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Verwaltungsgericht
256
[...]
62
Alimentenbevorschussung. Inzidente Normenkontrolle.
- Die Regelung von § 27 Abs. 1 lit. b SPV ist unzulässig, da § 33 lit. d
SPG beim Anspruch auf Alimentenbevorschussung den vollumfängli-
chen Einbezug von Einkommen und Vermögen des Stiefvaters des
alimentenberechtigten Kindes nicht vorsieht.
2004
Sozialhilfe
257
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 14. Mai 2004 in Sa-
chen A.V. gegen Bezirksamt B.
Aus den Erwägungen
(In der Beschwerde ans Verwaltungsgericht wurde geltend ge-
macht, § 27 Abs. 1 lit. b SPV widerspreche § 33 lit. d SPG und sei
daher ungültig.)
3. a) Die Gerichte sind zur inzidenten oder akzessorischen
Normenkontrolle verpflichtet (§ 95 Abs. 2 KV; § 2 Abs. 3 VRPG).
Diese besteht in der vorfrageweisen Überprüfung einer anzuwenden-
den generellen Norm unterer Stufe im Zusammenhang mit einem
konkreten Rechtsanwendungsakt auf die Übereinstimmung mit Nor-
men höherer Stufe. Ergibt sich, dass die überprüfte Norm mangelhaft
ist, so führt dies - anders als im Verfahren der abstrakten Normen-
kontrolle (§ 68 ff. VRPG) - nicht zu einer förmlichen Aufhebung,
doch ist diese Norm im konkreten Anwendungsfall unbeachtlich und
nicht anzuwenden (AGVE 2002, S. 164 f. mit Hinweisen; Kurt
Eichenberger, Verfassung des Kantons Aargau, Kommentar,
Aarau/Frankfurt a.M./Salzburg 1986, § 95 N 21).
b) Der Regierungsrat darf rechtsetzende Bestimmungen in der
Form der Verordnung erlassen. Dabei müssen aber der Zweck und
die Grundsätze der inhaltlichen Gestaltung im Gesetz (oder im De-
kret) festgelegt sein (§ 91 Abs. 2 KV). Zudem muss die Verordnung
selbstverständlich die Schranken der Rechtsetzungsbefugnis einhal-
ten: Sie darf weder gegen die Verfassung noch gegen das Gesetz
verstossen und darf deren Inhalt nicht aufheben oder abändern, son-
dern ihn nur spezifizieren (AGVE 1985, S. 124).
c) Im eben angeführten Präjudiz ging es um die analoge Frage-
stellung, bezogen auf die entsprechenden Bestimmungen des SHG
und der SHV. § 33 Abs. 3 SHG lautete: "Ein Vorschuss wird ausge-
richtet, soweit Brutto-Einkommen und Vermögen des obhutsberech-
tigten Elternteils und des Kindes nicht eine vom Regierungsrat auf
dem Verordnungsweg festzusetzende Grenze überschreiten.", nach
§ 36 Abs. 1 lit. c SHV wurde "beim verheirateten, nicht alimenten-
2004
Verwaltungsgericht
258
pflichtigen Elternteil oder bei eheähnlichem Partnerschaftsverhält-
nis" das Bruttoeinkommen gesamthaft (also einschliesslich des Ein-
kommens des neuen Ehe- bzw. des Konkubinatspartners) einbezo-
gen. Im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens hob das Verwal-
tungsgericht § 36 Abs. 1 lit.
c SHV als gesetzwidrig auf
(AGVE 1985, S. 128).
Während die Beschwerdeführerin die Ansicht vertritt, es handle
sich praktisch um den gleichen Sachverhalt, und hieraus auf die Ge-
setzwidrigkeit von § 27 Abs. 1 lit. b SPV schliesst, soweit darin die
Einkünfte des Stiefvaters der unterhaltsberechtigten Kinder vollum-
fänglich angerechnet werden, hält der Regierungsrat seine Verord-
nung für gesetzeskonform.
d) aa) § 33 lit. d SPG ermächtigt den Regierungsrat, Grenzbe-
träge für die voraussichtlichen Jahreseinkünfte und das steuerbare
Vermögen "des nicht unterhaltsbeitragspflichtigen Elternteils und des
Kindes" festzusetzen. Die Beschränkung auf diese beiden Personen
ist klar und eindeutig; allein vom Gesetzeswortlaut her erscheint eine
ausdehnende Auslegung nicht möglich. In dieser Hinsicht besteht -
entgegen den Vorbringen des Regierungsrats - ein wesentlicher Un-
terschied zur Zürcher Regelung, die Gegenstand der Überprüfung in
BGE 112 Ia 251 ff. war und wo die Formulierung in § 21 Abs. 1 des
Jugendhilfegesetzes lautete: "Die Bevorschussung erfolgt bis zu
einem durch Verordnung festgelegten Höchstbetrag unter Berück-
sichtigung von Einkommen und Vermögen des Kindes sowie des
nicht verpflichteten Elternteils" (vgl. BGE 112 Ia 253). Dort war also
der
Höchstbetrag der Bevorschussung
mittels Verordnung festzule-
gen (unter Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse des nicht
unterhaltsbeitragspflichtigen Elternteils und des Kindes), gemäss
§ 33 lit. d SPG sind demgegenüber in der Verordnung
Grenzbeträge
für Einkünfte und Vermögen des nicht unterhaltsbeitragspflichtigen
Elternteils und des Kindes
festzulegen, bei deren Überschreitung der
Anspruch auf Bevorschussung entfällt. Es springt in die Augen, dass
die Vorgabe in der zürcherischen Gesetzesbestimmung erheblich
mehr Auslegungsspielraum bietet und namentlich ein weiter gehen-
des Beachten von Zweck und Funktion der Alimentenbevorschus-
sung als subsidiäre Hilfe erlaubt als § 33 lit. d SPG.
2004
Sozialhilfe
259
Weiterhin fällt in Betracht, dass der aargauische Gesetzgeber
sich beim Erlass des SPG aufgrund des Normenkontrollverfahrens
AGVE 1985, S. 120 ff. bewusst sein musste (in seiner Botschaft vom
30. Juni 1999 zum SPG [S. 31, zu § 32 des Entwurfs] wies der Re-
gierungsrat ausdrücklich auf dieses Präjudiz hin), dass eine von § 33
Abs. 3 SHG abweichende Formulierung hätte gewählt werden müs-
sen, um neu eine direkte Berücksichtigung der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse des Stiefvaters oder des Konkubinatspartners zu statuieren.
Trotzdem übernahm der Regierungsrat - und ihm folgend der Grosse
Rat - die Formulierung von § 33 Abs. 3 SHG, soweit hier von Be-
deutung, ohne inhaltliche Änderung. Jedenfalls bezüglich der Unter-
stützung durch einen Konkubinatspartner war die Meinung, diese
falle im Rahmen von § 34 lit. a SPG in Betracht (Botschaft, S. 32, zu
§ 34).
bb) Aus § 32, § 34 lit. a und § 35 SPG lässt sich ersehen, dass
als allgemeiner Grundsatz die Alimentenbevorschussung nur dort
zum Tragen kommen soll, wo die wirtschaftliche Situation des Kin-
des es erfordert. Dies vermag jedoch nichts an der Auslegung der
konkreten
Regelung in § 33 lit. d SPG zu ändern. (Dagegen könnten
die Argumente des Regierungsrats allenfalls dazu führen, bei den
Einkünften der Mutter einen angemessenen Beitrag des Stiefvaters
aufzurechnen.)
Der Regierungsrat verzichtet zu Recht darauf, die Grundlage für
§ 27 Abs. 1 lit. b SPV aus § 34 lit. a SPG herzuleiten, sodass auf
diese Möglichkeit nicht weiter einzugehen ist; die materielle Be-
gründung findet sich schon in AGVE 1985, S. 127 f., und ausserdem
ist § 27 SPV gemäss Marginalie ausdrücklich eine Ausführungsbe-
stimmung zu § 33 SPG.
cc) Unter diesen Umständen ist der Beschwerdeführerin beizu-
pflichten, dass § 33 lit. d SPG keinen relevanten Unterschied zum
vorher geltenden § 33 Abs. 3 SHG aufweist und dass keine Gründe
für eine unterschiedliche Auslegung sprechen, was - wie analog
schon in AGVE 1985, S. 120 ff. - zum Ergebnis führt, dass es für den
direkten Einbezug der Einkünfte des Stiefvaters gemäss § 27 Abs. 1
lit. b SPV an einer genügenden gesetzlichen Grundlage fehlt. | 1,600 | 1,293 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-62_2004-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-62.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-62.pdf | AGVE_2004_62 | null | nan |
761cbc2a-e318-569a-a2f7-c5c0522be8bb | 1 | 412 | 869,966 | 1,209,859,200,000 | 2,008 | de | 2008
Verwaltungsgericht
166
[...]
27
Anmerkung im Grundbuch gemäss § 163 BauG.
-
Verhältnis zwischen einer Anmerkung gemäss § 163 BauG und einem
Erschliessungsplan.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 28. Mai 2008 in Sachen
M.K. und Mitb. gegen den Regierungsrat (WBE.2007.129).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Sinn und Zweck einer Anmerkung im Grundbuch gemäss § 163
BauG bestehen darin, Dritte auf einen spezifisch parzellenbezogenen
öffentlich-rechtlichen Tatbestand aufmerksam zu machen. Dritte
sollen anhand der Anmerkung im Grundbuch erkennen können, dass
für das betreffende Grundstück eine öffentlich-rechtliche Verpflich-
tung besteht, die der Eigentümer zu beachten hat (AGVE 2005,
S. 613). Anmerkungen dienen lediglich der Publizität. Sie geben über
bestimmte Rechtsverhältnisse an einem Grundstück Auskunft. Die
Anmerkung im Grundbuch hat aber keine konstitutive oder heilende
Wirkung (BGE 124 III 211 Erw. 1a = Pra 1998, S. 935 f.). Sie unter-
steht auch nicht der negativen Rechtskraft des Grundbuches
(Art. 971 ZGB). Die betreffenden Rechtsverhältnisse bestehen auch
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
167
ohne Anmerkung im Grundbuch (Dominik Scherrer, Anmerkung im
Grundbuch unter Berücksichtigung des Bundesrechtes und des kan-
tonal-st. gallischen Rechtes, Diss. Fribourg 1984, S. 307).
3.2.
Der Rechtsgrundausweis für die Anmerkung und damit Grund-
lage des öffentlich-rechtlichen Verhältnisses ist die mit Verfügung
vom 31. Januar 1995 abgeänderte Auflage zur rückwärtigen Er-
schliessung der Parzelle Nr. 000. Diese Verfügung ist eine behördli-
che Anordnung, die gestützt auf das Baugesetz einseitig und für den
Grundeigentümer verbindlich die Erschliessung vorschreibt, sofern
die in der Verfügung vorgesehenen Bedingungen eintreten. Diese
Anordnungen entfalteten verbindliche Rechtswirkungen zwischen
dem Verfügungsadressaten - hier die Grundeigentümerin - und der
Gemeinde. Die Verfügung des Gemeinderats vom 31. Januar 1995
entfaltet indessen keine Rechtswirkungen zwischen dem Gemeinwe-
sen und Dritten in dem Sinne, dass sie Rechtsansprüche Dritter ge-
gen die Gemeinde begründet. Wie bereits ausgeführt, ändert die An-
merkung der verfügten Auflagen im Grundbuch nichts an dieser
Rechtslage.
Die Rechtsbeständigkeit (materielle Rechtskraft) einer Verfü-
gung ist sodann nicht absolut, sondern beschränkt. Eine formell
rechtskräftige Verfügung kann unter bestimmten Voraussetzungen
einseitig aufgehoben oder abgeändert werden (vgl. Ulrich Häfelin /
Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht,
5. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2006, Rz. 994 ff.). Die Vorinstanz
ist davon ausgegangen, dass die Auflagen zur rückwirkenden Er-
schliessung der Parzelle Nr. 000 mit dem Erschliessungsplan wieder-
erwägungsweise aufgehoben wurden. Ob die Voraussetzungen für
eine Wiedererwägung oder einen Widerruf (siehe dazu §§ 25 f.
VRPG) vorliegen, ist wegen der planungsrechtlichen Situation nicht
abschliessend zu prüfen.
4.
4.1.
Art. 19 RPG verpflichtet die Gemeinden zur planmässigen Er-
schliessung der Bauzonen, und § 16 Abs. 1 BauG hält den Grundsatz
fest, dass die Erschliessung soweit nötig durch Erschliessung- und
2008
Verwaltungsgericht
168
Gestaltungspläne und entsprechende Vorschriften sichergestellt wird.
Gemäss § 16 Abs. 3 BauG können die allgemeinen Nutzungspläne
für bestimmte Gebiete die Sondernutzungsplanung vorsehen. In die-
ser Bestimmung konkretisiert das BauG ausdrücklich den planungs-
rechtlichen Grundsatz, dass sich die Erschliessung der Bauzonen
nach den Nutzungsplänen zu richten hat (BGE 116 Ia 221 Erw. 4a;
Bernhard Waldmann / Peter Hänni, Raumplanungsgesetz, Bern 2006,
Art. 19 N 46 mit Hinweisen). Nutzungspläne sind "für jedermann
verbindlich" und verpflichten auch das Gemeinwesen (Art. 21 Abs. 1
RPG). Die Nutzungspläne legen die zulässige Nutzung allgemein-
verbindlich und parzellenscharf fest und schliessen jede andere als
eine plankonforme Nutzung aus (Waldmann / Hänni, a.a.O., Art. 14
N 4).
4.2.
Die Gemeindeversammlung X. beschloss am 7. Juni 2005 die
Bauzonen- und Kulturlandplanänderung "A.". Diese wurde am
19. Oktober 2005 vom Regierungsrat genehmigt und ist rechtskräf-
tig. Durch diese Änderung wurde die Parzelle Nr. 000 von der Wohn-
und Gewerbezone mit Gestaltungsplanpflicht in die Wohnzone W2
umgezont. Die Zone wurde neu einer Erschliessungsplanpflicht un-
terstellt.
Mit dieser Änderung der Nutzungsplanung, namentlich mit der
Erschliessungsplanpflicht, hat sich die raumplanerische Rechtslage
der Parzelle Nr. 000 auch mit Bezug auf die Erschliessung verändert.
Die Erschliessung setzt eine Erschliessungsplanung nach den für die
Sondernutzungspläne geltenden Bestimmungen voraus. Damit ist
eine Erschliessung auf der Grundlage der Verfügung vom 31. Januar
1995 ausgeschlossen, zumal die Parzelle Nr. 000 bereits mit der Teil-
revision des Bauzonenplans vom 20. November 1998 und damit nach
Rechtskraft der genannten Verfügung einer Gestaltungsplanpflicht
unterstellt wurde. Die neuen planungsrechtlichen Vorschriften ver-
pflichteten den Grundeigentümer und den Gemeinderat zur Sonder-
nutzungsplanung, und eine Erschliessung gestützt auf die Auflagen
von 1995 war mit Inkrafttreten der Planänderung am 12. Mai 1999
ausgeschlossen. Mit der Revision des Bauzonen- und Kulturland-
plans "A." verlor die Verfügung, die zur Anmerkung im Grundbuch
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
169
führte, ihre Rechtsgrundlage. Eine rückwärtige Erschliessung konnte
nur noch in Frage kommen, soweit sie mit den Grundsätzen der Er-
schliessungsplanung zu vereinbaren war. Mit der Erschliessungs-
planpflicht wurden insbesondere auch die Bedingungen in lit. a-c der
Verfügung vom 31. Januar 1995, welche die Voraussetzungen für die
Pflicht der Grundeigentümer zur Erstellung einer rückwärtigen Er-
schliessung umschrieben, hinfällig. Weder aufgrund einer Nut-
zungsänderung noch einer Veräusserung der Parzelle Nr. 000 konn-
ten die Erschliessungsanlagen erstellt werden. | 1,328 | 1,049 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-27_2008-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-27.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-27.pdf | AGVE_2008_27 | null | nan |
77988144-34d5-5c88-826a-7fe3b777a2f1 | 1 | 412 | 870,665 | 1,438,387,200,000 | 2,015 | de | 2015
Landwirtschaftsrecht
207
IX. Landwirtschaftsrecht
31
Art. 84 ff. DZV und § 37 VRPG
-
Zielsetzung der Übergangsbeiträge: Sicherstellung eines sozialver-
träglichen Übergangs vom alten zum neuen Direktzahlungssystem
durch temporären Ausgleich der Beitragsdifferenzen (Erw. 1.1).
-
Berechnung der Übergangsbeiträge anhand des Basiswerts
(Erw. 1.2-1.4)
-
Im von der Landwirtschaft Aargau verwendeten Programm
AGRICOLA waren die Grundlagen für die Bestimmung des Basis-
werts falsch hinterlegt, woraus zu hohe Übergangsbeiträge resultier-
ten (Erw. 1.5 und 1.6).
-
Eine formell rechtskräftige Verfügung, worin zuhanden des Adressa-
ten ein fehlerhaft ermittelter Basiswert festgelegt wurde, kann nach
den Voraussetzungen von § 37 Abs. 1 VRPG widerrufen bzw. abge-
ändert werden (Erw. 3.1).
-
Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an der Korrektur des
Basiswerts, der zu einer überhöhten Beitragszahlung zu Lasten an-
derer Beitragsberechtigten führen würde (Erw. 3.2).
-
Mangels nachteiliger Dispositionen geniesst der Beschwerdeführer
keinen Vertrauensschutz, der einer Abänderung der Basiswertfest-
stellungsverfügung entgegenstünde (Erw. 3.3).
-
Der Rechtssicherheit ist in der vorliegenden Konstellation kein we-
sentliches Gewicht beizumessen (Erw. 3.4).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 20. August
2015 in Sachen A. gegen das Departement Finanzen und Ressourcen, Land-
wirtschaft Aargau (WBE.2015.22).
Aus den Erwägungen
II.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
208
1.
1.1.
Am 1. Januar 2014 trat im Zusammenhang mit der Agrarpolitik
14-17 die neue DZV Verordnung über die Direktzahlungen an die
Landwirtschaft vom 23. Oktober 2013 (Direktzahlungsverordnung,
DZV; SR 910.13) in Kraft und ersetzte die bisherige Verordnung
vom 7. Dezember 1998. Das System der Direktzahlungen wurde
durch die Agrarpolitik 14-17 komplett überarbeitet und neu gestaltet.
Die Wirksamkeit und Effizienz der Direktzahlungen sollten dadurch
verbessert werden, dass Massnahmen mit unspezifischer Zielausrich-
tung durch zielgerichtete Instrumente ersetzt werden. Die früheren
tierbezogenen Beiträge wurden deshalb in die Versorgungssicher-
heitsbeiträge umgelagert und werden neu als flächenbezogene Zah-
lungen unter Voraussetzung eines Mindesttierbesatzes ausgerichtet.
Der allgemeine Flächenbeitrag wurde aufgehoben. Die dadurch frei
werdenden Mittel werden einerseits für den Ausbau der Direktzah-
lungsinstrumente in Bereichen mit Ziellücken (insbesondere im Hin-
blick auf Biodiversität, Landschaftsvielfalt und ökologische Fort-
schritte) und andererseits für die Übergangsbeiträge eingesetzt.
Durch den Anstieg des Mittelbedarfs bei den zielorientierten Instru-
menten im Lauf der Zeit wird sich im Gegenzug der Betrag, der für
die Übergangsbeiträge zur Verfügung steht, reduzieren. Die Über-
gangsbeiträge sollen so einen sozialverträglichen Wechsel vom alten
auf das neue Direktzahlungssystem sicherstellen und innerhalb der
nächsten voraussichtlich acht Jahre auslaufen (Botschaft Nr. 12.021
vom 1. Februar 2012 zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik in den
Jahren 2014-2017 [Agrarpolitik 2014-2017], in: BBl 2012 2075 ff.,
S. 2190 ff., Ziff. 2.3.1).
1.2.
Die in Art. 84 ff. DZV vorgesehenen Übergangsbeiträge sollen,
wie gesagt, die durch den Systemwechsel verursachten Beitragsdiffe-
renzen reduzieren und damit einen sozialverträglichen Übergang si-
cherstellen. Grundsätzlich wird der für die Übergangsbeiträge zur
Verfügung stehende Betrag aufgrund der unter altem Recht ausge-
richteten allgemeinen Direktzahlungen gesamtschweizerisch verhält-
nismässig auf die Betriebe verteilt. Massgebend sind die Direktzah-
2015
Landwirtschaftsrecht
209
lungen der Jahre 2011-2013, wobei für jeden Betrieb dasjenige Jahr
mit den höchsten Beiträgen massgebend ist (Art. 86 Abs. 2 DZV).
Die Summe der Direktzahlungen ergibt im Verhältnis zu den zur Ver-
fügung stehenden Mitteln den Verteilfaktor. Eine Korrektur erfolgt
allerdings dahingehend, dass von den altrechtlichen Direktzahlungen
die neuen Kulturlandschafts- und Versorgungssicherheitsbeiträge,
mit Ausnahme des Sömmerungsbeitrags, abgezogen werden (Art. 86
Abs. 1 DVZ). Die Kulturlandschafts- und Versorgungsbeiträge be-
rechnen sich aufgrund der Flächen und Tierbestände desjenigen Jah-
res, welches für die Bestimmung der altrechtlichen Direktzahlungen
ausschlaggebend ist. Für die Beitragsansätze ist dagegen das Jahr
2014 massgebend (Art. 86 Abs. 3 DZV). Erst nach dieser Korrektur
erfolgen die Berechnung des Verteilfaktors und die Aufteilung der
Mittel.
Die Differenz zwischen den altrechtlichen allgemeinen Direkt-
zahlungen und den neuen Kulturlandschafts- und Versorgungssicher-
heitsbeiträgen, mit Ausnahme des Sömmerungsbeitrags, ergibt pro
Betrieb den Basiswert. Das gesamtschweizerische Total der Basis-
werte im Verhältnis zu den insgesamt verfügbaren Mitteln ergibt den
Verteilfaktor. Basiswert pro Betrieb und Faktor ergeben wiederum
den Übergangsbeitrag für den einzelnen Betrieb. Die Übergangsbei-
träge sind Teil der gesamten für die Direktzahlungen zur Verfügung
stehenden Mittel. Die Zunahme des Mittelbedarfs bei den leistungs-
bezogenen Direktzahlungen wird die für die Übergangsbeiträge ver-
fügbaren Mittel im Laufe der Zeit sinken lassen, wobei von einem
Zeithorizont von acht Jahren ausgegangen wird. Dementsprechend
wird der Faktor für die Berechnung jährlich angepasst werden (Bot-
schaft Agrarpolitik 2014-2017, BBl 2012 2075 ff., S. 2224 f.,
Ziff. 2.3.11).
1.3.
Die Korrektur bei der Berechnung des Basiswerts um die Kul-
turlandschafts- und Versorgungssicherheitsbeiträge ist dadurch be-
gründet, dass die Übergangsbeiträge die Beitragsdifferenzen des Sys-
temwechsels ausgleichen sollen. Wer neu (höhere) Kulturland-
schafts- und Versorgungssicherheitsbeiträge erhält, soll nicht zusätz-
lich auch von höheren Übergangsbeiträgen profitieren. Um dieses
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
210
Ziel zu erreichen, ist für die Bestimmung der massgebenden Flächen
gemäss Art. 86 Abs. 3 DZV auf das massgebende Jahr der 3-Jahres-
periode (2011-2013) abzustellen.
Flächen mit Biodiversitätsbeiträgen nach Art. 55 DZV erhalten
beispielsweise bei den Versorgungssicherheitsbeiträgen einen redu-
zierten Ansatz (Art. 50 Abs. 2 DZV). Würde nun bei der Berechnung
des Korrekturabzuges nach Art. 86 Abs. 1 DZV auf die Beitragsbe-
rechtigung im Jahr 2014 abgestellt, wäre der entsprechende Korrek-
turbetrag bei diesen Flächen tiefer, der Basiswert und damit auch der
Übergangsbeitrag höher, als wenn auf die Beitragsberechtigung nach
altem Recht abgestellt wird. Gleichzeitig profitieren diese Flächen
aber von den neuen Biodiversitätsbeiträgen und wären somit doppelt
begünstigt. Dies war nicht die Meinung des Gesetzgebers, weshalb,
wie erwähnt, die Beitragsberechtigung in der alten Periode massge-
bend ist, nicht diejenige im Jahr 2014.
1.4.
Die Basiswerte nach Art. 86 DZV für die Betriebe sowie die
ebenfalls zu bestimmende Standardarbeitskraft nach Art. 93 DZV
wurden im Kanton Aargau durch das System AGRICOLA berechnet
und den Landwirten Mitte 2014 mitgeteilt, so auch dem Beschwerde-
führer mit Verfügung vom 27. Juni 2014. Nachdem in der Folge
sämtliche Abrechnungen der Kantone beim Bund eingegangen wa-
ren, stellte das BLW fest, dass in den AGRICOLA-Kantonen zu
grosse Differenzen bei den festgesetzten Basiswerten im Vergleich zu
den aufgrund der Daten früherer Jahre erwarteten Zahlen bestanden.
Die Überprüfung der Daten ergab, dass den verfügten Basiswerten
falsche Detailzahlen zu Grunde lagen.
1.5.
Die Abklärungen des BLW deckten auf, dass die Grundlagen
für die Berechnung der Basiswerte und in der Folge auch der Über-
gangsbeiträge im Programm AGRICOLA falsch hinterlegt waren.
Für die Bestimmung der Flächen, aufgrund welcher die neurechtli-
chen Kulturlandschafts- und Versorgungssicherheitsbeiträge errech-
net werden, wurde nicht nur auf den Beitragsansatz, sondern auch
auf die Beitragsberechtigung im Jahr 2014 abgestellt. Dies führte
dazu, dass Streueflächen, Hecken, Feld- und Ufergehölze, Buntbra-
2015
Landwirtschaftsrecht
211
chen, Rotationsbrachen und Saum auf Ackerflächen fälschlicherwei-
se, weil im Jahr 2014 nicht mehr beitragsberechtigt, nicht berück-
sichtigt wurden. Für extensive Weiden wurde ausserdem ein zu tiefer
Ansatz (Fr. 450.00 / ha anstatt Fr. 900.00 / ha) verwendet. In der Fol-
ge wurden die neurechtlichen Kulturlandschafts- und Versorgungs-
sicherheitsbeiträge zu tief berechnet (entscheidend wäre gewesen, ob
sie altrechtlich beitragsberechtigt waren bzw. gewesen wären), was
wiederum zu grosse Differenzen (altrechtliche Direktzahlungen ab-
züglich neurechtliche Kulturlandschafts- und Versorgungssicher-
heitsbeiträge), zu hohe Basiswerte und damit zu hohe Übergangs-
beiträge zur Folge hatte.
1.6.
Auch beim Beschwerdeführer führte diese ursprünglich falsche
Berechnung durch das Programm AGRICOLA zu einem zu hohen
Basiswert. In der korrigierten Version ergab sich im November 2014
ein Basiswert von Fr. -511.80 und somit keine Auszahlung von Über-
gangsbeiträgen. Die Richtigkeit dieser Berechnung wird vom Be-
schwerdeführer nicht bestritten. Ihm geht es vielmehr darum, dass
durch die Abteilung Landwirtschaft nicht korrekt kommuniziert wor-
den sei. Zudem erachtet er es als unzulässig, dass eine rechtskräftige
Verfügung einfach wieder aufgehoben wurde.
2.
Gemäss § 37 Abs. 1 VRPG können Entscheide, die der Rechts-
lage oder den sachlichen Erfordernissen nicht entsprechen, durch die
erlassende Behörde oder die Aufsichtsbehörde geändert oder aufge-
hoben werden, wenn das Interesse an der richtigen Rechtsanwendung
die Interessen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes über-
wiegt. Vorbehalten bleiben nach § 37 Abs. 2 VRPG Entscheide, die
nach besonderen Vorschriften oder der Natur der Sache nicht oder
nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zurückgenommen wer-
den können.
Im Unterschied zu Erkenntnissen von Zivil- und Strafbehörden
und im Verwaltungsrecht tätigen Justizbehörden kommt Verwal-
tungsverfügungen keine materielle Rechtskraft zu, sondern nur, aber
immerhin, Rechtsbeständigkeit, was bedeutet, dass sie - nur noch -
unter bestimmten Voraussetzungen einseitig aufgehoben oder zum
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
212
Nachteil des Adressaten abgeändert werden dürfen (P
IERRE
T
SCHANNEN
/U
LRICH
Z
IMMERLI
/M
ARKUS
M
ÜLLER
, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Bern 2014, § 31 N 8 f.). Wegen des Lega-
litätsprinzips können Verwaltungsverfügungen nicht unumstösslich
sein (BGE 100 Ib 299, Erw. 2; T
SCHANNEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
,
a.a.O., § 31 N 21; U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Zürich/
St. Gallen 2010, Rz. 994).
Im Zusammenhang mit § 37 Abs. 2 VRPG kann ergänzend da-
rauf hingewiesen werden, dass das Bundesgericht Fallgruppen von
grundsätzlich nicht widerrufbaren Verfügungen gebildet hat, bei wel-
chen das Interesse am Fortbestand der Verfügung in der Regel höher
zu gewichten ist als das Interesse an der richtigen Durchsetzung des
objektiven Rechts. Grundsätzlich nicht widerrufbar sind Verfügun-
gen namentlich, wenn
- darin ein subjektives Recht begründet wurde oder
- sie in einem Verfahren ergangen sind, in dem die sich gegen-
überstehenden Interessen allseitig zu prüfen und gegeneinan-
der abzuwägen waren oder
- der Private von einer eingeräumten Befugnis bereits Ge-
brauch gemacht hat.
Auch in diesen Fällen kommt aber ein Widerruf dann in Frage,
wenn das entgegenstehende öffentliche Interesse besonders gewich-
tig erscheint (vgl. BGE 137 I 69, Erw. 2.3; 121 II 273, Erw. 1a/aa).
3.
3.1.
Der Basiswert wurde in der ursprünglichen Verfügung fehler-
haft festgesetzt. Insbesondere aufgrund der Mitteilung des Vizedirek-
tors des BLW vom 20. Oktober 2014 erscheint dies zweifellos erstellt
und wird vom Beschwerdeführer auch nicht ernsthaft bestritten.
Insofern ist die erste Voraussetzung eines Widerrufs gemäss § 37
Abs. 1 VRPG ("Entscheide, die der Rechtslage oder den sachlichen
Erfordernissen nicht entsprechen"), ohne weiteres erfüllt.
3.2.
Das öffentliche Interesse an der richtigen Rechtsanwendung ist
in concreto als hoch zu bewerten. Da für die Übergangsbeiträge pro
2015
Landwirtschaftsrecht
213
Jahr ein bestimmter Maximalbetrag zur Verfügung steht, der auf die
Kantone und weiter auf die berechtigten Betriebe verteilt wird, hat
eine falsche Berechnung in einem oder mehreren Kantonen mit zu
hohen Übergangsbeiträgen zur Folge, dass in den übrigen Kantonen
für die dortigen Betriebe weniger Geld zur Verfügung steht. Zudem
führt die ungleiche Anwendung der Verteilkriterien zu einer Un-
gleichbehandlung der Betriebe. Die Nichteinhaltung der gesetzlichen
Vorgaben (Legalitätsprinzip) hat demnach weitreichende Konsequen-
zen für unzählige anspruchsberechtigte Betriebe in der gesamten
Schweiz.
3.3.
3.3.1.
Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben
verleiht einer Person Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrau-
ens u.a. - wie im vorliegenden Fall - in eine Verfügung. Vorausge-
setzt ist, dass die Person, die sich auf den Vertrauensschutz beruft,
berechtigterweise auf diese Grundlage vertrauen durfte und gestützt
darauf nachteilige Dispositionen getroffen hat, die sie nicht mehr
rückgängig machen kann (BGE 137 I 69, Erw. 2.5.1, mit weiteren
Hinweisen).
3.3.2.
Der Beschwerdeführer beantragt einerseits die Auszahlung der
ursprünglich berechneten Übergangsbeiträge. Bei einem Basiswert
von Fr. 4'008.50 und einem Umrechnungsfaktor von 0,4724 für das
Jahr 2014 wären dies Fr. 1'893.60 gewesen. Berücksichtigt man auch
die Auszahlungen in den folgenden Jahren (voraussichtlich ca. 8
Jahre), wobei diese Auszahlungen degressiv sein werden, ergibt sich
ein Gesamtbetrag, der nur geschätzt werden kann. Er dürfte aber
vermutlich bei rund Fr. 8'000.00 bis Fr. 12'000.00 liegen.
Der Beschwerdeführer macht anderseits geltend, die Abteilung
Landwirtschaft habe nicht korrekt kommuniziert, weshalb ein Wider-
ruf der Verfügung nicht zulässig sei. Die von ihm telefonisch im De-
zember 2014 angeforderten Belege für die angeblich "ungenaue Ar-
beit des Programms AGRICOLA" habe er nie erhalten. Das BLW
habe ihm den Sachverhalt nicht so bestätigen können. Er sei zurück
an den Kanton verwiesen worden. In der Replik ergänzte der Be-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
214
schwerdeführer, der Vertreter des Kantons Aargau in der Fachgruppe
Betriebsberechnung habe es verpasst, den Beitragsberechnungsser-
vice BBS 14 korrekt anzuwenden. Aus der Mail des Vizedirektors
des BLW vom 20. Oktober 2014 gehe klar hervor, dass nicht die
unterschiedliche Interpretation, sondern ein Versäumnis eines Ar-
beitsgruppenmitglieds für den Fehler verantwortlich gewesen sei.
3.3.3.
Dem Beschwerdeführer wurde zwar mit Verfügung vom 27. Ju-
ni 2014 der Basiswert für seinen Betrieb eröffnet. Dieser Basiswert
sagt aber noch nichts aus über den genauen Betrag, den der Be-
troffene als Übergangsbeitrag erhalten wird. Dieser Betrag kann erst
errechnet werden, wenn dem BLW sämtliche Basiswerte aller Be-
triebe in der Schweiz vorliegen. Erst gestützt auf diesen Gesamtwert
kann, im Verhältnis zu den zur Verfügung stehenden Mitteln, der Ver-
teilfaktor festgelegt und anschliessend der individuelle Anspruch be-
rechnet werden. Das BLW legt jeweils erst Ende Oktober diesen Fak-
tor fest, nachdem ihm von den Kantonen sämtliche Basiswerte
gemeldet wurden. Die Verfügung vom 27. Juni 2014 hat somit noch
gar keinen (geldwerten) Anspruch des Beschwerdeführers begründet.
Folglich konnte er gestützt auf diese Verfügung noch kaum konkrete
Dispositionen tätigen; tatsächlich behauptet er auch nicht, solche ge-
troffen zu haben. Insofern besteht von vornherein kein Anspruch des
Beschwerdeführers, in seinem Vertrauen in die ursprüngliche Festle-
gung des Basiswerts geschützt zu werden.
3.3.4. (...)
3.4.
Der Grundsatz der Rechtssicherheit weist eine enge Verwandt-
schaft mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes (vgl. hierzu
Erw. 3.3 vorne) auf. Beide verlangen den Schutz der Privaten, die auf
eine bestimmte Rechtslage vertraut haben. Während aber der Ver-
trauensschutz im Sinne des Grundsatzes von Treu und Glauben das
individuelle Vertrauen der Privaten schützt, das diese in einem kon-
kreten Fall aus ganz bestimmten Gründen in ein Verhalten der Behör-
den haben, dient die Rechtssicherheit dazu, allgemein die Vorausseh-
barkeit, Berechenbarkeit und Beständigkeit des Rechts zu gewähr-
leisten (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O, Rz. 628).
2015
Landwirtschaftsrecht
215
In concreto stehen - letztlich nicht sehr bedeutende - finanzielle
Interessen auf dem Spiel. Zudem wurden diesbezüglich noch keine
konkreten Beträge, sondern nur die individuellen Berechnungsgrund-
lagen verfügt. Der Rechtssicherheit ist insofern kein wesentliches
Gewicht beizumessen. | 3,714 | 3,004 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-31_2015-08-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-31.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-31.pdf | AGVE_2015_31 | null | nan |
781cd4c7-aa6e-5c3c-b4e2-19634d2b6d48 | 1 | 412 | 869,724 | 1,570,060,800,000 | 2,019 | de | 2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
130
17
Baubewilligungsgebühr; Überwälzung der Kosten der externen
Bauverwaltung auf die Bauherrschaft
Ein Gebührenreglement, welches sich nicht einmal in den Grundzü-
gen zur Bemessung der Kosten der externen Bauverwaltung äussert,
genügt nicht als gesetzliche Grundlage.
Die Kosten der externen Bauverwaltung müssen zwingend an die für
die eigene Tätigkeit der Gemeinde erhobene Baubewilligungsgebühr
angerechnet werden.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 24. Oktober
2019, in Sachen A. gegen Gemeinderat B. und Departement Bau, Verkehr und
Umwelt (WBE.2019.114).
Aus den Erwägungen
2.3.
Gestützt auf § 5 Abs. 2 BauG und § 20 Abs. 2 lit. i GG hat die
Gemeindeversammlung der Gemeinde B. am 25. November 1998
das Gebührenreglement beschlossen. Dieses lautet:
1.
Für die Behandlung von Baugesuchen und Gesuchen um Vorentschei-
de sind folgende einmalige Gebühren zu entrichten:
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
131
a) (...)
b) Für bewilligte Baugesuche
provisorisch
2 ? der errechneten Bausumme für Gebäude auf Grund der kubischen
Berechnung der nach SIA-Normen geschätzten Baukosten, mindes-
tens aber Fr. 100.00.
definitiv (Endabrechnung)
2 ? der Summe der Gebäudeschätzung nach AVA, mindestens aber
Fr. 100.00.
(...)
c) Für abgelehnte Baugesuche
Nach dem Aufwand der Gemeindeverwaltung und dem Aufwand einer
allfälligen externen Prüfung im Rahmen des Gebührensatzes für be-
willigte Baugesuche.
2. (...)
3.
Die effektiven Kosten einer externen Bauverwaltung für Profilkon-
trolle, die baupolizeiliche Prüfung und Bearbeitung des Baugesuches
einschliesslich Brand-, Lärm- und Zivilschutz sowie den Nachweis
energetischer Massnahmen und die gesetzlich vorgeschriebenen Bau-
kontrollen sind vom Baugesuchsteller zu bezahlen.
4. (...)
5. - 9. (...)
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
132
(...)
2.4.
Die Vorinstanz erblickt in Ziffer 3 des Gebührenreglements eine
hinreichende gesetzliche Grundlage für die Überwälzung der Kosten
der externen Bauverwaltung auf die Beschwerdeführerin.
Die Bestimmung wurde von der Gemeindeversammlung erlas-
sen und erfüllt das Erfordernis der Gesetzesform. Die Grundlagen für
die Bemessung der Kosten der externen Bauverwaltung müssen sich
nicht zwingend aus der erwähnten Bestimmung ergeben, nachdem
bei kostenabhängigen Kausalabgaben, insbesondere bei Verwal-
tungsgebühren, als Surrogat für eine Bemessungsgrundlage in einem
formellen Gesetz das Äquivalenz- und das Kostendeckungsprinzip
herangezogen werden dürfen. Der Kreis der Abgabepflichtigen
(Baugesuchsteller) und der Gegenstand der Abgabe (Einreichung
eines Baugesuchs, für dessen Beurteilung der Gemeinderat die ex-
terne Bauverwaltung beiziehen darf) werden in Ziffer 3 des Gebüh-
renreglements i.V.m. mit § 48 BNO genügend bestimmt definiert.
Das entbindet aber die Gemeinde nach dem oben Gesagten jedoch
nicht davon, wenigstens in einem generell-abstrakten (delegierten,
unterstufigen) Erlass (des Gemeinderats) zu regeln, wie die von der
Bauherrschaft zu tragenden Kosten der externen Bauverwaltung be-
messen werden. Es spricht nichts dagegen, zumindest den der exter-
nen Bauverwaltung für ihre Tätigkeiten zu vergütenden Stundenan-
satz generell-abstrakt zu regeln oder einen Kostenrahmen festzule-
gen. Immerhin wird jedes Baugesuch durch die externe Bauverwal-
tung bearbeitet, d.h. sie wird regelmässig für den Gemeinderat tätig.
Es sind auch keine Praktikabilitätsgründe ersichtlich, die einer Fest-
legung des Stundenansatzes oder eines Kostenrahmens in einem ge-
nerell-abstrakten Erlass entgegenstünden, sei es im Gebührenregle-
ment selber oder in dazugehörigen Ausführungsbestimmungen des
Gemeinderats. Zudem wäre eine gewisse Schematisierung des für die
Beurteilung eines Baugesuchs anfallenden Aufwands, allenfalls ab-
gestuft nach Grösse und Bedeutung des Bauvorhabens, denkbar.
In der jetzigen Fassung ist hingegen Ziffer 3 des Gebührenreg-
lements mit Bezug auf die Bemessung der Kosten der externen Bau-
verwaltung zu unbestimmt. Sie erlaubt es der Bauherrschaft nicht,
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
133
diese Kosten vorgängig abzuschätzen, zumal die Diskrepanz zwi-
schen der berechenbaren ordentlichen Baubewilligungsgebühr (Zif-
fer 1 lit. b) und den Kosten der externen Bauverwaltung für die Be-
handlung des Baugesuchs erheblich sein kann. Hier beträgt die
ordentliche (Promille)Gebühr Fr. 382.00, während sich die Kosten
der externen Bauverwaltung auf Fr. 2'924.10 belaufen. Die externen
Kosten betragen somit mehr als das Siebenfache der ordentlichen
Gebühr, was ein klares Missverhältnis darstellt.
Dass für die Bemessung der Kosten die Schranken des Äquiva-
lenz- und Kostendeckungsprinzips zu beachten sind, macht sie nicht
unbedingt voraussehbarer, solange nicht bekannt ist, zu welchem
Stundenansatz die externe Bauverwaltung abrechnet und wie gross
der zeitliche Aufwand für die Prüfung eines Baugesuchs in etwa ist.
Rein aufgrund der bestehenden gesetzlichen Vorgaben könnte die ex-
terne Bauverwaltung jeweils unterschiedliche Stundenansätze an-
wenden und es existiert für sie auch keinerlei Anreiz, den Aufwand
möglichst gering zu halten. Schliesslich kann es den Rechtsunterwor-
fenen nicht zugemutet werden, in jedem konkreten Anwendungsfall
überprüfen zu müssen oder auf dem Rechtsweg überprüfen zu lassen,
ob der von der externen Bauverwaltung konkret betriebene Aufwand
gerechtfertigt war, was naturgemäss mit einem nicht unerheblichen
Ermessensspielraum verbunden ist (zum Ganzen: VGE vom 15. Juli
2019 [WBE.2019.38], S. 3 ff.).
Nachdem sich Ziffer 3 des Gebührenreglements, nicht einmal in
den Grundzügen zur Bemessung der Kosten der externen Bauverwal-
tung äussert und auch kein unterstufiger generell-abstrakter Erlass
(des Gemeinderats) existiert, aufgrund dessen sich die Kosten für
einen betroffenen Bauherrn vorab in etwa abschätzen lassen, ist das
Legalitätsprinzip bzw. das Erfordernis der genügenden Bestimmtheit
des Rechtssatzes verletzt.
Soweit das Verwaltungsgericht in der Vergangenheit ähnliche
Bestimmungen geschützt hat (vgl. AGVE 2003, S. 107 ff.), kann an
dieser Praxis unter Hinweis auf vorstehende Begründung nicht mehr
festgehalten werden. Es ist Sache der Gemeinde B., das bestehende
Gebührenreglement entsprechend anzupassen. Zum einen ist für die
Kosten der externen Bauverwaltung eine rechtsgenügliche Grundlage
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
134
zu schaffen, zum anderen ist das Verhältnis bzw. die Anrechnung der
ordentlichen (Promille)Gebühr und den externen Bauverwaltungs-
kosten zu klären. Offen bleiben kann, ob dem Bauherren die gesam-
ten effektiven Kosten der externen Bauverwaltung überwälzt werden
dürfen oder ob die Festlegung von Maximalwerten angezeigt ist.
2.5. (...)
3.
Strittig ist schliesslich, ob der Gemeinderat B. neben einer Ge-
bühr von neu Fr. 1'245.00 für die Tätigkeiten der externen Bauver-
waltung gestützt auf Ziffer 1 lit. b eine Gebühr in Höhe von
Fr. 382.00 in Rechnung stellen darf.
Die effektiven Kosten der externen Bauverwaltung stellen
nach der Konzeption von § 5 Abs. 2 BauG nicht (Expertise-)Kosten,
sondern Gebühren für eine staatliche Tätigkeit (Prüfung des Bauge-
suchs) dar. Daran ändert nichts, dass eine Gemeinde diese typische
Bauverwaltertätigkeit auf externe regionale Stellen auslagert. Folge-
richtig müssen die Kosten der externen Bauverwaltungen (für die
Prüfung des Baugesuchs) zwingend an die gemäss Ziffer 1 lit. b des
Gebührenreglements geschuldete, in Promille der Bausumme ausge-
drückte Gebühr für das Baubewilligungsverfahren angerechnet wer-
den. Das ergibt sich aus dem Äquivalenzprinzip. Verlangt nämlich
die Gemeinde B. trotz Einsparung eigener Ressourcen im Bereich
der Bauverwaltertätigkeit zusätzlich zur vollen Gebühr nach Ziffer 1
lit. b des Gebührenreglements, die ausdrücklich als Entgelt für die
Prüfung von Baugesuchen gedacht ist ( Für die Behandlung von
Baugesuchen [...] sind folgende Gebühren zu entrichten ), die Er-
stattung der Kosten der externen Bauverwaltung, entsteht zwischen
den vom Baugesuchsteller gesamthaft zu übernehmenden Gebühren
und den staatlichen Leistungen, die er dafür empfängt, ein Missver-
hältnis (zum Ganzen: VGE vom 7. Juli 2016 [WBE.2015.456],
S. 11 ff.). Angaben über die Anzahl Stunden, welche der Gemeinde
für eigene Bauverwaltertätigkeit für die Behandlung des Baugesuchs
der Beschwerdeführerin aufwenden musste, fehlen im konkreten
Fall. In seiner Beschwerdeantwort vom 22. Mai 2019 zählte der
Gemeinderat die verschiedenen von der Gebühr erfassten Leistungen
auf, dabei handelt es sich im Wesentlichen um administrative
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
135
Tätigkeiten (Registrierung Baugesuch, Weiterleitung an externe
Bauverwaltung, öffentliche Auflage usw.). Diese rechtfertigen jedoch
nicht die (zu den Kosten der externen Bauverwaltung hinzukom-
mende) zusätzliche Forderung der vollen Gebühr nach Ziffer 1 lit. b.
Eine angemessene Reduktion ist im Hinblick auf das
Äquivalenzprinzip zwingend geboten. Nachdem das Gebührenreg-
lement eine Anrechnung weder vorgibt noch beziffert, kann - wie
von der Beschwerdeführerin verlangt - im vorliegenden Fall auf die
im Gebührenreglement festgelegte Minimalgebühr abgestellt werden.
Die in der Beschwerdeantwort beschriebenen administrativen Tätig-
keiten fallen unabhängig von der Grösse des Bauvorhabens bzw. der
Bausumme an. Es ist davon auszugehen, dass diese mit der im Ge-
bührenreglement festgelegten Minimalgebühr abgedeckt sind. (...) | 2,091 | 1,652 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-17_2019-10-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-17.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-17.pdf | AGVE_2019_17 | null | nan |
783b9a20-2605-5238-95fc-b844870d74ed | 1 | 412 | 871,250 | 1,243,900,800,000 | 2,009 | de | 2009
KantonaleSteuern
137
29
Feststellungsverfügungen im Steuerrecht (Praxisverschärfung)
-
In Veranlagungen sind über die Festlegung der Steuerfaktoren
hinausgehende rechtskraftfähige Feststellungen ausgeschlossen
(Erw. 1).
-
Selbstständige Feststellungsverfügungen sind im Steuerrecht, abge-
sehen vom Fall der Feststellung der Steuerpflicht, grundsätzlich aus-
geschlossen (Erw. 2 f.).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 17. Juni 2009 in
Sachen R.M. (WBE.2008.328).
Aus den Erwägungen
II.
1.
Es fragt sich zunächst, ob und allenfalls wie weit Feststellungen
wie die hier streitigen mit Bezug auf bestimmte für die Besteuerung
wesentliche Rechtsfragen neben der Festlegung der Steuerfaktoren in
einer Veranlagungsverfügung möglich sind.
1.1.
Nach ständiger bundesgerichtlicher Praxis kommt einer Veran-
lagung bei periodischen Steuern nur für die betreffende Periode
Rechtskraft zu; sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen
Verhältnisse können in einem späteren Veranlagungszeitraum anders
gewürdigt werden (Urteil des Bundesgerichts vom 9. Mai 2001
[2A.192/2000], Erw. 1b/bb mit Rechtsprechungshinweisen, vgl. auch
Entscheide vom 18. Juni 2007 [2A.775/2006] und vom 23. Juni 2008
[2C_761/2007]). Das Bundesgericht anerkennt somit neben der
Festsetzung der Steuerfaktoren keine Festlegung unanfechtbarer Be-
rechnungsgrundlagen in Veranlagungsverfügungen.
1.2.
1.2.1.
Das Verwaltungsgericht hat in seiner Praxis wiederholt festge-
stellt, es bestehe im Steuerrecht - und zwar obwohl die blosse An-
fechtung der Begründung einer Verfügung, ohne dass die Abände-
2009
Verwaltungsgericht
138
rung des Dispositivs verlangt wird, unzulässig ist (VGE II/113 vom
16. Dezember 2004 [BE.2004.374], Erw. 3a) - für gewisse grundle-
gende Werte das Bedürfnis, sie so festzulegen, dass sie auch für zu-
künftige Steuerperioden unanfechtbare Berechnungsgrundlagen bil-
den (zum Beispiel Buchwerte; vgl. AGVE 1988, S. 231 ff. = StE
1989, B 96.22 Nr. 1; VGE II/15 vom 4. März 2004 [BE.2002.00294],
Erw. 1a; vgl. auch den Überblick bei C
ONRAD
W
ALTHER
, Kommen-
tar zum Aargauer Steuergesetz, 3. Aufl., Muri-Bern 2009, § 164
N 3 ff.). Im Ergebnis anerkennt das Verwaltungsgericht damit, dass
neben den Steuerfaktoren in der Veranlagung bestimmte andere
Werte festgelegt werden können.
1.2.2.
Da die Rechtskraft einer Veranlagung sich nach der massgeben-
den bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf die Festlegung der
Steuerfaktoren beschränkt, drängt es sich auf, die verwaltungsge-
richtliche Praxis insoweit zu präzisieren, als derartige Festlegungen
jedenfalls nicht in der Veranlagungsverfügung selbst erfolgen kön-
nen.
2.
Es kann sich damit höchstens fragen, ob die Feststellungen des
Landwirtschaftsexperten, die keinen Einfluss auf die Festlegung der
Steuerfaktoren für die Kantons- und Gemeindesteuern 2005 hatten,
als eigene, selbstständig neben der Veranlagungsverfügung stehende
Verfügung erlassen werden konnten. Einem Recht der Steuerbehörde
zur Vornahme eigenständiger Feststellungsverfügungen müsste dabei
ein entsprechender Anspruch des Steuerpflichtigen auf Erlass
derartiger Feststellungsverfügungen korrespondieren.
2.1.
Im DBG ist nicht ausdrücklich vorgesehen, dass die für die Vor-
nahme der Veranlagung zuständigen Behörden über die Veranla-
gungsverfügungen hinaus, abgesehen von der Feststellung der Steu-
erpflicht und der Festlegung des Veranlagungsorts, Feststellungsver-
fügungen treffen können (BGE 126 II 514 Erw. 3c, S. 517 f. mit
Ausführungen dazu, dass es sich bei der Stempelsteuer, der Verrech-
nungssteuer und der Mehrwertsteuer anders verhält). Dies hat das
Bundesgericht als Indiz dafür gewertet, dass die Steuerbehörden über
2009
KantonaleSteuern
139
die gesetzlich vorgesehenen Feststellungsverfügungen hinaus
grundsätzlich nicht zum Erlass von Feststellungsverfügungen befugt
sind.
2.2.
Ein Blick in das aargauische Steuergesetz zeigt das gleiche Er-
gebnis wie das Recht der direkten Bundessteuer: Gemäss § 191
Abs. 1 StG legt die Veranlagungsbehörde in der Veranlagungsver-
fügung die Steuerfaktoren (steuerbares Einkommen und Vermögen,
steuerbarer Reingewinn und steuerbares Kapital), die Steuersätze und
Steuerbeträge fest. § 164 Abs. 1 StG bestimmt sodann, dass in jeder
Einwohnergemeinde zur Beurteilung der Steuerpflicht und zur Ver-
anlagung der Einkommens-, Vermögens- und Grundstückgewinn-
steuer eine Steuerkommission zu bestellen ist. Insbesondere der
Wortlaut der zuletzt genannten Norm deutet darauf hin, dass die
Steuerkommission als Veranlagungsbehörde jenseits der Vornahme
von Veranlagungen grundsätzlich lediglich Verfügungen über die
Feststellung der Steuerpflicht treffen kann.
Für einen gleichen Umfang der Verfügungszuständigkeit der
Steuerbehörden gemäss dem DBG und dem StG spricht auch das
Interesse an der Vermeidung eines Auseinanderfallens des Umfangs
der Verfügungszuständigkeit im Bereich der kantonalen Steuern und
der vom Kanton administrierten direkten Bundessteuer. Es würde
hinsichtlich der Einkommen- und Gewinnsteuer eine unzumutbare
prozessuale Komplizierung bedeuten, wenn die Zuständigkeit der
Steuerbehörden zum Erlass gesonderter, neben die Veranlagung tre-
tender Verfügungen bei den kantonalen Steuern weiter wäre als bei
der direkten Bundessteuer.
3.
3.1.
Der Erlass einer Feststellungsverfügung setzt ein schutzwürdi-
ges Feststellungsinteresse voraus. Es muss ein berechtigtes Bedürfnis
an der unmittelbaren Klärung eines konkreten Rechtszustands
bestehen. Dabei genügt auch ein tatsächliches Interesse, das in der
Praxis etwa dann bejaht wird, wenn private Dispositionen vernünf-
tigerweise erst vor dem Hintergrund eines amtlichen Bescheids in die
Wege geleitet werden können (BGE 125 V 21 Erw. 1b; vgl. zum
2009
Verwaltungsgericht
140
Ganzen P
IERRE
T
SCHANNEN
/U
LRICH
Z
IMMERLI
, Allgemeines Ver-
waltungsrecht, 2. Aufl., Bern 2005, § 28 N 61 S. 226).
3.2.
Die bundesgerichtliche Praxis ist hinsichtlich des Rechts bzw.
der Pflicht der Steuerbehörden zum Erlass von Feststellungsverfü-
gungen im Bereich der direkten Bundessteuer äusserst zurückhal-
tend. Das Bundesgericht hat bislang grundsätzlich nur Feststellungs-
entscheide zur Abklärung der subjektiven Steuerpflicht und des Ver-
anlagungsorts als zulässig erachtet (BGE 126 II 514 sowie BGE 124
II 383, in dem ein Feststellungsanspruch nur bejaht wurde, weil ge-
setzlich ausdrücklich ein Anerkennungsverfahren für Produkte aus
dem Bereich der Säule 3A vorgesehen war). Insbesondere hat das
Bundesgericht in ständiger Praxis ein Feststellungsinteresse hin-
sichtlich der Festlegung des Verlustvortrags verneint, solange der in-
frage stehende Verlust nicht in einer Steuerperiode zur Verrechnung
gebracht wird, d.h. sich die Höhe des Verlustvortrags nicht unmit-
telbar auf die infrage stehende Veranlagung auswirkt (Urteil des
Bundesgerichts vom 23. Juni 2008 [2C_761/2007], Urteil vom
18.
Juni 2007 [2A.775/2006], Urteil vom 9.
Mai 2001
[2A.192/2000]).
3.3.
3.3.1.
Das Verwaltungsgericht ist in seiner bisherigen Praxis bei der
Annahme eines ausreichenden Interesses am Erlass einer Feststel-
lungsverfügung im Steuerrecht weniger zurückhaltend gewesen. So
hat es, wie bereits dargelegt, etwa ein Bedürfnis zur Festlegung be-
stimmter grundlegender Werte anerkannt, damit sie auch für zukünf-
tige Steuerperioden unanfechtbare Berechnungsgrundlagen bilden.
Ebenso hat es als möglich erachtet, dass ein Steuerpflichtiger einen
Feststellungsentscheid zur Frage, ob Gewinne aus der Veräusserung
von Grundstücken mit der Grundstückgewinnsteuer zu erfassen sind
oder als Einkünfte aus gewerbsmässigem Liegenschaftenhandel der
Einkommensteuer unterliegen, erwirkt (AGVE 1988, S. 235 ff.).
Hingegen hat es ein Feststellungsinteresse hinsichtlich der Auftei-
lung von wertvermehrenden gegenüber werterhaltenden Aufwen-
dungen beim Liegenschaftenunterhalt, mit Bezug auf die Zugehö-
2009
KantonaleSteuern
141
rigkeit eines Vermögensgegenstands zum Privat- oder Geschäfts-
vermögen sowie hinsichtlich der Festlegung der Höhe des Verlust-
vortrags verneint (vgl. W
ALTHER
, a.a.O., § 164 N 4 und 6).
Bereits mit Urteil vom 19. Dezember 2006 (VGE II/102
[WBE.2006.307] publ. in: AGVE 2006, S. 99 ff.) hat das Verwal-
tungsgericht diese Praxis eingeschränkt, indem es ein besonders
schutzwürdiges Interesse am Erlass eines Feststellungsentscheids
verlangt hat. Das besonders schutzwürdige Interesse sah es damals
mit Bezug auf die übergangsrechtliche Problematik für die Festle-
gung der künftig zu berücksichtigenden Anlagekosten und Ab-
schreibungen als gegeben an (Frage der Anwendbarkeit des alten
oder neuen Rechts für Ermittlung eines allfälligen späteren Veräu-
sserungsgewinns bei Ersatzbeschaffung eines landwirtschaftlichen
Grundstücks). Aufgrund dieser Konstellation bejahte auch das Bun-
desgericht ein schutzwürdiges Interesse (Urteil des Bundesgerichts
vom 13. Juni 2008 [2A.116/2007]). Es fragt sich jedoch, insbeson-
dere vor dem Hintergrund der strengeren Praxis des Bundesgerichts,
ob die bisherige Praxis des Verwaltungsgerichts, welche bereits mit
dem Urteil vom 19. Dezember 2006 eingeschränkt wurde nicht wei-
ter präzisiert werden muss.
3.3.2.
Für eine Präzisierung spricht zunächst der bereits erwähnte
Umstand, dass für Bundes- und kantonale Steuern, welche das glei-
che Steuerobjekt erfassen (Einkommen- und Gewinnsteuer), auch
verfahrensmässig ein möglichst weitgehender Gleichlauf erreicht
werden sollte. Es ist nur schwer vorstellbar, bestimmte Werte (z.B.
kumulierte Abschreibungen auf einer landwirtschaftlichen Liegen-
schaft, Buchwerte bestimmter Anlagegütern o.ä.) für die Zwecke der
kantonalen Einkommensteuer in einer gesonderten Feststellungsver-
fügung festzulegen, währenddem eine solche Festlegung für die di-
rekte Bundessteuer von Bundesrechts wegen ausgeschlossen ist.
3.3.3.
Ein Interesse am Erlass gesonderter Feststellungsverfügungen
im Steuerrecht ist, abgesehen vom Fall der Feststellung der Steuer-
pflicht, aber auch aus anderen Gründen jedenfalls grundsätzlich zu
verneinen.
2009
Verwaltungsgericht
142
3.3.3.1.
Dem Interesse des Steuerpflichtigen an Rechtssicherheit im
Hinblick auf von ihm in Aussicht genommene Dispositionen, die
möglicherweise Steuerfolgen nach sich ziehen, ist regelmässig mit
der Einholung von Auskünften bei der zuständigen Behörde aus-
reichend gedient. Darauf hat auch das Bundesgericht schon mehrfach
aufmerksam gemacht. Auskünfte der Steuerbehörden führen, sofern
die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind, dazu, dass der
Steuerpflichtige in seinem Vertrauen darauf geschützt wird (vgl. dazu
ausführlich BGE 126 II 514 Erw. 3e). Ein Interesse am Erlass eigen-
ständiger Feststellungsverfügungen besteht daher in solchen Fällen
regelmässig nicht. Dementsprechend fällt auch für die Steuerbehör-
den ausser Betracht, aus eigener Initiative derartige Verfügungen zu
treffen.
Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Steuerpflichtige biswei-
len auch nach Vollzug eines Rechtsgeschäftes (insbesondere etwa bei
Ersatzbeschaffungen, Betriebsübertragungen oder sonstigen Ge-
schäften, bei denen die steuerrechtlichen Normen im Ergebnis einen
Steueraufschub vorsehen) Sicherheit darüber möchte, welche Steu-
erfolgen sich allenfalls bei einem späteren Geschäft (wenn der Steu-
eraufschub infolge Realisation endet) ergeben. Ein solches Interesse
ist indes nicht aktuell und kann damit höchstens Anlass für die Er-
teilung einer Auskunft der Steuerbehörden, nicht hingegen für den
Erlass einer Feststellungsverfügung bilden.
3.3.3.2.
Im Hinblick auf Sachverhalte, die sich bereits verwirklicht ha-
ben, ist ein Interesse am Erlass eigenständiger Feststellungsverfü-
gungen noch weniger erkennbar.
- Auch wenn die Durchführung eines Veranlagungsverfahrens
für den Steuerpflichtigen in Einzelfällen mit grösserem Aufwand
verbunden ist als wenn er vorgängig einen Grundsatzentscheid über
bestimmte für die Besteuerung wesentliche Fragen erwirken könnte
(vgl. z.B. die Konstellation in AGVE 1988, S. 235, wo es um die
Frage ging, ob ein Gewinn aus der Veräusserung von Liegenschaften
der Grundstückgewinn- oder der Einkommensteuer unterliegt), so
vermag doch dieser grössere Aufwand des Steuerpflichtigen allein
2009
KantonaleSteuern
143
noch kein ausreichendes Interesse an einer Feststellungsverfügung zu
begründen.
- Eine Festlegung gewisser grundlegender Werte, insbesondere
von Buchwerten, ist, wie bereits dargelegt, nach der Praxis des
Bundesgerichts im Rahmen von Veranlagungsverfügungen generell,
d.h. nicht nur beschränkt auf die direkte Bundessteuer, nicht möglich,
da entsprechende Festlegungen nicht an der Rechtskraft der Veran-
lagung teilnehmen und die Werte damit zu einem späteren Zeitpunkt
immer wieder infrage gestellt werden können. Festlegungen (z.B.
kumulierte Abschreibungen) können aber auch dann, wenn sie in
separaten Feststellungsverfügungen getroffen werden, jedenfalls im
Bereich der direkten Bundessteuer nicht verbindlich sein, würde
doch ansonsten durch eine entsprechende Praxis die restriktive bun-
desgerichtliche Rechtsprechung hinsichtlich der Zulässigkeit von
Feststellungsverfügungen im Bereich der direkten Bundessteuer un-
terlaufen. Liesse die Praxis separate Feststellungsverfügungen für
bestimmte Werte zu, so könnten diese somit nur den Bereich der
kantonalen Steuern beschlagen. Eine solche Lösung ist bereits aus
Gründen eines einheitlichen Vollzugs des Steuerrechts abzulehnen.
- Für die Annahme eines ausreichenden Interesses an einer
Feststellungsverfügung werden bisweilen Beweisschwierigkeiten
(aufwändige Abklärungen über weit zurückliegende Sachverhalte;
vgl. W
ALTHER
, a.a.O., § 164 N 6) angeführt. Allfällige spätere Be-
weisschwierigkeiten vermögen indessen für sich allein genommen
nicht den Erlass einer Feststellungsverfügung zu rechtfertigen. Zum
einen lassen sich diese Beweisschwierigkeiten im Bereich der direk-
ten Bundessteuer, wie dargelegt, nicht mittels Feststellungsverfügun-
gen beseitigen. Aber auch in kantonalrechtlich geregelten Materien
wie etwa im Grundstückgewinnsteuerrecht ist nicht erkennbar, wel-
che besonderen Vorteile die Möglichkeit des Erlasses von Feststel-
lungsverfügungen mit sich bringen soll, die nicht auch auf andere
Weise erreicht werden könnten. Im Hinblick auf die Beweissicherung
steht nichts entgegen, dass die Steuerbehörde dem Pflichtigen für
spätere Steuerperioden wichtige Werte mitteilt und sie damit be-
weiskräftig festhält. Auch der Steuerpflichtige selbst kann gegenüber
der Steuerbehörde vergleichbare Erklärungen abgeben bzw. Beweis-
2009
Verwaltungsgericht
144
mittel zu den Akten geben (bzw. bei sich selbst aufbewahren). Den
Erlass einer gesonderten Feststellungsverfügung braucht es dafür
nicht.
3.3.4.
Zusammenfassend ist damit festzuhalten: Das Fehlen einer ge-
setzlichen Regelung für den Erlass gesonderter Feststellungsverfü-
gungen (1), das Interesse an einer Verfahrenseinheit beim Vollzug der
Rechts der direkten Steuern des Bundes und jener des Kantons
Aargau (2) sowie das Fehlen zwingender Gründe für eine liberalere
Praxis beim Erlass von Feststellungsverfügungen als der vom Bun-
desgericht für die direkte Bundessteuer vorgegebenen (3) gebieten
folgende Präzisierung der bisherigen Rechtsprechung des Verwal-
tungsgerichts mit Bezug auf die Zulässigkeit von Feststellungsverfü-
gungen im Steuerrecht:
In Veranlagungen sind über die Festlegung der Steuerfaktoren
hinausgehende rechtskraftfähige Feststellungen ausgeschlossen.
Ebenso sind selbstständige Feststellungsverfügungen im Steuerrecht,
abgesehen vom Fall der Feststellung der Steuerpflicht, grundsätzlich
ausgeschlossen. Nur aus zwingenden praktischen Gründen kann in
besonderen Einzelsituationen die Vorwegnahme eines Entscheids
über eine Rechtsfrage geboten sein, obwohl es mangels Verwirkli-
chung eines Steuertatbestands noch nicht zu einer Veranlagung
kommt. Für solche Sonderfälle ist ausnahmsweise das Recht auf
bzw. die Pflicht zum Erlass einer selbstständigen Feststellungsverfü-
gung vorzubehalten (vgl. z.B. Urteil des Bundesgerichts vom
13. Juni 2008 [2A.116/2007]). | 3,465 | 2,699 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-29_2009-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-29.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-29.pdf | AGVE_2009_29 | null | nan |
789f001f-22ec-534f-a74f-111b08b9bf3c | 1 | 412 | 870,439 | 1,257,206,400,000 | 2,009 | de | 2009
Verwaltungsgericht
200
[...]
38
Zuschlagskriterien; Unterteilung in Sub- oder Teilkriterien
-
Subkriterien müssen sich einem in der Ausschreibung ausdrücklich
aufgeführten Zuschlagskriterium zuordnen lassen bzw. davon mit-
umfasst sein. Es dürfen hierbei keine neuen Zuschlagskriterien ge-
schaffen oder herangezogen werden und die Anbietenden dürfen da-
rauf vertrauen, dass die Vergabestelle die üblichen Zuschlagskrite-
rien im herkömmlichen Sinn versteht. Andernfalls müssen sie bereits
in den Ausschreibungsunterlagen möglichst detailliert umschrieben
werden, damit die Anbietenden erkennen können, welchen Anforde-
rungen sie bzw. ihre Angebote genügen müssen (Erw. 3.1. und 3.2.).
-
Ein Kriterium "(Anteil) Wertschöpfung in der Schweiz" ist ein un-
zulässiges vergabefremdes Kriterium (Erw. 3.3.2.).
-
Die Anforderung, dass das Produkt bzw. die Anlage "aus der glei-
chen Firma" stammen muss, ist im konkreten Fall unzulässig
(Erw. 3.3.3.).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 18. November 2009 in
Sachen P. AG gegen Ortsbürgergemeinde G. (WBE.2009.160).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Gemäss § 18 Abs. 3 SubmD sind die Zuschlagskriterien in der
Ausschreibung oder in den Ausschreibungsunterlagen mit ihrer Ge-
wichtung anzugeben. Allfällige Teilkriterien sind mit ihrer Ge-
2009
Submissionen
201
wichtung anzugeben. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsge-
richts ist die Vergabestelle nicht gehalten, über die Anforderungen
von § 18 Abs. 3 SubmD hinaus auch zum Voraus bekannt zu geben,
wie sie die Zuschlagskriterien im Einzelfall zu bewerten gedenkt.
Die nachträgliche Unterteilung der Zuschlagskriterien in Sub- oder
Teilkriterien stellt wie eine Beurteilungsmatrix lediglich ein Hilfs-
mittel für eine differenziertere Bewertung dar. Die einzelnen Sub-
kriterien müssen sich gemäss dem Verwaltungsgericht allerdings ei-
nem in der Ausschreibung ausdrücklich aufgeführten Zuschlagskri-
terium zuordnen lassen bzw. davon mitumfasst werden. Es dürfen
hierbei nicht etwa neue Zuschlagskriterien geschaffen oder herange-
zogen werden. Weiter dürfen die Anbietenden darauf vertrauen, dass
die Vergabestelle die üblichen Zuschlagskriterien - wie sie auch in
§ 18 Abs. 2 SubmD genannt sind - im herkömmlichen Sinn versteht.
Andernfalls müssen sie bereits in den Ausschreibungsunterlagen
möglichst detailliert umschrieben werden, damit die Anbietenden er-
kennen können, welchen Anforderungen sie bzw. ihre Angebote ge-
nügen müssen (AGVE 2001, S. 346 mit Hinweisen; 2002, S. 322 f.
mit Hinweisen). So müssen die Anbietenden beispielsweise nicht er-
warten, dass unter dem Zuschlagskriterium "Kompetenz" auch Um-
weltaspekte beurteilt werden (AGVE 2002, S. 324).
3.2.
3.2.1.
In der öffentlichen Ausschreibung und in den Submissionsun-
terlagen hat die Vergabestelle einzig die Zuschlagskriterien Preis,
Qualität und Referenzen mit einer Gewichtung von 50 %, 40 % und
10 % bekannt gegeben. Weitere Angaben zu den Zuschlagskriterien
(Subkriterien, Bewertung) wurden nicht gemacht. Im Rahmen der
Bewertung wurde das mit 40 % gewichtete Zuschlagskriterium
"Qualität" in die beiden je mit 20 % gewichteten Subkriterien "Qua-
lität" und "Wertschöpfung Schweiz" unterteilt. Unter dem Subkrite-
rium "Qualität" wurde bewertet, ob das Produkt aus der gleichen Fir-
ma stammt. Ob hier allenfalls auch noch weitere (qualitative) Ge-
sichtspunkte beurteilt wurden, ist nicht bekannt. Den Akten und den
Eingaben der Vergabebehörde lässt sich diesbezüglich nichts entneh-
men. Beim Subkriterium "Wertschöpfung Schweiz" wurde der pro-
2009
Verwaltungsgericht
202
zentuale Anteil der Herstellung in der Schweiz ermittelt; entspre-
chend der Höhe des Anteils wurden Rangpunkte vergeben. Der Be-
griff "Wertschöpfung Schweiz" entspricht gemäss der Vergabebehör-
de dem Begriff "Qualität Schweiz". Für die Bewertung beim Zu-
schlagskriterium "Qualität" entscheidend war laut Vergabestelle,
"dass das Produkt die 'Qualität Schweiz' hat und aus der gleichen
Firma stammt".
3.2.2.
Sowohl beim unter dem Subkriterium "Qualität" bewerteten
Aspekt der Auftragserfüllung durch eine Firma (die Beschwerdefüh-
rerin spricht hier zutreffend von der "Leistung aus der Hand eines
Unternehmens") als auch beim Teilkriterium "Wertschöpfung
Schweiz" handelt es sich um Gesichtspunkte, mit deren Berücksich-
tigung und Bewertung die Anbietenden beim Zuschlagskriterium
"Qualität" vernünftigerweise nicht rechnen mussten. Bei einem Lie-
ferauftrag wie dem vorliegenden ist unter dem Zuschlagskriterium
"Qualität" in erster Linie die Qualität des zu beschaffenden Produk-
tes (Material, Ausführung, Übereinstimmung mit der technischen
Spezifikation, Leistung, Verfügbarkeit etc.) selber zu beurteilen. Ob
die zu beschaffende Förderbandanlage zum Transport von Wandkies
von einem einzelnen Unternehmen hergestellt und geliefert wird oder
von mehreren, beeinflusst die Qualität der Förderbandanlage als sol-
che nicht. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Herstellung der
Anlage in der Schweiz oder im Ausland. Entgegen der Auffassung
der Vergabestelle ist die Herstellung in der Schweiz nicht per se mit
einer höherwertigen Qualität gleichzusetzen, die es erlauben würde,
bei im Ausland hergestellten Produkten von vornherein und generell
einen Bewertungsabzug vorzunehmen. Die Beschwerdeführerin
weist - zumindest für den vorliegenden Fall - völlig zu Recht darauf
hin, dass es hinsichtlich Qualität der Leistung in keinster Weise er-
heblich sein könne, ob das Produkt in der Schweiz oder in Deutsch-
land hergestellt worden sei.
Weder die öffentliche Ausschreibung noch die Ausschreibungs-
unterlagen enthalten im Übrigen einen Hinweis, dass die genannten
beiden Gesichtspunkte bei der Bewertung der Angebote von Be-
deutung sein würden. Der Umstand, dass im Leistungsverzeichnis
2009
Submissionen
203
bei den einzelnen Positionen jeweils auch nach dem Hersteller-
ort / Herstellerland gefragt wurde, lässt sich jedenfalls nicht dahinge-
hend interpretieren, dass der Ort der Herstellung für die Qualitätsbe-
wertung von Bedeutung sein würde. Mithin handelt es sich um ver-
gabefremde Aspekte, die sich - wie ausgeführt - weder dem Zu-
schlagskriterium "Qualität" noch einem anderen in der vorliegenden
Ausschreibung bekannt gegebenen Zuschlagskriterium zuordnen
lassen. Ihre Berücksichtigung bei der Bewertung verbietet sich vor-
liegend daher alleine schon aufgrund des Transparenzgebots, welches
unter anderem auch verlangt, dass die Anbieter aufgrund der Aus-
schreibung erkennen können, was die Vergabebehörde unter den be-
kannt gegebenen Zuschlagskriterien genau versteht und welche
Aspekte sie dabei zu bewerten gedenkt (vgl. AGVE 2005, S. 248 ff.;
Peter Galli / André Moser / Elisabeth Lang / Evelyne Clerc, Praxis
des öffentlichen Beschaffungsrechts, 1. Band: Landesrecht, 2. Aufla-
ge, Zürich / Basel / Genf 2007, Rz. 624).
Die beim Zuschlagskriterium "Qualität" gemachten Punkteab-
züge beim Angebot der Beschwerdeführerin erweisen sich damit als
unzulässig.
3.3.
3.3.1.
Es stellt sich zudem die Frage nach der grundsätzlichen Zuläs-
sigkeit der beiden genannten Subkriterien.
3.3.2.
