erarbeiteten Amtslösung beharren
will, kommt der Vergabestelle ein grosser Ermessensspielraum zu,
und sie ist nicht verpflichtet, irgendwelche mit der Variante verbun-
denen Risiken in Kauf zu nehmen (AGVE 2001, S. 339 mit Hin-
weis).
3.2.3.
Nicht unproblematisch ist im Einzelfall die Abgrenzung, ob
überhaupt noch eine Variante (des Grundangebots) oder etwas völlig
anderes angeboten wird. Auch wird die Vergleichbarkeit der Ange-
bote zunehmend erschwert, je weiter sich eine Variante vom Grund-
angebot bzw. vom Leistungsverzeichnis entfernt. Aus § 15 Abs. 3 der
Vergaberichtlinien (VRöB) zur IVöB ergibt sich, dass die Variante
dem Amtsvorschlag bezüglich der technischen Spezifikationen
gleichwertig sein sollte, wobei die Gleichwertigkeit von der Anbiete-
rin oder vom Anbieter zu beweisen ist (Urteil des Verwaltungsge-
richts Zug vom 24.
September 1998, in: BR 2000, S.
62;
AGVE 2001, S. 338 f.).
Ein Sonderfall sind Varianten, die nicht der Erbringung der aus-
geschriebenen Leistung dienen bzw. eine andere technische Lösung
vorschlagen, sondern einzig eine Reduktion des ausgeschriebenen
Leistungsinhalts in quantitativer oder qualitativer Hinsicht zum Ge-
genstand haben. Solche Varianten sind nach der Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich grundsätzlich ebenfalls zu-
lässig, da sie der Vergabebehörde Gelegenheit geben, eine allenfalls
diskutable Vorgabe nochmals zu überprüfen. Gelangt die Behörde je-
doch zum Schluss, dass die Anforderungen entsprechend der Varian-
te zu reduzieren sind, muss auch den andern Anbietern Gelegenheit
2007
Submissionen
159
gegeben werden, ihre Offerten im Blick auf die neue Umschreibung
des Leistungsinhalts zu ergänzen (Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Zürich vom 17.
Februar 2000 [VB.1999.00015],
Erw. 8c; Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom
20. Juli 2004 [VB.2004.00006], Erw. 2.2.2). Mit der Gelegenheit zur
Anpassung der Konkurrenzofferten soll gewährleistet werden, dass
die als Variante offerierte Minderleistung nicht zu einem Kostenvor-
teil gegenüber den Mitbewerbern ausgenützt werden kann. Diese Ge-
fahr besteht allerdings dann nicht, wenn das Angebot, welches die
Minderleistung enthält, so weit vor den Angeboten der Mitbewerber
liegt, dass es selbst unter Aufrechnung der Preisdifferenz, die für eine
volle Leistung zu veranschlagen wäre, noch seinen Vorsprung behält.
Denn bei dieser Sachlage werden die Mitbewerber durch die
Zulassung des Angebots mit der Minderleistung nicht benachteiligt
(Entscheid des Verwaltungsgerichts Zürich vom 20.
Juli 2004
[VB.2004.00006], Erw. 2.2.2).
3.3.
3.3.1.
Nach den Ausschreibungsunterlagen sind Unternehmervarian-
ten zulässig, welche den gesamten Leistungsumfang für den Anlage-
bereich A bis H umfassen. Sie müssen in formeller Hinsicht als sepa-
rate Beilagen im Register 6 eingereicht und eindeutig gekennzeichnet
werden. Sie sind nur unter Einhaltung der folgenden Bedingungen
erlaubt bzw. werden nur geprüft, wenn diese Randbedingungen ein-
gehalten werden, ausreichend belegt sind und gleichzeitig auch das
Originalangebot eingereicht wird:
- Varianten müssen hinsichtlich Nutzung, Gebrauchstauglichkeit und
Sicherheit dem Hauptangebot entsprechen.
- (...)
- (...)
- Der Unternehmer hat das Leistungsverzeichnis des Bauherrn voll-
ständig ausgefüllt einzureichen.
- Die Unternehmervarianten müssen alle Angaben enthalten, die zur
technischen und finanziellen Beurteilung erforderlich sind.
- Nachweis, dass Variante hinsichtlich Nutzung, Sicherheit und Ge-
brauchstauglichkeit ein insgesamt gleichwertiges Bauwerk gewährleistet.
2007
Verwaltungsgericht
160
3.3.2.
In formeller Hinsicht hat die Beschwerdeführerin ihre Variante
nicht - wie verlangt - als separate Beilage im Register 6 (Beilagen
des Unternehmers) eingereicht, sondern als zusätzliches Register 8
(Unternehmervariante). Diese unbedeutende Abweichung von Zif-
fer 3.1 der Besonderen Bestimmungen wird von der Vergabebehörde
allerdings zu Recht nicht beanstandet. Hingegen macht sie Unvoll-
ständigkeit des Leistungsverzeichnisses bzw. das Vorliegen lediglich
eines Teilangebots geltend, da die Beschwerdeführerin die S100-
Karten nicht in das Angebot aufgenommen habe.
Der Vorwurf der (formellen) Unvollständigkeit des Leistungs-
verzeichnisses der Unternehmervariante geht fehl. Die Beschwerde-
führerin hat bei denjenigen Positionen, bei denen die bestehenden
Komponenten beibehalten werden sollen, die jeweiligen Stückzahlen
und die Preisangaben korrekt mit 0 eingesetzt.
Auch liegt kein gemäss Ziffer 3.1 der Besonderen Bestimmun-
gen unzulässiges Teilangebot vor. Ein Teilangebot weicht im Gegen-
satz zur Variante nicht inhaltlich (qualitativ), sondern lediglich um-
fangmässig (quantitativ) vom verlangten Angebot ab; insofern sind
Teilangebote grundsätzlich auch ohne gleichzeitige Grundangebote
zulässig (zur Unterscheidung zwischen Teilangebot und Unterneh-
mervariante siehe AGVE 2000, S. 300 f.). Die Beschwerdeführerin
offeriert auch bei ihrer Unternehmervariante den gesamten in der
Ausschreibung verlangten Leistungsumfang, wobei sie - aufgrund
ihrer Kenntnis der bestehenden Anlage - allerdings die Weiterver-
wendung der vorhandenen S100-Karten vorschlägt, aber zudem für
die Weiterverwendung dieser Karten die verlangten Garantien ge-
währleistet. Insofern weicht das Variantenangebot inhaltlich, aber
nicht umfangmässig (quantitativ) vom verlangten Angebot ab.
Ein Ausschluss der Unternehmervariante der Beschwerdeführe-
rin aus formalen Gründen (Unvollständigkeit des Angebots bzw. un-
zulässiges Teilangebot) kommt somit entgegen der Vergabestelle
nicht in Betracht.
3.3.3.
Gemäss den Ausschreibungsunterlagen müssen Varianten hin-
sichtlich Nutzung, Gebrauchstauglichkeit und Sicherheit dem Haupt-
2007
Submissionen
161
angebot entsprechen (siehe vorne Erw. 3.3.1). In Bezug auf das
Hauptangebot verlangen die Submissionsunterlagen, dass die Pro-
zessstationen und die Netzwerkkomponenten für eine Betriebsdauer
von 25 Jahren auszulegen sind. Die Beschwerdeführerin offerierte im
Anschluss an die Offertpräsentation in ihrem Schreiben vom
17. August 2006 den kostenneutralen Ersatz von fehlerhaften S100-
Ein-/Ausgabekarten innerhalb der nächsten zehn Jahre ab dem je-
weiligen Zeitpunkt der Erneuerung der Prozessstation.
Die Vergabestelle verneint die Gleichwertigkeit der offerierten
Unternehmervariante hinsichtlich Nutzung, Gebrauchstauglichkeit
und Sicherheit. Mit dem Erfordernis, dass die Komponenten auf eine
Betriebsdauer von 25 Jahren ausgelegt würden, werde nicht verlangt,
dass die einzelne S100-Karten je 25 Jahre in Betrieb sein müssten,
sondern die Vergabestelle wolle die Sicherheit haben, dass diese
Karten bis zum Ablauf der 25 Jahre verfügbar seien. Gerade mit dem
Hinweis auf die Garantie von 10 Jahren bestätige die Beschwerde-
führerin, dass die Verfügbarkeit eben doch weit weniger als 25 Jahre
gewährleistet sei. Die Vergabestelle verweist für ihren Standpunkt
auf zwei Schreiben der Beschwerdeführerin vom 28. Mai 2002 und
vom 22. Juli 2003, in denen darauf hingewiesen wird, dass der Le-
benszyklus des (in der KVA B. eingesetzten) Leitsystems Y. in die
Auslaufphase gehe. Die Fabrikation werde in absehbarer Zeit ein-
gestellt. In der "Ausverkaufsanzeige" vom 22. Juli 2007 findet sich
allerdings der Hinweis, dass die S100 I/O-Karten davon nicht
betroffen seien.
Seitens der Beschwerdeführerin ist unbestritten, dass die bei der
Unternehmervariante beizubehaltenden S100 I/O-Karten jedenfalls
zum Teil seit mehr als 12 Jahren im Einsatz sind und folglich - im
Gegensatz zu den Karten des Hauptangebots und der Konkurrenzof-
ferten (welche entsprechend höhere Kosten ausweisen) - also nicht
neu sind. Die Beschwerdeführerin weist in Bezug auf die Betriebs-
dauer darauf hin, dass die S100-Karten keine beweglichen, dem Ver-
schleiss ausgesetzten Komponenten seien. Solche Karten stünden in
anderen Verbrennungsanlagen seit über 25 Jahren in Betrieb. Damit
räumt die Beschwerdeführerin stillschweigend ein, dass bei neuen
Karten grundsätzlich mit einer künftigen Betriebsdauer von 25 Jah-
2007
Verwaltungsgericht
162
ren gerechnet werden kann. Dies trifft auf die bisherigen Karten, die
zum Teil seit 1992 im Einsatz sind, klarerweise nicht zu. Vielmehr ist
aufgrund des Alters in verstärktem Mass mit Ausfällen zu rechnen.
Insofern kann nicht von einer Gleichwertigkeit der weiter verwen-
deten Karten und der neuen Karten gesprochen werden. Als Korrek-
tiv vorgesehen ist von der Beschwerdeführerin der kostenlose
Austausch von defekten Karten während zehn Jahren. Auch dies
führt indessen nicht zu einer Gleichwertigkeit. Vielmehr rechtfertigt
sich die Annahme, dass insbesondere für den Zeitraum nach Ablauf
der zehnjährigen Garantiefrist mit einem erheblich verstärkten Aus-
fall der alten Karten, die dann rund 25 Jahre im Einsatz sein werden,
zu rechnen wäre, dürften diese dann doch ihre maximale Lebens-
dauer erreicht haben. Weiter sind auch die Befürchtungen der Verga-
bebehörde, dass die Verfügbarkeit der (alten) Karten und die Ersatz-
möglichkeit bzw. die Ersatzteilverhaltung nicht auf 25 Jahre hinaus
sicher sei, durchaus nachvollziehbar und können nicht als gänzlich
unbegründet zurückgewiesen werden. Inhalt der Ausschreibung war
der vollständige Ersatz und die Ablösung des bestehenden Prozess-
systems durch eine neue Anlage.
Vor dem Hintergrund des grossen Ermessenspielraums, der der
Vergabestelle bezüglich des Entscheides, ob sie eine Variante und die
damit verbundenen Risiken berücksichtigen oder auf der Amtslösung
beharren will, zukommt (siehe vorne Erw. 3.2.2), ist der Beschluss
des Gemeindeverbands V., die Unternehmervariante der Beschwer-
deführerin nicht in die Bewertung miteinzubeziehen, aus den vorge-
nannten Gründen vertretbar und rechtlich nicht zu beanstanden. Ins-
besondere ist darin keine unzulässige Ermessensüberschreitung er-
sichtlich.
4.1.-4.2.1. (...)
4.2.2.
(...)
Bei der Bewertung der Angebote steht im Vordergrund, dass die
Beurteilung in sachlich haltbarer und objektiv begründbarer Weise
erfolgen muss; andernfalls überschreitet oder missbraucht die Verga-
bebehörde das ihr zustehende Ermessen (AGVE 1999, S. 328;
AGVE 1998, S. 384). Wegleitend ist sodann für die Bewertung der
2007
Submissionen
163
Angebote der für das gesamte Vergaberecht geltende Grundsatz der
Transparenz. Die vorgenommene Bewertung muss sowohl für die
Anbietenden als auch für die Rechtsmittelinstanz im Beschwerdever-
fahren nachvollziehbar sein. Hat die Vergabestelle Zuschlagskriterien
festgelegt und den Anbietenden bekannt gegeben, ist sie verpflichtet,
die Angebote anhand dieser Kriterien zu prüfen und zu bewerten.
Werden bekannt gegebene Kriterien ausser Acht gelassen, die Be-
deutungsfolge umgestellt, andere Gewichtungen vorgenommen oder
andere zusätzliche Kriterien herangezogen, die nicht bekannt gege-
ben wurden, handelt die Auftraggeberin vergaberechtswidrig und
verstösst gegen die Grundsätze der Transparenz und Nichtdiskrimi-
nierung (AGVE 1997, S. 352 ff. und S. 358). Klar nicht zulässig ist
es somit, bei der Beurteilung der Angebote abweichend von den
Ausschreibungsunterlagen auf die Prüfung der einzelnen Zuschlags-
kriterien zu verzichten. Über das (formelle) Vorgehen bei der Be-
wertung der Offerten anhand der Zuschlagskriterien enthält das
Submissionsdekret keine Vorschriften. Nach der Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichts ist die Vergabestelle beim Erstellen einer Be-
wertungsmatrix daher weitgehend frei; sie ist im Übrigen auch nicht
dazu verpflichtet, eine solche zu verwenden. In erster Linie ist ent-
scheidend, dass ein Bewertungs- oder Benotungssystem im Grund-
satz sachgerecht und einheitlich ist, d.h. auf alle Anbietenden bzw.
auf alle Angebote in gleicher Weise und nach gleichen Massstäben,
angewendet wird. Eine differenzierte Prüfung der sach- bzw. quali-
tätsbezogenen Kriterien drängt sich sodann besonders auf, wenn für
den Zuschlag das Qualitätskriterium den Preis überwiegt. In diesen
Fällen gilt es zu verhindern, dass dem Preis eine ausschreibungswid-
rige Bedeutung zukommt, indem er trotz seines geringen Gewichts
im Ergebnis allein über den Zuschlag entscheidet. Auch der relative
Charakter der Zuschlagskriterien ruft grundsätzlich nach einer diffe-
renzierenden Bewertung (vgl. VGE III/88 vom 20. Oktober 2003
[BE.2003.00240], S. 12 f.).
Im vorliegenden Fall kommt dem Kriterium "Qualität der tech-
nischen Lösung" mit einer Gewichtung von 50 % gegenüber dem
Anschaffungskosten mit einer Gewichtung von 30 % eine überge-
ordnete Bedeutung zu. An die Prüfung der Qualitätskriterien, wie sie
2007
Verwaltungsgericht
164
in der Ausschreibung bekanntgegeben worden sind, sind deshalb er-
höhte Anforderungen zu stellen (vgl. AGVE 2000, S. 327). Das
heisst insbesondere, dass auf eine nachvollziehbare, differenzierte
sachliche Bewertung der von der Vergabestelle in den Ausschrei-
bungsunterlagen bekannt gegebenen technischen Teilkriterien nicht
verzichtet werden kann. Allgemeine Ausführungen zum Gesamtein-
druck, eine fehlende Bewertung oder eine falsche Bewertung der
technischen Anforderungen an die Qualität, wie dies vorliegenden-
falls offensichtlich geschehen ist, genügen den Anforderungen nicht.
Eine solche Bewertung widerspricht nicht nur den eigenen Vorgaben
der Vergabebehörde, sondern verletzt auch den Grundsatz der
Transparenz. Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Vergabestelle die
einzelnen Teilaspekte der Kriterien "Systemarchitektur", "Busstruk-
turen" und "Redundanzen" bewertet hat und worin die Bewertungs-
differenzen zwischen der technischen Lösung der Beschwerdeführe-
rin und der Zuschlagsempfängerin begründet sind.
Das Verwaltungsgericht beschränkt sich im Rahmen seiner -
beschränkten - Kontrollbefugnisse auf die Überprüfung dieser Ge-
sichtspunkte; ihm kommt nicht die Funktion einer "Ober-Vergabebe-
hörde" zu. Es ist daher nicht Sache des Verwaltungsgerichts, hier
eine eigene Bewertung vorzunehmen. Klar erscheint aber, dass in
Bezug auf das Angebot der X. AG der Bewertungsabzug beim Sub-
kriterium "Busstrukturen" im Vergleich zum Angebot der Beschwer-
deführerin über den jetzigen sechs Punkten liegen muss, wird doch
ein von der Vergabestelle als wichtig erachteter Aspekt nicht oder je-
denfalls nicht in gleichem Mass erfüllt. Folglich hat die Vergabebe-
hörde hier eine Neubewertung vorzunehmen, welche auch die unter-
schiedlichen Redundanzgrade auf der Leitebene miteinbezieht.
4.2.3.-7.1.2. (...)
7.1.3.
Der Vergabebehörde steht bei der Benotung des Zuschlagskrite-
riums Preis ein erheblicher Ermessensspielraum zu. In dieses Ermes-
sen greift das Verwaltungsgericht nicht ein. Zu prüfen ist dagegen
eine allfällige Überschreitung oder ein Missbrauch des Ermessens.
Wie eine Bewertungsskala hinsichtlich der Angebotspreise festzule-
gen ist, lässt sich nicht in allgemeingültiger Weise bestimmen, son-
2007
Submissionen
165
dern hängt stark von den Umständen des Einzelfalls ab. Eine (sub-
missions-)rechtliche Vorgabe, eine Bewertungsmethode zu verwen-
den, die auf einer Nullbewertung des teuersten Angebots beruht, be-
steht nicht (VGE III/76 vom 23. September 2002 [BE.2002.00247],
S. 10). Die Bewertung der Angebotspreise muss jedoch der Ge-
wichtung des Kriteriums Rechnung tragen, damit das im Voraus be-
kannt gegebene Gewicht tatsächlich zum Tragen kommt. Das be-
deutet insbesondere, dass beim Kriterium Preis - ebenso wie bei an-
deren Kriterien - nur die tatsächlich in Frage kommende Bandbreite
möglicher Werte zu berücksichtigen ist (Urteil des Verwaltungsge-
richts des Kantons Zürich vom 18.
Dezember 2002
[VB.2001.00095], Erw. 3g und 4b; Urteil des Verwaltungsgerichts
des Kantons Zürich vom 11. September 2003 [VB.2003.00188],
Erw. 4b; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom
24. September 2003 [VB.2003.00207], Erw. 2; zum Ganzen: AGVE
2004, S. 231 ff.; VGE IV/2 vom 26. Januar 2007 [WBE.2006.378],
S. 9).
7.5.
Das Ziel der Festlegung der Preiskurve muss es sein, die Be-
wertung der Angebotspreise so zu bewerkstelligen, dass das im
Voraus bekannt gegebene Gewicht des Kriteriums bei der Evaluation
auch tatsächlich zum Tragen kommt. Sowohl das Gewicht, das eine
Vergabestelle dem Preis als Zuschlagskriterium zulässigerweise zu-
misst, als auch die realistischerweise bei den Angeboten zu erwar-
tenden Preisspannen sind stark von der Art des zu vergebenden Auf-
trags abhängig. Bei einfachen Bau- oder Lieferaufträgen wird dem
Preis regelmässig ein eher hohes Gewicht beizumessen sein; ebenso
werden sich die Angebotspreise innerhalb eines relativ engen Rah-
mens bewegen. Demgegenüber rechtfertigt sich bei komplexen Auf-
trägen (anspruchsvolle Konstruktionen, komplexe Dienstleistungsbe-
schaffungen) ein höheres Gewicht der qualitativen Aspekte gegen-
über dem Preis, der allerdings eine bestimmte Mindestgrenze nicht
unterschreiten darf (siehe BGE 129 I 313 f. = Pra 64/2004, S. 368,
wo das Bundesgericht diese Grenze bei 20 % festgelegt hat). Erfah-
rungsgemäss ist hier bei den Preisen auch mit wesentlich grösseren
Bandbreiten zu rechnen.
2007
Verwaltungsgericht
166
Im vorliegenden Fall hat die Vergabebehörde die Qualität in den
Vordergrund gestellt und dem Preis bzw. den Anschaffungskosten
bewusst ein geringes Gewicht von lediglich 30 % zugemessen. Diese
Gewichtung erscheint berechtigt und wird auch von der Beschwerde-
führerin nicht in Frage gestellt. Mit der effektiv vorgenommenen
Preisbewertung, bei der eine Preisdifferenz von lediglich 5 % zu ei-
nem Punkteabzug von 60 % beim Preiskriterium führt, wird dem
Preis jedoch, wie auch die Vergabebehörde eingesteht, ein weitaus
überhöhtes, ausschreibungswidriges Gewicht beigemessen. Richti-
gerweise hätte die Vergabestelle hier ein Bewertungssystem festlegen
müssen, das den konkreten Umständen (geringes Gewicht des Prei-
ses, nur drei gültige Angebote innerhalb einer Preisspanne von nur
5 %) Rechnung getragen hätte. Der von der Vergabestelle in der Ver-
nehmlassung vorgeschlagene Weg, wonach auch der Preis der ausge-
schlossenen Anbieterin miteinzubeziehen und mit der Maximalnote
10 zu bewerten wäre, um eine halbwegs realistische Bandbreite der
Angebotspreise zu bestimmen, erscheint eine im Rahmen des der
Vergabebehörde zukommenden Ermessens noch vertretbare Lösung.
Dies auch unter dem Gesichtspunkt, dass die V. AG aus technischen
und nicht aus preislichen Gründen - die V. AG hätte mit einem fi-
nanziellen Aufwand von Fr. 5'000.-- die technischen Mängel ihres
Angebots beheben können (VGE IV/28 vom 5.
April 2007
[WBE.2007.20]) - vom Submissionsverfahren ausgeschlossen
wurde. Bei der von der Vergabebehörde vorgeschlagenen Lösung
würde ein um 40 % teureres Angebot mit der Minimalnote bewertet.
Für anspruchsvolle technische Aufträge wie den hier streitigen er-
scheint diese Bandbreite zwar recht gering, sie steht aber im Ein-
klang mit den vorliegend tatsächlich eingereichten Angebotssum-
men, die lediglich um 24 % auseinander liegen. Zu beachten ist in
diesem Zusammenhang allerdings auch das im Jahr 2004 begonnene
und schliesslich abgebrochene Submissionsverfahren in der gleichen
Sache. Hierbei wurden Angebotssummen zwischen rund 1,9 Mio.
und 3,3 Mio. Franken eingereicht, d.h. die Preisspanne betrug damals
rund 74 %. | 4,448 | 3,621 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-38_2007-10-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-38.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-38.pdf | AGVE_2007_38 | null | nan |
3cc3ed0c-4bea-51b6-8aa8-6338198100c3 | 1 | 412 | 869,634 | 1,414,886,400,000 | 2,014 | de | 2014
Kantonale Steuern
97
12
§ 40 Abs. 1 lit. a StG
Steuerliche Qualifikation eines Leasingsvertrags bzw. der Zinskompo-
nente - Kaufcharakter überwiegt, kein Abzug der Zinskomponente
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 7. November 2014 in Sa-
chen KStA gegen A.X. (WBE.2014.145).
Aus den Erwägungen
1.
Der Beschwerdegegner schloss am 18. April 2012 mit der Ga-
rage M. einen mit "Kauf-/Finanzierungsvertrag mit Option
Nr. 90000007905 LIBERO" überschriebenen Vertrag betreffend ei-
nen Personenwagen "Fiat New Doblo Emotion 2.0 Multijet 135 PS"
(1. Inverkehrsetzung am 26. Juni 2011, Kilometerstand 7'500 km) ab.
Der "Barkaufpreis" betrug Fr. 26'900.00, an welchen der Beschwer-
degegner eine "Baranzahlung" von Fr. 7'000.00 leistete. Der "Rest-
kaufpreis" von Fr. 19'900.00 wurde von der F. SA wie folgt finan-
ziert:
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
98
Kreditbetrag
Fr.
19'900.00
+ Teilzahlungszuschlag für 59 Monate
(p.a. 6,160 %, effektiver Jahreszins)
Fr.
3'960.15
+ MWSt 8,0 % auf Teilzahlungszuschlag
Fr.
316.80
+ Vertragsspesen
Fr.
0.00
Totalkredit
Fr.
24'176.95
Die Summe von Anzahlung (Fr. 7'000.00) und Totalkredit
(Fr. 24'176.95) ergibt einen "Gesamtkaufpreis" von Fr. 31'176.95.
Der Beschwerdegegner verpflichtete sich, die Fr. 24'176.95 in 60
aufeinanderfolgenden, jeweils am 1. des Monats fälligen Raten an
die F. SA zurückzuzahlen, und zwar in einer ersten Rate von
Fr. 607.65, 58 Folgeraten zu je Fr. 290.85 und einer letzten Rate
("Optionszahlung") von Fr. 6'700.00. Ausserdem bestimmte der Ver-
trag:
"Option: Der Käufer kann anstelle der Optionszahlung das
Kaufobjekt zurückgeben und ist lediglich verpflichtet, neben den ge-
leisteten Zahlungen aussergewöhnliche Abnützung und Mehrkilome-
ter über einer Gesamtfahrleistung von 100'000 km zu bezahlen".
Der Beschwerdegegner leistete für April 2012 die erste Rate
von Fr. 607.65 und für Mai bis Dezember 2012 acht Raten
Fr. 290.85, insgesamt Fr. 2'934.45. Gemäss der Bescheinigung der F.
SA vom 17. Januar 2013 betrugen die Zinsen im Jahr 2012
Fr. 665.01. In der Steuererklärung 2012 machte der Beschwerdegeg-
ner für diese Zinsen den Schuldzinsenabzug gemäss § 40 lit. a StG
geltend.
2. (...)
3.
3.1.
Gemäss § 40 lit. a StG werden von den Einkünften die privaten
Schuldzinsen im Umfang der nach den §§ 29, 29a und 30 StG
steuerbaren Vermögenserträge und weiterer Fr. 50'000.00 abgezo-
gen.
2014
Kantonale Steuern
99
Voraussetzung einer steuerlich zu beachtenden Zinsschuld ist
das Vorhandensein einer Kapitalschuld, d.h. die nicht unentgeltliche
Gewährung oder Vorenthaltung einer Geldsumme oder eines Kapi-
tals, wobei dieses Entgelt nach der Zeit und als Quote des Kapitals in
Prozenten berechnet wird. Kein Schuldzins im Sinne des Steuerge-
setzes liegt dagegen vor, wenn eine Abhängigkeit zwischen Kapital-
schuld und Zins fehlt, wie etwa beim Mietzins. Als abziehbare
Schuldzinsen gelten nur Leistungen, die rechtlich nicht zur Tilgung
einer bestehenden Kapitalschuld dienen (AGVE 2004, S. 122 mit
Hinweisen). Im Folgenden ist daher - aufgrund der bestehenden
zivilrechtlichen Verhältnisse - zu prüfen, ob eine Kapitalschuld in
diesem Sinne vorliegt.
3.2.
3.2.1.
Die Grundstruktur des typischen Leasingvertrags lässt sich wie
folgt umschreiben: Der Leasinggeber überlässt dem Leasingnehmer
auf eine fest bestimmte Zeit ein wirtschaftliches Gut (Leasingobjekt)
zur freien Verwendung und Nutzung (aber nicht zum unbeschwerten
Haben), wobei das volle Erhaltungsrisiko in der Regel vertraglich auf
den Leasingnehmer mitübertragen wird. Hierfür leistet der Leasing-
nehmer ein Entgelt, das in Teilleistungen zu entrichten ist (Leasing-
raten bzw. Leasingzins). Die kapitalisierten Raten ergeben einen Be-
trag, der dem auf Vertragsende verzinsten Verkehrswert (Herstel-
lungs- oder Anschaffungskosten plus Gemeinkosten- und Gewinnan-
teil) im Zeitpunkt des Vertragsschlusses voll oder teilweise ent-
spricht, je nachdem, ob die Parteien einen Voll- oder Teilamortisa-
tionsvertrag vereinbart haben. Ob ein Drei-Parteien-Verhältnis, bei
welchem ein unabhängiger Dritter (oft eine Leasinggesellschaft)
einbezogen wird, der das vom (späteren) Leasingnehmer zunächst
beim Händler ausgesuchte Leasingobjekt im Hinblick auf das
Leasingverhältnis durch Kauf erwirbt, begriffsnotwendig ist, wird in
der Lehre nicht einheitlich beantwortet. Beim Leasing sind zahlrei-
che Unterarten und Variationen denkbar; indessen ist nicht alles, was
von den Vertragsparteien als Leasingvertrag bezeichnet wird, auch
als solcher zu qualifizieren (BGE 119 II 238 = Pra 84/1995, S. 327 f.;
Urteil des Bundesgerichts vom 18. Dezember 2008 [4A_404/2008],
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
100
Erw. 4.1.1; M
ARC
A
MSTUTZ
/A
RIANE
M
ORIN
/W
ALTER
R.
S
CHLUEP
,
in: Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 5. Auflage, Basel 2011,
Einleitung vor Art. 184 ff. N 59 ff. mit Hinweisen).
Die wichtigste Erscheinungsform des Leasings ist das Finanzie-
rungsleasing, vorab das Mobilienleasing. Bei diesem ist eine rechtli-
che Dreiecksbeziehung charakteristisch. Die Leasinggesellschaft
(Leasinggeberin) erwirbt auf eigene Kosten gemäss den Anweisun-
gen ihres Kunden (Leasingnehmer) das zu finanzierende Objekt beim
Lieferanten, der am Leasingvertrag nicht direkt als Vertragspartei be-
teiligt ist. Die Leasinggeberin überlässt den Gegenstand dem
Leasingnehmer gemäss der vorstehend beschriebenen Grundstruktur
während einer längeren Vertragsdauer von meistens drei bis fünf Jah-
ren, die annähernd der voraussichtlichen wirtschaftlichen Lebens-
dauer des Gegenstands entspricht. Am Ende der Vertragsdauer kann
der Leasingnehmer zwischen mehreren Lösungen wählen: Rückgabe
des Gegenstands, Verlängerung des Vertrags, Abschliessen eines
neuen Vertrags oder Kauf des Gegenstands zu einem noch zu verein-
barenden Preis, wobei die grösseren Leasinggesellschaften davon
abgekommen sind, ihren Kunden eine Kaufoption einzuräumen (Ur-
teil des Bundesgerichts vom 18. Dezember 2008 [4A_404/2008],
Erw. 4.1.1).
3.2.2.
Die steuerliche Abzugsfähigkeit des in den Leasingraten enthal-
tenen Zinsanteils hängt von den vertraglichen Vereinbarungen ab.
Entscheidend ist, ob das Vertragsobjekt nach dem Willen der Ver-
tragsparteien zu Eigentum oder nur zum Gebrauch überlassen wurde.
Je nachdem ist der Leasingvertrag als mietähnliches Geschäft, dessen
Zweck in der Nutzung statt im Kauf liegt (echtes Mobilienfinanzie-
rungsleasing), oder als Veräusserungsgeschäft in Form eines Miet-
Kauf-Vertrags oder eines Abzahlungsvertrags (unechtes Mobilienfi-
nanzierungsleasing) zu qualifizieren. Liegt ein mietähnlicher Vertrag
vor, vereinbaren die Vertragsparteien also nicht mehr als eine Ge-
brauchsüberlassung, handelt es sich bei den Leasingraten einzig um
eine Gegenleistung für die Nutzung des Leasingguts und somit um
nicht abzugsfähige Lebenshaltungskosten. Die in der Leasinggebühr
enthaltene Zinskomponente stellt keinen abzugsfähigen Schuldzins
2014
Kantonale Steuern
101
dar (vgl. P
ETER
L
OCHER
, Kommentar zum DBG, I. Teil, Therwil
2001, Art. 33 N 18; F
ELIX
R
ICHNER
/W
ALTER
F
REI
/S
TEFAN
K
AUF
-
MANN
/H
ANS
U
LRICH
M
EUTER
, Kommentar zum Zürcher Steuerge-
setz, 3. Aufl., Zürich 2013, § 31 N 18) Ist hinter dem Leasingvertrag
hingegen ein Veräusserungsgeschäft verborgen, welches letztendlich
die Übertragung von Besitz und Eigentum bezweckt, besteht eine
Kapitalschuld und die eigentlichen Schuldzinsen (als Teil der
Leasingraten) sind abzugsfähig (zum Ganzen: AGVE 2004, S. 123
mit weiteren Hinweisen; D
ANIEL
A
ESCHBACH
, in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/D
AVE
S
IEGRIST
/D
IETER
W
EBER
[Hrsg.], Kommentar
zum Aargauer Steuergesetz, 3. Auflage, Muri-Bern 2009, § 40
N 34 ff.).
Nach Art. 18 Abs. 1 OR ist bei der Beurteilung eines Vertrags
nach Form wie nach Inhalt der übereinstimmende wirkliche Wille
und nicht die unrichtige Bezeichnung oder Ausdrucksweise zu be-
achten, die von den Parteien aus Irrtum oder in der Absicht gebraucht
wird, die wahre Beschaffenheit des Vertrags zu verbergen. Ungeach-
tet der von den Vertragsparteien für den Vertrag gewählten Bezeich-
nung ist mithin in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Leasingrate un-
ter den Begriff des Schuldzinses i.S.v. § 40 lit. a StG subsumiert wer-
den kann. Bei einem echten Leasingvertrag mit Kaufoption des
Leasingnehmers bei Ablauf der Vertragsdauer können die Leasingra-
ten bis Optionsausübung nicht als Schuldzinsen qualifiziert werden,
und nach Optionsausübung müsste - insbesondere bei längerer Ver-
tragsdauer - das Periodizitätsprinzip über Gebühr strapaziert werden.
Aus steuerlicher Perspektive muss sich der Leasingnehmer daher be-
reits bei Vertragsabschluss entscheiden, ob er von der vertraglich ver-
einbarten Kaufoption Gebrauch machen will. Nur so kann der
Charakter des Geschäfts als Veräusserungsgeschäft als überwiegend
betrachtet werden, so dass ein Abzug für den Schuldzinsenanteil der
Raten gewährt werden kann (A
ESCHBACH
, a.a.O., § 40 N 40 f.). Ein
Zuwarten mit dem Kaufentscheid bis zum Zeitpunkt des Ablaufs der
Leasingdauer ist nicht möglich. Analoges muss gelten, wenn dem
Leasingnehmer bei Ablauf der Vertragsdauer nicht eine Kaufoption
zusteht, sondern er die Option hat, das Fahrzeug zurückzugeben an-
statt die letzte Rate zu bezahlen, denn auch in dieser Konstellation
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
102
steht je nach Ausgestaltung der Option erst bei Vertragsende fest, ob
das Eigentum am Fahrzeug tatsächlich auf den Leasingnehmer über-
geht.
3.3.
3.3.1.
Hier verpflichtete sich die F. SA, der Garage M. nach Ausliefe-
rung des Fahrzeugs "Fiat New Doblo Emotion 2.0 Multijet 135 PS"
den Restkaufpreis in der Höhe von Fr. 19'900.00 zu bezahlen. Die
Übergabe des Fahrzeugs erfolgte direkt an den Beschwerdegegner,
während die F. SA (vorläufige) Eigentümerin des Fahrzeugs wurde.
Die Garage M. zedierte alle Rechte am Fahrzeug und aus dem mit
dem Beschwerdegegner abgeschlossenen Vertrag, insbesondere alle
Forderungen und den Eigentumsvorbehalt, an die F. SA. Der
Beschwerdegegner hatte der Garage M. gemäss "Kauf-/Finanzie-
rungsvertrag" bei Übergabe Fr. 7'000.00 in bar zu leisten und ist
vertraglich verpflichtet, der F. SA den Totalbetrag von Fr. 24'176.95
(= Fr. 19'900.00 [Restkaufpreis] + Fr. 3'960.15 [Teilzahlungszuschlag
für 59 Monate] + Fr. 316.80 [8 % MWSt auf dem Teilzahlungszu-
schlag]) in 60 monatlichen Raten wie folgt zu bezahlen: Eine erste
Rate von Fr. 607.65, 58 Folgeraten Fr. 290.85 und eine letzte Rate
(sog. Optionszahlung) von Fr. 6'700.00. Anstatt die letzte Rate zu be-
zahlen, ist der Beschwerdegegner berechtigt, das Fahrzeug der Ga-
rage M. zurückzugeben. Diesfalls hat er neben den bereits geleisteten
Zahlungen nur eine Entschädigung für aussergewöhnliche Abnüt-
zung und für Mehrkilometer über einer Gesamtfahrleistung von
100'000 km zu entrichten.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners wurde ihm
das Fahrzeug somit nicht von der Garage M. zu Eigentum übergeben.
Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem vertraglich vereinbarten Ei-
gentumsvorbehalt zugunsten der F. SA, auf welchen der Beschwer-
degegner in seinen weiteren Ausführungen hinweist. Vielmehr
überliess die F. SA dem Beschwerdegegner auf eine feste Zeit von
59 Monaten das von der Garage M. gekaufte Auto zur freien Ver-
wendung und Nutzung, aber nicht zum unbeschwerten Haben, was
durch den Eigentumsvorbehalt verdeutlicht wird. Dafür muss der
Beschwerdegegner ein Entgelt leisten, das in Teilleistungen zu ent-
2014
Kantonale Steuern
103
richten ist. Bis zur Bezahlung der letzten (60.) Rate, der sog. Op-
tionszahlung, steht noch nicht fest, ob der Beschwerdegegner
tatsächlich Eigentümer des Fahrzeugs wird. Erst mit Bezahlung der
letzten Rate (und gleichzeitiger Nichtausübung der Rückgabeoption)
geht das Eigentum am Fahrzeug auf den Beschwerdegegner über. Bei
einer Vertragsdauer von 60 Monaten erfolgt demnach während 59
Monaten eine reine Gebrauchsüberlassung. Der Eigentumserwerb
steht m.a.W. unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Be-
schwerdegegner die letzte Rate (Optionszahlung) leistet. Entgegen
dem Beschwerdegegner lag somit nicht von Anfang an eine Kapital-
schuld vor; dies steht erst dann fest, wenn der Beschwerdegegner die
letzte Rate bezahlt.
Die Optionszahlung beläuft sich auf Fr. 6'700.00. Das KStA hat
ausgeführt, dass dies in etwa dem Verkehrswert des Fahrzeugs nach
sechs Jahren Gebrauch (Alter des Fahrzeugs bei Vertragsabschluss
knapp ein Jahr, Vertragsdauer fünf Jahre) entsprechen dürfte. Diese
tatsächliche Behauptung hat der Beschwerdegegner nicht bestritten
und sie ist auch aufgrund der Vertragsgestaltung durchaus plausibel.
Gemäss der Optionsklausel (wiedergegeben in Erw. 1.) kann der Be-
schwerdegegner dannzumal auf die Zahlung der letzten Rate verzich-
ten und dafür das Fahrzeug zurückgeben. Zusätzlich muss er, wenn
die Laufleistung des Fahrzeugs über 100'000 km liegt bzw. dieses
sonst aussergewöhnlich abgenutzt ist, den Minderwert gegenüber
Fr. 6'700.00 entschädigen. Diese Vertragsgestaltung bedeutet, dass
sich die F. SA die Bezahlung des Restkaufpreises bzw. die Rückgabe
eines Fahrzeugs mit mindestens gleichem Wert (sowie die Entschädi-
gung eines allfälligen Minderwerts) garantieren liess. Das deutet da-
rauf hin, dass der Vertrag so ausgelegt war, dass die F. SA bei Ver-
tragsende, unabhängig in welcher Form, eine Leistung in Höhe des
dannzumaligen Verkehrswerts des Wagens erhalten würde. Dann
fehlt es aber auch wirtschaftlich betrachtet an einer verbindlichen
Kaufentscheidung bei Vertragsabschluss. Vielmehr hatte der Be-
schwerdegegner in der Hand, durch den Gebrauch des Fahrzeugs
während der Vertragsdauer - insbesondere durch die Laufleistung -
die Grundlagen für den Entscheid über die Bezahlung der letzten
Rate bzw. die Rückgabe des Fahrzeugs zu beeinflussen. Damit war
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
104
aber der Kaufentscheid bei Abschluss des "Kauf-/Finanzierungsver-
trags" mit Option nicht definitiv gefällt, sondern nach wie vor vom
Willen des Beschwerdegegners abhängig. Da die Höhe der Options-
zahlung nicht offensichtlich unter dem voraussichtlichen dannzuma-
ligen Verkehrswert des Fahrzeugs lag, stand damit auch wirtschaft-
lich gesehen der Charakter des Vertrags als Gebrauchsüberlassungs-
vereinbarung im Vordergrund.
Die Vertragsparteien haben ungeachtet der Bezeichnung als
"Kauf-/Finanzierungsvertrag" und der darin verwendeten Ausdrücke
(z.B. die Bezeichnung des Beschwerdegegners als "Käufer", der Ga-
rage M. als "Verkaufsfirma" und des Fahrzeugs als "Kaufobjekt")
einen echten Leasingvertrag abgeschlossen. Da der Beschwerdegeg-
ner das Eigentum am Fahrzeug während der ganzen Dauer der Ge-
brauchsüberlassung (d.h. bis zur Bezahlung der letzten Rate) nicht
erwirbt, läuft die Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts zwischen
den Parteien ins Leere. Eine solche Klausel, verbunden mit dem Ein-
trag im entsprechenden Register, erscheint indessen gegenüber Drit-
ten gerechtfertigt, verschafft doch ein Finanzierungsleasingvertrag
regelmässig dem Leasingnehmer wirtschaftlich die Stellung eines Ei-
gentümers, während er der Leasinggesellschaft das rechtliche Eigen-
tum am Leasingobjekt zur Sicherung ihrer Forderung belässt (BGE
118 II 150 Regeste 4 und Erw. 6c). An der steuerrechtlichen
Qualifikation des Geschäfts als echter Leasingvertrag ändert die Ver-
einbarung eines Eigentumsvorbehalts nichts.
3.3.2.
Der Beschwerdegegner hat den Nachweis nicht erbracht, dass er
sich bereits bei Vertragsabschluss definitiv entschieden hat, von der
vertraglich vereinbarten Rückgabeoption keinen Gebrauch zu ma-
chen. Nach dem in Erw. 3.2.2. Gesagten kann ihm folglich - wie die
Steuerkommission B. zu Recht entschieden hat - kein Abzug i.S.v.
§ 40 lit. a StG für den Zinsanteil der im Jahr 2012 bezahlten Leasing-
raten gewährt werden. | 3,759 | 2,912 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-12_2014-11-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-12.pdf | AGVE_2014_12 | null | nan |
3d77eecf-b5dc-5c1e-84c1-1f46eb253e9f | 1 | 412 | 870,403 | 988,675,200,000 | 2,001 | de | 2001
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
221
54 Anstaltseinweisung; Auslegung des Begriffs der schweren
Verwahrlosung; Einweisung eines Jugendlichen in eine
Arbeitserziehungsanstalt.
- Stark einschränkende Auslegung des Begriffs der schweren Ver-
wahrlosung (Erw. 2/a und b).
-
Berücksichtigung des jugendlichen Alters (Erw. 2/c).
- Voraussetzungen für die Mitberücksichtigung der seelischen, sitt-
lichen oder affektiven Verwahrlosung (Erw. 3/b/aa-cc).
-
Verhältnis zu anderen Einweisungstatbeständen (Erw. 3/c).
-
Bei einer drohenden Verwahrlosung muss nicht bis zum Eintritt eines
nicht mehr verbesserbaren Zustandes gewartet werden (Erw. 3/d).
-
Arbeitserziehungsanstalt als geeignete Anstalt (Erw. 5).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 30. Mai 2001 in
Sachen M.Z. gegen Verfügung des Bezirksamts Z.
Aus den Erwägungen
2. a) Obwohl bei den Gesetzesberatungen eine gewisse Ab-
schwächung erfolgte, indem statt der "völligen Verwahrlosung" im
bundesrätlichen Entwurf (worauf sich die Botschaft bezieht) der
Begriff der "schweren Verwahrlosung" gewählt wurde, hat das Ver-
waltungsgericht den Begriff der "schweren Verwahrlosung" stark
einschränkend ausgelegt. Es handelt sich hier um Fälle, wo jemand
ohne die Versorgung in einen mit der Menschenwürde schlechter-
dings nicht mehr zu vereinbarenden Zustand der Verkommenheit
geraten würde (Botschaft des Bundesrates vom 17. August 1977
[Botschaft], BBl 1977 II S. 25). Zu bejahen ist dies, wo jemand nicht
mehr in der Lage ist, den minimalen Bedürfnissen in Bezug auf Er-
nährung und Hygiene nachzukommen, aber auch dort, wo durch die
mangelnde Selbstfürsorge die offensichtliche und akute Gefahr einer
irreversiblen, schweren Gesundheitsschädigung besteht. Dieser Zu-
stand der Verwahrlosung gründet in Hilflosigkeit oder in einem
krankheitsähnlichen Verhalten, wodurch die Entscheidungsfreiheit
des Betreffenden bereits eingeschränkt ist (Barbara Caviezel-Jost,
2001
Verwaltungsgericht
222
Die materiellen Voraussetzungen der fürsorgerischen Freiheitsentzie-
hung, Stans 1988, S. 229 ff.; vgl. zum Ganzen AGVE 1981, S. 145 f.;
1983, S. 117 f.; 1986, S. 196 f.; 1988, S. 253 f.; 1993, S. 313 f.).
b) Eine weite Auslegung des Verwahrlosungsbegriffs - unter
Einschluss seelischer, sittlicher oder affektiver Verwahrlosung (vgl.
Entscheide der Gerichts- und Verwaltungsbehörden des Kantons
Schwyz [EGV-SZ] 1983, S. 42) - erscheint problematisch, nament-
lich angesichts der nicht rein medizinischen Auslegung der Begriffe
Geisteskrankheit und Geistesschwäche (AGVE 1982, S. 140 ff.),
wodurch sich auch krasse Auffälligkeiten seelischer und affektiver
"Verwahrlosung" erfassen lassen. Es besteht sonst die Gefahr, dass
eine Hintertür zur Umgehung der abschliessenden Umschreibung der
Einweisungstatbestände geschaffen wird. Der Tatbestand ist also
nicht schon dadurch erfüllt, dass eine Person von den hergebrachten
Formen bürgerlicher Wohlanständigkeit abweicht (Botschaft, a.a.O.
S. 25). Eine fürsorgerische Freiheitsentziehung, welche sich auf das
Vorliegen einer seelischen, sittlichen oder affektiven Verwahrlosung
stützt, müsste sich auf Fälle beschränken, wo sehr konkrete Aus-
sichten bestehen, dem Betroffenen durch das Therapie- und Bil-
dungsangebot der Anstalt entsprechend seinen eigenen (wenn auch
nicht oder nur unklar geäusserten) Wünschen und Bedürfnissen zu
helfen (Gottlieb Iberg, Aus der Praxis des fürsorgerischen Freiheits-
entzuges, in: SJZ 79/1983, S. 295 f.; AGVE 1983, S. 117 f.).
c) Die Frage, ob wegen der bei Jugendlichen und jungen Er-
wachsenen am ehesten bestehenden Beeinflussungsmöglichkeit eine
altersabhängige Interpretation des Verwahrlosungsbegriffs zu befür-
worten sei, hat das Verwaltungsgericht bisher offengelassen (AGVE
1983, S. 118). Es muss berücksichtigt werden, dass es sich dabei um
einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt (Eugen Spirig, Zürcher
Kommentar Art. 397a - 397f, Zürich 1995, Art. 397d N 90). Ob eine
schwere Verwahrlosung vorliegt, lässt sich nicht aufgrund messbarer
Grössen feststellen, sondern muss gestützt auf die Bewertung der
Einzelumstände und konkreter Vorkommnisse erfolgen; massgeblich
ist immer der Zustand der im einzelnen Fall zu beurteilenden Person.
Dabei ist auch das Alter derselben zu berücksichtigen. Jugendliche
und junge Erwachsene sind stärker beeinflussbar als ältere Personen;
2001
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
223
ihre Entwicklung hängt deshalb entscheidender von geeigneten pä-
dagogisch-therapeutischen Massnahmen ab. Von daher gesehen kann
unter Umständen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein
fürsorgerisches Tätigwerden im Hinblick auf eine drohende schwere
Verwahrlosung in einem früheren Stadium angezeigt sein (R. Furger,
Unterbringung Jugendlicher und Erwachsener im Sinne der fürsorge-
rischen Freiheitsentziehung aus psychiatrischer Sicht, in: ZVW
38/1983, S. 44 f., 48 ff.; Caviezel-Jost, a.a.O., S. 222, 230 f.). In
diesem Sinne ist der Verwahrlosungsbegriff "altersabhängig" auszu-
legen.
3. b) aa) Es stellt sich die Frage, ob nebst dem schlechten Zu-
stand des Beschwerdeführers bezüglich Körperpflege, Kleidung,
Ernährung und Hygiene auch dessen psychische Verfassung, Betäu-
bungsmittelkonsum, aggressives Verhalten gegenüber seiner Mutter
sowie der Umstand, dass er weder über eine Wohnmöglichkeit noch
eine Arbeitsstelle verfügt, mitzuberücksichtigen sind. Eine weite
Auslegung des Verwahrlosungsbegriffs - unter vorbehaltlosem Ein-
schluss seelischer, sittlicher oder affektiver Verwahrlosung - ist
problematisch. (Erw. 2/b vorstehend). Die fürsorgerische Freiheits-
entziehung aufgrund einer Auslegung des Verwahrlosungsbegriffs,
welcher auch die seelische, sittliche oder affektive Verwahrlosung
berücksichtigt, darf nicht zur Umerziehung und Anpassung von Per-
sonen, die in ihrer Lebensführung bewusst von den von gesellschaft-
lich akzeptierten Verhaltensnormen abweichen und auch bereit sind,
die Folgen ihres Verhaltens zu tragen, führen. Eine solche Auslegung
des Verwahrlosungsbegriffs ist jedoch dann gerechtfertigt, wenn sie
der Fürsorge von Personen dient, die aufgrund ihres psychischen
Zustandes oder ihres sozialen Verhaltens in Schwierigkeiten geraten,
hilfsbedürftig sind und an ihrem Zustand leiden. Bei einem Clochard
oder einem Arbeitsscheuen darf nicht schon allein deswegen von
schwerer Verwahrlosung gesprochen werden, weil dieser durch seine
Lebensführung der Öffentlichkeit oder der Familie zur Last fällt.
Eine schwere Verwahrlosung in seelischer, sittlicher oder affektiver
Hinsicht kann jedoch u.U. dann angenommen werden, wenn die
betroffene Person selber zu erkennen gibt, dass sie eigentlich ein
anderes Leben führen möchte. Dabei muss sich eine solche fürsorge-
2001
Verwaltungsgericht
224
rische Freiheitsentziehung auf Fälle beschränken, wo sehr konkrete
Aussichten bestehen, dem betroffenen durch das Therapie- und Bil-
dungsangebot der Anstalt entsprechend seinen eigenen (wenn auch
nicht oder nur unklar geäusserten) Wünschen und Bedürfnissen zu
helfen (Gottlieb Iberg, Aus der Praxis des fürsorgerischen Freiheits-
entzuges, a.a.O., S. 295 f.; vgl. Erw. 2/b vorstehend).
bb) Der Beschwerdeführer möchte - im Unterschied zu einer
Person, die bewusst von gewissen gesellschaftlich akzeptierten Ver-
haltensnormen abweicht, wie z.B. einem Clochard oder einem Ar-
beitsscheuen - ein von der Gesellschaft akzeptiertes Leben führen.
An der Verhandlung erklärte er, dass er sich in der Rekrutenschule
wohlgefühlt habe, weil er sich dort als vollwertiges Mitglied der
Gesellschaft gefühlt habe. Der Aufenthalt in der Drogenentziehungs-
anstalt Neuenhof habe ihm Mühe gemacht, da er nicht zu den
"Schwerstsüchtigen", den "Leuten vom Letten", gehöre. Auch zu den
Insassen des Kalchrain, "Leuten aus dem Gefängnis", passe er nicht.
Der Beschwerdeführer erklärte, er wolle arbeiten und sich seinen
Lebensunterhalt selber verdienen. Er wolle wie ein rechter Bürger
seine Leistungen erbringen. Der Lebensstil und das soziale Verhal-
ten, welches der Beschwerdeführer bisher zeigte, widerspricht somit
seiner eigenen, erklärten Absicht. Da dem Beschwerdeführer die
psychische Stabilität und die Entscheidungsfähigkeit abgeht, aus
eigener Kraft eine Veränderung in seinem Verhalten herbeizuführen,
könnte ihm durch die Einweisung in eine geeignete Anstalt (dazu
Erw. 5 nachstehend) die nötige Hilfe angeboten werden, um sich
entsprechend den von ihm selber geäusserten Vorstellungen zu än-
dern.
cc) Dem jugendlichen Alter des Beschwerdeführers ist dabei
eine besondere Bedeutung beizumessen (Erw. 2/c vorstehend). Aus
entwicklungspsychologischer Sicht kann gesagt werden, dass für den
noch jugendlichen Beschwerdeführer bei einem raschen und geziel-
ten Eingreifen mit den geeigneten pädagogisch-therapeutischen
Möglichkeiten die Aussicht auf eine erhebliche Verbesserung seines
Zustandes besteht. Dies wird auch Auswirkungen auf sein subjekti-
ves Wohlbefinden haben. Mit zunehmendem Alter wird die Chance
für eine Veränderung abnehmen.
2001
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
225
(...) c) aa) aaa) Der Beschwerdeführer konsumierte seit seinem
14. Lebensjahr regelmässig Cannabis. Die Psychiatrische Klinik
Königsfelden (PKK) stellte ein Cannabisabhängigkeitssyndrom fest.
Ein Entzugsversuch im Jahre 1999 scheiterte.
(...)
ddd) Ob die beim Beschwerdeführer diagnostizierte Cannabis-
abhängigkeit den Tatbestand der "anderen Suchterkrankungen" er-
füllt und damit als selbständiger Einweisungstatbestand in Frage
kommt, kann offengelassen werden. Der langjährige Cannabiskon-
sum, der mindestens an ein Suchtverhalten angrenzt, ist bei der Be-
urteilung, ob eine schwere Verwahrlosung vorliegt, angemessen zu
berücksichtigen. Dabei ist zu beachten, dass gerade Cannabis die
dem Beschwerdeführer ohnehin schon fehlende persönliche Stärke
(Erw. bb/aaa-ccc nachstehend) und Selbstdisziplin noch zusätzlich
schwächt.
bb) aaa) In der PKK wurde beim Beschwerdeführer bereits im
Jahre 1999 eine "frühe emotionale Verwahrlosung" festgestellt. Die
Diagnose lautete auf "graduelle depressive Entwicklung im Rahmen
anhaltender affektiver Störungen (ICD-10 F.34) oder psychotische
Störung, vorwiegend depressive Symptome durch psychotrope Sub-
stanzen, Cannabinoide (ICD-10 F.54)". Unter Druck könne der Be-
schwerdeführer aufgrund seiner Selbstwertproblematik, Verlust-
ängsten und traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit auch fremd-
oder selbstgefährdend werden, wenn er in die Enge getrieben bzw.
unter Druck gesetzt werde. Die aktuelle Beurteilung lautete: "Ver-
dacht auf kombinierte Persönlichkeitsstörung (emotional instabiler,
impulsiver Typus und narzisstisch [ICD-10 F6.10])."
bbb) Auch wenn die beim Beschwerdeführer festgestellten psy-
chischen Probleme noch nicht den Tatbestand einer Geisteskrankheit
oder Geistesschwäche erfüllen, sind sie angemessen bei der Beurtei-
lung, ob eine schwere Verwahrlosung vorliegt, zu berücksichtigen.
Aus den glaubwürdigen Aussagen der Zeugen und Auskunftsperso-
nen an der Verhandlung wurde deutlich, dass dem Beschwerdeführer
seine persönlichen Probleme zu schaffen machen. Der Beschwerde-
führer leidet an mangelndem Selbstwertgefühl. Dazu gehört auch das
Männlichkeitsproblem. Die Mutter hatte in letzter Zeit den Eindruck,
2001
Verwaltungsgericht
226
der Beschwerdeführer entwickle in Bezug auf sein körperliches Pro-
blem (Hodenoperation) eine Art Wahnideen. Der Beschwerdeführer
selber gab in der Verhandlung zu, dass er in letzter Zeit von diesem
Problem stark belastet war und deshalb Mühe hatte, sich um seine
Wohnung und seinen Lebensunterhalt zu kümmern.
ccc) Aufgrund des Alters des Beschwerdeführers wurde in der
Klinik Königsfelden erst eine Verdachtsdiagnose erstellt, da noch die
Chance besteht, dass durch Nacherziehung und Therapie an der Per-
sönlichkeit des Beschwerdeführers gearbeitet werden kann. Ohne
Nacherziehung und Therapie besteht - unter Mitberücksichtigung
des anhaltenden Cannabiskonsums - die grosse Gefahr einer baldi-
gen chronischen psychiatrischen Erkrankung (Persönlichkeitsstö-
rung) mit schlechten Heilungschancen.
cc) Für das Verwaltungsgericht steht fest, dass der anhaltende
Cannabiskonsum und die psychischen Probleme den Beschwerdefüh-
rer in seiner weiteren persönlichen Entwicklung beeinträchtigen. Die
Cannabiskonsum hindert ihn daran, selbständig und zuverlässig einer
geregelten Arbeit nachzugehen und Ordnung in Bezug auf Kleidung,
Wohnung und Hygiene zu halten. Die psychischen Probleme werden
durch den Cannabiskonsum eher verstärkt. Dem Beschwerdeführer
fehlt die Einsicht, dass ein Verzicht auf den Konsum von Cannabis
notwendig ist. Die Entscheidungsfreiheit des Beschwerdeführers ist
demnach eingeschränkt; der Beschwerdeführer ist nicht in der Lage,
seine Lebensproblematik aus eigener Kraft anzugehen und seine
Ziele zu verwirklichen.
d) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Be-
schwerdeführer vor seiner Einweisung bezüglich Ernährung und
Hygiene in bedenklichen Verhältnissen lebte. Der Beschwerdeführer
war offensichtlich nicht mehr in der Lage, für sich selber zu sorgen,
was sich dadurch zeigte, dass er seine Mutter belästigte. Zudem ist
zu befürchten, dass sich bei ihm ohne geeignete Fürsorge eine bal-
dige chronische psychiatrische Erkrankung mit schlechten Hei-
lungschancen einstellen würde. Beim Beschwerdeführer besteht auf-
grund eines erheblichen psychischen Defizits und seines anhaltenden
Cannabiskonsums eine krankheitsähnliche Einschränkung seiner
Entscheidungsfreiheit und seines Durchhaltewillens. Diese Ein-
2001
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
227
schränkung führt dazu, dass ohne die zu beurteilende Fürsorge (An-
staltseinweisung [Erw. 5 nachstehend]) in absehbarer Zeit ein Zu-
stand eintreten würde, der mit der Menschenwürde schlechterdings
nicht vereinbar wäre. Bei einer drohenden Verwahrlosung muss nicht
bis zum Eintritt eines nicht mehr verbesserbaren Zustandes gewartet
werden (Thomas Geiser, in: Basler Kommentar zum Schweizeri-
schen Privatrecht, Basel/Genf/München 1999, Art. 397a ZGB N. 10).
Aus diesem Grund steht für das Verwaltungsgericht fest, dass beim
Beschwerdeführer der Einweisungstatbestand der schweren Ver-
wahrlosung gegeben ist.
5. a) Die Unterbringung muss in einer geeigneten Anstalt erfol-
gen. Es handelt sich dabei um ein eigenes Tatbestandsmerkmal. Wo
eine Anstaltsunterbringung zwar gerechtfertigt und angezeigt wäre,
aber keine geeignete und zur Aufnahme des Betroffenen bereite oder
verpflichtete Anstalt gefunden werden kann, ist die fürsorgerische
Freiheitsentziehung unzulässig (AGVE 1993, S. 317; Iberg, a.a.O.,
S. 296 f. mit Hinweisen).
b) Die Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain ist eine sozialpäda-
gogische Institution mit individueller pädagogischer und therapeu-
tischer Ausrichtung in den Bereichen Verhaltensauffälligkeiten, Per-
sönlichkeitsentwicklung, Suchtbehandlung und Berufsausbildung.
Während der ersten beiden Stufen befinden sich die Insassen in einer
geschlossenen Abteilung. Die Anstalt bietet starke Strukturen und
Regeln. Für jeden Bewohner ist das Mitmachen im Therapiepro-
gramm "Projekt Suchtgruppe" obligatorisch. Alkohol und illegale
Drogen sind verboten. Die Anstalt bietet Möglichkeiten zur psychia-
trischen Abklärung und Behandlung. Auch eine psychologische Auf-
arbeitung des Mutter-Sohn-Konfliktes könnte durchgeführt werden.
Die Anstalt bietet Möglichkeiten der Berufsausbildung. Sobald der
Beschwerdeführer in die Stufe des externen Wohnens oder Arbeitens
käme, wäre die von ihm gewünschte Ausbildung zum Pfleger grund-
sätzlich möglich. Die Anstalt ist zwar primär eine Massnahmeinsti-
tution im Sinne des Strafgesetzbuches. Sie bietet aber auch Personen
im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung Aufnahme.
c) Aufgrund ihres Therapieangebotes, der Ausbildungsmög-
lichkeiten und vor allem wegen des anfänglich geschlossenen Rah-
2001
Verwaltungsgericht
228
mens mit starken Strukturen und Regeln ist die Arbeitserziehungsan-
stalt Kalchrain zweifellos eine für den Beschwerdeführer geeignete
Anstalt. | 3,474 | 2,767 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-54_2001-05-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-54.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-54.pdf | AGVE_2001_54 | null | nan |
3da4774a-b057-5c70-bdeb-9db96736b53c | 1 | 412 | 871,753 | 1,117,756,800,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsgericht
234
[...]
47 Ausschluss
eines
Anbieters
vom
Verfahren.
- Ausschluss wegen unzulässiger Abänderung des Offerttextes.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 8. Juni 2005 in Sachen
A. + W. und Mitb. gegen Stadtrat Aarau.
2005
Submissionen
235
Aus den Erwägungen
1. a) Der Stadtrat Aarau begründet den Ausschluss der Be-
schwerdeführer damit, dass diese den Offerttext abgeändert und
Streichungen vorgenommen, respektive kein Grundangebot einge-
reicht hätten.
b) In den Ausschreibungsunterlagen ("Administrative Angaben
zur Offerte") wurde unter dem Randtitel "Offertbearbeitung" aus-
drücklich darauf hingewiesen, dass das Angebot "Ausschreibung
GIS-Aufbau und Betrieb" und die Angaben zur Offertausschreibung
vollständig ausgefüllt, ohne eigene Abänderungen, Ergänzungen
oder Streichungen und mit allen verlangten Unterlagen
einzureichen
sind. Unvollständig eingereichte Angebote würden von der Aus-
schreibung ausgeschlossen. Eventuelle Vorbehalte zum Angebot oder
Abänderungsvorschläge seien
separat
abzugeben.
c) Trotz dieser klaren und unmissverständlichen Vorgaben in
den Ausschreibungsunterlagen haben die Beschwerdeführer in Ziffer
7.9 des Leistungsverzeichnisses (Daten der amtlichen Vermessung
[AV-Daten]) eigenmächtig Streichungen und handschriftlich Än-
derungen vorgenommen. Schon deshalb erweist sich der Ausschluss
der Beschwerdeführer als begründet. Ein überspitzt formalistischer
Entscheid ist darin genau so wenig zu erkennen wie ein Verstoss
gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Die Beschwerdefüh-
rer sind bewusst von den ihnen bekannten Vorgaben der Vergabe-
stelle abgewichen. Wenn sie Zweifel an der Zweckmässigkeit der in
der Ausschreibung vorgesehenen Lösung hatten, wäre es ihnen
unbenommen gewesen, der Vergabestelle ihre Bedenken und Ände-
rungsvorschläge - wie von dieser klar verlangt - separat zu unter-
breiten. Die von der Vergabestelle in den Ausschreibungsunterlagen
gemachten formellen Vorgaben waren für alle Anbietenden ver-
bindlich. Würde das vorliegende Abweichen der Beschwerdeführer
von den klaren Vorgaben der Vergabebehörde toleriert, läge ein Ver-
stoss gegen das Gleichbehandlungsgebot vor, würden doch diejeni-
gen Anbieter, welche die Vorgaben eingehalten haben, benachteiligt. | 477 | 384 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-47_2005-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-47.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-47.pdf | AGVE_2005_47 | null | nan |
3dd88c88-043e-5131-bd3b-01601da54ac1 | 1 | 412 | 869,826 | 952,128,000,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsgericht
126
[...]
34
Dauer des vorläufigen Führerausweisentzuges.
- Notwendigkeit einer abschliessenden Verfügung.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 21. März 2000 in
Sachen V.S. gegen Entscheid des Departements des Innern.
Aus den Erwägungen
b) Das Strassenverkehrsamt wird darauf aufmerksam gemacht,
dass der vorläufige Entzug des Führerausweises im Sinne von Art. 35
Abs. 3 VZV eine provisorische Massnahme darstellt und ihre Praxis,
solche vorsorgliche Massnahmen über längere Zeit aufrecht zu
erhalten, den gesetzlichen Bestimmungen nicht entspricht (vgl. BGE
125 II 396, Erw. 3 a.E.). Dies gilt unabhängig davon, ob ein solches
Vorgehen vom Betroffenen beantragt wird. Liegen die mit dem
vorsorglichen Entzug angeordneten Abklärungen vor und ergeben
diese, dass die Voraussetzungen für einen Sicherungsentzug gegeben
sind, ist dieser in einer förmlichen Verfügung anzuordnen.
Fehlen die Gründe für einen Sicherungsentzug, ist über die
Wiederaushändigung des Führerausweises und damit über den Ab-
schluss des Verfahrens betreffend Sicherungsentzug formell zu ent-
scheiden. Gaben Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz
Anlass zur Einleitung des Verfahrens, sind die Voraussetzungen für
weitere administrative Massnahmen zu prüfen. | 264 | 224 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-34_2000-03-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-34.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-34.pdf | AGVE_2000_34 | null | nan |
3e57ffa5-bc06-5266-8251-e16f278f6c9e | 1 | 412 | 871,125 | 1,459,641,600,000 | 2,016 | de | 2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
214
[...]
35
Sozialhilfe; Anrechnung hypothetischer eigener Mittel
Die unter dem Vorwand des Wegzugs erwirkte Auszahlung eines Frei-
zügigkeitsguthabens stellt in Verbindung mit einer objektiv unvernünfti-
2016
Sozialhilfe
215
gen Mittelverwendung und der Verletzung der Meldepflicht ein rechts-
missbräuchliches Verhalten dar, welches die Anrechnung hypothetischer
eigener Mittel rechtfertigt.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 28. April 2016 in Sachen
A. gegen Sozialkommission B. und Departement Gesundheit und Soziales
(WBE.2015.450).
Aus den Erwägungen
1.-3. (...)
4.
4.1.
Der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe besteht nach Art. 12 BV
und § 39 KV sowie den gesetzlichen Bestimmungen für die Exis-
tenzsicherung gemäss § 4 Abs. 1 SPG i.V.m. § 3 Abs. 1 SPV unter
der Voraussetzung, dass eine Notlage besteht und derjenige, der in
Not gerät, nicht in der Lage ist, rechtzeitig für sich zu sorgen (vgl.
BGE 130 I 71, Erw. 4.3; AGVE 2005, S. 293 mit Hinweisen). Damit
wird der Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe ausgedrückt. Die
Hilfe suchende Person ist verpflichtet, sich nach Möglichkeit selbst
zu helfen; sie muss alles Zumutbare unternehmen, um eine Notlage
aus eigenen Kräften abzuwenden oder zu beheben (BGE 130 I 71,
Erw. 4.1; SKOS-Richtlinien, Kapitel A.4). Zu den zumutbaren und
subsidiären Hilfsquellen zählen neben der Möglichkeit der Selbst-
hilfe sowie Leistungsverpflichtungen Dritter auch freiwillige
Leistungen Dritter, die ohne rechtliche Verpflichtung erbracht wer-
den (SKOS-Richtlinien, A.4-2).
Nach § 5 Abs. 1 SPG setzt der Anspruch auf Sozialhilfe unter
anderem voraus, dass die eigenen Mittel nicht genügen. Als eigene
Mittel bezeichnet das Gesetz namentlich Einkünfte und Zuwen-
dungen aller Art sowie Vermögen (§ 11 Abs. 1 SPG). Der
Vermögensfreibetrag beläuft sich auf Fr. 1'500.00 pro Person (§ 11
Abs. 4 SPV). Voraussetzung der Anrechnung von Einkommen und
Vermögen als eigene Mittel ist grundsätzlich die tatsächliche Verfüg-
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
216
barkeit (Tatsächlichkeitsprinzip, vgl. G
UIDO
W
IZENT
, Die sozial-
hilferechtliche Bedürftigkeit, Zürich/St. Gallen 2014, S. 211 ff.).
4.2.
4.2.1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die monatliche Anrech-
nung eines Betrags von Fr. 153.00 als eigene Mittel erfolge rechts-
widrig. Er habe mit dem ausbezahlten Freizügigkeitsguthaben von
Fr. 23'336.22 unter anderem Privatschulden in der Höhe von
Fr. 10'800.00 beglichen. Damit macht der Beschwerdeführer sinnge-
mäss geltend, dass eine Anrechnung als eigene Mittel mangels
Verfügbarkeit unzulässig sei.
4.2.2.
Die Vorinstanz bringt dagegen vor, der Beschwerdeführer habe
nicht ausreichend nachgewiesen, dass er den fraglichen Betrag tat-
sächlich verbraucht habe. Damit sei die erneute Bedürftigkeit des
Beschwerdeführers nicht nachgewiesen. In einem solchen Fall be-
stehe grundsätzlich kein Anspruch auf ordentliche Sozialhilfe, son-
dern nur ein Anspruch auf Nothilfe i.S.v. Art. 12 BV.
4.3.
4.3.1.
Nach § 17 VRPG ermitteln die Behörden den Sachverhalt, unter
Beachtung der Vorbringen der Parteien, von Amtes wegen und stel-
len die dazu notwendigen Untersuchungen an. Die behördliche
Abklärungspflicht bezieht sich dabei nur auf den im Rahmen des
streitigen Rechtsverhältnisses rechtserheblichen Sachverhalt. Rechts-
erheblich sind alle Tatsachen, von deren Vorliegen es abhängt, ob
über den streitigen Anspruch so oder anders zu entscheiden ist. In
diesem Rahmen haben Verwaltungsbehörden zusätzliche Abklä-
rungen stets dann vorzunehmen oder zu veranlassen, wenn hierzu auf
Grund der Parteivorbringen oder anderer sich aus den Akten er-
gebender Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht (VGE IV/81
vom 29. November 2012 [WBE.2012.148], Erw. II/3.5). Der Unter-
suchungsgrundsatz verpflichtet die rechtsanwendende Behörde dazu,
vor der Entscheidfällung den rechtserheblichen Sachverhalt richtig
und vollständig abzuklären, sie trägt die Verantwortung für die
Beschaffung der Entscheidgrundlagen (AGVE 2002, S. 397 mit Hin-
2016
Sozialhilfe
217
weisen; VGE IV/2 vom 25. Januar 2010 [WBE.2006.455],
Erw. II/4.2.4).
4.3.2.
§ 2 SPG und § 1 SPV regeln die Mitwirkungs- und Melde-
pflicht. Danach sind Personen, die Leistungen nach dem SPG geltend
machen, beziehen oder erhalten haben, verpflichtet, über ihre
Verhältnisse wahrheitsgetreu und umfassend Auskunft zu geben
sowie Änderungen der Verhältnisse sofort zu melden (§ 2 Abs. 1
SPG i.V.m. § 1 Abs. 1 und 2 SPV; SKOS-Richtlinien, Kapitel A.5.2).
Für die Beweislast gilt im Verwaltungsprozess Art. 8 ZGB analog;
die Folgen der Beweislosigkeit trägt jene Partei, die aus dem nicht
bewiesenen Sachumstand Rechte ableitet (U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
,
Allgemeines
Verwaltungsrecht,
7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016, N 988 mit Hinweisen).
4.4.
4.4.1.
Laut Belastungsanzeige der Neuen Aargauer Bank wurden dem
Beschwerdeführer Freizügigkeitsleistungen in der Höhe von
Fr. 23'336.22 ausbezahlt. Damit verfügte der Beschwerdeführer
spätestens dann über den Betrag. Nachdem er seinen Plan, nach
Italien auszuwandern, nicht umgesetzt hatte, beglich er mit dem Geld
eigenen Angaben zufolge Privatschulden. Soweit der Beschwerde-
führer damit geltend macht, er hätte das Freizügigkeitsguthaben be-
reits verbraucht, hat er dessen Verwendung, sofern möglich, mit
Quittungen nachzuweisen. Als Beleg reichte er der Vorinstanz auf
deren Aufforderung hin eine handschriftlich verfasste Zusammenstel-
lung der Mittelverwendung ein. Der Zusammenstellung sind die Be-
gleichung diverser offener Rechnungen, unter anderem für die Miet-
zinse Januar, März, April und Juni, Mietzinskaution und Zahlungen
an das Betreibungsamt im Umfang von Fr. 9'737.00 sowie Ausgaben
für zweimalige Reisen nach Italien in der Höhe von Fr. 4'400.00 zu
entnehmen. Hinsichtlich der Mietzinse für die Monate Januar und
März ist fragwürdig, ob der Beschwerdeführer tatsächlich eine Zah-
lung getätigt hat; denn die monatliche Verrechnung der
zweckentfremdeten materiellen Hilfe von Fr. 190.00 begleicht gerade
diese ausgefallenen Mietzinse. Diese Ausgaben sind aber im vorlie-
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
218
genden Verfahren nicht strittig, weshalb die Frage offen bleiben
kann.
Strittig sind hingegen die vom Beschwerdeführer geltend ge-
machten Privatschulden in der Höhe von Fr. 10'800.00. Diesbezüg-
lich führt er zwar eine Liste mit Namen von sieben verschiedenen
Gläubigern samt Telefonnummern an; es lässt sich den Akten jedoch
nicht entnehmen, ob und in welchem Umfang die vom Beschwer-
deführer behaupteten Privatschulden tatsächlich bestanden haben. In
den Akten befinden sich weder Darlehensverträge noch Quittungen
bzw. schriftliche Bestätigungen von Gläubigern für die Tilgung von
Schulden. Augenfällig ist an der Gläubigerliste, dass der aufgeführte
höchste Betrag von Fr. 8'000.00 zur Schuldentilgung an die in Italien
ansässige Mutter des Beschwerdeführers geflossen sein soll. Es kann
im Hinblick auf die Grundsätze des Sozialhilferechts zum einen nicht
angehen, dass eine unterstützte Person mit anrechenbaren eigenen
Mitteln ihre im Ausland wohnhafte Mutter begünstigt, während sie
selbst weiterhin zu Lasten des Staats materiell unterstützt wird. Unter
den vorliegenden Umständen ist zum anderen die Mittelverwendung
für die Begleichung der Privatschulden durch den Beschwerdeführer
nicht plausibel. Es ist aufgrund fehlender Belege und der bloss ru-
dimentären Angaben des Beschwerdeführers zur behaupteten
Schuldenbegleichung nicht erwiesen, dass die bestehenden Mittel
tatsächlich verbraucht wurden. Diese Sachverhaltsfrage kann in-
dessen offen bleiben. Das Gesamtverhalten des Beschwerdeführers
ist, wie nachfolgend aufzuzeigen ist, ohnehin rechtsmissbräuchlich
und findet daher keinen Rechtsschutz.
4.4.2.
Rechtsmissbrauch liegt insbesondere dann vor, wenn ein
Rechtsinstitut zweckwidrig zur Verwirklichung von Interessen ver-
wendet wird, die dieses Institut nicht schützen will (vgl. VGE IV/2
vom 27. Januar 2005 [BE.2004.00386], Erw. II/3a und 3b). Im
sozialhilferechtlichen Sinne liegt Rechtsmissbrauch dann vor, wenn
das Verhalten der unterstützten Person einzig darauf gerichtet ist, in
den Genuss von materieller Hilfe zu gelangen (§ 15 Abs. 3 SPV; vgl.
auch BGE 121 I 367, Erw. 3d) bzw. wenn jemand eine Notlage be-
wusst herbeiführt oder aufrechterhält, um so Sozialhilfeleistungen zu
2016
Sozialhilfe
219
erhalten (P
ETER
M
ÖSCH
P
AYOT
, in: C
HRISTOPH
H
ÄFELI
[Hrsg.], Das
Schweizerische Sozialhilferecht, Luzern 2008, S. 285). Hinsichtlich
der Sanktionierung von Rechtsmissbrauch müssen das Verhältnis-
mässigkeitsprinzip und die jeweiligen Sanktionsregeln beachtet wer-
den.
Grundsätzlich kann ein hypothetisches Einkommen, also das-
jenige, welches bei pflichtgemässer Verwertung der eigenen
Leistungsfähigkeit erwirtschaftet werden könnte, nicht aufgerechnet
werden. Auf die Verletzung der Pflicht, die eigene Arbeitskraft zu
verwerten, ist deshalb mit Kürzungen des Grundbedarfs zu reagieren
(C
LAUDIA
H
ÄNZI
, in: H
ÄFELI
[Hrsg.], a.a.O., S. 141 f.). Davon zu
unterscheiden ist der Fall, wenn die unterstützte Person Einkommen
erzielt, diesen Umstand und/oder die Höhe der erzielten Einkünfte je-
doch pflichtverletzend verschweigt. Hier ist die Anrechnung eines
geschätzten Einkommens zulässig (vgl. H
ÄNZI
, a.a.O., S. 141 mit
Hinweisen).
4.4.3.
Der hierzu massgebliche Sachverhalt präsentiert sich wie folgt:
Der Beschwerdeführer beabsichtigte eigenen Angaben zufolge,
nach Italien auszuwandern, und meldete sich am 27. April 2015 bei
der Einwohnerkontrolle B. per 31. Mai 2015 ab. Am 29. April 2015
ging seine Wohnungskündigung per 30. Juni 2015 bei seinem
Vermieter ein. Der Vermieter bestätigte den Erhalt, machte den Be-
schwerdeführer aber darauf aufmerksam, dass eine ordentliche
Kündigung gemäss Mietvertrag erst per 30. September 2015 erfolgen
könne. Der Beschwerdeführer könne einen geeigneten Nachmieter
vorschlagen oder allenfalls auf eigene Initiative und/oder in Ab-
sprache mit dem Vermieter eine Wohnungsanzeige aufgeben. Dass
der Beschwerdeführer diesbezügliche Schritte unternommen hat,
lässt sich den Akten nicht entnehmen und wurde von ihm auch nicht
geltend gemacht. Im Gegenteil: Der Beschwerdeführer lebte weiter-
hin in seiner Wohnung, ohne ernsthafte Schritte zur Umsetzung der
geplanten Auswanderung zu unternehmen; insbesondere hat er den
Haushalt nie aufgelöst oder seine Möbel nach Italien transportieren
lassen. Die Wohnungskündigung erfolgte ohne Rücksicht auf die ver-
traglichen Kündigungsfristen und -termine. Dem Beschwerdeführer
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
220
musste als ehemaligem Selbständigerwerbenden, welcher unter ande-
rem nachweislich von C. nach B. umgezogen war, bekannt sein, dass
ein Mietvertrag nicht per sofort und ohne Einhaltung der ordentli-
chen Kündigungsfrist beliebig aufgelöst werden kann. Das Verhalten
des Beschwerdeführers legt nahe, dass er keine Absicht hatte, aus der
Wohnung auszuziehen bzw. jemals die Schweiz definitiv in Richtung
Italien zu verlassen. Dies gilt umso mehr, als der Beschwerdeführer
sich zwar bei der Einwohnerkontrolle B. abgemeldet hatte, jedoch
die Sozialbehörde B., welche seinen Mietzins beglich, nie infor-
mierte. Daher wurden - trotz der Verfügbarkeit des Freizügigkeits-
guthabens, welches ihm spätestens am 20. Mai 2015 zugeflossen ist
- durchgehend Sozialhilfeleistungen ausgerichtet. Da keine Meldung
seitens des Beschwerdeführers über die Änderungen seiner finan-
ziellen Verhältnisse erfolgte, beglich die Sozialbehörde B. im
Nichtwissen um diese erhebliche Tatsache weiterhin den Mietzins
und zahlte den Grundbetrag aus. Damit verschwieg der Beschwerde-
führer gegenüber der Sozialbehörde B. bewusst seine zumindest vo-
rübergehend fehlende Bedürftigkeit und verletzte seine Mitwirkungs-
und Meldepflicht nach § 2 Abs. 3 SPG und § 1 Abs. 2 SPV.
4.4.4.
Hinsichtlich der behaupteten Schuldenbegleichung ist festzuhal-
ten, dass diese, wie die Verwendung für Auslagen, nur dann zu einer
Anrechnung führen kann, wenn sich aus den konkreten Umständen
objektiv eine unvernünftige Mittelverwendung ableiten lässt. Als un-
vernünftig zu qualifizieren sind Schuldenzahlungen oder Ausgaben,
welche üblicherweise von Personen in angespannten finanziellen
Verhältnissen, welche keine Sozialhilfe beziehen, nicht getätigt wer-
den. Der Vorwurf eines nicht haushälterischen Umgangs mit den Ein-
nahmen kann jedenfalls nicht allein mit der rechnerischen Differenz
zwischen den tatsächlichen Ausgaben und dem Sozialhilfebudget be-
gründet werden. Die Anrechnung eigener hypothetischer Mittel
rechtfertigt grundsätzlich nur ein Verhalten, welches einzig oder
überwiegend auf die Ausrichtung von materieller Hilfe gerichtet ist
(vgl. VGE IV/4 vom 13. Februar 2008 [WBE.2007.199],
Erw. II/4.4.2).
2016
Sozialhilfe
221
Mit Schreiben vom 12. Juni 2015 wurde der Beschwerdeführer
von der Einwohnerkontrolle B. aufgefordert, zwecks Wiederanmel-
dung am Schalter vorzusprechen, da offensichtlich kein Wegzug
nach Italien stattgefunden hatte. Am 22. Juni 2015 bestätigte der Ver-
mieter die Weiterführung des Mietverhältnisses über den 1. Juli 2015
hinaus. Gegenüber der Sozialbehörde B. gab der Beschwerdeführer
Ende Juni 2015 an, dass er das Freizügigkeitsguthaben im Mai/Juni
2015 bereits für die Tilgung von Privatschulden verwendet habe. Der
noch verfügbare Restbetrag reiche knapp für seinen Lebensunterhalt
für den Monat Juli 2015 aus, er könne jedoch den Mietzins für diesen
Monat nicht bezahlen. Damit verbrauchte der Beschwerdeführer ge-
mäss eigenen Angaben innert eines Monats (20. Mai - Ende
Juni 2015) beinahe das gesamte Freizügigkeitsguthaben von
Fr. 23'336.22 und ersuchte unmittelbar im Anschluss bei der
Sozialbehörde um weitere materielle Hilfe. Bei der behaupteten Ver-
wendung des Freizügigkeitsguthabens (siehe vorne Erw. 4.4.1), wel-
che bei objektiver Betrachtungsweise nur als unvernünftig bezeich-
net werden kann, muss sich der Beschwerdeführer behaften lassen.
Es ist treuwidrig, dass eine unterstützte Person in angespannten
finanziellen Verhältnissen ihr Altersvorsorgekapital unter dem Vor-
wand, die Schweiz definitiv zu verlassen, bezieht, anschliessend mit
dem Geld nach Italien reist, Privatschulden in bar tilgt und bereits
einen Monat nach der Auszahlung bei der Sozialbehörde um erneute
materielle Hilfe ersucht.
Gesamthaft betrachtet ist das Verhalten des Beschwerdeführers
widersprüchlich und missbräuchlich: Die veranlasste Auszahlung der
Altersvorsorge unter dem Vorwand des Wegzugs aus der Schweiz,
die Weiterführung des Mietverhältnisses ohne Unterbruch bzw. Aus-
zug aus der Wohnung trotz der Abmeldung bei der Einwohnerkon-
trolle, die unvernünftige Verwendung des Freizügigkeitsguthabens
sowie die Verletzung der Meldepflicht gegenüber der Sozialbehörde
bei durchgehender Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen trotz
vorhandener Eigenmittel lassen bei einer Gesamtwürdigung darauf
schliessen, dass das Verhalten des Beschwerdeführers - aus
sozialhilferechtlicher Sicht - einzig darauf ausgerichtet war, unter
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
222
Verschleierung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse zusätzlich mate-
rielle Hilfe erhältlich zu machen.
4.4.5.
Aufgrund der rechtsmissbräuchlichen Verhaltensweise des Be-
schwerdeführers ist die Anrechnung hypothetischer eigener Mittel im
Betrag von Fr. 153.00 pro Monat nicht zu beanstanden. Die Be-
schwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet. | 3,497 | 2,756 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2016-35_2016-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2016-35.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2016-35.pdf | AGVE_2016_35 | null | nan |
3e6f966c-04bd-5902-b780-39fcf95fc53e | 1 | 412 | 871,028 | 1,112,400,000,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsrechtspflege
343
[...]
70 Steuerrekursverfahren.
Untersuchungsgrundsatz.
- Im Rekursverfahren ist der Gemeinderat, obwohl er gegen den Re-
kursentscheid Beschwerde führen kann, nicht Partei mit Mitwir-
kungsrechten.
- Über eine neue Sachverhaltsdarstellung des beschwerdeführenden Ge-
meinderats im Verwaltungsgerichtsverfahren, für welche dieser keine
der ihm zugänglichen Beweismittel vorlegt, sondern sich auf Vermu-
tungen beschränkt, ist nicht von Amtes wegen Beweis zu erheben.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 21. April 2005 in
Sachen Gemeinderat X. gegen Steuerrekursgericht und P.B.
Aus den Erwägungen
2. a) Der Gemeinderat beanstandet, das Steuerrekursgericht sei
zu Unrecht vom Vorliegen gemeinsamer Anträge aller Verfahrens-
beteiligten ausgegangen; es habe dabei übersehen, dass neben den
Steuerpflichtigen und dem KStA auch die Einwohnergemeinde X.,
vertreten durch die Steuerkommission als Veranlagungsbehörde, zu
den Beteiligten gehöre. Dieser sei das rechtliche Gehör verweigert
2005
Verwaltungsgericht
344
worden, indem ihr weder die Replik der Steuerpflichtigen noch die
Duplik des KStA zugestellt worden seien.
c) Vorliegend geht es um die Stellung des Gemeinderats im Re-
kursverfahren, wenn dieser nicht selber Rekurs führt.
aa) Die Veranlagung der natürlichen Personen erfolgt durch die
Steuerkommission der Gemeinde (§ 116 des Steuergesetzes [aStG]
vom 13. Dezember 1983), die auch über Einsprachen gegen die Ver-
anlagung entscheidet (§
145, §
148 Abs.
1 aStG). Der Steuer-
kommission gehören drei von der Einwohnergemeinde gewählte
Mitglieder, ein vom Regierungsrat gewähltes Mitglied sowie - von
Amtes wegen - der kantonale Steuerkommissär an (§ 117 Abs. 2
aStG). Das Gemeindesteueramt ist funktionell ein zudienendes und
ausführendes Organ der Steuerkommission (vgl.
AGVE 2001,
S. 380). Der Vorsteher des Gemeindesteueramtes bzw. der Gemein-
desteuerbeamte kann der Steuerkommission als Mitglied angehören.
bb) Wenn der Steuerpflichtige gegen den Einspracheentscheid
der Steuerkommission Rekurs erhebt, sind Vernehmlassungen des
Gemeindesteueramtes und des KStA einzuholen (§ 11 Abs. 1 lit. a
VStRK). Das Gemeindesteueramt tritt hier an die Stelle der Steuer-
kommission (als Vorinstanz), vermutlich wegen der kurzen vorgese-
henen Frist von 10 Tagen, die durch die Steuerkommission, welche
nur gelegentlich tagt, nicht eingehalten werden könnte. Beim KStA
liegt der obligatorische Einbezug ins Rekursverfahren darin begrün-
det, dass dieses ganz allgemein den Vollzug des Steuergesetzes zu
leiten und für richtige und gleichmässige Veranlagungen (also die
kantonsweit gleiche Anwendung des Steuergesetzes) zu sorgen hat
(§ 114 f. aStG [auch die Bestimmung von § 139 Abs. 2 aStG dient
diesem Zweck]; AGVE 2001, S. 380). Inhaltlich unterscheidet sich
die Regelung damit nicht von derjenigen in § 41 Abs. 1 VRPG, wo-
nach Beschwerden der Vorinstanz und allen Beteiligten, die durch
das Beschwerdebegehren betroffen werden, zur Vernehmlassung
zuzustellen sind.
Ungeachtet des Umstands, dass der Gemeinderat zur Be-
schwerde gegen den Rekursentscheid legitimiert ist (§ 139 Abs. 1
i.V.m. § 145 lit. a aStG), besteht kein Bedürfnis, ihn als "Partei" bzw.
Beteiligten im Rekursverfahren mitwirken zu lassen; denn die mate-
2005
Verwaltungsrechtspflege
345
riellen Bestimmungen für die Staats- und die Gemeindesteuern
stimmen überein, sodass es ausreicht, wenn das KStA die fiskali-
schen Interessen vertritt, und die Interessen der Gemeinde kann,
soweit überhaupt notwendig, das Gemeindesteueramt noch mit der
Vernehmlassung wahrnehmen. Entgegen der Meinung des Gemein-
derats ist es im Übrigen keineswegs ausserordentlich, dass eine Be-
hörde, ohne als Beteiligte ins Verfahren einbezogen zu sein, zur Er-
hebung eines Rechtsmittels gegen den dieses Verfahren abschliessen-
den Entscheid befugt ist (vgl. aus dem Gebiet des Steuerrechts
Art. 73 Abs. 2 StHG mit der Beschwerdelegitimation der vorher am
Verfahren nicht beteiligten Eidgenössischen Steuerverwaltung; all-
gemein Art. 103 lit. b OG).
d) Daraus folgt, dass der Gemeinderat im Rekursverfahren nicht
Partei bzw. Beteiligter war. Er hatte (ausser der Zustellung des Ent-
scheids, die regelmässig an das zur Gemeindeverwaltung gehörende
Gemeindesteueramt erfolgt, was genügt) keine Rechte im Verfahren,
die hätten verletzt werden können. Analog gilt bezüglich der Steuer-
kommission (und des Gemeindesteueramts), dass sich diese - als
Vorinstanz - nach der Einreichung der Vernehmlassung auf keine
eigenen Verfahrensrechte mehr berufen konnte.
e) Der Vergleich, im Verwaltungsrecht ohnehin eher ein Fremd-
körper, ist im VRPG und im aStG nicht geregelt. Im Rechtsmittelver-
fahren (zur Verständigung ["Vergleich"] im Veranlagungsverfahren
vgl. AGVE 2004, S. 135 = StE 2005, B 93.1 Nr. 7, mit ähnlichen
Schlussfolgerungen wie nachfolgend) wird nach aargauischer Praxis
übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten zur Erledigung des
Verfahrens ("Vergleich") in der Regel stattgegeben, sofern sich diese
aufgrund einer summarischen Prüfung als gesetzmässig erweisen und
Zugeständnisse innerhalb des vom Gesetz gewährten Spielraums
bleiben (AGVE 1998, S. 346; 1991, S. 383; Kritik bei Michael Mer-
ker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem
aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege [Kommentar
zu den §§ 38-72 VRPG], Diss. Zürich 1998, § 58 N 12 ff.). Im vor-
liegenden Zusammenhang ist dabei nur von Bedeutung, dass der
"Vergleich" das Verfahren nicht abschliesst und die übereinstimmen-
den Anträge die urteilende Instanz nicht binden, sondern auch dies-
2005
Verwaltungsgericht
346
falls ein Sachurteil ergehen muss (ebenso, zu Art. 50 ATSG, EVGE
vom 14. Januar 2004 [U 161/03], mit weiteren Hinweisen; die Kritik
von Merker, a.a.O., § 58 N 14 f., der von anderen Fällen als denjeni-
gen der Gerichtspraxis ausgeht, ist jedenfalls in diesem Punkt unzu-
treffend). Formell besteht kein Unterschied zu anderen Urteilen.
Allerdings wird die sachverhaltsmässige und rechtliche Prüfung in
der Regel ungeachtet der Untersuchungs- und Offizialmaxime weni-
ger intensiv erfolgen, da davon ausgegangen wird, die am "Ver-
gleich" Beteiligten wüssten je ihre unterschiedlichen Interessen zu
wahren. Es ist deshalb nicht so, dass die Gemeinde mit ihren fiskali-
schen Interessen im Rekursverfahren den "Vergleichsparteien" KStA
und Steuerpflichtige schutzlos ausgeliefert gewesen wäre; vielmehr
kam das Steuerrekursgericht zur Meinung, das KStA habe bei seinem
Antrag auf Gutheissung des Rekurses die Interessen des Fiskus aus-
reichend gewahrt, womit der Gemeinderat nicht einig geht.
Klar ist indessen, dass sich die nächsthöhere Instanz nicht mit
einer summarischen Prüfung begnügen darf, wenn eine am "Ver-
gleich" nicht beteiligte Partei das gestützt auf den "Vergleich" ergan-
gene Urteil weiterzieht.
3. c) bb) Der Gemeinderat behauptet, die Höherbewertung der
Immobilien ab 1998 beruhe nicht auf der Aktivierung von Investitio-
nen, sondern auf der Auflösung stiller Reserven zwecks Aufwertung
und Gewinnausweis, weshalb die ausgeschütteten Dividenden als
Substanzdividenden anzusehen seien. Dies wird nicht belegt und von
den Steuerpflichtigen bestritten. Das für die Veranlagung der B. AG
zuständige Steueramt des Kantons Solothurn hat den Steuerbehörden
X. alle verlangten Unterlagen über die B. AG umgehend zur Verfü-
gung gestellt. Der Gemeinderat hätte die Möglichkeit und mehr als
genügend Zeit gehabt, seine (in seiner letzten Rechtsschrift aufge-
stellte) neue Sachverhaltsdarstellung durch Einholung der Erfolgs-
rechnungen und Kontenblätter zu belegen. Er sah, obwohl die Be-
weislast für steuerbegründende und -erhöhende Tatsachen beim Fis-
kus bzw. in der hier vorliegenden Konstellation eben beim Gemein-
derat liegt (AGVE 1997, S. 201), davon ab und stellte nicht einmal
einen entsprechenden Beweisantrag. Er beschränkte sich stattdessen
unter Bezugnahme auf den - in keiner Weise beweisbildenden, zumal
2005
Verwaltungsrechtspflege
347
die Behauptung, Brandversicherungswerte würden bei Neuinvesti-
tionen laufend angepasst, gerichtsnotorisch falsch ist - gleich geblie-
benen Brandversicherungswert bewusst auf reine Vermutungen ("...
ist davon auszugehen, dass diese Aufwertungen auf den Immobilien
aus Auflösung von stillen Reserven und nicht aus wesentlichen
Investitionen stammen."). Bei solcher Prozessführung sieht sich das
Verwaltungsgericht nicht veranlasst, die vom Gemeinderat bewusst
nicht eingebrachten Beweisstücke selber einzuholen. Vielmehr hat
die Behauptung, die Gewinne in den Geschäftsjahren 1998 und 1999
seien durch Auflösung stiller Reserven und damit aus der früher er-
wirtschafteten Substanz erzielt worden, aufgrund berechtigter Zwei-
fel als unbewiesen zu gelten. | 1,965 | 1,588 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-70_2005-04-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-70.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-70.pdf | AGVE_2005_70 | null | nan |
3eae6a95-322f-505d-8a21-041f15936969 | 1 | 412 | 871,573 | 1,128,297,600,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsgericht
252
[...]
52 Ausschluss
eines
Anbieters
vom
Verfahren.
- Zulässigkeit des Ausschlusses trotz fehlender Selbstdeklaration auf-
grund besonderer Umstände verneint (Erw. 1-3).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 25. Oktober 2005 in
Sachen B. AG gegen Gemeinderat Wohlen.
Aus den Erwägungen
1. 1.1. Die Vergabestelle hat das Angebot der Beschwerdeführe-
rin gestützt auf § 28 Abs. 1 lit. g SubmD (Verletzung wesentlicher
Formvorschriften) sowie die Bestimmungen in den Ausschrei-
bungsunterlagen, wonach unvollständige Offerten bei der Arbeits-
vergebung nicht berücksichtigt würden bzw. abgeänderte oder un-
vollständig ausgefüllte Offerten (Preisangaben, Referenzen und
2005
Submissionen
253
Selbstdeklaration) von der Submission ausgeschlossen würden, für
ungültig erklärt und von der Bewertung ausgeschlossen. Nach Dar-
stellung der Vergabebehörde lag dem Angebot der Beschwerdeführe-
rin die verlangte Selbstdeklaration nicht bei. In der Offerte habe der
ganze Vorbeschrieb mit den Seiten 14 bis 22 gefehlt. Die Beschwer-
deführerin bestreitet, dass ihr Angebot unvollständig gewesen sei. Sie
macht geltend, die Submissionsunterlagen mit Begleitschreiben am
21. Juli 2005 fristgerecht eingereicht zu haben. Sämtliche gefor-
derten Unterlagen seien mit dem Angebot verschlossen korrekt ein-
gereicht worden, inkl. der Selbstdeklaration. Die Beschwerdeführerin
vertritt des weiteren die Auffassung, selbst wenn die Selbstdeklara-
tion tatsächlich gefehlt hätte, so hätte die Gemeinde sie auf das
Fehlen der fraglichen Blätter aufmerksam machen und eine Nachfrist
für das Einreichen ansetzen müssen, da es offensichtlich gewesen
wäre, dass ein Versehen vorliege.
1.2. Die Frage, ob die Beschwerdeführerin die Offertunterlagen
- wie von ihr behauptet - vollständig, d.h. insbesondere einschliess-
lich der Seiten 19 - 21 (Selbstdeklaration), eingereicht hat und diese
Seiten in der Folge bei der Vergabebehörde anlässlich der Offertöff-
nung oder -auswertung abhanden gekommen sind, oder ob die Be-
schwerdeführerin es aus irgend einem Grund unterlassen hat, diese
Seiten miteinzureichen, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr
zuverlässig klären. Es steht hier Behauptung gegen Behauptung.
Denkbar sind jedenfalls beide Möglichkeiten. Die Frage, welche
Partei die aus der Beweislosigkeit resultierenden Konsequenzen zu
tragen hätte, kann aber letztlich offen bleiben, wie sich aus den fol-
genden Erwägungen ergibt.
2. 2.1. 2.1.1. Die Vergabestelle schliesst u.a. Angebote, die we-
sentliche Formvorschriften verletzt haben, vom Verfahren aus (§ 28
Abs. 1 lit. g SubmD). Gemäss § 14 Abs. 1 SubmD müssen die An-
bietenden ihre Anträge auf Teilnahme und ihr Angebot schriftlich,
vollständig und fristgerecht einreichen. Gemäss der Rechtsprechung
des Verwaltungsgerichts ist die Vergabebehörde befugt, mangelhafte
Angebote, zu denen auch unvollständige Angebote, bei denen An-
gaben zu wesentlichen Punkten fehlen, oder offensichtlich nachlässig
und unsorgfältig abgefasste Offerten, aus dem Verfahren aus-
2005
Verwaltungsgericht
254
zuscheiden. Sind die Mängel von eher untergeordneter Natur und
nicht derart erheblich, dass sich ein Ausscheiden rechtfertigt, sind sie
im Rahmen der Offertbereinigung gemäss § 17 SubmD zu besei-
tigen, um die Angebote miteinander vergleichbar zu machen. Dies
gilt vor allem für offensichtliche Rechnungsfehler, welche die Verga-
bestelle sogar von sich aus korrigieren darf (§ 17 Abs. 3 SubmD),
aber auch für andere offensichtliche Irrtümer, wie z.B. das Fehlen
einer im Beilagenverzeichnis erwähnten Beilage. Die Bereinigung
kann unter Umständen auch zusätzliche Abklärungen bei einzelnen
Anbietern erforderlich erscheinen lassen. Die Vergabebehörde ist
daher jedenfalls befugt, im Rahmen einer Offertbereinigung Rück-
fragen zu machen, ohne sich deswegen bereits dem Vorwurf der An-
nahme eines unzulässigen Abgebots (falls sich die Angebotssumme
reduziert) oder einer sonstigen Wettbewerbsverfälschung auszu-
setzen. Anderseits haben solche Rückfragen aus eben diesem Grund
mit der nötigen Zurückhaltung und Sorgfalt (siehe § 17 Abs. 2
SubmD) zu geschehen. Grundsätzlich ist es Sache des Anbieters, der
Vergabebehörde ein vollständiges, klar und unmissverständlich for-
muliertes Angebot einzureichen, das keine zusätzlichen Abklärungen
erforderlich macht. Beim Entscheid darüber, ob ein Angebot von
vornherein auszuscheiden oder aber - allenfalls mittels Rückfragen -
zu bereinigen ist, kommt der Vergabebehörde ein erhebliches
Ermessen zu. Sie muss aber in jedem Fall alle Anbietenden gleich
behandeln (AGVE 1998, S. 399 f.; 1999, S. 342 ff.). Ungenügende,
weil fehlerhafte oder unvollständige Offertunterlagen gestatten den
Ausschluss des Angebots von der Vergabe; betrifft die Unvollstän-
digkeit wesentliche Punkte des Angebots, muss es sogar ausge-
schlossen werden (AGVE 1999, S. 345 ff.). Insofern liegt ein ähnli-
cher Sachverhalt vor wie bei einem bei der Vergabestelle verspätet
eingetroffenen Angebot, welches von Gesetzes wegen zwingend
ausgeschlossen werden muss (§ 15 Abs. 3 SubmD).
2.1.2. Zu beachten sind anderseits aber auch der Grundsatz der
Verhältnismässigkeit und das Verbot des überspitzten Formalismus.
So darf ein Anbieter wegen unbedeutender Mängel der Offerte nicht
ausgeschlossen werden; ein Ausschlussgrund muss vielmehr ein
gewisses Gewicht aufweisen. So dürfen nach der Rechtssprechung
2005
Submissionen
255
des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich nur wesentliche Mängel
zu einem Ausschluss führen; das Fehlen einer Referenzliste, auf die
im Beilagenverzeichnis verwiesen worden ist, stellt keinen wesentli-
chen Mangel dar, der die Vergabebehörde zum Ausschluss berechtigt
(Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. No-
vember 2001 [VB.2001.00215], E. 7.). Die Formvorschriften sind
wohl streng auszulegen, gleichwohl aber nicht absolut zu verstehen.
Eine gewisse Zurückhaltung im Hinblick auf einen Ausschluss
drängt sich bei untergeordneten Mängeln auf. Ziele des öffentlichen
Beschaffungsrechts sind die Förderung des wirksamen Wettbewerbs
unter den Anbietenden, die Gewährleistung der Gleichbehandlung
aller Anbietenden, die Sicherstellung der Transparenz der Verfahren
sowie die wirtschaftliche Verwendung öffentlicher Mittel. Durch den
Ausschluss von an sich wirtschaftlich günstigen, aber mit kleineren
rein formellen Mängeln behafteter Angebote würde der Wettbewerb
verzerrt und wäre die wirtschaftliche Verwendung öffentlicher Mittel
nicht mehr gewährleistet. Die Frage, ob ein mit Mängeln behaftetes
Angebot vom Wettbewerb auszuschliessen ist oder nicht, kann dabei
nicht in generell-abstrakter Weise beantwortet werden, sondern ist
anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles nach Massgabe der
übergeordneten Grundsätze zu prüfen (siehe Entscheid des Verwal-
tungsgerichts des Kantons Graubünden vom 13. November 2001
[U 01 121], E. 1 a und b).
2.2. 2.2.1. Vorliegend ist die Vergabebehörde der Auffassung,
beim Angebot der Beschwerdeführerin hätten die Angaben be-
treffend Selbstdeklaration gefehlt, was zum Ausschluss führen müs-
se, zumal dies in den Ausschreibungsunterlagen so bekannt gegeben
worden sei. Aus der der Vernehmlassung beigelegten Offertkopie der
Beschwerdeführerin geht hervor, dass die Seiten 14 bis und mit 22
fehlen. Bei den Seiten 14 - 18 handelt es sich um das Kapitel
"6. Allgemeinen Informationen zum Bauvorhaben". Dieses Kapitel
diente lediglich zur Information der Anbietenden, welche hier kei-
nerlei Angaben machen mussten. Das Kapitel "7. Selbstdeklaration"
umfasst die Seiten 19 - 22. In diesem Kapitel hatten die Anbietenden
Angaben zum Unternehmen, zum Personalbestand in den letzten drei
Jahren, zum Auftragsverantwortlichen, zum Verantwortlichen auf der
2005
Verwaltungsgericht
256
Baustelle, zum Personaleinsatz, zur Ausführungszeit, zum QM-
System, zu den Referenzen, zur Einhaltung der Sozialgesetzgebung,
der Zahlpflichten, der Umweltschutz- / Gewässerschutzgesetzgebung
sowie zu den Zulieferanten / Unterakkordanten zu machen. Die
gemachten Angaben waren am Schluss unterschriftlich zu bestätigen.
2.2.2. Die Beschwerdeführerin hat ihrem Angebot ein Zertifikat
ISO 9001:2000, eine umfangreiche Referenzliste, ein Organigramm,
ein Blatt mit Angaben zur Personalstruktur und zum Maschinenpark
sowie ein Firmen-Leitbild beigelegt. Von den möglicherweise feh-
lenden Seiten 14 - 22 abgesehen, erscheint das Angebot insgesamt
vollständig und sorgfältig abgefasst. Das Fehlen der genannten Sei-
ten, wenn es denn überhaupt der Beschwerdeführerin anzulasten ist,
erscheint damit eindeutig als ein offensichtliches Versehen oder eine
Unachtsamkeit der Beschwerdeführerin.
Hingegen kann nicht davon ausgegangen werden, die Be-
schwerdeführerin habe diese Seiten bewusst nicht beigelegt, weil sie
die entsprechenden Angaben nicht machen wollte. Für das Vorliegen
eines Versehens spricht einerseits das Fehlen auch der für die
Bewertung völlig irrelevanten Seiten 14 - 19 und anderseits die
wesentliche Tatsache, dass die nachgefragten Angaben in der Selbst-
deklaration nichts enthalten, aus deren bewusstem Verschweigen sich
die Beschwerdeführerin irgendeinen Vorteil hätte verschaffen
können. Aus der im Rahmen des Beschwerdeverfahrens eingereich-
ten Selbstdeklaration geht hervor, dass sie die verlangten Angaben
ohne Probleme machen konnte. Die Beschwerdeführerin hatte mithin
keine Veranlassung, diese Angaben nicht zu machen. Ein weiteres
Indiz für ein mögliches Versehen ist der Umstand, dass die besagten
Seiten als solche fehlen und nicht lediglich einzelne dort verlangte
Angaben nicht gemacht worden sind. Die Vergabestelle hätte daher
erkennen müssen, dass das Fehlen der Angaben zur Selbstdeklaration
bzw. die teilweise Unvollständigkeit der Offerte von der Beschwer-
deführerin nicht beabsichtigt war, sondern auf einem offensichtlichen
Versehen beruhte und dass die Angaben rasch und ohne Aufwand
hätten nachgereicht werden können. Von einem wesentlichen Mangel
kann unter diesen Umständen nicht gesprochen werden. Der
Grundsatz der Verhältnismässigkeit und das Verbot des überspitzten
2005
Submissionen
257
Formalismus hätten es daher geboten, dass die Vergabestelle es der
Beschwerdeführerin im Rahmen der Offertbereinigung ermöglicht
hätte, die fehlenden Seiten betreffend die Selbstdeklaration noch
nachzureichen. Der Ausschluss des Angebots der Beschwerdeführe-
rin erweist sich damit als nicht gerechtfertigt.
2.2.3. Wäre ein Ausschluss in Fällen wie dem vorliegenden, d.h.
beim Fehlen einzelner Offertseiten oder einzelner Beilagen, ohne
weitere Abklärungen zulässig, so hätten es - worauf die Beschwerde-
führerin an sich zu Recht hinweist - die Vergabestellen in der Hand,
einen aus irgendwelchen Gründen unerwünschten Anbieter zu elimi-
nieren, indem sie vorbringt, es hätten Bestandteile des Angebots
gefehlt.
3. Zusammenfassend erweist sich der mit dem Fehlen der
Selbstdeklaration begründete Ausschluss der Beschwerdeführerin
vom Verfahren als ungerechtfertigt. Der an die ARGE A. AG / O. AG
erteilte Zuschlag ist aufzuheben, und das Angebot der Beschwer-
deführerin ist ebenfalls in die Offertbewertung miteinzubeziehen.
Die Beschwerde erweist sich somit als begründet, weshalb sie
gutzuheissen ist. | 2,326 | 1,910 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-52_2005-10-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-52.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-52.pdf | AGVE_2005_52 | null | nan |
3ebced29-cae3-5ca1-bc2c-e5883be48b5b | 1 | 412 | 870,708 | 1,259,712,000,000 | 2,009 | de | 2009
Verwaltungsgericht
144
[...]
30
Abzugsfähige Fahrtkosten bei fixen und flexiblen Arbeitszeiten; Zumut-
barkeit der Nutzung einer Park & Ride-Variante
-
Der zeitliche Mehraufwand ist für Tage mit fixen und flexiblen Ar-
beitszeiten separat zu berechnen (Erw. 4.4).
-
Der zumutbare zeitliche Mehraufwand von 60 Minuten gilt auch für
die Benützung einer Park & Ride-Variante (Erw. 4.4.2.).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 2. Dezember 2009, in Sa-
chen K. (WBE.2009.265).
2009
KantonaleSteuern
145
Aus den Erwägungen
4.
4.1
Nach der Rechtsprechung wird der bei der Benützung des öf-
fentlichen Verkehrs im Vergleich zum Privatfahrzeug resultierende
zeitliche Mehraufwand als zumutbar erachtet, wenn dieser weniger
als eine Stunde pro Tag beträgt. Die genannte Zeitersparnis von einer
Stunde stellt einen Richtwert dar, der nicht sklavisch zu befolgen ist.
Massgebend sind die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die
Quantität (Fahrplandichte) und Qualität (direkte Verbindungen,
S-Bahn oder Bummelzüge) des Angebots an öffentlichen Verkehrs-
mitteln, die Umsteigeverhältnisse und die Distanzen zu den Halte-
stellen. Lässt sich bei Benützung des Privatfahrzeugs mehr als eine
Stunde pro Tag einsparen, so deutet dies indessen auf ungenügende
öffentliche Verbindungen hin (vgl. AGVE 2005, S.
364 f.;
AGVE 2008, S. 75 f.).
4.2.
Die Vorinstanz berechnete bei der "Park & Ride" - Variante für
die Strecke von der Wohnadresse des Beschwerdeführers in
Menziken zum Arbeitsplatz eine Fahrdauer von 99 Minuten (22 Mi-
nuten für den Weg mit dem Privatfahrzeug von der Wohnadresse des
Beschwerdeführers in Menziken zum Bahnhof in Sursee, 8 Minuten
für die Parkplatzsuche, die Bedienung der Parkuhr und den Fussweg
zum Bahnsteig, 61 Minuten für die Zugfahrt von Sursee nach Oster-
mundigen und 8 Minuten für die Strecke vom Bahnhof Ostermundi-
gen zum Arbeitsort in Bern an der O. strasse). Für die Berechnung
der Wegstrecke von Sursee nach Ostermundigen berücksichtigte die
Vorinstanz die schnellsten Zugverbindungen mit Abfahrt um 6:15
Uhr bzw. 7:15 Uhr (vgl. vorinstanzlicher Entscheid, Erw. 4.5.1.).
Für den Rückweg vom Arbeitsplatz des Beschwerdeführers bis
zur Wohnsitzadresse ermittelte die Vorinstanz eine Reisezeit von
100 Minuten (8 Minuten Gehweg zum Bahnhof Ostermundigen, 3
Minuten Sicherheitszuschlag, 64 Minuten Zugfahrt von Ostermun-
digen nach Sursee, 3 Minuten Fussmarsch vom Bahnhof in Sursee
bis zum Auto und 22 Minuten Autofahrt vom Bahnhof Sursee bis zur
2009
Verwaltungsgericht
146
Wohnsitzadresse in Menziken). Für die Berechnung der Wegstrecke
von Ostermundigen nach Sursee stellte sie wiederum auf die
schnellsten Zugverbindungen mit Abfahrt um 16:40 Uhr, 17:40 Uhr
bzw. 18:40 Uhr ab (vgl. vorinstanzlicher Entscheid, Erw. 4.5.2.).
Insgesamt beträgt die errechnete tägliche Reisedauer 199 Mi-
nuten (99 Minuten plus 100 Minuten).
Für die Fahrdauer mit dem Privatfahrzeug von der Wohnsitz-
adresse des Beschwerdeführers zum Arbeitsort ging die Vorinstanz
aufgrund ihrer Berechnung im "TwixRoute" ("schnellste Route") von
78 Minuten pro Weg bzw. 156 Minuten pro Tag aus.
Aus der Benützung des Privatautos für den Arbeitsweg schloss
die Vorinstanz gegenüber der schnellsten Verbindung mit dem öf-
fentlichen Verkehr bei der "Park & Ride" - Variante eine tägliche
Zeitersparnis von 43 Minuten (199 Minuten minus 156 Minuten).
4.3.
Gegen die Berechnungen der Vorinstanz bringt der Beschwer-
deführer im Wesentlichen vor, die Arbeitszeitregelung beim Help-
desk sei fix und nicht flexibel. Er führt aus, er müsse bereits um 7:00
Uhr am Arbeitsplatz sein, wenn er zum Frühdienst beim Helpdesk
eingeteilt sei und könne daher nicht, wie von der Vorinstanz vorge-
schlagen, den Zug in Sursee um 6:15 Uhr mit Ankunft in Ostermun-
digen um 7:16 Uhr nehmen. Als Beweis für den Arbeitsbeginn und
das Arbeitsende beim Helpdesk-Dienst legte er eine schriftliche Be-
stätigung des Arbeitgebers ins Recht (Eingabe des Beschwerdefüh-
rers vom 3. August 2009).
4.4.
4.4.1.
Gemäss dem Personaleinsatzplan war der Beschwerdeführer im
Jahr 2006 an 24 Tagen zum Helpdesk-Frühdienst (7:00 Uhr bis 12:30
Uhr) und an einem Tag zum Helpdesk-Spätdienst (12:30 Uhr bis
18:00 Uhr) eingeteilt. An den übrigen 195 Arbeitstagen war er hin-
gegen nicht für den Helpdesk zuständig. Wie es sich mit der Zumut-
barkeit der Nutzung der "Park & Ride" - Variante verhält, ist für die
195 Arbeitstage ohne Helpdesk-Dienst, die 24 Tage mit Helpdesk-
Frühdienst und den einen Tag mit Helpdesk-Spätdienst separat zu
prüfen.
2009
KantonaleSteuern
147
4.4.2.
Für die 195 Tage ohne Helpdesk-Dienst macht der Beschwerde-
führer nicht geltend, er sei an fixe Arbeitszeiten gebunden gewesen.
Er konnte somit an diesen Tagen den Beginn und das Ende seiner
Arbeit frei bestimmen und hätte auch die von der Vorinstanz bei ihrer
Berechnung berücksichtigten Zugverbindungen wählen können (vgl.
vorinstanzliches Urteil, Erw. 4.5.1. f.). Für die 195 Tage ist somit für
die Berechnung des zeitlichen Mehraufwands auf die von der Vorin-
stanz gewählten Zugverbindungen abzustellen.
Das Verwaltungsgericht hat die Berechnungen der Vorinstanz
auf ihre Richtigkeit überprüft und festgestellt, dass diese die Dauer
der Autofahrten von Menziken nach Sursee sowie von Menziken
nach Bern im "TwixRoute" nicht mit derselben Methode ermittelt
hat. Während die Vorinstanz die Strecke zwischen Menziken und
Sursee anhand der "kürzesten Route" berechnet hat, ging sie bei der
Ermittlung der Reisezeit von Menziken nach Bern von der "schnells-
ten Route" aus. Um einen verlässlichen Vergleich zwischen der Rei-
sedauer mit dem Privatfahrzeug und der "Park & Ride" - Variante zu
erhalten, ist die Berechnung anhand derselben Methode vorzuneh-
men. Da davon ausgegangen werden kann, dass der Beschwerdefüh-
rer den schnellsten Weg wählen würde, ist die Fahrdauer anhand der
"schnellsten Route" zu ermitteln. Der Weg zwischen Menziken und
Sursee beansprucht demnach nicht 22 Minuten, sondern lediglich 20
Minuten. In Bezug auf die restlichen Berechnungen ist das Verwal-
tungsgericht zu den gleichen Ergebnissen wie die Vorinstanz gelangt.
Damit ergibt sich neu eine Reisezeit von 195 Minuten (97 Minuten
Hinfahrt und 98 Minuten Rückfahrt). Die Zeitersparnis pro Tag beim
Gebrauch des privaten Fahrzeugs beträgt folglich 39 Minuten (195
Minuten minus 156 Minuten) und liegt deutlich unter der Schwelle
von einer Stunde. Dem Beschwerdeführer war es somit objektiv
betrachtet zuzumuten, an den 195 Arbeitstagen ohne Helpdesk-
Dienst die "Park & Ride" - Variante zu nutzen.
4.4.3
Hinsichtlich der 24 Arbeitstage mit Helpdesk-Frühdienst ist
dem Beschwerdeführer zuzustimmen, dass die von der Vorinstanz bei
ihrer Kalkulation berücksichtigten Zugverbindungen (Abfahrt um
2009
Verwaltungsgericht
148
6:15 Uhr und 7:15 Uhr) erst nach 7:00 Uhr in Ostermundigen eintref-
fen. Für diese Arbeitstage konnte er somit die von der Vorinstanz
verwendeten Zugverbindungen aufgrund der fixen Arbeitszeiten in
der Tat nicht wählen. Wie die Vorinstanz jedoch korrekt aufgezeigt
hat, fuhr gemäss dem Kursbuch der SBB im Jahr 2006 am Morgen
noch ein früherer Zug (Abfahrt um 5:19 Uhr und Ankunft um 6:46
Uhr). Unter Berücksichtigung des Zeitaufwands von 8 Minuten für
den Weg vom Bahnhof Ostermundigen zum Arbeitsort von 600 Me-
tern wäre der Beschwerdeführer mit diesem Zug um 6:54 Uhr und
damit rechtzeitig am Arbeitsplatz erschienen. Bei der Wahl dieser
Verbindung beträgt die Fahrdauer für den Weg von Menziken nach
Ostermundigen 123 Minuten:
Autofahrt Wohnort Menziken - Bahnhof Sursee:
20
Min.
Parkplatzsuche, Bedienung der Parkuhr sowie Fuss-
weg zum Bahnsteig:
8 Min.
Zugfahrt Sursee - Ostermundigen:
87 Min.
Fussweg Bahnhof Ostermundigen - Arbeitsplatz:
8 Min.
Dauer Hinfahrt
123 Min.
Für die Rückfahrt am Abend ergeben sich hingegen an diesen
Tagen keine zeitlichen Einschränkungen aufgrund von fixen Arbeits-
zeiten. Daher ist auf die von der Vorinstanz vorgeschlagenen Zug-
verbindungen mit Abfahrt um 16:40 Uhr, 17:40 Uhr oder 18:40 Uhr
abzustellen. Für die Rückfahrt ist somit ein Zeitaufwand von 98 Mi-
nuten einzukalkulieren.
Damit beträgt der gesamte Zeitbedarf für die Hin- und Rück-
fahrt zwischen Wohn- und Arbeitsort 221 Minuten (123 Minuten für
die Hinfahrt und 98 Minuten für die Rückfahrt). Im Vergleich zum
ausschliesslich mit dem Privatfahrzeug zurückgelegten Arbeitsweg
ergibt sich bei der Nutzung der "Park & Ride" - Variante somit ein
zeitlicher Mehraufwand von 65 Minuten (221 Minuten minus 156
Minuten). Dieser zeitliche Mehraufwand überschreitet den von der
Rechtsprechung aufgestellten Richtwert von einer Stunde. Die Nut-
2009
KantonaleSteuern
149
zung der "Park & Ride" - Variante war dem Beschwerdeführer somit
während den 24 Tagen mit Helpdesk-Frühdienst nicht zumutbar. Für
diese Tage ist der Beschwerdeführer zum Abzug der Kosten seines
Privatfahrzeugs berechtigt.
4.4.4.
Am vom Beschwerdeführer nachgewiesenen einzigen Arbeits-
tag mit Helpdesk-Spätdienst-Einsatz bestanden erst am Nachmittag
fixe Arbeitszeiten. Er hätte somit am Morgen eine der von der Vor-
instanz in ihrer Berechnung berücksichtigten Zugverbindungen mit
Abfahrt um 6:15 Uhr oder 7:15 Uhr nehmen können. Für die Hin-
fahrt ergibt sich daher eine Reisezeit von 97 Minuten (siehe vorne
Erw. 4.4.2).