In Bezug auf das streitige Kriterium "Anteil Wertschöpfung in
der Schweiz" ist festzuhalten, dass sich die Wirtschaftlichkeit des
Angebots stets am Nutzen des Beschaffungsobjekts selbst zu messen
hat. Ein fiskalischer Vorteil, der sich für den Staat aus einer Vergabe
an schweizerische Unternehmen ergeben könnte, ist dementspre-
chend kein Kriterium, das für die Ermittlung des günstigsten Ange-
bots berücksichtigt werden darf. Im Weiteren gewährleistet das
Submissionsrecht die Gleichbehandlung aller Anbieterinnen und An-
bieter (vgl. § 1 Abs. 1 SubmD, Art. 1 Abs. 3 lit. b IVöB, Art. 11 lit. a
IVöB; ferner Art. 5 Abs. 1 BGBM, Art. 1 Abs. 2, Art. 2 Abs. 3 und
Art. 8 Abs. 1 lit. a BoeB, Art. III Ziffer 1 des GATT-Übereinkom-
mens über das öffentliche Beschaffungswesen vom 15. April 1994
2009
Verwaltungsgericht
204
[Government Procurement Agreement, GPA; SR 0.632.231.422],
Art. 6 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft und der Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte
des öffentlichen Beschaffungswesens vom 21. Juni 1999 [BilatAbk;
SR 0.172.052.68]). Das betrifft sowohl die Gleichbehandlung der in-
und ausländischen Anbieter als auch die Gleichbehandlung der in-
ländischen Anbieter untereinander. Der Auftraggeber darf somit
keine Kriterien wählen, die eine ungleiche Behandlung der Anbieter
nach sich ziehen können. Massnahmen, welche die Sicherung von
Wertschöpfungsanteilen in der Schweiz beinhalten, sind weder mit
der schweizerischen Gesetzgebung noch mit dem Staatsvertragsrecht
(GPA, BilatAbk) zu vereinbaren. Daraus erhellt, dass die Begünsti-
gung oder Benachteiligung von Anbietern auf der Basis der Herkunft
von Erzeugnissen oder Dienstleistungen nicht zulässig ist. Der
Auftraggeber darf demzufolge den wirtschaftlichen Nutzen der zu
prüfenden Angebote nicht aufgrund des Kriteriums "Anteil Wert-
schöpfung in der Schweiz" bestimmen (vgl. zum Ganzen auch die
Interpellation 00.3120 von Nationalrat Paul Kurrus vom 23. März
2000 und die Antwort des Bundesrates vom 19. Juni 2000, in: Curia
Vista - Geschäftsdatenbank der Bundesversammlung
http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=2
0003120). Ein Kriterium "(Anteil) Wertschöpfung in der Schweiz"
ist mithin ein unzulässiges vergabefremdes Kriterium.
Soweit die Vergabebehörde den Begriff "Wertschöpfung
Schweiz" mit "Qualität Schweiz". bzw. "Qualitätsmerkmal Schweiz"
gleichsetzen will, kann grundsätzlich auf die bereits in Erw. 3.2.2.
gemachten Ausführungen verwiesen werden. Die Qualität der
Leistung - hier der offerierten Förderbandanlagen - ist bei jedem
Angebot vor dem Hintergrund der nachgefragten Leistung / Produkte
und deren Spezifikationen ungeachtet der Herkunft zu prüfen und zu
bewerten. Allfällige Bewertungsabzüge bei der Qualität müssen sich
sachlich begründen lassen. Die Fabrikation im Ausland bedeutet
nicht per se schlechtere Qualität. Deshalb ist es nicht zulässig, bei im
Ausland hergestellten Produkten generell und ohne konkrete Prüfung
auf eine mindere Qualität zu schliessen und alleine wegen der
Herstellung im Ausland beim Zuschlagskriterium "Qualität" einen
2009
Submissionen
205
Bewertungsabzug zu machen. Ein solches Vorgehen verstösst gegen
das Gebot der Gleichbehandlung und stellt Diskriminierung auslän-
discher Produkte (und gegebenenfalls auch der ausländischen An-
bieter) dar. Die Vergabestelle begründet im vorliegenden Fall nicht
einmal ansatzweise, weshalb eine in der Schweiz hergestellte För-
derbandanlage in qualitativer Hinsicht höherwertig sein soll als eine
in Deutschland oder in einem anderen Land hergestellte Anlage.
3.3.3.
3.3.3.1.
Bei der weiteren unter dem Zuschlagskriterium "Qualität" be-
urteilten Anforderung, dass das Produkt bzw. die Anlage (Stahlbau
und Förderband) "aus der gleichen Firma" stammen muss, handelt es
sich ebenfalls um einen Aspekt, der mit der Qualität des Produkts an
sich nichts zu tun hat, und infolgedessen nicht bei diesem Zuschlags-
kriterium beurteilt werden darf, schon gar nicht ohne entsprechende
vorgängige Bekanntgabe in der Ausschreibung oder in den Aus-
schreibungsunterlagen (vgl. oben Erw. 3.2.2.). Es ist nicht nachvoll-
ziehbar und wird von der Vergabestelle denn auch nicht begründet,
weshalb die Qualität einer Anlage grundsätzlich höher sein soll,
wenn die Anlage durch eine Firma hergestellt wird. Die Vergabestelle
begründet die Anforderung eines einzigen Herstellers vielmehr
damit, dass es bei Unterhalt und Serviceleistungen / Reparaturar-
beiten der Anlage, die eine Lebensdauer von 25 bis 30 Jahren habe,
ein Nachteil sei, zwei verschiedene Ansprechpartner zu haben, man
wolle dafür nur einen Ansprechpartner. Das Anliegen, für künftige
Wartungs- und Reparaturarbeiten der gesamten Anlage einen einzi-
gen, klar definierten Ansprechpartner zu haben, ist nachvollziehbar
und erscheint auch sachlich begründet. Es wäre der Vergabestelle
deshalb unbenommen gewesen, entsprechende Vorgaben in den Aus-
schreibungsunterlagen zu machen und bei allfälligen Abweichungen
auch Abzüge bei der Bewertung vorzunehmen. § 18 Abs. 2 SubmD
nennt u. a. ausdrücklich die Zuschlagskriterien "Garantie- und Un-
terhaltsleistungen" oder "Kundendienst". Die Vergabebehörde hätte
daher in der Ausschreibung ohne Weiteres ein Zuschlagskriterium
"Unterhaltsleistungen" festlegen und in diesem Kontext auch ver-
langen können, dass für Unterhalt, Wartung und Reparaturen ein ein-
2009
Verwaltungsgericht
206
ziger Ansprechpartner gegeben sein muss. Diesfalls wäre für die An-
bietenden von vornherein klar gewesen, dass dies für die Vergabebe-
hörde ein entscheidender Punkt ist. Eine Berücksichtigung bei der
"Qualität", wie es die Beschwerdeführerin vorliegend getan hat, ist
hingegen nicht zulässig.
3.3.3.2.
Die Vergabestelle ist berechtigt, in den Ausschreibungsunterla-
gen die Bildung von Arbeitsgemeinschaften ausdrücklich auszu-
schliessen, wenn sie solche im konkreten Fall als unzweckmässig er-
achtet (§ 11 Abs. 3 SubmD). Unterlässt sie dies, so sind Arbeitsge-
meinschaften zulässig. Die zugelassenen Arbeitsgemeinschaften sind
gleich zu behandeln, wie die übrigen Anbieter. Dies folgt aus § 1
SubmD und dies schliesst es aus, Arbeitsgemeinschaften ungeachtet
ihrer konkreten Organisation im Einzelfall generell und von vorn-
herein schlechter zu bewerten als Einzelunternehmen (AGVE 2002,
S. 347 f.).
Im vorliegenden Fall wurde kein Ausschluss von Arbeitsge-
meinschaften bekannt gegeben. Demzufolge waren solche zugelas-
sen. Mithin war die grundsätzliche Schlechterbewertung von Ar-
beitsgemeinschaften auch aus diesem Grund nicht zulässig.
Vorliegend ist zudem einzig die Beschwerdeführerin als Anbie-
terin in Erscheinung getreten, d. h. sie hat ein Angebot als "Einzel-
firma" und nicht als Bietergemeinschaft eingereicht. In einer beige-
fügten "Erklärung" wird zwar festgehalten, im Auftragsfalle würde
die Beschwerdeführerin eine "unechte" Arbeitsgemeinschaft mit der
Firma A. AG eingehen. Gegenüber der Bauherrschaft sei die Firma P.
rechtlich verbindlicher Vertragspartner. Das heisst, im Fall des Zu-
schlags würde der Vertrag einzig mit der Beschwerdeführerin abge-
schlossen und nicht mit einer Arbeitsgemeinschaft. Die A. AG wäre
in Bezug auf die Auftraggeberin somit Subunternehmerin. Zwischen
ihr und der Auftraggeberin entstünden mithin keine vertraglichen Be-
ziehungen. Insofern kann der Auffassung der Vergabebehörde, sie sei
beim Angebot der Beschwerdeführerin mit zwei verschiedenen An-
sprechpartnern konfrontiert, zumindest in rechtlicher Hinsicht nicht
gefolgt werden. Ihre Vertragspartnerin ist einzig die Beschwerde-
führerin. | 3,171 | 2,580 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-38_2009-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-38.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-38.pdf | AGVE_2009_38 | null | nan |
78a5b79a-7261-50a2-a834-ee31760830ac | 1 | 412 | 869,972 | 1,433,289,600,000 | 2,015 | de | 2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
168
24
Baubewilligungspflicht; Asylbewerberunterkunft
Die Umnutzung eines Mehrfamilienhauses in eine Unterkunft für Asylbe-
werber gilt als Wohnnutzung und benötigt in der vorliegenden Wohn- /
Gewerbezone WG 3A keine Baubewilligung.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 4. Juni 2015 in Sachen
Einwohnergemeinde A. gegen Kanton Aargau sowie Gemeinderat A. und De-
partement Bau, Verkehr und Umwelt (WBE.2014.293).
Aus den Erwägungen
2.2.
Bauten und Anlagen dürfen nur mit behördlicher Bewilligung
errichtet oder geändert werden (Art. 22 Abs. 1 RPG). Alle Bauten
und Anlagen und ihre im Hinblick auf die Anliegen der Raument-
wicklung, des Umweltschutzes oder der Baupolizei wesentliche Um-
gestaltung, Erweiterung oder Zweckänderung sowie die Beseitigung
von Gebäuden bedürfen der Bewilligung durch den Gemeinderat
(§ 59 Abs. 1 BauG). Massstab dafür, ob eine bauliche Massnahme
erheblich genug ist, um sie dem Baubewilligungsverfahren zu unter-
werfen, ist die Frage, ob mit der Realisierung der Baute oder Anlage
2015
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
169
im Allgemeinen, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, so wich-
tige räumliche Folgen verbunden sind, dass ein Interesse der Öffent-
lichkeit oder der Nachbarn an einer vorgängigen Kontrolle besteht
(BGE 139 II 139 f.; 120 Ib 384; Urteil des Bundesgerichts vom
27. August 2014 [1C_790/2013], Erw. 2.3.; AGVE 2007, S. 426;
2001, S. 288).
Zweckänderungen liegen vor, wenn sich die in einer Baute
ausgeübte Nutzung wandelt. Zweck- bzw. Nutzungsänderungen kön-
nen wegen vermehrter Einwirkungen auf die Umgebung, wegen er-
höhter Anforderungen an die Erschliessung oder aus andern Gründen
einer baupolizeilichen Bewilligung bedürfen, auch wenn mit ihnen
bauliche Änderungen nicht verbunden sind. Ob eine Zweckänderung
vorliegt, entscheidet sich durch Vergleich der neuen mit der ur-
sprünglich bewilligten Nutzung (AGVE 1993, S. 357; 1990, S. 246;
E
RICH
Z
IMMERLIN
, Baugesetz des Kantons Aargau, Kommentar,
2. Auflage, Aarau 1985, § 150 N 2d; A
NDREAS
B
AUMANN
, Kom-
mentar zum Baugesetz des Kantons Aargau, Bern 2013, § 59 N 17).
Auch für Zweckänderungen gilt, dass sie keiner Baubewilligung
bedürfen, wenn sie nur nebensächlicher Natur sind. Der Begriff der
Zweckänderung ist dabei nicht kleinlich auszulegen. Keine solche
Änderung liegt vor, wenn die neue Nutzung weder anderen Bauvor-
schriften unterliegt noch erhöhte, gegebenenfalls auch neue Ge-
fahren, Nachteile oder Auswirkungen für die Nachbarschaft mit sich
bringt (AGVE 1993, S. 357; 1991, S. 544; 1990, S. 246; Z
IMMERLIN
,
a.a.O., § 150 N 3; B
AUMANN
, a.a.O., § 59 N 17).
2.3. (...)
2.4.
2.4.1.
Das streitige Mehrfamilienhaus liegt in der Wohn- / Gewerbe-
zone WG 3A (vgl. § 6 Abs. 1 und § 8 der Bau- und Nutzungsordnung
der Gemeinde A. vom 21. Juni 2001/15. Mai 2002 [BNO]). Der
WG 3A ist die Empfindlichkeitsstufe III gemäss Art. 43 LSV zuge-
wiesen. Die WG 3A ist für Wohnen sowie mässig störende Gewerbe-
und Dienstleistungsbetriebe bestimmt; verboten sind Betriebe des
Sexgewerbes wie Massagesalons, Erotikmärkte und dergleichen (§ 8
Abs. 1 BNO). Die streitbetroffene Liegenschaft wurde vor Jahr-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
170
zehnten erstellt und diente stets ausschliesslich zu Wohnzwecken.
Wie dargelegt erteilte der Gemeinderat am 8. Juni 2012 die Baube-
willigung für die Sanierung des Mehrfamilienhauses und den Ausbau
des Dachgeschosses in zwei 5 - Zimmer Wohnungen. Die dies-
bezüglichen Bauarbeiten sind abgeschlossen. Insgesamt umfasst die
Liegenschaft zwölf 3 - Zimmer Wohnungen und zwei 5 - Zim-
mer Wohnungen.
Der Beschwerdegegner beabsichtigt, im Mehrfamilienhaus bis
zu 90 Asylsuchende unterzubringen. Dabei handle es sich vor allem
um Familien oder Frauen mit Kindern, wobei die Zuweisung des
Wohnraums abhängig von den Asylsuchenden sei, welche dem Kan-
ton durch die Bundesbehörden zugewiesen würden. Aktuell bestehe
ein grosses Bedürfnis, Asylsuchenden aus Syrien eine Unterkunft an-
zubieten, wobei diese Entwicklung zum Teil raschen Änderungen un-
terworfen sei. Die Asylsuchenden würden auf die Wohnungen aufge-
teilt. Sie würden sich dort aufhalten und leben, sie würden dort schla-
fen, im Familienverbund kochen (keine Gemeinschaftsküche) und
sich verpflegen. Tagsüber könnten die Asylsuchenden an Beschäfti-
gungsprogrammen teilnehmen, sofern dafür ausreichend Plätze vor-
handen seien. Zudem könnten sie Deutschkurse besuchen. Schul-
pflichtige Kinder besuchten aufgrund der allgemeinen Schulpflicht
die Schule. Zusätzlich zu den Wohnungen der Asylsuchenden sei im
Erdgeschoss ein kleines Büro für die Betreuung vorgesehen. Dort
würden tagsüber ein bis zwei Personen tätig sein.
Es liegt auf der Hand, dass die beschriebene Nutzung grund-
sätzlich eine Wohnnutzung darstellt, wie dies auch z.B. bei Studen-
tenunterkünften und bei Wohngemeinschaften der Fall ist. Im frag-
lichen Mehrfamilienhaus werden (wie bis anhin) Menschen zum
Wohnen untergebracht. Dass zu einer Nutzungsart übergegangen
würde, die nicht mehr dem Wohnen im eigentlichen Sinne zugerech-
net werden kann, ist nicht ersichtlich. Dass die Räumlichkeiten an-
stelle von Nichtasylsuchenden durch Asylsuchende bewohnt werden,
bringt keine raumrelevanten Auswirkungen mit sich. Insbesondere
kommt es nicht zu zusätzlichen Auswirkungen auf die Umwelt, die
Erschliessung und den Verkehr. Dem Baurecht ist es zudem fremd,
dass einzig je nach Art der Bewohner eine neue Bau- bzw. Nutzungs-
2015
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
171
bewilligung einzuholen wäre. Dass eine Wohngelegenheit für Men-
schen geschaffen wird, die einer andern sozialen Gruppe angehören,
ist unter dem rein baupolizeilichen Gesichtspunkt an sich irrelevant.
Massgebend ist vielmehr, wie eine bestimmte Baute aufgrund ihrer
Bauweise, Gestaltung etc. genutzt werden kann (vgl. AGVE 1991,
S. 544). Zwar trifft es vorliegend zu, dass eine Belegung von bis zu
90 Personen höher als eine durchschnittliche Belegung von Wohn-
räumen ist. Die Intensivierung der Wohnnutzung bildet für sich allein
betrachtet jedoch ebenso wenig wie die Art der Bewohner eine
Baubewilligungspflicht (vgl. AGVE 1991, S. 544 f.; Entscheid des
BVU vom 7. Juli 2014 [BVURA.14.327], Erw. 3.3 mit Hinweisen).
Das Verwaltungsgericht hielt dazu in einem kürzlich gefällten Ent-
scheid fest, dass die Auffassung, wonach über die Ausnützungsziffer
eine Art Bewohnernutzungsdichte definiert würde, im Recht keine
Grundlage finde. Eine solche Auffassung widerspräche auch den
Raumplanungszielen, insbesondere der haushälterischen Nutzung des
Bodens (vgl. Art. 75 Abs. 1 BV; Art. 1 Abs. 1 RPG) und dem Ansin-
nen, verdichtetes Bauen zu fördern (vgl. § 46 BauG) (VGE III/5 vom
23. Januar 2014 [WBE.2013.113], S. 14).
2.4.2.
Die Beschwerdeführerin nimmt weiterhin Bezug zu
AGVE 1994, S. 367 ff. und beruft sich auf die "Bewohnerdichte". Im
genannten Entscheid wurde ein Erstaufnahmezentrum für Asyl-
suchende aufgrund der Bewohnerdichte und der Tatsache, dass ein
Erstaufnahmezentrum auch von der Art des Betriebs mit einer her-
kömmlichen Wohnnutzung nur wenig gemeinsam habe, in einer rei-
nen Wohnzone als nicht zonenkonform qualifiziert. Die vorliegend
beabsichtigte Nutzung und die zugrunde liegende Zonierung unter-
scheiden sich vom genannten Entscheid jedoch massgeblich:
Zum einen stand im genannten Entscheid ein Erstaufnahme-
zentrum für Asylsuchende und nicht die Unterbringung von asylsu-
chenden Menschen in Wohnungen zur Beurteilung. Diese Nutzungen
sind nicht vergleichbar: Im genannten Erstaufnahmezentrum hätten
sich die Asylbewerber durchschnittlich lediglich während einer kur-
zen Zeitdauer von acht bis zehn Tagen aufgehalten; es herrscht
Betriebsamkeit (vgl. AGVE 1994, S. 371 und 373). Demgegenüber
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
172
leben und wohnen die Asylsuchenden in einer kantonalen oder
Gemeindeunterkunft bzw. in durch den Kanton angemieteten Woh-
nungen bis zum definitiven Abschluss des Asylverfahrens während
längerer Zeit, was von wenigen Wochen bzw. Monaten bis zu meh-
reren Jahren dauern kann. Hier herrscht an sich Sesshaftigkeit und
Beständigkeit (vgl. AGVE 1994, S. 373).
Zum andern weisen kantonale oder Gemeindeunterkünfte wie
auch durch den Kanton angemietete Wohnungen zwar eine etwas er-
höhte Bewohnerdichte auf, diese ist jedoch, wie der Beschwerdegeg-
ner nachvollziehbar darlegt, von vornherein nicht vergleichbar mit
der Bewohnerdichte in einem Erstaufnahmezentrum, wo viele Perso-
nen auf relativ geringem Raum untergebracht werden. Auch von er-
höhten Lärmemissionen ist ausweislich der Akten nicht auszugehen.
Ohnehin befindet sich die Liegenschaft in einer Zone mit Lärm-
empfindlichkeitsstufe III.
Sodann bestehen auch bezüglich der Zonierung wesentliche
Unterschiede: Das im zitierten Entscheid beurteilte Erstaufnahme-
zentrum sollte in einer reinen Wohnzone (Zone W2D gemäss
damaligem § 36 BO der Gemeinde Brittnau) betrieben werden (vgl.
AGVE 1994, S. 370). Die vorliegend zu beurteilende Liegenschaft
befindet sich demgegenüber in der Wohn- und Gewerbezone WG 3A
von A. (§ 8 BNO). Bei der WG 3A handelt es sich um eine gemischte
Zone, die neben dem Wohnen auch für mässig störende Gewerbe-
und Dienstleistungsbetriebe bestimmt ist; entsprechend ist ihr die
Lärmempfindlichkeitsstufe III zugewiesen (§ 6 Abs. 1 und § 8 Abs. 1
BNO). Die WG 3A lässt mehr zu als eine reine Wohnzone.
Festzustellen ist schliesslich, dass sich Unterkünfte für Asylsu-
chende regelmässig in reinen Wohnzonen befinden. Gemäss dem zi-
tierten Entscheid befanden sich rund die Hälfte der Asylunterkünfte
in reinen Wohnzonen (vgl. AGVE 1994, S. 372). Die vorliegend zu
beurteilende Liegenschaft befindet sich von der Zonierung her - im
Vergleich zu einer reinen Wohnzone - in einem weniger sensiblen
Gebiet (nämlich der WG 3A von A.). Dieser Umstand untermauert
umso mehr, dass die vorliegende Nutzung in der WG 3A von A. zo-
nenkonform ist.
2.4.3.
2015
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
173
Zusammenfassend entspricht die Nutzung der Wohnungen
durch Asylsuchende einer Wohnnutzung und ist in der Wohn- und
Gewerbezone WG 3A von A. zonenkonform. Eine baubewilligungs-
pflichtige Zweck- bzw. Nutzungsänderung liegt nicht vor.
(Hinweis: Das Bundesgericht hat eine Beschwerde in öffent-
lich-rechtlichen Angelegenheiten gegen diesen Entscheid abgewie-
sen, soweit es darauf eingetreten ist; Urteil des Bundesgerichts vom
7. Dezember 2015 [1C_395/2015]) | 2,466 | 1,956 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-24_2015-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-24.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-24.pdf | AGVE_2015_24 | null | nan |
7951a75c-8777-5e55-b238-93aa90fe0554 | 1 | 412 | 870,322 | 1,441,152,000,000 | 2,015 | de | 2015
Polizeirecht
155
V. Polizeirecht
22
Art. 4 und 5 Hooligan-Konkordat
Rayonverbote müssen durch ein das private Interesse des Betroffenen
überwiegendes öffentliche Interesse gerechtfertigt sein. Dessen Höhe
hängt namentlich davon ab, welche Rechtsgüter im Rahmen der Anlass-
tat tangiert wurden, wie gravierend die Handlung des Betroffenen war
und wie hoch die Rückfallgefahr einzustufen ist. Lautet der Vorwurf auf
Beteiligung an einem Massendelikt (insb. Landfriedensbruch), ist bei der
Gewichtung der Tathandlung nicht nur darauf abzustellen, inwieweit der
Betroffene selber Gewalttätigkeiten (an Personen und/oder Sachen) ver-
übt hat, sondern auch darauf, ob und inwieweit er das Massenverhalten
beeinflusst hat und beeinflussen konnte. Wer als Anführer einer militan-
ten Fangruppierung auftritt, trägt die Hauptverantwortung für sämtliche
Handlungen, die durch seine Gruppierung ausgeführt werden
(Erw. 5.4.2.2). Eine Maximaldauer des Rayonverbots von drei Jahren ist
in casu unverhältnismässig (Erw. 5.4.4).
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 2. September 2015 in Sachen A. gegen das Departement Volkswirtschaft
und Inneres, Kantonspolizei (WPR.2015.26).
Sachverhalt (Zusammenfassung)
A.
Im Anschluss an das Super-League-Spiel zwischen dem FC Aa-
rau und dem FC St. Gallen vom 18. Oktober 2014 fanden vor einem
Pub in Aarau gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den bei-
den Fanlagern statt. Die Tumulte mussten unter Polizeieinsatz aufge-
löst werden, wobei es zu gewalttätigen Übergriffen gegen Polizisten
kam.
B.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
156
Am 21. Januar 2015 verfügte das Departement Volkswirtschaft
und Inneres des Kantons Aargau (DVI), Kantonspolizei, gestützt auf
Art. 4 und 5 des Konkordats über Massnahmen gegen Gewalt anläss-
lich von Sportveranstaltungen vom 15. November 2007 (Konkordat;
SAR 533.100) und § 3 Abs. 1 lit. l PolG gegen A. ein sich über einen
Zeitraum von drei Jahren erstreckendes, in den Schranken des
räumlichen Geltungsbereichs des Konkordats schweizweit gültiges
Rayonverbot für den jeweiligen Veranstaltungsort der Spiele der
1. Mannschaft des FC St. Gallen.
A. wurde vorgeworfen, er habe sich als Anführer einer Fangrup-
pierung gewaltbereiter Fans des FC St. Gallen an Ausschreitungen
beteiligt und sei Teil einer Zusammenrottung von FC St. Gallen Fans
gewesen, welche noch während des Fussballspiels das Stammlokal
der FC Aarau Fans besetzt und dort Sachbeschädigungen begangen
hatten.
C.
Gegen das durch die Kantonspolizei verfügte Rayonverbot
reichte A. beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau Beschwerde
ein und verlangte dessen Aufhebung.
D.
(...)
Aus den Erwägungen
3.2.
Dass sich der Beschwerdeführer des Landfriedensbruchs schul-
dig gemacht hat, wird nicht bestritten und ergibt sich auch aus der in-
zwischen rechtskräftigen Verurteilung durch die Staatsanwaltschaft
Lenzburg-Aarau vom 20. April 2015. Damit steht fest, dass der Be-
schwerdeführer eine tatbestandsmässige Handlung im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 lit. h des Konkordats begangen hat und die Vorausset-
zung für eine Sanktionierung gestützt auf Art. 4 des Konkordats er-
füllt ist.
4. (...)
5.
2015
Polizeirecht
157
5.1.-5.3. (...)
5.4.
5.4.1.
Umstritten und nachfolgend zu klären ist, ob sich das verfügte
Rayonverbot als verhältnismässig im engeren Sinne erweist. Mit an-
deren Worten ist zu klären, ob das Rayonverbot in einem vernünfti-
gen Verhältnis zwischen dem angestrebten Ziel und dem durch die
betroffene Person zu erduldenden Eingriff steht. Die Massnahme
muss durch ein das private Interesse überwiegendes öffentliches Inte-
resse gerechtfertigt sein. Mit Blick auf die Verhältnismässigkeit im
engeren Sinne darf ein Rayonverbot umso länger ausgesprochen wer-
den, je höher das öffentliche Interesse zu veranschlagen und je klei-
ner das private Interesse einzustufen ist.
5.4.2.
5.4.2.1.
Hat eine Person eine Anlasstat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des
Konkordats begangen und damit G
rund zum Erlass eines Rayonver-
bots gestützt auf Art. 4 des Konkordats gegeben,
ist grundsätzlich
von einem grossen öffentlichen Interesse auszugehen, dieser Person
für eine gewisse Zeit zu verbieten, sich vor, während und nach einer
Sportveranstaltung in deren Umfeld aufzuhalten. Dieses grosse öf-
fentliche Interesse erhöht sich zudem aufgrund der konkreten Um-
stände des Einzelfalles, wobei die Erhöhung insbesondere davon ab-
hängt, welche Rechtsgüter im Rahmen der Anlasstat tangiert wurden,
wie gravierend die Handlungen der betroffenen Person waren und
wie gross die Rückfallgefahr einzustufen ist. Je gravierender die tan-
gierten Rechtsgüter einzustufen sind und je gravierender die Hand-
lungen waren, umso höher ist das öffentliche Interesse zu qualifizie-
ren. Gleiches gilt in Bezug auf die Rückfallgefahr. Zudem ist von ei-
nem erhöhten öffentlichen Interesse auszugehen, wenn eine betroffe-
ne Person wiederholt mit einem Rayonverbot belegt werden muss
oder in einem früheren Verfahren zwar auf den Erlass eines Rayon-
verbots verzichtet, jedoch eine Verwarnung ausgesprochen wurde.
Wird der betroffenen Person Landfriedensbruch vorgeworfen,
bemisst sich das öffentliche Interesse zudem daran, ob und wenn ja,
in welchem Ausmass Personen zu Schaden gekommen sind bzw.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
158
welche Sachschäden zu verzeichnen sind. Überdies ist das öffentli-
che Interesse umso höher zu veranschlagen, je gewichtiger die Rolle
der betroffenen Person im Rahmen der Zusammenrottung zu qualifi-
zieren ist und/oder je massgeblicher ihr Tatbeitrag an den Personen-
oder Sachschäden war.
5.4.2.2.
Der Beschwerdeführer wurde rechtskräftig wegen einer Anlass-
tat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Konkordats verurteilt, weshalb be-
reits deshalb von einem grossen öffentlichen Interesse am Erlass ei-
nes Rayonverbots auszugehen ist.
Dem rechtskräftigen Strafbefehl vom 20. April 2015 ist zu ent-
nehmen, dass sich die Fans des FC St. Gallen während des Fussball-
spiels FC Aarau gegen FC St. Gallen vom 18. Oktober 2014 ins
Stammlokal "Penny Farthing" des FC Aarau an der Bahnhofstrasse
in Aarau begaben und dieses besetzten, wobei ein Sachschaden von
ca. CHF 5'000.00 entstand. Im weiteren Verlauf kam es im Rahmen
des durch den Beschwerdeführer begangenen Landfriedensbruchs zu
massiven tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Fans des
FC St. Gallen und des FC Aarau und die Polizei musste Gummi-
schrot und Reizstoffe einsetzen, um die Fanlager zu trennen. Die
Fans traktierten sich mit Faust- und Beinschlägen und bewarfen sich
mit Gläsern, Flaschen und pyrotechnischen Gegenständen. Zudem
wurden Handlichtfackeln und Rauchpetarden gezündet, wodurch es
zu Verkehrsbehinderungen kam und weshalb der öffentliche Verkehr
umgeleitet werden musste. Aufgrund der im Rahmen des Landfrie-
densbruchs tangierten Rechtsgüter (Gefährdung von Leib und Leben,
Sachbeschädigung, Störung des öffentlichen Verkehrs) ist von einem
erhöhten öffentlichen Interesse auszugehen.
Was den Tatbeitrag und die Rolle des Beschwerdeführers be-
trifft, ist Folgendes festzuhalten:
Dem Beschwerdeführer werden keine konkreten Handlungen
im Zusammenhang mit Sachbeschädigungen oder der Gefährdung
von Personen vorgeworfen. Den beigezogenen Strafakten, insbeson-
dere dem darin enthaltenen Video, ist einzig zu entnehmen, dass der
Beschwerdeführer sich eines Gartenstuhls bemächtigte, um sich ge-
gen Wurfgegenstände zu schützen und damit die Beschädigung des
2015
Polizeirecht
159
Gartenstuhls in Kauf nahm. Diesbezüglich ist höchstens von einem
leicht erhöhten öffentlichen Interesse auszugehen.
Eine vollkommen andere Beurteilung ergibt sich aber aufgrund
der Rolle des Beschwerdeführers, welcher dieser im Rahmen der
Fangruppierung des FC St. Gallen einnimmt. Der Beschwerdeführer
ist Anführer (Capo) der sogenannten Ultras des FC St. Gallen. Wie
der Stellenleiter der Fanarbeit St. Gallen zutreffend darlegt, ist der
Capo einer ultra-orientierten Fankurve Koordinator und Vorsänger
während eines Spiels und geht dem Corteo (Fanmarsch vor und nach
dem Spiel) voraus. Er ist Ansprechpartner für die verschiedenen Ak-
teure (Vertreter des Fussballclubs, Polizei, Fanbetreuer) rund um ein
Spiel. Ein Capo hat, wie dies aus dem Namen hervorgeht, als Kopf
seiner Ultra-Gruppierung sehr grossen Einfluss auf die Mitglieder. Er
bestimmt mit seinen engsten Vertrauten, wie sich die Gruppierung
vor, während und nach einem Spiel verhält. Ohne Zustimmung des
Capo setzt sich der Corteo zum Beispiel nicht in Bewegung oder hält
auf seinen Befehl an und führt Aktionen durch. Damit trägt der Capo,
zusammen mit seinen engsten Vertrauten, die Hauptverantwortung
für sämtliche Handlungen, welche durch seine Gruppierung ausge-
führt werden. Unabhängig davon, ob er einzelne Handlungen direkt
ausgeführt hat, liegen diese in seinem Verantwortungsbereich und
sind ihm zuzurechnen. Nach dem Gesagten besteht in Bezug auf den
Beschwerdeführer ein erheblich erhöhtes öffentliches Interesse am
Erlass eines Rayonverbots.
Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, ändert daran
nichts. Insbesondere kann keine Rede davon sein, der Beschwerde-
führer sei nur während einiger Sekunden Teil der Zusammenrottung
gewesen und sein auf dem Video zu sehendes Verhalten wirke unbe-
holfen. Als seine Gruppierung mit Gegenständen beworfen wurde,
begab sich der Beschwerdeführer während einiger Sekunden in De-
ckung, behändigte einen Gartenstuhl und stellte sich bewusst wieder
in die Schusslinie. Dieses Verhalten ist einerseits provokativ und sta-
chelt andererseits die Mitglieder der eigenen Gruppierung dazu an,
standhaft Widerstand zu leisten. Ebenso wenig greift der Versuch des
Beschwerdeführers, der Polizei die Verantwortung für die Eskalation
zuschieben zu wollen. Wäre der Beschwerdeführer seiner Verantwor-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
160
tung als Capo gerecht geworden, hätte er seine Gruppierung, der
Aufforderung der Polizei rechtzeitig Folge leistend, zum Bahnhof
geführt und wäre abgereist. Dass sich der Beschwerdeführer nicht
vermummt hat, relativiert sein Verhalten und seine Verantwortung
überdies nicht. Als Capo ist der Beschwerdeführer den Szenekennern
derart gut bekannt, dass ein Vermummen ohnehin nutzlos gewesen
wäre. Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer nach eigenen
Angaben erheblich alkoholisiert war, bedeutet entgegen seiner An-
nahme nicht, dass das öffentliche Interesse an der Anordnung eines
Rayonverbots relativiert würde. Im Gegenteil ist davon auszugehen,
dass der Beschwerdeführer seinen Alkoholkonsum nicht unter Kon-
trolle hat, obschon er sich in einer Führungsfunktion befindet und da-
mit Vorbildfunktion hat, was eher für ein noch höheres öffentliches
Interesse spricht.
Mit Blick auf die Rückfallgefahr wird der Beschwerdeführer
zwar durch ein Geschäftsleitungsmitglied des FC St. Gallen und den
Stellenleiter Fanarbeit in einem positiven Licht dargestellt. Dies än-
dert aber nichts daran, dass die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme
des Beschwerdeführers an Zusammenkünften seiner Ultra-Gruppie-
rung bei Heim- und bei Auswärtsspielen des FC St. Gallen als sehr
hoch einzustufen ist. Die Gefahr, dass sich der Beschwerdeführer da-
bei an Zusammenrottungen beteiligt, welche zu Ausschreitungen füh-
ren und er somit anlässlich einer Sportveranstaltung erneut Landfrie-
densbruch begeht, ist als sehr hoch einzustufen. Bekanntermassen
lassen sich Ultras trotz Stadionverboten nicht davon abhalten, ihre
Gruppierung zu Heim- und Auswärtsspielen zu begleiten.
Insgesamt ist aufgrund der tangierten Rechtsgüter, der im Rah-
men des Landfriedensbruchs begangenen Delikte und vor allem der
Rolle des Beschwerdeführers als Capo der Fangruppierung sowie der
hohen Rückfallgefahr von einem grossen bis sehr grossen öffentli-
chen Interesse am Erlass eines Rayonverbots auszugehen.
5.4.3.
5.4.3.1.
Das private Interesse an der Aufhebung oder der zeitlichen bzw.
örtlichen Beschränkung des Rayonverbots bemisst sich primär daran,
inwiefern die betroffene Person durch das Rayonverbot in ihren indi-
2015
Polizeirecht
161
viduellen Tätigkeiten eingeschränkt wird. Entscheidend ist dabei ins-
besondere die Häufigkeit der Einschränkung und die Frage, ob es für
die betroffene Person zumutbar ist, im Einzelfall oder für eine be-
stimmte Tätigkeit eine Ausnahmebewilligung einzuholen.
Demgegenüber fällt die grundsätzliche Einschränkung, d.h. jede
Einschränkung bezüglich Örtlichkeiten, die kein Gebiet betreffen, in
dem sich die Person üblicherweise aufhält, nicht sonderlich ins Ge-
wicht. Dies umso weniger, als die Benutzung öffentlicher Verkehrs-
mittel zur Durchreise auch innerhalb des grundsätzlich verbotenen
Rayons möglich ist.
5.4.3.2.
Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was auf eine individu-
elle Einschränkung bezüglich der verbotenen Rayons ausserhalb der
Stadt St. Gallen hindeuten würde, weshalb sich weitere Ausführun-
gen hierzu erübrigen.
Nachdem der Beschwerdeführer in St. Gallen wohnt, ist ihm
grundsätzlich ein erhebliches privates Interesse zuzubilligen, sich in
St. Gallen frei bewegen zu können. Einschränkungen sind nur soweit
notwendig zu verfügen.
Das Rayonverbot in der Stadt St. Gallen umfasst die drei Teilge-
biete Rayon A (West), Rayon B (Ost) und Rayon C (Nord). Auch
wenn der Beschwerdeführer in Rayon B wohnt, stellt dies für ihn
keine Einschränkung dar, da sich das Stadion des FC St. Gallen in
Rayon A befindet und es dem Beschwerdeführer somit bei Heimspie-
len des FC St. Gallen nicht verwehrt ist, sich frei in den Rayons B
und C zu bewegen. In Rayon A befindet sich aber unter anderem
auch die Sportanlage Gründenmoos. Der Beschwerdeführer macht
geltend, er sei aktives Mitglied des FC B. und spiele für diesen Ver-
ein in der dritten und fünften Liga. Da die Heimspiele auf den
Kunstrasenplätzen der Sportanlage Gründenmoos ausgetragen wür-
den, sei es ihm verwehrt, an Heimspieltagen des FC St. Gallen Spiele
mit seinem Fussballclub zu bestreiten. Dies und der Umstand, dass er
an den besagten Tagen keine Zeit mit seinem Freundes- und Kolle-
genkreis verbringen könne, stelle eine Beeinträchtigung dar, die weit
über das bezweckte Verbot, d.h. den Besuch von Spielen des
FC St. Gallen, hinausgehe. Konsultiert man die Homepage des FC B.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
162
(zuletzt besucht am 1. September 2015) fällt zunächst auf, dass der
Verein weder eine Mannschaft in der dritten noch in der zweiten Liga
hat. Die beiden aktiven Mannschaften spielen vielmehr in unter-
schiedlichen Gruppen in der 4. Liga, wobei die beiden Mannschaften
seit Beschwerdeeinreichung wohl auf- bzw. abgestiegen sein dürften.
Bei genauer Betrachtung fällt zudem auf, dass der Beschwerdeführer
weder als Mitglied der 1. Mannschaft noch der 2. Mannschaft aufge-
führt wird und - soweit ersichtlich - auch keine offizielle Funktion
innerhalb des Vereins ausübt. Sollte die Behauptung effektiv zutref-
fen, dass der Beschwerdeführer bei einer der Mannschaften des
FC B. zum Einsatz kommt, handelt es sich bestenfalls um gelegentli-
che Aufgebote. Sollte ein derartiges Aufgebot effektiv mit einem
Heimspiel des FC St. Gallen zusammenfallen, wäre es dem Be-
schwerdeführer problemlos zumutbar, sich gegebenenfalls bei der
Kantonspolizei St. Gallen um eine Ausnahmebewilligung zu bemü-
hen. Nach dem Gesagten ist dem Beschwerdeführer bezüglich Rayon
A bestenfalls ein kleines privates Interesse an der Aufhebung des Ra-
yonverbots zuzubilligen.
5.4.4.
Zusammenfassend steht fest, dass dem grossen öffentlichen In-
teresse an der Anordnung eines Rayonverbots lediglich untergeord-
nete private Interessen gegenüberstehen, weshalb von einem über-
wiegenden öffentlichen Interesse auszugehen ist und sich das Rayon-
verbot grundsätzlich als verhältnismässig erweist. Fraglich ist hinge-
gen, ob dies auch auf die Festlegung des Rayonverbots für die Maxi-
maldauer von drei Jahren zutrifft. Zwar ist von einer sehr grossen
Rückfallgefahr auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer anläss-
lich einer Sportveranstaltung erneut einer Zusammenrottung an-
schliesst und Landfriedensbruch begeht. Nachdem es aber im Rah-
men des am 18. Oktober 2014 begangenen Landfriedensbruchs nicht
zu massiven Gewalttätigkeiten oder zu einer erheblichen Gefährdung
von Leib und Leben gekommen ist und sich die Sachschäden in
Grenzen halten, wäre die Anordnung eines Rayonverbots für die ma-
ximal zulässige Dauer von drei Jahren unverhältnismässig. Dies um-
so mehr, als sich der Beschwerdeführer nicht aktiv an Gewalttätig-
keiten beteiligt hat und auch kein wiederholter Verstoss gegen das
2015
Polizeirecht
163
Konkordat vorliegt. Das verfügte Rayonverbot ist nach dem Gesag-
ten auf zwei Jahre zu beschränken. | 3,585 | 2,921 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-22_2015-09-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-22.pdf | AGVE_2015_22 | null | nan |
7a2810bc-13be-59e2-b0b4-5a60701685f5 | 1 | 412 | 870,375 | 1,022,889,600,000 | 2,002 | de | 2002
Strassenverkehrsrecht
143
III. Strassenverkehrsrecht
41
Vorsorglicher Führerausweisentzug; Gutachterkosten; Kostenvorschuss.
-
Der vorsorgliche Sicherungsentzug ist ein Zwischenentscheid, welcher
mittels Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden kann
(Erw. I/1/b/bb).
-
Der vorsorgliche Sicherungsentzug kann nicht losgelöst vom eigentli-
chen Entzugsverfahren verfügt werden. Es muss ein Endentscheid
folgen (Erw. II/2/a).
-
Im Entzugsverfahren stellen Gutachterkosten Verfahrenskosten dar
(Erw. II/2/b).
-
Auf das Begehren um Fortsetzung des Verfahrens betreffend Siche-
rungsentzug ist auch dann einzutreten, wenn der vorsorgliche Führer-
ausweisentzug in Rechtskraft erwachsen ist (Erw. II/2/c).
-
Keine Kostenvorschusspflicht für Gutachterkosten bei Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege (Erw. II/3/a).
-
Zulässigkeit der Androhung von Säumnisfolgen bei Verweigerung der
Bezahlung des Kostenvorschusses (Erw. II/3/b).
-
In besonderen Fällen, bei denen eine Begutachtung unumgänglich er-
scheint, der Betroffene jedoch die Leistung des Kostenvorschusses
verweigert, kann das Gutachten unter Verzicht auf einen Kostenvor-
schuss in Auftrag gegeben werden (Erw. II/3/c).
-
Das Kriterium der Nichtaussichtslosigkeit ist im nichtstreitigen Siche-
rungsentzugsverfahren erfüllt, wenn im Zeitpunkt der Einreichung
des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege noch offen ist, ob das
Verfahren
auch
wirklich
zu
einem
Entzug
führen
wird
(Erw. II/5/c/bb).
2002
Verwaltungsgericht
144
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 5. Juni 2002 in Sachen
E.F. gegen den Entscheid des Departements des Innern.
Aus den Erwägungen
I. 1. b) bb) Das Strassenverkehrsamt hat dem Beschwerdeführer
mit Verfügung vom 7. Mai 1997 den Führerausweis gestützt auf
Art. 16 Abs. 1 SVG sowie Art. 35 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 1 VZV
"bis zur Abklärung von Ausschlussgründen auf unbestimmte Zeit"
entzogen. Es handelte sich dabei unbestrittenermassen um eine vor-
läufige Massnahme bis zum definitiven Entscheid über einen allfälli-
gen Sicherungsentzug. Das Verfahren wurde daraufhin nicht fortge-
setzt und blieb gleichsam "in der Schwebe", weil sich der Beschwer-
deführer - mit der Begründung, er könne die Kosten für das Gut-
achten nicht aufbringen - der in Ziff. 2 der Verfügung angeordneten
fachärztlichen Begutachtung nicht unterzog.
Auf das Begehren des Beschwerdeführers um Fortsetzung des
Verfahrens (Verzicht auf Kostenvorschuss für das fachärztliche Gut-
achten) trat das Strassenverkehrsamt nicht ein. Eine gegen diese Ver-
fügung gerichtete Beschwerde wurde vom Departement des Innern
abgewiesen. Dieser (Zwischen-) Entscheid stellt für den Beschwer-
deführer einen tatsächlichen Nachteil dar, wirkt sich doch der vor-
sorgliche Entzug des Führerausweises und das Belassen des Verfah-
rens im "Schwebezustand" für ihn faktisch wie ein definitiver Siche-
rungsentzug aus (vgl. AGVE 1991, S. 195 f.; 1982, S. 214 f.). Das
Verwaltungsgericht ist somit für die vorliegende Beschwerde sach-
lich zuständig.
2. (...)
3. (...)
II. 1. a) Hauptgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet
das Begehren des Beschwerdeführers um Fortsetzung des Admini-
strativverfahrens betreffend Sicherungsentzug des Führerausweises.
Der Beschwerdeführer macht geltend, der Führerausweis sei ihm mit
Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 7. Mai 1997 im Sinne
einer vorläufigen Sicherungsmassnahme entzogen worden. Dieses
2002
Strassenverkehrsrecht
145
Verfahren sei jedoch nie ordentlich beendet worden. Dies sei nicht
zulässig. Gemäss verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung sei das
Administrativverfahren mit einem formellen Entscheid zu beenden,
auch wenn der Betroffene einen solchen Antrag nicht stelle. Der
Sicherungsentzug eines Führerausweises stelle einen schweren
Eingriff in den Persönlichkeitsbereich des Betroffenen dar. Bevor die
Administrativbehörde einen solchen Entzug ausspreche, habe sie von
Amtes wegen und in jedem Falle den Sachverhalt baldmöglichst
abzuklären. Die Fortführung und Beendigung des Verfahrens dürfe
nicht von der Leistung eines Kostenvorschusses für das fachärztliche
Gutachten
abhängig
gemacht
werden;
solches
würde
eine
Rechtsverweigerung darstellen. Der Beschwerdeführer beruft sich
auch auf § 22 KV, wonach alle Bürger Anspruch auf faire Behand-
lung durch die Behörden haben und ihnen wegen Unbeholfenheit
oder Prozessarmut kein Nachteil entstehen darf.
b) Das Strassenverkehrsamt nahm das Begehren des Be-
schwerdeführers um Fortsetzung des Verfahrens als Begehren um
"Wiederwägung resp. Widerruf resp. Wiederaufnahme" entgegen und
trat darauf nicht ein. Zur Begründung führte es an, der Beschwerde-
führer habe die Verfügung vom 7. Mai 1997 nicht angefochten. Er
hätte sein Begehren im Rahmen einer Beschwerde gegen jene Verfü-
gung geltend machen müssen. Mangels Anfechtung sei die Verfü-
gung vom 7. Mai 1997 in Rechtskraft erwachsen. Gründe für eine
Wiedererwägung lägen nicht vor. Der Rechtsbehelf der Widererwä-
gung dürfe nicht dazu dienen, eine unterlassene förmliche Be-
schwerde zu ersetzen. Im vorliegenden Verfahren wies das Stras-
senverkehrsamt darauf hin, dass zwischen dem vorsorglichen Siche-
rungsentzug am 7. Mai 1997 und der angefochtenen Verfügung vom
7. August 1997 lediglich eine kurze Zeitspanne verflossen sei.
c) Das Departement des Innern begründete die Zulässigkeit des
Zuwartens mit dem definitiven Entscheid damit, dass die Durchfüh-
rung der angeordneten ärztlichen Untersuchung angesichts der gege-
benen hohen Wahrscheinlichkeit eines Ausschlussgrundes im alleini-
gen Interesse des Beschwerdeführers gelegen habe. Die Entzugsbe-
hörde sei nicht zur Vornahme weiterer Massnahmen verpflichtet
gewesen, um dem Beschwerdeführer wieder eine Zulassung zum
2002
Verwaltungsgericht
146
Verkehr zu ermöglichen. Entsprechend dem Verursacherprinzip und
seinem alleinigen Interesse an der Sache folge, dass dem Beschwer-
deführer grundsätzlich die Kosten des ärztlichen Gutachtens vor-
schussweise auferlegt werden könnten. Unter Berufung auf den Bun-
desgerichtsentscheid
vom
25. März
1997
in
Sachen
A.M.
(2A.408/1996) führte das Departement des Innern zudem aus, dass
der Vorschuss des Arzthonorars nicht zu den Verfahrenskosten zu
zählen sei; dies ergebe sich aus der Rechtsnatur des Führerausweises
als einer polizeilichen Bewilligung.
2. a) Gemäss Art. 17 Abs. 1
bis
SVG (i.V.m. Art. 14 Abs. 2 lit. b,
c und d SVG) wird der Führerausweis auf unbestimmte Zeit ent-
zogen, wenn der Führer wegen Trunksucht oder anderer Suchtkrank-
heiten, aus charakterlichen oder anderen Gründen nicht geeignet ist,
ein Motorfahrzeug zu führen (Sicherungsentzug). Bis zur Abklärung
von Ausschlussgründen kann der Fahrausweis sofort vorsorglich ent-
zogen werden (Art. 35 Abs. 3 VZV). Der vorsorgliche Ausweisent-
zug kann nicht losgelöst vom eigentlichen Entzugsverfahren verfügt
werden, sondern erfolgt im Rahmen eines Sicherungsentzugs. Der
auf Art. 35 Abs. 3 VZV gestützte Führerausweisentzug stellt eine
vorsorgliche Massnahme zur Sicherstellung der gefährdeten Interes-
sen der Verkehrssicherheit bis zum Abschluss des Hauptverfahrens
dar und ist damit eine Zwischenverfügung (vgl. hiezu auch
BGE 122 II 359 ff.). Weil die Anordnung des vorsorglichen Führer-
ausweisentzugs eine
vorläufige
Massnahme darstellt, muss dieser ein
Endentscheid über die definitive Durchführung des Sicherungsentzu-
gs oder über den Verzicht auf einen Sicherungsentzug folgen (BGE
125 II 396). Dabei entspricht eine Praxis, bei der solche vorsorgli-
chen Massnahmen über längere Zeit aufrechterhalten werden, nicht
den gesetzlichen Bestimmungen (AGVE 2000, S. 126).
b) Das Departement des Innern ist der Auffassung, im vorlie-
genden Verfahren stellten die Gutachterkosten keine Verfahrenskos-
ten dar. Es beruft sich dabei auf den Bundesgerichtsentscheid vom
25. März 1997 in Sachen A.M. (2A.408/1996). In jenem Entscheid
ging es um die Wiedererteilung des Führerausweises nach einem
bereits definitiv verfügten Sicherungsentzug. Das Wiedererteilungs-
verfahren hat in jedem Fall vom Betroffenen auszugehen. In seinem
2002
Strassenverkehrsrecht
147
Gesuch hat der Gesuchsteller nachzuweisen, dass der Eignungs-
mangel, der zum Entzug des Führerausweises führte, nicht mehr
gegeben ist und er die Voraussetzungen zum Führen einer be-
stimmten Kategorie von Fahrzeugen wieder erfüllt. Den Gesuchstel-
ler trifft die Beweisführungslast. Der Nachweis der neuerlichen Fahr-
tauglichkeit, die einen Anspruch auf Erteilung des Führerausweises
begründet, ist somit Bestandteil der Substantiierung des Gesuchs.
Beim Wiedererteilungsverfahren fallen somit die Kosten für die Er-
stellung eines ärztlichen Gutachtens als mit der Substantiierungs-
pflicht zusammenhängende Parteikosten vor Einleitung des Admi-
nistrativverfahrens an und sind demgemäss keine Verfahrenskosten
(René Schaffhauser, Grundriss des Schweizerischen Strassenver-
kehrsrechts, Bd. III: Die Administrativmassnahmen, Bern 1995,
Rz. 2222; erwähnter BGE vom 25. März 1997, S. 7).
Beim vorliegenden Fall handelt es sich jedoch - im Unterschied
zum
angeführten
Bundesgerichtsentscheid
-
nicht
um
ein
Wiedererteilungsverfahren, sondern um ein Entzugsverfahren. Dieses
wird vollständig von der Offizialmaxime beherrscht, wonach die Ver-
waltungsbehörde die Herrschaft über die Einleitung eines Verfahrens
hat (Schaffhauser, a.a.O., Rz. 2647). Sofern an der Fahreignung eines
stark alkoholisierten Fahrzeuglenkers ernstliche Zweifel bestehen,
muss die Entzugsbehörde zwingend einen Sicherungsentzug ins
Auge fassen (BGE 126 II 185 f.; 125 II 400). Sodann gilt der
Untersuchungsgrundsatz, wonach der Sachverhalt von Amtes wegen
zu ermitteln ist (Schaffhauser, a.a.O., Rz. 2649). Die Verwaltungs-
behörde hat deshalb von Amtes wegen die persönlichen Verhältnisse
des Betroffenen abzuklären und in der Regel ein ärztliches Gutachten
einzuholen (BGE 127 II 125; 125 II 400; 104 Ib 48; vgl. § 20 Abs. 1
VRPG). Die damit verbundenen Kosten fallen erst nach Anhebung
des Verfahrens durch die Verwaltungsbehörde an und bilden deshalb
Verfahrenskosten.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sind deshalb im vor-
liegenden Verfahren die Gutachterkosten zu den Verfahrenskosten zu
zählen.
c) Das Strassenverkehrsamt berief sich darauf, dass der Be-
schwerdeführer die Verfügung vom 7. Mai 1997 nicht angefochten
2002
Verwaltungsgericht
148
habe, wodurch diese rechtskräftig geworden sei. Es weigerte sich
deshalb, auf das Begehren des Beschwerdeführers um Fortsetzung
des Verfahrens einzutreten.
aa) In diesem Zusammenhang stellt sich vorab die Frage, wie
Ziff. 2 jener Verfügung auszulegen sei.
Das Strassenverkehrsamt hat den Beschwerdeführer mit Verfü-
gung vom 7. Mai 1997 zur Bezahlung von Fr. 700.-- auf das Konto
des ärztlichen Gutachters aufgefordert und festgehalten, dass diese
Kosten "zu seinen Lasten" gehen würden (Ziff. 2). Bezüglich Verfah-
renskosten wurde in der gleichen Verfügung festgehalten, dass über
diese erst bei Erlass der definitiven Verfügung entschieden werde
(Ziff. 5). Vom Wortlaut scheinen diese beiden Bestimmungen einen
Widerspruch zu enthalten: Während mit der ersten Bestimmung
(Ziff. 2) - wörtlich verstanden - bereits Kosten verlegt wurden, ist
mit der zweiten Bestimmung (Ziff. 5) die Kostenverlegung auf den
Endentscheid hin aufgeschoben worden. Daher und weil die Gut-
achterkosten wie bereits ausgeführt zu den Verfahrenskosten gehö-
ren, kann Ziffer 2 nur so ausgelegt werden, dass dem Beschwerde-
führer lediglich die Pflicht zur Leistung eines Kostenvorschusses für
das Gutachten auferlegt, jedoch noch nicht über die endgültige Kos-
tentragungspflicht hinsichtlich derselben entschieden wurde. Diese
Auslegung drängt sich auch deshalb auf, weil das Strassenverkehrs-
amt den genauen Kostenbetrag für das Gutachten jeweils erst nach
Rechnungsstellung durch den Gutachter kennt; aus diesem Grund
wurde in der fraglichen Ziff. 2 ausdrücklich festgehalten, die Kosten
würden "derzeit" Fr. 700.-- betragen.
Da Ziff. 2 der Verfügung vom 7. Mai 1997 als Verpflichtung zur
Bezahlung eines Kostenvorschusses verstanden werden muss,
handelt es sich dabei um eine prozessleitende Anordnung, welche
jederzeit abänderbar ist (vgl. Michael Merker, Rechtsmittel, Klage
und Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über
die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar zu den §§ 38 - 72 VRPG,
Zürich 1998, § 44 N 41). In Rechtskraft erwachsen ist einzig der
vorsorgliche Entzug des Führerausweises.
bb) Der Beschwerdeführer hat mit seiner Eingabe lediglich
verlangt, dass das Strassenverkehrsamt auf die Leistung des ver-
2002
Strassenverkehrsrecht
149
langten Kostenvorschusses verzichte und das Verfahren betreffend
Sicherungsentzug fortsetze. Die Aufhebung des rechtskräftig ange-
ordneten vorsorglichen Sicherungsentzugs wurde nicht verlangt.
Auch gegen die Anordnung, sich ärztlich begutachten zu lassen, hatte
der Beschwerdeführer keine Einwände. Da es sich bei der Ver-
pflichtung zur Leistung eines Kostenvorschusses lediglich um eine
jederzeit abänderbare prozessleitende Anordnung handelte, war es
nicht zulässig, dass sich das Strassenverkehrsamt in diesem Punkt
einfach auf die Rechtskraft seiner Verfügung vom 7. Mai 1997 berief
und sich mit dieser Begründung weigerte, auf das Begehren des Be-
schwerdeführers um Fortsetzung des Verfahrens einzutreten.
3. Aus den dargelegten Erwägungen (siehe vorne Erw. 2) ergibt
sich, dass das richtige Vorgehen auf das Gesuch des Beschwerde-
führers vom 21. Juli 1997 hin folgendermassen gewesen wäre:
a) Grundsätzlich hätte das Strassenverkehrsamt auf das Begeh-
ren um Fortsetzung des Sicherungsentzugsverfahrens eintreten und
zuerst das Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
behandeln müssen. Im Falle einer Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege - aufgrund der Prüfung der diesbezüglichen Vorausset-
zungen (Mittellosigkeit und Nichtaussichtslosigkeit) - hätte das
Strassenverkehrsamt seine Verfügung vom 7. Mai 1997 in Ziff. 2 ab-
ändern, d.h. die Kostenvorschusspflicht aufheben und die Durchfüh-
rung einer ärztlichen Begutachtung des Beschwerdeführers unter
Verzicht auf die Leistung eines Kostenvorschusses anordnen müssen.
(...)
b) Falls jedoch das Strassenverkehrsamt bei der Prüfung des
Gesuchs um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege zum
Schluss gekommen wäre, diese könne nicht gewährt werden, hätte es
in einer weiteren Verfügung dem Beschwerdeführer für die Bezah-
lung des Kostenvorschusses eine Frist ansetzen und die Verfügung
mit der Androhung verbinden können, dass bei Nichtbezahlung des
Vorschusses innert der angesetzten Frist ohne Vorliegen eines Gut-
achtens über den definitiven Sicherungsentzug entschieden werde.
Zwar prüfen die Behörden den Sachverhalt unter Beachtung der Vor-
bringen der Beteiligten von Amtes wegen und stellen die hiezu not-
wendigen Ermittlungen an (Untersuchungsgrundsatz [§ 20 Abs. 1
2002
Verwaltungsgericht
150
VRPG]; vgl. vorne Erw. 2/b). Den Beteiligten obliegt jedoch eine
Mitwirkungspflicht (§ 21 VRPG). Es muss deshalb grundsätzlich
zulässig sein, einem Betroffenen, der die Bezahlung des Kostenvor-
schusses für das Gutachten oder die Mitwirkung bei der Erstellung
des Gutachtens verweigert, Säumnisfolgen anzudrohen. Auch das
Bundesgericht erachtet ein solches Vorgehen als zulässig (vgl. den
erwähnten Bundesgerichtsentscheid vom 25. März 1997, Erw. 2/b).
c) In besonderen Fällen, bei denen eine Begutachtung unum-
gänglich erscheint, der Betroffene jedoch die Leistung des Kosten-
vorschusses verweigert, kann das Strassenverkehrsamt das Gutachten
auch selber - unter Verzicht auf einen Kostenvorschuss - in Auftrag
geben. Dies ergibt sich aus der im Sicherungsentzugsverfahren
herrschenden Offizial- und Untersuchungsmaxime (vgl. Alfred Kölz
/ Jürg Bosshart / Martin Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechts-
pflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, § 15 N 9
und § 7 N 29).
4. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Stras-
senverkehrsamt im vorliegenden Fall verpflichtet gewesen wäre, das
Verfahren betreffend Sicherungsentzug in der dargelegten Weisen
(vorne Erw. 3/a) fortzusetzen und nach Eingang des Gutachtens mit
einer definitiven Verfügung abzuschliessen. Die Beschwerde ist des-
halb diesbezüglich gutzuheissen und die Sache zur Fortsetzung des
Verfahrens an das Strassenverkehrsamt zurückzuweisen.
5. a) Der Beschwerdeführer rügt ferner, die Vorinstanzen hätten
ihm ungerechtfertigterweise die Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege versagt, obwohl das Verfahren nicht aussichtslos und
der Beschwerdeführer prozessarm sei. Das Strassenverkehrsamt
lehnte das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
wegen Aussichtlosigkeit und unter Hinweis auf die sehr einfache
Rechtslage ab. Das Departement des Innern erklärte, bei den Gut-
achterkosten handle es sich nicht um Verfahrenskosten, weshalb
dafür das Armenrecht nicht beansprucht werden könne.
b) aa) Die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltli-
chen Rechtspflege für die Verfahrenskosten sind die Mittellosigkeit
des Beschwerdeführers und die Nichtaussichtslosigkeit der Rechts-
begehren. Bei den Gutachterkosten handelt es sich im vorliegenden
2002
Strassenverkehrsrecht
151
Fall - wie bereits dargelegt wurde (siehe vorne Erw. 2/b) - um Ver-
fahrenskosten.
bb) Für die unentgeltliche Verbeiständung bildet die in § 35
Abs. 3 VRPG umschriebene Notwendigkeit der Verbeiständung
durch einen Anwalt eine zusätzliche Voraussetzung (vgl. zum Gan-
zen AGVE 1998, S. 437 ff. mit Hinweisen). In seiner neueren Recht-
sprechung hat das Bundesgericht den verfassungsmässigen Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege in besonderen Fällen auch für das
nichtstreitige Verwaltungsverfahren bejaht und festgehalten, dass
grundsätzlich jedes staatliche Verfahren, in welches der Ge-
suchsteller einbezogen werde oder dessen er zur Wahrung seiner
Rechte bedürfe, der unentgeltlichen Rechtspflege zugänglich sei
(erwähnter BGE vom 25. März 1997 mit Hinweisen [siehe vorne
Erw. 2/b]).
Nach
bundesgerichtlicher
Rechtsprechung schliesst
sodann die Geltung der Offizialmaxime die unentgeltliche Verbei-
ständung nicht aus (BGE 125 V 34 f. mit Hinweisen). Für die Beur-
teilung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege ist grund-
sätzlich auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das Gesuch gestellt
wird (BGE 124 I 307).
c) aa) Die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers steht ausser
Frage; auch die Vorinstanzen sind von dieser Annahme ausgegangen.
bb) Zu prüfen ist ferner das Kriterium der Nichtaussichtslosig-
keit.
aaa) Vorab ist festzuhalten, dass die Nichtgewährung der unent-
geltlichen Rechtspflege nicht damit begründet werden kann, dass das
Hauptbegehren des Beschwerdeführers um Fortsetzung des Verfah-
rens von vornherein aussichtslos war. Das Strassenverkehrsamt war
verpflichtet, das Sicherungsentzugsverfahren fortzusetzen und durch
einen definitiven Entscheid abzuschliessen (siehe vorne Erw. 1/b und
4).
bbb) Als aussichtslos sind nach der Rechtsprechung Prozess-
begehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich
geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernst-
haft bezeichnet werden können. Dagegen hat ein Begehren nicht als
aussichtslos zu gelten, wenn Gewinnaussichten und Verlustgefahren
sich ungefähr die Waage halten oder sie nur wenig geringer sind als
2002
Verwaltungsgericht
152
diese. Massgebend ist dabei, ob eine Partei, die über die nötigen
finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu ei-
nem Prozess entschliessen oder davon absehen würde (AGVE 1998,
S. 438). Diese Umschreibung ist allerdings auf streitige Verfahren
zugeschnitten, bei denen es dem Beschwerdeführer anheimgestellt
wird, ob er eine Verfügung anfechten will oder nicht, während im
vorliegenden nichtstreitigen Verfahren die Administrativbehörde das
Verfahren von Amtes wegen einleitet und der Beschwerdeführer
ohne seinen Willen einbezogen wird. Das Kriterium der Nichtaus-
sichtslosigkeit ist in einem solchen Verfahren betreffend Siche-
rungsentzug des Führerausweises erfüllt, wenn im Zeitpunkt der
Einreichung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege noch offen
ist, ob das Verfahren auch wirklich zu einem Entzug führen wird.
Im vorliegenden Fall wurde das Gesuch vor Erstellung des Gut-
achtens gestellt; in einem Zeitpunkt, als noch nicht ärztlich abgeklärt
war, ob beim Beschwerdeführer wirklich eine Trunksucht vorliegt.
Zwar bestanden erhebliche Indizien für das Vorliegen einer
Trunksucht (was zur Anordnung des vorsorglichen Entzugs und der
Erstellung eines Gutachtens führte). Der Verfahrensausgang war aber
insofern offen, als der definitive Entzug von einem ärztlichen Gut-
achten abhängig gemacht wurde. Damit war das Verfahren für den
Beschwerdeführer "nicht aussichtslos" in dem Sinne, dass die Admi-
nistrativbehörde auf Grund des Gutachtens zum Schluss kommen
konnte, eine Trunksucht liege - entgegen den vorhandenen Indizien -
nicht vor.
cc) Die Rechtslage in einem Verfahren betreffend Sicherungs-
entzug ist zumindest im erstinstanzlichen Verfahren in der Regel
nicht derart kompliziert, dass die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters gerechtfertigt erscheint. Im vorliegenden Fall zog
der Beschwerdeführer eine Anwältin bei, weil er wünschte, dass das
Strassenverkehrsamt das Entzugsverfahren fortsetze, sich aber fi-
nanziell nicht in der Lage sah, den für die Erstellung des Gutachtens
(und damit für die Fortsetzung des Verfahrens) verlangten Kosten-
vorschuss zu bezahlen. Angesichts dieser ungewöhnlichen Rechts-
lage erscheint die unentgeltliche Verbeiständung des Beschwerdefüh-
rers im Sicherungsentzugsverfahren (Hauptverfahren) jedenfalls bis
2002
Strassenverkehrsrecht
153
zum Zeitpunkt des heutigen Urteils, mit welchem das Strassenver-
kehrsamt zur Fortsetzung dieses Verfahrens verpflichtet wird, ge-
rechtfertigt. Auch die Anwältin des Beschwerdeführers ist dieser
Meinung; sie verlangt die unentgeltliche Verbeiständung nicht für die
ganze Zeit bis zum Abschluss des Hauptverfahrens, sondern nur so-
lange bis sichergestellt ist, dass das Strassenverkehrsamt das Ver-
fahren fortsetzt. | 4,766 | 3,884 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-41_2002-06-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-41.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-41.pdf | AGVE_2002_41 | null | nan |
7a8fbc9d-7a72-5c54-9afa-0f70f243bd87 | 1 | 412 | 869,844 | 1,209,772,800,000 | 2,008 | de | 2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
153
[...]
26 Baubewilligung.
-
Der Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens ist nicht auf den Ge-
genstand der Einsprache beschränkt (Erw. 2).
-
Auswirkungen der Aufnahme im ISOS auf die Gemeindeautonomie
(Erw. 3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 13. Mai 2008 in Sachen
Katholische Kirchgemeinde Hägglingen gegen M. und K. (WBE.2005.288).
Sachverhalt
Die katholische Kirchgemeinde Hägglingen möchte im Dorf-
kern von Hägglingen, zwischen Kirche und Pfarrhaus, einen Pfarr-
saal realisieren. Kirche und Pfarrhaus stehen unter kantonalem Denk-
malschutz. Dem Ortsbild von Hägglingen wird im Inventar der
schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) regionale Bedeutung
attestiert.
Aus den Erwägungen
II.
1. (...)
2.
2.1.
In formeller Hinsicht macht die Beschwerdeführerin weiter gel-
tend, die Vorinstanz habe unberücksichtigt lassen, dass es den
damaligen Beschwerdeführern (den heutigen Beschwerdegegnern) in
einzelnen Punkten ihrer Verwaltungsbeschwerde an der formellen
Beschwer gefehlt habe. Die Vorinstanz habe nämlich über Beschwer-
depunkte entschieden, die von den beiden Einsprachen nicht mehr
2008
Verwaltungsgericht
154
gedeckt gewesen seien. Das gelte für die Punkte «Einpassung in die
Umgebung» und «Ortsbildschutz», welche die Beschwerdegegner in
ihren Einsprachen nicht gerügt hätten. Der Gemeinderat Hägglingen
schliesst sich in seiner Vernehmlassung dieser Begründung an.
Die Vorinstanz führt demgegenüber in ihrer Vernehmlassung
aus, die Beschwerdegegner hätten Einsprache erhoben und damit am
gemeinderätlichen Verfahren teilgenommen. Es stehe ihnen offen,
sich im Beschwerdeverfahren mit einer gegenüber dem Einsprache-
verfahren anderen oder erweiterten Begründung ihrer Beschwerde
gegen das Bauprojekt zur Wehr zu setzen. Es treffe nicht zu, dass
eine Ergänzung oder teilweise Substitution der Begründung in der
Verwaltungsbeschwerde zu einem teilweisen Nichteintreten wegen
mangelnder formeller Beschwer führe.
Die Beschwerdegegner halten dafür, Einsprachen hätten einen
Antrag und eine Begründung zu enthalten. Diese müssten mindestens
ansatzweise vorhanden sein. Bei Einsprachen von juristischen Laien
dürften an die formellen Voraussetzungen keine allzu hohen Anfor-
derungen gestellt werden. Es genüge, wenn sich der Wille und die
Absicht des Einsprechers mindestens sinngemäss seiner Eingabe ent-
nehmen lasse. Die Beschränkung der Beschwerde beziehe sich auf
die Anträge und nicht auf die Begründung. Es stehe der Rechtsmit-
telinstanz frei, ihren Entscheid anders zu begründen und allenfalls
auch auf Gründe zurückzugreifen, die im Einspracheverfahren noch
nicht vorgebracht worden seien.
2.2.
Wer es unterlässt, Einsprache zu erheben, obwohl Anlass dazu
bestanden hätte, kann nach § 4 Abs. 2 BauG den ergehenden Ent-
scheid nicht anfechten. Damit gewährt das Baugesetz die Be-
schwerdebefugnis nur demjenigen, der vorgängig bereits Einsprache
erhoben hat. Zur Frage, ob und inwieweit der Streitgegenstand be-
reits im Einspracheverfahren fixiert wird, äussert sich das Baugesetz
nicht ausdrücklich. Soweit ersichtlich hatte sich auch das Verwal-
tungsgericht mit diesem Problem bis anhin noch nie im Detail zu be-
fassen. In einem Entscheid aus dem Jahr 1998 hielt es immerhin fest,
an der Einsprache als formeller Voraussetzung für die spätere Be-
schwerdebefugnis sei festzuhalten. Diese fehle nicht nur einem Be-
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
155
schwerdeführer, der keine Einsprache erhoben habe, sondern auch ei-
nem Einsprecher, der seine Einsprache wieder zurückgezogen habe.
Das Verwaltungsgericht begründete dies mit der Pflicht, die Einspra-
che mit Antrag und Begründung zu versehen und mit dem Aspekt der
Verfahrensbeschleunigung. Inwieweit der Streitgegenstand schon
durch die Begründung der Einsprache verbindlich festgelegt wird,
liess das Verwaltungsgericht in diesem Entscheid jedoch ausdrück-
lich offen (AGVE 1998, S. 450 ff.). Dieses Problem lässt sich unter
verschiedenen Aspekten betrachten.
Für eine frühe Fixierung des Streitgegenstandes sprechen insbe-
sondere drei Gesichtspunkte:
- Eine frühe Eingrenzung des Prozessthemas würde zunächst der
beförderlichen Prozesserledigung und damit der Prozessökono-
mie dienen (vgl. Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Nor-
menkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege [VRPG] vom 9. Juli 1968, Diss., Zü-
rich 1998, § 39 N 16; Christoph Auer, Streitgegenstand und Rü-
geprinzip im Spannungsfeld der verwaltungsrechtlichen Pro-
zessmaximen, Diss., Bern 1997, S. 30 f.; Isabelle Häner / Mo-
nika Mörikofer, Eine neue Einsprache im baurechtlichen Bewil-
ligungsverfahren?, in: Zürcher Zeitschrift für öffentliches Bau-
recht [PBG] 2005 [4], S. 5 ff. [S. 10]; für das planungsrechtliche
Rechtsschutzverfahren AGVE 1999, S. 267). Indem der Gesetz-
geber die Beschwerdebefugnis in § 4 Abs. 2 BauG an die Vor-
aussetzung knüpfte, dass der Beschwerdeführer zuvor Einspra-
che erhoben hat, erhoffte er sich eine Verfahrensbeschleunigung
(Protokoll GR vom 10. März 1992, Art. 1637, S. 2733 [Votum
Regierungsrat Pfisterer]; vgl. auch Protokoll der Spezialkom-
mission Baugesetzrevision, 22. Sitzung vom 26. September
1991, S. 309 [Votum Regierungsrat Pfisterer]). Kennt der Bau-
herr die Positionen der Einsprecher in einem frühen Verfahrens-
stadium, hat er die Möglichkeit, das Bauvorhaben an die Vor-
stellungen der Einsprecher anzupassen und damit ein Be-
schwerdeverfahren zu verhindern (vgl. Merker, a.a.O., § 38
N 148; Häner / Mörikofer, a.a.O., S. 10]). Auf der anderen Seite
könnte die Möglichkeit, mit der Beschwerde über den Gegen-
2008
Verwaltungsgericht
156
stand der Einsprache hinaus zu gehen, den Einsprecher bzw. Be-
schwerdeführer dazu verleiten, seine Argumente ratenweise im
Laufe des Rechtsmittelzuges vorzutragen, was dem Gedanken
der Prozessökonomie ebenfalls widerspräche (vgl. Merker,
a.a.O., § 38 N 146, Fussnote 332 am Schluss). Diese Gefahr ei-
ner ratenweisen Ausdehnung des Streitgegenstandes darf freilich
nicht überbewertet werden. Sie wird insbesondere durch die Tat-
sache abgeschwächt, dass die Möglichkeit einer Ausdehnung
des Streitgegenstandes während des verwaltungsinternen und
-externen Verfahrens nach gefestigter Lehre und Praxis be-
schränkt ist (vgl. etwa VGE II/65 vom 28. Oktober 2003, S. 7 f.
[BE.2002.00308]; IV/1 vom 21. Februar 2003, S. 8
[BE.2002.00154]; Merker, a.a.O., § 39 N 12 ff.).
- Sodann erscheint eine frühe Fixierung des Streitgegenstandes
unter dem Aspekt der funktionellen Zuständigkeit wünschens-
wert (vgl. Merker, a.a.O., § 38 N 148; Alfred Kölz / Jürg Boss-
hart / Martin Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegege-
setz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, Vorbem. zu §§
19-28 N 87; vgl. auch Häner / Mörikofer, a.a.O., S. 11). Wenn
der Einsprecher seine Einwendungen gegen ein Bauvorhaben
schon im Einspracheverfahren vorbringen muss, ist gewährleis-
tet, dass die erstinstanzlich zuständige Baubewilligungsbehörde,
die teilweise über eine verfassungsrechtlich geschützte Autono-
mie verfügt, über die Rügen befinden kann. Mit § 4 Abs. 2
BauG, der die Beschwerdebefugnis an die vorgängige Erhebung
einer Einsprache knüpft, wollte der Gesetzgeber denn auch eine
Gesamtbeurteilung durch den Gemeinderat erreichen und damit
die Gemeindeautonomie schützen (Protokoll GR vom 10. März
1992, Art. 1637, S. 2733 [Votum Regierungsrat Pfisterer]). Auch
das Argument der Zuständigkeitsordnung bzw. der Gemeindeau-
tonomie lässt sich jedoch entkräften: Will die Beschwerdein-
stanz die Streitsache unter neuen Elementen des Sachverhalts
oder neuen Rechtsnormen beurteilen, kann und muss sie die Be-
teiligten vorgängig anhören (vgl. auch AGVE 2005, S. 338;
Thomas Merkli / Arthur Aeschlimann / Ruth Herzog, Kommen-
tar zum Gesetz vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechts-
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
157
pflege des Kantons Bern, Bern 1997, Art. 51 N 3). In Bereichen,
in denen die Gemeinde über Autonomie verfügt, kann und muss
die Beschwerdeinstanz der Vernehmlassung des Gemeinderats
besonderes Gewicht beimessen.
- Schliesslich liegt es grundsätzlich auch im Interesse der Rechts-
sicherheit und der Fairness, dass der Bauherr schon in einem
frühen Verfahrensstadium weiss, wer sich mit welchen Argu-
menten einem Bauvorhaben widersetzt (vgl. in anderem Kontext
AGVE 1999, S. 267; Merker, a.a.O., § 38 N 148). Auch diese
Gedanken kommen in den Materialien zu § 4 Abs. 2 BauG zum
Ausdruck (Protokoll GR vom 10. März 1992, Art. 1637, S. 2733
[Votum Regierungsrat Pfisterer]).
Zusammenfassend sprechen die Aspekte der Prozessökonomie,
der Zuständigkeitsordnung, der Rechtssicherheit und der Fairness
tendenziell für eine Fixierung des Streitgegenstands durch die
Einsprache.
2.2.2.
Gegen eine solche Eingrenzung des Streitgegenstands lassen
sich insbesondere drei Argumente anführen:
- Erstens lässt sich gegen eine frühe Fixierung des Streitgegen-
stands einwenden, dass sie gesetzlich nicht ausdrücklich vorge-
sehen ist. Eine Beschränkung der Beschwerdebefugnis auf den
Gegenstand der Einsprache bedürfte aber wohl einer klaren ge-
setzlichen Grundlage (so Häner / Mörikofer, a.a.O., S. 7 und
12). Ebenso wenig lässt sich eine Beschränkung des Streitge-
genstands aus den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen ableiten.
Im Gegenteil: Nach § 20 Abs. 1 VRPG prüfen die Behörden den
Sachverhalt unter Beachtung der Vorbringen der Beteiligten von
Amtes wegen und stellen die hiezu notwendigen Ermittlungen
an. Sie würdigen das Ergebnis der Untersuchung frei und wen-
den das Recht von Amtes wegen an. Der Gemeinderat hat somit
als Baubewilligungsbehörde von Amtes wegen nicht nur den
Sachverhalt abzuklären, sondern auch das Recht anzuwenden.
Im Rahmen der Rechtsanwendung hat er selbständig alle für ei-
nen bestimmten Tatsachenkomplex anwendbaren Rechtsnormen
zu suchen, diese auszulegen und die daraus sich ergebenden
2008
Verwaltungsgericht
158
rechtlichen Folgen zu ziehen (vgl. AGVE 2005, S. 337). Im
(erstinstanzlichen) Baubewilligungsverfahren verdrängen die
Untersuchungsmaxime und der Grundsatz der Rechtsanwen-
dung von Amtes wegen das Rügeprinzip, nach welchem die
rechtsanwendende Behörde nur die von den Parteien geltend ge-
machten Rechtsverletzungen und tatsächlichen Einwände prüfen
muss oder darf (vgl. Merkli / Aeschlimann / Herzog, a.a.O.,
Art. 51 N 1 f.; zum Rügeprinzip Ulrich Häfelin / Georg Müller /
Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., Zürich
2006, Rz. 1632).
Auch dürfen die Grundsätze, welche Lehre und Praxis im
Zusammenhang mit der Beschwerdeerweiterung und -änderung
entwickelt haben, nicht unbesehen auf das Einspracheverfahren
übertragen werden. Der Grund liegt in der unterschiedlichen
Funktion, welche die Baueinsprache und die Verwaltungsbe-
schwerde erfüllen. Die Baueinsprache ist zwar Voraussetzung
für eine spätere Beschwerdebefugnis (vgl. § 4 Abs. 2 BauG), sie
besitzt aber nach der Konzeption des Baugesetzes im Gegensatz
zur Verwaltungsbeschwerde nicht die Funktion eines Rechtsmit-
tels, sondern dient der formalisierten Gewährung des Gehörsan-
spruches (AGVE 2000, S. 216; Merker, a.a.O., § 45 N 11). Die
Baueinsprache unterstützt die Vorbereitung eines Verwal-
tungsaktes und stellt ein Hilfsinstrument der Baubewilligungs-
behörde im Rahmen der Sachverhaltsermittlung bzw. der Ent-
scheidfindung dar (vgl. AGVE 2000, S. 216; Auer, a.a.O.,
S. 146 f.; Merkli / Aeschlimann / Herzog, a.a.O., Art. 53 N 1;
Häner / Mörikofer, a.a.O., S. 10). Weil die Baueinsprache das
Risiko vermindern kann, dass der vorgängig Angehörte gegen
den nachfolgenden Entscheid ein Rechtsmittel einlegt, stellt sie
ein Mittel des präventiven, vorgelagerten Rechtsschutzes dar
(vgl. Michele Albertini, Der verfassungsmässige Anspruch auf
rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staa-
tes, Diss., Bern 2000, S. 78). Dagegen bezieht sich der Begriff
des Rechtsmittels nach herkömmlicher Terminologie in erster
Linie auf Einrichtungen des Prozessrechts, die der Überprüfung
eines Entscheides und damit dem nachträglichen Rechtsschutz
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
159
dienen (vgl. Merker, a.a.O., § 45 N 3). Aufgrund der Funktion,
die den Baueinsprachen nach dem Baugesetz zukommt, handelt
es sich bei ihnen nicht um Einsprachen im Rechtssinn, sondern
um Einwendungen, welche vor Erlass einer Verfügung erhoben
werden (vgl. zur Terminologie auch Häfelin / Müller / Uhlmann,
a.a.O., Rz. 1815 ff.; Alfred Kölz / Isabelle Häner, Verwaltungs-
verfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl.,
Zürich 1998, Rz. 467). Dementsprechend soll nach dem Ent-
wurf zur Teilrevision des Baugesetzes vom 3. November 2006
der Begriff der Einsprachen in § 4 Abs. 2 BauG durch denjeni-
gen der Einwendungen ersetzt werden (§ 4 Abs. 2 des Entwurfes
vom 3. November 2006 zur Teilrevision des Baugesetzes).
Da die Baueinsprache dem Erlass der anfechtbaren Verfü-
gung zeitlich vor- und das Beschwerdeverfahren dieser nachge-
lagert ist, beziehen sich auch die Regeln über die Zulässigkeit
einer Erweiterung oder Änderung von Beschwerdeanträgen auf
die Zeit
nach
Erlass einer ersten beschwerdefähigen Verfügung.
Ob eine unzulässige Ausdehnung von Beschwerdeanträgen vor-
liegt, entscheidet sich mithin aufgrund des Sachverhalts, der
nach Erlass einer beschwerdefähigen Verfügung bzw. zu Beginn
des Beschwerdeverfahrens eingebracht wurde (vgl. Merker,
a.a.O., § 39 N 13 und 17). Würden die Regeln über die Zulässig-
keit einer Beschwerdeerweiterung oder -änderung auf das Ein-
spracheverfahren übertragen, hätte dies zur Folge, dass der
Streitgegenstand schon vor Erlass der ersten beschwerdefähigen
Verfügung fixiert wird, was problematisch erscheint. Es wäre
dogmatisch nicht schlüssig, wenn der Einsprecher bereits vor
Erlass des Anfechtungsobjekts den Streitgegenstand bestimmen
müsste (vgl. Auer, a.a.O., S. 147 und 152). Da sich die Baube-
willigung von Gesetzes wegen mit sämtlichen relevanten
Aspekten eines Bauvorhabens zu befassen hat, ist das Baube-
willigungsverfahren ohnehin nicht auf den Gegenstand der Ein-
sprache begrenzt.
- Zweitens widerspräche eine Begrenzung des Streitgegenstands
durch die Einsprache auch der bisherigen Praxis, welche das
ganze Einspracheverfahren relativ formlos abgewickelt hat
2008
Verwaltungsgericht
160
(Erich Zimmerlin, Baugesetz des Kantons Aargau vom 2. Feb-
ruar 1971, Kommentar, 2. Aufl., Aarau 1985, § 151 N 5 i.V.m.
§ 4 N 5). Für diese Praxis bestehen aber durchaus sachliche
Gründe, weil Einsprachen häufig von juristischen Laien erhoben
werden (vgl. auch Auer, a.a.O., S. 153). Für dieses Verfahrens-
stadium gilt es deshalb speziell zu verhindern, dass rechtlich un-
beholfene Parteien durch formelle Fehler Nachteile erleiden
(vgl. § 20 Abs. 2 VRPG).
- Drittens liesse sich eine Beschränkung der Beschwerdebefugnis
auf den Gegenstand der Einsprache jedenfalls nicht ohne Aus-
nahme verwirklichen, weshalb auch der Gesichtspunkt der ho-
mogenen Rechtsanwendung gegen eine solche Lösung spricht:
Ist ein Baubewilligungsentscheid mit einem erheblichen Fehler
belastet, wiegt das Interesse an der Durchsetzung des materiel-
len Rechts stärker als die Anliegen, die sich für eine frühe Be-
schränkung des Streitgegenstands vortragen lassen. Dies zeigt
auch die Entstehungsgeschichte von § 4 Abs. 2 BauG. So hielt
Regierungsrat Pfisterer für den Fall, dass ein Bauvorhaben bei-
spielsweise die zulässige Anzahl Geschosse überschreiten sollte,
vor dem Grossen Rat sinngemäss das Folgende fest: In einer
solchen Situation müsse einem betroffenen Nachbarn die Be-
schwerdebefugnis selbst dann zustehen, wenn er sich auf einen
Bauabschlag durch die zuständige Baubewilligungsbehörde
verlassen und deswegen keine Einsprache erhoben habe (Proto-
koll GR vom 10. März 1992, Art. 1637, S. 2731 und 2733 [Vo-
ten M. Studer und Regierungsrat Pfisterer]). Diese Lösung har-
moniert mit der Praxis des Verwaltungsgerichts, die Ausnahmen
vom
Rügeprinzip
dann zulässt, wenn ein Fehler des angefochte-
nen Entscheides erheblich oder leicht erkennbar ist (vgl.
VGE IV/44 vom 14. August 2001 [BE.2000.00380], S. 5 f.;
VGE III/74 vom 30. August 1996 [BE.95.00010], S. 8]; vgl.
auch Merker, a.a.O., § 49 N 9 mit Hinweis). Mithin korrigiert
das Verwaltungsgericht einen solchen Mangel auch dann, wenn
ihn der Beschwerdeführer nicht gerügt hat. Eine Beschränkung
des Streitgegenstands auf die Einsprachegründe könnte im Übri-
gen auch dann nicht durchgesetzt werden, wenn es um Fragen
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
161
des Bundesrechts geht (BGE vom 14. März 2002 [1A.114/2001
+ 1P.418/2001], E. 4.3; Häner / Mörikofer, a.a.O., S. 12 f. mit
weiteren Hinweisen).
Zusammenfassend sprechen der Aspekt der fehlenden gesetzli-
chen Grundlage, der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes
wegen, die Untersuchungsmaxime, die Fürsorgepflicht der rechtsan-
wendenden Behörden und der Aspekt der homogenen Rechtsanwen-
dung gegen die Begrenzung der Beschwerdebefugnis auf den Gegen-
stand der Einsprache.
2.3.
Die Aspekte, die gegen eine Begrenzung der Beschwerdebefug-
nis auf den Gegenstand der Einsprache angeführt wurden, wiegen
schwerer als die Gegenargumente (im Ergebnis anders VGE III/40
vom 23. Mai 2006 [WBE.2003.247/251], S. 15 f.; Merker, a.a.O.,
N 16 zu § 45 VRPG). Eine Beschränkung des Streitgegenstands
liesse sich auf dieser Verfahrensstufe auch dogmatisch nicht
schlüssig begründen. Es ist deshalb anzunehmen, dass nach aargaui-
schem Baurecht die Beschwerdebefugnis nicht auf den Gegenstand
der Einsprache beschränkt ist. Mithin bildet das gesamte in der Bau-
bewilligung geregelte Rechtsverhältnis den beschwerdeweise weiter-
ziehbaren Anfechtungsgegenstand. Mit diesem Ergebnis lässt sich im
Übrigen auch der Wortlaut von § 4 Abs. 2 BauG vereinbaren. Er be-
schränkt nämlich die Beschwerdebefugnis nicht auf den Gegenstand
der Einsprache, sondern knüpft die Beschwerdebefugnis lediglich an
die Voraussetzung, dass der Beschwerdeführer überhaupt Einsprache
erhoben hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, steht es einem Be-
schwerdeführer unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauches offen, im
Beschwerdeverfahren neue Begehren zu stellen und neue Argumente
vorzutragen, die aus seiner Sicht der Baubewilligung entgegen ste-
hen.
An diesem Ergebnis ändert auch die Tatsache nichts, dass die
Baueinsprache von Gesetzes wegen mit einem Antrag und einer Be-
gründung zu versehen ist. Mit diesen formellen Anforderungen hat
sich der Gesetzgeber zwar an das Beschwerdeverfahren angelehnt,
aus den Materialien ergeben sich jedoch keine Hinweise darauf, dass
er die Baueinsprache gleichzeitig mit den prozessualen Wirkungen
2008
Verwaltungsgericht
162
einer Beschwerde ausstatten wollte. Insbesondere sind in den Ma-
terialien keine Anhaltspunkte für die Annahme vorhanden, der Ge-
setzgeber habe an die Baueinsprache eine Präklusionswirkung an-
knüpfen wollen mit der Folge, dass die Beschwerdebefugnis des Ein-
sprechers auf den Gegenstand seiner Einsprache beschränkt wäre.
Vielmehr entsprach es dem erkennbaren Wunsch des Gesetzgebers,
die formellen Anforderungen an eine Einsprache eher tief zu halten,
damit der Bürger nicht schon im Einspracheverfahren einen Anwalt
beiziehen muss (Protokoll der Spezialkommission Baugesetzrevi-
sion, 22. Sitzung vom 26. September 1991, S. 309 [Voten Magon und
Kuhn]). Ausgangspunkt für die Forderung nach einem Antrag und ei-
ner Begründung bildete offenbar der Umstand, dass Einsprachen zu-
weilen missbräuchlich und vorsorglich erhoben werden. Dieses Risi-
ko wollte der Gesetzgeber eindämmen, indem er den Einsprecher zu
einem Antrag und einer Begründung seiner Einsprache verpflichtete
(Protokoll der Spezialkommission Baugesetzrevision, 22. Sitzung
vom 26. September 1991, S. 309 [Voten Magon, Kocher, Woodtli
und Regierungsrat Pfisterer]). Gleichzeitig wurde jedoch in den
Beratungen der Spezialkommission darauf hingewiesen, dass die aar-
gauische Praxis und diejenige der Bundesbehörden hinsichtlich der
formellen Anforderungen an Antrag und Begründung einer Be-
schwerde «äussert grosszügig» seien (Protokoll der Spezialkommis-
sion Baugesetzrevision, 22. Sitzung vom 26. September 1991, S. 309
[Votum Regierungsrat Pfisterer]). Die Materialen zeigen somit, dass
der Gesetzgeber die formellen Anforderungen an Einsprachen nicht
überspannen wollte, damit diese auch Laien offen stehen. Diesem
Gedanken hätte es widersprochen, wenn der Gesetzgeber die Bauein-
sprache mit der für (Rechtsmittel typischen) Präklusionswirkung aus-
gestattet hätte. Eine solche prozessuale Wirkung würde den Einspre-
cher, der sich für den weiteren Verlauf des Verfahrens nichts verge-
ben will, in vielen Fällen dazu zwingen, bereits im Einspracheverfah-
ren einen Anwalt beizuziehen.
2.4.
Da es sich bei der Einsprache (wie gesagt) nicht um ein Rechts-
mittel handelt, das den Streitgegenstand des nachfolgenden
Beschwerdeverfahrens begrenzt, und sich die Baubewilligungsbe-
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
163
hörde von Gesetzes wegen mit allen relevanten Aspekten eines Bau-
vorhabens zu befassen hat, ist die Beschwerdebefugnis des vormali-
gen Einsprechers bei näherer Betrachtung auch nicht vom Nachweis
einer formellen Beschwer abhängig. Damit erweist sich der Einwand
der Beschwerdegegner, wonach die Vorinstanz auf einzelne Be-
schwerdebegehren mangels formeller Beschwer nicht hätte eintreten
dürfen, als unbegründet. Der angefochtene Entscheid ist unter diesem
Gesichtspunkt nicht zu beanstanden.
3.
3.1.-3.5. (...)
3.6.
Der Kirchbezirk prägt nicht nur das Ortsbild, die Katholische
Pfarrkirche, das Pfarrhaus und deren Umgebung stehen auch unter
kantonalem Denkmalschutz. Nach § 11 Abs. 3 DSD können in der
Umgebung von unter Schutz gestellten Denkmälern Bauten, techni-
sche Anlagen und sonstige Vorkehren, die ein solches Objekt in sei-
ner Wirkung beeinträchtigen, durch das Departement Bildung, Kultur
und Sport untersagt werden. Im konkreten Fall erteilte dieses
Departement seine Zustimmung zum Bauvorhaben am 13. Oktober
2004 unter Auflagen. Am 2. November 2004 stimmte auch die Ko-
ordinationsstelle Baugesuche dem Bauvorhaben zu.
3.7.
3.7.1.
Gemäss § 40 Abs. 1 BauG sind die Erhaltung, die Pflege und
die Gestaltung von Landschaften, Gebieten und Objekten des Natur-
und Heimatschutzes, von Ortsbildern, Aussichtspunkten sowie
Kulturdenkmälern, Sache des Kantons und der Gemeinden. Sie tref-
fen insbesondere Massnahmen, um
Ortsbilder entsprechend ihrer Be-
deutung zu bewahren und Siedlungen so zu gestalten, dass eine gute
Gesamtwirkung entsteht. Das Denkmalschutzdekret teilt die Zustän-
digkeiten in diesem Bereich zwischen Kanton und Gemeinde wie
folgt auf:
Der Ortsbildschutz ist Sache der Gemeinde (vgl. § 16 Abs. 1
DSD), was sich im Allgemeinen auch auf deren Entscheidungsfrei-
heit auswirkt: Dem Gemeinderat steht bei der Anwendung des kom-
munalen Rechts und von Ästhetikvorschriften ein erheblicher Ermes-
2008
Verwaltungsgericht
164
sensspielraum zu; die Gemeinde darf den verfassungsrechtlichen
Schutz beanspruchen, der ihr gestützt auf die Gemeindeautonomie
zusteht (§ 106 Abs. 1 KV). Es obliegt in erster Linie den örtlichen
Behörden, über den architektonischen Aspekt zu wachen, weshalb sie
diesbezüglich über einen breiten Ermessensspielraum verfügen. Die
Rechtsmittelinstanzen haben sich deshalb bei der Überprüfung ein-
schlägiger gemeinderätlicher Entscheide zurückzuhalten. Wo eine
Regelung unbestimmt ist und verschiedene Auslegungsergebnisse
rechtlich vertretbar erscheinen, sind die kantonalen Rechtsmittelin-
stanzen gehalten, das Ergebnis der gemeinderätlichen Rechtsausle-
gung zu respektieren und nicht ohne Not ihre eigene Rechtsauffas-
sung an die Stelle der gemeinderätlichen zu setzen (siehe etwa
BGE 115 Ia 118 f. = Pra 78/1989, S. 796 f.; AGVE 2006, S. 187 f.;
2003, S. 190). Die Grenze zwischen erlaubter Zweckmässigkeitsprü-
fung und autonomieverletzendem eigenem Ermessensentscheid der
Rechtsmittelinstanz ist nicht leicht zu ziehen (BGE vom 28. Oktober
2003 [1P.464/2003], Erw. 3.2). Die Praxis zieht die Grenze zunächst
dort, wo sich eine Auslegung mit dem Wortlaut sowie mit Sinn und
Zweck des Gesetzes nicht mehr vereinbaren lässt (AGVE 2006,
S. 188; 2005, S. 152; 2003, S. 190; 2001, S. 299 f.). Nach der Praxis
des Verwaltungsgerichts können auch überwiegende private Interes-
sen eine Korrektur des gemeinderätlichen Entscheides rechtfertigen
(vgl. AGVE 1995, S. 334; 1993, S. 382). Schliesslich erscheint ein
Eingriff dann als zulässig, wenn sich die Beurteilung der Gemeinde-
behörden auf Grund überkommunaler öffentlicher Interessen als un-
zweckmässig erweist oder wenn sie den wegleitenden Grundsätzen
und Zielen der Raumplanung nicht entspricht oder unzureichend
Rechnung trägt (BGE 116 Ia 227; BGE vom 28. Oktober 2003
[1P.464/2003], Erw. 3.2). Je weiter die öffentlichen Interessen am
Ortsbildschutz über den lokalen Bereich hinausgehen, desto kleiner
wird die Entscheidungsfreiheit der Gemeinde. Verfügt die Gemeinde
über ein Ortsbild von nationaler Bedeutung ist sie an den im ISOS
definierten Schutzgrad gebunden, so dass sie sich insofern nicht auf
die Gemeindeautonomie berufen kann. Für diese Auffassung spricht
auch der kantonale Richtplantext, nach welchem die Ortsbilder von
nationaler Bedeutung in ihrer Einstufung nach ISOS anerkannt und
2008
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
165
festgesetzt werden. Eine solche kantonalrechtliche Anerkennung
fehlt zwar für Ortsbilder, denen das ISOS (wie im konkreten Fall) re-
gionale Bedeutung attestiert. Die Einstufung gemäss ISOS stellt in
solchen Fällen immerhin ein starkes Indiz dafür dar, dass die Interes-
sen am Ortsbildschutz über den rein lokalen Bereich hinausgehen.
Auch eine solche Einstufung kann daher zu einer teilweisen Ein-
schränkung der Gemeindeautonomie führen.
3.7.2.
Anders ist die rechtliche Ausgangslage beim Denkmalschutz.
Der Schutz von Kulturdenkmälern, deren Bedeutung über die
Gemeindegrenze hinaus ragt, ist Sache des Kantons. Der Denkmal-
schutz beruht auf einer kantonalen Regelung und wird durch kanto-
nale Behörden vollzogen (vgl. DSD). Die Gemeinden können den
kantonalen Schutz von Baudenkmälern im kommunalen Recht aus-
weiten, nicht aber schmälern. Insofern ist die Autonomie der Ge-
meinden eingeschränkt.
3.7.3.
Da zum Schutz eines Denkmales auch eine Rücksichtnahme auf
dessen Umgebung gehört (vgl. § 1 Abs. 2 lit. a und § 12 Abs. 3
DSD), besteht zwischen den Fragen des Denkmal- und Orts-
bildschutzes dann ein enger Zusammenhang, wenn die Umgebung
des Denkmals zugleich ortsbildprägend ist. Das ist hier der Fall,
kommt doch dem Kirchbezirk mit den denkmalgeschützten Bauten
und ihrer denkmalgeschützten Umgebung auch in ortsbildlicher Hin-
sicht hohe Bedeutung zu. Der Vertreter der kantonalen Ortsbildpflege
brachte dies an der Verhandlung vom 6. November 2007 mit den
Worten zum Ausdruck, der Kirchbezirk liege in der «Linse», die für
das Ortsbild sehr prägend sei. Die Eidgenössischen Kommissionen
[Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege und Eidgenösische
Kommission für Natur- und Heimatschutz] sprechen im Zusammen-
hang mit dem Kirchbezirk vom «siedlungsbaulichen Nucleus des
Dorfes».
Angesichts des Sachzusammenhangs der verschiedenen mate-
riellrechtlichen Vorschriften bedarf es in Fällen der vorliegenden Art
einer Gesamtbetrachtung aus der Sicht des Denkmal- und Ortsbild-
schutzes. Sofern und soweit in einer solchen Konstellation die kanto-
2008
Verwaltungsgericht
166
nalen Interessen am Denkmalschutz eine Überprüfung des Vorhabens
verlangen, kann sich die Gemeinde nicht auf ihre Autonomie in Orts-
bildfragen berufen. Da überkommunale Interessen am Denkmal- und
Ortsbildschutz tangiert sind, rechtfertigt sich eine umfassende Prü-
fung, die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren allerdings von
Gesetzes wegen auf die Rechtskontrolle (unter Einschluss der un-
richtigen oder unvollständigen Sachverhaltsfeststellung) beschränkt
ist. Im Übrigen indiziert im konkreten Fall die Einstufung gemäss
ISOS die regionale Bedeutung des Ortsbilds, was die Entscheidungs-
freiheit der Gemeinde im Bereich des Ortsbildschutzes relativiert
(siehe vorne Erw. 3.7.1). | 6,563 | 5,121 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-26_2008-05-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-26.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-26.pdf | AGVE_2008_26 | null | nan |
7aa95862-d6ec-5c68-aebc-af3e4449b704 | 1 | 412 | 870,175 | 1,130,889,600,000 | 2,005 | de | 2005
Kantonale Steuern
121
[...]
29
Einkommenssteuer für selbstständige Anstalten des Kantons (§ 159 Abs. 1
StG).
- Die Ablieferung der AGVA an den Staat (§ 34a GebVG) stellt keine
Ausschüttung für betriebsfremde Zwecke dar und ist nicht steuer-
pflichtig.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 16. November 2005 in
Sachen Gemeinderat X. gegen Steuerrekursgericht und AGVA.
Aus den Erwägungen
3.1. Objekt der Steuer nach § 159 Abs. 1 StG sind die für be-
triebsfremde Zwecke vorgenommenen Ausschüttungen. Darunter
fallen als klassischer Anwendungsfall Gewinnausschüttungen. Ste-
hen den Geldzahlungen oder Naturalleistungen jedoch (gleichwer-
tige) Gegenleistungen gegenüber, so handelt es sich um geschäftlich
2005
Verwaltungsgericht
122
begründete Aufwendungen; es fehlt bereits an der für die Besteue-
rung vorausgesetzten Ausschüttung für betriebsfremde Zwecke
(vgl. zum Ganzen auch Béatrice Blum, in: Kommentar zum Aargauer
Steuergesetz, Band 2, 2. Auflage, Muri/Bern 2004, § 159 N 8 ff.).
Zu untersuchen ist damit, ob der von der AGVA gestützt auf
§ 34a GebVG an die Staatskasse abgelieferte Anteil des Jahresüber-
schusses als (steuerbare) Gewinnausschüttung oder als Abgeltung
einer Gegenleistung zu qualifizieren ist.
3.2. Dem Kanton kommt bei der Gebäudeversicherung im Be-
reich der Feuer- und Elementarschadenversicherung - aus der die
vorliegend streitige Ausschüttung unbestrittenermassen stammt
- Monopolstellung zu. Er hat das Recht zur Ausübung dieser
Tätigkeit der AGVA übertragen, welche im Kanton in diesem
Bereich allein und zwingend zu berücksichtigende Anbieterin ist
(siehe BGE 124 II 11 ff. zur Verfassungsmässigkeit dieses Monopols
und der Ablieferungspflicht). Es liegt deshalb die Prüfung nahe, ob
es sich bei der in § 34a GebVG vorgesehenen Zahlungsverpflichtung
um eine Abgeltung für die Übertragung dieses Rechts, also um eine
sog. Konzessionsgebühr handelt.
3.3. Die Konzessionsgebühr (bzw. Regal- oder Monopolgebühr)
ist das Entgelt für die Verleihung des Rechtes zur Ausübung einer
dem Gemeinwesen durch Regal oder Monopol vorbehaltenen Tätig-
keit oder für ein Sondernutzungsrecht an einer öffentlichen Sache
(Adrian Hungerbühler, in ZBl 104/2003, S. 509 mit Hinweis; Ulrich
Häfelin/Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2002, Rz. 2633). Der Beschwerdeführer bestrei-
tet, dass es sich bei der Ablieferung nach § 34a GebVG um eine
Konzessionsgebühr handle, da sie nicht mit der Einräumung des
Versicherungsmonopols im Bereich Feuer- und Elementarschäden
verknüpft sei und eine Konzessionsgebühr regelmässig unabhängig
vom wirtschaftlichen Erfolg erhoben werde.
3.4. Bei der Aufnahme der Ablieferungspflicht ins Gesetz stand
anlässlich der Teilrevision des GebVG vom 18. Juni 1996 die Ab-
geltung der wirtschaftlichen Vorteile im Vordergrund, die der AGVA
dank ihrer Monopolstellung zukommen. Sie sollte in dieser Hinsicht
mit dem AEW und der Kantonalbank, die damals beide als Anstalten
2005
Kantonale Steuern
123
des Kantons der Ablieferungspflicht unterstanden, gleichgestellt
werden (Botschaft des Regierungsrats vom 5. April 1995 [1. Le-
sung], S. 10 ff.; Protokoll der Grossratskommission vom 8. Juni
1995, S. 5). Diese Zielsetzung wurde in der Beratung nie in Frage
gestellt. Zu Diskussionen Anlass gab vielmehr, ob die Ablieferungs-
pflicht - nachdem eine entsprechende Vorlage 1978 in einer Volksab-
stimmung verworfen worden war - überhaupt Aufnahme ins Gesetz
finden solle und falls ja, wie die Höhe des abzuliefernden Betrags zu
bestimmen wäre (Protokoll des Grossen Rats vom 7. November 1995
[1. Lesung], Art. 1347, S. 2534; Botschaft des Regierungsrats vom
1. Mai 1996 [2. Lesung], S. 12 f.; Protokoll der Grossratskommission
vom 20. Mai 1996 [2. Lesung], S. 22 ff.; Protokoll des Grossen Rats
vom 18. Juni 1996 [2. Lesung], Art. 1727, S. 153 ff.). Es ist beab-
sichtigt, diese Abgabe mit gleicher Zielsetzung auch im Rahmen der
Revision des GebVG beizubehalten (Botschaft des Regierungsrats
vom 26. Oktober 2005 zur Revision des Gebäudeversicherungsge-
setzes [1. Lesung], S. 13 f.).
3.5. Dieser hinter der Ablieferungspflicht stehende gesetzgebe-
rische Wille ist für die rechtliche Qualifikation der in § 34a GebVG
vorgesehenen Abgabe nicht verbindlich, stellt jedoch ein gewichtiges
Indiz für deren Einordnung dar. Der im Rahmen der Gesetzesbera-
tung vorgegebene Zweck von § 34a GebVG deutet klar darauf hin,
dass mit der Abgabe die Abgeltung der wirtschaftlichen Vorteile
bezweckt wurde, die mit der (bei der Gesetzesrevision vom 18. Juni
1996) aufrecht erhaltenen Monopolstellung im Bereich der Feuer-
und Elementarschäden verbunden sind. Damit ist der Behauptung
des Beschwerdeführers, die Abgabe sei nicht mit dem Versiche-
rungsmonopol verknüpft, der Boden entzogen. Die konkrete Ausge-
staltung mag atypisch sein, da Konzessionsgebühren in der Regel
unabhängig vom wirtschaftlichen Erfolg geschuldet sind. Doch
zwingt dies nicht zu einer abweichenden rechtlichen Qualifikation.
Ohnehin ist es nicht völlig unüblich, die Höhe der Konzessionsge-
bühren von den jährlichen Geschäftsergebnissen anhängig zu ma-
chen (vgl. AGVE 1978, S. 390 für das AEW). Im Ergebnis steht
ausser Frage, dass es sich dabei um eine Abgeltung für das vom
Kanton eingeräumte Exklusivrecht handelt.
2005
Verwaltungsgericht
124
3.6. Die limitierte Abgabe nach § 34a GebVG stellt nach den
gemachten Erwägungen eine Gegenleistung für die Verleihung des
dem Kanton durch Monopol vorbehaltenen Rechts dar, Gebäude
gegen die Risiken von Feuer- und Elementarschäden zu versichern.
Damit fehlt es an der für die Besteuerung im Sinne von § 159 Abs. 1
StG vorausgesetzten Ausschüttung für betriebsfremde Zwecke. | 1,324 | 1,060 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-29_2005-11-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-29.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-29.pdf | AGVE_2005_29 | null | nan |
7b29e60f-25cd-53a9-8e60-f9782d57b673 | 1 | 412 | 870,895 | 1,317,686,400,000 | 2,011 | de | 2011
Verwaltungsgericht
262
62 Vollstreckung
-
Eine Entscheidung über baurechtliche Fragen nach § 159 Abs. 1
BauG ist im Vollstreckungsverfahren unzulässig.
-
Erfolgt die Zwangsandrohung in der zu vollstreckenden Beseiti-
gungsanordnung selbst (§ 81 Abs. 2 VRPG), handelt es sich um Ne-
benpunkte des (Haupt-) Entscheides über die Beseitigung.
-
Die Zuständigkeit der Rechtsmittelinstanzen ergibt sich aus dem
Grundsatz, dass eine Zuständigkeit, die in der Hauptsache gegeben
ist, sich auch auf Nebenpunkte erstreckt.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 25. Oktober 2011 in Sa-
chen A. gegen Gemeinderat B. (WBE.2011.262).
Aus den Erwägungen
1.
Im angefochtenen Entscheid hat der Gemeinderat B. vom Be-
schwerdeführer alternativ die Einreichung eines Baugesuches oder
die Beseitigung der umstrittenen Baute innert 30 Tagen verlangt. Das
Vorliegen einer andern Sachverfügung, welche vollstreckt werden
könnte, wird vom Gemeinderat nicht geltend gemacht und ergibt sich
auch nicht aus den Akten.
Die Beschwerde gegen den angefochtenen Entscheid hat grund-
sätzlich aufschiebende Wirkung (§ 46 Abs. 1 VRPG). Während der
Dauer des Beschwerdeverfahrens ist die Beseitigungsanordnung
daher nicht vollstreckbar. Eine Vollstreckungsmassnahme kann bis
zum rechtskräftigen Entscheid über die Bewilligungsfähigkeit und
die Beseitigung des umstrittenen Autounterstandes nicht angeordnet
werden. Die Vollstreckungsanordnungen in der Verfügung vom
11. Juli 2011 sind mit andern Worten davon abhängig, dass die Be-
seitigungsverfügung zuerst in formelle Rechtskraft erwächst bzw. der
Beschwerdeführer innert Frist kein Baugesuch einreicht. Dem Wort-
laut nach erfasst der Entscheid auch die Ersatzvornahme für die
Einreichung eines Baugesuchs, was wohl kaum beabsichtigt ist.
2011
Verwaltungsrechtspflege
263
Kann eine Sachverfügung mangels formeller Rechtskraft oder
Rechtsbeständigkeit nicht vollstreckt werden, fehlen die Vorausset-
zungen für eine Vollstreckung. Zwangsmassnahmen gegen den Be-
schwerdeführer können zurzeit und solange keine rechtskräftige An-
ordnung über die Beseitigungspflicht hinsichtlich des Autounter-
standes besteht, weder angedroht noch angeordnet werden.
Die Beschwerde ist daher begründet und gutzuheissen.
2.
2.1.
Der Gemeinderat hat in Anwendung von § 159 Abs. 1 BauG
den Beschwerdeführer aufgefordert, entweder ein Baugesuch einzu-
reichen oder den Autounterstand zu entfernen. Die Zwangsmassnah-
men im angefochtenen Entscheid beziehen sich auf die Beseiti-
gungsalternative. Der Gemeinderat geht im angefochtenen Entscheid
implizit davon aus, dass der bestehende Unterstand nicht bewilli-
gungsfähig ist.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts darf eine
Beseitigung gestützt auf § 159 BauG erst angeordnet werden, wenn
feststeht, dass eine eigenmächtig ausgeführte Baute dem objektiven
Baurecht widerspricht (vgl. AGVE 2004, S. 157, mit Hinweisen).
Voraussetzung einer Beseitigung ist also die materielle Rechtswid-
rigkeit, die einer nachträglichen Bewilligung entgegensteht, sowie
der Entscheid, dass der rechtsmässige Zustand wiederherzustellen ist.
Eine Beseitigungsanordnung geht über die technische Umset-
zung einer Verpflichtung hinaus und hat den Charakter eines neuen
Sachentscheids, da sie neue Pflichten (Beseitigung und Herstellung)
anordnet, über die noch nicht materiell-rechtlich entschieden worden
ist. Die Entscheidung über diese Rechtsfragen ist vorliegend offen.
Über die materielle Rechtswidrigkeit als Grundvoraussetzung einer
in Anwendung von § 159 Abs. 1 BauG auf Herstellung des rechts-
mässigen Zustandes abzielenden Anordnung ist im ordentlichen
Verwaltungsverfahren zu entscheiden.
Eine Entscheidung über die baurechtlichen Fragen ist im Voll-
streckungsverfahren unzulässig. Die Vollstreckung und das Be-
schwerdeverfahren gemäss § 83 Abs. 1 VRPG sind besondere Ver-
fahren (VGE IV/64 vom 23. September 2011 [WBE. 2011.204], S.
2011
Verwaltungsgericht
264
10 f.). Bei der Prüfung der Baubewilligungspflicht und im nachträg-
lichen Bewilligungsverfahren sind - anders als in der Zwangsvoll-
streckung - auch die Interessen und Verfahrensrechte von Nachbarn
zu wahren. Im Regelfall werden daher die Pflicht zur Beseitigung
gemäss § 159 Abs. 1 BauG und die Zwangsvollstreckung einer
rechtskräftigen Beseitigungsanordnung in zwei verschiedenen Ver-
fahren angeordnet. Von der Zweiteilung des Entscheidverfahrens, das
zur Beseitungspflicht einerseits und zur Zwangsvollstreckung ander-
seits führt, geht grundsätzlich auch das Baugesetz aus (§ 159 Abs. 1
und 2 BauG). Entsprechend ist eine Gabelung des Rechtsmittelweges
ausgeschlossen, da der Beseitungsentscheid mit Beschwerde beim
Departement Bau, Verkehr und Umwelt (BVU), allenfalls beim Re-
gierungsrat (§ 61 Abs. 1 und 2 der Bauverordnung vom 25. Mai 2011
[BauV; SAR 713.121]) anfechtbar ist.
2.2.
Das Verwaltungsrechtspflegegesetz sieht die Möglichkeit vor,
dass die Zwangsandrohung in der Sachentscheidung (Voll-
streckungs-) Entscheid ergehen kann (§ 81 Abs. 2 VRPG). Werden
die Zwangsmassnahmen in der Sachverfügung angedroht, handelt es
sich um Nebenpunkte des (Haupt-) Entscheides über die Beseitigung.
Die Androhung ist von der Rechtsbeständigkeit und Vollstreckbarkeit
der Beseitigungsanordnung abhängig. Die Zuständigkeit der Rechts-
mittelinstanzen ergibt sich aus dem Grundsatz, dass eine Zuständig-
keit, die in der Hauptsache gegeben ist, sich auch auf Nebenpunkte
erstreckt (AGVE 1973, S. 267; 1991, S. 195; 2000, S. 352; Michael
Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem
aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar
zu den §§ 38-72 VRPG, Zürich 1998, § 44 N 11). Eine Gabelung des
Rechtsweges findet dementsprechend auch in diesen Fällen nicht
statt. | 1,277 | 991 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2011-62_2011-10-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-62.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-62.pdf | AGVE_2011_62 | null | nan |
7b534f19-947b-56af-9c60-6f3e56c97297 | 1 | 412 | 871,332 | 991,353,600,000 | 2,001 | de | 2001
Verwaltungsgericht
230
56 Anstaltseinweisung;
Beschwerdelegitimation.
- Der Ehemann ist als nahestehende Person gemäss Art. 397d ZGB zur
Beschwerde legitimiert (Erw. 2/a).
- Fehlendes Rechtsschutzinteresse nach Übertritt in eine andere Klinik
(Erw. 2/b).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 12. Juni 2001 in
Sachen H.U. gegen Verfügung des Bezirksarzts Z.
Aus den Erwägungen
2. Verfügungen und Entscheide kann jedermann durch Be-
schwerde anfechten, der ein schutzwürdiges eigenes Interesse gel-
tend macht (§ 38 Abs. 1 VRPG).
a) Zunächst muss der Beschwerdeführer in seinem eigenen In-
teresse "berührt", d.h. durch die falsche Rechtsanwendung irgendwie
in seiner Interessensphäre in höherem Masse als jedermann bzw. die
Allgemeinheit beeinträchtigt sein, weil er eine besondere, beach-
tenswerte, nahe Beziehung zur Streitsache aufweist. Dies ist vorlie-
gend zweifellos der Fall: Der Beschwerdeführer als Ehemann gilt als
nahestehende Person im Sinne von Art. 397d ZGB und ist deshalb
zur Beschwerdeführung berechtigt (Thomas Geiser, in: Basler Kom-
mentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel/Genf/München
1999, Art. 397d ZGB N 13).
b) aa) Zweite Voraussetzung der Legitimation ist die Schutz-
würdigkeit des Interesses. "Schutzwürdig" ist das Interesse, wenn der
Ausgang des Rechtsmittelverfahrens dem Beschwerdeführer einen
naheliegenden, praktischen Nutzen bringt; dazu gehört im Allgemei-
nen, dass das Rechtsschutzinteresse
aktuell
oder in einem qualifi-
zierten Sinne künftig ist. Der Beschwerdeführer muss nicht bloss
beim Einreichen der Beschwerde, sondern auch noch im Zeitpunkt
der Urteilsfällung ein aktuelles, praktisches Interesse an der Aufhe-
bung oder Änderung des angefochtenen Entscheids haben. Damit
soll sichergestellt werden, dass die rechtsanwendende Behörde kon-
krete und nicht bloss theoretische Fragen entscheidet. Fehlt es am
2001
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
231
aktuellen Interesse im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung, ist auf
das Rechtsmittel nicht einzutreten. Fällt das aktuelle Interesse nach
Beschwerdeeinreichung aber vor der Urteilsfällung weg, ist die Be-
schwerde als gegenstandslos von der Kontrolle abzuschreiben AGVE
1996, S. 329; Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normen-
kontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über die Verwal-
tungsrechtspflege vom 9. Juli 1968, Diss. Zürich 1998, § 38 N 139
ff. mit Hinweisen).
bb) Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts fällt das
Rechtsschutzinteresse an der Beurteilung einer Verfügung betreffend
fürsorgerische Freiheitsentziehung bei Entlassung oder Entweichung
aus der Klinik dahin. Dafür sind folgende Erwägungen massgebend
(AGVE 1997, S. 247 f.; AGVE 1987, S. 217 f., mit Verweisungen;
AGVE 1983, S. 124 f.):
aaa) Das Verwaltungsgericht ist bei der fürsorgerischen Frei-
heitsentziehung eingesetzt, um im Rechtmittelverfahren darüber zu
befinden, dass niemand ohne ausreichenden Grund in einer Anstalt
bleiben muss. Dagegen ist es nicht Sinn des Beschwerdeverfahrens
gegen eine Einweisung, die Voraussetzungen für eine allfällige
Schadenersatzklage nach Art. 429a ZGB zu prüfen. Für die Beurtei-
lung entsprechender Ansprüche ist der Zivilrichter zuständig (§ 67s
EG ZGB). Allenfalls ist die Rechtmässigkeit der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung in einem späteren Haftungsprozess vorfrage-
weise zu überprüfen. Nach Aufhebung der fürsorgerischen Freiheits-
entziehung bzw. nach Entlassung oder Entweichung aus der Klinik
besteht deshalb kein rechtliches Interesse des Betroffenen mehr, die
Nichtigkeit oder die Unrichtigkeit des Einweisungsentscheids fest-
stellen zu lassen.
bbb) Ohne materielle Prüfung der Beschwerde erwächst dem
Beschwerdeführer kein erheblicher und deshalb unzumutbarer
Nachteil. Wenn die entlassene oder entwichene Person in die Anstalt
zurückgebracht wird, kann eine allfällige neue Einweisungsverfü-
gung oder die Abweisung eines jederzeit möglichen Entlassungsge-
suchs erneut mit Beschwerde angefochten werden; in diesem Fall
wird ohnehin aufgrund des dannzumaligen Sachverhalts zu entschei-
den sein.
2001
Verwaltungsgericht
232
ccc) Im Falle einer Entweichung wäre die gemäss Art. 397f
Abs. 3 ZGB erforderliche mündliche Einvernahme der von der für-
sorgerischen Freiheitsentziehung betroffenen Person in der Regel gar
nicht durchführbar.
cc) Im vorliegenden Fall war die Ehefrau des Beschwerdefüh-
rers bereits im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung aus der PKK
entlassen und in die Klinik Littenheid verlegt worden. Eine zwangs-
weise Rückversetzung in die Klinik Königsfelden ist gestützt auf die
angefochtene bezirksärztliche Verfügung vom 26. Mai 2001 nicht
möglich. Deshalb besteht kein aktuelles Rechtsschutzinteresse an der
materiellen Prüfung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (Erw.
2/b/bb vorstehend). Auf die Beschwerde kann deshalb nicht einge-
treten werden. | 1,090 | 852 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-56_2001-06-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-56.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-56.pdf | AGVE_2001_56 | null | nan |
7c573de7-2075-5deb-a134-c4076495c9fc | 1 | 412 | 871,382 | 1,425,254,400,000 | 2,015 | de | 2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
112
15
§ 96 und 102 StG
Berücksichtigung eines Wohnrechts, welches beim Kauf eines Grund-
stücks durch den Verkäufer vorbehalten wurde und in der Folge erlosch
(infolge Todes des Berechtigten), bei der Gewinnermittlung im Falle des
späteren Verkaufs des Grundstücks (Wert des Wohnrechts Teil der Anla-
gekosten?).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 31. März 2015, i.S. KStA
gegen X. (WBE.2014.381).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Behält sich der Veräusserer eines Grundstücks die Nutzniessung
oder ein Wohnrecht am veräusserten Grundstück vor, fragt sich zu-
nächst: Stellt dieser Vorgang einen Verkauf mit anschliessender ent-
geltlicher Einräumung der Personaldienstbarkeit durch den Käufer
oder den Verkauf eines mit einer Personaldienstbarkeit (sog. Vorbe-
haltsnutzniessung bzw. -wohnrecht) belasteten Grundstücks dar?
Dem Gesetz ist keine direkte Antwort auf diese Frage zu
entnehmen. Die ältere aargauische Praxis zu § 102 StG betreffend
den Erlös bei der Grundstückgewinnsteuer behandelte den Barwert
der entsprechenden Nutzniessung bzw. des Wohnrechts als Bestand-
teil des Erlöses, d.h. rechnete den Barwert zu diesem hinzu (vgl.
dazu M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
, in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/
D
AVE
S
IEGRIST
/D
IETER
W
EBER
[Hrsg.], Kommentar zum Aargauer
Steuergesetz, 4. Aufl., Muri 2015, § 102 N 9). Im Ergebnis ging die
ältere Praxis somit davon aus, dass der Verkäufer zunächst das un-
belastete Grundstück veräussere und sich unmittelbar anschliessend
daran ein Wohnrecht an diesem einräumen lasse. Eine solche Praxis,
welche das Bundesgericht in einem Entscheid vom 23. Januar 2002
2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
113
(2P.253/2001) mit Bezug auf den Kanton Uri für haltbar befunden
hat, befolgen auch heute noch verschiedene Kantone (so ins-
besondere der Kanton Zürich; vgl. dazu ausführlich F
ELIX
R
ICHNER
/W
ALTER
F
REI
/S
TEFAN
K
AUFMANN
/H
ANS
U
LRICH
M
EUTER
, Kommentar zum Zürcher Steuergesetz, 3. Aufl., Zürich
2013, § 220 N 40 ff.).
In einem Urteil vom 9. Februar 2000 (StE 2000 B 26.26 Nr. 3)
stellte das Bundesgericht hingegen für den Bereich der direkten Bun-
dessteuer fest, bei der Vorbehaltsnutzniessung werde nicht etwa ein
Grundstück veräussert und hernach an diesem durch den Erwerber
ein Nutzniessungsrecht zugunsten des Veräusserers bestellt. Vielmehr
werde ein bereits - durch den Veräusserer - mit einem Nutznies-
sungsrecht belastetes Grundstück verkauft. Im Anschluss an dieses in
der Folge bestätigte (vgl. Urteil vom 31. Januar 2002 [= StE 2002 B
25.3 Nr. 28 = StR 2002, 322]; seitherige konstante bundesgerichtli-
che Praxis; vgl. zuletzt Urteil vom 6. September 2010 [2C_256/2010
= StE 2011 B 25.3 Nr. 37] Erw. 2.2.2 mit Nachweisen) und von der
Lehre begrüsste Urteil (vgl. dazu T
HOMAS
S
TADELMANN
, Grund-
stückveräusserung mit gleichzeitiger Begründung eines Nutzungs-
rechts, Jusletter vom 25. November 2002, sowie M
ADELEINE
S
IMONEK
, Die steuerrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts
im Jahre 2002, Direkte Bundessteuer, ASA 73, S. 11 mit Hinweis;
vgl. dagegen zum Festhalten an der bisherigen Praxis im Kanton
Zürich R
ICHNER
/F
REI
/K
AUFMANN
/M
EUTER
, a.a.O., § 220 N 41)
wurde die Praxis im Kanton Aargau geändert und wird seither nur
der Wert des übertragenen (nackten) Eigentums, nicht jedoch der
Wert eines anlässlich eines Verkaufs vom Veräusserer begründeten
Wohnrechts als Erlös gemäss § 102 Abs. 1 StG berücksichtigt (so
auch K
LÖTI
-W
EBER
, a.a.O., § 102 N 9).
1.2.
An dieser Praxis zum Erlösbegriff gemäss § 102 Abs. 1 StG
bzw. der ihr zugrunde liegenden Antwort auf die Frage nach der Be-
handlung der Vorbehaltsnutzniessung ist festzuhalten, da allein sie
der wirtschaftlichen Realität entspricht. Zwar verändert sich der
objektive Wert der Liegenschaft durch die Begründung der Vorbe-
haltsnutzniessung nicht. Hingegen kommt dem Grundstück aus der
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
114
Perspektive des Erwerbers als Folge der Vorbehaltsnutzniessung ein
geringerer Wert zu, als wenn er die Liegenschaft unbelastet erworben
hätte. Der Wert erholt sich aus seiner Sicht vollständig erst wieder
mit dem Erlöschen von Nutzniessung bzw. Wohnrecht (vgl. dazu
auch P
ETER
L
OCHER
, Besteuerung von Renten und rentenähnlichen
Rechtsverhältnissen in der Schweiz, SJZ 1991, S. 187 [zit. Renten]).
Der Käufer - im zu beurteilenden Fall die Beschwerdegegnerin - er-
wirbt ein mit einer Personaldienstbarkeit belastetes Grundstück und
zahlt dementsprechend weniger dafür als für ein unbelastetes Grund-
stück. Dass in Kaufverträgen häufig (und auch hier) der Wert der
Personaldienstbarkeit beziffert wird, ändert nichts. Darin liegt entge-
gen der Auffassung der Beschwerdegegnerin - und auch entgegen
dem Merkblatt des KStA zur Grundstückgewinnsteuer vom
9. Dezember 2002 (vgl. Merkblatt, S. 19 Ziff. 8.1.) - keine weitere
Leistung gemäss § 102 Abs. 1 StG.
2.
2.1.
Gemäss § 96 Abs. 2 lit. c StG ist der Veräusserung gleichge-
stellt "die Belastung eines Grundstückes mit privatrechtlichen
Dienstbarkeiten oder öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkun-
gen, wenn diese die unbeschränkte Bewirtschaftung oder den Ver-
äusserungswert des Grundstückes dauernd und wesentlich beein-
trächtigen und dafür ein Entgelt entrichtet wird". Die Personalser-
vituten (Nutzniessung und Wohnrecht) erfüllen, weil sie naturgemäss
von beschränkter Dauer sind, das Erfordernis der dauernden Belas-
tung nicht (K
LÖTI
-W
EBER
, a.a.O., § 96 N 45 mit Hinweisen). Die
entgeltliche Einräumung einer Nutzniessung oder eines Wohnrechts
berührt somit nach aargauischer Praxis die Substanz des betroffenen
Grundstücks nicht (bzw. nicht in einem ausreichend erheblichen
Umfang). Daher ist darin keine die Grundstückgewinnsteuer aus-
lösende (Teil-)Veräusserung zu erblicken.
Es ist nicht auszuschliessen, dass diese Praxis nicht in allen Fäl-
len die wirtschaftliche Realität exakt widerspiegelt. Zwar liegt näm-
lich auf der Hand, dass z.B. eine bloss für eine relativ kurze Zeit-
spanne (sei es nun durch fixe Bestimmung des Zeitraums oder weil
die Lebenserwartung des Berechtigten nicht hoch ist) eingeräumte
2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
115
Personaldienstbarkeit keine erhebliche Werteinbusse für das be-
troffene Grundstück bedeutet. Umgekehrt ist ebenso klar, dass bei
Einräumung einer Personaldienstbarkeit für einen langen Zeitraum
zwar nicht der objektive, aber doch der subjektive Wert der belaste-
ten Liegenschaft für deren Eigentümer eine erhebliche Einbusse er-
fährt. Dementsprechend rechtfertigt sich die bisherige Praxis jeden-
falls für voraussichtlich zeitlich absehbare Personaldienstbarkeiten.
Der Anwendungsbereich der Grundstückgewinnsteuer würde über-
dehnt, würde die entgeltliche Begründung einer zeitlich relativ be-
schränkten Personaldienstbarkeit als Veräusserungsvorgang behan-
delt. Nicht zu beantworten ist hier im Übrigen die Frage, ob bei der
Einräumung zeitlich langwährender Personaldienstbarkeiten eine
Unterstellung unter die Grundstückgewinnsteuer zutreffend wäre.
2.2.
Die dargelegte Praxis zu § 96 Abs. 1 lit. c StG - keine Grund-
stückgewinnsteuerfolgen bei
entgeltlicher
Begründung einer Per-
sonaldienstbarkeit, weil kein oder nur unwesentlicher Substanzein-
griff - hat auch Bedeutung für die
unentgeltliche
Begründung von
Dienstbarkeiten; eine solche erfolgte hier im Zusammenhang mit
dem Erwerb der Liegenschaft durch die Beschwerdegegnerin im Jahr
2008 (vgl. zur Unentgeltlichkeit der Vorbehaltsnutzniessung bzw. des
-wohnrechts P
ETER
L
OCHER
, a.a.O., S. 187 Ziff. 3.3.3.).
Wirtschaftlich betrachtet unterscheiden sich nämlich entgeltli-
che Einräumung einer Personaldienstbarkeit und unentgeltliche Be-
gründung einer solchen mit Bezug auf die Werteinbusse des betroffe-
nen Grundstücks nicht. Auch bei der Errichtung eines Vorbehalts-
wohnrechts (der Eigentümer behält wirtschaftlich gesehen den Nut-
zungswert seiner Liegenschaft) und der unentgeltlichen Einräumung
eines Wohnrechts durch den Eigentümer an einen Dritten ist nach
Begründung der Personaldienstbarkeit im Ergebnis wirtschaftlich ge-
sehen der Wert des Grundstücks für den Eigentümer in gleicher
Weise wie bei entgeltlicher Begründung des gleichen Rechts belastet:
beim Vorbehaltswohnrecht für den Erwerber, bei der unentgeltlichen
Einräumung einer Personaldienstbarkeit für den Eigentümer. Auch
wenn sich in diesen Fällen die Frage nach einer Anwendung der
Grundstückgewinnsteuer naturgemäss nicht stellt - es fehlt nicht nur
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
116
an einer Veräusserung, sondern an deren Entgeltlichkeit -, so liegt
doch auf der Hand, dass auch in diesen Fällen zumindest bei zeitlich
absehbarer Länge der eingeräumten bzw. vorbehaltenen Personal-
dienstbarkeit kein wesentlicher Substanzeingriff in das betroffene
Grundstück (bzw. in dessen Wert) resultiert.
Führt aber die Errichtung einer Personaldienstbarkeit zu keiner
Substanzminderung beim betroffenen Grundstück, so kann konse-
quenterweise auch bei Erlöschen oder Ablösung einer solchen keine
Substanzzunahme angenommen werden. Dieser Überlegung folgt
denn auch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts des Kantons
Bern (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 3. Mai
1993 [NStP 1993, 96 ff.]; vgl. zur Kritik an diesem Entscheid P
ETER
L
OCHER
, Nutzniessungsbelastungen, Bemerkungen zum VGE vom
3. Mai 1993, [Bemerkungen] BN 1994, S. 214 ff.; vgl. auch
M
ARKUS
L
ANGENEGGER
, in: C
HRISTOPH
L
EUCH
/P
ETER
K
ÄSTLI
/
M
ARKUS
L
ANGENEGGER
[Hrsg.], Praxiskommentar zum Berner
Steuergesetz, Muri 2011, Art. 137 N 47).
3.
Diese Überlegung hat zur Folge, dass entgegen der Auffassung
der Beschwerdegegnerin der Wert des beim Erwerb der Liegenschaft
im Jahr 2008 vorbehaltenen Wohnrechts bei der Berechnung des aus
der Weiterveräusserung des Grundstücks im Jahre 2013 resultieren-
den Grundstückgewinns ausser Betracht fällt bzw. nicht als Anlage-
kosten angerechnet werden kann. Es fehlt eben wie dargelegt, jeden-
falls nach aargauischer Auffassung, an einer Substanzzunahme, wel-
che im Rahmen des Grundsatzes der vergleichbaren Verhältnisse
(vgl. dazu ausführlich P
ETER
L
OCHER
, Das Objekt der bernischen
Grundstückgewinnsteuer, Bern 1976, S. 66 ff; L
OCHER
vertritt frei-
lich hinsichtlich des Erlöschens von Personaldienstbarkeiten die Auf-
fassung, dabei handle es sich um eine zu berücksichtigende
Substanzzunahme; diese Auffassung ist für das aargauische Grund-
stückgewinnsteuerrecht wie erwähnt abzulehnen) zu berücksichtigen
wäre. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde des KStA und zur
Aufhebung des Urteils des Spezialverwaltungsgerichts vom
18. September 2014. Damit wird ohne weitere Anordnung der Ein-
2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
117
spracheentscheid der Steuerkommission Y. vom 30. April 2014 wie-
derhergestellt. | 2,569 | 2,035 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-15_2015-03-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-15.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-15.pdf | AGVE_2015_15 | null | nan |
7cd27c0d-d290-5ab4-b2b0-0430516df88e | 1 | 412 | 869,619 | 983,577,600,000 | 2,001 | de | 2001
Submissionen
311
XII. Submissionen
69 Rechtsmissbräuchliche Beschwerdeführung; Wahl der Verfahrensart;
Konsequenzen eines verfrühten Vertragsabschlusses.
- Bei der Wahl einer nicht den Vorschriften entsprechenden Verfah-
rensart handelt es sich um einen schwerwiegenden Rechtsmangel, der
auch zu berücksichtigen ist, wenn er nicht gerügt wird; der Vorwurf
der rechtsmissbräuchlichen Beschwerdeführung ist nicht beachtlich
(Erw. I/4).
- Ausnahmecharakter einer freihändigen Vergabe gestützt auf § 8
Abs. 3 lit. b-h SubmD; für die freihändige Vergabe und den damit
verbundenen Ausschluss des freien Wettbewerbs müssen stets sach-
liche Gründe vorliegen (Erw. II/1).
- Ein unter Verletzung von § 21 Abs. 1 SubmD verfrüht abgeschlosse-
ner Vertrag befindet sich bis zur Rechtskraft des Zuschlags bzw. bis
zum Entzug der aufschiebenden Wirkung einer Submissionsbe-
schwerde durch die Rechtsmittelinstanz in einem Schwebezustand
und entfaltet keine Rechtswirkungen (Erw. II/2).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 8. März 2001 in
Sachen G. AG gegen den Beschluss des Gemeinderats B.
Aus den Erwägungen
I. 4. a) Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, der
Auftrag für die Modernisierung des Gemeinschaftsantennenanlage-
netzes hätte nicht freihändig vergeben werden dürfen, sondern hätte
öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Die Vergabestelle be-
zeichnet die Rüge als rechtsmissbräuchlich, da die Beschwerdeführe-
rin von Anfang an darüber im Bild gewesen sei, dass der Auftrag
freihändig vergeben werde; zudem habe sie eine Offerte einreichen
können, für die sie mit Fr. 5'000.-- entschädigt worden sei. Auf die
2001
Verwaltungsgericht
312
Beschwerde sei daher gar nicht einzutreten. Die Darstellung der Ver-
gabestelle wird von der Beschwerdeführerin ausdrücklich bestritten.
Sie sei von der Vergabestelle stets im Glauben gelassen worden, dass
nach Einreichung der ,,Projektstudie" und der ,,Richtofferte" eine
dekretsgemässe Submission stattfinden werde.
b) Den Akten lässt sich Folgendes entnehmen: Die Beschwer-
degegnerin reichte im Mai 1999 zunächst ein ,,detailliertes Richt-
projekt mit Kostenberechnung für den Umbau des Gemeinschafts-
netzes auf die Bandbreite von 606 MHz" ein; die dadurch entstehen-
den Kosten wurden mit Fr. 410'276.40 veranschlagt. Im Oktober
1999 offerierte die Beschwerdegegnerin den Umbau der ,,Gross-Ge-
meinschafts-Anlage auf 860 MHz inkl. Einbau Retourweg" zum
Preis von Fr. 600'584.--. Ein weiteres Angebot der Beschwerdegeg-
nerin, diesmal über Fr. 558'254.70, datiert vom 21. März 2000. Der
Gemeinderat B. beschloss am 13. September 1999, die Beschwerde-
führerin gegen eine Entschädigung von Fr. 5'000.-- mit der Erstel-
lung ,,eines Projekts für den Umbau der GA B. ab Hub Schulanlage
bis zu den einzelnen optischen/elektrischen Wandlern mit einer
Bandbreite von 5 - 606 MHz" zu beauftragen. Als Option war der
Ausbau auf eine erweiterte Bandbreite von 862 MHz zu berechnen.
Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin am 20. Januar 2000 eine
,,Projektstudie über Zweiweg-Kommunikation mit LWL-Übertra-
gung" und eine ,,Richtofferte GGA B." zum Preis von Fr. 569'988.--
ein; am 16. März 2000 folgte ein redimensioniertes Projekt, wie-
derum verbunden mit einer Richtofferte mit Gesamtkosten von
Fr. 394'965.--. Am 7. Juni 2000 genehmigte die Einwohnergemein-
deversammlung das Kreditbegehren über Fr. 550'000.--.
Das dargestellte Vorgehen der Vergabestelle kann objektiv be-
trachtet auch dahingehend verstanden werden, dass es zunächst nur
um das Erstellen von Projekten und Richtofferten für die Moderni-
sierung der Anlage (namentlich für den Kreditantrag zuhanden der
Einwohnergemeindeversammlung), nicht aber um die Vergabe der
Ausführung ging. Namentlich die Tatsache, dass in den Akten mehr-
fach von ,,Richtprojekt", ,,Richtofferte" oder auch ,,Mitarbeit wäh-
rend der Projektphase" die Rede ist, aber auch der Umstand, dass die
Beschwerdeführerin für die Ausarbeitung ihrer Unterlagen - abwei-
2001
Submissionen
313
chend vom Grundsatz, dass die Ausarbeitung der Angebote ohne
Vergütung erfolgt (§ 14 Abs. 2 SubmD) - mit Fr. 5'000.-- entschädigt
wurde, lassen ihre Darstellung, sie sei von der nachfolgenden Durch-
führung einer dekretskonformen Submission ausgegangen, zumin-
dest nicht als unglaubhaft erscheinen, auch wenn die Vergabestelle
eine öffentliche Ausschreibung des Auftrags offensichtlich nie beab-
sichtigte (vgl. auch Erw. II/2/b hienach). Wie es sich damit verhält,
kann für die Eintretensfrage aber offen bleiben. Nach der Rechtspre-
chung des Verwaltungsgerichts handelt es sich bei der Wahl einer
nicht den Vorschriften entsprechenden Verfahrensart um einen derart
schwerwiegenden Rechtsmangel, dass er auch dann zu berücksichti-
gen ist, wenn er nicht gerügt wird, gegebenenfalls sogar gegen den
Willen des Beschwerdeführers (AGVE 1997, S. 343 f.; VGE III/113
vom 28. November 1997 [BE.97.00249] in Sachen D. C., S. 6 ff.;
vgl. auch Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission für das
öffentliche Beschaffungsrecht [ERKB] vom 19. Juli 1999, in: VPB
64/2000 Nr. 8, S. 81 f.). Nur so kann eine Umgehung des Gebots der
öffentlichen Ausschreibung für grössere Beschaffungen (vgl. Art. 5
BGBM; Erw. II/1/a hienach) wirksam verhindert und der freie Wett-
bewerb sichergestellt werden. Der Vorwurf der rechtsmissbräuchli-
chen Prozessführung (§ 3 Abs. 2 VRPG) erweist sich vor diesem
Hintergrund als nicht beachtlich, und auf die Beschwerde ist einzu-
treten. Die Verfahrenswahl ist demzufolge zu überprüfen.
II. 1. a) Nach Art. 5 Abs. 2 BGBM sorgen die Kantone und
Gemeinden sowie andere Träger kantonaler und kommunaler Aufga-
ben dafür, dass die Vorhaben für umfangreiche öffentliche Einkäufe,
Dienstleistungen und Bauten sowie die Kriterien für Teilnahme und
Zuschlag amtlich publiziert werden. Diesem Auftrag ist der Kanton
Aargau nachgekommen, indem in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1
SubmD vorgesehen ist, dass im offenen oder selektiven Verfahren zu
vergebende Aufträge öffentlich auszuschreiben sind (vgl. §§ 12
Abs. 1 und 34 Abs. 1 SubmD; vgl. auch Botschaft des Regierungsrats
vom 13. Oktober 1999 zur Teilrevision des SubmD, S. 1 f.). Gemäss
§ 8 Abs. 1 SubmD sind Aufträge dann im offenen oder selektiven
Verfahren zu vergeben, wenn der geschätzte Wert des Einzelauftrags
bei Aufträgen des Bauhauptgewerbes Fr. 500'000.-- (lit. a) bzw. bei
2001
Verwaltungsgericht
314
Lieferungen, Dienstleistungen und Aufträgen des Baunebengewerbes
Fr. 250'000.-- (lit. b) erreicht. § 8 Abs. 3 SubmD regelt die Fälle, in
denen ein Auftrag freihändig vergeben werden darf.
b) Gegenstand der vorliegenden Submission bildet die Moder-
nisierung des örtlichen CATV-Verteilnetzes auf 860 MHz. Der Auf-
trag umfasst im Wesentlichen die folgenden Leistungen: ,,Netzmo-
dernisierung auf 860 MHz, inkl. Tiefbauarbeiten, schlüsselfertig
projektiert und installiert. HF-Material, HF-Installations- und Tief-
bauarbeiten, Einbau Retourweg. Inbetriebnahme und Einpegelungs-
arbeiten." Es handelt sich somit um einen kombinierten bzw. ,,ge-
mischten" Bau-, Liefer- und Dienstleistungsauftrag. Es ist seitens der
Verfahrensbeteiligten zu Recht unbestritten, dass die Vergabe dieses
Auftrags durch die Gemeinde als Eigentümerin der Antennenanlage
und des CATV-Netzes dem Submissionsdekret untersteht. Die Ein-
wohnergemeindeversammlung hat am 7. Juni 2000 einem Kreditbe-
gehren über Fr. 550'000.-- für die Modernisierung der Gemein-
schaftsantennenanlage zugestimmt. Gemäss Beschluss des Gemein-
derats ist der Auftrag zum Preis von Fr. 505'000.-- an die Beschwer-
degegnerin erteilt worden. Die vom Submissionsdekret für die Ver-
gabe im offenen oder selektiven Verfahren in § 8 Abs. 1 vorgesehe-
nen Schwellenwerte von Fr. 500'000.-- bzw. Fr. 250'000.-- sind somit
in jedem Fall überschritten, zumal der Anteil an den dem Bauhaupt-
gewerbe zuzurechnenden Tiefbauarbeiten verhältnismässig klein und
somit der tiefere Schwellenwert von § 8 Abs. 1 lit. b SubmD im Vor-
dergrund steht.
Offen bleiben kann, ob der Auftrag auch in den Anwendungsbe-
reich der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaf-
fungswesen (IVöB) vom 25. November 1994, welcher der Kanton
Aargau mit Beschluss des Grossen Rates vom 26. November 1996
beigetreten ist, und unter das GATT/WTO-Übereinkommen über das
öffentliche Beschaffungswesen vom 15. April 1994 (GPA [= Go-
vernment Procurement Agreement]), in Kraft getreten für die
Schweiz am 1. Januar 1996, fällt. Die interkantonalen und internatio-
nalen Bestimmungen sind, unabhängig von ihrer Geltung für die
vorliegende Vergabe, jedenfalls für die Auslegung des Submissions-
dekrets beizuziehen (vgl. AGVE 1998, S. 406 f.).
2001
Submissionen
315
c) Auch ein die Schwellenwerte des Submissionsdekrets für das
offene oder selektive Verfahren überschreitender Auftrag kann frei-
händig vergeben werden, wenn ein Grund im Sinne von § 8 Abs. 3
lit. b - h SubmD gegeben ist. Auch Art. 5 Abs. 2 BGBM steht dem
grundsätzlich nicht entgegen (Verwaltungsgericht Zürich, in: Bau-
rechtsentscheide [BEZ] 20/2000 Nr. 26, S. 52).
aa) Die Vergabestelle beruft sich auf § 8 Abs. 3 lit. e und lit. g
SubmD. Gemäss § 8 Abs. 3 lit. e SubmD ist die freihändige Vergabe
zulässig, wenn auf Grund der technischen oder künstlerischen Be-
sonderheiten oder wegen Schutzrechten des geistigen Eigentums nur
eine Person als Anbietende in Frage kommt. § 8 Abs. 3 lit. g SubmD
gestattet die freihändige Vergabe, wenn im Zusammenhang mit
einem vergebenen Auftrag Ergänzungsarbeiten, -lieferungen oder -
dienstleistungen notwendig werden.
bb) aaa) Die Vergabestelle macht im Wesentlichen geltend, das
Kabelnetz der Gemeinde B. werde seit Jahren durch die Beschwer-
degegnerin betreut und ausgebaut. Im heiklen Bereich der elektroni-
schen Signalübertragung wolle der Gemeinderat bei der Modernisie-
rung die gleichen technischen Komponenten verwenden, wie sie im
bestehenden Netz schon vorhanden seien. Dabei handle es sich um
spezifische Produkte der Beschwerdegegnerin. Hinzu komme, dass
quer durch die Gemeinde B. das Hauptkabel der Beschwerdegegne-
rin verlaufe; die Beschwerdegegnerin könne daher ihre bestehenden
Verbindungen benutzen. Einer Konkurrenzfirma stünden diese Ka-
belleitungen nicht oder nur gegen entsprechende Bedingungen zur
Verfügung.
bbb) Auch die Beschwerdegegnerin beruft sich auf technische
Besonderheiten des Auftrags, die eine freihändige Vergabe rechtfer-
tigten. Netzeigentümerin sei zwar die Einwohnergemeinde B.; die
Programmzulieferung erfolge jedoch durch die Beschwerdegegnerin
von einer von dieser betriebenen Kopfstation aus. Die Beschwerde-
gegnerin besorge auch den technischen Unterhalt der Anlage. Ferner
habe die Beschwerdegegnerin im Schulhaus K. einen Hub (Über-
gangsstation) installiert. Von dort führe die neue Glasfaser-Versor-
gungsleitung Richtung D. und L. Neben der digitalen Versorgung
solle der Ausbau des Netzes im weiteren zu einer Zweiwegtauglich-
2001
Verwaltungsgericht
316
keit führen, welche die von der Beschwerdegegnerin angebotenen
Einführung des Highspeed-Internets ermögliche. Wenn bei der vor-
handenen Konstellation - Anlageeigentum der Gemeinde, Pro-
grammzulieferung und Wartung der Anlage durch die Beschwerde-
gegnerin - für die bauliche Erweiterung eine andere Firma zum Zuge
käme, entstünden massive technische Probleme. Eine derartige
Dreiteilung liege auch nicht im Interesse der angeschlossenen Teil-
nehmer. Angesichts der verschiedenen Verantwortlichkeiten würde
unklar, an wen Störungsmeldungen zu richten seien und wer für die
Behebung zuständig sein würde. Diese Situation würde zu Differen-
zen führen, die sich zu Lasten der Abonnenten auswirken würden.
Bei der Fehlereingrenzung entstünden wohl auch Geheimhaltungs-
probleme. Schliesslich befänden sich im Rohrblock der Gemeinde
Kabel der Beschwerdegegnerin, die von der Gemeinde wieder mit-
benützt würden.
cc) aaa) Abgesehen von den öffentlichen Beschaffungen von
geringem Wert gemäss § 8 Abs. 3 lit. a SubmD sind Aufträge grund-
sätzlich zwingend im offenen, selektiven oder Einladungsverfahren
zu vergeben. Bei den in § 8 Abs. 3 lit. b - h SubmD aufgeführten
Fällen handelt es sich um Ausnahmen, in denen der freie Wettbewerb
eingeschränkt und der Auftrag freihändig vergeben werden kann. Bei
der Anwendung der Ausnahmebestimmungen ist daher eine gewisse
Zurückhaltung geboten. Die einzelnen Ausnahmefälle sind allerdings
zum Teil so umschrieben, dass der Vergabebehörde ein erheblicher
Ermessensspielraum bleibt. Dieser darf jedoch nicht dazu miss-
braucht werden, den Auftrag direkt an einen bevorzugten Anbieter zu
vergeben (vgl. Peter Gauch/Hubert Stöckli, Vergabethesen 1999,
Thesen zum neuen Vergaberecht des Bundes, Freiburg 1999, S. 38,
Ziff. 15.4). Für die freihändige Vergabe und den damit verbundenen
Ausschluss des freien Wettbewerbs müssen stets sachliche Gründe
bestehen (AGVE 1998, S.
407). Das GATT-Übereinkommen
(Art. XV GPA), die Verordnung des Bundesrats über das öffentliche
Beschaffungswesen vom 11. Dezember 1995 (Art. 13 VoeB) sowie
die Vergaberichtlinien aufgrund der IVöB vom 1. Dezember 1995
(§ 8 VRöB) enthalten mit § 8 Abs. 3 lit. b - h SubmD vergleichbare
Regelungen. Auch bei diesen Bestimmungen wird der Ausnahme-
2001
Submissionen
317
charakter betont (vgl. z.B. Musterbotschaft zur Interkantonalen Ver-
einbarung über das öffentliche Beschaffungswesen, in: Schweizeri-
sche Rechtserlasse, Öffentliches Beschaffungsrecht, Submissions-
recht, hrsg. von Christian Bock, Basel/Frankfurt a. M.1996, S. 238;
Peter Galli/Daniel Lehmann/Peter Rechsteiner, Das öffentliche Be-
schaffungswesen in der Schweiz, Zürich 1996, Rz. 181, 188 ff.; Ver-
waltungsgericht Zürich, in: BEZ 20/2000 Nr. 26, S. 26).
bbb) Nach der von der Vergabestelle angerufenen Bestimmung
von § 8 Abs. 3 lit. e SubmD kann ein Auftrag ohne öffentliche Aus-
schreibung vergeben werden, wenn aufgrund der technischen oder
künstlerischen Besonderheiten oder wegen Schutzrechten des geisti-
gen Eigentums
nur eine Person
als Anbietende in Frage kommt (vgl.
auch die vergleichbaren Formulierungen in § 8 Abs. 1 lit. c VRöB;
Art. XV lit. b GPA; Art. 13 Abs. 1 lit. c VoeB). Dieser Ausnahmetat-
bestand ist erst dann erfüllt, wenn der Auftrag aufgrund der genann-
ten Besonderheiten nur an einen bestimmten Auftraggeber erteilt
werden kann, d.h. wenn dieser als einziger in der Lage ist, ein ent-
sprechendes Produkt zu liefern bzw. eine entsprechende Bau- oder
Dienstleistung zu erbringen (vgl. Verwaltungsgericht Zürich, in: BEZ
20/2000, Nr. 26, S. 53). Diese Voraussetzung ist vorliegend zweifel-
los nicht erfüllt. Weder die Vergabestelle noch die Beschwerdegegne-
rin selbst behaupten, die Beschwerdegegnerin sei als einzige Anbie-
terin in der Lage, die fraglichen Leistungen zur Modernisierung des
CATV-Netzes zu erbringen, und eine öffentliche Ausschreibung des
Auftrags habe sich mangels weiterer Anbieter erübrigt.
Die Vergabestelle und die Beschwerdegegnerin machen aber
geltend, der Verzicht auf eine öffentliche Ausschreibung rechtfertige
sich vor allem durch die Tatsache, dass die Beschwerdegegnerin
Signallieferantin sei und bislang auch für den Ausbau und den tech-
nischen Unterhalt der Antennenanlage verantwortlich gewesen sei.