Für die Rückfahrt standen dem Beschwerdeführer folgende
Zugverbindungen offen:
Ostermundigen ab:
18:10 Uhr
18:40 Uhr
Sursee an:
19:31 Uhr
19:44 Uhr
Dauer
81 Min.
64 Min.
Umsteigen 2x 1x
Der Beschwerdeführer macht geltend, er wäre am Abend mit
dem Zug um 18:10 Uhr gefahren. Folglich rechtfertigt es sich für die
Berechnung auf diese Verbindung abzustellen. Da der Beschwerde-
führer gemäss seinen Angaben beim Spätdienst den Helpdesk fix bis
um 18:00 Uhr betreuen musste, standen ihm bei dieser Zugvariante
für den Fussweg vom Arbeitsort bis zum Bahnhof in Ostermundigen
inkl. Sicherheitszuschlag 10 Minuten zur Verfügung. Insgesamt er-
gibt sich bei dieser Zugvariante eine Rückfahrtdauer von 114 Mi-
nuten:
Fussweg Arbeitsplatz - Bahnhof Ostermundigen (inkl.
10
Min.
Sicherheitszuschlag):
Zugfahrt Ostermundigen - Sursee:
81 Min.
Fussweg Bahnhof - Auto:
3 Min.
Autofahrt Bahnhof Sursee - Menziken:
20
Min.
Dauer Rückfahrt
114 Min.
2009
Verwaltungsgericht
150
Die Hin- und Rückreise zwischen Wohn- und Arbeitsort dauert
demnach 211 Minuten (97 Minuten für die Hinfahrt und 114 Minuten
für die Rückfahrt). Im Vergleich zur Fahrdauer mit dem Privatfahr-
zeug ergibt sich bei der Nutzung der "Park & Ride" - Variante ein
zeitlicher Mehraufwand von 55 Minuten (211 Minuten minus 156
Minuten). Die Zeitersparnis liegt folglich innerhalb des von der
Rechtsprechung gesetzten Rahmens von einer Stunde. Im Bereich
von einer Stunde Zeitersparnis hängt die Beurteilung der Zumutbar-
keit von der Würdigung aller Umstände ab. Bei der Zugverbindung
mit Abfahrt um 18:10 Uhr hätte der Beschwerdeführer keine Warte-
zeiten gehabt. Das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln kann
deshalb als gut eingestuft werden. Ausserdem liegen die mit dieser
Zugverbindung zusammenhängenden zwei Umsteigevorgänge im
Rahmen des Zumutbaren. Dem Beschwerdeführer wäre an dem ei-
nen Tag mit Helpdesk-Spätdienst die "Park & Ride" - Variante somit
zumutbar gewesen.
5.
Dies führt zu folgender Berechnung der zum Abzug zugelasse-
nen Fahrkosten:
Für 24 Arbeitstage ist für die Strecke zwischen dem Wohn- und
Arbeitsort (99.2 Kilometer) ein Abzug für die Kosten des Privatfahr-
zeugs zu gewähren. Für die restlichen 196 Arbeitstage sind die Kos-
ten für das Privatfahrzeug für den Weg von der Wohnadresse in
Menziken bis zum Bahnhof Sursee (15.7 Kilometer) und die Park-
platzgebühren in Sursee von Fr. 5.-- zu berücksichtigen. Das Gene-
ralabonnement der SBB für die 2. Klasse kostete im Jahr 2006
Fr. 2'990.--. Insgesamt ergeben sich dadurch folgende abzugsfähige
Berufsauslagen (Pauschalansätze pro Kilometer gemäss
§§ 12 f. StGV i.V.m. Art. 3 Berufskostenverordnung und Anhang in
der Fassung vom 23. September 2005 [AS 2005 S. 4815 f.]):
Privatfahrzeug Menziken - Bern:
24 Tage x 2 x 99.2 Kilometer Fr. 0.65
Fr.
3'095
Privatfahrzeug Menziken - Bahnhof Sursee
196 Tage x 2 x 15.7 Kilometer Fr. 0.65
Fr.
4'000
2009
KantonaleSteuern
151
Parkplatz Sursee:
196 Tage Fr. 5.00
Fr.
980
Kosten GA 2. Klasse:
Fr.
2'990
Total abzugsberechtigte Fahrkosten
Fr.
11'065
Dem Beschwerdeführer ist somit für die Fahrkosten ein Abzug
von Fr. 11'065.-- zu gewähren. Gegenüber dem Entscheid des Steuer-
rekursgerichts reduziert sich das von der Vorinstanz abgerundete
steuerbare Einkommen von Fr.
99'000.-- um Fr. 3'298.--
(Fr. 11'065.-- ./. von der Vorinstanz gewährte Kosten für das "Park &
Ride" von Fr. 7'767.--) auf Fr. 95'702.--. | 3,031 | 2,408 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-30_2009-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-30.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-30.pdf | AGVE_2009_30 | null | nan |
3ec41ba7-65b6-5978-8548-66fb66fd1fe1 | 1 | 412 | 871,389 | 1,538,524,800,000 | 2,018 | de | 2018
Übriges Verwaltungsrecht
341
37
Grundbuchabgabe
Zur Bestimmung der Grundbuchabgabe bei der Auflösung von Gesamt-
handsverhältnissen (§ 11 GBAG) ist grundsätzlich auf den anteilmässigen
effektiven Verkehrswert
abzustellen; bei mangelnder Verfügbarkeit einer
aktuellen Verkehrswertschätzung darf insbesondere der
steuerliche Ver-
kehrswert
herangezogen werden, wobei sich im Einzelfall Zu- und Ab-
schläge rechtfertigen können.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 18. Oktober
2018, in Sachen A. und B. gegen Departement Volkwirtschaft und Inneres
(WBE.2018.164).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Gemäss § 11 GBAG ist bei vertraglicher Begründung sowie bei
ganzer oder teilweiser Auflösung von Gesamthandsverhältnissen wie
Erbengemeinschaft, Gütergemeinschaft oder einfacher Gesellschaft
die Abgabe vom Wert der Gesamteigentumsanteile zu entrichten,
welche auf die Übernehmer übergehen. Das Verwaltungsgericht ent-
schied im Urteil vom 29. Oktober 2015 (WBE.2015.198), § 8 Abs. 2
GBAG sei auf die Berechnung der Abgabe gemäss § 11 GBAG nicht
anwendbar. Unter dem Begriff Wert der Gesamteigentumsanteile
sei der (anteilmässige)
Verkehrswert
zu verstehen (Erw. II/2.1 mit
Verweisen auf das Gesetzgebungsverfahren). Nicht abgestellt werden
dürfe auf die zwischen den Parteien vereinbarte Gegenleistung
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
342
(Erw. II/2.2). Bezüglich des massgebenden Verkehrswerts müsse
zwischen
Steuerwert
,
steuerlichem Verkehrswert
und
effektivem Ver-
kehrswert
unterschieden werden. Der
effektive Verkehrswert
liege in
aller Regel über dem
steuerlichen Verkehrswert
und dürfte gegenüber
dem Jahre 1999 gestiegen sein (Erw. II/2.2).
Die Beschwerdeführer kritisieren diese Rechtsprechung. Der
VGE vom 29. Oktober 2015 (WBE.2015.198) stütze sich einseitig
auf den (genau betrachtet unklaren) Willen des historischen Gesetz-
gebers. Ein prioritäres Abstellen auf die sog. subjektiv-historische
Auslegung werde in der Lehre abgelehnt. Die korrekte
Gesetzesauslegung ergebe, dass neben § 8 Abs. 1 GBAG betreffend
den Promillesatz auch dessen Abs. 2 für die Abgabe gemäss § 11
GBAG massgebend sei.
3.2.
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestim-
mung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpreta-
tionen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung
gesucht werden, wobei alle Auslegungselemente zu berücksichtigen
sind (Methodenpluralismus). Dabei kommt es namentlich auf den
Zweck der Regelung, die dem Text zugrundeliegenden Wertungen
sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die
Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, die-
nen aber als Hilfsmittel, den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 136
II 149, Erw. 3; 131 II 562, Erw. 3.5; 129 II 114, Erw. 3.1). Vom Wort-
laut darf abgewichen werden, wenn triftige Gründe für die Annahme
bestehen, dass dieser nicht den wahren Sinn der Regelung wieder-
gibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus
Sinn und Zweck der Norm oder aus ihrem Zusammenhang mit ande-
ren Gesetzesbestimmungen ergeben. Sind mehrere Auslegungen
möglich, ist jene zu wählen, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben
am besten entspricht (BGE 136 II 149, Erw. 3; 131 II 562, Erw. 3.5).
3.3.
§ 11 GBAG bestimmt, dass die Grundbuchabgabe bei ganzer
oder teilweiser Auflösung von Gesamthandsverhältnissen auf dem
Wert der Gesamteigentumsanteile zu entrichten ist, welche auf die
Übernehmer übergehen. Damit ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut
2018
Übriges Verwaltungsrecht
343
selbst nicht direkt, ob auf die Übernahmesumme, den
Steuerwert
,
den
steuerlichen Verkehrswert
oder den
effektiven Verkehrswert
abzustellen ist. Der Wortlaut der Bestimmung ist diesbezüglich un-
klar und insoweit sind die Beanstandungen der Beschwerdeführer
nachvollziehbar.
3.4.
3.4.1.
Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, der Wille des
historischen Gesetzgebers sei unklar. Zwar erwähne die Botschaft,
dass auf einen zunächst vorgesehenen Verweis von § 8 auf § 11
GBAG verzichtet wurde. Indessen stellten die Bestimmungen von
§§ 12, 18, 20, 21 und 24 GBAG - im Gegensatz zu § 11 GBAG -
ausdrücklich auf den
Verkehrswert
als Bemessungsgrundlage ab. Die
Begründung in der Botschaft, wonach es dabei durchwegs um
Rechtsgeschäfte gehe, bei welchen entweder allein auf den Boden-
wert oder auf die Angaben der Parteien (Wert der Stockwerkeinheit)
abzustellen sei, helfe nicht weiter.
3.4.2.
Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführer lassen die Ge-
setzesmaterialien klar darauf schliessen, dass der Gesetzgeber im An-
wendungsbereich von § 11 GBAG auf den (anteilmässigen)
Ver-
kehrswert
abstellen wollte. Auf die ursprünglich vorgesehene An-
wendung von § 8 Abs. 2 GBAG auf Tauschverträge (§ 10 Abs. 3
GBAG), die Begründung und Auflösung von Gesamteigentum (§ 11
GBAG), die Baulandumlegung (§ 12 GBAG), die Aufnahme
selbständiger und dauernder Rechte (§ 18 GBAG), die Begründung
von Stockwerkeigentum (§ 20 GBAG), die Parzellierung (§ 21
GBAG) sowie den Eintrag von Pfandvermehrungen bei Gebäuden
(§ 24 GBAG) wurde im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens aus-
drücklich verzichtet (vgl. Botschaft des Regierungsrats des Kantons
Aargau an den Grossen Rat vom 23. Dezember 1998, Finanzpaket
98, Massnahmen der Gruppe 2, Gesetz über Massnahmen des
Finanzpakets 1998, Bericht und Entwurf zur 2. Beratung [Botschaft
2], 99.2, S. 6). Die Beschwerdeführerin bringt zwar zu Recht vor,
dass in §§ 12, 18 Abs. 1, 20, 21 und 24 Abs. 1 GBAG ausdrücklich
auf den
Verkehrswert
verwiesen wird. Und im Gegensatz dazu ist in
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
344
§§ 10 Abs. 3 und 11 GBAG lediglich unbestimmt von Werte bzw.
Wert die Rede. Aus der massgebenden Botschaft ergibt sich jedoch
unmissverständlich, dass für alle erwähnten Tatbestände der
Verkehrswert
als massgeblich erachtet wurde. Aufgrund der Umstel-
lung der Bemessungsgrundlage in § 8 Abs. 2 GBAG wurden Einnah-
meausfälle befürchtet, welche offensichtlich dadurch begrenzt wer-
den sollten, dass diese neue Bemessungsgrundlage auf die erwähnten
Fälle (§§ 10 Abs. 3, 11, 12, 18, 20, 21 und 24 GBAG) nicht zur An-
wendung gelangt.
Festzuhalten ist somit, dass ein klarer Wille des Gesetzgebers
vorliegt, im Anwendungsbereich von § 11 GBAG auf den
Verkehrs-
wert
abzustellen. Die Ausführungen der Beschwerdeführer zur sog.
subjektiv-historischen Auslegung vermögen diese Feststellung nicht
zu relativieren: Mit dem Inkrafttreten der Bestimmung am 1. August
1999 liegt ein vergleichsweise junger gesetzgeberischer Wille vor,
weshalb sich das historische Verständnis der Norm kaum von einer
(objektiv-)geltungszeitlichen Interpretation unterscheiden dürfte. Das
Abstellen auf die Materialien verschafft zudem gerade bei jüngerer
Gesetzgebung dem Grundsatz der Gewaltenteilung Nachachtung
(vgl. § 68 Abs. 2 KV; ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER/HELEN
KELLER/DANIELA THURNHERR, Schweizerisches Bundesstaatsrecht,
9. Auflage, Zürich 2016, Rz. 109). Insofern ist zugleich festzuhalten,
dass dem Willen des Gesetzgebers bei der Anwendung von § 11
GBAG im Verhältnis zu den übrigen Auslegungsmethoden vor-
rangige Bedeutung zukommen muss.
3.5.
3.5.1.
Die Beschwerdeführer berufen sich weiter auf die
Gesetzessystematik. Die ganze oder teilweise Auflösung von
Gesamthandsverhältnissen sei im zweiten Kapitel Abgabenhöhe
geregelt und eine der Handänderungen von §§ 8-17 GBAG. Die
unterschiedliche Formulierung von § 11 GBAG ( Wert der Gesamt-
eigentumsanteile ) spreche gegen eine Anwendung des
Verkehrs-
werts
auf diese Anteile, wo doch das Gesetz in weiteren Bestim-
mungen den Begriff des
Verkehrswerts
ausdrücklich verwende (in
§§ 12, 18 Abs. 1, 20, 21 und 24 Abs. 1 GBAG). Weiter seien auch die
2018
Übriges Verwaltungsrecht
345
Bezeichnungen
Steuerwert
, Versicherungswert , Kaufpreis und
Entschädigung klar besetzt. Entsprechend § 11 GBAG sei einzig
der Wert der übergehenden internen Quote massgebend. § 10 Abs. 3
GBAG enthalte eine vergleichbare Fragestellung. § 8 GBAG halte
den Grundsatz und damit die allgemeinen Bemessungsregeln der
Abgabe fest. Er sei auch bei der Auflösung von Gesamteigentum
anwendbar, wobei gemäss § 8 Abs. 1 GBAG auf die in der Vertrags-
urkunde genannte Übernahmesumme abzustellen sei. Nur bei de-
ren Fehlen oder wenn diese tiefer liege als der
Steuerwert
, sei gemäss
§ 8 Abs. 2 GBAG auf letzteren abzustellen. Und nur wenn auch ein
solcher fehle, sei eine Verkehrswertschätzung einzuholen, welche
massgebend sei, falls deren Ergebnis um mehr als 10 % über der
Übernahmesumme liege.
3.5.2.
Bei der systematischen Auslegung ist die Stellung einer Rege-
lung innerhalb der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Die Grund-
buchabgabe bei ganzer oder teilweiser Auflösung von Gesamthands-
verhältnissen (§ 11 GBAG) ist im zweiten Gesetzeskapitel Ab-
gabenhöhe unter 2.1. Handänderungen geregelt. Zwar besteht
unter diesem Titel mit § 12 eine Bestimmung, in welcher ausdrück-
lich auf den
Verkehrswert
abgestellt wird. Allein daraus lässt sich je-
doch nicht ableiten, dass generell auf diesen Wert abzustellen wäre.
Wie vorne ausgeführt (Erw. 3.4.2), handelt es sich bei den
Bestimmungen von §§ 10 Abs. 3, 11 und 12 GBAG um Ausnahmen,
auf welche die Bemessung gemäss § 8 Abs. 2 GBAG nicht zur An-
wendung gelangt. Insoweit ist die systematische Auslegung nicht
aussagekräftig.
3.6.
3.6.1.
Nach Meinung der Beschwerdeführer spricht schliesslich der
Gesetzeszweck für die Anwendbarkeit von § 8 Abs. 2 auf § 11
GBAG. Auch bei Kaufgeschäften stelle § 8 GBAG auf den
vereinbarten Preis ab, sofern dieser nicht unter dem
Steuerwert
liege.
Die Übertragung unter dem
Verkehrswert
möge bei der
Erbengemeinschaft und der Gütergemeinschaft zwar häufiger vor-
kommen, zwingend oder üblich sei sie jedoch nicht, insbesondere
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
346
nicht bei einfachen Gesellschaften. Zu beachten seien weiter die
Unterschiede zwischen gemeinschaftlichem und Alleineigentum so-
wie Gesamt- und Miteigentum. § 8 Abs. 2 garantiere auch bei § 11
GBAG eine Abgabe, welche mindestens auf dem
Steuerwert
des be-
treffenden Grundstücks basiere.
3.6.2.
Der Gesetzeszweck verlangt nicht, § 8 Abs. 2 auf § 11 GBAG
anzuwenden. Wie ausgeführt, war eine gewisse Ungleichbehandlung
bestimmter Rechtsgeschäfte unter den Handänderungen vom Gesetz-
geber beabsichtigt (vgl. vorne Erw. 3.4.2). Ob bei Kaufgeschäften
Übertragungen unter dem Verkehrswert vergleichsweise weniger
häufig vorkommen und dieser Umstand für die Gesetzgebung von
Bedeutung war, ergibt sich nicht aus den Materialien. Für den
Gesetzgeber standen offenbar praktische Gründe im Zusammenhang
mit der Wertbestimmung im Vordergrund (vgl. Botschaft 2, S. 6).
Wie ebenfalls dargelegt, dient die Annahme von Bruchteilen beim
Gesamteigentum der abgaberechtlichen Erfassung von Handänderun-
gen. Insoweit kann der sachenrechtlichen Unterscheidung von Mit-
und Gesamteigentum bzw. gemeinschaftlichem und Alleineigentum
keine Bedeutung zukommen. Mangels Anwendbarkeit kann § 8
Abs. 2 GBAG auch nicht im Sinne einer Garantie verstanden wer-
den, dass ersatzweise auf den
Steuerwert
abzustellen sei.
3.7.
Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass § 8 Abs. 2
GBAG auf die Berechnung der Abgabe gemäss § 11 GBAG nicht zur
Anwendung gelangt. Unter dem Begriff Wert der Gesamteigen-
tumsanteile ist der anteilmässige
Verkehrswert
zu verstehen, wel-
cher auf die Übernehmer übergeht. Damit ist an der im VGE vom
29. Oktober 2015 (WBE.2015.198) begründeten Rechtsprechung
festzuhalten.
4.
4.1.
Die Beschwerdeführer bringen vor, es ergäben sich erhebliche
praktische Schwierigkeiten, wenn bei der Bestimmung der
Grundbuchabgabe gemäss § 11 GBAG auf den
Verkehrswert
abge-
stellt werde. Die Folgen seien Rechtsunsicherheit sowie eine Ver-
2018
Übriges Verwaltungsrecht
347
teuerung. Urkundspersonen seien nicht in der Lage, Verkehrswert-
schätzungen vorzunehmen. Fraglich sei daher insbesondere, ob sie
sich auf die Parteiangaben verlassen dürften oder ob eine fach-
männische Verkehrswertschätzung vorzulegen sei. Die Verkehrs-
wertberechnung der Vorinstanz sei fehlerhaft. Die Entwicklung des
(steuerlichen oder effektiven) Verkehrswerts
seit der letzten
Schätzung lasse sich anhand eines Indexes nicht beurteilen. Weiter
könne nicht auf die allgemeine Entwicklung der Immobilienpreise
abgestellt werden, insbesondere nicht für ein konkretes Objekt. Auch
die effektive hypothekarische Belastung sage wenig über den
Ver-
kehrswert
einer Liegenschaft aus. Eine übliche Belastungsgrenze
von 80 % existiere nicht, zumal dann auf den Zeitpunkt der Errich-
tung einer Hypothek abgestellt werden müsste. Zu unterscheiden
wäre schliesslich zwischen der nominellen und der effektiven Belas-
tung mit Grundpfandrechten.
4.2.
Das Verwaltungsgericht erwog im Urteil vom 29. Oktober 2015,
Grundbuchämter würden die Grundbuchabgabe oftmals behelfsmäs-
sig anhand des
steuerlichen Verkehrswerts
berechnen und nicht auf-
grund des (regelmässig höheren)
effektiven Verkehrswerts
. Dies
wirke sich zu Gunsten der Anmeldenden aus. Ob diese Praxis vor
§ 11 GBAG standhalte, liess das Gericht im Entscheid ausdrücklich
offen (vgl. VGE vom 29. Oktober 2015 [WBE.2015.198],
Erw. II/2.3.1).
4.3.
Bei der Liegenschaft C. handelt es sich um ein Einfamilienhaus
mit einer Grundstücksfläche von 876 m2. Darauf lasten Grundpfand-
rechte im Umfang von Fr. 1'715'950.00 für eine effektive Forderung
von Fr. 1'300'000.00. Der
steuerliche Verkehrswert
wurde anlässlich
der allgemeinen Schätzung vom 1. Januar 1999 auf Fr. 1'266'846.00
festgelegt, der
Steuerwert
auf Fr. 950'300.00. Der
steuerliche Ver-
kehrswert
wurde von den Parteien des partiellen Erbteilungsvertrags
zur Bewertung der Liegenschaft übernommen. Eine aktuelle Ver-
kehrswertschätzung liegt nicht vor und weitere Anhaltspunkte für die
Wertbestimmung sind nicht vorhanden.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
348
4.4.
Für die Feststellung das Sachverhalts gilt im Verwaltungsver-
fahren grundsätzlich die Untersuchungsmaxime (vgl. § 17 Abs. 1
VRPG). Diese wird jedoch relativiert durch die Mitwirkungspflicht
der Parteien (vgl. § 23 VRPG; § 7 GBAG), welche namentlich inso-
weit greift, als eine Partei das Verfahren durch eigenes Begehren ein-
geleitet hat oder darin eigene Rechte geltend macht. Die Mitwir-
kungspflicht gilt vorab gerade für solche Tatsachen, welche eine
Partei besser kennt als die Behörden und welche diese ohne ihre
Mitwirkung gar nicht oder nicht ohne unvernünftigen Aufwand erhe-
ben können (AGVE 2002, S. 431).
4.5.
Das Grundbuchamt ging von einem
effektiven Verkehrswert
der
Liegenschaft von Fr. 2'111'410.00 aus. Verwiesen wurde auf die Aus-
kunftspflicht gemäss § 7 GBAG sowie darauf, dass der Verkehrswert
nicht wie gefordert mitgeteilt worden sei. Dieses Verhalten habe das
Grundbuchamt gestützt auf § 23 Abs. 2 VRPG frei gewürdigt. Bei
der Berechnung der Grundbuchabgabe sei davon ausgegangen wor-
den, der
steuerliche Verkehrswert
entspreche 60 % des
effektiven Ver-
kehrswerts
.
Die Vorinstanz ging zunächst davon aus, dass der
steuerliche
Verkehrswert
im Jahre 1999 80 % des
effektiven Verkehrswerts
betra-
gen habe; unter zusätzlicher Berücksichtigung der Preisentwicklung
ergäbe sich ein geschätzter Verkehrswert von Fr. 2'533'692.00. Die-
ser Wert entspreche indessen eher nicht der Realität. Massgebend er-
scheine demgegenüber ein Mindest-Verkehrswert der Liegenschaft
von Fr. 2'144'937.50. Dabei werde davon ausgegangen, dass die
übliche Belehnungsgrenze von 80 % des Verkehrswerts nicht über-
schritten werde, zudem werde auf den Umfang der Pfandsicherung
(Fr. 1'715'950.00) abgestellt.
4.6.
Gemäss § 12 Abs. 1 VBG gilt als
Verkehrswert
eines Grund-
stücks der Preis, welcher im Geschäftsverkehr mit Dritten erzielbar
ist, ohne Rücksicht auf ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse.
Der Verkehrswert wird festgesetzt durch: (a) Gleichsetzung mit dem
Kaufpreis, (b) mittelbaren oder unmittelbaren Preisvergleich, sofern
2018
Übriges Verwaltungsrecht
349
ein Kaufpreis fehlt oder dieser nicht dem Verkehrswert entspricht, (c)
Berechnung mit dem gewichteten Ertragswert und Realwert, sofern
weder Kaufpreis noch Preisvergleiche vorhanden sind, nach folgen-
der Formel: Verkehrswert = ([Gewichtung x Ertragswert] + Real-
wert) / (Gewichtung + 1) (zur Schätzung des aktuellen Verkehrswerts
vgl. VGE vom 16. Juni 2010 [WBE.2008.49], Erw. II/1-3).
4.7.
Bei der Festlegung der Grundbuchabgabe gemäss § 11 GBAG
ist auf den anteilmässigen
Verkehrswert
abzustellen, wobei prakti-
sche Gründe bei der Wertbestimmung ein pragmatisches Vorgehen
erfordern (vgl. vorne Erw. 3.6.2). In erster Linie ist der (anteilmäs-
sige)
effektive Verkehrswert
heranzuziehen. Beim Vorliegen einer ak-
tuellen Verkehrswertschätzung sind die anmeldenden Personen im
Rahmen der Mitwirkungspflicht (§ 7 GBAG; § 23 VRPG) gehalten,
sie dem Grundbuchamt zur Verfügung zu stellen. Der Verkehrswert
unbebauten Baulands lässt sich unabhängig davon durch das Grund-
buchamt schätzen. Problematisch erweist sich die Wertbestimmung
in jenen Fällen, wo bebaute Grundstücke übertragen werden und
keine aktuelle Verkehrswertschätzung vorliegt. Dieser Fall dürfte bei
der Auflösung von Erbengemeinschaften vergleichsweise häufig vor-
kommen. Je nach Höhe der Grundbuchabgabe verursacht das Einho-
len einer fachmännischen Verkehrswertschätzung unverhältnismässi-
gen Aufwand. Auch würde sich dann die Frage nach der diesbezügli-
chen Kostentragung stellen. Mangels Anwendbarkeit von § 8 Abs. 2
GBAG kann von den anmeldenden Personen grundsätzlich nicht ver-
langt werden, auf eigene Kosten eine nach den anerkannten Regeln
erstellte Verkehrswertschätzung vorzulegen. Daher muss es zulässig
sein, beim Fehlen einer aktuellen Verkehrswertschätzung auf verfüg-
bare Schätzungswerte abzustellen. In Frage kommt dabei in erster
Linie der
steuerliche Verkehrswert
. Bestehen indessen klare Hin-
weise darauf, dass im konkreten Einzelfall der
effektive Verkehrswert
deutlich höher oder tiefer liegt, so müssen - da grundsätzlich auf den
effektiven Verkehrswert
abzustellen ist - Zu- und Abschläge möglich
sein.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
350
4.8.
Das aargauische System der Festsetzung der Eigenmietwerte
und
Vermögenssteuerwerte beruht auf einer möglichst individuellen
Festlegung aufgrund von Einzelschätzungen, welche gemäss den
Vorschriften der VBG bei jeder Liegenschaft zahlreiche Parameter
berücksichtigen (VGE vom 10. Februar 2017 [WBE.2016.495],
Erw. II/1.1).
Allgemeine Neuschätzungen von Eigenmietwerten und Vermö-
genssteuerwerten werden auf Anordnung des Grossen Rates auf Be-
ginn einer Veranlagungsperiode vorgenommen (§ 218 Abs. 1 StG).
Die letzte allgemeine Neuschätzung von Eigenmietwerten und
Vermögenssteuerwerten fand per 1. Januar 1999 statt. Die dabei fest-
gelegten Werte gelten weiter bis zur nächsten allgemeinen Neuschät-
zung. Ausserhalb der allgemeinen Neuschätzung können die Eigen-
mietwerte und Vermögenssteuerwerte nur bei Vorliegen besonderer
Umstände im Rahmen einer Einzelschätzung (§ 218 Abs. 2 StG)
geändert werden (MARTIN PLÜSS, in: MARIANNE KLÖTI-
WEBER/DAVE SIEGRIST/DIETER WEBER [Hrsg.], Kommentar zum
Aargauer Steuergesetz, 4. Auflage, Muri-Bern 2015, § 218 N 1, 4 f.;
VGE vom 16. Juni 2010 [WBE.2008.49], Erw. II/1).
Bezüglich der Eigenmietwerte selbstbewohnter Liegenschaften
hat der Grosse Rat per 1. Januar 2016 eine Anpassung auf Basis der
Neuschätzung vom 1. Januar 1999 vorgenommen. Für die Gemeinde
D. wurde dabei ein Zuschlag von 14 % festgelegt (vgl. Anhang zum
Dekret über die Anpassung der Eigenmietwerte per 1. Januar 2016
vom 24. November 2015 [SAR 651.140]; zur Verfassungsmässigkeit
des Dekrets vgl. VGE vom 20. September 2016 [WNO.2016.2],
Erw. II/3.3.2). Entsprechende Zu- bzw. Abschläge bestehen für die
Vermögenssteuerwerte nicht.
4.9.
Ein begründeter Einzelfall, bei dem sich beim Fehlen einer ak-
tuellen Verkehrswertschätzung Zuschläge auf dem
steuerlichen Ver-
kehrswert
rechtfertigen, kann unter anderem vorliegen, wenn die
hypothekarische Belastung einer Liegenschaft auf einen
effektiven
Verkehrswert
hinweist, der deutlich über dem
steuerlichen Verkehrs-
wert
liegt. Gleich verhalten kann es sich, wenn seit der letzten allge-
2018
Übriges Verwaltungsrecht
351
meinen Neuschätzung wertvermehrende Investitionen getätigt wur-
den, die noch nicht mittels einer Einzelschätzung erfasst wurden.
Keine Begründung für eine Abweichung vom
steuerlichen Verkehrs-
wert
liegt hingegen in der allgemeinen oder regionalen bzw. kommu-
nalen Preisentwicklung seit der letzten Schätzung der Vermögens-
steuerwerte. Eine entsprechende pauschale Aufrechnung ohne
Bezugnahme auf die individuellen Verhältnisse steht im Widerspruch
zu den Einzelschätzungen, welche den Steuervermögenswerten zu-
grunde liegen.
Laut den Akten bestehen für die Liegenschaft pfandgesicherte
Forderungen von Bankinstituten über Fr. 1'300'000.00. Diese über-
schreiten den im Jahre 1999 festgelegten
steuerlichen Verkehrswert
von Fr. 1'266'846.00. Eine neue Schätzung ist zwischenzeitlich nicht
erfolgt und weitere Angaben für die Wertbestimmung liegen nicht
vor. Die verfügbaren Schätzungswerte sind zwar wenig aussagekräf-
tig, die Angaben im Erbteilungsvertrag lassen aber auf eine sehr hohe
hypothekarische Belastung der Liegenschaft schliessen. Im Sinne
einer Faustregel darf davon ausgegangen werden, dass Kreditinstitute
eine Liegenschaft mit maximal 80 % des
effektiven Verkehrswerts
fremdfinanzieren. Aufgrund der aktuellen hypothekarischen Belas-
tung bestehen klare Indizien, dass der
effektive
den
steuerlichen Ver-
kehrswert
übersteigt. Wird auf eine übliche Belehnungsgrenze von
80 % des Liegenschaftswerts abgestellt, liegt zwar eine konservative
Bewertung vor, welche insbesondere die Preisentwicklung nicht
zwingend erfasst. Ausgehend von einer aktuellen Maximalbelas-
tung der Liegenschaft ist dies jedoch unproblematisch, da angenom-
men werden darf, dass die Bankinstitute entsprechende Parameter bei
der Kreditvergabe berücksichtigten. Der vorliegenden Grundbuchab-
gabe kann unter Heranziehung der 80 %-Regel ein
Verkehrswert
von Fr. 1'625'000.00 zugrunde gelegt werden (Fr. 1'300'000.00 / 80 x
100). Entgegen dem angefochtenen Entscheid ist unter den vorlie-
genden Umständen nicht auf den ursprünglichen Umfang der
Pfandsicherung, sondern die grundpfandgesicherte (Kapital-)Forde-
rung abzustellen.
Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, dem Grundbuch-
amt sei jeweils nicht bekannt, ob neben den Grundpfandrechten wei-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
352
tere Sicherheiten bestehen, kann diesen Ausführungen vorliegend
keine Bedeutung zukommen. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht
wurde nichts Entsprechendes behauptet oder beigebracht.
4.10.
Der Liegenschaft wird somit ein Verkehrswert von
Fr. 1'625'000.00 zugrunde gelegt. Gestützt auf § 11 GBAG ergibt
sich bei der Übertragung eines Viertels der Gesamthandanteile eine
Grundbuchabgabe von Fr. 1'625.00. | 5,180 | 4,156 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2018-37_2018-10-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2018-37.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2018-37.pdf | AGVE_2018_37 | null | nan |
3f224be3-e9bc-5b23-afbf-e68b341de41a | 1 | 412 | 870,091 | 965,088,000,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsgericht
180
49
Zwangsmassnahmen; Zwangsisolation im Rahmen fürsorgerischer
Freiheitsentziehung; aufschiebende Wirkung zulässig?
· Zwangsisolation als Zwangsmassnahme im Rahmen fürsorgerischer
Freiheitsentziehung (Erw. 2/c/aa)
· Zwangsisolation nur als ultima ratio im Akutfall (Verhältnismässig-
keit) (Erw. 2/c/bb)
· Zwangsisolation mit aufschiebender Wirkung nur in Ausnahmefällen
zulässig (Erw. 2/c/cc)
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 29. August 2000 in
Sachen R.H. gegen Entscheid der Klinik Königsfelden.
Aus den Erwägungen
2. a) Im angefochtenen Zwangsmassnahmen-Entscheid der
Ärztlichen Leitung der Psychiatrischen Klinik Königsfelden (PKK)
vom 24. August 2000 wird als Begründung für die Zwangsisolation
im Isolationszimmer Folgendes festgehalten: ,,erhebliche Fremdge-
fährdung, Reizabschirmung dringlich, Pat. ,,am Steigen".
Der Beschwerdeführer selbst lehnt die Isolation ab, weil er
nicht gefährlich sei und weil sie zu sekundären psychischen Störun-
gen, zu vermehrten Aggressionen und zu Vereinsamung führe.
b) Isolation ist eine ,,andere Vorkehr" i.S. von § 67e
bis
EG ZGB
und damit eine Zwangsmassnahme, die den Schutz der betroffenen
Person - und damit einhergehend den Schutz ihrer Mitmenschen -
vor körperlichen und seelischen Schäden bezweckt (vgl. Botschaft
des Regierungsrates des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom
4. August 1999 betreffend Revision des Einführungsgesetzes zum
Schweizerischen Zivilgesetzbuch [EG ZGB], Schaffung einer
Rechtsgrundlage für Zwangsmassnahmen im Rahmen der fürsorge-
rischen Freiheitsentziehung, S. 6).
c) Wie bereits aufgezeigt, sind die Voraussetzungen einer für-
sorgerischen Freiheitsentziehung im vorliegenden Fall erfüllt. Beim
Beschwerdeführer liegt ein manisches Zustandsbild bei bekannter
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
181
schizoaffektiver Störung vor. Das Verwaltungsgericht hat daher
grundsätzlich zu prüfen, ob die angefochtene Zwangsmassnahme der
Isolation in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Einwei-
sungsgrund dieser Geisteskrankheit steht, medizinisch indiziert und
verhältnismässig ist.
aa) Vorweg ist zu bemerken, dass die Isolation von ihrem We-
sen her eine grundlegend andere Zwangsmassnahme darstellt als eine
medikamentöse Zwangsbehandlung. So führt auch Bleuler aus, unter
der heutigen Therapie seien langdauernde Isolierungen nicht mehr
nötig, wogegen ganz kurze Isolierungen in akuten schweren Erre-
gungszuständen für die Mitpatienten oft eine Notwendigkeit seien
(Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Neubearbeitung von Man-
fred Bleuler, Berlin/Heidelberg/New York 1983, S. 193). Isolation
bedeutet, in einem (oft ausser einem Bett unmöblierten) Raum
alleine eingeschlossen zu werden. In der Regel soll damit einer dro-
henden Selbst- oder Fremdgefährdung begegnet werden, d.h. sie
geschieht zum Selbstschutz des Betroffenen, aber auch zum Schutz
von Personal, Patienten und Gegenständen. Allenfalls kann die mit
der Isolation verbundene Reizabschirmung zusätzlich zu einer Be-
ruhigung eines Patienten führen, andererseits kann die zusätzliche
Freiheitsbeschränkung unter Umständen auch eine Erhöhung der
Aggressionen zur Folge haben.
bb) Im vorliegenden Fall wurden am 23. August 2000 die Iso-
lation gemäss dem ersten Zwangsmassnahmen-Entscheid vom
17. August 2000 aufgehoben, da der Beschwerdeführer neu beurteilt
und dabei zugänglicher und lenkbarer erlebt wurde. Am Abend des
23. August 2000 wurde der Beschwerdeführer laut und angetrieben,
ebenso verbal bedrohlich. Am 24. August 2000 wurde die Situation
als angespannt, der Beschwerdeführer aber als lenkbar beschrieben.
In Einzelbegleitung durfte er den Park aufsuchen. Gegen Abend
wurde er als zwischendurch laut beschrieben, er habe sich aber nach
kurzer Zeit wieder beruhigen können. Am folgenden Tag wurde der
Beschwerdeführer wieder zunehmend verbal aggressiv, wobei die
2000
Verwaltungsgericht
182
Mitpatienten unter dem angetriebenen Zustand gelitten hätten. Da-
raufhin wurde der Beschwerdeführer am 25. August 2000 über
Mittag während zwei Stunden und ab 20 Uhr abends erneut isoliert.
Damit steht fest, dass auch nach Meinung der zuständigen Kli-
nikärzte der Beschwerdeführer am 24. August 2000 nicht zwangs-
isoliert werden musste, da er - auch ohne Isolation - nicht hinrei-
chend auffällig oder gar gefährlich war. Ausserdem wollte man zu-
sätzliche Aggressionen durch das ,,Einsperren" vermeiden. Dennoch
wurde am 24. August 2000 folgender Zwangsmassnahmen-Entscheid
erlassen:
,,Isolation im Iso-Zimmer, ohne Fixation, im Bodenbett, bis beruhigt
(am 23.08.00 Isolation aufgehoben). Medikation ohne jeden Zwang
verabreicht."
Damit wurde sinngemäss eine vorbeugende Zwangsmassnahme
verfügt, um im Ernstfall handeln zu können. Trotz anderem Wortlaut
im Zwangsmassnahmen-Entscheid entspricht dies materiell der
Anordnung einer Isolation mit gleichzeitiger Gewährung der auf-
schiebenden Wirkung. Ein derartiges Vorgehen kann aus ärztlicher
Sicht sinnvoll erscheinen. Im Gegensatz zu einer medizinisch indi-
zierten notwendigen medikamentösen Zwangsbehandlung, kann sich
indessen die Frage einer notwendigen Zwangsisolation in aller Regel
nur in einem ganz konkreten Zeitpunkt stellen, da auch hier gilt, dass
die Zwangsmassnahme in Anwendung des Verhältnismässigkeit-
sprinzips ,,ultima ratio" sein muss, indem der betroffenen Person die
notwendige Fürsorge nicht auf andere Weise gewährleistet werden
kann. Aus diesem fundamentalen Grundsatz ergibt sich eo ipso, dass
diese Zwangsmassnahme grundsätzlich nur im Akutfall angeordnet
werden darf. Da die Beurteilung in diesem Zeitpunkt erfolgen muss,
entbindet auch ein früher ,,vorsorglich" erlassener Zwangsmass-
nahmen-Entscheid nicht von der Notwendigkeit, jetzt einen formel-
len Zwangsmassnahmen-Entscheid zu fällen, in welchem die Voraus-
setzungen der Zwangsmassnahme für die aktuelle Situation bejaht
und begründet werden. Während es gute Gründe geben kann, einen
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
183
Entscheid, ob eine langfristige neuroleptische Zwangsbehandlung
durchzuführen sei, unter Umständen einige Tage oder Wochen aufzu-
schieben, ist ein derartiges Vorgehen bei einer Zwangsisolation nur in
absoluten Ausnahmefällen denkbar, so z.B. wenn ein Patient im
Voraus glaubwürdig die Absicht äussert, sich oder eine andere Person
an einem speziellen Termin umzubringen (z.B. im Zusammenhang
mit religiösen Wahnvorstellungen über den zu erwartenden
Weltuntergang). In aller Regel dürfte aber nur eine Notfallsituation
i.S. von § 15 Abs. 3 PD zu einer Zwangsisolation führen oder zu-
mindest müsste eine Situation vorliegen, die sich im Grenzbereich zu
einer Notfallsituation bewegt. In diesem Fall kann die Klinik auch
ohne ,,vorbeugenden Zwangsmassnahmen-Entscheid" sofort aktiv
werden und einen Patienten isolieren, bevor irgendwelche Formalien
wie Anhörung oder das Ausfüllen von Formularen erledigt werden
müssen. In den übrigen Fällen genügt es, den Entscheid unmittelbar
vor der bevorstehenden Isolierung zu treffen und dem Patienten zu
eröffnen. Im vorliegenden Fall wäre dies am 25. August 2000 prob-
lemlos möglich gewesen, da offenbar nach wie vor ein Grenzfall vor-
lag, wurde der Beschwerdeführer doch vorerst nur zwei Stunden über
den Mittag isoliert.
cc) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Anordnung
einer Isolation als Zwangsmassnahme grundsätzlich, d.h. abgesehen
von sehr spezifischen Ausnahmefällen, nie verhältnismässig sein
kann, wenn sie nicht auch aktuell notwendig ist. Somit ist die An-
ordnung einer Zwangsisolation ohne gleichzeitige Vollstreckung, d.h.
faktisch die Gewährung der aufschiebenden Wirkung, rechtlich in
der Regel ausgeschlossen. Dies schliesst jedoch eine nachträgliche
gerichtliche Überprüfung der Verhältnismässigkeit einer angeordne-
ten und durchgeführten Isolation nicht aus.
dd) Im vorliegenden Fall war offensichtlich weder am Tag vor-
her, noch am Tag des 24. August 2000 selber, an welchem der
Zwangsmassnahmen-Entscheid erlassen wurde, eine Situation gege-
ben, in welcher dem Beschwerdeführer die notwendige Fürsorge
2000
Verwaltungsgericht
184
nicht anders als durch Isolation gewährt werden konnte. Dieser Um-
stand trat aus Sicht der Klinik - wie erwähnt - erst wieder am 25. Au-
gust 2000 mit der gesteigerten Aggressivität und der zunehmenden
Angetriebenheit des Beschwerdeführers ein, und zwar primär zum
Schutz von Patienten und Personal. In diesem Zeitpunkt hätte somit
neu entschieden und nötigenfalls - unter Berücksichtigung aller rele-
vanten Umstände - formell eine Zwangsisolation verfügt werden sol-
len. Der Zwangsmassnahmen-Entscheid wurde in Erwartung eines
eventuell bevorstehenden Akutfalles gefällt und erst mehr als einen
Tag später teilweise vollzogen. Dieser vorbeugende Zwangsmass-
nahmen-Entscheid vom 24. August 2000 stellt daher aus den geschil-
derten Gründen einen Verstoss gegen das Verhältnismässigkeits-
prinzip dar und ist aufzuheben.
ee) Der Vollständigkeit halber ist jedoch darauf hinzuweisen,
dass mit diesem Ausgang des Verfahrens betreffend Anfechtung des
Zwangsmassnamen-Entscheides vom 24. August 2000 nichts darüber
entschieden worden ist, ob die materiellen Voraussetzungen für
vorübergehende Isolationen des Beschwerdeführers während dem
aktuellen Klinikaufenthalt nicht durchaus erfüllt gewesen seien. | 1,952 | 1,584 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-49_2000-08-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-49.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-49.pdf | AGVE_2000_49 | null | nan |
3f25629a-cb71-4567-8ecf-83c043d3ff82 | 1 | 413 | 1,497,344 | 1,359,072,000,000 | 2,013 | de | Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 25. Januar 2013 (WBE.2013.21)
Verhältnis einer längerfristigen familiengerichtliche FU zur Betreuung zu einer ärztlichen FU zur Behandlung (Krisenintervention aus Wohn- und Pflegeeinrichtung).
7. 7.1 Es stellt sich sodann die Frage des Verhältnisses der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Stiftung Satis zu derjenigen in der Klinik . Mit Verfügung des Bezirksamts Zurzach vom 12. Oktober 2006 wurde der Beschwerdeführer per fürsorgerischer Freiheitsentziehung (neu: fürsorgerische Unterbringung) in die Stiftung Satis eingewiesen. Diese Verfügung wurde bis heute nicht aufgehoben. Mit amtsärztlicher Verfügung vom 18. Januar 2013 wurde der Beschwerdeführer per fürsorgerischer Unterbringung zur Behandlung und Medikamenteneinstellung in die Klinik Königsfelden eingewiesen.
7.2. Grundsätzlich wird eine fürsorgerische Unterbringung durch eine neue Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung in eine andere Einrichtung aufgehoben. Es stellt sich nun aber die Frage, ob dies auch gilt, wenn eine längerfristige Unterbringung zur Betreuung in einer Wohn- bzw. Pflegeeinrichtung durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde worden ist, und es zwischendurch zu Kriseninterventionen durch ärztliche Einweisungen zur Behandlung in einer psychiatrischen Klinik kommt. Gemäss Art. 426 Abs. 1 ZGB darf eine Person, die an einer Störung leidet, in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Dabei ist der Sinn einer Einweisung zur psychiatrischen Behandlung einerseits und einer Einweisung zur Betreuung andererseits zu unterscheiden. Da ärztliche Einweisungen maximal für sechs Wochen Gültigkeit haben (Art. 429 Abs. 1 ZGB i.V.m. § 67c Abs. 1 EG ZGB), handelt es sich dabei regelmässig um Unterbringungen in einer psychiatrischen Klinik zur Behandlung der psychischen Störung. Demgegenüber sind Unterbringungen zur Betreuung längerfristige Massnahmen im Sinne von Platzierungen, welche durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden bzw. im Kanton Aargau durch die Familiengerichte angeordnet werden (§ 59 Abs. 1 EG ZGB). Damit soll eine längerfristige stationäre Betreuung des Betroffenen sichergestellt werden. Zur Aufhebung dieser Massnahme ist nur das Familiengericht, nicht aber ein Amtsarzt befugt (Art. 428 Abs. 1 i.V.m. Art. 429 Abs. 2 und 3 ZGB). Somit ergibt sich, dass familiengerichtliche Unterbringungen zur Betreuung weiterhin Gültigkeit haben, auch wenn sie zwischendurch faktisch durch amtsärztliche Unterbringungen zur psychiatrischen Behandlung unterbrochen werden. Sobald die Voraussetzungen der fürsorgerischen Unterbringung zur Behandlung weggefallen sind, ist die betroffene Person in die Wohn- oder Pflegeeinrichtung zurückzubringen.
Dieselben Schlussfolgerungen ergeben sich im Übrigen auch dann, wenn durch ein Familiengericht eine fürsorgerische Unterbringung zur Betreuung und Behandlung in einer Institution für Langzeittherapie (z.B. REHA-Haus Effingerhort) angeordnet wurde und zusätzlich zwischenzeitlich eine ärztliche Einweisung in eine Psychiatrische Klinik erfolgt.
7.3. Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer im Jahr 2006 zur in das Wohnheim der Stiftung Satis eingewiesen. Die Verfügung des Bezirksamts Zurzach vom 12. Oktober 2006 hat somit nach wie vor Gültigkeit, wobei die Zuständigkeit durch die Gesetzesrevision auf das Zurzach übertragen worden ist (Art. 14a Schlusstitel ZGB i.V.m. § 59 Abs. 1 EG ZGB). Diese Unterbringung wurde durch die Verfügung des Amtsarztes, Bezirk Lenzburg, vom 18. Januar 2013 nicht tangiert, da es sich dabei lediglich um eine (mehr oder weniger kurzfristige) psychiatrische Behandlung im Sinne einer Krisenintervention handelt.
7.4. Der Beschwerdeführer erklärte anlässlich der Verhandlung, nach Abschluss der Behandlung in der Klinik Königsfelden freiwillig in die Stiftung Satis zurückzukehren. Aus dem Gesagten folgt, dass er andernfalls nach Massgabe der durch das Bezirksamt Zurzach ausgesprochenen Freiheitsentziehung verpflichtet wäre, wieder in die Stiftung Satis einzutreten. Das Familiengericht Zurzach wird gestützt auf Art. 431 ZGB in Verbindung mit Art. 14 Schlusstitel ZGB spätestens bis zum 30. Juni 2013 überprüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine fürsorgerische Unterbringung in der Stiftung Satis weiterhin erfüllt sind. | 875 | 660 | AG_VG_002 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_002_-Kindes--und-Erwachs_2013-01-25 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/kindes__und_erwachsenenschutz/verwaltungsgericht/EntscheiddesVerwaltungsgerichtsvom25Januar2013.pdf | null | nan |
||
3f680a5a-18f2-5fb9-9897-b4cb77fdf09c | 1 | 412 | 870,975 | 1,575,331,200,000 | 2,019 | de | 2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
172
26
Sozialhilfe; Wohngemeinschaft
Zur Beurteilung, ob eine familienähnliche Wohn- und Lebensge-
meinschaft oder eine Zweck-Wohngemeinschaft vorliegt, ist mit be-
sonderer Sorgfalt abzuklären, ob ein gemeinsamer Haushalt geführt
wird.
Vorliegend sprechen der grosse Altersunterschied zwischen den Be-
wohnern, deren Lebensumstände sowie der Umstand, dass Haus-
haltsfunktionen wie Wohnen, Einkaufen, Essen und Waschen vor-
wiegend getrennt erfolgen, gegen eine familienähnliche Wohn- und
Lebensgemeinschaft.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 10. Dezem-
ber 2019, in Sachen A. gegen Gemeinderat B. und Departement Gesundheit
und Soziales (WBE.2019.285).
2019
Sozialhilfe
173
Aus den Erwägungen
2.2.
Gemäss § 17 Abs. 1 VRPG ermitteln die Behörden den Sach-
verhalt, unter Beachtung der Vorbringen der Parteien, von Amtes
wegen und stellen die dazu notwendigen Untersuchungen an. Der
Untersuchungsgrundsatz verpflichtet die Behörden dazu, für die rich-
tige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts
zu sorgen (KASPAR PLÜSS, in: ALAIN GRIFFEL [Hrsg.], Kommentar
zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2014, § 7 N 10). Relativiert wird der Unter-
suchungsgrundsatz durch die Mitwirkungspflicht der Parteien (§ 23
Abs. 1 VRPG; für das Sozialhilfeverfahren: § 2 SPG und § 1 SPV).
Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV;
§§ 21 f. VRPG) ergibt sich eine behördliche Dokumentations- bzw.
Aktenführungspflicht (vgl. BGE 138 V 218, Erw. 8.1.2; PLÜSS,
a.a.O., § 7 N 40). Die Behörde ist verpflichtet, ein vollständiges
Aktendossier über das Verfahren zu führen, um gegebenenfalls ord-
nungsgemäss Akteneinsicht gewähren und bei einem Weiterzug diese
Unterlagen an die Rechtsmittelinstanz weiterleiten zu können. Die
Behörde hat alles in den Akten festzuhalten, was zur Sache gehört
(BGE 138 V 218, Erw. 8.1.2; 124 V 372, Erw. 3b; 115 Ia 97,
Erw. 4c).
2.3.
Am 23. Oktober 2018 erfolgte beim Beschwerdeführer ein
Hausbesuch, wofür ein Abklärungsbericht vorliegt. Die Aussen-
dienstmitarbeiterin des Kantonalen Sozialdienstes kreuzte bei
Ziffer 14 des gebräuchlichen Formulars Wohn- und Lebensgemein-
schaft an und brachte folgenden Vermerk an: Gemäss Aussage Herr
A. gemeinsame Haushaltsführung und getrennte Nebenkosten. Wei-
tere Dokumentationen zu den Wohnverhältnissen des Beschwerde-
führers finden sich nicht in den Akten der Gemeinde bzw. datieren
nach dem Beschluss vom 19. November 2018.
Die Aussendienstmitarbeiterin hat das Formular Abklärungs-
bericht ausgefüllt und den Hausbesuch insoweit dokumentiert. Zur
Abgrenzung einer familienähnlichen Wohn- und Lebensgemeinschaft
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
174
und einer Zweck-Wohngemeinschaft finden sich im Bericht indessen
keinerlei Angaben. Ob Personen, die miteinander eine Wohnung tei-
len, einen gemeinsamen Haushalt führen, muss die Sozialbehörde
eingehend abklären (VGE vom 10. Dezember 2019
[WBE.2019.256], Erw. II/2.2; vgl. CLAUDIA HÄNZI, Leistungen der
Sozialhilfe in den Kantonen, in: CHRISTOPH HÄFELI [Hrsg.], Das
Schweizerische Sozialhilferecht, Luzern 2008, S. 143 f. mit Hinwei-
sen). Bei der Abklärung der Anhaltspunkte, welche für oder gegen
eine Zweck-Wohngemeinschaft sprechen, ist eine besondere Sorgfalt
erforderlich. Keinesfalls kann es angehen, aus Kostengründen oder
zur Vermeidung von Aufwand auf eine vertiefte Abklärung zu ver-
zichten.
Die Aussendienstmitarbeiterin übernahm entsprechend dem
Abklärungsbericht lediglich die (bestrittene) Aussage des Beschwer-
deführers, es liege eine gemeinsame Haushaltsführung vor. Damit
war der rechtserhebliche Sachverhalt jedoch nicht genügend abge-
klärt: Abgesehen davon, dass die betreffende Beurteilung nicht durch
den Beschwerdeführer selbst vorzunehmen war (und von ihm auf-
grund der heiklen Abgrenzungsproblematik auch kaum vorgenom-
men werden konnte), liegt kein Abklärungsergebnis vor, welches sich
auf die konkret vorgefundenen Umstände abstützen könnte. Soweit
auf eine Aussage des Beschwerdeführers Bezug genommen wird, ist
diese nicht ausreichend dokumentiert und es ist nicht nach-
vollziehbar, worauf die Schlussfolgerung gründet. Aus dem Bericht
ergibt sich nicht, welche Umstände die Aussendienstmitarbeiterin
veranlassten, eine gemeinsame Haushaltsführung anzunehmen.
Ebenso ist nicht erkennbar, dass Abklärungen getroffen worden
wären, um mögliche Missverständnisse oder Verständigungsschwie-
rigkeiten im Zusammenhang mit den angeblichen Aussagen des Be-
schwerdeführers zu vermeiden. Der Gemeinderat ging in seinem Be-
schluss vom 19. November 2018 ohne weitere Begründung von einer
Wohn-/Lebensgemeinschaft mit gemeinsamer Haushaltsführung
aus. Weitere Abklärungen zu den Wohnverhältnissen des Beschwer-
deführers erfolgten nicht mehr. Damit wurden im erstinstanzlichen
Verfahren der Untersuchungsgrundsatz verletzt (unzureichende
2019
Sozialhilfe
175
Sachverhaltsabklärung) und das rechtliche Gehör des Beschwerde-
führers (ungenügende Dokumentation des Hausbesuchs).
2.4. (...)
3. (...)
4.
4.1.
In der Sache macht der Beschwerdeführer geltend, er lebe in
einer Zweck-Wohngemeinschaft im Sinne von Kap. B.2.4 der SKOS-
Richtlinien. Im Bericht des Aussendienstes fänden sich keine Hin-
weise für das Vorliegen einer familienähnlichen Wohn- und Lebens-
gemeinschaft. Entsprechend dem Bericht seien zwei Schlafzimmer
und sämtliche Möbel vorhanden. Der Beschwerdeführer und sein
Mitbewohner teilten weder das Bett noch sonstiges Mobiliar, das auf
eine familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft hinweise.
Darauf dürfe nicht allein aufgrund eines gemeinsamen Internet-
Vertrags oder Festnetzanschlusses geschlossen werden. Der Be-
schwerdeführer und sein Mitbewohner wohnten zusammen, um die
Wohnkosten möglichst tief zu halten. Sie würden getrennt einkaufen,
kochen und waschen. Hingegen erledige der Beschwerdeführer einen
grösseren Teil der Haushaltsarbeiten, weil der Mitbewohner eine
Ausbildung absolviere und sich daher seltener zu Hause aufhalte.
Dass Wohnzimmer, Bad und Küche geteilt würden, entspreche dem
Hauptzweck einer Wohngemeinschaft. Eine Zweck-Wohngemein-
schaft im Sinne von Kap. B.2.4 der SKOS-Richtlinien bedinge keine
doppelten Küchen, Wohnzimmer oder Badezimmer. Schliesslich
spreche der erhebliche Altersunterschied zwischen dem Beschwer-
deführer (Jahrgang 1978) und seinem Mitbewohner (Jahrgang 1996)
gegen eine familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft.
4.2. - 4.3. (...)
4.4.
4.4.1.
Die Bestimmungen über Personen in familienähnlichen Wohn-
und Lebensgemeinschaften (SKOS-Richtlinien, Kap. B.2.3) sowie in
Zweck-Wohngemeinschaften (SKOS-Richtlinien, Kap. B.2.4) sind
seit 1. Januar 2017 für die Bemessung der materiellen Hilfe verbind-
lich (vgl. § 10 Abs. 1 SPV).
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
176
4.4.2.
Unter den Begriff familienähnliche Wohn- und Lebensgemein-
schaften fallen Paare oder Gruppen, welche die Haushaltfunktionen
(Wohnen, Essen, Waschen, Reinigen usw.) gemeinsam ausüben
und/oder finanzieren, also zusammenleben, ohne eine Unter-
stützungseinheit zu bilden (z.B. Konkubinatspaare, Eltern mit voll-
jährigen Kindern). Durch das gemeinsame Führen des Haushalts ent-
spricht der Bedarf der Wohn- und Lebensgemeinschaft jenem einer
Unterstützungseinheit gleicher Grösse. Der Grundbedarf für den Le-
bensunterhalt wird anteilmässig im Verhältnis zur gesamten Haus-
haltsgrösse festgelegt (SKOS-Richtlinien, Kap. B.2.3).
Unter den Begriff Zweck-Wohngemeinschaften fallen dem-
gegenüber Personengruppen, welche mit dem Zweck zusammen
wohnen, die Miet- und Nebenkosten gering zu halten. Die Ausübung
und Finanzierung der Haushaltsfunktionen (Wohnen, Essen,
Waschen, Reinigen usw.) erfolgt überwiegend getrennt. Durch das
gemeinsame Wohnen werden neben der Miete einzelne Kosten, wel-
che im Grundbedarf enthalten sind, geteilt und somit verringert (z.B.
Abfallentsorgung, Energieverbrauch, Festnetz, Internet, TV-
Gebühren, Zeitungen, Reinigung). Der Grundbedarf für den Lebens-
unterhalt wird unabhängig von der gesamten Haushaltsgrösse fest-
gelegt. Er bemisst sich nach der Anzahl Personen in der Unter-
stützungseinheit. Der entsprechende Grundbedarf wird um 10 % re-
duziert (SKOS-Richtlinien, Kap. B.2.4).
4.4.3.
Aus dem Mietvertrag lassen sich vorliegend keine Schlüsse zie-
hen. Zwar ist der Mitbewohner des Beschwerdeführers nicht ledig-
lich Untermieter, sondern Solidarmieter, weshalb sowohl der Be-
schwerdeführer als auch der Mitbewohner für Verbindlichkeiten aus
dem Mietverhältnis haften. Solidarschuldner auf Mieterseite kom-
men indessen sowohl bei familienähnlichen Wohn- und Lebensge-
meinschaften wie auch bei Zweck-Wohngemeinschaften vor. Diese
Konstellation ist für sich alleine nicht aussagekräftig.
Die äusseren Umstände der vorliegenden Wohngemeinschaft
sprechen klar dagegen, dass ihr familienähnlicher Charakter zu-
kommt. Aufgrund des beträchtlichen Altersunterschieds zwischen
2019
Sozialhilfe
177
den Bewohnern ist plausibel, dass Haushaltsfunktionen mit sozialem
Bezug wie Wohnen, Einkaufen und Essen überwiegend getrennt er-
folgen. Dies legen auch die Hintergründe des Beschwerdeführers und
seines Mitbewohners nahe, welche einerseits von Integrationsbe-
mühungen und andererseits von der Ausbildungsphase geprägt sind.
Insoweit sind jene vergleichbar mit Wohngemeinschaften von Stu-
denten; diese Wohngemeinschaften sind ihrem Zweck entsprechend
zeitlich begrenzt. Getrennte Schlafzimmer sind zwar keine hinrei-
chende Voraussetzung für eine Zweck-Wohngemeinschaft, können
aber mangels Anzeichen für eine engere Bindung als Indiz hierfür
gewertet werden. Abgesehen von der gemeinsamen Wohnung sind
vorliegend keine Umstände ersichtlich, welche für eine engere (ge-
schweige denn sexuelle) Beziehung unter den Bewohnern sprechen.
Im Haushalt legen die Zuordnung der Lebensmittel mittels
Kennzeichnungen und die teilweise getrennte Aufbewahrung der
Nahrungsmittel nahe, dass gewisse Funktionen getrennt ausgeübt
werden. Unbeachtlich ist, dass Lebensmittel im selben Kühlschrank
aufbewahrt werden. Die gemeinsame Nutzung von Haushaltsgeräten
und der Kücheneinrichtung ist in familienähnlichen Wohn- und Le-
bensgemeinschaften und in Zweck-Wohngemeinschaften üblich. In-
soweit ist auch gemeinsames Küchengeschirr (im Gegensatz zu ge-
trenntem) kein taugliches Abgrenzungskriterium. Dies trifft ebenfalls
auf die sanitarischen Anlagen und gegebenenfalls auf Wohnzimmer
zu, welche gemeinsam genutzt werden. Unbedeutend ist schliesslich,
dass die Bewohner unterschiedliche Artikel zur Körperpflege und
Mundhygiene verwenden. Diese lassen keine Rückschlüsse auf einen
gemeinsam geführten Haushalt zu. Hingegen spricht die Verwendung
unterschiedlicher Waschmittel dafür, dass die betreffenden Haus-
haltsarbeiten getrennt erfolgen. Dem Umstand, dass der Beschwerde-
führer mehr Reinigungsarbeiten erledigt als sein Mitbewohner,
kommt keine ausschlaggebende Bedeutung zu.
Bei der Zweck-Wohngemeinschaft erfolgt die gemeinsame
Nutzung von Einrichtung und Räumlichkeiten - im Gegensatz zur
familienähnlichen Wohn- und Lebensgemeinschaft, wo der Kosten-
faktor lediglich vorteilhaft erscheint - vorwiegend, um die Lebens-
haltungskosten gering zu halten. Da sich die Motivation, eine Wohn-
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
178
gemeinschaft einzugehen, regelmässig nicht feststellen lässt, ist jene
im Wesentlichen aufgrund äusserer Umstände zu erschliessen. Vor-
liegend sprechen die bescheideneren Verhältnisse wie auch die
Lebensumstände beider Bewohner (materiell unterstützter neu aner-
kannter Flüchtling und Auszubildender) für eine Zweck-Wohnge-
meinschaft. Unter den gegebenen Umständen erscheint plausibel,
dass die Wohngemeinschaft mit dem wesentlichen Zweck ein-
gegangen wurde, eine Kostenersparnis zu erzielen. Insoweit ist nahe-
liegend, dass sich der Beschwerdeführer und sein Mitbewohner die
Wohnnebenkosten aufteilen.
4.5.
Insgesamt sind keine schlüssigen Anhaltspunkte ersichtlich, die
auf eine familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft im Sinne
von Kap. B.2.3 der SKOS-Richtlinien schliessen liessen. Demzufol-
ge ist von einer Zweck-Wohngemeinschaft gemäss Kap. B.2.4 der
SKOS-Richtlinien auszugehen, wofür auch die unter Erw. 4.4 aufge-
führten Gründe sprechen. Entsprechend ist dem Beschwerdeführer
der um 10 % reduzierte Grundbedarf für eine Person in einem Ein-
personenhaushalt zu gewähren.
(...) | 2,699 | 2,102 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-26_2019-12-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-26.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-26.pdf | AGVE_2019_26 | null | nan |
3fa0be66-44d0-5e52-9a60-bd4e2215190d | 1 | 412 | 870,610 | 1,257,033,600,000 | 2,009 | de | 2009
Zwangsmassnahmengemäss§StPO
221
VI. Zwangsmassnahmen gemäss § 241a StPO
41
Zwangsmassnahmen gemäss § 241a StPO
-
Voraussetzungen für Zwangsmassnahmen gemäss § 241a Abs. 2 lit. a
StPO im Vergleich zu lit. b (vgl. auch AGVE 2008, S. 207 ff.)
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 3. November 2009 in
Sachen P.B. gegen Entscheid der Klinik Königsfelden betreffend Zwangsme-
dikation (WBE.2009.345).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Da die Klinik am 23. Oktober 2009 einen auf fünf Tage befris-
teten gültigen formellen Zwangsmassnahmen-Entscheid erlassen hat
(wenn auch teilweise für bereits erfolgte Zwangsmassnahmen und
zudem nicht auf dem für Zwangsmassnahmen gemäss § 241a StPO
vorgesehenen Formular), ist im Folgenden zu prüfen, ob die verfügte
Zwangsmedikation (soweit sie nicht rückwirkend angeordnet wurde
und unabhängig von der Notfallsituation vom 20. Oktober 2009) ge-
setzeskonform war, insbesondere soweit der Beschwerdeführer im
Zeitraum vom 23. Oktober 2009 bis zum 28. Oktober 2009 die Me-
dikamente allenfalls unter Druck des Zwangsmassnahmen-Entschei-
des oral eingenommen hat.
3.2.
Es stellt sich daher die Frage, ob die angeordnete Zwangsmedi-
kation mit einem Neuroleptikum (Clopixol) mit dem konkreten
Massnahmezweck vereinbar ist. Gemäss Urteil des Obergerichts vom
26. März 2009 wurde eine stationäre therapeutische Massnahme ge-
mäss Art. 59 StGB bestätigt, weil die Behandlung des Beschwerde-
führers in einer vorwiegend medikamentösen Therapie bestehe, was
2009
Verwaltungsgericht
222
sowohl bei der wahrscheinlichsten Diagnose einer Schizophrenie wie
auch bei der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung zutreffe. Unter
diesen Umständen ist eine neuroleptische Medikation auch gegen
den Willen des Beschwerdeführers zweifellos mit dem Massnahme-
zweck vereinbar. Die medizinische Würdigung entspricht zudem den
Ausführungen der behandelnden Ärztin vom 28. Oktober 2009, wo-
nach beim Beschwerdeführer ein starker Verdacht auf zumindest
vorübergehendes psychotisches Erleben bestehe. In diese Punkt ist
die Beschwerde daher abzuweisen.
Der Vollständigkeit halber kann festgestellt werden, dass ge-
mäss Verlaufsbericht der Klinik Königsfelden vom 29. Oktober 2009
eine Medikamenten-Änderung durchgeführt wurde (neu wurde So-
lian verordnet), womit sich der Beschwerdeführer einverstanden er-
klärt hat.
4.
Der Beschwerdeführer macht in seiner Eingabe sinngemäss
geltend, es sei auf eine Medikation zu verzichten, das Verwaltungs-
gericht habe dies doch bereits entschieden. Diese Ausführungen tref-
fen zu, allerdings war die rechtliche Ausgangslage beim Urteil vom
15. Juli 2008 ganz anders. Damals war der Beschwerdeführer im
Haftstatus in der Klinik. Unter diesen Umständen dürfen gemäss
§ 241a Abs. 2 lit. b StPO ohne Zustimmung oder gegen den Willen
des Gefangenen medizinische Behandlungen oder andere medi-
zinisch indizierte Vorkehren nur durchgeführt werden, wenn der
Gefangene aufgrund einer Krankheit nicht zurechnungsfähig ist, sich
selbst oder Dritte in schwerer Weise gefährdet und die notwendige
Fürsorge auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann. Diese
strengen Voraussetzungen waren im Juli 2008 nicht erfüllt, weshalb
die damalige Beschwerde gutgeheissen wurde (AGVE 2008, S. 207
ff.). Inzwischen wurde für den Beschwerdeführer jedoch eine
stationäre Massnahme gemäss Art. 59 StGB rechtskräftig angeordnet
und diese wird seit dem 10. August 2009 in der Klinik Königsfelden
vollzogen. Das Verwaltungsgericht kann daher gestützt auf § 241a
Abs. 2 lit. a StPO heute nur noch überprüfen, ob die angefochtene
Zwangsmedikation mit dem konkreten Massnahmezweck vereinbar
ist, was zu bejahen ist. | 795 | 638 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-41_2009-11-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-41.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-41.pdf | AGVE_2009_41 | null | nan |
3fa2a5cc-81d2-5603-9e9d-d580c2d7eeaf | 1 | 412 | 870,952 | 1,380,672,000,000 | 2,013 | de | 2013
Polizeirecht
223
VII. Polizeirecht
40
Rayonverbot; Anwendbarkeit des Konkordats; Auslegung der Formulie-
rung "anlässlich einer Sportveranstaltung"; Verhältnismässigkeit
-
Die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 des Konkordats ergibt unter Be-
rücksichtigung aller Auslegungsmethoden, dass Personen, die sich
nach einer Sportveranstaltung gewalttätig verhalten, ein Rayonver-
bot auferlegt werden kann, wenn die Gewalttätigkeit in einem Zu-
sammenhang mit der Sportveranstaltung steht. Ob ein rechtsgenüg-
licher Zusammenhang vorliegt, ist jeweils unter Berücksichtigung
sämtlicher Umstände des Einzelfalls aufgrund des zeitlichen, räum-
lichen und thematischen Zusammenhangs zwischen der Gewalttä-
tigkeit und der Sportveranstaltung zu bestimmten (Erw. 3.3.).
-
Ein Rayonverbot ist in räumlicher Hinsicht nur dann notwendig und
damit verhältnismässig, wenn zwischen dem verbotenen Rayon und
der begangenen Gewalttätigkeit ein Zusammenhang besteht
(Erw. 4.3.).
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 17. Oktober 2013 in Sachen A. gegen das Departement Volkswirtschaft
und Inneres (WPR.2013.112; publiziert in: www.weblaw.ch, Jusletter 4. No-
vember 2013).
Sachverhalt (Zusammenfassung)
Am 2. Juni 2013 fand im Stadion Brügglifeld in Aarau ab
16.00 Uhr ein Fussballspiel der Challenge League des Schweizeri-
schen Fussballverbands zwischen dem FC
Aarau und dem
FC
Wohlen statt. Diesem Fussballspiel folgte gleichentags ab
19.00 Uhr auf dem Aargauerplatz in Aarau die offizielle Meister-
bzw. Aufstiegsfeier des FC Aarau. Einige Spieler und rund 800 bis
900 Anhänger des FC Aarau begaben sich im Anschluss daran in das
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
224
Clublokal "Kettenbrücke Club Aarau" (KBA). Kurz nach 23.00 Uhr
zündete der vermummte Beschwerdeführer innerhalb der KBA eine
Handlichtfackel.
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Die Vorinstanz verfügte gegenüber dem Beschwerdeführer ein
Rayonverbot gestützt auf Art. 4 und 5 des Konkordats [über Mass-
nahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen vom
15. November 2007 (Konkordat; SAR 533.100)].
1.2. - 1.3. (...)
2.
2.1. - 2.2. (...)
2.3.
2.3.1. (...)
2.3.2.
Dass der Beschwerdeführer pyrotechnische Gegenstände ver-
wendet hat, steht ausser Frage und wird von ihm auch nicht bestrit-
ten. Das Abbrennen einer Handlichtfackel stellt eine tatbestands-
mässige Handlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 des Konkordats dar.
Diesbezüglich ist die Voraussetzung für eine Sanktionierung gestützt
auf Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 des Konkordats
erfüllt.
3.
3.1.
Umstritten und nachfolgend zu prüfen ist, ob das Konkordat
vorliegend überhaupt zur Anwendung gelangt. Zu klären ist insbe-
sondere, ob das gewalttätige Verhalten des Beschwerdeführers "an-
lässlich einer Sportveranstaltung" im Sinne von Art. 4 Abs. 1 des
Konkordats stattgefunden hat.
2013
Polizeirecht
225
3.2. (...)
3.3.
3.3.1.
Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das
heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegen-
den Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnisme-
thode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedan-
ken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm dar-
stellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkreti-
sierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im
normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der
ratio legis, d.h. den Gesetzeszweck. Dabei ist ein pragmatischer Me-
thodenpluralismus anzuwenden. Es ist insbesondere davon abzuse-
hen, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prio-
ritätsordnung zu unterstellen. Gesetzesmaterialien können beigezo-
gen werden, sofern sie auf die streitige Frage eine klare Antwort ge-
ben (BGE 131 III 33, Erw. 2).
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut einer Be-
stimmung. Ist der Text nicht ohne Weiteres klar und sind verschie-
dene Interpretationen möglich, so muss unter Berücksichtigung aller
Auslegungsmethoden (grammatikalische, systematische, historische
und teleologische Methode) nach seiner wahren Tragweite gesucht
werden; dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung,
die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzu-
sammenhang an, in dem die Norm steht (Urteil des Bundesgerichts
vom 17. Januar 2011 [BGE 9C_65/2010], Erw. 5.1; BGE 135 II 78,
Erw. 2.2; vgl. BGE 131 III 33, Erw. 2; BGE 130 II 202, Erw. 5.1; Ur-
teil des Bundesverwaltungsgericht vom 11. Juli 2007 [D-2279/2007],
Erw. 4.1 mit weiteren Hinweisen; vgl. zur Auslegung im Verwal-
tungsrecht allgemein: U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Zürich/St. Gal-
len 2010, Rz. 214 ff. mit weiteren Hinweisen).
Die grammatikalische Auslegung stellt auf Wortlaut, Wortsinn
und Sprachgebrauch ab. Unter Sprachgebrauch ist dabei in der Regel
der allgemeine Sprachgebrauch zu verstehen. Bei der Auslegung sind
neben dem Gesetzestext auch allfällige Titel zu berücksichtigen. Da-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
226
bei sind die Formulierungen einer Gesetzesnorm in den Amtsspra-
chen Deutsch, Französisch und Italienisch gleichwertig (U
LRICH
H
ÄFELIN
/W
ALTER
H
ALLER
/H
ELEN
K
ELLER
, Schweizerisches Bun-
desstaatsrecht, 8. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2012, Rz. 91 ff.).
(...)
Sowohl der französische als auch der italienische Wortlaut der
vorliegend auszulegenden Formulierung (" l'occasion de manifesta-
tions sportives" bzw. "in prossimit di una manifestazione sportive")
lässt sich als "bei Gelegenheit von Sportveranstaltungen" bzw. "aus
Anlass von Sportveranstaltungen" übersetzen. Dies entspricht auch
der Bedeutung der deutschen Formulierung ("anlässlich von Sport-
veranstaltungen"), also aus Anlass von Sportveranstaltungen, wobei
der Begriff "Anlass" mit dem Begriff "Gelegenheit" konvergiert (vgl.
Duden, Band 10, S. 95).
Die grammatikalische Auslegung ergibt demnach, dass Gewalt-
tätigkeiten, welche aus Anlass bzw. bei Gelegenheit von Sportveran-
staltungen begangen werden, von der Bestimmung des Art. 4 Abs. 1
des Konkordats erfasst sein sollen, wobei "aus Anlass" bzw. "bei
Gelegenheit" nicht bedeutet, die Gewalttätigkeit müsse in einem un-
mittelbaren bzw. direkten Zusammenhang zur Sportveranstaltung
gestanden haben. Mit anderen Worten ist die Sanktionierbarkeit von
Gewalttätigkeiten nicht auf Handlungen beschränkt, die an Sportver-
anstaltungen selber begangen wurden.
3.3.2.
Bei der systematischen Betrachtung wird der Sinn der Rechts-
norm bestimmt durch ihr Verhältnis zu anderen Rechtsnormen und
durch den systematischen und logischen Zusammenhang, in dem sie
sich in einem Gesetz präsentiert. Massgebliches Element ist damit
zum einen der systematische Aufbau eines Gesetzes. Dabei ist auch
die Systematik der Titel und der Sachüberschriften oder der Randtitel
von Bedeutung. Zum anderen ist das Verhältnis einer Norm zu Vor-
schriften in einem anderen Erlass zu berücksichtigen (vgl. U
LRICH
H
ÄFELIN
/W
ALTER
H
ALLER
/H
ELEN
K
ELLER
, a.a.O., Rz. 97 f.).
Art. 4 Abs. 1 Satz 1 des Konkordats hält fest, dass einer Person,
die sich anlässlich von Sportveranstaltungen nachweislich an Ge-
walttätigkeiten gegen Personen oder Sachen beteiligt hat, der Auf-
2013
Polizeirecht
227
enthalt in einem genau umschriebenen Gebiet im Umfeld von Sport-
veranstaltungen (Rayon) zu bestimmten Zeiten verboten werden
kann.
Dabei dient als Anknüpfungspunkt für die Anordnung einer
polizeilichen Massnahme Art. 2 des Konkordats. Die nicht abschlies-
sende Aufzählung von Straftatbeständen des StGB in Art. 2 Abs. 1
exemplifiziert, wann gewalttätiges Verhalten im Sinne des Konkor-
dats vorliegt. In Abs. 2 dieser Bestimmung wird der Begriff des
gewalttätigen Verhaltens gemäss Abs. 1 erweitert und gleichzeitig
wird der räumliche Rahmen dafür bestimmt: Als gewalttätiges Ver-
halten gilt die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch das Mit-
führen oder Verwenden von Waffen, Sprengmitteln, Schiesspulver
oder pyrotechnischen Gegenständen an Sportstätten, in deren Um-
gebung sowie auf dem An- und Rückreiseweg. In Art. 10 Satz 1 des
Konkordats ist statuiert, dass die zuständige Behörde für die Mass-
nahmen nach den Artikeln 4 bis 9 und die Zentralstelle den Orga-
nisatoren von Sportveranstaltungen empfehlen können, gegen Per-
sonen Stadionverbote auszusprechen, welche in Zusammenhang mit
einer Sportveranstaltung ausserhalb des Stadions gewalttätig wurden.
Aus Art. 4 Abs. 1 des Konkordats im gesetzessystematischen
Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 und Art. 10 des Konkordats geht
somit hervor, dass nicht nur gewalttätiges Verhalten in Sportstätten,
sondern auch in deren Umgebung sowie auf dem An- und Rückreise-
weg bzw. ausserhalb des Stadions, sofern ein Zusammenhang zur
Sportveranstaltung besteht, erfasst wird.
3.3.3.
Mittels einer historischen Auslegung ist der Wille des Gesetzge-
bers anhand der Materialien des Gesetzgebungsverfahrens zu ermit-
teln. Dem historischen Willen des Gesetzgebers kommt gerade bei
verhältnismässig jungen Gesetzen, wie dem vorliegenden, mit Blick
auf den Gesetzeszweck eine erhebliche Bedeutung zu (vgl. U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 218; zur Be-
grifflichkeit der massgeblichen Materialien: BGE 134 V 170, Erw.
4.1 mit Hinweisen).
Das Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren
Sicherheit vom 21. März 1997 (BWIS; SR. 120) wurde mit einem In-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
228
strumentarium an Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sport-
veranstaltungen mit Wirkung ab dem 1. Januar 2007 ergänzt. Die
Änderungen sahen unter anderem die Einführung des nationalen
Informationssystems HOOGAN sowie die Statuierung von Rayon-
verboten, Meldeauflagen und Polizeigewahrsam gegen gewalttätige
Personen vor, mit dem Ziel, das Sicherheitsdispositiv für die Durch-
führung der Fussballeuropameisterschaft EURO 2008 in der Schweiz
und in Österreich im Besonderen und von Sportveranstaltungen im
Allgemeinen zu ergänzen. Diese Massnahmen wurden wegen der
fragwürdigen Zuständigkeit des Bundes zeitlich begrenzt und per
Ende 2009 ausser Kraft gesetzt. Wegen der Befristung der bundes-
rechtlichen Massnahmen beschloss die Konferenz der kantonalen
Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJP) in der
Frühjahrsversammlung 2007 zur Weiterführung der erforderlichen
Massnahmen ein entsprechendes Konkordat zu schaffen. Am 15. No-
vember 2007 verabschiedete die Konferenz das Konkordat und un-
terbreiteten es den Kantonen zur Ratifizierung. Das Konkordat trat
im Kanton Aargau am 1. Januar 2010 in Kraft. Nachdem die befris-
teten Regelungen des BWIS und der entsprechenden Verordnung
(Verordnung über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit
vom 27. Juni 2001, VWIS; SR 120.2) im Wesentlichen in das Kon-
kordat übernommen wurden, sind für die historische Auslegung ins-
besondere auch die Unterlagen zum BWIS und VWIS heranzuzie-
hen.
Der Bundesrat hielt in seiner Botschaft zur Änderung des BWIS
unter dem Titel "Grundzüge der Vorlage" zunächst fest, dass die Vor-
lage im BWIS unter anderem Grundlagen für die Bekämpfung von
Gewalt im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen schaffe. Zudem
merkte der Bundesrat an, dass sich die Ausschreitungen nicht auf die
Stadien beschränkten, sondern rund um die Sportanlässe sowie in
den Innenstädten der Austragungsorte stattfänden, weshalb privat-
rechtliche Stadionverbote nur beschränkt wirksam seien (BBl 2005
5617). In Bezug auf die beantragten Massnahmen führte der Bundes-
rat aus, diese seien insgesamt ausgewogen und geeignet, der zuneh-
menden Gewalt im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen sowie
der Verbreitung von zu Gewalt aufrufender Propaganda entgegenzu-
2013
Polizeirecht
229
wirken (BBl 2005 5620). Weiter hielt der Bundesrat fest, dass sich
die vorgeschlagenen präventiven Massnahmen gezielt gegen Perso-
nen richteten, die den Behörden als gewalttätig bekannt seien. Diesen
Personen solle die Gelegenheit zur Ausübung von Gewalt genommen
werden, indem sie von Sportanlässen ferngehalten würden. Der Be-
zug der Gewalttätigkeit zu einer bestimmten Sportveranstaltung
werde durch die zeitliche und thematische Nähe zum Ereignis herge-
stellt (BBl 2005 5626). In seinen Erläuterungen der einzelnen Arti-
keln fügte der Bundesrat an, dass sich das Rayonverbot im konkreten
Fall beispielsweise auf Fussballstadien, in denen Spiele der Super-
und der Challenge League ausgetragen würden, auf sämtliche Sta-
dien, in denen Eishockey- oder Fussballspiele ausgetragen werden
könnten, oder zusätzlich auf Lokalitäten, in denen andere Sportver-
anstaltungen stattfänden, erstreckten. Mit der flexiblen Ausgestaltung
des räumlichen und zeitlichen Geltungsbereichs werde die Verhält-
nismässigkeit der Massnahme im Einzelfall gewährleistet. Ausser-
dem werde dadurch berücksichtigt, dass sich das Gewaltphänomen
auch auf andere Sportarten als Eishockey und Fussball ausweiten
könne. Die kantonalen Behörden bestimmten den geografischen
Raum des Verbots (Rayon) für jedes Stadion bzw. jeden Ort mit
Sportveranstaltungen einzeln. Das Verbot umfasse in jedem Fall nur
das öffentlich zugängliche Gebiet innerhalb des Rayons und solle so
festgelegt werden, dass etwa Lokale in der Nähe von Stadien, in
denen sich die gewaltbereiten Fans versammeln, miterfasst würden
(BBl 2005 5629 f.).
Die KKJP führte sodann in ihren Erläuterungen zum Konkordat
in Bezug auf Art. 2 Abs. 2 des Konkordats aus, dass im Gegensatz
zur ursprünglichen Fassung nicht nur Handlungen in Stadien oder
Hallen als gewalttätiges Verhalten, sondern solche an Sportstätten, in
deren Umgebung sowie auf dem An- und Rückreiseweg, gelten wür-
den. Mit dieser Ausdehnung der Definition des gewalttätigen Verhal-
tens könne die unbefriedigende Situation gelöst werden, dass bei
Kontrollen im Umfeld von Sportveranstaltungen das Mitführen oder
Verwenden gefährlicher Gegenstände toleriert werden müsse und ge-
gen die Gewalttäter erst beim oder nach Betreten der Sportstätten
vorgegangen werden könne. Zudem führte die KKJP aus, in Arti-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
230
kel 10 des Konkordats werde eine inhaltliche Ausdehnung der bishe-
rigen Bestimmungen des BWIS vorgenommen, die sich in der Praxis
als nötig erwiesen habe: Häufig verübten Personen, welche sich
innerhalb der Stadien friedlich verhalten, ausserhalb der Sportarenen
Gewalttätigkeiten. Eine nachhaltige präventive Wirkung könne er-
zielt werden, wenn auch in diesen Fällen Stadionverbote verhängt
würden. Deshalb müsse es den zuständigen Behörden möglich sein,
den Betreibern Stadionverbote zu empfehlen.
Auch in der Botschaft des Regierungsrates des Kantons Aargau
an den Grossen Rat vom 21. Mai 2008 betreffend das Konkordat
(GR 08.140) wurde zu Art. 2 Abs. 2 des Konkordats ausgeführt: "Ge-
mäss Art. 2 Abs. 2 des Konkordats gelten nicht nur Handlungen in
Stadien oder Hallen als gewalttätiges Verhalten, sondern solche an
Sportstätten, in deren Umgebung sowie auf dem An- und Rückreise-
weg. Bis anhin musste aufgrund der bestehenden Bestimmungen bei
Kontrollen im Umfeld von Sportveranstaltungen das Mitführen oder
Verwenden gefährlicher Gegenstände toleriert werden. Dement-
sprechend konnten die Polizeiorgane gegen Gewalttäter erst beim
oder nach Betreten der Sportstätten vorgehen. Diese unbefriedigende
Situation kann mit der vorgesehenen Ausdehnung der Definition des
gewalttätigen Verhaltens verhindert werden." Zudem wurde zu
Art. 10 des Konkordats angemerkt: "In Anwendung von Art. 10 des
Konkordats können die zuständigen Behörden oder die Zentralstelle
den Organisatoren von Sportveranstaltungen auch empfehlen, gegen
Personen Stadionverbote auszusprechen, welche in Zusammenhang
mit einer Sportveranstaltung ausserhalb des Stadions gewalttätig
wurden. Diese Ausdehnung hat sich in der Praxis als notwendig
erwiesen. Häufig verüben Personen, welche sich in den Stadien
friedlich verhalten, ausserhalb der Sportarenen Gewalttätigkeiten.
Dies gilt umso mehr, als die Sicherheitsvorkehrungen in den Stadien
gerade am grössten sind. Die Gewalttätigkeiten verlagern sich so oft-
mals auf den Umkreis von Stadien und in die Innenstädte der Austra-
gungsorte. Eine nachhaltige präventive Wirkung kann nur erzielt
werden, wenn auch in diesen Fällen Stadionverbote verhängt wer-
den."
2013
Polizeirecht
231
Die Materialien zum Konkordat zeigen einerseits deutlich auf,
dass nicht nur gegen Personen, die Gewalttätigkeiten innerhalb einer
Sportstätte begehen, ein Rayonverbot verfügt werden können soll,
sondern auch gegen diejenigen, die sich "lediglich im Zusammen-
hang" mit einer Sportveranstaltung gewalttätig verhalten. Aus dem
historischen Willen des Gesetzgebers ergibt sich, dass dieser Zusam-
menhang zwar bestehen muss, nicht aber, dass hierfür ein enger Be-
zug der Gewalttätigkeit zur Sportveranstaltung erforderlich ist. Ob
überhaupt ein Bezug zwischen der Gewalttätigkeit und der Sportver-
anstaltung besteht und wie stark dieser ist, lässt sich durch Bestim-
mung des zeitlichen, örtlichen und thematischen Zusammenhangs
der Gewalttätigkeit zur Sportveranstaltung eruieren (vgl. auch
BBl 2005 5626).
3.3.4.
Im Rahmen der teleologischen Auslegung ist unter Einbezug
der bisherigen Erwägungen der wahre Sinngehalt der zu beurteilen-
den Regelung zu ermitteln. Dabei wird auf die der Rechtsnorm zu-
grundeliegenden Zweckvorstellungen nach den Vorgaben des Ge-
setzgebers und die von diesem erkennbar getroffenen Wertentschei-
dungen abgestellt. Dem Willen des Gesetzgebers und dessen Wert-
entscheidungen kommt dabei eine grosse Bedeutung zu, da es sich
vorliegend um einen jungen Erlass handelt (vgl. U
LRICH
H
ÄFE
-
LIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 218).
Gemäss Art. 1 des Konkordats bezweckt das Konkordat die
frühzeitige Erkennung und Bekämpfung von Gewalt anlässlich von
Sportveranstaltungen. Gewalttätigkeiten im Umfeld von Sportveran-
staltungen sollen mit den speziellen Massnahmen von Rayonverbo-
ten, Meldeauflagen und Polizeigewahrsam verhindert und auf diese
Weise eine friedliche Durchführung von Sportanlässen ermöglicht
werden (vgl. BGE 137 I 31, Erw. 3). Die Massnahmen dienen allge-
mein dem Schutz von Sportveranstaltungen vor Gewalt und im Be-
sonderen dem Schutz individueller Rechtsgüter wie Leib und Leben,
Gesundheit, Freiheit und Eigentum. So sollen Personen, die den Be-
hörden als gewalttätig bekannt sind, die Gelegenheit zur Ausübung
von Gewalt durch die Fernhaltung von Sportveranstaltungen genom-
men und friedliche Sportfans sowie die öffentliche Sicherheit und
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
232
Ordnung geschützt werden (BBl 2005 5625). Dazu ist unabdingbar,
dass Massnahmen gegen gewalttätiges Verhalten nicht nur während
der Sportveranstaltung, sondern auch im Vorfeld oder im Nachgang
dazu getroffen werden können. Dabei soll der Bezug der Gewalt-
tätigkeit zu einer bestimmten Sportveranstaltung durch die zeitliche
und thematische Nähe zum Ereignis hergestellt werden (BBl 2005
5626).
Ziel der Bestimmung von Art. 4 Abs. 1 des Konkordats ist, Ge-
waltausübungen und Ausschreitungen im Zusammenhang mit Sport-
veranstaltungen durch die Auferlegung von Rayonverboten einzu-
dämmen und den dadurch entstehenden Beeinträchtigungen der
öffentlichen Ordnung und Sicherheit entgegenzuwirken. Gewalt an-
lässlich von Sportveranstaltungen soll frühzeitig erkannt und be-
kämpft werden können. Im Vordergrund steht dabei die Prävention,
die Verhinderung von Gewalttätigkeiten anlässlich von Sportveran-
staltungen (vgl. BGE 137 I 31, Erw. 4.3). So soll das Rayonverbot
der gewalttätigen Person untersagen, sich für eine bestimmte Zeit-
dauer, während der eine bestimmte Sportveranstaltung stattfindet, in-
nerhalb eines bestimmten Gebietes (Rayon) im Umfeld des Veran-
staltungsortes aufzuhalten (BBl 2005 5620).
Unter Einbezug des historischen Willens des Gesetzgebers ist
im Rahmen der teleologischen Auslegung davon auszugehen, dass
Personen, die sich im Zusammenhang mit einer Sportveranstaltung
gewalttätig verhalten, ein Rayonverbot auferlegt werden kann. Auch
mit Blick auf die teleologische Auslegung deutet nichts darauf hin,
dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalttätigkeit und der
Sportveranstaltung bestanden haben muss. Da jedoch selbstredend
nicht jede Gewalttätigkeit vor oder nach einer Sportveranstaltung
durch das Konkordat erfasst werden soll, ist auch hier als taugliches
Abgrenzungskriterium ein zeitlicher, räumlicher oder thematischer
Bezug zur Sportveranstaltung zu fordern.
3.3.5.
Die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 des Konkordats ergibt dem-
nach unter Berücksichtigung sämtlicher Auslegungsmethoden, dass
Personen, die sich im Zusammenhang mit einer Sportveranstaltung
gewalttätig verhalten, ein Rayonverbot auferlegt werden kann. Ein
2013
Polizeirecht
233
enger Bezug zwischen der Gewalttätigkeit und der Sportveranstal-
tung ist dabei nicht erforderlich. Ob ein rechtsgenüglicher Zusam-
menhang zwischen dem gewalttätigen Verhalten der betroffenen Per-
son und der Sportveranstaltung vorliegt, ist jeweils unter Berück-
sichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles aufgrund des zeit-
lichen, räumlichen und thematischen Zusammenhangs zwischen der
Gewalttätigkeit und der Sportveranstaltung zu bestimmen.
3.4.
3.4.1.
Zum zeitlichen Zusammenhang ist Folgendes festzuhalten: Das
Fussballspiel zwischen dem FC Aarau und dem FC Wohlen fand am
2. Juni 2013 ab 16.00 Uhr im Stadion Brügglifeld in Aarau statt und
dürfte unter Berücksichtigung der Spielzeit und der Halbzeitpause
um ca. 17.45 Uhr beendet gewesen sein. Gleichentags ab 19.00 Uhr
folgte auf dem Aargauerplatz in Aarau die offizielle Meisterfeier
bzw. Aufstiegsfeier des FC Aarau. Ab 21.00 Uhr fand in der KBA
eine Party statt, an welcher einige Spieler und Anhänger des FC Aa-
rau teilnahmen. Kurz nach 23.00 Uhr zündete der Beschwerdeführer
innerhalb der KBA eine Handlichtfackel, worauf die Angestellten
eines Sicherheitsdienstes einschritten und das Clublokal räumten.
Zunächst ist festzuhalten, dass zwischen dem Ende des Fuss-
ballspiels und dem Zeitpunkt der durch den Beschwerdeführer be-
gangenen Gewalttätigkeit in der KBA eine Dauer von lediglich fünf
Stunden liegt. Zudem fanden sowohl das Fussballspiel, als auch die
Meister- bzw. Aufstiegsfeier auf dem Aargauerplatz sowie die Party
in der KBA gleichentags sowie in einer sich aneinanderreihenden
und zeitlich aufeinander abgestimmten Abfolge statt. Damit bildeten
alle drei Ereignisse in zeitlicher Hinsicht eine Einheit, mithin eine
"Ereigniskette". Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Fuss-
ballspiel und dem gewalttätigen Verhalten des Beschwerdeführers in
der KBA ist damit gegeben.
3.4.2.
In räumlicher Hinsicht hält Art. 2 Abs. 2 des Konkordats fest,
dass die Gewalttätigkeit in der Sportstätte selbst, in deren Umgebung
oder auf dem An- bzw. Rückreiseweg begangen worden sein muss.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
234
Zwischen dem Stadion Brügglifeld und dem Clublokal KBA be-
steht eine räumliche Distanz von ca. zwei Kilometern (Fussweg).
Damit ist das KBA als "in der Umgebung" der Sportstätte, nament-
lich des Stadions Brügglifeld, im Sinne von Art. 2 Abs. 2 des
Konkordats zu qualifizieren. Daran ändert auch nichts, dass das Sta-
dion Brügglifeld grösstenteils auf Boden der Gemeinde Suhr steht
und die offizielle Aufstiegsfeier sowie die Party in der KBA auf dem
Gebiet der Stadt Aarau stattfanden, zumal nicht das Gemeindegebiet
für die Begrifflichkeit der Umgebung massgebend ist, sondern die
tatsächliche räumliche Nähe.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers kann er aus dem
Umstand, dass Art. 2 Abs. 2 des Konkordats auch Gewalttätigkeiten
auf dem Rückreiseweg umfasst, nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Einerseits stellt die Erwähnung des Rückreisewegs im Verhältnis zur
Sportstätte und zur Umgebung der Sportstätte lediglich eine räumli-
che Ausweitung des potentiellen Tatortes dar, andererseits hat der
Beschwerdeführer seine Rückreise klarerweise noch nicht abge-
schlossen, da diese regelmässig am Wohnort des Betroffenen endet
und im vorliegenden Fall nichts darauf hindeutet, dass die Rückreise
des Beschwerdeführers nicht an seinem Wohnort enden sollte.
Damit ist auch der räumliche Zusammenhang zwischen dem
Fussballspiel und der Gewalttätigkeit des Beschwerdeführers in der
KBA als erfüllt zu betrachten.
3.4.3.
In Bezug auf den thematischen Zusammenhang ist vorab festzu-
halten, dass ein solcher zwischen dem Fussballspiel und der offi-
ziellen Aufstiegsfeier auf dem Aargauerplatz klarerweise gegeben ist.
Das Fussballspiel am 2. Juni 2013 war für den FC Aarau das letzte
der Meisterschaft in der Challenge League der Saison 2012/2013.
Nach dessen Ende stand offiziell fest, dass der FC Aarau in die Super
League aufsteigen wird. Der FC
Aarau informierte bereits am
31. Mai 2013 in einer gemeinsamen Medienmitteilung mit dem Kan-
ton Aargau, der Stadt Aarau und den Polizeiorganen auf seiner
Homepage darüber, dass "am nächsten Sonntag, 2. Juni 2013 die
offizielle Meisterfeier direkt im Anschluss an das Heimspiel gegen
den FC Wohlen (Brügglifeld, Anpfiff: 16.00 Uhr)" folge, und orien-
2013
Polizeirecht
235
tierte im Weiteren über den Ablauf und die Organisation der
Feierlichkeiten, beispielsweise darüber, dass Stadtrat Beat Blattner
und Regierungsrat Alex Hürzeler eine Ansprache halten und die
Spieler des FC Aarau sowie der Meisterschaftspokal präsentiert wür-
den (...).
Am 1. Juni 2013 erfolgte zudem auf der Homepage des
FC Aarau eine Mitteilung, wonach der FC Aarau "am Sonntag nach
der Meisterfeier auf dem Aargauer Platz in der KBA weiterfeiern"
und das Clublokal zwischen 21.00 Uhr und 01.00 Uhr "ausseror-
dentlich für die Verlängerung der Aarauer Aufstiegsfeierlichkeiten"
geöffnet haben werde. Gleichzeitig wurde darüber informiert, dass
die erste Mannschaft des FC Aarau ab 22.00 Uhr dort anwesend sein
werde und alle Fans des FC Aarau einlade, den Aufstieg gemeinsam
zu feiern. Auch das Clublokal KBA kündigte auf dem sozialen Netz-
werk Facebook die Party am 2. Juni 2013 als "offizielle Aufstiegs-
party" an. Ferner warben die Veranstalter Pop Art auf ihrer Home-
page mit der "Aufstiegsfeier" in der KBA. Ergänzend wurde die Par-
ty auf anderen Veranstaltungsplattformen, wie beispielsweise auf
www.usgang.ch oder www.partyguide.ch, als "Aufstiegsfeier des
FC Aarau" angekündigt (...).
Schliesslich ist einer Aktennotiz der Vorinstanz vom 20. August
2013 zu entnehmen, dass der Geschäftsführer der Pop Art gegenüber
der Kapo mitgeteilt hatte, die Meister- bzw. Aufstiegsfeier des
FC Aarau sei zwischen dem Captain des FC Aarau und dem Ge-
schäftsführer der KBA telefonisch vereinbart und das Clublokal KBA
eigens für die Meisterfeier geöffnet worden.
Die Party in der KBA wurde demnach im Hinblick auf das
letzte Fussballspiel des FC Aarau in der Challenge League der Saison
2012/2013 und dem gleichzeitig damit einhergegangenen offiziellen
Aufstieg in die Super League sowohl von Seiten des FC Aarau als
auch vom Geschäftsführer des KBA organisiert und durchgeführt.
Somit steht fest, dass - entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers
- auch der thematische Zusammenhang zwischen dem Fussballspiel
und seinem gewalttätigen Verhalten in der KBA gegeben ist.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
236
3.5
Nach dem Gesagten ist festzuhalten, dass das Abbrennen einer
Handlichtfackel durch den Beschwerdeführer in der KBA in zeitli-
cher, räumlicher und thematischer Hinsicht in derart engem Zusam-
menhang zum Fussballspiel des FC Aarau vom 2. Juni 2013 im Sta-
dion Brügglifeld steht, dass ein rechtsgenüglicher Zusammenhang
zwischen der Gewalttätigkeit und der Sportveranstaltung vorliegt
und die Gewalttätigkeit als anlässlich einer Sportveranstaltung im
Sinne von Art. 4 Abs. 1 des Konkordats zu qualifizieren ist. Das
Konkordat gelangt demzufolge vorliegend zur Anwendung.
3.6. (...)
4.
4.1. - 4.2. (...)
4.3.
Soweit Rayonverbote Freiheitsrechte, wie vorliegend die Bewe-
gungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf Privatleben,
einschränken, bedürfen sie einer gesetzlichen Grundlage (Art. 36
Abs. 1 BV), müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den
Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein (Art. 36 Abs. 2
BV) und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren (Art. 36
Abs. 3 BV).
(...)
4.3.1.
Die Vorinstanz verfügte gegenüber dem Beschwerdeführer ein
Rayonverbot gestützt auf Art. 4 und 5 des Konkordats. Das Konkor-
dat bildet nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine hinrei-
chende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen von Grundrech-
ten im Sinne von Art. 36 Abs. 1 BV (BGE 137 I 31, Erw. 6.3 mit
weiteren Hinweisen).
4.3.2.
Es besteht ein ebenso offensichtliches wie gewichtiges öffentli-
ches Interesse daran, Gewalttätigkeiten anlässlich von Sportveran-
staltungen zu verhindern. Die mit den Polizeimassnahmen ange-
gangenen Gewalttätigkeiten berühren öffentliche Interessen, sowohl
im Hinblick auf Störungen und Gefährdungen der öffentlichen Ord-
nung wie auch mit Blick auf den erforderlichen Einsatz von Sicher-
2013
Polizeirecht
237
heitskräften. Gleichermassen sind unbeteiligte Besucher und Ver-
anstalter von Sportveranstaltungen durch Gewalttätigkeiten in ihren
privaten Interessen beeinträchtigt und in ihren Grundrechten betrof-
fen. Damit ist die Auferlegung von Rayonverboten gegenüber Perso-
nen, die anlässlich von Sportveranstaltungen Gewalttätigkeiten bege-
hen, im Sinne von Art. 36 Abs. 2 BV durch öffentliche Interessen
und den Schutz von Grundrechten Dritter klarerweise gerechtfertigt.
4.3.3. (...)
4.3.3.1.
Rayonverbote sind geeignet, Personen, von denen Gewalttätig-
keiten ausgehen könnten, sowohl von der Umgebung der Stadien als
auch von den Bahnhöfen und Örtlichkeiten, welche zur Hin- und
Rückfahrt benutzt werden, bzw. an denen potentiell Gewalttätigkei-
ten begangen werden, fernzuhalten. Damit wird in effizienter Weise
verhindert, dass die betroffenen Personen in jene Gebiete gelangen,
wo es erfahrungsgemäss besonders häufig zu Gewalttätigkeiten
kommt (BGE 137 I 31, Erw. 6.5).
4.3.3.2.
Wie bereits festgehalten, muss die Verwaltungsmassnahme im
Hinblick auf das im öffentlichen Interesse angestrebte Ziel erforder-
lich sein und darf in persönlicher, sachlicher, zeitlicher, und räumli-
cher Hinsicht nicht weiter gehen, als es der polizeiliche Zweck erfor-
dert.
In diesem Zusammenhang ist zunächst Folgendes festzuhalten:
Der kaskadenartige Aufbau der polizeilichen Massnahmen im
Konkordat gewährleistet grundsätzlich, dass abhängig von der Ein-
griffsintensität in die Grundrechte stets das mildeste Mittel ergriffen
werden kann, um den Zweck der Massnahmen zu erreichen (vgl.
BBl 2005 5639). Das Rayonverbot bildet aus Sicht der Grundrechts-
beeinträchtigung die mildeste der vom Konkordat vorgesehenen
Massnahmen zur Verhinderung von Gewalt anlässlich von Sportver-
anstaltungen. Die Meldeauflage gemäss Art. 6 des Konkordats greift
stärker in die Grundrechte ein; sie wird nur angeordnet, soweit ein
Rayonverbot missachtet worden ist (Art. 6 Abs. 1 lit. a des Konkor-
dats). Die schärfste Massnahme, ausgestaltet als "ultima ratio", ist
schliesslich der Polizeigewahrsam nach Art. 8 des Konkordats (vgl.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
238
BBl 2005 5634), bei welcher Voraussetzung ist, dass der Gewahrsam
als einzige Möglichkeit erscheint, die betroffene Person von der
Beteiligung an Gewalttätigkeiten abzuhalten (Art. 8 Abs. 1 lit. b des
Konkordats).
Da sich das Rayonverbot direkt gegen den Beschwerdeführer
richtet, der durch sein Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ord-
nung gestört und gefährdet hat (sog. Störerprinzip), reicht dieses in
persönlicher Hinsicht nicht über das angestrebte Ziel hinaus.
In zeitlicher Hinsicht dürfen Massnahmen nur so lange dauern,
als es notwendig ist, um das damit angestrebte Ziel zu erreichen. Das
Rayonverbot wurde für die Dauer vom 2. Juni 2013 bis 1. Juni 2014
jeweils drei Stunden vor Beginn bis drei Stunden nach Ende eines
Heimspiels (Meisterschafts-, Schweizercup- oder Freundschaftsspiel)
der ersten Mannschaft des FC Aarau (Super League Team), der ers-
ten Mannschaft des FC Wohlen (Challenge League Team) sowie der
ersten Mannschaft des FC Baden (1. Liga Classic) ausgesprochen.
Die Auferlegung des Rayonverbots für die Dauer von einem Jahr so-
wie die Zeitspanne von je drei Stunden vor und nach einem Fussball-
spiel erscheinen im vorliegenden Fall, insbesondere in Anbetracht
des grossen Gefährdungspotentials des Beschwerdeführers, als ange-
messen.
Das Rayonverbot beschlägt sämtliche Heimspiele der ersten
Mannschaften des FC Aarau, FC Wohlen und FC Baden. Diesbezüg-
lich ist anzumerken, dass der FC Aarau in der laufenden Fussballsai-
son in der Super League spielt und damit während der regulären
Meisterschaft nicht gegen die Fussballclubs von Wohlen (Challenge
League) und Baden (1. Liga Classic) antritt. Eine Ausdehnung des
Rayonverbots auf Gebiete, welche sich auf Fussballclubs in unteren
Spielklassen beziehen, ist in sachlicher Hinsicht in der Regel nicht
erforderlich. Es besteht vorliegend denn auch nicht die gleich grosse
Gefahr, dass sich der zum FC Aarau bekennende Beschwerdeführer
bei Heimspielen des FC Wohlen und FC Baden gewalttätig verhalten
würde, ohne dass der FC Aarau involviert wäre. Ausschreitungen
sind in erster Linie bei Fussballspielen der ersten Mannschaft des
FC Aarau, namentlich bei Heimspielen oder bei Auswärtsspielen ge-
gen den FC Wohlen oder FC Baden im Rahmen des Schweizercups
2013
Polizeirecht
239
oder anlässlich von Freundschaftsspielen, zu befürchten. Das Rayon-
verbot ist deshalb gestützt auf § 49 VRPG insofern anzupassen, als
dass es nur auf Heimspiele der ersten Mannschaft des FC Aarau so-
wie auf Heimspiele der ersten Mannschaften des FC Wohlen und
FC Baden, sofern diese gegen die erste Mannschaft des FC Aarau
spielen, zu beschränken ist.
Damit das Rayonverbot dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz in
räumlicher Hinsicht ausreichend Rechnung trägt, muss die Anzahl
der vom Verbot erfassten Gebiete auf das tatsächlich zur Zielerrei-
chung notwendige Minimum beschränkt sein. Dem Beschwerdefüh-
rer wurde ein Rayonverbot für die Gebiete des Rayons 1 "Aarau",
des Rayons 2 "Wohlen", des Rayons 3 "Esp" und des Rayons 4 "Ba-
den" auferlegt. Der Verfügung wurde sowohl ein Plan als auch eine
Liste mit Strassen bzw. geografischen Ortsbezeichnungen beigelegt,
aus welchen unmissverständlich hervorgeht, welches Gebiet durch
den Beschwerdeführer nicht betreten werden darf. In diesem Zusam-
menhang ist jedoch zu beachten, dass nach dem Wortlaut der Verfü-
gung das Rayonverbot für alle vier Rayons gilt, auch wenn nur ein
Fussballspiel der erwähnten Mannschaften stattfindet und damit in
räumlicher Hinsicht nur ein Rayon betroffen ist. So würde beispiels-
weise ein Verbot für den Rayon Aarau auch bei einem Heimspiel der
ersten Mannschaft des FC Wohlen gelten, was jedoch kaum dem Ziel
und Zweck des Konkordats entspricht, da diesfalls im fraglichen Ge-
biet keine ernsthafte Gefahr gewalttätiger Ausschreitungen bestehen
dürfte. Daher erscheint es vorliegend sachgerecht, das Rayonverbot
gestützt auf § 49 VRPG jeweils auf den Rayon zu beschränken, in
welchem das jeweilige Fussballspiel stattfindet. Das Rayonverbot ist
dahingehend ebenfalls anzupassen.
4.3.3.3.
Eine Verwaltungsmassnahme ist nur gerechtfertigt, wenn sie ein
vernünftiges Verhältnis zwischen dem angestrebten Ziel und dem
Eingriff, den für den betroffenen Privaten bewirkt, wahrt. Die Mass-
nahme muss durch ein das private Interesse überwiegendes öffentli-
ches Interesse gerechtfertigt sein (Verhältnismässigkeit im engeren
Sinne).
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
240
Die mit den Polizeimassnahmen angegangenen Gewalttätigkei-
ten berühren öffentliche Interessen, sowohl im Hinblick auf Störun-
gen und Gefährdungen der öffentlichen Ordnung wie auch mit Blick
auf den erforderlichen Einsatz von Sicherheitskräften. Gleichermas-
sen sind unbeteiligte Besucher und Veranstalter von Sportveran-
staltungen durch Gewalttätigkeiten in ihren privaten Interessen
beeinträchtigt und in ihren Grundrechten betroffen. Diese öffentli-
chen Interessen stehen den privaten Interessen des Beschwerdefüh-
rers entgegen, sich während bestimmten Zeiten an bestimmten Ört-
lichkeiten aufhalten zu dürfen.
Dem Beschwerdeführer wird durch das ihm auferlegte Rayon-
verbot untersagt, für die Dauer vom 2. Juni 2013 bis 1. Juni 2014
jeweils drei Stunden vor Beginn bis drei Stunden nach Ende eines
Heimspiels (Meisterschafts-, Schweizercup- oder Freundschaftsspiel)
der ersten Mannschaft des FC Aarau (Super League Team), der
ersten Mannschaft des FC Wohlen (Challenge League Team) sowie
der ersten Mannschaft des FC Baden (1. Liga Classic) die Rayons 1
bis 4 zu betreten. Dabei ist zu bedenken, dass alleine der FC Aarau
während der laufenden Fussballsaison in der Super League 18 Heim-
spiele bestreiten wird. Dies hätte zur Folge, dass der Beschwerdefüh-
rer, unter Berücksichtigung der Heimspiele des FC Aarau, FC Woh-
len und FC Baden in der Meisterschaft - Schweizercup- und Freund-
schaftsspiele ausgenommen - rund 54 Tage im Jahr alle vier Rayons
während ca. acht Stunden nicht betreten dürfte. Diese Auswirkung
würde indes unter Berücksichtigung des vom Beschwerdeführer aus-
gehenden Gefährdungspotentials kein vernünftiges Verhältnis mehr
zwischen dem angestrebten Ziel und dem Eingriff für den Beschwer-
deführer darstellen. Auch unter diesem Aspekt ist das Rayonverbot
deshalb nur auf Heimspiele der ersten Mannschaft des FC Aarau
sowie auf Heimspiele der ersten Mannschaften des FC Wohlen und
FC Baden, sofern diese gegen die erste Mannschaft des FC Aarau
spielen, sowie jeweils auf den Rayon, in welchem das jeweilige
Fussballspiel stattfindet, zu beschränken.
Unter Berücksichtigung dieser Anpassungen sind die zuvor er-
wähnten öffentlichen Interessen höher zu gewichten, als die durch
die polizeiliche Massnahme des Rayonverbots betroffenen privaten
2013
Polizeirecht
241
Interessen des Beschwerdeführers. Damit erweist sich das Rayonver-
bot auch als verhältnismässig im engeren Sinne.
5.
Zusammenfassend ist die Beschwerde dahingehend gutzuheis-
sen, dass das gegen den Beschwerdeführer verfügte Rayonverbot nur
auf Heimspiele der ersten Mannschaft des FC Aarau sowie auf Heim-
spiele der ersten Mannschaften des FC Wohlen und FC Baden, sofern
diese gegen die erste Mannschaft des FC Aarau spielen, sowie je-
weils auf den Rayon, in welchem das jeweilige Fussballspiel stattfin-
det, beschränkt wird. Im Übrigen erweist sich die Beschwerde als un-
begründet und ist abzuweisen. | 8,487 | 6,915 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-40_2013-10-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-40.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-40.pdf | AGVE_2013_40 | null | nan |
3fa5adb1-3633-5c81-95e3-c493f5d0a538 | 1 | 412 | 870,794 | 1,196,726,400,000 | 2,007 | de | 2007
Verwaltungsgericht
194
45
Unentgeltliche Rechtsverbeiständung in Sozialhilfeverfahren.
-
Wahrt eine Kürzung die Existenzsicherung nach § 15 Abs. 2 SPV, ist
die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters nur dann gebo-
ten, wenn besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten
hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht
gewachsen wäre.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 14. Dezember 2007 in Sa-
chen M.L. gegen das Bezirksamt Brugg (WBE.2007.291).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Ob eine unentgeltliche Rechtsvertretung sachlich notwendig ist,
beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Die
bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung,
wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und
der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten
bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen.
Droht das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechts-
position der betroffenen Person einzugreifen, ist die Bestellung eines
unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten, sonst nur
dann, wenn zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche
oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Ge-
suchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre
(BGE 130 I 180 Erw. 2.2).
3.2.
Im angefochtenen Beschluss hat der Stadtrat X. während sechs
Monaten den Grundbedarf I des Beschwerdeführers und seiner Ehe-
frau um 30 % und den Grundbedarf II vollständig gekürzt. Eine Kür-
zung in diesem Umfang stellt keinen besonders schweren Eingriff
dar, zumal die Existenzsicherung i.S.v. § 15 Abs. 2 SPV gewahrt
bleibt. Die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters ist des-
2007
Sozialhilfe
195
halb nur dann geboten, wenn sich besondere tatsächliche oder recht-
liche Schwierigkeiten stellen.
Der Stadtrat X. hat die Kürzung der Sozialhilfe damit begrün-
det, der Beschwerdeführer habe gegen die Mitwirkungs- und Melde-
pflicht verstossen, indem er die Fragen im Schreiben des Stadtrats X.
vom 26. Juni 2007, welche der Berechnung des Lebensunterhalts für
die Monate Juni und Juli 2007 dienen sollten, nicht oder nur ungenü-
gend beantwortet habe. Es handelte sich dabei um Fragen betreffend
den Aufenthalt der Ehefrau und des Kindes nach dem Vorfall von
häuslicher Gewalt, die Daten der Semesterferien 2007 und die Ar-
beitsbemühungen in dieser Zeit, die Bemühungen um zinslose Dar-
lehen sowie die Prüfungsergebnisse und Semesterzeugnisse. Im Zu-
sammenhang mit der Kürzung der Sozialhilfe stellen sich somit
keine besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten.
Soweit der Beschwerdeführer darauf hinweist, er sei nicht deutscher
Muttersprache, so ergibt sich aus den diversen Eingaben des Be-
schwerdeführers an die Sozialbehörde, das Bezirksamt Brugg und
das Verwaltungsgericht, dass seine Deutschkenntnisse ausreichen,
um die Vorwürfe des Stadtrats X. zu verstehen und dazu Stellung zu
nehmen. Die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters ist
deshalb nicht notwendig, und die Vorinstanz hat das Gesuch des Be-
schwerdeführers zu Recht abgewiesen. | 652 | 541 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-45_2007-12-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-45.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-45.pdf | AGVE_2007_45 | null | nan |
40298b15-9625-5e2f-b744-1fda0471d2c7 | 1 | 412 | 871,080 | 1,065,225,600,000 | 2,003 | de | 2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
147
[...]
42
Bedeutung von Gutachten der Eidgen. Natur- und Heimatschutzkommis-
sion (ENHK) nach Art. 17a NHG; Mitwirkungsrechte im Verwaltungs-
verfahren.
- Die ENHK kann auf Ersuchen oder mit Zustimmung eines Kantons
zu Vorhaben im kantonalen Aufgabenbereich tätig werden (Erw. 6/b).
- Keine Beeinträchtigung der formellen Mitwirkungsrechte, wenn ein
Gutachter Ortsbesichtigungen zu seiner Orientierung im Gelände und
ohne Anwesenheit der Parteien durchführt (Erw. 6/d und e).
- Gutachten der ENHK unterliegen der freien Beweiswürdigung und
können die für eine Interessenabwägung notwendigen Sachverhalts-
feststellungen, insbesondere für die Abgrenzung einer Naturschutz-
zone, nicht ersetzen (Erw. 7/b und d).
2004
Verwaltungsgericht
148
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 22. Oktober 2003 in Sa-
chen F. AG gegen den Genehmigungsentscheid des Grossen Rates vom 16. Ja-
nuar 2001 und den Entscheid des Regierungsrates vom 17. Mai 2000.
Aus den Erwägungen
6. Der Beschwerdeentscheid begründet die Zuweisung zur Na-
turschutzzone Magerwiese ergänzend mit dem Gutachten der ENHK
vom 17. Februar 1999. Gegen dieses Gutachten erheben die Be-
schwerdeführerinnen formelle Rügen und machen geltend, der
ENHK fehle die gesetzliche Kompetenz und Legitimation zur Er-
stattung eines Gutachtens für das umstrittene Gebiet. Vor der Ex-
pertenernennung hätte keine Anhörung stattgefunden noch hätten die
Beschwerdeführerinnen an der Begehung durch die Mitglieder der
Kommission teilnehmen können.
a) Der durch Art. 29 Abs. 2 BV und § 15 VRPG gewährleistete
Anspruch auf rechtliches Gehör dient einerseits der Sachaufklärung
und garantiert andererseits den Betroffenen ein persönlichkeitsbezo-
genes Mitwirkungsrecht im Verfahren. Dazu gehört nach der Recht-
sprechung, dass sich die Betroffenen vor Erlass des Entscheids zur
Sache äussern, erhebliche Beweise beibringen, Einsicht in die Akten
nehmen und an der Erhebung von Beweisen entweder mitwirken
oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern können, wenn
dieses geeignet ist, einen Entscheid zu beeinflussen (BGE 127 I 56;
AGVE 1997, S.
373; VGE IV/11 vom 16.
Mai 2003
[BE.2002.000127] in Sachen H. und Mitb., S. 11; Michele Albertini,
Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Ver-
waltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 2000, S. 259
mit Hinweisen; Reinhold Hotz, in: Bernhard Ehrenzeller/Philippe
Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender, Die schweize-
rische Bundesverfassung, Kommentar, Zürich/Basel/Genf 2002
[Kommentar BV], Art. 29 N 23 ff.; René Rhinow/Heinrich Kol-
ler/Christina Kiss, Öffentliches Prozessrecht und Justizverfassungs-
recht des Bundes, Basel 1996, Rz. 285). Der verfassungsrechtliche
Anspruch auf Mitwirkung am Beweisverfahren umfasst die Teilan-
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
149
sprüche, Beweisanträge zu stellen, an den Beweiserhebungen teilzu-
nehmen und sich zum Ergebnis des Beweisverfahrens zu äussern
(Hotz, a.a.O., Art. 29 N 33 mit Hinweisen; BGE 126 I 16 und
BGE 126 V 131 f.). Im Verwaltungsverfahren gilt das Mitwirkungs-
oder Äusserungsrecht des Betroffenen namentlich im Zusammen-
hang mit der Durchführung eines Augenscheins (BGE 121 V 152 f.;
AGVE 1999, S. 361 ff.; 1986, S. 337). Hinsichtlich der Anordnung
einer verwaltungsexternen Expertise im Verwaltungsverfahren, deren
Aufgabe es ist, den konkreten Sachverhalt festzustellen und/oder zu
würdigen, sind mangels weitergehender kantonaler Verfahrensregeln
die Minimalanforderungen der verfassungsrechtlichen Garantie ein-
zuhalten. § 22 VRPG bindet die Verwaltungsbehörden bei der Be-
weiserhebung nicht wie das Verwaltungsgericht an die Verfahrensre-
geln der Zivilprozessordnung (§ 22 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 e con-
trario VRPG; AGVE 1986, S. 336). Auch aus § 15 VRPG ergeben
sich für das Verfahren der Experteninstruktion und die Tätigkeit der
Experten keine zusätzlichen Mitwirkungsrechte der Betroffenen.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts hält im
Verwaltungsverfahren eine Beweiserhebung mittels Expertise vor der
Verfassung stand, wenn den Betroffenen das Äusserungsrecht nach
Erstattung des Gutachtens eingeräumt wird, die Experten vor
Bestellung und Erstattung des Gutachtens förmlich in Pflicht
genommen werden und die Betroffenen bei der Instruktion teilneh-
men können (AGVE 1999, S. 361 f. mit Hinweisen).
b) Gemäss Art. 17a NHG erstattet die ENHK Gutachten, wo es
sich nicht um die Erfüllung einer Bundesaufgabe handelt. Die Be-
stimmung wurde vom Bundesrat in Art. 25 Abs. 1 lit. e NHV wie
folgt konkretisiert:
"Sie [ENHK und EKD] erstatten besondere Gutachten (Art. 17a NHG), sofern
ein Vorhaben, das keine Bundesaufgabe nach Art. 2 NHG darstellt, ein Objekt
beeinträchtigen könnte, das in einem Inventar des Bundes nach Art. 5 NHG aufge-
führt oder anderweitig von besonderer Bedeutung ist."