Durch die Vergabe des Erweiterungs- bzw. Modernisierungsauftrags
an eine Drittfirma würden in erheblichem Mass technische Probleme
und Koordinationsschwierigkeiten entstehen. Sie bringen somit vor,
die konkrete Situation in Bezug auf die Anlage in B. lasse vernünfti-
gerweise nur eine Arbeitsvergabe an die Beschwerdegegnerin in Be-
tracht kommen.
2001
Verwaltungsgericht
318
ccc) Fest steht, dass die Einwohnergemeinde B. Eigentümerin
der 1981 erstellten Gemeinschaftsantennenanlage ist. Die Gemeinde
verfügt heute über ein 450-MHz-Netz (teilweise 606 MHz) für die
Radio-TV-Übertragung. An das Kabelnetz angeschlossen sind rund
1'550 Abonnenten. Signallieferantin ist gestützt auf einen Signallie-
fervertrag vom 5./18. Mai 1993 zwischen der Gemeinde B. und der
H. AG (einer Rechtsvorgängerin der Beschwerdegegnerin) die Be-
schwerdegegnerin. Die Anlieferung der CATV-Programme erfolgt
derzeit - sie soll voraussichtlich im Jahr 2001 ausser Betrieb genom-
men werden - noch ab der Kopfstation R., die der Beschwerdegegne-
rin gehört. Die Instandhaltung der Gemeinschaftsantennenanlage
(Sekundärnetz und Verteilnetz bis zu den Hausübergabestellen) wird
ebenfalls durch die Beschwerdegegnerin wahrgenommen. Umfasst
werden namentlich Reparaturarbeiten und der Betrieb eines Stö-
rungsdienstes. Weiter besteht zwischen der Einwohnergemeinde B.
und der Beschwerdegegnerin eine Vereinbarung vom 31. Mai /
15. Juni 1999 bezüglich gemeinsamer Grabarbeiten und Benützung
von Rohranlagen sowie der zugehörigen Verteilanlagen auf dem Ge-
meindegebiet. Daraus ergibt sich vorab die Berechtigung der Be-
schwerdegegnerin, für die Verlegung von Kabeln teilweise Rohran-
lagen der Gemeinde B. mitzubenützen. Die Beschwerdegegnerin hat
schliesslich im Schulhaus K. einen Raum gemietet, der als techni-
scher Raum bzw. als Knotenpunkt im Kommunikationsnetz (Hub)
der Beschwerdegegnerin benützt wird. Von dieser Übergangsstation
führt eine neue Glasfaser-Versorgungsleitung, die von der Kopfsta-
tion R. gespiesen wird, Richtung D. und L. Es ist offensichtlich, dass
die Beschwerdegegnerin derzeit für den Betrieb und den Unterhalt
der Gemeinschaftsantennenanlage eine gewichtige Rolle übernom-
men hat.
Diese Sachlage verlangt nun aber nicht, auch den Auftrag für
die Modernisierung der Anlage zwingend der Beschwerdegegnerin
zu vergeben. Art. 3.1 des Signallieferungsvertrags ist beispielsweise
zu entnehmen, dass sich die Signalbezügerin, d.h. die Gemeinde B.
verpflichtet, ,,beim Bau bzw. Ausbau ihrer örtlichen Verteilanlagen
Material zu verwenden, welches den jeweils gültigen Vorschriften
der PTT für Gemeinschaftsantennenanlagen entspricht". Diese Ver-
2001
Submissionen
319
pflichtung spricht klarerweise gegen die Annahme, nur die Be-
schwerdegegnerin als Signallieferantin sei technisch zum Ausbau des
Netzes in der Lage und die Gemeinde dürfe nicht ein Drittunterneh-
men damit beauftragen. Dadurch wird überdies auch die Feststellung
der Vergabestelle relativiert, man wolle im heiklen Bereich der elekt-
ronischen Signalübertragung die gleichen technischen Komponenten,
d.h. spezifische Produkte der Beschwerdegegnerin verwenden, wie
sie im bestehenden Netz schon vorhanden seien. Die Verwendung
dieser Produkte ist technisch offensichtlich nicht zwingend. Weder
der Signallieferungsvertrag noch der Instandhaltungsvertrag
enthalten irgendwelche sonstigen Anhaltspunkte, die aus technischer
Sicht den Ausbau der Anlage nur durch die Beschwerdegegnerin in
Betracht kommen lassen. Die von der Vergabestelle und der Be-
schwerdegegnerin angeführten Gründe zeigen zwar, dass eine Ver-
gabe der Modernisierung an die Beschwerdegegnerin die notwendige
Koordination erleichtern würde. Diese kann indessen - wie die Be-
schwerdeführerin zu Recht vorbringt - durchaus auch anderweitig
sichergestellt werden. Koordinationsfragen von mehr oder weniger
grosser Tragweite stellen sich letztlich bei jeder Sanierung, Erweite-
rung oder Modernisierung einer bestehenden Baute oder technischen
Anlage. Weder der ursprüngliche Ersteller noch der mit dem Betrieb
oder der Instandhaltung beauftragte Unternehmer können deswegen
solche Aufträge für sich beanspruchen, obschon mit einer direkten
Vergabe zweifellos gewisse Vorteile verbunden sind. Solche Aufträge
sind, soweit sie die massgeblichen Schwellenwerte erreichen, im
Normalfall öffentlich auszuschreiben. Die von der Vergabestelle und
von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente zeigen zwar
auf, dass eine Auftragserteilung an die Beschwerdegegnerin mit
gewissen Vorteilen verbunden und aus ihrer Sicht wünschbar ist.
Indessen handelt es sich hierbei nicht um ,,technische Besonderhei-
ten" im Sinne von § 8 Abs. 3 lit. e SubmD, welche die Auftragser-
teilung an die Beschwerdegegnerin unabdingbar machen und eine
Vergabe an einen Dritten vernünftigerweise nicht in Betracht kom-
men lassen.
ddd) Ebenfalls nicht anwendbar ist im vorliegenden Fall § 8
Abs. 3 lit. g SubmD, der es im Zusammenhang mit einem bereits
2001
Verwaltungsgericht
320
vergebenen Auftrag gestattet, notwendige Ergänzungsarbeiten,
-lieferungen oder -dienstleistungen freihändig (an den Zuschlags-
empfänger des Hauptauftrags) zu vergeben, und auf den sich die
Vergabestelle ebenfalls beruft. Der Bau der Gemeinschaftsantennen-
anlage ist im Jahr 1981 erfolgt. Wer die Anlage seinerzeit gebaut hat,
ist nicht bekannt, spielt für das vorliegende Verfahren aber auch
keine Rolle. Die rund 19 Jahre später erfolgende Modernisierung und
Erweiterung der Anlage lassen sich zweifellos nicht als ,,notwendige
Ergänzungsarbeiten" im Zusammenhang mit einem vergebenen Auf-
trag im Sinne von § 8 Abs. 3 lit. g SubmD qualifizieren. Gemeint
sein können damit (auch wieder im Sinne des Ausnahmecharakters
dieser Art von freihändiger Vergabe [Erw. c/cc/aaa hievor]) nur Leis-
tungen, die einen unmittelbaren sachlichen und zeitlichen Zusam-
menhang zum Hauptauftrag aufweisen. Gegen die Annahme von
blossen Ergänzungsarbeiten, -lieferungen oder -dienstleistungen
spricht schliesslich auch der mehr als 0,5 Mio. betragende Wert des
zu vergebenden Auftrags.
dd) Die Voraussetzungen für eine freihändige Vergabe gestützt
auf § 8 Abs. 3 lit. e und g SubmD sind somit nach dem Gesagten
nicht erfüllt. Andere Ausnahmegründe gemäss § 8 Abs. 3 SubmD
fallen hier nicht in Betracht. Der Verzicht auf die öffentliche Aus-
schreibung des Auftrags und die Vornahme einer freihändigen Ver-
gabe mit lediglich zwei Anbietern waren damit nicht gerechtfertigt.
Der der Beschwerdegegnerin erteilte Zuschlag erweist sich infolge-
dessen nicht nur als dekretswidrig, sondern verstösst auch gegen
Art. 5 Abs. 2 BGBM.
2. a) aa) Gemäss § 27 Abs. 1 SubmD kann das Verwaltungsge-
richt die Aufhebung der Verfügung beschliessen und sie an die Ver-
gabestelle mit oder ohne verbindliche Anordnungen zurückweisen
(vgl. auch § 37 Abs. 4 SubmD). Dies gilt jedenfalls dann uneinge-
schränkt, wenn zwischen der Vergabestelle und dem Zuschlagsemp-
fänger noch kein (privatrechtlicher) Vertrag abgeschlossen worden
ist. Ist der Vertrag jedoch bereits (rechtsgültig) abgeschlossen, bleibt
der Beschwerdeinstanz bei Gutheissung der Beschwerde gemäss
Art. 9 Abs. 3 BGBM und Art. 18 Abs. 1 und 2 IVöB nur die Mög-
lichkeit, die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung festzu-
2001
Submissionen
321
stellen (vgl. auch Art. 32 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das öffent-
liche Beschaffungswesen [BoeB] vom 16. Dezember 1994). Das
Submissionsdekret selbst enthält für diesen Fall keine ausdrückliche
Regelung, und es kennt überdies im Unterschied zur IVöB oder zum
BoeB den automatischen Suspensiveffekt der Beschwerde (vgl.
Art. 17 IVöB; Art. 28 BoeB; § 26 SubmD). Es will also einen er-
höhten und möglichst wirksamen Rechtsschutz gewähren. Aus diesen
Umständen kann nun allerdings nicht gefolgert werden, für das
Verwaltungsgericht sei die Tatsache eines bereits geschlossenen pri-
vatrechtlichen Vertrags schlechterdings bedeutungslos, und es sei
dessen ungeachtet in jedem Fall befugt, einen sich als rechtsfehler-
haft erweisenden Zuschlag aufzuheben. Vielmehr hat auch das Ver-
waltungsgericht das Faktum des zivilrechtlichen Vertragsschlusses
im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zu würdigen (siehe VGE
III/110 vom 20. August 1999 [BE.1999.00114] in Sachen H., S. 8 f.;
statt vieler: Verfügung vom 9. Januar 2001 im Verfahren S. AG ge-
gen Gemeinderat F. [BE.2000.00405]).
bb) Beim Beschaffungsvertrag eines Gemeinwesens, das in die-
ser Phase nicht mehr hoheitlich handelt, unterstehen Vertragsab-
schluss und Vertrag in der Regel dem privaten Vertragsrecht und
nicht dem öffentlichen Recht (vgl. Gauch/Stöckli, a.a.O., S. 70).
Nach den anwendbaren Regeln des privaten Vertragsrechts, d.h. ins-
besondere den Vorschriften des Obligationenrechts (OR) vom
30. März 1911, bestimmen sich namentlich Zustandekommen und
Gültigkeit des Vertrags. Der Abschluss des Vertrags geschieht ge-
mäss Art. 1 Abs. 1 OR durch Austausch übereinstimmender Willens-
erklärungen. Damit ist der Vertrag zustande gekommen, und es tritt
grundsätzlich die Vertragswirkung ein. Der abgeschlossene Vertrag
kann aber auch an einem Mangel leiden, der ihn ungültig macht (vgl.
dazu Peter Gauch/Walter Schluep/Jörg Schmid/Heinz Rey, Schwei-
zerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 7. Auflage,
Zürich 1998, Rz. 286 ff.). Es kann nun nicht Sache des Verwaltungs-
gerichts sein, sich im Rahmen eines Submissionsbeschwerdeverfah-
rens in umfassender Weise mit der Gültigkeit des zivilrechtlichen
Vertrags auseinanderzusetzen. Dies ist gegebenenfalls Aufgabe des
Zivilrichters. Das Verwaltungsgericht hat sich daher nur, aber im-
2001
Verwaltungsgericht
322
merhin,
vorfrageweise
von der Tatsache des Vertragsschlusses und
davon zu überzeugen, dass keine Anhaltspunkte für die Unwirksam-
keit oder Nichtigkeit des Vertrags (vgl. Art. 20 OR), die von Amtes
wegen und auch gegen den Willen der Vertragsparteien zu berück-
sichtigen wären, gegeben sind (erwähnter VGE vom 20. August 1999
in Sachen H., S. 9; vgl. auch ERKB, in: VPB 62/1998 Nr. 79, S. 796;
Peter Galli, Rechtsprechung der Eidgenössischen Rekurskommission
über das öffentliche Beschaffungsrecht [BRK], Die ersten Entscheide
und ihre Tragweite, in: Nicolas Michel/Roger Zäch,
Submissionswesen im Binnenmarkt Schweiz, Zürich 1998, S. 112;
Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 3. Februar 1999, in:
Freiburgische Zeitschrift für Rechtsprechung 1999, S. 117).
cc) Gelangt das Verwaltungsgericht aufgrund seiner vorfrage-
weisen Prüfung zum Schluss, der privatrechtliche Vertrag leide nicht
an derart erheblichen Rechtsmängeln, dass sie ihn unwirksam ma-
chen, kann es somit gestützt auf Art. 9 Abs. 3 BGBM den Zuschlag
nicht mehr aufheben, sondern lediglich dessen Rechtswidrigkeit
feststellen (vgl. Erw. a/aa hievor). Im Anschluss an eine festgestellte
Rechtswidrigkeit kann dann bei der Beschwerdeinstanz ein Schaden-
ersatzbegehren gestellt werden, wobei der Schadenersatz allerdings
auf die Aufwendungen, die den Anbietenden im Zusammenhang mit
dem Vergabe- und Rechtsmittelverfahren erwachsen sind, beschränkt
ist (§ 38 SubmD; Art. 34 VRöB). Eine weitergehende Ersatzpflicht
der Vergabebehörde könnte sich allenfalls aus der zivilrechtlichen
Haftung bei culpa in contrahendo ergeben (Gauch/Schluep/Schmid,
a.a.O., Rz. 1062).
Ergibt demgegenüber die Prüfung, dass der bereits geschlossene
Vertrag an einem erheblichen Rechtsmangel leidet, der ihn unwirk-
sam macht, kann das Verwaltungsgericht folgerichtig den Zuschlag
trotz des Vertragsschlusses aufheben, falls sich die erfolgte Vergabe -
wie in diesem Fall - als rechtwidrig erweist. Im Anschluss daran
hätte die Vergabestelle über das weitere Vorgehen zu befinden (vgl.
dazu AGVE 1997, S. 360).
b) Im vorliegenden Fall haben der Gemeinderat B. und die Be-
schwerdegegnerin am 4. bzw. 11. September 2000 einen Werkvertrag
über die Modernisierung des örtlichen CATV-Verteilnetzes auf 860
2001
Submissionen
323
MHz inkl. Retourweg zum Pauschalpreis von Fr. 505'000.-- unter-
zeichnet. Aufgrund der Akten muss daher von einem bereits in der
ersten Septemberhälfte 2000 abgeschlossenen Werkvertrag zwischen
dem Einwohnergemeinde B. als Bauherrin und der Beschwerdegeg-
nerin als (General)unternehmerin ausgegangen werden. Der Be-
schwerdeführerin wurde mit Schreiben vom 7. September 2000 mit-
geteilt, dass der Gemeinderat den Auftrag für die Modernisierung des
Netzes an die Beschwerdegegnerin erteilt hat. Erst am 2. Oktober
2000 (auf ausdrückliches Verlangen der Beschwerdeführerin) erliess
der Gemeinderat einen Vergabebeschluss, mit dem der Beschwerde-
führerin die anderweitige Auftragsvergabe förmlich eröffnet wurde.
Die unzutreffende Rechtsauffassung des Gemeinderats B.
(Erw. II/1/c hievor) führte dazu, dass er sich als Vergabestelle durch
den Abschluss des Werkvertrags bereits am 4./11. September 2000,
d.h. noch vor der formlosen Mitteilung an die Beschwerdeführerin,
über § 21 Abs. 1 SubmD hinweggesetzt hat, wonach der Vertrag mit
den Anbietenden erst abgeschlossen werden darf, wenn die Be-
schwerdefrist unbenutzt abgelaufen ist (lit. a) oder wenn die Be-
schwerdeinstanz einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ent-
zogen hat (lit. b). § 21 Abs. 1 SubmD verbietet es der Vergabestelle,
unmittelbar nach dem Zuschlag den Vertrag abzuschliessen, um auf
diese Weise eine spätere Aufhebung des Zuschlags durch die
Rechtsmittelinstanz unmöglich zu machen (vgl. auch Art. 14 Abs. 1
IVöB). Auch im freihändigen Verfahren ist der sofortige Vertrags-
schluss nur dann zulässig, wenn lediglich
ein
Angebot vorhanden ist.
Liegen hingegen zwei oder mehrere gültige Offerten vor, weil die
Vergabestelle im Sinne von § 8 Abs. 4 SubmD eine Wettbewerbssi-
tuation geschaffen hat, muss sie den Zuschlag den Beteiligten zu-
nächst korrekt eröffnen (vgl. § 20 SubmD) und beim Vertragsab-
schluss § 21 Abs. 1 SubmD beachten. Diese Vorschriften hat der
Gemeinderat B. nicht eingehalten.
c) aa) Das Submissionsdekret äussert sich nicht ausdrücklich zu
den Konsequenzen der Verletzung von § 21 SubmD durch die Verga-
bestelle. Es werden - mit Ausnahme von § 28 Abs. 2 SubmD, wo-
nach Widerhandlungen gegen Vergabebestimmungen durch eine
subventionierte Vergabestelle durch den ganzen oder teilweisen Ent-
2001
Verwaltungsgericht
324
zug der Subventionen geahndet werden können - keine weiteren
Sanktionsmöglichkeiten genannt. Zusätzlich muss die Vergabestelle
aber gegebenenfalls mit Schadenersatzforderungen rechnen, und
wenn sie sich bewusst über § 21 SubmD hinwegsetzt, kommt jeden-
falls eine Anzeige bei der zuständigen Aufsichtsbehörde wegen
rechtswidrigen Verhaltens in Betracht (vgl. Urteil des Verwaltungs-
gerichts Freiburg vom 16. November 1999, 2A 99 38, in Sachen Fir-
ma F, S. 8). Insbesondere aber stellt sich die Frage, welche Folgen
die Verletzung von § 21 Abs. 1 SubmD für den verfrüht geschlosse-
nen Werkvertrag hat. Es ist zu prüfen, ob damit ein Mangel vorliegt,
der den Vertrag - ungeachtet des Parteiwillens - unwirksam und da-
mit für das Verwaltungsgericht unbeachtlich macht (vgl. Erw. a/bb
und cc hievor).
bb) aaa) Gemäss Art. 20 Abs. 1 OR ist ein Vertrag nichtig, wenn
er einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen
die guten Sitten verstösst. Der Verstoss gegen eine objektive Norm
des öffentlichen Rechts führt nur dann zur Vertragsnichtigkeit nach
Art. 20 OR, wenn diese Nichtigkeitsfolge vom Gesetz ausdrücklich
vorgesehen ist oder sich aus dem Sinn und Zweck der verletzten
Norm ergibt (BGE 119 II 224).
bbb) Die Frage, ob die Verletzung öffentlichrechtlicher Verga-
beregeln einen Nichtigkeitsgrund im Sinne von Art. 20 OR darstellen
kann, ist in Rechtsprechung und Lehre umstritten. Die Eidgenössi-
sche Rekurskommission für das öffentliche Beschaffungsrecht geht
davon aus, dass der verfrühte Abschluss des Vertrags unter Umstän-
den ein Mangel ist, der die Annahme der Nichtigkeit des abgeschlos-
senen Vertrags rechtfertigen kann (Entscheid der ERKB vom 7. No-
vember 1997, publiziert in: VPB 62/1998 Nr. 32.II). Gegen diese
Rechtsprechung äussert namentlich Peter Gauch schwerwiegende
Bedenken, die insgesamt zu überzeugen vermögen (Peter Gauch, Zur
Nichtigkeit eines verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrages
[im Folgenden: Nichtigkeit], in: Baurecht 1998, S. 119 ff.). Ein Ver-
trag ist gemäss Art. 20 Abs. 2 OR nur dann widerrechtlich, wenn sein
Gegenstand, der Abschluss mit dem vereinbarten Inhalt oder sein
mittelbarer Zweck gegen objektives Recht verstösst. Dabei kann es
sich sowohl um Bundesrecht als auch um kantonales Recht handeln.
2001
Submissionen
325
Die Rechtsfolge der Nichtigkeit muss jedoch in der betreffenden
Norm ausdrücklich vorgesehen sein oder sich aus Sinn und Zweck
der verletzten Norm ergeben (BGE 119 II 224 mit Hinweisen; Gauch
in: Baurecht 1998, S.
119 ff.; Gauch/Schluep/Schmid, a.a.O.,
Rz. 640 ff.). Peter Gauch weist darauf hin, dass die Auftraggeberin,
die den Vertrag abschliesse, bevor sie ihn nach dem anwendbaren
Vergaberecht abschliessen dürfe, zwar gegen eine objektive Norm
des öffentlichen Rechts verstosse, die indessen den Abschluss des
Vertrags nicht wegen seines Inhalts untersage. Der vorzeitige Ver-
tragsschluss bewirke daher keine Nichtigkeit im Sinne von Art. 20
OR (Gauch, Nichtigkeit, S. 121 mit Hinweisen). Auch § 21 Abs. 1
SubmD regelt einzig die Frage, ab welchem Zeitpunkt (nach dem
Zuschlag) und dannzumal unter welchen Voraussetzungen (entweder
unbenutzter Ablauf der Beschwerdefrist oder Entzug der aufschie-
benden Wirkung) der Vertragsschluss zulässig ist; er bezieht sich
einzig auf die äusseren, zeitlichen Umstände, aber in keiner Art und
Weise auf den Inhalt des vereinbarten Vertrags. Sanktionen gegen
einen verfrühten Vertragsschluss werden wie erwähnt in § 21 SubmD
jedoch nicht normiert, und auch Sinn oder Zweck der Bestimmung
rechtfertigen die Rechtsfolge der Nichtigkeit nicht (vgl. Ernst A.
Kramer, Berner Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Band
VI [Art. 19-22 OR. Allgemeine Bestimmungen], Art. 19-20, N 141
und 148 f.).
cc) aaa) Peter Gauch vertritt die Auffassung, die Vollmacht der
staatlichen Funktionäre zum Vertragsabschluss könne allenfalls
(auch) durch das anwendbare Vergaberecht beschränkt werden. Er
knüpft dabei an Art. 33 Abs. 1 OR an, wonach die Ermächtigung, im
Namen eines andern Rechtshandlungen vorzunehmen, soweit sie aus
Verhältnissen des öffentlichen Rechts hervorgeht, sich nach den Vor-
schriften des öffentlichen Rechts des Bundes und der Kantone beur-
teilt. Nach dieser Betrachtungsweise wirkt z.B. die Regelung von
Art. 22 Abs. 1 BoeB, wonach der Vertrag mit dem Anbieter (noch)
nicht abgeschlossen werden darf, wenn einer Beschwerde die auf-
schiebende Wirkung erteilt wurde, auch als Vollmachtbeschränkung.
Der Vertreter des öffentlichen Auftraggebers ist nicht ermächtigt, den
Vertrag abzuschliessen, bevor Art. 22 Abs. 1 BoeB den Vertragsab-
2001
Verwaltungsgericht
326
schluss erlaubt. Das in Art. 22 Abs. 1 BoeB statuierte ,,Abschluss-
verbot" wirkt somit zugleich als Vollmachtbeschränkung. Schliesst
der Vertreter den Vertrag trotzdem ab, handelt er ohne Vertretungs-
macht (Gauch, Nichtigkeit, S. 123; Peter Gauch, Das öffentliche
Beschaffungsrecht der Schweiz, recht 1997, S. 173 f.; ferner Ver-
waltungsgericht Zürich, in: ZBl 100/1999, S. 381).
bbb) Im vorliegenden Fall hat der Gemeinderat den Werkver-
trag als Vertreter der Einwohnergemeinde B. abgeschlossen. Gemäss
§ 36 Abs. 2 GG vertritt der Gemeinderat die Gemeinde nach aussen
und wird seinerseits durch den Gemeindeammann und den Gemein-
deschreiber vertreten. Dazu gehört u. a. auch die rechtsgeschäftliche
Vertretung der Gemeinde, d.h. die Befugnis, sowohl auf dem Gebiet
des privaten wie auch des öffentlichen Rechts für die Gemeinde zu
handeln. Es handelt sich bei diesem Vertretungsrecht nach § 36
Abs. 2 GG um eine organschaftliche Vertretung nach öffentlichem
Recht (vgl. Andreas Baumann, Die Kompetenzordnung im aargau-
ischen Gemeinderecht, Diss. Aarau 1986, S. 219 f.). Die Befugnis
des Gemeinderats zum Abschluss der privatrechtlichen Verträge im
Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens (als Vollzug des er-
teilten Zuschlags) ergibt sich somit gestützt auf § 36 Abs. 2 in Ver-
bindung mit § 37 Abs. 2 lit. l GG (wonach dem Gemeinderat die
Vergebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen obliegt).
Wie bereits festgestellt, ist der Vertragsschluss durch den Ge-
meinderat B. nun allerdings in Verletzung von § 21 Abs. 1 SubmD
erfolgt (Erw. b hievor). Vor dem Hintergrund der von Peter Gauch
hauptsächlich im Hinblick auf das Bundesvergaberecht (Art. 22
Abs. 1 BoeB) vertretenen Lehrmeinung stellt sich die Frage, ob nicht
auch § 21 SubmD als gesetzliche Vollmachtsbeschränkung aufzufas-
sen ist, welche die Vertretungsmacht der Gemeindeorgane zum Ab-
schluss von Werkverträgen im Verkehr mit Dritten rechtswirksam zu
beschränken vermag. Die Annahme einer solchen Vollmachtsbe-
schränkung hätte zur Folge, dass der vorzeitig abgeschlossene privat-
rechtliche Vertrag - zumindest vorübergehend - an einem schwerwie-
genden Rechtsmangel leiden und keine Wirksamkeit entfalten würde.
Dagegen lässt sich allerdings mit guten Gründen einwenden, dass
§ 21 SubmD nach seinem Wortlaut der Vergabestelle (also z.B. Kan-
2001
Submissionen
327
ton, Gemeinde [vgl. dazu § 5 SubmD]) den vorzeitigen Vertragsab-
schluss an sich untersagt und damit nicht das Verhältnis zwischen der
Vergabestelle und dem jeweils für sie handelnden Organ (z.B. Ge-
meinderat) betrifft; insofern erscheint der Rückgriff auf die durch das
Vergaberecht beschränkte Vertretungsmacht konstruiert. Es kann
letztlich aber offen bleiben, ob § 21 Abs. 1 SubmD als gesetzliche
Vollmachtbeschränkung im Sinne der von Peter Gauch vertretenen
Betrachtungsweise verstanden werden könnte. Aufgrund der kon-
kreten Formulierung vom § 21 Abs. 1 SubmD, wonach der Vertrag
mit dem Anbietenden erst nach dem Zuschlag geschlossen werden
darf, wenn entweder die Beschwerdefrist unbenutzt abgelaufen ist
(lit. a) oder die Beschwerdeinstanz einer Beschwerde die aufschie-
bende Wirkung entzogen hat (lit. b), stellt sich nämlich die Frage, ob
§ 21 Abs. 1 SubmD im Hinblick auf den Vertragsschluss nicht viel
eher die Bedeutung einer sogenannten Rechtsbedingung (condicio
iuris) zukommt.
dd) aaa) Im Privatrecht wird unter einer Bedingung zunächst ein
objektiv ungewisses zukünftiges Ereignis verstanden, von dem nach
dem Willen der Parteien die Wirksamkeit eines Vertrages oder eines
sonstigen Rechtsgeschäfts abhängt (vgl. Art. 151 ff. OR). Bedingun-
gen können dabei ausdrücklich vereinbart werden oder stillschwei-
gend von beiden Parteien gewollt sein (statt vieler: Felix Ehrat, in:
Basler Kommentar, Obligationenrecht I, Basel 1996, Vorbemerkun-
gen zu Art. 151-157, N 1 ff.).
Die Rechtsbedingungen sind keine Bedingungen in diesem
Sinne. Darunter sind vielmehr Voraussetzungen eines Rechtsge-
schäfts zu verstehen, die direkt auf dem Gesetz beruhen und zu den
Willensäusserungen der Parteien hinzutreten. Nicht jede Vorausset-
zung, an die das Gesetz die Entstehung, Veränderung oder den Un-
tergang von Rechten knüpft, kann Rechtsbedingung sein, sondern
nur eine solche, die einen Schwebezustand auslöst. Es handelt sich
um eine Wirksamkeitsvoraussetzung, die beim Geschäftsabschluss
noch fehlt, aber nachgeholt werden kann (Hermann Becker, Berner
Kommentar, Band IV [Art. 1-183 OR. Allgemeine Bestimmungen],
Bern 1945, N 2 f.). Beispiele sind die Verfügungsmacht des Verfü-
genden, die rechtzeitige Mängelrüge des Käufers als Voraussetzung
2001
Verwaltungsgericht
328
der kaufrechtlichen Gewährleistung, der Bestand einer zu sichernden
Forderung als Voraussetzung einer gültigen Verbürgung und Ver-
pfändung, die Zustimmung eines Dritten, sofern dies von Gesetzes
wegen zur Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts erforderlich ist oder auch
die staatliche Bewilligung für den Grundstückkauf durch Ausländer
als (Rechts-) Bedingung für das Wirksamwerden des Vertrages
(Ehrat, a.a.O., N 12). Fehlt bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts
eines dieser Erfordernisse und kann es nachgeholt werden, so ent-
steht bezüglich der Wirksamkeit dieses Rechtsgeschäfts, wie bei den
Bedingungen im Sinne von Art. 151 ff. OR, ein Schwebezustand, der
aber nicht den Regeln des Bedingungsrechts untersteht (Andreas von
Tuhr/Hans Peter, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligatio-
nenrechts, Zürich 1979, S. 260). Für die sehr verschiedenartigen
Fälle gelten besondere Regeln, die sich aus den einschlägigen Geset-
zesvorschriften oder aus der Natur der Sache ergeben. Allenfalls
kann sich eine analoge Anwendung des Bedingungsrechts aufdrän-
gen, wobei das betreffende Rechtsgeschäft erst vom Zeitpunkt der
Genehmigung bzw. der Konvaleszenz an Rechtswirkungen entfalten
kann (von Tuhr/Peter, a.a.O., S. 260; vgl. auch für das deutsche
Recht: Manfred Wolf, in: Soergel-Siebert [Herausgeber]: Bürgerli-
ches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Stutt-
gart 1999, N 8 vor § 153 BGB).
bbb) Wie das Beispiel der staatlichen Bewilligung von Grund-
stücksgeschäften mit ausländischer Beteiligung nach der Lex Fried-
rich zeigt, kann die Gültigkeit von privatrechtlichen Rechtsgeschäf-
ten auch vom Vorliegen einer
öffentlichrechtlichen
Wirksamkeitsvor-
aussetzung abhängen. Der Bewilligungsvorbehalt gemäss Bundesge-
setz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland
(BewG) vom 16. Dezember 1983 hat dabei unmittelbare Bedeutung
für die Gültigkeit des Schuldvertrags, der dem Grundstückerwerb
zugrunde liegt, indem Art. 26 BewG selbst die Unwirksamkeit bzw.
Nichtigkeit des Kaufvertrages normiert, so u.a. wenn der ,,Erwerber
das Rechtsgeschäft vollzieht, ohne um die Bewilligung nachzusu-
chen oder bevor die Bewilligung in Rechtskraft tritt". Fehlt es an der
Bewilligung, so bleibt der abgeschlossene Schuldvertrag ,,schwe-
bend" unwirksam, bis entweder die Bewilligung für den vereinbarten
2001
Submissionen
329
Erwerb rechtskräftig erteilt oder der Vertrag nichtig wird, wobei die
Bewilligung auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses zurückwirkt
(Gauch/Schluep/Schmid, a.a.O., Rz. 723). Mithin ordnet die Lex
Friedrich selbst die Rechtsfolgen bei bewilligungslosem Grundstück-
serwerb.
ccc) Im Unterschied dazu normiert das SubmD selbst keine
Sanktionsfolgen, es ordnet insbesondere nicht die Nichtigkeit eines
in Verletzung von § 21 SubmD geschlossenen Vertrages an (siehe
Erw. c/bb/bbb hievor). Dies hindert allerdings die Qualifikation des
in § 21 Abs. 1 SubmD statuierten Erfordernisses des rechtskräftigen
Zuschlags oder des Entzugs der aufschiebenden Wirkung als Rechts-
bedingung für die Wirksamkeit des Werkvertrags im Grundsatz nicht.
Der aargauische Submissionsdekretgeber wollte den bisher schon
bestehenden Rechtsschutz bewahren bzw. (im Vergleich zum
interkantonalen Recht) ausbauen und - auch mit der Normierung
eines automatischen Suspensiveffekts der Submissionsbeschwerde -
wirksam verhindern, dass die Vergabestelle allein durch den Ab-
schluss des privatrechtlichen Vertrages dem Verwaltungsgericht die
Aufhebung des Zuschlags im Beschwerdeverfahren verunmöglichen
und es auf die Feststellung der Widerrechtlichkeit des Zuschlages
beschränken kann (vgl. Erw. a/aa hievor). Dieses klar dokumentierte
Ziel des Dekretgebers lässt es gerechtfertigt und sachlich richtig
erscheinen, den unbenutzten Ablauf der Beschwerdefrist - d.h. die
Rechtskraft des Zuschlags - oder den Entzug der aufschiebenden
Wirkung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde als öffentlichrechtli-
che Wirksamkeitsvoraussetzungen für den Abschluss des privat-
rechtlichen Vertrages zu betrachten.
ddd) Stellt § 21 Abs. 1 SubmD also eine Rechtsbedingung im
Sinne einer öffentlichrechtlichen Wirksamkeitsvoraussetzung für den
im Anschluss an den Zuschlag abzuschliessenden Werkvertrag dar,
so befindet sich der unter Verletzung von § 21 Abs. 1 SubmD ver-
früht abgeschlossene Vertrag bis zur Rechtskraft des erfolgten Zu-
schlags (entweder durch unbenützten Ablauf der Beschwerdefrist
oder infolge Abweisung der Beschwerde) bzw. bis zum Entzug der
aufschiebenden Wirkung einer Submissionsbeschwerde durch die
2001
Verwaltungsgericht
330
Beschwerdeinstanz in einem Schwebezustand und entfaltet keine
Rechtswirksamkeit.
d) Nachdem im vorliegenden Vergabeverfahren weder die
Rechtskraft des erteilten Zuschlags durch Ablauf der Beschwerdefrist
eingetreten ist noch das Verwaltungsgericht der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung entzogen hat, waren die in § 21 Abs. 1
SubmD vorgesehenen Bedingungen für einen Vertragsschluss nicht
erfüllt. Damit vermag der zwischen der Einwohnergemeinde B. und
der Beschwerdegegnerin abgeschlossene Werkvertrag derzeit keine
Rechtswirksamkeit zu entfalten. Er steht demzufolge auch der Auf-
hebung des widerrechtlich erteilten Zuschlags durch das Verwal-
tungsgericht nicht entgegen (Erw. a/cc hievor). | 9,998 | 7,930 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-69_2001-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-69.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-69.pdf | AGVE_2001_69 | null | nan |
7d6ca752-1c00-5b24-a193-0304c6c83a10 | 1 | 412 | 871,765 | 1,028,332,800,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
318
[...]
77
Termin als Vergabekriterium.
-
Dem Termin kann sowohl die Bedeutung eines Zuschlagskriteriums
als auch die Bedeutung eines Ausschlusskriteriums zukommen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 15. August 2002 in
Sachen P. GmbH gegen Gemeinderat Schafisheim.
Aus den Erwägungen
3. b) Im Katalog gemäss § 18 Abs. 2 SubmD ist u.a. auch der
"Termin" als Zuschlagskriterium aufgeführt. Bestimmt eine Verga-
bestelle in der Ausschreibung oder in den Ausschreibungsunterlagen
den Termin als eines der massgebenden
Zuschlagskriterien
, ist dies
dahingehend zu verstehen, dass demjenigen Anbieter der Vorzug ge-
bühren darf, welcher eine schnellere Ausführung als die gemäss Aus-
schreibung oder Ausschreibungsunterlagen geforderte zum gleichen
Preis offeriert als derjenige Anbieter, der (lediglich) die Termine ge-
mäss Unterlagen einzuhalten verspricht (Urteil des Verwaltungsge-
richts des Kantons Graubünden vom 6. April 2000 [U 00 35] E. 2b).
Eine raschere Arbeitsausführung kann mit andern Worten unter Um-
ständen, d.h. bei entsprechender Festsetzung und Gewichtung der
Zuschlagskriterien, einen Mehrpreis kompensieren. Dem Termin
kann aber auch die Bedeutung eines
Ausschlusskriteriums
zukom-
men. Diesfalls ist derjenige Anbieter, welcher die Einhaltung der von
2002
Submissionen
319
der Vergabestelle für die Arbeitsausführung zwingend vorgegebenen
Termine nicht gewährleisten kann, vom Vergabeverfahren auszu-
schliessen bzw. (im selektiven Verfahren) nicht zuzulassen. Insoweit
kann ihm auch die Eignung zur Ausführung des konkret zu vergeben-
den Auftrags abgesprochen werden, z.B. wegen der zum vorgesehe-
nen Ausführungszeitpunkt fehlenden zeitlichen Verfügbarkeit oder
fehlenden personellen Kapazität. Als Ausschlusskriterium verstanden
kommt dem Termin absoluten Charakter zu: Er kann entweder einge-
halten oder nicht eingehalten werden; dazwischen gibt es nichts (vgl.
das
erwähnte
Urteil
des
Verwaltungsgerichts
des
Kantons
Graubünden, E. 2b).
c) Die vorliegenden Ausschreibungsunterlagen enthalten unter
der Position "000 000 Bedingungen" auch terminliche Vorgaben.
Danach müssen die immissionsintensiven Arbeiten - dazu gehören
Arbeiten, die mit schwerem Gerät, Lärm und Staub verbunden sind -
in den vier Wochen Sommerferien erledigt werden, damit der Schul-
betrieb nicht gestört wird. Pflanzarbeiten werden erst im Spät-
herbst/Winter durchgeführt. Auch im Einladungs- bzw. Begleit-
schreiben zum Devis vom 27. Mai 2002 wurden die Anbieter aus-
drücklich auf "den zwingend einzuhaltenden Baubeginn vom 15. Juli
(Schulferienbeginn) sowie das Beenden der immissionsträchtigen Ar-
beiten (schweres Gerät, Lärm, Staub) in den 4 Wochen Schulferien"
aufmerksam gemacht. In Ziffer 8 der Submissionsbestimmungen
("Termine/Personaleinsatz") hatten die Anbietenden dementspre-
chend
Fragen
nach
dem
frühstmöglichen
Arbeitsbeginn,
Dauer/Einhaltung der genannten Termine, vorgesehenem Perso-
naleinsatz sowie nach Betriebsferien und Unterbrüchen zu beant-
worten.
Beim Erfordernis, die immissionsträchtigen Arbeiten während
der Sommerferien zu erledigen, handelt es sich um ein Ausschluss-
kriterium und nicht etwa um ein Zuschlagskriterium. Für den Zu-
schlag können nach dem klar erkennbaren Willen der Vergabestelle,
wie er in den Ausschreibungsunterlagen und im zugehörigen Begleit-
schreiben zum Ausdruck kommt, einzig Anbieter in Frage kommen,
die diese Vorgabe einzuhalten vermögen. Wer dazu nicht in der Lage
ist, scheidet von vornherein aus. Als Zuschlagskriterien dürfen die
2002
Verwaltungsgericht
320
Termineinhaltung und der Personalbestand hingegen keine Rolle
spielen, da sie nicht als solche bezeichnet und bekannt gegeben
worden sind. Ihre Berücksichtigung würde eine nachträgliche Än-
derung der Zuschlagskriterien bedeuten, was nicht zulässig ist. Für
den Zuschlag darf im vorliegenden Fall einzig der Preis eine Rolle
spielen. Er muss notwendigerweise demjenigen Anbieter erteilt wer-
den, der die Arbeitsausführung unter Einhaltung der vorgegebenen
Termine zum tiefsten Preis offeriert hat. Eine schnellere Arbeitsaus-
führung innerhalb der gesetzten Termine vermag mit andern Worten
einen tieferen Preis nicht aufzuwiegen.
d) Die Beschwerdeführerin hat unbestrittenermassen das preis-
günstigste Angebot eingereicht. Somit muss der Auftrag an sie ver-
geben werden, es sei denn, es stehe fest, dass sie gar nicht in der
Lage ist bzw. gewesen wäre, die vorgegebenen Termine einzuhalten.
Dafür bestehen indessen keine Anhaltspunkte. Die Beschwerdeführe-
rin beantwortete die unter Ziffer 8 ("Termine/Personaleinsatz") ge-
stellten Fragen lückenlos. Als Arbeitsbeginn gab sie - wie im Schrei-
ben vom 27. Mai 2002 verlangt - den 15. Juli 2002 an. Die Frage, ob
sie die genannten Termine für die Ausführung bzw. Lieferung einhal-
ten könne und imstande sei, mit dem üblichen Baufortgang Schritt zu
halten, bejahte sie vorbehaltlos. In Bezug auf den vorgesehenen Per-
sonaleinsatz gab sie zwei bis vier Personen an, und schliesslich er-
wähnte sie die Betriebsferien vom 29. Juli bis 2. August 2002. Allein
aus diesen Angaben abzuleiten, die Beschwerdeführerin sei nicht in
der Lage, die ausgeschriebenen Arbeiten unter Einhaltung der vor-
gegebenen Termine auszuführen, ist rechtlich nicht haltbar. Die Be-
schwerdeführerin hat ausdrücklich (und mit ihrer Unterschrift) be-
stätigt, dass sie die ihr bekannt gegebenen Termine wahren kann.
Wenn bei der Vergabebehörde bzw. beim sie beratenden Architekten
wegen der erwähnten Betriebsferien und dem vorgesehenen Perso-
naleinsatz Zweifel bestanden, ob dies wirklich der Fall sei, so hätte
dies - im Rahmen der Offertbereinigung (§ 17 Abs. 2 SubmD) -
zunächst einer entsprechenden Rückfrage bedurft. Hätte die Be-
schwerdeführerin die Bedenken der Vergabestelle hinsichtlich Ter-
mineinhaltung in der Folge nicht ausräumen können, sondern hätten
sich diese erhärtet, so wäre ihr
Ausschluss vom Verfahren
ungeachtet
2002
Submissionen
321
der Tatsache, dass sie das preisgünstigste Angebot eingereicht hatte,
gerechtfertigt gewesen. Wie sich aus der Beschwerde und auch aus
der Vernehmlassung des Gemeinderats ergibt, wäre die Beschwerde-
führerin allerdings durchaus in der Lage gewesen, die diesbezügli-
chen Befürchtungen der Vergabebehörde zu zerstreuen. Im vorlie-
genden Fall war die Vergabestelle, wie sich den Unterlagen entneh-
men lässt, zudem ganz offensichtlich bereits während des Vergabe-
verfahrens nicht der Meinung, die Beschwerdeführerin müsse vom
Wettbewerb ausgeschlossen werden, da sie die vorgegebenen Ter-
mine nicht einhalten könne. Sie war vielmehr der Auffassung, die
Vorteile (bzw. die grössere Sicherheit), welche die (ortsansässige)
S. AG in terminlicher Hinsicht wegen des fehlenden Arbeitsunter-
bruchs und des grösseren Personaleinsatzes biete, würden die nur ge-
ringe Preisdifferenz von ca. 1% ohne weiteres aufwiegen. Ein
solches Vorgehen war indessen, da es sich bei der Einhaltung der
Terminvorgaben - wie ausgeführt - nicht um ein (zu bewertendes)
Zuschlags-, sondern um ein Ausschlusskriterium handelt, und für den
Zuschlag einzig der Preis von Bedeutung ist, nicht statthaft. Die
Vergabestelle hat sich damit in Widerspruch zu ihren Aus-
schreibungsunterlagen gesetzt, die den Termin nicht als Zuschlags-
kriterium nannten. Der an die S. AG, die preislich nur das zweit-
günstigste Angebot eingereicht hat, erteilte Zuschlag ist deshalb
aufzuheben. In diesem Sinne ist die Beschwerde gutzuheissen. | 1,586 | 1,325 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-77_2002-08-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-77.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-77.pdf | AGVE_2002_77 | null | nan |
7e61d64d-084c-5647-9cfd-dc7021250450 | 1 | 412 | 870,948 | 1,304,467,200,000 | 2,011 | de | 2011
Taxirecht
199
VII. Taxirecht
50
Taxiwesen; Voraussetzungen der Vergabe von Standplätzen
-
Ein Taxireglement des Gemeinderates mit einer generellen Bewilli-
gungspflicht für das Anbieten von Taxifahrten ist verfassungswidrig.
-
Gestützt auf das Baugesetz kann der Gemeinderat die Benützung öf-
fentlicher Standplätze einer Bewilligungspflicht unterstellen.
-
Ein guter Leumund ist ein zulässiges Kriterium bei der Vergabe ei-
nes Taxistandplatzes auf öffentlichem Grund.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 20. Mai 2011 in Sachen A.
gegen Stadtrat B. und Departement Volkswirtschaft und Inneres
(WBE.2011.35).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach
Massgabe des kantonalen Rechts. Gemäss § 106 Abs. 1 KV sind die
Gemeinden im Rahmen von Verfassung und Gesetz befugt, sich
selbst zu organisieren, ihre Behörden und Beamten zu wählen, ihre
Aufgaben nach eigenem Ermessen zu erfüllen und ihre öffentlichen
Sachen selbständig zu verwalten. Nach der Praxis des Bundesge-
richts liegt Gemeindeautonomie dort vor, wo das kantonale Recht
einen Sachbereich nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder
teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und der Gemeinde
dabei einen relativ erheblichen Entscheidungsspielraum einräumt
(BGE 129 I 294, 320 und 413, je mit Hinweisen; 128 I 7 f. mit Hin-
weisen; 126 I 136 mit Hinweisen; 124 I 226 f. mit Hinweisen; 122 I
290 mit Hinweisen; AGVE 2003, S. 470 mit Hinweisen; Ulrich
Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungs-
2011
Verwaltungsgericht
200
recht, 6. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2010, Rz. 1392 mit Hinwei-
sen). Ob und wieweit eine Gemeinde in einem gewissen Bereich au-
tonom ist, bestimmt sich also nach dem kantonalen Verfassungs- und
Gesetzesrecht (BGE 129 I 413 mit Hinweisen; AGVE 2003, S. 470;
Ulrich Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, a.a.O., Rz. 1393 mit
Hinweisen). Im Kanton Aargau enthält dieses über das Taxiwesen
keine Vorschriften. Insofern fällt die Reglementierung des Taxiwe-
sens in den Kompetenzbereich der Gemeinden (AGVE
2003,
S. 470).
1.2.
In der Stadt B. ist das Taxiwesen im Reglement über das Taxi-
wesen vom 1. Dezember 2005 (nachfolgend: Reglement über das
Taxiwesen) geregelt. Die gewerbsmässige Personenbeförderung mit
Taxifahrzeugen bedarf einer Betriebsbewilligung des Stadtrats; diese
wird auf den Namen des Betriebsinhabers ausgestellt und ist nicht
frei übertragbar (§ 1 Abs. 1 Reglement über das Taxiwesen). Die Be-
willigungsvoraussetzungen, die Dauer sowie der Entzug der Be-
triebsbewilligung sind in den §§ 3-7 des Reglements über das Taxi-
wesen geregelt:
(...)
1.3.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 27 BV
stellt die Statuierung einer Bewilligungspflicht für die Ausübung
eines Berufes einen schweren Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit dar
und bedarf zumindest hinsichtlich ihrer Grundzüge stets einer ge-
setzlichen Grundlage im formellen Sinn (Urteil des Bundesgerichts
vom 26. Februar 2010 [2C_564/2009], Erw. 7.1).
Die Vorinstanz hat festgehalten, dass das Taxireglement der
Stadt B. vom Stadtrat und nicht vom Einwohnerrat erlassen worden
sei. Daher sei festzustellen, dass diejenigen Bestimmungen im Regle-
ment, welche an eine generelle Bewilligungspflicht für die gewerbs-
mässige Personenbeförderung in der Stadt B. anknüpfen, verfas-
sungswidrig seien. Dies betreffe insbesondere die Bestimmungen
über die Betriebsbewilligung B, welche zum Anbieten von Taxifahr-
ten ab privaten Standplätzen berechtige. Das Beschwerdeverfahren
betreffe jedoch nicht die Erteilung der Bewilligung als solche, son-
2011
Taxirecht
201
dern die Zuteilung von Standplätzen auf öffentlichem Grund bzw. die
Betriebsbewilligung A, welche zum Anbieten von Taxifahrten ab
zugeteilten öffentlichen Standplätzen berechtige.
1.4.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann sich auf die
Wirtschaftsfreiheit berufen, wer zur Ausübung eines Gewerbes
öffentliche Sachen zum gesteigerten Gemeingebrauch beansprucht.
Bei der Gewährung von A-Taxi-Bewilligungen handelt es sich um
die Bewilligung zur Ausübung eines gesteigerten Gemeingebrauchs,
wobei den kommunalen und kantonalen Behörden ein weiter Ermes-
sensspielraum zukommt. Eine Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit
ergibt sich bei A-Taxi-Bewilligungen aus der Tatsache, dass die Zahl
der Standplätze nicht beliebig erhöht werden kann, was eine Be-
schränkung der Bewilligungszahl pro Bewerber und nötigenfalls so-
gar eine Auswahl unter den Bewerbern erfordert. Aufgrund der Be-
nützung des öffentlichen Grundes, welche der kantonalen und kom-
munalen Gesetzgebung unterliegt, sind die Gemeinden und Kantone
somit befugt, durch Gesetze (im materiellen Sinne) die Wirtschafts-
freiheit von Taxi-Haltern in verschiedener Hinsicht zu beschränken
(vgl. BGE 108 Ia 135, Erw. 3). Nach Art. 36 BV müssen die Ein-
griffe insbesondere im öffentlichen Interesse liegen und den Grund-
satz der Verhältnismässigkeit wahren. Nach Art. 9 BV muss der
Eingriff ferner auf sachlich vertretbaren Kriterien beruhen. Der in der
Wirtschaftsfreiheit enthaltene Grundsatz der Gleichbehandlung von
Gewerbegenossen, welcher sich auf das Verhältnis zwischen direkten
Konkurrenten bezieht, ist ebenfalls zu beachten (Urteil des Bundes-
gerichts vom 26. Februar 2010 [2C_564/2009]).
1.5.
Das vom Stadtrat B. erlassene Reglement über das Taxiwesen
vom 1. Dezember 2005 wurde auf § 37 des Gesetzes über die Ein-
wohnergemeinden vom 19. Dezember 1978 (Gemeindegesetz;
SAR 171.100) und die §§ 103 und 104 BauG abgestützt. Das Bun-
desgericht hat im Entscheid 2C_564/2009 vom 26. Februar 2010 be-
treffend eine aargauische Gemeinde festgehalten, der Stadtrat könne
als kommunale Exekutivbehörde gestützt auf das kantonale Bauge-
setz die Benützung eines Standplatzes gestatten oder die Bewilligung
2011
Verwaltungsgericht
202
hierzu verweigern und hierzu sachdienliche Kriterien entwickeln.
Das Reglement über das Taxiwesen der Stadt B. setzt für die Bewilli-
gungserteilung zur Benutzung von öffentlichen Standplätzen unter
anderem Handlungsfähigkeit, einen guten Leumund sowie die per-
sönliche Eignung des Bewerbers voraus. Aufgrund der beschränkt
zur Verfügung stehenden Standplätze war der Stadtrat berechtigt, die
Bewilligungsvoraussetzungen im Reglement zu umschreiben. Diese
Bewilligungspflicht steht dem bedingten Anspruch der Bewerber auf
Zuteilung eines Standplatzes und damit der Ausübung des gesteiger-
ten Gemeingebrauchs an einer öffentlichen Sache nicht entgegen.
Die rechtliche Grundlage im Reglement, welche sich auf das Bauge-
setz abstützen kann, erweist sich aufgrund der darin enthaltenen
Vorgaben zudem als genügend bestimmt und zur Einschränkung der
Wirtschaftsfreiheit als ausreichend.
2.
2.1.-2.4. (...)
2.5.
2.5.1.
Nach § 5 des Taxireglementes der Stadt B. setzt die Betriebs-
bewilligung A unter anderem einen guten Leumund voraus. Hierbei
handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (vgl. Ulrich
Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, a.a.O., Rz. 445 ff.). Eine
Einschränkung der richterlichen Überprüfung, wie sie etwa bei grös-
serer Nähe und Vertrautheit der Verwaltungsbehörden mit den tat-
sächlichen Verhältnissen erfolgt, rechtfertigt sich indessen nicht.
2.5.2.
Die Erlaubnis zur Benützung der städtischen Taxistandplätze
stellt unter anderem wegen der bevorzugten Lage der Standplätze ein
wirtschaftlich interessantes Sonderrecht für den Taxiunternehmer dar
(Urteil des Bundesgerichts vom 26. Februar 2009 [2C_564/2009],
Erw. 8.1). Die öffentlichen Gemeindestrassen sind im Eigentum der
Gemeinden. Der Gemeinderat kann durch eine Bewilligung ("Er-
laubnis" gemäss § 104 BauG) den gesteigerten Gemeingebrauch, wie
dies Standplätze für Taxi darstellen, regeln. Aufgrund seiner Stras-
senhoheit ist er frei, zu welchen Bedingungen er die Benützung re-
gelt. Stehen, wie in der Stadt B., nur eine beschränkte Anzahl Stand-
2011
Taxirecht
203
plätze zur Verfügung und übersteigt die Nachfrage das Angebot, ist
eine Auswahl erforderlich. Die Auswahl muss nach sachlichen Kri-
terien und rechtsgleich erfolgen.
Nach der Rechtsprechung kann für die Bewilligung nicht nur
ein guter automobilistischer Leumund, sondern ganz allgemein ein
guter Leumund gefordert werden (vgl. BGE 99 Ia 392). Das Ver-
waltungsgericht hat in einem Urteil vom 30. Juni 2009 erwogen, dass
es sich bei der Ausübung des Berufes des Taxichauffeurs um eine
Erwerbstätigkeit handle, bei der ein besonderes Interesse an einer
seriösen Berufsausübung bestehe, weil der unerfahrene Kunde sonst
beispielsweise leicht ausgebeutet werden könnte (VGE IV/43 vom
30. Juni 2009 [WBE.2009.49], Erw. 2.2, mit Verweis auf: Beat
Zürcher, Das Taxigewerbe aus verwaltungsrechtlicher Sicht, Diss.,
Zürich 1978, S. 29). Allgemein lässt sich zum Auswahlsystem sagen,
dass die Zuteilung der Plätze die Erwartungen der Taxikunden
hinsichtlich Qualität und Zutrauenswürdigkeit einer Dienstleistung
mit behördlicher Bewilligung erfüllen muss. Ein guter Leumund ist
angesichts der Erwartungen des Publikums ein zulässiges Kriterium
und dient auch dem Schutz des Publikums. | 2,083 | 1,640 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2011-50_2011-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-50.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-50.pdf | AGVE_2011_50 | null | nan |
7e960b22-39e7-55c0-823a-34cfeedabfb9 | 1 | 412 | 871,848 | 1,383,436,800,000 | 2,013 | de | 2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
360
[...]
61 Vergleich
Ein Vergleich im Beschwerdeverfahren setzt eine Einigung aller Parteien
voraus, einschliesslich der Vorinstanz.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 19. November 2013 in Sa-
chen A. AG gegen Gemeinderat B. und BVU (WBE.2013.277).
2013
Verwaltungsrechtspflege
361
Aus den Erwägungen
4.3.
Ein Vergleich im öffentlichen Recht kann praxisgemäss zum
Urteil erhoben werden, wenn er sich als gesetzmässig erweist und
allfällige Zugeständnisse der Parteien innerhalb des Spielraums blei-
ben, den das Gesetz ohnehin gewährt (vgl. AGVE 1991, S. 383 f.;
1982, S. 287). Die Vereinbarkeit des Vergleichs mit den öffentlichen
Interessen prüft das Verwaltungsgericht summarisch (§ 19 Abs. 1
VRPG). Das Verfahren wird durch Sachentscheid abgeschlossen
(§ 19 Abs. 2 VRPG).
Infolge der fehlenden Unterschrift der Vorinstanz ist die Verein-
barung formell kein gemeinsamer Antrag
aller
Parteien (vgl. dazu
§ 13 Abs. 2 VRPG). Eine Beurteilung der Anträge in Anwendung
von § 19 VRPG ist daher nicht zulässig. | 257 | 211 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-61_2013-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-61.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-61.pdf | AGVE_2013_61 | null | nan |
7f3b3991-6939-5f94-bad2-20b53d3c2865 | 1 | 412 | 871,676 | 1,401,667,200,000 | 2,014 | de | 2014
Migrationsrecht
117
16
Ausschaffungshaft; Verhältnismässigkeit
Die Bitte eines Familienvaters, der Vollzug der Wegweisung seiner Fami-
lie solle in einer Form erfolgen, welche die Ehefrau nicht unnötig belaste,
ist nicht als Weigerung zur selbständigen Ausreise zu qualifizieren. Bei
der Beurteilung, ob der Vollzug der Wegweisung im konkreten Fall ge-
fährdet erscheint, ist einzig das Verhalten der betroffenen Person massge-
bend. Ein allfällig obstruktives Verhalten anderer Personen (i.c. der Ehe-
frau) darf dem Betroffenen nicht angelastet werden (Erw. 5.3.).
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 27. Juni 2014 in Sachen Amt für Migration und Integration gegen A.
(WPR.2014.112).
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
118
Aus den Erwägungen
5.3.
Dem MIKA ist insofern zuzustimmen, als es, das Bundesgericht
zitierend, ausführt, dass der objektivierte Haftgrund von Art. 76
Abs. 1 lit. b AuG gerade kein vorwerfbares bzw. obstruktives Verhal-
ten des Ausländers voraussetze, weshalb das Nichtvorhandensein
eines solchen Verhaltens auch nicht zur Folge haben könne, dass eine
darauf gestützte Haft von vornherein unverhältnismässig wäre (Urteil
des Bundesgerichts vom 18. Juli 2012 [2C_698/2012]). Dennoch
muss, wie bereits dargelegt, die Haft verhältnismässig und somit not-
wendig sein.
Gemäss MIKA ist keine mildere Massnahme dazu geeignet, den
Wegweisungsvollzug tatsächlich sicherzustellen. Begründet wird
dies damit, dass sich der Gesuchsgegner der Ausschaffung entziehen
wolle. Ein Anzeichen dafür sei der Umstand, dass der Gesuchsgegner
und seine Ehefrau trotz Wissen um die Dublin-Zuständigkeit in der
Schweiz ein zweites Asylgesuch eingereicht hätten, nachdem in
Frankreich alle Rechtswege ausgeschöpft gewesen seien und sie dort
die Ausschaffung in ihren Heimatstaat hätten befürchten müssen.
Weiter erachtet das MIKA die Aussage des Gesuchsgegners, er
sei zur selbständigen Ausreise bereit, als Schutzbehauptung. Dies
weil sie in krassem Widerspruch zur immer wieder vorgebrachten
Klage des Ehepaars stehe, man habe in Frankreich seit Monaten auf
der Strasse leben müssen und könne keinesfalls zurückkehren.
Hierzu gilt es Folgendes zu sagen: Zwar erwähnte der Gesuchsgeg-
ner anlässlich der Vorsprache beim MIKA vom 28. Februar 2014,
welcher er im Übrigen vorladungsgemäss nachkam, tatsächlich, dass
sie in Frankreich hätten sechs Monate auf der Strasse leben müssen.
Er erklärte aber nicht, dass er nicht zurückreisen würde. Vielmehr
äusserte er den Wunsch, die Rückkehr nach Frankreich solle in einer
Form erfolgen, die für seine Frau möglichst wenig Aufregung mit
sich bringe, weshalb er eine (vorzugsweise selbständige) Reise im
Zug einer Ausreise per Flugzeug vorziehe. Anlässlich des rechtlichen
Gehörs betreffend die Anordnung einer Ausschaffungshaft gab der
Gesuchsgegner zwar zu, lieber nicht nach Frankreich zurückkehren
2014
Migrationsrecht
119
zu wollen. Er räumte aber auch ein, dass keine andere Möglichkeit
bleibe, und er schlug vor, dass man ihm und seiner Frau einen Ter-
min geben solle, an welchem sie ausreisen würden.
Dem Gesuchsgegner kann - entgegen der Auffassung des
MIKA - auch nicht vorgeworfen werden, dass er sich im Zeitpunkt
des geplanten Zugriffs für die Zuführung an den Grenzposten zwecks
Ausschaffung nicht in der Unterkunft befand. Der Gesuchsgegner
war nie über die Zustimmung der französischen Behörden zu einer
Rückführung auf dem Landweg informiert worden, so dass er auch
nicht mit einem unmittelbar bevorstehenden Wegweisungsvollzug
rechnen musste und aus der Nichtanwesenheit beim Zugriffsversuch
auch nicht auf ein Untertauchen geschlossen werden kann.
Die Notwendigkeit der Inhaftierung lässt sich insbesondere
auch nicht daraus ableiten, dass eine Rückführung unter Umständen
- wie vom MIKA anlässlich des rechtlichen Gehörs angedeutet - am
Widerstand der Ehefrau des Gesuchsgegners scheitern könnte. Denn
wie im bereits zitierten Entscheid des Rekursgerichts ausgeführt,
muss der Wegweisungsvollzug aufgrund einer Einzelfallbeurteilung
durch das Verhalten
der betroffenen Person
minimal gefährdet er-
scheinen, damit eine Ausschaffungshaft angeordnet werden darf. Ein
allenfalls dahingehndes Verhalten seiner Ehefrau darf nicht dem Ge-
suchsgegner zugerechnet werden.
5.4.
Die Tatsache, dass der Gesuchsgegner in Kenntnis des Dublin-
Verfahrens und der damit irgendwann drohenden Ausschaffung nach
Frankreich auf Vorladung jeweils beim MIKA erschienen ist, ist als
gewichtiges Indiz für seine Bereitschaft zur selbständigen und kon-
trollierten Ausreise zu gewichten. Seine Inhaftierung erweist sich un-
ter den konkreten Umständen als nicht notwendig und widerspricht
damit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Der Gesuchsgegner
ist daher unverzüglich aus der Ausschaffungshaft zu entlassen. | 1,011 | 840 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-16_2014-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-16.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-16.pdf | AGVE_2014_16 | null | nan |
7f559639-d00c-5a69-98a5-d612e96e9865 | 1 | 412 | 870,704 | 1,009,843,200,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
430
[...]
107
Vorsorglicher Führerausweisentzug; Gutachterkosten; Kostenvorschuss.
-
Der vorsorgliche Sicherungsentzug ist ein Zwischenentscheid, welcher
mittels Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden kann
(Erw. I/1/b/bb).
-
Der
vorsorgliche
Sicherungsentzug
kann
nicht
losgelöst
vom
eigentlichen Entzugsverfahren verfügt werden. Es muss ein Endent-
scheid folgen (Erw. II/2/a).
-
Im Entzugsverfahren stellen Gutachterkosten Verfahrenskosten dar
(Erw. II/2/b).
-
Auf das Begehren um Fortsetzung des Verfahrens betreffend
Sicherungsentzug ist auch dann einzutreten, wenn der vorsorgliche
Führerausweisentzug in Rechtskraft erwachsen ist (Erw. II/2/c).
-
Keine Kostenvorschusspflicht für Gutachterkosten bei Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege (Erw. II/3/a).
-
Zulässigkeit der Androhung von Säumnisfolgen bei Verweigerung der
Bezahlung des Kostenvorschusses (Erw. II/3/b).
-
In besonderen Fällen, bei denen eine Begutachtung unumgänglich
erscheint, der Betroffene jedoch die Leistung des Kostenvorschusses
verweigert, kann das Gutachten unter Verzicht auf einen Kostenvor-
schuss in Auftrag gegeben werden (Erw. II/3/c).
-
Das Kriterium der Nichtaussichtslosigkeit ist im nichtstreitigen
Sicherungsentzugsverfahren
erfüllt,
wenn
im
Zeitpunkt
der
Einreichung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege noch offen
ist, ob das Verfahren auch wirklich zu einem Entzug führen wird
(Erw. II/5/c/bb).
vgl. AGVE 2002 41 143 | 354 | 308 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-107_2002 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-107.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-107.pdf | AGVE_2002_107 | null | nan |
7f58013c-ae48-5353-8c1b-c3e81a17e855 | 1 | 412 | 870,147 | 1,044,144,000,000 | 2,003 | de | 2003
Kantonale Steuern
119
IV. Kantonale Steuern
35 Beweismittelausschluss.
- Der Beweismittelausschluss (§ 147 Abs. 2 aStG) setzt die entspre-
chende Androhung
im Einspracheverfahren
voraus.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 26. Februar 2003 in
Sachen R.W. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts.
Aus den Erwägungen
3. a) Nach pflichtgemässem Ermessen veranlagte Steuerpflich-
tige haben im Einspracheverfahren die Unrichtigkeit der Veranla-
gung nachzuweisen (§ 147 Abs. 2 Satz 1 aStG), sofern sie im Ver-
anlagungsverfahren auf diese Rechtsfolge ausdrücklich aufmerksam
gemacht wurden (AGVE 1996, S. 235 = StE 1996, B 93.3 Nr. 5;
AGVE 1987, S. 156; VGE II/52 vom 18. Mai 1998 [BE.1995.00213]
in Sachen V.U., S. 5 f.; Jürg Baur, in: Kommentar zum Aargauer
Steuergesetz, Muri/BE 1991, § 144 N 29). Unterlagen und Beweis-
mittel, die im Einspracheverfahren trotz Aufforderung und Hinweis
auf die Säumnisfolgen fahrlässig oder vorsätzlich nicht vorgelegt
werden, können im Rekurs- und Beschwerdeverfahren nicht mehr
berücksichtigt werden (§ 147 Abs. 2 Satz 2 aStG). Damit der Be-
weismittelausschluss zum Tragen kommt, müssen nach der Recht-
sprechung folgende formelle Voraussetzungen erfüllt sein
(vgl. AGVE 1989, S. 177 f. mit Hinweisen):
- Die verlangten Beweismittel müssen zur Sachverhaltsabklä-
rung tauglich und voraussichtlich erheblich sein.
- Die vom Steuerpflichtigen beizubringenden Unterlagen sind
klar und verständlich zu umschreiben, soweit dies der Steuerbehörde
möglich ist.
2003
Verwaltungsgericht
120
- Auf die Folgen des Beweismittelausschlusses muss rechtzei-
tig, d.h. im Einspracheverfahren, hingewiesen worden sein.
Unterlässt es die Steuerkommission, im Einspracheverfahren
auf den Beweismittelausschluss für das Rekursverfahren hinzuwei-
sen, so wird er für die nächsten Instanzen nicht wirksam, selbst wenn
er im Veranlagungsverfahren angekündigt worden war (AGVE 1980,
S. 435 f.). Der Steuerpflichtige soll zusammen mit der Einforderung
der Beweismittel auf die Folgen der Nichterfüllung hingewiesen
werden; ein schon im Veranlagungsverfahren, also gegebenenfalls
lange vorher erfolgter Hinweis allein hält ihm diese Folgen nicht
genügend eindrücklich vor Augen.
b) Es ist unbestreitbar, dass die vom Beschwerdeführer erst im
Rekursverfahren mit Eingabe vom 9. April 2002 eingereichte um-
fangreiche Dokumentation zum Nachweis seines Lebensaufwandes
schon im Einspracheverfahren hätte ins Recht gelegt werden können.
Es handelt sich ausnahmslos um Belege der Jahre 1997 und 1998,
welche bereits seit Jahren vorhanden waren. Indessen wurde der
Beweismittelausschlusses nur einmalig im Veranlagungsverfahren
(2. Mahnung vom 12. Juli 2000), nicht aber im Einspracheverfahren
angedroht. Über die Besprechung vom 28. Februar 2001 wurde le-
diglich eine interne Aktennotiz des Steuerkommissärs angefertigt;
die damals mündlich erwähnten Unterlagen wurden nicht formell
und mit Hinweis auf den Beweismittelausschluss einverlangt. Nach
der vorne dargestellten Rechtsprechung, von der abzuweichen kein
Anlass besteht, ist der Beweismittelausschluss nicht eingetreten und
die im Rekursverfahren nachgereichten Unterlangen müssen berück-
sichtigt werden. Das Steuerrekursgericht hat sie zu Unrecht unbe-
rücksichtigt gelassen. | 760 | 575 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-35_2003-02-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-35.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-35.pdf | AGVE_2003_35 | null | nan |
7fc33499-9627-5625-b11e-a0813d5d3f17 | 1 | 412 | 870,938 | 1,351,900,800,000 | 2,012 | de | 2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
113
III. Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
18 Mobilfunkantenne
Grundsätze der Standortevaluation gemäss § 26 EG UWR
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 28. November 2012 in Sa-
chen A. AG gegen Regierungsrat sowie Gemeinderat B. (WBE.2011.208).
Aus den Erwägungen
2.
Es ist unstreitig, dass die geplante Mobilfunkanlage mit den im
Standortdatenblatt angegebenen Sendeleistungen und Neigungs-
winkel die Anlage- und Immissionsgrenzwerte der Verordnung über
den Schutz vor nichtionisierender Strahlung vom 23. Dezember 1999
(NISV; SR 814.710) rechnerisch einhält. Ebenfalls unbestritten ist
die Zonenkonformität der Anlage. Streitig ist im vorliegenden
Verfahren einzig die Bedeutung von § 26 EG UWR und die Frage,
ob eine rechtsgenügende Standortevaluation im Sinne der Bestim-
mung stattgefunden hat.
§ 26 EG UWR lautet:
"Der am besten geeignete Standort von Antennen, die den bundesrechtlichen
Vorschriften über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung unterstehen, ist ge-
stützt auf eine Abwägung der Interessen der Betreiberinnen beziehungsweise der
Betreiber und der Standortgemeinde sowie gegebenenfalls betroffener Nachbarge-
meinden zu wählen. Die Interessenabwägung berücksichtigt insbesondere Aspekte
des Landschafts- und des Ortsbildschutzes sowie der Siedlungsentwicklung."
3. (...)
4.
4.1.
Der Beschwerdeführerin ist dahingehend zu folgen, dass ein
Rechtsanspruch auf Erteilung der Baubewilligung besteht, wenn ein
2012
Verwaltungsgericht
114
Bauvorhaben sämtliche Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt
(vgl. Art. 22 Abs. 2 und 3 RPG). Gemäss bundesgerichtlicher Recht-
sprechung sind Gemeinden und Kantone jedoch im Rahmen ihrer
Zuständigkeiten grundsätzlich befugt, Bau- und Zonenvorschriften
zu Mobilfunkanlagen zu erlassen, sofern sie die bundesrechtlichen
Schranken beachten, die sich insbesondere aus dem Umwelt- und
Fernmelderecht ergeben. Unter Vorbehalt der gewährleisteten Grund-
versorgung mit Fernmeldediensten ist es beispielsweise zulässig,
baupolizeilich eine Standortevaluation als Voraussetzung der Er-
stellung von Mobilfunkantennen vorzuschreiben, wobei der Standort
in einer umfassenden Interessenabwägung festzulegen sei
(BGE 133 II 353, Erw. 4.2).
Der Kanton Aargau hat mit § 26 EG UWR die erforderliche
Grundlage geschaffen, welche am 1. September 2008 in Kraft getre-
ten ist.
4.2.
4.2.1.
Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass § 26 EG UWR eine ge-
nügende gesetzliche Grundlage darstelle und bringt im Wesentlichen
vor, es handle sich um eine Norm mit weitgehend programmati-
schem Charakter, welche nicht genügend bestimmt sei. Sie weise
keiner Partei spezifische Rechte oder Pflichten zu und unterlasse es
sowohl die Beweislast bzw. Nachweispflicht für den besten Standort
zu regeln als auch der Baubehörde oder einem anderen Beteiligten
das "letzte Wort" zuzuweisen. Ferner sei sie rein raumplanungsrecht-
lich motiviert. Dagegen erfasse sie keineswegs irgendeine Form von
Radioplanung, welche nicht zum Gegenstand des Baubewilligungs-
verfahrens gemacht werden könne. Entsprechend sei die Betreiberin
nicht verpflichtet eine spezifische Standortkoordination mit beste-
henden und zukünftigen Mobilfunkantennen vorzunehmen oder ei-
nen Bedürfnisnachweis zu erbringen. Sie müsse weder eine Netzab-
deckungslücke nachweisen noch Aufschluss über die konkrete Ab-
deckungssituation geben.
4.2.2.
Ein Rechtssatz, auf den sich eine Verfügung stützt, muss genü-
gend bestimmt sein. Gemäss Bundesgericht muss das Gesetz so prä-
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
115
zis formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach einrichten
und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umstän-
den entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 109
IA 273, Erw. 4d; vgl. zum Ganzen Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix
Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Auflage, Zürich/
St. Gallen 2010, Rz. 387).
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin erfüllt die Re-
gelung gemäss § 26 EG UWR diese Voraussetzungen. Die Bestim-
mung legt fest, dass die Errichtung jeder Mobilfunkanlage auch
innerhalb der Bauzone am bestgeeigneten Standort zu erfolgen hat,
wobei sich dieser aus einer Abwägung sowohl der Interessen der
Betreiberinnen als auch jener der Standortgemeinde sowie allenfalls
betroffener Nachbargemeinden ergibt. Konkretisierend statuiert sie,
dass insbesondere die Aspekte des Landschafts- und des Ortsbild-
schutzes sowie der Siedlungsentwicklung zu berücksichtigen sind.
Sie setzt ferner die kantonale Kompetenz zur Standortsteuerung von
Mobilfunkanlagen um, für welche gemäss Rechtsprechung des Bun-
desgerichts ausdrücklich Raum besteht (siehe oben, Erw. 4.1). Ihr
Grad an Bestimmtheit erinnert durchaus auch an andere baurechtli-
che Bestimmungen; zu denken ist etwa an die Standortprüfung und
Interessenabwägung gemäss Art. 24 RPG. Mithin ordnet sie als
Voraussetzung der Bewilligung und nicht bloss programmatisch an,
dass kein die relevanten Interessen insgesamt besser wahrender
Standort für eine Anlage vorhanden sein darf. Sinn und Zweck von
§ 26 EG UWR ist, die Standorte von Mobilfunkanlagen aus raum-
planerischer Sicht zu optimieren (Botschaft des Regierungsrats des
Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 17. Januar 2007, 07.17,
S. 29). § 26 EG UWR allein bietet in keinem Fall Hand dazu, eine
Mobilfunkanlage gänzlich zu verhindern, bildet aber die Grundlage
dafür, diese dem bestgeeigneten Standort zuzuführen. Entgegen der
Ansicht der Beschwerdeführerin verhindert die Bestimmung inso-
fern, dass die Bewilligungsbehörde eine Anlage ohne weiteres am
vom Betreiber gewählten Standort zu bewilligen hat, obschon sie
zonenkonform ist und alle sonst anwendbaren Bauvorschriften und
Grenzwerte einhält (vgl. Benjamin Wittwer, Bewilligung von Mobil-
funkanlagen, 2. Auflage, Zürich 2008, S. 119 ff.). Die Interessenab-
2012
Verwaltungsgericht
116
wägung kann dabei lediglich im Rahmen bundesrechtlicher Schran-
ken, namentlich des Umweltrechts, erfolgen: Insbesondere darf das
Kriterium der Minimierung der Strahlenbelastung (etwa in einem
Wohngebiet) keine Rolle spielen, da der Schutz vor nichtionisieren-
der Strahlung in der NISV unter Festlegung von Grenzwerten ab-
schliessend geregelt ist (Botschaft des Regierungsrats, a.a.O., S. 29;
vgl. Wittwer, a.a.O., S. 92, 97). Entsprechend sind auch rein subjek-
tive Befindlichkeiten oder Gesundheitsbedenken der Anwohner nicht
zu berücksichtigen. Im Rahmen der Abwägung stehen sich einerseits
die raumplanerischen Interessen der Standortgemeinde - je nach
Standort auch der Nachbargemeinden - und andererseits die privaten
Interessen der Betreiber unter Beachtung ihrer Wirtschaftsfreiheit
und der auch bundesrechtlich bezweckten Versorgung der Bevölke-
rung mit Fernmeldediensten gegenüber. Die Materialien machen
deutlich, dass der Gesetzgeber auch die Verminderung der Verkaufs-
chancen von Liegenschaften und den (objektiven) Attraktivitätsver-
lust von Wohnquartieren als planerisch relevante Auswirkungen ver-
stand (Botschaft Regierungsrat, a.a.O., S. 29).