Das Bundesrecht unterscheidet damit Gutachten nach Art. 17a
NHG von den obligatorischen und fakultativen Gutachten nach Art. 7
und 8 NHG, wo es um die Erfüllung von Bundesaufgaben geht und
die ENHK oder auf Ersuchen des BUWAL eine kantonale Fachstelle
2004
Verwaltungsgericht
150
oder ein kantonales Organ (Art. 9 NHG) zur Erstattung einer
Expertise verpflichtet sind oder werden können und die ENHK von
Amtes wegen tätig wird. Die Gutachten nach Art. 17a NHG, welche
nicht die Erfüllung einer Bundesaufgabe beinhalten, setzen entweder
die Beeinträchtigung eines Bundesinventars oder ein Objekt von
anderweitig besonderer Bedeutung voraus (Jörg Leimbacher,
Kommentar NHG, Art. 17a N 1 ff.). Art. 17a NHG und Art. 25 Abs. 1
lit. e NHV umschreiben aber die Zuständigkeit der ENHK nicht ab-
schliessend und schliessen insbesondere nicht aus, dass die ENHK
tätig wird und dabei feststellt, dass keine Objekte der Bundesinven-
tare oder solche von besonderer Bedeutung beeinträchtigt sind. Die
ENHK kann in diesem Sinn und auf Ersuchen oder mit Zustimmung
eines Kantons auch beratend tätig werden, ohne dass die Vorausset-
zungen von Art. 17a NHG und Art. 25 Abs. 1 lit. e NHV erfüllt sind
(ähnlich Leimbacher, a.a.O., Art. 17a N 6 f.). Mit andern Worten ha-
ben die gesetzlichen Zuständigkeitsregeln nur die Bedeutung, dass
die ENHK oder das BUWAL eine Expertentätigkeit der Kommission
ablehnen kann, wenn die Voraussetzungen von Art. 17a NHG i.V.m.
Art. 25 Abs. 1 lit. e NHV nicht gegeben sind.
c) Der Regierungsrat und die ENHK stützen sich für die Legi-
timation des Gutachtens vom 17. Februar 1999 auf den Umstand,
dass auf Grund der bis zum Expertenauftrag vorhandenen Grundla-
gen und den vorgenommenen Abklärungen zumindest ein kantonales
Interesse bestehe und ein bundesweites Interesse nicht von vorn-
herein ausgeschlossen bzw. denkbar sei. Der Sekretär der ENHK hat
anlässlich der Orientierungsversammlung vom 2. Dezember 1998 für
das Gutachten vom 17. Februar 1999 zudem ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass die ENHK auch Gutachten erstellt zu Vorhaben,
die in den kantonalen Aufgabenbereich fallen und nicht unbedingt
Schutzgebiete von nationaler Bedeutung betreffen. Die Kommission
sieht ihre Funktion vorliegend auch vornehmlich in einer beratenden
Tätigkeit zuhanden des Regierungsrats zur Begutachtung der von der
Verwaltung festgestellten Naturschutzaspekte und in der Abgabe von
Empfehlungen. Mit dieser Einschränkung und insoweit entgegen der
im Beschwerdeentscheid geäusserten Auffassung ist mit der Tätigkeit
der ENHK im vorliegenden Verfahren weder die Beeinträchtigung
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
151
eines im Bundesinventar nach Art. 5 NHG aufgeführten oder eines
anderweitig als von besonderer Bedeutung betrachteten Naturobjekts
impliziert. Anderseits untersteht das Gutachten der ENHK der freien
Beweiswürdigung (BGE 125 II 602; Urteil des Bundesgerichts vom
22. Juli 1999, in: Umweltrecht in der Praxis [URP] 1999, S. 794 ff.).
Dabei ist insbesondere den Umständen und dem Inhalt eines Gut-
achtens nach Art. 17a NHG, welches im Sinne der guten Dienste ei-
ner Bundesbehörde erstellt wurde, Rechnung zu tragen. Mit andern
Worten ist die Frage, ob die ENHK zu Recht oder zu Unrecht das
Gutachten erstattet hat, vom Problem der Verbindlichkeit des vorlie-
genden Gutachtens der ENHK zu unterscheiden.
d) Nach § 22 Abs. 1 VRPG kann die Verwaltungsbehörde zur
Abklärung eines Sachverhalts Expertisen anordnen.
aa) Von den Beschwerdeführerinnen wird die fachliche Kom-
petenz der ENHK zu Recht nicht in Frage gestellt. Ob die ENHK auf
Grund von Art. 17a NHG und Art. 25 Abs. 1 lit. e NHV berechtigt
war, ein Gutachten zu erstellen, ist eine Frage, die im Verhältnis der
ENHK zur zuständigen Bundesbehörde relevant sein kann, nicht aber
für die Zulässigkeit ihrer Expertentätigkeit im Beschwerdeverfahren
vor dem Regierungsrat. Die Stellung der ENHK als beratende Kom-
mission des Bundes sowie ihre Organisation mit der Wahl durch den
Bundesrat (Art. 25 Abs. 1 NHG und Art. 24 Abs. 1 NHV) erfordern
auch nicht, dass die Mitglieder der ENHK förmlich in Pflicht genom-
men werden.
bb) Der Gutachterauftrag wurde vom damaligen Vorsteher des
Baudepartements am 12. Januar 1998 ohne vorherige Anfrage bei
den betroffenen Grundeigentümern in Auftrag gegeben. Sämtliche
Beteiligten hatten aber die Gelegenheit, Ergänzungsfragen zu stellen.
Das Baudepartement teilte sodann mit Schreiben vom 2. Juli 1998
allen Beteiligten mit, dass am 23. Juli 1998 eine Begehung durch
eine Delegation der ENHK und zwei weitere Begehungen zu einem
späteren Zeitpunkt stattfinden werden. Den Verfahrensbeteiligten
wurde auch mitgeteilt, sie würden nachträglich Gelegenheit haben,
zum Bericht der ENHK schriftlich Stellung zu nehmen. Weitere Be-
gehungen der Experten fanden am 19. und 22. Juli, 6. August und
4. September 1998 im Gebiet "Bruggerberg" statt. Der Experte K.
2004
Verwaltungsgericht
152
führte an der Orientierungsversammlung vom 2. Dezember 1998
hiezu aus, dass er sich bei seinen verschiedenen Begehungen ein Bild
über die hier "zugängliche Grünlandvegetation, welche seinen
Niederschlag auf der vorliegenden Vegetationskarte gefunden habe",
verschafft habe. Auf dieser Karte sei ersichtlich, wo die Arten, die
der Kanton als typische Arten von geschützten, trockenen Lebens-
räumen bezeichnet, vorkommen. Es würden sich aber auch Arten fin-
den, die gemäss Naturschutzverordnung geschützt seien. Es könne
somit parzellenscharf ausgesagt werden, wo was vorkomme resp. wo
sich die als schützenswert bezeichneten Grünlandtypen befänden. Im
Folgenden zeigt es sich, dass über die Begehungen nur ungefähre
Standortangaben möglich waren. Der Sekretär der ENHK stellte
zwar eine Datenliste mit den ungefähren Begehungsorten ohne
Parzellenbezeichnung zusammen mit dem Gutachten in Aussicht.
Diese Grundlagen des Gutachtens wurden im regierungsrätlichen
Beschwerdeverfahren weder den Verfahrensbeteiligten noch dem
Regierungsrat als Entscheidbehörde zugestellt. Damit ist fest-
zuhalten, dass den Beschwerdeführerinnen wesentliche Grundlagen
fehlten, soweit der Plan von Prof. K. weitere oder andere Fest-
stellungen zu ökologischen Werten mit Bezug auf ihre Parzellen
Nrn. ... enthalten hatte. Die ENHK hat vor Verwaltungsgericht die
von Prof. K. aufgenommenen Vegetationskarten und Routenkarten
eingereicht. Im Plan von Prof. K. und aus der Datenliste ist ersicht-
lich, dass eine Begehung der Parzellen Nrn. ... am 23. Juni 1998
stattgefunden hat. Dabei wurden keine über die kantonalen Fest-
stellungen hinausgehenden Sachverhaltsfeststellungen gemacht: Die
von Prof. K. gefundenen Pflanzen (Bromus erectus, Origanum vul-
gare und Ranunculus bulbosus) wurden auch schon vom kantonalen
Sachverständigen an seiner Begehung vom 3.
September 1997
festgehalten. Das von der ENHK eingeholte Stechimmeninventar
macht zu den Parzellen der Beschwerdeführerinnen keine Aussagen.
Bei der Beurteilung des faunistischen Potentials des "Bruggerbergs"
stützte sich die ENHK ausserdem auf den Bericht der KARCH (...)
sowie auf das kantonale Reptilieninventar, ohne eigene Untersuchun-
gen anzustellen. Bestehen keine zusätzlichen, über die Berichte der
kantonalen Sachverständigen hinausgehenden Sachverhaltsfeststel-
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
153
lungen und Erkenntnisse der ENHK zu den Parzellen Nrn. ..., ist der
verfassungsrechtliche Gehörsanspruch der Beschwerdeführerinnen
nicht verletzt.
cc) Unbestritten ist, dass sich die Beschwerdeführerinnen zum
Gutachten äussern konnten sowie die Möglichkeit zu Ergänzungs-
fragen hatten und die Verfahrensgarantien insoweit gewahrt sind.
Bedenken hinsichtlich der Mitwirkungsrechte der Betroffenen beste-
hen durch die Verfahrensleitung bei der Beweiserhebung. Die An-
kündigung eines einzigen Besichtigungstermins zur Orientierung in
einem Gebiet, welches den gesamten "Bruggerberg" umfasst, stellt
keine realistische Möglichkeit für die verfahrensrechtlich gebotene
Teilnahme und Mitwirkung der Betroffenen an einem formellen Au-
genschein dar. Wesentlich für die Verfahrensgarantien ist entgegen
der Vorinstanz nicht die "Tätigkeit der ENHK mit der Begutachtung"
oder der "Sinn des Gutachtens", sondern der Inhalt, das Ziel und der
Zweck einer Besichtigung durch die Experten. Die ENHK hat mit
diesen Besichtigungen indessen die Sachverhaltsfeststellung und
Grundlagen zum Biotop- und Artenschutz im Beschwerdeverfahren
hinsichtlich der Parzellen Nrn. ... nicht ergänzt, sondern blosse Orts-
besichtigungen der Experten zur Orientierung im Gelände durchge-
führt (vgl. BGE vom 24. September 1996, in: URP 1996 S. 824 und
§ 257 Abs. 1 ZPO im Zivilprozess). Eine Sachverhaltsergänzung zu
Kennarten nach der NSV zum Reptilienschutz und der Schutzwür-
digkeiten von Naturobjekten auf den Parzellen Nrn. ... ist aus den
von der ENHK eingereichten Akten auch nicht zu entnehmen.
e) Aus den vorstehenden Gründen ergibt sich, dass die Mitwir-
kungsrechte der Beschwerdeführerinnen bei den Erhebungen durch
die ENHK zwar beschränkt waren, dies aber keine Verletzung des
rechtlichen Gehörs darstellt, nachdem der massgebliche Sachverhalt
für die umstrittenen Parzellen durch die Ortsbesichtigung nicht er-
gänzt wurde. Der Regierungsrat hat auch - auf Grund der Fragestel-
lung - den Zweck des Gutachtens in der Überprüfung der Beurteilung
der Schutzwürdigkeit durch die kantonalen Stellen und auf der
Grundlage der kantonalen Unterlagen gesehen. Unter diesen Um-
ständen liegt in der fehlenden Möglichkeit der Beschwerdeführerin-
2004
Verwaltungsgericht
154
nen, an den Begehungen der ENHK-Experten teilzunehmen, keine
Beeinträchtigung ihrer Mitwirkungsrechte.
Das Gutachten und die Beweiserhebung sind daher in formeller
Hinsicht weder unter Art. 29 Abs. 2 BV noch nach § 15 und § 22
Abs. 1 VRPG zu beanstanden. | 3,305 | 2,661 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-42_2003-10-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-42.pdf | AGVE_2004_42 | null | nan |
403a0541-fcc0-5900-aa0f-4700f46233cf | 1 | 412 | 870,684 | 951,868,800,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsgericht
168
47
Zwangsmassnahmen im Rahmen fürsorgerischer Freiheitsentziehung;
gesetzliche Grundlage; öffentliches Interesse; Verhältnismässigkeit.
- Gesetzliche Grundlage (Erw. 2/a)
- Öffentliches Interesse (Erw. 2/b)
- Gesonderte Prüfung der Verhältnismässigkeit der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung und der angeordneten Zwangsmassnahme (Erw.
2/c)
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 24. März 2000 in
Sachen A.G. gegen Entscheid der Klinik Königsfelden.
Aus den Erwägungen
1. a) Gemäss § 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB dürfen im Rahmen einer
fürsorgerischen Freiheitsentziehung in der Psychiatrischen Klinik in
Königsfelden Behandlungen und andere Vorkehrungen, die nach
Massgabe des Einweisungsgrundes medizinisch indiziert sind, auch
gegen den Willen der betroffenen Person vorgenommen werden,
wenn die notwendige Fürsorge auf andere Weise nicht gewährleistet
werden kann. Beim Entscheid über den Einsatz von Zwangsmass-
nahmen kann auch das Schutzbedürfnis Dritter in die Beurteilung
miteinbezogen werden. Ziel und Zweck jeder Zwangsmassnahme ist
der Schutz der betroffenen Person und deren Mitmenschen vor kör-
perlichen und seelischen Schäden. In Anwendung des Verhältnis-
mässigkeitsprinzips muss sie ,,ultima ratio" sein, indem der betroffe-
nen Person die notwendige Fürsorge nicht auf andere Weise ge-
währleistet werden kann (vgl. Botschaft des Regierungsrates des
Kantons Aargau vom 4. August 1999, S. 6).
b) Gemäss § 67e
bis
Abs. 4 EG ZGB kann der Entscheid der Kli-
nik über den Einsatz von Zwangsmassnahmen beim Verwaltungsge-
richt mit Beschwerde angefochten werden. Das Gericht hat zu über-
prüfen, ob die Zwangsmassnahme nach Massgabe des Einweisungs-
grundes medizinisch indiziert und ob sie verhältnismässig ist, d.h. ob
dem Patienten die nötige persönliche Fürsorge nicht auf eine weniger
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
169
einschneidende Weise gewährleistet werden kann. Das Verwaltungs-
gericht ist indessen grundsätzlich nicht zuständig zur Beurteilung der
konkreten ärztlichen Anordnung (Wahl des Medikamentes, Dosie-
rung, Wahl der Abteilung, etc.), dies gehört in den Fachbereich der
Ärzte (AGVE 1987, S. 217; Spirig, Zürcher Kommentar, Art. 397a -
397f ZGB, Zürich 1995, Art. 397d N 42 mit Hinweisen). Ausnahmen
von diesem Grundsatz sind namentlich in jenen Fällen denkbar, in
denen das Gericht aufgrund der Meinung des Fachrichters eine ange-
ordnete Massnahme aus medizinischer Sicht als offensichtlich frag-
würdig oder unverhältnismässig beurteilt (vgl. zur Kompetenz des
Verwaltungsgerichts, den Kognitionsumfang zu begrenzen: Michael
Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem
aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar
zu den §§ 38 - 72 VRPG, Zürich 1998, § 52 N 118).
2. Zweifellos stellt eine Zwangsmassnahme gemäss § 67e
bis
EG
ZGB einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit dar. Die
Beschwerdeführerin bestreitet sowohl das Vorliegen einer genügen-
den gesetzlichen Grundlage, eines öffentlichen Interesses und auch
der Verhältnismässigkeit. Dazu vorweg einige grundsätzliche Erwä-
gungen.
a) Nach der Rechtsprechung bedarf ein Eingriff in die persönli-
che Freiheit, gleich wie die Einschränkung eines jeden Freiheits-
rechts, einer hinreichend bestimmten Grundlage in einem Rechtssatz.
Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich freilich nicht
abstrakt festlegen, sondern hängt von der fraglichen Materie ab. Die
Rechtsnorm soll so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Ver-
halten danach richten bzw. die Folgen eines bestimmten Verhaltens
mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit
voraussehen kann. Dieses Erfordernis schliesst es nicht aus, dass ein
Rechtssatz der anwendenden Behörde einen Beurteilungsspielraum
einräumt, wenn das Ziel der Regelung hinreichend bestimmt ist, um
eine angemessene Kontrolle der Handhabung der Norm zu ermögli-
chen. Der Gesetzgeber kann nicht völlig darauf verzichten, allge-
2000
Verwaltungsgericht
170
meine Begriffe zu verwenden, die formal nicht eindeutig generell
umschrieben werden können und die an die Auslegung durch die
Behörde besondere Anforderungen stellen; denn ohne die Verwen-
dung solcher Begriffe könnte er der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse
nicht Rechnung tragen (BGE 123 I 112 E. 7a S. 124 f. mit Hinwei-
sen; 117 Ia 472 E. 3e S. 479 f. mit Hinweisen; Urteil des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte i. S. Tolstoy Miloslavsky
c. Vereinigtes Königreich vom 13. Juli 1995, Serie A, Band 316 B,
Ziff. 37). Die Anforderungen sind dann weniger streng, wenn unter-
schiedlich gelagerte Sachverhalte zu regeln sind, bei denen im Inte-
resse der Flexibilität oder der Einzelfallgerechtigkeit Differenzierun-
gen angebracht sind. Ausserdem kann dem Bedürfnis der Rechts-
gleichheit auch durch eine gleichmässige und den besonderen Um-
ständen Rechnung tragende Behördenpraxis entsprochen werden
(BGE 125 I 364 f. E. 4a; 123 I 1 E. 4b S. 6; vgl. Urteil des Euro-
päischen Gerichtshofs i.S. Kruslin c. Frankreich vom 24. April 1990,
Serie A, Band 176 A, Ziff. 29).
Im Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung kommt der
Einzelfallbeurteilung grosses Gewicht zu, da sich insbesondere eine
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche i.S. des ZGB bei jeder Per-
son anders auf ihr Denken und ihr Verhalten auswirkt. Es muss daher
der Behörden- und Gerichtspraxis überlassen werden, im konkreten
Einzelfall zu beurteilen, ob einer Person die nötige persönliche Für-
sorge anders als durch Zwangsmassnahmen erwiesen werden kann.
An den Grad der Bestimmtheit des Rechtssatzes sind deshalb keine
überhöhten Anforderungen zu stellen.
b) Der Begriff des öffentlichen Interesses ist zeitlich wandelbar
und lässt sich nicht in einer einfachen Formel einfangen. In ihm liegt
all das, was der Staat zum Gemeinwohl vorkehren muss, um eine
ihm obliegende Aufgabe zu erfüllen (vgl. Ulrich Häfelin/Walter
Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1998, Rz. 1136
f.). Im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung in der PKK
dürfen Behandlungen und andere Vorkehrungen, die nach Massgabe
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
171
des Einweisungsgrundes medizinisch indiziert sind, auch gegen den
Willen der betroffenen Person vorgenommen werden, wenn die not-
wendige Fürsorge auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann.
Beim Entscheid über Zwangsmassnahmen kann auch das Schutzbe-
dürfnis Dritter in die Beurteilung miteinbezogen werden (§ 67
bis
Abs. 1 EG ZGB). Der Begriff der ,notwendigen persönlichen Für-
sorge` beinhaltet nicht nur den Schutz der Öffentlichkeit vor
Fremdaggressionen, sondern umfasst auch den Schutz eines Men-
schen, der sich in einem Zustand der Urteilsunfähigkeit selbst ver-
letzt oder tötet.
Das öffentliche Interesse an der Bekämpfung von Krankheiten
verfolgt den Zweck der Verbesserung und des Schutzes der Gesund-
heit der Allgemeinheit. Dieses Interesse zielt darauf ab, die physische
und psychische Gesundheit unbestimmt vieler - im Idealfall aller -
vor Fremd- und unter Umständen vor Selbstschädigung zu bewahren
und damit zur Verbesserung der Durchschnittsgesundheit der
Bevölkerung beizutragen. Nicht einfach fällt dabei die Abgrenzung
von öffentlichen und privaten Interessen. Die Gewährleistung seiner
Gesundheit steht zunächst im Interesse des Einzelnen selbst. Aus
ganzheitlicher Sicht ist jedoch auch die Allgemeinheit an einem
guten individuellen Gesundheitszustand aller interessiert. Dies trifft
namentlich dort zu, wo eine Fremdgefährdung besteht. Das öffentli-
che Interesse an der Gesundheitspolizei besteht aber nicht nur im
Schutz Dritter. Vielmehr hat jeder einzelne schon mit Blick auf die
sozialen Kosten ein Interesse an der unversehrten Gesundheit mög-
lichst vieler Mitbürger. Das Gesundheitswesen ist im Rechtsstaat
heutiger Prägung denn auch weitgehend - und jedenfalls weit über
den Bereich des Schutzes vor Fremdgefährdung hinaus - als öffentli-
che Aufgabe konzipiert (BGE 118 I 437 f., vgl. auch 124 I 89).
Die persönliche Fürsorge ist somit Bestandteil des Gemein-
wohls, weshalb von einem Polizeigut auszugehen ist (Häfelin/Haller,
a.a.O., N 1136). Das öffentliche Interesse an einer Beschränkung der
persönlichen Freiheit ist bei fürsorgerischen Freiheitsentziehungen
2000
Verwaltungsgericht
172
bereits gesetzlich verankert und auch für Zwangsmassnahmen ge-
mäss § 67e
bis
EG ZGB im Rahmen der fürsorgerischen Freiheitsent-
ziehung zu bejahen, sofern einer Person die notwendige persönliche
Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann. Der aargauische Ge-
setzgeber bezweckte mit § 67e
bis
EG ZGB den Schutz der betroffe-
nen Person und deren Mitmenschen vor körperlichen und seelischen
Schäden (vgl. Botschaft, a.a.O., S. 6) und verfolgt damit öffentliche
Interessen, welche einen Eingriff in die persönliche Freiheit grund-
sätzlich zu rechtfertigen vermögen.
c) Es stellt sich sodann die Frage, ob der Begriff der Verhält-
nismässigkeit i.S. von Art. 397a ZGB identisch ist mit demjenigen
von § 67e
bis
EG ZGB, mit anderen Worten, ob bereits immer dann,
wenn die Voraussetzungen für eine zwangsweise Einweisung oder
Zurückbehaltung in die Psychiatrische Klinik gemäss Bundesrecht
gegeben sind, auch die Voraussetzungen für Zwangsmassnahmen
gemäss kantonaler gesetzlicher Grundlage zu bejahen sind. Für eine
solche Auslegung, wie sie von der Klinik Königsfelden befürwortet
wird, spricht grundsätzlich der Wortlaut von § 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB,
da er betreffend Umschreibung des Verhältnismässigkeitsprinzips
Art. 397a Abs. 1 ZGB nahezu entspricht (,,wenn die notwendige
Fürsorge auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann"). Aller-
dings gilt es zu beachten, dass bei diesem Lösungsansatz ein selbst-
ständiges Beschwerderecht gegen Zwangsmassnahmen, wie es in
§ 67e
bis
Abs. 4 EG ZGB vorgesehen ist, vollkommen überflüssig
wäre. Eine systematische Auslegung führt somit zum eindeutigen
Schluss, dass es sich bei einer Zwangsbehandlung um einen Eingriff
in die persönliche Freiheit eigener Art handelt, weshalb Fälle denk-
bar sind, in denen eine zwangsweise Freiheitsentziehung ohne medi-
kamentöse (Zwangs-)Behandlung während einer gewissen Zeit ver-
hältnismässig sein kann. Auch das Bundesgericht geht klar davon
aus, dass die Voraussetzungen für einen Eingriff in die persönliche
Freiheit durch Zwangsbehandlungen nicht in jedem Fall mit den
Voraussetzungen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung gemäss
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
173
Art. 397a ff. ZGB identisch sind, wenn es neben Art. 397a ff. ZGB
eine zusätzliche - zur Zeit kantonale - gesetzliche Grundlage für
Zwangsbehandlungen fordert, welche ,,den Anforderungen an die
Bestimmtheit der diesen schweren Eingriff in die persönliche Frei-
heit rechtfertigenden Norm" erfüllt (vgl. BGE 125 III 173). Es stellte
zudem bereits früher klar, dass Zwangsmedikation den Kerngehalt
des Grundrechts der persönlichen Freiheit berührt, weshalb sich im
Zusammenhang mit der Frage der Verhältnismässigkeit solch massi-
ver Eingriffe in die persönliche Freiheit komplexe Rechtsfragen
stellen (BGE 124 I 304).
Diese Rechtsauffassung überzeugt und hält auch vor dem Leis-
tungsauftrag der Psychiatrischen Klinik Königsfelden stand. Gemäss
§ 2 Abs. 1 des Dekrets über die Psychiatrischen Dienste des Kantons
Aargau vom 28. März 1995 erfüllen diese ,,den ihnen mit der Spital-
konzeption erteilten Leistungsauftrag bei der Untersuchung, Be-
handlung und Betreuung psychisch Kranker". Dabei beinhaltet die
,,Behandlung und Betreuung" psychisch kranker Menschen zweifel-
los zu einem grossen Teil eine medikamentöse Therapie mit Psycho-
pharmaka. Diese stellt jedoch unbestrittenermassen nicht die einzige
Form einer Behandlung psychisch Kranker dar und muss nicht in
jedem Fall - zumindest nicht gegen den Willen des Patienten - not-
wendigerweise durchgeführt werden. Zu denken ist diesbezüglich
beispielsweise an einzelne Persönlichkeitsstörungen, bei denen vor-
wiegend durch verhaltenstherapeutische oder tiefenpsychologische
Gesprächstherapien eine Verbesserung des Zustandsbildes erreicht
werden kann. Aber auch betreffend Schizophrenietherapie entspricht
die nachfolgende Aussage von Asmus Finzen gängiger psychiatri-
scher Lehre: ,,Die Behandlung schizophrener Kranker spielt sich
zwischen Beruhigung der Krankheitssymptomatik, sozialer Stimulie-
rung zur Vermeidung von Rückzug und Apathie und psychothera-
peutischen Hilfen zur Verarbeitung des Krankheitserlebens ab. Somit
wird die Schizophrenietherapie zu einem Balanceakt zwischen Beru-
higung, die heute meist mit medikamentöser Unterstützung erfolgt,
2000
Verwaltungsgericht
174
und Stimulierung durch sozialtherapeutische Massnahmen verschie-
denster Art." (Asmus Finzen, Schizophrenie, Bonn 1995, S. 142; vgl.
zum Gesamtbehandlungsplan schizophrener Menschen auch:
Christian Scharfetter, Schizophrene Menschen, München-Weinheim
1986, S. 215). Zudem haben Schizophreniekranke neben den Symp-
tomen ihrer Störung vielfältige Lebensprobleme, bei deren Bewälti-
gung sie psychotherapeutischer Hilfe und Führung bedürfen (Finzen,
a.a.O., S. 150). Zu denken ist weiter an diejenigen Fälle fürsorgeri-
scher Freiheitsentziehungen, bei denen mit einem zwangsweisen
Klinikaufenthalt auch das Ziel verbunden ist, einen Patienten für
gewisse Zeit aus seinem gewohnten Umfeld herauszulösen, womit
dieses entlastet und beim Patienten u.a. als Folge der Reizabschir-
mung und des eng strukturierten Rahmens eine Verbesserung des
Zustandsbildes erreicht werden soll. Selbst wenn in all diesen Bei-
spielen eine unterstützende medikamentöse Therapie medizinisch in-
diziert und hilfreich sein könnte, ist die Durchführung derselben
nicht in jedem Fall gegen den Willen des Betroffenen verhältnis-
mässig, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für einen
zwangsweisen Klinikaufenthalt erfüllt sind.
Nach der Überzeugung des Verwaltungsgerichts bedarf es somit
stets einer gesonderten Prüfung der Verhältnismässigkeit einer für-
sorgerischen Freiheitsentziehung einerseits und einer im Rahmen
derselben angeordneten Zwangsmassnahme andererseits.
Demgegenüber war es - entgegen der Auffassung der Be-
schwerdeführerin - eindeutig nicht der Wille des kantonalen Gesetz-
gebers, die Voraussetzungen für rechtmässige Zwangsmassnahmen
im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung auf eigentliche
Notfälle und Akutsituationen zu beschränken, wie sie bereits im Pa-
tientendekret geregelt sind (vgl. insbesondere § 15 Abs. 3 und § 17
PD). So wurde in der Botschaft vom 4. August 1999 ausdrücklich
darauf hingewiesen, dass gestützt auf die neue gesetzliche Grundlage
in Situationen, wo ambulante Hilfe nicht genügt, auch ohne oder
gegen den Willen von Patienten eine längerdauernde Behandlung
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
175
vorgenommen werden dürfe (a. M. Spirig, a.a.O. N 214 zu Art. 397a
ZGB).
d) Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die gesetzliche
Grundlage für Zwangsmassnahmen im Rahmen einer fürsorgerischen
Freiheitsentziehung gemäss § 67e
bis
EG ZGB genügend bestimmt ist
und im öffentlichen Interesse liegt. Ob dagegen eine konkret
angeordnete Zwangsmassnahme im Rahmen einer rechtmässigen
fürsorgerischen Freiheitsentziehung auch verhältnismässig ist, bedarf
einer gesonderten Prüfung in jedem konkreten Einzelfall. | 3,287 | 2,651 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-47_2000-03-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-47.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-47.pdf | AGVE_2000_47 | null | nan |
40697467-897d-58a9-af42-7e3ee8a086f1 | 1 | 412 | 871,671 | 1,409,616,000,000 | 2,014 | de | 2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
130
22
Familiennachzug; Nachzugsfristen
An der publizierten Praxis zu den Nachzugsfristen gemäss Art. 47 Abs. 1
AuG wird festgehalten (Erw. 2.2.4.2.).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 26. Septem-
ber 2014 in Sachen A. gegen das Amt für Migration und Integration
(WBE.2014.209).
Aus den Erwägungen
2.2.4.1.
Gestützt auf das Urteil des Bundesgerichts vom 3. Oktober
2011 (2C_205/2011), Erw. 3.5 ging die Vorinstanz mit dem MIKA
davon aus, dass die Fünfjahresfrist gemäss Art. 47 Abs. 1 Satz 1 AuG
bis zum zwölften Geburtstag des nachzuziehenden Kindes massge-
bend ist - unabhängig davon, ob die Frist nach Art. 47 Abs. 3 AuG
oder nach Art. 126 Abs. 3 AuG begann - und dass sich die
Nachzugsfrist ab dem zwölften Geburtstag des Kindes entsprechend
Art. 47 Abs. 1 Satz 2 AuG auf - maximal noch - ein Jahr verkürzt.
(...)
2.2.4.2.
Das Rekursgericht hat sich mit der Problematik der Nachzugs-
fristen gemäss Art. 47 AuG mit Urteil vom 15. Dezember 2011
(AGVE 2011, S. 361 ff.) vertieft auseinandergesetzt und kam zu fol-
2014
Migrationsrecht
131
gendem Schluss: Die Auslegung von Art. 47 AuG unter Berücksichti-
gung sämtlicher Auslegungsmethoden ergebe, dass der Familien-
nachzug für Kinder, die das 13. Altersjahr im Zeitpunkt eines der in
Art. 47 Abs. 3 AuG aufgeführten fristauslösenden Ereignisses noch
nicht erreicht haben, innert fünf Jahren bzw. für Kinder, die in die-
sem Zeitpunkt bereits über zwölf Jahre alt sind, innerhalb von zwölf
Monaten beantragt werden müsse. Die Auffassung des Bundesge-
richts und der Vorinstanz, wonach eine bereits laufende fünfjährige
Nachzugsfrist (Art. 47 Abs. 1 Satz 1 AuG) nur um maximal noch
zwölf Monate verlängert werde, sobald das nachzuziehende Kind
sein zwölftes Altersjahr vollendet habe, sei unzutreffend. Hätte der
Gesetzgeber gewollt, dass die Vollendung des zwölften Altersjahrs in
jedem Fall eine zwölfmonatige Nachzugsfrist auslöst bzw. sich eine
bereits laufende fünfjährige Frist ab dem zwölften Geburtstag um
höchstens noch zwölf Monate verlängert, hätte er dies entsprechend
festlegen müssen. Eine solche Regelung fehle indessen. Die Ereig-
nisse, welche die beiden Nachzugsfristen von Art. 47 Abs. 1 AuG
auslösen, seien in Art. 47 Abs. 3 AuG geregelt und das Gesetz sehe
keine Bestimmung vor, welche die Vollendung des zwölften Alters-
jahrs als zusätzliches fristauslösendes Ereignis definieren würde.
Da sich das Bundesgericht im Entscheid 2C_205/2011 nicht
deutlich zur Fristberechnung sowie zum fristauslösenden Zeitpunkt
geäussert hat und sich bislang mit obenstehender Begründung nicht
auseinandergesetzt hat, besteht keine Veranlassung, davon abzuwei-
chen. Das Verwaltungsgericht schliesst sich vielmehr den Erwägun-
gen des Rekursgerichts an. | 679 | 532 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-22_2014-09-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-22.pdf | AGVE_2014_22 | null | nan |
4166b720-9b3a-507d-a793-9b709dc085a6 | 1 | 412 | 869,764 | 983,491,200,000 | 2,001 | de | 2001
Verwaltungsgericht
390
84
Wiederaufnahme (§ 27 ff. VRPG).
- Vorgehen
bei
Wiederaufnahmebegehren.
- Subsidiarität
des
Wiederaufnahmeverfahrens.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 27. März 2001 in
Sachen O.K. und L.K. gegen Entscheid des Baudepartements
Aus den Erwägungen
1. Vorerst ist zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht nicht auf das
Wiederaufnahmebegehren vom 16. September 2000 eingetreten ist.
a) Die Beurteilung eines Wiederaufnahmebegehrens erfolgt in
drei Schritten (vgl. dazu VGE III/21 vom 20. Februar 2001 in Sachen
Baukonsortium H., S. 7 ff.). Vorab ist - wie generell in formellen
Verfahren - darüber zu befinden, ob die Verfahrensvoraussetzungen
erfüllt sind. Darunter fällt die Prüfung der Zuständigkeit und der
Zulässigkeit des Begehrens (Legitimation, Antrag und Begründung,
Fristwahrung), welche insbesondere auch diejenige der Subsidiarität
(Subsidiarität des Wiederaufnahmeverfahrens gegenüber dem ur-
sprünglichen Verfahren einschliesslich der damaligen Rechtsmittel-
möglichkeiten) mit umfasst. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist
auf das Gesuch nicht einzutreten (Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar
zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Auflage,
Zürich 1999, § 86d N 1 f.; Merkli/Aeschlimann/Herzog, Kommentar
zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern
1997, Art. 98 N 1). Die Bedeutung der Subsidiarität als eigene
Voraussetzung für die Wiederaufnahme ergibt sich aus deren Cha-
rakter als ausserordentliches Rechtsmittel. Allgemeine Rechtsgrund-
sätze verlangen, dass der um Wiederaufnahme Nachsuchende keine
Rügen vorbringen darf, die er bei Beachtung der zumutbaren Sorgfalt
bereits mit einem ordentlichen Rechtsmittel hätte erheben können.
Wiederaufnahmegesuche dürfen nicht dazu dienen, früher nicht er-
griffene, ordentliche Rechtsmittel zu ersetzen, damalige vermeidbare
Unterlassungen des Gesuchstellers zu korrigieren oder umstrittene
Anordnungen stets wieder zur Diskussion zu stellen. Andernfalls
2001
Verwaltungsrechtspflege
391
hätte es jedermann in der Hand, die Rechtsmittelfristen zu unterlau-
fen, und die Wiederaufnahme verkäme zu einem Instrument, das
einzig dazu da wäre, den funktionellen Instanzenzug zu verlängern
(vgl. Rudolf Weber, Grundsätzliches zur Wiederaufnahme nach § 27
VRPG, in: Festschrift für Dr. Kurt Eichenberger, alt Oberrichter,
Beinwil am See, Aarau 1990, S. 348 ff.; Ursina Beerli-Bonorand, Die
ausserordentlichen Rechtsmittel in der Verwaltungsrechtspflege des
Bundes und der Kantone, Diss. Zürich 1985, S. 45).
Sind die Verfahrensvoraussetzungen erfüllt, wird im Rahmen
eines zweiten Schrittes darüber befunden, ob das Wiederaufnahme-
gesuch begründet ist (Beerli-Bonorand, a.a.O., S. 162). Wird die
Erheblichkeit der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe bejaht,
ist der Entscheid oder Teile davon aufzuheben und in einem dritten
Verfahrensabschnitt in der Sache neu zu entscheiden.
b) (...) Hingegen brachten die Beschwerdeführer im Wiederauf-
nahmegesuch weder neue Tatsachen noch Beweismittel vor, die nicht
schon im Verfahren, das dem ursprünglichen Entscheid voranging,
spätestens aber im ordentlichen Rechtsmittelverfahren an das Ver-
waltungsgericht hätten eingebracht werden können. (...) Das Subsi-
diaritätsprinzip wurde demzufolge verletzt und die Vorinstanz ist zu
Recht nicht auf das Wiederaufnahmebegehren eingetreten. | 753 | 597 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-84_2001-03-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-84.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-84.pdf | AGVE_2001_84 | null | nan |
41b2ea30-69eb-5c6e-8cd6-45c0aa18d9c9 | 1 | 412 | 871,086 | 975,801,600,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsgericht
330
[...]
75
Fehlende Angabe der Gewichtung der Zuschlagskriterien; unzulässige
,,Gleichbewertung" aller Anbietenden.
-
Fehlen in der Ausschreibung Zuschlagskriterien vollständig, ist aus-
schliesslich auf den Preis abzustellen (Erw. 3/c/aa).
-
Sind in der Ausschreibung Zuschlagskriterien enthalten, nicht aber
deren Gewichtung (in Prozenten, Punkten, etc.), ist von der Ungül-
tigkeit des Verfahrens auszugehen und dieses ist auf der Grundlage
einer korrekt formulierten Ausschreibung zu wiederholen
(Erw. 3/c/bb).
-
Wenn die Ausschreibung Kriterien wie ,,Qualität" und ,,Erfahrung"
als in erster Linie massgebende Kriterien nennt, dürfen die Anbie-
tenden davon ausgehen, dass diesen ein erhöhtes Gewicht zukommt
und die qualitativen Kriterien einer differenzierten Bewertung
unterliegen, damit diese und nicht ausschliesslich der Preis über den
Zuschlag entscheiden (Erw. 3/d).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 20. Dezember 2000 in
Sachen M. AG gegen Verfügung der Stiftung A. in Gränichen.
Aus den Erwägungen
3. Als problematisch erweist sich im vorliegenden Fall die feh-
lende Angabe der Gewichtung der Zuschlagskriterien in den Aus-
schreibungsunterlagen. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin
liegt damit ein Verstoss gegen § 18 Abs. 3 SubmD vor.
a) § 18 Abs. 3 SubmD in der ursprünglichen Fassung vom
26. November 1996 verlangte, dass die ausgewählten Zuschlagskrite-
rien in der Reihenfolge ihrer Bedeutung in den Ausschreibungsunter-
lagen aufzuführen waren. Nicht geregelt waren die sich aus dem
Fehlen von Vergabekriterien ergebenden Konsequenzen. Das Ver-
waltungsgericht hat festgehalten, dass in Fällen, in denen es die Ver-
gabestelle unterlassen habe, Zuschlagskriterien festzulegen und den
2000
Submissionen
331
Anbietenden rechtzeitig bekannt zu geben, für die Vergabe aus-
schliesslich der Preis massgebend sein dürfe (vgl. AGVE 1997,
S. 357 f.). Anlässlich der Teilrevision des Submissionsdekrets vom
18. Januar 2000 wurde u. a. auch § 18 Abs. 3 SubmD geändert. Ge-
mäss der revidierten Fassung sind die ausgewählten Zuschlagskrite-
rien nun neu ,,in der Reihenfolge ihrer Bedeutung und
mit ihrer Ge-
wichtung
(Hervorhebung beigefügt) in der Ausschreibung auf-
zuführen. Fehlt diese Angabe, gilt als Zuschlagskriterium der Preis."
Der Regierungsrat hat in einem Kreisschreiben vom 23. Februar
2000 zuhanden der Gemeinderäte des Kantons Aargau in Bezug auf
§ 18 Abs. 3 SubmD ausgeführt, was die subsidiäre Regelung (d. h.
Satz 2) betreffe, sei klarzustellen, dass wenn eine der beiden Anga-
ben fehle, der Preis als Zuschlagskriterium gelte. Klar ist, dass § 18
Abs. 3 SubmD nicht nur im offenen oder selektiven Verfahren, son-
dern in jedem Submissionsverfahren mit mehreren Anbietern, also
auch im Einladungsverfahren, gilt. In letzterem sind die erforderli-
chen Angaben in den Ausschreibungsunterlagen zu machen (VGE
III/145 vom 29. November 2000 in Sachen H. AG, S. 8).
b) Die in § 18 Abs. 3 Satz 2 SubmD verwendete Formulierung
,,Fehlt diese Angabe, ..." bezieht sich auf ,,die ausgewählten Zu-
schlagskriterien ... in der Reihenfolge ihrer Bedeutung und mit ihrer
Gewichtung". § 18 Abs. 3 Satz 1 SubmD verlangt damit verschie-
dene Informationen: Angabe der Zuschlagskriterien, Angabe ihrer
Rangfolge und Angabe ihrer Gewichtung. Unklar ist, ob das Sub-
missionsdekret in § 18 Abs. 3 Satz 2 zum Ausdruck bringen will,
dass die subsidiäre Massgeblichkeit des Preises nur beim generellen
Fehlen von Zuschlagskriterien (zwangsläufig fehlen dann auch Rei-
henfolge und Gewichtung) zum Tragen kommt oder - wie dies der
Regierungsrat annimmt - auch bei bloss fehlender Angabe der Ge-
wichtung. Der Wortlaut von § 18 Abs. 3 Satz 2 SubmD ist diesbe-
züglich nicht eindeutig abgefasst; unklar ist auch, ob der Wortlaut
den wirklichen Sinn der Bestimmung wiedergibt. § 18 Abs. 3 SubmD
erweist sich somit als auslegungsbedürftig. Im Vordergrund steht
2000
Verwaltungsgericht
332
dabei angesichts des geringen Alters des Erlasses die historische
Auslegung (BGE 112 Ia 104); den sich mit der Teilrevision des
Submissionsdekrets befassenden Materialien kommt für die Ausle-
gung eine erhebliche Bedeutung zu. Ebenfalls massgebend sind
sodann die mit der Regelung verfolgten Ziel- und Zweckvorstellun-
gen (vgl. zum Ganzen Ulrich Häfelin / Walter Haller, Schweizeri-
sches Bundesstaatsrecht, 4. Auflage, Zürich 1998, Rz. 64 ff., 74 ff.).
c) Im Hinblick auf die Auslegung der subsidiären Regelung von
§ 18 Abs. 3 Satz 2 SubmD zu unterscheiden sind zwei grundsätzlich
verschiedene Sachverhalte (vgl. auch den erwähnten VGE in Sachen
H. AG, S. 9 ff.):
aa) Fehlen in der Ausschreibung Zuschlagskriterien vollstän-
dig - sei es, weil die Vergabestelle bewusst keine Kriterien festlegen
wollte, oder sei es, weil der Kriterienkatalog aus Versehen weggelas-
sen wurden - ist ausschliesslich auf den Preis abzustellen. Dieses
Vorgehen entspricht nicht nur dem diesbezüglich eindeutigen Wort-
laut, sondern auch dem Willen des Dekretgebers, wie er in den Mate-
rialien zur Teilrevision des SubmD zum Ausdruck kommt (Nicht
ständige Kommission Nr. 16, Protokoll der Sitzung vom 18. Dezem-
ber 1999, S. 14; Protokoll der Sitzung des Grossen Rats vom 18. Ja-
nuar 2000, Art. Nr. 1763 [Prot. GR], S. 2738 [Votum Knecht], 2740
[Votum Knecht]) und stimmt mit der bisherigen Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichts überein. Die Auffassung, wonach Ausschrei-
bungen ohne Angabe von Zuschlagskriterien ungültig sein sollten,
vermochte sich im Grossen Rat nicht durchzusetzen (vgl. Nicht
ständige Kommission Nr. 16, Protokoll der Sitzung vom 18. Dezem-
ber 1999, S. 12 [Meyer]; Prot. GR, S. 2738 [Kuhn], 2740 [Pfisterer],
S. 2742). Erachtet die Vergabestelle für den Fall, dass die Bekannt-
gabe der Zuschlagskriterien irrtümlich unterblieben ist, das Abstellen
allein auf den Preis als nicht sachgerecht, ist es ihr im Übrigen
grundsätzlich unbenommen, das Submissionsverfahren zu wieder-
holen (§ 22 SubmD).
2000
Submissionen
333
bb) Des Weiteren stellt sich die Frage, ob das ausschliessliche
Abstellen auf den Preis auch die richtige Lösung ist, wenn die Aus-
schreibung oder die Ausschreibungsunterlagen wie im vorliegenden
Fall zwar Zuschlagskriterien enthalten, deren Gewichtung (in Pro-
zenten, Punkten, etc.) aber nicht bekannt gegeben wird.
aaa) Den Materialien zur Änderung von § 18 Abs. 3 SubmD
lässt sich für die Frage, was geschehen soll, wenn die Angabe der
Gewichtung der Kriterien fehlt, keine eindeutige Antwort entneh-
men. Ein möglicher Hinweis darauf, dass der Preis auch bei blossem
Fehlen der Gewichtung massgeblich sein soll, findet sich in einem
von Peter Zubler, Aarau, gestellten Antrag (Prot. GR, S. 2739, 2747):
,,Die ausgewählten Zuschlagskriterien sind mit ihrer prozentualen Ge-
wichtung in der Ausschreibung aufzuführen. Fehlt eine dieser Anga-
ben, gilt als Zuschlagskriterium der Preis."
Der Antrag Zubler wurde schliesslich mit offensichtlicher
Mehrheit abgewiesen, woraufhin der Ratsvorsitzende gegenüber dem
Antragsteller feststellte:
,,(...) Die Ergänzung in Ihrem Antrag entfällt mit der Beschlussfas-
sung, die vorausgegangen ist. Sind Sie damit einverstanden? Das ist
der Fall. Damit ist diese Ergänzung im 2. Satz erledigt."
Offenbar ging man also davon aus, dass die abweichende For-
mulierung von § 18 Abs. 3 Satz 2 SubmD im Antrag Zubler (,,Fehlt
eine dieser Angaben
, ...") im Zusammenhang mit der verworfenen
prozentualen
Gewichtung zu sehen war und sich nicht auf das Erfor-
dernis der Gewichtung an sich bezog. Insofern darf der im Antrag
Zubler enthaltenen Formulierung kein grosses Gewicht beigemessen
werden. Im revidierten Wortlaut hat sie keinen Niederschlag gefun-
den. Weitere Aussagen, welche für die zu beantwortende Frage von
Relevanz sind, sind den Materialien nicht zu entnehmen.
bbb) Es bleibt damit mit Hilfe der teleologischen Auslegung zu
prüfen, ob sich aus den mit der Regelung von § 18 Abs. 3 SubmD
verbundenen Zielvorstellungen eine sachgerechte Antwort ergibt
(vgl. Häfelin/Haller, a.a.O., Rz. 99 ff.). Auszugehen ist hierbei zu-
2000
Verwaltungsgericht
334
nächst von der Tatsache, dass es der Vergabestelle aus Gründen eines
fairen, den Grundsätzen der Transparenz und der Nichtdiskriminie-
rung verpflichteten Wettbewerbs untersagt ist, sich bei der Zu-
schlagserteilung auf Vergabekriterien abzustützen, die den Anbieten-
den nicht vorgängig bekannt gegeben worden sind (AGVE 1997,
S. 357). Mit der Aufnahme des Erfordernisses, auch die Gewichtung
der Zuschlagskriterien in der Ausschreibung bekannt zu geben,
wollte der Dekretgeber dem Transparenzgebot zusätzlich Rechnung
tragen. Es sollte sowohl für die Vergabebehörde als auch für die Un-
ternehmer grösstmögliche Transparenz geschaffen werden (Prot. GR,
S. 2738 [Zubler], S. 2739 [Füglistaller]). Mit dieser Zielsetzung klar
unvereinbar ist es, wenn die Vergabestelle, die es unterlassen hat, die
Gewichtung der ausgewählten Zuschlagskriterien rechtzeitig öffent-
lich bekannt zu geben, bei der Zuschlagserteilung dann trotzdem auf
diese Kriterien, die sie, um überhaupt eine Bewertung vornehmen zu
können, intern in irgend einer Weise gewichten muss, abstellen
dürfte. Dies würde dem Sinn und Zweck des revidierten § 18 Abs. 3
SubmD völlig zuwider laufen. Anders als beim vollständigen Fehlen
von Vergabekriterien entspricht aber auch ein Abstellen ausschliess-
lich auf den Preis nicht dem Gebot der Transparenz. Die Vergabe-
stelle hat durch die Auswahl und die Bekanntgabe von Zuschlagskri-
terien ausdrücklich kund getan, dass der Preis nicht das einzig rele-
vante Vergabekriterium sein soll, sondern dass für sie auch andere
Gesichtspunkte wesentlich sind. Davon müssen auch die Anbie-
tenden bei der Gestaltung ihrer Offerten ausgehen; sie dürfen grund-
sätzlich auf die Geltung der ihnen bekannt gemachten Kriterien
vertrauen und müssen nicht damit rechnen, dass entgegen der Aus-
schreibung das billigste Angebot den Zuschlag bekommt. Ein nach-
trägliches Abstellen allein auf den Preis entspricht somit weder dem
kundgegebenen Willen der Vergabestelle, noch den berechtigten Er-
wartungen der Anbietenden. Insofern erscheint es richtiger, in diesem
Fall von der Ungültigkeit des Submissionsverfahrens auszugehen,
2000
Submissionen
335
und dieses auf der Grundlage einer korrekt formulierten
Ausschreibung zu wiederholen.
d) Im vorliegenden Fall konnten die Anbietenden aufgrund der
Ausschreibungsunterlagen nicht erkennen, welches Gewicht die Ver-
gabestelle den vier von ihr ausgewählten Zuschlagskriterien ,,Qua-
lität/Referenzen", ,,Termine", ,,Erfahrung" und ,,Preis" beimass. Die
Vergabestelle bringt vor, die Beschwerdeführerin habe die Gewich-
tung bereits von einer andern Arbeitsvergabe (Brandschutztüren in
Holz) her gekannt, da sie ihr in jenem Verfahren als Beilage zum
Absagebrief zur Kenntnis gebracht worden seien. Die Zuschlagskri-
terien sind jedoch grundsätzlich für jeden zu vergebenden Auftrag
individuell, d. h. im Hinblick auf die Besonderheiten des jeweiligen
Auftrags, festzulegen. Die Beschwerdeführerin durfte deshalb nicht
davon ausgehen, dass für die Kücheneinrichtungen die gleichen
Kriterien gelten würden wie für die Brandschutztüren. Schon aus
diesem Grund erweist sich die Argumentation der Vergabestelle als
nicht haltbar. Mit der fehlenden Bekanntgabe der Gewichtung in den
Ausschreibungsunterlagen hat die Vergabestelle klar gegen die in
§ 18 Abs. 3 SubmD statuierten Anforderungen verstossen, weshalb
das Submissionsverfahren auf der Grundlage von korrekt abgefassten
Ausschreibungsunterlagen zu wiederholen ist.
4. a) Die Beschwerdeführerin bemängelt auch, dass sämtliche
Anbietenden in Bezug auf die Kriterien ,,Qualität/Referenzen",
,,Termine" und ,,Erfahrung" die Maximalpunktzahl erhalten hätten.
Der Verzicht der Vergabestelle, die Kriterien bei der Bewertung ab-
zustufen, stehe in krassem Widerspruch zur Ausschreibung und führe
zu einer Wettbewerbsverzerrung. Letztlich sei für den Zuschlag nur
der Preis von Bedeutung gewesen. Aufgrund der ausgeschriebenen
Kriterien sei die Beschwerdeführerin jedoch davon ausgegangen,
dass nicht der Preis, sondern die Qualität im Vordergrund stehe. Ent-
sprechend habe sie ihr Angebot ausgestaltet und eine qualitativ
anspruchsvollere Ausführung zu einem höheren Preis offeriert.
2000
Verwaltungsgericht
336
b) Die Vergabestelle hält fest, sie habe darauf verzichtet, die
Kriterien ,,Qualität/Referenzen", ,,Termine" und ,,Erfahrung" bei der
Bewertung abzustufen. Nach ihren Abklärungen (Erfahrungen des
Architekten bzw. einzelner Mitglieder der Baukommission in Bezug
auf die Zusammenarbeit) seien alle Firmen gleichwertig einzustufen.
Insbesondere hätten alle die gleiche Qualität offeriert; auch die Kon-
kurrentinnen hätten die von der Beschwerdeführerin offerierten Aus-
führungsspezifikationen (zum tieferen Preis) angeboten.
c) Bei der Bewertung der Angebote sind namentlich die folgen-
den Gesichtspunkte zu beachten:
aa) Im Vordergrund steht, dass die Bewertung der Angebote in
sachlich haltbarer und objektiv begründbarer Weise erfolgen muss;
andernfalls überschreitet oder missbraucht die Vergabestelle das ihr
zustehende Ermessen (AGVE 1999, S. 328; 1998, S. 384). Weglei-
tend ist sodann auch für die Bewertung der Angebote der für das
gesamte Vergaberecht geltende Grundsatz der Transparenz. Die vor-
genommene Bewertung muss sowohl für die Anbietenden als auch
für die Rechtsmittelinstanz in einem allfälligen Beschwerdeverfahren
nachvollziehbar sein.
bb) Hat die Vergabestelle Zuschlagskriterien festgelegt und den
Anbietenden bekannt gegeben, ist sie verpflichtet, die Angebote
anhand dieser Kriterien zu prüfen und zu bewerten. Werden bekannt
gegebene Kriterien ausser Acht gelassen, die Bedeutungsfolge umge-
stellt, andere Gewichtungen vorgenommen oder andere zusätzliche
Kriterien herangezogen, die nicht bekannt gegeben wurden, handelt
die Auftraggeberin vergaberechtswidrig und verstösst gegen die
Grundsätze der Transparenz und Nichtdiskriminierung (AGVE 1997,
S. 352 ff., 358; vgl. auch Entscheid der Eidgenössischen Re-
kurskommission für das öffentliche Beschaffungswesen, in Baurecht
[BR] 1999, S. 141 Nr. S25). Klar nicht zulässig ist es somit, bei der
Beurteilung der Angebote abweichend von den Ausschreibungsun-
terlagen auf die Prüfung der einzelnen Zuschlagskriterien zu ver-
zichten und ausschliesslich den Preis für massgebend zu erklären.
2000
Submissionen
337
cc) aaa) Über das (formelle) Vorgehen bei der Bewertung der
Offerten anhand der Zuschlagskriterien enthält das Submissions-
dekret keine Vorschriften. Nach der Rechtsprechung des Verwal-
tungsgerichts ist die Vergabestelle beim Erstellen einer Bewertungs-
matrix daher weitgehend frei; sie ist im Übrigen auch nicht dazu ver-
pflichtet, eine solche zu verwenden (VGE III/174 vom 15. Dezember
1998 in Sachen ARGE S. AG/K. AG, S. 12; vgl. auch Gauch/Stöckli,
a.a.O., S. 23 Anm. 92). In erster Linie ist entscheidend, dass ein
Bewertungs- oder Benotungssystem im Grundsatz sachgerecht ist
und einheitlich, d. h. auf alle Anbietenden bzw. auf alle Angebote in
gleicher Weise und nach gleichen Massstäben angewendet wird. Das
Verwaltungsgericht beschränkt sich im Rahmen seiner - beschränk-
ten - Kontrollbefugnisse auf die Überprüfung dieser Gesichtspunkte;
ihm kommt nicht die Funktion einer "Ober-Vergabebehörde" zu.
Welches System letztlich Anwendung findet und wie es im Detail
ausgestaltet ist, ist dabei von eher untergeordneter Bedeutung
(VGE III/158 vom 26. November 1998 in Sachen G. AG, S. 7).
bbb) Das Submissionsdekret verbietet es grundsätzlich auch
nicht, dass sich die Vergabestelle darauf beschränkt zu prüfen, ob die
Angebote die einzelnen Zuschlagskriterien (z. B. Termin) erfüllen
oder nicht; eine Rangierung der Angebote bei den einzelnen Krite-
rien muss nicht zwingend erfolgen. Eine solchermassen wenig diffe-
renzierende Bewertungsmethode führt zwangsläufig zu vermehrten
Gleichbewertungen der Angebote bei den Sachkriterien. Dies lässt
sich nicht beanstanden, wenn der Preis für die Vergabe klar im Vor-
dergrund steht. Ob ein solches Vorgehen auch dann noch sachgerecht
ist, wenn die Vergabestelle - wie hier - in der Ausschreibung bzw. in
den Ausschreibungsunterlagen durch die Reihenfolge der Zu-
schlagskriterien zu erkennen gibt, dass für sie der Qualitätsaspekt
und nicht der Preis wichtig ist, ist hingegen fraglich. Vielmehr drängt
sich in diesen Fällen eine differenzierte Prüfung und Bewertung der
sach- bzw. qualitätsbezogenen Kriterien auf, um zu verhindern, dass
2000
Verwaltungsgericht
338
dem Preis eine ausschreibungswidrige Bedeutung zukommt, indem
er trotz geringem Gewicht allein über den Zuschlag entscheidet.
Hinzu kommt, dass es sich im vorliegenden Fall um ein Einla-
dungsverfahren handelt, bei dem es die Vergabestelle in der Hand
hat, den Anbieterkreis zu bestimmen. Es ist grundsätzlich davon
auszugehen, dass die Vergabestelle schon in eigenem Interesse nur
Anbieter einladen wird, von denen sie überzeugt ist, dass sie in der
Lage sind, den zu vergebenden Auftrag qualitativ einwandfrei auszu-
führen. Wenn sie sich in den Ausschreibungsunterlagen nicht auf den
Preis beschränkt, sondern Kriterien wie ,,Qualität" und ,,Erfahrung"
als in erster Linie massgebende Vergabekriterien nennt, dürfen und
müssen die Anbietenden davon ausgehen, dass den qualitativen Ge-
sichtspunkten des Angebots ein erhöhtes Gewicht zukommt und
diese über den Zuschlag entscheiden sollen, nicht der Preis. Dies ruft
ebenfalls nach einer differenzierten Bewertung dieser Kriterien.
d) Aufgrund der vorhandenen Akten ist für das Verwaltungsge-
richt nicht feststellbar, nach welchen Gesichtspunkten und Massstä-
ben die Baukommission die einzelnen Angebote bei den Zuschlags-
kriterien ,,Qualität/Referenzen", ,,Termin" und ,,Erfahrung" bewertet
hat. Nicht ersichtlich ist auch, welche Voraussetzungen erfüllt sein
mussten, um die Maximalbewertung zu erhalten. Eine detaillierte
Bewertung ist offensichtlich nicht erfolgt. Es liegt einzig der Verga-
beantrag vom 8. September 2000 vor sowie die erwähnten Feststel-
lungen in der Vernehmlassung und im Schreiben vom 9. Oktober
2000. Somit ist auch nicht überprüfbar, ob die Gleichbewertung aller
Anbietenden bei den drei erstgenannten Kriterien sachlich begründet
ist oder nicht. Dies gilt namentlich auch für die offerierte Qualität der
Kücheneinrichtungen; hier ist aufgrund der eingereichten Angebote
unklar, ob die W. AG und die H. Schreinerei tatsächlich die gleiche
Qualität offeriert haben wie die Beschwerdeführerin. Das nachträg-
lich, d. h. erst nach Beschwerdeeinreichung, eingeholte Bestäti-
gungsschreiben der W. AG vom 30. Oktober 2000 in Bezug auf die
Ausführungsspezifikationen erscheint diesbezüglich jedenfalls nicht
2000
Submissionen
339
sonderlich aussagekräftig; die Prüfung, welcher Qualitätsstandard
von den einzelnen Anbietern offeriert wurde, hätte von der Vergabe-
stelle vor der Zuschlagserteilung vorgenommen werden müssen.
Das Ergebnis einer differenzierten Prüfung anhand klar festge-
legter Massstäbe ist die ,,Gleichbewertung" der drei Offerenten bei
den Zuschlagskriterien ,,Qualität/Referenzen", ,,Termin" und ,,Er-
fahrung" mit Sicherheit nicht. Der Vorwurf der Beschwerdeführerin,
die vorgenommene Bewertung sei nicht transparent und verstosse
gegen die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Transparenz,
erscheint berechtigt. | 4,293 | 3,561 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-75_2000-12-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-75.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-75.pdf | AGVE_2000_75 | null | nan |
41bb0313-633e-58c4-8a5b-978f81f90b37 | 1 | 412 | 870,029 | 1,202,083,200,000 | 2,008 | de | 2008
Sozialhilfe
225
37
Auslandaufenthalt (Ferien) eines Sozialhilfeempfängers.
-
Der Unterstützungswohnsitz wird durch einen vorübergehenden Fe-
rienaufenthalt im Ausland nicht verändert oder unterbrochen
(Erw. 2.1).
-
§ 10 Abs. 5 lit. a SPV regelt die Finanzierung von Zusatzkosten, die
mit Urlaubs- und Erholungsaufenthalten verbunden sind (Erw. 2.3).
-
Kürzung der Sozialhilfe wegen Verletzung der Meldepflicht (Erw. 3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 20. Februar 2008 in Sa-
chen G.S. gegen das Bezirksamt Rheinfelden (WBE.2007.254/255).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Art. 1 Abs. 1 ZUG bestimmt, welcher Kanton für die Unterstüt-
zung eines Bedürftigen, der sich in der Schweiz aufhält, zuständig
ist. Die Bestimmungen im ZUG regeln nur die interkantonale Zu-
ständigkeit und nicht die Unterstützung der Hilfe suchenden Perso-
nen (Werner Thomet, in: Kommentar zum Bundesgesetz über die Zu-
ständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], 2. Auflage,
Zürich 1994, Rz. 55). Deshalb kann nicht aus dem ZUG abgeleitet
werden, ob der Beschwerdeführer einen Anspruch auf materielle Un-
terstützung hat. Die Voraussetzungen der Sozialhilfe regeln vielmehr
die kantonalen Sozialhilfegesetze (vgl. auch Handbuch Sozialhilfe,
hrsg. vom Kantonalen Sozialdienst, Kapitel 4.1 und 4.1.3).
Ausgehend von Wohnortsprinzip (Art. 24 Abs. 1 und Art. 115
BV; Thomet, a.a.O., Rz. 27) bestimmt Art. 4 Abs. 1 ZUG den Wohn-
kanton und § 6 Abs. 1 und 2 SPG i.V.m. Art. 4 ZUG den Wohnort als
Unterstützungswohnsitz. Nur bei Personen ohne Unterstützungs-
2008
Verwaltungsgericht
226
wohnsitz und im Notfall ist die Gemeinde am Aufenthaltsort der
Hilfe suchenden Person zuständig. Der Unterstützungswohnsitz be-
findet sich im internationalen, inter- und innerkantonalen Verhältnis
am Ort, wo sich die Hilfe suchende Person mit der Absicht dauern-
den Verbleibens aufhält (vgl. dazu Art. 23 Abs. 1 ZGB; Art. 20 IPRG
und § 6 SPG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 ZUG). Der Unterstützungswohnsitz
wird durch einen vorübergehenden Ferienaufenthalt im Ausland
nicht verändert oder unterbrochen. Die Gemeinde X. ist demnach
auch während der Auslandaufenthalte des Beschwerdeführers für die
Gewährung von materieller Unterstützung örtlich zuständig.
Den Bestimmungen im SPG und in der SPV oder den Richtli-
nien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe, hrsg. von
der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, vom Dezember 2000
(SKOS-Richtlinien) ist sodann keine Norm zu entnehmen, wonach
die Unterstützung entfällt, wenn der Sozialhilfeempfänger kurzfristig
im Ausland weilt.
2.2.
Die Verordnung (EWG) 1408/71 vom 14. Juni 1971 (Verord-
nung zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Ar-
beitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
[SR 0.831.109.268.1]) regelt die Rechte von Erwerbstätigen bei der
Zu- oder Auswanderung in einen Vertragsstaat. Diese Verordnung ist
auf die Sozialhilfe nicht anwendbar (Art. 4 Abs. 4 der Verordnung).
Der Beschwerdeführer hat, wie bereits dargelegt (siehe vorne
Erw. 2.1), seinen Wohnsitz nicht verändert, sondern sein Unterstüt-
zungswohnsitz blieb in der Gemeinde X. Die Verordnung kann des-
halb keine Kürzung der materiellen Hilfe begründen.
2.3.
Nach den SKOS-Richtlinien sind langfristig unterstützten Per-
sonen, die nach Kräften erwerbstätig sind, Betreuungsaufgaben
wahrnehmen oder vergleichbare Eigenleistungen erbringen, Urlaubs-
oder Erholungsaufenthalte zu ermöglichen. Für die Finanzierung
können Fonds und Stiftungen beigezogen werden (SKOS-Richtli-
nien, Kapitel C.7). Abweichend von den SKOS-Richtlinien erfolgt
2008
Sozialhilfe
227
die Finanzierung der Kosten von Urlaubs- oder Erholungsaufenthal-
ten in der Regel über Fonds und Stiftungen (§ 10 Abs. 5 lit. a SPV).
In § 10 Abs. 5 lit. a SPV geht es um die Finanzierung der Zu-
satzkosten, die mit Urlaubs- und Erholungsaufenthalten verbunden
sind (vgl. Handbuch Sozialhilfe, Kapitel 5, S. 54). Die genannte Be-
stimmung und die SKOS-Richtlinien lassen keine Reduktion der ma-
teriellen Hilfe durch die Gemeinde und zulasten Dritter zu. Der Be-
schwerdeführer machte für seinen Auslandaufenthalt keine zusätzlich
zur materiellen Unterstützung anfallenden Mehrkosten geltend. § 10
Abs. 5 lit. a SPV ist daher vorliegend nicht anwendbar, zumal dem
Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden kann, er habe einen
rechtzeitigen Antrag auf eine zusätzliche Unterstützung unterlassen.
3.
3.1.
Personen, die Leistungen nach dem Sozialhilfe- und Präventi-
onsgesetz geltend machen oder beziehen, sind verpflichtet, Verände-
rungen in ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen um-
gehend zu melden (§ 2 Abs. 3 SPG i.V.m. § 1 Abs. 1 SPV).
3.2.
Die Gewährung materieller Hilfe kann mit Auflagen und Wei-
sungen verbunden werden, welche die richtige Verwendung sichern
oder die Lage der Hilfe suchenden Person und ihrer Angehörigen
verbessern, wie Bestimmungen über die zweckmässige Verwendung
der materiellen Hilfe, die Aufnahme zumutbarer Arbeit oder andere
Verhaltensregeln, die nach den Umständen angebracht erscheinen
(§ 13 Abs. 1 SPG; § 14 lit. d-f SPV). Werden Auflagen oder Weisun-
gen, die unter Androhung der Folgen der Missachtung erlassen wur-
den, nicht befolgt, kann die materielle Hilfe gekürzt werden (§ 13
Abs. 2 SPG).
3.3.
Voraussetzung für eine Kürzung der materiellen Hilfe wegen
Missachtung einer Auflage oder Weisung ist, dass dem Betroffenen
die Auflage oder Weisung i.S.v. § 13 SPG i.V.m. § 14 SPV eröffnet
wurde. Die Verwarnung mit Kürzungsandrohung kann gleichzeitig
mit der Auflage bzw. Weisung verfügt werden (AGVE 2005, S. 285).
2008
Verwaltungsgericht
228
3.4.
Am 25. September 2006 beschloss der Sozialdienst der Ge-
meinde X. u.a. Folgendes:
"4.
Herr S. wird darauf aufmerksam gemacht, Änderungen künftig dem
Sozialdienst im Voraus mitzuteilen. Rückwirkende Änderungen werden in
Zukunft nicht mehr berücksichtigt."
Der Sozialdienst der Gemeinde X. führte in der Begründung an,
der Beschwerdeführer habe mit nachträglichen Mitteilungen betref-
fend Wochenendaufenthalte und Änderungen im Haushalt seine
Meldepflicht verletzt und verwaltungsadministrative Mehrarbeit ver-
ursacht. Die Gemeinde behalte sich vor, allenfalls ungerechtfertigte
Leistungen ab August 2005 vom Beschwerdeführer zurückzufordern,
weil er vom Sozialdienst verlangte Unterlagen noch immer nicht
eingereicht habe.
In Ziff. 4 des genannten Beschlusses wurde der Beschwerdefüh-
rer auf die gesetzliche Meldepflicht nach § 2 Abs. 3 SPG i.V.m. § 1
Abs. 1 SPV ausdrücklich hingewiesen. Eine über die allgemeine
Meldepflicht hinausgehende konkrete Weisung, sämtliche - auch
vorübergehende - Ferienabwesenheiten oder Auslandaufenthalte mit-
zuteilen, wurde dem Beschwerdeführer indessen nicht erteilt. Ins-
besondere fehlt eine für den Vollzug der Kürzung vorausgesetzte ent-
sprechende Verwarnung des Beschwerdeführers (§ 13 Abs. 2 SPG;
siehe vorne Erw. 3.3). Der Auslandaufenthalt von 14 Tagen hatte
keine offenkundigen und für den Beschwerdeführer erkennbaren
Auswirkungen auf die Höhe der bewilligten materiellen Hilfe. Die
Sozialbehörden machen auch nicht substantiiert geltend, der Be-
schwerdegegner habe durch den Aufenthalt in Italien Einsparungen
erzielen können. Anhaltspunkte für substantielle Sparmöglichkeiten
sind auch den Akten nicht zu entnehmen. Nicht beanstandet wurde
sodann, dass der Beschwerdeführer und zwei seiner Kinder für 14
Tage in den Ferien weilten. Unter diesen Umständen kann die feh-
lende Ankündigung des Auslandaufenthalts vom 19. Februar 2007
bis 3. März 2007 keine Kürzung der materiellen Hilfe für den Monat
März 2007 rechtfertigen. Eine Kürzung wegen Verletzung von Auf-
2008
Sozialhilfe
229
lagen und Weisungen ist im Übrigen auf 65 % des Grundbedarfs I
beschränkt (§ 15 Abs. 2 SPV).
3.5.
Abweichend präsentiert sich demgegenüber die Ausgangssitua-
tion für den Auslandaufenthalt des Beschwerdeführers vom 6. bis
13. April 2007. Mit Beschluss vom 26. Februar 2007 wurde dem Be-
schwerdeführer die Weisung erteilt, "in Zukunft Änderungen in Be-
zug zur persönlichen und finanziellen Situation" unverzüglich zu
melden. Aus der Begründung ergibt sich unmissverständlich, dass die
Sozialbehörden vom Beschwerdeführer die vorgängige Mitteilung
über geplante Ferien- und Auslandaufenthalte erwarten. Er wurde
auch auf die Folgen bei Nichteinhaltung der Weisung hingewiesen.
Der Sozialdienst hat ihn zudem mündlich über diese Pflicht orien-
tiert. Der Beschwerdeführer hat dies auch nicht bestritten. Indem er
trotzdem ohne Meldung an den Sozialdienst für sieben Tage nach Ita-
lien ging, hat er die Meldepflicht daher klar verletzt.
Bei dieser Meldepflicht geht es nicht um die Bewilligungs-
pflicht für kurzfristige Ortsabwesenheiten oder um eine Einschrän-
kung der familiären Beziehungen oder der persönlichen Freiheit. Die
Sozialbehörden sind vielmehr verpflichtet, die zweckmässige Ver-
wendung der materiellen Hilfe sicherzustellen und die Anspruchvor-
aussetzungen, insbesondere die Bedürftigkeit, zu prüfen. Längere
Auslandaufenthalte können einerseits dazu führen, dass die Sozial-
hilfe für Reisekosten etc. zweckentfremdet wird. Nicht auszuschlies-
sen ist, dass Auslandaufenthalte mit Zuwendungen oder anderen
Leistungen von Drittpersonen finanziert werden, welche als eigene
Mittel gemäss § 11 SPG anzurechnen sind (vgl. § 11 Abs. 2 SPV).
Schliesslich können längere Auslandaufenthalte Anlass für die An-
passung der materiellen Unterstützung sein, wenn sich die unter-
stützte Person in einem Land mit tieferen Lebenshaltungskosten auf-
hält.
3.6.
§ 13 Abs. 2 SPG sieht ausdrücklich die Möglichkeit der Leis-
tungskürzung vor, wenn Auflagen und Weisungen nicht befolgt wur-
den. Bei der Kürzung der materiellen Hilfe ist die Existenzsicherung
zu beachten (§ 15 Abs. 1 Satz 1 SPV), welche bei 65 % des Grund-
2008
Verwaltungsgericht
230
bedarfs I gemäss SKOS-Richtlinien liegt (Abs. 2 Satz 1). Verhält sich
die unterstützte Person rechtsmissbräuchlich, kann eine Kürzung
auch unter die Existenzsicherung erfolgen oder die materielle Hilfe
ganz eingestellt werden (Abs. 3 Satz 1). (...)
4.
Zusammenfassend kann dem Beschwerdeführer nur im Zu-
sammenhang mit dem Auslandaufenthalt im April 2007 eine Verlet-
zung der Meldepflicht vorgeworfen werden. Die Beschwerde gegen
den Entscheid des Bezirksamts Rheinfelden vom 18. Juli 2007 ist
daher gutzuheissen. Die Kürzung mit Verfügung vom 23. April 2007
ist demgegenüber nicht zu beanstanden und die Beschwerde gegen
den vorinstanzlichen Entscheid vom 6. August 2007 folglich abzu-
weisen. | 2,411 | 1,928 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-37_2008-02-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-37.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-37.pdf | AGVE_2008_37 | null | nan |
42042d89-04b2-5b56-80c9-6a74221dc52e | 1 | 412 | 871,584 | 1,244,073,600,000 | 2,009 | de | 2009
Verwaltungsgericht
210
[...]
40
Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts und Schadenersatz gemäss § 38
SubmD; Praxisänderung zu AGVE 2003, S. 274
-
Die Haftungs- und Zuständigkeitsnorm des SubmD ist auch auf
rechtswidrige Vergaben unterhalb des GATT-Bereichs anwendbar.
-
Eigenleistungen, Parteikosten und vorprozessuale Anwaltskosten als
Schadenersatz.
2009
Submissionen
211
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 30. Juni 2009 in Sachen
K.P. gegen Gemeinde X. (WKL.2007.1).
Aus den Erwägungen
I.
2.
2.1.
Gemäss § 38 Abs. 1 SubmD haftet die Vergabestelle für Schä-
den, die sie durch eine rechtswidrige Verfügung verursacht hat. Das
Schadenersatzbegehren ist gemäss § 38 Abs. 3 SubmD innert Jah-
resfrist, nachdem die Rechtswidrigkeit in einem Beschwerdeent-
scheid festgestellt worden ist, bei der Beschwerdeinstanz einzurei-
chen. § 38 SubmD ist systematisch unter den zusätzlichen Bestim-
mungen eingereiht, die für Vergaben zur Anwendung kommen, die
die Schwellenwerte für die Anwendung des GATT/WTO-Überein-
kommens über das öffentliche Beschaffungswesen oder des Ab-
kommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte des öffentlichen
Beschaffungswesens erreichen (siehe § 29 ff. SubmD). Unter diesem
Gesichtspunkt hat das Verwaltungsgericht in einem publizierten
Urteil vom 27. Juni 2003 ohne nähere Begründung ausgeführt, dass
für rechtswidrige Vergaben, die nicht dem GATT-Abkommen
unterstehen, die spezialgesetzliche Schadenersatzregelung von § 38
SubmD nicht zur Anwendung gelange (VGE IV/19 vom 27. Juni
2003 [KL.2001.00004], Erw. 2.d.dd, in: AGVE 2003, S. 274).
2.2.
Die Klägerin macht unter Bezugnahme auf die Materialien gel-
tend, ein genereller Ausschluss eines öffentlich-rechtlichen Schaden-
ersatzanspruchs einer widerrechtlichen Vergabe verstosse gegen
Art. 9 Abs. 3 BGBM und Art. 18 Abs. 2 IVöB. Das Bundesrecht ver-
lange, dass der widerrechtlich um den Auftrag gebrachte Anbieter,
auch unterhalb der GATT-Schwellenwerte, einen öffentlich-rechtli-
chen Schadenersatzanspruch habe. Die vom Verwaltungsgericht er-
wogene Unterscheidung der Zuständigkeiten für vergaberechtliche
2009
Verwaltungsgericht
212
Schadenersatzansprüche, allein gestützt auf die Schwellenwerte, sei
weder sachgerecht noch prozessökonomisch. Die Beklagte schliesst
sich diesem Standpunkt an.
2.3.
Die sachliche Zuständigkeit hat das Verwaltungsgericht von
Amtes wegen zu prüfen. Diese zwingende Regelung kann weder
durch Parteivereinbarung noch durch Einlassung abgeändert werden
(AGVE 1996, S. 173).
Die Beurteilung dieser Frage rechtfertigt eine Besetzung mit
fünf Richtern (§ 46 GOD) unter Mitwirkung des Präsidenten der
3. Kammer (§ 7 des Reglements des Verwaltungsgerichts über die
Geschäftsverteilung).
2.4.
Das Verwaltungsgericht schloss aus den Materialien zur syste-
matischen Eingliederung von § 38 SubmD (im 2. Teil des Submissi-
onsdekrets), ohne nähere Begründung, die Anwendung dieser spezi-
algesetzlichen Regelung auf Vergaben, die nicht dem GATT-Ab-
kommen unterstehen, aus. Diese Auffassung hält einer näheren Prü-
fung nicht stand.
2.4.1.
Die systematische Einordnung von § 38 SubmD im 2. Teil des
Submissionsdekrets lässt sich aus der Entstehungsgeschichte des
Dekrets erklären. Noch im Vernehmlassungsentwurf des Regie-
rungsrates vom 1. Dezember 1995 war die Schadenersatzklage des
widerrechtlich unberücksichtigten Anbieters im Allgemeinen Teil
geregelt. Regierungsrat Pfisterer hat in der Kommissionsberatung zur
Verschiebung folgendes ausgeführt:
"Die fragliche Bestimmung war ursprünglich dem Allgemeinen
Teil zugeordnet, was jedoch im Vernehmlassungsverfahren auf
erheblichen Widerstand stiess. Es wurde geltend gemacht, dass es
unnötig sei, den Anwendungsbereich dieser GATT-Regeln auf die
Vergabe, die nicht dem Besonderen Teil unterstehen, auszudehnen.
Diesen Einwänden hat man Rechnung getragen. Sollte sich die Be-
stimmung in der Praxis bewähren, wird es aber kein Problem sein,
diese wieder in den Allgemeinen Teil zu verlegen. Im Übrigen kennt
auch der Bund eine solche Zweiteilung."
2009
Submissionen
213
(Protokoll der 3. Sitzung der nichtständigen Kommission Nr. 19
vom 4. September 1996, S. 28).
Das Motiv, die Schadenersatzregelung nur auf den GATT-Be-
reich, nicht aber auf die übrigen Vergaben anzuwenden, erscheint bei
näherer Prüfung jedoch nicht schlüssig. § 38 SubmD enthält nicht
nur eine spezielle Rechtschutzbestimmung für die vergaberechtliche
Verantwortlichkeit (Abs. 1 und 2), sondern im Abs. 3 auch eine Zu-
ständigkeitsbestimmung. Umstritten war in den Beratungen der
Anwendungsbereich der GATT-Regeln, nicht aber die Zuständigkeit
der Beschwerdeinstanz zur Beurteilung von Schadenersatzklagen.
Mit der Verschiebung der Bestimmung aus dem allgemeinen Teil
wurde und konnte die Geltendmachung von Schadenersatzan-
sprüchen nicht ausgeschlossen werden. Aufgrund des Verantwort-
lichkeitsgesetzes vom 14. März 1958 (VG; SR 170.32) und unmittel-
bar aus § 75 Abs. 2 KV haften der Kanton und die Gemeinden für
widerrechtlich - und ausnahmsweise für rechtmässig - zugefügten
Schaden. Der Hinweis auf eine bundesrechtliche Zweiteilung des
Rechtschutzes bei widerrechtlichen Vergaben ist zudem nicht kor-
rekt. Im Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen vom
16. Dezember 1994 (BoeB; SR 172.056.1) ist die Regelung betref-
fend Schadenersatzansprüche nach der Feststellung der Rechtswid-
rigkeit einer Vergabeverfügung (Art. 34 BoeB) einheitlich geregelt.
Nur in den Fällen, in denen die Rechtswidrigkeit einer Vergabe nicht
im (Feststellungs-) Verfahren nach Art. 32 Abs. 2 oder Art. 33 BoeB
festgestellt worden ist, kommt das Verantwortlichkeitsgesetz des
Bundes zur Anwendung (Art. 34 Abs. 3 BoeB; vgl. hiezu die Ent-
scheide der Eidgen. Rekurskommission für das öffentliche Beschaf-
fungswesen [BRK] 18/00 Erw. 4.a und BRK 5/01 Erw. 3.b; Peter
Galli / André Moser / Elisabeth Lang / Evelyne Clerc, Praxis des öf-
fentlichen Beschaffungsrechts, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2007,
Rz. 942). Keine Unterschiede bestehen hinsichtlich der zuständigen
Instanz für die vergaberechtlichen Schadenersatzklagen (Art. 35
BoeB).
2.4.2.
§ 27 Abs. 2 SubmD sieht auch für die Vergaben unterhalb der
GATT-Schwellenwerte ausdrücklich einen Feststellungsentscheid zu
2009
Verwaltungsgericht
214
einer widerrechtlichen Vergabe im Beschwerdeverfahren vor. Ein
solcher Feststellungsentscheid macht jedoch nur Sinn, wenn in einem
(anschliessenden) vergaberechtlichen Sekundärrechtschutz (siehe
dazu Martin Beyeler, Öffentliche Beschaffung, Vergaberecht und
Schadenersatz, Diss. Fribourg 2004, Rz. 388) über die Schaden-
ersatzansprüche entschieden wird. Einen sekundären Rechtschutz
haben die Kantone nach Art.
18
Abs.
2
IVöB und Art.
9
Abs.
3
BGBM implizit zu gewährleisten (Beyeler, a.a.O., Rz.
565 f.;
BGE
132 I 86 Erw. 3.2 und Urteil des Bundesgerichts vom
31. Januar 2002 [2P.218/2001], Erw. 2.3). Noch in der Botschaft vom
22. Mai 1996 wurde denn auch festgehalten, dass die Schadener-
satzregelung in der IVöB vorgesehen ist (Botschaft des Regierungs-
rates vom 22. Mai 1996 [Nr. 7274], S. 20). Die blosse Feststellung
der Widerrechtlichkeit einer Vergabe vermag diesen Anforderungen
nicht zu genügen.
Der Feststellungsentscheid als (blosse) Grundlage für eine
Haftung der Vergabestelle nach dem Verantwortlichkeitsgesetz ist
aus verschiedenen materiellen Gründen problematisch. § 2 VG regelt
die Haftung von Kanton und Gemeinden, und bereits seine Anwen-
dung auf die Haftung der selbständigen Staatsanstalten ist fraglich
(siehe § 4 VG), geschweige denn, dass sämtliche Vergabestellen ge-
mäss § 5 SubmD unter das Verantwortlichkeitsgesetz fallen würden.
Eine kantonale Regelung in Anwendung von Art. 59 ZGB, wonach in
diesen Fällen das Bundeszivilrecht als kantonales Recht gelten würde
(siehe dazu BGE 96 II 337 Erw. 4.a), fehlt. Auch in der materiellen
Rechtsanwendung führte diese Rechtsweggabelung mit dem Wechsel
der Anspruchsgrundlagen zu heiklen Fragestellungen. So kennt das
Verantwortlichkeitsgesetz die Haftungsbeschränkung des §
38
Abs. 2 SubmD nicht, verlangt aber vom Geschädigten den Nachweis
eines Verschuldens (§ 2 VG). Offen ist im Weiteren, ob die
Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Vergabe durch das Verwal-
tungsgericht als qualifizierte Widerrechtlichkeit im Sinne des Ver-
antwortlichkeitsgesetzes genügt (BGE 123 II 577 Erw. 4.d).
Bei der Verschiebung der Bestimmungen über den sekundären
Rechtsschutz in den 2. Teil des Submissionsdekrets hat der Gesetz-
geber offensichtlich nicht bedacht, dass die damit beabsichtigte
2009
Submissionen
215
Folge, kein Schadenersatzanspruch aus der Widerrechtlichkeit einer
Vergabe, nicht möglich ist, sondern nur zu einer komplizierten, we-
nig praktikablen Änderung der Anspruchsgrundlagen mit nicht zu
rechtfertigenden Unterschieden im Haftungsumfang, den Haftungs-
voraussetzungen und der Rechtsstellung des Geschädigten wie der
Vergabestelle unterhalb des GATT-Bereichs führt. In den Beratungen
des Grossen Rates wurden diese Bestimmungen denn auch dis-
kussionslos genehmigt (Protokoll des Grossen Rates vom 26. No-
vember 1996 [Art. 1995], S. 622). Beim Erlass des Submissionsdek-
rets wollte der Gesetzgeber eine möglichst praxisfreundliche Umset-
zung der vielfältigen übergeordneten Regelungen (Botschaft, S. 4).
Die systematische Stellung von § 38 SubmD weist damit nach den
Ziel- und Wertvorstellungen des Gesetzgebers sowie den bundes-
rechtlichen und kantonalrechtlichen Vorgaben eine planwidrige Un-
vollständigkeit, eine echte Lücke, auf. Anzunehmen ist, dass der Ge-
setzgeber anders legiferiert hätte, wäre er sich der Rechtslage und der
Folgen dieser Verschiebung bewusst gewesen (AGVE 2001, S. 352).
Das Fehlen des subsidiären vergaberechtlichen Rechtsschutzes im
Allgemeinen Teil des SubmD (Erster Teil, §§ 1 ff. SubmD) bedeutet
eine ausfüllungsbedürftige Lücke und keine bewusst negative Ant-
wort des Gesetzes (dazu BGE 131 II 562 Erw. 3.5 mit Hinweisen;
Ulrich Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Ver-
waltungsrecht, 5. Auflage, Zürich 2006, Rz. 234). Aus den vorste-
henden Erwägungen ergibt sich, dass § 38 SubmD entgegen seiner
systematischen Stellung im 2. Teil des Submissionsdekrets auf alle
Fälle anzuwenden ist, in denen im Beschwerdeverfahren nach § 24
SubmD ein Feststellungsentscheid über eine rechtswidrige Vergabe
vorliegt. Eine Rechtsanwendung mit unterschiedlichen Anspruchs-
voraussetzungen lässt sich mit dem Willen des Gesetzgebers und den
bundesrechtlichen Vorgaben nicht in Einklang bringen. Nur eine
analoge Anwendung von § 38 SubmD auch unterhalb des GATT-Be-
reichs ist mit dem Ziel und Zweck des sekundären Rechtschutzes im
Vergaberecht sachgerecht vereinbar (BGE 131 III 61 Erw. 2.2 mit
Hinweisen). Die gleichgelagerten sachlichen Verhältnisse und der
nämliche Regelungszusammenhang rechtfertigen diesen Analogie-
schluss (BGE 130 V 71 Erw. 3.2.1). Entgegen der Rechtsprechung in
2009
Verwaltungsgericht
216
AGVE 2003, S. 274 ist daher § 38 SubmD auch auf rechtswidrige
Vergaben unterhalb des GATT-Bereichs anwendbar.
2.4.3.
Folge dieser Rechtsanwendung ist die Zuständigkeit des Ver-
waltungsgerichts gemäss § 38 Abs. 3 SubmD. Die Zuständigkeit des
Verwaltungsgerichts war in der Rechtsetzung unumstritten und ent-
spricht dem Grundsatz, dass Haftungsklagen aus öffentlichem Recht
mit verwaltungsgerichtlicher Klage geltend zu machen sind (siehe
Entwurf Haftungsgesetz vom 24. März 2009, § 11).
3.-5. (...)
II.
1.-2. (...)
3.
3.1.-3.4. (...)
3.5.
Die Klägerin macht im Zusammenhang mit den Eigenleistun-
gen in den Beschwerdeverfahren einen Schaden von Fr. 5'252.05
(Fr. 4'881.10 + 7,6% MWSt) geltend. Die Beklagte ist der Meinung,
die Geltendmachung von Aufwendungen im Zusammenhang mit den
Rechtsmittelverfahren sei der Klägerin u.a. verwehrt, weil unge-
deckte Parteikosten aus einem Rechtsmittelverfahren nicht Schaden
im Sinne von § 38 Abs. 2 SubmD sei.
3.5.1.
Gemäss § 38 Abs. 2 SubmD sind dem geschädigten Anbieter,
nebst den Aufwendungen im Zusammenhang mit der Ausarbeitung
der Offertenunterlagen, auch die Aufwendungen für das Rechtsmit-
telverfahren zu ersetzen. Ersatzpflichtige Aufwendungen im Be-
schwerdeverfahren sind jene Leistungen, welche im Hinblick auf den
Primärrechtschutz erbracht und nutzlos geworden sind (AGVE 2003,
S. 273). Wurde das Submissionsverfahren nach der Aufhebung des
Zuschlags rechtswidrig abgebrochen, waren auch die notwendigen
Kosten für das Beschwerdeverfahren vergeblich. Die Klägerin ist
somit in der gleichen Lage, wie wenn das Verfahren vor dem Zu-
schlag nicht weitergeführt wurde. Somit umfasst der Entschädi-
gungsanspruch aus § 38 Abs. 2 SubmD alle Aufwendungen des An-
bieters für ein Submissionsverfahren vom Angebot bis zum Abbruch
2009
Submissionen
217
des Submissionsverfahrens, somit auch für die Leistungen und Be-
mühungen in Beschwerdeverfahren, welche zur Aufhebung des Zu-
schlags führten. Prozessual tritt diese Rechtsfolge schon mit der
Rückweisung durch das Verwaltungsgericht ein (§ 58 aVRPG).
Als Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel-
verfahren qualifizierte die Lehre unter anderem auch die Löhne der
Angestellten des Anbieters, welche an der Beschwerdeführung mit-
wirken (Beyeler, a.a.O., Rz. 634; Peter Gauch, Das neue Beschaf-
fungsgesetz des Bundes - Bundesgesetz über das öffentliche Be-
schaffungswesen vom 16. Dezember 1994, in: ZSR 1999 I, S. 330).
Soweit die Aufwendungen der Klägerin nicht als nutzlos zu
betrachten sind, ist kein Grund ersichtlich, diese Aufwendungen
nicht als Schadenersatzposten dazuzurechnen. Für die Instruktion des
Anwalts und die Zusammenstellung der Unterlagen für eine Be-
schwerde erbrachte Leistungen sind daher ersatzfähig, wenn diese
vernünftigerweise erforderlich waren, um das Rechtsmittelverfahren
mit Aussicht auf Erfolg vorzubereiten und durchzuführen.
3.5.2.
Die Leistungen in den Beschwerdeverfahren beziffert die Klä-
gerin mit Fr. 5'252.05 (siehe vorne Erw. 3.5). Dieser Aufwand wird
mit rund 14 Stunden des 'Leitenden Ingenieurs' und rund 13 Stunden
des 'Erfahrenen Ingenieurs' für die beiden Beschwerdeverfahren be-
gründet und umfasst gemäss Leistungsjournal mehrere Besprechun-
gen mit dem Anwalt, das Aktenstudium und das Bereitstellen der
Unterlagen für die Beschwerden. Der Aufwand erscheint weder un-
nötig noch wird ein Aufwand geltend gemacht, der bei verwaltungs-
gerichtlichen Beschwerdeverfahren in Submissionsstreitigkeiten als
unüblich erscheint. Substantiierte Einwendungen gegen die ausge-
wiesenen Stunden und Spesen werden auch von der Beklagten nicht
erhoben. Es rechtfertigt sich daher, die ausgewiesenen Stunden und
Spesen für die Beschwerdeverfahren der Schadensberechnung zu-
grunde zu legen. Ohne Mehrwertsteuer und nach Abzug der 15%
(siehe vorne Erw. 3.4.3) beträgt der ausgewiesene Schaden für das
Beschwerdeverfahren demnach Fr. 4'148.95 (4'881.10 ./. 15%).
2009
Verwaltungsgericht
218
3.5.3.
Diese Schadenersatzforderung ist, entgegen der Auffassung der
Beklagten, nicht Teil der Parteientschädigung und auch nicht mit der
Kostenverlegung in den beiden Beschwerdeentscheiden rechtskräftig
entschieden. Die Parteientschädigung gemäss § 36 Abs. 2 aVRPG
umfasst nur die Kosten der Vertretung, Verbeiständung oder Bera-
tung nicht aber die sog. Parteikosten (AGVE 2001, S. 583 mit Hin-
weis; siehe auch die besondere Regelung für die Zivilverfahren in
§ 31 VKD).
3.6. (...)
3.7.
Die Klägerin macht bei ihrer Schadenersatzforderung für die
Leistungen auch den Betrag für die Mehrwertsteuer geltend. Nach
Art. 5 des Bundesgesetzes über die Mehrwertsteuer vom 2. Sep-
tember 1999 (Mehrwertsteuergesetz, MWSTG; SR 641.20)
unterliegen Lieferungen und Dienstleistungen der Mehrwertsteuer
nur, wenn sie gegen Entgelt erbracht werden. Die Entgeltlichkeit er-
fordert einen Leistungsaustausch zwischen dem steuerpflichtigen
Leistungserbringer und dem Empfänger. Findet bei einer Schadener-
satzzahlung kein Leistungsaustausch statt, liegt auch keine mehr-
wertsteuerrechtliche Aktivität vor. Massgeblich ist, dass die Entschä-
digung geschuldet ist, weil der Geschädigte gegen seinen Willen ei-
nen Schaden erlitten hat, der den Verantwortlichen zur Wiederher-
stellung des früheren Zustands verpflichtet (Urteil des Bundesver-
waltungsgerichts vom 8. Januar 2008 [A-1539/2006], Erw. 2.2.2 mit
weiteren Hinweisen). Im vorliegenden Fall geht es darum den Scha-
den zu ersetzen, der durch die widerrechtlichen Verfügungen ent-
standen ist. Eine Gegenleistung der Klägerin ist dabei nicht ge-
schuldet. Der zu bezahlende Schadenersatz ist somit keine mehr-
wertsteuerrechtliche Aktivität.
4.
4.1.
Die Klägerin macht sodann zusätzliche Kosten für ihre Rechts-
vertretung in den beiden Beschwerdeverfahren geltend, da ihr die in
den Verwaltungsgerichtsurteilen zugesprochenen, aufgrund des
Streitwerts eher bescheiden ausgefallenen Parteientschädigungen
2009
Submissionen
219
nicht vollständig gedeckt worden seien. Die Beklagte ist jedoch der
Meinung, die Klägerin sei nicht berechtigt, ihren über die bereits
rechtskräftig zugesprochene Parteientschädigung hinausgehenden
Aufwand für die durchschrittenen Beschwerdeverfahren geltend zu
machen. Die Frage der Parteientschädigung in den Beschwerdever-
fahren sei rechtskräftig erledigt und könne vorliegend nicht mehr
aufgegriffen werden.
4.2.
Die Lehre ist der Meinung, dass die Differenz zwischen den tat-
sächlichen Parteivertretungskosten und den zugesprochenen Partei-
entschädigungen in den Beschwerdeverfahren als Schadenersatz im
Sekundärrechtsschutz geltend gemacht werden kann (statt vieler:
Beyeler, a.a.O., Rz. 652 mit Hinweisen). § 38 Abs. 2 SubmD stellt
entgegen der Meinung der Beklagten nicht bloss einen Verweis auf
das Recht der Parteientschädigung dar. Es ist kein Grund ersichtlich,
warum im Schadenersatzverfahren geregelt werden muss, dass im
vorangehenden Beschwerdeverfahren eine Parteientschädigung ge-
schuldet ist. Warum sollte auf etwas verwiesen werden, das in einem
früheren Verfahren bereits entschieden wurde. Im Primärrechtsschutz
ist es dem Beschwerdeführer verwehrt, Schadenersatz geltend zu
machen. Die Aufwendungen für die Rechtsvertretung werden auf-
grund des AnwT meistens nicht voll gedeckt. Die obsiegende Partei
muss diesfalls einen Teil der Rechtsvertretungskosten selbst
übernehmen. Für die Partei stellt dies eine Aufwendung im
Rechtsmittelverfahren dar. Diese Aufwendungen aus nicht gedeckten
Parteivertretungskosten können somit als (Rest-)Schaden im Rechts-
mittelverfahren geltend gemacht werden, geht es doch darum, das
negative Interesse der Klägerin auszugleichen. Der Anspruch ist
dabei auf den Teil der Parteikosten beschränkt, bei dem die Klägerin
im Beschwerdeverfahren obsiegte. Die Aufwendungen hinsichtlich
der Beschwerdeanträge, bei denen die Klägerin unterlag, waren
nutzlos und sind nicht zu ersetzen. Daraus ergibt sich, dass der Klä-
gerin aus dem Verfahren WBE.2005.212 ein Restschaden aus der
Parteientschädigung von Fr. 3'783.50 zusteht. Für das Verfahren
WBE.2006.24 ergibt sich ein Restanspruch von Fr. 379.30.
2009
Verwaltungsgericht
220
5.
5.1.
Die Klägerin macht vorprozessuale Anwaltskosten in Höhe von
Fr. 824.90 geltend. Die Beklagte führt aus, die Klägerin könne - ab-
gesehen von einer ihr allenfalls zuzusprechenden Parteientschädi-
gung gemäss § 36 aVRPG - keine Aufwendungen im Zusammen-
hang mit dem vorliegenden Klageverfahren gestützt auf § 38 SubmD
geltend machen.
5.2.
Das Bundesgericht und die herrschende Lehrmeinung vertreten
die Ansicht, dass die von einem Geschädigten aufgewendeten vor-
prozessualen Anwaltskosten einen Bestandteil des Schadens bilden,
soweit sie nicht durch die nach kantonalem Verfahrensrecht zuzu-
sprechende Parteientschädigung gedeckt sind (BGE 117 II 394,
Erw. 3.a; Urteil des Bundesgerichts vom 19. Mai 2003 [4C.11/2003],
Erw. 5; Alfred Bühler / Andreas Edelmann / Albert Killer, Kommen-
tar zur aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau 1998, § 121 Rz. 16
mit Hinweisen).
Diese - als vorprozessuale Anwaltskosten geltend gemachte -
Schadensposition betrifft die Aufwendungen des Rechtsvertreters der
Klägerin im Zeitraum zwischen dem 15. November 2006 und dem
7. Dezember 2006. Sie betreffen Aufwendungen ausserhalb des
Schadenersatzprozesses. Gemäss § 6 AnwT sind die vorprozessualen
Kosten nicht gedeckt. Dieser Schaden ist somit als Schaden im Zu-
sammenhang mit dem Rechtsmittelverfahren zu ersetzen (Beyeler,
a.a.O., Rz. 654 ff.). Auch das verwaltungsgerichtliche Klageverfah-
ren ist ein Rechtsmittelverfahren (Michael Merker, Rechtsmittel,
Klage und Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz
über die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar zu den §§ 38-72
VRPG, Diss. Zürich 1998, § 45 N 38). Die Kausalität zwischen dem
entstandenen Schaden und der widerrechtlichen Verfügung ist zu
bejahen, womit die Beklagte den geltend gemachten Schaden von
Fr. 824.90 zu ersetzen hat. | 4,803 | 3,695 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-40_2009-06-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-40.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-40.pdf | AGVE_2009_40 | null | nan |
4238cd3f-ab6e-5d35-8504-b71e4efa1a04 | 1 | 412 | 870,478 | 1,252,368,000,000 | 2,009 | de | 2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
181
[...]
35
Voranfrage i.S.v. § 28 AbauV
-
Zulässiger Gegenstand
-
Befangenheit der mit der Voranfrage befassten Baukommission
2009
Verwaltungsgericht
182
vgl. AGVE 2007, S. 105 ff.
(Hinweis: Das Bundesgericht hat eine Beschwerde gegen diesen
Entscheid teilweise gutgeheissen; Urteil vom 8. September 2009
[1C_150/2009]). | 106 | 81 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-35_2009-09-08 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-35.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-35.pdf | AGVE_2009_35 | null | nan |
4286e3b8-e147-54ec-b186-a8e37c54be2b | 1 | 412 | 870,303 | 1,007,424,000,000 | 2,001 | de | 2002
Verwaltungsgericht
272
[...]
70
Beginn des Fristenlaufs gemäss § 28 BauG.
-
Die Rechtsmittelfrist für die Beschwerde an das Verwaltungsgericht
beginnt am Tag nach der Publikation des Genehmigungsentscheides
im kantonalen Amtsblatt zu laufen.
-
Ein Anspruch auf individuelle Eröffnung des Genehmigungsentschei-
des besteht nicht.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 12. Dezember 2001 in
Sachen Pf. gegen Genehmigungsbeschluss des Grossen Rats.
Aus den Erwägungen
1. Entscheide des Grossen Rats und des Regierungsrats über die
Genehmigung von kommunalen Nutzungsplänen und -vorschriften
können von den in schutzwürdigen eigenen Interessen Betroffenen
und von den Gemeinden innert 20 Tagen seit der amtlichen Publika-
tion beim Verwaltungsgericht angefochten werden, das sie auf ihre
Rechtmässigkeit prüft (§ 28 BauG). Das Verwaltungsgericht ist somit
zur Behandlung des vorliegenden Falles sachlich zuständig.
2. Der Beschwerdeführer ficht mit seiner vom 11. Januar 1999
datierenden Beschwerde den Genehmigungsbeschluss des Grossen
Rats vom 28. Oktober 1997 an. Damit stellt sich vorab die Frage
nach der Rechtzeitigkeit der Beschwerde.
a) Gemäss § 28 BauG müssen die Genehmigungsentscheide in-
nert 20 Tagen seit der amtlichen Publikation angefochten werden.
Der grossrätliche Genehmigungsbeschluss wurde (zusammen mit
weiteren Genehmigungen von Gemeindebauvorschriften) im Amts-
blatt Nr. 46 vom 10. November 1997 (S. 1972) veröffentlicht. Die
Veröffentlichung der Staatskanzlei enthielt die folgende Rechtsmit-
telbelehrung:
2002
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
273
"1. Gegen diese Genehmigungsentscheide kann beim Verwaltungsgericht
des Kantons Aargau, Obere Vorstadt 40, 5000 Aarau, Beschwerde ge-
führt werden.
2.
Die nicht erstreckbare Beschwerdefrist von 20 Tagen beginnt mit der
Publikation im Amtsblatt des Kantons Aargau zu laufen.
3.
(...)
4.
(...)
5.
(...)
6.
(...)
7.
(...)
8.
Die Genehmigungsbeschlüsse und die einschlägigen Akten können
während der Beschwerdefrist bei der Abteilung Raumplanung des
Baudepartementes, Laurenzenvorstadt 11, in Aarau, eingesehen wer-
den.
9.
Ein Merkblatt mit Hinweisen zur Anwendung der Rechtsmittelbeleh-
rung kann beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau oder bei der
Staatskanzlei des Kantons Aargau bezogen werden. Der Beginn der
Beschwerdefrist wird mit dem Bezug dieses Merkblattes nicht aufge-
schoben."
Die zwanzigtägige Beschwerdefrist begann am Tag nach der
Publikation im Amtsblatt zu laufen und endete am 30. November
1997 bzw. auf Grund von § 31 VRPG i.V.m. § 81 Abs. 3 ZPO am
1. Dezember 1997. Die Beschwerde ist somit klarerweise nicht in-
nerhalb der gesetzlichen Rechtsmittelfrist beim Verwaltungsgericht
eingegangen.
b) Der Beschwerdeführer vertritt allerdings den Standpunkt, der
Genehmigungsbeschluss sei ihm nie offiziell eröffnet worden. Aus
der Vernehmlassung des Baudepartements geht hervor, dass es in der
Tat unterlassen wurde, dem Beschwerdeführer nach Erlass des Ge-
nehmigungsbeschlusses des Grossen Rats eine Kopie des Protokolls
mit entsprechender Rechtsmittelbelehrung zuzustellen. Das Baude-
partement befürwortet deshalb ein Eintreten auf die Beschwerde auf
Grund einer analogen Anwendung der Vorschriften über die Wieder-
aufnahme (§§ 27 f. VRPG).
c) Es stellt sich die Frage, ob ein Anspruch auf individuelle Er-
öffnung des Genehmigungsbeschlusses besteht.
2002
Verwaltungsgericht
274
aa) Neben der öffentlichen Publikation auch die schriftliche Be-
nachrichtigung der Eigentümer von Grundstücken im Planungsgebiet
sowie der Personen mit Sitz oder Wohnsitz im Planungsgebiet ver-
langt § 4 Abs. 2 ABauV für die öffentliche Auflage von Entwürfen zu
Nutzungsplänen und -vorschriften gemäss § 24 BauG. Gemäss § 5
Abs. 3 ABauV informiert der Gemeinderat vor Beginn der Be-
schwerdefrist (§ 26 BauG) die Eigentümer von Grundstücken sowie
Personen mit Sitz oder Wohnsitz im von der Änderung betroffenen
Gebiet, wenn der Beschluss des zuständigen Gemeindeorgans vom
öffentlich aufgelegten Entwurf abweicht. Darüber hinaus enthalten
aber weder das BauG noch die ABauV eine Verpflichtung zur per-
sönlichen Benachrichtigung der betroffenen Grundeigentümer. Ins-
besondere ist in § 28 BauG keine individuelle Eröffnung der Be-
schlüsse des Grossen Rats (oder des Regierungsrats) über die Ge-
nehmigung von Nutzungsvorschriften und -plänen vorgesehen. § 28
BauG geht als spezielle Regelung der Bestimmung von § 23 VRPG,
welche die Eröffnung von Verfügungen und Entscheiden allgemein
regelt, vor. Im Übrigen sieht aber auch das VRPG die öffentliche
Bekanntmachung vor: So bestimmt § 24 Abs. 2 VRPG, dass Verfü-
gungen und Entscheide, die an eine sehr grosse oder unbestimmte
Zahl von Betroffenen gerichtet sind, durch öffentliche Bekanntma-
chung zu eröffnen sind. Und gemäss § 24 Abs. 3 VRPG gelten öf-
fentlich bekannt gemachte Verfügungen und Entscheide für jeder-
mann, der betroffen ist.
bb) Auch aus dem Bundesrecht ergibt sich kein Anspruch auf
individuelle Eröffnung. Eine Pflicht zur persönlichen Benachrich-
tigung der einzelnen Grundeigentümer im Nutzungsplanungsverfah-
ren besteht nach Auffassung des Bundesgerichts nur dann, wenn sie
das kantonale Recht vorsieht (BGE 106 Ia 312; vgl. auch BGE 116 Ia
218 f.). Beschränkt sich das kantonale Recht hingegen auf die Pub-
likation und die öffentliche Auflage, verstösst dies nicht gegen Bun-
desrecht: Dass der von einem Nutzungsplan betroffene Eigentümer
vor der öffentlichen Auflage des Plans persönlich angehört werden
müsste, lässt sich aus Art. 33 RPG nicht ableiten. Diese Bestimmung
verlangt lediglich eine öffentliche Auflage der Nutzungspläne und
schreibt vor, dass das kantonale Recht wenigstens ein Rechtsmittel
2002
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
275
vorsehen muss, welches die volle Überprüfung durch eine Be-
schwerdebehörde erlaubt. Auch aus Art. 29 Abs. 2 BV ergibt sich
keine Pflicht des Gemeinwesens, die Grundeigentümer bei Erlass
oder Revision des Zonenplans persönlich zu benachrichtigen. Dies
gilt nicht nur bei einer Gesamtrevision des Zonenplans, sondern auch
bei einer Teilrevision (Urteil des Bundesgerichts vom 14. Oktober
1983, in: ZBl 86/1985, S. 164 ff., insbes. S. 168; vgl. auch Walter
Haller/Peter Karlen, Raumplanungs-, Bau- und Umweltrecht,
3. Auflage, Band I, Zürich 1999, Rz. 405; Leo Schürmann/Peter
Hänni,
Planungs-,
Bau-
und
besonderes
Umweltschutzrecht,
3. Auflage, Bern 1995, S. 420).
cc) Der gesetzgeberische Verzicht, eine individuelle Mittei-
lungspflicht von Genehmigungsbeschlüssen an die Grundeigentümer
zu statuieren, wird auch durch die Regelung von § 27 Abs. 2 BauG
gerechtfertigt. Nach dieser Vorschrift hat die Genehmigungsbehörde
für den Fall, dass sie Änderungen (von geringer Tragweite oder wenn
keine erhebliche Entscheidungsfreiheit besteht) vornimmt, den Ge-
meinderat und die in ihren schutzwürdigen Interessen Betroffenen
vorher
anzuhören. Damit wird den betroffenen Grundeigentümern
das rechtliche Gehör zur Sache gewährt. Zugleich erhalten sie
Kenntnis von der bevorstehenden Genehmigung. Gemäss bundesge-
richtlicher Rechtsprechung obliegt es dem Grundeigentümer, sich
ständig über die rechtliche Situation seiner Grundstücke auf dem
Laufenden zu halten und bei einer Änderung der Verhältnisse die
notwendigen Massnahmen zur Wahrung seiner Interessen zu ergrei-
fen (BGE 106 Ia 312 f.). Dies gilt erst recht in den Fällen von § 27
Abs. 2 BauG, wo der Grundeigentümer auf Grund der Anhörung mit
einer Änderung rechnen muss.
dd) Eine generelle Zustellung des grossrätlichen Beschlusses an
die Verfahrensbeteiligten entspricht im Übrigen offenbar auch nicht
der gängigen Praxis. Nur in jenen Fällen, in denen gegen den Be-
schluss des zuständigen Gemeindeorgans Beschwerde an den Regie-
rungsrat gemäss § 26 BauG erhoben worden ist, erfolgt eine indivi-
duelle Zustellung des Grossratsbeschlusses mit Bekanntgabe des
Datums der amtlichen Publikation. Denn auch für die Anfechtung
des Beschwerdeentscheids beginnt die Frist erst mit der Publikation
2002
Verwaltungsgericht
276
des Genehmigungsbeschlusses zu laufen. Im vorliegenden Fall hat
indessen kein Beschwerdeverfahren vor dem Regierungsrat stattge-
funden, da die Einwohnergemeindeversammlung V. dem Begehren
des Beschwerdeführers gefolgt war. Folglich kann sich der Be-
schwerdeführer auch nicht auf ein allfälliges Vertrauen in eine ent-
sprechende Zustellpraxis berufen. | 1,827 | 1,499 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-70_2001-12-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-70.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-70.pdf | AGVE_2002_70 | null | nan |
42bb5150-13b2-59e0-bf12-669c30508ab3 | 1 | 412 | 871,815 | 1,283,558,400,000 | 2,010 | de | 2010
Verwaltungsgericht
234
[...]
44
Anspruch auf ein Schulzeugnis; Verfügungscharakter und Anfechtbar-
keit.
Der Entscheid über den Anspruch auf Ausstellung eines Entlassungszeug-
nisses hat Verfügungscharakter und ist mit Beschwerde anfechtbar.
2010
Schulrecht
235
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 22. September 2010 in Sa-
chen D.A. gegen Kreisschulpflege H. und Regierungsrat (WBE.2009.392).
Aus den Erwägungen
4.
4.1.
Die Vorinstanz und der Schulrat K. sind auf die Begehren des
Beschwerdeführers nicht eingetreten mit der Begründung, dass we-
der das Zeugnis für das 2. Semester der 4. Sekundarschule, noch das
Entlassungszeugnis Verfügungscharakter hätten. Deshalb seien sie
keiner Verwaltungsbeschwerde zugänglich.
4.2
Der Beschwerdeführer macht geltend, Streitgegenstand sei nicht
der Inhalt der Zeugnisse, sondern die Verweigerung der Ausstellung
der in der Promotionsordnung vorgesehenen Zeugnisse.
4.3.
Auch in das revidierte Verwaltungsrechtspflegegesetz vom
4. Dezember 2007 wurde keine Umschreibung des Verfügungsbe-
griffs aufgenommen (vgl. § 26 VRPG). Nach der kantonaler Recht-
sprechung zum Verwaltungsrechtspflegegesetz 1968 war der Ver-
fügungsbegriff mit der Definition in Art. 5 Abs. 1 des Bundesgeset-
zes über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968
(VwVG) und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum - in-
zwischen aufgehobenen - Art. 97 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die
Organisation der Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943
(Bundesrechtspflegegesetz; OG) identisch (AGVE 1978 S. 300;
AGVE 1972 S. 339; M
ICHAEL
M
ERKER
, a.a.O., § 38 N 3). Nach die-
ser Rechsprechung gilt als Verfügung ein individueller, an den Ein-
zelnen gerichteter Hoheitsakt, durch welchen eine konkrete verwal-
tungsrechtliche Rechtsbeziehung gestaltend oder feststellend in ver-
bindlicher Weise geregelt wird. Die Verfügung ist also auf Rechts-
wirkung ausgerichtet (AGVE 2006 S. 85 Erw. 2.1; AGVE 1981
S. 209 f. je mit Hinweisen; BGE 131 I 13 Erw. 2.2). Diese Aus-
richtung erfährt mit der Feststellungsverfügung insoweit eine Aus-
2010
Verwaltungsgericht
236
nahme, als diese Verfügungsart Rechte und Pflichten nur autoritativ
feststellt, nicht begründet (Art. 25 und Art. 5 Abs. 1 lit. b und c
VwVG; U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
,
Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 5. Auflage, Zürich
2006, Rz. 858 ff., Rz. 862).
Auf dieser Grundlage wird in Lehre und Rechtsprechung der
Verfügungscharakter einzelner Zeugnis- und Prüfungsnoten verneint,
soweit sie für das Bestehen einer Prüfung oder den Erwerb eines
Diploms nicht relevant sind. Die einzelnen Schulnoten beeinflussen
ausserhalb eines Promotions- und Prüfungskontextes die Rechtslage
der benoteten Schüler nicht, sondern geben lediglich eine Leis-
tungsqualifikation wieder (vgl. H
ERBERT
P
LOTKE
, Schweizerisches
Schulrecht, 2. Auflage, Bern/Stuttgart/Wien 2003, Kapitel 21.721;
BGE 136 I 229, Erw. 2.2 mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts
vom 8. September 2005 [2P.208/2005] Erw. 2.1 und VGE III/35 vom
26. April 2005 [WBE.2005.34]). Bei Laufbahn relevanten Schul- und
Zeugnisnoten ist sodann zu differenzieren, ob sich die einzelne Note
allein oder im Rahmen eines Notendurchschnitts auf das Ergebnis
auswirkt. Zeugnis- und Prüfungsnoten ohne Auswirkungen auf den
Ausbildungsgang sind Teil der Begründung eines Prüfungs- oder
Promotionsentscheids, weshalb das schutzwürdige Interesse an einer
Änderung und damit die Beschwerdelegitimation fehlt. Führt demge-
genüber die Gutheissung eines Begehrens zu einer Änderung des
Ergebnisses eines Prüfungs- oder eines Promotionsentscheides, kann
nicht mehr von fehlenden Rechtswirkungen gesprochen werden.
4.4.
4.4.1. (...)
4.4.2.
Gemäss § 1 Abs. 2 und § 9 Abs. 2 der Promotionsordnung für
die Volksschule vom 16. Juli 1990 (Promotionsordnung; SAR
421.351) erhält jeder Schüler nach der Erfüllung der Schulpflicht in
der Sekundarschule bei seinem Austritt zusammen mit dem Halb-
jahreszeugnis ein Entlassungszeugnis, welches Auskunft gibt über
Leistung, Fleiss und Betragen im letzten Schuljahr. Der Anspruch auf
ein (ordentliches) Zeugnis besteht für jedes Schulhalbjahr (§ 1 Abs. 1
und § 9 Abs. 1 Pomotionsordnung). Für den Inhalt der Zeugnisse der
2010
Schulrecht
237
Sekundarschule sind die §§ 10 bis 12 der Promotionsordnung mass-
gebend. Das Entlassungszeugnis hat die Beurteilung im letzten
Schuljahr auszuweisen (§ 9 Abs. 2 Satz 2 Promotionsordnung). Ist
der Anspruch auf das Zeugnis oder die Erfüllung von Ansprüchen
aus der Promotionsordnung im Einzelfall Streitgegenstand, ent-
scheidet somit die zuständige Schulbehörde nicht über einzelne
Schulnoten oder über ein Beurteilungsergebnis, sondern über einen
(behaupteten) konkreten öffentlichrechtlichen Anspruch. Strittig ist
nicht die Leistung des Beschwerdeführers, sondern die Frage, ob er
einen Anspruch darauf hat, dass im Entlassungszeugnis die Noten
des 2. Schulsemesters einfliessen. Mit dem Nichteintretensentscheid
haben die Schulbehörden einen solchen Anspruch verneint und auch
die Vorinstanz stellt mit ihrem Prozessentscheid fest, dass aus § 9
Abs. 2 der Promotionsordnung die Schüler keine Ansprüche ableiten
können. Diese Entscheidungen und die Feststellung über den Inhalt
und die fehlende Grundlage eines Anspruchs des Beschwerdeführers
aus § 9 Abs. 2 Promotionsordnung erfüllen indessen alle Merkmale
einer Verfügung (vgl. Erw. II/4.3). Die Frage, ob der Anspruch be-
gründet ist, ist eine Frage der materiellen Beurteilung.
Auf den Beschwerdeantrag Ziff. 3 mit welchem der Beschwer-
deführer die Ausstellung eines Entlassungszeugnisses unter Einbezug
des Notenzeugnis für das zweite Semester des Schuljahres 2007/
2008 verlangt, ist daher einzutreten. Streitgegenstand ist damit nicht
die Beurteilung der schulischen Leistungen im Entlassungszeugnis,
oder die Begründung eines Entscheides, sondern die Frage, ob der
Nichteintretensentscheid der Schulbehörden und die Bestätigung die-
ser Entscheide durch die Vorinstanz, zu einer Rechtsverweigerung
führten.
(...) | 1,435 | 1,112 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-44_2010-09-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-44.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-44.pdf | AGVE_2010_44 | null | nan |
432a575f-3fd9-50d0-b811-a1df5bf4ccda | 1 | 412 | 871,754 | 1,514,937,600,000 | 2,018 | de | 2018
Anwalts- und Notariatsrecht
293
X. Anwalts- und Notariatsrecht
31
Anwaltsregister
-
Das Erfordernis der ständigen Berufsausübung für den Registerein-
trag (Art. 27 f. BGFA) verbietet EU/EFTA-Anwälten nicht, eine
Zweitkanzlei oder Geschäftsniederlassung in der Schweiz zu eröff-
nen.
-
Der Registereintrag von EU/EFTA-Anwälten für eine Zweitkanzlei
oder Geschäftsniederlassung in der Schweiz erfordert keine Aufent-
haltsbewilligung der Migrationsbehörden.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 24. Januar
2018, in Sachen A. gegen Anwaltskommission (WBE.2017.393).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Wien und führt dort
eine eigene Anwaltskanzlei. Er gibt an, sowohl in Österreich als auch
der Schweiz tätig sein und eine Zweitkanzlei bzw. Geschäfts-
niederlassung im Kanton Aargau eröffnen zu wollen. Diese Aus-
gangslage rechtfertigt, vorweg eingehender auf die massgeblichen
Rechtsgrundlagen einzugehen.
2.2.
Gemäss Art. 5 Abs. 1 FZA wird einem Dienstleistungserbringer
einschliesslich Gesellschaften gemäss Anhang I das Recht einge-
räumt, Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei
zu erbringen, deren tatsächliche Dauer 90 Arbeitstage pro Kalender-
jahr nicht überschreitet. Die Beschränkung entsprechender grenz-
überschreitender Dienstleistungen im Hoheitsgebiet einer Vertrags-
partei ist untersagt (vgl. Art. 17 lit. a Anhang I FZA).
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
294
Der freie Dienstleistungsverkehr umfasst die vorübergehend in
einem andern Mitgliedstaat ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit,
während die Niederlassungsfreiheit die auf Dauer in einem andern
Mitgliedstaat ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit regelt (vgl.
STEPHAN BREITENMOSER/ANDRÉ HUSHEER, Europarecht, Band II,
2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2002, Rz. 987). Das FZA sieht keine
vollständige Umsetzung des freien Dienstleistungsverkehrs, sondern
eine zeitlich begrenzte Liberalisierung der individuellen grenzüber-
schreitenden Dienstleistungen vor. Diese Liberalisierung umfasst die
befristete Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit jedenfalls
grundsätzlich ohne Niederlassung im Aufnahmestaat (vgl. DIETER W.