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist eine aus-
drückliche Bezeichnung der pflichtigen Rechtssubjekte durch den
Gesetzeswortlaut weder im Lichte des Bestimmtheitsgebots notwen-
dig noch entspricht sie der Regel bei anderen bewilligungsrelevanten
Vorschriften (siehe bereits Art. 22 RPG). Einsichtigerweise obliegt es
der zuständigen Baubehörde, das Baugesuch unter Vornahme der
Interessenabwägung zu prüfen und über die Bewilligungsfähigkeit
des Bauvorhabens zu entscheiden. Insofern (und nur insofern) hat sie
"das letzte Wort", wie es die Beschwerdeführerin ausdrückt. Soweit
die Beschwerdeführerin eine Regelung der "Beweislast" bzw.
"Nachweispflicht" vermisst, greifen zunächst die allgemein und in
jedem baurechtlichen Verfahren anwendbaren Verfahrensgrundsätze.
So trifft die Bauherrschaft eine Mitwirkungspflicht (§ 23 VRPG),
welche der Ermittlung des Sachverhalts von Amtes wegen (§ 17
VRPG) Schranken setzt. Insbesondere muss das Baugesuch die für
die Beurteilung notwendigen Angaben, Pläne, Begründungen und
Unterlagen enthalten (§ 31 ABauV; § 51 BauV), damit die relevanten
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
117
Vorschriften überhaupt angewendet und die Bewilligungsvorausset-
zungen überprüft werden können.
Entsprechend ist der Beschwerdeführerin zwar darin zuzustim-
men, dass § 26 EG UWR raumplanerische Optimierung und nicht
behördliche "Radioplanung" bezweckt. Doch hat die gesetzlich vor-
geschriebene Interessenabwägung nicht nur raumplanerische, son-
dern auch die privaten Interessen der Betreiberinnen respektive jenes
an guter Versorgung einzubeziehen, was bedingt, dass diese nach-
weis- und ermittelbar sind. Entsprechend ist die Gemeinde darauf
angewiesen, dass ihr die Betreiberinnen ihre relevanten Bedürfnisse
offen legen (vgl. auch den Leitfaden Mobilfunk für Gemeinden und
Städte, Hrsg.: Bundesamt für Umwelt [BAFU] et al., Bern 2010,
S. 32). Beispielsweise kann die Abwägung zu Gunsten der Betreibe-
rin ergeben, dass die raumplanerischen Interessen an einem Alterna-
tivstandort aufgrund seiner geringen funktechnischen Geeignetheit,
mangels tatsächlicher bzw. rechtlicher Verfügbarkeit des Standorts
oder infolge wirtschaftlicher Nachteile der Betreiberin nicht durch-
zuschlagen vermögen.
Nach dem Gesagten obliegt es der Mobilfunkbetreiberin zu-
nächst, im Baugesuch respektive in einem begründeten Standort-
evaluationsbericht überprüfbare Grundlagen dazu beizubringen, in
angemessenem Umkreis den aus ihrer Sicht bestgeeigneten von
mehreren realistischen Standorten gewählt zu haben. Dabei ist die
Versorgungssituation und der funktechnische Nutzen im ent-
sprechenden Gebiet - soweit für die Interessenabwägung relevant
und technisch zumutbar - mit Hilfe von Simulationsmodellen zu
veranschaulichen. In diesem Sinne ist auch ausreichend detailliertes
Kartenmaterial notwendig. Die Standortevaluation ist aber keines-
wegs allein Sache der Betreiberinnen, zumal § 26 EG UWR der Ge-
danke der Kooperation zugrunde liegt (siehe unten, Erw. 4.3) und
eine Hilfestellung seitens der mit den örtlichen Verhältnissen am
besten vertrauten Baubehörde erwartet werden kann. Die zuständige
Baubehörde kann mit Blick auf die planerischen öffentlichen Interes-
sen einzelne und aus ihrer Sicht besser geeignete Alternativstandorte
innert nützlicher Frist einbringen und der Betreiberin in geeigneter
Form zur Stellungnahme vorlegen. Zudem hat sie für ein beförderli-
2012
Verwaltungsgericht
118
ches Verfahren zu sorgen und fehlende Grundlagen rechtzeitig einzu-
fordern. Die zuständige Baubehörde hat die Interessen am beantrag-
ten Standort pflichtgemäss gegenüber denjenigen an einem Alterna-
tivstandort abzuwägen und - insbesondere bei einem vom anbegehr-
ten abweichenden Standort - detailliert und nachvollziehbar zu be-
gründen, inwieweit die planerischen Interessen dort besser gewähr-
leistet sind.
4.2.3.
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin zeigt sich die Konkreti-
sierungsbedürftigkeit von § 26 EG UWR auch darin, dass es entge-
gen dem Wortlaut der Norm kaum je für eine Antenne den einen
geeignetsten Standort, sondern stets eine Mehrzahl von möglichen
Standorten gebe, wovon sich manche besser, manche schlechter eig-
nen. Der Einwand sticht ins Leere: Zwar können sich durchaus meh-
rere Standorte als grundsätzlich geeignet erweisen. Die gemäss § 26
EG UWR gebotene Interessenabwägung zielt indes gerade darauf ab,
auch unter mehreren möglichen den am besten geeigneten Standort
zu bestimmen, welcher den gegenübergestellten Interessen insgesamt
am besten Rechnung trägt. Hat die Abwägung tatsächlich im Einzel-
fall zum Ergebnis, dass mehrere nahezu gleichermassen geeignete
Standorte existieren, so steht der Gemeinde im Einklang mit der
Ansicht der Beschwerdeführerin kein "Zuweisungsrecht" zu. Der
Grundsatz der Verhältnismässigkeit (Art. 5 Abs. 2 BV) und die Wirt-
schaftsfreiheit (Art. 27 BV) gebieten, dass die Mobilfunkbetreiberin
unter gleichermassen geeigneten Standorten wählen kann. Steht kein
besser geeigneter Alternativstandort zur Verfügung, ist die Verweige-
rung der Baubewilligung für den beantragten Standort unverhältnis-
mässig bzw. unrechtmässig. Durch verfassungskonforme Auslegung
von § 26 EG UWR im besagten Sinne ergibt sich ferner, dass ein
Standort nicht bereits aufgrund jedes noch so geringfügigen Unter-
schieds zum Alternativstandort als besser geeignet gelten kann.
Vielmehr muss sich die graduelle Abstufung an Geeignetheit nach-
vollziehbar und klar begründbar aus der Abwägung ergeben.
Auch unter diesem Aspekt lässt sich die genügende Bestimmt-
heit von § 26 EG UWR demgemäss nicht in Frage stellen. Vielmehr
stellt die Norm eine genügende Gesetzesgrundlage dar.
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
119
4.3.
Hinzuweisen ist darauf, dass die Absicht des Gesetzgebers bei
Erlass von § 26 EG UWR in erster Linie war, ein möglichst frühzei-
tiges Zusammenwirken zwischen Mobilfunkbetreibern und Behörden
zu fördern. Die planerischen Auswirkungen einer Mobilfunkanlage
sollen bereits vor einem öffentlichen Bewilligungsverfahren eine
Optimierung erfahren und die Betreiberinnen schon vor Einreichung
des Baugesuchs zur Kontaktaufnahme mit der Standortgemeinde
angehalten sein (Botschaft Regierungsrat, a.a.O., S. 29; vgl. auch den
Leitfaden Mobilfunk für Gemeinden und Städte, a.a.O., S. 33;
BGE 133 II 353, Erw. 4.2). Ziel ist dabei, dass das Baugesuch bereits
für jenen Standort eingegeben wird, der vor Einleitung des Ver-
fahrens als bestgeeigneter aus der Evaluation hervorgegangen ist.
Das Gesagte bildet gleichsam klare Leitlinie für das gebotene
Vorgehen und befördert die Prozessökonomie. Der entsprechenden
Umsetzung dient in diesem Stadium auch die "Vereinbarung über die
Standortevaluation und -koordination" zwischen dem Departement
Bau-, Verkehr und Umwelt des Kantons Aargau und den Mobil-
funkbetreibern inklusive Beschwerdeführerin (siehe insbesondere
Art. 2 f.), welche im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Gesuchs-
einreichung noch nicht in Kraft stand.
Wo wie vorliegend ausnahmsweise und entgegen der gesetzge-
berischen Intention kein eigentliches Evaluationsverfahren vor dem
Baubewilligungsverfahren stattgefunden hat, ist die Standortprüfung
in letzterem - grundsätzlich erstinstanzlich - nachzuholen. Gegen-
teiliges lässt sich aus § 26 EG UWR mangels entsprechender Ein-
schränkung nicht ableiten. Zudem erscheint naheliegend, dass die
Betreiberinnen sich nicht durch vor dem Verfahren unterlassene Ko-
operation einer Standortevaluation entziehen können. Umgekehrt
sind die Behörden genauso zur Kooperation angehalten. Insbeson-
dere entspricht es nicht dem Zweck von § 26 EG UWR, den Verfah-
rensverlauf unverhältnismässig zu erschweren. So ist es den Ge-
meinden beispielsweise verwehrt, ein Zusammenwirken in Bezug auf
betreiberseits vorgeschlagene Standorte zu verweigern oder im Laufe
des Verfahrens gestaffelt immer "neue" mögliche Standorte in den
Raum zu stellen. Auch Schwierigkeiten der Verfahrenskoordination
2012
Verwaltungsgericht
120
oder unnötig angestrengte Verfahren sind tunlichst zu vermeiden.
Ebenfalls kann nicht Sinn von § 26 EG UWR respektive der Koope-
rationspflicht sein, dass sich verschiedene Gemeinwesen gegenseitig
Standorte geradezu "zuzuschieben" versuchen. Die Bestimmung hat
grundsätzlich auch keine Änderung der gesetzlichen Zuständigkeits-
ordnung zum Inhalt. Ausdrücklich ist schliesslich darauf hinzuwei-
sen, dass hinsichtlich der Alternativstandorte, die während des hän-
gigen Baubewilligungsverfahrens ins Auge gefasst werden, die
Rechte und Rechtsmittelwege der dort Betroffenen respektive Ein-
wendungsberechtigten nicht beschnitten werden dürfen (in Bezug auf
Alternativstandorte ist vorab an die Veröffentlichung und Auflage
gemäss § 60 BauG zu denken). Es ist ihnen die Ausübung jener
Rechte zu ermöglichen, die ihnen auch zuteil würden, wenn das
Baugesuch für den Alternativstandort eingereicht worden wäre. Dies
bedeutet auch, dass die Gemeinde das Verfahren für ursprünglich im
Baugesuch bezeichnete Standorte nicht vorab erledigen darf und
rechtskräftige Entscheide über nur einzelne Standorte zu verhindern
hat. Vielmehr hat sie die Beurteilung sämtlicher in Frage stehender
Standorte unter Beachtung der Rechtsgleichheit in demselben for-
mellen Entscheid gleichzeitig zu eröffnen und dazu entsprechende
Massnahmen der Verfahrenskoordination vorzunehmen.
5.
5.1.
Im vorliegenden Fall stellt sich ferner die Frage, ob der Ge-
meinderat gestützt auf § 26 EG UWR trotz innerhalb der Bauzone
anbegehrten Standorts auch einen solchen ausserhalb der Bauzone
(hier auf dem Hochspannungsmast Nr. ...) in die Standortprüfung
einbeziehen durfte. Auf dem rund 200 m vom ersuchten Standort
entfernten Mast sind unbestrittenermassen bereits die Antennenanla-
gen der anderen Betreiberinnen errichtet.
5.2.
Der Beschwerdeführerin ist ohne weiteres darin zuzustimmen,
dass die kantonalrechtlich vorgeschriebene Evaluation des bestge-
eigneten Standorts nicht die Grenze zwischen Bau- und Nichtbauge-
biet aufheben kann. Zum Vornherein steht fest, dass nicht auf einen
Alternativstandort ausserhalb der Bauzone ausgewichen werden
2012
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
121
kann, wenn für die Anlage keine bundesrechtlich geregelte Ausnah-
mebewilligung im Sinne von Art. 24 RPG erteilt werden könnte.
Dies trifft namentlich zu, wenn es ihr an der erforderlichen Standort-
gebundenheit (Art. 24 lit. a RPG) fehlt. Mobilfunkanlagen aber sind
in der Bauzone zonenkonform, soweit sie der Abdeckung dienen
(BGE 133 II 353, Erw. 4.2). In der Regel sind sie nicht auf einen
Standort ausserhalb der Bauzone angewiesen und dort entsprechend
nicht bewilligungsfähig. Als Ausnahme vorbehalten sind Deckungs-
oder Kapazitätslücken, welche aus funktechnischen Gründen mit
einem oder mehreren Standorten innerhalb der Bauzone nicht genü-
gend beseitigt werden können (BGE 133 II 321, Erw. 4.3.3; Urteil
des Bundesgerichts vom 29. Januar 2009 [1C_345/2008], Erw. 2.3
mit Hinweisen). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung können
Mobilfunkantennen ausserhalb der Bauzone aber auch darüber
hinaus unter besonderen qualifizierten Umständen ausnahmebewilli-
gungsfähig sein: Werden sie nämlich auf bereits bestehenden Bauten
und Anlagen (insbesondere Antennen- und Hochspannungsmasten)
angebracht und nehmen folglich - im Unterschied zu anderen Bauten
und Anlagen - kein neues unüberbautes Nichtbauzonenland in An-
spruch, kann sich eine Mobilfunkantenne ausserhalb der Bauzone
dann als standortgebunden im Sinne von Art. 24 lit. a RPG erweisen,
wenn sich der Standort unter Abwägung aller Interessen gegenüber
jenen innerhalb der Bauzone als wesentlich geeigneter erweist.
Voraussetzung ist dabei, dass die Anlage keine erhebliche Zweck-
entfremdung von Nichtbauzonenland bewirkt und nicht störend in
Erscheinung tritt (Urteil des Bundesgerichts vom 28. August 2009
[1C_478/2008], Erw. 4.1; BGE 133 II 321, Erw. 4.3.3). Auch vorlie-
gend steht mit dem vom Gemeinderat alternativ vorgeschlagenen
Hochspannungsmasten eine bestehende Anlage zur Errichtung der
Mobilfunkanlage in Frage, wobei offenbar aufgrund der Akten zu-
mindest Aussicht auf eine Ausnahmebewilligung bestünde: Die Ab-
teilung für Baubewilligungen des BVU jedenfalls führte in der Ver-
nehmlassung vom 6. Oktober 2010 zu den entsprechenden Voraus-
setzungen aus, dass eine Zweckentfremdung von Nichtbauzonenland
oder eine störende Erscheinung der Antennenanlage wohl ausge-
schlossen werde könne.
2012
Verwaltungsgericht
122
5.3.
Danach bleibt zu prüfen, ob § 26 EG UWR den Einbezug von
Alternativstandorten ausserhalb der Bauzone in die Standortprüfung
nicht nur vor Einleitung des Verfahrens, sondern auch nach Ein-
reichung eines ordentlichen Baugesuchs zulässt. Die Standortprüfung
nach Art. 24 RPG und jene gemäss § 26 EG UWR beruhen auf un-
terschiedlichen Rechtsgrundlagen. Offen gelassen werden kann je-
doch, ob sich im Sinne der Vorinstanzen die bundesgerichtliche
Rechtsprechung zu ausserhalb der Bauzone beantragten Ausnahme-
bewilligungen auf § 26 EG UWR übertragen lässt, dergemäss - für
die Standortprüfung im Rahmen von Art. 24 RPG - sowohl Standorte
innerhalb wie ausserhalb der Bauzone zu berücksichtigen sind
(BGE 133 II 409, Erw. 4.2.; BGE 133 II 321, Erw. 4.3.3; Urteil des
Bundesgerichts vom 24. April 2012 [1C_405/2011], Erw. 3.1). § 26
EG UWR jedenfalls enthält keine Einschränkung der Standortprü-
fung auf das Baugebiet für den Fall der Einreichung eines ordentli-
chen Baugesuchs. Soweit wie hier eine Installation auf bestehenden
Antennenstandorten ausserhalb des Siedlungsgebiets in Frage steht,
kann der entsprechende Standort folglich (unter Voraussetzung der
Bewilligungsfähigkeit) durchaus einbezogen werden (vgl. auch
Wittwer, a.a.O., S. 119). Zu beachten sind aber insbesondere die im
vorliegenden Entscheid statuierten Grundsätze der Verfahrensfüh-
rung (siehe oben, Erw. 4.3). Ferner bedeutet dies zum Vornherein
nicht, dass die Mobilfunkbetreiberinnen Standorte ausserhalb der
Bauzone aus eigener Initiative zu evaluieren verpflichtet sind.
Demgemäss ist für das vorliegende Bauvorhaben zu evaluieren,
ob der alternative Standort auf dem Hochspannungsmast oder der
von der Beschwerdeführerin beantragte Standort sich als geeigneter
erweist. | 4,573 | 3,620 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2012-18_2012-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-18.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-18.pdf | AGVE_2012_18 | null | nan |
81511bc6-f780-5a88-986d-cc337c059f19 | 1 | 412 | 870,730 | 1,012,521,600,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
200
[...]
61
Einweisung zur Untersuchung; Abklärungsauftrag; Zwangsmassnahmen
grundsätzlich nicht zulässig.
-
wird eine Einweisung zur Untersuchung angeordnet, ist das Ergebnis
der Untersuchung der Einweisungsbehörde sofort mitzuteilen, damit
diese die definitive Anstaltsunterbringung oder die Entlassung des Be-
troffenen verfügt.
-
Einweisung zur Untersuchung nur mit konkretem Abklärungsauftrag
zulässig.
-
bei einer Einweisung zur Untersuchung steht noch nicht fest, ob die
Voraussetzungen für eine fürsorgerische Freiheitsentziehung gegeben
sind, weshalb Zwangsmassnahmen bei der Einweisung zur Untersu-
chung grundsätzlich nicht zulässig sind.
Verfügung des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 6. Februar 2002 in
Sachen F.S. gegen Verfügung des Bezirksarztes L. und Entscheid der Klinik
Königsfelden.
Aus den Erwägungen:
A. Der Bezirksarzt hat die Zurückbehaltung des Beschwerde-
führers in der PKK
zur Untersuchung
angeordnet. Nach § 67d EG
ZGB ist eine Einweisung (oder Zurückbehaltung) zur Untersuchung
möglich, wenn genügend objektive Anhaltspunkte vorliegen, wonach
eine fürsorgerische Freiheitsentziehung überhaupt ernsthaft in
Betracht kommt. Im Weiteren ist erforderlich, dass der für die Ein-
weisung zuständigen Behörde noch wesentliche Grundlagen für
einen definitiven Einweisungsentscheid fehlen, dass die Klinik über
das notwendige Fachwissen verfügt, um die verlangte Untersu-
chung/Abklärungen vorzunehmen, und dass die Untersuchung nicht
ambulant durchgeführt werden kann (AGVE 1983, S. 108 ff.; 1984,
S. 216 f.; 1995, S. 248). Die Untersuchung muss möglichst zügig
2002
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
201
durchgeführt werden (§ 67d Abs. 3 EG ZGB; AGVE 1989, S. 186),
das Ergebnis der Untersuchung ist der Einweisungsbehörde sofort
mitzuteilen und diese hat darauf unverzüglich entweder die definitive
Anstaltsunterbringung zu verfügen oder den Betroffenen zu entlassen
(AGVE 1984, S. 217; 1994, S. 351).
B. Welche Grundlagen der Einweisungsbehörde noch fehlen,
kann nur diese selbst bestimmen. Sie muss deshalb bei einer Einwei-
sung zur Untersuchung genau und eindeutig festhalten, was zu unter-
suchen bzw. abzuklären ist (AGVE 1994, S. 351). Ohne einen kon-
kreten Abklärungsauftrag an die PKK ist die Einweisung zur Unter-
suchung unvollständig und muss aus diesem Grund aufgehoben
werden. Allerdings ist es sachgerecht, der Einweisungsbehörde
zunächst eine kurze Frist zur Verbesserung einzuräumen.
C. Zwangsmassnahmen dürfen nur im Rahmen einer fürsorgeri-
schen Freiheitsentziehung angeordnet und vorgenommen werden
(§ 67 e
bis
Abs. 3 EG ZGB). Bei einer Einweisung zur Untersuchung
steht gerade noch nicht fest, ob die Voraussetzungen für eine (de-
finitive) fürsorgerische Freiheitsentziehung und damit für eine
Zwangs
behandlung
gegeben sind. Dies spricht dagegen, Zwangs-
massnahmen auch bei einer Einweisung zur Untersuchung als zuläs-
sig zu erachten. Vielmehr bleiben die Möglichkeiten der PKK - wie
auch sonst, wenn sich Personen in der Klinik befinden, ohne dass
bereits eine fürsorgerische Freiheitsentziehung verfügt wurde - auf
die Anordnung von Notfallmassnahmen beschränkt. | 674 | 564 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-61_2002-02-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-61.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-61.pdf | AGVE_2002_61 | null | nan |
8153b61c-8cb1-5d4e-9d12-60d7d47a981d | 1 | 412 | 871,524 | 1,231,027,200,000 | 2,009 | de | 2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
169
[...]
33
Überbautes Gebiet; Enteignung; Zuweisung zum Baugebiet
-
Baulücke, weitgehend überbautes Gebiet
-
Siedlungszusammenhang im ländlichen Raum
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 19. Januar 2009 in Sachen
W.M. gegen Schätzungskommission (WBE.2008.103).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Im neuen Zonenplan wurde die Parzelle Nr. Z. mit rund 1,3 ha
der Zone W3, 2. Etappe, und teilweise der Uferschutzzone sowie mit
ca. 0,3 ha der OE zugewiesen. Eine Fläche von rund 0,09 ha in der
Uferschutzzone wurde im Jahre 2003 an den Kanton abgetreten. Die
verbleibenden Flächen im Baugebiet unterliegen besonderen Son-
dernutzungsplanpflichten gemäss § 16 Abs. 2 und 3 BNO betreffend
Erschliessung und gemäss § 21 Abs. 2 BNO betreffend Gestaltungs-
plan. Die "Bleiwiese" ist unüberbaut und grenzt im Osten und Nor-
den unmittelbar an Parzellen, die in der W3 oder in der Dorfzone
2009
Verwaltungsgericht
170
(DZ) liegen. Im weiteren Umkreis befinden sich überbaute Grund-
stücke in der Wohnzone 2 (W2), in der Ein- und Zweifamilienhaus-
zone (E2) sowie in der OE. Nach Westen grenzt die Parzelle an die
Surb und die Surbtalstrasse. Entlang der Surb wird die Bauzonen-
grenze durch die Uferschutzzone bestimmt. Jenseits der Surb bzw.
der Surbtalstrasse befinden sich weitere Parzellen der Gewerbezone,
der Wohn- und Gewerbezone (WG), der W2 und der DZ. Die ge-
nannten Parzellen in der (näheren und weiteren) Umgebung der
"Bleiwiese" sind mehrheitlich überbaut, wobei entlang der Surbtal-
strasse eine Bautiefe in der Zone W2 lärmvorbelastet und nicht über-
baut ist. Die Parzelle des Beschwerdeführers grenzt lediglich an ihrer
nordwestlichen Ecke an einen schmalen Streifen Landwirt-
schaftsland. Die Parzelle ist nahe dem Dorfzentrum und wird heute
noch landwirtschaftlich genutzt.
Die Zuweisung zum Baugebiet im Rahmen der Nutzungspla-
nung 1994/96 führt nicht gleichsam "automatisch" dazu, dass in ent-
eignungsrechtlicher Hinsicht von einem Einzonungsgebot auszuge-
hen ist. Vielmehr ist aus der Retrospektive zu beurteilen, ob eine
Einzonung am massgebenden Stichtag (5. März 1996) nach den Be-
stimmungen des RPG zu erwarten war (BGE 132 II 218 Erw. 2.3.1).
3.2.
Von einem Einzonungsgebot, das eine Entschädigungspflicht
auslöst, ist u.a. dann auszugehen, wenn sich das fragliche Grund-
stück im weitgehend überbauten Gebiet befindet. Der bundesrechtli-
che Begriff des weitgehend überbauten Gebiets im Sinne von Art. 15
lit. a RPG bezeichnet im Wesentlichen den geschlossenen Siedlungs-
bereich mit eigentlichen Baulücken (...; vgl. dazu
BGE 1C_111/2009 Erw. 3.1 - 5 [auszugsweise unten abgedruckt] und
BGE 132 II 218 Erw. 4 mit zahlreichen Hinweisen; BGE 122 II 455
Erw. 6.a; AGVE 2003, S. 235 f.; AGVE 2003, S. 235 f.)
3.3.
Die Siedlungsqualität einer unüberbauten Fläche wird von der
sie umgebenden Überbauung umso weniger beeinflusst, je grösser
sie ist. Bei der quantitativen Betrachtungsweise sind sodann städti-
sche und ländliche Verhältnisse zu unterscheiden (Alexandre
Flückiger, in: Heinz Aemisegger / Alfred Kuttler / Pierre Moor /
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
171
Alexander Ruch [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über die
Raumplanung [RPG-Kommentar], Zürich 1999, Art.
15 N
63
FN 108). In ländlichen Verhältnissen - die Gemeinde X. ist eine Ge-
meinde im ländlichen Raum (vgl. Richtplantext 1996, Kapitel S 1.1
Beschluss 1.1) - hat das Verwaltungsgericht in seiner Rechtspre-
chung in Bezug auf eine auf drei Seiten von Bauzonen umgebene
Fläche von ca. 1,2 ha das Vorliegen einer Baulücke unter anderem
mit dem Hinweis auf die Grösse und die fehlende Prägung durch die
umliegenden Bauten verneint (VGE IV/33 vom 5.
Juli 2000
[BE.1998.00072], S. 9 f.). Den Baulückencharakter ebenfalls abge-
sprochen hat das Verwaltungsgericht sodann Flächen von rund 0,8 ha
(VGE IV/17 vom 22. Juni 1998 [BE.1996.00336], S. 8 f.), 1,5 ha
(VGE IV/18 vom 22. Juni 1998 [BE.1996.00327], S. 9 f.), ca. 2,5 ha
(VGE III/49 vom 30. Juni 1997 [BE.1995.00021], S. 9 f.) oder 2,7 ha
(VGE IV/63 vom 24. November 2000 [BE.1997.00100], S. 10 f.)
sowie 2,2 ha (VGE IV/48 vom 24. August 2001 [BE.1999.00157],
S. 11 ff.; siehe hiezu BGE vom 22. Januar 2002 [1P.692/2001],
Erw. 3, in: ZBl 2003, S. 651 ff.). In einer Agglomerationsgemeinde
wurde eine Baulücke für eine Grundstücksfläche von 0,9 ha bejaht,
weil die umliegenden Gebäude und die Erschliessungsanlagen der
strittigen Fläche einen eigenständigen Charakter nahmen (AGVE
2003, S. 235 ff.). Das Bundesgericht scheint in seiner neueren Recht-
sprechung die im erwähnten BGE vom 22. Januar 2002 als Richt-
schnur angeführte (Maximal-) Grösse für eine Baulücke von 1 ha
(siehe Erw. 3.4.1 des genannten BGE) zu relativieren (BGE 132 II
218 Erw. 4.2.5; BGE vom 24. November 2006 [1A.126/2006],
Erw. 4; BGE vom 4. November 2003 [1A.72/2003], Erw. 4.1.1; vgl.
hiezu die Kritik von Rudolf Kappeler, Die bundesgerichtliche Ent-
schädigungspraxis bei materieller Enteignung infolge Bauverbotszo-
nen, Zürich / St. Gallen 2007, Rz. 106 f.).
Allein die Grösse des Grundstücks von 1,66 ha spricht vor dem
Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung gegen die Annahme
einer Baulücke, weshalb das Verwaltungsgericht die vorinstanzliche
Feststellung einer Baulücke nicht teilen kann. Die "Bleiwiese" ist
eher eine "grössere unüberbaute Fläche im Siedlungsgebiet"
2009
Verwaltungsgericht
172
(BGE vom 24. August 2004 [1A.21/2004], Erw. 3.7.1; BGE vom
4. November 2003 [1A.72/2003], Erw. 4.1.1).
Der Siedlungszusammenhang und der Siedlungscharakter
sprechen nicht zwingend für eine Zuweisung zum Baugebiet. Das
Siedlungsgebiet der Gemeinde X. konzentriert sich um die zwei
(historischen) Dorfkerne, Ober- und Unter-Gemeinde X.. Nebst der
peripher gelegenen Wohnzone E im Gebiet "Steigächer" und der Ge-
werbezone "Unterwiese" sowie den Weilern ("Degernmoos", "Vogel-
sang", "Himmelrich", "Husen") hat sich das Siedlungsgebiet, wie
dies bei Strassendörfern im Aargau typisch ist, zwischen den beiden
Dorfzentren und entlang der Kantonsstrasse (Surbtalstrasse) ausge-
dehnt. Jenseits der Surbtalstrasse ist das (lärmvorbelastete) Gebiet
nicht überbaut. Die Surb und die Surbtalstrasse trennen das Sied-
lungsgebiet zwischen Ober- und Unter-Gemeinde X.. Diese Tren-
nungsfunktion, welche auch mit der Uferschutzzone Eingang in die
Planung gefunden hat, hat auch für das Gebiet "Bleiwiese" eine
landschaftsfunktionale Prägung. Die isolierte, inselartige Gewerbe-
zone ist relativ klein, und seine Bauten prägen die "Bleiwiese" nicht.
Eine relevante Prägung vermag auch der Gärtnereibetrieb als Ein-
zelbaute im Norden nicht zu vermitteln. Gleiches gilt für die eher
lockere Überbauung im nach Osten und Norden angrenzenden Bau-
gebiet. Die Dorfzone wiederum ist kompakt und beschränkt auf den
eigentlichen Dorfkern von Ober-Gemeinde X.. Die "Bleiwiese" prä-
sentiert sich nicht als isolierte Insel im Siedlungsgebiet, und der
Nähe zum Dorfzentrum von Ober-Gemeinde X. kommt angesichts
der ländlichen Siedlungsstruktur keine entscheidende Bedeutung zu
(siehe hiezu BGE vom 11. November 1997 [1A.200/1997], Erw. 4.c,
in: ZBl 1999, S. 38). In der Praxisarbeit des Gemeindeschreibers, die
vom Gemeinderat den Grundeigentümern als gute Grundlage für eine
künftige Erschliessung im Gebiet "Bleiwiese" zugestellt wurde, wird
auf die Bedeutung von Grünflächen und Parkanlagen innerhalb des
Siedlungsgebiets hingewiesen. Sodann verlangen auch die Ge-
staltungsplanvorschriften für die "Bleiwiese" in § 21 Abs. 2 BNO
zusammengefasste Freiräume und deren sorgfältige Gestaltung. Es
kann jedenfalls nicht gesagt werden, dass die "Bleiwiese" von der sie
umgebenden Überbauung vor allem mit Einfamilienhäusern in einer
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
173
Weise geprägt würde, dass nur eine Zuweisung zu einer Bauzone in
Betracht käme. Für eine eigenständige gestalterische Funktion
sprechen - nebst der Uferschutzzone - die planerischen Entwick-
lungsvorstellungen der Gemeinde X.. Die Etappierung der Bauzone
erfolgte zur Koordination der Siedlungsentwicklung und zur Siche-
rung des Handlungsspielraums für eine künftige kontinuierliche bau-
liche Entwicklung, und die Gestaltungsplanvorschriften sind in der
Bedeutung der "Bleiwiese" für die Gemeinde begründet. Nach der
Zuweisung einer grösseren Fläche der "Bleiwiese" in die W3 steht
für die "zusammengefassten" Freiräume nach den Gestaltungsplan-
vorschriften bzw. die Grünflächen oder Parkanlagen insbesondere die
Teilfläche in der OE im Vordergrund, so dass mit Bezug auf diese
Teilfläche auch eine landschafts- bzw. siedlungsgestalterische Funk-
tion gegen die zwingende Zuweisung zum Baugebiet spricht (siehe
BGE 116 Ia 335 Erw. 4; BGE vom 22. Januar 2002 [1P.692/2001],
Erw. 3.4.1, in: ZBl 2003, S. 652). Die Erschliessung ist auf das Ende
der Planungsperiode vorgesehen, und die "Bleiwiese" wird als lang-
fristige Baulandreserve behandelt. Angesichts des Reservecharakters
wäre damit auch eine Zuweisung zu einer Übergangszone gemäss
§ 170 Abs. 2 BauG planungsrechtlich nicht zu beanstanden (siehe
hiezu VGE IV/48 vom 24. August 2001 [BE.1999.00157], S. 8 ff.).
4.
4.1.
Die Vorinstanz hat festgehalten, der "Bleiwiese" fehle es an ei-
ner genügenden verkehrsmässigen Erschliessung. Die Weidstrasse,
die an das Grundstück des Beschwerdeführers heranführe, entspreche
mit rund 3,5 m Breite und einer blossen Oberflächenteerung den
Vorgaben der Vereinigung Schweizerischer Strassenfachleute (VSS)
nicht. Zudem sei die Wasserversorgung nicht gesichert. Der nächst-
gelegene Hydrant stehe auf Parzelle Nr. Z.. Sodann gebe es eine
Wasserleitung in der Bodenstrasse, an die aber nur unter Inan-
spruchnahme eines Durchleitungsrechts über eines der Nachbar-
grundstücke angeschlossen werden könnte. Auch für die abwasser-
mässige Erschliessung müsste privates Land in Anspruch genommen
werden. Zusammenfassend hält die Vorinstanz fest, die "Bleiwiese"
sei ungenügend erschlossen.
2009
Verwaltungsgericht
174
Was den Kanalisationsanschluss anbelangt, so liegt der nächste
Kanalisationsanschlusspunkt gemäss dem Generellen Entwäs-
serungsplan (GEP) der Gemeinde X., Stand November 2003, in der
nordwestlichen Ecke der "Bleiwiese". Die (umstrittene) Frage, ob die
30-jährige Leitung genügend Kapazität aufweist, d.h. ob sie den
Anforderungen der Gewässerschutzgesetzgebung entspricht, kann
offen gelassen werden, da die Voraussetzungen der groben Erschlos-
senheit und der getätigten Investitionen (siehe hinten Erw. 4.2) oh-
nehin nicht erfüllt sind, die drei Erfordernisse aber kumulativ vor-
liegen müssen.
4.2.
In Bezug auf die Frage nach den für die Erschliessung und
Überbauung seines Lands getätigten Investitionen, äusserte sich der
Beschwerdeführer anlässlich des Augenscheins der Vorinstanz wi-
dersprüchlich: Einerseits stellte er sich auf den Standpunkt, er habe
in sein Land investiert, andererseits führte seine Rechtsvertreterin
aber aus, der Beschwerdeführer habe noch keine Vorfinanzierung der
Erschliessung geleistet. Der Beschwerdeführer hat nicht näher
definiert, worin die von ihm geltend gemachten Investitionen liegen.
Mangels gegenteiligen Nachweises ist daher mit der Vorinstanz da-
von auszugehen, dass allfällige Aufwendungen angesichts der Tatsa-
che, dass die Parzelle Nr. Z. bei weitem nicht erschlossen ist, kein
erhebliches Ausmass angenommen haben.
4.3.
Der Beschwerdeführer macht auch vor Verwaltungs- und Bun-
desgericht nicht geltend, sein Grundstück sei im Zeitpunkt der
Rechtskraft der Nutzungsplanung 1994/1996 erschlossen gewesen
bzw. dass ihm die zur Erreichung der Erschliessung erforderlichen
Rechte von Dritten abgetreten worden sind. Ebenso wenig werden
die Feststellungen der Vorinstanz zu den fehlenden Investitionen und
zu den Rechtswirkungen der Sondernutzungsplanung, sowie den
erforderlichen Hochwasserschutzmassnahmen beanstandet.
5. (...)
6.
Die unüberbaute Parzelle des Beschwerdeführers kann aufgrund
ihrer Grösse (ca. 1,66 ha) und ihrer Lage nicht als Baulücke bezeich-
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
175
net werden. Der Beschwerdeführer macht auch nicht geltend, er-
hebliche Kosten für die Erschliessung oder Überbauung seiner Par-
zelle aufgewendet zu haben. Sodann sind auch keine besonderen
Vertrauenstatbestände erkennbar, auf deren Grundlage der Be-
schwerdeführer mit einer Einzonung des Grundstücks in die Bauzone
hätte rechnen können.
Die Ausführungen der Vorinstanz, wonach der Beschwerdefüh-
rer die Parzelle Nr. Z. - infolge der ungenügenden Erschliessung und
der fehlenden erheblichen Aufwendungen - nicht aus eigener Kraft
innert absehbarer Frist hat erschliessen und überbauen können, ist
daher im Ergebnis nicht zu beanstanden. Auch wenn aufgrund der
unbestrittenen Erschliessungspflicht der Gemeinde X. innerhalb der
Planungsperiode eine Erschliessung vorgesehen ist, ist vorliegend ein
Realisierungszeitpunkt unter zehn Jahren auszuschliessen, weshalb
auch das Erfordernis einer Überbauung in "naher Zukunft" nicht er-
füllt ist.
Die "Bleiwiese" hätte somit anlässlich der Nutzungsplanung
1994/96 entschädigungslos einer Nichtbauzone zugewiesen werden
dürfen, weshalb auch die Zuweisung der Teilfläche von 0,3 ha in die
OE, welcher überdies auch landschafts- bzw. siedlungsgestalterische
Funktion zukommt (siehe vorne Erw. 3.3), keine materielle Enteig-
nung begründen kann.
Die Begehren um Entschädigung für materielle Enteignung hin-
sichtlich der Zuweisung der Teilfläche zur Zone OE ist daher abzu-
weisen.
(Hinweis: Das Bundesgericht hat die Beschwerde gegen das
Urteil vom 19. Januar 2009 mit Entscheid vom 6. Juli 2009 abgewie-
sen [1C_111/2009]. Aus den Erwägungen:
3.3.
Die Ausführungen (des Verwaltungsgerichts) lassen keine Ver-
letzung von Bundesrecht erkennen. Sowohl die Grösse des unüber-
bauten Gebiets (insgesamt 1.6 ha) als auch seine Lage an der Surb
und der Surbtalstrasse, an der Trennlinie zwischen den beiden histo-
rischen Siedlungsgebieten der Gemeinde X., sprechen für eine eigen-
ständige Bedeutung dieser unüberbauten Fläche und damit gegen das
Vorliegen einer Baulücke.
2009
Verwaltungsgericht
176
4.
Das Verwaltungsgericht hat weiter festgehalten, dass die Blei-
wiese zum Stichtag nicht grob erschlossen war und der Beschwerde-
führer auch nicht nachgewiesen habe, erhebliche Investitionen für
die Erschliessung und Überbauung seines Landes aufgewendet zu
haben.
4.1.
Der Beschwerdeführer bringt dagegen nur vor, dass eine Er-
schliessung möglich gewesen sei, nicht aber, dass sie bereits bestand.
Soweit er der Gemeinde X. vorwirft, ihrer Erschliessungspflicht
nicht nachgekommen zu sein, kann auf den Rückweisungsentscheid
vom 14. März 2008 verwiesen werden.
4.2.
Hinzu kommt, dass die Parzelle Nr. Z. am Stichtag (März 1996)
stark hochwassergefährdet war. Noch heute, nach den im Jahr 2003
von Kanton und Gemeinde durchgeführten Hochwasserschutzmass-
nahmen, weist die Bleiwiese ein Schutzdefizit auf und wurde deshalb
von der Schätzungskommission als nicht baureif betrachtet.
) | 3,677 | 2,806 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-33_2009-01-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-33.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-33.pdf | AGVE_2009_33 | null | nan |
819d15c0-045d-56b5-8c47-eb6757972381 | 1 | 412 | 870,395 | 1,383,264,000,000 | 2,013 | de | 2013
Personalrecht
327
[...]
52
Besoldung von Lehrpersonen; Aufschub der Mutterschaftsentschädigung
bei längerem Spitalaufenthalt des Neugeborenen
-
Während dem Aufschub der Mutterschaftsentschädigung besteht
nach Massgabe des GAL sowie dessen Folgeerlassen kein Anspruch
auf eine Lohnfortzahlung für die Mutter, die ihrerseits krank ist
und/oder deren ständige Verfügbarkeit zugunsten des Kindes
gewährleistet sein muss.
-
Die Beurteilung, ob für die Lehrpersonen die Minimalansprüche des
Schweizerischen Obligationenrechts eingehalten sind (§ 4 Abs. 3
GAL), darf sich nicht auf eine isolierte Betrachtung beschränken
(Erw. 6.).
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
328
Urteil des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 8. November 2013 i.S.
K.B. gegen Kanton Aargau (WKL.2013.15).
Aus den Erwägungen
II.
1.
Die Tochter der Klägerin wurde am 20. September 2012 gebo-
ren. Gemäss dem Bericht des Kantonsspitals X. vom 24. Januar 2012
war sie aufgrund einer extremen Frühgeburt bis am 24. Januar 2013
auf der Neonatologie hospitalisiert. Die tägliche Anwesenheit und
zeitgerechte Verfügbarkeit der Mutter resp. der Eltern war dringend
erforderlich.
Mit ärztlichem Zeugnis des Kantonsspitals X. vom 23. Oktober
2012 wurde der Klägerin infolge Krankheit vom 20. September 2012
bis zum 27. Dezember 2012 eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % at-
testiert.
2.
2.1.
Gemäss § 18 GAL richtet sich der Anspruch auf Lohn, Lohn-
fortzahlung, Entschädigungen und Vorsorgeleistungen nach den De-
kreten des Grossen Rates. Sowohl zur Lohnfortzahlung bei Krank-
heit als auch zur Entschädigung während des Mutterschaftsurlaubs
enthält das LDLP diverse Bestimmungen (vgl. insbesondere
§§ 19 ff.). Der Aufschub des Mutterschaftsurlaubs wird darin nicht
thematisiert.
2.2.
§ 43 VALL ("Urlaub bei Schwangerschaft und Mutterschaft")
lautet wie folgt:
"
1
Lehrerinnen haben Anspruch auf Schwangerschafts- und
Mutterschaftsurlaub während 13 Schulwochen.
2
Mindestens 14 Wochen des bezahlten Schwangerschafts-
und Mutterschaftsurlaubs sind ab der Niederkunft zu beziehen. Er
wird durch die in den Urlaub fallenden Schulferien entsprechend
verlängert.
2013
Personalrecht
329
2bis
Schiebt die Lehrerin den Anspruch auf Mutterschaftsent-
schädigung gemäss Art. 16c Abs. 2 des Bundesgesetzes über den
Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Erwerbs-
ersatzgesetz, EOG) vom 25. September 1952 zufolge längeren
Spitalaufenthalts des Neugeborenen auf, wird der bezahlte Urlaub
unterbrochen. Für die betreffende Zeit ist unbezahlter Urlaub zu
beziehen.
3
Während des Schwangerschafts- und Mutterschaftsurlaubs
und den davon berührten Schulferien ruhen die dem Berufsauf-
trag zugrunde liegenden Pflichten."
Unter unbezahltem Urlaub (vgl. Art. 43 Abs. 2
bis
VALL) ver-
steht man die vorübergehende Suspendierung von der Arbeitspflicht
einerseits und der Lohnzahlungspflicht andererseits. Das Arbeitsver-
hältnis besteht auch während des unbezahlten Urlaubs; der Anspruch
auf Lohnfortzahlung entfällt jedoch (vgl. zum Ganzen U
LLIN
S
TREIFF
/
A
DRIAN VON
K
AENEL
/R
OGER
R
UDOLPH
, Arbeitsvertrag,
Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR, 7. Auflage, Zürich 2012,
Art. 329a N 11). Wird die Bestimmung in Art. 43 Abs. 2
bis
VALL
entsprechend ihrem Wortlaut angewandt, so hat folglich die Klägerin
für die Zeit zwischen der Geburt ihres Kindes und dessen Spital-
entlassung keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung gegenüber ihrem
Arbeitgeber.
2.3.
§ 34a PLV enthält für das Verwaltungspersonal folgende Rege-
lung:
"
1
Mindestens 14 Wochen des bezahlten Schwangerschafts-
und Mutterschaftsurlaubes sind ab der Niederkunft zu beziehen.
2
Schiebt die Mitarbeiterin den Anspruch auf die Mutter-
schaftsentschädigung gemäss Art. 16c Abs. 2 EOG zufolge
längeren Spitalaufenthaltes des Neugeborenen auf, wird der
bezahlte Urlaub unterbrochen. Für die betreffende Zeit sind
Überstunden zu kompensieren, Ferien zu beziehen, positive
Gleitzeitsaldi abzubauen, oder es ist unbezahlter Urlaub zu
beziehen."
3. (...)
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
330
4.
4.1.
Gestützt auf Art. 16b ff. EOG haben alle erwerbstätigen Mütter
für eine Dauer von 14 Wochen ab dem Zeitpunkt der Geburt An-
spruch auf eine Mutterschaftsentschädigung in Form eines Taggelds.
Die Einführung der Mutterschaftsentschädigung im Jahre 2005 dient
der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Finanzierung
erfolgt über Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer an die Er-
werbsersatzordnung (EO) (vgl. zum Ganzen BBl 2002, S. 7523 ff.
[Parlamentarische Initiative Revision Erwerbsersatzgesetz. Auswei-
tung der Erwerbsersatzansprüche auf erwerbstätige Mütter. Bericht
der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des National-
rates vom 3. Oktober 2002]).
Art. 16h EOG sieht vor, dass die Kantone höhere oder längere
Mutterschaftsentschädigungen vorsehen können (Art. 16h EOG). Der
Kanton Aargau hat darauf verzichtet, eine entsprechende Regelung
zu treffen.
Zum Verhältnis zum Lohnfortzahlungsanspruch nach OR wird
im erwähnten Kommissionsbericht Folgendes vermerkt (BBl 2002,
S. 7550):
"Der Entschädigungsanspruch während des Mutterschafts-
urlaubs richtet sich neu nach dem EOG. Artikel 324a Absatz 3 OR
hat für die Zeit nach der Niederkunft keine Bedeutung mehr und
wird so angepasst, dass er sich nunmehr ausschliesslich auf Ar-
beitsverhinderungen infolge von Schwangerschaft der Arbeitneh-
merin bezieht."
4.2.
Der Entschädigungsanspruch entsteht grundsätzlich am Tag der
Niederkunft (Art. 16c Abs. 1 EOG). Bei längerem Spitalaufenthalt
des neugeborenen Kindes kann die Mutter beantragen, dass die Mut-
terschaftsentschädigung erst ausgerichtet wird, wenn das Kind nach
Hause kommt (Art. 16c Abs. 2 EOG). Dabei muss durch ein Arzt-
zeugnis nachgewiesen werden, dass das Neugeborene kurz nach der
Geburt mindestens drei Wochen im Spital verbleiben muss (Art. 24
Abs. 1 lit. b EOV).
2013
Personalrecht
331
Im erwähnten Kommissionsbericht (BBl 2002, S. 7545 f.) wird
zum Thema Aufschub des Mutterschaftsurlaubs Folgendes ausge-
führt:
"Der Mutterschaftsurlaub soll nicht nur zur Erholung der
Mutter von Schwangerschaft und Niederkunft dienen, sondern ihr
auch die nötige Zeit einräumen, sich in den ersten Monaten in-
tensiv um ihr Neugeborenes zu kümmern. Muss jedoch das Kind
nach der Geburt aus gesundheitlichen Gründen länger im Spital
bleiben, würde sich die Zeitspanne des Mutterschaftsurlaubs ver-
kürzen, in der sich die Mutter zuhause um das Kind kümmern
könnte. In diesen Fällen soll der Mutter die Möglichkeit einge-
räumt werden, den Entschädigungsanspruch des Kindes aufzu-
schieben, bis dieses das Spital verlassen kann. Der Mutterschafts-
urlaub ist aber auch in diesem Fall auf maximal 14 Wochen (98
Tage) nach Anspruchsbeginn beschränkt. Allerdings darf nicht
vergessen werden, dass sich bei dieser Regelung wegen des vom
Arbeitsgesetz vorgeschriebenen 8-wöchigen Arbeitsverbots für
die Mutter in gewissen Fällen Einkommenslücken ergeben kön-
nen, da ja die EO während dem Aufschub keine Leistungen er-
bringt und eine Lohnfortzahlung nicht in jedem Fall gesichert ist."
4.3.
Gestützt auf die obigen Erwägungen ergibt sich, dass die Kläge-
rin für die Zeit zwischen Geburt und Beginn des aufgeschobenen
Mutterschaftsurlaubes keine Mutterschaftsentschädigung geltend ma-
chen kann. Tatsächlich ist dies zwischen den Parteien unbestritten.
Zu prüfen bleibt im Folgenden die Frage, ob gestützt auf das
kantonale Personalrecht - entgegen dem Wortlaut von § 43 Abs. 2
bis
VALL (vgl. Erw. II/2.2) - ein Anspruch auf Lohnfortzahlung besteht,
wenn der Beginn des Mutterschaftsurlaubes hinausgeschoben wird
und in der Zwischenzeit die Mutter krank und/oder das Kind auf die
zeitgerechte Verfügbarkeit der Mutter angewiesen ist.
5.
5.1.
§ 4 Abs. 3 GAL lautet wie folgt:
"Die Minimalansprüche zum Schutz der Lehrpersonen ent-
sprechen denjenigen des Schweizerischen Obligationenrechts und
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
332
sind in jedem Fall einzuhalten. Vorbehalten bleiben die Bestim-
mungen in diesem Gesetz."
Die Bestimmung ist identisch mit derjenigen in § 4 Abs. 3
PersG.
5.2.
In der Botschaft des Regierungsrates des Kantons Aargau an
den Grossen Rat vom 19. Mai 1999, 99.102, betreffend das Personal-
gesetz wurde im Zusammenhang mit der erwähnten Formulierung in
§ 4 Abs. 3 PersG Folgendes festgehalten (S. 16):
"Im Sinne einer Anpassung an das privatrechtliche Arbeits-
recht werden diejenigen Bereiche, die zum Schutze der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer der Disposition der Parteien ent-
zogen sind, ebenfalls übernommen. Abs. 3 stellt dies sicher, in-
dem er die zu Gunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
aufgestellten zwingenden Bestimmungen des Obligationenrechts
als anwendbar erklärt. Das sog. OR-Minimum als Kernbestand
des arbeitsrechtlichen Schutzprinzips soll vom Kanton als Arbeit-
geber nur dann ausser Acht gelassen werden, wenn das Personal-
recht für die zu entscheidende Einzelfrage ausdrücklich eine
eigenständige Norm bereitstellt. (...)"
Im Rahmen der parlamentarischen Beratung wurde die ur-
sprüngliche Formulierung insofern verschärft, als nunmehr allfällige
Abweichungen vom OR-Minimum nicht allgemein im Personalrecht,
sondern im Personalgesetz selber ("... in diesem Gesetz.") vorgese-
hen sein müssen (Protokoll der nichtständigen grossrätlichen Kom-
mission Nr. 17 "Personalvorlagen" vom 3. Juni 1999, S. 41). Die
entsprechende Formulierung findet sich auch in § 4 Abs. 3 GAL. In
der diesbezüglichen Botschaft des Regierungsrates des Kantons Aar-
gau an den Grossen Rat vom 24. Mai 2000, 00.187, wurde unter
anderem ausgeführt (S. 16 f.), es liesse sich nicht rechtfertigen, wenn
dem Staat als Arbeitgeber weniger als Privaten abverlangt würde,
wenn nicht wichtige Gründe dafür vorlägen.
5.3.
Gemäss Art. 362 OR darf unter anderem weder durch Abrede,
Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag zuungunsten der
Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers von Art. 324a Abs. 1 und 3
2013
Personalrecht
333
OR (Lohn bei Verhinderung des Arbeitnehmers) abgewichen werden.
Die letztgenannte Bestimmung gehört mithin zu den Minimalan-
sprüchen gemäss OR, welche gemäss § 4 Abs. 3 GAL in jedem Fall -
unter Vorbehalt abweichender Bestimmungen im GAL selber - ein-
zuhalten sind.
Der Beklagte bringt dagegen vor, das Personalgesetz und das
GAL würden gestützt auf § 94 Abs. 1 KV die Grundzüge des Per-
sonalrechts regeln. Demgegenüber habe der Grosse Rat in alleiniger
Kompetenz gestützt auf § 82 Abs. 1 lit. e KV in LD und LDLP
Bestimmungen betreffend den Lohn, Lohnfortzahlungsansprüche etc.
erlassen. Daraus folgert der Beklagte, dass § 4 Abs. 3 GAL nicht auf
Bereiche ausgedehnt werden dürfe, die in LD und LDLP geregelt
seien. Vielmehr beziehe sich der Verweis nur auf die einschlägigen
Regelungen zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses; dies ergebe
sich auch aus dem Anhang zum GAL. Im Übrigen überlasse das
Bundesrecht (Art. 6 Abs. 1 ZGB) dem kantonalen Gesetzgeber die
Regelung seiner öffentlich-rechtlichen Befugnisse.
Diese Argumente vermögen nicht zu überzeugen. Der Verweis
in § 4 Abs. 3 GAL auf das OR-Minimum ist grundsätzlicher Natur
und enthält keine Einschränkung auf die Regelungen zur Beendigung
des Arbeitsverhältnisses; der Anhang zum GAL bezieht sich auf § 7
(vgl. den expliziten Wortlaut dieser Bestimmung) und nicht auf § 4
Abs. 3 GAL. Im Weiteren kann vorliegend offen gelassen werden, ob
und gegebenenfalls in welchem Masse der Grosse Rat - trotz seiner
alleinigen Kompetenz zur Regelung der Besoldungsfragen - beim
Erlass des LDLP an den Grundsatz in § 4 Abs. 3 GAL gebunden ist.
Tatsache ist, dass der Grosse Rat bezüglich der vorliegend relevanten
Frage einer allfälligen Lohnfortzahlungspflicht bei Aufschub des
Mutterschaftsurlaubes gar keine Regelung getroffen hat; die massge-
bende Bestimmung befindet sich vielmehr in § 43 Abs. 2
bis
VALL.
Der Regierungsrat ist beim Erlass des VALL, soweit das GAL und
das LDLP (in Bezug auf Besoldungsfragen) nichts anderes vorsehen,
selbstverständlich an die Vorgabe von § 4 Abs. 3 GAL gebunden.
Gänzlich irrelevant ist im vorliegenden Zusammenhang Art. 6 Abs. 1
ZGB: Eine originäre Anwendbarkeit von 324a OR steht ausser Dis-
kussion; es geht einzig um eine Anwendung kraft des Verweises in
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
334
§ 4 Abs. 3 GAL. Verweise im öffentlichen Personalrecht auf das
Privatrecht sind häufig und lassen sich grundsätzlich nicht beanstan-
den.
6.
6.1.
Die Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen "die Minimal-
ansprüche zum Schutz der Lehrpersonen" denjenigen des Obligati-
onenrechts entsprechen (§ 4 Abs. 3 GAL), ist heikel. Die Frage-
stellung erscheint ähnlich zu derjenigen, ob nach Massgabe von
Art. 362 OR eine Regelung zugunsten oder zuungunsten der Arbeit-
nehmenden ist (vgl. auch die Formulierung in Art. 324a Abs. 4 OR:
"... wenn sie für den Arbeitnehmer mindestens gleichwertig ist."); in
beiden Fällen erfolgt - nach Massgabe der Auswirkungen auf die
Mitarbeitenden - ein Vergleich zwischen den arbeitsrechtlichen
Bestimmungen des Obligationenrechts einerseits und einer hiervon
abweichenden Lösung andererseits. Bezüglich Art. 362 OR werden
folgende Gesichtspunkte als relevant angesehen (S
TREIFF
/
VON
K
AENEL
/
R
UDOLPH
, a.a.O., Art. 362 OR N 3): Zunächst kommt es
nicht auf die subjektive Meinung des Betroffenen an, sondern auf
diejenige von normalen, loyalen Arbeitnehmenden. Es gilt mithin ein
objektivierter Massstab. Sodann wird die Gleichwertigkeit nicht
aufgrund der gegebenen, konkreten Situation beurteilt, sondern sie ist
aus abstrakter Warte zu bestimmen. Schliesslich kommt es nicht auf
einen Gesamtvergleich zwischen der gesetzlichen und der vertragli-
chen Regelung an, aber auch nicht auf eine völlig isolierte Betrach-
tungsweise nur einer einzigen Abmachung. Am angemessensten wird
das Resultat, wenn man einen sog. Gruppenvergleich vornimmt und
z.B. die Ferienregelung als Ganzes oder die Lohnfortzahlungsrege-
lung als Ganzes betrachtet.
6.2.
Gemäss § 19 Abs. 1 LDLP gilt bei nachgewiesener Arbeitsun-
fähigkeit zufolge Krankheit und Unfall die Regel, dass der Lohn
während sechs Monaten in vollem Umfang ausgerichtet wird. Der
Arbeitgeber stellt bei Krankheit und Unfall die Lohnersatzleistung
für weitere 18 Monate sicher (§ 19a Abs. 1 LDLP), wobei die Mitar-
beitenden die Hälfte der dafür erforderlichen Prämien zahlen (§ 19a
2013
Personalrecht
335
Abs. 2 LDLP). Im Weiteren gilt der Grundsatz, dass während Mili-
tär-, Zivilschutz-, Feuerwehrdienst und zivilem Ersatzdienst, zu wel-
chem die Lehrpersonen aufgrund ihrer Einteilung und ihres Grads
verpflichtet sind, der Lohn ausbezahlt wird (§ 20 Abs. 1 LDLP). Bei
Schwangerschafts- und Mutterschaftsurlaub wird den betroffenen
Lehrerinnen der bisherige Lohn während 13 Schulwochen bezahlt
(§ 21 Abs. 1 LDLP); zusammen mit den anfallenden Schulferien er-
geben sich in jedem Fall mindestens 16 Wochen Urlaub (Botschaft
des Regierungsrates des Kantons Aargau an den Grossen Rat 17. De-
zember 2003, 03.349, S. 45 f.)
Art. 324a OR sieht in Bezug auf die Verhinderung der Arbeit-
nehmerin bzw. des Arbeitnehmers infolge Krankheit, Unfall, Erfül-
lung gesetzlicher Pflichten oder Ausübung eines öffentlichen Amtes
im Grundsatz vor, dass der Arbeitgeber für eine beschränkte Zeit den
darauf entfallenden Lohn zu entrichten hat (Abs. 1). Soweit durch
Abrede, Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag nicht länge-
re Zeitabschnitte bestimmt sind, so hat der Arbeitgeber im ersten
Dienstjahr den Lohn für drei Wochen und nachher für eine angemes-
sene längere Zeit zu entrichten (Abs. 2). Gemäss den diesbezüglich
entwickelten Berner, Basler und Zürcher Skala (S
TREIFF
/
VON
K
AENEL
/
R
UDOLPH
, a.a.O., Art. 324a/b OR N 7) wird ein Anspruch
auf eine Lohnfortzahlung während mindestens 6 Monaten frühestens
nach 20 Dienstjahren erreicht. Ist die Arbeitnehmerin bzw. der Ar-
beitnehmer aufgrund gesetzlicher Vorschrift gegen die wirtschaftli-
chen Folgen unverschuldeter Arbeitsverhinderung obligatorisch ver-
sichert, so hat der Arbeitgeber den Lohn nicht zu entrichten, wenn
die für die beschränkte Zeit geschuldeten Versicherungsleistungen
mindestens vier Fünftel des darauf entfallenden Lohns decken
(Art. 324b Abs. 1 OR). Sind die Versicherungsleistungen geringer, so
hat der Arbeitgeber die Differenz zwischen diesen und vier Fünfteln
des Lohnes zu entrichten (Abs. 2); werden die Versicherungsleis-
tungen erst nach einer Wartezeit gewährt, so hat der Arbeitgeber für
diese Zeit mindestens vier Fünftel des Lohnes zu entrichten (Abs. 3).
In Bezug auf den Mutterschaftsurlaub ergibt sich aus Art. 324b OR
insbesondere, dass grundsätzlich kein über die Leistungen nach EOG
hinausgehender Anspruch besteht (eine Ausnahme besteht nament-
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
336
lich dort, wo der Maximalbetrag gemäss EOG von Fr. 196.00 pro
Tag weniger als 80 % des Lohnes beträgt und folglich der Arbeit-
geber zu einer entsprechenden Differenzzahlung verpflichtet ist).
6.3.
Die Gegenüberstellung unter Erw. 6.2 zeigt, dass die Lohnfort-
zahlungspflicht des Kantons gemäss §§ 19 ff. LDLP grundsätzlich
deutlich weiter geht als diejenige nach OR. Dies gilt namentlich auch
bei einer isolierten Betrachtung der Lohnfortzahlung bei Mutter-
schaft, wird doch hier der volle Lohn (und nicht nur 80 % hiervon)
über mindestens 16 (und nicht nur 14) Wochen entrichtet.
Aufgrund dieser Ausgangslage kann vorliegend offen bleiben,
ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen bzw. in wel-
chem Umfang im Privatrecht bei Aufschub des Mutterschaftsurlaubs
eine Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers besteht (vgl. zur ent-
sprechenden Kontroverse A
NGELA
H
ENSCH
, Sonderregelungen für
schwangere und stillende Arbeitnehmerinnen im privatrechtlichen
Arbeitsverhältnis, in: AJP 2012, S. 1088 ff., Ziff. 3.2.1.4 mit zahlrei-
chen Hinweisen). Selbst wenn eine entsprechende Pflicht zu bejahen
wäre, vermöchte dies - da Frühgeburten mit langer Spitalbehandlung
des Neugeborenen und/oder Krankheit der Mutter selten vorkommen
- die Gesamtbeurteilung, wonach objektiv das LDLP für die Arbeit-
nehmenden in Bezug auf die Lohnfortzahlung (sowohl generell als
auch in Bezug auf die Mutterschaft) zumindest nicht ungünstiger ist,
nicht in Frage zu stellen. (...)
6.4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass § 43 Abs. 2
bis
VALL nicht
gegen § 4 Abs. 3 GAL verstösst und daher die Klägerin aus der letzt-
genannten Bestimmung keine Ansprüche in Bezug auf die Lohnfort-
zahlungspflicht abzuleiten vermag.
7.
Andere Gründe, weshalb die Bestimmung von § 43 Abs. 2
bis
VALL nicht entsprechend ihrem klaren Wortlaut angewandt werden
dürfte, sind nicht erkennbar. Da längere Spitalaufenthalte von Neuge-
borenen regelmässig eine hohe zeitliche Verfügbarkeit der Mutter
erfordern, verbietet sich die Annahme, der Verordnungsgeber habe
nicht an diese Möglichkeit gedacht bzw. es liege eine planwidrige
2013
Personalrecht
337
Unvollständigkeit der Verordnung (sog. Gesetzeslücke) vor. Bezeich-
nenderweise wird dies von der Klägerin auch gar nicht geltend ge-
macht. Im Weiteren liegt auch kein Verstoss gegen das LDLP vor;
weder diesem Dekret selber noch den entsprechenden Materialien
lassen sich Hinweise darauf entnehmen, dass bei einem aufgeschobe-
nen Mutterschaftsurlaub unter Umständen eine Lohnfortzahlungs-
pflicht bestehen würde. Die Klage ist demzufolge abzuweisen.
Das vorliegende Urteil mag insofern unbillig erscheinen, als die
Klägerin in der vorliegenden Konstellation einen geringeren Schutz
geniesst als in einem Krankheitsfall, der sich ohne zeitlichen Zusam-
menhang mit dem Schwangerschafts- oder Mutterschaftsurlaub er-
eignet. Zudem erschiene es wünschbar, wenn Mütter in der schwieri-
gen Situation, welche extreme Frühgeburten regelmässig hervorru-
fen, von zusätzlichen finanziellen Problemen verschont bleiben
könnten. Ein Anspruch auf eine grosszügigere Lösung besteht indes-
sen - wie gesehen - nicht; vielmehr bedürfte es diesbezüglich einer
Dekrets- oder Verordnungsänderung. | 4,484 | 3,687 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-52_2013-11-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-52.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-52.pdf | AGVE_2013_52 | null | nan |
81aea13b-65c1-55b3-b998-b4603024f336 | 1 | 412 | 869,743 | 1,014,940,800,000 | 2,002 | de | 2002
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
201
[...]
62
Anstalt; ambulante Behandlung.
-
Der Externe Psychiatrische Dienst (EPD) ist keine Anstalt im Sinne
von Art. 397 a Abs. 1 ZGB (Erw. 2 d).
-
Die ambulante, psychiatrische (Nach-)behandlung gestützt auf eine
Weisung im Rahmen einer Entlassung aus der FFE ist keine Zwangs-
massnahme im Sinne von § 67 e
bis
EG ZGB (Erw. 2 d).
2002
Verwaltungsgericht
202
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 12. März 2002 in Sa-
chen R.S. gegen Entscheid des Bezirksamts A.
Aus den Erwägungen
2. a) Gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB darf eine mündige oder
entmündigte Person wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche,
Trunksucht, anderen Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlo-
sung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten
werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwie-
sen werden kann. Der Begriff der Anstalt ist dabei weit zu fassen,
sodass als geeignete Anstalt jede Einrichtung gilt, in der einer Person
ohne oder gegen deren Willen persönliche Fürsorge unter spürbarer
Einschränkung der Bewegungsfreiheit erbracht werden kann (BGE
121 III 308). Zudem braucht es sich nicht um eine geschlossene An-
stalt zu handeln, sondern es genügt, wenn der entsprechenden Person
ein Entweichen entweder tatsächlich nicht ohne weiteres möglich
oder aber verboten ist (Thomas Geiser, in: Basler Kommentar, ZGB
I/2, Basel/Genf/München 1999, Art. 397a N 22).
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, dass er explizit aus der
Klinik entlassen worden sei und seinen Aufenthaltsort frei wählen
könne. So habe er am 11. Februar 2002 eine eigene Wohnung bezo-
gen. Trotzdem bleibe die fürsorgerische Freiheitsentziehung beste-
hen, was das Bezirksamt im Dispositiv seiner Verfügung vom
13. Februar 2002 dadurch zum Ausdruck bringe, dass lediglich eine
"Entlassung aus der stationären Massnahme, bzw. deren Änderung in
eine ambulante Massnahme" erfolge. Zudem stehe diese Begrifflich-
keit in keinem Zusammenhang mit dem Recht der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung, sondern sei dem Strafrecht entlehnt. Die Anord-
nung einer "ambulanten Massnahme" im Rahmen einer fürsorgeri-
schen Freiheitsentziehung finde im Gesetz keine Stütze und sei daher
aufzuheben.
c) Das Bezirksamt vertritt in seiner Vernehmlassung den Stand-
punkt, dass unter dem Begriff "Anstalt" eine von der öffentlichen
oder privaten Körperschaft getragene, mit den erforderlichen Mitteln
2002
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
203
ausgestattete Institution zur dauernden Erfüllung der vorgegebenen
Aufgaben zu verstehen sei. Diese Definition gelte gleichermassen für
die Psychiatrische Klinik Königsfelden, wie auch für den EPD Stütz-
punkt B. Der Beschwerdeführer wechsle aus der stationären Be-
handlung in die ambulante Behandlung beim EPD B., wodurch ihm
einerseits ermöglicht werde, seine wirtschaftliche Selbständigkeit
wahrzunehmen, andererseits die psychiatrische Kontrolle im Rahmen
einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung aufrechterhalten bleibe.
Diese Kontrolle sei erforderlich und daher gerechtfertigt bzw. die
Weiterführung einer angeordneten ambulanten Massnahme im Rah-
men einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung unter Aufsicht der
geeigneten Fachpersonen sei bisher in der aargauischen Rechtspraxis
nicht nur grundsätzlich, sondern auch mit Erfolg angewendet und
anerkannt worden.
d) Der Beschwerdeführer wurde auf Grund seiner wirtschaftli-
chen Selbständigkeit sowie seiner Bereitschaft, im Rahmen einer
ambulanten Nachbehandlung durch den EPD, Stützpunkt B. regel-
mässige Kontrollen des Blutspiegels zum Nachweis der Medikamen-
teneinnahme durchführen zu lassen, aus der Klinik Königsfelden
entlassen. In der Zwischenzeit wohnt der Beschwerdeführer in einer
eigenen Wohnung, und er geht einer geregelten Arbeit nach. Er ist
somit in seiner Bewegungsfreiheit trotz Wahrnehmung der ambulan-
ten Termine beim EPD, Stützpunkt B. in keiner Weise mehr spürbar
eingeschränkt, gleich wie dies beim Besuch einer privaten psychia-
trischen Arztpraxis der Fall wäre. Zusätzlich ist zu berücksichtigen,
dass der EPD, Stützpunkt B. die ambulante Nachbehandlung des
Beschwerdeführers gegen seinen Willen nicht durchsetzen kann,
zumal es sich bei der vorliegenden ambulanten Nachbehandlung
nicht um eine Zwangsmassnahme im Sinne von § 67e
bis
EG ZGB
handelt. Eine solche ist nur im Rahmen einer rechtmässigen und
uneingeschränkten fürsorgerischen Freiheitsentziehung mit stationä-
rem Zwangsaufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Königsfelden
zulässig (AGVE 2000, S. 188 f.). Zusammenfassend kann festgestellt
werden, dass es sich beim EPD, Stützpunkt B. nicht um eine Anstalt
im Sinne von Art. 397a Abs. 1 ZGB handelt und es sich schon von
2002
Verwaltungsgericht
204
daher nicht um eine vollumfängliche fürsorgerische Freiheitsentzie-
hung handeln kann, wie es das Bezirksamt geltend macht. | 1,040 | 864 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-62_2002-03-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-62.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-62.pdf | AGVE_2002_62 | null | nan |
81db951a-994b-5137-b393-51d331ec0116 | 1 | 412 | 870,517 | 1,498,953,600,000 | 2,017 | de | 2017
Steuern
93
15
Steuersatzbestimmung bei beschränkter Steuerpflicht aufgrund im
Kanton gelegener Grundstücke (§ 19 Abs. 1 und 2 StG)
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 3. Juli 2017,
i.S. KStA gegen T.I. (WBE.2017.220)
Aus den Erwägungen
2.
Die Vorinstanz hat § 19 Abs. 2 StG in einem zweiten Schritt je-
doch die Anwendung versagt, soweit diese zu einem höheren satzbe-
stimmenden als steuerbaren Einkommen führt. Unter Berufung auf
die Lehre ist die Vorinstanz zur Auffassung gelangt, die Anwendung
der Bestimmung führe zu einem Methodendualismus, welcher einer-
seits sowohl das Diskriminierungsverbot in den von der Schweiz
abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) als auch das
Rechtsgleichheitsgebot von Art. 8 BV verletze. Dies habe zur Folge,
dass die Bemessungsgrundlage bei beschränkt Steuerpflichtigen stets
nach der objektmässigen Methode zu bestimmen sei. Beschränkt
Steuerpflichtige seien immer (nur) zu dem Steuersatz zu besteuern,
der sich aus den in der Schweiz steuerbaren Faktoren ergebe.
2.1.
Das Bundesgericht hat in seiner neueren Rechtsprechung mehr-
fach festgehalten, das StHG behandle in Art. 3 StHG die Steuer-
pflicht aufgrund persönlicher Zugehörigkeit, enthalte jedoch keine
Regel mit Bezug auf das Ausmass der Steuerpflicht. Insbesondere
regle das Gesetz nicht die Frage, ob im Ausland erlittene Verluste
von der Bemessungsgrundlage abzugsfähig seien. Dieses Schweigen
des Gesetzes könne für sich allein genommen nicht so verstanden
werden, dass den Kantonen damit ein autonomer Regelungsbereich
mit Bezug auf eine Thematik offen stehe, für welche von Verfas-
sungs wegen ausdrücklich die Harmonisierung vorgesehen sei. Das
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
94
Bundesgericht hat jedoch in den angeführten Entscheiden die Frage
offen gelassen, ob den Kantonen insoweit ein Autonomiebereich
offen steht (vgl. BGE 140 II 141 E. 8 S. 155 f.; ebenso BGE 140 II
157 E. 5.1 S. 159 sowie Urteil 2C_1201 + 1202/2013 vom 15. Januar
2015 E. 10).
Diese Überlegung muss auch mit Bezug auf die fehlende Rege-
lung im StHG betreffend das Ausmass der Steuerpflicht aufgrund
wirtschaftlicher Zugehörigkeit - hier des Umstands, dass die Be-
schwerdegegnerin eine Liegenschaft im Kanton Aargau besitzt und
Einkünfte daraus erzielt - gelten. Das bedeutet, dass nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht klar ist, ob der Kanton
Aargau überhaupt eine inhaltlich von Art. 7 Abs. 2 DBG abwei-
chende Regelung hinsichtlich des Umfangs der beschränkten Steuer-
pflicht treffen könnte. Mit § 19 Abs. 2 StG hat der kantonale Gesetz-
geber wie dargelegt die gleiche Lösung wie im Bundesrecht gewählt.
Sollte - wie vom Bundesgericht immerhin angedeutet - insoweit für
die Kantone kein autonomer Regelungsbereich bestehen, so wäre
§ 19 Abs. 2 StG bereits aufgrund des Massgeblichkeitsgebots von
Art. 190 BV anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob die Be-
stimmung gegen die Bundesverfassung verstösst (so denn auch aus-
drücklich das Bundesgericht in BGE 140 II 141 E. 8 am Ende; vgl.
auch Urteil 2C_ 1201 + 1202/2013 vom 15. Januar 2015 E. 7).
2.2.
Auch wenn dem Kanton ein autonomer Regelungsbereich mit
Bezug auf das Ausmass der beschränkten Steuerpflicht zukommt, ist
entgegen der Auffassung der Vorinstanz, jedenfalls soweit es um die
hier infrage stehende Anwendung von § 19 Abs. 2 StG auf eine qua
Eigentum an einem im Kanton Aargau gelegenen Grundstück (§ 17
Abs. 1 lit. b StG) beschränkt steuerpflichtige Ausländerin geht, nicht
erkennbar, inwiefern § 19 Abs. 2 StG gegen das Diskriminierungs-
verbot und/oder das Gleichbehandlungsgebot von Art. 8 BV verstos-
sen sollte.
2.2.1.