GROSSEN/CLAIRE DE PALÉZIEUX, Abkommen über die Freizügigkeit,
in: DANIEL THÜRER/ROLF H. WEBER/ROGER ZÄCH [Hrsg.], Bilate-
rale Verträge Schweiz - EG, Ein Handbuch, Zürich 2002, S. 123). Im
Anhang III FZA sind Rechtsakte und Mitteilungen von Gemein-
schaftsorganen aufgeführt, die im Bereich der gegenseitigen
Anerkennung von Berufsqualifikationen anzuwenden sind. Im Be-
reich der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs sind dies die RL
77/249/EWG des Rates der europäischen Gemeinschaften vom
22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des
freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. L 78 vom
26.3.77) sowie die RL 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Aus-
übung des Rechtsanwaltsberufs in einem andern Mitgliedstaat als
dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. L 77 vom
14.3.98).
2.3.
Die Schweiz ist staatsvertraglich verpflichtet, die Anwälte der
EU und EFTA zur Parteivertretung vor ihren Gerichten zuzulassen.
Diese Verpflichtung ist im BGFA umgesetzt (KASPAR SCHILLER,
Schweizerisches Anwaltsrecht, Grundlagen und Kernbereich,
Zürich/Basel/Genf 2009, Rz. 307). Danach können Angehörige von
Mitgliedstaaten der EU oder EFTA, die berechtigt sind, den Anwalts-
beruf in ihrem Herkunftsstaat unter einer der im Anhang aufgeführ-
ten Berufsbezeichnungen auszuüben, im freien Dienstleistungs-
verkehr in der Schweiz Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
295
(Art. 21 Abs. 1 BGFA). Angehörige von Mitgliedstaaten der EU oder
EFTA, die berechtigt sind, den Anwaltsberuf in ihrem Herkunftsstaat
unter einer der im Anhang aufgeführten Berufsbezeichnungen auszu-
üben, können in der Schweiz auch ständig Parteien vor Gerichts-
behörden vertreten, wenn sie bei einer kantonalen Aufsichtsbehörde
über die Anwältinnen und Anwälte eingetragen sind (Art. 27 Abs. 1
BGFA).
3.
Die Systematik des BGFA folgt der dem FZA zu Grunde liegen-
den Assoziierung an die Dienstleistungsfreiheit und dem Recht auf
Niederlassung, welches die ständige Ausübung der Anwaltstätigkeit
betrifft (vgl. Art. 5 FZA und Art. 12 ff., 17 ff. Anhang I FZA; zum
BGFA: 4. Abschnitt: Ausübung des Anwaltsberufs im freien Dienst-
leistungsverkehr durch Anwältinnen und Anwälte der Mitgliedstaaten
der EU oder der EFTA ; 5. Abschnitt: Ständige Ausübung des An-
waltsberufs durch Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der
EU oder der EFTA unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ).
Die grenzüberschreitende Ausübung des Anwaltsberufs im freien
Dienstleistungsverkehr (Art. 21 Abs. 1 BGFA) zeichnet sich dadurch
aus, dass sie punktuell und vorübergehend erfolgt (vgl. DOMINIQUE
DREYER, in: WALTER FELLMANN/GAUDENZ G. ZINDEL [Hrsg.],
Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf
2011, Art. 21 N 5; Urteil des Bundesgerichts vom 9. August 2004
[2A.536/2003], Erw. 3.2.1; vgl. auch Botschaft zur Genehmigung des
Abkommens vom 21. Juni 2001 zur Änderung des Übereinkommens
vom 4. Januar 1960 zur Errichtung der EFTA vom 12. September
2001, 01.058, in: BBl 2001 4994). Sie darf gemäss Art. 5 Abs. 1 FZA
und Art. 17 Anhang I FZA i.V.m. Art. 21 Abs. 1 BGFA während
höchstens 90 Tagen pro Jahr (bewilligungsfrei) erfolgen. Ein Eintrag
im kantonalen Anwaltsregister erfolgt nicht (vgl. Art. 21 Abs. 2
BGFA). Demgegenüber betreffen Art. 27 ff. BGFA die ständige Be-
rufsausübung im Rahmen der Niederlassung (vgl. ANDREAS
KELLERHALS/TOBIAS BAUMGARTNER, IN: FELLMANN/ZINDEL
[Hrsg.], a.a.O., Art. 27 N 2 f.). Die Aufsichtsbehörde führt eine
öffentliche Liste der Angehörigen von Mitgliedstaaten der EU oder
EFTA, die in der Schweiz unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeich-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
296
nung ständig Parteien vor Gericht vertreten dürfen (Art. 28 Abs. 1
BGFA). Entsprechend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist
Sinn und Zweck der Eintragung in die öffentliche Liste, dass sich die
zuständige Stelle vergewissern kann, ob die Anwälte die Berufs- und
Standesregeln des Aufnahmestaates beachten (Urteil des Bundesge-
richts vom 9. August 2004 [2A.536/2003], Erw. 4.2 mit Verweis auf
RL 98/5/EG).
4.
4.1.
Der Beschwerdeführer bringt vor, bereits sein Vater habe als
Anwalt in den Jahren 2007 bis 2015 über eine Kanzlei in Zürich ver-
fügt. Dabei sei eine Vielzahl von Mandaten mit grenzüberschreiten-
den Sachverhalten bearbeitet worden, insbesondere mit Italien.
Darunter seien italienische Staatsangehörige, welche ihren Lebens-
mittelpunkt in der Schweiz hätten. Auch im Ruhestand des Vaters
würden bei diesem und dem Beschwerdeführer noch zahlreiche
Anfragen von Klienten in der Schweiz eingehen, welche die In-
teressenwahrung verlangten. Beabsichtigt werde auch die Auswei-
tung des Klientels , wobei insbesondere österreichische Mandanten
mit Bezug zur Schweiz angesprochen würden. Es sei nicht nur die
Begleitung, Beratung und rechtliche Vertretung von in der Schweiz
lebenden Klienten geplant, sondern auch die Expansion der Kanzlei
durch ständige Anwesenheit auf dem schweizerischen Gebiet . Der
Entscheid der Anwaltskommission sei rechtswidrig. Im BGFA sei die
Niederlassungsrichtlinie (RL 98/5/EG) umgesetzt. Diese ermög-
liche einem EU-Anwalt die ständige Ausübung der Anwaltstätigkeit
in einem andern Land ohne Beschränkungen, die vom Gesetzgeber
nicht vorgeschrieben worden sind . Weiter liege eine diskrimi-
nierende Behandlung vor. In diesem Sinne äussere sich auch die
Literatur. Einem EU-Anwalt dürften im Inland keine Beschränkun-
gen auferlegt werden, welche über den Regelungszweck der Richtli-
nie hinausgingen. Für die von der Anwaltskommission verlangte
eingehende Begründungspflicht bestehe keine Grundlage im Ge-
setz oder in der Richtlinie. Die Vorinstanz habe ihm zu Unrecht vor-
geworfen, er habe niemals behauptet, eine ständige Anwaltstätigkeit
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
297
in der Schweiz ausüben zu wollen . Auch nach der Rechtsprechung
sei eine entsprechende Begründungspflicht nicht vorgesehen.
4.2.
Die Anwaltskommission erwog mit Verweis auf die bundesge-
richtliche Rechtsprechung, für die Eintragung in die öffentliche Liste
gemäss Art. 28 Abs. 2 BGFA werde eine
ständige
(Hervorhebung im
angefochtenen Entscheid) Tätigkeit in der Schweiz im Sinne von
Art. 27 Abs. 1 BGFA vorausgesetzt. Der Gesuchsteller habe nicht
glaubhaft dargelegt, dass er in der Schweiz eine ständige Anwalts-
tätigkeit ausübe oder dies zumindest beabsichtige. Aus den einge-
reichten Unterlagen ergebe sich insbesondere nicht, weshalb die
anwaltliche Tätigkeit nicht im freien Dienstleistungsverkehr erfolgen
könne.
5.
5.1.
Im Gesetzgebungsverfahren zum Erlass des Anwaltsgesetzes
wurde unter anderem die RL 98/5/EG thematisiert und ausdrücklich
festgehalten, dass diese die ständige Ausübung des Rechtsanwalts-
berufs in einem andern Mitgliedstaat erleichtere. Dabei wurde wört-
lich ausgeführt: Sie soll die Niederlassungsmöglichkeiten erwei-
tern (Botschaft zum BGFAvom 28. April 1999, 99.027, in: BBl
19996024).
RL 98/5/EG ist bei der Anwendung von Art. 27 Abs. 1 BGFA
als Auslegungselement beizuziehen. Sie regelt namentlich das Recht
auf Berufsausübung unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung
(Art. 2) und die Beachtung der Berufs- und Standesregeln (Art. 6);
weiter enthält sie Bestimmungen zur Gleichstellung mit den
Rechtsanwälten des Aufnahmestaats (Art. 10) und für Anwalts-
sozietäten (Art. 11). Für letztere ist die Ausübung der beruflichen
Tätigkeiten im Rahmen einer Zweigstelle oder Niederlassung im
Aufnahmestaat vorgesehen (Ziffer 1).
5.2.
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat sich zur Abgren-
zung der Berufsausübung im freien Dienstleistungsverkehr
(Art. 21 ff. BGFA) von der ständigen Tätigkeit im Sinne von
Art. 27 ff. BGFA in einem Urteil vom 19. Dezember 2011
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
298
(2C_694/2011) geäussert. Dabei wurde erwogen, Art. 27 ff. BGFA
erfassten die zuwandernden ausländischen Anwälte, die in stabiler
und kontinuierlicher Weise ihre Berufstätigkeit in der Schweiz
ausübten, indem sie sich von einem Berufsdomizil aus u.a. an die
einheimische Bevölkerung wendeten. Dazu wurde zunächst ein-
schränkend festgehalten, dass eine auf Dauer ausgerichtete Tätigkeit
als Anwalt das Schwergewicht bzw. den Mittelpunkt der anwalt-
lichen Tätigkeit bilde, was über die blosse Einrichtung eines zweiten
Berufsdomizils hinausreiche. Andererseits wurde erwogen, dass eine
dauernde Berufsausübung jedenfalls dann anzunehmen sei, wenn
sich das Schwergewicht nicht ohne weiteres feststellen lasse und die
anwaltliche Tätigkeit im Aufnahmestaat während mehr als 90 Tagen
ausgeübt werde (Erw. 4.4 mit Hinweisen auf die Literatur). Letzterer
Auffassung folgt, soweit ersichtlich, die Kommentierung von
KELLERHALS/BAUMGARTNER, wonach eine Tätigkeit in den Bereich
der Niederlassung bzw. der ständigen Berufsausübung falle, wenn
die grenzüberschreitende Ausübung des Anwaltsberufs an mehr als
90 Tagen erfolge (vgl. KELLERHALS/BAUMGARTNER, in:
FELLMANN/ZINDEL [Hrsg.], a.a.O., Art. 27 N 3 und Art. 28 N 1).
ROLF H. WEBER führte im Jahre 1998 aus, dass von einer Niederlas-
sung nur gesprochen werden könne, wenn sich ein Anwalt in die
Wirtschaft des Aufnahmestaates integriere. Zur Eröffnung von
Zweitkanzleien vertrat er mit Bezug auf die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs, der Verzicht auf die enge wirtschaftliche
und soziale Bindung an den Aufnahmestaat (im Bereich der
Niederlassungsfreiheit) rechtfertige keine extensive Anwendung des
Niederlassungsrechts (vgl. ROLF H. WEBER, Niederlassung oder
Dienstleistung - europarechtliche Beurteilung grenzüberschreitender
anwaltlicher Tätigkeiten, in: WALTER FELLMANN/CLAIRE HUGUENIN
JACOBS/THOMAS POLEDNA/JÖRG SCHWARZ [Hrsg.], Schweizeri-
sches Anwaltsrecht, Bern 1998, S. 581 f.).
Gemäss dem erwähnten Urteil des Bundesgerichts vom
19. Dezember 2011 (2C_694/2011) ist eine dauernde Berufsaus-
übung anzunehmen, wenn sich deren Schwerpunkt nicht ohne weite-
res feststellen lässt und sie während mehr als 90 Arbeitstagen im
Aufnahmestaat ausgeübt wird (vgl. Erw. 4.4). Im Urteil des Bundes-
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
299
gerichts vom 9. August 2004 (2A.536/2003) wird vorausgesetzt, dass
der Rechtsanwaltstätigkeit kein vorübergehender Charakter zukommt
und zumindest deren ständige Ausübung beabsichtigt wird (vgl.
Erw. 4). Beide Entscheide lassen mithin die Annahme einer ständi-
gen Berufstätigkeit zu, wenn deren Ausübung an mehr als 90 Tagen
grenzüberschreitend erfolgt. Hinweise für eine generelle Unzulässig-
keit von Zweitkanzleien bzw. Geschäftsniederlassungen lassen sich
diesen Urteilen nicht entnehmen.
6.
6.1.
Die vorinstanzliche Abweisung des Eintragungsgesuchs mit der
Begründung, der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft dargelegt,
eine ständige Berufsausübung im Sinne von Art. 27 Abs. 1 BGFA zu
beabsichtigen, überzeugt nicht. Das Gesuchsformular der Anwalts-
kommission enthält keinen Hinweis auf eine entsprechende Begrün-
dungspflicht. Insoweit war die Abweisung des Gesuchs mangels Be-
gründung nicht statthaft. Dies gilt umso mehr, als das Verwaltungs-
verfahren von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird. Danach
ermitteln die Behörden den Sachverhalt, unter Beachtung der
Vorbringen der Parteien, von Amtes wegen und stellen die dazu not-
wendigen Untersuchungen an (§ 17 Abs. 1 VRPG). Anhaltspunkte
dafür, dass die Eintragung lediglich zur Erzielung eines Werbeeffekts
erfolgen soll, was mit der Gefahr der Irreführung des Publikums
einherginge, bestehen nicht (vgl. hierzu: Urteil des Bundesgerichts
vom 9. August 2004 [2A.536/2003], Erw. 4.2). Fragen des Be-
weismasses stellten sich, soweit ersichtlich, im vorinstanzlichen Ver-
fahren ebenfalls nicht.
6.2.
Gemäss den Ausführungen der Vorinstanz ergibt sich aus den
eingereichten Unterlagen nicht, weshalb die anwaltliche Tätigkeit
des Beschwerdeführers nicht auch im Rahmen des freien Dienst-
leistungsverkehrs erfolgen könne. In diesem Zusammenhang ist Fol-
gendes wesentlich: Zwar ist einer Berufstätigkeit nach der bundes-
gerichtlichen Rechtsprechung nicht bereits deshalb der Charakter der
(vorübergehenden) Dienstleistung abzusprechen, weil der Dienst-
leistungserbringer ein Büro in der Schweiz eingerichtet hat (vgl.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
300
Urteil des Bundesgerichts vom 9. August 2004 [2A.536/2003],
Erw. 3.2.2 und 4). Entsprechend seinen Vorbringen beabsichtigt der
Beschwerdeführer indessen, neben seiner Anwaltstätigkeit in Wien
eine Zweitkanzlei bzw. Geschäftsniederlassung im Kanton zu eröff-
nen (vgl. vorne Erw. 4.1). Es ist mithin von der Absicht auszugehen,
eine Kanzlei mit vollständiger Infrastruktur einzurichten und nicht
bloss eine Kontaktstelle zu schaffen (vgl. WEBER, a.a.O., S. 581).
Hierbei handelt es sich um mehr als eine grenzüberschreitende
Berufsausübung im freien Dienstleistungsverkehr (vgl. vorne
Erw. 3). Daher liegt mithin eine Form der ständigen Ausübung des
Anwaltsberufs vor, deren Zulässigkeit im Rahmen der Bestimmun-
gen von Art. 27 ff. BGFA zu beurteilen ist.
Im Hinblick darauf kann zunächst nicht unbesehen bleiben, dass
RL 98/5/EG mit Bezug auf Anwaltssozietäten erlaubt, die berufli-
chen Tätigkeiten im Rahmen einer Zweigstelle oder Niederlassung
im Aufnahmestaat auszuüben (vgl. Art. 11 Ziffer 1). Diese Vorschrif-
ten legen nahe, jedenfalls für Rechtsanwälte, welche in
Personengesellschaften organisiert sind, die zwischenstaatliche Er-
bringung anwaltlicher Dienstleistungen im Rahmen von Zweitkanz-
leien zuzulassen. Unter dieser Prämisse ist nicht ersichtlich, wieso
für den Beschwerdeführer die Eröffnung einer hiesigen Kanzlei eine
schwerpunktmässige Verlagerung seiner Geschäftstätigkeit in die
Schweiz voraussetzen bzw. eine Zweitkanzlei ausgeschlossen sein
soll. Es würde Sinn und Zweck der Freizügigkeit widersprechen,
wenn zwischen der (zulässigen) grenzüberschreitenden Anwaltstätig-
keit von maximal 90 Arbeitstagen pro Jahr und der (ebenfalls zuläs-
sigen) ständigen Berufsausübung im Aufnahmestaat eine Zwischen-
kategorie geschaffen würde, in der die grenzüberschreitende An-
waltstätigkeit nicht gestattet wäre. Nachdem das BGFA in Art. 27 ff.
im Wesentlichen die Eintragung in die öffentliche Liste und deren
(berufsrechtlichen) Konsequenzen regelt, kann insbesondere aus
Art. 12 Anhang I FZA betreffend den Aufenthaltsstatus von
selbständig Erwerbenden nichts anderes abgeleitet werden. Insoweit
kann für die Zulässigkeit von Zweitkanzleien für Anwaltssozietäten
der Kommentierung von KELLERHALS/BAUMGARTNER gefolgt wer-
den: Danach ist eine anwaltliche Tätigkeit der Niederlassung bzw.
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
301
der ständigen Berufsausübung zuzuordnen, wenn die zwischenstaat-
liche Ausübung des Anwaltsberufs in der Schweiz an mehr als
90 Tagen pro Jahr erfolgt (vgl. KELLERHALS/BAUMGARTNER, a.a.O.,
Art. 27 N 3). Es wäre nicht schlüssig, die Eintragung vom Vorliegen
einer Aufenthaltsbewilligung abhängig zu machen, welche vorgängig
von den Migrationsbehörden zu erteilen wäre und ihrerseits eine
(aufenthaltsrechtliche) Niederlassung voraussetzen würde. Das
Erfordernis einer Aufenthaltsbewilligung würde die Möglichkeit
einer Zweitkanzlei oder Geschäftsniederlassung faktisch ausschlies-
sen. Diese Rechtsfolge wäre im Bereich der anwaltlichen Dienst-
leistungen, wo eine Erweiterung der Niederlassungsmöglichkeiten
beabsichtigt ist, nicht gerechtfertigt. Die Urteile des Bundesgerichts
vom 9. August 2004 (2A.536/2003), Erw. 3.2.2 und 4.1, und vom
19. Dezember 2011 (2C_694/2011), Erw. 4.4, dürfen daher nicht so
verstanden werden, dass in Konstellationen wie der vorliegenden der
Eintrag in die öffentliche Liste für Angehörige von EU-Mitgliedstaa-
ten eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz voraussetzen würde.
Nach dem Gesagten hat der Beschwerdeführer Anspruch, in die
öffentliche Liste der Angehörigen von Mitgliedstaaten der EU oder
der EFTA eingetragen zu werden. | 4,126 | 3,253 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2018-31_2018-01-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2018-31.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2018-31.pdf | AGVE_2018_31 | null | nan |
43434e85-8d7b-51b1-a1e4-89cad8f899d1 | 1 | 412 | 871,298 | 1,291,248,000,000 | 2,010 | de | 2010
Einbürgerungen
251
[...]
46 Einbürgerungsverfahren.
-
Anforderungen hinsichtlich der Beachtung der schweizerischen
Rechtsordnung (Erw. 2).
-
Es ist unverhältnismässig, wenn aufgrund eines eher gering einzustu-
fenden Mangels bei einem Einbürgerungskriterium ohne Würdigung
der übrigen Voraussetzungen schematisch die Einbürgerung verwei-
gert wird (Erw. 2.4.3.1).
-
Das Erfordernis der fehlenden Betreibung ist in zeitlicher und auch
qualitativer Hinsicht zu undifferenziert (Erw. 2.4.3.2).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 6. Dezember 2010, in Sa-
chen P. (WBE.2010.261).
Aus den Erwägungen
2.2.
2.2.1.
Die Kommission für Justiz des Grossen Rats (JUS) hat im ange-
fochtenen Entscheid ausgeführt, die Beachtung der schweizerischen
Rechtsordnung verlange auch einen einwandfreien finanziellen Leu-
mund. Gemäss ihrer Praxis dürften in den letzten drei Jahren vor
Gesuchseinreichung und auch während des Einbürgerungsverfahrens
keine Betreibungen angehoben werden. Der Beschwerdeführer sei
2010
Verwaltungsgericht
252
daher mit Schreiben des Departements Volkswirtschaft und Inneres
(DVI) vom 20. Januar 2009 über die diversen Betreibungen und offe-
nen Verlustscheine informiert worden. In seiner Stellungnahme vom
29. November 2009 habe er erklärt, dass ihm die Situation leid tue
und diese aus seiner Sicht aufgrund der nicht korrekt funktionie-
renden Postzustellung entstanden sei. Unter Würdigung dieser Sach-
lage sei die JUS der Meinung, dass der Entscheid über die Einbürge-
rung um zwei Jahre hinausgeschoben werden solle, um dem Be-
schwerdeführer die Gelegenheit zu gewähren, sich während dieser
Zeit zu bewähren, um danach einen einwandfreien finanziellen Leu-
mund ausweisen zu können.
2.2.2.
Der Beschwerdeführer führt aus, es treffe zu, dass es in früherer
Zeit, offensichtlich jedoch vor dem 1. Januar 2004, zu gegen ihn ge-
richteten Betreibungen gekommen sei. Der Grund dafür habe darin
gelegen, dass bei den Zustellungen von Rechnungen und Mahnungen
postalische Verwechslungen erfolgt seien. Grund für die Betreibun-
gen sei nicht seine Nachlässigkeit gewesen, vielmehr habe er von
den Forderungen bzw. Mahnungen keine Ahnung gehabt. In den letz-
ten fünfeinhalb Jahren sei es nur noch zu einer einzigen Betreibung
gekommen, offenbar im Zusammenhang mit einem alten Verlust-
schein. Die entsprechende Forderungssumme sei verhältnismässig
bescheiden. Zudem habe er die Forderung vollumfänglich bezahlt. Es
könne somit bei ihm nicht von einem nicht einwandfreien finanziel-
len Leumund gesprochen werden.
2.3.
2.3.1.
Die Einbürgerung setzt namentlich einen guten strafrechtlichen
Leumund voraus. Auch der betreibungsrechtliche Leumund kann im
Zusammenhang mit der Beachtung der schweizerischen Rechtsord-
nung berücksichtigt werden. Von einer Bewerberin oder einem Be-
werber ist sodann zu erwarten, dass sie oder er sich zu den demo-
kratischen Institutionen unseres Landes bekennt. Auch das Nicht-
beachten von zivilrechtlichen Verpflichtungen (z.B. der Verpflich-
tung zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen oder Alimenten) kann eine
Verletzung der schweizerischen Rechtsordnung darstellen (Botschaft
2010
Einbürgerungen
253
vom 21. November 2001 zum Bürgerrecht für junge Ausländerinnen
und Ausländer und zur Revision des Bürgerrechtsgesetzes, BBl 2002,
S. 1943; vgl. auch Botschaft vom 26. August 1987 zur Änderung des
Bürgerrechtsgesetzes, BBl 1987 III, S. 305).
2.3.2.
Bereits aus diesen bundesrätlichen Erläuterungen zur geltenden
Rechtslage erhellt, dass die Voraussetzung der Beachtung der Rechts-
ordnung (ebenso wie die Erfüllung dieser Voraussetzung zusammen
mit den übrigen Voraussetzungen gemäss Art. 14 lit. a., b. und d.
BüG) eine Gesamtschau verlangt. Es ist danach zu fragen, ob ein Be-
werber insgesamt gesehen die Grundwerte, auf welchen das schwei-
zerische Staatswesen beruht, anerkennt und dies auch durch sein Ver-
halten bezeugt. Dies erfordert zum einen das Fehlen strafrechtlich
vorwerfbaren Verhaltens, welches auf eine unzureichende Achtung
der Rechtsordnung schliessen lässt. Darüber hinaus ist im Einbür-
gerungsverfahren (soweit dies überhaupt möglich ist) zu prüfen, ob
der Bewerber die verfassungsrechtliche Grundordnung, insbesondere
die Grundrechte (z.B. Gewaltmonopol des Staates, Gleichheit der
Geschlechter, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit), die ein demokra-
tisches Staatswesen auszeichnen, achtet und in seinem privaten All-
tag (z.B. im Verhalten gegenüber den Behörden, am Arbeitsplatz, in
der Familie, mit Freunden, etc.) auch tatsächlich lebt. Dazu gehört
schliesslich auch, dass der Bewerber als Teilnehmer am Wirtschafts-
leben seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt.
2.3.3.
Die Notwendigkeit einer Gesamtschau hinsichtlich des Erfor-
dernisses der Beachtung der Rechtsordnung (kein ins Gewicht fallen-
des strafrechtliches Verhalten, erkennbare Achtung der verfassungs-
rechtlichen Grundordnung, ausreichender finanzieller Leumund) ver-
langt, selbst wenn bei einem der genannten Kriterien nicht allzu
schwerwiegende Defizite im Verhalten des Bewerbers zutage treten,
eine Abwägung mit seinem Verhalten hinsichtlich der anderen Krite-
rien. Dabei ist der den zuständigen Einbürgerungsbehörden zuste-
hende Spielraum jedenfalls dann überschritten, wenn eine bloss
schematische Prüfung anhand eines starren Kriterienkatalogs vorge-
nommen und der Bewerber wegen eines in seinem Ausmass nur ge-
2010
Verwaltungsgericht
254
ringen Nichteinhaltens eines einzelnen Kriteriums bei unzweideutig
vollständiger Erfüllung der übrigen Kriterien ohne weiteres abge-
lehnt wird.
2.4.
2.4.1.
Der Beschwerdeführer hat sich keine strafrechtlich relevanten
Verfehlungen zuschulde kommen lassen. Gegenüber dem Stadtrat
wies er sich anlässlich des "Einbürgerungsgesprächs" vom 20. Au-
gust 2007 über gute Kenntnisse des Staatsrechts, des Staatssystems
und der politischen Rechte und Pflichten eines Schweizerbürgers
aus. Aus den Akten ergeben sich darüber hinaus keine Hinweise
darauf, dass der Beschwerdeführer die Grundwerte der Bundesver-
fassung in seinem täglichen Leben nicht beachten würde.
2.4.2.
2.4.2.1.
In einem Schreiben vom 3. Januar 2006 an die Gemeinderäte
des Kantons Aargau teilte der Vorsteher des DVI mit, dass die JUS in
Zukunft für die Behandlung von Gesuchen um Erteilung des Kan-
tonsbürgerrechts die Einhaltung bestimmter, im Schreiben näher de-
finierter Voraussetzungen erwarte. Diesem Schreiben, mit dem die
JUS ihre eigene Praxis offen legte (vgl. dazu auch Protokoll des
Grossen Rats, 37. Sitzung vom 29. Juni 2010, Votum Regierungsrat
Hofmann S. 1433), lag eine detaillierte "Checkliste der Prüfungs-
kriterien für Gemeinden" bei. Gemäss dieser Checkliste verlangt die
JUS mit Blick auf den finanziellen Leumund, dass (a) keine Betrei-
bungen in den letzten drei Jahren und während des Verfahrens vorlie-
gen. Ausserdem dürfen (b) keine unerledigten jüngeren Verlust-
scheine vorliegen; Verlustscheine, die vor fünf Jahren oder weniger
ausgestellt worden sind, müssen erledigt sein. Überdies müssen (c)
alle fälligen Steuern bezahlt sein und dürfen (d) keine fälligen Schul-
den aus Unterhaltspflicht und Verwandtenunterstützungspflicht be-
stehen.
2.4.2.2.
Offene Steuerschulden sowie fällige Schulden aus Unterhalts-
pflicht und Verwandtenunterstützungspflicht sind beim Beschwerde-
führer nicht aktenkundig. Hingegen ergibt sich aus einem in den
2010
Einbürgerungen
255
Akten liegenden Betreibungsregisterauszug vom 12. Januar 2009,
dass er in den Jahren 1997 bis 1998 insgesamt elfmal betrieben wur-
de. Eine zwölfte Betreibung durch ein Inkassounternehmen für einen
Betrag von Fr. 712.70 datiert vom 29. Oktober 2007. Ausserdem
weist der erwähnte Betreibungsregisterauszug fünf aus dem Jahr
1998 datierende Verlustscheine über Fr. 33'187.05 als offen aus. Wie
sich aus einem weiteren Betreibungsregisterauszug vom 15. Mai
2008 ergibt, bezahlte der Beschwerdeführer im ersten Halbjahr 2008
die Forderung über Fr. 712.70. Im Laufe des Jahres 2009 beglich er
auch die offenen Verlustscheine. Gemäss einem dritten Betreibungs-
registerauszug vom 10. November 2009 bestanden keine offenen
Forderungen mehr.
Gemäss Aktenlage erfüllte der Beschwerdeführer damit gemäss
Checkliste die Erfordernisse des Fehlens offener Steuerschulden (c)
sowie des Nichtbestehens offener Schulden aus Unterhaltspflicht und
Verwandtenunterstützungspflicht (d). Ausserdem ergibt sich aus den
erwähnten Betreibungsregisterauszügen, dass er gemäss Checkliste
das Erfordernis des Fehlens neuerer (d.h. weniger als fünf Jahre al-
ter) Verlustscheine erfüllte (b). Einzig das Kriterium des Fehlens von
Betreibungen innert der letzten drei Jahre (a) hielt der Beschwerde-
führer nicht ein, da die Betreibungsregisterauszüge eine Betreibung
vom 29. Oktober 2007 über Fr. 712.70 auswiesen. Diese lag im Zeit-
punkt der Beurteilung durch die JUS rund zweieinhalb Jahre zurück;
der in Betreibung gesetzte Betrag war im Zeitpunkt der Beurteilung
durch die JUS seit rund zwei Jahren bezahlt.
2.4.3.
2.4.3.1.
Für den Entscheid darüber, ob das Kantonsbürgerrecht erteilt
werden kann, ist, wie bereits erwähnt (Erw. 2.3.2.), eine Gesamtwür-
digung aller für die Einbürgerung verlangten Voraussetzungen vor-
zunehmen. Dabei ist namentlich für das Erfordernis der Beachtung
der schweizerischen Rechtsordnung (Art. 14 lit. c BüG) neben dem
finanziellen Leumund das Fehlen strafrechtlich relevanten Verhaltens
sowie die Haltung des Gesuchstellers gegenüber der verfassungs-
rechtlichen Grundordnung zu würdigen. Wie bereits erwähnt, ist es
unverhältnismässig, wenn aufgrund eines eher gering einzustufenden
2010
Verwaltungsgericht
256
Mangels bei einem der genannten Kriterien ohne Würdigung der
übrigen Voraussetzungen schematisch die Einbürgerung verweigert
wird. Schon unter diesem Gesichtspunkt erweist sich der ange-
fochtene Entscheid als unverhältnismässig, weil die JUS darin keine
umfassende Würdigung der Einbürgerungsvoraussetzungen vorge-
nommen, sondern einfach schematisch wegen eines eher geringfü-
gigen Mangels im Hinblick auf den finanziellen Leumund die Auf-
nahme ins Kantonsbürgerrecht verweigert hat.
2.4.3.2.
Der Entscheid ist im Übrigen auch bereits allein unter dem Ge-
sichtspunkt der Würdigung des finanziellen Leumunds des Be-
schwerdeführers nicht haltbar.
Dass der Beschwerdeführer drei der in der Checkliste mit Blick
auf den finanziellen Leumund aufgestellten Erfordernisse erfüllte,
wurde bereits erwähnt. Das nicht erfüllte Erfordernis der fehlenden
Betreibung innert drei Jahren gemäss Checkliste ist zudem, wie ge-
rade der vorliegende Fall zeigt, in zeitlicher und auch qualitativer
Hinsicht zu undifferenziert. Die Checkliste unterscheidet nämlich in
qualitativer Hinsicht in keiner Weise danach, ob eine Betreibung zu
Recht erfolgte oder nicht, ob nur eine Betreibung innert der Dreijah-
resfrist erfolgte oder mehrere, und wie hoch der in Betreibung ge-
setzte Betrag war. Es ist gemäss Checkliste auch unerheblich, ob die
Bewerberin bzw. der Bewerber allfällige Schulden bezahlt oder
nicht. All diese Umstände sind aber für die Beurteilung des finanziel-
len Leumunds einer Person von Bedeutung. Allein der Umstand, dass
eine Person betrieben wurde, genügt nicht für die Annahme eines
finanziell schlechten Leumunds. Auch für die Würdigung des finan-
ziellen Leumunds ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen. Bei dieser
muss neben der Anzahl der Betreibungen im "Verdachtszeitraum"
und deren Höhe auch das Verhalten des Gesuchstellers gewürdigt
werden. Auch dass ein Bürgerrechtsbewerber - und sei es vor dem
Hintergrund des laufenden Einbürgerungsverfahrens - einem Teil
oder all seinen offenen finanziellen Verpflichtungen nachkommt, ist
von erheblicher Bedeutung.
Hier sticht ins Auge, dass der Beschwerdeführer seit den aus
dem Jahr 1998 datierenden Verlustscheinen bis November 2007, d.h.
2010
Einbürgerungen
257
während rund neun Jahren, nicht betrieben wurde und vor der Be-
handlung seines Gesuchs durch die Subkommission sämtliche den
Verlustscheinen zugrunde liegenden Forderungen erfüllt hatte. Aus-
serdem kam es zwar im "Verdachtszeitraum" noch zu einer Betrei-
bung. Auch den damit in Betreibung gesetzten Betrag bezahlte der
Beschwerdeführer indessen noch weit vor der Behandlung des Ein-
bürgerungsgesuchs durch die Subkommission Einbürgerungen bzw.
die JUS (...). Von einem schlechten finanziellen Leumund, der die
Verweigerung der Aufnahme ins Kantonsbürgerrecht zu rechtfertigen
vermöchte, kann bei dieser Sachlage nicht ernsthaft gesprochen
werden. Auch insoweit erweist sich damit der angefochtene Ent-
scheid als unverhältnismässig.
3.
Diese Erwägungen führen in Gutheissung der Beschwerde zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der
Angelegenheit zur weiteren Behandlung im Sinne der Erwägungen
an die JUS. Liegen keine neuen Umstände vor, die bei einer Gesamt-
würdigung aller relevanten Tatsachen gegen eine Aufnahme ins Kan-
tonsbürgerrecht sprechen, wird die JUS nicht umhin kommen, dem
Beschwerdeführer das Kantonsbürgerrecht zu erteilen. | 2,805 | 2,225 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-46_2010-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-46.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-46.pdf | AGVE_2010_46 | null | nan |
45adb5bb-81e0-50e1-9505-f74bf17bd0c2 | 1 | 412 | 871,000 | 1,570,060,800,000 | 2,019 | de | 2019
Submissionen
147
V. Submissionen
20
Partei- und Prozessfähigkeit
Mitglieder einer Bietergemeinschaft müssen gegen einen Zuschlag ge-
meinsam Beschwerde führen. Wird die Beschwerde einzig und allein von
der Bietergemeinschaft erhoben, ist darauf nicht einzutreten, da die
Bietergemeinschaft als einfache Gesellschaft über keine Rechtspersön-
lichkeit verfügt.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 8. Oktober
2019, in Sachen Ingnieurgemeinschaft A. gegen B. (WBE.2019.311).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Neben der Zuständigkeit gelten als Sachurteilsvoraussetzungen
- d.h. als Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Be-
schwerdeinstanz auf das Rechtsmittel eintritt, die Sache inhaltlich
(materiell) prüft und einen Sachentscheid fällt (vgl. MICHAEL
MERKER, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach
dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, Kom-
mentar zu den §§ 38 - 72 [a] VRPG, Diss., Zürich 1998, Vorbem. zu
§ 38 N 1; MARTIN BERTSCHI, in: ALAIN GRIFFEL [Hrsg.], Kommen-
tar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG],
3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2014, Vorbem. zu §§ 19 - 28a N 52;
THOMAS MERKLI/ARTHUR AESCHLIMANN/RUTH HERZOG, Kom-
mentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton
Bern, Bern 1997, Art. 51 N 6) - u.a. die Parteifähigkeit, die Prozess-
fähigkeit und die Beschwerdebefugnis (vgl. MERKER, a.a.O.,
Vorbem. zu § 38 N 9 ff.; BERTSCHI, a.a.O., Vorbem. zu §§ 19 - 28a;
MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., Art. 51 N 6). Das Vorliegen
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
148
der Sachurteilsvoraussetzungen ist von Amtes wegen zu prüfen
(MERKER, a.a.O., Vorbem. zu § 38 N 2; BERTSCHI, a.a.O., Vorbem.
zu §§ 19 - 28a, N 53; MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O.,
Art. 51 N 8).
Die Parteifähigkeit ist die Fähigkeit, in einem Verfahren als Par-
tei auftreten zu können. Sie ist die prozessuale Rechtsfähigkeit.
Rechtsfähig ist, wer fähig ist, Rechte und Pflichten zu haben, also
jedes Rechtssubjekt (vgl. MERKER, a.a.O., Vorbem. zu §§ 38 - 72
N 9; BERTSCHI, a.a.O., Vorbem. zu §§ 21 - 21a N 2;
MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., Art. 11 N 3). Die Pro-
zessfähigkeit ist die Fähigkeit den Prozess selbst zu führen oder
durch einen gewählten Vertreter führen zu lassen. Die Prozessfähig-
keit ist das Gegenstück zur zivilrechtlichen Handlungsfähigkeit (vgl.
MERKER, a.a.O., Vorbem. zu §§ 38 N 32; BERTSCHI, a.a.O., Vorbem.
zu §§ 21 - 21a N 7; MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., Art. 11
N 1). Die Beschwerdebefugnis richtet sich sodann nach § 42 VRPG
(i.V.m. § 23 SubmD). Gemäss lit. a dieser Bestimmung ist zur Be-
schwerde befugt, wer ein schutzwürdiges eigenes Interesse an der
Aufhebung oder der Änderung des Entscheids hat. Zwischen bundes-
rechtlicher (vgl. Art. 89 Abs. 1 des BGG) und aargauischer Be-
schwerdebefugnis (nach § 42 lit. a VRPG) besteht inhaltlich kein
Unterschied (vgl. VGE vom 17. Juni 2009 [WBE.2009.56], S. 4 f.;
Botschaft des Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen
Rat vom 14. Februar 2007, Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege,
Ges.-Nr. 07.27, S. 55).
2.2.
2.2.1.
Die von Anwälten verfasste Beschwerde wurde gemäss Deck-
blatt von der Ingenieurgemeinschaft A. erhoben, mit der Zustell-
adresse c/o C. SA. In der Begründung der Beschwerde bestätigt
sich dies, indem ausgeführt wird, Die Beschwerdeführerin, die
Ingenieurgemeinschaft A., ist ein Konsortium, bestehend aus den
rechtlich selbständigen Unternehmen C. SA, die D. AG sowie die E.
AG. Das Konsortium hat als Anbietergemeinschaft im streitgegen-
ständlichen Vergabeverfahren ein Angebot eingereicht. Federführend
für das Konsortium ist die C. SA. . Die Ingenieurgemeinschaft A.
2019
Submissionen
149
wird somit auch hier explizit als die Beschwerdeführerin bezeich-
net.
Bei der Ingenieurgemeinschaft A. handelt es sich um eine Bie-
tergemeinschaft, ein Konsortium. Bietergemeinschaften oder Kon-
sortien treten - wie auch Arbeitsgemeinschaften - regelmässig in der
Form der einfachen Gesellschaft (Art. 530 ff. OR) auf (AGVE 2015,
S. 192; DANIELA LUTZ, Bietergemeinschaften und Subunternehmer,
in: JEAN-BAPTISTE ZUFFEREY/MARTIN BEYELER/STEFAN SCHERLER
[Hrsg.], Aktuelles Vergaberecht 2018, Zürich/Basel/Genf 2018,
S. 239 f.; PETER GAUCH, Der Werkvertrag, 6. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2019, Rz. 243). Von einer einfachen Gesellschaft
ist auch im vorliegenden Fall auszugehen.
2.2.2.
Die einfache Gesellschaft ist keine juristische Person, sondern
eine zivilrechtliche Gemeinschaft, die nicht über Rechtspersönlich-
keit verfügt und daher weder partei- noch prozessfähig ist (vgl. BGE
142 III 783 = Pra 2018, S. 395; vgl. auch BGE 137 III 459 = Pra
2012, S. 135; LUTZ, a.a.O., S. 240; GAUCH, a.a.O., Rz. 243). Insbe-
sondere im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens ist insofern
allgemein anerkannt, dass die Mitglieder einer Bieter- oder Arbeits-
gemeinschaft bzw. eines Konsortiums, die gemeinsam Gläubiger von
Gesellschaftsforderungen sind (Art. 544 Abs. 1 OR), von einem
Nicht-Zuschlag nicht einzeln, sondern nur als Partnerschaft betroffen
sind. Das Recht zur Beschwerde gegen eine solche Verfügung mit
dem Ziel, den Zuschlag dennoch zu erhalten, kommt deshalb nur
allen gemeinsam zu und muss - gleich wie die notwendigen Streit-
genossen im Zivilprozess - auch gemeinsam ausgeübt werden
(BGE 131 I 160 f. mit diversen Hinweisen = Pra 2006, S. 195; Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2009 [B-2561/2009],
Erw. 3.3 ff.; AGVE 2015, S. 192 = Baurecht 2017, S. 265; vgl. auch
VGE vom 29. September 1998 [BE.98.00223], S. 5; Baurechtsent-
scheide des Kanton Zürich [BEZ] 2000 Nr. 7, S. 23 f.; RB Uri
2004/05 Nr. 45, S. 109; LUTZ, a.a.O., S. 261 f.; BERTSCHI, a.a.O.,
§ 21 N 43; ROBERT WOLF, Der Rechtsschutz im öffentlichen Be-
schaffungswesen, in: ISABELLE HÄNER/ BERNHARD WALDMANN
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
150
[Hrsg.], Brennpunkte im Verwaltungsprozess, Zürich/Basel/Genf
2013, S. 173).
Für die Arbeitsgemeinschaft als Ganzes oder ihre anderen Mit-
glieder kann ein einzelnes Mitglied somit nicht Beschwerde führen.
Möglich ist die Beschwerdeführung indes im Namen und mit Voll-
macht aller Mitglieder der Gemeinschaft (AGVE 2015, S. 139; BEZ
2000 Nr. 7, S. 23; BGE 131 I 161 mit Hinweisen = Pra 2006, S. 195).
Voraussetzung ist allerdings, dass die Beschwerde rechtzeitig im
Namen aller Mitglieder erhoben wurde; eine nachträgliche Erklä-
rung, dass diese weiterhin bereit seien, den Auftrag auszuführen, ge-
nügt nicht (AGVE 2015, S. 193; vgl. ROBERT WOLF, Die Be-
schwerde gegen Vergabeentscheide - Eine Übersicht über die Recht-
sprechung zu den neuen Rechtsmitteln, in: ZBl 104/2003, S. 16; fer-
ner: BEZ 2000 Nr. 7, S. 23). In solchen Fällen ist daher auch keine
Frist für das nachträgliche Beibringen weiterer Vollmachten anzu-
setzen (AGVE 2015, S. 193; BEZ 2000 Nr. 7, S. 23).
2.2.3.
Vorliegend wurde die Beschwerde nicht gemeinsam von allen
Mitgliedern der Bietergemeinschaft bzw. des Konsortiums erhoben,
sondern - wie dargelegt - explizit von der Ingenieurgemeinschaft
A. . Als Beschwerdeführerin wird einzig und allein die Ingenieur-
gemeinschaft A. bezeichnet (siehe bereits Erw. 2.2.1). Da es sich bei
der Ingenieurgemeinschaft A. jedoch um eine einfache Gesellschaft
handelt (siehe Erw. 2.2.1), kommt ihr keine Rechtspersönlichkeit zu,
d.h. sie ist weder partei- noch prozessfähig und damit auch nicht be-
fugt, gegen den Zuschlagsentscheid Beschwerde zu erheben (vgl.
Erw. 2.2.2). Auf die Beschwerde der Ingenieurgemeinschaft A. ist
deshalb nicht einzutreten.
Hinzuweisen ist überdies, dass die Beschwerde gerade nicht
von der C. SA erhoben wurde. Diese hat zwar die Anwaltsvollmacht
federführend für die Ingenieurgemeinschaft A. erteilt und das Be-
schwerdeverfahren letztlich verursacht. Sie trat jedoch nicht als Be-
schwerdeführerin auf. Die Beschwerde wurde auch nicht von ihr im
Namen aller Mitglieder der Gemeinschaft erhoben. Daran ändert
schliesslich ebenso wenig, dass auf dem Deckblatt die Adresse der C.
SA angegeben wurde, geht aus dem Vermerk c/o doch klar hervor,
2019
Submissionen
151
dass es sich dabei lediglich um die Zustelladresse der Ingenieurge-
meinschaft A. handelt. | 2,303 | 1,730 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-20_2019-10-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-20.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-20.pdf | AGVE_2019_20 | null | nan |
45d459b2-edc4-558f-ba8d-c9b3d2a50158 | 1 | 412 | 870,454 | 1,023,062,400,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsrechtspflege
397
[...]
91
Begründungspflicht. Untersuchungsgrundsatz.
-
Die Beschwerdeinstanzen sind verpflichtet, strittige behördliche Mei-
nungsäusserungen nicht unbesehen zu übernehmen, sondern kritisch
zu hinterfragen und das Ergebnis dieser Prüfung im Entscheid fest-
zuhalten (Erw. 4/a).
-
Es stellt eine Verletzung der Untersuchungspflicht (§ 20 Abs. 1 VRPG)
dar, wenn strittige behördliche Angaben zum rechtserheblichen
Sachverhalt ohne entsprechende Verifizierung übernommen werden
(Erw. 4/b).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 27. Juni 2002 in Sa-
chen H. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
4. Die Beschwerdeführer werfen dem Baudepartement in ver-
schiedener Hinsicht eine Verletzung der Begründungspflicht vor;
zudem habe das Baudepartement in Bezug auf die Überbauungssi-
tuation am Föhrenweg einfach auf eine unverifizierte Schätzung des
am Augenschein anwesenden Stadtratsmitglieds abgestellt.
a) aa) Die Begründungspflicht umfasst ganz allgemein die Of-
fenlegung der Entscheidgründe. Damit kann verhindert werden, dass
sich die Behörden von unsachgemässen Motiven leiten lassen. Sie ist
ein Element rationaler und transparenter Entscheidfindung und dient
nicht zuletzt der Selbstkontrolle der Behörden. Mit einer gut
verständlich formulierten, für die Betroffenen gedanklich nachvoll-
ziehbaren Begründung erhöht sich zudem auch die Akzeptanz einer
hoheitlichen Anordnung (BGE 112 Ia 109 f. mit weiteren Hinweisen;
Jörg Paul Müller / Stefan Müller, Die Grundrechte der schweizeri-
schen Bundesverfassung, 2. Auflage, Bern 1991, S. 284; Alfred Kölz
/ Isabelle Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege
des Bundes, Zürich 1993, Rz. 156; AGVE 1998, S. 425). Das Bun-
desgericht hat dabei zu den inhaltlichen Anforderungen, denen eine
2002
Verwaltungsgericht
398
Begründung zu genügen hat, verschiedene Grundsätze entwickelt
(siehe zum Ganzen: René Rhinow / Beat Krähenmann, Schweizeri-
sche Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel/Frankfurt
a.M. 1990, Nr. 85 B mit zahlreichen Hinweisen; Thomas Merkli / Ar-
thur Aeschlimann / Ruth Herzog, Kommentar zum Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997, Art. 52 N 5 ff.;
Ulrich Häfelin / Georg Müller, Grundriss des Allgemeinen Verwal-
tungsrechts, 2. Auflage, Zürich 1993, Rz. 1294 ff.; AGVE 1998,
S. 426). Durch die angemessene Begründung einer Verfügung soll
dem Betroffenen insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, sich
über die Tragweite eines Entscheides Rechenschaft zu geben und in
voller Kenntnis der Gründe ein Rechtsmittel zu ergreifen; die
Begründung eines Entscheids ist folglich so abzufassen, dass der
Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann (BGE 122
II 362 f.). Dies ist nur möglich, wenn sowohl er als auch die
Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild
machen können. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die
Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten
lassen und auf welche sich ihr Entscheid stützt (BGE 122 IV 14 f.;
121 I 57; 119 Ia 269; 117 Ia 1; 117 Ib 64; 114 Ia 233 mit Hinweisen).
Die Begründungsdichte richtet sich nach den Umständen des
Einzelfalls. Je grösser dabei der Ermessensspielraum einer Behörde
ist, desto ausführlicher muss grundsätzlich auch die Begründung sein
(BGE 112 Ia 110; siehe auch AGVE 1987, S. 320; 1994, S. 456 mit
Hinweisen). Die Ermessensbetätigung muss soweit erläutert werden,
dass sie nachvollziehbar ist (BGE 117 IV 403).
bb) Klar verletzt wurde die Begründungspflicht in Bezug auf
das Eventualbegehren betreffend Schaffung einer Ausweichstelle;
wie die Beschwerdeführer zu Recht feststellen, hat sich das Baude-
partement dazu mit keinem Wort geäussert. Ungenügend ist die Ent-
scheidbegründung sodann, soweit sie sich mit der Löschwasserver-
sorgung befasst. Es ist unzureichend, das Fehlen dieses Erschlies-
sungselements mit dem blossen Hinweis auf eine stadträtliche Mei-
nungsäusserung zu begründen, obwohl die Beschwerdeführer Gegen-
argumente vorbrachten, welche nicht ohne weiteres von der Hand zu
weisen sind; die Beschwerdeinstanz ist unter solchen Umständen
2002
Verwaltungsrechtspflege
399
verpflichtet, die behördliche Auffassung kritisch zu hinterfragen und
das Ergebnis dieser Hinterfragung im Entscheid festzuhalten. Unbe-
gründet erscheint die Rüge demgegenüber in Bezug auf den Vorwurf,
die Vorinstanz sei ohne eingehende und stichhaltige Begründung von
der
Meinung
der
kantonalen
Fachstelle
abgewichen.
Das
Baudepartement hat dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass eine
parzellenübergreifende Betrachtungsweise angezeigt sei und in die-
ser Optik der Föhrenweg den Anforderungen nicht genüge. Ob diese
Begründung auch stichhaltig sei, ist dann eine Frage der materiellen
Beurteilung.
b) aa) Gemäss § 20 Abs. 1 VRPG haben die Behörden den
Sachverhalt - unter Beachtung der Vorbringen der Beteiligten - von
Amtes wegen zu prüfen und die hiezu notwendigen Ermittlungen
anzustellen. Die behördliche Abklärungspflicht bezieht sich dabei
nur auf den im Rahmen des streitigen Rechtsverhältnisses rechtser-
heblichen Sachverhalt. Rechtserheblich sind alle Tatsachen, von
deren Vorliegen es abhängt, ob über den streitigen Anspruch so oder
anders zu entscheiden ist. In diesem Rahmen haben Verwaltungsbe-
hörden zusätzliche Abklärungen stets dann vorzunehmen oder zu
veranlassen, wenn hiezu auf Grund der Parteivorbringen oder ande-
rer sich aus den Akten ergebender Anhaltspunkte hinreichender An-
lass besteht. Der Untersuchungsgrundsatz verpflichtet die rechtsan-
wendende Behörde also dazu, vor der Entscheidfällung den rechtser-
heblichen Sachverhalt richtig und vollständig abzuklären, sie trägt
die Verantwortung für die Beschaffung der Entscheidgrundlagen
(BGE 117 V 282 f. mit Hinweisen; VGE III/67 vom 6. Juni 2001
[BE.2000.00009/00010] in Sachen F. AG u.M., S. 15; René Rhinow /
Heinrich Koller / Christina Kiss, Öffentliches Prozessrecht und Jus-
tizverfassungsrecht des Bundes, Basel 1996, Rz. 905).
bb) Weiter vorne ist ausgeführt worden, dass bei der Beurtei-
lung der Erschliessungssituation eine Gesamtbetrachtung über das
ganze Einzugsgebiet der betreffenden Strasse anzustellen ist. Richti-
gerweise hat deshalb auch das Baudepartement abgeklärt, wie viele
Wohneinheiten mit Anbindung an den Föhrenweg bereits vorhanden
sind und wie viele zusätzlich erstellt werden könnten; es stellte dabei
ausschliesslich auf die Angaben ab, welche der am Augenschein
2002
Verwaltungsgericht
400
anwesende Vizeammann zu Protokoll gab, und ging so von 20
bestehenden und 11 möglichen Häusern aus. Verifiziert wurde dies
nicht, obwohl die Beschwerdeführer schon in ihrer Verwaltungsbe-
schwerde vom 8. Mai 2000 darauf hinwiesen, dass das durch den
Föhrenweg zu erschliessende Gebiet weitgehend überbaut sei und
nur wenige nicht überbaute Grundstücke vorhanden seien, und auch
am Augenschein selber Vorbehalte zu den Annahmen des Gemein-
devertreters anbrachten. Dieses Vorgehen stellt eine gröbliche Miss-
achtung der Untersuchungspflicht dar. Stellen sich derartige Fragen,
kommt die beurteilende Rechtsmittelinstanz nicht umhin, sich durch
parzellenweise Nachprüfung eine eigene Meinung zu bilden. Die
Bestandesaufnahme durch das Verwaltungsgericht hat denn auch
ergeben, dass - anders als dies das Baudepartement annahm - 18
Wohneinheiten vorhanden und deren sechs noch möglich sind.
c) Da die Beschwerde aus den genannten materiellen Gründen
gutzuheissen ist, haben die durch das Baudepartement zu verant-
wortenden Verfahrensfehler lediglich zur Konsequenz, dass der Staat
einen Teil der Parteikosten zu übernehmen hat. | 1,685 | 1,362 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-91_2002-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-91.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-91.pdf | AGVE_2002_91 | null | nan |
45f2c043-13ca-5af2-ad90-2b10a9603e98 | 1 | 412 | 870,924 | 1,409,702,400,000 | 2,014 | de | 2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
176
29
Kostenauflage in erstinstanzlichen Baugesuchssachen nach Massgabe
eines kommunalen Reglements, das sich auf § 5 Abs. 2 BauG abstützt.
-
Auslegung von § 5 Abs. 2 BauG: Der Begriff "Entscheid über Bauge-
suche" ist in einem weiten Sinn zu verstehen. Von der Bestimmung
kann auch Aufwand erfasst sein, der im Zusammenhang mit der
Prüfung bereits erstellter Bauten und Anlagen erforderlich ist, wenn
die Abklärungen Baurechtswidrigkeiten aufzeigen, die von der Bau-
herrschaft im Zuge der Abklärungen dann jedoch freiwillig behoben
bzw. vom Nachbarn toleriert werden (Erw. 1.2.1. und 1.2.2.).
-
Die umstrittenen Kosten können im konkreten Anwendungsfall so-
dann dem kommunalen Gebührenreglement zur BNO zugeordnet
werden (Erw. 2.2.).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 19. September 2014 in Sa-
chen A. und B. gegen Gemeinderat C. sowie Departement Bau, Verkehr und
Umwelt (WBE.2014.50).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Die Beschwerdeführer vertreten die Auffassung, für die vom
Gemeinderat verfügte Kostenauferlegung fehle es an einer gesetzli-
chen Grundlage: § 5 Abs. 2 BauG erlaube eine Abweichung von der
allgemeinen Regel von § 31 VRPG nur für Entscheide über Baugesu-
che und Enteignungen. Nur schon vom Wortlaut her könnten keine
erstinstanzlichen Gebühren für die Kosten des Nachführungsgeome-
ters, der ohne hängiges Baugesuch und ohne Wissen der Beschwer-
deführer tätig geworden sei, erhoben werden. Dies entspreche auch
der Absicht des Gesetzgebers. Auch sonst bestünden keine Anhalts-
punkte, dass gestützt auf § 5 Abs. 2 BauG Gebühren ausserhalb von
Baugesuchen festgelegt werden dürften.
2014
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
177
(...)
1.2.
1.2.1.
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut. Ist der
Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, muss
nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichti-
gung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf
die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck der Norm, die ihr zu-
grunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext mit
anderen Bestimmungen. Die Materialien sind zwar nicht unmittelbar
entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu
erkennen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlas-
sen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann
allein auf das grammatikalische Element abgestellt, wenn sich daraus
zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (statt vieler: BGE 137
V 376; 135 II 81; AGVE 2003, S. 191 f., je mit Hinweisen).
1.2.2.
Nach § 31 Abs. 1 VRPG ist das erstinstanzliche Verfahren
unentgeltlich; abweichende Bestimmungen sind jedoch vorbehalten.
Ein solcher Vorbehalt enthält § 5 Abs. 2 BauG: Danach können für
Entscheide über Baugesuche und Enteignungen auch von der ersten
Instanz Gebühren und Kosten auferlegt werden.
Umstritten ist, ob die den Beschwerdeführern auferlegten, der
Gemeinde entstandenen Kosten (insbesondere für den Geometer)
überhaupt im Rahmen eines "Entscheids über Baugesuche" angefal-
len sind. Entsprechend dem Wortlaut fallen unter den Begriff "Ent-
scheid über Baugesuche" vorab die Baubewilligungsentscheide (vgl.
§§ 59 ff. BauG), d.h. Entscheide darüber, ob gestützt auf ein einge-
reichtes Baugesuch eine Baubewilligung erteilt werden kann oder
nicht. Unter den Wortlaut lassen sich aber durchaus auch Entscheide
subsumieren, die sich mit der Frage auseinandersetzen, ob im Falle
bereits erstellter Bauten oder Anlagen ein nachträgliches Baugesuch
eingereicht werden muss. Auch in solchen Fällen geht es letztlich -
wenn auch in einem etwas weiteren Sinn - um "Entscheide über
Baugesuche".
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
178
Eine zweckgerichtete Auslegung von § 5 Abs. 2 BauG ergibt
sodann, dass von der Bestimmung auch Aufwand erfasst sein kann,
der zur Abklärung der Frage, ob ein nachträgliches Baugesuchs-
verfahren durchzuführen ist, erforderlich ist. So muss eine Kosten-
auflage zu Lasten des Bauherrn (oder Grundeigentümers) z.B. im
Zusammenhang mit der Überprüfung bereits erstellter Bauten und
Anlagen möglich sein, jedenfalls dann, wenn sich herausstellt, dass
eine bauliche Vorkehr von vornherein nicht bewilligungsfähig ist
oder wenn sich ergibt, dass in einem (nachträglichen) Baugesuchs-
verfahren geprüft werden muss, ob die Vorkehr bewilligt werden
kann. Auch in Fällen wie dem vorliegenden, wo teilweise Baurechts-
widrigkeiten festgestellt wurden, welche von der Bauherrschaft dann
jedoch freiwillig behoben bzw. vom Nachbarn toleriert wurden (wes-
halb kein nachträgliches Baubewilligungsverfahren eingeleitet bzw.
keine weiteren Massnahmen ergriffen werden mussten), erscheint es
nicht sachgerecht, wenn die entstandenen Kosten von der Gemeinde
nicht weiterverrechnet werden dürfen. Sinn und Zweck von § 5
Abs. 2 BauG gebieten, gleiche bzw. vergleichbare Tatbestände auch
gleich zu behandeln. Anders zu entscheiden würde bedeuten, dass
namentlich eine Bauherrschaft, die eigenmächtig bauliche Vorkehren
trifft, welche behördliche Interventionen und Beanstandungen nach
sich ziehen, kostenmässig privilegiert werden. Das widerspricht einer
sinnvollen Anwendung von § 5 Abs. 2 BauG. Es rechtfertigt sich
deshalb nicht, § 5 Abs. 2 BauG derart eng an den Wortlaut gebunden
auszulegen, dass davon einzig Aufwand durchgeführter Baugesuchs-
verfahren erfasst wäre.
Gegenteiliges lässt sich auch den Materialien zum Baugesetz
1993 nicht entnehmen: Aus der von den Beschwerdeführern zitierten
Fundstelle ergibt sich einzig, dass es nicht Absicht des Gesetzgebers
war, eine Grundlage für die Erhebung von Gebühren für Einsprachen
zu schaffen, sondern dass es um Gebühren für das Baugesuch gehe
(Protokoll der grossrätlichen "Spezialkommission Baugesetzrevi-
sion" betreffend die Beratung des BauG 1993, 1. Lesung, S. 332).
Die hier interessierende spezielle Frage, ob von § 5 Abs. 2 BauG ins-
besondere auch Aufwand erfasst ist, der z.B. zur Abklärung der
Frage, ob ein nachträgliches Baugesuchsverfahren durchzuführen ist,
2014
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
179
erforderlich ist, wurde im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses nicht
explizit diskutiert. Die Baugesetzkommentare (sowohl zum neuen als
auch zum alten BauG) enthalten dazu ebenfalls keine ausdrücklichen
Überlegungen (siehe M
ARTIN
G
OSSWEILER
, in: Kommentar zum
Baugesetz des Kantons Aargau, Bern 2013, § 5 N 9 und 16; E
RICH
Z
IMMERLIN
, Baugesetz des Kantons Aargau vom 2. Februar 1971,
2. Auflage, Aarau 1985, § 3 N 10a und b). Für die Beurteilung von
§ 5 Abs. 2 BauG helfen für die vorliegende Konstellation demnach
weder die Materialien noch die Literatur weiter.
Aufgrund dieser Erwägungen ist der in § 5 Abs. 2 BauG
verwendete Begriff "Entscheid über Baugesuche" in einem weiten
Sinn zu verstehen. Von der Bestimmung kann mitunter auch Auf-
wand erfasst sein, der im Zusammenhang mit der Prüfung bereits er-
stellter Bauten und Anlagen erforderlich ist, wenn die Abklärungen -
wie hier - Baurechtswidrigkeiten aufzeigen, die von der Bauherr-
schaft im Zuge der Abklärungen dann jedoch freiwillig behoben bzw.
vom Nachbarn toleriert werden.
1.2.3. (...)
2.
2.1. (...)
2.2.
Gestützt auf § 5 Abs. 2 BauG, § 24 des Gesetzes über den vor-
beugenden Brandschutz vom 21. Februar 1989 (Brandschutzgesetz;
SAR 585.100) und § 53 der geltenden Bau- und Nutzungsordnung
der Gemeinde C. vom 30. Mai 1997, 26. Mai 2006, 27. November
2009 / 28. Oktober 1997, 16. August 2006, 24. März 2010 (BNO) er-
liess die Einwohnergemeindeversammlung C. am 25. November
2011 das "Gebührenreglement zur BNO". Gemäss § 1 Abs. 1 Ingress
des Gebührenreglements zur BNO erhebt der Gemeinderat "für seine
Leistungen in Bausachen - z.B. Entscheide, Vorentscheide, Beant-
wortung von Voranfragen, Beratungen und Auskünfte - vom Bean-
sprucher bzw. Verursacher eine Gebühr" und nach § 3 Abs. 1 Gebüh-
renreglement zur BNO hat der "Bauherr bzw. Verursacher" die dort
aufgeführten Kosten zu übernehmen. Da § 1 Abs. 1 Ingress des
Gebührenreglements zur BNO nur eine beispielhafte Aufzählung der
Leistungen in Bausachen enthält ("z.B."), steht grundsätzlich nichts
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
180
im Wege, darunter auch Sachverhaltsabklärungen und Kontrolltätig-
keiten zu subsumieren. Nach lit. a - e ist dafür (wie auch für die in
Abs. 1 Ingress explizit genannten Beratungen und Auskünfte) zwar
keine Gebühr geschuldet. Hingegen können solche Kosten nach § 3
Gebührenreglement zur BNO dem Bauherrn bzw. Verursacher
weiterverrechnet werden (Abs. 1); dazu gehören auch Kosten, die
von der Gemeinde an Dritte bezahlt worden sind (Abs. 2).
Nach § 3 Abs. 1 lit. d Gebührenreglement zur BNO hat der
Bauherr bzw. Verursacher u.a. Kosten für Mehraufwand, der auf
mangelhafte Baugesuche oder darauf zurückzuführen ist, dass
Bauordnung und/oder Baubewilligung nicht eingehalten werden und
dadurch ausserordentliche Aufwendungen, Besichtigungen, Kontrol-
len etc. notwendig sind, zu übernehmen. Dabei geht es um typischen
Aufwand ausserhalb eines Baugesuchsverfahrens. § 4 Gebühren-
reglement zur BNO weist ebenso darauf hin, dass solcher Aufwand
kostenpflichtig ist: Danach ist der Gemeinderat nämlich lediglich
"ermächtigt", unentgeltlich Auskunft und Beratung zu erteilen;
umgekehrt formuliert erfolgen Auskunft und Beratung in der Regel
jedoch entgeltlich. Der Gemeinderat bestätigt zudem, das Baugebüh-
renreglement sei in der Absicht erlassen worden, die Bewilligungs-,
Überwachungs- und Kontrolltätigkeit im Bauwesen möglichst
kostendeckend weiterverrechnen zu können, was z.B. auch für den
Aufwand betreffend Abklärungen über die Baubewilligungspflicht
gelte.
Die vorliegend umstrittenen Kosten können vor diesem Hinter-
grund ohne weiteres § 3 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 Gebührenreglement
zur BNO zugeordnet werden: Die Kosten entstanden für Abklärun-
gen, ob ein nachträgliches Baubewilligungsverfahren durchgeführt
werden muss. Insofern entstand der Gemeinde Mehraufwand. Zu
weiteren Massnahmen kam es zudem nur deshalb nicht, weil die teil-
weise festgestellten Baurechtswidrigkeiten von den Beschwerdefüh-
rern freiwillig behoben bzw. vom Nachbarn toleriert wurden. Dies
führt jedoch nicht dazu, dass die entstandenen Kosten nicht dem
Bauherrn bzw. Verursacher weiterverrechnet werden könnten. | 2,338 | 1,889 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-29_2014-09-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-29.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-29.pdf | AGVE_2014_29 | null | nan |
46b9da62-5c53-5468-8fac-e9bd37113b18 | 1 | 412 | 871,431 | 1,051,920,000,000 | 2,003 | de | 2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
193
[...]
52
Hobbymässige Pferdezucht in der Landwirtschaftszone (Art. 16a Abs. 1
und Art. 24 RPG; Art. 34 Abs. 1 und 5 RPV).
- Übergangsrecht (Art. 52 RPV; Erw. 2/a).
- Selbständige, bodenabhängige Pony- oder Pferdezucht als landwirt-
schaftliche Nutzung (Erw. 2/b/aa).
- Auslegung des Begriffs der Freizeitlandwirtschaft gemäss Art. 34
Abs. 5 RPV; Gewinn- und Ertragsorientierung, Grösse der landwirt-
schaftlichen Nutzfläche sowie Arbeitsaufwand bzw. -bedarf als mass-
gebende Kriterien (Erw. 2/b/bb).
- Anwendung auf den konkreten Einzelfall; Fehlen der nötigen Be-
triebsrentabilität und der fachlichen Anforderungen in der Person des
designierten Betriebsnachfolgers (Erw. 2/b/cc).
- Verwendung der Pferde für therapeutisches Reiten ist keine Annex-
nutzung zu einer zonenkonformen Bewirtschaftung (Erw. 2/b/dd).
- Beurteilung nach früherem Recht (Erw. 2/c).
2003
Verwaltungsgericht
194
- Voraussetzungen, unter denen Bauten und Anlagen für die hobbymäs-
sige Pferdehaltung und -zucht als positiv standortgebunden gelten
können; Begriff der Robusthaltung von Tieren (Erw. 3/a).
- Pferde, die teilweise in einem geschlossenen, in Boxen aufgeteilten
Stall leben, sind keine Robusttiere (Erw. 3/b).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 6. Mai 2003 in Sachen
S. gegen Regierungsrat und Gemeinderat Oberrohrdorf-Staretschwil.
Aus den Erwägungen
1. Vom Verwaltungsgericht in erster Linie zu beurteilen ist das
Baugesuch Nr. 1610 vom 3. Dezember 2000. Mit ihm strebt der Be-
schwerdeführer den Aufbau einer Haflinger-Pferdezucht an; einzelne
Stuten sollen nebenbei für das therapeutische Reiten eingesetzt wer-
den, und schliesslich ist die Haltung von zwei Pensionspferden vor-
gesehen. Geplant sind im Einzelnen die Überdachung des Longier-
bzw. Kehr- und Remisenplatzes (15.4 m x 15.4 m), ein waagrechter
Reit-, Dressur- und Auslaufplatz (18 m x 40 [bzw. gemäss Plan 38]
m), ein Verbundsteinplatz im Eingangsbereich zum "Gässli", ein
Unterstand für Pferde und Blechcontainer (2.7 m x ca. 12 m), die
Umnutzung des Holzlagerraums in einen Offenstall für Pferde mit
gleichzeitiger Vergrösserung, ein gedeckter, auf drei Seiten geschlos-
sener Unterstand für diverse Maschinen (15 m x 4 m), ein Weideun-
terstand (10 m x 4 m) samt 100 m
2
Verbundsteinfläche sowie ein
Treppenvordach und eine Verbundsteinfläche beim Wohnhaus. (...).
Die Koordinationsstelle Baugesuche und der Gemeinderat haben
dieses Baugesuch mit Teilverfügung vom 19. Juni 2001 bzw. Be-
schluss vom 9. Juli 2001 abgewiesen, und gegen diese Entscheide ist
beim Verwaltungsgericht die Verwaltungs- bzw. Sprungbeschwerde
vom 9. August 2001 hängig. Der Beschwerdeführer hat an der Ver-
handlung vom 9. September 2002 bestätigt, dass sich das Verfahren
BE.2001.00277 bei Gutheissung der Sprungbeschwerde erledigt.
Weiter hat er klargestellt, dass die Minimalvariante gemäss Bauge-
such Nr.
1521A (kreisrunder Longierplatz [Durchmesser 14
m],
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
195
rechteckiger Sand- und Holzschnitzelplatz [33 m x 18 m]) zu beur-
teilen wäre, falls die Sprungbeschwerde in Bezug auf den Reitplatz
und den Longierplatz abgewiesen würde. (...).
2. a) Die verfahrensgegenständlichen Bauten und Anlagen be-
schlagen zur Hauptsache die Parzelle Nr. 785, welche heute P.C.-S.
und M.S., beides Nachkommen des Beschwerdeführers, als Mitei-
gentümern zu je 1⁄2 gehört. Dieselben Eigentümer hat die Parzelle
Nr. 1226, auf welcher der erwähnte Weideunterstand platziert ist.
Beide Grundstücke liegen gemäss dem Kulturlandplan der Gemeinde
Oberrohrdorf-Staretschwil vom 21. März 1994 / 2. Juli 1996 in der -
im oberen Teil durch eine Quellschutzzone überlagerten - Landwirt-
schaftszone. Vorab stellt sich somit die Frage, ob die Bauvorhaben
hier zonenkonform sind und ihnen demnach eine ordentliche Baube-
willigung erteilt werden kann.
Das RPG ist mit Bundesgesetz vom 20. März 1998 auf den
1. September 2000 in verschiedenen Punkten, so auch bezüglich der
in der Landwirtschaftszone zulässigen Nutzungen, revidiert worden.
Zudem hat der Bundesrat am 28. Juni 2000, ebenfalls mit Inkraftset-
zungsdatum vom 1. September 2000, die neue RPV erlassen. Über-
gangsrechtlich bestimmt dabei Art. 52 RPV, dass Verfahren, die am
1. September 2000 hängig waren, nach neuem Recht beurteilt wer-
den (Abs. 1); nach bisherigem Recht werden sie zu Ende geführt,
wenn das neue Recht für den Gesuchsteller günstiger ist (Abs. 2). Da
das neue Recht zumindest der Tendenz nach eine Lockerung der
bisherigen Regelung, namentlich eine kontrollierte Öffnung der
Landwirtschaftszone für landwirtschaftsfremde Zwecke anstrebt
(Botschaft des Bundesrats zu einer Teilrevision des RPG vom
22. Mai 1996 [im Folgenden: Botschaft] S. 2, 8, 11), drängt es sich
auf, zunächst eine Beurteilung nach neuem Recht vorzunehmen; je
nach Ergebnis hat dann noch eine Beurteilung nach früherem Recht
stattzufinden (siehe auch BGE 127 II 210 ff.; VGE III/111 vom
29. Oktober 2001 [BE.2000.00183] in Sachen M. u.M., S. 9). Das an
den Baugesuchsentscheid vom 9. Juli 2001 anschliessende Verfahren
ist ohnehin nach neuem Recht zu beurteilen (Art. 52 Abs. 1 RPV).
b) aa) Voraussetzung einer Baubewilligung ist u.a., dass die
Bauten und Anlagen dem Zweck der Nutzungszone entsprechen
2003
Verwaltungsgericht
196
(Art. 22 Abs. 2 lit. a RPG). In der Landwirtschaftszone zonenkon-
form sind u.a. Bauten und Anlagen, die zur landwirtschaftlichen
Bewirtschaftung oder für den produzierenden Gartenbau nötig sind
(Art. 16a Abs. 1 Satz 1 RPG). Diese Bestimmung wird durch
Art. 34 RPV wie folgt ausgeführt:
"
1
In der Landwirtschaftszone zonenkonform sind Bauten und An-
lagen, wenn sie der bodenabhängigen Bewirtschaftung oder der
inneren Aufstockung dienen oder - in den dafür vorgesehenen
Gebieten gemäss Artikel 16a Absatz 3 RPG - für eine Bewirt-
schaftung benötigt werden, die über eine innere Aufstockung hin-
ausgeht, und wenn sie verwendet werden für:
a. die Produktion verwertbarer Erzeugnisse aus Pflanzenbau
und Nutztierhaltung;
b. die Bewirtschaftung naturnaher Flächen.
(...)
4
Die Bewilligung darf nur erteilt werden, wenn:
a. die Baute oder Anlage für die in Frage stehende Bewirt-
schaftung nötig ist;
b. der Baute oder Anlage am vorgesehenen Standort keine
überwiegenden Interessen entgegenstehen; und
c. der Betrieb voraussichtlich längerfristig bestehen kann.
5
Bauten und Anlagen für die Freizeitlandwirtschaft gelten nicht
als zonenkonform."
Landwirtschaft und produzierender Gartenbau werden durch die
Art der hergestellten Produkte von andern Tätigkeiten abgegrenzt.
Landwirtschaftliche Produkte bzw. Erzeugnisse des produzierenden
Gartenbaus sind pflanzliche und tierische Nahrungsmittel und Roh-
stoffe. Grundlegender Prozess in der Landwirtschaft wie auch im
produzierenden Gartenbau ist die Gewinnung organischer Substanz
durch die Photosynthese mit Tageslicht. Die Tierhaltung beruht eben-
falls auf diesem Vorgang, ist doch das Tierfutter direkt oder indirekt
pflanzlichen Ursprungs (Neues Raumplanungsrecht [Erläuterungen
zur RPV und Empfehlungen für den Vollzug], Publikation des Bun-
desamts für Raumentwicklung [im Folgenden: Erläuterungen RPV]
vom September 2000, S. 29). In diesem Sinne galt schon vor der
erwähnten Gesetzesrevision auch ein selbständiger, bodenabhängiger
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
197
Pony- oder Pferdezuchtbetrieb als landwirtschaftliche Nutzung
(Bundesgericht, in: ZBl 95/1994, S. 84), ebenso die Haltung von vier
Pensionspferden auf einem Landwirtschaftsbetrieb, wenn das auf
dem Betrieb bodenabhängig produzierte Futter für die Ernährung der
landwirtschaftlichen Nutztiere und der zusätzlichen Pensionspferde
ausreichte (BGE 122 II 160 ff.). Hieran wollte der Gesetzgeber fest-
halten; der Nationalrat bzw. dessen Mehrheit war lediglich der Auf-
fassung, dass Bauten und Anlagen, die dem Reitsport bzw. dem Rei-
ten als Freizeitbetätigung dienen, grundsätzlich nicht in die Land-
wirtschaftszone gehören (Erläuterungen RPV, a.a.O. mit Hinweis).
bb) Im vorliegenden Fall lautet die Kernfrage dahin, ob der Be-
schwerdeführer mit seinem Haflinger-Zuchtbetrieb rechtlich gesehen
eine professionelle oder eine Hobby-Landwirtschaft betreiben will.
Die Abgrenzung lässt sich im Einzelfall auf Grund verschiedener
Indikatoren vollziehen. So fehlt es im Falle der Freizeitlandwirt-
schaft beispielsweise an der Gewinn- und Ertragsorientierung. Ein
Indiz dafür, dass bloss Freizeitlandwirtschaft betrieben wird, kann
auch im Umstand gesehen werden, dass gewisse Mindestgrössen -
etwa jene, die zum Bezug von Direktzahlungen berechtigt - nicht
erreicht werden. Für die Beantwortung der Frage, ob im konkreten
Fall Freizeitlandwirtschaft vorliege, kann unter Umständen auch auf
den Arbeitsbedarf - bemessen in Standard-Arbeitskräften oder Stand-
ard-Arbeitstagen - abgestellt werden. Auf die Setzung starrer Grenz-
werte wurde in der RPV jedoch bewusst verzichtet, damit einzelfall-
gerechte Lösungen möglich bleiben (Erläuterungen RPV, S. 32).
Das Baudepartement hat Richtlinien erarbeitet, welche auf glei-
che oder ähnliche Kriterien abstellen, nämlich die Gewinn- und Er-
tragsorientierung, die landwirtschaftliche Nutzfläche (Schwellenwert
3 ha, ausser bei Spezialkulturen) sowie den Arbeitsaufwand bzw. -
bedarf (Schwellenwert 300 Arbeitskraftstunden pro Jahr [Akh/Jahr],
die bei objektiver Betrachtung für die Bewirtschaftung aufgebracht
werden) (Interne Vollzugshilfe zum Bauen ausserhalb der Bauzonen
vom 8. Februar 2002 [im Folgenden: Vollzugshilfe BauG], S. 4).
Derartige Verwaltungsverordnungen enthalten Regeln für das
verwaltungsinterne Verhalten der Beamten. Sie dienen der Schaffung
einer einheitlichen Verwaltungspraxis und sollen den Beamten die
2003
Verwaltungsgericht
198
Rechtsanwendung erleichtern. Da sie nicht vom verfas-
sungsmässigen Gesetzgeber stammen, sondern von einer Verwal-
tungsbehörde, können sie keine von der gesetzlichen Ordnung ab-
weichende Bestimmungen vorsehen. Die rechtsanwendenden Behör-
den haben sich daher an Verwaltungsverordnungen nur zu halten,
soweit sie den richtig verstandenen Sinn des Gesetzes wiedergeben.
Die in Verwaltungsverordnungen vorgenommene Auslegung des
Gesetzes unterliegt der richterlichen Nachprüfung. Der Richter soll
Verwaltungsverordnungen bei seiner Entscheidung mitberücksichti-
gen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende
Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen
(BGE 121 II 478 mit Hinweisen; siehe auch Giovanni Biaggini, Die
vollzugslenkende Verwaltungsverordnung: Rechtsnorm oder Fak-
tum?, in: ZBl 98/1997, S. 1 ff., insbes. 4 und 19 f. mit kritischen
Anmerkungen zum "allgemeinen Einzelfallvorbehalt"). Das Verwal-
tungsgericht befolgt auf der Linie dieser Rechtsprechung Verwal-
tungsrichtlinien ebenfalls nur, soweit ihre sachliche Überzeugungs-
kraft reicht, sie nach ihren Voraussetzungen anwendbar sind und im
Einzelfall keine im Lichte des positiven Verfassungs-, Gesetzes- oder
Verordnungsrechts wesentlichen, besonderen Umstände vorliegen; es
ist davon abzuweichen, wenn dies im Einzelfall ausserordentliche
Verhältnisse verlangen (AGVE 1985, S. 322 f. und 1995, S. 347, je
mit Hinweisen). In diesem Sinne stützt sich das Verwaltungsgericht
grundsätzlich auch auf die Vollzugshilfe BauG ab (AGVE 1995,
S. 347; siehe zum Ganzen auch den VGE III/42 vom 31. März 2000
[BE.1998.00002/00028] in Sachen B., S. 8 f.).
cc) Die Anwendung der Vollzugshilfe BauG führt im vorlie-
genden Fall zu folgenden Ergebnissen:
aaa) Für die Berechnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche
sind diejenigen Flächen abzuziehen, welche auf den Parzellen
Nrn. 785 und 1226 nicht für die Futtergewinnung zur Verfügung ste-
hen (Gebäudeplätze, Wege, Reitplatz, Unterstand und Wald). Dies
ergibt unbestrittenermassen 284 Aren. Anzurechnen ist hier ferner
die vom Beschwerdeführer gepachtete Parzelle Nr. 763, welche un-
mittelbar südöstlich an die Parzelle Nr. 1226 angrenzt. Zwar ist die
Fixpacht nur bis zum 31. Dezember 2005 abgeschlossen; der Be-
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
199
schwerdeführer hat jedoch die schriftliche Zusage der Verpächterin,
dass die Pacht ab diesem Zeitpunkt "bis zu einer rechtskräftigen Ein-
zonung in Bauland" verlängert werde. Dabei ist die Möglichkeit,
dass die Parzelle Nr. 763 in den nächsten Jahren eingezont werden
könnte, im jetzigen Zeitpunkt als sehr gering einzuschätzen. Der
derzeitige Bauzonenplan stammt aus dem Jahre 1999, so dass bei
einem Planungshorizont von 10 - 15 Jahren auch längere Zeit nach
2005 nicht mit einer Gesamtrevision zu rechnen ist. Irgendwelche
Zusicherungen in Bezug auf die künftige Nutzungsplanung gibt es
nicht. Somit bilden auch nach Auffassung der kantonalen Fachstelle
weitere 149 Aren - nach Abzug der an den Nachbarn unterverpach-
teten 30 Aren - Bestandteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Dies
ergibt eine Gesamtfläche von 433 Aren, d.h. der Schwellenwert von
3 ha (Vollzugshilfe BauG, S. 4) ist überschritten.
bbb) Der Beschwerdeführer beabsichtigt, einen Haflinger-
Zuchthengst und sechs Haflinger-Stuten sowie zwei Pensionspferde
zu halten. Ein solcher Tierbestand kann mit dem Futter, das auf der
landwirtschaftlichen Nutzfläche von 433 Aren produziert wird, er-
nährt werden. Umgerechnet ist von einem durchschnittlichen Besatz
von 9.7 Grossvieheinheiten (GVE) auszugehen. Die zur Verfügung
stehende Futterfläche (Wies- und Weideland) beträgt damit 45 Aren /
GVE, bei Richtwerten für die vorwiegend betriebseigene Futterbasis
von 33 Aren/Tier (normale Pferde) bzw. 20 Aren/Tier (Haflinger-
Pferde). Die Kontrollrechnung auf Grund der spezifischen Ertrags-
verhältnisse bestätigt die Annahme, dass für den angestrebten Tier-
bestand ausreichend eigene Futterfläche vorhanden ist, steht doch
einem Rauhfutter-Angebot von 289 dt TS (Doppelzentner Trocken-
substanz) ein Rauhfutter-Bedarf von 278 dt TS gegenüber. Die kan-
tonale Fachstelle erachtet diese Annahmen und Berechnungen
durchwegs als "nachvollziehbar und korrekt". Das Verwaltungsge-
richt sieht dies nicht anders.
Der Verfasser des Betriebskonzepts hat anhand eines Global-
Arbeitsvoranschlags errechnet, dass für den geplanten Betrieb ohne
die beiden Pensionspferde ein Arbeitsaufwand von rund
2'400 Akh/Jahr zu leisten wäre. Auch diese Berechnungen sind nach
Auffassung der kantonalen Fachstelle "nachvollziehbar und korrekt",
2003
Verwaltungsgericht
200
und das Verwaltungsgericht pflichtet dieser Meinung bei. Somit ist
nicht nur der Schwellenwert von 300 Akh/Jahr (Vollzugshilfe BauG,
S. 4) klar überschritten, sondern zusätzlich der Nachweis dafür er-
bracht, dass der Beschwerdeführer ein landwirtschaftliches Gewerbe
im Sinne von Art. 7 Abs. 1 BGBB betreiben will, wofür mindestens
2'100 Akh/Jahr erforderlich sind (BGE 121 II 313 mit Hinweis).
ccc) Zur Frage der Gewinn- und Ertragsorientierung (Voll-
zugshilfe BauG, S. 4) ergibt sich was folgt:
aaaa) Im Betriebskonzept werden in der Vollkostenrechnung als
landwirtschaftliches Einkommen die Erträge aus dem Zuchtbetrieb
und aus der Pensionspferdehaltung eingestellt. Die kantonale Fach-
stelle führt dazu aus, die letztere werde "im Grundsatz nicht der
landwirtschaftlichen Produktion zugeteilt". Damit wird übersehen,
dass die Haltung einer beschränkten Anzahl von Pensionspferden auf
einem Landwirtschaftsbetrieb als in der Landwirtschaftszone zonen-
konform gilt, sofern die auf dem Betrieb zur Verfügung stehende
Rauhfutterbasis auch für die Pensionspferde ausreicht
(BGE 120 II 163 f.). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt: Die
Hauptnutzung (selbständiger, bodenabhängiger Zuchtbetrieb) ist
landwirtschaftlicher Art (Bundesgericht, in: ZBl 95/1994, S. 84), und
die vorhandene Futterfläche reicht für sämtliche Tiere aus (vorne,
Erw. bbb). Der Beschwerdeführer bezeichnet es deshalb zu Recht als
"unlogisch", die Erträge der Pensionspferdehaltung vom
landwirtschaftlichen Einkommen in Abzug zu bringen.
Die Berücksichtigung der Direktzahlungen von Fr. 15'200.- auf
der Einkommensseite ist in Bezug auf den Beschwerdeführer nicht
korrekt, weil nach dem Erreichen des 65. Altersjahrs die Bezugsbe-
rechtigung entfällt und der Beschwerdeführer diese Alterslimite
überschritten hat. Der Verfasser des Betriebskonzepts geht denn auch
richtigerweise davon aus, dass sich diese Position erst nach einer
allfälligen Betriebsübergabe an den Sohn M. oder an einen Dritten
aktualisieren würde.
bbbb) Auf der Kostenseite erscheint es nicht ganz folgerichtig,
die Direktkosten (Futter, Tierarzt, Hufpflege, Stroh usw.) aus-
schliesslich der Pferdezucht zu belasten; eine Aufteilung zwischen
dem landwirtschaftlichen Bereich (Pferdezucht und Pensionspferde-
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
201
haltung) und dem (nicht der Landwirtschaft zuzurechnenden) thera-
peutischen Reiten wird der Sache besser gerecht, wobei dies - ent-
sprechend dem betreffenden Anteil am Gesamteinkommen
(Fr. 47'000.-- zu Fr. 20'000.--) - im Verhältnis 2:1 zu geschehen hat.
In gleicher Weise sind die Strukturkosten (Ökonomiegebäude, Ma-
schinen, Schuld- und Pachtzinsen) zwischen dem landwirtschaftli-
chen Bereich (Pferdezucht und Pensionspferdehaltung) und dem
(nicht der Landwirtschaft zuzurechnenden) therapeutischen Reiten
aufzuteilen. Dass hier bei objektiver Beurteilung auch die Schuld-
zinsen dazugehören, bestreitet der Beschwerdeführer nicht, ebenso
wenig den von der kantonalen Fachstelle dafür eingesetzten Betrag
von Fr. 12'000.-- jährlich. Schliesslich stellt die kantonale Fachstelle
zu Recht fest, bei einem ausgewiesenen Arbeitsbedarf für die Land-
bewirtschaftung und die Pferdezucht von rund 2'400 Akh/Jahr
(vorne, Erw. bbb) - dies entspricht beinahe einer ganzen Arbeitskraft
(= 280 Arbeitstage/Jahr; siehe Art. 5 Abs. 1 der Verordnung vom
7. Dezember 1998 über die Beurteilung der Nachhaltigkeit in der
Landwirtschaft [Nachhaltigkeitsverordnung; SR 919.118]) - seien
auch die Kosten für das Wohnhaus bei den Strukturkosten zu berück-
sichtigen; die Einstellung eines Betrags von Fr. 6'000.-- in der Voll-
kostenrechnung unter diesem Titel (= 1⁄2 der jährlich anfallenden
Kosten für Unterhalt und Abschreibung) erweist sich als sachgerecht
und wird vom Beschwerdeführer auch anerkannt.
cccc) Auf diesen Grundlagen errechnet sich in Bezug auf den
Beschwerdeführer das folgende jährliche Einkommen aus dem rein
landwirtschaftlichen Teil:
Jährliche Erträge:
1.3 Schlachtfohlen à 100 kg SG à Fr. 8.50
Fr.
1'100.--
1.2 Zuchtfohlen, Verkauf mit ca. 6 Mt., à Fr. 1'300.--
Fr.
1'560.--
0.6 abgehende Stuten (Anteil pro Jahr)
Fr.
600.--
Verkauf von 2 3-jährigen Pferden à Fr. 4'500.--
Fr.
9'000.--
Futtergelder für die 2 Hengstfohlen des Verbandes
Fr.
2'555.--
Einnahmen aus Decktaxen für den Zuchthengst
Fr.
2'000.--
2 Pensionspferde à Fr. 650.--/Mt.
Fr.
15'600.--
Fr.
32'415.--
abzüglich Anteil Zukauf Zuchtstuten (Aufbauphase)
Fr.
1'000.--
2003
Verwaltungsgericht
202
Total Erträge
Fr.
31'415.--
Jährliche Kosten:
Direktkosten:
Kraftfutter/Mineralstoffe (2/3)
Fr.
2'540.--
Hufpflege/Tierarzt (2/3)
Fr.
3'340.--
Herdenbuch/Transport (2/3)
Fr.
800.--
Stroh (2/3)
Fr.
670.--
Total Direktkosten
Fr.
7'350.--
Strukturkosten:
Kosten Ökonomiegebäude (2/3)
Fr.
7'000.--
Kosten Wohnhaus (1/2)
Fr.
6'000.--
Maschinenkosten (2/3)
Fr.
7'340.--
Allgemeine Betriebskosten (2/3)
Fr.
3'340.--
Schuldzinsen (2/3)
Fr.
8'000.--
Pachtzinsen (2/3)
Fr.
1'540.--
Total Strukturkosten
Fr.
33'220.--
Betriebsverlust rund
Fr.
9'000.--
Auf Grund einer derartigen Ausgangslage fehlt es dem Betrieb,
den der Beschwerdeführer aufbauen will, klarerweise an der erfor-
derlichen Gewinn- und Ertragsorientiertheit. Nichts anderes ergibt
sich, wenn bei einer Betriebsübernahme durch den 43-jährigen Sohn
M.S. oder einen andern noch nicht im AHV-Alter stehenden Bewirt-
schafter die Direktzahlungen von Fr. 15'200.-- zum landwirtschaftli-
chen Einkommen geschlagen werden (vorne, Erw. aaaa), denn bei
einer jährlichen Einkommensschöpfung von rund Fr. 6'000.-- kann
von einem gewinn- und ertragsorientierten Betrieb ebenfalls nicht die
Rede sein. Diese Voraussetzung ist auch dann nicht gegeben, wenn
man mit dem Bundesgericht lediglich verlangt, dass ein landwirt-
schaftlicher Betrieb "in einem gewissen Ausmass wirtschaftlich ist",
um als in der Landwirtschaftszone zonenkonform gelten zu können
(BGE vom 23. April 2001 [1A.298/2000] in Sachen ARE gegen F.,
S. 5; siehe auch BGE 121 II 315). Hinzu kommt nämlich, dass der
Sohn die für eine Betriebsübernahme nötigen objektiven Vorausset-
zungen offensichtlich nicht erfüllt. M.S., der über eine kaufmänni-
sche Ausbildung verfügt, führt heute den Maler- und Spritzwerkbe-
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
203
trieb des Vaters in S. und ist damit voll ausgelastet. Wie sich diese
Arbeitsbelastung mit einem 50%-Pensum für die Pferdezucht ver-
trüge, ist nicht geklärt. Im Weitern kann der Sohn im Unterschied
zum Beschwerdeführer weder Erfahrungen mit der Pferdehaltung
noch entsprechende Ausbildungsbelege vorweisen. An der Augen-
scheinsverhandlung vom 9. September 2002 blieb er bezüglich seiner
diesbezüglichen Zukunftspläne sehr unverbindlich. Eine Spezialaus-
bildung werde er erst machen, wenn es soweit sei; zuerst müsse er
wissen, wie die Zucht funktioniere. Alles in Allem gewann das Ver-
waltungsgericht den Eindruck, weder der Vater noch der Sohn hätten
sich bisher ernsthaft überlegt, was es für eine Betriebsnachfolge alles
braucht. Auch aus dieser Sicht besteht kein Zweifel, dass die ge-
plante Pferdezucht Hobbycharakter hat. In der Person des Beschwer-
deführers dagegen wären die fachlichen Anforderungen wohl gege-
ben, obwohl auch bei ihm spezifische Ausbildungs- und Erfah-
rungsnachweise fehlen; mit der kantonalen Fachstelle kann man hier
die Meinung vertreten, dem Beschwerdeführer müsse "auf Grund der
langen Vorgeschichte" die genügende Erfahrung in Bezug auf die
Landbewirtschaftung und die Pferdehaltung zuerkannt werden, wenn
auch "in sehr grosszügiger Betrachtungsweise". Der Beschwerdefüh-
rer wäre aber wie bereits ausgeführt nicht in der Lage, seinen Zucht-
und Pensionsbetrieb rentabel zu führen, weil ohne die Direktzahlun-
gen, auf welche er wie erwähnt keinen Anspruch hat (vorne,
Erw. aaaa), überhaupt kein Betriebsgewinn mehr erwirtschaftet wer-
den kann, sondern ein Verlust von rund Fr. 9'000.-- pro Jahr resul-
tiert. So oder so muss also die Gewinn- und Ertragsorientierung des
Betriebs verneint werden. Hieran ändert nichts, dass die Erträge aus
der Pferdezucht zur Abdeckung der fix anfallenden
Liegenschaftskosten (Gebäudeunterhalt, Amortisation, Schulden-
dienst usw.) verwendet werden könnten; der Beschwerdeführer ver-
fügt eben über ausreichend andere, landwirtschaftsfremde Einkünfte
(...), aus denen er die erwähnten Fixkosten begleichen kann. Aus all
dem ergibt sich, dass die geplante Haflinger-Pferdezucht als
hobbymässig bzw. nach Massgabe von Art. 34 Abs. 5 RPV nicht
zonenkonform zu qualifizieren ist. Damit korrespondiert die Aussage
2003
Verwaltungsgericht
204
des Beschwerdeführers, hinter dem Aufbau einer Haflinger-Pferde-
zucht stehe primär die Freude an der Sache.
dd) Da zwei der Töchter des Beschwerdeführers an multipler
Sklerose erkrankt sind, will er einzelne der von ihm gehaltenen Haf-
linger-Pferde auch für therapeutisches Reiten verwenden. Es ist un-
bestritten, dass dies keine landwirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von
Art. 16a Abs. 1 RPG bzw. Art. 34 Abs. 1 RPV darstellt. Nach dem
Gesagten kann das Therapiereiten auch nicht als Annexnutzung zu
einer zonenkonformen Bewirtschaftung verstanden werden (siehe
vorne, Erw. cc). Deshalb wäre es auch nicht korrekt gewesen, den
diesbezüglichen Ertrag in der Kostenrechnung zu berücksichtigen.
Abgesehen davon würde aus dem Therapiereiten ein Einkommen
von höchstens ein paar Tausend Franken resultieren, und dies unter
der für den Beschwerdeführer günstigen Annahme, dass das Wohn-
haus unter diesem Titel kein Kostenfaktor ist (geschätzter jährlicher
Ertrag Fr. 20'000.--, abzüglich 1/3 der Direktkosten mit Fr. 3'670.--
und 1/3 der Strukturkosten mit Fr.
13'600.- [siehe vorne,
Erw. cc/ccc/cccc]).
c) Die Beurteilung nach früherem Recht (vorne, Erw. a) führt zu
keinem andern Ergebnis. Das Bundesgericht verneinte schon vor
dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung vom 20. März 1998 ein
sachlich begründetes Bedürfnis für die Neuerrichtung landwirt-
schaftlicher Bauten ausserhalb der Bauzonen, wenn anzunehmen
war, dass der betreffende Betrieb weder existenzsichernd noch ren-
tabel sein werde (BGE 103 Ib 110 ff.). Nach dem Inkrafttreten des
BGBB wurde diese Praxis etwas gelockert. So verlangte das Bundes-
gericht in einem Entscheid vom 15. November 1995 unter dem er-
wähnten Gesichtspunkt (und unter jenem der Zonenkonformität in
der Landwirtschaftszone) lediglich noch, dass längerfristig ein er-
heblicher Beitrag zur Existenzsicherung in der bodenabhängigen
Landwirtschaft erwirtschaftet werden kann (BGE 121 II 315). Im
bereits erwähnten Fall ARE gegen F. (BGE 1A.298/2000) vom
23. April 2001 fasste das Bundesgericht den Stand der früheren Pra-
xis wie folgt zusammen (S. 5):
"Nach der oben skizzierten (...) bundesgerichtlichen Rechtspre-
chung muss unter raumplanungsrechtlichen Gesichtspunkten ein
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
205
landwirtschaftlicher Betrieb mit erheblichem Aufwand - der hal-
ben Arbeitskraft einer bäuerlichen Familie - betrieben werden
und in einem gewissen Ausmass wirtschaftlich sein, um nach
Art. 22 RPG als in der Landwirtschaftszone zonenkonform bzw.
in einer nicht näher bestimmten Nichtbauzone als nach
Art. 24 RPG standortgebunden gelten zu können."
Auf Grund dieser Vorgaben wäre das Bauvorhaben eindeutig
ebenfalls nicht bewilligungsfähig gewesen. Der Betrieb einer Pferde-
zucht ist für den Beschwerdeführer keine Existenzfrage, und abgese-
hen davon kann mit dem ermittelten landwirtschaftlichen Einkom-
men weder kurz- noch langfristig ein bedeutender Beitrag zur
Existenzsicherung geleistet werden.
3. Gemäss Art. 24 RPG können abweichend von Art. 22 Abs. 2
lit. a RPG Bewilligungen erteilt werden, Bauten und Anlagen zu
errichten oder ihren Zweck zu ändern, wenn der Zweck der Bauten
und Anlagen einen Standort ausserhalb der Bauzonen erfordert (lit. a)
und keine überwiegenden Interessen entgegenstehen (lit. b). Die vor
der Gesetzesrevision vom 20. März 1998 geltende Fassung (Art. 24
Abs. 1 RPG) trug denselben Wortlaut.
a) aa) Die (positive) Standortgebundenheit darf nur bejaht wer-
den, wenn eine Baute aus technischen oder betriebswirtschaftlichen
Gründen oder wegen der Bodenbeschaffenheit auf einen Standort
ausserhalb der Bauzonen angewiesen ist. Dabei beurteilen sich die
Voraussetzungen nach objektiven Massstäben, und es kann weder auf
die subjektiven Vorstellungen und Wünsche des Einzelnen noch auf
die persönliche Zweckmässigkeit oder Bequemlichkeit ankommen.
Generell ist bei der Beurteilung der Voraussetzungen ein strenger
Massstab anzulegen (BGE 124 II 255 f. mit Hinweisen). Bei
Landwirtschaftsbetrieben stimmt dabei der Begriff der Zonenkonfor-
mität im Sinne von Art. 16 RPG (in der vor dem 1. September 2000
geltenden Fassung) im Wesentlichen mit demjenigen der Standortge-
bundenheit überein (BGE 123 II 508 mit Hinweisen).
bb) Nach ständiger regierungsrätlicher Praxis sind Bauten und
Anlagen für eine hobbymässige Pferdehaltung bzw. -zucht ausser-
halb der Bauzonen ausnahmsweise dann möglich, wenn eine sinn-
vollere landwirtschaftliche Bewirtschaftung wie bei Hanglagen oder
2003
Verwaltungsgericht
206
kleinen Restflächen nicht möglich ist, die Tiere ganzjährig auf der
Weide gehalten werden (sog. Robusthaltung), die Rauhfutterbasis
vorhanden und die gewässerschutzkonforme Beseitigung des anfal-
lenden Mistes und der Abwässer sichergestellt ist. Die Pferdehaltung
ist allerdings auf diejenige Anzahl Pferde beschränkt, welche eine
Familie besorgen kann, d.h. es sind maximal vier Pferde zulässig;
dadurch soll eine zonenwidrige gewerbliche Nutzung (Pensionspfer-
dehaltung, Reitpferdevermietung usw. ohne Vorhandensein eines
landwirtschaftlichen Betriebs) vermieden und dem Bedürfnis nach
weiteren weder zonenkonformen noch standortgebundenen Anlagen
(Reitplatz, Springgarten, Reithalle usw.) vorgebeugt werden
(RRB
Nr.
2001-000961 vom 30.
Mai 2001 in Sachen des
Beschwerdeführers, S. 10; siehe auch Vollzugshilfe BauG, S. 5). Der
Beschwerdeführer stellt diese Verwaltungspraxis nicht in Frage.
Auch dem Verwaltungsgericht erscheint sie plausibel und mit Art. 24
RPG durchaus vereinbar.
Bei der Robusthaltung von Tieren handelt es sich um eine ex-
tensive Nutzung in dem Sinne, dass die Tiere ständig der Witterung
ausgesetzt sind. Dafür werden eine Liegefläche und ein Fressraum
benötigt. Der Unterstand muss so gestaltet sein, dass die Tiere ihren
Aufenthaltsort - im Unterstand oder im Freien - selbst bestimmen
können, was in aller Regel einen mindestens einseitig offenen Unter-
stand bedingt (RRB Nr. 2000-00158 vom 9. August 2000 in Sachen
H., S. 6 mit Hinweisen).
b) Die Parzellen Nrn. 785, 1226 und 763 liegen am Hang und
sind gemäss der landwirtschaftlichen Eignungskarte den Klassen 4/5
(gut geeignet für Naturfutterbau bis Naturfutterbau mässiger Inten-
sität) zugeteilt. Der Verfasser des Betriebskonzepts geht zu Recht
davon aus, dass hier die Weidehaltung die einzig vernünftige Bewirt-
schaftungsart ist. Die erforderliche Rauhfutterbasis ist ebenfalls vor-
handen (vorne, Erw. 2/b/cc/bbb), und hinsichtlich des Gewässer-
schutzes sind nie irgendwelche Vorbehalte angebracht worden. Hin-
gegen kann die Pferdehaltung, wie sie der Beschwerdeführer betreibt
und auch in Zukunft betreiben will, nicht als Robusthaltung im Sinne
der regierungsrätlichen Praxis bezeichnet werden. Die in Frage ste-
henden Tiere würden nicht das ganze Jahr über im Freien, d.h. auf
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
207
der Weide leben, sondern zumindest teilweise in einem geschlosse-
nen, in Boxen aufgeteilten Stall. Robusttiere benötigen wie erwähnt
lediglich einen in der Regel auf drei Seiten geschlossenen Weideun-
terstand, in welchem sie bei Wind und Wetter Schutz suchen können.
Für das Verwaltungsgericht steht im Übrigen auch fest, dass das vom
Haflinger-Zuchtverband angestrebte Zuchtziel (Methode der Rein-
zucht und der gezielten Paarung) mit Robusthaltung gar nicht er-
reichbar ist; im Betriebskonzept wird denn auch darauf verwiesen,
dass die vom Beschwerdeführer geplanten baulichen Anpassungen
und Anlagen "eine Bedingung für die tier- und rassenkonforme Auf-
zucht und Haltung der Pferde" sind. Demzufolge ist das Bauvorha-
ben auch nicht gestützt auf Art. 24 RPG bewilligungsfähig. | 7,128 | 5,618 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-52_2003-05-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-52.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-52.pdf | AGVE_2003_52 | null | nan |
46fb4e16-f998-5066-a2c7-90c537ae096a | 1 | 412 | 871,103 | 1,433,289,600,000 | 2,015 | de | 2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
230
35
Sozialhilfe; Erwerbsunkosten
Die Erwerbsunkostenpauschale gemäss § 21 Abs. 1 SPV darf nicht mit
speziellen Verkehrsauslagen (Arbeitswegkosten) verrechnet werden.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 30. Juni 2015 in Sachen A.
gegen Gemeinde B. und DGS (WBE.2015.91).
Aus den Erwägungen
2.2.
(...)
Die Pauschale für allgemeine Erwerbsunkosten wird nach
Massgabe des Arbeitspensums gewährt. Bei einer Vollzeitbeschäfti-
gung beträgt sie Fr. 300.00 pro Monat (§ 21 Abs. 1 SPV). Diese Be-
stimmung geht auf § 24 Abs. 1 lit. b SPG zurück, wonach der Regie-
rungsrat Massnahmen beschliessen kann, die Anreiz zur wirtschaftli-
chen Verselbstständigung schaffen, wie insbesondere die Ausrichtung
von zusätzlichen finanziellen Beiträgen an unterstützte Personen, die
dazu beitragen, dass sie weniger Sozialhilfe beziehen.
In der Botschaft hält der Regierungsrat zu § 24 SPG fest, die
Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Einführung eines An-
reizsystems sei angezeigt. Die Gewährung von Anreizen solle dabei
nicht dem Ermessen der rechtsanwendenden Behörde unterliegen
(Botschaft des Regierungsrates des Kantons Aargau an den Grossen
Rat vom 30. Juni 1999, Bericht und Entwurf zur 1. Beratung,
GR.99.226, S. 28).
Auch die SKOS-Richtlinien und das Handbuch Sozialhilfe se-
hen in der Erwerbsunkostenpauschale ein Instrument zur Schaffung
von Anreizen und insbesondere zur Abgeltung von erhöhten Haus-
haltskosten aufgrund einer Erwerbstätigkeit (Handbuch Sozialhilfe
des Kantonalen Sozialdienstes, 4. Auflage, 2003, Kapitel 5, S. 47;
SKOS-Richtlinien, Kap. C.3).
2015
Sozialhilfe
231
2.3.
(...)
Der Sozialausschuss der Gemeinde B. verrechnet im vorliegen-
den Fall die allgemeine Erwerbsunkostenpauschale vollumfänglich
mit den Kosten für den Arbeitsweg. Dadurch entfallen im Budget der
Beschwerdeführerin sowohl der Anreiz wie auch die pauschalierte
Entschädigung für die erhöhten Haushaltskosten, welche beim Nach-
gehen einer Erwerbstätigkeit anfallen. Eine solche Berechnung
widerspricht dem Sinn von § 24 Abs. 1 lit. b SPG (siehe vorne
Erw. 2.2) und führt ausserdem zu einer Ungleichbehandlung von So-
zialhilfe beziehenden Personen, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit
spezielle Mehrkosten ausweisen, und Sozialhilfe beziehenden Perso-
nen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ohne spezielle Erwerbs-
unkosten auszuweisen. Der
(Anm.: von der Vorinstanz)
angeführte
Verwaltungsgerichtsentscheid
(Anm.: VGE III/128 vom 19. Novem-
ber 2013 [WBE.2013.397])
ist deshalb insofern zu präzisieren, als
die allgemeine Erwerbsunkostenpauschale einzig ein Anreizmittel
darstellt und erhöhte Haushaltskosten pauschal abgilt. Spezielle
Erwerbsunkosten sind zusätzlich zu vergüten und können mit der
Erwerbsunkostenpauschale nicht verrechnet werden. | 657 | 502 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-35_2015-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-35.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-35.pdf | AGVE_2015_35 | null | nan |
46fd9bee-858b-5c87-8756-af683e301100 | 1 | 412 | 870,472 | 1,357,084,800,000 | 2,013 | de | 2013
Migrationsrecht
115
IV. Migrationsrecht
21 Ausschaffungshaft;
Haftgrund;
Papierbeschaffung i.S. von Art. 77 Abs. 1
lit. c AuG
Für die Anordnung einer Ausschaffungshaft gestützt auf Art. 77 AuG
muss nicht in jeden Fall ein Ersatzreisepapier vorliegen. Wurde die Aus-
stellung eines Ersatzreisepapiers aufgrund behördlicher Bemühungen
zugesichert und kann dieses jederzeit zwecks Ausschaffung des Betroffe-
nen abgerufen werden, ist die Voraussetzung von Art. 77 Abs. 1 lit. c AuG
erfüllt.
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 24. Januar 2013 in Sachen Amt für Migration und Integration gegen A.
(WPR.2013.15).
Aus den Erwägungen
3.2.
(...)
Hinsichtlich der Voraussetzung, dass die Behörde die Reisepa-
piere beschaffen musste (Art. 77 Abs. 1 lit. c AuG), ist Folgendes
festzuhalten: Das MIKA ersuchte das BFM am 5. März 2012 um
Vollzugsunterstützung, worauf im Auftrag des BFM am 30. Juli 2012
ein Gespräch mit einem Experten zur Herkunftsabklärung des Ge-
suchsgegners stattfand. Das BFM bat die tunesische Botschaft in der
Folge am 18. September 2012 ein Ersatzreisepapier für den Gesuchs-
gegner auszustellen. Am 26. November 2012 wurde der Gesuchsgeg-
ner als tunesischer Staatsangehöriger anerkannt und die tunesische
Botschaft sicherte die Ausstellung eines Ersatzreisepapiers für den
Gesuchsgegner zu. Gemäss Mitteilung des BFM vom 4. Dezember
2012 werde das Reisepapier nach Erhalt der Flugbuchung direkt an
swissREPAT weitergeleitet. Zwar liegt nach dem Gesagten noch kein
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
116
Reisepapier vor. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Voraussetzung
der behördlichen Papierbeschaffung nicht erfüllt wäre. Wie bereits
mit Entscheid des RGAR vom 31. Oktober 2008 (1-HA.2008.112),
Erw. 3.2, festgehalten, muss ein Ersatzreisepapier für die Anordnung
einer Ausschaffungshaft gestützt auf Art. 77 AuG nicht in jeden Fall
vorliegen. Wurde die Ausstellung eines Ersatzreisepapiers aufgrund
behördlicher Bemühungen zugesichert und kann dieses jederzeit
zwecks Ausschaffung des Betroffenen abgerufen werden, ist die Vor-
aussetzung von Art. 77 Abs. 1 lit. c AuG erfüllt. Dies ist vorliegend
der Fall. Daran ändert auch nichts, dass die Ausstellung des
Ersatzreisepapiers offenbar von der Flugbuchung bis zum 4. März
2013 abhängig ist und die entsprechenden Flugdaten dem BFM min-
destens drei Wochen vor Abflug übermittelt werden müssen, da
nichts darauf hindeutet, dass es bezüglich Flugbuchung zu Proble-
men kommen könnte. | 577 | 460 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-21_2013-01-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-21.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-21.pdf | AGVE_2013_21 | null | nan |
4700e1bb-fcb1-5a2c-baf2-8ff6ddc647db | 1 | 412 | 871,294 | 1,501,718,400,000 | 2,017 | de | 2017
Vollstreckung
245
XI. Vollstreckung
43
Vollstreckung
-
Ein Vollstreckungsentscheid wird im verwaltungsgerichtlichen Be-
schwerdeverfahren aufgehoben, wenn ausnahmsweise ein Anspruch
auf Wiederwägung des Sachentscheids wegen wesentlich veränderter
Verhältnisse besteht.
-
Wurde in der Vollstreckungsverfügung zugleich auf ein Wiedererwä-
gungsgesuch nicht eingetreten, obwohl ein Anspruch auf Wiederer-
wägung besteht, hebt das Verwaltungsgericht den Nichteintretens-
entscheid im Beschwerdeverfahren gegen den Vollstreckungsent-
scheid von Amtes wegen auf.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 28. August
2017, i.S. A. gegen Gemeinderat B. (WBE.2017.218)
Aus den Erwägungen
I.
1.-2. (...)
3.
3.1.
Im Beschwerdeverfahren gegen Vollstreckungsentscheide hat
das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob eine formell genügende, insbe-
sondere rechtskräftige Verfügung vorhanden ist und deren Grenzen
eingehalten wurden bzw. ob die Vollstreckung sachlich oder hinsicht-
lich ihres Konkretisierungsgehalts über die zu vollstreckende Anord-
nung hinausgeht (vgl. AGVE 1988, S. 421 ff. mit Hinweisen). Im
Vollstreckungsverfahren wird aber die der Vollstreckung zugrunde
liegende Sachverfügung, in der über Bestand und Nichtbestand
öffentlicher Rechte und Pflichten entschieden wurde, nicht mehr neu
beurteilt (T
OBIAS
J
AAG
, in: A
LAIN
G
RIFFEL
[Hrsg.], Kommentar
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
246
zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Auflage,
Zürich 2014, § 30 N 80). Ein materieller Entscheid wie bspw. die
Abänderung oder Erteilung einer Baubewilligung ist im Beschwerde-
verfahren gegen einen Vollstreckungsentscheid daher ausgeschlos-
sen.
Ob ein hinreichender Vollstreckungstitel vorliegt, ist eine Frage
der materiellen Beurteilung.
3.2.
Soweit beantragt wird, es sei bei Gebäude Nrn. 8 und 952 wie-
dererwägungsweise von einer Anschlusspflicht abzusehen, ist auf die
Beschwerde nicht einzutreten. Zum einen ist das Verwaltungsgericht
für eine Wiedererwägung des gemeinderätlichen Entscheids nicht
zuständig (vgl. § 39 VRPG; hinten Erw. II/3.3) und zum andern ist -
wie ausgeführt - eine materielle Beurteilung im Beschwerdever-
fahren gegen Vollstreckungsentscheide ausgeschlossen.
3.3.
Was den Entscheid über das Wiedererwägungsgesuch anbe-
langt, ist das Verwaltungsgericht für die Überprüfung im Be-
schwerdeverfahren nicht zuständig (vgl. § 39 VRPG; § 61 Abs. 1
BauV). Entsprechend § 39 Abs. 1 VRPG kann die erstinstanzlich zu-
ständige Behörde ihren Entscheid in Wiedererwägung ziehen und
steht es grundsätzlich in ihrem Ermessen, ob sie ihren ersten Ent-
scheid in Wiedererwägung zieht oder nicht (vgl. VGE vom
27. September 2016 [WBE.2016.360], Erw. II/1.4; M
ICHAEL
M
ERKER
, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach
dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, Kom-
mentar zu den §§ 38-72 [a]VRPG, Zürich 1998, § 45 N 49 f.). Damit
steht ein Nichteintreten der zuständigen Behörde auf ein Wiederer-
wägungsgesuch der Vollstreckbarkeit der Sachverfügung grundsätz-
lich nicht entgegen. Anders verhält es sich in jenen Fällen, wo aus-
nahmsweise ein Anspruch auf Prüfung eines Wiederwägungsgesuchs
besteht: Nach Lehre und Rechtsprechung besteht ein Rechtsanspruch
darauf, dass auf ein Wiedererwägungsgesuch eingetreten und dieses
materiell geprüft wird, wenn sich der rechtserhebliche Sachverhalt
seit dem ursprünglichen Entscheid bzw. dem Entscheid der
Rechtsmittelinstanz in wesentlicher Weise verändert hat. Dieser An-
2017
Vollstreckung
247
spruch wird aus Art. 29 BV abgeleitet (vgl. BGE 136 II 177, Erw. 2;
Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. November 2014
[E-2357/2014], Erw. 3.2.2 und vom 16. März 2010 [A-6381/2009],
Erw. 3.4; A
LFRED
K
ÖLZ
/I
SABELLE
H
ÄNER
/M
ARTIN
B
ERTSCHI
, Ver-
waltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes,
3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2013, Rz. 735, 742; U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016, Rz. 1274). Beim Vor-
liegen eines Wiedererwägungsgesuchs, mit welchem wesentlich
veränderte Verhältnisse geltend gemacht und dargelegt werden, ist im
Beschwerdeverfahren gegen Vollstreckungsentscheide vorfrageweise
zu prüfen, ob die entscheidende bzw. vollstreckende Behörde (vgl.
§ 77 Abs. 1 VRPG) vorweg darüber materiell zu entscheiden hat.
Wurde in der angefochtenen Vollstreckungsverfügung zugleich
auf ein Wiedererwägungsgesuch nicht eingetreten, hebt das Verwal-
tungsgericht diesen Nichteintretensentscheid von Amtes wegen auf,
wenn ausnahmsweise ein Anspruch auf eine materielle Überprüfung
des Gesuchs besteht.
4. (...)
II.
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, aufgrund wesentlich
veränderter Verhältnisse bestehe ein Anspruch auf Wiedererwägung,
weshalb die Sachverfügung nicht vollstreckt werden könne. Im Zeit-
punkt der verfügten Anschlusspflicht habe der Beschwerdeführer
über eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 35,8 ha verfügt. Mit
dem Abschluss neuer langfristiger Pachtverträge habe sie sich inzwi-
schen um 8,45 ha vergrössert. Damit habe sich der zugrunde liegende
Sachverhalt seit der Verfügung vom 3. März 2014 bzw. des Be-
schwerdeentscheids vom 2. Juli 2014 massgeblich und entscheidrele-
vant geändert. Mit der vergrösserten Nutzfläche sei der Beschwerde-
führer für das Ausbringen des Hofdüngers nicht mehr auf Abnahme-
verträge angewiesen; dessen Verwertung auf dem eigenen und ge-
pachteten Land sei sichergestellt (vgl. Bestätigung des Landwirt-
schaftlichen Zentrums Liebegg vom 18. November 2016). Auf dem
Landwirtschaftsbetrieb würden deutlich über acht Düngergross-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
248
vieheinheiten gehalten (vgl. Nährstoffbilanz, AGRIDEA Nach-
weis.Plus) und die Lagerkapazitäten hätten sich gegenüber dem Jahre
2014 nicht verändert. Damit erfülle der Betrieb des Beschwerdefüh-
rers die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 4 GschG und sei von der
Anschlusspflicht gemäss Art. 11 GschG befreit. Der Gemeinderat sei
zu Unrecht und aufgrund finanzpolitischer Überlegungen nicht auf
das Wiedererwägungsgesuch eingetreten.
2.
Der Gemeinderat führt aus, entsprechend der generellen
Entwässerungsplanung der Gemeinde B. sei der Weiler C. an die
Kanalisation anzuschliessen. Diese Massnahme sei in den Jahren
2013/14 umgesetzt worden. Gegenüber vier Grundeigentümern, da-
runter der Beschwerdeführer, sei die Anschlusspflicht verfügt wor-
den. Die übrigen Kanalisationsanschlüsse seien erstellt und die An-
schlussgebühren bezahlt.
Mit Entscheid vom 2. Juli 2014 habe das BVU die Beschwerde
des Beschwerdeführers abgewiesen. Darauf habe dieser am
11. September 2014 ein Gesuch um Fristverlängerung von 24 Mo-
naten gestellt. Diesem sei zugestimmt und festgehalten worden, die
Hausanschlüsse müssten bis 1. Oktober 2016 ausgeführt sein.
Weitere Grundeigentümer hätten sich bereits erkundigt, weshalb der
"alt Gemeindeammann" (der Beschwerdeführer) nicht sämtliche
Liegenschaften an die neu erstellte Kanalisationsleitung anschliessen
müsse. Am 18. September 2016 habe der Beschwerdeführer ein Wie-
dererwägungsgesuch gestellt. Dieses sei mit Schreiben vom
29. September 2016 zurückgewiesen und eine letzte Frist bis
23. Dezember 2016 zur Erstellung des Hausanschlusses und Bezah-
lung der Anschlussgebühren gewährt worden. Mit Eingabe vom
5. Dezember 2016 habe der Beschwerdeführer, vertreten durch den
Schweizer Bauernverband (Agriexpert), darum ersucht, den Ent-
scheid über die Anschlusspflicht in Wiedererwägung zu ziehen und
davon abzusehen. Darauf sei der Gemeinderat im angefochtenen
Entscheid nicht eingetreten.
Die Anschlusspflicht sei rechtskräftig verfügt und mit dem Ge-
such um Fristverlängerung vom 11. September 2014 habe der Be-
schwerdeführer zugesagt, den Kanalisationsanschluss innert 24 Mo-
2017
Vollstreckung
249
naten zu erstellen. Die übrigen betroffenen Grundeigentümer hätten
die Anschlüsse fristgerecht erstellt und die Gebühren entrichtet. Ein
Verzicht auf die Hausanschlüsse des Beschwerdeführers wäre wider
Treu und Glauben. Der Gemeinderat befürchtet eine negative
Präjudizierung bezüglich der Grundeigentümer der C. sowie weiterer
Betriebe, welche entsprechend der generellen Entwässerungsplanung
an die Kanalisation anzuschliessen seien.
3.
3.1.
Der Beschwerdeführer macht zur Anschlusspflicht der Gebäude
Nrn. 8 und 952 veränderte Verhältnisse geltend. Bei diesen Bauten
handelt es sich entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde
um das Wohnhaus des Betriebsleiters (Nr. 8) sowie das "Stöckli"
(Nr. 952). Dieses soll im Laufe des Jahres 2018 vom Beschwerdefüh-
rer bewohnt werden, wenn dessen Sohn die Betriebsleitung über-
nimmt. Das Gehöft befindet sich in der Weilerzone C., welche der
Landwirtschaftszone überlagert ist und für welche deren Vorschriften
gelten, soweit nichts anderes festgelegt ist (vgl. § 35 Abs. 1 BNO).
3.2.
Das BVU hat im Beschwerdeentscheid über die Anschluss-
pflicht erwogen, entlang der Strasse C. bis zur Einmündung der Er-
schliessung von Gebäude Nr. 6 sei eine Abwasserleitung erstellt. Un-
ter den gegebenen Umständen sei Art. 11 Abs. 2 lit. b GschG
einschlägig und "mangels Privilegierung" seien die umstrittenen Ge-
bäude des Beschwerdeführers an die Kanalisation anzuschliessen.
Unter "Sonderfall" wurde vorgängig ausgeführt, der Beschwerdefüh-
rer weise nur eine ausgeglichene Düngerbilanz auf, da er Hofdünger
auf fremden Grundstücken ausbringe. Diese Verwertung mittels
Düngerabnahmeverträgen sei zwar im Lichte von Art. 14 GschG
nicht zu beanstanden, vermöge aber den Anforderungen von Art. 12
Abs. 4 lit. b GSchG nicht zu genügen. Damit sei die Verwertung des
häuslichen Abwassers im Sinne der Anforderungen auf der eigenen
und gepachteten Nutzfläche nicht sichergestellt. Ob die Privilegie-
rung auch aufgrund der Nutzung einzelner Gebäude entfalle, liess
das BVU in seinem Beschwerdeentscheid offen.
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
250
3.3.
Gemäss § 39 Abs. 1 VRPG können Entscheide durch die erstin-
stanzlich zuständige Behörde in Wiedererwägung gezogen werden:
im Fall der Anfechtung bis zur Erstattung ihrer Vernehmlassung,
nach der Vernehmlassung nur noch mit Zustimmung der Beschwer-
deinstanz. Liegt ein Rechtsmittelentscheid vor, ist die Wiedererwä-
gung nur zulässig, wenn sich der dem rechtskräftigen Entscheid zu-
grunde liegende Sachverhalt oder die Rechtslage erheblich und ent-
scheidrelevant geändert hat (Abs. 2). Auch in den Fällen nach Abs. 2
bleibt für die Wiedererwägung nach dem Willen des Gesetzgebers
die erstinstanzliche Behörde zuständig; Rechtsmittelinstanzen kön-
nen ihren Entscheid nicht in Wiedererwägung ziehen (vgl. Botschaft
des Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom
14. Februar 2007, VRPG, Bericht und Entwurf zur 1. Beratung,
07.27, S. 51; M
ERKER
, a.a.O., § 45 N 49).
Ein Anspruch auf Eintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch
ergibt sich aus Art. 29 BV, wenn sich die Umstände seit dem ersten
Entscheid wesentlich geändert haben. Dieser Anspruch betrifft im
Unterschied zur Wiederaufnahme gemäss §§ 65 ff. VRPG die nach-
trägliche Fehlerhaftigkeit einer Verfügung. Liegt ein Beschwerdeent-
scheid gemäss § 39 Abs. 2 VRPG vor und ersuchen die Verfügungs-
betroffenen um Wiedererwägung der Verfügung wegen wesentlich
veränderter Verhältnisse, so ist die Behörde zur Behandlung des
Gesuchs verpflichtet, wenn diese Veränderungen dargelegt werden
(vgl. vorne Erw. I/3.3; K
ÖLZ
/H
ÄNER
/B
ERTSCHI
, a.a.O., Rz. 735, 742;
H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1274).
Der Beschwerdeführer macht Veränderungen in der Aus-
bringungsfläche für Hofdünger geltend und legt entsprechende
Pachtverträge vor. Das Landwirtschaftliche Zentrum Liebegg bestä-
tigte im Schreiben vom 18. November 2016, aufgrund der zuge-
pachteten Nutzflächen bzw. entsprechend der Nährstoffbilanz 2016
müsse kein Hofdünger mehr weggeführt werden. Damit werden im
Hinblick auf die Anschlusspflicht gemäss Art. 11 f. GSchG wesent-
lich veränderte Verhältnisse geltend gemacht und dargelegt. Diese
können mit Blick auf die Begründung im Beschwerdeentscheid des
BVU, welche auf eine zu geringe Nutzfläche abstellte, im heutigen
2017
Vollstreckung
251
Zeitpunkt zu einer anderen Beurteilung führen (vgl. vorne Erw. 3.2).
Unter diesen Umständen besteht ausnahmsweise ein Anspruch auf
Prüfung des Wiedererwägungsgesuchs. Dieser Anspruch steht der
Vollstreckbarkeit des Sachentscheids entgegen.
3.4.
Die vom Gemeinderat angerufenen Grundsätze von Treu und
Glauben (Art. 9 BV; § 4 VRPG) bzw. der Rechtsgleichheit (Art. 8
BV; § 3 VRPG) können zu keiner abweichenden Beurteilung führen.
Ein widersprüchliches Verhalten des Beschwerdeführers kann aus
dem Fristverlängerungsgesuch vom 11. September 2014 nicht abge-
leitet werden. Im Übrigen ist nicht erkennbar, inwieweit die Prüfung
des Wiedererwägungsgesuchs (ungünstig) präjudizierende Aus-
wirkungen auf anschlusspflichtige Grundeigentümer haben könnte.
3.5.
Der Gemeinderat hat das Wiedererwägungsgesuch zu prüfen.
Der Entscheid darüber unterliegt dem ordentlichen Rechtsmittelweg,
d.h. der Beschwerde an das BVU (vgl. § 61 Abs. 1 BauV).
4.
Zusammenfassend erweist sich das Vorbringen des
Beschwerdeführers als begründet. In teilweiser Gutheissung der Be-
schwerde werden die angefochtenen Vollstreckungsanordnungen auf-
gehoben. Die Aufhebung des Nichteintretens auf das Wiedererwä-
gungsgesuch erfolgt von Amtes wegen. Die Angelegenheit wird zur
Prüfung des Wiedererwägungsgesuchs an den Gemeinderat zurück-
gewiesen. Im Übrigen wird auf die Beschwerde nicht eingetreten. | 3,156 | 2,437 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-43_2017-08-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-43.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-43.pdf | AGVE_2017_43 | null | nan |
477b1c22-b2a8-575f-ba9f-92b24c54b604 | 1 | 412 | 871,328 | 1,435,708,800,000 | 2,015 | de | 2015
Fürsorgerische Unterbringung
85
II. Fürsorgerische Unterbringung
11
Art. 437 Abs. 1, 446 und 447 ZGB; §§ 67k ff. EG ZGB
Der in Art. 437 Abs. 1 ZGB enthaltene Vorbehalt zugunsten des kantona-
len Rechts, wonach die Kantone die Nachbetreuung (im Anschluss an die
Entlassung aus der fürsorgerischen Unterbringung) regeln, bezieht sich
auch auf das Verfahrensrecht. Die §§ 67k ff. EG ZGB regeln indes das
Verfahren zur Anordnung von Nachbetreuungsmassnahmen nur punk-
tuell. Die Lücken sind mit den Vorschriften in Art. 440 ff. ZGB für das
Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde zu füllen. Insbesondere ist
Art. 447 ZGB analog anwendbar. Das bedeutet, dass die betroffene Per-
son vor Erlass einer Nachbetreuungsmassnahme grundsätzlich persönlich
angehört werden muss. Die Anhörung hat in der Regel - wie bei der für-
sorgerischen Unterbringung - vor dem Kollegium des Spruchkörpers des
zuständigen Familiengerichts stattzufinden. Im Weiteren ist ein Gutach-
ten zur Frage der Notwendigkeit ambulanter psychiatrischer/medizini-
scher Massnahmen einzuholen, wenn noch kein aktuelles Gutachten dazu
vorliegt und dem Spruchkörper des Familiengerichts keine psychiatrisch/
medizinisch geschulte Fachperson angehört.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 9. Juli 2015,
i.S. A. gegen den Entscheid des Familiengerichts B. (WBE.2015.278).
Aus den Erwägungen
II.
2.
2.1.
Der in Art. 437 Abs. 1 ZGB für die Regelung der Nachbetreu-
ung enthaltene Vorbehalt zugunsten des kantonalen Rechts (vgl. die
Botschaft Nr. 06.063 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetz-
buches, Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht, vom
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
86
28. Juni 2006, nachfolgend: Botschaft Erwachsenenschutz, in: BBl,
2006, S. 7001 ff., S. 7071) bezieht sich auch auf das Verfahrensrecht.
Die Kantone können deshalb das Verfahren zur Anordnung von
Massnahmen der Nachbetreuung selbständig regeln, wobei
rechtsstaatliche
Grundsätze
zu
beachten
sind
(T
HOMAS
G
EISER
/M
ARIO
E
TZENSBERGER
, in: Basler Kommentar, Erwachsen-
enschutz, Basel 2012, Art. 437 N 12). Die Art. 440 ff. ZGB betref-
fend das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind nicht
direkt anwendbar. Allerdings drängt sich eine analoge Anwendung,
namentlich der in Art. 446 und Art. 447 ZGB verankerten
Verfahrensgrundsätze dann auf, wenn Nachbetreuungsmassnahmen
von den Familiengerichten als Erwachsenenschutzbehörde angeord-
net werden und das kantonale Recht in verfahrensrechtlicher Hin-
sicht lückenhaft ist. Die §§ 67k ff. EG ZGB regeln das Verfahren zur
Anordnung von Nachbetreuungsmassnahmen nur punktuell, also
nicht umfassend und vollständig, wohl auch mit Blick darauf, dass
die Art. 440 ff. ZGB passende Regelungen für alle Arten von Verfah-
ren vor der Erwachsenenschutzbehörde beinhalten, die im Bereich
der Anordnung von Nachbetreuungsmassnahmen ohne weiteres über-
nommen werden können. Ausserdem enthält § 64a EG ZGB einen
ausdrücklichen Verweis auf Art. 447 ZGB.
2.2.
2.2.1.
Nach Art. 446 ZGB erforscht die Erwachsenenschutzbehörde
den Sachverhalt von Amtes wegen (Abs. 1). Sie zieht die erforderli-
chen Erkundigungen ein und erhebt die notwendigen Beweise. Sie
kann eine geeignete Person oder Stelle mit Abklärungen beauftragen.
Nötigenfalls ordnet sie das Gutachten einer sachverständigen Person
an (Abs. 2). Sie ist nicht an die Anträge der am Verfahren beteiligten
Personen gebunden (Abs. 3) und wendet das Recht von Amtes wegen
an (Abs. 4). Die betroffene Person wird gemäss Art. 447 ZGB
persönlich angehört, soweit dies nicht als unverhältnismässig er-
scheint (Abs. 1). Im Fall einer fürsorgerischen Unterbringung hört
die Erwachsenenschutzbehörde die betroffene Person in der Regel im
Kollegium an (Abs. 2).
2.2.2.
2015
Fürsorgerische Unterbringung
87
Ein erstes wichtiges Mittel der Sachverhaltserhebung sind Aus-
künfte der Beteiligten. Die Behörde kann solche Auskünfte schrift-
lich einholen, sich die nötigen Informationen aber auch durch münd-
liche Befragungen verschaffen. Abklärungen in Form von persönli-
chen Befragungen haben den Vorteil, dass sie unter Umständen ein
differenzierteres Bild über bestimmte Sachverhaltselemente vermit-
teln. Zudem gewinnt die Behörde einen unmittelbaren, persönlichen
Eindruck von der befragten Person und deren Einstellung. Persönli-
che Befragungen sind vor allem dort nützlich, wo ein auch persönli-
che Aspekte umfassendes Bild einer Person oder Situation erhoben
werden muss (C
HRISTOPH
A
UER
/M
ICHLE
M
ARTI
, in: Basler Kom-
mentar, Zivilgesetzbuch I, Art. 1-456 ZGB, 5. Auflage, Basel 2014,
Art. 446 N 11).
Gesetzlich vorgeschrieben ist, wie gesehen, eine persönliche
mündliche Anhörung der betroffenen Person; vorbehalten sind Fälle,
in denen eine solche Anhörung unverhältnismässig wäre (Art. 447
ZGB). Die persönliche Anhörung verfolgt - wie der Anspruch auf
rechtliches Gehör - zwei Ziele: Zum einen stellt sie ein Mitwir-
kungsrecht der betroffenen Person dar. Zum anderen bildet sie ein
Mittel zur Sachverhaltsabklärung. Das Mitwirkungsrecht ist umfas-
send: Der betroffenen Person ist im Rahmen der persönlichen Anhö-
rung nicht nur in allgemeiner Form von der in Aussicht genommenen
Massnahme Kenntnis zu geben. Vielmehr sind ihr sämtliche Einzel-
tatsachen bekannt zu geben, auf die sich die Kindes- und Erwachse-
nenschutzbehörde bei ihrem Entscheid stützen will. Soweit die An-
hörung der Sachverhaltsfeststellung dient, kann auf sie nicht verzich-
tet werden, selbst wenn sich die betroffene Person widersetzen sollte.
Die Behörde hat sich anhand der persönlichen Anhörung einen
umfassenden Eindruck von den Zukunftsaussichten und der jüngeren
Vergangenheit der betroffenen Person zu verschaffen, der ihr mit
Blick auf die Geeignetheit, die Notwendigkeit und die Angemessen-
heit der Massnahme als Entscheidungsgrundlage dient (A
UER
/M
AR
-
TI
, a.a.O., Art. 447 N 4 ff.).
Nachdem die betroffene Person grundsätzlich vom Kollegium
des Spruchkörpers anzuhören ist, wenn eine fürsorgerische Unter-
bringung zur Debatte steht (Art. 447 Abs. 2 ZGB), während im An-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
88
wendungsbereich von Art. 447 Abs. 1 ZGB (das betrifft die anderen
im ZGB vorgesehenen Erwachsenenschutzmassnahmen) die Anhö-
rung der betroffenen Person durch ein Einzelmitglied der Behörde
erfolgen oder - unter bestimmten Umständen - sogar an eine geeig-
nete Drittperson delegiert werden kann (A
UER
/M
ARTI
, a.a.O.,
Art. 447 N 16 ff.), stellt sich die Frage, was insoweit im Verfahren
zur Anordnung von Nachbetreuungsmassnahmen gilt. Unter Ge-
sichtspunkten der Gesetzessystematik gehören Nachbetreuungsmass-
nahmen ganz klar zu den therapeutischen/medizinischen Massnah-
men, die im Rahmen einer bzw. im Nachgang zu einer fürsorgeri-
schen Unterbringung angeordnet werden. Art. 437 ZGB ist im dritten
Abschnitt (Die fürsorgerische Unterbringung) des 11. Titels (Die be-
hördlichen Massnahmen) der dritten Abteilung (Der Erwachsenen-
schutz) des ZGB angesiedelt. Thematisch besteht ebenfalls ein enger
Sachzusammenhang zwischen den beiden Varianten der fürsorgeri-
schen Unterbringung (Unterbringung zur Behandlung und Betreu-
ung, Zurückbehaltung freiwillig Eingetretener) auf der einen Seite
und der Nachbetreuung sowie den ambulanten Massnahmen
(Art. 437 Abs. 2 ZGB) auf der anderen Seite. All diesen Massnahmen
ist das Folgende gemeinsam: Sie dienen der (medizinischen/psychia-
trischen/psychologischen/pflegerischen) Behandlung und/oder Be-
treuung von Personen, die sich diese Behandlung und/oder Betreu-
ung wegen eines (in Art. 426 Abs. 1 ZGB angeführten) Schwächezu-
standes nicht bzw. nicht in genügendem Masse selbst angedeihen las-
sen können, das eine Mal innerhalb, das andere Mal ausserhalb einer
Einrichtung. Sinn und Zweck der in Art. 447 Abs. 2 ZGB vorge-
schriebenen Anhörung im Kollegium ist die Wahrung des Unmittel-
barkeitsprinzips, welchem der Gesetzgeber bei der Anordnung einer
fürsorgerischen Unterbringung ein hohes Gewicht beimisst, was auch
mit dem Erfordernis der Interdisziplinarität zusammenhängt. Indem
das ZGB eine interdisziplinäre Zusammensetzung der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde verlangt, gewährleistet es mit dem Gebot
der Anhörung im Kollegium eine Wahrnehmung durch Entscheidträ-
ger verschiedener Fachrichtungen (A
UER
/M
ARTI
, a.a.O., Art. 447
N 33). Diese sollen sich einen eigenen persönlichen Eindruck von
der betroffenen Person verschaffen können, wenn es deren ge-
2015
Fürsorgerische Unterbringung
89
sundheitliche und soziale Situation zu beurteilen gilt und eine so ein-
schneidende Massnahme wie die fürsorgerische Unterbringung in
Erwägung gezogen wird. Ambulante Massnahmen (der Nachbetreu-
ung) sind zwar in der Regel - je nach Geltungsdauer - weniger
einschneidend als die Unterbringung in einer Einrichtung, doch er-
fordern auch sie eine umfassende Würdigung der gesundheitlichen
und sozialen Umstände der betroffenen Person. In der Praxis ist nicht
immer von Beginn weg klar, welche Massnahme im konkreten Ein-
zelfall ergriffen bzw. beibehalten werden muss. Vielmehr muss regel-
mässig zwischen der Unterbringung in einer Einrichtung und ambu-
lanten Massnahmen (der Nachbetreuung) abgewogen werden. Es
erscheint daher nur sachgerecht, die beiden eng miteinander ver-
wandten Massnahmen den gleichen Verfahrensbestimmungen zu
unterwerfen und Art. 447 Abs. 2 ZGB auch in Verfahren zur Anord-
nung von Nachbetreuungsmassnahmen und anderen ambulanten
Massnahmen analog anzuwenden, so dass die betroffene Person vom
gesamten, aus verschiedenen Fachrichtungen zusammengesetzten
Spruchkörper angehört werden muss.
Ausnahmsweise kann darauf verzichtet und die Anhörung durch
ein einzelnes Behördenmitglied durchgeführt werden, wenn Gefahr
in Verzug ist, wenn sich die betroffene Person weigert, einer Vorla-
dung Folge zu leisten, oder wenn die Anhörung durch den gesamten
Spruchkörper wegen der Krankheit oder anderen persönlichkeitsbe-
dingten Gründen seitens der betroffenen Person nicht geboten ist.
Von einer Anhörung durch den gesamten Spruchkörper kann ferner
Umgang genommen werden, wenn dem Grundsatz der Interdiszipli-
narität nicht entscheidendes Gewicht zukommt. Liegt beispielsweise
im Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bereits
ein schlüssiges psychiatrisches oder sozial-psychologisches Gutach-
ten vor, kann es sich rechtfertigen, dass die persönliche Anhörung
einzig durch das Behördenmitglied mit juristischem Sachverstand
durchgeführt wird (A
UER
/M
ARTI
, a.a.O., Art. 447 N 35; vgl. auch die
Botschaft Erwachsenenschutz, S. 7079). Schliesslich ist denkbar, vor
der Anordnung von Nachbetreuungsmassnahmen von einer Anhö-
rung im Kollegium abzusehen, wenn das gleiche Kollegium die be-
troffene Person schon einmal angehört hat, zum Beispiel beim Ent-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
90
scheid über die fürsorgerische Unterbringung oder die Verlängerung
einer solchen. Die Zeitspanne zwischen der letzten Anhörung und
dem Nachbetreuungsentscheid müsste jedoch relativ kurz bemessen
sein und es müsste zweifelsfrei feststehen, dass sich in der Zwischen-
zeit keine neuen Aspekte ergeben haben, die für den Nach-
betreuungsentscheid relevant sind (vgl. auch AGVE 2013, S. 95 ff.).
2.2.3.
Ein Sachverständigengutachten ist anzuordnen, wenn der Kin-
des- und Erwachsenenschutzbehörde das nötige Fachwissen fehlt,
um über eine zur Diskussion stehende Massnahme zu entscheiden.
Erforderlich wird die Konsultation von externem Fachwissen vor
allem bei fürsorgerischen Unterbringungen oder Einschränkungen
der Handlungsfähigkeit wegen einer psychischen Störung oder einer
geistigen Behinderung, aber wohl auch bei ambulanten Massnahmen
zur Behandlung einer psychischen Störung. Die Kindes- und Er-
wachsenenschutzbehörde muss jedoch in diesen Fällen nicht stets
und automatisch ein Expertengutachten einholen. Sie kann darauf
verzichten, wenn sie zum Beispiel einen Arzt mit genügenden Fach-
kenntnissen in Psychiatrie im Spruchkörper hat (vgl. A
UER
/M
ARTI
,
a.a.O., Art. 446 N 19). Ein aus einem Juristen, einem diplomierten
Sozialarbeiter HSA und einem Fachpsychologen für Psychotherapie
FSP mit einem lic.phil.-Abschluss und einem Master of Advanced
Studies in Psychotherapy zusammengesetzter Spruchkörper genügt
hingegen nicht, um ohne Gutachten über die Fortsetzung einer für-
sorgerischen Unterbringung oder ambulante psychiatrische/medizi-
nische Massnahmen zu entscheiden (vgl. das Urteil des Obergerichts
des Kantons Bern vom 10. November 2014 [KES 14 709], publiziert
in: CAN, Zeitschrift für kantonale Rechtsprechung, Heft 1/2015,
S. 23 ff., Erw. 3.2.2). Mit Rücksicht auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung im Bereich der Unterbringung in eine Einrichtung
muss sich der Experte in seinem Gutachten betreffend die Notwen-
digkeit ambulanter psychiatrischer/medizinischer Massnahmen zum
Gesundheitszustand der betroffenen Person äussern und aufzeigen,
inwiefern allfällige psychische Störungen das Leben oder die körper-
liche Integrität der betroffenen Person oder Dritter gefährden könn-
ten, sowie ob diesem Umstand mit Behandlung begegnet werden
2015
Fürsorgerische Unterbringung
91
muss. Sofern dies der Fall ist, hat der Gutachter zu präzisieren, wel-
ches die konkreten Risiken für das Leben oder die Gesundheit der
betroffenen Person sowie Dritter wären, wenn die empfohlene Be-
handlung nicht erfolgen würde. Er muss weiter darlegen, ob die nöti-
ge Behandlung mit der vorgesehenen Massnahme gewährleistet wer-
den kann. Im Gutachten ist auch festzuhalten, ob sich die betroffene
Person ihrer Krankheit und ihres Behandlungsbedarfs bewusst ist.
Ein Gutachten ohne diese Angaben wird vom Bundesgericht als un-
vollständig erachtet (Urteil des Bundesgerichts vom 17. Januar 2014
[5A_872/2013], Erw. 6.2.2 = [Pra 104/2015], S. 27 f., mit Hinweisen
auf weitere publizierte Entscheide). Ausserdem muss das Gutachten
einigermassen aktuell sein, wofür entscheidend ist, ob Gewähr dafür
besteht, dass sich die Ausgangslage seit der Erstellung des
Gutachtens nicht verändert hat. Unveränderte Verhältnisse sind dabei
nur mit Zurückhaltung anzunehmen. Andererseits sind auch unnötige
und kostspielige prozessuale Leerläufe zu vermeiden. Obwohl die
seit dem letzten Gutachten verstrichene Zeit für sich allein nicht
ausschlaggebend ist, ist doch zu berücksichtigen, dass aufgrund der
Behandlung die Wahrscheinlichkeit der Veränderung der Verhältnisse
mit der Zeit ansteigt. An die Annahme unveränderter Verhältnisse
sind daher umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr Zeit seit
dem letzten Gutachten verstrichen ist (Urteil des Obergerichts des
Kantons Bern vom 10. November 2014 [KES 14 709], a.a.O.,
S. 23 ff., Erw. 3.3.1, mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung).
3.
3.1.
Das Familiengericht B., das den vorliegend angefochtenen
Nachbetreuungsentscheid vom 12. Juni 2015 in der vom Gesetz (§ 3
Abs. 4 lit. a GOG) vorgesehenen Dreierbesetzung gefällt hat, hat den
Beschwerdeführer nicht durch den gesamten Spruchkörper angehört.
Die Anhörung wurde von der Fachrichterin C. mit einem Master-
Titel in Sozialarbeit durchgeführt; die juristisch geschulte Gerichts-
präsidentin D. und Fachrichterin E. wohnten der Anhörung ebenso
wenig bei wie die Gerichtsschreiberin F. Schon aus diesem Grund
muss der angefochtene Entscheid wegen Verletzung des analog an-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
92
wendbaren Art. 447 Abs. 2 ZGB aufgehoben werden (A
UER
/M
ARTI
,
a.a.O., Art. 447 N 37; AGVE 2013, S. 96 f.). Eine der in Erw. 2.2.2
vorne angeführten Ausnahmesituationen, in welcher auf die Anhö-
rung im Kollegium verzichtet werden konnte, lag nicht vor. Weder
bestand besondere Dringlichkeit, noch standen - soweit aus den
Akten ersichtlich - einer Anhörung persönlichkeitsbedingte Hinder-
nisse auf Seiten des Beschwerdeführers entgegen. Dass dem Grund-
satz der Interdisziplinarität unter den konkreten Umständen keine
entscheidende Bedeutung zugekommen wäre, kann nicht gesagt wer-
den. Gerichtspräsidentin D. und Fachrichterin E. fällten ihren Ent-
scheid anhand der Akten und des Votums von Fachrichterin C. Sie
hatten noch nie Gelegenheit, den Beschwerdeführer persönlich ken-
nenzulernen und sich auf diese Weise durch einen eigenen, unmittel-
baren Eindruck von seinem Wesen sowie seiner gesundheitlichen
und sozialen Situation von der Richtigkeit und Angemessenheit der
angeordneten Massnahme zu überzeugen. Dadurch sind die Partei-
rechte des Beschwerdeführers in grundlegender Weise missachtet
worden.
(...)
3.2.
Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer an der Anhörung
durch Fachrichterin C. nicht korrekt über seine Rechte informiert
wurde. Der Beschwerdeführer ist der dezidierten Meinung, er leide
nicht an der ihm diagnostizierten psychischen Krankheit (paranoide
Schizophrenie). Anfänglich erklärte er sich denn auch mit der Einho-
lung des in der Stellungnahme von Dr. med. G. vom 21. April 2015
empfohlenen (psychiatrischen) Gutachtens zur Abklärung seines Ge-
sundheitszustandes einverstanden. Erst als ihn Fachrichterin C.
falsch darüber aufklärte, dass er die Gutachterkosten von schätzungs-
weise Fr. 3'000.00 bis Fr. 8'000.00 selber bezahlen müsse, sofern ihm
nicht die unentgeltliche Rechtspflege gewährt werde, entschied er
sich gegen ein Gutachten. Gemäss § 65a Abs. 3 lit. b EG ZGB wer-
den in Verfahren auf Erlass ambulanter Massnahmen, fürsorgerischer
Unterbringungen und Nachbetreuungen weder in erster noch in
zweiter Instanz Gerichtskosten erhoben. Zu den Gerichtskosten zäh-
len nach § 65a Abs. 4 EG ZGB i.V.m. Art. 95 Abs. 2 lit. c ZPO unter
2015
Fürsorgerische Unterbringung
93
anderem die Kosten der Beweisführung, also auch Gutachterkosten.
Mit anderen Worten wären die Gutachterkosten unabhängig von der
finanziellen Situation des Beschwerdeführers auf die Staatskasse zu
nehmen. Wäre der Beschwerdeführer in diesem Punkt richtig belehrt
worden, hätte er allenfalls die Durchführung eines Gutachtens bean-
tragt. Doch selbst wenn er keinen solchen Antrag gestellt hätte, wäre
es in der vorliegenden Konstellation sicher sinnvoll gewesen, von
Amtes wegen ein Gutachten anzuordnen. Zwar sah es das Verwal-
tungsgericht im Urteil vom 3. Februar 2015 (WBE.2015.32) auch
aufgrund der mündlichen Ausführungen des psychiatrischen Gutach-
ters an der Verhandlung vom 3. Februar 2015 als erwiesen an, dass
der Beschwerdeführer an einer paranoiden Schizophrenie leidet.
Doch haben sich mit dem ärztlichen Attest von Dr. med. H. vom
27. Februar 2015 und mit der Stellungnahme von Dr. med. G. vom
21. April 2015 seither neue Aspekte ergeben, die gewisse, wenn auch
nicht erhebliche Zweifel an dieser Diagnose aufkommen lassen. Weil
dem Beschwerdeführer die Erstdiagnose der paranoiden Schizophre-
nie eher untypisch spät gestellt wurde und mittlerweile nicht mehr
vollkommen ausgeschlossen erscheint, dass die bei ihm aufgetrete-
nen Psychosen zumindest teilweise substanzinduziert gewesen bzw.
durch die betreffende Substanz (Ciprofloxacin) verstärkt worden sein
könnten, lohnt es sich aus Sicht des Verwaltungsgerichts, ein Gutach-
ten in Auftrag zu geben, mit welchem einerseits der Gesundheitszu-
stand des Beschwerdeführers profund abgeklärt wird, unter Einsatz
aller dafür notwendigen bildgebenden Verfahren, und mit welchem
andererseits die Frage beantwortet wird, ob die angeordnete Medika-
tion mit Abilify Maintena in der gewählten Dosis von 400 mg alle
vier Wochen auch längerfristig eine angemessene und unerlässliche
Behandlung darstellt. | 4,279 | 3,512 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-11_2015-07-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-11.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-11.pdf | AGVE_2015_11 | null | nan |
477df05a-8b3c-587c-a876-848a35feb432 | 1 | 412 | 870,238 | 1,241,395,200,000 | 2,009 | de | 2009
Verwaltungsgericht
232
[...]
44 Grundbetrag;
Darlehen
-
Für die Verwendung des Grundbetrags gilt der Grundsatz der Ei-
genverantwortung.
-
Darlehen sind grundsätzlich als eigene Mittel anzurechnen, auch
wenn sie für andere Personen aufgenommen wurden.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 25. Mai 2009 in Sachen
A.M. gegen das Bezirksamt Lenzburg (WBE.2008.375).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Sozialhilfe bezweckt die Existenzsicherung, fördert die wirt-
schaftliche und persönliche Selbstständigkeit und unterstützt die ge-
sellschaftliche Integration (§ 4 Abs. 1 SPG). Die Existenzsicherung
2009
Sozialhilfe
233
gewährleistet Ernährung, Kleidung, Obdach und medizinische
Grundversorgung (§ 3 Abs. 1 SPV). Für die Bemessung der mate-
riellen Hilfe sind gemäss § 10 Abs. 1 SPG i.V.m. § 10 Abs. 1 SPV
grundsätzlich die Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung
der Sozialhilfe (herausgegeben von der Schweizerischen Konferenz
für Sozialhilfe [SKOS-Richtlinien], 3. Auflage, Dezember 2000)
verbindlich.
Anspruch auf Sozialhilfe besteht, sofern die eigenen Mittel
nicht genügen und andere Hilfeleistungen nicht rechtzeitig erhältlich
sind oder nicht ausreichen (§ 5 Abs. 1 SPG). Damit wird der Grund-
satz der Subsidiarität der Sozialhilfe ausgedrückt. Hilfe suchende
Personen sind verpflichtet, sich nach Möglichkeit selbst zu helfen;
sie müssen alles Zumutbare unternehmen, um eine Notlage aus ei-
genen Kräften abzuwenden oder zu beheben (BGE 130 I 71 Erw. 4.1;
SKOS-Richtlinien, Kapitel A.4). Zu den zumutbaren und subsidiären
Hilfsquellen zählen neben der Möglichkeit der Selbsthilfe sowie
Leistungsverpflichtungen Dritter, auch freiwillige Leistungen Dritter,
die ohne rechtliche Verpflichtung erbracht werden (SKOS-Richtli-
nien, Kapitel A.4-2).
1.2. (...)
2.
2.1. (...)
2.2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die nach Portugal über-
wiesenen Geldbeträge stammten nicht aus Sozialhilfegeldern, son-
dern seien Kredite von verschiedenen Kollegen, bei denen er sich
verschuldet habe. Mit den Überweisungen sei er seiner moralischen
und gesetzlichen Pflicht gegenüber seiner Ehegattin nachgekommen.
Zudem habe ihm die Sozialbehörde weder verboten Geld nach Por-
tugal zu schicken, noch die Aufnahme von Krediten untersagt.
2.3. (...)
2.4.
2.4.1.
Die Vorinstanz begründet den unrechtmässigen Bezug von ma-
terieller Hilfe vorab mit der Überweisung von Unterstützungsbeiträ-
gen an die Ehefrau des Beschwerdeführers nach Portugal. Den Nach-
2009
Verwaltungsgericht
234
weis sieht sie in den monatlichen Geldbeträgen, welche der Be-
schwerdeführer regelmässig überwies und im Gesamtbetrag als Ab-
zug in seiner Steuererklärung 2007 geltend machte. Diese Begrün-
dung ist zwar nachvollziehbar, da hilfsbedürftige Personen regel-
mässig nicht in der Lage sind aus dem sozialen Existenzminimum
Ersparnisse in relativ erheblichem Umfang zu bilden oder Unterstüt-
zungsleistungen an Ehegatten aufzubringen. Die verfassungsrechtli-
chen Grundsätze zum Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 10
Abs. 2 BV) und der Schutz der Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 BV)
verlangen jedoch eine differenzierte Beurteilung des Einzelfalls. Der
verfassungsrechtliche Persönlichkeitsschutz umfasst auch das Recht
des Einzelnen, die wesentlichen Aspekte seiner Persönlichkeits-
entfaltung individuell und selber zu gestalten und schützt umfassend
die Menschenwürde (Art. 7 BV; Jörg Paul Müller / Markus Schefer,
Grundrechte in der Schweiz, 4. Auflage, Bern 2008, S. 138 ff.).
Im Sozialhilferecht ist Ausdruck der verfassungsrechtlich ge-
schützten Persönlichkeitsentfaltung, die Eigenverantwortung (§ 1
Abs. 2 SPG), die sich in der Dispositionsfreiheit über die im Grund-
betrag I und Grundbetrag II ausgerichteten Beiträge konkretisiert.
Die pauschalen Grundbeträge dienen dem Unterhalt der unterstützten
Person und können von ihr nach ihren Vorstellungen und Bedürfnis-
sen eingesetzt werden. Solange ihre Grundbedürfnisse gewährleistet
sind, besteht für die Sozialbehörden kein Anlass und keine gesetzli-
che Grundlage gegen die Verwendung der Grundbetragsbetreffnisse
einzuschreiten (SKOS-Richtlinien, Kapitel B.2.4; AGVE 2003,
S. 295). Es kann daher nicht bereits im Grundsatz beanstandet
werden, dass der Beschwerdeführer seiner Ehefrau in Erfüllung einer
allenfalls rechtlichen oder moralischen Verpflichtung Unterstüt-
zungsbeiträge nach Portugal überwies. Einzuschreiten haben die
Sozialbehörden dort, wo Sozialhilfegelder zweckentfremdet werden,
Mehrkosten durch die nicht zweckmässige Verwendung der ma-
teriellen Unterstützung entstehen oder eine unterstützte Person sich
zunehmend verschuldet (Handbuch Sozialhilfe, Anhang 5 / XII, S. 2;
AGVE 2003, S. 295). Fehlt es an solchen Tatbeständen, rechtfertigt
sich eine Rückforderung unter dem Titel unrechtmässige Bezüge
gemäss § 3 SPG in der Regel nur, wenn der Betroffene Auflagen
2009
Sozialhilfe
235
oder Weisungen der Sozialbehörde missachtet. Im vorliegenden Fall
hatte der Beschwerdeführer Einkommen aus der Arbeitslosenver-
sicherung. In der Verwendung dieses Einkommens war der
Beschwerdeführer solange nicht eingeschränkt, als seine finanzielle
Situation oder seine Existenzsicherung nicht zu Mehrkosten der
Sozialhilfe führte. Die Überweisungen des Beschwerdeführers an die
Ehefrau begründen daher keinen Rückforderungsanspruch.
2.4.2.
Anders präsentiert sich die Rechtslage hinsichtlich der Darle-
hen, welche der Beschwerdeführer bei Bekannten aufnahm. § 11
Abs. 1 SPG und § 11 Abs. 1 und 2 SPV bestimmen, dass der Hilfe
bedürftigen Person alle geldwerten Leitungen und Zuwendungen,
auch freiwillige Leistungen Dritter mit wirtschaftlichem Wert, als ei-
gene Mittel bei der Berechnung und Bemessung der materiellen
Hilfe anzurechnen sind. Dies entspricht dem Grundsatz der Subsi-
diarität (siehe vorne Erw. 1.1) und die unterstützten und hilfesuchen-
den Personen haben kein Wahlrecht zwischen den verschiedenen
Hilfsquellen (SKOS-Richtlinien, Kapitel A.4). Die materielle Unter-
stützung ist nicht nur gegenüber unentgeltlichen (Unterstützungs-)
Leistungen Dritter subsidiär (BGE vom 13. Oktober 2000
[2P.127/2000], Erw. 2), sondern auch gegenüber Darlehen Dritter.
Der Beschwerdeführer hat in der massgeblichen Zeit von
1. Juni 2007 bis 30. April 2008 nach eigenen Darstellungen insge-
samt Fr. 6'000.-- auf ein Bankkonto bei der "Caixa Geral de Deposi-
tos SA" in Lissabon überwiesen, das auf seinen Namen lautete. Die
Überweisungen will er mit Darlehen von Bekannten finanziert ha-
ben. Aus den Quittungen für die Darlehen lässt sich nur ein Aus-
zahlungsdatum für Fr. 1'000.-- dem massgeblichen Zeitraum zuord-
nen. Die weiteren Quittungen sind nicht datiert und weisen auch den
Auszahlungstermin nicht aus. Eine Zweckgebundenheit der Darlehen
ist den Akten nicht zu entnehmen. Aus der Quittung vom April 2008
ergibt sich lediglich die Verpflichtung, das Darlehen "bei Erhalt der
IV sofort zurückzuzahlen".
Aus der Sachdarstellung des Beschwerdeführers, dass er nur als
"Besorger von Krediten" aufgetreten sei, kann geschlossen werden,
dass er in der fraglichen Zeit persönliche Kredite in der Höhe von
2009
Verwaltungsgericht
236
Fr. 6'000.--- bei verschiedenen nahestehenden Personen aufnahm.
Diese Darlehen sind - entgegen der Auffassung des Beschwerdefüh-
rers - sozialhilferechtlich eigene Mittel (siehe vorne Erw. 1.1). | 1,636 | 1,296 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-44_2009-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-44.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-44.pdf | AGVE_2009_44 | null | nan |
47a57c31-9095-5a42-bacd-685b60f15aa9 | 1 | 412 | 870,080 | 1,509,580,800,000 | 2,017 | de | 2017
Migrationsrecht
129
[...]
22
Anordnung einer Disziplinarstrafe in migrationsrechtlicher Administra-
tivhaft; Verhältnismässigkeit
Wird gegen einen Inhaftierten aufgrund eines begründeten Verdachts auf
Drogenkonsum eine Urinprobe angeordnet und die Abgabe der Urin-
probe durch den Betroffenen verweigert, kann das Verhalten im Rahmen
einer Disziplinarstrafe mit Entzug des Besuchsrechts und Telefonver-
kehrs sanktioniert werden. Ein zeitlich unbegrenzter Entzug ist nur in
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
130
Extremfällen gerechtfertigt und bei erstmaliger Verweigerung der Urin-
probe auf jeden Fall unverhältnismässig.
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 7. November 2017, i.S. Amt für Migration und Integration gegen A.
(WPR.2017.163)
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Die Disziplinarstrafe wurde verfügt, weil sich der Beschwerde-
führer geweigert hatte, mit Blick auf die Überprüfung eines allfälli-
gen Drogenkonsums eine Urinprobe abzugeben.
(...)
Mit E-Mail vom 5. Juli 2017 orientierte der Leiter des Aus-
schaffungszentrums Aarau das MIKA darüber, dass in der Zelle des
Beschwerdeführers "Hasch" gefunden worden sei. Der Beschwerde-
führer bestreite, Besitzer der Drogen zu sein. In der Folge drohte das
MIKA dem Beschwerdeführer im Falle eines weiteren Vorfalls den
Entzug des Besuchsrechts an. Zu diesem Ereignis findet sich im
Haftjournal kein Eintrag.
Aufgrund der telefonischen Meldung des Leiters des Ausschaf-
fungszentrums Aarau vom 29. September 2017 ordnete das MIKA
gleichentags eine Urinprobe an, verbunden mit der Androhung weite-
rer Disziplinarmassnahmen bei Verweigerung der Urinprobe.
Gemäss
Aktennotiz
des
Gefängnisleiters-Stv.
vom
5. Oktober 2017 verweigerte der Beschwerdeführer die Abgabe einer
Urinprobe. Auch dieser Vorfall wurde im Haftjournal nicht vermerkt.
In der Folge gewährte das MIKA dem Beschwerdeführer am
11. Oktober 2017 das rechtliche Gehör betreffend die gleichentags
verfügte Disziplinarstrafe. Dabei gab der Beschwerdeführer zu
Protokoll, er verlange zuerst eine Blutprobe, bevor er bereit sei, eine
Urinprobe abzugeben.
2017
Migrationsrecht
131
2.2.
Wie die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung zutreffend ausführt,
bezwecken Disziplinarstrafen im Rahmen des Vollzugs von Adminis-
trativhaft primär die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der
Anstalt. Widersetzt sich ein Betroffener den Anordnungen des Voll-
zugspersonals oder des MIKA, können Disziplinarstrafen im Sinne
eines letzten Mittels verfügt werden, um die Anordnungen durchzu-
setzen.
Die Disziplinarstrafen müssen aber unter anderem in einem ver-
nünftigen Verhältnis zur durchzusetzenden Anordnung stehen. Dies
sowohl in Bezug auf die Massnahme selbst, als auch in Bezug auf
die Dauer der Massnahme.
2.3.
Im vorliegenden Fall bestand aufgrund des Verdachts des Ge-
fängnisleiters und aufgrund der früheren Vorkommnisse zweifellos
eine Veranlassung zur Anordnung einer Urinprobe. Nachdem der Be-
schwerdeführer die Urinprobe sowohl bei deren Anordnung, als auch
anlässlich des rechtlichen Gehörs verweigert hatte, war die Verfü-
gung einer Disziplinarstrafe zweifellos angebracht.
Unangemessen war jedoch, den Entzug des Besuchsrechts und
Telefonverkehrs bereits bei der erstmaligen Anordnung zeitlich nicht
zu befristen. Ein zeitlich unbefristeter Entzug des Besuchsrechts und
Telefonverkehrs aufgrund verweigerter Urinproben drängt sich erst
dann auf, wenn gegen einen Betroffenen aufgrund eines jeweils kon-
kreten Verdachts auf Drogenkonsum mehrmals Urinproben angeord-
net wurden und dieser die Urinprobe trotz bereits entzogenen Be-
suchsrechts und Telefonverkehrs weiterhin verweigert. Mit Blick auf
die Verhältnismässigkeit und den Umstand, dass die maximale Dauer
der Einschliessung als gravierendste Disziplinarstrafe gemäss § 23
Abs. 3 lit. b EGAR fünf Tage beträgt, ist die erstmalige Verweige-
rung einer Urinprobe mit einer relativ kurzen Dauer des Entzugs des
Besuchsrechts und Telefonverkehrs zu sanktionieren. Verweigert ein
Betroffener nach erneutem Verdacht auf Drogenkonsum die Urin-
probe abermals, kann die Sanktion entsprechend länger ausfallen.
Eine unbefristete Sanktionierung ist damit einzig in Extremfällen ge-
rechtfertigt.
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
132
Im vorliegenden Fall wurde die Sanktion am 11. Oktober 2017
angeordnet und einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wir-
kung entzogen. Nach dem Gesagten erhellt klar, dass die maximal
zulässige Dauer der erstmaligen Sanktionierung der verweigerten
Urinprobe bereits bei Eingang der Beschwerde beim Verwaltungsge-
richt am 23. Oktober 2017 überschritten war, weshalb die aufschie-
bende Wirkung unverzüglich wiederhergestellt wurde.
Den Akten ist überdies nicht zu entnehmen, dass weitere Anzei-
chen auf erneuten Drogenkonsum hindeuten würden, womit offen-
sichtlich auch keine Veranlassung bestand, erneut eine Urinprobe zu
verlangen. Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz in ihrer Ver-
nehmlassung vom 27. Oktober 2017 lässt sich eine unbefristete Fort-
setzung der Sanktion nicht rechtfertigen.
2.4.
Unter diesen Umständen ist die angeordnete Disziplinarstrafe in
Gutheissung der Beschwerde aufzuheben. | 1,126 | 865 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-22_2017-11-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-22.pdf | AGVE_2017_22 | null | nan |
47ab37f0-2905-570d-ad5c-78ec67a3d1d4 | 1 | 412 | 871,100 | 959,990,400,000 | 2,000 | de | 2000
Submissionen
307
[...]
70
Kostentragung bei gegenstandslos gewordener Rechtsverzögerungs-
beschwerde; Absage von der die Vergabestelle beratenden Drittperson.
- Bei Rechtsverzögerungsbeschwerden erfolgt die Kostentragung weder
nach dem Grundsatz, dass diese dem formellen Ausgang des Ver-
fahrens folgt, noch nach dem ausnahmsweise anzuwendenden
Verursacherprinzip, wenn der materielle Ausgang klar anders liegt
als der formelle. Es ist in solchen Fällen zu prüfen, ob die Beschwerde
im Zeitpunkt ihrer Einreichung begründet war bzw. ob der Be-
schwerdeführer den Vorwurf der Rechtsverzögerungsbeschwerde zu
Recht erhoben hat.
- Es genügt, wenn die nicht berücksichtigten Anbieter zunächst eine
formlose Absage von der die Vergabestelle beratenden Drittperson
erhalten und erst in einem zweiten Schritt - auf entsprechendes Ver-
langen des Anbieters - eine förmliche, anfechtbare Verfügung der
Vergabestelle selbst ergeht (Erw. 2/c/bb).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 23. Juni 2000 in
Sachen ARGE E. AG/M. AG gegen Abwasserband O.
Aus den Erwägungen
1. Nachdem die anderweitige Vergabe den Beschwerdeführe-
rinnen zunächst durch ein Schreiben des Ingenieurbüros T. AG vom
5. Juni 2000 mitgeteilt worden ist, hat ihnen der Abwasserverband O.
die Vergabe der Baumeisterarbeiten an die B. AG mit Verfügung vom
17. Juni 2000 förmlich eröffnet. Die Verfügung enthält eine
2000
Verwaltungsgericht
308
Begründung und eine Rechtsmittelbelehrung. Damit ist das Ver-
fahren mangels aktuellen Rechtsschutzinteresses bezüglich der Be-
schwerdebegehren 1 - 3 gegenstandslos geworden und kann als erle-
digt von der Geschäftskontrolle abgeschrieben werden (vgl. VGE
III/122 vom 10. Dezember 1997 in Sachen B. AG, S. 4; ferner Fritz
Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, Bern 1983,
S. 154, 326). Hingegen ist noch über die Verfahrens- und Partei-
kosten zu befinden.
2. a) Gemäss einem Grundsatzentscheid des Verwaltungsge-
richts aus dem Jahr 1982 erfolgt die Kostenverteilung regelmässig
nach dem formellen Ausgang, d. h. nach den Grundsätzen von § 33
Abs. 2 und § 36 VRPG (Obsiegen/Unterliegen), wenn ein Verfahren
ohne Sachentscheid erledigt wird. Um stossende Ergebnisse zu ver-
hindern, wurde eine Ausnahme vorgesehen für den Fall, dass der for-
melle und der materielle Verfahrensausgang auseinanderfallen; vom
Grundsatz wird dann abgewichen, wenn das Ergebnis aus besonde-
ren, objektiven Gründen stossend erscheint. Dies trifft insbesondere
dort zu, wo es (formell) zu einem Beschwerderückzug oder zur Ge-
genstandslosigkeit kommt, nachdem dem Beschwerdebegehren ma-
teriell Rechnung getragen wurde, indem beispielsweise die erst-
instanzliche Verwaltungsbehörde ihre Verfügung in Wiedererwägung
gezogen und im Sinne des Beschwerdeführers abgeändert hat, so
dass der materielle Ausgang klar anders als der formelle liegt. Inso-
weit richtet sich der Kostenentscheid also auch nach dem Verursa-
cherprinzip (AVGE 1982, S. 305 ff.). Hieran ist seither festgehalten
worden (AGVE 1983, S. 252 f.; 1989, S. 276 f. und 317 f.; 1990,
S. 324).
Gegenstandslos gewordene Rechtsverzögerungsbeschwerden
bilden nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts in dieser
Hinsicht allerdings einen Spezialfall. Würde nämlich unbesehen nach
Massgabe des vorhin Gesagten vorgegangen, so müsste der Kosten-
entscheid stets zugunsten des Beschwerdeführers lauten; dieser hat ja
sein Ziel, von der Vorinstanz einen Entscheid zu erwirken, vollum-
2000
Submissionen
309
fänglich erreicht. Eine solche Regelung der Kostenfrage wäre unbe-
friedigend, denn die Behörden sind von Verfassungs wegen dazu ver-
pflichtet, ein bei ihnen eingeleitetes Verfahren (in irgendeinem Zeit-
punkt) durch einen Entscheid abzuschliessen (vgl. Kurt Eichen-
berger, Verfassung des Kantons Aargau, Textausgabe mit Kommen-
tar, Aarau 1986, § 10 N 15); somit könnten Rechtsverzögerungs-
beschwerden ohne jedes Kostenrisiko eingereicht werden. Um dies
zu verhindern, ist in solchen Fällen zu prüfen, ob der Beschwerde-
führer den in seiner Beschwerde enthaltenen Vorwurf der Rechtsver-
zögerung zu Recht erhoben hat bzw. ob die Beschwerde im Zeit-
punkt ihrer Einreichung begründet war (vgl. zum Ganzen: AGVE
1989, S. 318). Analoges muss für den vorliegenden Fall gelten, in
dem die Beschwerdeführerinnen den Vorwurf der Rechtsverweige-
rung erhoben haben (vgl. den erwähnten VGE in Sachen B. AG,
S. 5).
b) Das Verbot der Verweigerung oder Verzögerung eines
Rechtsanwendungsakts gemäss Art. 29 Abs. 1 BV wird verletzt,
wenn eine Behörde untätig bleibt oder das gebotene Handeln über
Gebühr hinauszögert (Ulrich Häfelin / Walter Haller, Schweizeri-
sches Bundesstaatsrecht, 4. Auflage, Zürich 1998, Rz. 1585; Eichen-
berger, a.a.O., § 10 N 15; vgl. ferner René A. Rhinow / Beat Krä-
henmann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungs-
band, Basel/Frankfurt a.M. 1990, Nr. 80 B II, S. 258 mit Hinweisen).
Rechtsverweigerung liegt also vor, wenn die Behörde in einem Ver-
fahren eine ihr obliegende Amtshandlung nicht vornimmt. Eine
Rechtsverzögerung ist demgegenüber anzunehmen, wenn die zustän-
dige Behörde den von ihr zu treffenden Entscheid nicht binnen der
Frist erlässt, welche nach der Natur der Sache und nach der Gesamt-
heit der Umstände angemessen erscheint; es genügt dabei, wenn die
ungebührliche Verzögerung aus objektiven Gründen der Behörde zur
Last fällt, d. h. die Verzögerung darf keine objektive Rechtfertigung
finden, die gegenüber dem Rechtsschutzanspruch des Bürgers Be-
stand hätte (vgl. Rhinow/Krähenmann, a.a.O., Nr. 80 B II, S. 258 mit
2000
Verwaltungsgericht
310
Hinweisen; ferner AGVE 1971, S. 341; VGE III/103 vom 26. No-
vember 1992 in Sachen B., S. 5 f.).
c) aa) Im vorliegenden Fall wurde den Beschwerdeführerinnen
ihre Nichtberücksichtigung für die zu vergebenden Baumeisterar-
beiten zunächst mit Schreiben des Ingenieurbüros T. AG vom 5. Juni
2000 mitgeteilt. Diesem Brief kommt trotz der vorhandenen Rechts-
mittelbelehrung klarerweise kein Verfügungscharakter zu; es handelt
sich lediglich um die schriftliche Mitteilung des Zuschlags durch die
Hilfsperson der Vergabestelle. Das Schreiben stellt demzufolge kein
Anfechtungsobjekt im Sinne von § 24 Abs. 1 SubmD dar.
bb) Das Verwaltungsgericht hat bezüglich der freihändigen
Vergabe in einem früheren Urteil festgehalten, dass das Effizienzge-
bot, dem nachzuleben die Verwaltung ebenfalls verpflichtet ist, es
der Vergabestelle nahe lege, in gewissen Fällen - vorerst - auf die
Zustellung von (förmlichen) Verfügungen zu verzichten. In der Pra-
xis erfolgten die Mitteilungen über den Zuschlag häufig nicht durch
die Vergabestelle selbst, sondern in deren Namen durch die Baulei-
tung oder den Architekten, denen die Durchführung und Leitung des
Submissionsverfahrens und die Beratung der Vergabestelle obliege.
Zumindest im Bereich der freihändigen Vergabe (einschliesslich
Einladungsverfahren) müsse es der Vergabebehörde oder einer von
ihr beauftragten Stelle gestattet sein, ihre Entscheidungen den Be-
teiligten zunächst durch formlose Mitteilung zur Kenntnis zu brin-
gen. Es müsse aber für den nicht berücksichtigten Anbieter die Mög-
lichkeit bestehen, nachträglich den Erlass einer förmlichen, be-
schwerdefähigen Verfügung zu verlangen. Ein Widerspruch zu den
Anforderungen des Bundesrechts (insbesondere gemäss Art. 9
BGBM) entstehe nicht, solange der dort verlangte Rechtsschutz ge-
währleistet sei. Dazu sei es ausreichend, wenn der nichtberücksich-
tigte Anbieter bezüglich aller Entscheidungen der Vergabebehörde ex
post eine Verfügung verlangen könne, die ihm den Rechtsweg auch
bei freihändigen Beschaffungen öffne (vgl. Thomas Cottier / Benoît
Merkt, Die Auswirkungen des Welthandelsrechts der WTO und des
2000
Submissionen
311
Bundesgesetzes über den Binnenmarkt auf das Submissionsrecht der
Schweiz, in: Roland von Büren / Thomas Cottier [Hrsg.], Die neue
schweizerische Wettbewerbsordnung im internationalen Umfeld,
Bern 1997, S. 35 ff., 76 f.). Ein solches Vorgehen finde im Übrigen
auch im VRPG, das grundsätzlich - unter Berücksichtigung der Be-
sonderheiten und Eigenart dieses Verfahrens - auch auf das Submis-
sionsverfahren anwendbar ist (vgl. § 1 Abs. 1 VRPG), eine Grund-
lage (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VRPG; vgl. zum Ganzen
VGE III/55 vom 31. Juli 1997 in Sachen H. und M. AG, S. 9 f.).
Es spricht nichts dagegen, diese Überlegungen auf das offene
und das selektive Verfahren zu übertragen. Denn im Zentrum soll
nicht die Form, sondern die praktische Verwirklichung des Rechts-
schutzinteresses der betroffenen Anbieter liegen (Cottier/Merkt,
a.a.O., S. 76). Es muss der Vergabestelle überlassen sein, welche
Vorgehensweise sie im konkreten Fall als zweckmässiger und effizi-
enter erachtet. Es genügt also auch für das offene und für das selek-
tive Verfahren, wenn die nicht berücksichtigten Anbieter zunächst
eine formlose Absage des die Vergabestelle beratenden Ingenieurbü-
ros erhalten und erst in einem zweiten Schritt - auf entsprechendes
Verlangen des Anbieters - eine förmliche, anfechtbare Verfügung der
Vergabestelle selbst ergeht. Im Anwendungsbereich des
GATT/WTO-Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungs-
wesen (GPA) vom 15. April 1994 ist zusätzlich auch § 36 SubmD zu
beachten. Die formlose Absage muss indessen mit dem Hinweis
versehen werden, dass eine förmliche Verfügung verlangt werden
kann. Der Anbietende hat einen Rechtsanspruch auf eine anfechtbare
Verfügung, und die Rechtsmittelfrist gemäss § 25 Abs. 1 SubmD
läuft erst ab der Eröffnung dieser Verfügung. Letzteres muss sich die
Vergabestelle bei der Wahl ihres Vorgehens stets vor Augen halten.
Zweckmässigerweise enthält die formlose Absage auch eine Begrün-
dung und den Hinweis darauf, dass die Vergabestelle auf Gesuch hin
die zusätzlichen Auskünfte gemäss § 20 Abs. 2 SubmD erteilt. Falsch
ist es hingegen, das formlose Absageschreiben - wie im vorliegenden
2000
Verwaltungsgericht
312
Fall geschehen - mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen, da nur
die Vergabestelle selbst eine förmliche Verfügung erlassen kann.
Dies ändert aber nichts daran, dass sich die Vergabestelle dadurch,
dass sie die Absage nicht verfügt, sondern das beratende
Ingenieurbüro mit der entsprechenden Mitteilung beauftragt hat,
jedenfalls keiner Rechtsverweigerung schuldig gemacht hat.
cc) Der Abwasserverband hat die zu erlassende Verfügung am
17. Juni 2000 ausgefertigt und spätestens am 18. Juni 2000 der Post
übergeben. Von einer Rechtsverweigerung kann unter diesen Um-
ständen nicht die Rede sein, zumal auch von den Beschwerdeführe-
rinnen nicht behauptet wird, der Abwasserverband habe ihnen ge-
genüber verlauten lassen, er beabsichtige nicht, die fragliche Ver-
fügung zu erlassen, oder er habe den Anspruch auf eine Verfügung
grundsätzlich bestritten.
d) Bereits der vom Verwaltungsgericht mit Urteil vom 30. März
2000 aufgehobene Zuschlag an die B. AG wurde den Beschwerde-
führerinnen zunächst mit Schreiben der T. AG mitgeteilt. Nach
Beschwerdeerhebung erging dann eine förmliche Verfügung namens
und auftrags der Vergabestelle (ob der Umstand, dass die Ausferti-
gung durch den Rechtsvertreter der Vergabestelle erfolgte, einen
rechtserheblichen Mangel darstellt, wie die Beschwerdeführerinnen
behaupten, kann hier offen bleiben). Nachdem die Vergabestelle
somit auch im ersten Verfahren betreffend die Beschwerdeführerin-
nen auf Verlangen hin ein Schreiben des beratenden Ingenieurbüros
durch eine Verfügung der Vergabestelle selbst ersetzt hatte, bestand
für die Beschwerdeführerinnen zur Einreichung der vorliegenden
Beschwerde keinerlei objektive Veranlassung. Sie hatten keinen
Grund zur Annahme, dass ihnen die Verfügung verweigert würde,
wenn sie auf einer solchen beharrten. Es kann ihnen diesbezüglich
der Vorwurf des übereilten und inadäquaten Handelns nicht erspart
werden, hätte es doch unter den obwaltenden Umständen durchaus
genügt, wenn die Beschwerdeführerinnen die Verfügung bei der
Vergabestelle angefordert hätten; ihr Rechtsvertreter musste als er-
2000
Submissionen
313
fahrener Anwalt wissen, dass damit der gewünschte Zweck ohne
weiteres erreicht worden wäre. Erst wenn die Vergabestelle dieser
Aufforderung nicht nachgekommen wäre, hätte sie sich den Vorwurf
der Rechtsverweigerung gefallen lassen müssen. Damit war die
Rechtsverweigerungsbeschwerde auch zum Zeitpunkt ihrer Einrei-
chung erstens unbegründet und zweitens nicht erforderlich, um den
gewünschten Zweck zu erreichen. | 2,759 | 2,240 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-70_2000-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-70.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-70.pdf | AGVE_2000_70 | null | nan |
48cabce8-e8e1-58fb-9051-ba6bf31e065c | 1 | 412 | 869,821 | 1,054,598,400,000 | 2,003 | de | 2003
Verwaltungsgericht
254
60 Preisbewertung.
- Bewertungssysteme
(Erw.
4/c).
- Unzulässige nachträgliche Anpassung der Preisbewertung (Erw. 4/d).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 16. Juni 2003 in Sa-
chen J. AG gegen Stadt Baden.
Aus den Erwägungen
4. Streitig ist die Bewertung des Preises.
a) Die Vergabebehörde hat ein "Bewertungssystem zu den An-
geboten A1/A2/B1/B2" erstellt bzw. von der B. erstellen lassen. Da-
nach sollte das tiefste Angebot (= Summe der Pauschalen Phase 3/4
und des aus dem Honorarprozentsatz und einer durch das Beurtei-
lungsgremium definierten honorarberechtigten Bausumme errechne-
ten Honorars für die Phase 5) das Maximum von 30 Punkten erhal-
ten. Die restlichen Angebote sollten "gemessen am tiefsten Angebot"
bewertet werden. Dies wurde den Anbietenden im Rahmen der Fra-
genbeantwortung auch so bekannt gegeben.
Vorgesehen war, die jeweils tiefsten Angebote für B1 und B2
mit 30 Punkten zu bewerten, während diejenigen Angebote, die
100% über dem niedrigsten Angebot lagen, 0 Punkte erhalten sollten.
Die übrigen Angebote sollten linear bewertet werden. In der Folge
gelangten bei der Bewertung der Angebote beim Projekt B1 und
beim Projekt B2 jedoch unterschiedliche Bewertungsmodi zur An-
wendung. Beim Projekt B1 wurde das tiefste Angebot mit 30 Punk-
ten und das höchste Angebot mit 0 Punkten bewertet. Dazwischen
wurde eine lineare Punkteverteilung vorgenommen. Die Bewertung
des Projekts B2 erfolgte wie ursprünglich vorgesehen. Einem
E-mail-Schreiben vom 25. Februar 2003 lässt sich entnehmen, dass
es beim Projekt B1 zu einer Änderung der ursprünglich
vorgesehenen Bewertungsskala gekommen ist. Die Anpassung sei
erforderlich geworden, weil zwei Anbieter sehr tief offeriert hätten;
andernfalls hätten alle übrigen Anbieter beim Preis 0 Punkte gehabt.
Die Vergabebehörde habe es so zudem vermeiden können, die Frage
2003
Submissionen
255
zu prüfen, ob seitens der Beschwerdeführerin ein Unterangebot
vorgelegen habe. Hätte die Vergabebehörde die beiden ungewöhnlich
niedrigen Angebote der R./L. und der Beschwerdeführerin auf ihre
Seriosität prüfen wollen, hätte sie sich in unzulässiger Weise "auf die
Äste hinauswagen" müssen.
b) Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist die Bewertung des
Honorars durch die nach der Offertöffnung erfolgte Festlegung un-
terschiedlicher Bewertungsmodi willkürlich erfolgt. Die Beantwor-
tung der Frage 3.4 durch den Anhang "Bewertungssystem zu den
Angeboten A1/A2/B1/B2" zeige klar, dass alle vier Ausschreibungen
die gleiche Bewertungsskala aufweisen würden. Die spätere Ände-
rung bzw. Verzerrung der Bewertungsskala entspreche nicht mehr der
Beantwortung der unter 3.4 gestellten Fragen. Die Beschwerde-
führerin vertritt daher den Standpunkt, der ursprünglich vorgesehene
Schlüssel B2 sei für den Vergabeentscheid beider Submissionen
heranzuziehen.
c) Unbestreitbar ist, dass mit der Art und Weise der Bewertung
des Angebotspreises die Gesamtbewertung unabhängig von der ein-
heitlichen und objektiven Bewertung der restlichen Zuschlags-
kriterien erheblich beeinflusst werden kann. Weit verbreitet sind die
linearen Bewertungssysteme, bei denen das preisgünstigste Angebot
die Maximalpunktzahl erzielt, und ein Angebotspreis, der dieses
preisgünstigste Angebot
um einen bestimmten Prozentsatz
über-
schreitet, keine Punkte mehr erzielt, während die dazwischenliegen-
den Angebote linear interpoliert bewertet werden. Die lineare Glei-
chung (Neigung der Geraden) wird in der Regel für jedes Vergabe-
verfahren gesondert festgelegt, zumeist erst nach der Offertöffnung.
Zumindest die Möglichkeit, dass damit das Resultat der jeweiligen
Gesamtbewertung beeinflusst werden kann, lässt sich nicht leugnen.
Ebenfalls verbreitet sind (lineare) Bewertungssysteme, die in Abhän-
gigkeit vom höchsten und vom tiefsten eingegangenen Angebot er-
folgen, indem das tiefste Angebot das Punktemaximum und das
teuerste Angebot - ungeachtet der effektiven Preisdifferenz - 0
Punkte (oder eine Minimalmalpunktzahl, z.B. 25 Punkte) erhält.
Auch diese Bewertungsmethode ist keineswegs unproblematisch.
Geht z.B. ein sehr teures Angebot ein, kann dies im Extremfall zur
2003
Verwaltungsgericht
256
Folge haben, dass trotz der bekannt gegebenen hohen Gewichtung
des Preises durchaus nennenswerte Preisunterschiede zwischen den
übrigen Anbietern bewertungsmässig kaum mehr ins Gewicht fallen.
Liegen das tiefste und das höchste Angebot dagegen nahe beisam-
men, wirken sich auch verhältnismässig geringe Preisunterscheide
punktemässig sehr deutlich aus. Die Bedeutung, die dem Preis im
Gefüge der Zuschlagskriterien tatsächlich zukommt, hängt damit
davon ab, innerhalb welcher Bandbreite sich die eingereichten An-
gebotssummen bewegen. Je näher die einzelnen Angebotssummen
beisammen liegen, desto stärker wirken sich auch kleine Preisunter-
schiede auf die Bewertung aus und desto grösser wird die Bedeu-
tung, die dem Preis schliesslich für den Zuschlag zukommt
(VGE
III/33 vom 30. April 2002 [BE.2002.00041] in Sachen
ARGE A., S. 47 f.; vgl. zur Preisbewertung auch Matthias Hauser,
Zuschlagskriterien im Submissionsrecht, in: AJP/PJA 2001, S. 1420;
Jacques Pictet/Dominique Bollinger, Aide multicritère à la décision:
Aspects mathématiques du droit suisse des marchés publics, in: BR
2000, S. 64).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts ist in erster
Linie entscheidend, dass ein Bewertungs- oder Benotungssystem im
Grundsatz sachgerecht ist und einheitlich, d.h. auf alle Anbietenden
bzw. auf alle Angebote in gleicher Weise und nach gleichen Mass-
stäben angewendet wird. Das Verwaltungsgericht beschränkt sich im
Rahmen seiner (beschränkten) Kontrollbefugnisse auf die Überprü-
fung dieser Gesichtspunkte; ihm kommt nicht die Funktion einer
"Ober-Vergabebehörde" zu. Welches System letztlich Anwendung
findet und wie es im Detail ausgestaltet ist, ist dabei von eher unter-
geordneter Bedeutung. Auch bei der Bewertung des Preises gilt, dass
das Verwaltungsgericht die von der Vergabestelle gewählte Vorge-
hensweise respektieren muss, sofern diese nicht völlig sachfremd ist
oder auf die einzelnen Anbieter unterschiedlich angewendet wird
(VGE III/158 vom 26. November 1998 [BE.1998.00289] in Sachen
G. AG, S. 9 mit Hinweisen).
d) Im vorliegenden Fall hat sich die Vergabebehörde zu Beginn
des Verfahrens dafür entschieden, diejenigen Angebote, die das
preislich günstigste Angebot um 100% oder mehr überschritten, beim
2003
Submissionen
257
Zuschlagskriterium "Honorarofferte" mit 0 Punkten zu bewerten.
Den Anbietenden wurde im Rahmen der Fragebeantwortung
lediglich bekannt gegeben, dass das tiefste Angebot mit 30 Punkten
und die übrigen Angebote "gemessen am tiefsten" bewertet würden.
Darüber, wie die Bewertung im Einzelnen vorgenommen werden
sollte, wurden keine Angaben gemacht. Jedoch durften die Anbieter
angesichts der Fragebeantwortung (bzw. des ihnen zur Kenntnis ge-
brachten Bewertungssystems) davon ausgehen, dass auf die Ange-
bote A1/A2/B1/B2 das selbe Bewertungssystem zur Anwendung
gelangen würde.
Die Abweichung vom vorgesehenen Bewertungssystem be-
gründet die Vergabebehörde damit, dass beim Projekt B1 zwei im
Vergleich zu den restlichen vier auffallend niedrige Angebote einge-
reicht worden seien. Ihr Argument, durch die Anpassung der Bewer-
tungsskala für das Projekt B1 habe sie es vermeiden können, zu prü-
fen, ob es sich dabei um Unterangebote handle, ist nicht haltbar. Hat
die Vergabebehörde wegen des tiefen Preises den begründeten Ver-
dacht, es liegen ein Unterangebot vor, hat sie die erforderlichen Ab-
klärungen vorzunehmen (Peter Galli/André Moser/Elisabeth Lang,
Praxis des öffentlichen Beschaffungsrechts, Zürich 2003, Rz. 536 ff).
Dieser Verpflichtung kann sie sich nicht einfach durch eine entspre-
chende Ausgestaltung - oder hier sogar nachträgliche Anpassung -
der Preisbewertung entziehen (Galli/Moser/Lang, a.a.O., Rz. 547).
Hätten die Abklärungen ergeben, dass die Angebote tatsächlich nicht
kostendeckend sind, wäre die Vergabebehörde nach der Praxis des
Verwaltungsgerichts berechtigt gewesen, diese von der Vergabe aus-
zuschliessen, selbst wenn die Einhaltung der Submissionsbedingun-
gen an sich gewährleistet gewesen wäre (AGVE 1997, S. 367 ff.;
Galli/Moser/Lang, a.a.O., Rz. 543, insbes. Fn. 1082).
Nicht haltbar ist aber auch das von der Vergabebehörde zur
Hauptsache vorgebrachte Argument, sie habe mit der Anpassung
vermeiden wollen, dass die restlichen vier Angebote wegen der bei-
den Tiefpreisofferten alle undifferenziert mit 0 Punkten hätten be-
wertet werden müssen. Eine solche nachträgliche Anpassung des
Bewertungssystems liesse sich wegen der damit verbundenen Mani-
pulationsgefahr einzig dann rechtfertigen, wenn es auf Grund der
2003
Verwaltungsgericht
258
Beibehaltung des ursprünglichen Bewertungssystems zu einer Ver-
zerrung bzw. Verfälschung der bekannt gegebenen Zuschlagskriterien
kommen würde. Im vorliegenden Fall kommt dem Preis lediglich ein
Gewicht von 30% zu. Das Hauptgewicht liegt bei den Zu-
schlagskriterien "Präsentation" und "Fragebeantwortung" mit insge-
samt 70%. Auch die Nullbewertung eines Anbieters mit einem teuren
Angebot beim Preis führt nicht zwangsläufig dazu, dass er den Zu-
schlag selbst nicht mehr erhalten kann. Ein bei diesen beiden Kri-
terien mit dem Maximum und beim Preis mit 0 benoteter Offerent
erhält insgesamt 70 Punkte. Der preisgünstigste Anbieter, der bei den
beiden qualitativen Kriterien schlecht oder nur durchschnittlich
(halbe Punktzahl) abschneidet, liegt klar darunter.
Die nachträgliche Anpassung des Bewertungssystems beim
Preis lässt sich im vorliegenden Fall somit sachlich nicht rechtferti-
gen. Vielmehr hätte die Vergabebehörde auch beim Projekt B1 den
ursprünglich gewählten Bewertungsmodus beibehalten und - um
unerwünschte Unterangebote allenfalls ausschliessen zu können - die
beiden Angebote mit dem auffallend niedrigen Preis im Hinblick auf
die Unterangebotsproblematik näher prüfen müssen. | 2,189 | 1,792 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-60_2003-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-60.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-60.pdf | AGVE_2003_60 | null | nan |
49c6635e-6006-52bd-91ee-257efa1af1b6 | 1 | 412 | 871,943 | 1,196,726,400,000 | 2,007 | de | 2008
Verwaltungsrechtspflege
311
[...]
58
Formelle Anforderungen an einen Beschwerderückzug.
-
Ein Beschwerderückzug hat schriftlich zu erfolgen (Bestätigung der
Rechtsprechung).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 20. Dezember 2007 in Sa-
chen A.Z. gegen das Bezirksamt Baden (WBE.2007.238).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Der Beschwerdeführer hat auf Grund der Dispositionsmaxime
die Möglichkeit seine Beschwerde zurückzuziehen. Der Widerruf
muss ausdrücklich erfolgen; eine stillschweigende Rückzugserklä-
rung gibt es nicht. Grundsätzlich ist der Beschwerderückzug unwi-
derruflich und beendet den Streitfall unverzüglich (Michael Merker,
Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem aar-
gauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege [VRPG] vom
9. Juli 1968, Zürich 1998, § 58 N 4). Die Angelegenheit ist sodann
von der zuständigen Geschäftsstelle abzuschreiben. Der Abschrei-
bungsbeschluss hat deklaratorischen Charakter, kann jedoch mit der
Begründung angefochten werden, die Rückzugserklärung genüge
den formellen Anforderungen nicht oder der Rückzug beruhe auf ei-
nem Willensmangel (BGE 109 V 234 Erw. 3).
2008
Verwaltungsgericht
312
2.2.
Gemäss Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts sind an eine
Rückzugserklärung dieselben formellen Anforderungen wie an die
Einlegung eines Rechtsmittels zu stellen. Das heisst, dass ein Rück-
zug schriftlich zu erfolgen hat (AGVE 1985, S. 471). Nach Merker,
der diese Rechtsprechung kritisiert, können Erklärungen der Verfah-
rensbeteiligten auch mündlich zu Protokoll abgegeben werden (Mer-
ker, a.a.O., § 58 N 4). Vorliegend sind jedoch keine Gründe ersicht-
lich, die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu ändern. | 385 | 306 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-58_2007-12-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-58.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-58.pdf | AGVE_2008_58 | null | nan |
4a3289ec-7ead-5879-acc4-d57034dd0a66 | 1 | 412 | 871,174 | 1,036,281,600,000 | 2,002 | de | 2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
169
[...]
47
Ausnützungsübertragung (§ 9 Abs. 6 ABauV).
- Begriff des benachbarten Grundstücks; Trennung durch eine Ge-
meindestrasse.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 11. November 2002 in
Sachen M. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
2. c) bb) aaa) Gemäss Ausnützungsberechnung des Projektver-
fassers vom 12. Februar 1997 beträgt die anrechenbare Grund-
stücksfläche 893 m
2
, die anrechenbare Bruttogeschossfläche (BGF)
einschliesslich der neu zu erstellenden Bauten 502.78 m
2
. (...).
Bei einer Ausnützungsziffer von 0.35 in der Landhauszone W1
gemäss § 3 BNO ist eine BGF von 312.55 m
2
zulässig. (...). Die
fehlende Fläche von 190.23 m
2
soll von der auf der Parzelle Nr. 161
bestehenden Ausnützungsreserve beschafft werden.
bbb) Soweit die Gemeinden nichts anderes festlegen, kann der
Gemeinderat die Ausnützungsverschiebung zwischen benachbarten
Grundstücken bewilligen, wenn diese Zonen zugehören, welche die
2003
Verwaltungsgericht
170
gleiche Nutzung gestatten, und wenn das Orts-, Quartier- und Land-
schaftsbild nicht übermässig beeinträchtigt wird (§ 9 Abs. 6 ABauV).
Es ist unbestritten, dass die BNO diesbezüglich keine abweichende
Regelung enthält und die Parzelle Nr. 161 wie das Baugrundstück
der Landhauszone W1 zugehört. Unterschiedliche Auffassungen
bestehen hingegen bezüglich der Frage, ob die Parzelle Nr. 161 als
"benachbart" gelten kann.
Das Baudepartement hat sich bei der Anwendung von § 9
Abs. 6 ABauV massgeblich auf das von der Staatskanzlei herausge-
gebene "Handbuch zum Bau- und Nutzungsrecht" (BNR) abgestützt.
Danach gelten als benachbarte Grundstücke jedenfalls solche, die
aneinander grenzen oder höchstens durch einen Fuss- oder Radweg
voneinander getrennt sind (BNR [Ausgabe Juli 2001], S. 40). Diese
Auslegung entspricht an sich den Überlegungen, welche das Verwal-
tungsgericht im Entscheid AGVE 1987, S. 289 f., zur Zulässigkeit
der (interzonalen) Nutzungsübertragung angestellt hat. Dort wird auf
Funktion und Zweck der Ausnützungsziffer verwiesen. Nicht nur im
grossflächigen Rahmen bzw. für das ganze Gebiet einer Zone sei
eine bestimmte Baudichte festzulegen, sondern zur Wahrung des Zo-
nencharakters sei auch eine gleichmässige Verteilung der Baudichte
innerhalb der einzelnen Zonen zu bewirken. Es dürfe daher auch un-
ter dem Gesichtspunkt der Ortsbildgestaltung nicht dem jeweiligen
Grundeigentümer überlassen bleiben, durch beliebige Ausnützungs-
übertragungen eine punktuell erhöhte Baumassierung zu schaffen.
Solche Verschiebungen seien etwa dann abzulehnen, wenn der
"Transport" über ein Strassengrundstück hinweg erfolgen müsste
(AGVE 1987, S. 290 mit Hinweisen). Hieran ist festzuhalten. Es
macht nach wie vor Sinn, in restriktiver Interpretation von § 9 Abs. 6
ABauV als benachbart nur solche Grundstücke zu betrachten, welche
gemeinsame Grenzen haben oder höchstens durch einen untergeord-
neten Weg voneinander getrennt sind. Höherwertige Strassenverbin-
dungen werden regelmässig auch als mehr oder weniger markante
Trennlinien innerhalb des Orts- und Quartierbildes wahrgenommen,
so dass es sich rechtfertigt, den Spielraum des Grundeigentümers bei
Ausnützungsverschiebungen ebenfalls dort enden zu lassen.
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
171
Zwischen den Parzellen Nrn. 995 und 161 verläuft die Michel-
holzstrasse, eine 4 m breit ausgemarchte Gemeindestrasse. Ab dem
auf der Höhe der Parzelle Nr. 160 angelegten Wendeplatz ist nach
Süden hin ein allgemeines Fahrverbot signalisiert, und in diesem
Bereich dient die Strasse - nebst ihrer Funktion als Fussweg - ledig-
lich noch als Zufahrt (mit Ausnahmebewilligung) zu den Parzellen
Nrn. 995 und 159. Von der Einmündung des Hasenbergwegs an, d.h.
ca. 80 m nach dem Wendehammer, führt sie als Naturweg weiter.
Unter diesen besondern Umständen - Erschliessungsfunktion im
eigentlichen Sinne weist sie nur bis zum Wendehammer auf - tritt die
Michelholzstrasse weiter südlich, d.h. auch auf der Höhe der Parzelle
Nr. 995, nicht mehr als trennendes Element innerhalb des Quartiers
in Erscheinung. Anliegen der Ortsbildgestaltung sind hier von ne-
bensächlicher Bedeutung. Wie der Augenschein ergeben hat, kann
auch keine Rede davon sein, dass das Orts-, Quartier- und Land-
schaftsbild im Sinne von § 9 Abs. 6 ABauV wegen der Ausnüt-
zungsübertragung von der Parzelle Nr. 161 übermässig beeinträchtigt
wird. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegner wird das
Wohngebäude des Beschwerdeführers auch nach den Umbauten
nicht als überdimensionierter mehrgeschossiger Bau auffallen, wel-
cher nicht mehr ins übrige Quartier passt. Wie das vom Gemeinderat
eingereichte Flugbild zeigt, befinden sich im gleichen Quartier
mehrere ähnlich grossvolumige Häuser, so insbesondere auch dasje-
nige der Beschwerdegegner. Im Übrigen ist zu bedenken, dass nach
der Ausnützungsübertragung ein später allenfalls auf der Parzelle Nr.
161 zu erstellendes Gebäude entsprechend weniger BGF für sich
beanspruchen kann. Die vorgesehene Ausnützungsverschiebung
erweist sich daher als zulässig. | 1,159 | 912 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-47_2002-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-47.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-47.pdf | AGVE_2003_47 | null | nan |
4a3798e8-2688-5bee-8f42-c0063de9da9a | 1 | 412 | 871,297 | 1,475,280,000,000 | 2,016 | de | 2016
Personalrecht
273
44
Kündigung aufgrund mangelnder Eignung
Damit eine (psychische) Erkrankung als sachlicher Kündigungsgrund
(mangelnde Eignung) angerufen werden kann, muss es sich um eine dau-
erhafte Erkrankung handeln, welche die Ausübung der bisherigen Funk-
tion über einen längeren Zeitraum hinweg massgeblich beeinträchtigt,
wofür der Arbeitgeber die Beweislast trägt. Eine Krankheitsabsenz von
vier Monaten berechtigt nicht zur Kündigung mangels Eignung, wenn
aufgrund der Einschätzung des behandelnden Arztes davon ausgegangen
werden muss, dass ein stufenweiser Wiedereinstieg innert absehbarer
Frist in Betracht kommt.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 19. Oktober
2016 in Sachen A. gegen Einwohnergemeinde B. (WKL.2016.7).
Aus den Erwägungen
II.
2.6.
2.6.1.
Die Beklagte leitet die von ihr behauptete medizinische Unfä-
higkeit des Klägers, die Funktion des Betreibungsbeamten weiterhin
ausüben zu können, nach ihrer Darstellung in der Klageantwort aus
den folgenden Umständen ab: Bereits vor seinem Burnout habe sich
gezeigt, dass er der psychischen Belastung, denen ein Betreibungsbe-
amter ausgesetzt sei, nicht gewachsen sei. Ausweislich der Statistik
zu seinen Krankheitsabwesenheiten habe er im Zeitraum 2013 bis
31. Mai 2016 an nicht weniger als 227 Arbeitstagen krankheitshalber
gefehlt. Beim Klinikbesuch vom 11. März 2016 habe die behandeln-
de Ärztin nach mehrfacher Nachfrage bestätigt, dass das von ihr dia-
gnostizierte Burnout durch die Belastung am Arbeitsplatz (schwieri-
ge Schalterkundschaft, hohe Arbeitslast) hervorgerufen worden sei.
Diese Arbeitsplatzsituation lasse sich jedoch nicht zum Wohle des
Klägers verändern. Die schwierige Schalterkundschaft gehöre nun
einmal zur Arbeit eines Betreibungsbeamten, dessen Arbeitsalltag zu-
dem durch die Einhaltung von Fristen und strukturierten Abläufen
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
274
geprägt sei. Es sei auch nicht möglich, den Kläger vom Schalter-
dienst zu befreien. Dafür sei das Betreibungsamt schlicht zu klein.
Die Arbeitslast werde nicht spürbar abnehmen. Der Stellenetat werde
laufend an die Geschäftslast (Anzahl Zahlungsbefehle) angepasst.
Bereits im Jahr 2015 hätten dem Betreibungsamt 300 Stellenprozente
zur Verfügung gestanden; im Jahr 2016 sei auf 330 Stellenprozente
aufgestockt worden. 240 oder noch weniger Stellenprozente seien es
letztmals im Jahr 2001 gewesen. In einem kleinen Team wie demje-
nigen des Betreibungsamtes der Einwohnergemeinde B. würden fort-
währende oder längere Krankheitsabsenzen des Klägers die Auf-
rechterhaltung eines geordneten Betriebs, wozu die Gemeinde gegen-
über dem Kanton, den Gläubigern und den Schuldnern verpflichtet
sei, ernsthaft gefährden. Abgesehen davon habe die behandelnde
Ärztin geäussert, von seinem Wesen her sei der Kläger für sie nicht
der "klassische" Betreibungsbeamte. Wenn sie aus einer bestimmten
Anzahl von Männern den Typ "Betreibungsbeamter" eruieren
müsste, fiele ihre Wahl zuletzt auf den Kläger. Und der Kläger selber
habe beim Gespräch vom 11. März 2016 angegeben, er fühle sich
sehr schlecht und bekomme Schweissausbrüche, wenn er nur daran
denke, die Arbeit (zunächst mit einem kleinen Teilzeitpensum) wie-
der aufnehmen zu müssen.
2.6.2.
Die letztgenannte, vom Kläger an der Verhandlung vor Verwal-
tungsgericht nicht rundweg abgestrittene Aussage betreffend
Schweissausbrüche steht zwar in einem gewissen Widerspruch zum
Grundtenor der Klageschrift, worin die optimistische Haltung des
Klägers zum Ausdruck kommt, er hätte ab Anfang Mai 2016 wieder
ein kleines Teilzeitpensum übernehmen und dieses sukzessive aus-
bauen können, bis hin zur vollständigen Reintegration im Oktober
2016. Man muss jedoch diese isolierte Aussage im Kontext sehen -
der Kläger war am 11. März 2016 noch rekonvaleszent - und darf sie
nicht überbewerten. Daraus den Schluss zu ziehen, der Kläger sei aus
medizinischen Gründen unfähig, je wieder als Betreibungsbeamter
zu arbeiten, wäre verfehlt.
An medizinischem Datenmaterial, welches den Standpunkt der
Beklagten, der Kläger könne die Funktion des Betreibungsbeamten
2016
Personalrecht
275
aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr (hinlänglich) ausüben,
stützen könnte, ist wenig bis gar nichts vorhanden (vgl. dazu das Ur-
teil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. August 2014 [A-
6509/2013], wonach die Kündigung eines Anstellungsverhältnisses
wegen mangelnder medizinischer Tauglichkeit sorgfältig begründet
und dokumentiert sein muss). Es existierte im Kündigungszeitpunkt
kein Arztbericht oder dergleichen, mit dem sich hätte belegen lassen,
dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers noch längerfristig andauern
würde und an einen substanziellen beruflichen Wiedereinstieg auf
absehbare Zeit nicht zu denken war. Aus dem Protokoll des Klinikbe-
suchs vom 11. März 2016 geht vielmehr hervor, dass die behandeln-
de Ärztin eine baldige Rückkehr des Klägers an den Arbeitsplatz für
möglich hielt. Darin heisst es beispielsweise, dass der Kläger nun mit
einer neuen Einstellung (hinsichtlich Verausgabungsbereitschaft, Per-
fektionismus, hoher Qualitätsanspruch an die eigenen Leistungen) an
die Arbeit gehen werde. Wenn man erfolgsversprechend an Verhal-
tensmustern arbeite, sei die Prognose gut. Der Kläger sei noch jung
und der Betrieb klein, was die Sache vereinfache. Es werde für den
Kläger auch darum gehen, besser und regelmässiger zu entspannen.
Der Kläger fühle sich grundsätzlich sehr wohl am Arbeitsplatz. Das
Team sei gut. Heikel seien der Umgang mit schwierigen Klienten
und die Geschäftslast. Gestützt auf diese und weitere Feststellungen
skizzierte die behandelnde Ärztin den folgenden Ablauf für den Wie-
dereinstieg des Klägers: ab Anfang Mai 2016 ein Arbeitspensum von
20-30 % im Backoffice des Betreibungsamtes oder an einer anderen
Stelle der Stadtverwaltung, bis der Kläger wieder stabiler und
belastbarer sein würde; danach eine stufenweise Erhöhung des Pen-
sums um jeweils 10-20 % alle zwei bis drei Wochen, gemäss Emp-
fehlung des nachbetreuenden Arztes. Mit anderen Worten wurde dem
Kläger eineinhalb Monate vor dem Kündigungszeitpunkt lediglich
eine vorübergehende, regrediente Arbeitsunfähigkeit prognostiziert.
In Anbetracht dieser günstigen Prognose sowie dessen, dass der Klä-
ger im Kündigungszeitpunkt noch keine vier Monate krankgeschrie-
ben war, war es nicht gerechtfertigt, bereits damals von einer dauer-
haften, hochgradigen Arbeitsunfähigkeit infolge einer psychischen
Erkrankung auszugehen (vgl. BVGE 2007/34, Erw. 7.3.2, wo es
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
276
ebenfalls um die Beurteilung der Rechtmässigkeit der Auflösung des
Anstellungsverhältnisses mit einer Burnout-Patientin ging). Dafür
gab es schlechterdings keine genügenden Anhaltspunkte.
Darauf, dem Kläger einen Arbeitsversuch zu gewähren, und ihn
dadurch einem Praxistest zu unterziehen, hat die Beklagte mit der
kurz nach Ablauf der 90-tägigen Sperrfrist (vgl. § 50 GG i.V.m. § 7
PersG und Art. 336c Abs. 1 lit. b OR) ausgesprochenen Kündigung
des Anstellungsverhältnisses und mit der Freistellung des Klägers
während der Kündigungsfrist bewusst verzichtet. Entsprechend gibt
es keine Erfahrungswerte, welche die von der Beklagten behauptete
medizinische Untauglichkeit des Klägers untermauern, die
vertraglich vereinbarte Arbeit fortzuführen.
Aus der angeblichen, im Protokoll zum Klinikbesuch vom
11. März 2016 nicht protokollierten Aussage der behandelnden Ärz-
tin, der Kläger entspreche nicht dem Bild, das sie von einem typi-
schen Betreibungsbeamten habe, lässt sich gar nichts im Hinblick auf
dessen Eignung für die Funktion eines Betreibungsbeamten ableiten.
Wie ernst diese Aussage gemeint war, ist ohnehin fraglich. Aus Sicht
des Verwaltungsgerichts gibt es jedenfalls keine uniformen Charak-
termerkmale, die den typischen Betreibungsbeamten auszeichnen
bzw. bei deren Fehlen auf eine mangelnde Eignung zu schliessen ist.
Der Kläger war vor seiner aktuellen Erkrankung über dreieinhalb
Jahre lang als Betreibungsbeamter tätig, ohne dass seine Eignung für
diese Tätigkeit bis anhin jemals zur Diskussion gestanden hätte. Sei-
ne Leistungen waren allem Anschein nach tadellos. Zur Frage, ob
eine Wiederaufnahme der Tätigkeit unter gesundheitlichen Gesichts-
punkten in Frage kommt, hat sich die behandelnde Ärztin nach dem
oben Ausgeführten unmissverständlich (zu Gunsten des Klägers) ge-
äussert.
Was jeweils der Anlass für die früheren, meist nur kurzen
Krankheitsabsenzen des Klägers war, ist nicht aktenkundig. Es fehlt
somit an einem (hinreichenden) Beweis für eine bereits seit längerer
Zeit bestehende Überforderung/Überlastung des Klägers. Im Übrigen
ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger nicht an 227 Arbeitstagen
krankheitshalber gefehlt hat. Die von der Beklagten angefertigte Sta-
2016
Personalrecht
277
tistik bezieht sich auf Kalendertage; Samstage und Sonntage wurden
mitgerechnet.
Es leuchtet zwar ohne weiteres ein, dass die Beklagte zur Auf-
rechterhaltung eines geordneten Betriebs des Betreibungsamtes auf
den uneingeschränkten Einsatz sämtlicher Mitarbeiter des kleinen
Teams (mit bis dato maximal 330 Stellenprozenten) angewiesen ist
und ein längerfristiger Ausfall des im Vollzeitpensum angestellten
Stellvertreters der Leiterin des Betreibungsamtes für die übrigen Mit-
arbeiter nicht trag- und verkraftbar ist. Das ist jedoch ein organisa-
torisches Problem, dem nicht mittels Kündigung eines Angestellten
mangels Eignung begegnet werden darf, der in Tat und Wahrheit nur
vorübergehend (einige Monate) aus gesundheitlichen Gründen an der
Arbeitsverrichtung (teilweise) verhindert ist. Überdies weist der Klä-
ger zu Recht darauf hin, dass seine Freistellung während der gesam-
ten Dauer der Kündigungsfrist schlecht zu der von der Beklagten
monierten Überlastung der restlichen Teammitglieder passt. Die Stel-
le des Klägers wurde offenbar gegen Mitte April 2016 neu ausge-
schrieben. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass für die Zeit vor August
2016 ein Ersatz für den Kläger rekrutiert werden konnte. Zwei Mo-
nate später (ab Oktober 2016) wäre der Kläger unter Umständen wie-
der voll einsatzfähig gewesen.
2.6.3.
Als Zwischenergebnis ist demnach festzuhalten, dass die Be-
klagte die mangelnde (gesundheitliche) Eignung des Klägers, sich
auch zukünftig als Betreibungsbeamter zu betätigen, nicht nachzu-
weisen vermag. Ein anderer sachlich zureichender Kündigungsgrund
im Sinne von § 10 des Reglements für das Personal der Einwohner-
und Ortsbürgergemeinde der Stadt B. vom [...] (nachfolgend:
Personalreglement) ist ebenso wenig ersichtlich.
Auf S. 4 der Klageantwort beschwert sich die Beklagte über ein
mangelhaftes Engagement des Klägers. Trotz grossem Arbeitsanfall
habe er per 31. Dezember 2015 einen negativen Gleitzeitsaldo von
mehr als 18 Stunden ausgewiesen. Und beim Gespräch vom 5. April
2016 habe er sich in der Annahme, die Arbeit ab Anfang Mai 2016
wieder aufnehmen zu können, danach erkundigt, ob er im Mai 2016
zwei Wochen in die Ferien fahren könne. Es entspreche nicht den
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
278
Vorstellungen der Beklagten vom Pflichtbewusstsein einer Kaderper-
son, wenn jemand nach einer viermonatigen Krankheitsabsenz den
Fokus auf die Ferienerholung lege und dabei ausblende, was seine
Abwesenheit für seine Mitarbeiter bedeute.
Ob die genannten Vorfälle als mangelndes Engagement des Klä-
gers verstanden werden können, kann dahingestellt bleiben. Man-
gelndes Engagement hat auf jeden Fall nichts mit mangelnder Eig-
nung, sondern mit mangelnder Leistung, allenfalls einem Mangel im
Verhalten zu tun. Eine Kündigung wegen Mängeln in der Leistung
oder im Verhalten setzt gemäss § 10 Abs. 1 lit. c Personalreglement
eine vorgängige Mahnung (mit schriftlich angesetzter Bewährungs-
zeit) voraus. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, womit eine Kündi-
gung wegen Leistungs- oder Verhaltensmängeln ausser Betracht fällt.
Mangels Nachweis eines sachlich zureichenden Kündigungs-
grundes erweist sich die gegenüber dem Kläger am 26. April 2016
ausgesprochene Kündigung somit auch unter materiellen Gesichts-
punkten als widerrechtlich. | 2,559 | 2,100 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2016-44_2016-10-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2016-44.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2016-44.pdf | AGVE_2016_44 | null | nan |
4a6c9de5-f0b5-5d23-862e-6848a5ea6f3e | 1 | 412 | 871,305 | 988,761,600,000 | 2,001 | de | 2001
Kantonales Steuerrecht
191
VIII. Kantonales Steuerrecht
45
Steuerfreie Übertragung der stillen Reserven bei Umwandlung (§ 20 StG).
- Folge bei Nichteinhaltung der Bedingungen gemäss § 20 Abs. 2 StG:
Besteuerung rückwirkend auf den Zeitpunkt der Umwandlung.
- Teilliquidation eines selbstständigen Betriebsteils ist steuerlich gleich
zu behandeln wie eine Liquidation.
- Korrektur der zeitlichen Zuordnung einer Jahressteuer im Rechts-
mittelverfahren.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 17. Mai 2001 in
Sachen C.A. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts. Publiziert in StE 2001,
B 23.7 Nr. 11. | 140 | 112 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-45_2001-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-45.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-45.pdf | AGVE_2001_45 | null | nan |
4b2e2016-5f17-50e9-8386-35d175cf0e32 | 1 | 412 | 870,672 | 1,388,620,800,000 | 2,014 | de | 2014
Migrationsrecht
105
IV. Migrationsrecht
13
Vorbereitungshaft und Ausschaffungshaft; Haftanordnung
bei
Fort-
setzung der Vorbereitungshaft als Ausschaffungshaft
Wird eine Vorbereitungshaft gestützt auf Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG bestä-
tigt, liegt auch der Haftgrund von Art. 76 Abs. 1 lit. a AuG in Verbindung
mit Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG vor und die Voraussetzungen für die Fortset-
zung der Vorbereitungshaft als Ausschaffungshaft sind nach Vorliegen
des Wegweisungsentscheids erfüllt. Die zeitgleiche Anordnung der Vorbe-
reitungs- und Ausschaffungshaft ist nicht zu beanstanden (Erw. 3.3.
und 9.).
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 27. Januar 2014 in Sachen Amt für Migration und Integration gegen A.
(WPR.2014.16).
Sachverhalt
A. (...)
B.
Im Rahmen der Befragung durch das MIKA wurde dem
Gesuchsgegner am 24. Januar 2014 das rechtliche Gehör betreffend
die Anordnung einer Vorbereitungs- sowie Ausschaffungshaft ge-
währt. Zugleich wurde ihm das rechtliche Gehör betreffend die Ver-
längerung seines Einreiseverbots gewährt. Im Anschluss an die
Befragung wurde dem Gesuchsgegner die Anordnung der Vorberei-
tungs- bzw. Ausschaffungshaft wie folgt eröffnet:
1.
Es wird eine Vorbereitungshaft angeordnet.
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
106
2.
Nach Vorliegen des Wegweisungsentscheids wird die Vorbereitungs-
haft als Ausschaffungshaft weitergeführt.
3.
Die Haft begann am 24. Januar 2014, 14.15 Uhr, und dauert vorerst
bis zum 23. April 2014, 12.00 Uhr.
4.
Die Haft wird im Ausschaffungszentrum Aarau oder im
Flughafengefängnis Zürich vollzogen.
C.-D. (...)
Aus den Erwägungen
I.
1.
Das angerufene Gericht ist sowohl zuständig für die Überprü-
fung der Rechtmässigkeit und Angemessenheit einer durch das
MIKA angeordneten Vorbereitungs- als auch Ausschaffungshaft. Die
Haftüberprüfung erfolgt aufgrund einer mündlichen Verhandlung
spätestens innert 96 Stunden seit der ausländerrechtlich motivierten
Anhaltung der betroffenen Person (Art. 80 Abs. 2 AuG, § 6 EGAR;
vgl. BGE 127 II 174, Erw. 2.b.aa, mit Hinweisen).
2. (...)
II.
1.
Zur Sicherstellung der Durchführung eines Wegweisungs-
verfahrens, kann die zuständige kantonale Behörde eine Person, die
keine Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung
besitzt, während der Vorbereitung des Entscheides über ihre Aufent-
haltsberechtigung für höchstens sechs Monate in Haft nehmen
(Art. 75 Abs. 1 AuG). Wurde ein erstinstanzlicher Weg- oder Aus-
weisungsentscheid eröffnet, kann die zuständige kantonale Behörde
die betroffene Person zur Sicherstellung des Vollzugs in Haft be-
2014
Migrationsrecht
107
lassen, wenn sie sich bereits in Vorbereitungshaft befindet (Art. 76
AuG).
(...)
2.
2.1.
Das MIKA begründet seine Haftanordnung betreffend Vorberei-
tungshaft damit, dass das BFM vor Erlass eines Wegweisungs-
entscheides Italien um Rückübernahme des Gesuchsgegners ersu-
chen müsse und mit der Haft die Durchführung des Weg-
weisungsverfahrens sicherstellen wolle. Damit ist der Haftzweck der
Vorbereitungshaft vorliegend erstellt.
2.2.
Das MIKA stützt seine Haftanordnung betreffend Vorberei-
tungshaft auf Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG, wonach ein Haftgrund dann
vorliegt, wenn ein Betroffener trotz Einreiseverbot das Gebiet der
Schweiz betritt und nicht sofort weggewiesen werden kann.
Obwohl das BFM am 23. April 2012 gegen den Gesuchsgegner
ein Einreiseverbot, gültig vom 7. Mai 2012 bis 6. Mai 2014, ver-
fügte, welches ihm am 3. Mai 2012 eröffnet wurde, reiste der
Gesuchsgegner am 14. Januar 2014 erneut illegal in die Schweiz ein.
Der Gesuchsgegner wusste, dass gegen ihn ein Einreiseverbot erlas-
sen worden war. Daran ändert auch sein Vorbringen nichts, er habe
den genauen Geltungszeitraum nicht gekannt bzw. vergessen. Damit
ist die erste Tatbestandsvoraussetzung von Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG
erfüllt.
Aufgrund der Akten ist davon auszugehen, dass Italien für die
Durchführung des Asylverfahrens des Gesuchsgegners zuständig ist.
Nachdem Italien vor Erlass einer neuen Wegweisungsverfügung
durch das BFM (Art. 64a AuG) erneut um Rückübernahme ersucht
werden muss, kann die Wegweisung nicht sofort vollzogen werden,
womit auch die zweite Tatbestandsvoraussetzung erfüllt ist.
Damit ist der Haftgrund von Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG erfüllt.
3.
3.1.
Nach Vorliegen des Wegweisungsentscheids kann die betroffene
Person zur Sicherstellung des Vollzugs in Haft belassen werden,
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
108
wenn sie sich bereits in Vorbereitungshaft befindet (Art. 76 Abs. 1
lit. a AuG).
3.2.
Das MIKA begründet die beabsichtigte Fortsetzung der Haft als
Ausschaffungshaft nach Vorliegen des Wegweisungsentscheids da-
mit, dass es den Gesuchsgegner aus der Schweiz ausschaffen wolle,
sobald der Wegweisungsentscheid vorliege, und der Vollzug der
Wegweisung durch Inhaftierung sichergestellt werden soll. Unter
diesen Umständen ist der Haftzweck auch bezüglich der späteren
Ausschaffungshaft erstellt.
3.3.
Das MIKA stützt seine Haftanordnung betreffend Ausschaf-
fungshaft auf Art. 76 Abs. 1 lit. a AuG in Verbindung mit Art. 75
Abs. 1 lit. c AuG.
Wird die Vorbereitungshaft gestützt auf Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG
bestätigt ist, auch der Haftgrund von Art. 76 Abs. 1 lit. a AuG in Ver-
bindung mit Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG erfüllt.
4.-6. (...)
7.
Abschliessend stellt sich die Frage, ob die Haftanordnung des-
halb nicht zu bestätigen sei, weil sie im konkreten Fall gegen das
Prinzip der Verhältnismässigkeit verstossen würde.
(...)
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es sich
bei Art. 75 Abs. 1 lit. c AuG um einen objektivierten Haftgrund han-
delt, welcher bereits bei Vorliegen eines Verstosses gegen das Einrei-
severbot gegeben ist. Eine Nichtbestätigung der Haft wäre mit Blick
auf die Verhältnismässigkeit nur dann angezeigt, wenn sich der Be-
troffene bisher tadellos verhalten hätte und im konkreten Fall, trotz
Vorliegen eines Haftgrundes, aufgrund des gezeigten Verhaltens kei-
nerlei Veranlassung bestünde, den Vollzug der Wegweisung durch In-
haftierung sicherstellen zu müssen. Dies ist vorliegend jedoch nicht
der Fall, wusste der Gesuchsgegner doch aufgrund seiner ersten
Wegweisung und der darauf folgenden kontrollierten Ausreise - und
zwar unabhängig von der Geltungsdauer des gegen ihn verhängten
Einreiseverbots - dass nicht die Schweiz, sondern Italien für sein
2014
Migrationsrecht
109
Asylverfahren zuständig ist. Zudem wurde er auch anlässlich der in
Norwegen und in Schweden durchlaufenen Asylverfahren stets da-
rauf hingewiesen, dass nur Italien für die Bearbeitung seines Asylge-
suches zuständig sei, was der Gesuchsgegner sogar anlässlich der
Befragung vom 21. Januar 2014 von sich aus dem BFM mitteilte.
Trotzdem reiste der Gesuchsgegner erneut in die Schweiz ein und
stellte - im Bewusstsein, dass Italien für sein Asylverfahren zuständig
ist - ein weiteres Asylgesuch. Mit diesem Verhalten muss sich der
Gesuchsgegner vorhalten lassen, dass er sich in Europa quasi als
Asyltourist aufhält und damit keine Gewähr für eine ordnungsge-
mässe Ausreise bietet. Eine mildere Massnahme zur Sicherstellung
der Durchführung des Wegweisungsverfahrens ist nach dem Gesag-
ten nicht ersichtlich. Vor dem Hintergrund des absehbaren Wegwei-
sungsentscheids und des Umstandes, dass der Gesuchsgegner bereits
einmal weggewiesen wurde und erneut, unter Missachtung des
Einreiseverbotes, in die Schweiz einreiste, ist deshalb bereits im
heutigen Zeitpunkt klar, dass der Wegweisungsvollzug mittels Aus-
schaffungshaft sichergestellt werden muss und die Inhaftierung so-
wohl im Rahmen der Vorbereitungs- als auch Ausschaffungshaft ver-
hältnismässig ist.
(...)
8. (...)
9.
Zusammenfassend steht fest, dass die Voraussetzungen der Vor-
bereitungshaft erfüllt sind. Gleiches gilt nach Vorliegen des Wegwei-
sungsentscheids für die Fortsetzung der Haft als Ausschaffungshaft.
Folglich kann entgegen der Ansicht des Vertreters des Gesuchsgeg-
ners bereits heute eine Ausschaffungshaft angeordnet werden, welche
jedoch unter dem Vorbehalt eines noch zu erlassenden Wegweisungs-
entscheids steht. | 1,884 | 1,487 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-13_2014-01-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-13.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-13.pdf | AGVE_2014_13 | null | nan |
4b7d6a0a-7dfc-5573-bf73-266d0d73242a | 1 | 412 | 869,782 | 1,120,176,000,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsgericht
274
[...]
56
Formelle Voraussetzungen, wenn die Aufrechterhaltung einer fürsor-
gerischen Freiheitsentziehung gestützt auf einen anderen Schwächezu-
stand erfolgt; Zurückbehaltung in der Anstalt zur Untersuchung nach
durchgeführtem Entzug.
- Nach Durchführung des Entzugs - im Rahmen einer ordentlichen
Einweisung - kann ein Drogensüchtiger (vorläufig) zur Untersuchung
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
275
weiterhin in der Klinik zurückbehalten werden, wenn genügend An-
haltspunkte für das Vorliegen einer Geisteskrankheit/Geistesschwä-
che i.S.v. Art. 397a ZGB bestehen (Erw. 2.).
- Befristung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung zur Untersu-
chung (Erw. 3.).
- Ergibt die Untersuchung eine über die Drogensucht hinaus beste-
hende Geisteskrankheit/Geistesschwäche, hat die definitive Einwei-
sung ("Zurückbehaltung") gestützt auf die Abklärungsergebnisse
mittels neuer Verfügung zu erfolgen (Erw. 3.3.).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 26. Juli 2005 in Sa-
chen M.T. gegen Verfügung des Bezirksamts X.
Sachverhalt
M.T. musste behördlicherseits wegen seiner langjährigen Dro-
gensucht mehrmals in die Klinik Königsfelden zum Drogenentzug
eingewiesen werden. Noch vor jeglichem Kontakt mit Drogen fielen
bei M.T. psychische Probleme auf. Wegen verbal-aggressivem Ver-
halten und Wahnideen sowie psychotischen Reaktionen gegenüber
seinen Eltern und der Nachbarschaft musste er im Jahr 2004 mittels
fürsorgerischer Freiheitsentziehung in der Klinik Königsfelden sta-
tionär behandelt werden. Im Juni 2005 fiel M.T. erneut durch psy-
chotisches Verhalten auf. Innert kürzester Zeit musste er mehrmals
mittels fürsorgerischer Freiheitsentziehung in der Klinik Königsfel-
den hospitalisiert werden, so zwischen dem 9. und 14. Juni sowie 21.
und 22. Juni 2005. Als er nach seiner letzten Entlassung erneut
herumschrie, Passanten beschimpfte und bedrohte, wurde er durch
den Bezirksarzt X. mittels fürsorgerischer Freiheitsentziehung in die
Klinik Königsfelden eingewiesen. Aufgrund der bisherigen Erfah-
rungen und auf Hinwirken des Bezirksarztes und des Bezirksarzt-
Stellvertreters X. bestätigte das Bezirksamt X. mit Verfügung vom
27. Juni 2005 die Einweisung von M.T. in der Klinik Königsfelden
zur Durchführung eines Drogenentzugs. Nach Abschluss des Dro-
genentzugs hob das Bezirksamt X. mit Anschlussverfügung vom
2005
Verwaltungsgericht
276
18. Juli 2005 diejenige vom 27. Juni 2005 auf und ordnete die
weitere Zurückbehaltung des Beschwerdeführers in der Klinik
Königsfelden zur Untersuchung der psychischen Problematik an. Die
Zurückbehaltung wurde befristet bis Ende September 2005.
Aus den Erwägungen
1. Gemäss § 67d EGZGB kann die Einweisungsbehörde vor
dem Entscheid über eine Anstaltsunterbringung eine ärztliche Unter-
suchung anordnen und die Person zur Durchführung der Untersu-
chung vorübergehend in eine Anstalt einweisen. Voraussetzung ist,
dass genügend objektive Anhaltspunkte vorliegen, wonach eine
definitive fürsorgerische Freiheitsentziehung überhaupt ernsthaft in
Betracht kommt, über einzelne Einweisungsvoraussetzungen aber
noch Ungewissheit besteht, die die Einweisungsbehörde weder durch
eigene Abklärung noch durch Anordnung einer ambulanten
Untersuchung beheben kann. Die Klinik hat die gestellten Fragen
(z.B. nach dem Vorliegen einer Geisteskrankheit) der Einweisungs-
behörde zu beantworten, worauf diese entscheiden muss, ob eine
definitive Einweisung zur Behandlung (in diesem Fall ist eine neue
Verfügung zu erlassen) oder eine Entlassung erfolgt (§ 67d Abs. 1
und 2 EGZGB; AGVE 2003, S. 138; 1995, S. 248 mit Hinweisen;
1989, S. 188; Eugen Spirig, in: Zürcher Kommentar, Art. 397 a
- 397 f ZGB, Zürich 1995, Art. 397 d N 285 ff.).
2.
2.1. Im Folgenden ist zu prüfen, ob im Zeitpunkt der Einwei-
sung bzw. Zurückbehaltung des Beschwerdeführers in der Klinik
Königsfelden zur Untersuchung am 18. Juli 2005 dem zuständigen
Bezirksamt genügend Anhaltspunkte vorlagen, um das Vorliegen
einer zu behandelnden psychischen Störung bzw. einer Geistes-
krankheit/Geistesschwäche im Sinne von Art. 397a ZGB ernsthaft in
Betracht zu ziehen. Bis anhin stand beim Beschwerdeführer dessen
langjährige Drogenproblematik im Vordergrund. Seit einiger Zeit
fällt er allerdings vermehrt durch psychotisches und verbal aggressi-
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
277
ves Verhalten auf, das nicht mehr allein auf den Drogenkonsum
zurückgeführt werden kann.
2.1.1. Bereits der langjährige Hausarzt des Beschwerdeführers,
der ihn seit seiner Jugend kennt, hatte bei ihm noch vor jeglichem
Kontakt mit Drogen psychische Auffälligkeiten bemerkt. Gemäss
Angaben des AVS-Betreuers in X., der den Beschwerdeführer seit
1994 betreut, habe dieser oft von Menschen berichtet, welche über
ihn sprechen würden und konnte sich immer mehr hineinsteigern.
Der tägliche Einkauf sei ihm wegen seiner sozialen Phobie zum
Stress geworden. In Stresssituationen leide er unter kreisrundem
Haarausfall und hochrotem Kopf, was ihn wiederum in der Öffent-
lichkeit hemme. Er habe Angst, seine Wohnung zu verlassen, da er
draussen beobachtet werde. Am Fernsehen werde ebenfalls über ihn
gesprochen. In letzter Zeit sei der Beschwerdeführer mit Zahlungen
von Miete etc. überfordert gewesen und habe sich auch nicht mehr
richtig ernährt. Zusätzlich konsumiere er unkontrolliert Alkohol und
Cannabis.
2.1.2. Die psychischen Auffälligkeiten nahmen dermassen zu,
dass der Beschwerdeführer schliesslich vom 8. Oktober bis 5. No-
vember 2004 mittels fürsorgerischer Freiheitsentziehung in der Kli-
nik Königsfelden hospitalisiert werden musste. Gemäss dem einwei-
senden Bezirksarzt-Stellvertreter habe der Beschwerdeführer seit
einiger Zeit seine Umgebung ,,terrorisiert". Dieser sei überzeugt
gewesen, seine Eltern würden ihn und sein Zahnproblem nicht ernst
nehmen, und sie würden Videoclips und Fotos von ihm im Internet
veröffentlichen. Der Beschwerdeführer habe Nachrichten auf Pa-
piertüten geschrieben, welche lauteten: ,,Löscht die Internet-Adresse,
löscht endlich die Internet-Adresse, ich bin nicht Spielzeug und Box-
sack". In der Klinik berichtete er, er habe den Verdacht, dass ihn
seine Eltern beim Sex mit seiner Freundin gefilmt und dies im Inter-
net veröffentlicht hätten. Diesen Verdacht habe er geschöpft, weil
seine Mutter Andeutungen gemacht habe. Sie habe gesagt, dass er
weite Hosen anhabe. Auch hätten ihm Kollegen angedeutet, mit wel-
chem T-Shirt er geschlafen habe, weshalb er sicher sei, dass sie es im
Internet gesehen und mitverfolgt hätten. Bei Klinikeintritt war der
Beschwerdeführer psychotisch und unruhig mit Beziehungsideen und
2005
Verwaltungsgericht
278
wahnhaften Gedankengängen. Es wurde eine neuroleptische Be-
handlung mit Clopixol eingeleitet. Nach einigen Tagen wurde der
Beschwerdeführer ruhiger und entspannter und äusserte in Gesprä-
chen Zweifel daran, dass seine Eltern tatsächlich Informationen über
ihn im Internet public gemacht hätten. Die Diagnose lautete damals
u.a. auf akute polymorphe psychotische Störung mit Symptomen
einer Schizophrenie ohne akute Belastung.
2.1.3. Nach der Entlassung aus der Klinik nahm der Beschwer-
deführer weiterhin Clopixol ein. Als er ab Mai 2005 eine IV-Rente zu
beziehen begann, konsumierte er mit dem Geld nebst Methadon und
Valium vermehrt Alkohol und Cannabis. Die Medikamente setzte er
ab. In der Folge nahmen die psychischen Auffälligkeiten erneut zu.
Die Klinikeinweisung am 9. Juni 2005 erfolgte, nachdem der
Beschwerdeführer in den Tagen vor dem Eintritt Dinge aus dem
Fenster geworfen und laut herumgeschrien hatte, so dass die Polizei
beigezogen werden musste. Die Einweisung erfolgte wegen einer
psychotischen Störung im Rahmen eines Abhängigkeitsproblems.
Die Klinikärzte diagnostizierten bei ihm eine substanzinduzierte
psychotische Störung. Er wurde am 14. Juni 2005 wieder entlassen.
2.1.4. Die Einweisung am 21. Juni 2005 erfolgte, nachdem der
Beschwerdeführer in alkoholisiertem Zustand beim Sozialdienst X.
erschienen war und sich verbal aggressiv verhalten und herum ge-
fuchtelt hatte, so dass sich die Angestellten bedroht fühlten. Der So-
zialdienst X. meldete, dass der Beschwerdeführer mehrmals täglich
bei ihnen aufgetaucht sei und an die Türen gepoltert, geschrien,
getobt und Geld verlangt habe. Er habe auch schon Steine ge-
schmissen. In Absprache mit dem Sozialdienst X. wurde der Be-
schwerdeführer am nächsten Tag wieder aus der Klinik entlassen.
2.1.5. Vor der Einweisung am 27. Juni 2005 war der Beschwer-
deführer auf der Fensterbrüstung seiner Wohnung gestanden und
hatte erneut herumgeschrieen. Aufgrund der sich häufenden Vorfälle
mit Klinikeinweisungen in kurzen zeitlichen Abständen und weil der
Beschwerdeführer bisher zu keiner Entzugstherapie bereit war,
wurde er vom Bezirksamt X. zur Durchführung eines Drogenentzugs
in der Klinik Königsfelden zurückbehalten. Am 4. Juli 2005 entwich
der Beschwerdeführer aus der Klinik. Zurück in seiner Wohnung fiel
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
279
er erneut auf, weil er sehr laut Musik laufen liess und Gegenstände
aus dem Fenster warf. Er wurde noch gleichentags von der Polizei in
die Klinik zurückgeführt und zur Durchführung des Drogenentzugs
auf die Drogenentzugsstation der Klinik Königsfelden (DES) verlegt.
Die Klinikärzte beurteilten bei ihm ein präpsychotisches Zustands-
bild. Die Differentialdiagnose lautete auf hirnorganische Störung
(beginnender Korsakow), Persönlichkeitsstörung, beginnende schi-
zophrene Erkrankung, hypomanische Episode.
2.1.6. In seinem Schreiben an das Bezirksamt X. vom 24. Juni
2005 führt der Bezirksarzt-Stellvertreter X. aus, dass die Grunder-
krankung beim Beschwerdeführer eine psychotische Störung sei.
Zusammen mit dem Drogenkonsum rutsche er immer wieder in eine
desolate, Zwangsmassnahmen erfordernde Situation. In ihrer
Stellungnahme vom 14. Juli 2005 zu Handen der Vormundschafts-
behörde X. halten die Klinikärzte fest, dass es wichtig sei, zuerst
einen stationären Drogenentzug durchzuführen. Anschliessend sei
eine Neubeurteilung der psychischen Verfassung sowie der hirnorga-
nischen Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers notwendig. In
weiterer Zukunft sei eine betreute Wohnform für den Beschwerde-
führer unumgänglich.
Aufgrund dieser Erkenntnisse lag der Verdacht nahe, dass die
psychotischen und verbal-aggressiven Ausbrüche des Beschwerde-
führers nicht bzw. nicht nur drogeninduziert, sondern Ausdruck einer
psychischen Grunderkrankung sind, die noch festgestellt werden
musste. Um das Vorliegen einer behandelbaren psychischen Störung
bzw. einer Geisteskrankheit oder Geistesschwäche im Sinne des
Gesetzes definitiv abzuklären, war es notwendig, dass der Be-
schwerdeführer eine gewisse Zeit in einem drogenfreien Zustand
beobachtet und untersucht werden konnte.
2.2.
2.2.1. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit fordert, dass
Verwaltungsmassnahmen ein geeignetes und notwendiges Mittel
darstellen, um das zu verwirklichende Ziel zu erreichen, und dass sie
in einem vernünftigen Verhältnis zu den Freiheitsbeschränkungen
stehen, die dem Privaten auferlegt werden (Ulrich Häfelin/Georg
Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zürich/Basel/
2005
Verwaltungsgericht
280
Genf 2002, Rz. 581). Sie müssen im Hinblick auf das im öffentlichen
Interesse angestrebte Ziel erforderlich sein und dürfen in sachlicher,
räumlicher, zeitlicher und personeller Beziehung nicht über das
Notwendige hinausgehen (Häfelin/Müller, a.a.O., Rz. 591, 594) und
sie müssen durch ein das private überwiegendes öffentliches
Interesse gerechtfertigt sein (Häfelin/Müller, a.a.O., Rz. 615). Dies
gilt auch im Falle einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Diese
einschneidende Massnahme ist nur dann zulässig, wenn das
Fürsorgebedürfnis des Betroffenen unter Berücksichtigung seiner
eigenen Schutzbedürftigkeit und der Belastung der Umgebung sie
erfordert und andere, weniger weitgehende Vorkehren nicht genügen
(Art. 397 a Abs. 1 und 2 ZGB; AGVE 1997, S. 240; 1992, S. 276;
1990, S.
223; Thomas Geiser, in: Basler Kommentar, ZGB
I,
2. Auflage, Basel/Genf/München 2002, Art. 397 a N 12 f.; Spirig,
a.a.O., Art. 397 a N 259 f.).
2.2.2. Die Verhältnismässigkeit der Klinikeinweisungen im Juni
2005 wurden vom Bezirksarzt-Stellvertreter sowie Bezirksamt X. mit
Fremd- und Selbstgefährdung begründet. Auslöser der Einweisungen
waren stets Reklamationen der Nachbarn, da der Beschwerdeführer
in der Wohnung herumgeschrieen, gepoltert, laut Musik laufen lassen
und Nachbarn und Passanten beleidigt und sogar mit Erschiessen
gedroht hatte. Ähnlich hatte er sich beim Sozialdienst X. verhalten.
Der Beschwerdeführer wurde nach jeder Klinikeinweisung nach
relativ kurzen Aufenthalten wieder entlassen, nachdem er nicht mehr
als selbst- und fremdgefährlich eingestuft worden war und mangels
klarer Diagnose keine weiterführende Behandlung eingeleitet werden
konnte. Nach jeder Entlassung kam es jedoch innert kürzester Zeit
erneut zu einer Eskalation mit Selbst- und Fremdgefährdung und
anschliessender Klinikeinweisung. Im Zeitpunkt der Zurückbehal-
tung des Beschwerdeführers zur Untersuchung bestanden somit ge-
nügend Anhaltspunkte dafür, dass eine fürsorgerische Freiheitsent-
ziehung erneut ernsthaft in Betracht kommen könnte, wenn der Be-
schwerdeführer - wie bis anhin - in die alten Verhältnisse entlassen
würde. Bei der letzten Einweisung zwecks Drogenentzugs hatte der
Beschwerdeführer sodann eine weiterführende Behandlung im An-
schluss an den Entzug abgelehnt. Unter diesen Umständen war klar,
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
281
dass die Abklärung einer psychischen Störung nicht ambulant durch-
geführt werden konnte.
2.3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der
Einweisung bzw. Zurückbehaltung des Beschwerdeführers zur Un-
tersuchung genügend objektive Anhaltspunkte für die Annahme einer
psychischen Störung vorhanden waren, welche eine fürsorgerische
Freiheitsentziehung zur Behandlung erforderlich gemacht hätte.
Wegen der offenkundigen Uneinsichtigkeit des Beschwerdeführers in
Bezug auf das eigene Verhalten konnte das Bezirksamt X. eine
ambulante Durchführung der Untersuchung nicht in Betracht ziehen.