Das Diskriminierungsverbot ist in Art. 25 des Abkommens
zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundes-
republik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
2017
Steuern
95
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom
11. August 1971 (DBA CH-D) geregelt. Dabei verbietet zunächst
Art. 25 Abs. 1 DBA D-CH die Diskriminierung der Staatsangehöri-
gen eines Vertragsstaates; Abs. 2 enthält das Betriebsstättediskrimi-
nierungsverbot; Abs. 3 und 4 beschlagen schliesslich das Verbot der
Diskriminierung mit Blick auf gewisse Zahlungen an nichtansässige
Personen sowie die Diskriminierung aufgrund fremder Beherr-
schung. Für die hier zu beurteilende Situation einer Rentnerin mit
Wohnsitz in Deutschland und Grundeigentum in der Schweiz kann
sich höchstens die Frage stellen, ob § 19 Abs. 2 StG das Diskriminie-
rungsverbot hinsichtlich der Staatsangehörigkeit verletzt. Der Be-
schwerdeführer weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf
hin, dass eine Verletzung des Diskriminierungsverbots insoweit
schon deshalb ausser Betracht fällt, weil weder Art. 7 Abs. 2 DBG
noch § 19 Abs. 2 StG an die Staatsangehörigkeit anknüpfen. Die
Vorinstanz beanstandet den mit der Anwendung von § 19 Abs. 2 StG
verbundenen Methodendualismus, indem Auslandsverluste nicht ein-
mal satzbestimmend berücksichtigt werden, während positives Aus-
landseinkommen stets satzerhöhend wirkt. Dieser Methodendualis-
mus trifft die davon berührten Steuerpflichtigen unabhängig von
ihrer Staatsangehörigkeit: Auch ein Schweizer Staatsbürger mit
Wohnsitz im Ausland und nur beschränkter Steuerpflicht in der
Schweiz ist in gleicher Weise davon betroffen wie die Beschwerde-
gegnerin mit Wohnsitz in Deutschland; bei hinsichtlich der Ansässig-
keit gleichen Verhältnissen resultiert somit aus der Anwendung von
§ 19 Abs. 2 StG keine Diskriminierung (vgl. zum Erfordernis der
gleichen Verhältnisse S
TEFAN
O
ESTERHELT
, in: M
ARTIN
Z
WEIFEL
/M
ICHAEL
B
EUSCH
/R
ENÉ
M
ATTEOTTI
[Hrsg.], Kommentar
zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, Basel
2015, Art. 24 N 17 f.; ebenso für das DBA USA-D Urteil des deut-
schen Bundesfinanzhofs vom 30. März 2011, in: K
URT
L
OCHER
/W
ALTER
M
EIER
/R
UDOLF VON
S
IEBENTHAL
/A
NDREAS
K
OLB
[Hrsg.], Doppelbesteuerungsabkommen Schweiz-Deutschland
[Loseblatt] Art. 25.1 Nr. 31 E. 2a; so auch ausdrücklich H
EIKO
K
UBAILE
, in: H
ANS
F
LICK
/F
RANZ
W
ASSERMEYER
/M
ICHAEL
K
EMPERMANN
[Hrsg.], Doppelbesteuerungsabkommen Deutsch-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
96
land-Schweiz, Köln, Loseblatt ab 1981, Art. 25 N 19 [Lfg. 38 Juni
2013]) und liegt somit keine Verletzung des Diskriminierungsverbots
vor. Dass die Dinge mit Blick auf eine inländische Betriebsstätte
eines ausländischen Unternehmens und das Betriebsstättediskrimi-
nierungsverbot von Art. 25 Abs. 2 DBA CH-D allenfalls anders lie-
gen, ändert nichts (vgl. dazu Stefan O
ESTERHELT
/S
USANNE
S
CHREIBER
in: M
ARTIN
Z
WEIFEL
/M
ICHAEL
B
EUSCH
[Hrsg.], Kom-
mentar zum Schweizerischen Steuerrecht, DBG, 3. Auflage, Zürich
2017, Art. 7 N 14 mit Hinweisen).
2.2.2.
Abgesehen vom Diskriminierungsverbot wird in der Literatur
die Frage diskutiert, ob der Methodendualismus - bei insgesamt
negativen Steuerfaktoren infolge eines Auslandsverlusts Abstellen
nur auf die Progression auf dem schweizerischen Steuerobjekt, bei
insgesamt positiven Steuerfaktoren Besteuerung mit Gesamtprogres-
sion - nicht gegen das Gebot der Gleichbehandlung von Art. 8 BV
verstosse. Peter Locher führt in diesem Zusammenhang aus, dass
dann, wenn die nicht überprüfbaren Auslandsunterlagen genügten,
um eine höhere Progression zu rechtfertigen, Analoges auch im
umgekehrten Fall gelten sollte (P
ETER
L
OCHER
, Kommentar zum
DBG, I. Teil., Therwil 2001, Art. 7 N 11). Da vorliegend jedoch nicht
negative sondern positive Steuerfaktoren im Ausland zu beurteilen
sind, erübrigt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser The-
matik.
2.2.3.
Selbst wenn angenommen wird, § 19 Abs. 2 StG verstosse in
bestimmten Fallkonstellationen gegen das Gleichbehandlungsgebot
von Art. 8 BV, rechtfertigt dies nicht, die Norm auch dann, wenn sie
wie hier zu sachgerechten Ergebnissen führt, nicht zur Anwendung
zu bringen.
2.2.3.1.
Zum einen ist schon zweifelhaft, ob die Argumentation, wonach
ausländische Faktoren schwer zu ermitteln und deshalb ganz ausser
Acht zu lassen seien, generell zutrifft. Hinsichtlich in- wie ausländi-
scher Liegenschaften erscheint es durchaus als möglich, die zentralen
Parameter für den Liegenschaftenertrag (Mieteinnahmen, Unterhalts-
2017
Steuern
97
aufwendungen, Schuldzinsen auf Hypotheken) bei Inland- wie bei
Auslandsachverhalten zu ermitteln. Auch die Ermittlung von Renten-
einkünften, wie sie bei der Beschwerdegegnerin vorliegen, begegnet
keinen grundsätzlichen Schwierigkeiten; zumindest ähnlich dürfte
sich die Sachlage bei ausländischen Einkünften aus unselbstständiger
Erwerbstätigkeit darstellen (auch wenn naturgemäss nicht die Mög-
lichkeit der Einforderung eines Lohnausweises offensteht). All diese
Einkünfte bzw. damit zusammenhängende Aufwendungen lassen
sich in aller Regel anhand einfacher, aussagekräftiger Dokumente be-
legen. Soweit der beschränkt Steuerpflichtige bei der Ermittlung der
Bemessungsgrundlagen nicht mitwirkt, steht im Übrigen - wie ge-
rade die hier zu beurteilende Angelegenheit zeigt - ebenso wie bei
den
unbeschränkt
Steuerpflichtigen
das
Instrument
der
Ermessensveranlagung offen. Allfällige praktische Schwierigkeiten
bei der Ermittlung der genannten Einkunftsarten sind jedenfalls
kaum mit den möglichen Problemen der Überprüfung des Gesamter-
gebnisses eines vorwiegend im Ausland tätigen Unternehmens mit
schweizerischer Betriebsstätte vergleichbar. Insoweit überzeugt es
durchaus, wenn Peter Locher nur für Geschäftsbetriebe und Betriebs-
stätten auf die Berücksichtigung des ausländischen Ergebnisses ver-
zichten will, ausländische Faktoren aber bei beschränkter Steuer-
pflicht wegen inländischem Immobilienbesitz durchgängig heranzie-
hen will (vgl. L
OCHER
, a.a.O., I. Teil, Art. 7 N 13; dieser Aspekt wird
übersehen von M
ADELEINE
S
IMONEK
, Wirkungen einer nachrangi-
gen Ansässigkeit auf die Steuerpflicht in der Schweiz, in: J
ÜRG
-B
EAT
A
CKERMANN
/F
ELIX
B
OMMER
[Hrsg.], Liber Amicorum für Dr.
Martin Vonplon, Zürich 2009, S. 303).
2.2.3.2.
Hinzu kommt aber vor allem ein vom Beschwerdeführer aufge-
griffener Punkt: Würden beschränkt Steuerpflichtige generell nur für
ihr in der Schweiz erzieltes Einkommen und Vermögen zu dem ent-
sprechenden Steuersatz besteuert, liefe dies auf eine systematische
Schlechterstellung der in der Schweiz unbeschränkt Steuerpflichtigen
hinaus. Insbesondere in einem anderen Kanton unbeschränkt Steuer-
pflichtige, die qua Liegenschaftenbesitz im Kanton Aargau der be-
schränkten Steuerpflicht unterliegen, wären gegenüber den im Aus-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
98
land unbeschränkt, jedoch im Kanton Aargau beschränkt Steuer-
pflichtigen massiv benachteiligt. Die Lösung für das von der Vorin-
stanz skizzierte Problem des Methodendualismus bei beschränkter
Steuerpflicht kann daher nicht in der generellen Zugrundelegung -
sowohl für das steuerbare als auch für das satzbestimmende Einkom-
men - nur der inländischen Faktoren liegen. Wenn überhaupt stellt
sich die Frage einer Korrektur der vom Gesetzgeber getroffenen Lö-
sung
wegen
eines
allfälligen
Verstosses
gegen
das
Gleichbehandlungsgebot nicht in Konstellationen wie der hier zu be-
urteilenden, wo im In- und Ausland Einkommen erzielt wird. Zu
einer Korrektur unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten könnte
höchstens die Situation Anlass geben, da im Ausland Verluste
resultieren. Ob in einer solchen Konstellation allein die fehlende
Überprüfbarkeit der Angaben des Steuerpflichtigen über seine
ausländischen Verluste einen ausreichenden Grund für die steuerliche
Erfassung mindestens der Inlandfaktoren sein kann, ist hier indessen
nicht zu entscheiden.
2.3.
Die angestellten Überlegungen gelten, worauf der Beschwerde-
führer zutreffend hinweist auch hinsichtlich positiver bzw. negativer
Vermögensbestandteile, so dass der Anwendung von § 19 Abs. 2 StG
in der hier zu beurteilenden Angelegenheit auch insoweit nichts ent-
gegensteht. Es trifft ausserdem zu, dass - wie der Beschwerdeführer
ebenfalls ausführt - die objektmässige Ausscheidung nicht per se zu
tieferen Steuern führt. So kann z.B. bei objektmässiger Ausscheidung
je nach Lage der Aktiven bei selbstfinanziertem Inland- und fremd-
finanziertem Auslandseigentum eine höhere Steuerlast als bei pro-
portionaler Ausscheidung resultieren. Der Entscheid der Vorinstanz,
der die objektmässige Methode bei beschränkter Steuerpflicht durch-
gehend zur Anwendung bringen will, verletzt damit nicht nur § 18
Abs. 3 StG, welcher nicht nur im Verhältnis zu anderen Kantonen,
sondern auch im Verhältnis zum Ausland die Ausscheidung nach den
Grundsätzen des Bundesrechts über das Verbot der interkantonalen
Doppelbesteuerung und damit auch im Verhältnis zum Ausland die
Verlegung von Schulden und Schuldzinsen nach der proportionalen
Methode gesetzlich vorschreibt. Darüber hinaus kann die von der
2017
Steuern
99
Vorinstanz vertretene Auffassung sogar zu einer rechtsungleichen
Schlechterstellung des beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber dem
unbeschränkt Steuerpflichtigen führen. Auch insoweit erweist sich
der Entscheid der Vorinstanz somit als rechtsfehlerhaft. | 2,970 | 2,382 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-15_2017-07-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-15.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-15.pdf | AGVE_2017_15 | null | nan |
81fb036a-bf82-558d-b743-b335b9099df1 | 1 | 412 | 870,578 | 970,444,800,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsrechtspflege
347
[...]
79
Rechtsmittel, Formerfordernis der Schriftlichkeit.
- Ein mittels Fax eingereichtes Rechtsmittel ist ungültig, da die
Originalunterschrift fehlt. Eine Nachfrist zur Verbesserung ist nicht
anzusetzen (Bestätigung der Rechtsprechung) (Erw. 1-3).
- Dies gilt auch für die Einsprache gegen die Steuerveranlagung
(Erw. 3/c).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 18. Oktober 2000 in
Sachen KStA gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts (betreffend H.L.). Zur
Publikation vorgesehen in StE 2001.
(Redaktioneller Hinweis: Gegen diesen Entscheid ist staats-
rechtliche Beschwerde erhoben worden.) | 148 | 126 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-79_2000-10-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-79.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-79.pdf | AGVE_2000_79 | null | nan |
81fe6819-7156-576e-9742-0845b4d548a7 | 1 | 412 | 869,993 | 1,036,368,000,000 | 2,002 | de | 2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
171
[...]
48
Ausstandsregeln im Nutzungsplanungsverfahren.
- Gestützt auf Bundesrecht besteht keine Ausstandspflicht von betroffe-
nen Grundeigentümern für die Mitwirkung in Planungskommissionen
oder im Gemeinderat (Erw. 2/c).
- An der Gemeindeversammlung und bei der Genehmigung im Grossen
Rat müssen direkt von Planungsmassnahmen betroffene Grundeigen-
tümer nicht in den Ausstand treten (Erw. 2/d).
2003
Verwaltungsgericht
172
- Den Entscheidungen der kommunalen Planungskommission bei der
Festsetzung oder Abgrenzung der Bauzone kommt so entscheidende
Bedeutung zu, dass deren Mitglieder in den Ausstand treten müssen,
wenn sie oder ihnen nahestehende Personen von einem konkret um-
strittenen Planungsentscheid betroffen sind (Erw. 2/d/aa-ff).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 1. November 2002, in
Sachen R. AG und Mitb. gegen den Grossen Rat und den Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
2. a) Einen formellen Mangel der Nutzungsplanung sehen die
Beschwerdeführerinnen in der Tatsache, dass der Gemeindeammann
A. sowohl als Präsident der Planungskommission als auch als Ge-
meinderat an der Ausarbeitung des Zonenplanentwurfs massgeblich
beteiligt gewesen sei, obwohl seine Frau als Miterbin Eigentümerin
der Parzelle Nr. X sei, welche im umstrittenen Gebiet "M." liege.
Darin liege eine Verletzung der Ausstandspflicht durch den Gemein-
deammann. Dies umso mehr, als das Baudepartement, Abteilung
Raumentwicklung, der Gemeinde im Vorprüfungsverfahren noch
nahegelegt habe, die Baugebietsgrösse zusätzlich im Gebiet "M." zu
reduzieren, womit die Parzelle Nr. X aus dem Baugebiet herausge-
fallen wäre.
b) Die umstrittene Parzelle Nr. X gehörte dem Schwiegervater
des Gemeindeammanns, Herrn B. Dieser ist am 23. Mai 2000, somit
einen Monat vor der Gemeindeversammlung über die Nutzungspla-
nung, verstorben. Zur Erbengemeinschaft gehört unter anderen auch
die Ehefrau des Gemeindeammanns. Der Gemeindeammann präsi-
dierte die Planungskommission, welche den Entwurf für die neue
Nutzungsplanung zuhanden des Gemeinderates vorbereitete. In sei-
nem Amt als Gemeindeammann leitete er auch die Sitzungen des
Gemeinderates während des Planungsverfahrens (§ 43 Abs. 1 GG).
Im Laufe des Einspracheverfahrens ist er auf Verlangen der
Beschwerdeführerinnen in den Ausstand getreten. Unbestritten ist
jedoch, dass er bei der Gestaltung des definitiven Planentwurfs auch
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
173
hinsichtlich des Gebiets "M." sowohl in der Planungskommission als
auch im Gemeinderat mitgewirkt hat.
c) Das Bundesgericht hat in konstanter Praxis festgehalten, dass
gestützt auf Art. 8 und 29 Abs. 1 BV hinsichtlich der Ausstands-
pflicht für Mitglieder der Behörden in kleineren Landgemeinden
keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden dürfen. In ländli-
chen Verhältnissen komme es häufig vor, dass Mitglieder des
Gemeinderates durch eine Planungsmassnahme, welche im öffentli-
chen Interesse erfolge, in ihrer Eigenschaft als Grundeigentümer
selber irgendwie betroffen werden, sei es im positiven oder im nega-
tiven Sinne. Die Selbstverwaltung der Gemeinden im Bau- und Pla-
nungswesen würde erheblich erschwert, nähme man in all diesen
Fällen eine Ausstandspflicht gestützt auf Bundesrecht an (Bundesge-
richt, in: ZBl 103/2002, S. 37 f. mit Hinweis auf ZBl 80/1979,
S. 488 f.). Eine Ausstandspflicht des Gemeindeammanns in der Pla-
nungskommission und im Gemeinderat bestand gestützt auf Bundes-
recht nicht.
d) Auf kantonaler Ebene haben nach der Rechtsprechung die
Grundeigentümer, welche direkt von einer Planungsmassnahme be-
troffen sind, an der Gemeindeversammlung beim Beschluss über die
Zonenplanung entgegen § 25 Abs. 1 GG nicht in den Ausstand zu
treten. Dies gilt selbst für Teilrevisionen, bei denen nur einzelne
Grundstücke betroffen sind (VGE III/4 vom 31. Januar 1973 in Sa-
chen R. AG, S. 8; AGVE 1994, S. 547; 1985, S. 531; 1980, S. 497).
Gemäss § 30 Abs. 3 des Gesetzes über die Organisation des Grossen
Rates und über den Verkehr zwischen dem Grossen Rat, dem Regie-
rungsrat und dem Obergericht [GVG; SAR 152.200] vom 19. Juni
1990) gilt auch beim Erlass und bei der Genehmigung eines Nut-
zungsplanes durch den Grossen Rat keine Ausstandspflicht.
aa) § 25 Abs. 1 GG verlangt, dass im kommunalen Gesetzge-
bungsverfahren diejenigen Stimmberechtigten das Versammlungs-
lokal vor der Abstimmung zu verlassen haben, welche ein unmittel-
bares und persönliches Interesse an einem Verhandlungsgegenstand
der Einwohnergemeindeversammlung haben, weil dieser für sie di-
rekte und genau bestimmte, insbesondere finanzielle Folgen bewirkt.
Diese Ausstandspflicht trifft nicht nur die persönlich interessierten
2003
Verwaltungsgericht
174
Personen selbst, sondern ebenso deren Ehegatten, Eltern und Kinder
mit ihren Ehegatten. Ziel und Zweck dieser Bestimmung ist, dass
niemand, der vom Ausgang eines Geschäfts in seinen persönlichen
Rechten oder materiellen Interessen betroffen ist, durch seine Anwe-
senheit numerisch das Stimmenverhältnis verändern oder im Rahmen
des politischen Entscheidungsprozesses Einfluss nehmen kann. So
soll verhindert werden, dass sachfremde Argumente das demokrati-
sche Rechtsetzungsverfahren beeinflussen.
In seinem Kerngehalt geht es bei diesen Ausstandspflichten
darum, den durch die Verfassung den Stimmberechtigten gewährleis-
teten Anspruch auf ein unverfälschtes Abstimmungsresultat, das den
freien und unverfälschten Willen zum Ausdruck bringt, zu gewähr-
leisten (Bernhard Ehrenzeller/Philippe Mastronardi/ Rainer
J. Schweizer/Klaus A. Vallender, Die schweizerische Bundesverfas-
sung, Kommentar, Zürich 2002, Art. 34 N 10 f. mit Hinweisen). Da-
mit soll andererseits auch gewährleistet werden, dass der massgebli-
che Wille der Gemeindeversammlung korrekt ermittelt und die
demokratische und pluralistische Abstimmung auf einem offenen
und transparenten Meinungsbildungsprozess beruht. Die Abstim-
mungsfreiheit beinhaltet insoweit auch eine institutionelle Garantie.
bb) Beim Beschluss der Gemeindeversammlung über allge-
meine Nutzungspläne und -vorschriften ergeben sich einerseits aus
der Rechtsnatur des Planes (vgl. hiezu Pierre Moor, in: Heinz Aemi-
segger/Alfred Kuttler/Pierre Moor/Alexander Ruch [Hrsg.], Kom-
mentar zum Bundesgesetz über die Raumplanung, Zürich 1999,
Art. 14 N 4 ff.; Ulrich Häfelin/Georg Müller, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 4. Auflage, Zürich 2002, Rz. 939 ff.) und andererseits aus
dem Planungsablauf Besonderheiten. Diesen Besonderheiten gerade
im Hinblick auf die Abstimmungsfreiheit trägt § 25 Abs. 1 BauG
insoweit Rechnung, als die Einspracheentscheide des Gemeinderates
der Gemeindeversammlung bzw. dem Einwohnerrat bekannt
zugeben sind und andererseits der Gemeinderat verpflichtet ist, die
Gemeindeversammlung als zuständiges Organ über die von ihm
vorgeschlagenen Abweichungen zum kantonalen Vorprüfungsbericht
(vgl. § 23 Abs. 1 BauG) nicht nur zu orientieren, sondern diese Dif-
ferenzen auch zu begründen.
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
175
Der Ablauf eines Planungsverfahrens von den ersten Entwürfen,
in der Regel eines beauftragten Planungsbüros, über die Behandlun-
gen in kommunalen Planungskommissionen, im Gemeinderat mit der
üblichen Begleitung durch das Baudepartement (§ 23 Abs. 2 BauG)
und das institutionalisierte Mitwirkungsverfahren (§ 22 BauG), des-
sen Ergebnisse im Mitwirkungsbericht des Gemeinderates ebenfalls
öffentlich sind und der Abstimmungsfreiheit dienen, über das
Einspracheverfahren bis zum Antrag des Gemeinderates an die Ge-
meindeversammlung lässt erkennen, dass massgebende Grundsteine
und Entscheidungen gerade über die Zonierung in der Entwurf- und
Beurteilungsphase vor der Planungskommission stattfinden. In der
Planungskommission werden vor dem Mitwirkungsverfahren insbe-
sondere umstrittene Einzelpunkte der zukünftigen Nutzungsordnung
behandelt. In dieser Kommission, zu deren Sitzungen auch der
zuständige kantonale Raumplaner beigezogen werden kann, können
auch Differenzen in gegenläufigen Interessen diskutiert und im
Schosse der Planungskommission einer Entscheidung zugeführt wer-
den. Nicht ausgeschlossen ist, dass bereits in dieser Phase alternative
Planungsentscheide oder Varianten unter Mitwirkung des Gemeinde-
rates entschieden werden, bevor der Entwurf der Nutzungsplanung
öffentlich aufgelegt und das eigentliche Mitwirkungsverfahren und
die (abschliessende) Vorprüfung durch die kantonalen Behörden
stattfindet. Der den Stimmberechtigten an der Gemeindeversamm-
lung unterbreitete Nutzungsplanentwurf ist damit das Resultat eines
Planungsprozesses am Ende des Mitwirkungs-, Vorprüfungs- und
Einspracheverfahrens. Der Abstimmung in der Gemeindeversamm-
lung mit ihren Bestimmungen zur Transparenz geht so eine entschei-
dende Phase in der Planungskommission voraus. In der Ge-
meindeversammlung kommt naturgemäss das gesamte Plangefüge
zur Diskussion, ohne dass einzelne Entscheidungen noch einmal ver-
tieft diskutiert werden. So ist es denn auch ausgesprochen schwierig,
in der Entwurfphase getroffene Entscheidungen über die Zonierung
einzelner Grundstücke an der Gemeindeversammlung noch zu än-
dern, weil als Folge davon oft weitere Grundstücke einer anderen
Nutzungsordnung zugeführt werden müssten. Daraus erhellt, dass
den Mitgliedern der Planungskommission und ihren Entscheidungen
2003
Verwaltungsgericht
176
beim Entwurf der Nutzungsplanung, insbesondere bei der Festset-
zung der Bauzone nach Art. 15 RPG und deren Abgrenzung eine her-
ausragende Bedeutung zukommt. Faktisch wird das planerische Er-
messen, welches der Gemeinde bei der Festsetzung der Bauzone
zusteht (vgl. dazu § 106 Abs. 1 KV i.V.m. § 13 Abs. 1 BauG; AGVE
1980, S. 204; Peter Hänni, Planungs- Bau- und besonderes Umwelt-
recht, 4. Auflage, Bern 2002, S. 218) im umfassenden Sinne von der
Planungskommission ausgeübt. Sie entscheidet - allenfalls unter
Mitwirkung des Gemeinderates - insbesondere über die Grösse und
die Abgrenzung sowie die Nutzung des Baugebietes. Vor allem be-
stimmt die Planungskommission, welche Grundstücke am Siedlungs-
rand ein- oder ausgezont werden, allenfalls welche ausgezont werden
müssen. Ist eine Gemeinde zur Reduktion der Bauzone auf Grund
von Art. 15 lit. b RPG verpflichtet, kann es über Gebiete, welche die
rechtlichen Vorgaben und planerischen Parameter zwar erfüllen, zu
Interessenabwägungen mit involvierten Grundeigentümerinteressen
kommen, denen unter Umständen entscheidende Bedeutung zuge-
messen wird.
Zu prüfen ist daher im vorliegenden Fall, ob die Mitwirkung
des Gemeindeammanns in der Planungskommission bei der Festset-
zung der Bauzone und deren Abgrenzung im umstrittenen Gebiet
objektiv geeignet war, den der Gemeindeversammlung schliesslich
unterbreiteten Entwurf massgeblich zu beeinflussen.
cc) Der Schwiegervater des Gemeindeammanns und ab 23. Mai
2000 seine Ehefrau als Mitglied der Erbengemeinschaft waren u.a.
Eigentümer der Parzelle Nr. X im Gebiet "M.", welches in der Bau-
zone 2. Etappe lag. Sowohl für den Schwiegervater als auch für die
Ehefrau des Gemeindeammanns hatte die konkrete Zonierung im
Gebiet "M." direkte finanzielle Folgen. Wäre die umstrittene Parzelle
Nr. X nicht mehr der Bauzone zugeteilt worden, hätte dies zu einem
erheblichen Minderwert der Parzelle geführt.
Das Baudepartement hat in seinem provisorischen Vorprüfungs-
bericht vom 11. Januar 1999 der Gemeinde eine weitere Reduktion
der Bauzone empfohlen und als geeignete Fläche für diese Reduktion
den obersten Teil des Gebiets "M." (u.a. Parzelle Nr. X) genannt, da
aus "landschaftlichen und biologischen Gründen" eine weitere Ver-
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
177
breiterung des Grüngürtels zwischen den Gemeinden O. und U.
anzustreben sei. Die Planungskommission hat an ihrer Sitzung vom
19.
Januar 1999 in Anwesenheit des Gemeindeammanns den
provisorischen Vorprüfungsbericht behandelt. Der Planer hat dabei
auf die von den kantonalen Behörden vorgeschlagene Reduktion der
Wohn- und Mischzonen im Gebiet "M." hingewiesen und die
Möglichkeiten einer Verschiebung der Baugrenze aufgezeigt. Die
Kommission beschloss, an der Grösse des Baugebietes festzuhalten
und hat bei der Behandlung von Eingaben die privaten Auszo-
nungsbegehren für das Gebiet "M." ausdrücklich abgelehnt. Eine
weitere Sitzung der Planungskommission in Anwesenheit des zu-
ständigen Raumplaners fand am 16. März 1999 statt. Unter Traktan-
dum 4 wurde das Gebiet "M." behandelt. Der von der Gemeinde
beauftragte Planer zeigte Fotografien über ein Baugespann und der
Raumplaner des Kantons erläuterte die kantonale Auffassung, dass
trotz der vorgenommenen Rückzonung das ausgeschiedene Bauge-
biet immer noch zu gross und eine weitere Reduktion des Baugebie-
tes anzustreben sei. In dieser Diskussion hat der Gemeindeammann
die kantonalen Zahlen in Frage gestellt.
Der definitive Vorprüfungsbericht der Abteilung Raumplanung
(heute Abteilung Raumentwicklung) vom 14. Juli 1999 erwähnt un-
ter Ziff. 3.1 zwar die, nach kantonaler Auffassung, bestehende Über-
grösse der Bauzone, kommt aber zum Ergebnis, dass auf Grund des
Flächenverbrauchs in den letzten 15 Jahren die rechnerische Über-
grösse der Bauzone akzeptiert werden kann. An der Sitzung vom
21. Juli 1999 hat die Planungskommission den Vorprüfungsbericht
zur Kenntnis genommen; Diskussionen über das Gebiet "M." fanden
nicht mehr statt.
Somit ist festzuhalten, dass mit Bezug auf die konkrete Zonie-
rung der im Gebiet "M." liegenden Parzelle Nr. X noch im provisori-
schen Vorprüfungsbericht eine Differenz zu den kantonalen Behör-
den bestand. Die Planungskommission hat den Vorschlag der kanto-
nalen Behörden diskutiert und in ablehnendem Sinn entschieden.
Diese Differenz war im definitiven Vorprüfungsbericht nicht mehr
aufgeführt und demgemäss entfiel eine Orientierung über diese Dif-
ferenz und deren Begründung zuhanden der Gemeindeversammlung.
2003
Verwaltungsgericht
178
Anerkannt ist, dass der Gemeindeammann bei der Festlegung der
Zonierung des Gebietes "M." nicht in den Ausstand getreten ist. In
der Einladung zur Einwohnergemeindeversammlung vom 23. Juni
2000 wird zwar der provisorische Vorprüfungsbericht erwähnt, ohne
indessen inhaltliche Differenzen zwischen Kanton und Gemeinde zu
erläutern.
Diese Differenzen in der Zonierung des Gebiets "M." wurden
auch an der Gemeindeversammlung vom 23. Juni 2000 nicht thema-
tisiert.
dd) Aus den Gemeinderatsprotokollen ergeben sich keine Hin-
weise dafür, dass der Gemeinderat über die Zonierung des Gebiets
"M." gesondert beraten und entschieden hat.
ee) Zusammenfassend kommt das Verwaltungsgericht zum Er-
gebnis, dass im vorliegenden Fall, wo es beim Entscheid über eine
Bauzone und deren Abgrenzung am Zonenrand in der Planungskom-
mission zu einer Differenz mit dem Kanton über Grundstücke ge-
kommen ist, welche im Eigentum einer im Sinne von § 25 GG nahe-
stehenden, verwandten Person eines Mitglieds der Planungskommis-
sion steht, die Abstimmungsfreiheit in ihrer institutionellen Mei-
nungsbildungskomponente tangiert ist. Der objektive Anschein, dass
bei diesem Planungsentscheid mit einer solcherart konkret beurteil-
ten Planfestsetzung die Interessenabwägung in der Planungskommis-
sion durch persönliche Interessen eines Kommissionsmitglieds be-
einflusst wurde, was ausserdem im Entwurf zuhanden der Gemein-
deversammlung nicht mehr transparent gemacht wurde, erscheint
dem Verwaltungsgericht gegeben. Ob sich der Gemeindeammann
tatsächlich mehr von privaten Interessen statt vom Gemeindewohl
leiten liess, ist irrelevant und wird damit nicht unterstellt. Der Ge-
meindeammann hätte somit an den beiden Sitzungen der Planungs-
kommission vom 19. Januar bzw. 16. März 1999 beim Beschluss der
Planungskommission über die Differenz zum provisorischen Vorprü-
fungsbericht in den Ausstand treten müssen. Dieses Ergebnis ent-
spricht auch dem Zweckgedanken, wonach der Gemeinderat die Ge-
meindeversammlung über Differenzen zum kantonalen Vorprüfungs-
bericht zu orientieren hat. In diesem Zusammenhang ist auch darauf
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
179
hinzuweisen, dass das Baugesetz keinen provisorischen Vorprüfungs-
bericht vorsieht.
An diesem Ergebnis vermag nichts zu ändern, dass eine andere
Parzelle der Erbengemeinschaft, an welcher die Ehefrau des Gemein-
deammanns beteiligt ist, einer Nichtbauzone zugewiesen wurde und
bereits bei früheren Planungsrevisionen Teilflächen im Eigentum der
Erbengemeinschaft ausgezont wurden. Zutreffend ist, dass in ländli-
chen Gemeinden die Ausstandspflicht im Interesse der Gemeinde
nicht leicht zu bejahen ist. Die hier erfolgte Mitwirkung des Gemein-
deammanns unterscheidet sich sodann vom Normalfall einer
Totalrevision insofern, als vorliegend in der Planungskommission
konkret über das Gebiet mit dem Grundstück der ihn zumindest indi-
rekt betreffenden Erbengemeinschaft diskutiert und über deren Zo-
nierung separat beschlossen wurde. Keinen Einfluss auf die Beurtei-
lung der Ausstandspflicht kann die an sich zutreffende Auffassung
haben, dass die Beschwerdeführerinnen aus der Verletzung der Aus-
standspflicht keinen Anspruch auf Zuweisung ihrer Parzellen in die
Bauzone ableiten können. Wie erwähnt, geht es bei dieser Frage um
die Garantie der institutionellen Meinungsbildungsfreiheit der
Stimmberechtigten.
ff) Das Verwandtschaftsverhältnis des Gemeindeammanns zu
seinem Schwiegervater begründet analog zur Regelung in § 25
Abs. 1 GG eine Befangenheit infolge verwandtschaftlicher Nähe.
Der Kreis der Ausstandspflichtigen vorliegend enger zu fassen,
rechtfertigt sich auch in Anbetracht anderer prozessualer Ausstands-
vorschriften nicht (vgl. § 5 VRPG, § 2 ZPO und Art. 22 OG).
Redaktionelle Anmerkung:
Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 14.
Oktober 2003
(1P.316/2003) eine staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
vom 1. November 2002 abgewiesen.
Aus den Erwägungen des Bundesgerichts
3.5 Gemäss § 5 Abs. 1 VRPG dürfen Behördemitglieder und
Sachbearbeiter beim Erlass von Verfügungen und Entscheiden nicht
2003
Verwaltungsgericht
180
mitwirken, wenn ein Ausstandsgrund im Sinne der Zivilprozessord-
nung vorliegt. Abs. 2 der zitierten Bestimmung sieht vor, dass Be-
hördemitglieder und Sachbearbeiter sich insbesondere in den Aus-
stand zu begeben haben, wenn sie selbst oder ihnen nahe verbundene
Personen an der Verfügung oder dem Entscheid persönlich interes-
siert sind, sowie in Angelegenheiten von juristischen Personen, deren
Verwaltung sie oder ihnen nahe verbundene Personen angehören,
ferner wenn sie in der Sache schon in einer untern Instanz oder als
Berater oder Vertreter eines Beteiligten mitgewirkt haben. Nach § 2
Abs. 1 lit. a ZPO ist der Richter u.a. von der Ausübung seines Amtes
ausgeschlossen in Streitsachen, in denen er selbst oder sein Ehegatte
Partei sind, auch wenn die Ehe aufgelöst worden ist (Ziff. 1) oder in
denen Personen, die mit ihm oder seinem Ehegatten in gerader Linie
oder in der Seitenlinie bis zum Grad der Geschwisterkinder verwandt
oder verschwägert sind, Partei sind (Ziff. 2).
Nachdem der Gemeindeammann sowohl in der Planungskom-
mission als auch im Gemeinderat in präsidierender Funktion tätig
war bei einer Planung, von welcher sein Schwiegervater resp. seine
Ehefrau direkt betroffen waren, ist nicht ersichtlich, inwiefern das
Verwaltungsgericht in Anwendung der zitierten Normen willkürlich
gehandelt hätte. Das Argument der Beschwerdeführerin, § 25
Abs. 1 GG lasse sich nicht auf die Verhandlungen in der Planungs-
kommission anwenden, da diese Bestimmung lediglich verlange, der
Betroffene habe das Verhandlungslokal vor der Abstimmung zu
verlassen, überzeugt nicht. Das Verwaltungsgericht hat die
Ausstandsregeln von § 25 Abs. 1 GG im Sachzusammenhang mit § 5
Abs. 1 Satz 3 BauG angewandt: Gemäss § 25 Abs. 1 Satz 3 BauG
orientiert der Gemeinderat das zuständige Organ über die von ihm
vorgeschlagenen Abweichungen vom (definitiven) Vorprüfungsbe-
richt und begründet sie. Die Organisation und das Verfahren in der
Planungskommission sind gesetzlich nicht explizit geregelt. Es ist
indessen unbestritten, dass die Planungskommission vom provisori-
schen Vorprüfungsbericht des Kantons abgewichen ist. Diese Abwei-
chung wurde an der Gemeindeversammlung vom 23. Juni 2000 nicht
erwähnt. Wenn das Verwaltungsgericht in Anbetracht der Stellung,
welche der Planungskommission als vorbereitender kommunaler
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
181
Behörde im Nutzungsplanverfahren zukommt, die Ausstandsbestim-
mungen des Verwaltungsrechtspflegegesetzes in Verbindung mit dem
Gemeindegesetz analog anwendet, ist dies nicht zu beanstanden.
Zudem ist schwerlich in Abrede zu stellen, dass die Ehefrau (als
Mitglied der Erbengemeinschaft) resp. zuvor der Schwiegervater als
dem Präsidenten nahestehende Personen ein direktes Interesse daran
hatten, dass die Parzelle der Bauzone zugeteilt wird. Dass Ausstands-
regeln im Übrigen auch für die Vorbereitung von Entscheiden gelten,
ist weitgehend unbestritten (Michael Merker, Rechtsmittel, Klage
und Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über
die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar zu den §§ 38 - 72 VRPG,
Zürich 1998, § 50 N 8).
Steht fest, dass sich das Verwaltungsgericht zulässigerweise auf
die genannten kantonalen Ausstandsregeln berufen hat, ist zu prüfen,
ob die Teilnahme des Planungskommissionspräsidenten und Gemein-
deammanns an der Planung im Gebiet "M." geeignet war, den An-
schein von Befangenheit zu erwecken.
3.6
3.6.1 Die vom Verwaltungsgericht zitierten kantonalen Verfah-
rensbestimmungen verfolgen den gleichen Sinn und Zweck wie auf
Verfassungsstufe Art. 8 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 BV. Nach der bun-
desgerichtlichen Praxis können Stellung und Aufgaben von Regie-
rungs- und Verwaltungsbehörden eine differenzierte Ausstandsre-
gelung nahe legen. Politische Behörden (Kantonsregierungen, Ge-
meindeexekutiven usw.) sind auf Grund ihres Amtes, anders als ein
Gericht, nicht allein zur (neutralen) Rechtsanwendung oder Streitent-
scheidung berufen. Sie tragen zugleich eine besondere Verantwor-
tung für die Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben (Urteil
2A.364/1995 des Bundesgerichtes vom 14.
Februar 1997 in:
ZBl 99/1998 S. 289 E. 3b). Das Bundesgericht hat denn auch wieder-
holt entschieden, dass Behördenmitglieder nur dann in den Ausstand
zu treten haben, wenn sie an der zu behandelnden Sache ein persönli-
ches Interesse haben (BGE 107 Ia 135 E. 2b S. 137; 125 I 119 E. 3b-
e S. 123 f.); nimmt ein Behördenmitglied jedoch öffentliche Interes-
sen wahr, so besteht grundsätzlich keine Ausstandspflicht (Urteil
2003
Verwaltungsgericht
182
1P.426/1999 des Bundesgerichtes vom 20.
Juni 2000 in: ZBl
103/2002 S. 36 E. 2a S. 37 mit Hinweisen).
3.6.2 Im vorliegenden Fall gilt es zu beachten, dass der Ge-
meindeammann nicht einfach Mitglied der Planungskommission und
des Gemeinderates war, sondern in beiden Behörden die leitende
Funktion innehatte. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht erwogen,
dass die massgeblichen Entscheide und Interessenabwägungen im
Nutzungsplanverfahren in der vorberatenden Planungskommission
gefällt werden. In der Planungskommission wird insbesondere die
Siedlungsabgrenzung ein erstes Mal festgelegt, wird beraten und
entschieden, wo die Bauzone vergrössert oder reduziert werden soll.
Selbst wenn der Gemeinderat das Geschäft von Anfang an formell in
den Händen hält, werden im Gemeinderat doch hauptsächlich die
Vorschläge der Planungskommission besprochen, allenfalls noch
abgeändert und dann beschlossen. Im Stadium, da die Planung in der
Gemeindeversammlung zur Abstimmung gelangt, werden kaum
mehr Änderungen angebracht. Zu schwierig scheint es, Entscheidun-
gen über die Zonierung einzelner Grundstücke zu diesem Zeitpunkt
noch umzustossen, weil dies wiederum zur Folge hätte, dass allen-
falls weitere Grundstücke einer anderen Zone zuzuweisen wären,
womit die gesamte Planung in Frage gestellt würde. Dieser Verfah-
rensablauf zeigt auf, welche entscheidende Stellung den jeweils prä-
sidierenden Mitgliedern der Planungskommission und des Gemein-
derates zukommt. Übt eine Person beide Ämter aus, werden die Ein-
flussmöglichkeiten noch erheblich verstärkt. Zwar ist eine solche
Ämterkumulierung nicht schon an sich unzulässig, da der Amtsinha-
ber in erster Linie öffentliche Interessen wahrzunehmen hat. Gibt
allerdings eine (Teil-)Planung Anlass zu kontroversen Diskussionen
und haben dem Präsidenten nahestehende Personen oder er selbst
direkte Interessen, welche dieser auf Grund seiner leitenden Funktion
relativ einfach gleichsam nebenher wahrnehmen kann, lässt sich der
Anschein der Befangenheit kaum unterdrücken. Damit ist freilich
auch gesagt, dass dann, wenn der Gemeindeammann oder eine ihm
nahestehende Person Grundeigentum im Gemeindegebiet besitzt und
die planerische Zukunft des betreffenden Grundstücks im Rahmen
einer Ortsplanung unbestritten ist, sich nicht schon auf Grund dieser
2003
Bau-, Planungs- und Umweltschutzrecht
183
Interessenkonstellation eine Ausstandspflicht des Gemeindeammanns
aufdrängt. Anders entscheiden hiesse die Arbeit der kommunalen
Behörde verunmöglichen.
3.6.3 (...) Unbestritten gab das Gebiet "M.", welches im Plan-
verfahren der Bauzone zugewiesen wurde, zu vertieften Diskussio-
nen Anlass. Der objektive Anschein, dass bei diesem Planungsent-
scheid private Interessen des Kommissionspräsidenten und Gemein-
deammanns mitgespielt haben, lässt sich nicht unterdrücken. Dies
umso weniger, als der Gemeindeversammlung das Abweichen von
der (ursprünglichen) Meinung des Kantons bei der Präsentation des
Entwurfs nicht aufgezeigt wurde. Zwar ist dem Gemeindeammann
zu Gute zu halten, dass er bei der Behandlung der Einsprachen auf
Wunsch der Einsprecherinnen in den Ausstand getreten ist. Bei den
massgeblichen Entscheidfindungen hingegen war er sowohl in der
Planungskommission als auch im Gemeinderat in führender Rolle
anwesend. Damit wird dem Gemeindeammann nicht unterstellt, er
hätte in der Tat die privaten Interessen seiner Frau (und indirekt seine
eigenen) zu stark gewichtet - jedoch genügt der objektive Anschein
von Befangenheit.
3.7 Das Verwaltungsgericht hat die Verletzung der Ausstandsre-
geln zu Recht bejaht. Mithin hat es die Gemeindeautonomie nicht
verletzt, denn die Gemeinde muss verfassungsrechtlich festgelegte
Verfahrensgrundsätze auch im Rahmen ihrer Autonomie beachten. | 5,602 | 4,547 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-48_2002-11-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-48.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-48.pdf | AGVE_2003_48 | null | nan |
8210dbfb-428a-5ae3-bffb-a9aff06aeb8b | 1 | 412 | 870,183 | 1,520,035,200,000 | 2,018 | de | 2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
190
16
Art. 36a GSchG; Art. 41a und b sowie ÜbgBest GSchV
Der Gewässerraum nach Art. 36a GSchG und Art. 41a und b GSchV ist
in einem raumplanerischen Verfahren festzulegen, das eine Würdigung
der konkreten Verhältnisse und eine umfassende Interessenabwägung un-
ter Einbezug aller interessierten Kreise, insbesondere auch der betroffe-
nen Grundeigentümer, erlaubt. Denselben Anforderungen unterliegt der
Verzicht auf die Festlegung von Gewässerraum (für künstlich angelegte
Gewässer). Eine generell-abstrakte Bezeichnung von Gewässerraum oder
ein generell-abstrakter Verzicht auf solchen wird diesen Anforderungen
nicht gerecht; ebenso wenig eine kantonale Fachplanung, der keine Ab-
klärung der konkreten Verhältnisse und eine umfassende Interessenab-
wägung vorangegangen ist.
Eine auf Stufe der Nutzungsplanung erlassene kommunale Abstandsvor-
schrift gegenüber einer Gewässerparzelle, mit welcher die in Art. 41a
GSchV für den Gewässerraum von Fliessgewässern vorgesehenen Min-
destmasse unterschritten werden, ohne dass die einem Verzicht auf die
Ausscheidung von Gewässerraum entgegenstehenden (ökologischen) Inte-
ressen genügend geprüft und gewürdigt wurden, ist bundesrechtswidrig
und muss aufgehoben werden.
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
191
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 1. März
2018, in Sachen A. und B. gegen Einwohnergemeinde C. und Regierungsrat
(WBE.2017.224).
Sachverhalt (Zusammenfassung)
A.
Vom 19. Januar 2015 bis 17. Februar 2015 legte der Gemeinde-
rat C. die Teiländerung 2013 der Bau- und Nutzungsordnung (BNO)
und des Zonenplans auf. Die Teiländerung der BNO bezweckt in ers-
ter Linie die Anpassung der Begriffe und Messweisen an die Inter-
kantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der Baubegriffe
(IVHB). Daneben wird u.a. für den S.-Bach eine kommunale Ab-
standsregelung vorgesehen, die den folgenden Wortlaut aufweist:
§ 29b (neu)
Gegenüber der S.-Bachparzelle sind mindestens die zonengemässen
Grenzabstände - und nicht die Gewässerabstände - einzuhalten. Der Ge-
meinderat legt die Abstände anhand des Naturwertes der Ufer und der si-
tuationsgerechten Einpassung der Bauten in die Quartierstruktur fest.
B.
Namentlich gegen diese Bestimmung erhoben A. und B. zu-
nächst eine Einwendung, die vom Gemeinderat C. am 13. April 2015
abgewiesen wurde, und alsdann - nach Annahme durch die Gemein-
deversammlung C. am 18. Juni 2015, Ablauf der Referendumsfrist
und Publikation der Teilrevision der BNO im kantonalen Amtsblatt
vom 14. August 2015 - Beschwerde beim Regierungsrat. Dieser
wies die Bechwerde am 22. März 2017 ab und genehmigte die ange-
fochtene Bestimmung. Gegen den Genehmigungsentscheid erhoben
A. und B. Beschwerde beim Verwaltungsgericht und verlangten des-
sen Aufhebung.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
192
Aus den Erwägungen
1.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet die Verein-
barkeit des von der Einwohnergemeindeversammlung C. am 18. Juni
2015 beschlossenen und von der Vorinstanz am 22. April 2017 ge-
nehmigten § 29b nBNO mit höherrangigem Recht.
(...)
2.
2.1.
Gemäss Art. 36a GSchG legen die Kantone nach Anhörung der
betroffenen Kreise den Raumbedarf der oberirdischen Gewässer (Ge-
wässerraum) fest, der für die Gewährleistung folgender Funktionen
erforderlich ist: (a) die natürlichen Funktionen der Gewässer; (b) den
Schutz vor Hochwasser; (c) die Gewässernutzung (Abs. 1). Der Bun-
desrat regelt (in der GSchV) die Einzelheiten (Abs. 2). Die Kantone
sorgen dafür, dass der Gewässerraum bei der Richt- und Nutzungs-
planung berücksichtigt sowie extensiv gestaltet und bewirtschaftet
wird (Abs. 3 Satz 1).
In Gebieten ausserhalb von Biotopen von nationaler Bedeutung,
kantonalen Naturschutzgebieten, Moorlandschaften von besonderer
Schönheit und nationaler Bedeutung, Wasser- und Zugvogelreserva-
ten von internationaler und nationaler Bedeutung sowie Landschaf-
ten von nationaler Bedeutung und kantonalen Landschaftsschutzge-
bieten im Sinne von Art. 41a Abs. 1 GSchV muss die Breite des Ge-
wässerraums mindestens betragen: (a) für Fliessgewässer mit einer
Gerinnesohle von weniger als 2 m natürlicher Breite 11 m; (b) für
Fliessgewässer mit einer Gerinnesohle von 2-15 m natürlicher Breite
die 2,5-fache Breite der Gerinnesohle plus 7 m (Art. 41a Abs. 2
GSchV). Die nach den Absätzen 1 und 2 berechnete Breite des Ge-
wässerraums muss erhöht werden, soweit dies erforderlich ist zur
Gewährleistung: (a) des Schutzes vor Hochwasser; (b) des für eine
Revitalisierung erforderlichen Raums; (c) der Schutzziele von Ob-
jekten nach Absatz 1 sowie anderer überwiegender Interessen des
Natur- und Landschaftsschutzes; (d) einer Gewässernutzung
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
193
(Art. 41a Abs. 3 GSchV). Soweit der Hochwasserschutz gewährleis-
tet ist, kann die Breite des Gewässerraums den baulichen Gegeben-
heiten in dicht überbauten Gebieten angepasst werden (Art. 41a
Abs. 4 lit. a GSchV). Auf die Festlegung des Gewässerraums kann
verzichtet werden, wenn das Gewässer künstlich angelegt ist, soweit
keine überwiegenden Interessen entgegenstehen (Art. 41a Abs. 5
lit. c GSchV). Im Gewässerraum dürfen nach Art. 41c Abs. 1 GSchV
vorbehältlich der dort genannten Ausnahmen nur standortgebundene,
im öffentlichen Interesse liegende Anlagen wie Fuss- und Wanderwe-
ge, Flusskraftwerke oder Brücken erstellt werden.
Die Kantone legen den Gewässerraum gemäss den Art. 41a und
41b GSchV bis zum 31. Dezember 2018 fest. Solange sie den Ge-
wässerraum nicht festgelegt haben, gelten die Vorschriften für Anla-
gen nach Art. 41c Absätze 1 und 2 GSchV entlang von Gewässern
auf einem beidseitigem Streifen mit einer Breite von je: (a) 8 m plus
die Breite der bestehenden Gerinnesohle bei Fliessgewässern mit
einer Gerinnesohle bis 12 m Breite; (b) 20 m bei Fliessgewässern mit
einer bestehenden Gerinnesohle von mehr als 12 m Breite; (c) 20 m
bei stehenden Gewässern mit einer Wasserfläche von mehr als 0,5 ha
(Übergangsbestimmungen zur Änderung [der GSchV] vom 4. Mai
2011 [ÜbgBest GSchV], Abs. 1 und 2). Die beidseitigen, gleich brei-
ten Uferstreifen unterscheiden sich insofern vom Gewässerraum ge-
mäss Art. 41a GSchV, als letzterer ein Korridor ist, in dem das Ge-
wässer nicht in der Mitte fliessen muss (Erläuternder Bericht des
Bundesamts für Umwelt [BAFU] vom 20. April 2011 zu A. Parla-
mentarische Initiative Schutz und Nutzung der Gewässer [07.492] -
Änderung der Gewässerschutz-, Wasserbau-, Energie- und Fischerei-
verordnung, B. Versickerung von Abwasser - Änderung der Gewäs-
serschutzverordnung, C. Anpassung der Fischnahmen - Änderung
der Fischereiverordnung [nachfolgend: Erläuternder Bericht BAFU],
S. 10 und 30; CHRISTOPH FRITSCHE, in: PETER HETTICH/LUC JAN-
SEN
/ROLAND NORER [HRSG.], Kommentar zum Gewässerschutzge-
setz und zum Wasserbaugesetz, Zürich/Basel/Genf 2016, Art. 36a
GSchG N 70).
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
194
2.2.
Die Vorinstanz ist der Auffassung, der Kanton Aargau habe den
Gewässerraum gemäss den Art. 41a und 41b GSchV festgelegt. Da-
mit bleibe kein Raum für eine Anwendung der ÜbgBest GSchV.
(...)
2.3.
2.3.1.
Vorab ist der Vorinstanz darin beizupflichten, dass die Kantone
bezüglich des Instrumentariums für die Festlegung des Gewässer-
raums einen Spielraum erhalten haben (vgl. HANS W. STUTZ,
Uferstreifen und Gewässerraum - Umsetzung durch die Kantone, in:
URP 2012, S. 90 ff., S. 116). Ob dieser Spielraum darin begründet
liegt, dass der Bund in diesem Bereich allenfalls nur über eine
Grundsatzgesetzgebungskompetenz gemäss Art. 76 Abs. 2 BV ver-
fügt (a.M. FRITSCHE, a.a.O., vor Art. 36a-44 GSchG N 16, wonach
Art. 36a GSchG seine Verfassungsgrundlage in Art. 76 Abs. 3 BV
habe), kann dahingestellt bleiben.
Ähnlich wie in anderen Umweltbereichen kann die Festlegung
des Gewässerraums mittels einer kantonalen Fachplanung erfolgen.
Damit ist eine kantonsweit einheitliche Festlegung des Gewässer-
raums gewährleistet. Insbesondere ergeben sich an den Gemeinde-
grenzen keine Abstimmungsschwierigkeiten. Aufgrund von Art. 36a
Abs. 3 GSchG ist der so festgelegte Gewässerraum für die Richt- und
Nutzungsplanung, im Baubewilligungsverfahren und bei den übrigen
raumwirksamen Tätigkeiten der kantonalen und kommunalen Behör-
den verbindlich. Auch eine direkte Bestimmung des Gewässerraums
in der kommunalen Nutzungsplanung ist möglich. Der Gewässer-
raum kann ferner mit einem kantonalen Nutzungsplan festgelegt wer-
den. Denkbar ist sodann ein Zusammenwirken von Kanton und Ge-
meinden, indem etwa der Kanton Richtlinien für die Festlegung des
Gewässerraums erlässt, die von den Gemeinden in der Nutzungspla-
nung umgesetzt werden müssen (STUTZ, a.a.O., S. 116 f.;
BGE 139 II 470, Erw. 4.3). Es ist nicht anzunehmen, dass das BAFU
den dargelegten Spielraum mit seinen Ausführungen im Erläuternden
Bericht vom 20. April 2011, wonach die Kantone den Gewässerraum
in einer Gewässerraumkarte festlegen (die bei der Richt- und Nut-
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
195
zungsplanung berücksichtigt wird) (a.a.O., S. 13), auf ein bestimmtes
Planungsinstrument eingrenzen wollte. Im von der Bau-, Planungs-
und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK), der Konferenz der Land-
wirtschaftsämter der Schweiz (KOLAS), dem BAFU, dem Bundes-
amt für Landwirtschaft (BLW) und dem Bundesamt für Raument-
wicklung (ARE) erarbeiteten, von der BPUK-Hauptversammlung am
20. September 2012 genehmigten Synthesebericht (nachfolgend:
Synthesebericht) heisst es jedenfalls, die definitive Festlegung der
Gewässerräume
könne
über behördenverbindliche Planungen wie
Gewässerrauminventare oder -karten geschehen, sofern die Grenzen
des Gewässerraums darin klar ersichtlich sind und als Nutzungsein-
schränkungen angewendet werden können (a.a.O., S. 3).
So oder so ist die Sicherung des Gewässerraums nach den In-
tentionen des Bundesgesetzgebers in einem raumplanerischen Ver-
fahren zu vollziehen, das einerseits die konkreten Verhältnisse wür-
digt und andererseits - im Dienste einer umfassenden Interessenab-
wägung (vgl. Erw. 2.3.3 hinten) - die Anhörung und Mitwirkung der
betroffenen Kreise, insbesondere auch der Grundeigentümer und
Grundstücksbenutzer, gewährleistet (vgl. dazu schon den VGE vom
21. Juni 2017 [WBE.2016.451/ 452], Erw. II/3.2.2; VGE vom
27. September 2012 [WNO.2012.2], Erw. II/4.4.1, S. 12 f. mit Hin-
weisen). In der gegenwärtigen Ausgestaltung trifft dies aus Sicht des
Verwaltungsgerichts am ehesten auf die kommunale Nutzungspla-
nung zu. Ein entsprechender Ausbau der kantonalen Fachplanung
könnte zu gewissen Doppelspurigkeiten führen.
Eine rein generell-abstrakte Festlegung des Gewässerraums ist
demgegenüber unzulässig. Die Art. 41a und 41b GSchV erheischen
zwingend die Berücksichtigung von Kriterien, die eine Betrachtung
der konkreten Situation erfordern. Eine flächendeckend einheitliche
Regelung, wie sie die vom kantonalen Recht abzulösende ÜbgBest
GSchV vorsehen, würde dem Sinn und Zweck des Bundesrechts
nicht entsprechen. Mit einer generell-abstrakten Regelung liesse sich
auch kein befriedigendes Gesamtergebnis erzielen, das die konkreten
Bedürfnisse (pro Gewässerabschnitt) und alle berechtigten Interessen
angemessen berücksichtigt (FRITSCHE, a.a.O., Art. 36a GSchG N 34;
STUTZ, a.a.O., S. 117 f.). Wie viel Raum für den Hochwasserschutz,
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
196
die Ökologie oder die Gewässernutzung benötigt wird, ist von Fall
zu Fall verschieden. Dasselbe gilt für die baulichen Gegebenheiten
und die planerisch gewünschte Siedlungsentwicklung, die sich von
Ort zu Ort unterschiedlich gestaltet (JEANETTE KEHRLI, Gewässer-
raum festlegen - Worauf die Kantone in Recht und Praxis achten
müssen, in: Raum & Umwelt, VLP-ASPAN, November 4/17, S. 24).
Dem ist bereits bei der Festlegung der Gewässerräume Rechnung zu
tragen. Vor diesem Hintergrund bildet die in § 127 Abs. 1 BauG ver-
ankerte, von der Vorinstanz beschriebene Definition des Gewässer-
raums einzig anhand der Gewässerbreite bzw. Gewässerfläche keine
den Anforderungen von Art. 41a und 41b GSchV gerecht werdende
Gewässerraumfestlegung.
2.3.2.
Unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte von Art. 36a
GSchG und dessen Wortlaut, der sich praktisch vollständig mit der
bis zum 1. Juni 2011 in Kraft stehenden Fassung von Art. 21 Abs. 2
und 3 der Verordnung über den Wasserbau vom 2. November 1994
(Wasserbauverordnung, WBV; SR 721.100.1) decke, hält die
Vorinstanz fest, das zweistufige Prozedere mit der in Art. 36a Abs. 1
GSchG normierten Festlegung der Gewässerräume (erster Schritt)
und deren späteren Ausscheidung in der (kommunalen)
Nutzungsplanung gemäss Art. 36a Abs. 3 GSchG (zweiter Schritt)
sei im Gesetz selber angelegt. In der Rechtsprechung und Lehre
würden die beiden Stufen zum Teil nicht sauber auseinandergehalten
und die Begrifflichkeiten miteinander vermengt. Die Kantone seien
nicht verpflichtet, bei der Gewässerraumfestlegung für alle Gewässer
Einzelfalllösungen zu treffen. Auf Stufe der Nutzungsplanung könne
der in § 127 BauG und der Fachkarte festgelegte Gewässerraum den
konkreten Verhältnissen in einem gewissen Ausmass noch angepasst
werden. Dort könnten sich auch alle Betroffenen einbringen, mit
Rechtsmitteln dagegen zur Wehr setzen und es habe eine umfassende
Interessenabwägung in Kenntnis aller Argumente der Betroffenen
stattzufinden. Dies im Gegensatz zur Festlegung des Gewässerraums
gemäss Art. 36a Abs. 1 GSchG, die auch ohne Rechtsmittelverfahren
erfolgen könne. Es seien lediglich die betroffenen Kreise anzuhören,
was formlos geschehen könne. Vor Erlass von § 127 BauG seien alle
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
197
interessierten Kreise (Bauernverband, Umweltverbände, Gewerbe-
verband, Hauseigentümerverband, Ortsbürgergemeindeverband usw.)
angehört worden, wobei die Basis und die Berechnungsweise für die
Gewässerraumkarte bekannt gewesen seien. Die Gewässerraumkarte
sei zwar nicht direkt grundeigentümerverbindlich, müsse aber von
den Baupolizeibehörden bei allen raumwirksamen Tätigkeiten,
insbesondere bei der Erteilung von Baubewilligungen, berücksichtigt
werden. Dadurch sei der Rechtsschutz gewährleistet.
(...) Die sich aus Art. 36a Abs. 3 GSchG ergebende Pflicht, den
notwendigen Gewässerraum in der Richt- und Nutzungsplanung zu
berücksichtigen, sei ohnehin eine permanente Aufgabe, die mit dem
erstmaligen Ausscheiden der Gewässerräume in der Nutzungspla-
nung nicht an Aktualität einbüsse. Mit Bezug auf Einzelprojekte
könne sich später durchaus Anpassungsbedarf ergeben. Deswegen
rechtfertige es sich jedoch nicht, auf Vorrat Gewässerraum auszu-
scheiden, mit allen damit verbundenen Einschränkungen für die Be-
wirtschaftung. Die ÜbgBest GSchV stellten namentlich ohne eine
zeitliche Limitierung, wie sie etwa für Planungszonen gemäss Art. 27
RPG gelte, einen schweren Eingriff in die Eigentumsfreiheit dar, vor
allem in der nicht dicht überbauten Bauzone, wo ein Gewässer einge-
dolt, künstlich angelegt oder sehr klein sei und daher im Normalfall
keinen Gewässerraum benötige. Ein derartiger Eingriff müsste seine
Grundlage in einem formellen Gesetz haben. Spätestens seit dem
1. Juni 2016 (fünf Jahre nach Inkrafttreten) seien die ÜbgBest
GSchV nicht mehr verfassungskonform, was das Verwaltungsgericht
im Rahmen einer inzidenten Normenkontrolle festzustellen habe,
falls es zum Schluss gelange, dass die ÜbgBest GSchV im Kanton
Aargau nach wie vor anwendbar seien.
2.3.3.
Diese rechtsstaatlichen Bedenken der Vorinstanz können nicht
geteilt werden. Art. 36a GSchG und die ausführenden Bestimmungen
in der GSchV dienen wichtigen öffentlichen Anliegen (Gewährleis-
tung der natürlichen Funktion der Gewässer, Schutz vor Hochwasser
und Gewässernutzung). Mit den ÜbgBest GSchV soll sichergestellt
werden, dass im Gewässerraum keine unerwünschten neuen Anlagen
mehr errichtet werden, welche diese Anliegen durchkreuzen
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
198
(BGE 139 II 470, Erw. 4.2; FRITSCHE, a.a.O., Art. 36a GSchG N 73).
Dabei muss man sich auch vor Augen halten, dass die Kantone auf-
grund der von der Vorinstanz selber ins Spiel gebrachten WBV
(Art. 21 Abs. 2 und 3) schon seit 1999 verpflichtet sind, einen ausrei-
chenden Gewässerraum für Gewässer festzulegen. Die fachlichen
Anliegen hinter diesem Bundesauftrag sind seit langem bekannt
(KEHRLI, a.a.O., S. 5). Würde die ÜbgBest GSchV aufgrund der
Säumnis eines Kantons im Bereich der Gewässerraumfestlegung we-
sentlich länger als bis zum 31. Dezember 2018 gelten, wäre allenfalls
eine Entschädigungspflicht aus materieller Enteignung näher zu prü-
fen (FRITSCHE, a.a.O., Art. 36a GSchG N 166). Solange jedoch Pla-
nungszonen, Bausperren und dergleichen vorübergehender Natur
sind und nicht mehr als maximal zehn Jahre dauern, begründen sie
nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich keinen
Anspruch aus materieller Enteignung (BGE 123 II 481, Erw. 9;
BGE 109 Ib 20, Erw. 4a; Urteil des Bundesgerichts vom 14. März
2008 [1C_317/2007], Erw. 2). Ein schwerer Eingriff in die Eigen-
tumsgarantie, für den eine (kompetenzgemäss erlassene) Verordnung
als Rechtsgrundlage nicht genügt, wird vom Bundesgericht in der
Regel erst angenommen, wenn Grundeigentum zwangsweise entzo-
gen oder der bisherige oder künftig mögliche bestimmungsgemässe
Gebrauch des Grundstücks (auf Dauer) verunmöglicht oder stark er-
schwert wird (ULRICH HÄFELIN/GEORG MÜLLER/FELIX UHLMANN,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016,
Rz. 2344 mit Hinweisen).
Zutreffend ist aber, dass die Kantone ein evidentes Interesse da-
ran haben, den Gewässerraum zwecks Ablösung der ÜbgBest GSchV
möglichst rasch festzulegen (FRITSCHE, a.a.O., Art. 36a GSchG
N 69; KEHRLI, a.a.O., S. 9; Synthesebericht, S. 7). In diesem Sinne
wurde den Kantonen von den involvierten Bundesämtern zugestan-
den, dass der Gewässerraum als hinreichend festgelegt gilt und die
ÜbgBest GSchV nicht mehr gelten, sobald der Gewässerraum samt
genauem Grenzverlauf in behördenverbindlichen Planungen wie Ge-
wässerrauminventaren oder -karten ausgewiesen wird (Synthesebe-
richt, S. 3 und 7). Nichtsdestotrotz kennt das Bundesrecht prozessua-
le Vorgaben, die vom kantonalen Recht respektiert werden müssen.
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
199
Dazu gehört das in Art. 36a Abs. 1 GSchG statuierte Anhörungsrecht
der betroffenen Kreise . Dieses Anhörungsrecht ist als eine Art Ver-
nehmlassungsverfahren zu verstehen, das zwar relativ formlos ausge-
staltet werden kann und den Betroffenen keine Rechtsmittelmöglich-
keit bietet. Das bedeutet allerdings nicht, dass nur Verbände anzuhö-
ren wären. Der Einbezug der betroffenen Kreise ermöglicht die not-
wendige Breite der Interessenabwägung und bildet damit eine wichti-
ge Grundlage für den sachgerechten Planungsentscheid. Daher ist der
Kreis der einzubeziehenden Personen nicht zu eng zu ziehen, son-
dern sind in der Regel nicht nur die Grundeigentümer, sondern auch
Mieter, Pächter (Bewirtschafter) und die betroffenen Gemeinden an-
zuhören (FRITSCHE, a.a.O., Art. 36a GSchG N 28 f.). Auf diese
Weise besteht eher Gewähr dafür, dass der Kanton nicht an den Inte-
ressen der Betroffenen vorbeiplant und seine Planung in den Nut-
zungsplanungen im grossen Stil überarbeitet werden muss.
Daraus ergibt sich, dass die umfassende Interessenabwägung
nicht - wie von der Vorinstanz propagiert - auf die der Gewässer-
raumplanung des Kantons nachfolgende Stufe der kommunalen Nut-
zungsplanung mit der definitiven, direkt grundeigentümerverbind-
lichen Ausscheidung der Gewässerräume verlagert werden kann, die
Ablösung der ÜbgBest GSchV jedoch bereits zu einem früheren
Zeitpunkt erfolgt. Dies gilt namentlich dort, wo das Bundesrecht für
die Festlegung von Gewässerraum oder den Verzicht darauf explizit
an eine Interessenabwägung anknüpft. Das ist beispielsweise bei
Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV der Fall, wonach bei künstlich angeleg-
ten Gewässern auf die Festlegung des Gewässerraums verzichtet
werden kann, soweit keine überwiegenden Interessen entgegenste-
hen. Das lässt sich letztlich nur anhand einer umfassenden Interes-
senabwägung beurteilen. Wird diese nicht schon vom Kanton beim
Verzicht auf die Festlegung von Gewässerraum durch entsprechende
Kennzeichnung des künstlich angelegten Gewässers in der Gewäs-
serraumkarte vorgenommen, kann das Verfahren zur Gewässerraum-
festlegung in diesem Zeitpunkt nicht als vollendet betrachtet werden;
die ÜbgBest GSchV zur Sicherung des Gewässerraums bleiben daher
anwendbar. Die gegenteilige Annahme würde dazu führen, dass für
alle künstlich angelegten Gewässer mit (vorläufigem) Verzicht des
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
200
Kantons auf die Festlegung eines Gewässerraums (in der Gewässer-
raumkarte) kein Gewässerraum mehr gesichert ist, bevor überhaupt
genügend ergründet wurde, ob es im Einzelfall und unter Würdigung
der konkreten Verhältnisse nicht doch überwiegende Interessen gibt,
welche die Festlegung von Gewässerraum (wenigstens abschnitts-
weise) erfordern. Die Nutzungsplanung der Gemeinden, in deren
Rahmen allenfalls Bedarf nach einem Gewässerraum für ein künst-
lich angelegtes Gewässer erkannt würde, käme dann unter Umstän-
den zu spät. Durch die Bewilligung von Bauten im Gewässerraum,
die sich in dieser Konstellation nicht unter Hinweis auf die kantonale
Planung bzw. die Gewässerraumkarte verhindern liessen, könnten
bereits Fakten geschaffen worden sein, die mit den Schutzzielen der
Gewässerraumvorschriften nicht zu vereinbaren sind.
Demgemäss braucht es für einen gültigen, die ÜbgBest GSchV
ablösenden Verzicht auf die Festlegung von Gewässerraum in An-
wendung von Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV eine umfassende Interes-
senabwägung (vgl. auch KEHRLI, a.a.O., S. 18), sei dies auf Stufe der
Fachplanung des Kantons - (vorerst) ohne Rechtsmittelmöglichkeit -
oder der anschliessenden Nutzungsplanung der Gemeinden, in deren
Rahmen die (vorstrukturierte) Interessenabwägung (des Kantons) ab-
geschlossen und im Rechtsmittelverfahren überprüft werden kann.
Das bedeutet, dass die verschiedenen öffentlichen und privaten Inte-
ressen, die für oder gegen die Festlegung oder Ausscheidung von Ge-
wässerraum für ein künstlich angelegtes Gewässer sprechen, sorgfäl-
tig gegeneinander abgewogen werden müssen. Überwiegende Inte-
ressen, die eine Festlegung des Gewässerraums bei künstlich ange-
legten Gewässern notwendig machen, sind auch hier insbesondere
Interessen des Hochwasserschutzes sowie die allenfalls vorhandene
ökologische Bedeutung des Gewässers. Bei künstlich angelegten Ge-
wässern, die eine ökologische Bedeutung haben (z.B. Binnenkanäle
entlang kanalisierter Flüsse wie dem Alpenrhein, Gewässer, die eine
Bedeutung als Lebensraum oder für die Vernetzung von Lebensräu-
men haben), ist ein Gewässerraum auszuscheiden (Erläuternder Be-
richt BAFU, S. 13).
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
201
2.3.4.
2.3.4.1.
In Erw. 6.8 f. des Beschwerdeentscheids führt die Vorinstanz
aus, die Kennzeichnung der künstlich angelegten Gewässer in der
Gewässerraumkarte als solche ohne besondere ökologische Bedeu-
tung beruhe auf einer Einzelfallbeurteilung für jedes betroffene Ge-
wässer. Die ersten Weichen seien schon im Gesetzgebungsverfahren
(zu § 127 BauG) gestellt worden. Dort seien die vorhandenen Inte-
ressen ermittelt und mithilfe ausgewiesener Massstäbe beurteilt wor-
den. Am 16. März 2016 habe der Regierungsrat die Gewässerraum-
karte beschlossen. Die vom Regierungsrat vorgenommene Interes-
senabwägung habe dazu geführt, den S.-Bach in der Gewässerraum-
karte als Fliessgewässer im Sinne von § 127 Abs. 1bis lit. a BauG
(künstlich angelegt und ohne besondere ökologische Bedeutung) zu
klassieren. Er habe sich insbesondere von den Überlegungen des
BVU (Abteilung für Baubewilligungen) leiten lassen, das am 17. Juli
2015 für ein Bauvorhaben am S.-Bach die Zustimmung erteilt habe.
Die erwähnten Überlegungen des BVU werden auf S. 16 f. des
Beschwerdeentscheids wiedergegeben. Zu den öffentlichen Interes-
sen, die einem Verzicht auf die Festlegung von Gewässerraum für
den S.-Bach entgegenstehen könnten, heisst es dort:
Beim S.-Bach D. ist die Hochwassergefährdung kein Thema, da die
Wassermenge beim Bachabschlag reguliert wird. Es ist definiert, wie
viel Wasser im Maximum dem S.-Bach zugeführt werden kann, so dass
keine Hochwassergefährdung entstehen kann.
Dem S.-Bach D. wird aus Sicht des Kantons nur eine geringe ökologi-
sche Bedeutung zugewiesen, da der Bach auf weiten Strecken hart ver-
baut ist und es nie eine durchgehende Vernetzung bis zur Mündung ge-
ben wird. Es ist klar, dass der S.-Bach im Siedlungsgebiet eine Vernet-
zungsachse darstellt und abschnittsweise einem im dicht besiedelten
Raum wichtigen Lebensraum darstellt, der punktuell auch ökologisch
aufgewertet wurde. Aufgrund seiner Entstehung und im Vergleich zu na-
türlichen Gewässern hat der S.-Bach jedoch eine zu kleine ökologische
Bedeutung, als dass wegen dieser eine Festlegung eines Gewässerraums
verlangt würde.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
202
In der Botschaft Nr. 15.18 des Regierungsrats an den Grossen
Rat zur Änderung des BauG, Teilrevision Umsetzung des Gewäs-
serraums gemäss Bundesrecht vom 14. Januar 2015, fehlen Anga-
ben zum S.-Bach von C. und D. Es wird bloss allgemein festgehal-
ten, dass diejenigen künstlich angelegten Gewässer, die keine beson-
dere ökologische Bedeutung haben, in der Gewässerraumkarte spe-
ziell gekennzeichnet würden, wozu auf Abb. 7 (auf S. 14) verwiesen
wird. Gegenüber diesen Kanälen und künstlich angelegten Gewässer-
läufen (z.B. Wasserkraftwerks- oder Industriekanäle, Be- und Ent-
wässerungsgräben, Stadtbäche) seien keine vorgegebenen Abstände
einzuhalten (a.a.O., S. 13). An der Vernehmlassung, die vom
26. März 2014 bis Ende Juni 2014 dauerte, beteiligten sich zehn Par-
teien, zwölf regionale Planungsverbände, 14 andere Verbände, 80
Gemeinden und vier Einzelpersonen. Ob und inwieweit dabei § 127
Abs. 1bis lit. a BauG oder sogar einzelne künstlich angelegte Gewäs-
ser thematisiert wurden, geht aus der Botschaft (S. 7 f.) nicht hervor.
Unbekannt ist ferner, ob und inwieweit der Regierungsrat entspre-
chende Äusserungen beim Entscheid über die ökologische Bedeu-
tung der einzelnen künstlich angelegten Gewässer einbezogen und
gewürdigt hat. Für die betroffenen Grundeigentümer war im Rahmen
des Gesetzgebungsverfahrens sodann kaum absehbar, welche Konse-
quenzen bzw. Auswirkungen auf die Nutzung ihres Eigentums diese
Gesetzesbestimmungen konkret haben würden.
2.3.4.2.
Die Beschwerdeführer weisen zu Recht darauf hin, dass die
oben (Erw. 2.3.4.1 vorne) zitierte Stellungnahme des BVU zum ge-
ringen ökologischen Wert des S.-Bachs wenig fundiert erscheint. Es
lässt sich nicht nachvollziehen, welche Datenlage dieser Einschät-
zung zugrunde liegt. So werden beispielsweise keine (detaillierten)
Angaben zum zahlenmässigen Verhältnis des verbauten zum nicht
verbauten Teil des S.-Bachs oder dazu gemacht, auf welchen Ab-
schnitten und für welche Arten (von Pflanzen oder Tieren) der S.-
Bach einen wichtigen Lebensraum bildet. Die Beschwerdeführer ver-
langen von den Behörden in diesem Zusammenhang Bestandesauf-
nahmen, Begehungsprotokolle und dergleichen, die auch im vorlie-
genden Verfahren nicht beigebracht wurden. Das vermittelt den Ein-
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
203
druck, dass der Sachverhalt im Vorfeld der Verabschiedung der Ge-
wässerraumkarte gar nicht oder zu wenig vertieft abgeklärt wurde,
um eine auf den konkreten Fall des S.-Bachs zugeschnittene, umfas-
sende Interessenabwägung zu ermöglichen. An mehr Datenmaterial
hätte man unter Umständen gelangen können, wenn man die Natur-
schutzorganisationen zum beabsichtigten Verzicht auf die Festlegung
eines Gewässerraums für den S.-Bach angehört hätte. Stattdessen
wurden die Umweltverbände offenbar auf das Nutzungsplanungsver-
fahren verwiesen.
Von vornherein unzulässig wäre es, den (geringen) ökologi-
schen Wert des S.-Bachs aus seiner Entstehungsgeschichte abzulei-
ten. Die Art und Weise der Entstehung ( künstlich angelegt ) ist nur
das eine Tatbestandsmerkmal, das für den Verzicht auf die Festle-
gung von Gewässerraum in Anwendung von Art. 41a Abs. 5 lit. c
GSchV und § 127 Abs. 1bis lit. a BauG erfüllt sein muss; das Fehlen
überwiegender Interessen, die einem solchen Verzicht entgegenste-
hen, das andere Kriterium, das gesondert geprüft werden muss. Es ist
zumindest nicht aktenkundig, dass der Verabschiedung der Gewäs-
serraumkarte durch den Regierungsrat im Fall des S.-Bachs eine ein-
gehende und einzelfallbezogene Prüfung derartiger Interessen voran-
gegangen ist. Folglich ist darauf abzustellen, dass die Gewässerraum-
karte mit Bezug auf den S.-Bach, der darin als künstlich angelegtes
Gewässer ohne besondere ökologische Bedeutung gekennzeichnet
wird, die ÜbgBest GSchV mit den gemäss Abs. 2 grundsätzlich
freizuhaltenden Uferstreifen nicht abzulösen vermochte.