Erst im Verlauf der heutigen Verhandlung erklärte sich der Be-
schwerdeführer bereit, die Untersuchung ambulant durchführen zu
lassen. Die Zurückbehaltung des Beschwerdeführers in der Klinik
Königsfelden zur Untersuchung vom 18. Juli 2005 war somit ge-
rechtfertigt und verhältnismässig.
3. Bei einer Einweisung zur Untersuchung darf die betroffene
Person gemäss § 67 d Abs. 3 EG ZGB nur so lange zurückbehalten
werden, als es für die Untersuchung erforderlich ist.
3.1. Das Bezirksamt X. hat die Zeitdauer der Untersuchung bis
Ende September 2005 befristet. Der Beschwerdeführer verlangt die
sofortige Entlassung aus der Klinik. Zur Begründung führte er an der
Verhandlung aus, dass die Abklärungen auch ambulant durchgeführt
werden könnten. Er sei jetzt schon fünf Wochen in der Klinik und
diese hätte genügend Zeit gehabt, die Untersuchungen abzuschlies-
sen.
3.2. Die zuständigen Klinikärzte erklärten anlässlich der heuti-
gen Verhandlung, dass man beim Beschwerdeführer u.a. einen hirn-
organischen Abbau vermute. Man habe den Beschwerdeführer zur
Untersuchung mittels Elektroenzephalogramm (EEG) sowie zu
testpsychologischen Abklärungen angemeldet, nachdem der Dro-
genentzug abgeschlossen gewesen sei. Die Termine seien bereits
festgestanden. Der Beschwerdeführer habe jedoch beide Untersu-
chungen verweigert. Er sei nach wie vor unterschwellig aggressiv.
Im Falle einer Entlassung würde er, wie bis anhin, Schwierigkeiten
bekommen und müsste erneut eingewiesen werden. Bezüglich des
Vorschlags des Beschwerdeführers, die Untersuchungen ambulant
2005
Verwaltungsgericht
282
durchführen zu lassen, erklärten die Klinikärzte, dass die Klinik
Königsfelden dafür einen stationären Aufenthalt zwingend vor-
schreibe. Die Fachrichterin bestätigte, dass es im Kanton Aargau
keine ambulante Möglichkeit für testpsychologische Abklärungen
gebe. Gemäss Angaben der zuständigen Klinikärzte ist ein EEG-Test
jederzeit durchführbar. Eine testpsychologische Untersuchung sei
erst nächste Woche möglich. Die Abklärungen seien wichtig, um
festzustellen, ob es sich bei den psychotischen Phasen des Beschwer-
deführers um drogeninduzierte Zustandsbilder, um eine hirnorgani-
sche Schädigung oder um eine Erkrankung aus dem schizophrenen
Formenkreis handle, sowie um die geeignete Behandlung zu bestim-
men.
3.3. Zunächst ist festzuhalten, dass aufgrund der Aussagen der
Klinikärzte, wonach die Untersuchungen in ca. 10 Tagen durchge-
führt werden könnten, sich die Aufrechterhaltung der vorliegenden
fürsorgerischen Freiheitsentziehung bis Ende September 2005 als zu
lange erweist. Andererseits ist erstellt, dass die Abklärungen hin-
sichtlich der Frage, ob beim Beschwerdeführer eine zu behandelnde
psychische Störung vorliegt, im heutigen Zeitpunkt noch nicht abge-
schlossen sind. Angesichts der latenten Aggressivität mit Fremdge-
fährlichkeit sowie des Umstands, dass dessen Symptomatik nun
schon ein Jahr vorliegt und deshalb eine Lösung gefunden werden
muss, erweist sich die Durchführung der Untersuchungen nach wie
vor als notwendig. Da im Falle einer sofortigen Entlassung - wie in
früheren Fällen - mit einer baldigen Eskalation der Situation und
Wiedereinweisung zu rechnen wäre, liegt es im eigenen wohlver-
standenen Interesse des Beschwerdeführers, die Abklärungen durch-
zuführen. Das Verwaltungsgericht erachtet es als gerechtfertigt und
verhältnismässig, wenn der Beschwerdeführer noch für höchstens
drei Wochen in der Klinik Königsfelden zurückbehalten wird, damit
die Untersuchungen abgeschlossen und eine allfällige Behandlung
eingeleitet werden kann. Das Bezirksamt X. wird spätestens am
16. August 2005 zu entscheiden haben, ob es gestützt auf die Abklä-
rungsergebnisse eine (definitive) Einweisung zur Behandlung als
notwendig erachtet oder ob eine Entlassung in Frage kommt. In die-
sem Sinne ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. | 3,867 | 3,059 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-56_2005-07-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-56.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-56.pdf | AGVE_2005_56 | null | nan |
4ba3ad35-7cca-5dbc-95e4-035e576f90f9 | 1 | 412 | 869,906 | 1,425,254,400,000 | 2,015 | de | 2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
117
16
§ 96 und 102 StG
Berücksichtigung eines Entgelts, welches an den Berechtigten für die Auf-
gabe eines Wohnrechts bezahlt wird (Umzug der überlebenden Witwe ins
Altersheim), bei der Einkommenssteuer.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 31. März 2015, i.S. KStA
gegen X. (WBE.2014.382).
Aus den Erwägungen
1.
Nicht mehr streitig ist die Besteuerung des Werts der Wohnnut-
zung der Liegenschaft bis zum Auszug Ende Juni 2012; auch die Be-
schwerdegegnerin anerkennt dies nunmehr ausdrücklich. Umstritten
ist einzig die Erfassung der Abgeltung für den "unverbrauchten" Teil
des auf zehn Jahre festgelegten, vom Verkäufer für sich und seine
Ehefrau vorbehaltenen Wohnrechts.
2.-3.
(identisch mit 2015
15
112
,
Erw. 1-2)
4.
4.1.
Liegt in der Errichtung eines Vorbehaltswohnrechts wie darge-
legt konzeptionell gesehen ein echter Vorbehalt (nicht etwa der ent-
geltliche Erwerb einer Personaldienstbarkeit), mit dem aber nicht in
die Substanz des Grundstücks eingegriffen wird, so liegt auf der
Hand, dass der als Abgeltung für die Nichtweiterausübung des
Wohnrechts gezahlte bzw. hier lediglich vereinbarte und kreditierte
Betrag entgegen der Auffassung des Spezialverwaltungsgerichts
keine blosse Vermögensumschichtung bewirkt, sondern einen echten
Vermögenszufluss. Der Wohnrechtsberechtigte, d.h. hier die Be-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
118
schwerdegegnerin, hat mit der Aufgabe des Wohnrechts nämlich
nichts anderes getan, als den Wert des Wohnrechts (genauer: der vor-
aussichtlichen, künftig noch verbleibenden Nutzung) zu realisieren.
Damit stellt das Entgelt für die Aufgabe des Wohnrechts, wie die Be-
schwerdeführerin zutreffend ausführt, entgegen der Auffassung des
Spezialverwaltungsgerichts einen steuerbaren Vermögenszugang dar,
und zwar unabhängig davon, ob das Entgelt nun als Entschädigung
für die Nichtausübung eines Rechts gemäss § 32 lit. d StG (so
K
LÖTI
-W
EBER
, in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/D
AVE
S
IEGRIST
/
D
IETER
W
EBER
[Hrsg.], Kommentar zum Aargauer Steuergesetz,
4. Aufl., Muri 2015, § 102 N 9a) oder als Einkommen aus unbeweg-
lichem Vermögen qualifiziert wird (so H
ANS
-J
ÖRG
M
ÜLLHAUPT
, in:
K
LÖTI
-W
EBER
/S
IEGRIST
/W
EBER
, a.a.O., § 32 N 11; ebenso schon in
der Vorauflage.
4.2.
Dieses Resultat ergibt sich im Übrigen schon aufgrund der Prä-
misse, dass Einkommens- und Grundstückgewinnsteuerrecht nach
dem Willen des Bundesgesetzgebers - abgesehen von der Steuerfrei-
heit von Kapitalgewinnen aus der Veräusserung von beweglichem
Privatvermögen - ein lückenloses System der Einkommensbesteue-
rung darstellen (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 29. Februar 2012
[2C_622/2011] Erw. 4 mit Hinweisen). Die Lückenlosigkeit hat zur
Folge, dass Zuflüsse von aussen entweder der allgemeinen Einkom-
menssteuer oder der den Kantonen vorbehaltenen Grundstückge-
winnsteuer unterliegen (vgl. dazu M
ARKUS
R
EICH
, in: P
ETER
A
THANAS
/M
ARTIN
Z
WEIFEL
[Hrsg.], Kommentar zum Schweizeri-
schen Steuerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl., Basel 2002, Art. 7 N 16 ff. und
84). Dieses Bestreben nach Lückenlosigkeit des Systems ergibt sich
im Übrigen auch für das kantonale Recht aus § 25 Abs. 1 i.V.m. § 95
Abs. 2 StG.
Dabei bleibt zwar die Besteuerung der Grundstückgewinne aus-
drücklich den Kantonen überlassen (vgl. R
EICH
, a.a.O., Art. 12
N 1 f.). Dementsprechend hat der Bundesgesetzgeber aus steuer-
systematischen Gründen in Art. 7 Abs. 4 lit. c StHG bestimmte Arten
von Einkünften, welche traditionell, obwohl nicht direkt Einkünfte
aus der Veräusserung eines Grundstücks, der Grundstückgewinn-
2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
119
steuer unterliegen (z.B. Geschäfte über Mobilien, die jedoch hin-
sichtlich der Verfügungsgewalt über ein Grundstück wirtschaftlich
wie eine Veräusserung wirken), dem Bereich der Einkommenssteuer
ausdrücklich entzogen und allein der Grundstückgewinnsteuer
zugewiesen. Unter die dort genannten Einkünfte fällt die hier streiti-
ge Ablösungszahlung nicht. Abgesehen von den in Art. 7 Abs. 4 lit. c
StHG genannten Einkünften unterliegt, von hier nicht zutreffenden
Ausnahmen abgesehen (z.B. Steuerfreiheit von auf beweglichem Pri-
vatvermögen erzielten Kapitalgewinnen), jeder geldwerte Zufluss der
Einkommenssteuer. Es steht fest, dass der Verzicht auf die weitere
Ausübung des Wohnrechts am Grundstück GB Y. im Jahr 2012 bei
der Beschwerdegegnerin einen geldwerten Zufluss bewirkt hat. Auch
deshalb ist die Beschwerde gutzuheissen und das Urteil des
Spezialverwaltungsgerichts vom 18. September 2014 aufzuheben.
Damit wird ohne weitere Anordnung der Einspracheentscheid der
Steuerkommission Y. wiederhergestellt.
4.3.
Nicht zu übersehen ist, dass die Besteuerung der Abgeltung für
die Aufgabe des Wohnrechts als Einkommen bei der Beschwerde-
gegnerin im Ergebnis dazu führt, dass der Geldwert der weiteren
Nutzung der Liegenschaft jedenfalls für die Restdauer des Wohn-
rechts im Ergebnis nicht nur bei der Beschwerdegegnerin, sondern
darüber hinaus beim Erwerber - als Eigenmietwert, sofern er die Lie-
genschaft nach dem Auszug der Beschwerdegegnerin selbst nutzt,
oder als Mietertrag aus der Vermietung der Liegenschaft - nochmals
steuerlich erfasst wird. Aus steuersystematischer Sicht stellt sich da-
her die Frage, ob diese steuerliche Doppelbelastung der Vermö-
genszuflüsse aus der Nutzung bzw. der Entschädigung für die Auf-
gabe der Nutzung der Liegenschaft nicht durch eine der einkom-
menssteuerlichen Belastung der Beschwerdegegnerin korrespondie-
rende einkommenssteuerliche Entlastung des Erwerbers beseitigt
bzw. zumindest gemildert werden müsste. Darüber ist indessen hier,
wo nur die Besteuerung der Beschwerdegegnerin streitig war, nicht
zu entscheiden. | 1,358 | 1,100 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-16_2015-03-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-16.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-16.pdf | AGVE_2015_16 | null | nan |
4bb74a95-dccd-58a7-9046-b08bf8f4e34d | 1 | 412 | 870,400 | 1,049,241,600,000 | 2,003 | de | 2003
Verwaltungsgericht
298
[...]
71
Verspätetes Gesuch um Kostengutsprache.
- Die Verordnungsbestimmung (§ 19 Abs. 1 SHV; neu § 9 Abs. 4 SPV),
wonach bei verspäteter Gesuchseinreichung keine Verpflichtung der
Sozialbehörde zur Kostenübernahme besteht, lässt sich nicht auf das
Gesetz abstützen und ist daher ungültig. Nur die durch die Verspä-
tung entstandenen Mehrkosten dürfen abgelehnt werden.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 9. April 2003 in Sa-
chen M.H. gegen Entscheid des Bezirksamts B.
Aus den Erwägungen
6. a) Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, das Gesuch
um Kostengutsprache sei verspätet erfolgt. Dieses sei erst 7 Tage vor
Beginn der Lehre des Beschwerdeführers beim Gemeinderat H. ein-
getroffen, zu einem Zeitpunkt also, als der Lehrvertrag und der damit
verbundene stationäre Aufenthalt im Jugenddorf bereits beschlossene
Sache gewesen seien. Der Sozialbehörde H. seien so überhaupt keine
angemessenen Mitwirkungsrechte eingeräumt worden.
b) aa) Gesuche um Kostengutsprache sind in der Regel vor Ge-
währung der gewünschten Leistung an die zuständige Sozialbehörde
zu richten (§ 18 Abs. 1 SHV). § 19 Abs. 1 SHV sieht vor, dass ohne
Gutsprache oder bei verspäteter Einreichung des Gesuchs grundsätz-
lich keine Verpflichtung zur Kostenübernahme besteht. Nach § 19
Abs. 2 SHV kann jedoch eine nachträgliche Kostenübernahme aus-
nahmsweise erfolgen, wenn dem Kostenträger durch die verspätete
Meldung kein finanzieller Nachteil erwächst.
bb) Gemäss § 95 Abs. 2 KV sind die Gerichte gehalten, Erlas-
sen die Anwendung zu versagen, die Bundesrecht oder kantonalem
Verfassungs- oder Gesetzesrecht widersprechen (vgl. auch § 2
Abs. 3 VRPG). Jedes Gericht hat bei der Rechtsanwendung die Prü-
2003
Sozialhilfe
299
fung der anzuwendenden Normen auf ihre Übereinstimmung mit
dem höherrangigen formellen und materiellen Recht vorzunehmen
(AGVE 2001, S. 117; Kurt Eichenberger, Verfassung des Kantons
Aargau, Kommentar, Aarau 1986, § 95 N 21). Wird es durch das zu
vollziehende Gesetz nicht anders bestimmt, müssen Verordnungen
der Zielsetzung dieses Gesetzes folgen und dürfen dabei lediglich die
Regelung, die in grundsätzlicher Weise im Gesetz Gestalt angenom-
men hat, aus- und weiterführen, also ergänzen und spezifizieren; sie
dürfen dieses weder aufheben noch abändern (Ulrich Häfelin/Walter
Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Auflage, Zürich 2001,
Rz. 1860).
Die Voraussetzungen der materiellen Hilfe werden in
§ 12 f. SHG geregelt. Wenn ein Gesuch verspätet eingereicht wird,
braucht das Gemeinwesen die dadurch entstandenen Mehrkosten
nicht zu ersetzen, denn diese sind nicht notwendig (siehe § 13
Abs. 1 SHG), und die Sanktion begründet sich insoweit gleichsam
von selbst. Zusätzliche Einschränkungen der Leistungen, namentlich
von der Schwere, wie sie in § 19 SHV statuiert sind, müssten im
Gesetz selber vorgesehen sein. Andernfalls laufen sie auf eine Ver-
schärfung der Voraussetzungen des Leistungsanspruchs im Vergleich
zur gesetzlichen Regelung hinaus, die dem Verordnungsgeber nicht
zusteht. Im Sinne einer systematischen und gesetzeskonformen
Auslegung muss deshalb § 19 SHV (entgegen dem Wortlaut) so ver-
standen werden, dass eine nachträgliche Kostenübernahme erfolgen
muss,
soweit dem Kostenträger durch die verspätete Meldung kein
finanzieller Nachteil erwächst. Das unterstützungspflichtige Gemein-
wesen kann also lediglich die durch die verspätete Gesuchseinrei-
chung entstandenen Mehrkosten ablehnen.
c) (...) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gesuch um
Kostengutsprache wohl verspätet eingereicht wurde. Dies kann die
vollumfängliche Ablehnung indessen nicht rechtfertigen. Der Ge-
meinderat H. war zur Gutsprache für die sachlich begründeten Kos-
ten verpflichtet. | 829 | 682 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-71_2003-04-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-71.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-71.pdf | AGVE_2003_71 | null | nan |
4bc32384-35d2-5ee2-9265-de84eafb4b68 | 1 | 412 | 870,718 | 1,136,246,400,000 | 2,006 | de | 2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
159
[...]
33
Kantonsstrassenabstand einer Strassenreklame.
-
Verhältnis zwischen dem kantonalen und dem Bundesrecht
(Erw. 2.2).
-
Plakatanschlagstellen fallen unter § 111 Abs. 1 lit. a BauG; kein Ver-
stoss einer solchen Subsumtion gegen die Wirtschaftsfreiheit
(Erw. 2.3).
-
Fehlen der Voraussetzungen für eine Ausnahmebewilligung gemäss
§ 67 Abs. 1 BauG (Erw. 2.4).
-
Aspekte der rechtsgleichen Behandlung: Keine Ungleichbehandlung
gegenüber den temporären Abstimmungs- und Wahlplakaten
(Erw. 3.2), wohl aber gegenüber den Strassenreklamen, welche sich
innerhalb von Kantonsgrundstücken befinden (Erw. 3.3).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 24. Januar 2006 in Sa-
chen I. AG gegen Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
1. Die Beschwerdeführerin beabsichtigt, auf der innerorts gele-
genen Parzelle Nr. 1205 für wechselnde Fremdwerbung rechtwinklig
zur K 113 zwei doppelseitige, unbeleuchtete, auf einem Betonfun-
dament ruhende Plakatanschlagstellen im Format F 12 (283 cm x 130
cm) zu errichten. Die Montage der Reklametafeln soll freistehend er-
folgen, wobei der Abstand untereinander 10 m beträgt. Vom Fahr-
bahnrand der K 113 wären die Tafeln 3 m, von der Strassengrenze ca.
1.5 m entfernt.
2. 2.1. Die vom Strassenmark gemessenen Abstände betragen
für Bauten gegenüber Kantonsstrassen 6 m (§ 111 Abs. 1 lit. a
BauG). Es ist unbestritten, dass die geplanten beiden Reklametafeln
Bauten im Sinne von § 6 Abs. 1 lit. a und § 59 Abs. 1 BauG darstel-
2006
Verwaltungsgericht
160
len und dass sie mit einem Abstand von lediglich ca. 1.5 m von der
Strassengrenze, die gesetzliche Vorgabe unterschreiten.
2.2. Vorab ist die Frage des Verhältnisses zwischen dem kanto-
nalen und dem Bundesrecht zu klären, weil auch dieses Strassenab-
standsbestimmungen enthält. Die Beschwerdeführerin thematisiert
diese Problematik.
2.2.1. Im Bereich der für Motorfahrzeuge oder Fahrräder offe-
nen Strassen sind Reklamen und andere Ankündigungen untersagt,
die zu Verwechslung mit Signalen oder Markierungen Anlass geben
oder sonst, namentlich durch Ablenkung der Strassenbenützer, die
Verkehrssicherheit beeinträchtigen könnten (Art. 6 Abs. 1 SVG, Fas-
sung vom 20. März 1975). Im Rahmen seiner Ausführungskompe-
tenz (Art. 106 Abs. 1 SVG) hat der Bundesrat u.a. in der Signalisati-
onsverordnung vom 5. September 1979 (SSV; SR 741.21) Vollzugs-
bestimmungen erlassen. So werden in Art. 95 SSV die Begriffe der
Strassenreklamen sowie der Fremdreklamen, der Eigenreklamen und
der Firmenanschriften definiert. In Art. 96 Abs. 1 Satz 1 SSV werden
Strassenreklamen untersagt, welche die Verkehrssicherheit beein-
trächtigen, mit Signalen oder Markierungen verwechselt werden oder
durch ihre Ausgestaltung deren Wirkung herabsetzen könnten. In-
nerorts
dürfen Strassenreklamen selbstleuchtend oder angeleuchtet
sein (Art. 97 Abs. 1 SSV).
müssen freistehende Strassenreklamen mindestens 3 m vom
Fahrbahnrand entfernt sein; für freistehende Firmenanschrif-
ten genügt ein Abstand von 0.5 m (Art. 97 Abs. 2 SSV).
Ausserorts gelten zusätzliche Regeln; u.a. sind dort Fremdre-
klamen unzulässig (Art. 98 Abs. 1 SSV), und freistehende Eigenre-
klamen und Firmenanschriften müssen mindestens 3 m vom Fahr-
bahnrand entfernt sein (Art. 98 Abs. 5 SSV).
2.2.2. Gemäss Art. 82 Abs. 1 BV erlässt der Bund Vorschriften
über den Strassenverkehr. Diese Rechtssetzungskompetenz ist ab-
schliessend (siehe Art. 100 Abs. 2 SSV). Es wäre den Kantonen also
untersagt, im Bereich der Reklamen spezifische Strassenabstandsvor-
schriften zu schaffen; dies tut das Bundesrecht, indem es Grundsätze
aufstellt (Art. 6 Abs. 1 SVG, Art. 96 Abs. 1 Satz 1 SSV) und konkre-
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
161
tisierend Mindestabstände festlegt (Art. 97 Abs. 2 und Art. 98 Abs. 5
SSV). An dieser Kompetenzverteilung ändert nichts, dass die kanto-
nale Strassenhoheit im Rahmen des Bundesrechts gewahrt bleibt
(Art. 3 Abs. 1 SVG); die Strassenhoheit umfasst lediglich den Bau,
den Unterhalt und die Finanzierung der Strassen sowie die Ordnung
ihrer Benutzung (Erich Zimmerlin, Baugesetz des Kantons Aargau
vom 2. Februar 1971, 2. Auflage, Aarau 1985, § 17 N 1; René
Schaffhauser, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts,
Band I [Grundlagen, Verkehrszulassung und Verkehrsregeln], 2. Auf-
lage, Bern 2002, S. 32 Rz. 15).
Hinter den Strassenabstandsvorschriften des kantonalen Rechts
- seien es gesetzliche Normalabstände (§ 111 Abs. 1 BauG) oder
Baulinien (§ 18 Abs. 1 BauG) - stehen primär die öffentlichen Inter-
essen an der ungehinderten Abwicklung des Verkehrs (Verkehrssi-
cherheits- und Gesundheitspolizeiinteressen) sowie an der Erhaltung
des Planungsspielraums und der Landerwerbsmöglichkeit für die
Bedürfnisse des zukünftigen Strassenbaus; daneben können auch
siedlungsgestalterische Gesichtspunkte von Bedeutung sein (AGVE
2002, S. 245 mit Hinweis). Nach dem Gesagten entfällt bei der Be-
urteilung einer Ausnahmebewilligung gemäss § 67 Abs. 1 BauG im
Zusammenhang mit Strassenreklamen der Verkehrssicherheitsaspekt,
sofern der vom Bundesrecht vorgegebene Mindestabstand und die
übrigen Vorgaben eingehalten sind. Dies sieht auch der Regierungs-
rat nicht anders. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ist in ei-
nem Fall, der ein Baugesuch für zwei unbeleuchtete, doppelseitige
und freistehende Plakatwerbeträger im Abstand von 1 m vom Fahr-
bahnrand einer Strasse zum Gegenstand hatte, zum gleichen Schluss
gelangt. Konkret hat es erwogen, dass Art. 97 Abs. 2 SSV nur einen
Mindestabstand festlege, grösseren Strassenabständen des kantonalen
oder kommunalen Rechts jedoch grundsätzlich nicht entgegenstehe.
Bei der Verkehrssicherheit handle es sich aber im Zusammenhang
mit Strassenabstandsvorschriften um einen Aspekt, der bundesrecht-
lich geregelt sei und - mangels der Kompetenz zu ergänzender Ge-
setzgebung durch die Kantone - nicht durch kantonale oder kommu-
nale Vorschriften (zusätzlich) geregelt werden dürfe. Dies heisse ei-
nerseits, dass die im SVG und in der SSV statuierten verkehrssicher-
2006
Verwaltungsgericht
162
heitsrechtlich motivierten Reklamebestimmungen bei der Beurtei-
lung von Ausnahmebewilligungen nicht verschärft werden dürften.
Anderseits sei bei der Beurteilung der Verkehrsgefährdung die Praxis
zu Art. 6 SVG massgebend, da diese Vorschrift es untersage, Rekla-
men zu bewilligen, welche die Verkehrssicherheit gefährden könn-
ten. Es sei deshalb im Lichte des eidgenössischen Strassenverkehrs-
rechts zu prüfen, ob verkehrssicherheitsrechtliche Bedenken den
Bauabschlag rechtfertigten (BVR 2005, S. 323, 329 f.; siehe auch
Schaffhauser, a.a.O., Rz. 197).
2.3. 2.3.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, für sie, deren
Geschäftszweck überwiegend im Betrieb von Strassenreklamen be-
stehe, komme die Anwendung des gesetzlichen Strassenabstandes
immer einer ausserordentlichen Härte gleich. So verlören Strassenre-
klamen ihre Werbewirkung weitgehend, weil sie vom Verkehrsteil-
nehmer nicht mehr wahrgenommen würden bzw. schwer lesbar wä-
ren. Ein grösserer Abstand wäre zudem der Verkehrssicherheit ab-
träglich. Eine weitere Folge wäre die Verwendung grösserer Plakat-
formate, was aber wegen des Ortsbild- und Landschaftsschutzes auf
Schwierigkeiten stosse und auch darum undenkbar sei, weil die Be-
schwerdeführerin nicht nur speziell für den Kanton Aargau vergrös-
serte Plakatflächen herstellen lassen könne. Überdies beschränke Art.
96 Abs. 5 SSV die Reklamefläche auf 7 m
2
. Im Weitern könnten die
Plakatwerbegesellschaften kaum mehr entsprechende Pachtverträge
abschliessen, weil die Plakatstellen mitten ins Grundstück zu stehen
kämen. Bei Beachtung der Abstandsvorschrift müssten - entgegen
der Philosophie seriöser Werbegesellschaften - wieder vermehrt Pla-
kate an Hausfassaden angebracht werden. Strassenabstandsvor-
schriften und Baulinien seien aus diesen Gründen zur Anwendung
auf Strassenreklamen ungeeignet. Besonders inkongruent sei die re-
gierungsrätliche Praxis im Vergleich zu § 111 Abs. 1 lit. d und Abs. 4
BauG, seien doch dort für Einfriedigungen, welche massiver in Er-
scheinung träten als Plakatträger und zudem nur mit grösserem Auf-
wand wieder zu entfernen seien, geringere bzw. gar keine Abstände
vorgesehen. Der Sondertatbestand der Reklame sei bei der Eliminie-
rung der erleichterten Ausnahmevoraussetzungen gemäss § 139 des
Baugesetzes des Kantons Aargau vom 2. Februar 1971 (aBauG) of-
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
163
fensichtlich vergessen worden. Dies erhelle nur schon daraus, dass
eine mit der Revision des BauG beauftragte Arbeitsgruppe die Auf-
nahme einer erleichterten Ausnahmeregelung in Bezug auf Strassen-
abstände und Baulinien beantragen wolle.
2.3.2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine
Norm in erster Linie aus sich selbst heraus, d.h. nach Wortlaut, Sinn
und Zweck und den ihr zu Grunde liegenden Wertungen, aber auch
nach der Entstehungsgeschichte auszulegen. Auszugehen ist vom
Wortlaut, doch kann dieser nicht allein massgebend sein. Besonders
wenn der Text unklar ist oder verschiedene Deutungen zulässt, muss
nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichti-
gung weiterer Auslegungselemente, wie namentlich der Entste-
hungsgeschichte der Norm, ihrem Zweck und ihrem Zusammenhang
mit andern Bestimmungen (Bundesgericht, in: ZBl 102/2001, S. 84
und BGE 125 II 152, je mit Hinweisen; siehe auch AGVE 2003,
S. 191 f.).
2.3.3. Der Wortlaut von § 111 Abs. 1 BauG ist eindeutig: Es
werden Strassenabstände für Bauten generell (lit. a) und für Wälder
(lit. b) normiert und hernach Spezialvorschriften für Einfriedigungen,
Lärmschutzeinrichtungen und Bäume aufgestellt (lit. c und d). Eine
Plakatanschlagstelle ist unbestrittenermassen (vorne Erw. 2.1.) ein
"künstlich hergestelltes und mit dem Boden fest verbundenes Ob-
jekt" und somit eine Baute im Sinne von § 6 Abs. 1 lit. a BauG.
Schon unter diesem Aspekt fällt es schwer, der Beschwerdeführerin
zu folgen. Hinzu kommt, dass gerade die gesonderte Erwähnung der
Einfriedungen und Lärmschutzeinrichtungen zeigt, dass sich der Ge-
setzgeber zu Spezialfällen, für welche sich geringere Minimalab-
stände aufdrängen, Gedanken gemacht hat; es ist deshalb ohne weite-
res anzunehmen, die Plakatanschlagstellen fänden sich in § 111
Abs. 1 BauG ebenfalls separat aufgeführt, wenn dies für den Gesetz-
geber ein Thema gewesen wäre. In den Materialien findet sich denn
auch nicht der geringste Hinweis dafür, dass sie nicht unter § 111
Abs. 1 lit. a BauG fallen sollten (Botschaft des Regierungsrats an den
Grossen Rat vom 21. Mai 1990 zur Totalrevision des Baugesetzes
[im Folgenden: Botschaft], S. 43 zu § 92). Die Annahme der Be-
schwerdeführerin, die in Frage stehende Problematik sei vom Ge-
2006
Verwaltungsgericht
164
setzgeber seinerzeit "schlicht vergessen" worden, erweist sich somit
als unbegründet.
2.3.4. Die Beschwerdeführerin bringt vor, § 111 Abs. 1 lit. a
BauG verstosse, wenn er auf diese Weise ausgelegt werde, gegen das
Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 und 94 Abs. 1 BV); die
neue Praxis des Regierungsrats treffe sie "im wirtschaftlichen Mark"
und sei deshalb ganz generell unverhältnismässig hart. Sinngemäss
verlangt sie damit eine inzidente Normenkontrolle. Gemäss § 95 KV
sind die Gerichte gehalten, Erlassen die Anwendung zu versagen, die
Bundesrecht oder kantonalem Verfassungs- oder Gesetzesrecht wi-
dersprechen (AGVE 2001, S. 117 mit Hinweisen).
Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen
Grundlage, müssen durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt
sowie verhältnismässig sein (Art. 36 BV; siehe BGE 130 I 18 und
128 II 297, je mit Hinweisen; AGVE 1995, S. 398, und 2001, S. 129,
je mit Hinweisen). Eine gesetzliche Grundlage ist hier in Gestalt von
§ 111 Abs. 1 lit. a BauG klarerweise gegeben. Beim öffentlichen In-
teresse, das hinter der Statuierung der Strassenabstandsvorschrift
steht, geht es vor allem um die Wahrung des Planungsspielraums,
damit Geh- und Radwege, Busspuren, unterirdische Leitungen, Stras-
senverbreiterungen usw. auch später noch realisierbar sind (AGVE
2002, S. 245 mit Hinweis). Der Hinweis der Beschwerdeführerin
darauf, dass eine Bewilligung unter den Vorbehalt der entschädi-
gungslosen Beseitigung gestellt werden könne (§ 67 Abs. 3 BauG)
und ein Plakatträger in 20 Minuten entfernt sei, greift zu kurz; die
Erfahrung lehrt, dass Beseitigungsaufforderungen, selbst wenn sie
aufgrund eines Reverses erfolgen, meistens nicht widerstandslos be-
folgt werden, zumal wenn wirtschaftliche Interessen im Spiel sind.
Schliesslich wird auch dem Verhältnismässigkeitsprinzip in genügen-
der Weise Rechnung getragen. Das verfassungsmässige Gebot der
Verhältnismässigkeit (Art. 5 Abs. 2 BV) verlangt, dass die vom Ge-
setzgeber oder von der Behörde gewählten Massnahmen für das Er-
reichen des gesetzten Zieles geeignet, notwendig und für den Betrof-
fenen zumutbar sind. Der angestrebte Zweck muss in einem ver-
nünftigen Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln bzw. zu den zu sei-
ner Verfolgung notwendigen Beschränkungen stehen. Der Eingriff in
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
165
Grundrechte darf in sachlicher, räumlicher, zeitlicher und personeller
Hinsicht nicht einschneidender sein als erforderlich (BGE 128 II 297
f. mit Hinweisen). Dass die Festlegung eines Strassenabstands zur
Verwirklichung des Freihaltungsinteresses taugt und dafür auch er-
forderlich ist, bedarf keiner weiteren Erörterungen. Aber auch die
Zumutbarkeit für die Beschwerdeführerin erachtet das Verwaltungs-
gericht als gegeben. Anzuführen ist vorab, dass lediglich eine "Bau-
verbotszone" von 6 bzw. 4 m betroffen und zudem für Sonderfälle
eine Ausnahmemöglichkeit vorgesehen ist. Die Ausführungen über
den Verlust der Werbewirkung erscheinen übertrieben; Reklameta-
feln werden in aller Regel an übersichtlichen Stellen angebracht, d.h.
der Verkehrsteilnehmer kann sie aus einem relativ weiten Blickwin-
kel wahrnehmen. Auch die Bedenken bezüglich des Ortsbild- und
Landschaftsschutzes dürfen gewiss nicht überbewertet werden; er-
fahrungsgemäss gibt es innerhalb des Kantons - zumal für Fremdre-
klamen, die auf einen bestimmten Standort nicht angewiesen sind -
eine genügende Anzahl von Standorten, an welchen dieses öffentli-
che Interesse höchstens eine untergeordnete Rolle spielt. Und was
die behauptete Schwierigkeit anbelangt, Pachtverträge abzuschlies-
sen, geht es letztlich wohl nur um höhere oder geringere Pachtzinsen;
wirtschaftliche Erschwernisse allein aber reichen nicht aus, um von
einem relevanten Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit sprechen zu kön-
nen. Im Übrigen hat die Beschwerdeführerin die an der vorinstanzli-
chen Augenscheinsverhandlung gestellte Frage nach der wirtschaftli-
chen Tragbarkeit grundsätzlich bejaht und eingeräumt, dass "das
ganze Geschäft (...) einfach schwieriger" würde. Gesamthaft be-
trachtet, vermochte die Beschwerdeführerin jedenfalls nicht darzule-
gen, dass wegen des Zwangs, Strassenreklamen ausserhalb des Stras-
senabstands zu platzieren, die "freie Ausübung" ihrer Erwerbstätig-
keit nicht mehr gewährleistet ist (Art. 27 Abs. 2 BV).
2.4. 2.4.1. Eine Ausnahme kommt nur bei Vorliegen ausseror-
dentlicher Verhältnisse oder eines Härtefalls in Betracht, wenn es mit
dem öffentlichen Wohl sowie mit dem Sinn und Zweck der Rechts-
sätze vereinbar ist, unter billiger Abwägung der beteiligten privaten
Interessen (§ 67 Abs. 1 BauG). Danach hat sich die rechtsanwen-
dende Behörde nicht nur an die Voraussetzungen und Schranken zu
2006
Verwaltungsgericht
166
halten, die sich aus der betreffenden Regelung und der übrigen
Rechtsordnung ergeben. Sie muss sich überdies möglichst an den
Sinn und Zweck der gesetzlichen Ordnung, von der eine Ausnahme
gemacht werden soll, anlehnen. Die Umschreibung der Normtatbe-
stände richtet sich an durchschnittlichen Lebenssituationen aus. Dem
Gesetz liegt eine Interessenbeurteilung zugrunde, die der Gesetzge-
ber durchgeführt hat. Einschränkungen, die sich daraus ergeben,
muss der Betroffene hinnehmen. Der zu entscheidende Sachverhalt
kann indessen so ausserordentlich sein, dass angenommen werden
muss, der Gesetzgeber habe diesen Einzelfall stillschweigend ausge-
schlossen. Ein Sonderfall setzt demnach voraus, dass die konkrete
Sach- und Interessenlage wesentlich vom Regelfall abweicht; die Be-
hörde, die eine Ausnahme macht, hat zu prüfen, in welchem Masse
die Verhältnisse des Einzelfalls von der Interessenbeurteilung abwei-
chen, die der Gesetzgeber vorgenommen hat (AGVE 1997, S. 332
mit Hinweisen).
2.4.2. Der Regierungsrat hat im Wesentlichen erwogen, ausser-
ordentliche Verhältnisse könnten allenfalls vorliegen, wenn die Pla-
katträger an bereits im Unterabstand errichtete Bauten oder Bauteile
angelehnt werden könnten oder sich solche in der unmittelbaren
Umgebung befänden. Denkbar sei auch, dass bei besonderen topo-
graphischen Verhältnissen, etwa bei steil ansteigendem oder abfal-
lendem Terrain für das Anbringen standortgebundener Firmenan-
schriftstafeln eine Unterschreitung des Strassenabstandes geboten
sein könne. Derartige Verhältnisse lägen hier nicht vor; vielmehr
zeichneten sich die fraglichen Standorte gerade dadurch aus, dass die
Sicht von der K 113 auf die Plakatträger weder durch ein Gebäude
noch durch eine Kurve, Büsche oder Bäume eingeschränkt werde.
Eine besondere Härte sei ebenfalls auszuschliessen, denn die Ver-
weigerung der Baubewilligung am gewünschten Ort und der grund-
sätzlich einzuhaltende Kantonsstrassenabstand von 6 m schlössen
Plakatwerbung nicht prinzipiell aus. Erfahrungsgemäss liessen sich
auch an Kantonsstrassen für Plakatwerbung geeignete Standorte bei
im Unterabstand stehenden Bauten finden, wo ausserordentliche
Verhältnisse bejaht werden könnten. Fremdreklamen seien im Ge-
gensatz zu Firmenanschriften nicht auf die Realisierung auf einem
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
167
bestimmten Grundstück angewiesen. Dazu komme, dass die Be-
schwerdeführerin gegenüber allen andern Betroffenen nicht wesent-
lich stärker betroffen sei; vielmehr befinde sie sich in einer Normal-
situation, wie sie für Kantonsstrassenanstösser regelmässig zutreffe,
wenn auch verständlich sei, dass die gewählten Standorte den wirt-
schaftlichen Interessen der Beschwerdeführerin am besten entsprä-
chen. Würde ihrem Anliegen generell und unabhängig vom konkre-
ten Einzelfall mittels einer Ausnahmebewilligung Rechnung getra-
gen, würde im Ergebnis das Gesetz abgeändert. Dass weder die Ver-
kehrssicherheit noch die Anliegen der Ortsbildpflege gegen die Mon-
tage der Plakatträger sprächen, sei vor diesem Hintergrund unerheb-
lich.
Die Beschwerdeführerin erachtet die Unterschreitung des Stras-
senabstands durch Reklamen als mit dem öffentlichen Wohl sowie
mit Sinn und Zweck der Regelnormierung vereinbar; die öffentlichen
Interessen der Erhaltung des Planungsspielraums, der Verkehrssi-
cherheit sowie des Ortsbild- und Landschaftsschutzes seien hier nicht
relevant.
2.4.3. Es ist unbestritten, dass die erwähnten Anliegen der All-
gemeinheit hier nicht von Belang sind, dem Bauvorhaben mithin
keine öffentlichen Interessen entgegenstehen. § 67 Abs. 1 BauG
verlangt nun aber nicht nur eine Interessenabwägung, sondern setzt
(kumulativ) das Vorliegen ausserordentlicher Verhältnisse oder einer
unzumutbaren Härte voraus. Diese Voraussetzungen sind nicht er-
füllt. Besondere topographische Verhältnisse sind nach eigenen Aus-
sagen der Beschwerdeführerin nicht gegeben. Nach ihrer Meinung
könnte "lediglich die Gefährdung der Verkehrssicherheit aufgrund
der notwendigen grösseren Ablenkung der Autofahrer, um die Pla-
kate auch bei grösserem Abstand lesen zu können", ein Ausnahme-
grund sein. Soweit diese Feststellung überhaupt zutrifft, kommt ihr
aber allgemeine Bedeutung zu, womit das Vorliegen eines Sonder-
falls von vornherein ausgeschlossen ist. Liesse man eine solche Ar-
gumentation genügen, müsste die grosse Mehrzahl der im Strassen-
abstand geplanten Strassenreklamen bewilligt werden, womit die
Ausnahmebestimmung ausgehöhlt würde. Das Verwaltungsgericht
hat in seiner bisherigen Praxis stets strenge Anforderungen an das
2006
Verwaltungsgericht
168
Vorliegen einer Ausnahmesituation gestellt; eine solche darf nicht
leichthin angenommen werden, auch nicht in Bezug auf den gesetzli-
chen Strassenabstand (AGVE 2001, S. 296, 298; VGE III/25 vom
30. März 2005 [BE.2004.00160], S. 19 f.). Mithin erweist sich das
Bauvorhaben auch nicht gestützt auf § 67 BauG als bewilligungsfä-
hig.
3. 3.1. Die Beschwerdeführerin rügt unter Hinweis auf ent-
sprechende Merkblätter des Baudepartements (Abteilung Tiefbau)
eine "krasse Ungleichbehandlung im Vergleich mit den Wahl- und
Abstimmungsplakaten"; diese unterschritten den gesetzlichen Stras-
senabstand regelmässig. Der Regierungsrat merkt dazu an, dass sich
Wahlwerbung in qualitativer und zeitlicher Hinsicht von kommer-
ziellen Strassenreklamen unterscheide, so dass im Einzelfall gerade
aus Gründen der Rechtsgleichheit eine unterschiedliche Behandlung
von Wahlwerbung und kommerziellen Strassenreklamen geboten
sein könne.
3.2. 3.2.1. Der in Art. 8 BV verankerte Gleichheitssatz verlangt,
dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Unglei-
ches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Es
dürfen keine Unterscheidungen getroffen werden, für die ein ver-
nünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen, über die zu ent-
scheiden ist, nicht gefunden werden kann. Die Rechtsgleichheit ist
verletzt, wenn zwei gleiche tatsächliche Situationen ohne sachlichen
Grund unterschiedlich behandelt werden (BGE 129 I 125 f. und 357,
je mit Hinweisen; AGVE 1999, S. 210).
3.2.2. Das Merkblatt RM.TV.008 des Baudepartements (Abtei-
lung Tiefbau) vom 30. Juni 2004 ("Temporäre Abstimmungs- und
Wahlplakate") sieht u.a. folgende Regelungen vor:
"(...)
2. Abstand zur Strassenparzelle
Der Abstand von Abstimmungs- und Wahlplakaten zum Stra-
ssenrand beträgt minimal 3 m.
3. Anordnung
Abstimmungs- und Wahlplakate dürfen nur innerorts (innerhalb
der Ortschaftstafeln) oder nicht weiter als 100 m von der Ort-
schaftstafel entfernt im Ausserort angebracht werden.
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
169
(...)
5. Aufstellzeitpunkt und -dauer
Abstimmungs- und Wahlplakate dürfen
höchstens 8 Wochen
vor Beginn
der Wahl oder Abstimmung aufgestellt werden. Sie
sind
nach dem Anlass unverzüglich
zu beseitigen, ebenso die
Befestigungseinrichtungen.
6. Bewilligung
Abstimmungs- und Wahlplakate benötigen keine Zustimmung
des Kantons und keine Bewilligung der Gemeinde. Die Anfor-
derungen und Einschränkungen müssen jedoch zwingend ein-
gehalten und die unerlaubten Standorte beachtet werden."
Soweit sich die Kritik der Beschwerdeführerin auf die Ziffern 3
und 6 des Merkblatts bezieht, ist ihr entgegenzuhalten, dass es im
vorliegenden Falle weder um einen Standort im Ausserort noch um
die Bewilligungspflicht geht. Demgegenüber weist die Richtlinie,
dass Abstimmungs- und Wahlplakate zum Strassenrand einen Ab-
stand von minimal 3 m zu wahren haben (Ziff. 2 des Merkblatts),
zum vorliegenden Fall den erforderlichen sachlichen Zusammenhang
auf. Eine rechtserhebliche Ungleichheit liegt hierin aber darum nicht,
weil Abstimmungs- und Wahlplakate höchstens acht bis neun Wo-
chen aufgestellt bleiben dürfen, wogegen die Bewilligung für Stras-
senreklamen mit kommerzieller Fremdwerbung in der Regel auf un-
beschränkte Dauer ausgestellt wird. Vor diesem Hintergrund erweist
sich eine unterschiedliche Bewertung der Abstandsfrage zumindest
als vertretbar. Hinzu kommt, dass die Mitwirkung der politischen
Parteien bei der Meinungs- und Willensbildung der Stimmberech-
tigten - und die Aufstellung von Abstimmungs- und Wahlplakaten
gehört klarerweise in diesen Kontext - als
öffentliches
Interesse in
§ 67 Abs. 1 KV verankert ist.
3.3. Die Berufung auf das Gebot der rechtsgleichen Behandlung
ist nun aber unter einem andern Aspekt gerechtfertigt, den die Be-
schwerdeführerin anlässlich der Augenscheinsverhandlung vom
24. Januar 2006 zusätzlich eingebracht hat. Es steht nämlich fest,
dass der Kanton bei der Bewilligung von Strassenreklamen innerhalb
der ihm gehörenden Strassengrundstücke nur die Einhaltung des bun-
desrechtlichen Minimalabstands von 3 m ab Fahrbahnrand gemäss
2006
Verwaltungsgericht
170
Art. 97 Abs. 2 SSV verlangt. In all den Fällen also, in welchen die
Strassengrenze weiter als 3 m vom Fahrbahnrand entfernt liegt, dür-
fen Strassenreklamen im werbetechnisch günstigen (vorne
Erw. 2.3.1) und verkehrssicherheitsmässig unbedenklichen (vorne
Erw. 2.2.2) Abstand von 3 m vom Fahrbahnrand aufgestellt werden,
während sonst ein Abstand von 6 m von der Strassengrenze einge-
halten werden muss. Eine solche, letztlich von einer Zufälligkeit ab-
hängige Ungleichbehandlung grenzt an Willkür. Sie führt dazu, dass
auch in den Fällen, in welchen die Abstandsvorschrift von § 111
Abs. 1 lit. a BauG an sich zum Tragen kommt, grundsätzlich nur die
Einhaltung des Abstands von 3 m gemäss Art. 97 Abs. 2 SSV ver-
langt werden darf.
3.4. Ausnahmebewilligungen können mit einem Beseitigungs-
revers verknüpft werden (§ 67 Abs. 3 BauG). Die Beschwerdeführe-
rin ist mit einer solchen Auflage einverstanden.
4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Beschwerde
aus Gründen der rechtsgleichen Behandlung als stichhaltig erweist.
Ziffer 2.4 der "Bedingungen und Auflagen" der Baubewilligung vom
19. Juli 2004 ist aufzuheben. Im Übrigen ist der Beschwerdeführerin
von Amtes wegen ein Revers im Sinne von § 67 Abs. 3 BauG aufzu-
erlegen. | 5,838 | 4,541 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-33_2006-01-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-33.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-33.pdf | AGVE_2006_33 | null | nan |
4c45ff64-f419-559a-b09e-ea41e7410e0f | 1 | 412 | 870,628 | 1,022,976,000,000 | 2,002 | de | 2002
Opferhilfe
355
[...]
84
Rechtzeitigkeit des Gesuchs um Entschädigung und Genugtuung (Art. 16
Abs. 3 OHG).
-
Nichtanwendbarkeit der 2-jährigen Verwirkungsfrist, wenn das Opfer
nicht gehörig darauf hingewiesen wurde (Erw. 1, 2/a, b/aa).
-
Frist für die nachträgliche Einreichung des Gesuchs, nachdem das
Opfer von der abgelaufenen Verwirkungsfrist Kenntnis erhalten hat?
(Erw. 2/b/cc).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 18. Juni 2002 in Sa-
chen E.S. gegen Verfügung des Kantonalen Sozialdienstes.
Sachverhalt
E.S. wurde anlässlich eines Raubüberfalls auf die X.-Bank, wo
sie als Kassierin arbeitete, am 18. Januar 1999 von den Tätern unter
Waffengewalt gezwungen, den Tresor zu öffnen. Die Täter wurden
vom Obergericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 22. Juni
2001 u.a. des qualifizierten Raubes schuldig befunden und, unter
solidarischer Haftung, zur Zahlung von Fr. 5'000.-- als Genugtuung
2002
Verwaltungsgericht
356
an E.S. verurteilt. Mit Eingabe vom 22. November 2001 an den
Kantonalen Sozialdienst (KSD) meldete E.S. vorsorglich ihre An-
sprüche auf Genugtuung gemäss Art. 11 ff. OHG an. Sie führte aus,
sie sei erst im April 2001 durch das Obergericht Solothurn auf ihren
Anspruch aufmerksam gemacht worden, weshalb sie die Zweijahres-
frist für die Anmeldung der Genugtuungsansprüche nicht habe ein-
halten können. Mit Gesuch vom 21. Dezember 2001 beantragte sie
die Ausrichtung der gerichtlich zugesprochenen Genugtuungssumme.
Der KSD trat auf das Gesuch wegen Verspätung nicht ein.
Aus den Erwägungen
1. a) Gesuche um Entschädigung und Genugtuung sind gemäss
Art. 16 Abs. 3 OHG innert zwei Jahren nach der Straftat einzurei-
chen; andernfalls verwirkt das Opfer seine Ansprüche. Dass diese
Frist im vorliegenden Fall nicht eingehalten wurde, ist unbestritten.
b) Die Beratungsstellen leisten und vermitteln dem Opfer medi-
zinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe,
und sie informieren über die Hilfe an Opfer (Art. 3 Abs. 2 OHG).
Hierzu gehört auch die Information über die Verwirkungsfrist des
Art. 16 Abs. 3 OHG (vgl. BGE 123 II 244 = Pra 86/1997, S. 797).
Mangelt es an dieser Information und wird das Opfer dadurch
schuldlos an der rechtzeitigen Geltendmachung seiner Entschädi-
gungs- und Genugtuungsansprüche gehindert, so darf ihm nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung der unbenützte Ablauf der
zweijährigen Verwirkungsfrist nach Treu und Glauben nicht entge-
gengehalten werden (BGE 123 II 244 ff.).
2. a) Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die Beschwerde-
führerin weder durch die Polizei noch durch die Opferhilfe Aargau
(als Beratungstelle im Sinne von Art. 3 OHG) auf die Verwirkungs-
frist des Art. 16 Abs. 3 OHG hingewiesen wurde. Das Informations-
schreiben der Opferhilfe Aargau vom 28. Januar 1999, das die Be-
schwerdeführerin erhielt, machte wohl auf die Hilfeleistungen der
Opferhilfe und auf die Möglichkeit eines Beratungsgesprächs auf-
merksam, enthielt aber keinen Hinweis auf die fragliche Frist.
2002
Opferhilfe
357
b) aa) In der angefochtenen Verfügung wird die Ansicht vertre-
ten, wenn die Beschwerdeführerin auf das angebotene Beratungsge-
spräch verzichtet habe, sei sie selber schuld, dass sie nichts von der
Zweijahresfrist erfahren habe. Damit setzt sich der KSD in offenen
Widerspruch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Die Informa-
tion ist eine "Bringschuld" der Beratungsstelle, nicht eine "Hol-
schuld" des Opfers. Die Argumentation des KSD wäre höchstens
dann nachvollziehbar, wenn im Informationsschreiben ausdrücklich
darauf hingewiesen worden wäre (was indessen nicht zutrifft), dass
beim angebotenen Beratungsgespräch auch wesentliche Informatio-
nen für die Durchsetzung von Entschädigungs- und Genugtuungsan-
sprüchen gegeben würden. Zu Recht weist die Beschwerdeführerin
darauf hin, dass sie ein Beratungsgespräch für unnötig habe erachten
dürfen, ohne damit auf Genugtuungsansprüche zu verzichten.
Es geht nicht darum, der Opferhilfe Aargau Vorwürfe zu ma-
chen - oder eben zu ersparen, indem die Schuld dem Opfer zuge-
schoben wird. Entscheidend für die ausnahmsweise Nichtberücksich-
tigung der Verwirkungsfrist ist nicht primär ein vorwerfbares Ver-
schulden der Beratungsstelle oder einer anderen Behörde (hiervon
scheint der KSD auszugehen), sondern die Schuldlosigkeit des Op-
fers. Im Übrigen hat die Opferhilfe in der Zwischenzeit die Informa-
tionslücke erkannt und auf vernünftige, einfache Weise Abhilfe ge-
schaffen, indem das Informationsschreiben mit dem Hinweis auf die
Zweijahresfrist ergänzt wurde.
cc) In seiner Vernehmlassung verweist der KSD neu auf den
Umstand, dass die Beschwerdeführerin spätestens anfangs April
2001 auf die Bestimmungen von Art. 11 ff. OHG hingewiesen wor-
den sei und danach noch über ein halbes Jahr zugewartet habe, bis
sie ihre Ansprüche bei der zuständigen Opferhilfebehörde angemel-
det habe. Die Beschwerdeführerin führte in ihrer Beschwerde dazu
selber aus, sie habe am 7. April 2001 zusammen mit dem Aufgebot
für die Hauptverhandlung im Strafverfahren ein Meldeblatt über die
Opferhilfe erhalten zusammen mit der Aufforderung, allfällige An-
sprüche gegenüber den Tätern schriftlich bekannt zu geben.
Kommt dem Opfer, das Entschädigungs- und Genugtuungsan-
sprüche geltend machen will, zur Kenntnis, dass die zweijährige
2002
Verwaltungsgericht
358
Verwirkungsfrist bereits abgelaufen ist, kann es mit der Geltendma-
chung seiner Ansprüche nicht beliebig lang zuwarten und sich noch
nach Jahr und Tag auf ungenügende Information berufen. Das OHG
statuiert für diesen Fall keine Nachfrist, und auch das Bundesgericht
hat sich zu diesem Problem, soweit ersichtlich, noch nicht äussern
müssen. Es könnte nahe liegen, die 60-tägige Nachfrist gemäss
Art. 139 OR heranzuziehen und analog anzuwenden. Im vorliegen-
den Fall kann dies aus den nachfolgenden Gründen offen bleiben.
Im Schreiben des Obergerichts des Kantons Solothurn vom
3. April 2001 wurde der Beschwerdeführerin Frist angesetzt, um ihre
allfälligen Ansprüche gegenüber den Tätern schriftlich bekannt zu
geben. Im Zusammenhang damit wurde auf ein beigelegtes Merk-
blatt des Obergerichts zum OHG verwiesen. In diesem Merkblatt
(das für die Bedürfnisse des Strafverfahrens konzipiert ist) wird ein-
leitend, bei der Umschreibung des Geltungsbereichs des OHG, in
einem Satz darauf hingewiesen, dass das "Begehren um Entschädi-
gung oder Genugtuung innert 2 Jahren nach der Tat in dem Kanton
zu stellen (sei), in dem die Tat verübt wurde". Gerade in Verbindung
mit der bereits erwähnten Aufforderung, (Entschädigungs- oder Ge-
nugtuungs-)Ansprüche gegenüber den Tätern innert Frist beim Ober-
gericht geltend zu machen, war dieser Hinweis jedoch nicht genü-
gend klar, um eine Nachfrist in Gang zu setzen; es lässt sich nicht
sagen, die Beschwerdeführerin als Nichtjuristin hätte daraus eindeu-
tig schliessen müssen, dass sie neben der Eingabe ans Obergericht
(als Forderung gegenüber den Tätern) auch noch eine solche an die
Opferhilfe Aargau zu richten habe, um nicht der Möglichkeit, die
Genugtuungsleistung subsidiär im Rahmen der Opferhilfe zu erhal-
ten, definitiv verlustig zu gehen. Die Aufforderung des Obergerichts,
adhäsionsweise Zivilansprüche geltend zu machen, verbunden mit
dem Hinweis auf das OHG, war geeignet, bei der Beschwerdeführe-
rin den Eindruck zu erwecken, es genüge, ihre Ansprüche insgesamt
beim Obergericht anzubringen. (...). Es kann der Beschwerdeführerin
daher nicht zum Verschulden gereichen, dass sie sich erst nach Zu-
stellung des Strafurteils des Obergerichts, worin ihr eine - bei den
Tätern nicht eintreibbare - Genugtuungssumme zugesprochen wurde,
an den KSD wandte.
2002
Opferhilfe
359
c) Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführerin
der Ablauf der zweijährigen Verwirkungsfrist nicht entgegengehalten
werden darf. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde. | 1,800 | 1,449 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-84_2002-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-84.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-84.pdf | AGVE_2002_84 | null | nan |
4c56538f-efc7-5a21-a705-a4494a120438 | 1 | 412 | 870,985 | 973,209,600,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsgericht
326
[...]
74
Intransparente Kostenermittlung.
- Will die Vergabestelle die Betriebs- oder Servicekosten in die Berech-
nung miteinbeziehen, so muss sie in den Ausschreibungsunterlagen
jedenfalls den Zeitraum angeben, für den die Kostenberechnung
erfolgt.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 29. November 2000 in
Sachen H. AG gegen Verfügung des Kantonsspitals Baden.
Aus den Erwägungen
4. Die Vergabebehörde hat den Grundsatz der Transparenz
vorliegendenfalls noch in einem weiteren Punkt verletzt, wie die
folgenden Ausführungen zeigen:
a) Zuschlagskriterium sind gemäss den Ausschreibungsunter-
lagen u. a. die ,,Kosten". Welche Aspekte unter dem Gesichtspunkt
,,Kosten" im Einzelnen bewertet werden sollen, lässt sich den Aus-
schreibungsunterlagen nicht entnehmen. Im Rahmen der Bewertung
hat die Vergabestelle die ,,Kosten" dann in die Teilaspekte ,,An-
schaffungskosten", ,,Betriebskosten" und ,,Unterhaltskosten" unter-
teilt. Die Betriebskosten für die einzelnen Fabrikate wurden pro
Waschgang, pro Tag und pro Jahr berechnet. In den Offertvergleich
mit einbezogen wurden schliesslich die Betriebskosten für zehn
Jahre. Auch die Unterhalts- bzw. Servicekosten wurden für zehn
Jahre berechnet.
b) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin lässt sich
der Einbezug der Betriebs- und Servicekosten nicht grundsätzlich
beanstanden. Die Vergabestelle ist nicht verpflichtet, ausschliesslich
auf die Investitionskosten, d. h. den Preis, abzustellen. Auch der
2000
Submissionen
327
Kriterienkatalog in § 18 Abs. 2 SubmD erwähnt ausser dem Preis die
Betriebs- und Unterhaltskosten als mögliche Zuschlagskriterien. Die
Anbietenden mussten im vorliegenden Fall aufgrund der ,,offenen"
Bezeichnung des Preiskriteriums als ,,Kosten" grundsätzlich damit
rechnen, dass bei der Bewertung nicht nur die reinen Anschaffungs-
kosten (Preis), sondern weitere Kostenelemente berücksichtigt wür-
den. Nur wenn die Vergabestelle statt des Kriteriums ,,Kosten" das
Kriterium ,,Preis" bekannt gegeben hätte, könnte sich die Frage
stellen, ob die Vergabestelle dabei im von der Beschwerdeführerin
behaupteten Sinne zu behaften ist.
Bezüglich der Kosten sind in den Ausschreibungsunterlagen
allerdings keine weiteren Anhaltspunkte vorhanden; insbesondere
finden sich keinerlei Hinweise, für welche Zeitdauer die Betriebs-
und Unterhaltskosten miteinbezogen werden sollen. Die Anbietenden
hatten in Bezug auf die Betriebskosten auch keine eigenen Angaben
bzw. Berechnungen zu machen; in den Ausschreibungsunterlagen
wurden diesbezüglich keine konkreten Fragen gestellt. Erst mit
Schreiben vom 15. Juni 2000 wurden die Anbietenden aufgefordert,
für die Erstellung einer Betriebskostenrechnung ,,zusätzli-
che/nochmalige" Angaben zu machen.
c) aa) Die Vergabestelle hat in den Offertvergleich die Gesamt-
kosten für zehn Jahre miteinbezogen. Diese betragen beim Angebot
der Beschwerdeführerin Fr. 407'305.-- (ohne Wärmepumpe) und
Fr. 398'764.-- (mit Wärmepumpe). Beim Angebot der M. AG belau-
fen sich die Gesamtkosten auf Fr. 368'059.-- (ohne Wärmepumpe)
und auf Fr. 390'210.-- (mit Wärmepumpe).
(Tabellarische Kostenzusammenstellung mit/ohne Wärme-
pumpe)
Bei den Anschaffungskosten erweist sich das Angebot der Be-
schwerdeführerin sowohl bei der Offerte ohne Wärmepumpe als
auch bei der Offerte mit Wärmepumpe deutlich günstiger als die ent-
2000
Verwaltungsgericht
328
sprechenden Angebote der M. AG. Der Preisunterschied beträgt
Fr. 12'665.86 (ohne WP) bzw. Fr. 14'0404.14 (mit WP). Bei den
Gesamtkosten liegen hingegen die beiden Offerten der M. AG vorne;
sie sind Fr. 39'246.-- (ohne WP) bzw. Fr. 8'554.-- (mit WP) günstiger
als diejenigen der Beschwerdeführerin. Ausschlaggebend für die
unterschiedliche Rangfolge gegenüber den Anschaffungskosten sind
die auf 10 Jahre berechneten Betriebskosten. Die Vergabestelle hat
für die streitbetroffenen Geschirrwaschanlagen die folgenden Be-
triebskosten berechnet:
(Tabellarische Betriebskostenrechnung mit/ohne Wärmepumpe)
bb) Die jährliche Betriebskostendifferenz zwischen der Be-
schwerdeführerin und der M. AG beträgt Fr. 5'222.70 (ohne WP)
bzw. Fr. 2'327.35 (mit WP). Legt man der Gesamtkostenberechnung
(ohne Wärmepumpe) nun die Betriebskosten für ein Jahr oder für
zwei Jahre zugrunde, so bleibt das Angebot der Beschwerdeführerin
wegen der niedrigeren Anschaffungskosten das kostengünstigere.
Beim Angebot mit Wärmepumpe bleibt das Angebot der Beschwer-
deführerin insgesamt kostengünstiger, wenn man die Betriebskosten
für maximal sechs Jahre miteinberechnet; erst dann vermögen sich
die höheren Betriebskosten zu Ungunsten der Beschwerdeführerin
auszuwirken. Mit dem Einbezug der Betriebskosten in die Kostenbe-
rechnung entsteht für die Vergabestelle somit klarerweise eine Ma-
nipulationsmöglichkeit, die mit einem transparenten und fairen Ver-
gabeverfahren unvereinbar ist. Je nach der Dauer, für die sie die Be-
triebskosten berechnet, kann sie die bei den Anschaffungskosten
bestehende Differenz ausgleichen und auf diese Weise einen Anbieter
bevorzugen oder benachteiligen. Die Vergabestelle hält in der
Vernehmlassung denn auch an sich zutreffend fest, sie hätte die Be-
triebskostenrechnung auch über 20 Jahre erstellen können, wodurch
der Preisvorteil der M. AG noch deutlicher ausgefallen wäre. Die den
Betriebskosten zugrunde gelegten zehn Jahre entsprechen wohl der
2000
Submissionen
329
von der Vergabestelle angenommenen Lebensdauer der Geschirr-
waschanlage. Für den Kostenvergleich erscheint diese Dauer aber
nicht zwingend; es handelt sich um eine Annahme. Die Vergabestelle
hätte die Betriebskosten zu Vergleichszwecken genauso gut auch nur
für ein Jahr (mit oder ohne Wärmepumpe) oder für fünf Jahre (mit
Wärmepumpe) berechnen können, wodurch die Beschwerdeführerin
preislich im Vorteil gewesen wäre. Will die Vergabestelle daher die
Betriebskosten miteinbeziehen, so muss sie in den Ausschreibungs-
unterlagen jedenfalls den Zeitrahmen angeben, für den die Kosten-
berechnung erfolgt, um allfällige Manipulationsmöglichkeiten von
vornherein auszuschliessen. Zweckmässigerweise wird sie die Be-
triebskostenberechnung auch von den Anbietenden selbst als Be-
standteil des Angebots verlangen und diese Angaben dann im Rah-
men der Offertbereinigung nachprüfen. Auf diese Weise wird sicher-
gestellt, dass die Vergabestelle nicht von falschen, nicht dem Ange-
bot entsprechenden Annahmen ausgeht. Im vorliegenden Fall erüb-
rigt es sich, auf die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte
Unrichtigkeit der ermittelten Betriebskosten näher einzugehen. Nach
Auffassung des Verwaltungsgerichts erscheint die vorgebrachte Kri-
tik allerdings nicht völlig unbegründet.
d) Das soeben Ausgeführte gilt grundsätzlich auch für die Ser-
vicekosten. Auch hier wurde in den Ausschreibungsunterlagen un-
zulässigerweise nirgends darauf hingewiesen, dass der Kostenbe-
rechnung die Service-Kosten für zehn Jahre zugrunde gelegt würden.
e) Nur mehr am Rande bleibt festzustellen, dass es dem Grund-
satz der Transparenz wesentlich besser entspricht, wenn die Vergabe-
stelle den Preis, d. h. die Anschaffungs- oder Investitionskosten, und
die Betriebs- und Unterhaltskosten als zwei verschiedene Zuschlags-
kriterien behandelt (wie dies im Übrigen auch § 18 Abs. 2 SubmD
vorsieht) und getrennt bewertet.
f) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die dem Verga-
beentscheid zugrunde gelegte Kostenermittlung in zu wenig transpa-
renter und in mit willkürlichen Elementen behafteter Weise erfolgt
2000
Verwaltungsgericht
330
ist, weshalb sich auch aus diesem Grund die Wiederholung des Ver-
fahrens rechtfertigt. | 1,680 | 1,312 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-74_2000-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-74.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-74.pdf | AGVE_2000_74 | null | nan |
4c9b829d-544d-594b-9bc1-009df696bc81 | 1 | 412 | 871,598 | 1,025,481,600,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
194
[...]
59
Anstaltseinweisung eines Unmündigen; Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts;
Beschwerdelegitimation.
-
Die Unterbringung eines Unmündigen in einer Anstalt im Rahmen ei-
nes
Obhutsentzugs
gilt
als
fürsorgerische
Freiheitsentziehung
(Erw. 1/a).
-
Die Unterbringung eines Kindes in einer nicht Familienstruktur auf-
weisenden Institution gilt als Anstaltseinweisung (Erw. 1/b).
2002
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
195
-
Das Verwaltungsgericht ist zuständig für Beschwerden gegen Anstalts-
einweisungen von Unmündigen (Erw. 2/a).
-
Kinder, welche das 16. Altersjahr zurückgelegt haben, sowie ihnen
nahestehende Personen sind zur Beschwerde gegen eine Anstaltsein-
weisung legitimiert (Erw. 2/c).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 9. Juli 2002 in Sachen
B. u. J.R. gegen Präsidialverfügung der Vormundschaftsbehörde A.
Aus den Erwägungen
1. a) Wird ein unter elterlicher Sorge stehendes Kind im Rah-
men eines Obhutsentzugs nach Art. 310 Abs. 1 ZGB von einer Be-
hörde in einer
Anstalt
untergebracht, so ist dies als fürsorgerische
Freiheitsentziehung zu qualifizieren. Gemäss Art. 314a Abs. 1 ZGB
gelten diesfalls die Vorschriften über die gerichtliche Beurteilung
und das Verfahren bei fürsorgerischer Freiheitsentziehung gegenüber
mündigen und entmündigten Personen sinngemäss. Die mit dem Ob-
hutsentzug verbundene Anstaltseinweisung kann deshalb gemäss
Art. 397d Abs. 1 ZGB innert 10 Tagen direkt beim Richter angefoch-
ten werden; die Vormundschaftsbeschwerde ist durch diesen spe-
zielleren Instanzenzug ausgeschlossen (BGE 121 III 306 ff.; 109 II
388 f. = Pra 73/1984, S. 264 f.; Peter Breitschmid, in: Basler Kom-
mentar ZGB I/1, Basel/Genf/München 1996, Art. 310 N 12 und
N 20, Art. 314a N 8; Cyrill Hegnauer, Heimerziehung als
Massnahme
des
Kindesschutzes
und
der
fürsorgerischen
Freiheitsentziehung, in: ZVW 1988, S. 54 ff.). (...)
b) Der vom Gesetz nicht definierte Begriff "Anstalt" im Sinne
von Art. 314a Abs. 1 ZGB ist in einem sehr weiten Sinne zu verste-
hen. Darunter sind nicht nur diejenigen Einrichtungen zu verstehen,
die man im täglichen Sprachgebrauch als Anstalten bezeichnet,
sondern alle möglichen "Versorgungseinrichtungen", in welchen
Personen ohne oder gegen ihren Willen persönliche Fürsorge unter
Entzug ihrer Freiheit erbracht wird (BGE 121 III 308 mit Hinwei-
sen). Wird das Kind statt in Familienpflege in einer nicht Familien-
2002
Verwaltungsgericht
196
struktur aufweisenden Institution (meist mit sogenannten "Wohn-
gruppen") untergebracht, unterliegt es in der Regel einer strengeren
Aufsicht und stärkerer Einschränkung der Kontakte zu Dritten als der
Durchschnitt seiner Altersgenossen; es liegt darin die Konkretisie-
rung des gesetzlich nicht definierten Begriffs der Anstalt (Breit-
schmid, a.a.O., Art. 310 N 12).
2. a) Beschwerden gegen fürsorgerische Freiheitsentziehungen
werden durch das Verwaltungsgericht beurteilt (§ 52 Ziff. 14 VRPG;
Art. 397d ZGB und § 67o EG ZGB). Für Beschwerden, die sich
ausschliesslich gegen die Entziehung der elterlichen Obhut als solche
und nicht gegen eine Anstaltseinweisung richten, ist hingegen das
Verwaltungsgericht sachlich nicht zuständig; diesfalls wäre Verwal-
tungsbeschwerde bei der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde
gemäss Art. 420 Abs. 2 ZGB zu erheben (BGE 109 II 388 f.; Breit-
schmid, a.a.O., Art. 310 N 19 f.; Art. 314a N 8).
b) (...)
c) Gemäss Art. 314a Abs. 2 und Art. 405a Abs. 3 ZGB kann das
Kind nicht selber die gerichtliche Beurteilung verlangen, wenn es das
16. Altersjahr noch nicht zurückgelegt hat. Jedoch können die Eltern
(bzw. der Vormund) als gesetzliche Vertreter Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde einreichen; allenfalls kann dem Kind bei einer Interessen-
kollision auch ein Prozessbeistand bestellt werden. Nach Art. 397d
Abs. 1 ZGB ist zudem in allen Fällen (unabhängig vom Alter des
Kindes) eine nahestehende Person legitimiert, den Richter anzurufen.
Nach gefestigter Rechtsprechung gehören dazu nicht nur die engsten
Angehörigen (Eltern, Geschwister), sondern auch weitere Bezugs-
personen wie Lehrer, Ärzte, Pfarrer oder Sozialhelfer (Eugen Spirig,
in: Zürcher Kommentar, Art. 397a - 397f ZGB, Zürich 1995,
Art. 397d N 26). | 1,043 | 840 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-59_2002-07-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-59.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-59.pdf | AGVE_2002_59 | null | nan |
4cbbdb67-e46b-5bc9-bc53-7cfa92d14049 | 1 | 412 | 871,350 | 946,684,800,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsrechtspflege
351
[...]
83
Nichtigkeit einer fehlerhaften Verfügung? Rechtliches Gehör.
- Nichtigkeit beim Zusammentreffen mehrerer inhaltlicher und ver-
fahrensmässiger Fehler, zumal wenn zweifelhaft ist, ob die Behörde
gutgläubig gehandelt hat (Erw. 2, 3).
- Handlungen des Gemeindesteueramts sind der Gemeindesteuerkom-
mission zuzurechnen; Fehler im Veranlagungsverfahren sind gesamt-
haft zu bewerten (Erw. 3/a).
- Die beabsichtigte Veranlagung aufgrund einer Vermögensvergleichs-
rechnung ist dem Steuerpflichtigen zuvor bekannt zu geben
(Erw. 3/b).
Vgl. AGVE 2000, S. 159, Nr. 42 | 151 | 121 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-83_2000 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-83.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-83.pdf | AGVE_2000_83 | null | nan |
4d08218e-6966-56b3-bfd7-c50219c90b7b | 1 | 412 | 871,649 | 1,283,472,000,000 | 2,010 | de | 2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
175
[...]
32
Gebäudeabstand nach § 20 Abs. 2 ABauV.
Wo besondere Gemeindevorschriften fehlen, bleibt es bei der kantonalen
Grundordnung, wonach der Gebäudeabstand der Summe der Grenzab-
stände entsprechen muss.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 21. September 2010 in
Sachen A. und B. gegen X. und Y. (WBE.2010.123).
Aus den Erwägungen
1.
Streitgegenstand bildet die Einhaltung des Gebäudeabstands des
projektierten Einfamilienhauses der Beschwerdegegner auf der Par-
zelle Nr. (...) zum Wohnhaus (Gebäude Nr. [...]) der Beschwerde-
führer auf der nördlich angrenzenden Parzelle Nr. (...).
2.
2.1.
Die Bestimmung der Gebäudeabstände liegt in der Kompetenz
der Gemeinden (§ 47 Abs. 1 BauG). Die Bau- und Nutzungsordnung
2010
Verwaltungsgericht
176
der Gemeinde Rohr (nach Gemeindefusion per 1. Januar 2010:
Aarau, Ortsteil Rohr; BNO) vom 22. Oktober 2007 / 27. Februar
2008 enthält keine entsprechenden Normen. Fehlen besondere Vor-
schriften, ist der Gebäudeabstand gleich der Summe der vorgeschrie-
benen Grenzabstände (§ 20 Abs. 2 ABauV). Ein vereinbartes Näher-
baurecht (vgl. § 47 Abs. 2 BauG) besteht zwischen den Partei-en
nicht.
2.2.
Gemäss geltendem Bauzonenplan der Gemeinde Rohr (ab 1. Ja-
nuar 2010: Aarau, Ortsteil Rohr) liegen die beiden Parzellen in der
Wohnzone W2. Nach § 4 Abs. 1 BNO beträgt in dieser Zone der klei-
ne Grenzabstand 4 m und der grosse 6 m.
3.
Unbestrittenermassen beträgt der Abstand des projektierten
Bauvorhabens zur nördlichen, mit den Beschwerdeführern gemein-
samen Grenze 4 m und hält den vorgeschriebenen kleinen Grenzab-
stand ein. Deren Wohnhaus auf der nördlichen Parzelle weist an der
engsten Stelle einen Abstand von 5,25 m zu dieser Grenze auf. Der
Abstand zwischen dem projektierten Gebäude der Beschwerdegegner
und dem Wohnhaus der Beschwerdeführer beträgt somit 9,25 m. Die
Südfassade des Wohnhauses der Beschwerdeführer liegt auf der
Hauptwohnseite, die für den grossen Grenzabstand massgebend ist
(§ 17 Abs. 2 ABauV). Das Wohnhaus der Beschwerdeführer unter-
schreitet gegen Süden den heute massgebenden Grenzabstand von
6 m um 0.75 m.
Zu klären ist, ob die Beschwerdegegner mit ihrem Vorhaben um
0.75 m zurückweichen müssen, obwohl sie den Grenzabstand ein-
halten.
4. (...)
5.
5.1.
Nach dem Wortlaut von § 20 Abs. 2 ABauV, der mit § 164
Abs. 2 Satz 1 aBauG in der bis 31. Dezember 1993 geltenden Fas-
sung wörtlich übereinstimmt, ist der Gebäudeabstand in Ermange-
lung besonderer Vorschriften gleich der Summe der vorgeschriebe-
nen Grenzabstände. Die Vorinstanz geht indessen davon aus, dass die
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
177
Norm in jenen Fällen nicht bzw. nie anwendbar sei, in denen ein Alt-
bau mit zu geringem Grenzabstand vorhanden sei. Es entspreche
Sinn und Zweck von § 20 Abs. 2 ABauV sowie der gängigen Praxis
der kantonalen Verwaltung, dass ein Zweitbau "so oder so" - unter
Vorbehalt eines zwingenden entgegenstehenden Interesses - nur den
Grenzabstand und nicht den vollen Gebäudeabstand (als Summe der
Grenzabstände) einzuhalten habe. Dies gelte auch, wenn die kom-
munale Nutzungsordnung wie hier keine anders lautende Bestim-
mung enthalte. Mit "besonderen Vorschriften" seien primär zonen-
spezifische abweichende Werte bzw. Berechnungen in der BNO ge-
meint. Die Vorinstanz stützt sich bei ihrer Auffassung über Sinn und
Zweck der Bestimmung massgeblich auf eine Kommentarstelle bei
Zimmerlin zu § 164 Abs. 2 aBauG, wonach der Grund der Ab-
hängigkeit zwischen Gebäude- und Grenzabständen darin liege, dass
jeder Bauherr auf seinem Grundstück die Grenzabstände einhalten
müssen solle, also nicht "auf Kosten des Nachbarn" bauen dürfe.
Habe ein Altbau einen zu geringen Grenzabstand, müsse ein Neubau
auf der Nachbarparzelle seinerseits nicht einen grösseren als den
vorgeschriebenen Grenzabstand einhalten, was bewirke, dass bis zur
Ersetzung des Altbaus ein kürzerer Gebäudeabstand als Summe der
Grenzabstände in Kauf genommen werde (Erich Zimmerlin, Kom-
mentar zum Baugesetz des Kantons Aargau vom 2. Februar 1971,
2. Auflage, Aarau 1985; §§ 163-165 N 9).
Auch die Beschwerdegegner berufen sich zu ihren Gunsten auf
diese Literaturstelle. Es sei unerheblich, ob die Unterschreitung des
Grenzabstands der bestehenden Baute infolge einer Rechtsänderung
oder infolge einer Veränderung des Sachverhalts (Parzellierung) er-
folgt sei. Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Eigentümer der bereits
erstellten Baute in der einen Konstellation den Nachteil zu tragen
habe und in der andern nicht. In beiden Fällen müsse der Zweit-
bauende nur den Grenzabstand einhalten. Diese Rechtsauffassung
gehe auch aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts, etwa aus
AGVE 2003, S. 233, AGVE 2001, S. 294, sowie dem Verwaltungs-
gerichtsentscheid VGE III/77 vom 2.
November 2009
(WBE.2008.378), S. 5, hervor.
2010
Verwaltungsgericht
178
Der Stadtrat Aarau (vormals Rohr) hält sogar dafür, § 20 Abs. 2
ABauV entfalte überhaupt keine Wirkung, weil in der BNO Rohr
keine Gebäudeabstände festgelegt seien. Der Gebäudeabstand habe
für das vorliegende Verfahren keinerlei Bedeutung.
6.
6.1.
Die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts zur Ab-
hängigkeit von Gebäude- und Grenzabstand hatte stets einen Bezug
zu besonderen Gemeindevorschriften. Bei der Beurteilung, ob der
Gebäudeabstand als Summe der Grenzabstände eingehalten werden
musste, prüfte das Verwaltungsgericht jeweils Anwendbarkeit und
Voraussetzungen der massgeblichen Gemeindebestimmung:
6.2.
Bereits im Entscheid III/21 vom 22. April 1977 (S. 18 ff.) stellte
das Verwaltungsgericht fest, dass der Gebäudeabstand (als Summe
der Grenzabstände) des umstrittenen Bauvorhabens unterschritten
war, erachtete dieses aber dennoch als bewilligungsfähig, da beson-
dere Verhältnisse im Sinne von § 44 Abs. 3 (Satz 2) der Bauordnung
der Gemeinde vorlagen, der wie folgt lautete:
"Stehen auf anstossenden Grundstücken schon Bauten mit geringeren
als den angegebenen Grenzabständen, so muss ein Neubau in der Re-
gel den Gebäudeabstand einhalten. Werden die Überbauungsmöglich-
keiten des Grundstückes durch diese Regelung zu stark eingeschränkt,
so kann der Gemeinderat auf Antrag der Baukommission Näherbau auf
den vorgeschriebenen Grenzabstand bewilligen, wenn inbezug auf Be-
sonnung und Einsicht einwandfreie Verhältnisse geschaffen werden
und wenn kein öffentliches Interesse verletzt wird, es sei denn, die
Beteiligten einigen sich mit Zustimmung des Gemeinderates auf di-
rekten Anbau."
6.3.
Auch in AGVE 2001, S. 293 ff., stand der Gebäudeabstand ei-
ner Zweitbaute gegenüber einer bestehenden, den Grenzabstand
unterschreitenden Baute auf dem Nachbargrundstück in Frage. Das
Verwaltungsgericht hielt zunächst fest, dass der Gebäudeabstand
nach § 20 Abs. 2 ABauV des Bauvorhabens nicht eingehalten sei und
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
179
prüfte daher, ob die Voraussetzungen von § 67 Abs. 2 der Bauord-
nung der Gemeinde vorlagen, welcher wie folgt lautete (S. 294):
"Wenn auf Nachbargrundstücken bereits Bauten mit zu geringem
Grenzabstand stehen, kann der Gebäudeabstand verringert werden,
falls seine Einhaltung zu Härten führen würde. Der Grenzabstand ist
dabei in jedem Fall einzuhalten. Die gesundheits-, feuer- und sicher-
heitspolizeilichen Anforderungen müssen gewahrt bleiben."
Das Verwaltungsgericht betonte den Ausnahmecharakter der
Bestimmung und kam zum Schluss, dass kein Fall gegeben war, in
dem die Einhaltung des Gebäudeabstands zu den erforderlichen
Härten führte. Daher erachtete es das Bauvorhaben als nicht bewilli-
gungsfähig (S. 296 ff.).
6.4.
AGVE 2003, S. 227 ff., handelt anders als der vorliegende Fall
vom Gebäudeabstand einer Kleinbaute (Pferdestall) im Sinne von
§ 18 Abs. 1 ABauV. Auch in diesem Entscheid ergab sich im Übrigen
aus der Anwendung der kommunalen Bauordnung, dass die
Kleinbaute lediglich den Grenzabstand, nicht aber den Gebäudeab-
stand zu dem vor Inkrafttreten der Bauordnung erstellten Nachbarge-
bäude einhalten musste (S. 233 f.; vgl. auch § 18 Abs. 2 Satz 2
ABauV, welcher nur auf Klein- und Anbauten anwendbar ist).
6.5.
Der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 2. November 2009
(VGE III/77 [WBE.2008.378]), S. 5, betraf § 29 Satz 1 der Bauord-
nung der Gemeinde Seon, welcher wie folgt lautet:
"Für einen Neubau muss lediglich der vorgeschriebene Grenzabstand,
nicht aber der Gebäudeabstand zu einem vor Inkrafttreten dieser Bau-
ordnung erstellten Nachbargebäude eingehalten werden, wenn die ar-
chitektonischen, gesundheits-, feuer- und sicherheitspolizeilichen An-
forderungen gewahrt bleiben."
Das Verwaltungsgericht schloss in diesem Entscheid darauf,
dass kein Anwendungsfall dieser Bestimmung vorlag, da der Gebäu-
deabstand eingehalten war.
6.6.
Aus der bisherigen Praxis des Verwaltungsgerichts lässt sich
somit für den vorliegenden Fall, in dem es an besonderen Gemeinde-
2010
Verwaltungsgericht
180
vorschriften fehlt, nichts ableiten. Dieser Rechtsprechung lässt sich
ebenso wenig entnehmen, dass § 20 Abs. 2 ABauV die Anwendung
zu versagen ist, wenn Gemeindevorschriften fehlen.
7.
7.1.
Obschon besondere Vorschriften vorliegend fehlen, wendet die
Vorinstanz § 20 Abs. 2 ABauV unter Berufung auf dessen Sinn und
Zweck nicht an. Eine solche vom Wortlaut nicht mehr gedeckte Ge-
setzesinterpretation ist entgegen der Ansicht der Beschwerdegegner
nicht mehr Erkenntnis teleologischer Auslegung, sondern Lücken-
füllung. Eine Lücke setzt jedoch eine planwidrige Unvollständigkeit
des Gesetzes voraus, so dass anzunehmen ist, der Gesetzgeber hätte,
wäre er sich dieser Tatsache bewusst gewesen, anders entschieden
(Entscheid des Verwaltungsgericht vom 11. Dezember 1986, in:
ZBl 88/1987, S. 556 f.; AGVE 1976, S. 258; Ulrich Häfelin / Georg
Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Auflage,
Zürich 2006, Rz. 243 ff.).
7.2.
7.2.1.
§ 20 Abs. 2 ABauV weist indes keine Lücke auf, was eine
Auslegung nach Sinn und Zweck belegt: Abstandsvorschriften wie
§ 20 Abs. 2 ABauV dienen einerseits den Interessen des Nachbarn
am Schutz vor rechtserheblichen Einflüssen von Bauten und ihrer
Benutzung (z.B. vor Beeinträchtigungen der Belichtung, Besonnung,
Belüftung und Aussicht oder zu weitgehender Einsehbarkeit). An-
dererseits verwirklichen sie öffentliche Interessen, namentlich solche
der Feuerpolizei, der Wohnhygiene, der Siedlungsgestaltung und der
Ästhetik (AGVE 2001, S. 298; Zimmerlin, a.a.O., §§ 163-165 N 3).
Die Gewährleistung dieser Anliegen macht gerade dann Sinn, wenn
eine benachbarte Altbaute den Grenzabstand zur Bauparzelle nicht
einhält. Der Zweck der Vorschrift spricht somit in solchen Fällen für
die Anwendung von § 20 Abs. 2 ABauV.
Der Zweck von § 20 Abs. 2 ABauV kann sinnvollerweise nur
darin erblickt werden, eine Rechtsfolge vorzusehen, die über die
Grenz
abstandsvorschriften hinausgeht. Hält nämlich ein benach-
barter Altbau den Grenzabstand ein, gelangen ohne Weiteres die
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
181
Grenzabstandsvorschriften zur Anwendung. Das gälte auch dann,
wenn dies in § 20 Abs. 2 ABauV nicht speziell erwähnt würde. Für
diesen Fall hätte diese Bestimmung lediglich deklaratorische Be-
deutung. Eine normative Wirkung entfaltet sie nur dann, wenn eine
benachbarte Altbaute den geltenden Grenzabstand unterschreitet.
Weil Gesetzesvorschriften normalerweise auf eine Rechtsgestaltung
ausgelegt sind, handelt es sich hierbei um den Hauptanwendungsfall
von § 20 Abs. 2 ABauV. Diese Vorschrift in sämtlichen Fällen eines
Unterabstands nicht anzuwenden, hiesse, sie im Hinblick auf den
Hauptanwendungsfall ihres Sinngehalts zu entleeren.
§ 20 Abs. 2 ABauV lässt den Gemeinden Raum zum Erlass be-
sonderer Vorschriften, um lokalen Besonderheiten Rechnung zu tra-
gen. Wie die vorerwähnte Praxis belegt, haben zahlreiche Gemeinden
von dieser Rechtsetzungsbefugnis Gebrauch gemacht. Beispielsweise
enthielt auch die Bauordnung der Gemeinde Rohr vom 27. Juni 1977
/ 5. Juni 1978 noch eine entsprechende Bestimmung: "Wenn auf
Nachbargrundstücken bereits Bauten mit zu geringem Grenzabstand
stehen, kann der Gebäudeabstand verringert werden, falls seine
Einhaltung zu Härten führen würde. Der Grenzabstand ist dabei in
jedem Fall einzuhalten" (Art.
51). Wo besondere Gemeinde-
vorschriften jedoch fehlen, muss es bei der kantonalen Grundord-
nung bleiben, wonach der Gebäudeabstand der Summe der Grenzab-
stände entsprechen muss. Die kantonale Grundordnung führt auch
nicht zu übertriebenen Härten, kann doch bei ausserordentlichen
Verhältnissen immer noch eine Ausnahmebewilligung nach § 67
BauG erteilt werden. Als unzutreffend erweist sich somit die An-
nahme, § 20 Abs. 2 ABauV wolle sicherstellen, dass jeder Bauherr
auf seinem Grundstück die Grenzabstände wahren müsse und nicht
"auf Kosten des Nachbarn" bauen dürfe. Ein solches Ziel ergibt sich
nicht aus der kantonalen Grundordnung, sondern wäre mit besonde-
ren Gemeindevorschriften zu verfolgen.
7.2.2.
Im Lichte dieser Überlegungen sind auch die Ausführungen von
Zimmerlin zu würdigen, der im Grundsatz ebenfalls davon ausgeht,
dass der Zweitbauende hinter seinen Grenzabstand zurückweichen
muss (Zimmerlin, a.a.O., §§ 163-165, N 9 Kleingedrucktes, Satz 1).
2010
Verwaltungsgericht
182
Dazu kommt es nur dann, wenn der benachbarte Altbau den Grenz-
abstand gegenüber der Bauparzelle unterschreitet. Auf die Aussage
von Zimmerlin, wonach "bei Vergrösserung der Abstände durch Bau-
rechtsänderung [...] der Eigentümer einer früher rechtmässig er-
richteten, nach den neuen Vorschriften nun aber zu nahe an die
Grenze gestellten Baute nicht von dem zu seinen Gunsten nachträg-
lich vergrösserten Grenzabstand profitieren" könne, folgt der Hin-
weis auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts (VGE) III/106 vom
13. Dezember 1983 (richtig: 1982). Im besagten Entscheid hielt das
Verwaltungsgericht lediglich fest, dass sich eine solche Vorrangstel-
lung des Eigentümers der Altbaute nicht aus der Besitzstandsgarantie
ergebe (Erw. II 3 b). Im Folgenden prüfte das Verwaltungsgericht
aber die Voraussetzungen von § 36 Abs. 1 der lokalen Bauordnung,
wonach gegenüber Gebäuden, die
schon vor Inkrafttreten der Bau-
ordnung bestanden
, die Gebäudeabstände unterschritten werden
konnten, sofern dies städtebaulich tragbar und für den Nachbarn zu-
mutbar war (Erw. III c). Aus der erwähnten Kommentarstelle lässt
sich somit nicht ableiten, dass die Einhaltung der Grenzabstandsvor-
schriften auch dann genügt, wenn die Gemeinde keine besonderen
Vorschriften erlassen hat.
7.3.
Dem Gesetz lassen sich ebenso wenig Hinweise für die Auffas-
sung der Beschwerdegegner entnehmen, dass mit den vorgeschriebe-
nen Grenzabständen nach § 20 Abs. 2 ABauV nicht die heutigen,
sondern jene zur Zeit der Realisierung des jeweiligen Bauvorhabens
gemeint seien. Wäre es die Absicht des Gesetzgebers gewesen, nicht
mehr in Kraft stehende Bestimmungen für massgebend zu erklären,
hätte er dies im Wortlaut der Bestimmung zum Ausdruck gebracht.
Ohne anderslautende Hinweise ist davon auszugehen, dass die
Grenzabstandsvorschriften des geltenden Rechts gemeint sind.
7.4.
Die Beschwerdeführer machen somit zu Recht geltend, dass die
Beschwerdegegner mit ihrem Vorhaben hinter den Grenzabstand zu-
rückweichen müssen. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten kann
darin nicht erblickt werden. | 3,572 | 2,816 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-32_2010-09-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-32.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-32.pdf | AGVE_2010_32 | null | nan |
4dfe0cf2-41c9-5b1c-b1ba-701804ed2fea | 1 | 412 | 870,707 | 1,483,401,600,000 | 2,017 | de | 2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
148
[...]
27
Grenzabstand
Die öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften schützen nicht vor grenzverlet-
zenden Bauten und Bauteilen. § 47 Abs. 3 BauG bezieht sich nur auf die
Unterschreitung von Grenzabständen. Ein fehlendes Überbaurecht (für
die Parzellengrenze überragende Dachteile bei geschlossener Bauweise)
liegt ausserhalb des Prüfgegenstands der Baubewilligungsbehörden und
darf daher nicht zur Verweigerung der Baubewilligung führen. Der be-
troffene Nachbar hat sich auf dem Zivilrechtsweg gegen einen entspre-
chenden Eingriff in seine Eigentumsrechte zu wehren.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 11. Januar
2017, i.S. A. gegen B. und C. sowie Gemeinderat D. und Departement Bau,
Verkehr und Umwelt (WBE.2016.249)
2017
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
149
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Der Beschwerdeführer rügt die Rechtsauffassung der Vorinstan-
zen, wonach Streitigkeiten betreffend grenzüberragende Dachteile
auf den Zivilrechtsweg zu verweisen seien und - in der vorliegenden
Konstellation - nicht zu einer Verweigerung der Baubewilligung füh-
ren dürften. Gemäss § 47 Abs. 1 BauG - so der Beschwerdeführer -
müssten die Gemeinden Grenz- und Gebäudeabstände vorsehen. Bei
geschlossener Bauweise betrage der Grenzabstand 0 m. Eine Ände-
rung dieses Grenzabstandes setze nach § 47 Abs. 3 BauG einen öf-
fentlich beurkundeten Dienstbarkeitsvertrag (Überbaurecht) voraus.
Ein solcher Dienstbarkeitsvertrag lasse sich im vorliegenden Fall
nicht beibringen, weil er (der Beschwerdeführer) mit der Unter-
schreitung des Grenzabstandes von 0 m nicht einverstanden sei.
Schon daran zeige sich, dass die grenzüberragenden Dachteile nicht
hätten bewilligt werden dürfen. § 47 Abs. 3 BauG gelte auch für
0 m-Grenzabstände. Mit der darin enthaltenen Vorschrift, dass Ände-
rungen der Grenzabstände durch Dienstbarkeiten zu sichern seien,
habe der Gesetzgeber Rechtssicherheit schaffen bzw. vermeiden
wollen, dass noch Generationen später ein Rückbau einer in den
Grenzabstand hineinragenden Baute verlangt werden könne. Genau
das könnte aber der Beschwerdeführer auf dem Zivilrechtsweg jeder-
zeit erreichen, solange er durch Unterbrechungshandlungen die
Verjährung oder Verwirkung seines Beseitigungsanspruchs verhin-
dere. Das Verwaltungsgericht habe in einem publizierten Entscheid
(AGVE 2001, S. 304 ff.) ebenfalls die Meinung vertreten, ein die
Grenze zum Nachbarn überragendes Bauprojekt könne ohne dessen
Zustimmung nicht bewilligt werden. Es wäre denn auch unverständ-
lich, weshalb die Unterschreitung eines Grenzabstandes von
beispielsweise 4 m um wenige cm zur Verweigerung der Baubewilli-
gung führen würde, nicht hingegen die Verletzung des Grenzabstan-
des von 0 m um 40 cm. Eine solche Unterscheidung könnte einem
durchschnittlich begabten Rechtsunterworfenen nie und nimmer
plausibel vermittelt werden. Die Vorinstanzen hätten verkannt, dass
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
150
es nicht nur um den Schutz privater Interessen des Beschwerdefüh-
rers gehe. Die Abstandsvorschriften schützten auch öffentliche
Interessen. Es entstehe der Eindruck, als hätten die Vorinstanzen den
Eingriff ins Eigentumsrecht des Beschwerdeführers dazu "genutzt",
die Angelegenheit ans Zivilgericht abzuschieben, was einen schalen
Nachgeschmack hinterlasse, den es zu korrigieren gelte.
2.2.
Die Vorinstanz erwog im angefochtenen Entscheid, nach der
Praxis des Verwaltungsgerichts dürfe die Baubewilligungsbehörde
grundsätzlich keine privatrechtlichen Fragen beurteilen. Sie sei nur
zur Anwendung öffentlich-rechtlicher (Bau-)Vorschriften berufen
und habe deshalb einzig zu prüfen, ob einem Bauvorhaben öffent-
lich-rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Dieser Grundsatz wer-
de dort durchbrochen, wo die öffentlich-rechtliche Ordnung unmit-
telbar ans Privatrecht anknüpfe; hier müsse die Baubewilligungsbe-
hörde vorfrageweise privatrechtliche Fragen beantworten. Das sei
etwa der Fall, wo die Erschliessung einer Bauparzelle im Sinne von
§ 32 Abs. 1 lit. b BauG mittels eines privatrechtlichen Fahrwegrechts
abgesichert sei. Oder ein Bauherr erfülle die ihn treffende Pflicht zur
Schaffung von Pflichtparkplätzen durch die Bereitstellung von Ab-
stellplätzen auf einem fremden Grundstück, von denen nach § 55
Abs. 2 BauG sicherzustellen sei, dass sie dauernd als solche benützt
werden können. Ferner knüpfe die Unterschreitung der gesetzlichen
Grenz- und Gebäudeabstände an eine privatrechtliche Dienstbarkeit
an. In diesen Fällen bilde die vorgängige Prüfung von privatrechtli-
chen Fragen Grundlage für den Baubewilligungsentscheid. Demge-
genüber seien rein privatrechtlich motivierte Einwendungen wie der
Hinweis auf eine Bauverbotsdienstbarkeit oder ein Eingriff in das
Eigentumsrecht Dritter für die Baubewilligungsbehörde unbeacht-
lich. Es sei nicht Aufgabe der Baubewilligungsbehörde, die Rechte
Privater durch die Verweigerung der Baubewilligung zu schützen.
Diese Aufgabe sei von Verfassungs wegen den Zivilgerichten zuge-
dacht. Das gelte insbesondere für Eigentumsverletzungen durch eine
grenzüberschreitende Baute wie die vorliegend zur Diskussion ste-
hende Dachblende. Entsprechende Rügen seitens der betroffenen An-
stösser seien im baupolizeilichen Verfahren nicht zu hören. Sie seien
2017
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
151
mit den dafür zur Verfügung stehenden zivilrechtlichen Rechtsbehel-
fen (Eigentumsfreiheitsklage oder Besitzesschutz) geltend zu machen
(...).
2.3.
Dieser überzeugenden Argumentation der Vorinstanz ist auch
aus den nachfolgenden Überlegungen beizupflichten.
Zunächst ist fraglich, ob bei geschlossener Bauweise von einem
Grenzabstand gesprochen werden kann. Das Wort "Grenzabstand"
setzt begriffslogisch eine minimale Entfernung von der Grundstücks-
grenze voraus. Darf man bis an die Grenze bauen, gibt es keinen
Grenzabstand, der eingehalten werden muss. Einen Grenzabstand
von 0 gibt es in diesem Sinne nicht (a. M. offenbar C
HRISTIAN
H
ÄUPTLI
, Kommentar zum Baugesetz des Kantons Aargau, Bern
2013, § 47 N 5). Der Tatbestand der Unterschreitung des Grenzab-
standes ist von demjenigen der grenzüberschreitenden Baute (Über-
bau) zu unterscheiden. Nur ein wenigstens minimaler Grenzabstand
kann unterschritten werden. Wer die Grenze selber verletzt, begeht
nicht (nur) eine Unterschreitung des Grenzabstandes, sondern - wie
der Beschwerdeführer selber ausführt - eine qualitativ schwerwie-
gendere Verletzung der Eigentumsrechte des Nachbarn. § 47 Abs. 3
BauG regelt lediglich die Unterschreitung des Grenzabstandes. Es
geht in der erwähnten Bestimmung nicht um grenzüberschreitende
Bauten. Daran ändert nichts, dass Letztere für den betroffenen Nach-
barn schlimmer sind.
Dazu, unter welchen Voraussetzungen eine Baute die Grund-
stücksgrenze überragen darf, äussert sich die Baugesetzgebung nicht
(explizit). Man könnte nun aus dem Umstand, dass eine Unterschrei-
tung des Grenzabstands die öffentlich beurkundete Zustimmung des
betroffenen Nachbarn erfordert, folgern, dass Selbiges erst recht für
den gravierenderen Eingriff einer grenzüberschreitenden Baute gel-
ten muss. Effektiv besteht ein öffentliches Interesse an der Einhal-
tung von Grenzabständen (Wohnhygiene, Feuerpolizei [Brandverhü-
tung], Umweltschutz, Ortsbildschutz, Siedlungsgestaltung usw.),
nicht hingegen daran, bei geschlossener Bauweise, wo das öffentli-
che Interesse an der Einhaltung von Grenzabständen ohnehin nicht
zum Tragen kommt, Grenzverletzungen unter Nachbarn zu verhin-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
152
dern. Dieses Interesse ist rein privater Natur, ohne entsprechenden
Regelungsbedarf im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Bauvor-
schriften, und muss - wie die Vorinstanz zu Recht festhält - nicht
von der Baubewilligungsbehörde geschützt werden.
Nachdem es keine öffentlich-rechtliche Bauvorschrift gibt, die
bei geschlossener Bauweise Grenzverletzungen verbietet, hatte der
Gemeinderat D. keine Handhabe, den Beschwerdegegnern die Bau-
bewilligung für die grenzüberragenden Dachteile zu verweigern, weil
sie kein (vom Beschwerdeführer eingeräumtes) Überbaurecht nach-
weisen können. Deshalb hat das BVU die den Beschwerdegegnern
vom Gemeinderat D. für ihre Projektänderungen erteilte Baubewilli-
gung zu Recht geschützt.
Im vom Beschwerdeführer für seinen Standpunkt angeführten
verwaltungsgerichtlichen Entscheid vom 17. Dezember 2001
(AGVE 2001, S. 304 ff.) hat das Verwaltungsgericht nicht abschlies-
send entschieden, ob ein fehlendes Überbaurecht ohne weiteres zur
Verweigerung der Baubewilligung führen muss, was aus folgender
Passage erhellt: "Wenn - (...) - die Beschwerdeführer davon absa-
hen, den für sie negativen Entscheid des Stadtrats auf dem Be-
schwerdeweg weiterzuziehen, weil sie eine Beschwerde wegen der
fehlenden Überbaurechte -
wohl zu Recht
- von Vornherein als aus-
sichtslos erachteten und es daher vorzogen, zunächst die erforderli-
chen schriftlichen Zustimmungen der betroffenen Nachbarn zum
Bauvorhaben einzuholen und ein neues Baugesuch einzureichen,
(...)".
2.4.
Selbst wenn man aber mit dem Beschwerdeführer annehmen
würde, eine grenzüberschreitende Baute, die 40 cm in das Nachbar-
grundstück hineinragt, stelle eine Unterschreitung des Grenzabstan-
des (von 0) um 40 cm dar, wäre nicht zu beanstanden, dass der Ge-
meinderat D. die die Grenze zur Parzelle X. überragenden Teile des
Dachs des Wohnhauses der Beschwerdegegner ohne Überbaurecht
bewilligt hat. § 21 Abs. 2 BauV sieht nämlich im Sinne einer Aus-
nahmebestimmung zu § 47 Abs. 3 BauG ein Grenzabstandsprivile-
gium für vorspringende Gebäudeteile vor. Dachvorsprünge, die
höchstens 1,5 m über die Fassadenflucht hinausragen - im vorliegen-
2017
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
153
den Fall sind es bloss 40 cm -, dürfen den Grenzabstand auch ohne
öffentlich beurkundeten Dienstbarkeitsvertrag beliebig unterschrei-
ten. Zudem ist ein die Parzellengrenze überschreitender Dachvor-
sprung bei geschlossener Bauweise für herkömmliche Überbauungen
insbesondere in Dorfkernzonen geradezu typisch. Auch unter diesen
Gesichtspunkten sind die vorliegenden umstrittenen Dachteile mit
oder ohne Überbaurecht bewilligungsfähig. Sie verstossen nicht ge-
gen öffentlich-rechtliche Bauvorschriften.
Sie verletzten höchstens die Eigentums- und Besitzrechte des
Beschwerdeführers, wogegen sich dieser - wie von der Vorinstanz
zutreffend dargelegt - beim örtlich zuständigen Zivilgericht zur Wehr
setzen muss. | 2,305 | 1,746 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-27_2017-01-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-27.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-27.pdf | AGVE_2017_27 | null | nan |
4e8fd75d-16dd-566b-aa52-048158918113 | 1 | 412 | 869,675 | 1,051,833,600,000 | 2,003 | de | 2003
Sozialhilfe
285
[...]
66
Auflagen und Weisungen bei der Sozialhilfe. Verwandtenunterstützungs-
pflicht.
- Weisungen müssen sich an den Sozialhilfeempfänger richten, nicht an
seine betreuenden Angehörigen (Erw. 2).
- Die Sozialbehörde hat mögliche Verwandtenunterstützung abzuklä-
ren. Auskunftspflicht der Verwandten (Erw. 3)
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 23. Mai 2003 in Sa-
chen K.L. gegen Entscheid des Bezirksamts B.
Sachverhalt
M.L., geboren 1918, ist seit langer Zeit verwitwet und lebt im
Altersheim A. Ihr Sohn T.L. wandte sich im Mai 2002 an die Ge-
meinde Z., da das Vermögen von M.L. aufgebraucht sei und die Ein-
nahmen nicht ausreichten, um die Heim- und übrigen Kosten zu
decken. Die Beratungsstelle Pro Senectute klärte die Frage von
Ergänzungsleistungen ab und stellte im Namen von M.L. beim
Gemeinderat Z. ein Gesuch um materielle Hilfe, wobei das Formular
durch K.L. (ebenfalls ein Sohn von M.L.) unterzeichnet wurde. Nach
Abklärungen, namentlich über die Möglichkeit höherer
Ergänzungsleistungen, verfügte der Gemeinderat Z. am 27. Novem-
ber 2002:
"1. M.L. wird monatlich mit einem Betrag von Fr. ... unterstützt.
2. M.L. ist durch die Angehörigen beim Altersheim B. für einen
Eintritt anzumelden. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt
ca. 3 Monate. Die Berechnung des Fehlbetrages wird nach
dem Übertritt bzw. auf den 1. April 2003 neu berechnet und
angepasst.
2003
Verwaltungsgericht
286
3. Für M.L. muss auf den 1. Januar 2003 eine neue Kranken-
versicherung abgeschlossen werden. Es ist dabei darauf zu
achten, dass eine günstige Lösung gesucht wird.
4. Die Angehörigen werden beauftragt, ein Gesuch um Ergän-
zungsleistung samt den dazu erforderlichen Unterlagen ein-
zureichen.
5. Die Nachkommen von M.L. werden aufgefordert, dem Ge-
meinderat über ihr Einkommen und Vermögen Auskunft zu
erteilen. Der beiliegende Fragebogen ist zu diesem Zweck
der Gemeindekanzlei bis am 23. Dezember 2002 ausgefüllt
wieder zuzustellen."
K.L. erhob Beschwerde und beantragte, Disp. Ziff. 2-5 des Be-
schlusses seien aufzuheben.
Aus den Erwägungen
2. Gemäss § 14 SHV kann die Zusprechung materieller Hilfe
mit Auflagen und Weisungen verbunden werden, welche die richtige
Verwendung sichern oder die Lage des Hilfeempfängers (und seiner
Angehörigen) verbessern. Werden Auflagen oder Weisungen nicht
befolgt oder erforderliche Auskünfte nicht erteilt, kann die materielle
Hilfe nach erfolgloser Verwarnung gekürzt oder verweigert werden
(§ 15 SHV; zum neuen Recht vgl. § 13 SPG und § 14 SPV).
Ist, wie im vorliegenden Fall, die Hilfeempfängerin urteilsfähig
und bestehen keine vormundschaftlichen Massnahmen, so sind der-
artige Weisungen an die Hilfeempfängerin zu richten, sonst verfehlen
sie ihren Zweck. Es ist Sache der Hilfeempfängerin, sich weisungs-
gemäss zu verhalten - oder gegebenenfalls auf dem Rechtsmittelweg
gegen die Weisungen vorzugehen - und dazu nach ihrem Gutdünken
Unterstützung von anderen Personen anzunehmen; die Angehörigen
können nicht an ihrer Stelle handeln, ohne von ihr ausdrücklich be-
vollmächtigt zu werden, und die Sozialbehörde kann die Angehöri-
gen dazu nicht verpflichten. Andererseits können Sanktionen ge-
genüber der Hilfeempfängerin im Sinne von § 15 SHV nicht damit
2003
Sozialhilfe
287
begründet werden, dass deren Angehörige sich nicht an Weisungen
hielten. Auch dass der Beschwerdeführer das Gesuch um materielle
Hilfe in Vertretung seiner Mutter unterzeichnete und einreichte,
ändert nichts. Anordnungen richten sich an die vertretene Person,
nicht an ihren Vertreter; lediglich die Zustellung hat an den Vertreter
zu erfolgen. Disp. Ziff. 2-4 des Gemeinderatsbeschlusses auferlegen
den Angehörigen
Verpflichtungen (bei Ziff. 3 etwas weniger ein-
deutig, aber mit der Ausdrucksweise "
Für
M.L. muss ..." doch genü-
gend klar), die diese ohne das ausdrückliche Einverständnis der
Hilfeempfängerin M.L. gar nicht erfüllen können und dürfen. Es ist
nicht ihre Sache, sich um dieses Einverständnis zu bemühen, sondern
vielmehr Sache der verfügenden Behörde, ihre Weisungen an die
richtige Person zu richten. Auch wenn der Beschwerdeführer allein
Beschwerde erhoben hat, sind diese Ziffern, die sich an die falschen
Adressaten richten, aufzuheben.
3.
Für die Unterstützungspflicht der Verwandten verweist
§ 23 SHG auf die Art. 328 f. ZGB (zum neuen Recht vgl. § 7 SPG
und § 6 SPV). Die Sozialbehörde der kostenpflichtigen Gemeinde ist
berechtigt und sogar verpflichtet, zu klären, ob rechtzeitig
ausreichende Verwandtenunterstützung erhältlich ist, sodass gar
keine materielle Hilfe erforderlich wird (§ 29 SHV; zum neuen Recht
§ 7 Abs. 1 SPG, § 6 SPV); dies impliziert entsprechende Auskunfts-
pflichten der möglicherweise unterstützungspflichtigen Verwandten
der Hilfebedürftigen (in § 7 Abs. 3 SPG jetzt ausdrücklich statuiert).
Wurde materielle Hilfe erbracht und ist der Anspruch auf Verwand-
tenunterstützung gemäss Art. 329 Abs. 3 ZGB auf die Gemeinde
übergegangen, so ist die Leistung der unterstützungspflichtigen Ver-
wandten nötigenfalls auf dem (Zivil-)Prozessweg durchzusetzen
(§ 29 SHG, § 33 Abs. 1 SHV; zum neuen Recht § 7 Abs. 1 und
2 SPG, § 6 Abs. 1 SPV; vgl. dazu AGVE 1997, S. 23 ff., 63 f.). Wie
das Gesundheitsdepartement in seiner Vernehmlassung zutreffend
ausführt, ist deshalb Disp. Ziff. 5 des Gemeinderatsbeschlusses
inhaltlich nicht zu beanstanden. Der Gemeinderat sprach materielle
Hilfe zu und war gehalten abzuklären, ob gegenüber Kindern der
Hilfebedürftigen ein - auf die Gemeinde übergehender - Anspruch
auf Verwandtenunterstützung bestehe. Auch wenn der Beschwerde-
2003
Verwaltungsgericht
288
führer der Ansicht ist, mit Ergänzungsleistung sei keine Verwandten-
unterstützung nötig, berechtigt ihn dies nicht zur Auskunfts-
verweigerung. Beizupflichten ist auch der vom Gesundheitsdeparte-
ment vertretenen Ansicht, dass es, weil es sich um eine vom Zivil-
und Zivilprozessrecht geregelte Materie handelt, jedenfalls vorzu-
ziehen ist, mit Korrespondenz und nicht mittels formellen Verfügun-
gen vorzugehen. Im vorliegenden Fall wurden an das Nichthandeln
bzw. die fehlende Kooperation der Verwandten keine Rechtsnachteile
geknüpft oder auch nur angedroht, sodass der Beschwerdeführer
durch Disp. Ziff. 5 nicht wirklich beschwert wurde. Unter dieser
Voraussetzung erscheint der Fehler in der gewählten Form (indem
verfügt wurde) allein zu wenig gewichtig, um eine Aufhebung der
streitigen Ziffer zu rechtfertigen. | 1,437 | 1,194 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-66_2003-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-66.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-66.pdf | AGVE_2003_66 | null | nan |
4f341877-9e7e-520e-9360-584827e576b3 | 1 | 412 | 870,624 | 1,120,262,400,000 | 2,005 | de | 2005
Abgaben
101
II. Abgaben
25
Kostenauflage für den Einsatz der Feuerwehr bei Unglücksfällen (§ 6a
FwG).
- Nur die notwendigen Kosten des Einsatzes dürfen bei der geborgenen
Person erhoben werden, nicht aber die Kosten zur Sicherstellung der
Betriebsbereitschaft.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 6. Juli 2005 in Sachen
Einwohnergemeinde R. gegen Regierungsrat und P.F.
Aus den Erwägungen
1.1. Die Feuerwehr ist ein polizeiliches Organ der Einwohner-
gemeinde; ihr obliegen die Feuerbekämpfung und die Hilfeleistung
in Brandfällen. Sie wird darüber hinaus auch in weiteren Fällen, so
bei Unglücksfällen, eingesetzt (§ 1 Abs. 1 und 2 FwG). Die Aufsicht
führen der Regierungsrat und das zuständige Departement; das AVA
"sorgt für den Vollzug der gesetzlichen Aufgaben im Bereich des
Feuerwehrwesens" (§ 3 FwG in der Fassung vom 18. Juni 1996). In
der ursprünglichen Fassung von § 3 Abs. 2 FwG hiess es, dass der
technische Bereich der Aufsicht an die Aargauische Gebäudeversi-
cherungsanstalt delegiert werden könne; in der Sache trifft dies für
die Stellung des AVA weiterhin zu ...
1.2. Der Aufgabenbereich der Ortsfeuerwehren beschränkt sich
im Grundsatz auf das Gemeindegebiet, wobei eine Verpflichtung zur
Hilfeleistung bis 6 km ab der Gemeindegrenze besteht (§ 34 Abs. 1
FwG). Aufgrund von Vereinbarungen mit dem AVA richten einzelne
Gemeinden sog. Stützpunktfeuerwehren für den Einsatz im regiona-
len Rahmen ein (§ 35 FwG).
2005
Verwaltungsgericht
102
2.1. Personen, denen mit dem Einsatz der Feuerwehr bei Un-
glücksfällen Hilfe geleistet wurde, können die Kosten notwendiger
Einsätze auferlegt werden (§ 6a Abs. 1 lit. b FwG). Die Höhe der
Gebühren bzw. des Kostenersatzes hat sich nach dem Personal-,
Material- und Gemeinkostenaufwand zu richten (§ 2 Abs. 2 FwV).
2.2. § 6a FwG spricht von den Kosten notwendiger Einsätze,
bezieht - rein sprachlich gesehen - die Notwendigkeit also auf die
Einsätze. Die Regelung betrifft die Auferlegung der Kosten auf die-
jenigen Privaten, zu deren Gunsten der Einsatz erfolgte. Mehr als die
notwendigen Kosten abzuwälzen, ist nicht gerechtfertigt. Von daher
erscheint die Auslegung der Vorinstanzen zutreffend, wonach nur die
notwendigen Kosten
notwendiger Einsätze auferlegt werden können.
Zusätzlicher Aufwand mag im Einzelfall vertretbar oder gar aus be-
stimmten Gründen wünschbar sein; diese Beurteilung wird nicht in
Frage gestellt, wenn die daraus entstandenen Kosten nicht dem Pri-
vaten auferlegt werden können.
Bei der Abgrenzung der notwendigen und damit grundsätzlich
auf die Privaten abwälzbaren Kosten sind auch § 4 Abs. 1 und § 18
FwG zu beachten. Danach sind die Gemeinden verpflichtet, auf ihre
Kosten die Ortsfeuerwehr mit angemessener Ausstattung zu schaffen
und deren jederzeitige Einsatz- und Betriebsbereitschaft sicherzu-
stellen. Der dafür notwendige Aufwand ist den Gemeinkosten zuzu-
rechnen, die nicht als Teil der Kosten eines konkreten Einsatzes ei-
nem Privaten auferlegt werden können. Sollte § 2 Abs. 2 FwV mit
der Erwähnung des Gemeinkostenaufwands etwas anderes meinen,
wäre dies mit den Vorgaben des Gesetzes nicht vereinbar.
3. Das Konzept bei Verkehrsunfällen sieht vor, dass die Orts-
feuerwehr und eine Stützpunktfeuerwehr aufgeboten werden. Der
Ortsfeuerwehr obliegen einerseits die Leitung des Einsatzes und
andererseits der Verkehrsdienst, der Stützpunktfeuerwehr die Perso-
nenbergung (Fachbericht AVA, S. 2). Insoweit ist es einleuchtend, die
Einsatzdoktrin für die Stützpunktfeuerwehren auf den National-
strassen - wo der Verkehrsdienst durch die Kantonspolizei über-
nommen wird - bei der Beurteilung heranzuziehen (Einsatzbefehl des
AVA vom 8. Oktober 1996). Gemäss Ziff. 5 des Einsatzbefehls rückt
die Stützpunktfeuerwehr ereignisbezogen mit so wenig als nötigen
2005
Abgaben
103
Fahrzeugen und Feuerwehrleuten aus, wobei als Richtlinie zur Be-
wältigung eines Normalereignisses gilt (Ziff. 5.1): Vorausfahrzeug,
Universallöschfahrzeug, Mannschaftstransportfahrzeug und 25
Feuerwehrleute, dazu gegebenenfalls ein Ölwehrfahrzeug. | 889 | 736 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-25_2005-07-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-25.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-25.pdf | AGVE_2005_25 | null | nan |
4ff37c12-e610-5cc3-ba54-8300f0118cb7 | 1 | 412 | 870,033 | 1,383,436,800,000 | 2,013 | de | 2013
Schulrecht
311
XII. Schulrecht
50
Laufbahnentscheide; vorsorgliche Massnahmen
-
Beim Entscheid, ob bei Übertritten in die Oberstufe der Besuch der
höheren Schulstufe für die Dauer des Beschwerdeverfahrens vor-
sorglich erlaubt wird, ist eine Interessenabwägung vorzunehmen.
-
Neben den privaten Interessen des Schülers kommen den öffentli-
chen Interessen und dem Verhältnismässigkeitsprinzip Bedeutung
zu.
-
In einer summarischen Entscheidprognose ist zu prüfen, ob die
Übertrittsanforderungen erfüllt sind.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 19. November 2013 in Sa-
chen A. gegen Regierungsrat, Schulpflege B. und Schulrat des Bezirks C.
(WBE.2013.420).
Aus den Erwägungen
1.3.
1.3.1.
Die Beschwerde hat aufschiebende Wirkung, wenn nicht aus
wichtigen Gründen im angefochtenen Entscheid oder durch beson-
dere Vorschrift etwas anderes bestimmt wird (§ 46 Abs. 1 VRPG).
Die Beschwerdeinstanz oder das ihr vorsitzende Mitglied prüft, ob
eine gegenteilige Anordnung oder andere vorsorgliche Massnahmen
zu treffen sind (Abs. 2).
Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde verschafft dem Be-
schwerdeführer für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens grundsätz-
lich jene Rechtsposition, welche vor dem angefochtenen Entscheid
bestand. Sofern bereits zuvor positive Anordnungen getroffen wur-
den, verschafft die aufschiebende Wirkung dem Beschwerdeführer
somit grundsätzlich einen vorsorglichen Rechtsschutz in dem Sinne,
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
312
dass der angefochtene Entscheid nicht rechtskräftig und vollstreckbar
wird und bisherige Anordnungen für die Dauer des Rechtsmittelver-
fahrens weiterhin Geltung beanspruchen. Beim Fehlen entsprechen-
der Anordnungen oder beim Vorliegen früherer negativer, ablehnen-
der Entscheide stellt sich die Frage, ob auf Gesuch hin oder von Am-
tes wegen in Anwendung von § 46 Abs. 2 VRPG vorsorgliche Mass-
nahmen zu treffen sind (vgl. AGVE 1998, S. 527; M
ICHAEL
M
ERKER
, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach
dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, Kom-
mentar zu den §§ 38-72 [a]VRPG, Zürich 1998, § 44 N 9; Botschaft
des Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom
14. Februar 2007, 07.27, S. 59; T
HOMAS
M
ERKLI
/A
RTHUR
A
ESCHLI
-
MANN
/R
UTH
H
ERZOG
, Kommentar zum Gesetz über die Verwal-
tungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997, Art. 27 N 7; A
LFRED
K
ÖLZ
/J
ÜRG
B
OSSHART
/M
ARTIN
R
ÖHL
, VRG, Kommentar zum Ver-
waltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich
1999, § 6 N 6). Vorsorgliche Massnahmen gestützt auf § 46 Abs. 2
VRPG sind Anordnungen, die von der Beschwerdeinstanz für die
Dauer des Beschwerdeverfahrens getroffen werden.
1.3.2.
Die Vorinstanzen haben der Beschwerdeführerin den prüfungs-
freien Übertritt an die Bezirksschule nicht erlaubt. Die Anfechtung
dieser Entscheide bzw. die aufschiebende Wirkung der Beschwerde
hat nicht zur Folge, dass die Beschwerdeführerin einstweilen für die
Dauer des Rechtsmittelverfahrens in die höhere Schulstufe eintreten
könnte. Hierzu bedarf es einer besonderen vorsorglichen Massnahme
(vgl. AGVE 1981, S. 518).
1.3.3.
Die vorsorglichen Massnahmen errichten bei entsprechendem
Bedürfnis für die Dauer des Prozesses eine wirksame Übergangsord-
nung (M
ERKER
, a.a.O., § 44 N 34; AGVE 1980, S. 281). In Sachen
der Volksschule gebietet das Wohl des Kindes in aller Regel die ra-
sche Beendigung des Schwebezustands und den Vollzug einer An-
ordnung (H
ERBERT
P
LOTKE
, Schweizerisches Schulrecht, 2. Aufl.,
Bern/Stuttgart/Wien 2003, S. 732).