Das heisst aber entgegen der Meinung der Beschwerdeführer
nicht notwendigerweise, dass die ÜbgBest GSchV für den S.-Bach
weiterhin gelten. Sie könnten durch eine planerische Festlegung auf
Stufe der kommunalen Nutzungsplanung, die nach umfassender Inte-
ressenabwägung zustande gekommen ist und den materiellen Krite-
rien von Art. 36a GSchG und Art. 41a und 41b GSchV, namentlich
Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV entspricht, verdrängt worden sein
(FRITSCHE, a.a.O., Art. 36a GSchG N 74).
2.3.4.3.
Die Vorinstanz und die Beschwerdeführer gehen übereinstim-
mend davon aus, dass die Gemeinde C. bis anhin nicht auf Stufe der
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
204
Nutzungsplanung auf die Ausscheidung von Gewässerraum für den
S.-Bach verzichtet hat.
Tatsächlich hat die Einwohnergemeinde C. Stand heute weder
sich mit der Ausscheidung von Gewässerraum im Allgemeinen be-
fasst noch Bestimmungen erlassen, mit denen auf die Ausscheidung
eines Gewässerraums für den S.-Bach verzichtet wird. Mit dem Be-
schluss des umstrittenen § 29b nBNO hat sie jedoch gegenüber der
S.-Bachparzelle (mindestens) einzuhaltende (zonengemässe) Grenz-
abstände definiert, mit denen ein von Überbauungen grundsätzlich
freizuhaltender Gewässerraum mit den Mindestmassen nach Bundes-
recht und im Übrigen auch mit den vom Kanton in § 127 Abs. 1
BauG festgelegten Ausmassen nicht gewährleistet ist. (...) Insofern
hat die Einwohnergemeindeversammlung C. implizit auf die Aus-
scheidung von Gewässerraum für den S.-Bach verzichtet. Dies gilt
umso mehr, als den Gemeindebehörden die Thematik durch die Ein-
wendung der Beschwerdeführer bekannt war. An der Einwen-
dungsverhandlung vom 19. März 2015 wurde darüber debattiert, ob
für den S.-Bach ein Gewässerraum ausgeschieden werden muss.
Dem Protokoll zum Einwendungsentscheid vom 13. April 2015 ist
zu entnehmen, dass sich die Gemeinde gegen eine Festlegung von
Gewässerraum wehre, keine Hochwassergefährdung bestehe und die
ökologische Bedeutung des S.-Bachs nicht überbewertet werden dür-
fe. Auf der Gegenseite beharrten die Beschwerdeführer darauf, dass
der S.-Bach ein ökologisch wertvolles Gewässer sei, für das ein Ge-
wässerraum ausgeschieden werden müsse.
Setzen sich Gemeindebehörden - wie der Gemeinderat C. - im
Rahmen einer Teilrevision der Nutzungsplanung mit der Frage ausei-
nander, ob für ein künstlich angelegtes Gewässer Gewässerraum aus-
geschieden werden muss, und entscheiden sie sich (in Anwendung
von Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV) gegen die Ausscheidung von Ge-
wässerraum, reicht ein solches Vorgehen, um die ÜbgBest GSchV
abzulösen, sofern die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die
Festlegung von Gewässerraum erfüllt sind. Insofern ist § 29b nBNO
nicht auf seine Übereinstimmung mit den ÜbgBest GSchV, die bei
einem gültigen Verzicht auf die Ausscheidung von Gewässerraum
ohnehin wegfielen, sondern vielmehr auf diejenige mit Art. 41a
2018
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
205
Abs. 5 lit. c GSchV zu überprüfen. Dass Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV
einen expliziten Verzicht in Form einer BNO-Bestimmung (wonach
für ein bestimmtes Gewässer kein Gewässerraum ausgeschieden
werde) oder einer (ohnehin bloss orientierenden) Kennzeichnung im
Zonenplan (analog derjenigen in der Gewässerraumkarte des Kan-
tons) verlangen würde, ist nicht ersichtlich. Auch braucht ein Ver-
zicht gemäss Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV nicht zwingend mit der
Festlegung oder Ausscheidung von Gewässerraum für andere Ge-
wässer zeitlich koordiniert zu werden.
3.
3.1-3.2. (Prüfung der Frage, ob auf Stufe der Nutzungsplanung
die nach Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV für den Verzicht auf die Aus-
scheidung von Gewässerraum für den S.-Bach erforderliche Interes-
senabwägung stattgefunden hat)
4.
Zusammenfassend ist der Verzicht auf die Festlegung von Ge-
wässerraum für den S.-Bach auf Ebene der Fachplanung des Kantons
durch dessen Kennzeichnung in der Gewässerraumkarte als künstlich
angelegtes Gewässer ohne besondere ökologische Bedeutung nicht
nach einer umfassenden Interessenabwägung zustande gekommen,
weshalb dieser planerische Entscheid die ÜbgBest GSchV mit den in
Abs. 2 vorgesehenen grundsätzlich freizuhaltenden Uferstreifen nicht
abzulösen vermochte. Auf Stufe der kommunalen Nutzungsplanung
gibt es zwar durch den Beschluss von § 29b nBNO einen weiteren
planerischen Entscheid, mit welchem implizit auf die Ausscheidung
von Gewässerraum für den S.-Bach verzichtet wurde. Doch liegt die-
sem Entscheid eine ungenügende Interessenabwägung zugrunde, die
den Anforderungen von Art. 41a Abs. 5 lit. c GSchV nicht entspricht.
Ungenügend ist die Interessenabwägung insofern, als der Sachverhalt
zur Beurteilung des ökologischen Werts des S.-Bachs unzureichend
abgeklärt und unvollständig gewürdigt wurde. Das beruht insbeson-
dere auf den Fehlannahmen, dass einem künstlich angelegten Gewäs-
ser ohne Vernetzungsfunktion zwischen natürlichen Fliessgewässern
a priori keine ökologische Bedeutung beigemessen werden kann, die
einem Verzicht auf die Festlegung von Gewässerraum entgegenste-
hen könnte, und dass die Gewässerraumvorschriften zu wenig flexi-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
206
bel handhabbar sind, um mit einer abschnittsweisen Lagebeurteilung
sowohl dem Interesse am Schutz der natürlichen Funktionen als auch
demjenigen am Erhalt des Ortsbilds und der städtebaulichen Ent-
wicklung des S.-Bachs Rechnung tragen zu können. Solange kein
rechtsgenügender Verzicht auf die Festlegung von Gewässerraum für
den S.-Bach vorliegt, erweist sich § 29b nBNO mit einer Bachab-
standsvorschrift, die einen potenziellen Verstoss gegen die Gewässer-
raumgesetzgebung respektive die darin vorgeschriebenen Mindest-
masse für Gewässerräume beinhaltet, als bundesrechtswidrig.
In teilweiser Gutheissung der vorliegenden Beschwerde ist so-
mit der im Rahmen der Teilrevision BNO C. eingeführte, von der
Gemeindeversammlung am 18. Juni 2015 beschlossene § 29b nBNO
von der Genehmigung durch den Regierungsrat (...) auszunehmen
und aufzuheben. (...) | 8,064 | 6,265 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2018-16_2018-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2018-16.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2018-16.pdf | AGVE_2018_16 | null | nan |
82edb64a-77cf-5bdd-b745-5c974e71f6d1 | 1 | 412 | 871,410 | 1,165,017,600,000 | 2,006 | de | 2006
Verwaltungsgericht
112
[...]
24 Geschäfts-/Privatvermögen.
-
Beteiligung (Aktienzeichnung, Darlehensgewährung) des Inhabers
einer Einzelfirma, zwecks Diversifikation, an einer AG mit völlig an-
derem Tätigkeitsbereich. Auch in einem solchen Fall ist Geschäfts-
vermögen nicht von vornherein ausgeschlossen; vielmehr hängt die
Zuordnung der Beteiligung zum Geschäfts- oder Privatvermögen
auch hier von der Gesamtheit der objektiv feststellbaren tatsächli-
chen Verhältnisse ab.
-
Geringe Bedeutung der buchhalterischen Behandlung als Geschäfts-
vermögen, wenn im Zeitpunkt der Einbuchung der Verlust bereits
absehbar oder sogar eingetreten ist.
2006
Kantonale Steuern
113
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 19. Dezember 2006 in
Sachen R.W. gegen Steuerrekursgericht. Publikation in StE 2007 vorgesehen. | 174 | 143 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-24_2006-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-24.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-24.pdf | AGVE_2006_24 | null | nan |
8308e311-81f4-5b0d-890c-34ada743cbe3 | 1 | 412 | 869,925 | 1,409,616,000,000 | 2,014 | de | 2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
120
17
Ausschaffungshaft; Haftverlängerung; Beschleunigungsgebot
Das Beschleunigungsgebot ist verletzt, wenn die Behörden betreffend Pa-
pierbeschaffung während Monaten untätig geblieben sind und die pen-
denten Anträge bei der ausländischen Behörde nicht mahnten (Erw. 5.).
Aus dem Entscheid des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer,
vom 16. September 2014 in Sachen Amt für Migration und Integration gegen
A. (WPR.2014.147).
Aus den Erwägungen
5.
Gemäss Art. 76 Abs. 4 AuG sind die für den Vollzug der Weg-
oder Ausweisung notwendigen Vorkehren umgehend zu treffen.
Insbesondere in Haftfällen ist dem Beschleunigungsgebot besondere
Beachtung zu schenken. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtspre-
chung liegt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots vor, wenn
während rund zwei Monaten keinerlei geeignete Vorkehren im Hin-
blick auf die Ausschaffung getroffen werden, ohne dass die Verzöge-
rung auf das Verhalten der ausländischen Behörden oder des
Betroffenen zurückzuführen ist (vgl. BGE 124 II 49, Erw. 3a, S. 51).
Dies gilt nicht nur während einer laufenden Ausschaffungshaft, son-
dern auch, wenn sich ein Betroffener im Strafvollzug befindet und
der Entlassungszeitpunkt absehbar ist.
Der Gesuchsgegner befindet sich seit dem 19. März 2014 in
Ausschaffungshaft. Am 25. Februar 2014 beantragte das MIKA beim
BFM eine Priorisierung betreffend die Papierbeschaffung des Ge-
suchsgegners. Mit Schreiben vom 28. Februar 2014 kam das BFM
dem Priorisierungsantrag des MIKA nach und monierte den seit
13. Mai 2013 hängigen Indentifizierungsantrag bei der tunesischen
Vertretung.
Anlässlich des rechtlichen Gehörs vom 3. Juni 2014 betreffend
die Verlängerung der Ausschaffungshaft fand der letzte Kontakt zu
den tunesischen Behörden, in casu ein telefonischer Kontakt zwi-
schen dem Gesuchsgegner und der tunesischen Botschaft, statt. Aus
2014
Migrationsrecht
121
der am 10. September 2014 vom MIKA eingereichten Stellungnahme
geht hervor, dass vom 28. Februar 2014 bis zum 10. September 2014
seitens der Schweizer Behörden keine Kontaktaufnahme mit der
tunesischen Vertretung erfolgte und somit das ausstehende Laissez-
passer weit über sechs Monate nicht moniert wurde. Die nach-
gewiesenen Bemühungen des MIKA beschränkten sich auf eine
Nachfrage beim BFM am 17. Juli 2014 in Bezug auf den offenen An-
trag um Ausstellung von Ersatzreisepapieren. Letzteres teilte am
21. Juli 2014 lediglich mit, dass repetitives Mahnen von offenen An-
trägen bei der tunesischen Vertretung kontraproduktiv sei.
Auch wenn die Bemerkung des BFM zutreffend sein dürfte,
dass repetitives Mahnen von offenen Anträgen bei der tunesischen
Vertretung kontraproduktiv sei und von den Schweizer Behörden ef-
fektiv nicht verlangt werden kann, stur alle zwei Monate bei der
tunesischen Vertretung das ausstehende Ersatzreisedokument zu rü-
gen, geht es nicht an, derart lange, in casu über sechs Monate, untätig
zu sein. Dies umso weniger, als weder das MIKA noch das BFM dar-
legt, weshalb trotz Untätigkeit im konkreten Fall nach wie vor von
einem schwebenden Verfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. f
EMRK auszugehen ist.
Nach dem Gesagten liegt eine Verletzung des Beschleunigungs-
gebots vor, wobei anzumerken bleibt, dass die Untätigkeit des BFM
vollumfänglich dem MIKA zuzurechnen ist, da unerheblich ist, wel-
che der involvierten Behörden für die Nichteinhaltung des
Beschleunigungsgebots verantwortlich ist (vgl. BGE 124 II 49,
Erw. 3a, S. 50).
Die Verletzung des Beschleunigungsgebots führt im vorliegen-
den Fall zu Entlassung des Gesuchsgegners aus der Ausschaffungs-
haft. | 829 | 647 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-17_2014-09-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-17.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-17.pdf | AGVE_2014_17 | null | nan |
8309764d-a4e2-5365-a111-f43e26afd1a0 | 1 | 412 | 871,208 | 1,493,769,600,000 | 2,017 | de | 2017
Submissionen
188
[...]
34
Bewertung der Angebote; "Strafabzüge"
Unzulässigkeit von "Strafabzügen" für Offertmängel im Rahmen der
Offertbewertung
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 31. Mai
2017, i.S. A. AG gegen Stadt B. (WBE.2016.540)
Aus den Erwägungen
4.2.5.2.
Die Beschwerdeführerin hat es insbesondere bei den Referenz-
projekten Nrn. 1 und 3 unterlassen, detaillierte Informationen zur
Bandbreite der ausgeführten Arbeitsleistungen bzw. zu den Arbeits-
gattungen zu machen, was jeweils zu einer "Bewertung" mit
0 Punkten geführt hat (mit der Begründung "nicht vergleichbar" bzw.
"unklar"). Die Beschwerdeführerin macht in diesem Kontext geltend,
2017
Submissionen
189
die Vergabestelle hätte die aus ihrer Sicht fehlenden oder unklaren
Angaben entweder bei ihr oder bei den angegebenen Referenzperso-
nen einholen können. Ersteres war vom Ingenieurbüro, welches das
Submissionsverfahren und die Auswertung durchführte, auch tat-
sächlich beabsichtigt. So wurde die Beschwerdeführerin mit E-Mail
vom 10. November 2016 zur Präzisierung ihrer Referenzangaben
aufgefordert, damit die Bandbreite der Arbeitsleistungen mit dem
ausgeschriebenen Projekt verglichen und angemessen beurteilt wer-
den könnten. Aus der Beschreibung der verschiedenen Referenz-
projekte sei nicht genau ersichtlich, welche Arbeitsleistungen abge-
deckt worden seien. Das E-Mail wurde später zurückgerufen und der
Beschwerdeführerin vom Stadtbauamt (...) mit E-Mail vom 14. No-
vember 2016 mitgeteilt, die Referenzobjekte würden jeweils anhand
der Beschreibung in der Offerte, Beilage B.2, bewertet.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts ist es
unzulässig, fehlende oder ungenügende Angaben in der Offerte mit
formal begründeten "Strafabzügen" zu bewerten. Erweisen sich vor-
handene Mängel eines Angebots als nicht derart gravierend, dass das
Angebot deswegen auszuscheiden wäre, und verzichtet die Vergabe-
stelle auch auf entsprechende Rückfragen, ist sie also der Auffas-
sung, dass die Offerte in der Form, wie sie eingereicht worden ist,
durchaus mit den anderen vergleichbar sei und einer sachlich haltba-
ren Bewertung unterzogen werden könne, müssen formal motivierte
Abzüge, soweit sie sich nicht (auch) sachlich, d.h. unter dem Aspekt
der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots begründen
lassen, unterbleiben (vgl. AGVE 1998, S. 397 ff.). Im vorliegenden
Fall war die Vergabestelle bzw. vielmehr das von ihr mit der Bewer-
tung beauftragte Ingenieurbüro der Auffassung, die Angaben der Be-
schwerdeführerin insbesondere in Bezug auf die erbrachten
Arbeitsleistungen seien ungenügend und unpräzis, weshalb ein Ver-
gleich und eine sachliche Bewertung nicht möglich seien. Mithin
fehlten für eine korrekte materielle Bewertung der Referenzprojekte
wesentliche Grundlagen, nämlich die Angaben der Beschwerdeführe-
rin zu den beim jeweiligen Projekt effektiv ausgeführten Arbeits-
gattungen bzw. zum geleisteten Arbeitsumfang. Dass die Beschwer-
deführerin die von ihr genannten Projekte tatsächlich ausgeführt hat
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
190
oder dafür jedenfalls in erheblichem Ausmass Baumeisterarbeiten
erbracht hat, stellt auch die Vergabestelle nicht in Frage. Schon
deshalb dürfte sich eine Bewertung mit 0 Punkten sachlich nicht
rechtfertigen. Unklar ist lediglich, um welche Arbeiten bzw. Arbeits-
gattungen es sich konkret gehandelt hat. In dieser Situation hätte die
Vergabestelle die fehlenden Angaben nachträglich einholen müssen,
um eine sachgerechte Bewertung vornehmen zu können, was wie
erwähnt zuerst auch beabsichtigt war. Die bei den Referenzprojekten
Nr. 1 (...) und Nr. 3 (...) mit den fehlenden Angaben über die Band-
breite der Bauleistungen begründete Bewertung mit 0 Punkten beim
Aspekt "Bandbreite Arbeitsleistungen" ist somit einzig aus formalen
und nicht aus sachlichen Gründen erfolgt, was wie vorstehend aus-
geführt unzulässig ist. Daran ändert auch nichts, dass die Vergabe-
stelle in den Ausschreibungsunterlagen ausdrücklich darauf hin-
gewiesen hat, dass fehlende oder unpräzise Angaben zu Arbeitsgat-
tungen oder Umfang der Arbeiten zu einer niedrigeren Punktzahl bei
der Bewertung des Zuschlagskriteriums führen würden. Es kann
jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass eine entsprechende
Rückfrage oder Abklärung zu einer wesentlich besseren Bewertung
der Beschwerdeführerin in den genannten beiden Punkten und damit
beim Zuschlagskriterium "Referenzen Firma" insgesamt geführt
hätte. | 922 | 775 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-34_2017-05-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-34.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-34.pdf | AGVE_2017_34 | null | nan |
8311916c-3867-51e5-8bcf-df0383cd665f | 1 | 412 | 870,335 | 1,454,371,200,000 | 2,016 | de | 2016
Wahlen und Abstimmungen
243
IX. Wahlen und Abstimmungen
40
Gemeindebeschwerde
Sachbezogenheit eines Antrags zu einer Budgetposition an der Gemeinde-
versammlung
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 29. Februar
2016, i.S. R.M. und M.M. gegen Einwohnergemeinde X. (WBE.2016.48).
Aus den Erwägungen
2.
Jeder Stimmberechtigte hat das Recht, zu den in der
Traktandenliste aufgeführten Sachgeschäften Anträge zur Geschäfts-
ordnung und zur Sache zu stellen (§ 27 Abs. 1 GG).
2.1.
Dieses Antragsrecht unterscheidet sich vom Vorschlagsrecht ge-
mäss § 28 GG, mit welchem jeder Stimmberechtigte befugt ist, der
Versammlung die Überweisung eines neuen Gegenstandes an den
Gemeinderat zum Bericht und Antrag vorzuschlagen (Abs. 1). Der
vom Gemeinderat zu prüfende Gegenstand ist auf die Traktandenliste
der nächsten Versammlung zu setzen (Abs. 2). Während sich das
Vorschlagsrecht gemäss § 28 GG auf alle Gegenstände bezieht, wel-
che in die Kompetenz der Gemeindeversammlung fallen, bezieht
sich das Antragsrecht gemäss § 27 Abs. 1 GG nur auf ordnungsge-
mäss angekündigte Verhandlungsgegenstände (A
NDREAS
B
AUMANN
,
Aargauisches Gemeinderecht, 3. Aufl., Zürich 2005, S. 447). Um zu-
lässig zu sein, muss ein Antrag somit einen sachlichen Zusammen-
hang mit einem traktandierten Geschäft haben (AGVE 2002, 630).
Mit Bezug auf Anträge zum Budget hat dabei der Regierungsrat in
seiner Praxis seit jeher zutreffend verlangt, dass einzig solche An-
träge zum Budget zulässig sind, die darauf abzielen, einen konkreten
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
244
Budgetposten, soweit es sich dabei nicht um eine sog. gebundene
Ausgabe handelt, zu streichen oder betragsmässig zu erhöhen resp.
herabzusetzen (AGVE 2000, 533; 1992, 490; 1986, 489; 1984,
630 f.), nicht aber solche, die "neue" Budgetposten einführen wollen
(ausdrücklich AGVE 1986, 489).
2.2.
Das Antragsrecht gemäss § 27 Ab. 1 GG ist aktuell, d.h. folgt
die Versammlung einem von einem Stimmbürger zu den traktandier-
ten Geschäften gestellten Antrag, insbesondere einem Antrag zu
einer genau bezeichneten Budgetposition, so hat das unmittelbare
Wirkung. Im Gegensatz dazu beschränkt sich das Vorschlagsrecht
gemäss § 28 GG darauf, dass im Fall der Gutheissung des ent-
sprechenden Antrags durch die Versammlung der Gemeinderat an-
gewiesen wird, zum betreffenden Gegenstand der nächsten Gemein-
deversammlung Bericht und Antrag vorzulegen (Zweistufigkeit des
allgemeinen Vorschlagsrechts; vgl. B
AUMANN
, a.a.O., S. 443).
3.
3.1.
Das Budget der Einwohnergemeinde X. enthielt für den Bereich
des Asylwesens eine Ausgabenposition von Fr. 290'000.00. Aus den
schriftlichen Erläuterungen zu dieser Position ebenso wie aus den Er-
läuterungen des Versammlungsleiters anlässlich der Einwohner-
gemeindeversammlung vom 27. November 2015 ergibt sich, dass
dieser Betrag nicht etwa für die Unterbringung von Personen
verwendet werden sollte. Er war vielmehr dafür bestimmt, zu er-
wartende Kosten für eine Kostenpauschale für Ersatzvornahmen ge-
mäss § 17d SPV zu decken.
Gemäss § 17a Abs. 2 SPG sind die Gemeinden in der Regel zu-
ständig für die Unterbringung, Unterstützung und Betreuung von
vorläufig Aufgenommenen ohne Flüchtlingseigenschaft. Der Kanton
weist den Gemeinden die gemäss § 17 Abs. 2 SPG in deren Zu-
ständigkeit fallenden Personen zu. Mit der Zuweisung werden die
Ersatzvornahme und deren Kosten angedroht (§ 18 Abs. 1 und 1
bis
SPG). Die Kostenpauschale für Ersatzvornahmen ist damit ein vom
Kanton erhobener Betrag für den Fall, dass eine Gemeinde ihrer Auf-
nahmepflicht gemäss § 17a Abs. 2 SPG nicht nachkommt. Die
2016
Wahlen und Abstimmungen
245
Kostenpauschale beträgt ab 1. Januar 2016 Fr. 110.00 pro Person
und Tag.
Der Gemeinderat legte seiner Berechnung der Budgetposition
von Fr. 290'000.00 eine Übernahmepflicht für sechs bis sieben Perso-
nen zugrunde. Da er nicht bereit war, dieser Übernahmepflicht
nachzukommen, reservierte er einen Betrag für einen entsprechen-
den, an den Kanton zu überweisenden Betrag (6 Personen x 365 Tage
x Fr. 110.00 = Fr. 240'900.00; 7 Personen x 365 Tage x Fr. 110.00 =
281'050.00).
Mit dem gemäss der Klärung durch den Versammlungsleiter be-
reinigten Antrag Y. wurde beantragt, den Gemeinderat zu beauftra-
gen, sich nicht seiner rechtlichen Übernahmepflicht gemäss § 17
Abs. 2 SPG zu widersetzen, sondern dem Kanton seine Bereitschaft
zur Aufnahme von Personen zu signalisieren. Für aufzunehmende
Personen sollte der Betrag von Fr. 290'000.00 reserviert bleiben.
3.2.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer - und des
Gemeinderats - war der Antrag Y. damit sachbezogen und zulässig.
Mit der Formulierung "Flüchtlinge", resp. "Asylbewerber" im Antrag
Y. (gemeint ist vorläufig Aufgenommene ohne Flüchtlingseigen-
schaft) wurde nicht etwa ein generelles Bekenntnis des Gemeinderats
verlangt, Asylbewerber, Flüchtlinge oder vorläufig Aufgenommene
mit oder ohne Flüchtlingseigenschaft aufnehmen zu wollen. Der
Antrag beschränkte sich vielmehr darauf, den Gemeinderat für das
Jahr 2016 zu beauftragen, seiner Aufnahmepflicht gemäss § 17a
Abs. 2 SPG nachzukommen und die der Gemeinde zugeteilten
Personen aufzunehmen. Dass dabei im Antrag von Asylbewerbern
gesprochen wurde, obwohl sich die Aufnahmepflicht der Gemeinde
von Gesetzes wegen nur auf vorläufig Aufgenommene ohne
Flüchtlingseigenschaft beschränkt, spielt dabei keine Rolle, zumal
auch niemand seitens des Gemeinderats auf die ohnehin nur
beschränkte Aufnahmepflicht der Gemeinde aufmerksam machte.
Der Antrag Y. verlangte damit zwar weder eine Streichung noch eine
Herabsetzung oder Erhöhung des infrage stehenden Budgetpostens,
sondern wollte diesen vielmehr gerade beibehalten. Der Betrag von
Fr. 290'000.00 sollte aber nicht etwa für einen gänzlich anderen
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
246
Zweck eingestellt bleiben, was - vergleichbar mit dem Fall, da ein
Stimmbürger die Aufnahme eines gänzlich neuen, zusätzlichen
Budgetposten verlangt - unzulässig gewesen wäre (AGVE 1986,
489). Der Sachzusammenhang zwischen dem Antrag des
Gemeinderats (Reservierung eines an den Kanton abzuführenden
Betrags wegen einer in Aussicht genommenen Nichterfüllung der
Aufnahmepflicht gemäss § 17a Abs. 2 SPG) und dem Antrag Y.
(Reservierung des gleichen Betrags für zu erwartende Kosten im Zu-
sammenhang mit der Erfüllung der Aufnahmepflicht der Gemeinde)
ist hier vielmehr derart eng, dass der Antrag, worauf auch das DVI in
seiner Stellungnahme zutreffend hinweist, klarerweise zulässig war;
von der Verletzung einer von den Beschwerdeführern und vom
Gemeinderat in seiner Vernehmlassung zur Beschwerde postulierten
sog. "Einheit der Materie" kann keine Rede sein. Auch dass der
Wechsel des Verwendungszwecks für den zu reservierenden Betrag
in der Gemeindeversammlung grundsätzlich umstritten war, ändert
an der Zulässigkeit des Antrags Y. nichts. Die Gemeinde-
versammlung hatte nicht generell über die künftige "Marsch-
richtung" der Gemeinde mit Bezug auf die Flüchtlingsproblematik zu
entscheiden - auch wenn naturgemäss die Diskussion in der Gemein-
deversammlung stark durch diese generelle Fragestellung geprägt
wurde. Die Aufgabe der Gemeindeversammlung war entsprechend
dem Antrag des Gemeinderats zur Budgetposition von Fr. 290'000.00
wesentlich beschränkter: Sie hatte lediglich über diese Budget-
position zu befinden. Indem der Antrag Y., ebenso wie jener des
Gemeinderats, sich in diesem beschränkten Rahmen hielt, war er un-
abhängig von der allenfalls dahinter stehenden Grundhaltung der
Antragstellerin und der Mitglieder der IG Z. und den durch den
Antrag ausgelösten grundsätzlichen Diskussionen in der Gemeinde-
versammlung ohne weiteres zulässig. Das führt zur Abweisung der
Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden darf. | 1,687 | 1,405 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2016-40_2016-02-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2016-40.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2016-40.pdf | AGVE_2016_40 | null | nan |
83592cab-34e6-5fa4-aa73-4ae0612a4339 | 1 | 412 | 870,889 | 1,322,784,000,000 | 2,011 | de | 2011
Kantonale Steuern
123
32 Steuerrecht
-
Rechtsmittelverfahren im Steuerstrafrecht: Kein Anspruch auf
Durchführung einer Parteiverhandlung aus § 252 StG und Art. 6
EMRK (Erw. 1.2.2 f.)
-
Bagatellstrafverfahren erfordern in der Regel keine erneute münd-
liche Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz (Erw. 1.2.3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 7. Dezember 2011 in
Sachen B. (WBE.2011.283).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Die Beschwerdeführerin beantragt, es sei in Anwendung von
Art. 6 EMRK eine Parteianhörung durchzuführen.
1.2.
1.2.1.
Selbst wenn Art. 6 EMRK auch in Verfahren betreffend Bussen
wegen Verfahrenspflichtverletzungen im ordentlichen Veranlagungs-
verfahren zur Anwendung gelangen würde, was in Lehre und Recht-
sprechung umstritten ist (ablehnend, weil es sich um einen blossen
Verwaltungszwang handle: Urteil der Bundessteuer-Rekurskommis-
sion Zürich vom 11. März 1992, publ. in StE 1992, B 101.1 Nr. 6 so-
wie N
ICCOLO
R
ASELLI
, Ordnungsbussen wegen Verletzung steuer-
licher Verfahrensvorschriften, in SteuerRevue 46/1991 S. 443 ff.;
befürwortend: Urteil des Verwaltungsgerichts Aargau in: StE 1992
B 101.1 Nr. 5; D
IETER
E
GLOFF
in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/D
AVE
S
IEGRIST
/D
IETER
W
EBER
(Hrsg.), Kommentar zum Aargauer Steuer-
gesetz, 3. Auflage, Muri-Bern 2009, § 235 N 5; S
TEFAN
O
STERHELT
,
Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Steuerverfahren, in ASA 75
(2006/2007), S. 607), ist der Antrag der Beschwerdeführerin auf eine
(erneute) mündliche Parteianhörung abzuweisen.
2011
Verwaltungsgericht
124
1.2.2.
Der aargauische Gesetzgeber hat - mit dem Ziel, den Anforde-
rungen der EMRK gerecht zu werden - die Bestimmungen des Steu-
erstrafverfahrens im StG per 1. Januar 2001 neu formuliert (vgl. Bot-
schaft des Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat
vom 21. Mai 1997, 97.002968, S. 129). Insbesondere sieht § 249
Abs. 1 StG für das Verfahren vor Steuerrekursgericht die Durchfüh-
rung einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung vor. Ein An-
spruch auf die Durchführung einer (Haupt-)Verhandlung im Rechts-
mittelverfahren vor Verwaltungsgericht ergibt sich aus dem StG
demgegenüber nicht (§ 252 StG).
1.2.3.
Art. 6 EMRK fordert ebenfalls nicht, dass in jeder Instanz ein
öffentliches Verfahren stattfindet. Ob das Unterbleiben der Verhand-
lung gerechtfertigt ist, ist in einer Gesamtbetrachtung des Einzelfalls
unter Berücksichtigung der Besonderheiten des betreffenden Verfah-
rens zu beurteilen (C
HRISTOPH
G
RABENWARTER
, Europäische Men-
schenrechtskonvention, 4. Auflage, München 2009, S. 377 f.). Eine
öffentliche Verhandlung in zweiter Tatsacheninstanz ist entbehrlich,
wenn der Fall ohne Beeinträchtigung des Prinzips eines fairen Ver-
fahrens nach Aktenlage entschieden werden kann und vorausgesetzt,
dass in erster Instanz eine Verhandlung durchgeführt wurde (J
OCHEN
A
BR
.
F
ROWEIN
/W
OLFGANG
P
EUKERT
, EMRK-Kommentar, 3. Auf-
lage, Kehl am Rhein 2009, Art. 6 N 195). Bagatellstrafverfahren
erfordern in der Regel keine mündliche Verhandlung in der Beru-
fungsinstanz (so auch G
RABENWARTER
, a.a.O, S. 378).
1.3.
Die Vorinstanz hat am 23. Mai 2011 eine Parteiverhandlung
durchgeführt und die Beschwerdeführerin angehört. Darin konnte die
Beschwerdeführerin ihre Standpunkte ausreichend darlegen, womit
den verfahrensrechtlichen Ansprüchen der Beschwerdeführerin Ge-
nüge getan wurde. Dazu kommt, dass es sich hier - in Anbetracht der
Bussenhöhe von lediglich noch Fr. 50.00 - um ein Bagatellstrafver-
fahren handelt, in welchem in der Regel keine mündliche Verhand-
lung in der Berufungsinstanz erforderlich ist. | 957 | 732 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2011-32_2011-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-32.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-32.pdf | AGVE_2011_32 | null | nan |
83745da3-b88c-59d9-8df6-96b22a3a14e7 | 1 | 412 | 870,492 | 1,385,856,000,000 | 2,013 | de | 2013
Verwaltungsrechtspflege
345
XV. Verwaltungsrechtspflege
54 Vorsorglicher
Sicherungsentzug
Kostenregelung bei Gegenstandslosigkeit eines Verfahrens betreffend
vorsorglicher Sicherungsentzug des Führerausweises (Präzisierung von
AGVE 2009, S. 280 ff.)
Beschluss des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 18. Dezember 2013 in
Sachen St. J. gegen den Entscheid des Departements Volkswirtschaft und
Inneres (WBE.2013.475).
Aus den Erwägungen
5.2.
Das Verwaltungsgericht hat in seiner Rechtsprechung bezüglich
Kostenverteilung bei Gegenstandslosigkeit eines Verfahrens betref-
fend vorsorglicher Sicherungsentzug festgehalten, dass sachgerecht
darauf abzustellen ist, wer das Verwaltungs- und Beschwerdeverfah-
ren veranlasst hat (summarische Prüfung), und in welchem Stadium
(vor welcher Instanz) das Verfahren gegenstandslos geworden ist,
wobei sich für das Verfahren vor dieser Instanz eine pauschale
Kostenaufteilung aufdrängt, während der Kostenentscheid der Vorin-
stanz nicht zu korrigieren ist. Beim vorsorglichen Sicherungsentzug
wird die Gegenstandslosigkeit des Verfahrens nämlich regelmässig
dadurch verursacht, dass die angeordnete Abklärung der Fahrtaug-
lichkeit als Voraussetzung für den Hauptentscheid durchgeführt wor-
den ist, und die Verwaltungsbehörde den definitiven Entscheid über
den Sicherungsentzug zu fällen hat (AGVE 2009, S. 280). Diese pau-
schale Kostenaufteilung gemäss der zitierten verwaltungsgerichtli-
chen Rechtsprechung ist insofern zu korrigieren, als dass im Ergeb-
nis die Auferlegung der halben Verfahrenskosten an den Beschwer-
deführer und aufgrund der Verrechungspraxis entgegen AGVE 2009,
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
346
S.
280
ff. das Wettschlagen der Parteikosten zu erfolgen hat
(AGVE 2009, S. 279). | 387 | 289 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-54_2013-12-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-54.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-54.pdf | AGVE_2013_54 | null | nan |
8390ef49-f64e-5b54-8b47-10af0ac981f9 | 1 | 412 | 870,987 | 1,125,705,600,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsgericht
248
[...]
51
Zuschlagskriterien; "Vorstellungsgespräch" als Zuschlagskriterium.
-
Die Verwendung eines inhaltlich so unbestimmten Zuschlagskriteri-
ums erfordert eine nähere Umschreibung z.B. durch Sub- oder Teil-
kriterien, die den Bewerbern rechtzeitig, d.h. grundsätzlich in der
Ausschreibung oder den Ausschreibungsunterlagen, spätestens aber
mit der Einladung zur Präsentation, bekannt gegeben werden müssen
(Erw. 7.1).
2005
Submissionen
249
- Das Transparenz- und das Gleichbehandlungsgebot verlangen, dass
das Ergebnis von Präsentationen schriftlich festgehalten wird
(Erw. 7.2).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 29. September 2005 in
Sachen K. AG gegen Gemeinderat Fischbach-Göslikon.
Aus den Erwägungen
7. Die Beschwerdeführerin wehrt sich auch gegen die Bewer-
tung des Zuschlagskriteriums "Vorstellungsgespräch". Aus den
Ausschreibungsunterlagen sei nicht ersichtlich gewesen, was unter
diesem Kriterium bewertet worden sei. Der Grundsatz der Transpa-
renz gebiete, dass ein derart unbestimmtes Zuschlagskriterium in den
Ausschreibungsunterlagen z.B. durch Subkriterien näher um-
schrieben werde, damit die Anbietenden erkennen können, auf wel-
che Aspekte die Vergabestelle Wert lege. Fehlten solche Angaben sei
die Bewertung letztlich nicht mehr nachvollziehbar. So sei für die
Beschwerdeführerin auch nach Einsicht in die Akten in keiner Weise
verständlich, wie sich ihre Bewertung mit lediglich 23.6 von 30
möglichen Punkten sachlich begründen lasse. Unklar sei auch, wes-
halb sie beim Lösungsvorschlag "Schutzgebiet" lediglich 14 Punkte
und die Zuschlagsempfängerin 20 Punkte erhalten habe. Es müsse
davon ausgegangen werden, dass die Vergabestelle ihren Er-
messensspielraum nicht korrekt wahrgenommen habe. Protokolle
oder sonstige schriftliche Aufzeichnungen über die einzelnen Vor-
stellungsgespräche fehlten, was gegen § 17 Abs. 2 SubmD verstosse.
Ein grosses Fragezeichen sei auch deshalb zu machen, weil die An-
bieter von einem Gremium beurteilt worden seien, welches sich
überwiegend aus Nichtfachleuten zusammensetze. Es sei deshalb
fraglich, ob dieses Gremium in der Lage gewesen sei, die Fachkom-
petenz der Anbieter zu beurteilen. Man müsse vermuten, dass per-
sönliche Sympathien und nicht objektive, sachbezogene Kriterien
ausschlaggebend gewesen seien.
2005
Verwaltungsgericht
250
Die Vergabestelle bestreitet die Vorwürfe. Die Mitglieder des
Gremiums seien sehr wohl in der Lage gewesen, die gut vorbereite-
ten Gespräche mit den Anbietern richtig zu bewerten. Eine vor-
gängige Bekanntgabe der Aufgabenstellung habe die Vergabestelle
mit Blick auf den für die Anbieter unverhältnismässig hohen Auf-
wand als nicht sinnvoll erachtet. Die Anbieter seien vom Ge-
sprächsleiter über den Ablauf des Gesprächs die Themen, die Beur-
teilungskriterien und das Zeitraster informiert worden. Der Vorwurf
der mangelnden Transparenz müsse daher zurückgewiesen werden.
Auch seien die gestellten Fragen absolut sachlich gewesen und
hätten nichts mit Emotionen und dergleichen zu tun gehabt.
7.1. Die Verwendung eines inhaltlich derart unbestimmten und
nichtssagenden Zuschlagskriteriums wie "Vorstellungsgespräch"
erfordert zwangsläufig eine nähere Umschreibung z.B. durch Sub-
oder Teilkriterien, die den Bewerbern rechtzeitig, d.h. grundsätzlich
in der Ausschreibung oder den Ausschreibungsunterlagen, im vorlie-
genden Fall spätestens mit der Einladung zur Präsentation, bekannt
gegeben werden müssen. Nur so können die Anbieter auch erkennen,
was die Vergabebehörde unter dem betreffenden Zuschlagskriterium
genau versteht und welche Aspekte sie dabei zu bewerten gedenkt,
und ist eine transparente, sachlich begründete, objektiv nachvoll-
ziehbare Bewertung der Angebote möglich (siehe VGE III/52 vom
16. Juni 2003 [BE.2003.00075], S. 14).
Vorliegendenfalls verstösst die Handhabung des erwähnten
Kriteriums klarerweise gegen das Transparenzgebot. Die Anbieter
hatten keinerlei Kenntnisse davon, wie das Vorstellungsgespräch
ablaufen würde und welche Aspekte der Fragebeantwortung für die
Vergabebehörde von Bedeutung waren. Weder die Ausschreibungs-
unterlagen, die Fragenbeantwortung noch die Einladung enthielten
entsprechende Hinweise. Die Anbieter wurden vielmehr erst zu Be-
ginn des Vorstellungsgesprächs über die Beurteilungskriterien in
Kenntnis gesetzt. Der Einwand der Vergabestelle, bei vorgängiger
Bekanntgabe der Aufgabenstellung hätten die Anbieter einen unver-
hältnismässig grossen Vorbereitungsaufwand auf sich nehmen
müssen, überzeugt nicht; wer sich in Kenntnis des Zuschlagskri-
teriums "Vorstellungsgespräch" bewirbt, muss wissen, dass damit
2005
Submissionen
251
möglicherweise eine zusätzliche zeitliche Beanspruchung verbunden
ist. Zu beachten ist auch, dass das inhaltlich völlig unbestimmte
Kriterium nicht etwa von untergeordneter marginaler Bedeutung ist,
sondern dass ihm ein Gewicht von 30 von gesamthaft 100 möglichen
Punkten zukommt. Die Rüge der Beschwerdeführerin erweist sich
somit als begründet.
7.2. Gerügt wird auch das Fehlen von Protokollen oder anderen
schriftlichen Aufzeichnungen über die Vorstellungsgespräche. Auch
wenn es sich nicht um eine Offertbereinigung im Sinne von § 17
SubmD handelte, gilt mit Blick auf das Transparenz- und Gleichbe-
handlungsgebot auch hier der Grundsatz, dass das Ergebnis von Prä-
sentationen schriftlich festzuhalten ist (§ 17 Abs. 2 SubmD). Auch
wenn an die Protokollführung nicht allzu hohe Ansprüche zu stellen
sind, muss das Protokoll doch zumindest so detailliert sein, dass für
einen Anbieter nachvollziehbar ist, weshalb sein Angebot die fragli-
che und nicht eine höhere Punktzahl erhalten hat; nur so können
Missbräuche ausgeschlossen werden und kann sich der nicht berück-
sichtigte Anbieter gegen die Bewertung zur Wehr setzen (siehe
VGE III/110 vom 14. Juli 2000 [BE.2000.00165], S. 16 mit Hin-
weisen; Peter Galli / André Moser / Elisabeth Lang, Praxis des
öffentlichen Beschaffungsrechts, Zürich 2003, Rz. 359).
Die von der Vergabestelle eingereichten Bewertungsblätter -
andere schriftliche Aufzeichnungen existieren offenbar nicht - ge-
nügen diesen Anforderungen nicht. Ihnen kann lediglich entnommen
werden, wie viele Punkte ein Anbieter bei den vier Bewer-
tungsaspekten (Lösungsvorschlag Burkhalter, Lösungsvorschlag
Schutzgebiet, Fachkompetenz, Kommunikation) von den einzelnen
Mitgliedern des Bewertungsgremiums erhielt. Die Gründe für die
Bewertungen werden nicht dargelegt. Für den einzelnen Anbieter ist
somit in der Tat nicht ersichtlich, weshalb er bei einem bestimmten
Aspekt nicht die volle Punktzahl erhält und bezeichnenderweise
konnte auch die Vergabestelle die Gründe für die Schlechterbewer-
tung der Beschwerdeführerin in ihrer Vernehmlassung nicht darle-
gen. Auch dem Verwaltungsgericht als Rechtsmittelinstanz ist es
unter diesen Umständen nicht möglich, die Richtigkeit der Bewer-
2005
Verwaltungsgericht
252
tung der Beschwerdeführerin bei diesem Zuschlagskriterium zu
überprüfen.
7.3. Nicht folgen kann das Verwaltungsgericht der Kritik an der
Zusammensetzung des Gremiums. Angesichts ihrer Ausbildung und
ihrer teils langjährigen Erfahrung als Gemeinderäte bzw. Gemeinde-
schreiber kann den Mitgliedern des Gremiums die Fähigkeit zur Be-
urteilung einer solchen Präsentation nicht abgesprochen werden. Es
muss allerdings auch gewährleistet sein, dass nicht persönliche Prä-
ferenzen einzelner Mitglieder des Auswahlgremiums in die Evalua-
tion einfliessen können, sondern eine objektive Meinungsbildung
stattfindet. Dies kann durch das Mitwirken von Fachpersonen sicher-
gestellt werden; zudem sollte das Gremium eine genügende Anzahl
Mitglieder aufweisen (VGE III/103 vom 5. August 1998
[BE.98.00009], S. 13). Diese Voraussetzungen waren vorliegenden-
falls erfüllt.
7.4. Der Verstoss gegen das Transparenzgebot einerseits (vorne
Erw. 7.1) und die ungenügende Protokollierung der Präsentationen
andererseits (vorne Erw. 7.2) führen zur Aufhebung des an die
M. AG erteilten Zuschlags. | 1,644 | 1,348 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-51_2005-09-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-51.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-51.pdf | AGVE_2005_51 | null | nan |
8392204b-7133-5cf7-b112-e9ec06e46c22 | 1 | 412 | 870,015 | 1,477,958,400,000 | 2,016 | de | 2016
Personalrecht
281
[...]
46
Forderung auf Lohnnachzahlung
-
Es ist unzulässig, mittels eines (negativen) Feststellungsbegehrens
eine Beschwerdefrist zu umgehen (Erw. I/2).
-
Eine den materiellen Verfügungsbegriff erfüllende Anordnung ist mit
Beschwerde anzufechten; die Beschwerdefrist begann im konkreten
Fall aus Vertrauensschutzgründen erst mit der Mandatierung eines
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
282
Rechtsanwaltes zu laufen; dieser hätte aber mit der notwendigen
Umsicht erkennen können und müssen, dass es sich bei der Anord-
nung auf Rückzahlung von Weiterbildungskosten um eine Verfügung
handelte, auch wenn diese nicht als solche bezeichnet und mit keiner
Rechtsmittelbelehrung versehen war (Erw. I/2).
-
Der zusätzliche Antrag auf Abänderung von Lohnverfügungen stellt
im Vergleich zu einer Lohnnachzahlungsforderung, die auf eine
Abänderung der darin festgelegten Besoldung hinauslaufen würde,
keine unzulässige Beschwerdeänderung dar. Die Erhöhung der
Forderung auf Lohnnachzahlung ist jedoch vor Verwaltungsgericht
unzulässig (Erw. I/3).
-
Die (formelle) Rechtskraft von Lohnverfügungen steht einer
Lohnnachzahlungsforderung (vorbehältlich der fünfjährigen Verjäh-
rungsfrist) nicht entgegen, wenn die Forderung aus geschlechts-
spezifischer Lohndiskriminierung abgeleitet wird. Demgegenüber
verleiht das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot keinen rückwirken-
den Anspruch auf rechtsgleiche Besoldung (Erw. I/4).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 2. November
2016 in Sachen A. gegen Stadtrat B. (WBE.2015.311).
Aus den Erwägungen
I.
2.
2.1.
Die Beschwerdeführerin verlangt in Antrag 5 die Feststellung,
dass "wegen der Kündigung aus wichtigen Gründen von Seiten der
Beschwerdeführerin keine Rückzahlungsverpflichtung aufgrund der
Weiterbildungsvereinbarung vom 28. Juli 2013 besteht". Dieser An-
trag deckt sich inhaltlich mit dem Feststellungsantrag, der schon Ge-
genstand des "Lohnnachzahlungsbegehrens" an den Stadtrat B. vom
15. April 2015 bildete (dortiger Antrag 2).
2016
Personalrecht
283
2.2.
Eine Feststellungsverfügung ist dann zu erlassen, wenn der Ge-
suchsteller ein schützenswertes Interesse an der Feststellung des Be-
stehens oder Nichtbestehens eines konkreten (öffentlich-rechtlichen)
Rechtsverhältnisses nachweisen kann und keine öffentlichen oder
privaten Interessen entgegenstehen. Negative Voraussetzung des
Feststellungsanspruchs ist die fehlende Möglichkeit, alternativ eine
vollstreckbare Leistung verlangen zu können, da der Feststellungs-
entscheid subsidiärer Natur ist (BGE 135 III 378, Erw. 2.2;
123 III 49, Erw. 1a; 118 II 254 = Pra 82/1993 Nr. 110, Erw. 1c; Urteil
des Bundesgerichts vom 19. Februar 2016 [5A_1000/2015],
Erw. 1.2; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom
8. November 2006 [PB.2006.00021], Erw. 2; M
ICHAEL
M
ERKER
,
Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem aar-
gauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 9. Juli 1968
[aVRPG], Diss. Zürich 1998, § 38 N 27 f.; J
ÜRG
B
OSSHART
/M
ARTIN
B
ERTSCHI
, in: A
LAIN
G
RIFFEL
[H
RSG
.], Kommentar zum Verwal-
tungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG], 3. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2014, § 19 N 24 ff.). Steht die Beschwerde, die
verwaltungsgerichtliche Klage oder das Gesuch um eine gestaltende
Verfügung offen, besteht kein Feststellungsanspruch. Eine Um-
gehung von Fristen mittels Feststellungsbegehren ist unzulässig
(M
ERKER
, a.a.O., § 38 N 28).
2.3.
2.3.1.
Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob sich die Be-
schwerdeführerin schon früher (als mit dem erstmaligen [negativen]
Feststellungsbegehren an den Stadtrat B. vom 15. April 2015) gegen
die Verpflichtung zur Rückzahlung von Weiterbildungskosten hätte
zur Wehr setzen können und müssen, nämlich mittels (fristgerechter)
Beschwerde gegen den ihr mit Schreiben vom 15. Januar 2015
mitgeteilten Entscheid der Leiter der Abteilungen (...), wonach sie
ihrem Arbeitgeber wegen ihres freiwilligen Austritts während der
Verpflichtungszeit (von 36 Monaten nach Abschluss der Weiterbil-
dung) Weiterbildungskosten von Fr. 23'808.00 zurückzuerstatten
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
284
habe. Voraussetzung dafür ist, dass dem Schreiben vom 15. Januar
2015 Verfügungscharakter zukommt.
2.3.2.
In inhaltlicher Hinsicht lässt sich dieses mit "Rückzahlungsver-
pflichtung" betitelte Schreiben durchaus als Verfügung qualifizieren.
Es enthält eine hoheitliche, einseitige, individuell-konkrete Anord-
nung einer Behörde, die in Anwendung von Verwaltungsrecht (§ 19
der Personalverordnung für das Pesonal der Stadt B. vom [...])
ergangen und auf Rechtswirkungen (Begründung der Rückzahlungs-
verpflichtung der Beschwerdeführerin) ausgerichtet ist. Die Anord-
nung könnte grundsätzlich ohne weitere Konkretisierung vollstreckt
werden, wäre mithin erzwingbar (zum materiellen Verfügungsbegriff
vgl. die Legaldefinition in Art. 5 Abs. 1 VwVG, die nach ständiger
Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts mit dem kantonalrecht-
lichen Verfügungsbegriff übereinstimmt [AGVE 2010, S. 235; 1978,
S. 300; 1972, S. 339; M
ERKER
, a.a.O., § 38 N 3]; vgl. auch U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016, Rz. 849 ff.).
2.3.3.
Beabsichtigt die Verwaltungsbehörde, eine Verfügung zu erlas-
sen, so hat sie bestimmte Formvorschriften einzuhalten. Sie muss die
Betroffenen vor Erlass einer Verfügung ins Verfahren miteinbezie-
hen, ihnen Einsicht in die massgebenden Akten gewähren, sie anhö-
ren und sich mit ihren Argumenten auseinandersetzen
(H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 963). Aus dem Recht auf
vorgängige Anhörung folgt, dass die Behörden die Äusserungen der
Betroffenen tatsächlich zur Kenntnis nehmen und sich damit in der
Entscheidfindung und -begründung auseinandersetzen müssen. Um
den Betroffenen eine (schriftliche) Stellungnahme (zu den Grundla-
gen des Entscheids, insbesondere zum Sachverhalt und den anwend-
baren Rechtsnormen) zu ermöglichen, muss ihnen die Verwaltungs-
behörde den voraussichtlichen Inhalt der Verfügung (zumindest die
wesentlichen Elemente) bekanntgeben (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HL
-
MANN
, a.a.O., Rz. 1010 f., mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung). Eine Verfügung muss sodann als solche bezeich-
net, begründet und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden
2016
Personalrecht
285
(§ 26 VRPG). Dies ermöglicht den Betroffenen eine sachgerechte
Anfechtung (H
ÄFELIN
/
M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 963).
Es ist nicht aktenkundig, ob die Beschwerdeführerin vor der
Zustellung des Schreibens vom 15. Januar 2015 zur Frage der Rück-
erstattung von Weiterbildungskosten angehört wurde. Widrigenfalls
wäre darin wohl eine Verletzung des aus Art. 29 Abs. 2 BV, § 22
Abs. 1 KV und § 21 VRPG fliessenden Anspruchs auf rechtliches
Gehör zu erblicken. Doch auch das Schreiben als solches weist for-
melle Mängel auf, die es für einen juristischen Laien nicht als (an-
fechtbare) Verfügung erkennbar machen. Die Bezeichnung als Verfü-
gung und eine Rechtsmittelbelehrung fehlen.
2.3.4.
Die oben (Erw. 2.3.3) angeführten Formvorschriften sind aller-
dings nicht Voraussetzung, sondern Folge der Verfügung. Anders
ausgedrückt: Auch eine den Formvorschriften widersprechende Ver-
fügung bleibt eine Verfügung. Form- oder Eröffnungsfehler führen
nicht zum Wegfall des Verfügungscharakters (H
ÄFELIN
/M
ÜL
-
LER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 871 und 1078, je mit Hinweisen). Die
formell mangelhafte Verfügung muss (innerhalb der vorgesehenen
Frist mit dem zulässigen Rechtsmittel) angefochten werden. Nichtig-
keit wird nur ausnahmsweise - im Falle von schwerwiegenden
Form- und Eröffnungsfehlern - angenommen (H
ÄFELIN
/M
ÜL
-
LER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1078). Kein Nichtigkeitsgrund ist gemäss
bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine fehlende Rechtsmittelbe-
lehrung (BGE 104 V 162, Erw. 3; Urteil des Bundesgerichts vom
29. August 2011 [1C_270/2011], Erw. 5.2). Auch die Verweigerung
des rechtlichen Gehörs zieht nicht ohne weiteres die Nichtigkeit der
Verfügung nach sich (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O.,
Rz. 1116). Dies gilt in concreto umso mehr, als die Rückzahlungsver-
pflichtung bereits im Voraus detailliert geregelt worden war und da-
her der Gewährung des rechtlichen Gehörs keine gewichtige Bedeu-
tung zukam. Auf alle Fälle darf den Parteien aus der mangelhaften
Eröffnung der Verfügung keinerlei Rechtsnachteil erwachsen
(H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1079 und 1120). Eine
Rechtsmittelfrist beginnt daher erst im Zeitpunkt zu laufen, in wel-
chem der Betroffene von der Verfügung Kenntnis nehmen konnte,
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
286
wobei der Fristenlauf nicht beliebig hinausgezögert werden kann. Es
wäre mit Treu und Glauben nicht zu vereinbaren, wenn eine Verfü-
gung wegen mangelhafter Eröffnung jederzeit angefochten werden
könnte; vielmehr muss eine solche Verfügung innerhalb einer
vernünftigen Frist in Frage gestellt werden (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/
U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1079). Rechtssuchende geniessen keinen
Vertrauensschutz, wenn der Mangel für sie bzw. ihren Rechtsver-
treter allein schon durch Konsultierung der massgeblichen Ver-
fahrensbestimmungen ersichtlich ist (BGE 134 I 199, Erw. 1.3.1).
Als juristische Laiin konnte die Beschwerdeführerin selber
kaum erkennen, dass das Schreiben vom 15. Januar 2015 eine Verfü-
gung der Leiter der Abteilungen (...) darstellt, die sie (gestützt auf
§ 55 Abs. 1 des Personalreglements für die Stadtverwaltung B. vom
[...]; nachfolgend: Personalreglement) mit Beschwerde bei der
Stadtpräsidentin hätte anfechten müssen, wenn sie mit der
Verpflichtung zur Rückzahlung von Weiterbildungskosten nicht
einverstanden ist (vgl. Erw. 2.3.3 vorne). Gegen Ende Januar 2015
hat die Beschwerdeführerin jedoch ihren Rechtsvertreter mandatiert.
Hätte dieser § 55 PR konsultiert, hätte er erkennen können, dass
personalrechtliche Streitigkeiten zwischen der Stadt B. und ihren
Mitarbeitern auf den Beschwerdeweg verwiesen werden, und daraus
auf den Verfügungscharakter des Schreibens vom 15. Januar 2015
schliessen müssen. Dass er dieses Schreiben wohl effektiv als
Verfügung taxiert hat, zeigt sich daran, dass er sich überhaupt
veranlasst sah, beim Stadtrat ein negatives Feststellungsbegehren zu
stellen. Hätte es sich beim Schreiben vom 15. Januar 2015 aus seiner
Sicht um eine blosse Zahlungsaufforderung ohne jede
Rechtsverbindlichkeit gehandelt, hätte auf Seiten der Beschwerde-
führerin keinerlei Bedarf an einem negativen Feststellungsbegehren
(an den Stadtrat) bestanden. Er hätte zuwarten können, bis von Seiten
der Stadt weitere Schritte ergriffen würden, entweder auf dem
Klageweg oder durch den Erlass einer anfechtbaren Rückzah-
lungsverfügung.
2.4.
Konnte also der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit der
notwendigen Umsicht erkennen, dass das Schreiben vom 15. Januar
2016
Personalrecht
287
2015 eine Verfügung darstellt, ist ihr die Berufung auf Vertrauens-
schutz verwehrt. Die Beschwerdeführerin muss sich deshalb anrech-
nen lassen, dass die 30-tägige Beschwerdefrist (nach § 44 Abs. 1
VRPG) für die Anfechtung der für ihren Rechtsvertreter als solche
erkennbaren Rückzahlungsverfügung vom 15. Januar 2015 mit des-
sen Konsultierung am 29. Januar 2015 zu laufen begonnen hat und
im Zeitpunkt des beim Stadtrat eingereichten "Lohnnachzahlungsbe-
gehrens" bzw. dem darin enthaltenen Feststellungsantrag längst un-
benützt abgelaufen war. Insofern ist schon der Stadtrat B. zu Recht
nicht auf das negative Feststellungsbegehren der Beschwerdeführerin
eingetreten; zum einen hätte die Verfügung als solche angefochten
werden müssen (anstatt bloss ein subsidiäres Feststellungsbegehren
zu stellen), zum anderen war die massgebende Frist abgelaufen. Da-
mit bleibt auch kein Raum dafür, dass das Verwaltungsgericht auf
den entsprechenden Feststellungsantrag ("Es sei festzustellen, dass
wegen der Kündigung aus wichtigen Gründen von Seiten der Be-
schwerdeführerin keine Rückzahlungsverpflichtung aufgrund der
Weiterbildungsvereinbarung vom 28. Juli 2013 besteht.") eintreten
könnte.
3.
3.1.
Die von der Beschwerdeführerin vor Verwaltungsgericht ge-
stellten Anträge weichen insofern von denjenigen im vorinstanzli-
chen Verfahren ab, als die Beschwerdeführerin zusätzlich - explizit -
die Aufhebung, eventuell Abänderung ("Berichtigung"), sämtlicher
Anstellungsverfügungen ab dem 30. September 2010 verlangt, und
als sie ihre Lohnnachzahlungsforderung von ursprünglich
Fr. 85'166.00 auf Fr. 131'156.46 erhöht hat.
3.2.
Vor Verwaltungsgericht sind sowohl Beschwerdeänderungen als
auch Beschwerdeerweiterungen grundsätzlich unzulässig. Eine Be-
schwerdeänderung liegt vor, wenn gestützt auf denselben Sachver-
halt etwas Neues, qualitativ Anderes verlangt wird, oder wenn zwar
an den in den Anträgen formulierten Begehren festgehalten wird, die
behaupteten Rechtsfolgen aber auf einen anderen, ausserhalb des
Streitgegenstands liegenden Sachverhalt abgestützt werden. Die Ab-
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
288
grenzung von inner- und ausserhalb des Streitgegenstands gelegenem
Sachverhalt ist nicht ganz einfach und muss am konkreten Einzelfall
entschieden werden. Neue tatsächliche Vorbringen bewirken keine
Änderung des Streitgegenstands, wenn sie in einem engen Sachzu-
sammenhang stehen. Der massgebliche Sachverhalt, auf den sich die
Argumentation des Beschwerdeführers ohne Beschwerdeänderung
abstützen kann, ist der zu Beginn des Verfahrens eingebrachte Sach-
verhalt, aus dem die in den Beschwerdeanträgen behaupteten Rechts-
folgen abgeleitet werden, sowie der Sachverhalt, der mit dem Streit-
gegenstand in einem engen Sachzusammenhang steht. Innerhalb des
so definierten Streitgegenstands können die Anträge des Beschwer-
deführers im verwaltungsinternen Verfahren quantitativ variieren
(Beschwerdeerweiterung), nicht hingegen vor Verwaltungsgericht,
wo im Grundsatz auch kein quantitatives Mehr verlangt werden kann
(M
ERKER
, a.a.O., § 39 N 12 ff.). Dahinter steht die Überlegung, dass
nur beschwert ist, wer im vorinstanzlichen Verfahren nicht obsiegt
hat. Wer mit den ursprünglich gestellten Anträgen vollständig durch-
dringt, kann vor Verwaltungsgericht nicht Zusätzliches verlangen.
Die Beachtung der funktionellen Zuständigkeit spielt bei Beschwer-
den ans Verwaltungsgericht, das ausserhalb der Verwaltungsorganisa-
tion steht und keine Aufsichtsfunktion ausübt, eine entscheidende
Rolle und schliesst die erstinstanzliche Behandlung neu vorgebrach-
ter oder erweiterter Begehren aus (M
ERKER
, a.a.O., § 39 N 28 f.).
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens kann nur sein, was auch Ge-
genstand der erstinstanzlichen Verfügung war bzw. nach richtiger
Gesetzesauslegung hätte sein müssen. Nach herrschender Auffassung
sind die Beschwerdebegehren, nicht deren Begründung massgebend
zur Bestimmung des Streitgegenstands. Die Begründung bildet zwar
nicht Bestandteil des Streitgegenstands, ist jedoch allenfalls als
Hilfsmittel zur Konkretisierung des Begehrens heranzuziehen
(M
ARTIN
B
ERTSCHI
, in: A
LAIN
G
RIFFEL
[H
RSG
.], Kommentar zum
Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG], a.a.O.,
Vorbemerkungen zu §§ 19-28a N 44 ff.; M
ARCO
D
ONATSCH
, in:
A
LAIN
G
RIFFEL
[H
RSG
.], Kommentar zum Verwaltungsrechtspflege-
gesetz des Kantons Zürich [VRG], a.a.O., § 20a N 9 f.).
2016
Personalrecht
289
3.3.
Im von der Beschwerdeführerin mit dem "Lohnnachzahlungs-
begehren" an den Stadtrat B. vom 15. April 2015 gestellten Antrag,
die Stadt B. sei zu verpflichten, Lohnnachzahlungen in der Höhe von
Fr. 85'166.00 brutto zuzüglich Zins (...) zu bezahlen (Antrag 1), ist
implizit auch das Begehren enthalten, in Bezug auf den Lohn sämtli-
che Anstellungsverfügungen ab 30. September 2010 abzuändern. Das
erhellt insbesondere auch aus der Begründung des "Lohnnachzah-
lungsbegehrens", worin die Beschwerdeführerin ausführen liess, sie
sei angesichts ihrer Führungsfunktion, ihrer Verantwortung, ihres
Einflussbereichs und ihrer Ausbildung ab 1. Oktober 2010 zu Un-
recht in das Gehaltsband 5 mit einem Bruttojahreslohn von
Fr. 91'999.70 anstatt in das Gehaltsband 8 mit einem Bruttojahres-
lohn von wenigstens Fr. 117'000.00 eingestuft worden. Die Be-
schwerdeführerin rügte mit anderen Worten schon vor dem Stadtrat
eine Falscheinstufung, die notgedrungen nur über eine nachträgliche
inhaltliche Modifikation der Anstellungsverfügungen vom 30. Sep-
tember 2010, 30. Oktober 2011 und 30. Dezember 2011 korrigiert
werden kann. Würde der Beschwerdeführerin die geforderte Lohn-
nachzahlung gewährt, würde dies sachlogisch eine entsprechende
Abänderung der erwähnten Anstellungsverfügungen bzw. der darin
festgelegten Besoldung bedeuten. In diesem Sinne kann zwar in Be-
zug auf den Antrag auf Aufhebung, nicht aber in Bezug auf den
Eventualantrag auf Abänderung ("Berichtigung") sämtlicher Anstel-
lungsverfügungen ab dem 30. September 2010 gesagt werden, er lie-
ge ausserhalb des (durch das "Lohnnachzahlungsbegehren" der Be-
schwerdeführerin) fixierten Streitgegenstandes. Andernfalls hätte
sich der Stadtrat auch nicht veranlasst gesehen, auf das "Lohnnach-
zahlungsbegehren" mit der Begründung nicht einzutreten, die An-
stellungsverfügungen seien nicht rechtzeitig angefochten worden und
damit in Rechtskraft erwachsen, und - in einer Eventualbegründung
- dennoch die Rechtmässigkeit der (in den Anstellungsverfügungen
angeordneten) Gehaltseinstufung zu überprüfen. Von Anfang an bil-
dete Thema des vorliegenden Rechtsstreits, ob die Beschwerdeführe-
rin mit Wirkung ab 1. Oktober 2010 gehaltsmässig richtig eingestuft
war. Die Lohnnachzahlungsforderung ist letztlich nichts anderes als
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
290
die finanzielle Konsequenz aus der von der Beschwerdeführerin be-
haupteten Falscheinstufung. Eine unzulässige Beschwerdeänderung
liegt somit nur in Bezug auf den Antrag auf Aufhebung, nicht aber in
Bezug auf den Eventualantrag auf Abänderung ("Berichtigung")
sämtlicher Anstellungsverfügungen ab dem 30. September 2010 vor.
Mit der Erhöhung der Lohnnachzahlungsforderung von
Fr. 85'166.00 auf Fr. 131'156.46 wird gestützt auf den nämlichen
Sachverhalt (Einstufung in ein zu tiefes Gehaltsband in absoluter
Hinsicht [d.h. bezogen auf die Funktion der Beschwerdeführerin]
und im Vergleich mit anderen [leitenden] Angestellten der Abteilung
[...] der Stadtverwaltung B. [Lohndiskriminierung]) eine quantitative
Mehrleistung verlangt. Die Erhöhung der Lohnnachzahlungsforde-
rung ist demnach nicht als Beschwerdeänderung, sondern als Be-
schwerdeerweiterung zu verstehen, auf die das Verwaltungsgericht
allerdings ebenso wenig eintreten darf. Das heisst, dass der Be-
schwerdeführerin vor Verwaltungsgericht maximal der schon im vor-
instanzlichen Verfahren geforderte Betrag in Höhe von Fr. 85'166.00
zugesprochen werden könnte.
4.
4.1.
Auf die Lohnnachzahlungsforderung und die damit - implizit -
verbundenen Anträge auf entsprechende Abänderung der Anstel-
lungsverfügungen vom 30. September 2010, 30. Oktober 2011 und
30. Dezember 2011 ist die Vorinstanz, wie gesehen (Erw. 3.3 vorne),
nicht eingetreten, mit der Begründung, die Anstellungsverfügungen
seien nicht rechtzeitig angefochten worden und damit in Rechtskraft
erwachsen. Es könne nicht darauf zurückgekommen werden.
4.2. (...)
4.3.
Es wurde bereits in Erw. 2.3.4 vorne dargelegt, dass den Partei-
en aus der mangelhaften Eröffnung einer Verfügung keinerlei
Rechtsnachteil erwachsen darf (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
,
a.a.O., Rz. 1079 und 1120). Erneut ist aber auch an dieser Stelle zu
betonen, dass der Rechtsmittelfristenlauf nicht beliebig hinausgezö-
gert werden kann. Es wäre mit Treu und Glauben nicht zu vereinba-
ren, wenn eine Verfügung wegen mangelhafter Eröffnung jederzeit
2016
Personalrecht
291
angefochten werden könnte; vielmehr muss eine solche Verfügung
innerhalb einer vernünftigen Frist in Frage gestellt werden (H
ÄFE
-
LIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1079). Rechtssuchende genies-
sen keinen Vertrauensschutz, wenn der Mangel für sie bzw. ihren
Rechtsvertreter allein schon durch Konsultierung der massgeblichen
Verfahrensbestimmungen ersichtlich ist (BGE 134 I 199, Erw. 1.3.1).
Die Anstellungsverfügungen vom 30. September 2010,
30. Oktober 2011 und 30. Dezember 2011 enthalten keine Rechtsmit-
telbelehrung und sind deshalb mit einem Eröffnungsfehler behaftet.
Mangels Rechtsmittelbelehrung konnte die Beschwerdeführerin als
juristische Laiin nicht unbedingt wissen, dass diese Verfügungen mit
Beschwerde anfechtbar sind, wer Beschwerdeinstanz ist und welche
Formalien einzuhalten sind. Deswegen begann die Rechtsmittelfrist
nicht unmittelbar mit der Mitteilung der Anstellungsverfügungen an
die Beschwerdeführerin zu laufen. Spätestens in dem Zeitpunkt, in
dem sich die Beschwerdeführerin bei ihrem Rechtsvertreter juris-
tischen Rat geholt hat, also ab Ende Januar 2015, wäre es ihr jedoch
zumutbar gewesen, die Anstellungsverfügungen innerhalb der Be-
schwerdefrist von 30 Tagen formgerecht anzufechten, was nicht ge-
schehen ist. Das "Lohnnachzahlungsbegehren" an den Stadtrat vom
15. April 2015 erfolgte klar ausserhalb der Beschwerdefrist. Auch
aus dem Umstand, dass sie offenbar gegenüber ihren Vorgesetzten
mehrfach ein zu tiefes Gehalt rügte, kann die Beschwerdeführerin
nichts zu ihren Gunsten ableiten, im Gegenteil: Spätestens dann, als
diese Rügen nichts fruchteten, wäre zu erwarten gewesen, dass sie
sich eingehend damit auseinandersetzen würde, wie rechtlich ein
höherer Lohn eingefordert werden könnte. Aus all diesen Gründen
sind die Anstellungsverfügungen vom 30. September 2010,
30. Oktober 2011 und 30. Dezember 2011 noch vor Einreichung des
"Lohnnachzahlungsbegehrens" vom 15. April 2015 rechtskräftig ge-
worden.
(...)
Folglich ist nicht zu beanstanden, dass der Stadtrat auf den mit
der Lohnnachzahlungsforderung der Beschwerdeführerin implizit
verbundenen Antrag auf Abänderung der Anstellungsverfügungen
vom 30. September 2010, 30. Oktober 2011 und 30. Dezember 2011
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
292
nicht eingetreten ist. Der vorinstanzliche Entscheid ist in diesem
Punkt zu bestätigen und die dagegen erhobene Verwaltungsgerichts-
beschwerde abzuweisen, ohne dass das Verwaltungsgericht die mate-
rielle Begründetheit der Beschwerde insoweit überprüfen, d.h. über
die Rechtmässigkeit der Anstellungsverfügungen befinden könnte.
Die grundsätzliche Unabänderlichkeit der Anstellungsverfügun-
gen vom 30. September 2010, 30. Oktober 2011 und 30. Dezember
2011 bedeutet nun aber nicht, dass der Beschwerdeführerin jegliche
Lohnnachzahlungsforderung für den Zeitraum vom 1. Oktober 2010
bis zur Beendigung ihres Anstellungsverhältnisses per Ende April
2015 verwehrt wäre. Nach der Praxis des Bundesgerichts stellt das
Gebot der Lohngleichheit zwischen Mann und Frau ein unmittelbar
anwendbares, justiziables subjektives Individualrecht dar, welches
als solches - unter Vorbehalt der Verjährung von Lohnnachzahlungs-
forderungen (nach fünf Jahren) - grundsätzlich noch nachträglich
geltend gemacht werden kann. Das Vorliegen einer (rechtskräftigen)
Anstellungsverfügung steht dem nicht entgegen; ebenso wenig das
Rechtsmissbrauchsverbot, solange kein gültiger Verzicht auf einen
diskriminierungsfreien Lohn in eindeutiger Form vorliegt
(BGE 131 I 105, Erw. 3.3; 125 I 14, Erw. 3; 124 II 436, Erw. 10).
Anders verhält es sich mit ungleichen Besoldungen, die nicht ge-
schlechtsspezifisch bedingt diskriminierend sind. Aus dem allgemei-
nen Rechtsgleichheitsgebot ergibt sich kein direkter bundesrechtli-
cher Anspruch auf rückwirkende Ausrichtung einer rechtsgleichen
Besoldung, wie dies für den Bereich der Lohngleichheitsgarantie für
Mann und Frau der Fall ist; von Verfassungs wegen kann lediglich
verlangt werden, dass der rechtsungleiche Zustand auf geeignete
Weise und in angemessener Frist behoben wird. Was die Angemes-
senheit der Frist anbelangt, darf in vertretbarer Weise berücksichtigt
werden, wann sich ein Betroffener erstmals gegen die beanstandete
Rechtsungleichheit gewehrt hat. Es ist nach bundesgerichtlicher
Rechtsprechung zulässig und mit dem allgemeinen Rechtsgleich-
heitsgebot vereinbar, einen rechtsungleichen Zustand erst mit Wir-
kung ab jenem Zeitpunkt zu korrigieren, in dem durch den Betroffe-
nen ein entsprechendes Begehren überhaupt erst gestellt worden ist.
Das gilt erst recht, wenn der zu niedrige Lohn - wie hier - in Form
2016
Personalrecht
293
einer anfechtbaren und in Rechtskraft erwachsenen Verfügung
festgesetzt worden ist (BGE 131 I 105, Erw. 3.7).
5.
Demgemäss ist auf die vorliegende, gegen den Entscheid des
Stadtrats B. vom 29. Juni 2015 frist- und formgerecht eingereichte
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nur insoweit einzutreten, als die Be-
schwerdeführerin eine geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung
oder eine allgemeine, nicht geschlechtsindizierte lohnmässige Un-
gleichbehandlung für die kurze Zeit zwischen der Einreichung ihres
"Lohnnachzahlungsbegehrens" am 15. April 2015 und der Beendi-
gung ihres Anstellungsverhältnisses am 30. April 2015 rügt und dar-
aus eine Lohnnachzahlungsforderung von maximal Fr. 85'166.00 so-
wie die entsprechende Änderung früherer Lohnverfügungen ableitet
. | 5,770 | 4,575 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2016-46_2016-11-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2016-46.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2016-46.pdf | AGVE_2016_46 | null | nan |
83b060e0-31b5-5ad8-be6b-61feb8b60461 | 1 | 412 | 870,759 | 991,526,400,000 | 2,001 | de | 2001
Normenkontrolle
115
I. Normenkontrolle
36
Brandschutz; inzidente Normenkontrolle.
- §
90 Abs.
4 KV hat den Sinn eines "Verwerfungsmonopols"
(Erw. 4/a).
- Prüfung von § 48 Abs. 2 BSV auf seine Verfassungs- und Gesetzmäs-
sigkeit: Gesetzliche Vorgaben zum baulichen und betrieblichen
Brandschutz (Erw. 4/b/bb); § 48 Abs. 2 BSV als Ausnahmeregelung
für Büro- und Schulbauten (Erw. 4/b/cc/aaa); Begründung für die
schematisierende Festlegung eines Grundflächen-Schwellenwerts hin-
sichtlich der Zulassung offener Treppenanlagen (Erw. 4/b/cc/bbb); die
Differenzierung zwischen Büro- und Schulbauten in Bezug auf das
Grundflächenkriterium ist vor dem Hintergrund der unterschied-
lichen mobilen Brandbelastung sachlich gerechtfertigt
(Erw. 4/b/cc/aaa).
- Rechtsanwendung: Ausbildung eines Treppenhauses mit Fluchtweg-
funktion als Brandabschnitt nach Massgabe von § 48 Abs. 1 Satz 1
BSV (Grundvariante; Erw. 5/a); keine Ersatzmassnahmen nach § 6
Abs. 2 und 3 BSG, weil der Personenschutz die Bereitstellung eines
zweiten Fluchtwegs erfordert (Erw. 5/b); Erstellung einer zweiten
aussenliegenden Fluchttreppe als Alternativvariante (Erw. 5/c).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 6. Juni 2001 in
Sachen F. AG gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
1. a) Gegenstand des Verfahrens bildet die Bewilligungsfähig-
keit des Projektänderungsgesuchs der Beschwerdeführerin 1 vom
2. Juni 1998 unter dem Gesichtspunkt des Brandschutzes. Ursprüng-
lich war vorgesehen, im viergeschossigen Büroneubau ein gegen die
Büroräumlichkeiten und gegen den Lichthof als Brandabschnitt aus-
2001
Verwaltungsgericht
116
gebildetes Treppenhaus zu erstellen. Neu sollen nun anstelle eines
geschlossenen, innenliegenden Treppenhauses ein offenes, mit dem
Lichthof kombiniertes Treppenhaus sowie zusätzlich an der Nordfas-
sade eine Aussentreppe erstellt werden. Mit Verfügung vom 6. Juli
1998 wies das AVA dieses Gesuch zurück.