2013
Schulrecht
313
Beim Erlass vorsorglicher Massnahmen, die letztlich demselben
Zweck wie die aufschiebende Wirkung dienen, ist aufgrund einer In-
teressenabwägung zu prüfen, ob die Gründe für den vorsorglichen
Rechtsschutz jene für die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zu-
stands überwiegen (vgl. AGVE 1998, S. 529). Dabei kommt neben
den privaten Interessen des Beschwerdeführers dem Grundsatz des
öffentlichen Interesses wie auch dem Verhältnismässigkeitsprinzip
Bedeutung zu (Art. 5 Abs. 2 BV; § 3 VRPG; vgl. R
EGINA
K
IENER
,
in: C
HRISTOPH
A
UER
/M
ARKUS
M
ÜLLER
/B
ENJAMIN
S
CHINDLER
[Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfah-
ren [VwVG], Zürich/St.
Gallen 2008, Art. 56 N 8; M
ERKLI
/
A
ESCHLIMANN
/H
ERZOG
, a.a.O., Art. 27 N 12). Zur Konkretisierung
der sich gegenüberstehenden Interessen ist soweit möglich eine sum-
marische Entscheidprognose vorzunehmen (vgl. A
LFRED
K
ÖLZ
/
I
SABELLE
H
ÄNER
/M
ARTIN
B
ERTSCHI
, Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3.
Aufl., Zürich/Basel/Genf
2013, Rz. 567).
1.3.4.
Wie sich aus dem Zeugnis ergibt, erreichte die Beschwerdefüh-
rerin in der 5. Klasse der Primarschule in den Kernfächern folgende
Noten: 4.5 in Deutsch, 4.5 in Mathematik und 5 in Realien. Unter an-
derem gestützt darauf wurde der prüfungsfreie Übertritt in die
1. Klasse der Bezirksschule nicht empfohlen, welcher in den Kern-
fächern überwiegend gute bis sehr gute Leistungen voraussetzt
(§ 13a Abs. 2 SchulG; § 13 der Verordnung über die Laufbahnent-
scheide an der Volksschule vom 19. August 2009 [Promotionsverord-
nung; SAR 421.352]). An der Übertrittsprüfung nahm die Beschwer-
deführerin nicht teil (§ 14 Abs. 3 Promotionsverordnung; Verordnung
über die Übertrittsprüfungen in die Sekundar- und Bezirksschule
vom 17.
November 2004 [Übertrittsprüfungsverordnung;
SAR 421.355]).
1.3.5.
Vorliegend ist das private Interesse der Beschwerdeführerin am
sofortigen Besuch der Bezirksschule für die Dauer des Beschwerde-
verfahrens nicht liquid. Die Notengebung wird nicht beanstandet.
Nicht geltend gemacht wird, dass die Leistungen für einen prüfungs-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
314
freien Übertritt vorlägen, und die darauf abgestützte Einschätzung
der Lehrperson wird grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Angebliche
Defizite bzw. unterschiedliche Leistungen bei vorbereiteten und un-
vorbereiteten Prüfungen werden mit Verweis auf den im regierungs-
rätlichen Beschwerdeverfahren eingereichten und vor Verwaltungs-
gericht ergänzten privaten Fachbericht auf Lese- und Rechtschreibe-
schwäche sowie Prüfungsangst zurückgeführt. Bereits die Lehrper-
son hat ihre Einschätzung neben der Benotung und dem Verhalten im
Unterricht zusätzlich auf einen standardisierten Leistungstest (Check
5) abgestützt. Die Beschwerdeführerin und ihre Eltern hatten die
Lehrperson zuvor nicht auf im Bericht erwähnte Schwächen bzw.
Defizite angesprochen und dieser waren aufgrund des Unterrichts
keine solchen bekannt. Der schulpsychologische Dienst war nicht in
Anspruch genommen worden. Im familiären Umfeld begründete oder
andere Umstände, welche objektiv geeignet wären, das Leistungsver-
mögen der Primarschülerin (vorübergehend) zu beeinträchtigen, wer-
den nicht geltend gemacht und sind ebenfalls nicht ersichtlich. Die
Voraussetzungen für den prüfungsfreien Übertritt liegen bei sum-
marischer Betrachtung somit nicht vor. Damit ist im Ergebnis nicht
zu beanstanden, dass die Vorinstanz von einer schlechten Entscheid-
prognose ausging.
Die Beschwerdeführerin macht zutreffend geltend, dass der Be-
such der 1. Klasse der Sekundarschule einen Wechsel an die Bezirks-
schule im Falle der Gutheissung der Beschwerde erschwert. Dabei
wird aber übersehen, dass an der Umsetzung der Schulgesetzgebung
und der Aufrechterhaltung des Leistungsniveaus an der Bezirks-
schule ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Der prüfungs-
freie Übertritt in die 1. Klasse der Bezirksschule ist von der Empfeh-
lung abhängig, welche aufgrund der Promotionsverordnung getroffen
wird. (...)
Unter den gesamten Umständen und aufgrund der Beschwerde
überwiegt das private Interesse der Beschwerdeführerin am unver-
züglichen Besuch der Bezirksschule die entgegenstehenden öffentli-
chen Interessen nicht. Konkrete Umstände, welche den Übertritt in
die 1. Klasse der Sekundarschule unverhältnismässig erscheinen las-
sen, werden nicht geltend gemacht und sind nicht ersichtlich. | 1,893 | 1,517 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-50_2013-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-50.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-50.pdf | AGVE_2013_50 | null | nan |
503fa959-edee-5307-b92d-481d643b7f21 | 1 | 412 | 870,412 | 1,025,654,400,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
254
[...]
67
Arealüberbauung.
-
Sinn und Zweck dieser besonderen Überbauungsform; Auswirkungen
auf spätere bauliche Änderungen (Erw. 2/b).
-
Anwendung auf den konkreten (Sonder-)Fall (Erw. 2/c).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 16. Juli 2002 in
Sachen Sch. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
1. Die Beschwerdeführer beabsichtigen, im nordöstlichen Be-
reich ihrer Parzelle Nr. 3226 einen mit Rasengittersteinen belegten
Autoabstellplatz zu erstellen. Dessen Grundfläche beträgt rund
20 m
2
. Die Zufahrt soll über den Galliweg und - mit dem Einver-
ständnis des betreffenden Grundeigentümers - über die benachbarte
Parzelle Nr. 109 erfolgen.
2. a) Das Wohnhaus auf der Parzelle Nr. 3226 ist Teil einer
Arealüberbauung mit 18 Reiheneinfamilienhäusern, für welche der
Gemeinderat einer Baugenossenschaft am 23. Juli 1996 die Baube-
willigung erteilt hat. Auf der Südostseite dieser Überbauung befinden
sich - in Form von Unterständen - 21 Autoabstellplätze für die
Hauseigentümer und 12 Parkplätze für die Besucher. Der Gemein-
derat ist der Meinung, mit diesem Parkierungskonzept seien weitere
Abstellplätze ausgeschlossen worden. Das Baudepartement ist dieser
Auffassung beigetreten. Mit der Zusammenfassung der Parkplätze
auf der Parzelle Nr. 2978 und der Beschränkung auf eine Zufahrt
werde der Verkehrsfluss auf dem Galliweg möglichst wenig
2002
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
255
behindert und die Verkehrssicherheit allgemein erhöht. Ästhetische
Gründe und der sparsame Umgang mit Land sprächen ebenfalls für
eine solche Lösung. § 21 Abs. 2 lit. d ABauV verlange zudem eine
sorgfältige und rationelle Erschliessung sowie gemeinsame Autoab-
stellanlagen. Nicht über die gemeinsame Zufahrt erschlossene Ab-
stellplätze stellten das gewählte Parkierungskonzept im Nachhinein
wieder in Frage.
b) Das Institut der Gesamt- oder Arealüberbauung schöpft sei-
nen Sinn aus den Mängeln der Regelbauweise, die sich an die vor-
handene und aus der Sicht der Planung zufällige, meist kleinräumige
Grundstückseinteilung halten muss und daher tendenziell zu einer
monotonen, gestalterisch wenig hervorstechenden Überbauung, zu
einer unzureichenden Ausnützung des Bodens und zu einem mittel-
mässigen Standard der Infrastrukturanlagen führt; mit der Gesamt-
oder Arealüberbauung soll und kann dagegen auf einem grösseren
Areal, das die Ausmasse der gewöhnlichen Einzelparzellen über-
schreitet, eine einheitliche, städtebaulich und architektonisch sowie
infrastrukturmässig überdurchschnittliche Lösung mit guter, d.h.
rationeller und funktionsgerechter Ausnützung des Bodens erreicht
werden (AGVE 1984, S. 307 mit Hinweis). Diese Qualitätsziele sind
in § 21 Abs. 2 ABauV detailliert aufgelistet (siehe auch § 102 der
Bau- und Nutzungsordnung der Gemeinde Rothrist [BNO] vom
23. November 1989 / 5. November 1991). Der Bauherr, der sich
ihnen unterzieht, darf regelmässig einen Bonus, etwa hinsichtlich der
zulässigen Ausnützung, in Anspruch nehmen (so die §§ 49 f. BNO).
Dass sich die Höhe der qualitativen Anforderungen auch bei
späteren baulichen Änderungen entsprechend auswirken muss, liegt
auf der Hand. Der Bauherr hat den ihm zustehenden Bonus "konsu-
miert", folglich haben er und seine Rechtsnachfolger auch dafür zu
sorgen, dass das mit der Gesamt- oder Arealüberbauung verfolgte
Gestaltungsziel nicht durch nachträgliche Veränderungen verwässert
wird (siehe den VGE III/69 vom 13. Dezember 1977 in Sachen W.,
S. 5). Die Baubewilligungsbehörde darf dabei einen strengen Mass-
stab anlegen, damit die architektonische Homogenität solcher Über-
bauungen gewahrt bleibt.
2002
Verwaltungsgericht
256
c) Die hier zu beurteilende Arealüberbauung bildet nun aller-
dings in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall:
aa) Die Baubewilligung für die in Frage stehende Arealüber-
bauung wurde nicht im ersten Anlauf erteilt. Im Jahre 1992 ersuchte
die Architekturfirma B. AG den Gemeinderat um einen Vorentscheid
für eine Gesamtüberbauung mit 19 Wohneinheiten auf den Parzellen
Nrn. 111 und 2978. Der kommunale Ortsplaner verfasste hierüber
mit Datum vom 14. September 1992 nach Massgabe von § 33
ABauV (in der bis zum 27. August 2000 geltenden Fassung) sowie
§ 12 Abs. 2 und § 103 Abs. 4 BNO ein Gutachten. Darin wurde u.a.
festgestellt, dass die notwendigen Autoabstellplätze mit 28 Parkfel-
dern für die Bewohner (11⁄2 pro Wohnung) und 6 für die Besucher
ausgewiesen seien; 19 Abstellplätze seien unterirdisch angeordnet (S.
2). Das Projekt wurde dann überarbeitet, namentlich weil die zuläs-
sige Ausnützungsziffer von 0.5 gemäss § 49 BNO überschritten war,
was die Reduktion um eine Wohneinheit bedingte. Im Weitern wurde
die Zahl der Abstellplätze für die Bewohner von 28 auf 21 reduziert,
und zudem verzichteten Baukommission und Gemeinderat auf eine
(teilweise) unterirdische Parkierung. Für diese Änderungen wurde
die Meinung des Gutachters nicht mehr eingeholt, obwohl dies auf
Grund von § 33 ABauV sowie § 103 Abs. 4 und § 12 Abs. 2 BNO
erforderlich
gewesen
wäre.
Entgegen
der
gemeinderätlichen
Auffassung sind das ursprüngliche und das überarbeitete Projekt
keineswegs praktisch identisch. Von Bedeutung ist namentlich, dass
im realisierten Projekt - abweichend von § 102 Abs. 2 lit. f BNO -
sämtliche Autoabstellplätze, d.h. insgesamt 18 mehr als im ersten
Projekt, oberirdisch angelegt wurden; da die "gute architektonische
Gestaltung (...) der
Freiräume" und "gute Spiel-, Freizeit-,
Erholungs- und Gartenanlagen sowie ökologische Ausgleichsflä-
chen" unter den Qualitätsanforderungen ausdrücklich aufgeführt sind
(§ 21 Abs. 2 lit. b und f ABauV; siehe auch § 102 Abs. 2 lit. e BNO),
erscheint es unter dem gestalterischen Aspekt durchaus relevant,
wenn durch oberirdische Abstellplätze zusätzlich freie Flächen
beansprucht werden. Insofern wenden die Beschwerdeführer zu
Recht ein, "an die Arealüberbauung Galliweg (könnten) nicht die
gleich hohen Anforderungen gestellt werden, wie üblich".
2002
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
257
bb) Die Beschwerdeführer haben in ihrer Stellungnahme vom
5. November 2002 darauf hingewiesen, dass der Gemeinderat seit
Jahren vier Einzelparkplätze toleriere, welche auf den Parzellen
Nrn. 3236-39 in Abweichung von dem der Arealüberbauung zu-
grundeliegenden Parkierungskonzept erstellt worden seien. Dieser
Sachverhalt hat sich an der verwaltungsgerichtlichen Augenscheins-
verhandlung bestätigt. Es handelt sich dabei um Längsparkplätze,
welche südwestlich der Häuser 1-4 mutmasslich im Zuge der Reali-
sierung der Arealüberbauung im Jahre 1996 mit Rasengittersteinen
angelegt worden sind. Die Vertreter des Gemeinderats haben einge-
räumt, dass die Abstellplätze baubewilligungspflichtig seien; es sei
noch offen, ob das betreffende Verfahren eingeleitet werde, wobei
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Baubewilligung erteilt
würde. Dies zeigt doch, dass der Gemeinderat dem gestalterischen
Moment und dem Kriterium der Einheitlichkeit bei Arealüberbauun-
gen eher wenig Bedeutung beimisst; nachträglichen Änderungen
steht er nicht von Vornherein ablehnend gegenüber. Vor diesem
Hintergrund wird die Argumentation des Baudepartements stark
relativiert.
d) Es kommt hinzu, dass der fragliche Abstellplatz, der in Form
eines als Provisorium gedachten Kiesplatzes bereits besteht, inner-
halb der Arealüberbauung "Galli" praktisch nicht in Erscheinung
tritt. Er liegt peripher im nördlichsten Bereich der Arealüberbauung
und zugleich an deren tiefstem Punkt. Von allen Seiten her wird er
durch die bestehenden Bauten und durch die Bepflanzung weitge-
hend abgeschirmt. Einzig Fussgänger und Autofahrer, die den
Galliweg oder dessen Gehweg benützen und sich in unmittelbarer
Nähe des Abstellplatzes befinden, nehmen diesen überhaupt wahr. Es
kann jedenfalls nicht die Rede davon sein, dass durch ihn das
gestalterische Grundkonzept der Überbauung in irgendeiner Weise
tangiert wird. Unter diesem Gesichtspunkt erweisen sich die Stütz-
mauer, das Gerätehaus und das Dachfenster, welche die Beschwer-
deführer bewilligt erhalten haben, eher als problematisch. | 1,780 | 1,446 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-67_2002-07-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-67.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-67.pdf | AGVE_2002_67 | null | nan |
509a6e39-79f1-5c0c-80dd-81bc1321249f | 1 | 412 | 871,291 | 1,228,348,800,000 | 2,008 | de | 2008
Sozialhilfe
265
[...]
46
Kürzung der materiellen Hilfe
-
Grenze der Kürzung bei gebundenen Auslagen (§ 15 Abs. 2 SPV).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 23. Dezember 2008 in Sa-
chen Einwohnergemeinde X. gegen das Bezirksamt Bremgarten
(WBE.2008.315).
Aus den Erwägungen
2.4.
2.4.1.
Gemäss § 15 Abs. 2 SPV liegt die Grenze der zulässigen Kür-
zungen bei 65 % des Grundbedarfs, wobei diese Grenze auch bei der
Kürzung von gebundenen Ausgaben nicht unterschritten werden darf.
Vorliegend hat die Sozialbehörde auf eine Kürzung des Grund-
bedarfs II verzichtet, indessen für den Autoeinstellplatz (Fr. 110.--),
für die Krankenversicherung nach VVG (Fr. 150.--), für drei Bastel-
räume (Fr. 360.--) und für Autobetriebskosten (Fr. 350.--) gebunde-
nen Ausgaben als (hypothetisches) Einkommen in der Höhe von
Fr. 970.-- aufgerechnet und zudem bei der Bedarfsberechnung den
Autoabzug (Fr. 350.--) eingesetzt. Begründet werden die Aufrech-
nungen im Wesentlichen mit nicht nachvollziehbaren Vermutungen
zu Einkommen aus Teppichhandel oder "andern Geldquellen" und
unklaren Angaben zu früheren oder neuen Bankkonten oder "Bar-
zahlungsverkehr". Die Begründung erstaunt vor allem, weil der So-
zialdienst im Beschluss vom 18. Dezember 2006 den geringen Ver-
2008
Verwaltungsgericht
266
mögenswert des Teppichlagers festgestellt und auf eine Verwertung
verzichtet hatte. Die aufgerechneten Auslagen sind aber unbestritten
Aufwand des Beschwerdegegners und belegen allenfalls eine
zweckwidrige Verwendung der Sozialhilfe, können aber keinesfalls
mit (hypothetischen) Einnahmen gleichgesetzt werden. Vorausset-
zungen für die Aufrechnung gebundener Ausgaben sind ent-
sprechende Anordnungen an die Hilfe suchenden Personen mittels
Auflagen und Weisungen (vgl. SKOS-Richtlinien, Kapitel A.8).
Die Sozialbehörde hat somit die materielle Unterstützung an
den Beschwerdegegner und seine Familie um insgesamt Fr. 1'320.--
an gebundenen Auslagen gekürzt und mit der zusätzlichen Kürzung
um 18 % des Grundbetrags (Fr. 377.--) die Kürzungsgrenze von
Fr. 933.25 (Fr. 2'095.-- x 35 % + Fr. 200.-- Grundbedarf II) um
Fr. 763.75 überschritten.
Die Überprüfung der vorinstanzlichen Berechnung (Fr. 350.--
Autoabzug; Fr.
438.-- gebundene Auslagen; 10
%-Kürzung
Fr. 209.50) ergibt ein Total von Fr. 997.50 und liegt damit um
Fr. 64.25 über der für die Existenzsicherung zulässigen Kürzung.
2.4.2.
Nach den Feststellungen der Vorinstanz wird die Miete für den
(dritten) Bastelraum und für den Autoabstellplatz vom Bruder des
Beschwerdegegners übernommen. Gemäss der Bestätigung vom
12. Februar 2008 bezahlt der Bruder diese Mietkosten.
Zu den eigenen Mitteln gehören alle geldwerten Leistungen,
u.a. alle Einkünfte und Forderungen sowie Zuwendungen aller Art
(§ 11 Abs. 1 SPG). Zuwendungen im Sinne dieser Bestimmung sind
freiwillige Leistungen Dritter mit einem wirtschaftlichen Wert, die
ansonsten über den Grundbedarf zu decken sind (§ 11 Abs. 2 SPV).
Ist tatsächlich davon auszugehen, dass die Mieten für den Abstell-
platz und einen Bastelraum vom Bruder des Beschwerdegegners be-
zahlt werden und Letzterem kostenlos zur Verfügung stehen, liegt
eine private Leistung im Sinne der zitierten Bestimmung vor. Erfolgt
die Leistung nicht in Bargeld bzw. kann sie nicht unmittelbar zur Be-
streitung des Lebensunterhalts herangezogen werden, so ist eine An-
rechnung als Einkommen nicht zulässig, zumal weder der Abstell-
platz noch der zusätzliche Bastelraum zum Grundbedarf des Be-
2008
Sozialhilfe
267
schwerdegegners und seiner Familie gehören. Die Sozialbehörden
hatten schliesslich von den Bastelräumen des Beschwerdegegners
seit 21. Juni 2006 Kenntnis, bis heute wurde dem Beschwerdegegner
aber keine Auflage oder Weisung zur Kündigung der Mietverträge
erteilt.
Die Kürzungen der Vorinstanz sind somit nur in der Höhe von
insgesamt Fr. 559.50 (Fr. 350.-- Autoabzug + Fr. 209.50 Kürzung
Grundbetrag) rechtmässig.
2.5. (...)
2.6.
Im Hinblick auf die Frage, ob in Zukunft nach rechtsgenügli-
cher Auflage bzw. Weisung und Verwarnung erneut eine Kürzung der
materiellen Hilfe angeordnet werden könnte, sofern der Be-
schwerdegegner weiterhin die Bastelräume und den Abstellplatz
mietet bzw. Mietkosten trägt, erscheinen folgende Aspekte wesent-
lich:
2.6.1.
Vermuten die Sozialbehörden, der Beschwerdegegner verfüge
über ein nicht deklariertes bzw. nicht nachweisbares Einkommen, mit
welchem er diese oder andere Auslagen finanziert, so sind sie gehal-
ten, entsprechende Abklärungen zu treffen (§ 20 Abs. 1 VRPG). Es
ist klarerweise nicht zulässig, die Unterstützungsleistungen allein
aufgrund vermuteter, aber in keiner Art und Weise nachgewiesener
Einkünfte zu kürzen oder einzustellen. Die erforderlichen Auskünfte
können nötigenfalls mittels Verfügung eingeholt werden; werden sie
verweigert, kann dies - nach entsprechender Verwarnung - mit einer
Kürzung oder gegebenenfalls Verweigerung der Unterstützungslei-
stungen geahndet werden (§ 15 SPV).
2.6.2.
Ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner solche Aus-
lagen durch eine Zweckentfremdung von Sozialhilfegeldern finan-
ziert, drängt sich gestützt auf § 13 SPG z.B. die Auflage bzw. Wei-
sung auf, die Mietverträge zu kündigen. Wird sie und die ent-
sprechende Verwarnung (§ 13 Abs. 2 SPG) nicht befolgt, rechtfertigt
sich eine Kürzung gemäss § 15 SPV. Diese Massnahme ist indessen
zu befristen oder an die auflösende Bedingung zu knüpfen, dass die
2008
Verwaltungsgericht
268
Kürzung dahin fällt, sobald die Auflage bzw. Weisung erfüllt ist.
Dem Sozialhilfeempfänger soll schliesslich die Gelegenheit geboten
werden, sich wiederum kooperativ zu verhalten (Felix Wolffers,
Grundriss des Sozialhilferechts, 2. Auflage, Bern 1999, S. 169).
2.6.3.
Eine Auflage oder Weisung im dargestellten Sinne erschiene im
Übrigen auch dann vertretbar, wenn zwar solche Auslagen während
der Dauer der Sozialhilfe vollumfänglich drittfinanziert wären, das
Geld aber später zurückbezahlt werden müsste. Unter "Verhaltensre-
geln, die nach den Umständen angebracht erscheinen" (§ 14 lit. f
SPV), lassen sich auch Anordnungen subsumieren, welche einer Ver-
schuldung entgegenwirken.
2.6.4.
In jedem Fall ist es unabdingbar, dass die Sozialbehörden genau
angeben, gestützt auf welchen Sachverhalt (nicht deklariertes Ein-
kommen [siehe vorne Erw. 2.6.1], Missbrauch der Sozialhilfe [siehe
vorne Erw. 2.6.2] oder Zuwendung durch nicht unterstützungspflich-
tige Dritte [siehe vorne Erw. 2.6.3]) eine Kürzung der materiellen
Hilfe erfolgt. Ansonsten wird gegen die Begründungspflicht (§ 23
Abs. 4 VRPG) verstossen. | 1,589 | 1,195 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-46_2008-12-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-46.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-46.pdf | AGVE_2008_46 | null | nan |
50c4db73-7c0c-50a6-9d41-3bfb631dcd81 | 1 | 412 | 871,704 | 1,296,777,600,000 | 2,011 | de | 2011
Verwaltungsgericht
188
[...]
48 Kindergartenzuteilung
-
Die Abweisung eines Gesuches um Umteilung in einen andern Kin-
dergarten stellt eine Verfügung dar.
-
Die Abgrenzung schulorganisatorischer Massnahmen von Realakten.
-
Nichteintretensentscheide, welche eine anfechtbare Verfügung ver-
neinen, können mit Beschwerde angefochten werden.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 23. Februar 2011 in
Sachen A. und B. gegen O. und Z. (WBE.2010.281).
2011
Schulrecht
189
Aus den Erwägungen
1.2.
Der Schulrat hat seinen Entscheid vom 23. Juni 2010 mit einer
Rechtsmittelbelehrung versehen, wonach sein Entscheid mit Ver-
waltungsbeschwerde beim Regierungsrat angefochten werden kann.
Die für den Regierungsrat instruierende Behörde, das BKS, vertritt
mit Unterstützung des Rechtsdienstes des Regierungsrates die Auf-
fassung, beim erstinstanzlichen Entscheid der Schulpflege O. vom
7. Juni 2010 handle es sich um eine schulorganisatorische Massnah-
me, welche auch nach Inkrafttreten des revidierten Verwaltungs-
rechtspflegegesetzes vom 5. Dezember 2007 nicht angefochten wer-
den könne. Aus den gleichen Überlegungen ist der Schulrat auf die
Beschwerde nicht eingetreten. Den Nichteintretensentscheid begrün-
dete der Schulrat insbesondere damit, dem angefochtenen Entscheid
der Schulpflege komme keine Verfügungsqualität zu und er stelle
einen Realakt dar. Aus diesen Gründen fehle ein zulässiges Anfech-
tungsobjekt, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten sei.
Unabhängig davon, ob diese Betrachtungsweise zutrifft oder
nicht, d.h. ob der Schulrat auf die Beschwerde zu Recht oder zu Un-
recht nicht eingetreten ist (dazu nachfolgend Erw. II/2), handelt es
sich bei seinem Nichteintretensbeschluss um einen nach § 41 VRPG
weiterziehbaren Entscheid. In diesem (End-) Entscheid wird das
Verfahren vor dem Schulrat formell mit einem Prozessentscheid ab-
geschlossen. Verneint der Schulrat als Beschwerdeinstanz das Vor-
liegen einer anfechtbaren Verfügung, so ist der so motivierte Nicht-
eintretensentscheid der Überprüfung zugänglich (vgl. Michael
Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem
aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege [Kommentar
zu den §§ 38-72 VRPG], Diss. Zürich 1998, § 38 N 20 VRPG). Im
Rechtsmittelverfahren zu prüfen ist die Rechtmässigkeit des Nicht-
eintretensentscheides. Eine (unbegründete) Beschwerde gegen einen
Nichteintretensentscheid führt bei im Übrigen gegebenen Sachur-
teilsvoraussetzungen zur
Abweisung
der Beschwerde und nicht zu
einer (vorfrageweisen) Überprüfung der materiellen Rechtslage mit
anschliessendem Nichteintretensentscheid, falls die Prüfung ergibt,
2011
Verwaltungsgericht
190
dass der vorinstanzliche Entscheid zutreffend ist. Im angefochtenen
Entscheid des Schulrates ist deshalb die Rechtsmittelbelehrung mit
Verwaltungsbeschwerde an den Regierungsrat korrekt (§ 78 SchulG;
vgl. auch § 50 Abs. 1 lit. a VRPG).
Aus diesen Erwägungen folgt die Zuständigkeit des Regie-
rungsrates für die Beschwerde gegen den Entscheid des Schulrates
vom 23. Juni 2010.
1.3. (...)
2.-5. (...)
II.
1.
Der Schulrat ist auf die Beschwerde nicht eingetreten, mit der
Begründung, der Zuteilungsentscheid der Schulpflege habe keinen
Verfügungscharakter, sondern sei eine organisatorische Massnahme,
ein sogenannter Realakt. Es fehle somit an einem zulässigen Anfech-
tungsobjekt und die Mitteilung der Schulpflege sei fälschlicherweise
mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen worden.
2.
2.1.
Anfechtungsobjekt im Beschwerdeverfahren vor dem Schulrat
ist der Beschluss der Schulpflege vom 7. Juni 2010. Die Schulpflege
hat ein Gesuch der Beschwerdeführer um Zuweisung ihrer Tochter in
den Kindergarten "Y." "aus organisatorischen Gründen" abgelehnt.
Die Mitteilung der Schulpflege vom 7. Juni 2010 erfüllt alle formel-
len und inhaltlichen Voraussetzungen eines Entscheides im Sinne
von § 26 Abs. 1 bis 4 VRPG. Die Schulpflege hat als zuständige
Behörde ein Gesuch der Beschwerdeführer mit dem sie einen An-
spruch auf den Besuch des Kindergartens "Y." geltend machten, ab-
gewiesen.
Die Überlegung, dieses Schreiben sei ein blosser Realakt oder
eine (informelle) organisatorische Anordnung, vermag angesichts
von Form und Inhalt dieses Schreibens nicht zu überzeugen. Unab-
hängig von der rechtlichen Qualifikation eines Entscheides über die
Zuteilung eines Kindergärtners an einen bestimmten Kindergarten
stellt die Abweisung eines Gesuches über einen behaupteten An-
spruch auch inhaltlich eine Verfügung dar. Mit dem Gesuch haben
2011
Schulrecht
191
die Beschwerdeführer einen Rechtsanspruch auf eine Umteilung
ihrer Tochter C. in den Kindergarten "Y." behauptet und geltend ge-
macht. Die Schulpflege ist auf das Gesuch eingetreten, hat es abge-
wiesen und damit materiell behandelt.
Der Entscheid der Schulpflege vom 7. Juni 2010 vereinigt da-
mit alle Elemente des Verfügungsbegriffs und ist gemäss § 75 Abs. 1
SchulG bzw. § 41 Abs. 1 VRPG mit Beschwerde anfechtbar.
Der Schulrat hätte daher auf die Beschwerde eintreten müssen.
Insoweit ist die Beschwerde begründet.
2.2.
Nicht eine Frage des (zulässigen) Anfechtungsobjekts als Pro-
zessvoraussetzung im Beschwerdeverfahren ist, ob die Schulpflege
O. diesen Entscheid als Verfügung erlassen durfte. Die Prüfung der
Sachurteilsvoraussetzungen (auch) des erstinstanzlichen Entscheides
ist von Amtes wegen Gegenstand der Rechtsmittelverfahren
(AGVE
2009, S.
292 [betr. Legitimation]; AGVE 2000, S.
356
Erw. 1c [betr. Frist]; je mit Hinweisen). Verneint eine Rechtsmittel-
instanz die Sachurteilsvoraussetzungen für den erstinstanzlichen Ent-
scheid, ist die Verfügung von Amtes wegen zu korrigieren. Soweit
der Schulrat und das BKS die Auffassung vertreten, die Schulpflege
habe gar nicht verfügen dürfen oder können, weil ihrem Beschluss
(von Gesetzes wegen) kein Verfügungscharakter oder der Schul-
pflege keine Verfügungsbefugnis zukommt, hätte der Schulrat eine
ungültige Verfügung der Schulpflege von Amtes wegen aufheben
müssen.
2.3.
2.3.1.
Die Auffassung der kantonalen Schulbehörden wonach es sich
bei der Verfügung vom 7. Juni 2010 (nur) um einen Realakt oder
eine organisatorische Anordnung handelt, vermag auch dogmatisch
nicht zu überzeugen. Erstens kann nach den Gesetzen der Logik die
Eröffnung und Zustellung des Entscheides nicht als eine nicht-
existente Verfügung qualifiziert werden, sie war allenfalls ungültig.
Realakte sind sodann Tathandlungen bzw. Verwaltungsmassnahmen,
die nicht auf einen rechtlichen, sondern einen tatsächlichen Erfolg
gerichtet sind. Sie begründen keine unmittelbaren Rechte und Pflich-
2011
Verwaltungsgericht
192
ten der Privaten, sondern gestalten unmittelbar die Faktenlage in dem
sie Tatsachen schaffen (Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhlmann,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Auflage, Zürich 2010, Rz. 874c;
Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/Markus Müller, Allgemeines Ver-
waltungsrecht, 3. Auflage, Bern 2009, § 38 N 1 f., insbesondere N 4).
Die Abweisung eines Gesuches schafft keine Tatsachen, sondern ist
auf Rechtswirkungen ausgerichtet. In jedem Fall stellt ein solcher
Entscheid zumindest hoheitlich fest, dass dem Gesuchsteller der be-
hauptete Rechtsanspruch aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen
nicht zusteht.
2.3.2.
Nach der Rechtsprechung von Regierungsrat und Schulbehör-
den gelten die Zuweisung von Schülerinnen und Schülern in Schul-
abteilungen, von Kindern in Kindergartenabteilungen, die Zuteilung
zu einem bestimmten Schulhaus oder zu einem Berufsschulstandort
als nicht anfechtbare schulorganisatorische Massnahmen
(AGVE 2000, S. 596 f.; AGVE 1996, S. 557 f.; RRB 2005-001011).
Die Rechtsprechung erging unter dem Verwaltungsrechtspflegegesetz
1968 und wurde damit begründet, dass diese Anordnungen die Rech-
te und Pflichten eines Schul- bzw. Kindergartenkindes nicht tangie-
ren und ein Rechtsschutz gegen solche Anordnungen die Schulor-
ganisation massiv erschweren würde. Das BKS und der regie-
rungsrätliche Rechtsdienst möchten an dieser Praxis unter dem neuen
Verwaltungsrechtspflegegesetz weiterhin festhalten.
Ein Kennzeichen der angeführten schulorganisatorischen An-
ordnungen im Bildungswesen ist, dass sie in der Regel formlos erge-
hen. Es handelt sich dabei um Realakte, die in der Typisierung ihrer
Verhältnisse zum Entscheid, tatsächliches Verwaltungshandeln oder
verfügungsvertretende Akte der normalen Verwaltungstätigkeit dar-
stellen (vgl. dazu Häfelin/Müller/Uhlmann, a.a.O., Rz.
866
ff.;
Tschannen/Zimmerli/Müller, a.a.O., § 38 N 14 ff.)
Bei diesen Realakten stellen sich regelmässig Fragen des
Rechtsschutzes. In der Literatur und Rechtsprechung werden ver-
schiedene Ansätze diskutiert (vgl. dazu Paul Richli, Zum Rechts-
schutz gegen verfügungsfreies Staatshandeln in der Totalrevision der
Bundesrechtspflege, in: AJP 1998, S. 1426 ff.; Häfelin/Müller/Uhl-
2011
Schulrecht
193
mann, a.a.O., Rz. 736a ff. mit Hinweisen; Markus H.F. Mohler, Zur
Anfechtbarkeit polizeilicher intervenierender Realakte unter dem Ge-
sichtspunkt der Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV - Justizre-
form, in: AJP 2007, S. 461 ff.; BGE 130 I 369, Erw. 6.1 mit Hin-
weis). Das Bundesgericht lässt ausnahmsweise die Anfechtung eines
Realaktes zu, wenn die organisatorische Massnahme ein durch
Verfassung oder durch Gesetz geschütztes Recht, wie zum Beispiel
den Anspruch auf Elementarausbildung, tangiert (Herbert Plotke,
Schweizerisches Schulrecht, 2. Auflage, Bern/Stuttgart/Wien 2003,
Abschnitt 21.723). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann
ein Rechtsschutzinteresse auch dann vorliegen, wenn dem Schüler
besondere Verhaltenspflichten oder sonstige besondere Nachteile zu-
gemutet werden. Organisatorische Anordnungen können demnach
praxisgemäss regelmässig auf dem Rechtsmittelweg angefochten
werden, falls sie die Interessen des einzelnen Schülers in spezifischer
Weise berühren (Urteil des Bundesgerichts vom 28. März 2002
[2P.324/2001], Erw. 3.3).
2.3.3.
Im Rahmen der Justizreform wurde der Rechtsschutz bezüglich
des tatsächlichen Verwaltungshandelns auf Bundesebene ausgeweitet
und der Art. 25a VwVG eingeführt. Dieser bezieht sich auf die
gesamte verfügungsfreie Verwaltungstätigkeit und besagt, dass Per-
sonen, welche ein schutzwürdiges Interesse haben, von der zuständi-
gen Behörde eine Verfügung über Handlungen verlangen können, die
sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und Rechte und
Pflichten berühren (Häfelin/Müller/Uhlmann, a.a.O., Rz. 737a ff.).
Sinn und Zweck des Art. 25a VwVG ist die Verkleinerung des
Rechtsschutzdefizits, welches vor der Revision der Bundesrechts-
pflege im Bereich des tatsächlichen Verwaltungshandelns bestanden
hat (BGE 136 V 156, E. 4.2). Art. 25a VwVG ist allerdings im kanto-
nalen Verwaltungsprozessrecht nicht unmittelbar anwendbar. Im
Rahmen ihrer Organisations- und Verfahrensautonomie sind die Kan-
tone frei, eine abweichende Lösung zur Gewährleistung der Rechts-
weggarantie des Art. 29a BV zu treffen (Häfelin/Müller/Uhlmann,
a.a.O., Rz. 737d; Christina Kiss, Rechtsweggarantie und Totalrevi-
sion der Bundesrechtspflege, in: ZBJV 1998, S. 291 ff.).
2011
Verwaltungsgericht
194
Im Verwaltungsrechtspflegegesetz fehlt eine Bestimmung, wel-
che den Beschwerdeweg analog zu Art. 25a VwVG mittels eines
Anspruchs auf eine Feststellungsverfügung öffnet. Stattdessen wurde
in § 60 Abs. 1 lit. d VRPG die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts
im Klageverfahren für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten für jene
Fälle begründet, "in denen in Rechtspositionen von Privaten einge-
griffen wird, ohne dass ein Entscheid ergeht oder Klage vor einer
anderen Instanz erhoben werden kann". Nach dem Willen des Ge-
setzgebers soll diese Zuständigkeitsnorm den Rechtsschutz nach
Art. 29a BV, die Rechtsschutzgarantien der EMRK und des Interna-
tionalen Pakts über die bürgerlichen und politischen Rechte im Sinne
einer Auffangnorm gewährleisten (Botschaft des Regierungsrates
vom 14. Februar 2007 [07.27] S. 73/74). Entsprechend restriktiv sind
die Voraussetzungen für diese Zuständigkeit normiert und verlangen
insbesondere, dass "kein Entscheid ergeht". Aus diesem Wortlaut und
aus dem systematischen Bezug zur Gleichstellung der Rechtsver-
weigerung mit anfechtbaren Entscheiden (§ 41 Abs. 2 VRPG) einer-
seits und zur Beschwerdemöglichkeit bei einer (behaupteten) Ver-
letzung der Rechtsweggarantie (§ 54 Abs. 4 VRPG) andererseits
folgt, dass in allen Fällen, in denen ein Entscheid einer Verwaltungs-
behörde
tatsächlich
ergeht, vorliegt oder verweigert wird, der
Rechtsschutz im Beschwerdeverfahren zur Anwendung kommt.
2.3.4.
Im vorliegenden Fall hat die Kindergartenleitung über die Zu-
teilung der Kinder in die Kindergärten "X." und "Y." definitiv ent-
schieden. Im Nachgang zu dieser (formlosen) Zuteilung der Tochter
der Beschwerdeführer in den Kindergarten "X." hat die Schulpflege
O. das Gesuch der Beschwerdeführer um eine Umteilung ihrer
Tochter C. in den Kindergarten "Y." abgelehnt. Streitgegenstand im
Beschwerdeverfahren vor dem Schulrat war daher nicht die organi-
satorische Zuteilung der Kindergartenleitung, sondern das im ange-
fochtenen Entscheid abgelehnte Gesuch um Umteilung von C.. Ob
die von der Kindergartenleitung vorgenommene formlose Zuteilung
eine schulorganisatorische Massnahme, ein Realakt ohne Verfü-
gungscharakter und Anfechtungsmöglichkeit darstellt, kann offen ge-
lassen werden.
2011
Schulrecht
195
Mit dem Entscheid der Schulpflege vom 7. Juni 2010 liegt auch
"tatsächlich" ein Entscheid vor, weshalb § 60 lit. d VRPG keine
Anwendung finden kann. Mit der Abweisung des Gesuches wurde
schliesslich ein (Rechts-) Anspruch auf Umteilung von C. in den
Kindergarten "Y." verneint. Ob die (nachträgliche) Verfügung der
Schulpflege mit Bezug auf die Zuteilung der Kindergartenleitung
allenfalls auch als Feststellung der Rechtmässigkeit einer organisato-
rischen Massnahme zu qualifizieren ist und welcher Rechtsschutz
nach kantonalem Recht bei organisatorischen Anordnungen im Bil-
dungsbereich besteht, muss im vorliegenden Verfahren nicht ab-
schliessend entschieden werden.
Im Hinblick auf die Meinungsäusserungen von Schulbehörden
und Verwaltung erscheint es angebracht, ergänzend auf § 54 Abs. 2
und § 55 Abs. 2 VRPG und die bundesgerichtliche Rechtsprechung
hinzuweisen. Aus dem Bildungsbereich finden sich im Ausnahme-
katalog (§ 54 Abs. 2 VRPG, vgl. auch Art. 83 BGG) nur die Schul-
standorte angeführt, während die Zuteilung von Ausbildungsgängen
und die Festlegung von Klassengrössen an Schulen, wenn auch mit
eingeschränkter Kognition des Gerichts, im Beschwerdeverfahren
anfechtbar sind (§ 55 Abs. 2 VRPG). Letztinstanzliche Entscheide in
Streitigkeiten über die Bestätigung einer Zuweisung von Schülern in
Klassen und Schulhäuser sind nach der bundesgerichtlichen Recht-
sprechung Entscheide, die mit öffentlich-rechtlicher Beschwerde an-
gefochten werden können (Urteil des Bundesgerichts vom 27. März
2008 [2C_495/2007], Erw. 1.1.).
2.4.
Zusammenfassend folgt aus den vorstehenden Erwägungen,
dass der Nichteintretensentscheid des Schulrates in formeller Hin-
sicht - soweit ein Anfechtungsobjekt verneint wurde - und materiell
in Bezug auf den Streitgegenstand (Nichteintreten) aufzuheben ist.
Der Schulrat und der Regierungsrat hätten auf die Beschwerde ein-
treten müssen. Der Entscheid des Schulrates ist aufzuheben. | 3,480 | 2,718 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2011-48_2011-02-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-48.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-48.pdf | AGVE_2011_48 | null | nan |
51207d95-c490-5d02-a9ed-20e696d07f9b | 1 | 412 | 870,056 | 1,396,396,800,000 | 2,014 | de | 2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
110
14
Ausschaffungshaft; Verhältnismässigkeit; Haftvollzug; medizinische Ver-
sorgung
-
Unter Umständen kann eine Ausschaffungshaft, welche lediglich
zwecks Sicherstellung der für die Reisefähigkeit notwendigen medi-
zinischen Versorgung angeordnet wird, verhältnismässig sein
(Erw. 5.).
-
Vor der Inhaftierung hat die haftanordnende Behörde die medizi-
nisch notwendigen Abklärungen vorzunehmen und dem Vollzugs-
personal betreffend medizinische Versorgung klare Anweisungen zu
erteilen. Während des Haftvollzugs muss die durch den Amtsarzt
angeordnete medizinische Behandlung eingehalten werden. Wird
von der angeordneten medizinischen Behandlung ohne Rücksprache
mit dem Amtsarzt abgewichen, ist die medizinische Versorgung
während des Haftvollzugs nicht hinreichend gewährleistet und der
Betroffene aus der Haft zu entlassen (Erw. 6.).
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 11. April 2014 in Sachen Amt für Migration und Integration gegen A.
(WPR.2014.70).
Aus den Erwägungen
5.
Eine Haftanordnung ist dann nicht zu bestätigen, wenn sie im
konkreten Fall gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit verstossen
würde. Die Vertreterin des Gesuchsgegners rügt, die Anordnung
einer Haft einzig zur Sicherstellung einer korrekten Medikation sei
unverhältnismässig.
Im vorliegenden Fall musste ein erster unbegleiteter Ausschaf-
fungsversuch abgebrochen werden, weil der Gesuchsgegner seine
Medikamente nicht ordnungsgemäss zu sich genommen hatte.
Hierauf organisierte das MIKA für den Gesuchsgegner eine Unter-
stützung durch die Spitex und das Spital R.. Nachdem der Gesuchs-
gegner jedoch nachweislich weder mit der Spitex noch mit dem
Spital R. kooperierte als es darum ging, den richtigen Umgang mit
2014
Migrationsrecht
111
der Diabetes-Erkrankung zu erlernen, erscheint fraglich, welches
andere Mittel den Gesuchsgegner dazu verhalten würde, seine Medi-
kation so einzunehmen, dass er am Tag der Ausschaffung flug-
tauglich ist. Eine mildere Massnahme zur Sicherstellung des Voll-
zugs der Wegweisung ist damit nicht ersichtlich bzw. muss als bereits
gescheitert bezeichnet werden. (...)
6.
Gemäss Art. 80 Abs. 4 AuG hat der Richter bei der Überprüfung
des Entscheids über die Anordnung, Fortsetzung und Aufhebung der
Haft unter anderem auch die Umstände des Haftvollzugs zu berück-
sichtigen.
Dazu gehört insbesondere die medizinische Versorgung der In-
haftierten. Dieser ist bei bekannten und vor allem bei gravierenden
gesundheitlichen Problemen von Beginn an bzw. bereits im Zusam-
menhang mit der Festnahme Rechnung zu tragen. Eine freiheitsent-
ziehende Massnahme ist für einen kranken Insassen um ein Vielfa-
ches einschneidender als für eine gesunde Person. Der gesundheitlich
beeinträchtigte Inhaftierte muss und darf sich jederzeit darauf verlas-
sen können, dass er die notwendigen Medikamente erhält, wobei
dem Gefängnispersonal eine erhöhte Verantwortung zukommt. Diese
Verantwortung allein dem Gefängnispersonal aufzubürden, geht je-
doch nicht an. Vielmehr ist es insbesondere bei der erstmaligen In-
haftierung eines bekanntermassen gesundheitlich angeschlagenen In-
haftierten hinsichtlich der zu treffenden medizinischen Vorkehrungen
Aufgabe der haftanordnenden Behörde, sämtliche notwendigen Ab-
klärungen zu treffen und der Haftanstalt klare Anweisungen betref-
fend die medizinische Versorgung des Inhaftierten zu übermitteln.
Das MIKA hat von der Diabetes-Erkrankung des Gesuchsgeg-
ners gewusst und ihn zur Prüfung der Hafterstehungsfähigkeit dem
Amtsarzt zugeführt. Nach der medizinischen Abklärung bestätigte
der Amtsarzt die Hafterstehungsfähigkeit des Gesuchsgegners trotz
Diabetes-Erkrankung mit dem Hinweis auf die Betreuung durch die
Spitex und erteilte den Auftrag, die Spitex habe "allabendlich" für
eine korrekte Medikation zu sorgen und insbesondere die adäquate
Applikation von Insulin sicherzustellen. Die exakte Medikation
wurde in einem separaten Dokument festgehalten. Hierauf wurde der
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
112
Gesuchsgegner in die Ausschaffungshaft überführt. Eine weitere
Rücksprache des MIKA oder des Gefängnispersonals mit dem Amts-
arzt erfolgte offenbar nicht.
Gemäss Aussage des Gesuchsgegners anlässlich der heutigen
Verhandlung erhielt er seit seiner Inhaftierung, d.h. seit dem
10. April 2014, 14.30 Uhr, keine Insulinspritze. Zudem wurde ihm
weder gestattet, seinen Zuckerwert zu bestimmen, noch sich selbst
Insulin zu spritzen, obschon er sich regelmässig am Abend Insulin
spritzen müsse. Die hierauf durchgeführte Befragung des Leiters des
Ausschaffungszentrums Aarau ergab, dass der diensthabende Mitar-
beiter mit dem Gesuchsgegner am Abend des 10. Aprils 2014 über
die Medikamentenabgabe gesprochen und der Gesuchsgegner das
Medikamentenabgabeprotokoll unterzeichnet habe. Dem Protokoll
ist zwar zu entnehmen, dass geplant war, dem Gesuchsgegner um
20.00 Uhr durch die Spitex Insulin zu verabreichen. Dies unterblieb
jedoch offensichtlich. Auf dem Protokoll wurde vielmehr vermerkt,
die Insulinabgabe sei durch den Amtsarzt erfolgt. Nachdem den Ak-
ten kein Hinweis zu entnehmen ist, dass der Amtsarzt effektiv Insulin
verabreicht hatte und dies auch höchst unwahrscheinlich ist, da Insu-
lin üblicherweise zu genau bestimmten Zeiten einzunehmen ist, und
der Amtsarzt die Insulinabgabe durch die Spitex sogar schriftlich
verordnet hatte und zudem auch kein Hinweis dafür vorliegt, dass
das Gefängnispersonal mit dem Amtsarzt Rücksprache genommen
hatte, wurde der Vermerk durch den Journalführer offenbar aufgrund
des mit dem Gesuchsgegner geführten Gesprächs über die Medika-
mentenabgabe angefügt. Anlässlich der heutigen Verhandlung wurde
der Leiter des Ausschaffungszentrums aufgefordert, das Gespräch
nachzustellen und sich mit dem Gesuchsgegner über die Medikamen-
tenabgabe zu unterhalten. Nachdem sich der Leiter des Ausschaf-
fungszentrums zunächst weigerte, der Aufforderung nachzukommen,
zeigte sich rasch, dass eine Verständigung mit dem Gesuchsgegner
auf Englisch gar nicht möglich ist.
Damit steht fest, dass das MIKA seiner Pflicht, vor der Inhaftie-
rung die medizinisch notwendigen Abklärungen zu tätigen und dem
Gefängnispersonal zukommen zu lassen, nachgekommen ist. Ob-
schon das Ausschaffungszentrum über das Aufbieten der Spitex und
2014
Migrationsrecht
113
die notwendige Medikamentenabgabe schriftlich orientiert worden
war, unterblieb die Medikamentenabgabe am Abend des 10. April
2014 und wurde die Spitex offenbar erst auf den 11. April 2014
aufgeboten. Dies ist nicht akzeptabel, weshalb der Gesuchsgegner
mangels hinreichender medizinischer Versorgung unverzüglich aus
der Ausschaffungshaft zu entlassen ist.
Anzumerken bleibt, dass es in Fällen wie dem Vorliegenden
dem Gefängnispersonal nicht frei steht, nach eigenem Gutdünken
über eine Medikamentenabgabe zu entscheiden und es höchst fahr-
lässig ist, gestützt auf Aussagen eines Inhaftierten, mit dem man sich
offensichtlich nur bruchstückhaft und damit nur unzureichend unter-
halten kann, eine verordnete Medikation auszusetzen. Kann kein
Dolmetscher beigezogen werden, der für eine klare Verständigung
mit dem Betroffenen sorgt, ist auf jeden Fall mit dem zuständigen
Arzt Rücksprache zu nehmen. | 1,490 | 1,203 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-14_2014-04-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-14.pdf | AGVE_2014_14 | null | nan |
51744dea-f942-5ea0-9ed7-b7595a2c99dd | 1 | 412 | 870,083 | 1,556,755,200,000 | 2,019 | de | 2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
58
6
Steuerrecht
Ausbuchung eines Guthabens gegenüber einer Tochtergesellschaft zu-
gunsten der Reserven (welche sodann zur Auflösung eines Verlustvortrags
verwendet werden) ist keine steuerneutrale Kapitaleinlage. Dennoch ist
der Vorgang steuerneutral, da das entsprechende Aktionärsdarlehen zu-
sätzlich im Hinblick auf den schlechten Geschäftsgang der Tochtergesell-
schaften gewährt wurde und von einem unabhängigen Dritten nicht ge-
währt worden wäre.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 1. Mai 2019,
in Sachen B. AG gegen KStA und Gemeinderat X. (WBE.2018.358).
Aus den Erwägungen
1.
1.1
Das Spezialverwaltungsgericht, Abt. Steuern, stufte die Vor-
gänge bei der Beschwerdeführerin als echten (erfolgswirksamen)
Sanierungsgewinn ein und begründete dies damit, dass die Mutter-
gesellschaft im Umfang von CHF 8 Mio. einen Forderungsverzicht
vorgenommen und keine Gegenleistung dafür erhalten habe. Die
Darlehen würden zudem nicht als neu oder fortgeführt gelten und
ein Sanierungszweck der Darlehen sei aufgrund der Absicht, die Be-
schwerdeführerin zu verkaufen, in Frage zu stellen.
1.2.
Die Beschwerdeführerin bestreitet demgegenüber das Vorliegen
eines Forderungsverzichts und macht geltend, die Muttergesellschaft
habe mit der Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital auf
keine Vermögenswerte verzichtet, sondern gleichzeitig die Ge-
stehungskosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft um
CHF 8 Mio. erhöht. Es handle sich daher um eine steuerneutrale Ka-
pitaleinlage. Diese Vorgänge seien ausschliesslich in der Bilanz er-
folgt, was die Vorinstanz in Verletzung des Massgeblichkeitsprinzips
nicht beachtet habe. Eventualiter macht sie geltend, es liege - wenn
überhaupt - ein erfolgsneutraler Forderungsverzicht vor, da die Dar-
2019
Steuern und Abgaben
59
lehen wegen des schlechten Geschäftsganges gewährt worden seien
und Dritte nicht zu denselben Konditionen Darlehen in dieser Höhe
gesprochen hätten.
2.
2.1.
Als erfolgsneutrale Vorgänge beschreibt § 70 lit. a StG (über-
einstimmend mit Art. 24 Abs. 2 lit. a StHG; und Art. 60 lit. a DBG)
Kapitaleinlagen von Mitgliedern von Kapitalgesellschaften und Ge-
nossenschaften, einschliesslich Aufgelder und Leistungen à fonds
perdu. Dadurch entsteht kein steuerbarer Gewinn. Entgegen der Leh-
re, welche unter einer Kapitaleinlage jede Erhöhung der Eigenkapi-
talbasis durch die Gesellschafter in der Eigenschaft als Inhaber von
Kapitalanteilsrechten versteht, stellt das Bundesgericht (Urteil
2C_634/2012 vom 20. Oktober 2014) und die Eidgenössische
Steuerverwaltung (ESTV Kreisschreiben Nr. 32 vom 23. Dezember
2010, Ziff. 4.1.1.1), zumindest für die Beurteilung von Forderungs-
verzichten durch Aktionäre im Zusammenhang mit Sanierungen, auf
objektive Kriterien ab. Die Qualifikation einer Leistung als Kapital-
einlage fusst auf der Form, Art und den Umständen der erbrachten
Leistung (PETER BRÜLISAUER/OLIVER KRUMMENACHER, in:
MARTIN ZWEIFEL/MICHAEL BEUSCH [Hrsg.], Bundesgesetz über die
Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden
[StHG], 3. Auflage, Basel 2017, Art. 24 N 379 f.). Offene Kapital-
einlagen sind solche, welche bei der leistenden Muttergesellschaft
und der empfangenden Tochtergesellschaft bewertungs- und buch-
mässig als solche gekennzeichnet sind. Sie sind mit dem tatsäch-
lichen Wert in den jeweiligen Jahresrechnungen aufgeführt und
können handelsrechtlich erfolgsneutral oder -wirksam verbucht wer-
den, was auf den konkreten Sachverhalt ankommt. Als Beispiele
werden formelle Kapitalerhöhungen und à fonds perdu Zuschüsse
genannt. In der Lehre werden i.d.R. auch von Anteilsinhabern im
Rahmen von Sanierungen geleistete Forderungsverzichte zu den Ka-
pitaleinlagen gezählt, was gemäss der Rechtsprechung des Bundes-
gerichts nur ausnahmsweise der Fall sein soll (BRÜLISAUER/
KRUMMENACHER, a.a.O., Art. 24 N 385).
2.2.
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
60
Eine formelle Kapitalerhöhung führte die Beschwerdeführerin
im Zuge der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital nicht durch,
obwohl im Detailkontoauszug der Buchhaltung der Muttergesell-
schaft die Bezeichnung Kapitalerhöhung verwendet wird. Stattdessen
wurden die bestehenden Darlehen um CHF 8 Mio. gegen Reserven
ausgebucht und der den gesetzlichen Reserven zugeführte Betrag von
CHF 8 Mio. gegen Gewinnvortrag verbucht. Damit verschwand der
Verlustvortrag von CHF 6.5 Mio. in der Bilanz der Beschwerde-
führerin vollständig. Als Gegenleistung erhöhte die Muttergesell-
schaft die Gestehungskosten ihrer Beteiligung um CHF 8 Mio. Der
Beschwerdeführerin ist zwar zuzustimmen, dass es bei einer zu
100% am Nominalkapital der Tochtergesellschaft beteiligten Mutter-
gesellschaft grundsätzlich nicht darauf ankommen kann, ob sie für
die Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital Aktien erhält, um
den Vorgang als steuerneutral einzustufen, da die Beteiligungsquote
auf jeden Fall unverändert bei 100% bleibt. Das ist vorliegend jedoch
nicht ausschlaggebend - die Vermögenslage der leistenden Mutter-
gesellschaft verändert sich nämlich grundsätzlich nicht bei solchen
Geschäften, da Gegenleistung und Wertzunahme der Beteiligung zu-
sammen immer ein äquivalentes Entgelt für die erbrachte Leistung
darstellen (MARKUS REICH, Verdeckte Vorteilszuwendungen
zwischen verbundenen Unternehmen, in: ASA, Band 54 1985/86,
S. 625) - vielmehr ist bedeutsam, dass eben gerade keine formelle
Kapitalerhöhung wie sie § 70 lit. a StG fordert, vorgenommen wur-
de. Indem § 70 lit. a StG ausdrücklich die Zuschüsse à fonds perdu
erwähnt und diese als unentgeltliche Leistungen der Beteiligten an
die Kapitalgesellschaft ausserhalb einer Kapitalerhöhung umschrie-
ben werden (BRÜLISAUER/KRUMMENACHER, a.a.O., Art. 24 N 415;
Urteil des Bundesgerichts 2C_634/2012 vom 20. Oktober 2014,
E. 5.2.2), kann es sich bei den Kapitalerhöhungen nur um solche
formeller Art handeln. Die Beschwerdeführerin hätte also eine Kapi-
talerhöhung mittels Verrechnungsliberierung (debt-equity swap) ge-
mäss Art. 650 und 652c OR i.V.m. Art. 634a Abs. 2 und 635 Ziff. 2
OR vornehmen und die in diesem Zusammenhang aufgestellten ge-
setzlichen Vorschriften einhalten müssen (PETER LOCHER, Kommen-
tar zum DBG, Therwil/Basel 2004, Art. 60 N 31). Damit wären die
2019
Steuern und Abgaben
61
Verpflichtungen der Gesellschaft vermindert und gleichzeitig das
nominelle Eigenkapital entsprechend erhöht worden. Weil die
Beschwerdeführerin mit ihrem Verzicht auf die Darlehensforderung
und gleichzeitiger Erhöhung der ursprünglichen Gestehungskosten
ihrer Beteiligung den informellen Weg ohne Kapitalerhöhung
gewählt hat und die entsprechenden Vorschriften nicht eingehalten
hat, ist der Vorgang als blosser Forderungsverzicht und nicht als
Kapitaleinlage zu qualifizieren.
2.3.
Daran vermag auch das von der Beschwerdeführerin angerufene
Massgeblichkeitsprinzip nichts zu ändern. Die (formelle) Mass-
geblichkeit bedeutet zwar, dass die Steuerbehörde auf die von den
Organen der Gesellschaft verabschiedete konkrete Jahresrechnung
abzustellen hat (vgl. ERNST BLUMENSTEIN/PETER LOCHER, System
des schweizerischen Steuerrechts, 7. Aufl., Zürich 2016, S. 326 mit
Hinweisen; vgl. zur Unterscheidung zwischen formeller und mate-
rieller Massgeblichkeit ROLF BENZ, Handelsrechtliche und steuer-
rechtliche Grundsätze ordnungsmässiger Bilanzierung, Zürich 2000,
S. 195). Kommt aber die Steuerbehörde wie hier zum Schluss, es lie-
ge entgegen der Verbuchung in der Jahresrechnung ein erfolgswirk-
samer Vorgang vor, darf sie für steuerliche Zwecke eine Bilanz-
berichtigung vornehmen. In diesem Fall hilft der Beschwerdeführerin
auch die Bestätigung der handelsrechtskonformen Verbuchung durch
die Revsionsstelle nicht weiter (MARKUS BERGER, Probleme der
Bilanzberichtigung, ASA 70 2001/2002, S. 552 f.).
Die von der Beschwerdeführerin gerügte unterschiedliche
Qualifikation desselben Vorgangs bei der Emissionsabgabe (Kapital-
einlage) und bei den direkten Steuern (erfolgswirksamer Forde-
rungsverzicht) mag zwar unbefriedigend erscheinen, ist aber auf-
grund der Unterschiede dieser beiden Steuerarten hinzunehmen.
Art. 5 Abs. 2 lit. a des Bundesgesetzes vom 27. Juni 1973 über die
Stempelabgaben (SR 641.10) behandelt Forderungsverzichte durch
die Gesellschafter als Kapitaleinlage, was die ESTV in ihrem Kreis-
schreiben Nr. 32 in Ziff. 4.1.3 nochmals explizit festhält. Die im
selben Kreisschreiben Nr. 32 enthaltene Einschätzung der ESTV
über die Erfolgswirksamkeit von Forderungsverzichten bei den
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
62
direkten Steuern, hat das Bundesgericht - wie erwähnt - geschützt.
Auch an der Ungleichbehandlung von Forderungsverzichten
zwischen Schwestergesellschaften, welche dem Konzept als geld-
werte Leistungen (Drittvergleich) folgen, einerseits und Forderungs-
verzichten zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften, welche stets
erfolgswirksam sind, andererseits, ist nichts zu ändern, nachdem das
Bundesgericht an seiner mit BGE 115 Ib 269 entwickelten Praxis
festgehalten hat und zwar unter ausdrücklicher Verwerfung der ent-
gegenstehenden Lehrmeinungen (Urteil 2C_634/2012 vom 20. Okto-
ber 2014).
Damit ist vorliegend grundsätzlich von einer erfolgswirksamen
Sanierungsleistung auszugehen.
3.
3.1.
Zu prüfen bleibt, ob eine Ausnahme gemäss Kreisschreiben
Nr. 32 der ESTV, Ziff. 4.1.1.1 vorliegt und der Forderungsverzicht
im konkreten Fall nicht doch eine steuerneutrale Kapitaleinlage dar-
stellt. Dabei ist die Frage zu beantworten, ob es sich, wie die Be-
schwerdeführerin geltend macht, um ein Aktionärsdarlehen handelt,
das im Hinblick auf den schlechten Geschäftsgang gewährt worden
ist und ihr unter den gleichen Umständen von unabhängigen Dritten
nicht zugestanden worden wäre.
3.2.
Die Muttergesellschaft gewährte der Beschwerdeführerin per
31. Dezember 2010 Darlehen über CHF 3 Mio. (Zinssatz 1.86%,
Laufzeit bis Ende 2013) und CHF 25 Mio. (Zinssatz 2.66%, Laufzeit
bis Ende 2016). Dafür wurden neue Darlehensverträge aufgesetzt.
Für die Darlehensgewährung verlangte die Muttergesellschaft keine
Sicherheiten. Mit der Beschwerdeführerin und entgegen der Vorin-
stanz ist festzuhalten, dass dem Darlehen in der Höhe von
CHF 3 Mio. der Sanierungszweck nicht mit dem Hinweis auf den
Ablauf per Ende 2013, also der hier massgebenden Steuerperiode,
abgesprochen werden kann. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht
geltend macht, ist der Zeitpunkt der Darlehensgewährung im Jahr
2010 relevant für die Beurteilung, ob das Aktionärsdarlehen im
Hinblick auf den schlechten Geschäftsgang gewährt worden ist und
2019
Steuern und Abgaben
63
ein unabhängiger Dritter ein solches Darlehen nicht zu denselben
Konditionen gewährt hätte. Die Beschwerdeführerin hat dazu mit
Eingabe vom 28. Februar 2019 folgende Übersicht über ihre
Geschäftszahlen (jeweils per 31.12.) eingereicht:
Aus den beim KStA eingeforderten Jahresrechnungen der Be-
schwerdeführerin geht für das Jahr 2002 ein Jahresgewinn von
CHF 1'370'721.00 und für 2001 ein solcher von CHF 6'318'201.00
hervor. Im Jahr 2004 erfolgte wegen Auslaufens des langfristigen
Darlehens und aufgrund reduzierter Erwartungen an die budgetierten
Zahlen für das Geschäftsjahr 2004 eine Umschuldung mit einer Er-
höhung des Langfristdarlehens. Dass es sich bei den umstrittenen
Darlehen im Jahre 2010 um neu gewährte Darlehen handelt, zeigt
auch die Entwicklung der langfristigen Verbindlichkeiten Aktionär
in der Bilanz (2008: CHF 28 Mio.; 2009: CHF 0; 2010:
CHF 28 Mio.) und der kurzfristigen Verbindlichkeiten Aktionär
(2008: CHF 1.5 Mio.; 2009: CHF 32 Mio.; 2010: 2 Mio.). Die 2010
abgeschlossenen Darlehen weisen denn auch im Vergleich zu den
früheren Darlehen andere Summen, verschiedene Laufzeiten und
veränderte Zinskonditionen auf. Im Anhang der Jahresrechnung 2010
erklärte die Muttergesellschaft überdies gegenüber der Beschwerde-
führerin wegen der Gefahr einer Überschuldung (der Verlust lag
bereits über dem hälftigen buchmässigen Eigenkapital) einen Rang-
rücktritt in der Höhe von CHF 2 Mio.
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
64
3.3.
Die von der Vorinstanz angeführte Tatsache, wonach die Be-
schwerdeführerin in der Steuerperiode 2013 zum Verkauf gestanden
habe, hat keinen erkennbaren Einfluss auf den Sanierungszweck der
im Jahre 2010 gewährten Darlehen. Es ergibt durchaus Sinn, eine
Gesellschaft vor dem Verkauf zu sanieren, um einen höheren Ver-
kaufspreis zu erzielen oder sie überhaupt verkaufen zu können. Eben
so wenig schadet in diesem Zusammenhang die Aufhebung des
zwischenzeitlich auf CHF 6 Mio. angehobenen Rangrücktritts der
Muttergesellschaft zu Gunsten der Beschwerdeführerin per 30. Sep-
tember 2013. Diese Ereignisse beziehen sich auf die Steuerperiode
2013, ausschlaggebend sind jedoch gemäss Bundesgericht (Urteil
2C_634/2012 vom 20. Oktober 2014 E. 6.1.2) und ESTV Kreis-
schreiben Nr. 32 Ziff. 4.1.1.1. lit. a die Verhältnisse im Zeitpunkt der
Darlehensgewährung im Jahre 2010.
3.4.
Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, ob ein unabhängiger
Dritter, angesichts der ausgewiesenen finanziellen Verhältnisse der
Beschwerdeführerin, die von der Muttergesellschaft gesprochenen
Darlehen zu denselben Konditionen gewährt hätte. Dies ist vorlie-
gend auch bei der vom Bundesgericht angemahnten restriktiven An-
wendung der Ausnahmen (Urteil des Bundesgerichts 2C_634/2012
vom 20. Oktober 2014 E. 5.2.4) zu verneinen. Ein unabhängiger
Dritter hätte der Beschwerdeführerin angesichts deren schwierigen
finanzieller Lage und der wirtschaftlich schlechten Aussichten kein
langfristiges Darlehen ohne Sicherheiten in dieser Grössenordnung
gewährt und falls doch, hätte er einen höheren Zins für das Eingehen
dieses höheren Risikos ohne Sicherheiten verlangt. Dem Forde-
rungsverzicht ist daher im vorliegenden Fall ausnahmsweise die Er-
folgswirksamkeit abzusprechen. | 3,058 | 2,389 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-6_2019-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-6.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-6.pdf | AGVE_2019_6 | null | nan |
51a52462-bcba-57d1-bb76-42a41930d729 | 1 | 412 | 872,009 | 1,194,048,000,000 | 2,007 | de | 2007
Verwaltungsgericht
228
56
Bemessen der Verfahrenskosten bei der Vereinigung von Verfahren und
bei Rückweisung.
-
Die Vereinigung von Beschwerdeverfahren verändert das Kostenri-
siko der beteiligten Parteien nicht (Erw. 3.1-3.3).
-
Ein verminderter Bearbeitungsaufwand aus einer Vereinigung von
Beschwerdeverfahren führt zu einer Reduktion der jeweiligen
Staatsgebühr (Erw. 3.2).
-
Wirkung einer Verfahrensvereinigung auf die Bemessung der Partei-
entschädigung (Erw. 4.3.3).
-
Die getrennte Berechnung der Parteientschädigung in Verfahrens-
stadien vor und nach einer Rückweisung ist im AnwT nicht vorgese-
hen (Erw. 4.3.3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 29. November 2007 in Sa-
chen J.B. gegen den Regierungsrat (WBE.2007.52).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Massgebend für die Festsetzung der Staatsgebühr, der Kanzlei-
gebühr und der Auslagen sind das VKD und die Verordnung über die
Kanzleigebühren vom 14. Oktober 1991
(
SAR 661.113). Die Staats-
gebühr ist in der Verwaltungsrechtspflege vor Verwaltungsbehörden
im Beschwerdeverfahren innerhalb eines Rahmens von Fr. 26.-- bis
Fr. 3'910.-- (§ 22 Abs. 1 lit. a VKD) nach dem Zeitaufwand und der
Bedeutung der Sache zu bemessen (§ 3 Abs. 1 VKD). Sie kann in
ausserordentlich zeitraubenden Fällen bis auf Fr. 7'820.-- (§ 3 Abs. 2
i.V.m. § 22 Abs. 1 lit. a VKD) erhöht werden.
Im angefochtenen Entscheid hat der Regierungsrat die Staats-
gebühr auf Fr. 6'400.-- erhöht und die Erhöhung mit einem ausseror-
dentlichen Aufwand für drei Beschwerdeverfahren begründet. Auf
den Beschwerdeführer entfiel nach Abzug des Kostenanteils von X.
(Fr. 1'140.--) und der Kostenverteilung unter die Parteien ein Anteil
von Fr. 2'420.20 oder rund 31,87 %. Mithin beträgt der Anteil des
2007
Verwaltungsrechtspflege
229
Beschwerdeführers an der erhöhten Staatsgebühr rechnerisch rund
Fr. 2'040.-- (31,87 % von Fr. 6'400.--).
3.2.
Weder das VRPG noch das VKD regeln die Folgen und Wir-
kungen einer Vereinigung von mehreren Beschwerdeverfahren; ihre
Zulässigkeit ist aber unbestritten; nach der Praxis ist die prozesslei-
tende Verfügung in jedem Verfahrensstadium aus prozessökonomi-
schen Gründen möglich (§ 57 Abs. 1 VRPG; Alfred Kölz / Jürg
Bosshart / Martin Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflege-
gesetz des Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, Vorbemerkun-
gen zu §§ 4-31 N 33 ff.; BGE 122 II 367 Erw. 1a).
Eine Vereinigung der Verfahren führt weder zu einer Streitge-
nossenschaft der beschwerdeführenden Verfahrensbeteiligten noch
werden ihre Rechte zur selbstständigen Prozessführung beeinträch-
tigt. Kongruent zu ihren Verfahrensrechten hat sich auch das Kosten-
risiko der beteiligten Parteien als Folge einer Vereinigung nicht ver-
ändert. Nach § 33 Abs. 2 VRPG sind die Kosten in der Regel dem
Unterliegenden aufzuerlegen, weshalb unbesehen einer Verfahrens-
vereinigung jeder unterliegenden Partei die auf sie entfallenden
Kostenanteile des sie betreffenden Beschwerdeverfahrens zu über-
binden sind.
Nach dem Verfahrensdekret sind für die drei vereinigten Be-
schwerdeverfahren daher grundsätzlich je separate Staatsgebühren
im Rahmen von § 22 Abs. 1 lit. a VKD festzulegen, wobei der Ver-
fahrensvereinigung im Falle eines verminderten Bearbeitungsauf-
wandes durch eine Reduktion der jeweiligen Staatsgebühren Rech-
nung zu tragen ist (vgl. Thomas Merkli / Arthur Aeschlimann / Ruth
Herzog, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege
des Kantons Bern, 1997, Art. 107 N 5).
Der Regierungsrat hat dieses Vorgehen nur für das Beschwer-
deverfahren der Beschwerdegegnerin (Beschwerdeverfahren 4) ge-
wählt und für dieses Verfahren separate Kosten festgesetzt. Für die
drei vereinigten Verfahren (Beschwerdeverfahren 1 bis 3) wurde nur
eine Staatsgebühr erhoben und dem Mehraufwand für die Behand-
lung von drei Beschwerdeverfahren durch eine Erhöhung der Maxi-
malgebühr Rechnung getragen.
2007
Verwaltungsgericht
230
Die Behandlung von drei Beschwerden ist offensichtlich im
Vergleich zur Behandlung einer einzigen Beschwerde mit einem
Mehraufwand verbunden. Dieser Mehraufwand kann eine Erhöhung
der Staatsgebühr grundsätzlich rechtfertigen (BGE 122 II 367
Erw. 3). Solange die Erhöhung den Rahmen von § 22 Abs. 1 lit. a
VKD für das einzelne Beschwerdeverfahren nicht übersteigt, kann
von einer Rechtsverletzung keine Rede sein. Vorliegend beträgt der
Rahmen für die Staatsgebühr gemäss § 22 Abs. 1 lit. a VKD für die
drei vereinigten Beschwerdeverfahren (ohne Erhöhung gemäss § 3
Abs. 2 VKD) Fr. 11'730.-- (3x Fr. 3'910.--). Das streitige Bauvorha-
ben mit einer Bausumme von Fr. 11,3 Mio. und einem Streitwert von
Fr. 1,13 Mio. (vgl. AGVE 1983, S. 249 ff. und 1989, S. 283 ff.) ist
von der Sache her offensichtlich von einiger Bedeutung und recht-
fertigt ohne Weiteres, den Rahmen von § 22 Abs. 1 lit. a VKD für je-
des der drei Beschwerdeverfahren auszuschöpfen. Bei einem Anteil
des Beschwerdeführers von Fr. 2'040.-- (siehe vorne Erw. 3.1) ist
auch einem durch die Vereinigung entstandener verminderter Bear-
beitungsaufwand der Beschwerde des Beschwerdeführers hin-
reichend Rechnung getragen und bewegt sich in jedem Fall im Er-
messen der Vorinstanz, in das das Verwaltungsgericht aufgrund sei-
ner eingeschränkten Kognition nicht eingreifen kann.
3.3.
Die Vereinigung der drei Beschwerdeverfahren begründet zwi-
schen den einzelnen Parteien keine Streitgenossenschaft und führt
auch nicht zu einem gemeinschaftlichen Kostenrisiko zwischen den
Beschwerdeführenden. Entsprechend ist auch eine gemeinschaftliche
Aufteilung von Kosten zwischen den Verfahrensbeteiligten der drei
Beschwerdeverfahren nicht zulässig (vgl. Merkli / Aeschlimann /
Herzog, a.a.O., Art. 17 N 17). Vielmehr sind die Verfahrenskosten
gleich zu verlegen, wie wenn der Regierungsrat die einzelnen Einga-
ben getrennt behandelt hätte (Kölz / Bosshard / Röhl, a.a.O., Vorbe-
merkungen zu §§ 4-31 N 35; Merkli / Aeschlimann / Herzog, a.a.O.,
Art. 106 N 3).
Der Beschwerdeführer (Beschwerdeverfahren 3) und die
Aktiengesellschaft A. (Beschwerdeverfahren 2) haben je eine Be-
schwerde eingereicht. Die dritte Beschwerde wurde von drei Parteien
2007
Verwaltungsrechtspflege
231
gemeinsam erhoben, und nur diese gemeinschaftliche Beschwerde-
führung begründete zwischen X. und Y. sowie Z. eine einfache
Streitgenossenschaft, womit sie auch das Kostenrisiko für ihre Be-
schwerde (Beschwerdeverfahren 1), nicht aber für die beiden andern
Beschwerdeverfahren gemeinsam tragen. Die vom Beschwerdeführer
beantragte Aufteilung der Verfahrenskosten nach Köpfen ist mit § 33
VRPG nicht vereinbar. Im Ergebnis würde die beantragte Aufteilung
bedeuten, dass X., Y. und Z. durch die Vereinigung schlechter gestellt
wären als bei getrennter Behandlung der Beschwerden.
(Hinweis: Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 5. Mai 2008
(1C 40/2008) eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegen-
heiten gegen das Urteil vom 29. November 2007 abgewiesen, soweit
der vorliegende Urteilsauszug betroffen ist.) | 1,639 | 1,285 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-56_2007-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-56.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-56.pdf | AGVE_2007_56 | null | nan |
51a591f9-b5e6-58cf-aa66-ce91e2f3faa7 | 1 | 412 | 872,031 | 1,136,332,800,000 | 2,006 | de | 2006
Verwaltungsgericht
146
[...]
32
Planungszone und Baubewilligungsverfahren.
-
Rechtswirkungen einer Planungszone (Erw. 2.4).
-
Auswirkungen einer Planungszone auf ein Baubewilligungs- und
Baubeschwerdeverfahren; anwendbares Recht (Erw. 2.5 und 3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 13. Januar 2006 in Sachen
St. gegen den Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
2.4.
§ 59 Abs. 1 BauG verpflichtet die Baubehörden, ein Bauvorha-
ben auf Übereinstimmung mit den öffentlichen Rahmenbedingungen
für die Bautätigkeit, einschliesslich allfälliger Planungszonen, zu
überprüfen (AGVE 2000, S. 247; Erich Zimmerlin, Baugesetz des
Kantons Aargau, Kommentar, 2. Auflage, Aarau 1985, § 150 N 1).
Gemäss § 29 Abs. 2 Satz 2 BauG dürfen Baubewilligungen in einer
Planungszone erteilt werden unter der Voraussetzung, dass sie die
Verwirklichung der neuen Pläne und Vorschriften nicht erschweren
(siehe auch Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RPG). Die Planungszone bewirkt
daher, dass in den von ihr betroffenen Gebieten die Anwendung des
geltenden Rechts im Hinblick auf anstehende Planungsvorhaben
ausgesetzt wird. Baubewilligungen in einem Gebiet mit Planungs-
zone können deshalb nur erteilt werden, wenn sie die planerische
Neuordnung nicht beeinträchtigen (sogenannte negative Vorwirkung;
siehe dazu Alexander Ruch, in: Heinz Aemisegger / Alfred Kuttler /
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
147
Pierre Moor / Alexander Ruch [Hrsg.], Kommentar zum Bundesge-
setz über die Raumplanung [RPG-Kommentar], Zürich 1999, Art. 27
N 45 ff. mit Hinweisen). Eine Planungszone hat somit nicht die Wir-
kung eines allgemeinen oder absoluten Bauverbots. Sie wirkt sich
auch nicht hemmend auf das Baubewilligungsverfahren aus. Die
Sperrwirkung der Planungszone beschränkt sich auf negative, präju-
dizierende Auswirkungen von Bauvorhaben auf die sich im Gang be-
findliche Planung (siehe AGVE 1992, S. 340 für die allgemeine
Bausperre nach § 148 aBauG, welche im Rahmen der Revision von
§ 29 BauG abgelöst wurde [Botschaft des Regierungsrats an den
Grossen Rat vom 21. Mai 1990 zum Baugesetz, S. 21]).
Nach diesen Vorschriften ist in einem Baubewilligungs- und
- aufgrund des Devolutiveffekts einer Baubeschwerde (vgl. § 3
Abs. 2 VRPG i.V.m. §§ 45 ff. VRPG) - auch im Rechtsmittelverfah-
ren deshalb jeweils zu prüfen, ob und inwieweit ein Bauvorhaben die
Planungsabsichten oder -ziele einer Nutzungsplanrevision tatsächlich
behindert oder erschwert. Fehlt einem Bauvorhaben jegliche negative
Präjudizwirkung für die vorgesehene Nutzungsplanänderung und
entspricht es der geltenden Bau- und Nutzungsordnung, ist die Bau-
bewilligung auch in einer Planungszone zu erteilen (siehe AGVE
1992, S. 340). Unzulässig ist die Erteilung einer Baubewilligung,
welche sich nur auf zukünftiges, noch nicht in Kraft getretenes Recht
stützt. Eine positive Vorwirkung der zukünftigen Bau- und Nutzungs-
ordnung (siehe dazu Ruch, a.a.O., Art. 27 N 47 ff.; AGVE 1992,
S. 356 f. mit Hinweisen) ist mit dem Legalitätsprinzip unvereinbar.
Steht nur
ein
(einziges) konkretes Bauvorhaben mit der vorge-
sehenen Nutzungsplanung in Widerspruch, sieht § 30 BauG die
Möglichkeit eines "Zurückstellens" des Baugesuches vor. Nach der
Rechtsprechung kann das "Zurückstellen" eine vorläufige Abweisung
oder eine Sistierung des Verfahrens durch die Baubewilligungs- oder
Rechtsmittelbehörden bedeuten (AGVE 1993, S. 372; siehe auch den
Entscheid des Regierungsrats in AGVE 1995, S. 554).
Durch den Erlass einer Planungszone wird das Vertrauen der
Grundeigentümer in das geltende Recht beseitigt. Sie haben zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich die Rechtslage ihrer Grundstücke
verändern soll und Baubewilligungen nur erteilt werden können,
2006
Verwaltungsgericht
148
wenn feststeht, dass das Bauvorhaben den künftigen planungsrechtli-
chen Festlegungen nicht widerspricht. Die Planungsabsichten kom-
men in Vorstellungen oder Entwürfen über die neue Nutzungsord-
nung zum Ausdruck, welche die Planungsbehörden nicht verpflich-
tend binden und die sich im Verlaufe einer Nutzungsplanrevision än-
dern können (BGE vom 3. November 1982, in: ZBl 1983, S. 545;
Ruch, a.a.O., Art. 27 N 29). Entsprechend dem Zweck der Planungs-
zone (Sicherungsmittel) und dem Planungsvorgang sind daher nicht
allein die bei Erlass oder Anordnung einer Planungszone herrschen-
den Planvorstellungen massgebend, sondern die im Verlaufe des Pla-
nungsprozesses gewonnen Ansichten oder neuen Planungsideen und
-absichten ebenfalls zu berücksichtigen. Bei der Prüfung eines Bau-
vorhabens und der Überprüfung einer Baubewilligung hinsichtlich
der negativen Vorwirkung sind daher immer die im Zeitpunkt der
Beurteilung aktuellen, insbesondere auch seit Erlass der Planungs-
zone veränderten Planvorstellungen massgebend.
2.5.
Von den allgemeinen Rechtswirkungen einer Planungszone auf
Bauvorhaben (siehe vorne Erw. 2.4) zu unterscheiden sind die Fra-
gen der Folgen einer Anwendung der Planungszone auf ein konkretes
Baugesuch, ein laufendes Baubewilligungsverfahren (siehe hinten
Erw. 2.5.1) und auf ein hängiges Rechtsmittelverfahren über eine
Baubewilligung (siehe hinten Erw. 2.5.2).
2.5.1.
Je nach Bauvorhaben, dem Gegenstand eines Baugesuchs, dem
Inhalt oder Zeitpunkt des Erlasses einer Planungszone, können in der
Rechtsanwendung verschiedene Rechtsfolgen mit Bezug auf das
Baugesuch oder ein Baubewilligungsverfahren eintreten. So kann
z.B. ein Bauvorhaben trotz bestehender Planungszone bei Überein-
stimmung mit dem Revisionsvorhaben oder geringfügigen Abwei-
chungen mit den Planungsabsichten bewilligt werden (Ruch, a.a.O.,
Art. 27 N 48). Bei einer negativen Präjudizierung der vorgesehenen
Planung kann ein Baugesuch einstweilen ("bis auf weiteres") zu-
rückgestellt werden (siehe VGE III/39 vom 3.
Mai 2005
[BE.2004.00041], S. 7) oder ein Baubewilligungsverfahren einst-
weilen sistiert werden (Hänni, a.a.O., S. 312). Sodann kann eine Pla-
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
149
nungszone aus sachlichen oder verfassungsrechtlichen Gründen auf
ein konkretes Bauvorhaben oder eine einzelne Parzelle oder ein Bau-
gesuch keine Anwendung finden (siehe BGE 118 Ia 510 Erw. 4;
BGE vom 22. April 2004 [1P.539/2003], Erw. 2.7; Ruch, a.a.O.,
Art. 27 N 27). Schliesslich ist es im Einverständnis mit dem Bauge-
suchsteller auch zulässig, ein Baubewilligungsverfahren im Hinblick
auf zukünftiges Recht zu sistieren (AGVE 1993, S. 373; 1995, S. 554
f.)
2.5.2.
Die Anwendung und die Wirkungen einer Planungszone, die
erst nach Erteilung einer Baubewilligung und während eines
Rechtsmittelverfahrens erlassen wird, sind im Baugesetz und in den
Verordnungen nicht ausdrücklich geregelt. Das Verwaltungsgericht
hat in einem Fall, da sich die Voraussetzungen einer Bausperre erst
vor Verwaltungsgericht aktualisiert haben, die Weiterbehandlung des
Baugesuchs "einstweilen zurückgestellt" und das Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht in einem Zwischenentscheid sistiert. Begründet
wurde dieses Vorgehen damit, dass die Vorinstanzen die Rechtmäs-
sigkeit des Bauvorhabens nach dem geltenden Recht geprüft hätten,
weshalb das Verwaltungsgericht ohne Rückweisung entscheiden
könnte, sofern die Neuordnung aus irgendwelchen Gründen keine
Rechtskraft erlangte (AGVE 1993, S. 372 f.; siehe auch VGE III/57
vom 15. Juli 2004 [BE.2003.00187], S. 20).
Ausgangspunkt für die Rechtsanwendung bildet die Rechtsnatur
der Planungszone, die als Instrument der Nutzungsplanung allge-
meine Rechtswirkung entfaltet (siehe Ruch, a.a.O., Art. 27 N 20).
Die Zuständigkeits- und Rechtsschutzüberlegungen, welche Anlass
für den Verfügungscharakter der allgemeinen Bausperre nach § 148
aBauG (siehe AGVE 1984, S. 321 und 326) waren, sind mit dem In-
krafttreten des Baugesetzes 1993 überholt. Das seit 1. April 1994
geltende Recht regelt die Zuständigkeit und den Rechtsschutz bei der
Planungszone und der Bausperre vollständig und abschliessend
(§§ 29 f. BauG).
Das Verwaltungsgericht wendet bei einer Rechtsänderung zwi-
schen Gesuchseinreichung und der endgültigen, rechtskräftigen Ge-
suchserledigung in Baubewilligungssachen grundsätzlich und in
2006
Verwaltungsgericht
150
Anwendung von § 20 Abs. 1 Satz 2 VRPG das neue, in Kraft ste-
hende Recht an (AGVE 2004, S.191 und 1997, S. 334 mit Hinwei-
sen; 1984, S. 314 mit Hinweisen; VGE III/2 vom 26. Januar 2004
[BE.2002.00145], S. 6 mit Hinweisen). In neueren Entscheiden
wurde hierzu erwogen, dass § 169 Abs. 1 BauG im Sinne einer all-
gemeinen Übergangsbestimmung die Anwendung des neuen Rechts
auch in hängigen Verfahren vorsieht. Immerhin verlangt auch § 170
Abs. 1 BauG für kantonale Nutzungsplanungen die Anwendung des
neuen Rechts, und schliesslich enthält § 48 Abs. 2 ABauV nur für das
Verfahrensrecht übergangsrechtlich einen Vorbehalt zu Gunsten des
geltenden Rechts (siehe dazu auch § 87 VRPG und Jean-Jacques
Forestier, Neues Baugesetz: Übergangsrechtliche Ordnung bei der
kommunalen Nutzungsplanung, in: Mitteilungen des Baudeparte-
ments 1992 Nr. 63, S. 406 ff.). Festzuhalten ist, dass die Rechtsan-
wendung im konkreten Einzelfall auch bei der Berücksichtigung von
übergangsrechtlichen Wirkungen und Folgen einer Rechtsänderung
während eines hängigen Rechtsmittelverfahren immer auch dem
übergeordneten Gesetzes- und Verfassungsrecht zu genügen hat
(Pierre Tschannen / Ulrich Zimmerli, Allgemeines Verwaltungsrecht,
2. Auflage, Bern 2005, § 24 N 19 ff.; Ulrich Meyer / Peter Arnold,
Intertemporales Recht, in: ZSR 2005 I 127 f.).
3.
Die Anwendung dieser Grundsätze auf das vorliegende
Rechtsmittelverfahren über die Baubewilligung ergibt Folgendes:
3.1.
Zu prüfen ist in erster Linie, wie sich die Planungszone auf die
Baubewilligung auswirkt. Zutreffend ist, dass eine Baubewilligung
nur erteilt werden kann, wenn feststeht, dass sie die Verwirklichung
der vorgesehenen Planung oder neuer Nutzungsvorschriften nicht er-
schwert. Damit ist - entgegen der Auffassung des Regierungsrats -
indessen nichts gewonnen für die Frage, wie sich die Planungszone
im Rechtsmittelverfahren auf die Baubewilligung vom 22. Dezember
2003 auswirkt.
In einem weiteren Schritt sind die Folgen der Anwendung der
Planungszone für das Rechtsmittelverfahren nach den Verfahrensre-
geln und Verfassungsgrundsätzen zu prüfen.
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
151
3.2.
Entsprechend den Grundsätzen der negativen Vorwirkung der
mit der Planungszone zu sichernden Planungsabsichten (siehe vorne
Erw. 2.4) ist eine Baubewilligung in einem Rechtsmittelverfahren
nur dann aufzuheben, wenn
feststeht
, dass das bewilligte Projekt
nach den bisher geltenden Vorschriften nicht bewilligungsfähig ist.
Der Umkehrschluss, dass eine Planungszone in einem Rechtsmittel-
verfahren zur Aufhebung jeder noch nicht rechtskräftigen Baubewil-
ligung führt, ergibt sich demgegenüber nicht zwingend. Schon die im
Gesetz vorgesehene Möglichkeit bewilligungsfähiger Bauvorhaben
in einer Planungszone (siehe § 29 Abs. 2 Satz 2 BauG) verbietet ei-
nen solchen Umkehrschluss. Die negative Präjudizierung einer zu-
künftigen Planung kann im Einzelfall auch durch andere Massnah-
men verhindert werden (siehe vorne Erw. 2.5.1). Soweit der Regie-
rungsrat davon ausgeht, dass seine Anordnung der Planungszone für
alle "Gartenanlagen im öffentlichen Besitz" zwingend zur Aufhebung
der Baubewilligung vom 22.
Dezember 2003 im Rechtsmittel-
verfahren führen muss, entspricht dies somit nicht der gesetzlichen
Ordnung. Vielmehr ist auch im Fall einer aufsichtsrechtlichen Pla-
nungszone das Bauvorhaben auf seine negative Präjudizwirkung (Er-
schwerung und Verhinderung) der Planungsabsichten zu überprüfen.
3.3.
Eine Planungszone wird erst mit ihrer Veröffentlichung rechts-
wirksam (§ 29 Abs. 2 Satz 1 BauG) und kann deshalb vor der öffent-
lichen Auflage keinerlei Rechtswirkungen entfalten. Vorliegend
wurde die Planungszone vom 31. Januar bis zum 1. März 2005 öf-
fentlich aufgelegt (Amtsblatt des Kantons Aargau vom 31. Januar
2005). Eine Anwendung und damit Vorwirkung der Planungszone
vor dem Zeitpunkt der öffentlichen Auflage ist ausgeschlossen. Die
Planungszone ist neues Recht und untersteht daher dem Rückwir-
kungsverbot (vgl. § 24 KV; Ulrich Häfelin / Georg Müller, Allge-
meines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2002,
Rz. 329 ff.). § 29 BauG ordnet die sofortige Wirksamkeit einer Pla-
nungszone mit der öffentlichen Auflage ausdrücklich an und lässt in
der Regel keinen Raum für die Anordnung einer rückwirkenden An-
wendung der Planungszone.
2006
Verwaltungsgericht
152
Der Umstand, dass der Stadtrat Baden in der Folge (31. Januar
bis 1. März 2005) die Planungszone öffentlich aufgelegt hat, lässt
zwar eine Heilung dieses Mangels im verwaltungsgerichtlichen Be-
schwerdeverfahren zu. Diese Heilungsmöglichkeit ändert aber nichts
an der fehlenden Rechtswirksamkeit der Planungszone im Zeitpunkt
des vorinstanzlichen Entscheids (24. November 2004).
3.4.
Der Regierungsrat ist aufsichtsrechtlich tätig geworden und hat
in dieser Funktion ein Planbedürfnis der Gemeinde als Folge der An-
nahme der "Kurpark-Initiative" festgestellt. Das Stimmvolk habe mit
der Annahme der Initiative "sein Interesse an einer Nutzungsplanän-
derung" deutlich zum Ausdruck gebracht, und die Initiative sehe
"praktisch ein totales Bauverbot" vor. Aufgrund der Auslegungsdiffe-
renzen über den Inhalt und die Tragweite der Initiative hat der Regie-
rungsrat in bewusstem Gegensatz zum Stadtrat Baden und entgegen
dessen ausdrücklichem Antrag die Planungszone angeordnet. Im
Wesentlichen hat er die Planungszone erlassen, weil mit der An-
nahme der "Kurpark-Initiative" durch die Stimmbürger der Stadt Ba-
den eine Änderung der Nutzungsplanung, insbesondere der Nut-
zungsordnung, und damit ein Planungsbedürfnis absehbar war. Im
Vordergrund stand die Wahrung der demokratischen Rechte der
Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Mit der Planungszone wollte
der Regierungsrat den Planungsbehörden den nötigen Handlungs-
raum für die Ausgestaltung und Auslegung der Initiative schaffen.
3.4.1.
Die Kurpark-Initiative wurde in der Form der allgemeinen An-
regung gemäss § 60 ff. GG i.V.m. § 9 Abs. 1 der Gemeindeordnung
der Einwohnergemeinde Baden vom 25. Mai 1982 (GO) eingereicht.
Die Annahme der Initiative hat zur Folge, dass der Stadtrat eine Teil-
revision der Nutzungsplanung und -ordnung auszuarbeiten und der
Einwohnerrat über diese Planungsvorlage zu entscheiden haben wird
(§ 11 Abs. 2 Satz 2 GO). Die Behörden sind im Hinblick auf Plan-
vorhaben in ihrer Entscheidung, ob eine Planungszone oder eine an-
dere Sicherungsmassnahme zu ergreifen ist, nicht frei (Ruch, a.a.O.,
Art. 27 N 19; siehe auch AGVE 2004, S. 191 mit Hinweisen). Je
nach dem Stand der Planungsabsichten und ihrer möglichen Gefähr-
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
153
dung durch Bauvorhaben nach dem geltenden Recht besteht eine
Pflicht zum Erlass von Planungsmassnahmen, insbesondere einer
Planungszone oder Bausperre (siehe Erläuterungen zum Bundesge-
setz über die Raumplanung, hrsg. vom Eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartement [EJPD], Bundesamt für Raumplanung, Bern
1981, Art. 27 N 11; BGE 113 Ib 376 Erw. 7b; AGVE 2004, S. 191;
1980, S. 256 für die Bausperre). Es ist daher nicht zu beanstanden,
dass der Regierungsrat das Beschwerdeverfahren über die Baubewil-
ligung und die Annahme der Initiative an der Urnenabstimmung zum
Anlass nahm, aufsichtsrechtlich eine Planungszone zu prüfen. Die
Annahme einer Volksinitiative kann ein Indiz für gewandelte Vor-
stellungen der Bevölkerung gegenüber der bestehenden Nutzungs-
ordnung sein; dass sie bereits als "Vorbereitung" einer geplanten
Neuordnung zu gelten habe und eine Planungszone begründen kann,
erscheint eher fraglich (AGVE 2004, S. 190; siehe auch AGVE 1990,
S. 260).
3.4.2.
Fraglich ist auch, ob der Regierungsrat den genauen Inhalt und
die Tragweite der Planungszone nicht vor deren Anordnung mit dem
Stadtrat Baden hätte bereinigen und absprechen müssen. Die Pla-
nungszuständigkeit und die Grundsätze der Gemeindeautonomie
(§§ 5 Abs. 2, 104 und 106 KV) sind bei der aufsichtsrechtlichen An-
ordnung einer Planungszone zu berücksichtigen. Nachdem der Stadt-
rat Baden die Planungszone öffentlich aufgelegt hat, können diese
Fragen indessen offen bleiben. Festzuhalten ist, dass mit der An-
nahme der Initiative ein öffentliches Interesse an der Änderung der
Nutzungsordnung ausgewiesen ist (siehe Ruch, a.a.O., Art. 27 N 25)
und der Erlass einer Planungszone jederzeit - auch während eines
Rechtsmittelverfahrens über eine Baubewilligung - zulässig ist. Inso-
fern ist die Beschwerde unbegründet.
3.4.3.
Nur mit dem Interesse an einer Nutzungsänderung sind weder
das öffentliche Interesse an der Anordnung einer Planungszone (Si-
cherungsbedürfnis) noch die Planungsabsicht, d.h. die inhaltliche
Umsetzung der Initiative in eine Änderung der Nutzungsordnung,
hinreichend erstellt und ausgewiesen, weil das Änderungsinteresse
2006
Verwaltungsgericht
154
mit den Planungsabsichten nicht identisch ist. Nur in Kenntnis der
Planungsabsichten kann - nebst deren Sicherungsbedürfnis - auch die
negative Präjudizierung eines Bauvorhabens geprüft werden.
Der Regierungsrat ging davon aus, dass der Stadtrat Baden die
Unterlagen für die Planungszone noch auszuarbeiten hatte und die
Umsetzung der mit der Initiative verfolgten Anliegen zur Auslegung
von § 23 BNO und der Wirkung der Änderung auf die vom Bauvor-
haben der Beschwerdeführerin betroffene Baurechtsparzelle zu klä-
ren hat. Die Umsetzung und der genaue Inhalt der Planungszone
"Gartenanlagen im öffentlichen Besitz" waren somit der öffentlichen
Auflage und insbesondere dem Entscheid des Stadtrates vorbehalten.
Im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Entscheides waren daher der In-
halt und die Tragweite der Planungszone und damit die Planungsab-
sicht der zuständigen Planungsträger nicht bekannt und konnten auch
bei der Anwendung und Wirkung der Planungszone auf das Bauvor-
haben der Beschwerdeführerin und die Baubewilligung vom
22. Dezember 2003 nicht beurteilt werden. Die Kenntnis über den
Gegenstand und den Inhalt der zukünftigen Planung sind aber unab-
dingbare Voraussetzungen für eine Prüfung der negativen Präjudizie-
rung eines Bauvorhabens auf die Planungsabsicht.
3.5.
Aus der Verfahrensordnung des Baugesetzes und den vorste-
henden Erwägungen folgt zwangsläufig, dass die Verbindung der
Anordnung der Planungszone mit der Aufhebung der Baubewilli-
gung im Rechtsmittelverfahren auch materiell unzulässig war. Aus-
gehend davon, dass die Planungszone erst am 31. Januar 2005 wirk-
sam wurde, durfte am 24. November 2004 die Baubewilligung im
Beschwerdeverfahren nicht gestützt auf die blosse Anweisung an den
Stadtrat Baden, eine Planungszone auszuarbeiten und öffentlich auf-
zulegen, aufgehoben werden. Die konkreten Planungsabsichten der
zuständigen Planungsbehörden waren und konnten dem Regierungs-
rat zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt bzw. sein, und er konnte auch
nicht beurteilen, ob für die massgebenden Planungsabsichten die Si-
cherung mit der Planungszone notwendig war. Unklar waren für den
Rechtsmittelentscheid über die Baubewilligung auch, ob überhaupt
und wie die nach dem Beschwerdeentscheid öffentlich aufgelegte
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
155
Planungszone das Bauvorhaben der Beschwerdeführerin erfasst und
wie die zuständigen Planungsbehörden den verbindlichen Auftrag
der Initiative in der Nutzungsplanung konkret umsetzen werden. Die
Vorwegnahme der materiellen Wirkungen einer zeitlich und sachlich
erst bevorstehenden, noch nicht wirksamen Planungszone im Be-
schwerdeverfahren über eine Baubewilligung - erst noch ohne
Kenntnis des konkreten Inhalts und Umfangs der Planungszone - war
daher unzulässig. Ziff. 1b-1e und Ziff. 3a und 3b des vorinstanzli-
chen Entscheids sind daher aufzuheben.
3.6.
Als "Erschwernis" (§ 29 Abs. 1 Satz 1 BauG) gilt ein Bauvor-
haben, wenn damit ein derart starkes Präjudiz geschaffen würde, dass
die Planungsabsichten (vorgesehene Zonierung oder Änderung der
Nutzungsvorschriften) generell fragwürdig würde. Es geht darum,
tatsächliche Abweichungen zu verhindern, die für die Zonierung und
die Nutzung im fraglichen Gebiet wesentlich sind (AGVE 1997,
S. 274 mit Hinweisen).
Im angefochtenen Entscheid hat der Regierungsrat die konkrete
und verfestigte Planungsabsicht nicht geprüft. Die Beurteilung und
Begründung der negativen Präjudizierung des Bauvorhabens be-
schränkt sich auf die Feststellung, dass mit dem bewilligten Annex-
bau markante und irreversible Eingriffe in den Kurpark notwendig
werden, welche dem Sinn und Zweck der Kurparkinitiative wider-
sprechen
können
. Die Auswirkungen der Planungszone wurden nur
in der Interessenabwägung zwischen der Änderungsabsicht des Sou-
veräns und dem privaten Interesse der Beschwerdeführerin an der
Baubewilligung beurteilt. Für die Feststellung der objektiven Er-
schwernis sind diese Interessen jedoch nicht massgebend. Der ange-
fochtene Entscheid beruht insoweit auch auf einer unrichtigen Sach-
verhaltsermittlung (§ 20 Abs. 1 VRPG), was den konkreten Inhalt der
Planungszone und die verfestigte Planungsabsicht der zuständigen
Planungsträger anbelangt.
3.7.
3.7.1.
Kanton und Gemeinden sind verpflichtet, Massnahmen der
Raumplanung auf das zu beschränken, was zur Erfüllung ihrer Auf-
2006
Verwaltungsgericht
156
gaben nötig ist, und können nur insoweit tätig werden, als es über-
wiegende Interessen des Kantons oder der Gemeinde erfordern (§ 2
BauG). Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz hat Verfassungsrang
(Art. 36 Abs. 3 BV; § 3 KV) und gilt mit Bezug auf die Anordnungen
von Planungsmassnahmen verstärkt durch das Gebot, den nach-
geordneten Planungsträgern ihre Entscheidfreiheit zu belassen (Art. 2
Abs. 3 RPG). Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit hat auch für
die Rechtsanwendung Geltung und findet auch im Prozessrecht An-
wendung, insbesondere dort, wo über prozessuale Massnahmen zu
befinden ist, die sich auf die prozess- und materiellrechtlichen Inter-
essen der Prozessparteien auswirken (Häfelin / Müller, a.a.O.,
Rz. 585; Max Imboden / René A. Rhinow, Schweizerische Verwal-
tungsrechtsprechung, Band 1, 5. Auflage, Basel 1976, Nr. 58 B V
lit. e; Ulrich Zimmerli, Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit im
öff. Recht, in: ZSR 1978 II 116 f.).
Die Erledigung einer Baubeschwerde als Folge einer Planungs-
zone hat daher das Ziel der Planungszone (Sicherstellung einer ne-
gativer Vorwirkung) soweit zu verwirklichen, als dies zur Wahrung
der Entscheidungsfreiheit der Planungsträger geeignet, notwendig
und auch in einem vernünftigen Verhältnis zu den Einschränkungen
steht, welche dem Privaten auferlegt werden (BGE 124 I 40 Erw. 3e).
Die Aufhebung der Baubewilligung und das Zurückstellen des Bau-
gesuches verletzen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz daher auch
dann, wenn mit einer geringeren Massnahme die Entscheidungsfrei-
heit der Planungsträger gewahrt werden kann.
3.7.2.
Die Beschwerdeführerin beantragt für den Fall, dass die Pla-
nungszone nicht aufgehoben oder ihre Anwendung auf das Baube-
willigungsverfahren nicht vom Verwaltungsgericht für unzulässig er-
klärt wird, eine Sistierung des Verfahrens. Eine Bestätigung der Bau-
bewilligung kann nicht in Frage kommen, da die Vorinstanz die
Übereinstimmung des Bauvorhabens mit der geltenden Zonen- und
Nutzungsordnung und den massgebenden Planungsabsichten nicht
geprüft hat.
Die Sistierung von Rechtsmittelverfahren ist zwar im VRPG
nicht ausdrücklich geregelt, ihre Zulässigkeit aber in Lehre und
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
157
Rechtsprechung anerkannt (vgl. AGVE 1985, S. 364; 1999, S. 520 f.,
je mit Hinweisen). Hängt die Verfahrenserledigung von einem be-
stimmten zukünftigen Ereignis ab, kann sich eine vorläufige Ein-
stellung aufdrängen (Alfred Kölz / Jürg Bosshart / Martin Röhl,
VRG, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons
Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, Vorbem. zu §§ 4-31 N 27 f.). Diese
Voraussetzung liegt für das Beschwerdeverfahren über die Baube-
willigung der Beschwerdeführerin in mehrfacher (zeitlicher [siehe
vorne Erw. 3.4.3] und sachlicher [siehe vorne Erw. 3.5]) Hinsicht
vor. Bis zur Klärung des Initiativtextes und Konkretisierung der Pla-
nungsabsichten der zuständigen Stadt Baden sind ausser der Ände-
rungsabsicht ohnehin keine öffentlichen Interessen ersichtlich, wel-
che den Interessen der Beschwerdeführerin an einer Sistierung des
Beschwerdeverfahrens entgegenstehen. Das Interesse an der Sicher-
stellung der Vorwirkung einer möglichen oder wahrscheinlichen zu-
künftigen Planrevision überwiegt für sich allein die Interessen der
Beschwerdeführerin an der erstinstanzlich erteilten Baubewilligung
nicht; die - auch öffentlichen - Interessen an der Planbeständigkeit
(Rechtssicherheit) können mit einer vorläufigen Einstellung des Be-
schwerdeverfahrens gewahrt bleiben. Offenkundig ist das Interesse
der Beschwerdeführerin, auch nach Ablauf oder Aufhebung der Pla-
nungszone bzw. bei Inkrafttreten einer Teilrevision kein neues Bau-
gesuchs- und Baubewilligungsverfahren einleiten zu müssen. Je nach
der Neuordnung der Nutzungsordnung kann sie auf das Bauvorhaben
verzichten oder einen Entscheid in Anwendung der neuen Bestim-
mungen verlangen. Somit sprechen auch verfahrensökonomische
Gründe für eine Sistierung des Verfahrens vor der Rechtsmittelin-
stanz (siehe AGVE 1985, S. 364; 1993, S. 373 hinsichtlich der Bau-
sperre). Aus der Verpflichtung der Behörden, ein Baugesuch zu be-
urteilen, folgt der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Behandlung
ihres Baugesuches und auch der Baubeschwerden nach dem gelten-
den Recht (siehe vorne Erw. 2.4), wobei eine negative Vorwirkung
der Neuordnung durch die Planungszone einen Aufschub dieser Be-
urteilung zulässt. Die Einwände der Beschwerdegegnerin 2, wonach
es ihr nicht zuzumuten sei, bis zum Ablauf der maximalen Frist der
Planungszone an einem Rechtsmittelverfahren beteiligt zu sein, ste-
2006
Verwaltungsgericht
158
hen einer vorläufigen Einstellung des Beschwerdeverfahrens nicht
entgegen. Die Planungszone kann - unter Vorbehalt einer Aufhebung
im Rechtsmittelverfahren - längstens bis zu ihrem Ablauf Bestand
haben. Abgesehen davon, dass im konkreten Fall die Planung der
Stadt Baden weit fortgeschritten ist und auch inzwischen eine verfes-
tigte Planungsabsicht vorliegt, ist nicht ersichtlich, welche unzumut-
bare Belastung ein bis spätestens Februar 2009 vorläufig eingestell-
tes Verfahren für die Beschwerdegegnerin 2 bringt. Sie selbst hat mit
Beschwerde vom 24. Januar 2004 und mit Beschwerdeergänzung
vom 4. März 2004 den Erlass einer Planungszone beantragt. Damit
hat sie auch sämtliche Folgen einer solchen Anordnung, inklusive ei-
ner möglichen Verzögerung durch eine Sistierung des Verfahrens, in
Kauf zu nehmen.
3.7.2.
Ist daher eine Sistierung zulässig und erweist sie sich im Hin-
blick auf die aktuellen Planungsabsichten der Stadt Baden als geeig-
net und ausreichend, um die Entscheidungsfreiheit der Planungsträ-
ger zu wahren, ist das Beschwerdeverfahren über die Baubewilligung
nach dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz zu sistieren.
3.8.
Die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids, soweit damit
die Baubewilligung vom 22. Dezember 2003 aufgehoben wurde, hat
zur Folge, dass sich ein "Zurückstellen" des Bauvorhabens der Be-
schwerdeführerin mit der vom Regierungsrat anvisierten Konse-
quenz, dass der Stadtrat Baden erneut über die Baugesuche zu ent-
scheiden hat, als unzulässig erweist. In diesem Zusammenhang ist
die Vorinstanz darauf hinzuweisen, dass das "Zurückstellen" eines
Baugesuchs i.S. einer formellen Sistierung des Baugesuchsverfah-
rens eine erstinstanzliche Massnahme sein kann, im Rechtsmittelver-
fahren aber eine solche Rückweisung an die erste Instanz nur zuläs-
sig und vor allem verhältnismässig erscheint, wenn zum vorneherein
eindeutig und endgültig feststeht, dass das Bauvorhaben mit den zu-
lässigen zukünftigen Nutzungsbestimmungen ohne eine wesentliche
Abänderung des Bauprojekts, welche eine erneute öffentliche Auf-
lage erfordert (§ 32 ABauV), nicht bewilligt werden kann. In der Re-
gel wird daher ein Baubeschwerdeverfahren bis zur definitiven Klä-
2006
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
159
rung der Neuordnung vorläufig einzustellen sein, sofern eine Pla-
nungszone besteht und eine Baubewilligung mit der Planungsabsicht
nicht in Einklang zu bringen ist. | 6,344 | 5,031 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-32_2006-01-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-32.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-32.pdf | AGVE_2006_32 | null | nan |
51d819e1-36df-58b2-81f5-572429fd60b9 | 1 | 412 | 870,627 | 1,241,308,800,000 | 2,009 | de | 2009
Verwaltungsgericht
182
[...]
36
Zonenkonformität einer Tankstelle mit Shop in einer Zone, in der nur
Betriebe zulässig sind, deren Auswirkungen im Rahmen herkömmlicher
Handwerks- und Gewerbebetriebe bleiben, auf die üblichen Arbeits- oder
Öffnungszeiten beschränkt sind und nur vorübergehend auftreten.
Besitzstandsschutz.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 12. Mai 2009 in Sachen X.
und Y. AG gegen den Regierungsrat (WBE.2008.99).
Aus den Erwägungen
II.
1.
Die Beschwerdeführerin 1 [X. AG] plant, die bestehenden bei-
den Tanksäulen, die sich unmittelbar angrenzend an der Kantons-
strasse K 292 und nördlich des Gebäudes Nr. 93 (...) befinden, zu
demontieren und westlich dieses Gebäudes eine neue, überdachte
Tankstelle mit vier Betankungsplätzen zu bauen. Ausserdem sind
insgesamt 11 Parkplätze vorgesehen. Im westlichen Bereich der
Parzelle soll die bestehende Rabatte aufgehoben und die Einfahrt
realisiert werden. Die Ausfahrt auf die K 292 ist östlich der neu ge-
planten Überdachung geplant. Im Erdgeschoss der genannten Lie-
genschaft soll im bisherigen Ausstellungsraum der Autogarage ein
Tankstellen-Shop von 86 m
2
Fläche mit Stehbar eingebaut werden.
Es ist vorgesehen, den Shop werktags von 06.00 bis 22.00 Uhr sowie
samstags und sonntags von 08.00 bis 20.00 Uhr geöffnet zu haben
und Güter des Autobedarfs sowie des täglichen Bedarfs zu ver-
kaufen. Die Tankstelle soll ganzjährlich im 24-Stundenbetrieb zu-
gänglich sein (...).
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
183
2.
Die Bauparzelle befindet sich gemäss Bauzonenplan der Ge-
meinde Stein vom 11. Dezember 1992 / 18. Januar 1994 in der Dorf-
zone D, der die Empfindlichkeitsstufe (ES) III zugewiesen wurde.
Die ES III gilt in Zonen, in denen mässig störende Betriebe zugelas-
sen sind (Art. 43 Abs. 1 lit. c LSV). Die Bau- und Nutzungsordnung
(BNO) vom 10. Dezember 1999 / 15. März 2000 (mit Änderungen
vom 10. Juni 2005 / 19. Oktober 2005) der Gemeinde Stein bestimmt
in § 6 für die Dorfzone D:
"
1
Die Dorfzone dient der Erhaltung des Ortskerns. Sie ist bestimmt für Woh-
nen, mässig störendes Gewerbe sowie Landwirtschaft.
2
Gebäude sind mit ihrer Umgebung zu erhalten und dürfen nicht abgebrochen
werden. Der Gemeinderat kann Ausnahmen bewilligen, sofern ein Gebäude für das
Ortsbild unwichtig oder die Erhaltung der Bausubstanz unzumutbar ist.
3
Bauten dürfen umgebaut und umgenutzt werden, sofern der Schutzzweck
dadurch nicht beeinträchtigt wird. Unter den gleichen Bedingungen kann der Ge-
meinderat Ergänzungsbauten bewilligen.
4
Bei der Festlegung der Baumasse und der Gestaltungsvorschriften orientiert
sich der Gemeinderat am Charakter der bestehenden Überbauung. Dacheinschnitte
sind untersagt.
5
Der Gemeinderat gewährleistet die fachliche Beratung und kann soweit nötig
Fachleute beiziehen. Zu diesem Zweck sind Bauvorhaben möglichst früh anzuzei-
gen."
Als mässig störend gelten nach § 23 Abs. 2 BNO Betriebe mit
Auswirkungen, die im Rahmen herkömmlicher Handwerks- und
Gewerbebetriebe bleiben, auf die üblichen Arbeits- oder Öffnungs-
zeiten beschränkt sind und nur vorübergehend auftreten. Betriebe,
die ein hohes Mass von quartierfremdem Verkehr verursachen, gelten
als stark störend.
(...)
3.
3.1.
Die Beschwerdeführerinnen verlangen die Feststellung, dass die
Nutzung der Parzelle Nr. 1382 mit Garagenbetrieb, Tankstelle mit
zwei Zapfsäulen und vier Tankplätzen sowie der Tankstellen-Shop
von 86 m
2
zonenkonform sei (...).
2009
Verwaltungsgericht
184
3.2.
Voraussetzung einer Baubewilligung ist unter anderem, dass die
Bauten und Anlagen dem Zweck der Nutzungszone entsprechen bzw.
zonenkonform sind (vgl. Art. 22 Abs. 2 lit. a RPG). Welche Nutzung
dem Zonenzweck entspricht und damit zulässig ist, ergibt sich
einerseits aus § 6 BNO, der sich mit der Dorfzone D befasst, und an-
dererseits aus der Zuordnung der ES III zu dieser Zone. Soweit die
kommunalen Zonenvorschriften dem Schutz vor Immissionen die-
nen, stellt sich die Frage, inwieweit diesen Vorschriften neben dem
Bundesumweltrecht selbständiger Gehalt zukommt.
Normen des kantonalen und kommunalen Rechts, welche den
direkten Schutz vor Immissionen regeln, haben mit dem Inkrafttreten
des USG ihre selbständige Bedeutung verloren, soweit sich ihr
materieller Gehalt mit dem Bundesrecht deckt oder weniger weit
geht als dieses; sie haben sie dort behalten, wo sie die bundesrecht-
lichen Normen ergänzen oder, soweit erlaubt, verschärfen. Das Bun-
desrecht regelt abschliessend namentlich die vorsorgliche Emissions-
begrenzung, die Verschärfung der Emissionsbegrenzungen bei
Überschreitung der Immissionsgrenzwerte und die Planungswerte für
Lärm (Art. 1 Abs. 2, Art. 11 ff., Art. 23 und Art. 65 Abs. 2 USG;
Art. 7 f., Art. 36 ff. und Art. 40 ff. LSV; BGE 118 Ia 114 f. und 118
Ib 595 f., je mit Hinweisen; BGE vom 5. Juni 2001 [1A.199/2000,
1P.373/2000], Erw. 1/b/aa; AGVE 2005, S. 147 ff.; 1998, S. 317 f.
und 1993, S. 394 ff., je mit Hinweisen). In diesem Sinne haben Nut-
zungsvorschriften des kantonalen und kommunalen Rechts nach wie
vor selbständigen Gehalt, soweit sie die Frage regeln, ob eine Baute
am vorgesehenen Ort erstellt und ihrer Zweckbestimmung übergeben
werden darf. Namentlich ist es weiterhin Sache des kantonalen und
kommunalen Rechts, die für den Charakter eines Quartiers
wesentlichen Vorschriften über Nutzungsart und -intensität zu erlas-
sen. Kantonal- und kommunalrechtliche Begriffe wie "wenig oder
mässig störendes Gewerbe" können daher trotz des Bundesumwelt-
rechts noch eine selbständige Bedeutung haben. So lassen sich etwa
Bauten und Betriebe, die mit dem Charakter einer Wohnzone
unvereinbar sind, untersagen, auch wenn die Lärmimmissionen, zu
denen sie führen, bundesrechtliche Schranken nicht überschreiten,
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
185
sofern die Unzulässigkeit nicht einzig mit der konkreten Lärmbe-
lästigung begründet wird. Auch erfasst das Umweltschutzrecht des
Bundes nicht alle erdenklichen Auswirkungen oder Sekundär-
immissionen (erwähnter BGE vom 5.
Juni 2001, Erw. 1/b/aa;
BGE 118 Ia 115 und 118 Ib 595, je mit Hinweisen; AGVE 1993,
S.
395 mit Hinweisen; siehe zum Ganzen auch AGVE 2005,
S. 147 f.; VGE III/50 vom 6. Juli 2004 [BE.2004.00168], S. 11 f.).
§ 23 Abs. 2 BNO umschreibt die Auswirkungen bzw. Immissio-
nen, welche den Typus des (höchstens) mässig störenden Betriebs
kennzeichnen. Diese Auswirkungen müssen unter anderem im Rah-
men herkömmlicher Handwerks- und Gewerbebetriebe bleiben und
auf die üblichen Arbeits- und Öffnungszeiten beschränkt sein. Der-
artige Kategorisierungen finden sich weder im USG noch in den
ausführenden Verordnungen (LSV und LRV). Zwar enthält Anhang 6
der LSV spezifische "Belastungsgrenzwerte für Industrie- und Ge-
werbelärm", wobei die in der Dorfzone D geltende ES III auf die
Immissionsstufe der "mässig störenden Betriebe" abgestimmt ist
(Art. 43 Abs. 1 lit. c LSV). Das spezifizierende Beiwort "herkömm-
lich" wird durch diese Bestimmungen aber nicht abgedeckt. Die LSV
legt die Belastungsgrenzwerte für Anlagen der Industrie, des Gewer-
bes und der Landwirtschaft ganz allgemein fest (Ziff. 1 Abs. 1 lit. a
des erwähnten Anhangs) und differenziert nicht in Bezug auf die Art
der Anlage. Ebenso wenig wird der Anforderung der "üblichen" Ar-
beits- und Öffnungszeiten schon damit Rechnung getragen, dass es
Belastungsgrenzwerte für den Tag (07 bis 19 Uhr) und (um 10 dBA
tiefere) für die Nacht (19 bis 07 Uhr) gibt (Ziff. 2 und 31 der LSV
des erwähnten Anhangs). § 23 Abs. 2 BNO enthält somit Elemente,
die das Bundesumweltrecht nicht kennt. Das indiziert die selbstän-
dige Bedeutung der kommunalen Vorschrift.
Hinzu kommt, dass § 23 Abs. 2 BNO in doppelter Hinsicht eine
raumplanerische Funktion erfüllt, was ihren eigenständigen Gehalt
unterstreicht. Zum einen dient sie der Koordination verschiedener
Nutzungen innerhalb derselben Zone (vgl. auch AGVE 2005, S. 150
f.; VGE III/47 vom 28. August 2007 [WBE.2006.300], S. 6 f.). Keine
der Nutzungen soll so intensiv auf die andere einwirken, dass diese
andere Nutzung überhaupt nicht mehr oder nur noch unter übermäs-
2009
Verwaltungsgericht
186
sig erschwerten Bedingungen ausgeübt werden kann (AGVE 2005,
S. 150). Zum anderen schützt die Norm eine gewachsene Nutzungs-
struktur, indem sie nur Betriebe mit Auswirkungen zulässt, deren
Auswirkungen im Rahmen "herkömmlicher" Handwerks- und Ge-
werbebetriebe bleiben, auf die "üblichen" Arbeits- und Öffnungszei-
ten beschränkt sind und die kein hohes Mass an quartierfremdem
Verkehr verursachen (vgl. BGE vom 5. Juni 2001 [1A.1999/2000
und 1P.373/2000]), Erw. 1b/aa; vgl. auch AGVE 2005, S. 149 f.).
Nach dem Gesagten kommt § 23 Abs. 2 BNO neben dem Bun-
desumweltrecht eine selbständige Bedeutung zu.
3.3.
3.3.1.-3.3.3. (...)
3.3.4.
Gemäss § 13 Abs. 1 und § 15 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a BauG er-
lassen die Gemeinden allgemeine Nutzungspläne (Zonenpläne) und
allgemeine Nutzungsvorschriften (Bau- und Zonenordnungen), die
das Gemeindegebiet in verschiedene Nutzungszonen einteilen und
Art und Mass der Nutzung regeln; sie können dabei insbesondere
Bauzonen, namentlich Wohn-, Kern-, Gewerbe-, Industriezonen und
Zonen für öffentliche Bauten ausscheiden. Bei der Ausscheidung und
Definition der verschiedenen Zonen geniessen die Gemeinden auf-
grund von § 106 KV verfassungsrechtlich geschützte Autonomie;
hierin eingeschlossen ist die Anwendung des autonomen Gemeinde-
rechts. Daraus folgt, dass sich das Verwaltungsgericht bei der
Überprüfung einschlägiger gemeinderätlicher Entscheide zurückzu-
halten hat. Die Gemeinde kann sich in solchen Fällen bei der Aus-
legung kommunalen Rechts insbesondere dort auf ihre Autonomie
berufen, wo eine Regelung unbestimmt ist und verschiedene Ausle-
gungsergebnisse rechtlich vertretbar erscheinen. Die kantonalen
Rechtsmittelinstanzen sind hier gehalten, das Ergebnis der gemeinde-
rätlichen Rechtsauslegung zu respektieren und nicht ohne Not ihre
eigene Rechtsauffassung an die Stelle der gemeinderätlichen zu
setzen. Die Autonomie der Gemeindebehörden hat jedoch auch in
diesen Fällen dort ihre Grenzen, wo sich eine Auslegung mit dem
Wortlaut sowie mit Sinn und Zweck des Gesetzes nicht mehr verein-
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
187
baren lässt (vgl. zum Ganzen AGVE 1998, S. 319 f. mit Hinweisen;
ferner AGVE 1984, S. 366).
Das kommunale Recht lässt vom Wortlaut her erheblichen In-
terpretationsspielraum offen ("mässig störender Betrieb"; "Auswir-
kungen, die im Rahmen herkömmlicher Handwerks- und Gewerbe-
betriebe bleiben"; "Betriebe, die ein hohes Mass von quartierfremden
Verkehr verursachen"). Auch wenn diese Begriffe der Musterbau-
ordnung entnommen wurden, bedeutet dies nicht, dass sie auf dem
ganzen Kantonsgebiet einheitlich auszulegen sind. Angesichts der
Autonomie der Gemeinde auf diesem Gebiet ist dieser die Mög-
lichkeit einer eigenständigen Interpretation einzuräumen, die sich
freilich an die gesetzlichen Regeln und Schranken der Auslegung zu
halten hat. Nachdem die Gemeinde § 23 Abs. 2 BNO innerhalb die-
ser Grenzen autonom auslegen darf, kommt den von den Beschwer-
deführerinnen erwähnten Entscheiden - soweit sie andere Gemeinden
und/oder andere Vorhaben betrafen - keine rechtserhebliche Be-
deutung zu (...). Der Entscheid des Regierungsrats vom 23. Oktober
1996 (...), der offenbar die Gemeinde Stein betraf, bindet das Ver-
waltungsgericht nicht.
3.3.5.
Es ist vorgesehen, den Shop werktags von 06.00 bis 22.00 Uhr
sowie samstags und sonntags von 08.00 bis 20.00 Uhr und die Tank-
stelle während 24 h offen zu halten. In Stein gelten Öffnungszeiten
von 07.30 bis 18.30 Uhr als üblich (...). Die Auswirkungen der
Tankstelle und des Shops beschränken sich somit nicht auf die übli-
chen Arbeits- und Öffnungszeiten, weshalb der Betrieb in dieser Hin-
sicht aus dem Rahmen von § 23 Abs. 2 BNO fällt. Das würde selbst
dann gelten, wenn die Öffnungszeiten des Shops auf 06.00-21.00
Uhr und diejenigen der Tankstelle auf 06.00-24.00 Uhr reduziert
würden (...). Die Öffnungszeiten sprechen somit gegen die Zonen-
konformität des Vorhabens. (...).
Demgegenüber ist die Garage selber (Werkstatt und Verkauf)
von Montag bis Freitag von 07.30 bis 12.00 und von 13.00 bis 17.30
Uhr sowie am Samstag von 08.00 bis 12.00 Uhr geöffnet. Damit hält
sie sich an die üblichen Arbeits- und Öffnungszeiten. Es ist ausser-
dem anzunehmen, dass die Auswirkungen dieses Betriebszweigs im
2009
Verwaltungsgericht
188
Rahmen herkömmlicher Handwerks- und Gewerbebetriebe bleiben
und dass er kein hohes Mass an quartierfremdem Verkehr verursacht.
Gegenteiliges haben weder die Beschwerdegegner behauptet, noch
war es die Absicht der Vorinstanz, diesem Betriebszweig die Zonen-
konformität abzusprechen (...).
3.3.6.
3.3.6.1.
Die Beschwerdeführerinnen bringen vor, es habe in der Kern-
zone K Tankstellen, die sich ebenfalls nicht an die üblichen Arbeits-
zeiten hielten. Aus § 23 Abs. 2 BNO, der als allgemeine Vorschrift
sowohl für die Dorfzone D als auch für die Kernzone K gelte, könne
deshalb nicht geschlossen werden, dass abends oder nachts keine
Gewerbetätigkeit mehr möglich sei (...). Die Beschwerdeführerinnen
machen ausserdem geltend, in der Dorfzone D habe es zwei Re-
staurants, die nachts ebenfalls geöffnet hätten (...).
Der Gemeinderat stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt,
§ 23 Abs. 2 BNO sei zonenspezifisch auszulegen. Bei der Anwen-
dung dieser Vorschrift sei auf den unterschiedlichen Zweck der
Dorfzone D und der Kernzone K Rücksicht zu nehmen. Während in
der Dorfzone D die bestehende Struktur erhalten werden soll, wolle
die Kernzone K die Entwicklung eines neuen Wohn- und Geschäfts-
quartiers fördern (...).
3.3.6.2.
In Mischzonen ist (wie gesagt) mit planerischen Mitteln sicher-
zustellen, dass keine der Nutzungen so intensiv auf die andere ein-
wirkt, dass diese andere Nutzung überhaupt nicht mehr oder nur
noch unter übermässig erschwerten Bedingungen ausgeübt werden
kann (AGVE 2005, S. 150). Innerhalb dieses Rahmens erscheint es
aber grundsätzlich möglich, den Schutz der Wohnbevölkerung vor
gewerblichen Immissionen in den einzelnen Mischzonen unter-
schiedlich auszugestalten. Es besteht mithin durchaus Raum, dem
Charakter eines Gebiets durch eine spezifische Umschreibung der
zulässigen Nutzungsintensität Rechnung zu tragen und damit der
Wohnbevölkerung in den einzelnen Mischzonen einen unterschied-
lichen Schutz vor Immissionen zukommen zu lassen. Analoges gilt
im Verhältnis von Wohn- und Mischzonen: Praxisgemäss kann die
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
189
Wohnbevölkerung in Mischzonen nicht denselben Schutz vor Beein-
trächtigungen beanspruchen wie in reinen Wohnzonen (AGVE 2005,
S. 150). Ebenso wenig kann ein Betriebsinhaber, der in einer
Gewerbezone wohnt, denselben Schutz vor Immissionen geltend ma-
chen, wie der Bewohner einer reinen Wohnzone oder einer Misch-
zone, in denen Wohn- und Gewerbenutzung einander gleichgestellt
sind. Aufgrund des Vorrangs der gewerblichen Nutzung hat der Be-
triebsinhaber in der Gewerbezone ein Mehreres an unliebsamen
Einwirkungen in Kauf zu nehmen.
Es besteht somit ein nachvollziehbares planerisches Ziel darin,
die Wohnbevölkerung in Mischzonen, in denen eine Entwicklung des
Gewerbes gefördert werden soll, weniger stark vor Immissionen zu
schützen als in Zonen, in denen keine Ausdehnung der gewerblichen
Nutzung angestrebt wird. Die Grenze ist aber auch in gewerblichen
Entwicklungsgebieten stets dort zu ziehen, wo die Erholungsfunktion
der Wohnnutzung nicht mehr gewährleistet ist. Wo es um den Schutz
der Nacht- oder Sonntagsruhe geht, geniesst die Wohnnutzung in
typischen Mischzonen generell einen gewissen Vorrang (vgl. AGVE
1999, S. 253 f. mit Hinweisen).
3.3.6.3.
Das Anliegen des Gemeinderats, den Begriff des mässig stören-
den Gewerbes zonenspezifisch auszulegen, ist demnach einleuch-
tend. Im konkreten Fall stehen einer zonenspezifischen Interpretation
jedoch Wortlaut und Systematik des Gesetzes entgegen. Die BNO
der Gemeinde Stein verwendet den Begriff des "mässig störenden
Gewerbes" in den Zonen, in denen eine Mischnutzung möglich ist.
Er taucht in § 6 Abs. 1 für die Dorfzone D, in § 7 Abs. 1 für die
Kernzone K, in § 10 Abs. 1 für die Wohn- und Gewerbezone WG
und in § 13 Abs. 1 für die Gewerbezone G auf, in der eine Wohnnut-
zung nur ausnahmsweise in Betracht kommt. § 23 Abs. 2 BNO
spricht von "herkömmlichen" Handwerks- und Gewerbebetrieben
und von "üblichen" Arbeits- und Öffnungszeiten. Nach dem norma-
len Sprachgebrauch können die Begriffe "herkömmlich" und "üb-
lich" nicht derart kleinräumig verstanden werden, wie dies dem Ge-
meinderat vorschwebt (vgl. auch AGVE 2005, S. 151). Jedenfalls
kleinere Gemeinden werden sich kaum in Teilgebiete auftrennen las-
2009
Verwaltungsgericht
190
sen, in denen den Begriffen "herkömmlich" und "üblich" eine ge-
bietsspezifische Bedeutung zukommt. Das bestätigt auch die Situa-
tion in der Gemeinde Stein, zeigt sich doch hier, dass die Öffnungs-
zeiten in der Kernzone K und der Dorfzone D grundsätzlich überein-
stimmen. Eine Ausnahme bilden lediglich die Gastgewerbebetriebe
beider Zonen sowie die Tankstellen-Shops in der Kernzone K (...).
Sodann steht § 23 BNO systematisch unter dem Abschnitt "De-
finitionen", der an den Abschnitt "Zonenvorschriften" anschliesst.
Aus der systematischen Stellung der Vorschrift ergibt sich somit klar,
dass der Gesetzgeber den Definitionen eine zonenübergreifende
Bedeutung zuweisen wollte. Hätte er dem Begriff des "mässig
störenden Gewerbes" eine zonenspezifische Bedeutung geben
wollen, hätte er den Begriff bei den einzelnen Zonenvorschriften de-
finiert. Das Auslegungsergebnis des Gemeinderats lässt sich somit
weder mit dem Wortlaut noch mit der Systematik des Gesetzes ver-
einbaren.
Im konkreten Fall stehen die Öffnungszeiten der Tankstelle und
des Tankstellen-Shops der Zonenkonformität entgegen, weshalb das
Feststellungsbegehren der Beschwerdeführerinnen mit Blick auf die
bestehende und die geplante Tankstelle sowie den geplanten Tank-
stellen-Shop abzuweisen ist. An der Zonenwidrigkeit dieser Be-
triebszweige vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der
Gemeinderat in der Kernzone K Tankstellen und Tankstellen-Shops
mit Öffnungszeiten zulässt, die den ortsüblichen Umfang sprengen.
Nachdem zwar Sinn und Zweck der Kernzone K, nicht aber Wortlaut
und Systematik der BNO Raum lassen für längere Öffnungszeiten in
dieser Zone, wird der Gemeinderat zu prüfen haben, ob er die Nut-
zungsvorschriften der Kernzone K anzupassen hat.
3.3.6.4.
In einem Spannungsverhältnis zu § 23 Abs. 2 BNO stehen auch
die Gastgewerbebetriebe, die der Gemeinderat trotz längerer Öff-
nungszeiten sowohl in der Kernzone K als auch in der Dorfzone D
zulässt. Zwar unterstehen diese Betriebe dem kantonalen Gesetz über
das Gastgewerbe und den Kleinhandel mit alkoholhaltigen Ge-
tränken (Gastgewerbegesetz, GGG) vom 25. November 1997
(SAR 970.100), womit die darin vorgesehenen Öffnungszeiten gel-
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
191
ten. Der Gemeinderat kann jedoch nach Massgabe der Bau- und Um-
weltschutzgesetzgebung andere Öffnungszeiten bewilligen und na-
mentlich die Öffnungszeiten der einzelnen Betriebe auf Dauer oder
längere Frist erweitern oder einschränken (§ 4 Abs. 2 GGG). Das
GGG liesse somit durchaus Raum, die Öffnungszeiten auf die Zonie-
rung abzustimmen, was die Gemeinde Stein jedoch nicht getan hat.
Die Erwähnung von Gaststätten in § 7 Abs. 2 BNO spricht vielmehr
dafür, dass der Gesetzgeber solche Betriebe (jedenfalls) in der Kern-
zone K als zonenkonform erachtete. Welche Öffnungszeiten im
Gastgewerbe als üblich zu bezeichnen sind, ergibt sich deshalb bei
einer widerspruchsfreien Auslegung des Gesetzes aus dem GGG,
welches § 23 Abs. 2 BNO insofern verdrängt. Die Zonenkonformität
des Bauvorhabens lässt sich deshalb ebenso wenig mit dem Umstand
begründen, dass sich in der Dorfzone D Gastgewerbebetriebe
befinden, deren Öffnungszeiten über das ortsübliche Mass hinausge-
hen.
3.3.6.5. (...)
4.
4.1.
Die Beschwerdeführerinnen berufen sich auf die Besitzstands-
garantie gemäss § 68 BauG. Der ganze Betrieb Y. sei mit allen Be-
triebsbestandteilen und mit seiner räumlichen Ausdehnung auf der
Parzelle Nr. 1382 formell und materiell rechtmässig bewilligt. Den
Betrieb habe es schon vor dem BauG 1971 und der ersten BNO von
Stein aus dem Jahr 1971 gegeben. Seitherige Veränderungen seien
ebenfalls bewilligt worden. Von der Bewilligung abgedeckt sei auch
der Werkplatz im westlichen Bereich der Parzelle. Die Wahrung des
Besitzstandes richte sich nach dem heutigen Betrieb. § 68 BauG er-
laube einem Gewerbebetrieb, der sich dynamisch verhalten und ent-
wickeln müsse, um überleben zu können, die Anpassung an das ver-
änderte Marktumfeld. Bei der Verlegung der Tankstelle und dem neu
vorgesehenen Tankstellen-Shop handle es sich um einen klassischen
Fall der betrieblichen Weiterentwicklung, die nach Marktlage und
Gewohnheiten der Marktteilnehmer notwendig sei. Der funktionale
Zusammenhang zum bisherigen Betrieb sei ebenfalls gegeben. Die
Beschwerdeführerinnen beabsichtigten keine räumliche Erweiterung
2009
Verwaltungsgericht
192
des Betriebsgeländes. Auch der Werkplatz im westlichen Bereich der
Parzelle sei bereits für die gewerbliche Nutzung bewilligt. Die
bestehende Tankstelle werde lediglich nach Westen verschoben. Die
Erweiterung der Tankkapazität auf 4 Tankplätze sei im räumlichen
Zusammenhang und im Zusammenhang mit dem Volumen der
Gebäude irrelevant. Die Umwandlung des Verkaufsraumes für Autos
und Autobedarf zu einem Tankstellen-Shop bedürfe keines Mehr-
volumens und vergrössere die Bruttogeschossfläche nicht. Es gehe
lediglich um eine Verlagerung innerhalb der bereits bewilligten Ver-
kaufsnutzung, die für sich alleine betrachtet in der Dorfzone D ohne
Zweifel zonenkonform sei. Die mit der geplanten Veränderung
verbundenen Auswirkungen seien zudem lärmmässig ohne Bedeu-
tung (...).
4.2. (...)
4.3.
Nach § 68 BauG dürfen rechtmässig erstellte Bauten, die den
geltenden Plänen oder Vorschriften widersprechen, unterhalten und
zeitgemäss erneuert werden. Die Nutzungsordnung kann für be-
stimmte Schutzzonen die zeitgemässe Erneuerung einschränken oder
verbieten (lit. a). Solche Bauten dürfen ausserdem angemessen er-
weitert, umgebaut oder in ihrem Zweck geändert werden, wenn da-
durch ihre Rechtswidrigkeit nicht wesentlich verstärkt wird und
keine besonderen Nutzungsvorschriften entgegenstehen (lit. b).
4.3.1.
Nach Angaben der Beschwerdeführerinnen besteht die Garage
Y., inklusive Tankstelle, seit 1929. Die Garage geht somit auf eine
Zeit zurück, in der es noch keine Zonenvorschriften gab. Eine erste
Zonierung brachte die BNO vom 4. Juni 1971/14. März 1973, wel-
che in der Dorfzone D Wohnungen, Läden, Gaststätten, Büros sowie
nicht übermässig störendes Gewerbe erlaubte (§ 31). Nachdem die
Tankstelle schon heute während 24 Stunden pro Tag betrieben wird,
sprengt sie infolge ihrer Öffnungszeiten den Rahmen des mässig
Störenden im Sinn von § 23 Abs. 2 BNO. Nachdem der bestehende
Betrieb jedoch ursprünglich rechtmässig war, ist er in seinem Besitz-
stand grundsätzlich geschützt.
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
193
4.3.2.
Im konkreten Fall findet die Erweiterung der Tankstelle ausser-
halb der bestehenden Gebäudehülle statt. Die bauliche Trennung
zwischen Alt- und Neubaute schliesst jedoch den Schutz des Besitz-
standes nicht von vornherein aus. Dieses Privileg greift auch dann,
wenn ein enger funktionaler und räumlicher Zusammenhang besteht
zwischen der besitzstandsgeschützten Nutzung eines Gebäudes und
einer auf dem angrenzenden Vorplatz geplanten Nutzung
(VGE III/59 vom 31. August 2006 [WBE.2005.59], S. 8). Das ist
hier der Fall. Damit ist allerdings noch nichts über die Tragweite des
Besitzstandsschutzes ausgesagt.
4.3.3.
Schon § 135 aBauG bestimmte, dass bereits vorhandene Bauten
für Industrie und Gewerbe, die nicht in einer für sie bestimmten Zone
liegen, weiterbestehen und angemessen erweitert werden dürfen,
wenn ihre unvermeidlichen Einwirkungen auf die Nachbarschaft
nicht übermässig sind. Eine gefestigte verwaltungsgerichtliche Praxis
sah hinter dieser Bestimmung das Bestreben des Gesetzgebers,
Industrie- und Gewerbebetrieben eine beschränkte Dynamik zu
ermöglichen, damit sie sich gewandelten technischen und wirtschaft-
lichen Verhältnissen in gewissem Rahmen laufend anpassen können.
Eine Erweiterung nach § 135 aBauG musste sich aber in jedem Falle
an das Bestehende anlehnen und quantitativ und qualitativ in engen
Grenzen halten. In qualitativer Hinsicht hiess dies, dass die betref-
fende betriebliche Nutzung funktional an den bisherigen Betriebs-
standort gebunden war, sich gewichtsmässig an das Bestehende an-
lehnte und lediglich in untergeordnetem Rahmen fortführte. In
quantitativer Hinsicht wurde die Erweiterung in der Regel als ange-
messen betrachtet, wenn sich die Vergrösserung im Rahmen eines
Viertels der bestehenden betrieblichen Grundfläche bewegte. Neben
der Grundfläche wurden bei der Bemessung der Erweiterung auch
andere Kriterien vorbehalten. Weiter wurde erwogen, dass es sich bei
der "Viertel-Regel" lediglich um eine Faustregel handle, die nicht im
Gesetz enthalten sei. Sie dürfe nicht starr gehandhabt werden, son-
dern verlange eine Überprüfung anhand der Besonderheiten des je-
weiligen Einzelfalls. So sei beispielsweise denkbar, dass die Erweite-
2009
Verwaltungsgericht
194
rung eines Kleinbetriebs angemessen sei, obwohl um mehr als ein
Viertel vergrössert werde, anderseits könne bei grossen Betrieben die
Grenze für eine angemessene Erweiterung erheblich unter einem
Viertel liegen. In jedem Fall habe zur Feststellung der Angemessen-
heit einer geplanten Erweiterung eine Würdigung aller in Betracht
fallender Kriterien stattzufinden (vgl. AGVE 1996, S. 334 f. mit Hin-
weis). An dieser Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht auch
unter dem aktuellen Baugesetz in der bis zum 30. November 2002
geltenden Fassung festgehalten. Daraus, dass das Baugesetz für das
Gebiet innerhalb der Bauzonen keine spezifische Vorschrift für
industrielle und gewerbliche Bauten mehr kenne, dürfe nicht ge-
schlossen werden, der Gesetzgeber habe davon abrücken wollen, der
erwähnten Kategorie von Bauten eine gewisse Sonderstellung zuzu-
gestehen. Eine durchgehende Gleichstellung namentlich mit Wohn-
bauten wäre denn auch nach wie vor nicht sachgerecht. Wohnbauten
seien, vereinfacht ausgedrückt, etwas Statisches, wogegen ein Indu-
strie- und Gewerbebetrieb zur Erhaltung seiner Existenzfähigkeit dy-
namisch bleiben, d.h. sich an veränderte Marktverhältnisse anpassen
können müsse (AGVE 1996, S. 335). Diese Rechtsprechung ist unter
der Herrschaft von § 68 BauG in der heute geltenden Fassung fort-
geführt worden (VGE III/59 vom 31. August 2006 [WBE.2005.59],
S. 9 f.).
4.3.4.
Der angefochtene Entscheid ist in dieser Hinsicht nicht zu bean-
standen. Mit der Verlegung der beiden Tanksäulen und der Schaffung
von 4 Tankplätzen würde die bestehende Tankstellenfläche wesent-
lich vergrössert und zusätzlich überdacht, so dass schon die vorgese-
henen baulichen Massnahmen den Rahmen der angemessen Erweite-
rung sprengen. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerinnen sel-
ber mit einer Verdoppelung der Fahrzeugbewegungen rechnen. Das
Vorhaben würde somit neuen Zielverkehr verursachen. Das gilt zum
einen für die Tankstelle, weil die Treibstoffpreise hierzulande erfah-
rungsgemäss günstiger sind als im benachbarten Ausland; zum an-
dern für den Shop, weil er wegen der attraktiven Öffnungszeiten
auch von Kunden aufgesucht würde, die nicht auf der Durchfahrt
sind. Es ist dementsprechend auch mit einer erheblichen Zunahme
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
195
von Betankungen ausserhalb der üblichen Arbeits- und Öffnungs-
zeiten und deshalb mit einer wesentlichen Verstärkung der Rechts-
widrigkeit zu rechnen. Das gilt nicht nur wegen der Verlegung und
Vergrösserung der Tankstelle, sondern auch wegen des Tankstellen-
Shops, dessen Betriebszeiten den Rahmen üblicher Arbeits- und Öff-
nungszeiten ebenfalls sprengen würden. Solche Tankenstellen-Shops
sind gerade darauf ausgerichtet, das Konsumbedürfnis der
Kundschaft ausserhalb der üblichen Öffnungszeiten zu befriedigen.
Der geplante Shop führte daher namentlich auch zu einer Zunahme
der Immissionen zu Zeiten, in denen ein erhöhtes Ruhebedürfnis be-
steht. Es ist zwar fraglich, ob allein die Zunahme des Verkehrslärms
zu spürbaren Mehrimmissionen führte. Zu den typischen lärmverur-
sachenden Vorgängen des geplanten Betriebs gehören jedoch auch
das Türenschlagen, der Motorstart, der Betrieb der Zapfsäulen und
verhaltensbezogene Geräusche wie Hupen, lauter Radiobetrieb und
Rufen (vgl. BGE vom 5. Juni 2001 [1A.199/2000 und 1P.373/2000],
Erw. 4d). Da der Strassenverkehr insbesondere zur Nachtzeit keinen
konstanten Geräuschpegel verursacht, sind die erwähnten, impuls-
haften Geräusche neben dem Verkehrslärm wahrnehmbar. Sie unter-
brechen unter Umständen plötzlich und nur während einer relativ
kurzen Dauer die Stille der Nacht, was das Wohlbefinden der
schlafenden Bevölkerung beeinträchtigen kann (vgl. BGE 126 III
229; 102 Ib 274; 101 Ib 407), und zwar auch dann, wenn die Tank-
stelle in der Nacht nur von wenigen Kunden aufgesucht würde. Die
Vorinstanz schloss deshalb in vertretbarer Weise auf eine wesentliche
Verstärkung der Rechtswidrigkeit, die sich aus der Anwendung von
§ 23 Abs. 2 BNO ergibt. Daran vermag auch der Umstand nichts zu
ändern, dass der Betrieb der Tankstelle während der Öffnungszeiten
des Tankstellen-Shops überwacht ist.
4.4.
Keine Bedeutung kommt der Frage zu, ob das Vorhaben in an-
deren Zonen der Gemeinde Stein verwirklicht werden könnte oder
nicht (...), da eine Gemeinde grundsätzlich nicht verpflichtet ist, jede
beliebige Nutzung auf ihrem Gemeindegebiet zuzulassen. Zwar ist es
grundsätzlich sinnvoll, Tankstellen an den Hauptverkehrsachsen zu
positionieren, um zusätzlichen Zielverkehr zu verhindern (...). Da-
2009
Verwaltungsgericht
196
raus kann indes nicht abgeleitet werden, eine Gemeinde müsse Tank-
stellen ohne Rücksicht auf die übrigen Anliegen der Raumplanung
(z.B. des Ortsbildschutzes) an sämtlichen Hauptverkehrsachsen zu-
lassen.
4.5.
Das Vorhaben ist somit zonenwidrig, womit das Feststellungs-
begehren abzuweisen ist.
5. (... [Ortsbildschutz])
6. (...)
7.
Zusammenfassend ist das Vorhaben weder zonenkonform noch
ortsbildverträglich, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist. | 6,790 | 5,564 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-36_2009-05-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-36.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-36.pdf | AGVE_2009_36 | null | nan |
521d1741-1b33-565e-8507-1f6349469e97 | 1 | 412 | 871,874 | 1,562,112,000,000 | 2,019 | de | 2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
141
19
Erschliessungsplanung
Die Koordinationsvorschriften sind auf die Erschliessungsplanung sinn-
gemäss anwendbar, sofern damit Lage und Ausdehnung öffentlicher
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
142
Strassen verbindlich festgelegt werden; diesfalls sind die Gesuchsunterla-
gen und die gewässerschutzrechtliche Bewilligung gemeinsam aufzulegen
und die Entscheide gleichzeitig zu eröffnen.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 15. Juli
2019, in Sachen A. AG und B. AG gegen Stadtrat C., Gemeinderat D. und
Departement Bau, Verkehr und Umwelt (WBE.2018.322).
Aus den Erwägungen
6.6.
Der Gewässerraum steht dem Gewässer zur Verfügung und ge-
währleistet damit dessen natürlichen Funktionen (vgl. Art. 36a Abs. 1
lit. a GSchG) wie auch den Schutz vor Hochwasser (vgl. lit. b); der
Gewässerraum kann der Gewässernutzung dienen (vgl. lit. c;
CHRISTOPH FRITZSCHE, in: PETER HETTICH/LUC JANSEN/ROLAND
NORER [Hrsg.], Kommentar zum Gewässerschutzgesetz und zum
Wasserbaugesetz, Zürich/Basel/Genf 2016, Art. 36a N 14 ff.). Ge-
wässerräume sind vielfältige und biologisch wertvolle Lebensräume,
die zu erhalten und aufzuwerten sind (Richtplan, Kapitel L 1.2, S. 4,
Planungsgrundsatz B).
Im Gewässerraum sind Bauten und Anlagen zulässig, wenn sie
standortgebunden sind und im öffentlichen Interesse liegen (vgl.
Art. 41c Abs. 1 Satz 1 GSchV). Typischerweise handelt es sich dabei
um Bauten und Anlagen, die aufgrund ihres Verwendungszwecks auf
einen Standort am Gewässer angewiesen sind wie beispielsweise
Brücken oder Wasserkraftwerke (vgl. JEANNETTE KEHRLI, in: Raum
& Umwelt 4/2017, S. 19). Auch Verkehrswege fallen jedenfalls dann
darunter, wenn damit ein Strassenausbau verbunden ist (vgl. Urteil
des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. März 2015
[B_2013/153], Erw. 5.2 mit Hinweis; für Verkehrsübergänge explizit:
Art. 38 Abs. 2 lit. b GSchG). Art. 41c Abs. 1 Satz 1 GSchV sieht
dafür eine gewässerschutzrechtliche Bewilligung vor, mit welcher
das grundsätzliche Bauverbot im Gewässerraum und Uferstreifen
durchbrochen wird (vgl. JEANNETTE KEHRLI, Bauen im Gewässer-
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
143
raum und Uferstreifen, in: URP 2015, S. 681 ff.; zum grundsätz-
lichen Überdeckungs- und Eindolungsverbot gemäss Art. 38 Abs. 1
GSchG vgl. FRITZSCHE, a.a.O., Art. 38 N 1 ff.).
6.7.
In der Sondernutzungsplanung ist eine umfassende Interessen-
abwägung (Art. 3 Abs. 1 RPV) vorzunehmen, wobei alle erheblichen
rechtlichen und tatsächlichen Interessen zu ermitteln, zu gewichten
und gegeneinander abzuwägen sind; mit dem Ziel, dass die wichtigen
Interessen möglichst umfassend wirksam werden können (vgl. HEINZ
AEMISEGGER/SAMUEL KISSLING, in: HEINZ AEMISEGGER/PIERRE
MOOR/ALEXANDER RUCH/PIERRE TSCHANNEN [Hrsg.], Praxiskom-
mentar RPG: Nutzungsplanung, Zürich/Basel/Genf 2016, Vorbemer-
kungen zur Nutzungsplanung N 13 ff.). Art. 47 RPV verlangt bei
Nutzungsplänen eine Berichterstattung an die kantonale Genehmi-
gungsbehörde. Im Bericht sind die Interessenabwägungen darzulegen
und die Entscheide umfassend zu begründen. Art. 47 Abs. 1 RPV
umschreibt den Mindestinhalt des Planungsberichts
(AEMISEGGER/KISSLING, a.a.O., Vorbemerkungen zur Nutzungspla-
nung N 45 ff.). Dieser zeigt auf, wie die Nutzungspläne die Ziele und
Grundsätze der Raumplanung (Art. 1 und 3 RPG), die Anregungen
aus der Bevölkerung (Art. 4 Abs. 2 RPG) und den Richtplan berück-
sichtigen und wie den Anforderungen des Bundesrechts Rechnung
getragen wird (vgl. Art. 47 Abs. 1 RPV).
Auf die gewässerschutzrechtliche Bewilligung ist bereits in der
Erschliessungsplanung einzugehen. Die Sondernutzungsplanung hat
sich insbesondere zur Freihaltung der Gewässerbereiche und zur Er-
forderlichkeit besonderer Massnahmen zu äussern (vgl. Empfehlun-
gen für die Nutzungsplanung, Planungsberichte nach Art. 47 RPV,
Beilage 2: Checkliste Sondernutzungsplanung des BVU, Abteilung
Raumentwicklung). Der Erschliessungsplan F.-Strasse legt die
Strassenführung mit Weg- und Strassenlinien im Bereich der Que-
rung des E.-Bachs verbindlich fest (vgl. § 6 Abs. 1 BauV). Damit
werden Lage und Ausdehnung der Erschliessungsanlagen für ein
künftiges Bauprojekt vorgegeben. Insoweit kommt auch die Er-
schliessungsplanung nicht umhin, sich zur Querung des betreffenden
Gewässerraums zu äussern. Der Planung fehlt es an einer generellen
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
144
Aussage, wie der Zweck des Gewässerraums umgesetzt werden soll.
Insbesondere wird nicht aufgezeigt, wie die Erschliessungsstrasse,
welche den E.-Bach quert, unter den gewässerschutzrechtlichen Vor-
gaben realisierbar ist. Der vorliegende Planungsbericht datiert vor
dem Inkrafttreten der geänderten bundesrechtlichen Gewässer-
schutzbestimmungen und konnte sich mit dieser Thematik daher
nicht auseinandersetzen (vgl. Planungsbericht und präzisierter Pla-
nungsbericht, wonach sich die Situation durch den Raumbedarf des
E.-Bachs erschwere). Zu diesem räumlichen Konflikt kann er folg-
lich keine Antworten geben. Dementsprechend wurde in den Planbe-
schlüssen des Gemeinderats D. und des Stadtrats C. ebenfalls nicht
auf den Gewässerraum eingegangen. Eine entsprechende Interessen-
abwägung wurde nicht vorgenommen.
6.8.
Der vom Stadtrat und Gemeinderat eingelegte Schnittplan für
eine mögliche Brücke ist im Rahmen des vorliegenden Beschwerde-
verfahrens nicht zu beurteilen. Dieses Dokument wurde vor Verwal-
tungsgericht eingereicht und lag den Vorinstanzen daher nicht vor.
Ergänzend ist jedoch festzuhalten, dass sich neben dem Brücken-
bauwerk als solchem insbesondere dessen Pfeiler im Gewässerraum
und Uferstreifen des E.-Bachs befinden.
6.9.
Kantons- und Gemeindestrassen können in Nutzungsplänen
festgelegt werden (vgl. § 93 Abs. 1 und 2 BauG). Art. 25a RPG und
§ 64 BauG schreiben eine Koordinationspflicht vor, wenn die Errich-
tung oder die Änderung einer Baute oder Anlage Verfügungen
mehrerer Behörden erfordert. Art. 25a Abs. 4 RPG erklärt die
Grundsätze der Koordination auf Sondernutzungsplanungsverfahren
für sinngemäss anwendbar. Die Ausdehnung auf die Nutzungspla-
nung wird mitunter damit begründet, dass eine Sondernutzungspla-
nung die anschliessende Baubewilligung weitgehend präjudizieren
kann (vgl. BERNHARD WALDMANN/PETER HÄNNI, Raum-
planungsgesetz, Bern 2006, Art. 25a N 72). Dies betrifft auch Lage
und Ausdehnung öffentlicher Strassen, welche im Erschliessungsplan
verbindlich festgelegt werden; Strassenlinien bestimmen dabei den
Umfang des Enteignungsrechts (vgl. § 17 und § 132 Abs. 1 lit. c
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
145
BauG; § 6 Abs. 1 und 2 BauV). Diese Vorgaben sind für ein nachfol-
gendes Projekt verbindlich. Damit rechtfertigt sich im Einzelfall die
sinngemässe Anwendung der Koordinationsvorschriften auf Er-
schliessungspläne, sofern damit Lage und Ausdehnung öffentlicher
Strassen verbindlich festgelegt werden (vgl. zum Ganzen: Urteil des
Bundesgerichts vom 19. September 2001 [1P.365/2001], Erw. 5c/dd).
Mit dem vorliegenden Sondernutzungsplan wird die Lage der
F.-Strasse für ein nachfolgendes Projekt vorgegeben. Dies betrifft
auch die Querung des E.-Bachs mit einer Strasse samt Gehweg, wel-
che im Erschliessungsplan beidseitig mit Strassenlinien begrenzt
wird. Dies gilt unabhängig von der unterbliebenen Kennzeichnung
als Erschliessungsstrasse neu und der fehlenden näheren Ausge-
staltung. Insoweit rechtfertigt sich die analoge Anwendung von
Art. 25a Abs. 2 RPG, wonach die für die Koordination verantwort-
liche Behörde insbesondere für eine gemeinsame Auflage aller Ge-
suchsunterlagen (lit. b) sowie möglichst für eine gemeinsame oder
gleichzeitige Eröffnung der Verfügungen sorgt (lit. d). Die gewässer-
schutzrechtliche Bewilligung liegt noch nicht vor und wurde im Ge-
nehmigungsentscheid des BVU lediglich in Aussicht gestellt. Vorlie-
gend drängt sich indessen eine gemeinsame Auflage der Erschlies-
sungsplanung und der Gesuchsunterlagen für die gewässerschutz-
rechtliche Bewilligung auf; weiter ist die gleichzeitige Eröffnung der
Planbeschlüsse und Einwendungsentscheide mit der gewässerschutz-
rechtlichen Bewilligung angezeigt. Beides wurde indessen bis dato
versäumt. | 1,991 | 1,483 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-19_2019-07-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-19.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-19.pdf | AGVE_2019_19 | null | nan |
521f9da3-1847-554b-9f7c-c7c39df55c74 | 1 | 412 | 871,884 | 1,057,190,400,000 | 2,003 | de | 2003
Verwaltungsgericht
246
[...]
59
Offertbereinigung; Verfahrensabbruch und Wiederholung des Verfah-
rens.
- Anforderungen an eine Offertbereinigung; die vorgenommene Preis-
bereinigung überschreitet das noch zulässige Mass (Erw. 3/b und c).
- Verfahrensabbruch und Wiederholung des Verfahrens (Erw. 4/b/aa);
die Erweiterung des im Übrigen unverändert gebliebenen Leistungs-
verzeichnisses um Regiearbeiten und die Einladung eines weiteren
2003
Submissionen
247
Anbieters stellen keine wichtigen Gründe im Sinne von § 22 Abs. 2
SubmD dar (Erw. 4/b/bb).
- Es besteht keine Verpflichtung, ein angehobenes Vergabeverfahren
mit einem Zuschlag zu beenden (§ 22 Abs. 1 SubmD); das Verwal-
tungsgericht muss es in solchen Fällen bei der Feststellung bewenden
lassen, dass das Submissionsverfahren ohne genügenden Grund und
damit zu Unrecht abgebrochen worden ist (Erw. 4/b/cc).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 1. Juli 2003 in Sachen
E. AG gegen Gemeinderat Würenlingen.
Aus den Erwägungen
3. a) Als unzulässig erachtet die Beschwerdeführerin zunächst
die unbestrittene Tatsache, dass die beiden ursprünglichen Anbiete-
rinnen telefonisch zur Überprüfung ihrer Angebote auf Rechnungs-
fehler aufgefordert worden sind. Die Vergabebehörde begründet die-
ses Vorgehen mit der auffallend grossen Preisdifferenz, die zwischen
den beiden Angeboten bestanden habe. Es habe sich bei der Prüfung
der Offerten gezeigt, dass beim Angebot der Beschwerdeführerin die
Einheitspreise nicht gemäss Punkt 2 der allgemeinen Bestimmungen
der Submission gerechnet worden seien; im Angebot der M. AG sei
diese Position jedoch berücksichtigt und in die Einheitspreise einge-
rechnet worden. Nach der Offertbereinigung sei das Angebot der M.
AG dann das günstigere gewesen. Leider seien bei der Offertbereini-
gung zu viele Details telefonisch besprochen worden, so dass das
formelle Vorgehen nicht mehr dem üblichen Vorgehen bei einer
Preisbereinigung entsprochen habe.
Die Vergabebehörde anerkennt somit jedenfalls ausdrücklich,
im Zusammenhang mit der Bereinigung der beiden Angebote Fehler
gemacht zu haben.
b) Die Vergabestelle prüft die Angebote rechnerisch und fach-
lich. Sie bringt sie auf eine vergleichbare Basis (§ 17
Abs. 1 SubmD). Sind Angaben eines Angebots unklar, so können von
den Anbietenden Erläuterungen, fachliche Präsentationen,
2003
Verwaltungsgericht
248
Begehungen usw. verlangt werden, die schriftlich festzuhalten sind
(§ 17 Abs. 2 SubmD). Die Vergabestelle darf offensichtliche
Rechnungsfehler korrigieren (§ 17 Abs. 3 SubmD). Abgebotsrunden
sind verboten. Abänderungen eines Angebots dürfen nur während der
Eingabefrist und nur auf schriftlichem Weg erfolgen (§ 17
Abs. 4 SubmD).
Das Verwaltungsgericht erachtet nebst der Korrektur offen-
sichtlicher Rechnungsfehler in eng begrenztem Rahmen auch die
Berichtigung anderer eindeutig als solche erkennbarer Versehen und
Irrtümer als zulässig. Die Vergabestelle ist in diesen Fällen nötigen-
falls auch zu Rückfragen bei den Anbietern befugt, ohne dass sie sich
allein deswegen schon dem Vorwurf einer unzulässigen Abgebots-
runde aussetzt. Indessen haben solche Rückfragen mit der nötigen
Zurückhaltung und Sorgfalt zu geschehen, und es sind alle Anbie-
tenden nach gleichen Massstäben zu behandeln (AGVE 1999,
S. 345).
c) aa) Nach eigenem Eingeständnis der Vergabebehörde sind im
vorliegenden Fall im Rahmen der Offertbereinigung zu viele Details
telefonisch besprochen worden. Um welche Fragen es sich dabei im
Einzelnen handelt, geht aus den dem Verwaltungsgericht vorliegen-
den Akten nicht hervor. Schriftliche Aufzeichnungen über die Tele-
fongespräche sind offensichtlich nicht erstellt worden, was ebenfalls
einen Fehler darstellt. Letztlich ist die Offertbereinigung insgesamt
und namentlich auch deren Ergebnis nicht nachvollziehbar. Wenn die
Vergabebehörde gegenüber der Beschwerdeführerin den - von dieser
im Übrigen ausdrücklich bestrittenen - Vorwurf erhebt, sie habe in
den Submissionsbedingungen verlangte Leistungen im Gegensatz zur
M. AG nicht in die Einheitspreise miteingerechnet, so steht diese
Behauptung im Widerspruch zum Ergebnis der Bereinigung, nämlich
zum plötzlich rund Fr. 23'000.-- tieferen Angebotspreis der M. AG.
Der Logik würde es - wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend
macht - eher entsprechen, wenn die M. AG an ihrer Preiskalkulation
festgehalten und die Beschwerdeführerin ihre Einheitspreise erhöht
hätte. Die Argumentation der Gemeinde gäbe nur einen Sinn, wenn
die Submissionsbedingungen im Rahmen der Offertbereinigung ge-
ändert worden wären.
2003
Submissionen
249
bb) Gemäss Ziffer 2 der Submissionsbedingungen war die
Preisberechnung wie folgt vorzunehmen:
"
2
Preisberechnung
Die Einheitspreise verstehen sich für betriebsfertig am Ort er-
stellte Installationen und Lieferung.
In die Einheitspreise sind alle Unkosten einzurechnen, wie Ver-
schnitt, Transport usw. Im speziellen sind bei bauseitigen Liefe-
rungen im Montage- und Anschlusspreis folgende Leistungen
einzurechnen:
2.1 Der Transport des Materials ab der Empfangsstelle (auf der Bau-
stelle) nach dem Unternehmermagazin.
2.2 Das Auspacken und Vertragen sowie das Einsetzen der Leucht-
mittel.
2.3 Mithilfe beim Ausmessen, Kontrollieren, Inbetriebsetzen, Ab-
nahme, Übergabe der Anlage, instruieren des Bedienungsperso-
nals.
2.4 Die Korrektur und Ergänzung der Installationspläne."
Die Möglichkeit von zusätzlich anfallenden Arbeiten, die nach
Aufwand abzurechnen sind (Regiearbeiten), wurde durch diese Auf-
listung nicht ausgeschlossen; dies gilt namentlich für unvorhergese-
hene Anpassungen und Mehrarbeiten.
Der Beschwerdeführerin waren diese Submissionsbedingungen
zweifellos bereits beim Erstellen der Offerte bekannt. Sie hat auf die
Aufforderung der Vergabestelle hin ihre Preiskalkulation überprüft
und den offerierten Preis bestätigt. In den Unterlagen sind keine
Hinweise zu finden, die darauf schliessen lassen, dass die Be-
schwerdeführerin sich bei der Kalkulation der Einheitspreise nicht an
diese Bedingungen gehalten hat. In ihrer Stellungnahme vom 6. Juni
2003 bestätigt sie, dass alles Verlangte in den Einheitspreisen ent-
halten gewesen sei. Die Beschwerdeführerin hatte diese Leistungen
somit verbindlich offeriert und hätte sich später dabei behaften lassen
müssen. Insbesondere hätte sie die in den Submissionsbedingungen
aufgelisteten Leistungen nicht nachträglich als zusätzlich zu
entschädigende Regiearbeiten gelten machen können.
Dass sich ihre Kalkulation durchaus im Bereich des Üblichen
bewegte, zeigen auch die in der zweiten Submissionsrunde - mit den
2003
Verwaltungsgericht
250
gleichen Submissionsbedingungen - offerierten Einheitspreise. Diese
sind bei der Beschwerdeführerin weitgehend mit denen der ersten
Runde identisch. Die Einheitspreise der M. AG bewegen sich dies-
mal im Bereich derjenigen der Beschwerdeführerin, und diejenigen
der neu dazu gekommenen G. AG sind erheblich tiefer. Darauf hin-
zuweisen ist auch, dass im Rahmen des Gesprächs der Vergabebe-
hörde mit den beiden Anbieterinnen, anlässlich dessen eine Arbeits-
gemeinschaft angestrebt wurde, im Protokoll festgehalten wurde,
dass die Einheitspreise der Beschwerdeführerin für die ARGE gelten
sollten. Auch diese Tatsachen weisen darauf hin, dass die Beschwer-
deführerin die Submissionsbedingungen durchaus richtig verstanden
und ein sie berücksichtigendes Angebot eingereicht hat.
cc) Die M. AG hat - wie sich ihrem Schreiben vom 17. April
2003 an den Gemeinderat - entnehmen lässt, in der ersten Offert-
runde bei ihrer Kalkulation der Preise berücksichtigt, dass es sich um
einen Umbau am bestehenden Netz handelt, wo auch mit Unvorher-
gesehenem gerechnet werden müsse. Zudem seien folgende Punkte
berücksichtigt worden: Arbeiten in verschiedenen Etappen, Ausmes-
sen der Leitungslängen, Abhängen der bestehenden Hausanschlüsse,
Anpassen und Umlegen der Abgänge, Inbetriebnahme inkl. Dreh-
richtungskontrolle und Messung nach NIN aller Abgänge, Organisa-
tion für Um-Abschaltungen inkl. Meldungen an Strombezüger, Pro-
visorien. Diese mitberücksichtigten Punkte gehen wesentlich über
das hinaus, was in den Submissionsbedingungen verlangt worden ist,
und führten zwangsläufig zu den im Vergleich zum Angebot der Be-
schwerdeführerin überhöhten Einheitspreisen.
Die Tatsache, dass die M. AG ihre Preise überdies sehr vorsich-
tig kalkuliert und allfällige Zwischenfälle und Schwierigkeiten mit-
einberechnet hat, konnte nun allerdings kein Grund sein, ihr im
Rahmen der Offertbereinigung die Möglichkeit zur Reduktion ihres
Angebots, die dann äusserst massiv ausgefallen ist, zu geben. Im
Gegensatz zu offensichtlichen Rechnungsfehlern dürfen
Kalkulationsfehler nicht nachträglich korrigiert werden (vgl.
VGE III/26 [BE.2000.00002] vom 29. Februar 2000 in Sachen B.
AG, S. 19 ff. mit Hinweisen). Die Preiskalkulation gehört zum
unternehmerischen Risiko, und ein Anbieter, der die Preise (zu
2003
Submissionen
251
seinen Gunsten) vorsichtig kalkuliert, muss immer damit rechnen,
dass er von einem risikofreudigeren, knapper kalkulierenden
Anbieter unterboten wird.
Die Vergabebehörde geht somit zu Recht davon aus, dass die
von ihr vorgenommene Offertbereinigung den Rahmen des für eine
Preisbereinigung Zulässigen gesprengt hat. Ob die Vermutung der
Beschwerdeführerin, es sei "Zahlenmaterial" - gemeint sind wohl
ihre Eingabesumme und die von ihr offerierten Einheitspreise - wei-
tergegeben worden, tatsächlich zutrifft (und somit seitens der Verga-
bebehörde bei der M. AG bewusst ein Abgebot eingeholt worden ist),
kann letztlich offen bleiben.
4. a) Die Vergabebehörde hat in der Folge von einer Zu-
schlagserteilung abgesehen und die Wiederholung des Verfahrens
unter Einbezug eines dritten Anbieters angeordnet. Begründet wurde
das Vorgehen mit "verfahrenstechnischen Gründen". Die Beschwer-
deführerin erachtet den Abbruch und die Wiederholung als unzuläs-
sig; ein Grund gemäss § 22 SubmD habe nicht vorgelegen.
b) Zu prüfen ist, ob die Vergabestelle berechtigt war, die Sub-
mission abzubrechen und zu wiederholen.
aa) Die Vergabestelle ist nicht zum Zuschlag verpflichtet (§ 22
Abs. 1 SubmD). Aus wichtigen Gründen kann das Verfahren jeder-
zeit abgebrochen oder wiederholt werden. Dies ist gemäss § 22
Abs. 2 lit. a - c SubmD insbesondere zulässig, wenn
- kein Angebot eingereicht wurde, das die in der Ausschreibung oder
den Ausschreibungsunterlagen festgelegten Kriterien und techni-
schen Anforderungen erfüllt;
- auf Grund veränderter Rahmen- oder Randbedingungen oder we-
gen wegfallender Wettbewerbsverzerrungen günstigere Angebote
zu erwarten sind;
- eine wesentliche Änderung des Projektes erforderlich wurde.
Diese Aufzählung ist nicht abschliessend, macht aber deutlich,
dass der Abbruch des Submissionsverfahrens nicht grundlos erfolgen
darf. Nicht nur § 22 Abs. 2 SubmD, sondern schon die vorvertragli-
che Treuepflicht nach Art. 2 ZGB verbietet es nämlich der Vergabe-
stelle, dem einzelnen Submittenten seine Chance auf den Zuschlag
durch grundlosen Verfahrensabbruch zu entziehen oder durch eine
2003
Verwaltungsgericht
252
Wiederholung des Verfahrens allenfalls zu verschlechtern. Der An-
bieter darf sich gegenüber einem öffentlichen Auftraggeber auf ein
vertrauenswürdiges, korrektes Verhalten verlassen, und darauf, dass
die Vergabestelle das ihr zustehende Ermessen pflichtgemäss ausübt;
eine grundlose Schmälerung der Chancen des einzelnen Submitten-
ten auf den Zuschlag erscheint auch unter diesem Gesichtswinkel
ausgeschlossen. Bereits aus der allgemeinen, vorvertraglichen
Treuepflicht sowie auf Grund des vom öffentlichen Auftraggeber
pflichtgemäss auszuübenden Ermessens folgt daher ohne Weiteres
der Grundsatz, dass das Submissionsverfahren nur aus wichtigen
Gründen abgebrochen oder wiederholt werden darf, falls nicht die
Haftung aus culpa in contrahendo Platz greifen soll (AGVE 1999,
S. 313 f. mit Hinweisen).
bb) Gründe im Sinne von § 22 Abs. 2 lit. a - c SubmD sind im
vorliegenden Fall keine gegeben. Die ursprünglich eingereichten
Angebote entsprachen beide den Submissionsbedingungen. Dies gilt
namentlich auch für das Angebot der Beschwerdeführerin. Das Ar-
gument der Vergabebehörde, die Beschwerdeführerin habe die Ein-
heitspreise nicht gemäss Ziffer 2 der allgemeinen Bestimmungen der
Submission gerechnet, vermag - wie bereits ausgeführt (siehe vorne,
Erw. 3) - nicht zu überzeugen. Die Rand- und Rahmenbedingungen
haben sich nicht verändert, und von einer wesentlichen Projektände-
rung kann ebenfalls nicht die Rede sein.
Die Vergabebehörde begründete die Wiederholung den beiden
betroffenen Anbieterinnen gegenüber mit "verfahrenstechnischen
Gründen", ohne diese allerdings näher zu erläutern. Telefonisch
wurde der Beschwerdeführerin gegenüber offenbar auch geltend
gemacht, dass die Offertunterlagen nicht komplett gewesen seien.
Falls mit "verfahrenstechnischen Gründen" das unzulässige Vorgehen
bei der Bereinigung des Angebots der M. AG gemeint sein sollte
sowie der anschliessende gescheiterte Versuch, die beiden
Konkurrentinnen zur Übernahme der Arbeiten als Arbeitsgemein-
schaft zu bewegen, ist festzuhalten, dass sich damit die Wiederho-
lung des Verfahrens nicht rechtfertigen lässt. Ebenfalls kein wich-
tiger Grund ist die Erweiterung des im Übrigen unverändert geblie-
benen Leistungsverzeichnisses um die beiden Positionen "Schaltun-
2003
Submissionen
253
gen" sowie "Unvorhergesehenes und Anpassungen". Es handelt sich
hierbei um Regiearbeiten, deren Aufnahme wegen des hypotheti-
schen Charakters ihres Umfangs in das Leistungsverzeichnis ohnehin
eher fragwürdig ist (vgl. VGE III/83 [BE.2001.00211] vom 9. August
2001 in Sachen E. AG, S. 7 f.). Die Fragwürdigkeit des Einbezugs
von Regiestunden in die Preisbewertung zeigt sich gerade auch im
hier zu beurteilenden Fall, wie die folgende Übersicht deutlich
aufzeigt:
(tabellarische Übersicht der Angebote)
Bei den Einheitspreisen beträgt die Differenz zwischen dem
tiefsten und dem höchsten Angebot Fr. 11'770.15 oder 47.66%. Bei
den Regiearbeiten beträgt die Differenz lediglich Fr. 1'023.80 oder
5.87 %. Die Regiearbeiten sind somit wenig aussagekräftig, zumal
sie hypothetisch sind, da es sich bei der zugrunde gelegten Stunden-
zahl um Schätzungen bzw. Annahmen handelt. Es stellt sich im Üb-
rigen die Frage, wieso die Vergabebehörde die wiederum auffallend
grosse Preisdifferenz zwischen dem niedrigsten und dem höchsten
Angebot - jedenfalls bei den Einheitspreisen - diesmal nicht hinter-
fragt hat.
Auch die Einladung einer weiteren Anbieterin stellt keinen
wichtigen Grund im Sinne von § 22 SubmD dar (vgl. VGE III/98
[BE.1997.00248] vom 3. November 1997 in Sachen M., S. 9 f.).
cc) Es bleibt somit festzustellen, dass die Wiederholung des
Submissionsverfahren nicht durch einen wichtigen Grund gerecht-
fertigt war. Der Vergabebehörde lagen in der ersten Runde zwei gül-
tige Angebote vor. Ihr wäre es im Grundsatz möglich gewesen, diese
beiden Angebote anhand der in den Offertunterlagen bekannt gege-
benen Zuschlagskriterien (Preis 60%, Qualifikation 40%) zu be-
urteilen und alsdann einen Zuschlag zu erteilen. Da die Vergabebe-
hörde indessen nicht verpflichtet ist, ein angehobenes Vergabeverfah-
ren mit einem Zuschlag zu beenden (vgl. § 22 Abs. 1 SubmD), muss
es das Verwaltungsgericht bei der Feststellung bewenden lassen, dass
das erste Submissionsverfahren ohne genügenden Grund und damit
zu Unrecht abgebrochen worden ist. | 3,217 | 2,691 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-59_2003-07-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-59.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-59.pdf | AGVE_2003_59 | null | nan |
52512b6f-fd75-5bd1-9eeb-f54fbba2039e | 1 | 412 | 871,312 | 1,391,385,600,000 | 2,014 | de | 2014
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
149
V. Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
25
Baubewilligung; Parkplatzerstellungspflicht
Die altrechtliche Beteiligung an einer Gemeinschaftsanlage, welche entge-
gen § 62 Abs. 1 aBauG ohne Sicherstellung der dauernden Verfügbarkeit
der Parkplätze erfolgte, genügt der Parkfelderstellungspflicht nach § 55
Abs. 1 BauG nicht.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 19. Februar 2014 in Sa-
chen A. gegen Departement Bau, Verkehr und Umwelt und Stadtrat B.
(WBE.2013.324).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Bei Erstellung und eingreifender Umgestaltung, Erweiterung
oder Zweckänderung von Bauten und Anlagen sind genügend
Parkfelder für die Fahrzeuge der Benutzer und Besucher sowie die
erforderlichen Verkehrsflächen für den Zubringerdienst zu schaffen.
Die Parkfelder müssen auf privatem Grund in nützlicher Distanz zur
Liegenschaft, der sie zu dienen haben, liegen und dauernd als solche
benutzt werden können (§ 55 Abs. 1 BauG). Die Parkierungs- und
Verkehrsflächen müssen so ausgelegt sein, dass die Fahrzeuge der
Benutzer und Besucher aufgenommen und die Anlieferung bewältigt
werden können. Dabei sind die Grösse der Bauten, die Art ihrer Be-
nutzung, die Erschliessung durch öffentliche Verkehrsmittel und die
Möglichkeiten, andere Parkierungsflächen zu benutzen, zu berück-
sichtigen (§ 56 Abs. 1 BauG). Nach der Rechtsprechung des Verwal-
tungsgerichts ist von einer Umgestaltung, welche die Parkfelderstel-
lungspflicht auslöst, auszugehen, wenn eine eigentliche Veränderung
des Baukörpers vorliegt. Blosser Unterhalt und zeitgemässe Erneue-
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
150
rung im Sinne von § 68 lit. a BauG (Besitzstandsgarantie) machen
noch keine relevante Umgestaltung aus (vgl. dazu AGVE 1997,
S. 317 ff.; 1982, S. 265; 1980, S. 249). Ausschlaggebend ist somit
nicht das Bedarfskriterium, sondern das Ausmass der baulichen
Massnahmen (AGVE 1997, S. 319; vgl. auch C
HRISTIAN
H
ÄUPTLI
,
in: Kommentar zum Baugesetz des Kantons Aargau, Bern 2013, § 55
N 28).
2.2.
Die Beschwerdeführerin beanstandet die ihr obliegende Pflicht
zur Erstellung von sechs Parkfeldern zu Recht nicht. Unbestritten ist
sodann, dass vier Parkfelder auf der Parzelle 532 vorhanden sind,
bzw. erstellt werden und die zwei weiteren Parkfelder entweder auf
privatem Grund (§ 55 Abs. 1 BauG) geschaffen oder nachgewiesen
werden müssen.
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin den Nachweis für die
zwei fehlenden Parkfelder aufgrund von Ersatzleistungen im Zusam-
menhang mit der Baubewilligung vom 15. Februar 1971 erbringen
kann oder Parkflächen im Parkhaus C. sie von der Ersatzabgabe be-
freien.
3.
3.1.
In der Baubewilligung vom 15. Februar 1971 wurde die dama-
lige Eigentümerin und Bauherrschaft, die Erbengemeinschaft D. ver-
pflichtet, für den Umbau der Liegenschaft Restaurant E., Parzelle
532, 12 Parkplätze auf eigenem Grund und Boden sicherzustellen
oder, soweit die Sicherstellung auf eigenem Grund und Boden nicht
möglich war, sich bei einer geeigneten Parkierungsanlage einzumie-
ten.
Nach Darstellung der Beschwerdeführerin wurde diese Parkfel-
derstellungspflicht von der Erbengemeinschaft D. erfüllt, indem sie
im Jahre 1981 40 Aktien der Parkhaus C. AG erwarb.
3.2.
Die Parkplatzerstellungspflicht in der Baubewilligung vom
15. Februar 1971 stützte sich auf die kommunale Bauordnung. § 43
Abs. 2 der Bauordnung der Gemeinde B. vom 23. Juni 1960, vom
Grossen Rat genehmigt am 27. Juni 1961, lautete:
2014
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
151
"Ist die Erstellung von privaten Abstellplätzen nicht möglich, kann der
Grundeigentümer oder Betriebsinhaber durch den Gemeinderat zur Leistung
angemessener Beiträge an den Bau öffentlicher Abstellplätze, die der betref-
fenden Liegenschaft dienen, verpflichtet werden."
Der Grundeigentümer konnte somit seine Pflicht zum Bau von
Parkfeldern auf privatem Grund unter bestimmten Voraussetzungen
durch eine finanzielle Beteiligung am Bau öffentlicher Parkfelder er-
füllen. Diese Ersatzlösung entsprach einer der vier Möglichkeiten,
die das am 1. Mai 1972 in Kraft gesetzte aBauG (in Kraft bis
31. März 1994) vorsah.
Gemäss § 60 Abs. 1 Satz 1 aBauG waren die Baueigentümer
verpflichtet bei der Neuerstellung von Bauten auf privatem Grund,
d.h. in der Regel auf dem Baugrundstück, genügend Abstellplätze für
die Fahrzeuge der Benützer und Besucher zu schaffen. Stattdessen
konnte der Pflichtige die erforderlichen Abstellplätze im Sinne einer
Ersatzlösung auch auf einem andern Grundstück bereitstellen oder
sich an einer Gemeinschaftsanlage oder an der Finanzierung öffentli-
cher Abstellplätze beteiligen (§ 62 Abs. 1 Satz 1 aBauG). Die Ablö-
sung der Pflicht zur Erstellung von Abstellplätzen durch die Pflicht
zur Zahlung einer Ablösesumme oder der finanziellen Beteiligung an
einer Gemeinschaftsanlage sicherte dem Baueigentümer eine gewisse
Anzahl reservierter Parkfelder, entsprechend der Zahl der Plätze, die
er nach § 60 Abs. 1 bzw. Abs. 3 aBauG auf eigenem oder benachbar-
tem Boden zu erstellen verpflichtet gewesen wäre. Voraussetzung
war, dass die Parkfelder in nützlicher Distanz zur Liegenschaft, der
sie dienten, lagen und ihre dauernde Verfügbarkeit zugunsten der Be-
nützer und Besucher der fraglichen Liegenschaft sichergestellt war
(§ 62 Abs. 1 Satz 2 aBauG; vgl. E
RICH
Z
IMMERLIN
, Baugesetz des
Kantons Aargau, Kommentar, 2. Aufl., Aarau 1985, §§ 60-63 N 13
mit Hinweisen). Die Beteiligung an einer Gemeinschaftsanlage war
als Vorzugslast ausgestaltet und erforderte zur Erfüllung der bauge-
setzlichen Ablösepflicht eine dingliche Sicherung der räumlich abge-
grenzten Parkfelder (vgl. dazu AGVE 1977, S. 202; W
ALTER
M
ÜLLER
, Die öffentliche Strasse und ihre Benutzung nach aargaui-
schem Verwaltungsrecht, Zürich 1973, S. 158; Z
IMMERLIN
, a.a.O.,
zu §§ 60-63 N 13). Eine bloss obligatorische Sicherung der Berechti-
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
152
gung galt nicht als zureichende Erfüllung der Ablösepflicht (vgl.
AGVE 1983, S. 100, Erw. 5a). Die dingliche Sicherung der
Zweckbestimmung von Abstellplätzen und die Pflicht zur Beteili-
gung an gemeinsamen oder öffentlichen Abstellplätzen waren im
Grundbuch anzumerken (§ 222 Abs. 2 lit. d aBauG).
Das aBauG verlangte grundsätzlich die reale Erfüllung der
Parkfelderstellungspflicht. Anzumerken ist, dass schon in der Praxis
unter dem alten Baugesetz Regelungen der Ablöseverpflichtung be-
standen, welche dem System der Ersatzabgabe nahe kamen. In
AGVE 1987, S. 252 erwähnt das Verwaltungsgericht in diesem Zu-
sammenhang auch die Regelung der Parkhaus C. AG.
3.3.
Im Unterschied zum alten Baugesetz normiert § 58 BauG die
Pflicht der Bauherrschaft, die keine Parkfelder erstellen oder
nachweisen kann, zur Leistung einer Ersatzabgabe. Dies bedeutet
einen Systemwechsel: Während sich der betroffene Grundeigentümer
altrechtlich durch eine Beteiligung an einer Gemeinschaftsanlage
oder mittels Finanzierung öffentlicher Abstellplätze eine entspre-
chende Anzahl reservierter Parkfelder sicherte und ihm damit ein
wirtschaftlicher Sondervorteil erwuchs, hat er neurechtlich mit der
(regelmässig tieferen) Ersatzabgabe lediglich einen Ausgleich dafür
zu schaffen, dass er im Unterschied zu anderen Grundeigentümern
seiner Pflicht zur Erstellung von Parkfeldern nicht realiter genügen
muss (vgl. AGVE 2002, S. 123). Die Erhebung der Abgabe hängt
bloss davon ab, ob die Abstellplätze gebaut werden oder nicht (vgl.
H
ÄUPTLI
, a.a.O., § 58 N 2, 5; Botschaft des Regierungsrats des Kan-
tons Aargau an den Grossen Rat vom 21. Mai 1990, 5397, S. 31).
Übergangsrechtlich wurde gemäss § 169 Abs. 4 BauG eine nach
bisherigem Recht festgelegte Pflicht, sich an der Finanzierung künf-
tig zu erstellender Gemeinschaftsanlagen oder öffentlicher Abstell-
plätze zu beteiligen, in eine Ersatzabgabe umgewandelt. Betei-
ligungspflichten, die vor mehr als 25 Jahren rechtskräftig festgesetzt
worden sind, galten als erloschen. Nach der Rechtsprechung des Ver-
waltungsgerichts bezieht sich diese Übergangsbestimmung auf alt-
rechtliche Beteiligungspflichten, die der Pflichtige durch Leistung
des von ihm geforderten Beitrags erfüllt bzw. sichergestellt hatte,
2014
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
153
ohne im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Baugesetzes den Ge-
genwert - in Form der Parkfeld-Benützungsrechte - erhalten zu ha-
ben, weil die betreffende Gemeinschaftsanlage bzw. die betreffenden
öffentlichen Parkfelder noch nicht erstellt waren. In derartigen Fällen
sollte dem Schwebezustand durch Umwandlung der Beteiligungs-
pflicht in eine Ersatzabgabe gemäss § 58 BauG ein Ende gesetzt wer-
den (vgl. AGVE 2002, S. 119; VGE III/53 vom 10. Mai 2001
[WBE.2000.91], Erw. II/2b).
3.4.
3.4.1.-3.4.2. (...)
3.5.
Die Ablösungspflicht in der Baubewilligung wurde 1971 und
damit vor dem Inkrafttreten des ersten kantonalen Baugesetzes
begründet. Die Ablösungspflicht aus der Baubewilligung vom
15. Februar 1971 wurde nach Darstellung der Beschwerdeführerin
im Jahre 1981 vollzogen. Damals galt für Ersatzlösungen § 62
aBauG mit der Verpflichtung, dass die in einem öffentlichen Park-
haus sichergestellten Abstellplätze dinglich, d.h. durch Anmerkung
im Grundbuch oder mittels Dienstbarkeitsverträgen in ihrer Zweck-
bestimmung sichergestellt werden mussten. Die Rechtsvorgängerin
der Beschwerdeführerin erwarb 40 Aktien, entsprechend der Ablö-
sungspflicht für 10 Parkplätze. Ein Benützungsrecht an einzelnen
Parkflächen im Parkhaus wurde nicht begründet. Der Erwerb der Ak-
tien genügte demnach und mangels dinglicher Sicherstellung den
Voraussetzungen gemäss § 62 aBauG für die Erfüllung der Park-
felderstellungspflicht nach kantonalem Recht nicht. Es liegen auch
keine Mietverträge für Parkfelder vor, welche gemäss Auflage in der
Baubewilligung vom 15. Februar 1971 als Ersatzlösung vorgesehen
waren. Ob und inwieweit die ursprüngliche Regelung in der Bauord-
nung der Stadt B. (siehe vorne Erw. 3.2) zwingend eine reale Erfül-
lung verlangte und die Ablösung der Pflicht zur Erstellung als Vor-
zugslast ausgestaltet waren, kann vorliegend offengelassen werden
(siehe dazu auch hinten Erw. 4). Das Baugesetz 1971 enthielt für alt-
rechtlich begründete Ersatzlösungen keine Übergangsregelung. (...)
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
154
3.6.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass beim Inkrafttreten von
§§ 58 ff. BauG am 1. April 1994 für die Liegenschaft Parzelle 532
keine Pflichten der Eigentümer oder Bauherrschaften zur Erstellung
von Parkfeldern oder deren Ablösung offen waren. Übergangsrechtli-
che Sachverhalte im Zusammenhang mit Parkfelderstellungspflich-
ten gemäss §§ 58 ff. BauG stellen sich keine. (...)
4.
4.1.
Gemäss § 55 Abs. 1 Satz 2 BauG müssen die Parkfelder auf pri-
vatem Grund in nützlicher Distanz zur Liegenschaft, der sie zu die-
nen haben, liegen und dauernd als solche benutzt werden können.
Nach § 57 Abs. 1 BauG müssen die Parkfelder ihrer Zweckbestim-
mung erhalten bleiben. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungs-
gerichts müssen auf Drittgrundstücken Pflichtparkplätze dinglich,
d.h. insbesondere durch Errichtung einer Grunddienstbarkeit oder
eines Baurechts gesichert sein (AGVE 2013, S. 183; 2002, S. 244).
Eine bloss obligatorische Sicherung, wie z.B. die kündbare Miete,
genügt demgegenüber nicht (AGVE 2013, S. 183; VGE III/59 vom
30. Oktober 2012 [WBE.2011.400], S. 19; Z
IMMERLIN
, a.a.O.,
§§ 60-63 N 13).
4.2.
Der Nachweis der rechtlichen Sicherstellung der dauernden und
ausschliesslichen Verfügbarkeit der Parkfelder auf andern Grundstü-
cken ist von der Frage der Sachverhaltsermittlung zu unterscheiden
(VGE III/59 vom 30. Oktober 2012 [WBE.2011.400], S. 19 f.). Den
Nachweis hat der Baugesuchsteller im Baugesuch zu erbringen. Im
Ergebnis ist dem Stadtrat daher nicht vorzuwerfen, die Beschwer-
deführerin könne den Nachweis der Sicherstellung nicht führen, da
vermutungsweise vorhandene ältere Protokolle des Stadtrats fehlten
bzw. dieser sich nicht darum bemühte. Die Protokolle des Stadtrats
können, unabhängig von deren Datum, nicht zum Nachweis einer
dinglichen Berechtigung dienen, dafür sind entsprechende Eintra-
gungen im Grundbuch erforderlich (siehe vorne Erw. 3.2 und 4.1).
Die Baubewilligungsbehörde hat die Grundbuchauszüge beigezogen
und ist damit ihrer Pflicht zur Erhebung des rechtserheblichen Sach-
2014
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
155
verhalts unter Beachtung der (relevanten) Vorbringen der Parteien
nachgekommen. Ältere Protokolle oder die Baugesuchakten aus dem
Jahre 1971, welche vor Inkrafttreten des (neuen) Baugesetzes datie-
ren, sind zur Beurteilung der Parkplatzsituation und der Ersatzabgabe
für aktuelle Neu- beziehungsweise Umbauvorhaben der Beschwerde-
führerin nicht massgebend. Die entsprechenden Beweisanträge der
Beschwerdeführerin sind daher mangels Relevanz abzuweisen.
Nach der Änderung der Rechtslage, insbesondere mit der Ab-
schaffung der altrechtlichen Ersatzlösungen (Beteiligung an einer
Gemeinschaftsanlage oder Finanzierung öffentlicher Abstellplätze;
siehe vorne Erw. 3.3), und im Zusammenhang mit der (neuen)
Baubewilligung vom 17. Dezember 2012 ist auch nicht ersichtlich,
was die Beschwerdeführerin aus entsprechenden Dokumenten ablei-
ten möchte.
4.3.
Das Eigentum an den Aktien der Parkhaus C. AG erbringt den
Nachweis der dauernden und ausschliesslichen Verfügbarkeit von
konkreten Parkfeldern (§§ 55 ff. BauG) nicht. Der Aktienbesitz und
auch die reglementarischen Rechte der Beschwerdeführerin als
Aktionärin der Parkhaus C. AG belegen keine dinglich gesicherten
Benützungsrechte an einzelnen Parkflächen zugunsten der Beschwer-
deführerin oder der Parzelle 532. Von den im Reglement vorgesehe-
nen Möglichkeiten eines ausschliesslichen obligatorischen oder
dinglichen Nutzungsrechts an Parkfeldern hat die Beschwerdeführe-
rin keinen Gebrauch gemacht. Es kann daher offengelassen werden,
ob eine dieser Möglichkeiten den Anforderungen an die Sicherstel-
lung gemäss BauG genügen kann.
Die Vorinstanzen haben daher zu Recht festgestellt, dass zwei
der sechs notwendigen Parkfelder nicht auf der Parzelle 532 erstellt
werden und für die fehlenden Parkfelder auch die erforderliche
Sicherstellung auf privatem Grund fehlt.
5.
5.1. (...)
5.2.
Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, sie sei nicht er-
satzpflichtig, weil ihre Rechtsvorgängerin bereits Ersatzabgaben für
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
156
Parkplätze der Parzelle 532 geleistet hat, verkennt sie die Rechtsna-
tur und die Grundlagen der Ersatzabgabe. Mit der Ersatzabgabe wird
nur - aber immerhin - die Realerfüllung (hier die Erstellung eigener
Parkfelder) von Pflichten im Zusammenhang mit einem Bauvorha-
ben abgelöst; es werden keine (virtuellen) Parkflächen zulasten der
Öffentlichkeit erworben. Die Leistung einer Ersatzabgabe verschafft
dem Grundeigentümer und seinen Rechtsnachfolgern keine Rechts-
position, die sie für die Zukunft von Ersatzabgaben befreien könnte.
Der Umstand, dass in einer öffentlichen Gemeinschaftsanlage Park-
felder existieren und die Ablösung der Pflicht mittels Erwerb von
Aktien der Parkhaus C. AG seinerzeit (1978 und 1981) als genügen-
der Ersatz qualifiziert wurde, fällt für die Beurteilung nicht in Be-
tracht.
Eine Besitzstandsgarantie gemäss § 68 BauG besteht nur bei
Bauten und Anlagen. Ein Bestandsschutz käme daher nur bestehen-
den privaten Parkierungsanlagen, die rechtmässig (baubewilligungs-
konform) erstellt wurden, zu. Solche Parkflächen mit dinglicher Be-
rechtigung werden nicht behauptet. Die unbestrittene Parkfelderstel-
lungspflicht für das vorliegende Bauvorhaben löst auch die neurecht-
liche Ablösungspflicht mittels Ersatzabgaben aus.
An dieser Pflicht vermag auch der Vermerk im Aktienregister
und auf den Aktienzertifikaten nichts zu ändern. Richtig ist, dass mit
dem Stempelaufdruck die mehrmalige Verwendung der Aktien zur
Abgeltung von Ablösepflichten verhindert werden soll. Der Wortlaut
schliesst die Verwendung dieser Aktien zur Abgeltung von Ablöse-
pflichten generell aus, also auch für Ersatzabgaben. Jedenfalls mit
Inkrafttreten von §§ 58 ff. BauG und § 63 der Bau- und Nutzungs-
ordnung hat der Vermerk seine Bedeutung gewandelt. Er dient allen-
falls als Ausweis für die Erfüllung altrechtlicher Ablösepflichten.
Hinzu kommt, dass die Parkhaus C. AG eine private Unternehmung
ist, auch wenn die Stadt B. eine substantielle Beteiligung hat. Aus
dieser privatrechtlichen Ordnung können keine bestandesgeschützten
Ansprüche gegen den Staat abgeleitet werden. | 3,703 | 2,936 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-25_2014-02-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-25.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-25.pdf | AGVE_2014_25 | null | nan |
530f57bf-77cc-52ad-bdbe-2ed910261d96 | 1 | 412 | 870,878 | 1,246,665,600,000 | 2,009 | de | 2009
Sozialhilfe
223
VII. Sozialhilfe
42
Wiedererwägung; eigene Mittel
-
Die (materielle) Prüfung der Anspruchvoraussetzungen aufgrund ei-
nes Gesuchs um Wiedererwägung schliesst einen Prozessentscheid
aus.
-
Voraussetzung der Anrechnung eigener Mittel ist deren tatsächliche
Verfügbarkeit.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 30. Juli 2009 in Sachen
D.A. gegen den Regierungsrat des Kantons Aargau (WBE.2008.410).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Gemäss § 25 Abs. 1 aVRPG kann eine Verfügung oder ein Ent-
scheid auf Gesuch eines Betroffenen durch die erstinstanzlich zustän-
dige Behörde in Wiedererwägung gezogen werden, was bedeutet,
dass die zuständige Instanz ihre ursprüngliche Verfügung aufhebt,
den Fall neu beurteilt und anschliessend neu verfügt (AGVE 1994, S.
460; AGVE 1986, S. 165 mit Hinweisen). Eine Wiedererwägung
kann sich nur auf eine erstinstanzliche Verfügung beziehen (Ulrich
Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungs-
recht, 5. Auflage, Zürich 2006, Rz. 1830). Ist die Verfügung ur-
sprünglich fehlerhaft, so wird die Änderung grundsätzlich ex tunc
wirksam (Häfelin / Müller / Uhlmann, a.a.O., Rz. 1049). Ein neues
Gesuch hingegen entfaltet seine Wirkung erst ab dessen Rechts-
hängigkeit.
Bei der Wiedererwägung handelt es sich grundsätzlich nicht um
ein förmliches Rechtsmittel, sondern um einen blossen Rechtsbehelf,
der weder an Fristen noch an eine bestimmte Form gebunden ist
2009
Verwaltungsgericht
224
(AGVE 1994, S. 460 mit Hinweisen). Ein Rechtsanspruch auf Wie-
dererwägung besteht lediglich dann, wenn neue, nach dem Erlass der
ersten Verfügung oder des ersten Entscheides entstandene Umstände
angeführt werden, so dass ein völlig neues Gesuch vorliegt
(BGE 113 Ia 152).
Anspruch auf Sozialhilfe besteht, sofern die eigenen Mittel
nicht genügen und andere Hilfeleistungen nicht rechtzeitig erhältlich
sind oder nicht ausreichen (§ 5 Abs. 1 SPG; Art. 12 BV; § 25 Abs. 2
lit. d KV). Der Anspruch auf die Sicherung des Existenzminimums
schliesst mit ein, dass bedürftige Personen jederzeit ein neues Ge-
such stellen können und die Abweisung eines Gesuchs grundsätzlich
keine Rechtskraftwirkung für die Zukunft entfalten kann.
Das Recht, jederzeit ein Gesuch um materielle Hilfe zu stellen
und einen Entscheid zu verlangen, steht wie jede Rechtsausübung
unter dem Vorbehalt des Vertrauensgrundsatzes, des Rechtsmiss-
brauchsverbotes sowie des Grundsatzes von Treu und Glauben. Im
Verfahren vor den Sozialbehörden gelten die Bestimmungen des
Verwaltungsrechtspflegegesetzes (§ 58 Abs. 4 SPG) und der Grund-
satz von Treu und Glauben, welcher für alle Verfahrensbeteiligten bei
der Rechtsanwendung zur Anwendung kommt (§ 3 Abs. 2 Satz 1
aVRPG). Die Behörden sind zudem berechtigt, auf Eingaben, die auf
missbräuchlicher Prozessführung beruhen, nicht einzutreten (§ 3
Abs. 2 Satz 2 aVRPG).
3.2. (...)
4.
4.1.
Der KSD wie auch der Regierungsrat des Kantons Aargau be-
handelten das Gesuch des Beschwerdeführers vom 20. Mai 2008
zwar als ein Wiedererwägungsgesuch, indessen prüfte der KSD
mittels Anfragen bei der Postfinance, ob ein Geldtransfer aus Syrien
in die Schweiz möglich sei. Auch für die Vorinstanz waren die
Nachforschungen des KSD nach Einreichung des neuen Gesuchs um
materielle Hilfe entscheidend, um den Anspruch auf Wiedererwä-
gung zu verneinen.
2009
Sozialhilfe
225
4.2.
Bei der Prüfung des Gesuchs 19. März 2008 sah der KSD von
weiteren Abklärungen zum Vermögen in Syrien ab und nahm diese
erst mit dem Wiedererwägungsgesuch an die Hand. Die Vorinstanzen
verkennen, dass der KSD mit seiner Anfrage bei der Postfinance den
Inhalt der Verfügung vom 26. März 2006 materiell überprüfte und im
Entscheid vom 16. Juni 2008 die fehlende Notlage des Beschwerde-
führers vor allem mit den Abklärungen zur Verfügbarkeit der eigenen
Mittel begründete. Die Prüfung der rechtzeitigen Verfügbarkeit der
eigenen Mittel zur Behebung der Notlage war auch unabdingbar
(siehe hinten Erw. 5) und insofern lagen auch neue Tatsachen vor,
welche einen Anspruch auf Wiedererwägung begründeten (siehe
vorne Erw. 3.1). Der KSD hat daher zu Recht die Verfügung vom
26. März 2008 inhaltlich überprüft und ist damit im angefochtenen
Entscheid auch auf das Wiedererwägungsgesuch materiell ein-
getreten (AGVE 1994, S. 460 f.). Der Nichteintretensentscheid des
KSD ist somit formell unrichtig; nach der Überprüfung und
Bejahung der Transfermöglichkeiten hätte er das Gesuch formell
abweisen müssen.
Die Beschwerde erweist sich damit schon aus formellen Grün-
den als begründet.
5.
5.1. (...)
5.2.
Wer objektiv in der Lage wäre, aus eigener Kraft die für das
Überleben erforderlichen Mittel selber zu verschaffen, hat keinen
Anspruch auf Sozialhilfe, da sich eine solche Person nicht in einer
Notsituation befindet, auf welche das Recht auf Hilfe in Notlagen
und damit auf Ausrichtung von Sozialhilfe zugeschnitten ist (§ 5
Abs. 1 SPG). Bei ihr fehlt es bereits an den Anspruchsvoraussetzun-
gen (BGE 130 I 71 Erw. 4).
Soweit ein Sozialhilfebezüger über Vermögen verfügt, ist er ge-
stützt auf das Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich verpflichtet, dieses -
unter Ansetzung einer angemessenen Frist - zu verwerten (§ 11
Abs. 3 SPG; siehe auch Felix Wolffers, Grundriss des Sozialhilfe-
rechts, 2. Auflage, Bern 1999, S. 71 f., 155 f.). Zugestanden wird
2009
Verwaltungsgericht
226
unterstützten Personen lediglich der Vermögensfreibetrag von
Fr. 1'500.-- pro Person, maximal jedoch Fr. 4'500.-- pro Unterstüt-
zungseinheit (§ 11 Abs. 4 i.V.m. § 32 SPV; siehe auch Wolffers,
a.a.O., S. 155 f.). Unterbleibt die Verwertung nach Ablauf der ange-
setzten Frist, wird der daraus mutmasslich zu erzielende Erlös be-
rücksichtigt (§ 11 Abs. 4 SPG). Massgebend ist aber immer, dass die
hilfesuchende Person die eigenen Mittel "rechtszeitig erhältlich" (§ 5
Abs. 1 SPG) machen kann.
Der Beschwerdeführer deklarierte mit seinem Gesuch um mate-
rielle Hilfe vom März 2008 ein "Barvermögen von 15'000.-- Dollar
Syrien". Gestützt auf diese Angaben verneinte der KSD in der Verfü-
gung vom 26. März 2008 die Notlage. Mit dem Wiedererwägungsge-
such vom 20. Mai 2008 machte der Beschwerdeführer geltend, er
könne über dieses Vermögen nicht verfügen. Die eingeschränkten
Zugriffsmöglichkeiten des Beschwerdeführers hätten Anlass zu
Auflagen oder Weisungen zur Verwertung des Vermögens innert ei-
ner bestimmten Frist geben können, nicht aber zur Ablehnung des
Gesuchs auf materielle Unterstützung. Das Vermögen befand sich in
Syrien und der KSD war unter diesen Umständen verpflichtet, die
näheren Umstände und die Zugriffsmöglichkeiten des Beschwerde-
führers zu berücksichtigen. Diese Überprüfung erfolgte, wie erwähnt,
erstmals im Wiedererwägungsverfahren (siehe vorne Erw. 4) und mit
dem Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer ein Geldtransfer über die
Firma "Western Union" möglich sei. Auch bei diesem Ergebnis war
die Verweigerung der Nothilfe unrechtmässig, weil der
Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Entscheids seine Notlage nicht
mit diesen eigenen Mitteln beheben konnte. Der Beschwerdeführer
hat aufgrund der fehlenden zeitgerechten Verfügbarkeit des Vermö-
gens vielmehr Anspruch auf materielle Unterstützung ab 17. März
2008.
Zusammenfassend erweist sich der Nichteintretensentscheid des
KSD als unrechtmässig, weshalb die Verfügung des KSD vom
16. Juni 2008 sowie der Entscheid des Regierungsrates des Kantons
Aargau vom 3. Dezember 2008 in Gutheissung der Beschwerde auf-
zuheben sind. | 1,728 | 1,403 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-42_2009-07-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-42.pdf | AGVE_2009_42 | null | nan |
53b94e94-eca6-5ab9-a71a-788815be71a8 | 1 | 412 | 870,360 | 1,204,416,000,000 | 2,008 | de | 2008
Verwaltungsrechtspflege
297
[...]
52
Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
-
Unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen im Verfügungs- und
Rechtsmittelverfahren.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 10. März 2008 in Sachen
M. gegen das Departement Volkswirtschaft und Inneres (WBE.2008.1).
Aus den Erwägungen
1.
Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat Verfassungs-
rang (Art. 29 Abs. 3 BV; § 22 Abs. 2 KV). § 35 Abs. 2 und 3 VRPG
konkretisieren diesen Anspruch für das Verfahren vor den Verwal-
tungs- und Verwaltungsjustizbehörden (§ 1 Abs. 1 VRPG; vgl. auch
AGVE 1984, S. 419 ff.). Danach kann den
Verfahrensbeteiligten die
Bezahlung von Kosten und die Leistung von Kostenvorschüssen er-
2008
Verwaltungsgericht
298
lassen werden, wenn ihnen die nötigen Mittel fehlen und ihr Begeh-
ren nicht offenbar aussichtslos ist; wo die Schwere einer Massnahme
oder die Rechtslage es rechtfertigt, kann auch ein unentgeltlicher
Rechtsvertreter bestimmt werden.
Die Formulierung schliesst Ver-
fahren, die von Amtes wegen eingeleitet wurden, nicht aus, kann
doch der in ein solches Verfahren einbezogene Private auch dort Be-
gehren stellen. Es entspricht denn auch konstanter Rechtsprechung
des Bundesgerichts, den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege,
insbesondere denjenigen auf die vorliegend in Frage stehende unent-
geltliche Verbeiständung, bei gegebenen Voraussetzungen in jedem
staatlichen Verfahren zu bejahen, "in das der Gesuchsteller einbezo-
gen wird oder das zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist"
(BGE 130 I 182; 128 I 227; vgl. auch AGVE 2002, S. 100). Zum
gleichen Schluss führt die systematische Stellung von § 35 VRPG im
2. Abschnitt des VRPG mit dem Titel "Allgemeine Verfahrensvor-
schriften", welcher grundsätzlich für alle erstinstanzlichen Verwal-
tungsverfahren (Verfügungsverfahren) ebenso wie für die verwal-
tungsinternen und die gerichtlichen Beschwerdeverfahren Anwen-
dung findet.
Die unterschiedliche Ausgestaltung des Verfügungs- und des
Rechtsmittelverfahrens erfordert indessen eine differenzierte Prüfung
der beiden vorliegend strittigen Voraussetzungen der Notwendigkeit
des Beizugs eines Vertreters (nachstehend Erw. 2) und der Nichtaus-
sichtslosigkeit des Rechtsbegehrens. Die Mittellosigkeit ist aufgrund
der vorliegenden Akten gegeben.
2.
2.1.
2.1.1.
Im
Verfügungsverfahren
geht es darum, die für den eigenen
Standpunkt sprechenden Fakten und Argumente in das Verfahren
einzubringen. Der geltende Untersuchungsgrundsatz (§ 20 VRPG)
stellt keineswegs sicher, dass alle gegen die Anordnung der Behörde
sprechenden Gesichtspunkte im Verfahren berücksichtigt werden;
dies schon allein deshalb, weil sie in vielen Konstellationen keine
Kenntnis davon hat. Entsprechend bejaht das Bundesgericht die Not-
wendigkeit eines unentgeltlichen Rechtsvertreters auch in den vom
2008
Verwaltungsrechtspflege
299
Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren (Entscheid des Bun-
desgerichts vom 23. Januar 2007 [2P.295/2006], Erw. 2.4; siehe auch
BGE 130 I 183 f.):
"Dass in einem Verfahren die Offizial- bzw. Untersuchungsmaxime
zur Anwendung gelangt, lässt eine anwaltliche Vertretung der am Verfahren
Beteiligten nicht ohne weiteres als unnötig erscheinen. Die Erfahrung zeigt,
dass ein schlecht begonnenes Verfahren später nur sehr schwer in die rich-
tige Bahn zu bringen ist. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime
allfällige Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist sie
auch nicht unbegrenzt. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus alle
Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unab-
hängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht
entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sach-
verhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken." (Zi-
tate weggelassen)
Im Verfügungsverfahren ist deshalb für die Prüfung der Not-
wendigkeit der Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters
insbesondere von Bedeutung, wie weit der Betroffene gemessen an
Intelligenz, Bildungsniveau, Sprachkenntnis und Kenntnis der we-
sentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die ent-
scheidwesentlichen Punkte überhaupt erkennen und durch Mitwir-
kung im Verfahren das für ihn Sprechende einbringen kann.
2.1.2.
Im
Rechtsmittelverfahren
kann der Betroffene demgegenüber
aufgrund der erstinstanzlichen Verfügung (zumindest wenn diese
korrekt und ausreichend begründet ist) erheblich besser erkennen,
gegen welche Sachverhaltsfeststellungen er sich wehren muss und
was er für seine Interessenwahrung vorbringen kann. Dieser Verein-
fachung stehen indessen als Erschwernis die im Rechtsmittelverfah-
ren zu beachtenden Verfahrensvorschriften und prozessualen For-
men, die im Verfügungsverfahren kaum Gewicht haben, gegenüber.
2.1.3.
Daraus ergibt sich, dass die unentgeltliche Verbeiständung im
Verfügungsverfahren vor allem im Hinblick auf die materiell-rechtli-
chen Aspekte und im Rechtsmittelverfahren zusätzlich - gegebenen-
2008
Verwaltungsgericht
300
falls sogar vorwiegend - im Hinblick auf die formellen Aspekte indi-
ziert sein kann.
2.2.
Der Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsvertreter im Ver-
fügungsverfahren gilt nicht uneingeschränkt. Ohne zwischen Verfü-
gungs- und Rechtsmittelverfahren zu differenzieren, umschreibt das
Bundesgericht die Schranken wie folgt (vgl. BGE 130 I 182 f. mit
Hinweisen):
"Die bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeistän-
dung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und
der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die
den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht das in Frage
stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen
Person einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertre-
ters grundsätzlich geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen Schwere des
Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukom-
men, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen
wäre."
Das Bundesgericht differenziert somit bei der Beurteilung,
wann in einem (tatsächlich oder rechtlich schwierigen) Verfahren die
Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters notwendig ist, da-
nach, ob besonders stark in die Rechtsposition des Betroffenen ein-
gegriffen wird oder ob das Verfahren für diesen zwar ebenfalls fol-
genschwer, aber doch weniger einschneidend erscheint. Trifft Letzte-
res zu, so stellt das Bundesgericht zusätzlich auf die Fähigkeiten des
Betroffenen ab, sich selbst zur Wehr zu setzen. Auf das Verfügungs-
verfahren übertragen ist in diesem Zusammenhang von Relevanz,
wie weit der Betroffene aufgrund seiner Fähigkeiten imstande er-
scheint, die entscheidwesentlichen Punkte zu erkennen und die für
ihn sprechenden Aspekte ins Verfahren einzubringen. Dabei ist ihm
die Unterstützung, die ihm von Gesetzes oder von Vertrags wegen
zusteht, anzurechnen. Zu denken ist hier etwa an gesetzliche Vertre-
ter (Vormund/Beistand) (vgl. dazu Alfred Bühler, in: Kommentar zur
aargauischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Aarau/Frankfurt a.M./
Salzburg 1998, § 126 N 6) oder an die Hilfe von Beratungsstellen.
Zusätzlich zu berücksichtigen ist, welche später nur noch schwer zu
2008
Verwaltungsrechtspflege
301
behebenden Nachteile ein ungeeignetes Handeln im Verfügungs-
verfahren mit sich bringen kann. Diese sind insbesondere dann
erheblich, wenn im Rechtsmittelverfahren das Vorbringen neuer
Tatsachenbehauptungen, Beweismittel und Argumente eingeschränkt
ist. | 1,596 | 1,295 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-52_2008-03-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-52.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-52.pdf | AGVE_2008_52 | null | nan |
53c0ea72-68ce-53c1-b98e-b0549642d517 | 1 | 412 | 870,463 | 1,033,603,200,000 | 2,002 | de | 2002
Submissionen
325
79
"Erfahrung/Kenntnis örtl. Abwassersystem" als Zuschlagskriterium.
-
Zuordnung des Teilkriteriums "Erfahrung/Kenntnis örtl. Abwasser-
system" (Erw. 4/b).
-
Praxis des Verwaltungsgerichts (Erw. 4/c/bb).
-
Die bei einem Anbieter vorhandenen Kenntnisse über das örtliche
Abwassersystem stellen für die Vergabe der Erstellung des generellen
Entwässerungsplans kein zulässiges Zuschlagskriterium dar, da der
konkrete Auftrag keine solchen spezifischen Vorkenntnisse erfordert
(Erw. 4/c/bb/ddd).
-
Verletzung des Gleichbehandlungsgebots (Erw. 4/d).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 29. Oktober 2002 in
Sachen G. gegen Gemeinderat Jonen.
Aus den Erwägungen
4. a) Die Vergabebehörde hat unter dem Zuschlagskriterium
"Erfahrung/Referenzen" den Teilaspekt "Erfahrung/Kenntnis örtl.
Abwassersystem" mit maximal 5 Punkten (von insgesamt 30 Punk-
ten für "Erfahrung/Referenzen") bewertet. Die Zuschlagsempfänge-
rin hat dabei als einzige Anbieterin das Punktemaximum erhalten;
die Beschwerdeführerin wurde mit drei Punkten bewertet. Der Ge-
meinderat begründet die Besserbewertung damit, dass der Begriff
Erfahrung in einem umfassenderen Sinn zu verstehen sei und im
konkreten Fall auch subjektive Kenntnisse bzw. einen Wissensvor-
sprung beinhalte, der für die Vergabestelle von grosser Bedeutung
sei. Die K. AG verfüge über umfangreiche und detaillierte Kennt-
nisse des Abwassernetzes Jonen, da sie es letztmals im Rahmen des
Neubaus des Regenbeckens Ottenbach-Jonen (Planung und Inbe-
triebnahme 1998/1999) eingehend untersucht habe. Die K. AG habe
schon 1968 die ARA Ottenbach-Jonen gebaut und betreue seitdem
die Anlage technisch und baulich ohne Unterbruch bis heute.
b) aa) Die Beschwerdeführerin ist zunächst der Auffassung, das
Teilkriterium "Erfahrung/Kenntnis örtl. Abwassersystem" habe
nichts mit dem Zuschlagskriterium "Erfahrung/Referenzen" zu tun.
2002
Verwaltungsgericht
326
Falls es überhaupt zulässig sei, hätte die Vergabestelle es (als eigen-
ständiges Kriterium) definieren müssen. Nach Meinung des Gemein-
derats hingegen lässt sich das Teilkriterium "Erfahrung/Kenntnis örtl.
Abwassersystem" dem Zuschlagskriterium "Erfahrung/Referenzen"
klar zuordnen.
bb) Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts ist die
Vergabebehörde nicht verpflichtet, zum Voraus bekannt zu geben,
wie sie die Zuschlagskriterien im Einzelnen zu bewerten gedenkt. Ob
daran vor dem Hintergrund der neueren bundesgerichtlichen Recht-
sprechung auch künftig noch festzuhalten ist, braucht im vorliegen-
den Fall nicht entschieden zu werden (vgl. allerdings AGVE 2002
78, S. 321 [=VGE III/63 vom 15. August 2002 [BE.2002.00220] in
Sachen A. AG, S. 7 f.] mit Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts
vom 24. August 2001 [2P.299/2000], Erw. 2/c). Die nachträgliche
Unterteilung der Zuschlagskriterien in Sub- oder Teilkriterien stellt
nach der verwaltungsgerichtlichen Praxis lediglich ein Hilfsmittel für
eine differenzierte Bewertung dar. Die einzelnen Teilkriterien müssen
sich allerdings einem in der Ausschreibung ausdrücklich aufge-
führten Zuschlagskriterium zuordnen lassen bzw. davon mitumfasst
werden; es dürfen hierbei nicht etwa neue Zuschlagskriterien ge-
schaffen oder herangezogen werden (AGVE 2001, S. 346 mit Hin-
weisen). Weiter dürfen die Anbieter darauf vertrauen, dass die Ver-
gabestelle die üblichen Zuschlagskriterien - wie sie auch in § 18 Abs.
2 SubmD genannt sind - im herkömmlichen Sinn versteht; an-
dernfalls müssen sie in den Ausschreibungsunterlagen entsprechend
(möglichst detailliert) umschrieben werden, damit die Anbieter
erkennen können, welchen Anforderungen sie bzw. ihre Angebote
genügen müssen (AGVE 1998, S. 393 f.; 2001, S. 346).
cc) Vertretbar erscheint zwar die Ansicht des Gemeinderats, die
Kenntnis des örtlichen Abwassersystems lasse sich dem Zu-
schlagskriterium "Erfahrung/Referenzen" zuordnen. Die Vergabebe-
hörde hat im vorliegenden Fall in den Ausschreibungsunterlagen aber
die Zuschlagskriterien
einschliesslich der zugehörigen Teilkriterien
bekannt gegeben. Anhaltspunkte dafür, dass diese Aufzählung nicht
vollständig und abschliessend sein sollte, lassen sich den Ausschrei-
bungsunterlagen und dem Pflichtenheft nicht entnehmen. Beim
2002
Submissionen
327
Kriterium
"Erfahrung/Referenzen"
waren
massgebend
die
"Erfahrung als GEP-Ingenieur", "Referenzen", "Qualifikation des
Projektleiters und der wichtigsten Sachbearbeiter". Das Teilkriterium
"Erfahrung/Kenntnisse örtl. Abwassersystem" wurde hingegen nicht
genannt. Schon aus diesem Grund erscheint es eher fraglich, wenn
die Vergabebehörde die Kenntnis des örtlichen Abwassersystems in
Abweichung von den bekannt gegebenen Teilkriterien nachträglich
als weiteres Teilkriterium heranzieht. Direkt zuordnen lässt sich die
Kenntnis des örtlichen Abwassersystems jedenfalls weder der Er-
fahrung als GEP-Ingenieur noch den Referenzen noch der Qualifika-
tion des Projektsleiters und der wichtigsten Sachbearbeiter. Fraglich
ist aber auch die Zulässigkeit des Teilkriteriums als solches, na-
mentlich seine sachliche Rechtfertigung im Hinblick auf die zu ver-
gebenden Leistungen.
c) aa) Das Submissionsdekret statuiert in § 1 Abs. 1 den Grund-
satz der Gleichbehandlung der Anbietenden, der in allen Phasen des
Vergabeverfahrens gilt, und untersagt den Vergabebehörden jede
Diskriminierung der Anbietenden. Den diskriminierungsfreien Zu-
gang zu den öffentlichen Beschaffungen durch Kantone und Ge-
meinden fordert auch Art. 5 BGBM. Das Bundesgericht geht davon
aus, dass das BGBM sowohl die Gleichbehandlung ortsfremder und
ortsansässiger Anbieter als auch die Gleichbehandlung Ortsansässi-
ger untereinander sicherstellt (BGE 125 I 410 f.; Urteil des Bundes-
gerichts vom 30. Mai 2000 [2P.151/1999], E. 1c). Insofern kommt
dem BGBM die Bedeutung eines allgemein geltenden Diskriminie-
rungsverbots bzw. Gleichbehandlungsgebots für das kantonale und
kommunale öffentliche Beschaffungswesen zu (vgl. Andreas Bass /
Alberto Crameri / Herbert Lang / Vinicio Malfanti / Philipp Spörri,
Die Anwendung des Binnenmarktgesetzes auf Ortsansässige, in: ZBl
2000, S. 249 ff.).
bb) aaa) Das Verwaltungsgericht hat sich mit der Frage, wie be-
sondere ortspezifische Kenntnisse eines Anbieters bzw. ein Wissens-
vorsprung bezüglich der zu vergebenden Arbeiten im Rahmen der
Offertbewertung zu beurteilen sind, schon unter verschiedenen
Aspekten auseinandergesetzt.
2002
Verwaltungsgericht
328
Im Zusammenhang mit der Anwendung des Binnenmarktge-
setzes hat das Verwaltungsgericht festgehalten, die Örtlichkeits-
kenntnisse des Anbieters müssten durch den konkreten Auftrag sach-
lich klar gefordert sein; sie dürften nicht lediglich dazu dienen, die
einheimischen Anbieter binnenmarktgesetzwidrig zu begünstigen. Es
sei aber grundsätzlich denkbar, dass die Eigenart eines zu vergeben-
den Auftrags Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse erfordere und
diese auch als sachlich gerechtfertigtes Vergabekriterium erscheinen
lasse (AGVE 1998, S. 375; VGE III/125 vom 28. August 1998
[BE.1998.00141] in Sachen ARGE K. und Mitb., S. 15; III/106 vom
14. August 1998 [BE.1998.00186] in Sachen K. u. M., S. 15).
Frühere Arbeiten, die ein Anbieter für den Auftraggeber ausge-
führt hat, und die in irgend einer Weise im Zusammenhang mit dem
neu zu vergebenden Auftrag stehen, können zu einem Wissensvor-
sprung des betreffenden Anbieters führen, der Teil der unterneh-
merischen Erfahrung bildet, zum besonderen Know-how des betref-
fenden Unternehmers gehört. Zur Frage, ob ein solcher Wissensvor-
sprung ein relevantes Zuschlagskriterium sein könne, hat das Ver-
waltungsgericht erwogen, dass dafür aus Sicht des konkreten Pro-
jekts eine klare sachliche Rechtfertigung gegeben sein müsse. Solche
Konstellationen seien für besonders komplexe, einzigartige oder
fachlich sehr anspruchsvolle Anlagen, die nach ausgesprochenen
Kennern oder Spezialisten rufen, durchaus denkbar. Wo es sich da-
gegen um nicht überdurchschnittlich komplizierte Aufträge handle,
die in gleicher oder ähnlicher Weise in grosser Zahl vergeben wür-
den, sei ein Wissensvorsprung der genannten Art kein sachlich halt-
bares Kriterium für die Arbeitsvergabe (VGE III/18 vom 5. Februar
1998 [BE.1997.00355] in Sachen E., S. 13 f.; III/175 vom
15. Dezember 1998 [BE.1998.00264] in Sachen der Beschwerdefüh-
rerin, S. 11 f.). Das Verwaltungsgericht hat die Berücksichtigung
eines aus früheren Arbeiten stammenden Wissensvorsprungs bei
herkömmlichen Elektroinstallationsarbeiten abgelehnt (erwähnter
VGE in Sachen E., S. 14) und im Zusammenhang mit der Vergabe
von Vermessungsarbeiten (Neuvermessung) selbst dann als "äusserst
fraglich" erklärt, falls die Vergabebehörde die ortspezifischen Kennt-
nisse bzw. den Wissensvorsprung ausdrücklich als Vergabekriterium
2002
Submissionen
329
festgelegt hätte (erwähnter VGE in Sachen der Beschwerdeführerin,
S. 13 f.).
In einem kürzlich ergangenen Urteil im Zusammenhang mit der
Vergabe von Sanierungsarbeiten hat das Verwaltungsgericht den
Standpunkt der Vergabebehörde, die spezifischen Gebäudekenntnisse
und Erfahrungen mit dem Sanierungsobjekt, die eine der An-
bieterinnen aufwies, unter dem Titel "Referenzen" nicht mit einer
Besserbewertung zu berücksichtigen, als im Ermessen der Vergabe-
stelle liegend geschützt (VGE III/77 vom 23. September 2002
[BE.2002.00257] in Sachen ARGE B. u. Mitb., S. 16 f.).
bbb) Das Verwaltungsgericht hat anderseits mehrfach festge-
stellt, der Tatsache, dass die Vergabebehörde
über eigene Erfahrun-
gen
mit einer Anbieterin (für vergleichbare Leistungen) verfüge und
die Zusammenarbeit problemlos und zur vollen Zufriedenheit der
Behörde verlaufen sei, dürfe im Rahmen der Referenzbewertung in
einem gewissen Umfang durchaus Rechnung getragen werden. Dies
stelle grundsätzlich noch keine Ermessensüberschreitung dar. Jedoch
dürfe die Berücksichtigung der Erfahrung aus der bisherigen Zusam-
menarbeit nicht dazu führen, dass Anbieter, mit denen keine solche
einschlägige Erfahrungen vorhanden sind, im Verfahren von vornher-
ein chancenlos seien (VGE III/117 vom 15. November 2001
[BE.2001.00339] in Sachen B. AG, S. 11 f. mit Hinweis).
ccc) Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hat es als zu-
lässig erachtet, die besonderen Kenntnisse eines Anbieters über das
zu spülende örtliche Kanalnetz bei der Vergabe von Kanalspülar-
beiten mit einem Gewicht von 10% als Zuschlagskriterium - es
wurde den Anbietern allerdings vorgängig als relevantes Zuschlags-
kriterium ("Ortskenntnisse 10%") in den Ausschreibungsunterlagen
bekannt gegeben - zu berücksichtigen (Entscheid vom 6. Juni 2001
[VB.2000.00391] E. 3). Es hat aber auch festgehalten, es sei nicht
Sinn und Zweck des Vergabeverfahrens, die bisherigen Leistungser-
bringer zu bevorzugen, weil sie - sofern ihnen der Zuschlag erteilt
werde - naturgemäss mit den örtlichen Verhältnissen besser vertraut
seien. Dem bisherigen Leistungserbringer dürften keine Vorteile ge-
währt werden, die andern Anbietern verwehrt seien (vgl. auch Peter
Galli / Daniel Lehmann / Peter Rechsteiner, Das öffentliche Beschaf-
2002
Verwaltungsgericht
330
fungswesen in der Schweiz, Zürich 1996, Rz. 194). Durch eine sol-
che Bevorzugung würde das Gebot der Gleichbehandlung aller
Anbieter sowie die Pflicht zu einer unparteiischen Vergabe verletzt.
Im konkreten Fall kam dem Kriterium "Ortkenntnisse" für den zu
vergebenden Auftrag nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Da das
Kriterium jedoch nur mit 10% gewichtet worden war, erachtete das
Zürcher Verwaltungsgericht sowohl seine Festsetzung als auch die
vorgenommene Bewertung im Ergebnis noch als vertretbar.
ddd) Im vorliegenden Fall sind bereits vorhandene Kenntnisse
des örtlichen Abwassersystems für die Erstellung des GEP lediglich
von untergeordneter Bedeutung. Es ist davon auszugehen, dass sich
jedes Ingenieurbüro mit der nötigen Erfahrung im GEP-Bereich diese
Kenntnisse ebenfalls sehr rasch aneignen kann. Die gemein-
despezifischen entwässerungstechnischen Probleme erscheinen nicht
derart ausserordentlich, dass vorbestehende Kenntnisse des örtlichen
Abwassersystems für die Auftragsausführung geradezu notwendig
wären. Dies macht auch der Gemeinderat nicht geltend. Würde es
sich anders verhalten, hätte der Gemeinderat lediglich Anbieter ein-
laden dürfen, die die notwendigen Kenntnisse aufweisen oder - was
der Auftragswert im vorliegenden Fall zugelassen hätte - sogar von
einem Wettbewerb absehen und den Auftrag direkt an die K. AG
vergeben müssen.
Festzustellen ist sodann, dass die speziellen Kenntnisse, über
die die K. AG verfügt, sich eigentlich auch beim Preis zu ihrem
Vorteil auswirken müssten, da dieser Wissensvorsprung es ihr er-
möglichen sollte, günstiger zu offerieren. Insofern verfügt diejenige
Anbieterin, die bereits Vorkenntnisse aufweist, gegenüber ihren
Konkurrentinnen ohnehin über einen gewissen Wettbewerbsvorteil.
Anzunehmen ist zudem, dass bereits vorhandene Kenntnisse zur
Folge haben, dass sich die zur Ausführung des Auftrags benötigte
Zeit verkürzt. Dieser Möglichkeit würde gerade im vorliegenden Fall
bereits mit der Bewertung des Zuschlagskriteriums "Leistungsfähig-
keit" bzw. "Termine" Rechnung getragen. Die zusätzliche Berück-
sichtigung eines Wissensvorsprungs beim Zuschlagskriterium "Er-
fahrung" drängt sich auch aus diesen Gründen nicht auf; eine solche
2002
Submissionen
331
Berücksichtigung würde zu einer zusätzlichen Benachteiligung der
Anbietenden ohne die fraglichen Kenntnisse führen.
d) Ingesamt erweist sich die zusätzliche Berücksichtigung der
Kenntnis des örtlichen Abwassersystems als sachlich nicht zu recht-
fertigen und hält daher vor dem Gleichbehandlungsgebot (§ 1 Abs. 1
SubmD, Art. 5 BGBM) nicht stand. Daran ändert auch nichts, dass
dem Teilkriterium mit einer Gewichtung von lediglich 5% im Rah-
men der Bewertung keine sehr grosse Bedeutung zukommt, und der
daraus resultierende Vorsprung der Zuschlagsempfängerin lediglich
zwei Punkte beträgt. | 3,028 | 2,473 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-79_2002-10-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-79.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-79.pdf | AGVE_2002_79 | null | nan |
5453af54-9ed8-5d90-9577-19b58cb3b7f3 | 1 | 412 | 870,392 | 1,328,313,600,000 | 2,012 | de | 2012
Verwaltungsgericht
206
[...]
30
Kostenersatz für Lehrmittel und Schulmaterial beim Privatschulbesuch
Die Bestimmung von § 16 Abs. 1 des Schulgesetzes, wonach die Ge-
meinden den Schülern die Lehrmittel und das Schulmaterial unent-
geltlich zur Verfügung stellen, bezieht sich auf die öffentliche Volksschule
und verleiht Besuchern einer Privatschule keinen Anspruch auf Übernah-
me von Kosten durch die Gemeinde. Die verfassungskonforme Auslegung
unter Berücksichtigung des Anspruchs auf unentgeltlichen Grundschul-
unterricht und der Rechtsgleichheit führt zu keinem andern Ergebnis.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 29. Februar 2012 in Sa-
chen A. und B. gegen Einwohnergemeinde C. (WKL.2011.1).
2012
Schulrecht und Ausbildungsbeiträge
207
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grund-
schulunterricht ist durch die Bundesverfassung gewährleistet (Art. 19
BV). Im Kanton Aargau ist der Unterricht an öffentlichen Schulen
und Bildungsanstalten für Kantonseinwohner unentgeltlich (§ 34
Abs. 1 KV). Dieser Grundsatz wird im Schulgesetz konkretisiert: Für
Kinder und Jugendliche mit Aufenthalt im Kanton ist der Unterricht
an den öffentlichen Volksschulen unentgeltlich (§ 3 Abs. 3 SchulG).
1.2. (...)
2.
Vorliegend besuchen die Kläger eine Privatschule und kommen
für das Schulgeld und die Transportkosten selber auf. Gegenstand
ihrer Klage ist die Forderung nach Übernahme der Kosten für
Schulmaterial und Lehrmittel für die Jahre 2009 und 2010 durch die
Beklagte.
Sie leiten den Anspruch auf Kostenübernahme für Schulmate-
rial und Lehrmittel durch die Beklagte aus § 16 Abs. 1 SchulG ab.
Die Differenzierung zwischen Kindern, welche öffentliche Schulen
besuchen, und solchen, die in eine Privatschule gehen, verstosse
gegen den Wortlaut von § 16 Abs. 1 SchulG. Sinn und Zweck des
gesetzlichen Anspruchs auf Lehrmittel und Schulmaterial könne
nicht die Privilegierung der Volksschüler an öffentlichen Schulen
sein; die Schulpflicht solle allen Verpflichteten möglichst wenige
Aufwendungen verursachen. (...)
3. (...)
4.
4.1.
Eine Leistungspflicht des Gemeinwesens erfordert eine Grund-
lage in der Verfassung oder im Gesetz (vgl. vorne Erw. 1).
Gemäss § 16 Abs. 1 SchulG stellen die Gemeinden den Schü-
lern die Lehrmittel und das Schulmaterial unentgeltlich zur Verfü-
gung. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich in der Tat
nicht unmittelbar, dass die Unentgeltlichkeit auf das Schulmaterial
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Verwaltungsgericht
208
und die Lehrmittel auf die Schüler einer öffentlichen Schule be-
schränkt ist und § 16 Abs. 1 SchulG beim Besuch einer Privatschule
nicht zur Anwendung kommt.
Das Gesetzesverständnis muss sich aber vom Gedanken leiten
lassen, dass nicht der reine Wortlaut das Gesetz darstellt, sondern in
der Rechtsanwendung der "wahre Rechtssinn", der sich aus der Be-
achtung des Kontextes einer Norm, des Willens des Gesetzgebers
und dem Zweck einer Regelung erschliesst, massgebend ist (vgl.
dazu Art. 1 ZGB; BGE 135 II 195, Erw. 6.2; 127 III 415, Erw. 2 je
mit Hinweisen; Heinrich Honsell, Basler Kommentar, Zivilgesetz-
buch I, Art. 1-456 ZGB, 4. Aufl., 2010, Art. 1 N 2; Ernst A. Kramer,
Juristische Methodenlehre, Bern 1998, S. 161 f. und 169 f.). Schon
die sog. grammatikalische Auslegung beschränkt sich nicht auf den
blossen Wortlaut des Gesetzestextes. Der Titel sowie die Sachüber-
schriften und Randtitel (Marginalien) sind (sprach-) logische Be-
standteile des Textes und müssen daher mitberücksichtigt werden.
Ein massgebliches Element der Auslegung ist der systematische
Aufbau eines Gesetzes (vgl. Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen
Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 8. Aufl., Zürich 2010,
N 94 ff.).
4.2.
§ 16 Abs. 1 SchulG ist unter dem Titel "2. Schulen" und den
Untertiteln "2.2. Volksschule" und "2.2.1. Gemeinsame Bestimmun-
gen" aufgeführt. Der 2. Titel des Schulgesetzes regelt nebst der
Volksschule die "Besonderen Förder- und Stützmassnahmen (Unter-
titel 2.3) sowie die Mittelschulen (Untertitel 2.4). Auch § 2 SchulG
stellt klar, dass Volksschulen als öffentliche Schulen gelten und dem
Schulgesetz unterstehen. Die Regelung der Privatschulen und priva-
ter Schulung finden sich demgegenüber separat im Schulgesetz unter
dem Titel "4. Trägerschaft durch Gemeinden und Private". Dieser
Abschnitt des Schulgesetzes wird mit den Titeln "4.1. Öffentliche
Schulen" und "4.2. Privatschulen und private Schulung" unterteilt.
Im letzteren, separaten Abschnitt (§ 58 bis § 58c SchulG) werden die
Privatschulen behandelt. § 58b Abs. 1 SchulG bestimmt, dass die
schulpflichtigen Kinder einer Privatschule mit Wohnsitz im Aargau
unter den gleichen Bedingungen Zugang zum Instrumentalunterricht
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Schulrecht und Ausbildungsbeiträge
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und zu den Therapien und Schuldiensten haben wie die Kinder an
öffentlichen Schulen. Lehrmittel und Schulmaterial sind nicht er-
wähnt.
Die grammatikalische Auslegung und die systematische Stel-
lung von § 16 Abs. 1 SchulG in der Normenhierarchie des Schulge-
setzes ergeben eindeutig, dass sich die Unentgeltlichkeit für Lehr-
mittel und Schulmaterial auf die (öffentliche) Volksschule beschränkt
und für Schülerinnen und Schüler, welche eine Privatschule besu-
chen, nicht zur Anwendung gelangt. Dies entspricht auch der ver-
fassungsrechtlichen Lage. Die Unentgeltlichkeit gemäss § 19 BV
(vgl. auch § 62 BV) und § 34 KV gilt grundsätzlich nur für den Un-
terricht an öffentlichen Schulen (vorne Erw. 1; Jörg P. Müller/Markus
Schefer, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl., Bern 2008, S. 792 mit
Hinweisen; BGE 133 I 156, Erw. 3.1; AGVE 2003, S. 95; 2001,
S. 155 f. je mit Hinweisen). Nach der älteren Verfassungslehre waren
die Kosten für die Lehrmittel, das Schulmaterial und Kosten für zu-
sätzliche Veranstaltungen der Schule von der Garantie von Art. 19
BV und § 34 KV nicht erfasst und konnten durch die kantonale Ge-
setzgebung geregelt werden (vgl. Kurt Eichenberger, Verfassung des
Kantons Aargau, Textausgabe mit Kommentar, Aarau/Frankfurt
a.M./Salzburg 1986, Rz. 3 zu § 34; Bernhard Ehrenzeller/Markus
Schott, St. Galler Kommentar zur BV, 2. Aufl., 2008, Art. 62 N 35).
Gemäss § 53 Abs. 2 SchulG beschaffen die Gemeinden die Lehr-
mittel für die Volksschule (vgl. § 52 SchulG).
4.3.
§ 16 Abs. 1 SchulG konkretisiert die Verfassungsordnung mit
dem Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschul-
unterricht und einer Leistungspflicht des Gemeinwesens auf unent-
geltliche Abgabe von Schulmaterial und Lehrmitteln an der öffentli-
chen Volksschule. Für die Privatschulen kommt § 16 Abs. 1 SchulG
nicht zur Anwendung.
Nur beim Vorliegen wichtiger Gründe hat das Gemeinwesen für
Schulkosten des Besuchs einer Privatschule aufzukommen. Gründe,
die eine Ausnahmesituation begründen können, werden von den
Klägern nicht vorgetragen.
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210
5.
5.1.
Die unentgeltliche Abgabe von Schulmaterial und Lehrmitteln
an der Volksschule erfolgt in Erfüllung des staatlichen Leistungsauf-
trags und dient der Erfüllung des Lehrplans (vgl. § 13 SchulG). Sie
trägt damit zur Qualitätssicherung an den öffentlichen Schulen bei.
Der Regierungsrat legt die obligatorischen Lehrmittel für die Volks-
schule fest (§ 16 Abs. 3 SchulG) und sie unterliegen einer Qualitäts-
kontrolle (vgl. Botschaft des Regierungsrates des Kantons Aargau an
den Grossen Rat vom 15. Mai 2002, 02.135, S. 17). Die Auffassung
der Kläger, wonach die Lehrmittel von der Schule unabhängig sind
und auch nicht die Qualität des Unterrichts beeinflussen, beschränkt
sich zu Unrecht auf die reine Kostenfrage.
Privatschulen erfüllen keinen staatlichen Leistungsauftrag. Der
Besuch einer Privatschule ist auch nicht unentgeltlich und es besteht
kein gesetzlicher Anspruch auf Aufnahme bei einer solchen Institu-
tion. Privatschulen haben in Bezug auf die Bildungsziele, den Lehr-
plan, die Ausbildung der Lehrpersonen und die räumlichen Anforde-
rungen den öffentlichen Schulen zu entsprechen (vgl. § 44a der Ver-
ordnung über die Volksschule vom 29. April 1985 [SAR 421.311]),
sind aber bei der Ausgestaltung des Lehrplanes autonom. Sie haben
erhebliche Freiheiten und sind insbesondere bei der Wahl der Lehr-
mittel und des Schulmaterials frei. Eine Abgabe von Lehrmitteln,
welche an den staatlichen Schulen verwendet werden, wird von den
Klägern denn auch nicht verlangt.
5.2.
Die gesetzliche Pflicht der Gemeinden, Lehrmittel und Schul-
material nur den Schülerinnen und Schülern der (öffentlichen)
Volksschulen unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, ist Teil des
öffentlichen Bildungsauftrages des Gemeinwesens. Der Ausschluss
der Schülerinnen und Schüler einer Privatschule vom unentgeltlichen
Zugang zu Schulmaterial und Lehrmitteln ist angesichts der unter-
schiedlichen Aufgaben, der Ausrichtung und Lernziele sowie der
Trägerschaft einer Privatschule sachlich und rechtlich begründet. Die
Differenzierung in der Anspruchsberechtigung verletzt die Rechts-
gleichheit nach Art. 8 Abs. 1 BV und § 10 Abs. 1 KV daher nicht.
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Bei den Verbrauchsmaterialien fällt diese Unterscheidung zwar na-
turgemäss nicht besonders ins Gewicht. Die Entgeltlichkeit des
Schulmaterials an einer Privatschule ist aber sowohl Bestandteil wie
auch Folge der grundsätzlichen Entgeltlichkeit des Privatschulbe-
suchs. Ob die Privatschule für das Schulmaterial gesondert Rech-
nung stellt oder diese Kosten in das Schulgeld einrechnet, steht in
ihrem Ermessen. Aus dem Abrechnungssystem der Schule kann auch
mit Blick auf die Rechtsgleichheit kein Leistungsanspruch begründet
werden. Die Entgeltlichkeit von Schulmaterial bleibt Teil des ent-
geltlichen Privatschulbesuchs.
6.
Zusammenfassend erweisen sich die Rechtsbegehren der Kläger
als unbegründet und die Klage ist abzuweisen. | 2,190 | 1,804 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2012-30_2012-02-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-30.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-30.pdf | AGVE_2012_30 | null | nan |