(...)
4. Die Beschwerdeführerinnen verlangten schon vor dem Bau-
departement und verlangen auch vor Verwaltungsgericht, dass § 48
Abs. 2 BSV einer inzidenten Normenkontrolle zu unterziehen sei,
soweit er Büro- und Schulbauten hinsichtlich der zulässigen Grund-
fläche ungleich behandle.
a) Das Baudepartement hat zum erwähnten Begehren ausge-
führt, der Regierungsrat nehme praxisgemäss eine Normenkontrolle
nur vor, wenn eine untergeordnete Verwaltungsstelle ernsthafte
Zweifel an der Rechtmässigkeit der von ihr anzuwendenden Norm
habe; solche Zweifel bestünden im vorliegenden Falle nicht. Die Be-
schwerdeführerinnen erblicken hierin eine Gehörsverweigerung,
welche die Aufhebung des Baudepartementsentscheids nach sich
ziehen müsse.
Gemäss § 90 Abs. 4 KV ist der Regierungsrat gehalten, Erlassen
die Anwendung zu versagen, die Bundesrecht oder kantonalem
Verfassungs- oder Gesetzesrecht widersprechen. Während die akzes-
sorische Normenkontrollgewalt allen kantonalen Gerichten zu-
kommt, ist sie in der Exekutive beim Regierungsrat konzentriert. Ziel
dieser Regelung ist es, u.a. zu vermeiden, dass vom Regierungsrat
erlassene Rechtssätze durch untergeordnete Verwaltungsstellen un-
anwendbar erklärt werden (Kurt Eichenberger, Verfassung des Kan-
tons Aargau, Textausgabe mit Kommentar, Aarau 1986, § 90 N 22).
Dieser ratio entspricht die untergeordnete Verwaltungsstelle, solange
sie die in Frage stehende Norm - wie im vorliegenden Fall - als ver-
fassungskonform beurteilt; das ,,Verwerfungsmonopol" des Regie-
rungsrats wird damit nicht tangiert. Ein subjektiver Anspruch auf
inzidente Normenkontrolle durch den Regierungsrat kann aus § 90
Abs. 4 KV nicht abgeleitet werden (Eichenberger, a.a.O., § 90 N 19;
vgl. auch den VGE III/113 vom 26. August 1999 [BE.97.00243] in
2001
Normenkontrolle
117
Sachen R. u. M., S. 7 f.). Damit kann dem Baudepartement auch
keine Verletzung des rechtlichen Gehörs angelastet werden.
b) aa) Gemäss § 95 Abs. 2 KV sind die Gerichte gehalten, Er-
lassen die Anwendung zu versagen, die Bundesrecht oder kantona-
lem Verfassungs- oder Gesetzesrecht widersprechen (vgl. dazu
Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht,
4.
Auflage, Zürich 1998, Rz. 1801; Eichenberger, a.a.O., § 95
N 21 ff.). Zu überprüfen ist im vorliegenden Falle § 48 BSV, der,
soweit hier wesentlich, folgenden Wortlaut trägt:
,,
1
Als Fluchtweg dienende Treppenhäuser sind als Brandabschnitte mit
dem für das Tragwerk erforderlichen Feuerwiderstand, aber min-
destens F 60 zu erstellen. Treppenläufe und Podeste sind nichtbrenn-
bar zu erstellen. Zweigeschossige Bauten, welche der kommunalen
Bewilligungspflicht unterstehen, sind von dieser Bestimmung ausge-
nommen.
2
In Bürobauten mit höchstens 4 Geschossen und nicht mehr als 600 m
2
Grundfläche sowie in Schulbauten mit höchstens 4 Geschossen unge-
achtet der Grundfläche sind offene Treppenanlagen (Korridore ohne
Brandabschlüsse gegen das Treppenhaus) zulässig.
(...)"
bb) Die Kompetenz zum Erlass von § 48 BSV ergibt sich aus
§ 3 Abs. 2 BSG; danach erlässt der Regierungsrat Vorschriften über
die erforderlichen Massnahmen zur Sicherstellung des baulichen und
betrieblichen Brandschutzes. Die materiellen Vorgaben zum bauli-
chen und betrieblichen Brandschutz finden sich in Abs. 1 und Abs. 3
von § 3 BSG, die wie folgt lauten:
,,
1
Gebäude, Lager und andere Anlagen sind zusammen mit den Be-
triebseinrichtungen so zu erstellen, zu betreiben und zu unterhalten,
dass
a) der Entstehung von Bränden und Explosionen sowie der Ausbrei-
tung von Flammen, Hitze und Rauch ausreichend vorgebeugt wird;
b) die Sicherheit von Personen gewährleistet ist;
c) Umwelt- und Gesundheitsschäden als Folge von Bränden vermie-
den werden;
d) Tiere und Sachgüter genügend geschützt sind;
e) eine wirksame Brandbekämpfung ermöglicht wird.
2001
Verwaltungsgericht
118
(...)
3
Für die Art und den Umfang der Massnahmen bei Gebäuden sind in
erster Linie massgebend:
a) Zahl und Schutzbedürftigkeit der Personen, die sich im Gebäude
aufhalten,
b) Zweckbestimmung und Bauart des Gebäudes, seine Lage und die
Zugänglichkeit für die Feuerwehr,
c) Grösse (Grundfläche und Höhe),
d) Brandbelastung, Brennbarkeit der Materialien und Verqualmungs-
gefahr,
e) Gefahr der Bildung gefährlicher chemischer Verbindungen unter
Hitzeeinwirkung,
f) Korrosionsgefahr,
g) Aktivierungsgefahr (Zündquellen),
h) Brandbekämpfungsmöglichkeiten."
cc) Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen die Vor-
schrift in § 48 Abs. 2 BSV, wonach offene Treppenanlagen, d.h. Kor-
ridore ohne Brandabschlüsse gegen das Treppenhaus, in (maximal
viergeschossigen) Bürobauten nur zulässig sind, wenn die Grundflä-
che nicht mehr als 600 m
2
beträgt.
aaa) Vertikalverbindungen wie Treppenhäuser sind in Brandab-
schnitte abzutrennen (§ 32 Abs. 2 lit. d BSV). Dient das betreffende
Treppenhaus - wie im vorliegenden Falle - als Fluchtweg, so ist es
als Brandabschnitt zudem mit dem für das Tragwerk erforderlichen
Feuerwiderstand, aber mindestens F 60 zu erstellen (§ 48 Abs. 1 Satz
1 BSV). § 48 Abs. 2 BSV stellt vor dem Hintergrund dieser Bestim-
mungen eine Ausnahmeregelung dar, aufgrund derer bei Bürobauten
(begrenzt auf maximal vier Geschosse und maximal 600 m
2
Grund-
fläche pro Geschoss) und Schulbauten (begrenzt auf maximal vier
Geschosse) eine nicht als separater Brandabschnitt konzipierte Trep-
penanlage als Fluchtweg anerkannt wird. Diese Privilegierung der
Büro- und Schulbauten stellt eine spezifische Aargauer Regelung
dar; in den Brandschutzvorschriften der VKF findet man sie nicht
(vgl. Art. 18 der Brandschutznorm, Ausgabe 1993).
bbb) Mit der Festlegung des Schwellenwerts von 600 m
2
enthält
§ 48 Abs. 2 BSV eine schematisierende Regelung. Derartige Sche-
2001
Normenkontrolle
119
matismen sind auch in andern Rechtsgebieten häufig anzutreffen,
etwa im öffentlichen Abgaberecht. Schematisierungen und Pauscha-
lierungen werden dort vom Bundesgericht im Interesse der Praktika-
bilität seit jeher als zulässig erachtet (BGE 125 I 196, 201 mit Hin-
weisen). Sie dienen letztlich der Rechtssicherheit und Rechtsgleich-
heit (AGVE 1985, S. 322, betreffend die Bedeutung von Verwal-
tungsrichtlinien) sowie einer beförderlichen Fallerledigung (BGE
108 Ib 55), müssen aber anderseits sachlich nachvollziehbar sein und
dürfen keine rechtlichen Unterscheidungen treffen, für die ein ver-
nünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich
ist (BGE 121 I 51; AGVE 1987, S. 150 f.; VGE III/77 vom 25. No-
vember 1976 in Sachen F. AG, S. 31 f.). Deshalb muss im Einzelfall
unter Umständen eine vom Schema abweichende Lösung getroffen
werden (AGVE 1999, S. 206, betreffend die Handhabung techni-
scher Normalien). Es steht nichts entgegen, auch auf dem Gebiet des
öffentlichen Brandschutzes im erwähnten Sinne nach schematischen,
aufgrund der Durchschnittserfahrung aufgestellten Massstäben Recht
zu setzen, wo es opportun erscheint.
Der innere Grund für die Festlegung des Schwellenwerts bei
600 m
2
hat offensichtlich einerseits mit der Brandbelastung und an-
derseits mit der Fluchtweglänge zu tun. § 48 Abs. 2 BSV verlangt
wie erwähnt (Erw. aaa hievor) entgegen der Regel kein als Brandab-
schnitt ausgebildetes Treppenhaus; demzufolge erscheint es logisch
und konsequent, mit der Begrenzung der Geschossfläche auch die
damit korrelierende Brandbelastung zu limitieren. Im Weitern kann
bei einem konventionellen Grundriss mit einer Grundfläche von
maximal 600 m
2
in der Regel von jedem Punkt aus die Norm-
Fluchtweglänge von höchstens 35 m gemäss § 46 Abs. 3 Satz 1 BSV
eingehalten werden. Das Problem stellt sich analog im Zusammen-
hang mit der erforderlichen Anzahl der Treppenanlagen, die sich
ebenfalls nach der Geschossfläche richtet (vgl. Art. 47 Abs. 1 lit. a
der Brandschutznorm der VKF in Verbindung mit den einschlägigen
Skizzen auf S. 33 der Brandschutzrichtlinie ,,Schutzabstände, Brand-
abschnitte, Fluchtwege" der VKF [Ausgabe 1993], die beispielhaft
auf einem Geschoss mit einer Länge von 40 m und einer Breite von
15 m basieren). Namentlich die erwähnten Skizzen zeigen, dass der
2001
Verwaltungsgericht
120
Schwellenwert von 600 m
2
auch mit der Fluchtwegsituation zusam-
menhängt. Insgesamt beruht dieser Wert somit auf einer plausiblen
Begründung. Es erscheint demnach gerechtfertigt, den Normalfall
aufgrund des Flächenkriteriums zu beurteilen. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle führt dies zu sachgerechten Entscheiden. Der
,,Einzelfallgerechtigkeit" kann in ausreichendem Mass mit der
bereits in den einschlägigen Erlassen angelegten Möglichkeit Rech-
nung getragen werden, statt der vorgeschriebenen Standardmass-
nahme(n) Ersatzmassnahmen zu realisieren. § 6 BSG (in der Fassung
vom 18. Juni 1996) bestimmt diesbezüglich unter dem Randtitel
,,Normalfall und Abweichungen":
,,
1
Die gesetzlich vorgesehenen Massnahmen gehen von derjenigen
Brandgefahr aus, die im Normalfall zu erwarten ist.
2
An die Stelle vorgeschriebener Massnahmen können Alternativen
treten, soweit sie für das Einzelobjekt gleichwertig sind.
3
Weicht die Brandgefahr im Einzelfall so vom Normalfall ab, dass die
gesetzlich vorgesehenen Massnahmen als ungenügend oder als unver-
hältnismässig erscheinen, können die zu treffenden Massnahmen an-
gemessen erweitert oder reduziert werden."
In verfahrensmässiger Hinsicht ergänzt § 2 BSV wie folgt:
,,
3
Im Brandschutzgesuch ist darzustellen, mit welchen Massnahmen
der gesetzliche Brandschutz erfüllt wird. Sind Alternativmassnahmen
zu den vorgeschriebenen Massnahmen vorgesehen, hat der Gesuch-
steller schriftlich in ausreichender Weise aufzuzeigen, dass sein Kon-
zept als gleichwertig erachtet werden kann."
ddd) Die Beschwerdeführerinnen erblicken darin, dass § 48
Abs. 2 BSV bei Schulbauten keine Grundflächenbeschränkung vor-
sieht, eine ungerechtfertigte Privilegierung.
aaaa) Das AVA begründet die Differenzierung mit der unter-
schiedlich hohen mobilen Brandbelastung, und zwar nicht in den
Korridoren, welche unabhängig von der Nutzung nur minimale
Brandbelastungen aufweisen dürften, sondern in den angrenzenden
Räumen; aus einer in den ,,Begriffserläuterungen" (Anhang zur
BSV) reproduzierten Tabelle gehe hervor, dass in Schulen mit einer
mobilen Brandbelastung von 300 MJ/m
2
, in Büros hingegen mit 600-
800 MJ/m
2
zu rechnen sei. Das Baudepartement hat daraufhin durch
2001
Normenkontrolle
121
die G. AG gutachtlich abklären lassen, ob es zutreffe, dass Schulhäu-
ser im Bereich der Schulzimmer und der Fluchtwege wesentlich
geringere Brandlasten und Aktivierungsgefahren aufwiesen, als dies
bei Bürobauten der Fall sei. Die Expertin führte in der Folge in acht
aargauischen Schulhäusern Brandlasterhebungen durch, wobei sie
sich auf die mobilen Brandlasten konzentrierte, weil sich Schulhäu-
ser und Bürogebäude bezüglich der immobilen Brandlasten nach
§ 48 Abs. 5 BSV (Verkleidung von Wänden und Decken mit nicht-
brennbaren Materialien, für Bodenbeläge je nach Nutzung brennbare
Materialien) kaum unterschieden. Festgestellt wurde dabei in den
Schulzimmern eine Brandbelastung zwischen 350 und 570 MJ/m
2
(Minimalwert 170 MJ/m
2
, Maximalwert 1'140 MJ/m
2
), wogegen die
SIA-Dokumentation 81 für technische Büroräume eine Brandbela-
stung von 600 MJ/m
2
, für kaufmännische Büros eine solche von
800 MJ/m
2
angebe. In den Fluchtkorridoren von Schulhäusern gebe
es neben schwer entzündlichen Materialien (Bänke, Anschlagbretter,
Stellwände, Ausstellungsvitrinen, Kleider usw.) auch Schränke,
Stühle und Tische; von einer minimalen Brandbelastung könne hier
nicht gesprochen werden. In den Korridoren von Bürobauten seien
ebenfalls Schränke, Kopiergeräte usw. aufgestellt, die eine beträcht-
liche Brandbelastung bewirkten. Gesamthaft betrachtet wiesen
Schulhäuser effektiv kleinere Risiken auf als Bürobauten in einer
vergleichbaren Umgebung, weshalb eine Erleichterung bei der Aus-
bildung der Fluchtwege gerechtfertigt sei.
bbbb) Die Beschwerdeführerinnen bestreiten in keiner ihrer
Eingaben, dass die durchschnittlichen Brandbelastungen in Schul-
häusern geringer sind als in Bürobauten. Auch für das Verwaltungs-
gericht ist nicht erkennbar, weshalb den diesbezüglichen Feststellun-
gen der Expertin, die einerseits auf eigenen Untersuchungen, ander-
seits auf anerkannten Erfahrungswerten basieren, nicht sollte gefolgt
werden können. Stellung zu nehmen ist lediglich noch zum Einwand,
sowohl in Bezug auf die Ausgestaltung der Korridore als auch in
Bezug auf die konkrete Brandbelastung entspreche das Bürogebäude
der Beschwerdeführerin 2 eher einem Schulhaus, was mit einem
Augenschein belegt werden könne. Dem ist entgegenzuhalten, dass
es hier in erster Linie um die
mobilen
Brandlasten geht und sich
2001
Verwaltungsgericht
122
Schulhäuser und Bürogebäude bezüglich der
immobilen
Brandlasten
kaum unterscheiden (vgl. § 48 Abs. 5 BSV und die ,,Begriffserläute-
rungen" im Anhang zur BSV [Stichwort ,,Brandbelastung"]). Die
mobile Brandbelastung ist nun aber naturgemäss Schwankungen
unterworfen, weshalb diesbezüglich Schematisierungen unausweich-
lich sind; eine ,,Momentaufnahme", wie sie die Beschwerdeführerin-
nen mit ihrem Beweisantrag auf Durchführung eines Augenscheins
vorschlagen, brächte nichts, weshalb füglich davon abgesehen wer-
den darf. Im Übrigen lässt sich die unterschiedliche Behandlung von
Büro- und Schulbauten auch damit rechtfertigen, dass die ,,schlei-
chende" Umnutzung eines Bürogebäudes erfahrungsgemäss erheb-
lich wahrscheinlicher ist als jene eines Schulhauses.
cccc) Die von den Beschwerdeführerinnen in Frage gestellte
Differenzierung in Bezug auf das Grundflächenkriterium kann sich
demgemäss auf triftige, ernsthafte Gründe stützen; sie ist sachlich
begründet (vgl. BGE 121 I 100 mit Hinweisen). § 48 Abs. 2 BSV
verletzt daher den Grundsatz der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) nicht,
weshalb er sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen
als anwendbar erweist.
5. a) Mit 674 m
2
Grundfläche (pro Geschoss) übersteigt das in
Frage stehende Bürogebäude unbestrittenermassen den Schwellen-
wert von 600 m
2
gemäss § 48 Abs. 2 BSV. Die ausnahmsweise Zu-
lassung einer (gegen die Korridore) offenen Treppenanlage kommt
daher hier nicht in Betracht. Vielmehr ist das - als Fluchtweg die-
nende - Treppenhaus nach Massgabe von § 48 Abs. 1 Satz 1 BSV als
Brandabschnitt mit einem Feuerwiderstandswert von mindestens
F 60 zu erstellen, wie es im ersten Projekt auch vorgesehen war. Re-
alisiert wurden statt dessen - nach Massgabe des Projektänderungs-
gesuchs - eine offene Treppenanlage sowie eine zusätzliche aussen-
liegende Fluchttreppe. Die Beschwerdeführerinnen sind der Mei-
nung, als Alternativmassnahme müsse dies den Brandschutzanfor-
derungen ebenfalls genügen, wenn die bereits installierte Brand-
meldeanlage mit berücksichtigt werde. Die Fluchtwegsituation werde
trotz der Grundflächenüberschreitung von 12% wesentlich verbes-
sert, indem nun ein zweiter Fluchtweg existiere. Qualitativ sei die
Alternativlösung wesentlich besser als die Standardmassnahme ge-
2001
Normenkontrolle
123
mäss § 48 Abs. 2 BSV. Sämtliche Räume im Erdgeschoss hätten -
unabhängig vom Hauptkorridor - einen separaten Ausgang direkt ins
Freie. Die Länge des Fluchtwegs dürfe im vorliegenden Falle gemäss
§ 46 Abs. 3 Satz 2 BSV 50 m nicht übersteigen. 83,3% der Grund-
fläche liege nun aber im Fluchtwegbereich von 35 m der Aussen-
treppe, und die offene Treppenanlage decke mit dem 35 m-Abstand
die ganze Grundfläche ab. Im fraglichen Bürogebäude werde mit der
Brandmeldeanlage ein Brandsicherheitsquotient von 3,85 erreicht,
wogegen Schulhäuser bis 700 m
2
Grundfläche lediglich einen Quo-
tienten von 2,20 aufwiesen. Im Eventualfall könnte, sofern dies not-
wendig sei, was bestritten werde, eine zweite identische Aussen-
treppe auf der Südseite des Gebäudes angebracht werden.
Das AVA lehnt die Projektänderungsvariante mit folgender Be-
gründung ab: Unter Verweisung auf § 46 BSV wird ausgeführt, mit
der realisierten aussenliegenden Wendeltreppe an der Nordfassade
stehe lediglich
ein
vorschriftsgemässer Fluchtweg zur Verfügung.
Stünden wie im vorliegenden Falle die vier übereinanderliegenden
Bürogeschosse untereinander über einen zu den Korridoren nicht
abgetrennten Lichthof in offener Verbindung, so müsse die erforder-
liche Anzahl von mit Feuerwiderstand F 60 abgetrennten Treppen-
häusern vorhanden sein. Einzig die Aussentreppe biete, weil sie im
Freien liege, eine ausreichende, einem abgetrennten Treppenhaus
entsprechende Sicherheit, während die Benutzbarkeit der offenen
Treppenanlage im Gebäudeinnern durch ein Ereignis an einer belie-
bigen Stelle im zusammenhängenden Brandabschnitt Korri-
dore/Lichthof/Treppenanlage/Anmeldung beeinträchtigt werde. Die
eine Aussentreppe würde nur ausreichen, wenn sie unter Einhaltung
der maximal zulässigen Fluchtwegdistanz, die gemäss § 46 Abs. 3
BSV bei Vorhandensein nur
einer
Treppenanlage 35 m betrage, von
jeder Stelle aus erreicht werden könnte. Die effektive Flucht-
weglänge betrage nun aber 44 m.
b) Brandschutz ist in erster Linie Personenschutz; Gebäude usw.
sind so zu erstellen, zu betreiben und zu unterhalten, dass die Sicher-
heit von Personen gewährleistet ist (§ 3 Abs. 1 lit. b BSG; vgl.
AGVE 1996, S. 328). Die rechtsanwendenden Behörden haben es
bisher zu Recht nicht zugelassen, dass in Bezug auf diesen Schutz
2001
Verwaltungsgericht
124
substantielle Abstriche vorgenommen werden (vgl. VGE III/3 vom
26. Februar 1986 in Sachen E., S. 10 [Hotelbetrieb]; VGE III/79 vom
15. November 1988 in Sachen A. SA, S. 13 [Geschäftshaus mit Tep-
pichlager und -ausstellung]; Entscheide des Regierungsrats vom
26. Juni 1989 [Art. Nr. 1554] in Sachen Einwohnergemeinde W., S. 8
[Asylantenunterkunft], und vom 10. Juli 1989 [Art. Nr. 1696] in
Sachen Einwohnergemeinde A., S. 11 f. [Altersheim]; ferner Bun-
desgericht, in: ZBl 88/1987, S. 264). Als Grundpfeiler des Personen-
schutzes können dabei im Bereich des baulichen Brandschutzes die
Prinzipien der Brandabschnittsbildung und der Fluchtwegsicherung
bezeichnet werden (vgl. die §§ 32 ff. und 44 ff. BSV; Art. 32 ff. und
44 ff. der Brandschutznorm der VKF).
Vor diesem Hintergrund erweist sich die behördliche Forderung
nach einem zweiten normgerechten Fluchtweg als verhältnismässig.
Die Bereitstellung von Fluchtwegen gehört wie erwähnt zu den we-
sentlichen Personenschutzmassnahmen. Eine Brandmeldeanlage
rechtfertigt darum keine Erleichterungen, weil sie den Brandschutz
nicht auf der gleichen Ebene gewährleistet wie ein Fluchtweg. Dieser
ermöglicht es den von einem Brand Überraschten im Sinne einer
baulichen Direktmassnahme, innert nützlicher Frist ins Freie zu ge-
langen und sich dort in Sicherheit zu bringen. Demgegenüber wird
mit der Brandmeldeanlage nur eine frühzeitige Alarmierung im Ge-
bäude bewirkt. Die Expertin weist zu Recht darauf hin, dass die ge-
fährdeten Personen damit noch nicht in Sicherheit sind; der Alarm
muss verstanden werden und eine zeitgerechte Evakuierung möglich
sein. Es bedarf also zusätzlicher organisatorischer Massnahmen in-
nerhalb des Betriebs, deren Vollzug wesentlich davon abhängt, ob
der Betrieb seine Eigenverantwortlichkeit permanent wahrnimmt; die
Auflage, einen Fluchtweg bereitzustellen, ist frei von derartigen Un-
sicherheiten und Unwägbarkeiten und namentlich deshalb wesentlich
einfacher durchzusetzen. Abgesehen davon lässt sich ein technisches
Versagen des Alarmierungssystems nie gänzlich ausschliessen. Die
Argumentation der Beschwerdeführerinnen vermag gegen diese
Überlegungen nicht aufzukommen; sie krankt im Wesentlichen
daran, dass die offene Treppenanlage nach Massgabe von § 46 Abs. 4
sowie § 48 Abs. 1 und 2 BSV die brandschutzrechtlichen An-
2001
Normenkontrolle
125
forderungen an einen Fluchtweg eben nicht erfüllt. Die vorge-
schlagene Ersatzmassnahme ist damit nicht ,,für das Einzelobjekt
gleichwertig" (§ 6 Abs. 2 BSG). Daran ändert auch nichts, dass das
abgeänderte (und realisierte) Projekt mit 3,85 einen höheren Brand-
sicherheitsquotienten aufweist als das vom AVA am 16. März 1998
bewilligte Projekt mit 2,85 und dass die mit dem Verfahren gemäss
SIA-Dokumentation 81 bewertete allgemeine Brandsicherheit auch
höher ist als bei vergleichbaren Bürobauten, bei denen ein Brand-
sicherheitsquotient von 2,4 bis 3,6 angestrebt wird; die Fluchtwege
gehören wie bereits erwähnt zu den wesentlichen Personenschutz-
massnahmen, deren vorschriftsgemässe Realisierung zu den Grund-
voraussetzungen gehört. Die SIA-Dokumentation sagt dazu Folgen-
des aus (S. 6):
,,Die vorliegende Publikation beschreibt eine Methode für die quanti-
tative Beurteilung des Brandrisikos und der Brandsicherheit nach ein-
heitlichen Bewertungsgrundlagen.
Das Verfahren setzt voraus, dass allgemeine Sicherheitsbestimmungen
wie Schutzabstände zu benachbarten Objekten
und vor allem die
Massnahmen zum Personenschutz wie Fluchtwege
, Notbeleuchtung
und dgl. sowie die einschlägigen Sicherheitsvorschriften für die tech-
nischen Einrichtungen eingehalten sind.
Diese können nicht durch an-
dere Massnahmen ersetzt werden
."
Eine Anwendung von § 6 Abs. 2 und 3 BSG fällt somit ausser Be-
tracht.
c) Subsubeventualiter verlangen die Beschwerdeführerinnen,
die kantonale Brandschutzbewilligung sei unter der Bedingung zu
erteilen, dass eine zweite identische aussenliegende Fluchttreppe auf
der Südseite des Gebäudes erstellt wird. Das AVA hat bereits in sei-
nem Schreiben vom 16. Juni 1998 Hand zu einer solchen Variante
geboten (,,Je endständig eine Aussentreppe zusätzlich zur offenen
Treppe anordnen"). Die Vorschrift von § 46 Abs. 3 Satz 2 BSV, wel-
che den Fluchtweg auf maximal 50 m festsetzt, wenn die Fluchtwege
zu mindestens zwei voneinander entfernten Treppenanlagen bzw.
Ausgängen ins Freie führen, kann so eingehalten werden; die Flucht-
weglänge beträgt unbestrittenermassen 44 m. Der Subsubeventual-
antrag kann daher gutgeheissen werden. | 5,368 | 4,370 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-36_2001-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-36.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-36.pdf | AGVE_2001_36 | null | nan |
840a861f-2872-5fc4-8d3c-6b766d76584b | 1 | 412 | 871,476 | 1,067,817,600,000 | 2,003 | de | 2004
Verwaltungsgericht
186
[...]
48
Ausnützungsziffer (§ 9 Abs. 2 ABauV).
- Die Aussenterrasse eines Restaurants ohne Seitenwände und Dach-
konstruktion stellt keine anrechenbare Geschossfläche dar.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 6. November 2003 in
Sachen H. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
2. a) Der Beschwerdeführer rügt, dass die geplante Terrasse des
Restaurants nicht zur anrechenbaren Bruttogeschossfläche gezählt
worden sei. Eine gewerblich genutzte Terrasse, welche 44 Personen
Platz biete, könne nicht einfach mit einem Balkon, einem Sitzplatz,
einer Dachterrasse oder einer Erdgeschosshalle im Sinne von § 9
Abs. 2 lit. a ABauV verglichen werden. Nur wenn gewerbliche
Flächen nicht mit Auswirkungen auf die Umgebung (Arbeitsplätze,
Publikumsverkehr) verbunden seien, werde die Bruttogeschossfläche
nicht tangiert. Es sei in diesem Zusammenhang irrelevant, ob die
Terrasse nur bei guter Witterung benutzt werde und somit lediglich
als "Ersatzfläche für diese Zeit" zu verstehen sei. Folglich müsse die
Terrasse in die Berechnung der Ausnützungsziffer miteinbezogen
werden. Ob der Beschwerdegegnerin für das vorliegende Bauprojekt
eine Ausnützungsziffer von 1.0 zur Verfügung stehe, müsse das
Verwaltungsgericht prüfen. In der Arealüberbauung sei ein
Gartenrestaurant jedenfalls nicht vorgesehen gewesen. In formeller
Hinsicht bemängelt der Beschwerdeführer, dass in den
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
187
Baugesuchsunterlagen keine nachvollziehbare Berechnung der
Ausnützungsziffer vorhanden sei.
b) aa) Die Ausnützungsziffer ist die Verhältniszahl zwischen der
anrechenbaren Bruttogeschossfläche und der anrechenbaren
Grundstücksfläche (§ 9 Abs. 1 ABauV). Sie ist ein zonenplanerisches
Mittel, um im Verein mit anderen namentlich die bauliche Dichte zu
begrenzen und ermöglicht so einer Gemeinde, die Intensität der
Besiedlung, d.h. die Zahl der Wohnungen und Arbeitsstätten, also
praktisch die Grösse der wohnenden und arbeitenden Bevölkerung,
bezogen auf eine bestimmte Fläche zu beeinflussen. Abgesehen von
soziologischen und wirtschaftlichen Aspekten dient diese
Beschränkung zunächst vorwiegend polizeilichen Zielen (Erhaltung
von Licht, Luft, Sonne, in gewissem Sinne auch der Gewährleistung
der Wohnhygiene). Ferner erlaubt es die Ausnützungsziffer, die Fol-
gewirkungen der privaten Bautätigkeit für die Öffentlichkeit zu be-
einflussen: Sie ist ein Mass für die Belastung der Infrastruktur (Art,
Distanz bzw. Länge und Auslastung der Anlagen) sowie der Umwelt
(Immissionen, Orts- und Landschaftsbild usw.). Städtebauliche Be-
deutung hat die Ausnützungsziffer, indem sie es erleichtert, Nut-
zungsdifferenzierungen (Wohnanteile, Begrünungsanteile) zu um-
schreiben, und die Zonenplanung befähigt, durch eine Differenz zwi-
schen grosszügigeren Abstandsvorschriften und anderen linearen
Gebäudebegrenzungen einerseits und einer restriktiveren Ausnüt-
zungsziffer anderseits einen Gestaltungsspielraum des privaten Bau-
herrn in der Bestimmung des Baukörpers zu eröffnen und so zu einer
insoweit differenzierten Überbauung zu gelangen (siehe
AGVE 1979, S. 243 f. mit Hinweisen). Diese Grundsätze haben auch
heute noch Gültigkeit (siehe Walter Haller / Peter Karlen,
Raumplanungs-, Bau- und Umweltrecht, Band I, 3. Auflage, Zürich
1999, Rz. 619, 625 f.).
bb) Als anrechenbare Bruttogeschossfläche gilt die Summe aller
ober- und unterirdischen
Geschossflächen
, einschliesslich der Mauer-
und Wandquerschnitte (§ 9 Abs. 2 ABauV). Grundlegende
Voraussetzung für die Anrechenbarkeit einer Fläche ist also deren
Qualifikation als Geschossfläche. Als Geschossflächen gelten dabei
ungeachtet ihrer Nutzung alle unter- oder oberirdischen Innenräume
2004
Verwaltungsgericht
188
eines Gebäudes einschliesslich der Mauer- und Wandquerschnitte
sowie die zum Gebäude gehörenden Aussenräume. Der Zweckbe-
stimmung der Ausnützungsziffer entsprechend (Steuerung der bauli-
chen Dichte, Wahrung polizeilicher Interessen, Durchsetzung städte-
baulicher Anliegen; siehe vorne Erw. aa), sind nur jene Aussenräume
zu berücksichtigen, die sich innerhalb der Gebäudehülle befinden.
Hierzu zählen beispielsweise Erdgeschosshallen, überdeckte
Sitzplätze, Balkone oder Dachterrassen. Handelt es sich demgegen-
über wie im vorliegenden Fall um eine Terrasse ausserhalb des Bau-
körpers, ohne eigene Seitenwände und Dachkonstruktion (d.h. ohne
jeden Gebäudecharakter), liegt keine Geschossfläche im Sinne von
§ 9 Abs. 2 ABauV, sondern ein nicht anrechenbarer Aussenraum vor,
den der Bauherr im Rahmen der Zonenvorschriften beispielsweise
als Autoabstellplatz, Terrasse oder Grünfläche beliebig nutzen kann.
Somit fällt die Fläche der Terrasse des Restaurants bei der Berech-
nung der anrechenbaren Bruttogeschossfläche von Vornherein ausser
Betracht. Weil auch die Verschiebung der Autoabstellplätze und
Velounterstände sowie der Teilabbruch des Ladenvorbaus nicht aus-
nützungsrelevant sind bzw. nicht zu einer Erhöhung der anrechenba-
ren Bruttogeschossfläche führen, hat das hier zu beurteilende Bau-
vorhaben keinerlei Einfluss auf die Ausnützungsziffer. Die Be-
schwerdegegnerin war daher auch nicht verpflichtet, ihrem Bauge-
such eine Ausnützungsberechnung beizulegen. | 1,133 | 880 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-48_2003-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-48.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-48.pdf | AGVE_2004_48 | null | nan |
841792b9-40f3-5ca3-852f-6f0748955eb9 | 1 | 412 | 869,919 | 1,028,332,800,000 | 2,002 | de | 2002
Submissionen
321
[...]
78
Bekanntgabe von Subkriterien.
-
Die Vergabebehörden sind nach der bisherigen Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichts nicht verpflichtet, im Voraus bekanntzugeben,
wie sie die Zuschlagskriterien im Einzelnen zu bewerten gedenken
(Erw. 2/a/bb).
-
Die nachträgliche Unterteilung der Zuschlagskriterien in Subkriterien
stellt lediglich ein Hilfsmittel für eine differenzierte Bewertung dar;
die einzelnen Subkriterien müssen sich einem in der Ausschreibung
ausdrücklich aufgeführten Zuschlagskriterium zuordnen lassen bzw.
davon mitumfasst werden (Erw. 2/a/bb).
-
Frage einer Praxisänderung im Hinblick auf die neuere bundesge-
richtliche Rechtsprechung offen gelassen (Erw. 2/a/bb).
2002
Verwaltungsgericht
322
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 15. August 2002 in
Sachen A. AG gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
2. a) aa) In Ziffer 8 der öffentlichen Ausschreibung wurden als
massgebende Zuschlagskriterien mit ihrer jeweiligen Gewichtung
genannt:
Kompetenz
40%
Preis
40%
Termin
20%
In den Ausschreibungsunterlagen wurde darauf hingewiesen,
dass die einzelnen Kriterien anhand von Teilkriterien bewertet wür-
den.
Für die Bewertung wurden die Zuschlagskriterien wie folgt in
(ebenfalls gewichtete) Teilkriterien und Teilaspekte unterteilt: [Ta-
bellarische Übersicht über die Zuschlagskriterien, Teilkriterien und
Teilaspekte].
bb) Die Vergabebehörden sind nach der bisherigen Rechtspre-
chung des Verwaltungsgerichts grundsätzlich nicht verpflichtet, zum
Voraus bekannt zu geben, wie sie die Zuschlagskriterien im Ein-
zelnen zu bewerten gedenken. Die nachträgliche Unterteilung der
Zuschlagskriterien in Sub- oder Teilkriterien stellt wie eine Bewer-
tungsmatrix lediglich ein Hilfsmittel für eine differenzierte Bewer-
tung dar. Die einzelnen Subkriterien müssen sich gemäss Verwal-
tungsgericht allerdings einem in der Ausschreibung ausdrücklich
aufgeführten Zuschlagskriterium zuordnen lassen bzw. davon mitum-
fasst werden. Es dürfen hierbei nicht etwa neue Zuschlagskriterien
geschaffen oder herangezogen werden. Weiter dürfen die Anbieter
darauf vertrauen, dass die Vergabestelle die üblichen Zuschlagskrite-
rien - wie sie auch in § 18 Abs. 2 SubmD genannt sind - im her-
kömmlichen Sinn versteht. Andernfalls müssen sie in den Aus-
schreibungsunterlagen möglichst detailliert umschrieben werden,
damit die Anbieter erkennen können, welchen Anforderungen sie
2002
Submissionen
323
bzw. ihre Angebote genügen müssen (VGE III/82 vom 9. August
2001 [BE.2001.00206] in Sachen Z. AG, S. 9 f. mit Hinweisen).
Die Verwaltungsgerichte anderer Kantone gehen zum Teil we-
sentlich weiter, indem auch die Angabe allfälliger Subkriterien und
die Bekanntgabe der Bewertungsmatrix in den Ausschreibungsunter-
lagen verlangt wird (Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
Luzern vom 25. August 2000, in: LGVE 2000 II Nr. 13 E. 5c; Ent-
scheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 5. Mai 1999, in:
Rechenschaftsbericht über die Rechtspflege des Kantons Uri in den
Jahren 1998 und 1999 Nr. 28 E. 6a mit weiteren Hinweisen; vgl.
auch Matthias Hauser, Zuschlagskriterien im Submissionsrecht, in:
AJP 2001, S. 1410 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat zu dieser
Problematik in einem Urteil vom 24. August 2001 (2P.299/2000) in
Sachen B., S. 5 Folgendes ausgeführt:
"Es ist in Lehre und Praxis anerkannt, dass die Vergabebehörde nach
dem Transparenzgebot nicht nur dazu verpflichtet ist, die entscheiden-
den Zuschlagskriterien zu nennen, sondern bei der Ausschreibung zu-
dem die Massgeblichkeit der einzelnen Zuschlagskriterien nach ihrer
Priorität, d.h. deren relative Gewichtung, bekannt zu geben (BGE 125
II 86 E. 7c S. 101 ff., mit zahlreichen Hinweisen auf die Lehre). Es ist
nicht notwendig, hier näher auf die Frage einzugehen, in welcher
Form die relative Gewichtung bekannt zu geben ist. Aus dem Trans-
parenzgebot ergeben sich zumindest folgende zwei Regeln, die für den
vorliegenden Fall massgeblich sind: Wenn die Behörde für eine
bestimmte auszuschreibende Arbeit
schon konkret Unterkriterien auf-
gestellt und ein Schema mit festen prozentualen Gewichtungen fest-
gelegt
[Hervorhebung beigefügt] hat, was für standardisierte Dienst-
leistungen wie Vermessungsarbeiten leicht möglich erscheint, und
wenn sie für die Bewertung der Offerten grundsätzlich auch darauf
abzustellen gedenkt, muss sie dies den Bewerbern zum Voraus be-
kannt geben. Es ist ihr sodann verwehrt, derart bekannt zu gebende
Kriterien nach erfolgter Ausschreibung, insbesondere nach Eingang
der Angebote, noch wesentlich abzuändern (BGE 125 II 86 E. 7c
S. 102), so beispielsweise die festgelegten Prozentsätze nachträglich
zu verschieben."
2002
Verwaltungsgericht
324
Ob das Verwaltungsgericht angesichts dieser Rechtsprechung
des Bundesgerichts, die sich vorab auf den allgemein gültigen Trans-
parenzgrundsatz stützt, auch zukünftig noch an seiner derzeitigen
Praxis, wonach die Subkriterien nicht im Voraus bekannt gegeben
werden müssten, festhalten kann, erscheint fraglich, braucht im vor-
liegenden Fall aber nicht entschieden zu werden, da die Beschwer-
deführerin weder die Auswahl noch die Gewichtung der Zuschlags-
kriterien und der Teilkriterien in irgend einer Weise beanstandet,
sondern ausschliesslich ihre eigene Bewertung als nicht richtig er-
folgt rügt.
Immerhin ist zur Auswahl und Gewichtung der Kriterien gene-
rell zu bemerken, dass das in den Ausschreibungsunterlagen im vor-
liegenden Fall - anders als z.B. in VGE III/33 vom 30. April 2002
(BE.2002.00041) in Sachen ARGE Argovia A1 Baregg West - nicht
näher umschriebene Zuschlagskriterium "Kompetenz" sehr allge-
mein gehalten und inhaltlich wenig bestimmt ist. Insbesondere müs-
sen die Anbieter gemeinhin nicht erwarten, dass unter der "Kompe-
tenz" auch Umweltaspekte beurteilt werden (erwähnter VGE in Sa-
chen ARGE Argovia A1 Baregg West, S. 27, 74). Sodann vermag
auch die Berücksichtigung der Lehrlingsausbildung als Teilaspekt
des Subkriteriums Schlüsselpersonal nicht zu überzeugen, gehören
die Lehrlinge nach herkömmlicher Auffassung doch gerade nicht
zum Schlüsselpersonal (erwähnter VGE in Sachen Z. AG, S. 10).
Sowohl bei den Umweltaspekten als auch bei der Lehrlingsausbil-
dung handelt es sich um vergabefremde Zuschlagskriterien, die in
§ 18 Abs. 2 SubmD aber ausdrücklich erwähnt und daher grundsätz-
lich zulässig sind. Der Grundsatz der Transparenz gebietet es aller-
dings, dass solche Zuschlagskriterien mitsamt ihrer Gewichtung in
der öffentlichen Ausschreibung (oder den Ausschreibungsunterlagen)
aufgeführt werden, wenn die Vergabebehörde sie berücksichtigen
will (erwähnter VGE in Sachen Z. AG, S. 10 f.). Wieso im vor-
liegenden Fall insbesondere die Umweltverträglichkeit nicht als ei-
genes Zuschlagskriterium festgelegt wurde, ist schon deshalb wenig
einleuchtend, weil die Vergabestelle in der Vernehmlassung betont,
es seien besondere Anforderungen an den Umweltschutz und den
naturnahen Wasserbau gestellt. | 1,523 | 1,247 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-78_2002-08-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-78.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-78.pdf | AGVE_2002_78 | null | nan |
842fef69-a577-5db9-b4cf-f209eff3855a | 1 | 412 | 871,313 | 1,506,988,800,000 | 2,017 | de | 2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
260
[...]
46
Einteilung der Jagdreviere; Begründungspflicht
-
Die Einteilung der Jagdreviere erfolgt unter Berücksichtigung jagd-
licher und wildbiologischer Kriterien (§ 3 Abs. 1 AJSG).
-
Eine von der Empfehlung der Fachstelle abweichende Jagdrevierein-
teilung bedarf einer eingehenden Begründung.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 4. Oktober
2017, i.S. Jagdgesellschaft A. gegen Regierungsrat (WBE.2017.254)
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Ge-
hörs, mitunter der Begründungspflicht. Die Vorinstanz weiche in
nicht nachvollziehbarer und widersprüchlicher Weise vom Vorschlag
der Fachstelle ab.
1.2.
Die Vorinstanz begründete ihren Entscheid wie folgt: Der von
der Fachstelle vorgeschlagene Zusammenschluss der Jagdreviere
Nr. 153 (Magden-West), Nr. 158 (Olsberg-Nord) und Nr. 162 (Rhein-
felden-West) mache jagdlich und wildbiologisch Sinn. Er entspreche
den in § 3 Abs. 1 AJSG vorgegebenen Kriterien. Aufgrund des
Widerstands der Jagdgesellschaft B. und der Gemeinde C. und des
alternativen Vorschlags der Jagdgesellschaft B. werde (
indessen
) das
Jagdrevier Nr. 153 (Magden-West) mit dem von der Jagdgesellschaft
B. vorgeschlagenen Jagdrevier Nr. 161 (Rheinfelden-Süd) zusam-
mengeschlossen.
1.3.
2017
Verwaltungsrechtspflege
261
Gemäss § 26 Abs. 2 VRPG sind Entscheide grundsätzlich
schriftlich zu begründen. Die Begründungspflicht folgt aus dem An-
spruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV. Die Begrün-
dung eines Entscheids entspricht den diesbezüglichen Anforde-
rungen, wenn die Betroffenen dadurch in die Lage versetzt werden,
die Tragweite der Entscheidung zu beurteilen und sie in voller
Kenntnis der Umstände an eine höhere Instanz weiterzuziehen. Die
Behörde ist aber nicht verpflichtet, sich zu allen Rechtsvorbringen
der Parteien zu äussern. Vielmehr kann sie sich auf die für den Ent-
scheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken. Es genügt, wenn
ersichtlich ist, von welchen Überlegungen sich die Behörde leiten
liess (U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allge-
meines Verwaltungsrecht, 7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016,
Rz. 1071; K
ASPAR
P
LÜSS
, in: A
LAIN
G
RIFFEL
[Hrsg.], Kommentar
zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2014, § 10 N 25).
An die Begründungspflicht werden höhere Anforderungen ge-
stellt, je weiter der den Behörden durch die anwendbaren Normen er-
öffnete Entscheidungsspielraum und je komplexer die Sach- und
Rechtslage ist (vgl. H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1072;
G
EROLD
S
TEINMANN
, in: B
ERNHARD
E
HRENZELLER
/B
ENJAMIN
S
CHINDLER
/R
AINER
J.
S
CHWEIZER
/K
LAUS
A.
V
ALLENDER
[Hrsg.],
Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar,
3. Auflage, 2014, Art. 29 N 49). Mit der Pflicht zur Offenlegung der
Entscheidungsgründe kann insbesondere verhindert werden, dass
sich die Behörde von unsachgemässen Motiven leiten lässt (vgl.
A
LFRED
K
ÖLZ
/I
SABELLE
H
ÄNER
/M
ARTIN
B
ERTSCHI
, Verwaltungs-
verfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2013, Rz. 629; F
ELIX
U
HLMANN
, Das
Willkürverbot [Art. 9 BV], Bern 2005, Rz. 366 ff.).
1.4.
Die Abteilung Wald teilte im Gespräch vom 24. August 2016
der Jagdgesellschaft B. sowie dem Gemeinderat C. mit, aufgrund der
jagdlichen und wildbiologischen Situation bzw. der zusammen-
hängenden Lebensräume sehe sie die Zusammenlegung der Jagdre-
viere Nrn. 153 (Magden-West), 158 (Olsberg-Nord) und 162 (Rhein-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
262
felden-West) vor. An dieser Absicht wurde im Schreiben vom
10. Januar 2017 an die Jagdgesellschaft B. festgehalten. Die Vorin-
stanz erwog ebenfalls, dass dieser Vorschlag jagdlich und wildbiolo-
gisch sinnvoll sei. Dennoch wich sie davon ab und ordnete den Zu-
sammenschluss der Reviere Nrn. 153 (Magden-West) und 161
(Rheinfelden-Süd) an. Die diesbezügliche Begründung, welche sich
darauf beschränkt, pauschal auf "Widerstand" einer betroffenen
Jagdgesellschaft und einer Gemeinde zu verweisen, ist offensichtlich
nicht ausreichend. Dies gilt umso mehr, als es einer (triftigen)
Begründung bedarf, wenn von Auskünften und Empfehlungen einer
Fachstelle abgewichen wird (vgl. K
ÖLZ
/H
ÄNER
/B
ERTSCHI
, a.a.O.,
Rz. 485). Demgegenüber geht aus dem angefochtenen Entscheid
nicht hervor, aus welchen sachlichen Überlegungen vom Vorschlag
der Fachstelle Abstand genommen wurde. Insbesondere wird nicht
aufgezeigt, ob der verfügte Zusammenschluss der Reviere Nrn. 153
und 161 jagdlichen und wildbiologischen Kriterien (vgl. § 3 Abs. 1
AJSG) entspricht bzw. welche Variante diesbezüglich die bessere ist.
Die Gründe, weshalb sich eine Jagdgesellschaft und eine Gemeinde
gegen die ursprünglich vorgesehene Lösung wehrten, werden im
angefochtenen Entscheid mit keinem Wort erwähnt. Schliesslich
wird auf den "alternativen Vorschlag" der Jagdgesellschaft B. hinge-
wiesen, ohne dass auf dessen Inhalt eingegangen wird. Insgesamt
vermag der Entscheid der Vorinstanz den Anforderungen an die Be-
gründungpflicht klarerweise nicht zu genügen.
1.5.
Eine Heilung des Gehörsmangels, wie sie die Rechtsprechung
zulässt, wenn die unterlassene Begründung in einem Rechts-
mittelverfahren nachgeholt wird, das eine Prüfung im gleichen
Umfang wie durch die Vorinstanz erlaubt, ist vorliegend ausgeschlos-
sen (vgl. H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 1174 ff.;
K
ÖLZ
/H
ÄNER
/B
ERTSCHI
, a.a.O., Rz. 548). Einerseits handelt es sich
um eine schwerwiegende Verletzung des Gehörsanspruchs und
anderseits kann das Verwaltungsgericht, welches lediglich eine
Rechts- und Sachverhaltskontrolle vornimmt (vgl. § 55 Abs. 1
VRPG), nicht gewissermassen anstelle der verfügenden Behörde de-
ren Entscheid begründen.
2017
Verwaltungsrechtspflege
263
Damit ist der angefochtene Beschluss aus formellen Gründen
aufzuheben. Ein Entscheid in der Sache durch das Verwaltungsge-
richt ist ausgeschlossen, weshalb die Angelegenheit zum Erlass eines
hinreichend begründeten Entscheids an die Vorinstanz zurückzuwei-
sen ist (vgl. § 49 VRPG). Beweismittel sind bei diesem Ergebnis
nicht zu erheben.
2.
Zusammenfassend erweist sich die Beschwerde als begründet.
Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Angelegenheit
zum Erlass eines genügend motivierten Entscheids an den
Regierungsrat zurückzuweisen.
Beim Erlass ihres Entscheids wird die Vorinstanz ihre Ent-
scheidgrundlagen offenzulegen haben. Will sie an ihrem Entscheid
festhalten, wird sie zur Begründung des Revierzusammenschlusses
wesentlich auf jagdliche und wildbiologische Kriterien (§ 3 Abs. 1
AJSG) abzustellen haben. Diese können insbesondere anhand der
topographischen Verhältnisse, Landschaftskammern und Waldgebiete
aufgezeigt werden (vgl. dazu das Schreiben der Abteilung Wald, wo
Mindestgrösse, Reviergrenzen, Bejagbarkeit, Lebensraumnutzung
und Schutzgebiete als Kriterien genannt werden). Wie ausgeführt, ist
eine von der Empfehlung der Fachstelle abweichende Entscheidung
eingehender zu begründen. Der erwähnte "Widerstand" einer be-
troffenen Gemeinde und Jagdgesellschaft ist konkretisierungsbe-
dürftig und kann mit Blick auf das Anhörungsrecht bei der Revier-
einteilung (§ 3 Abs. 2 AJSG) bzw. im Hinblick auf die Mitbestim-
mung bei der künftigen Pachtvergabe (§ 4 Abs. 2 AJSG) Berücksich-
tigung finden. | 1,826 | 1,460 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-46_2017-10-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-46.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-46.pdf | AGVE_2017_46 | null | nan |
84997aee-62b3-5c1d-a853-3aece31a82af | 1 | 412 | 870,453 | 1,052,006,400,000 | 2,003 | de | 2003
Registerrecht
301
IX. Registerrecht
72 Kognitionsbefugnis
des
Handelsregisteramtes.
- Die Prüfungsbefugnis des Handelsregisterführers ist beschränkt.
Selbst wenn er auf die Möglichkeit eines ungerechtfertigten Eintrags
aufmerksam gemacht wird, hat er bloss auf die Einhaltung jener
zwingenden Gesetzesbestimmungen zu achten, die im öffentlichen
Interesse oder zum Schutz Dritter aufgestellt sind.
- Weder das OR noch die HRegV verlangen einen besonderen Beschluss
des Verwaltungsrates über die Anmeldung einer Zeichnungsberech-
tigung beim Handelsregisteramt. Vielmehr genügt für die Anmeldung
schon eine durch alle Mitglieder des Verwaltungsrates unterzeichnete
Handelsregisteranmeldung.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 16. Mai
2003 in Sachen T. gegen das Departement des Innern. Publiziert im
Jahrbuch des Handelsregisters 2003. | 162 | 139 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-72_2003-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-72.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-72.pdf | AGVE_2003_72 | null | nan |
84a8bf1d-d035-5e67-9996-e5218b3325d7 | 1 | 412 | 871,721 | 1,491,177,600,000 | 2,017 | de | 2017
Bau-,Raumentwicklungs-undUmweltschutzrecht
163
[...]
30
Inanspruchnahme von Grund und Boden durch Fernmeldeeinrichtungen
In Fahrbahnschächten platzierte Geräte, welche die optischen Signale aus
Glasfaserkabeln in ein elektromagnetisches Signal für die Weitergabe an
Kupferkabel umwandeln (sog. optisch-elektrische Umwandler), bilden
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
164
Leitungsbestandteil im Sinne von Art. 35 Abs. 1 FMG. Demnach sind die-
se Geräte bzw. deren Platzierung in Fahrbahnschächten zu bewilligen, so-
fern der Gemeingebrauch der Strasse durch den Einbau und den an-
schliessenden Betrieb nicht beeinträchtigt wird. Das Bundesrecht regelt
die Bewilligungsvoraussetzungen im Anwendungsbereich von Art. 35
Abs. 1 FMG abschliessend. Für abweichendes kantonales Recht bleibt
kein Raum.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 7. April
2017, i.S. A. AG gegen Regierungsrat (WBE.2016.424)
Aus den Erwägungen
1.
Die Beschwerdeführerin hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende
2020 bzw. bis Ende 2023 85 % bzw. 95 % der Schweizer Bevölke-
rung mit Ultrabreitband zu erschliessen. Zu diesem Zweck bedient
sie sich Glasfasertechnologien unterschiedlicher Ausbaustufen. Der
Vollausbau bis in die Wohnung der Kunden ("Fiber to the home"
[FTTH]), ist die teuerste Variante, die vor allem in den Städten, in
Kooperation mit lokalen Betreibern oder Energieversorgungsunter-
nehmen angewandt wird. Die Technologie "Fiber to the building"
(FTTB), bei welcher die Glasfaserkabel bis zum Hausanschlusskas-
ten im Gebäude gezogen werden, findet vor allem bei Mehrfamilien-
häusern mit mehr als 12 Wohnungen Anwendung. Die Technologie
"Fiber to the Street" (FTTS) schliesslich beinhaltet, dass bis zu
einem Schacht in der Strasse, der sich nicht mehr als 200 m von den
Kunden entfernt befindet, Glasfaserkabel verlegt werden, während
die Hausanschlüsse weiterhin aus Kupferleitungen bestehen. Die
Verbindung zwischen Glasfaserkabel und Kupferleitung geschieht
über einen sog. optisch-elektrischen Umwandler (MicroCAN [nach-
folgend: μCAN]), der das optische Signal aus den Glasfaserkabeln in
ein elektromagnetisches Signal umwandelt. Für die Platzierung die-
ser μCANs sind vorbestehende Infrastrukturelemente, u.a. mit Erd-
reich und Betonabdeckplatten überdeckte, bisher für die Spleissung
2017
Bau-,Raumentwicklungs-undUmweltschutzrecht
165
der Kupferkabel des Stamm- oder Feederkabels mit dem Drop- oder
Verteilnetz verwendete Plattenschächte (PS) im Strassenraum vorge-
sehen. Um die Zugänglichkeit zu den μCANs zu erleichtern, möchte
die Beschwerdeführerin die Plattenschächte bis auf das Fahr-
bahnniveau anheben und dann mit verschraubten, ebenerdigen, recht-
eckigen Schachtdeckeln mit einem Ausmass von 0,85 x 1,86 m ver-
schliessen. Auf diese Weise wäre gewährleistet, dass nicht bei jedem
Zugriff auf die Leitungen oder die dazugehörigen Ausrüstungs-
elemente der Strassenbelag mittels Grabarbeiten aufgebrochen wer-
den muss. Die Schachtdeckel würden ihrerseits von einem Beton-
kranz von 1,4 m oder 1,9 m Breite und 1,9 m oder 2,4 m Länge um-
fasst. Nach dem beschriebenen Umbau wird die gesamte Konstruk-
tion als Kleineinstiegsschacht (KES) bezeichnet. Aufgrund seiner be-
schränkten Höhe (1,1 bis 1,3 m) kann in einem KES nur bei offenem
Schachtdeckel gearbeitet werden; dies im Gegensatz zum begeh-
baren Einstiegsschacht (ES) mit einer lichten Höhe von in der Regel
mindestens 1,8 m, in den durch eine runde Deckelöffnung mit einem
Durchmesser von 60 cm hineingestiegen wird.
In B. hat die Beschwerdeführerin vier sich in der Kantonsstras-
se (...) befindliche Plattenschächte ohne Wissen und Zustimmung
der kantonalen Behörden zu KES umgebaut. Die μCANs sind derzeit
noch nicht installiert. Zwei der umgebauten Schächte sind im Geh-
wegbereich situiert, die anderen beiden im Fahrbahnbereich. Die Ab-
teilung Tiefbau des BVU befürchtet, dass sich die Letzteren nachtei-
lig auf den Verkehrsfluss, die Verkehrssicherheit und die Lärment-
wicklung auswirken. Diese Befürchtung deckt sich mit dem Inhalt
eines Schreibens der Konferenz der Kantonsingenieure an die Anbie-
terinnen von Fernmeldediensten vom 27. Januar 2015, wonach gross-
flächige Abdeckungen von Plattenschächten in Fahrbahnen aus den
genannten Gründen abgelehnt werden.
Infolgedessen hat die Abteilung Tiefbau die Beschwerdeführe-
rin zur Einreichung eines nachträglichen Gesuchs für den Umbau des
bei der Einmündung des C.-Wegs in die D.-Strasse (...) situierten
Schachts aufgefordert und die Erteilung der Bewilligung anschlies-
send verweigert. Als Alternative zum Rückbau sieht die Verfügung
der Abteilung Tiefbau den Umbau zu einem Einstiegsschacht mit
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
166
runder Abdeckung oder die Verlegung des KES in den Gehwegbe-
reich vor.
(...)
2.
2.1.
Geht es um den Bau und Betrieb von Leitungen für Fernmelde-
dienste unter Inanspruchnahme von Boden im Gemeingebrauch (wie
Strassen, Fusswege, öffentliche Plätze, Flüsse, Seen sowie Ufer), be-
urteilen sich die Bewilligungsvoraussetzungen abschliessend nach
Bundesrecht, nämlich nach Art. 35 FMG; für die Anwendung (wider-
sprechenden) kantonalen Rechts, insbesondere der §§ 103 ff. BauG,
bleibt in diesem Fall kein Raum (M
ARKUS
R
ÜSSLI
, Nutzung öffentli-
cher Sachen für die Verlegung von Leitungen, in: ZBl 102/2001,
S. 360; J
ÜRG
R
UF
, Infrastrukturbauten [§ 21], in: P
ETER
M
ÜNCH
/P
E
-
TER
K
ARLEN
/T
HOMAS
G
EISER
[Hrsg.], Handbücher für die Anwalts-
praxis
IV,
Beraten
und
Prozessieren
in
Bausachen,
Basel/Genf/München 1998, S. 918 f.). Die gegenteilige Auffassung
der Vorinstanz, wonach die §§ 103 ff. BauG anstelle von Art. 35
FMG anwendbar seien, wenn eine Strasse (durch die Verlegung von
Leitungen) in einem über den Gemeingebrauch hinausgehenden
Mass beansprucht werde, kann nicht geteilt werden. Die Inanspruch-
nahme von Boden im Gemeingebrauch für den Bau und Betrieb von
Leitungen für Fernmeldedienste stellt regelmässig einen gesteigerten
Gemeingebrauch bzw. sogar eine Sondernutzung dar (vgl. § 47
Abs. 1 lit. a BauV; R
ÜSSLI
, a.a.O., S. 359 f.; H
ANS
R
UDOLF
T
RÜEB
/S
AMUEL
K
LAUS
, Telekommunikationswegerechte in der
Schweiz, in: T
HOMAS
H
OEREN
[Hrsg.], Handbuch Wegerechte und
Telekommunikation, München 2007, S. 403, Rz. 16). Ohne gestei-
gerten Gemeingebrauch / Sondernutzung bestünde keine Bewilli-
gungspflicht. Bei der Bewilligung zur Benutzung von Boden im Ge-
meingebrauch zur Verlegung von Leitungen für Fernmeldedienste
handelt es sich wie bei der Bewilligung zum gesteigerten Gemeinge-
brauch um eine Bewilligung sui generis. Sie dient insbesondere der
Koordination der verschiedenen Aktivitäten auf öffentlichem Grund
und Boden. Im Unterschied zur Bewilligung zum gesteigerten Ge-
meingebrauch und zur Sondernutzungskonzession besteht Anspruch
2017
Bau-,Raumentwicklungs-undUmweltschutzrecht
167
auf Erteilung der Bewilligung. Insoweit deckt sich diese Bewilligung
mit der Polizeierlaubnis, bei der man ebenfalls einen Rechtsanspruch
auf Erteilung besitzt, wenn die gesetzlich festgelegten Voraussetzun-
gen erfüllt sind (R
ÜSSLI
, a.a.O., S. 360).
Die Vorinstanz liegt demnach falsch mit ihrer Auffassung, es
spiele keine Rolle, ob die sog. μCANs Leitungsbestandteil sind oder
nicht. Bilden die μCANs (zusammen mit den Schächten, in die sie
eingebaut werden sollen) Leitungsbestandteil, ist für die Bewilli-
gungsfähigkeit allein Art. 35 FMG massgebend. Dieser besagt, dass
die Eigentümerinnen und Eigentümer von Boden im Gemeinge-
brauch verpflichtet sind, den Anbieterinnen von Fernmeldediensten
die Benutzung dieses Bodens für den Bau und Betrieb von Leitungen
und öffentlichen Sprechstellen zu bewilligen, sofern diese Einrich-
tungen den Gemeingebrauch nicht beeinträchtigen (Abs. 1). Falls
also die von der Beschwerdeführerin zu KES umgebauten Schächte
im Fahrbahnbereich und die darin installierten μCANs den Gemein-
gebrauch einer Strasse nicht beeinträchtigen, müsste die Bewilligung
gemäss Art. 35 Abs. 1 FMG erteilt werden (T
RÜEB
/K
LAUS
, a.a.O.,
S. 404, Rz. 20). Eine Anwendung von § 103 Abs. 2 BauG (Bedürf-
nisnachweis; keine schwerwiegende Nachteile für die Strasse und
den Verkehr) wäre wegen der derogatorischen Kraft des Bundes-
rechts (Art. 49 Abs. 1 BV) ausgeschlossen.
2.2.
Die Vorinstanz erwog, der Wortlaut von Art. 35 Abs. 1 FMG be-
ziehe sich lediglich auf "Leitungen". Geräte und andere zur fernmel-
detechnischen Übertragung von Informationen bestimmte Einrich-
tungen, die zusammen mit den Leitungen unter den Oberbegriff der
"Fernmeldeanlagen" fielen (Art. 3 lit. d FMG), würden darin nicht
erwähnt. Aus dem Wortlaut von Art. 35 Abs. 1 FMG könnte man da-
her schliessen, dass diese Bestimmung nicht für die Installation von
μCANs (in zu KES umgebauten Schächten) gelte. Eine solche Wort-
lautauslegung würde jedoch zu kurz greifen; denn beim Erlass der
Norm sei diese Technik dem Gesetzgeber noch nicht bekannt gewe-
sen. Da der Gesetzeswortlaut den aktuellen technischen Entwicklun-
gen (allenfalls) nicht entspreche, sei im Rahmen einer teleologischen
Auslegung nach dem Sinn und Zweck von Art. 35 Abs. 1 FMG zu
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
168
fragen. In diesem Zusammenhang falle auf, dass bei der
Gesetzesrevision vom 24. März 2006 darauf verzichtet worden sei,
den Geltungsbereich von Art. 35 Abs. 1 FMG explizit auf den da-
mals neu eingeführten Begriff "Kabelkanalisationen" (Art. 3 lit. e
ter
FMG) auszudehnen. Es könne jedoch ausgeschlossen werden, dass
der Gesetzgeber nur Leitungen, nicht aber unterirdische Rohre für
den Einzug von Leitungen (Kabelkanalisationen) von der Regelung
in Art. 35 Abs. 1 FMG habe profitieren lassen wollen. Der Gesetzge-
ber habe wohl bewusst darauf verzichtet, in Art. 35 Abs. 1 FMG ne-
ben den Leitungen auch alle anderen Einrichtungen zu erwähnen,
welche für den Bau und Betrieb von Leitungen benötigt würden, weil
er es als selbstverständlich erachtet habe, dass dafür ebenfalls Boden
im Gemeingebrauch in Anspruch genommen werden dürfe. Niemand
zweifle beispielsweise daran, dass die in Art. 35 Abs. 1 FMG eben-
falls nicht explizit genannten Zugangsschächte, die für den Bau und
Betrieb von Leitungen benötigt würden, in öffentlichen Strassen in-
stalliert werden dürften, sofern sie den Gemeingebrauch nicht beein-
trächtigten. Ob in öffentlichen Strassen bestehende Plattenschächte
in KES mit Flächenabdeckung umgebaut und neue Zugangsschächte
mit grossflächiger Abdeckung auf Fahrbahnniveau erstellt werden
dürften, und ob die Installation von μCANs in solchen Schächten be-
willigungsfähig sei, hänge also davon ab, ob diese Massnahmen für
den Bau und Betrieb von Leitungen erforderlich seien und den Ge-
meingebrauch nicht beeinträchtigten.
In der Folge äusserte sich die Vorinstanz nicht eindeutig zur
Frage, ob μCANs aus ihrer Sicht von Art. 35 Abs. 1 FMG erfasste
Leitungsbestandteile sind. Zum einen stellte sie fest, dass μCANs zu-
sammen mit den dafür erforderlichen Zugangsschächten grundsätz-
lich als technisch notwendige und damit von der Regelung in Art. 35
Abs. 1 FMG profitierende Leitungsbestandteile zu betrachten seien.
Relativierend fügte sie jedoch an, dass am Ende von vieladrigen
Sammelleitungen, wo nur noch einzelne Kupferkabel zu den einzel-
nen Abonnenten geführt würden, eher von Quartierverteilgeräten
auszugehen sei, deren Platzierung am Strassenrand oder auch ausser-
halb der Strassenparzelle zumutbar sei.
2017
Bau-,Raumentwicklungs-undUmweltschutzrecht
169
2.3.
2.3.1.
Diese Differenzierung ist weder hinreichend klar noch vermag
sie zu überzeugen. Entweder man gesteht den μCANs als technische
Verbindungselemente zwischen Glasfaserkabeln und Kupferleitun-
gen den Charakter als Leitungsbestandteil zu und wendet konsequent
Art. 35 Abs. 1 FMG mit den darin formulierten Bewilligungsvoraus-
setzungen an, oder man behandelt die μCANs nicht als Leitungsbe-
standteil im Sinne von Art. 35 Abs. 1 FMG und bewilligt sie nach
Massgabe des kantonalen Rechts. In den Erwägungen 2.4 und 2.5
des angefochtenen Entscheids wird zum Teil nicht sauber zwischen
der Frage nach dem sachlichen Geltungsbereich von Art. 35 FMG
und den dort statuierten Bewilligungsvoraussetzungen getrennt.
2.3.2.
Mit der Beschwerdeführerin ist davon auszugehen, dass der Be-
griff der "Leitung" im Sinne von Art. 35 FMG in einem weiten Sinne
zu verstehen ist, mithin nicht eng ausgelegt werden darf. Mit der Re-
gelung in Art. 35 FMG wird nämlich bezweckt, Behinderungen des
Netzausbaus durch kantonale und kommunale Partikularitäten zu
verhindern. Der Weiterausbau des Telekommunikationsnetzes wird
in der Botschaft des Bundesrates zum revidierten Fernmeldegesetz
vom 10. Juni 1996 (in: BBl 1996 III, S. 1405 ff.) als im Gesamtinte-
resse liegendes Ziel definiert, das weiter vorangetrieben werden soll
(S. 1438). Es liegt auf der Hand, dass der Netzausbau nicht - wie be-
absichtigt - vorangetrieben werden kann, wenn nur die Leitungen als
solche, nicht aber dazugehörige Einrichtungen/Geräte wie Wartungs-
schächte oder Verbindungselemente zwischen Glasfaser- und Kup-
ferleitungen unter den Leitungsbegriff des Art. 35 Abs. 1 FMG fal-
len. Das würde zu dem von der Beschwerdeführerin auf S. 10 ihrer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde skizzierten unhaltbaren Zustand füh-
ren, dass die Kabel selber im Boden im Gemeingebrauch verlegt
werden dürfen, während die für die Verbindung von Glasfaser- und
Kupferkabeln unabdingbaren μCANs unter Umständen ausserhalb
des Bodens im Gemeingebrauch installiert werden müssten. Der Lei-
tungsbau würde auf diese Weise erheblich erschwert, wenn nicht gar
verunmöglicht, was dem Sinn und Zweck von Art. 35 FMG eindeutig
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
170
zuwiderläuft. Demnach ist auf einen funktionalen Leitungsbegriff ab-
zustellen, der all diejenigen Anlageteile umfasst, die für die Über-
mittlung der Signale auf dem Glasfaser- und Kupferkabelnetz der
Fernmeldedienstanbieterinnen benötigt werden.
Entsprechend schrieb der Bundesrat in einer Stellungnahme
vom 14. Juni 2002 auf eine parlamentarische Interpellation von Na-
tionalrat Yves Christen vom 22. März 2002, der Ausdruck "Leitun-
gen" im Sinne von Art. 35 FMG sei grosszügig zu interpretieren und
umfasse alles, was in technischer Hinsicht einen unentbehrlichen, in-
tegrierenden Bestandteil einer Leitung darstelle, insbesondere ein-
schliesslich der Kabelschächte, der Entwässerungskanäle und der
Lüftungsanlagen (Interpellation Nr. 02.3162 vom 22. März 2002,
einsehbar auf www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/ge-
schaeft?/AffairID= 20023162). Auch in der Lehre wird ein gleicher-
massen weit zu verstehender Leitungsbegriff postuliert (P
IERRE
-
Y
VES
G
UNTER
, Les infrastructures, in: R
OLF
H.
W
EBER
[Hrsg.],
Neues Fernmelderecht - Erste Orientierung, Zürich 1998, S. 51 ff.,
S. 56 f.; O
TTO
G
ERBER
, Die Benützung öffentlichen Bodens für Tele-
grafen und Telefonlinien, in: Technisches Bulletin PTT, 1952,
S. 252 ff., S. 252; H
ANS
R
UDOLF
T
RÜEB
, Der Bau von Fernmelde-
anlagen, in: Schweizerische Baurechtstagung [BRT] 2001, S. 105 f.).
2.3.3.
In Anbetracht dessen, dass es für die Umwandlung der opti-
schen Signale aus den Glasfaserkabeln in elektromagnetische Signale
für die Kupferleitungen zwingend Transformatoren bedarf, steht un-
zweifelhaft fest, dass die von der Beschwerdeführerin hierfür ver-
wendeten μCANs nach dem oben Gesagten Bestandteil der Leitun-
gen im Sinne von Art. 35 FMG bilden. Dasselbe gilt für die Zugangs-
schächte, in welche die μCANs platziert werden müssen, und zwar
unabhängig davon, welche Bauart diese Schächte aufweisen. Die
Bauart hat bestenfalls Einfluss auf die Bewilligungsfähigkeit, die -
wie bereits dargelegt - ausschliesslich nach der Fernmeldegesetzge-
bung zu beurteilen ist. | 3,800 | 2,944 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-30_2017-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-30.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-30.pdf | AGVE_2017_30 | null | nan |
84acadb1-5217-5e01-8c2a-1ab83eb827af | 1 | 412 | 870,954 | 1,025,740,800,000 | 2,002 | de | 2002
Schulrecht
137
[...]
40
Anspruch auf Schulgeld für den Besuch einer Privatschule.
-
Weder Verfassung noch Gesetz begründen einen Anspruch eines
hochbegabten Kindes auf Leistung von Schulgeldern für den Besuch
einer Privatschule.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 2. Juli 2002 in Sachen
D. gegen Einwohnergemeinde N.
Aus den Erwägungen
2. a) Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Internationalen Paktes über
wirtschaftliche,
soziale
und
kulturelle
Rechte
(UNO-Pakt I;
SR 0.103.1) anerkennen die Vertragsstaaten das Recht eines jeden
2002
Verwaltungsgericht
138
auf Bildung. Im Hinblick auf die volle Verwirklichung dieses Rechts
muss der Grundschulunterricht für jedermann Pflicht und allen un-
entgeltlich zugänglich sein (Abs. 2 lit. a UNO-Pakt I). Das interna-
tionale
Übereinkommen
über
die
Rechte
des
Kindes
vom
20. November 1989 (SR 0.107) anerkennt in Art. 28 Abs. 1 das Recht
des Kindes auf Bildung und verpflichtet die Vertragsstaaten, zur
Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit den Besuch
der Grundschule zur Pflicht und unentgeltlich zu machen (Art. 28
Abs. 1 lit. a des Abkommens). In der Bundesverfassung ist der
Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulun-
terricht in Art. 19 BV als Grundrecht gewährleistet. Dieses Grund-
recht ist, wie sich aus dem Zusammenhang und der Entstehungsge-
schichte ergibt, im Rahmen der bundesstaatlichen Kompetenzen ge-
währleistet. Inhaltlich entspricht diese Bestimmung Art. 27 Abs. 2
aBV und war im bundesrätlichen Verfassungsentwurf in die Bestim-
mungen über das Schulwesen integriert. In den parlamentarischen
Beratungen wurde der Anspruch auf Grundschulunterricht in den
Grundrechtskatalog aufgenommen (vgl. Botschaft des Bundesrates
über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996 [Bot-
schaft], S. 277). Die Bundesverfassung 1999 hat an der Schulhoheit
der Kantone nichts geändert (Art. 62 Abs. 1 BV) und verpflichtet die
Kantone, für einen ausreichenden Grundschulunterricht zu sorgen,
der allen Kindern offen steht. Der (kantonale) Grundschulunterricht
ist obligatorisch und untersteht staatlicher Leitung oder Aufsicht. An
öffentlichen Schulen ist er unentgeltlich (Art. 62 Abs. 2 BV; Bot-
schaft, S. 277 f.). Der nach der Verfassung und den erwähnten inter-
nationalen Verträgen bestehende Anspruch der Kinder auf eine obli-
gatorische, genügende und unentgeltliche Grundausbildung besteht
daher gegenüber den Kantonen. Der Anspruch kann mit Inkrafttreten
der neuen Bundesverfassung (1. Januar 2000) vor Bundesgericht
geltend gemacht werden.
b) Der Kanton Aargau schreibt in § 34 Abs. 1 KV vor, dass der
Unterricht an öffentlichen Schulen und Bildungsanstalten für Kan-
tonseinwohner unentgeltlich ist; dies gilt für alle öffentlichen Schu-
len (AGVE 1991, S. 160). Gemäss § 3 Abs. 3 SchulG (in der Fas-
sung vom 9. März 1998, in Kraft seit 1. August 1999), ist der Unter-
2002
Schulrecht
139
richt an den öffentlichen Volks- und Mittelschulen für Kinder und
Jugendliche mit Aufenthalt im Kanton unentgeltlich.
Die Kantonsverfassung hat im Weiteren das allgemeine Staats-
bzw. Sozialziel, jedem die Bildung und Weiterbildung nach seinen
Fähigkeiten und Neigungen zu ermöglichen, in einer Gewährlei-
stungsnorm für das Kind konkretisiert (§ 25 Abs. 2 lit. a KV). Ge-
mäss § 28 Abs. 1 KV hat jedes Kind Anspruch auf eine seinen Fähig-
keiten angemessene Ausbildung. Der Anspruch richtet sich an den
Gesetzgeber und die Vollzugsorgane und verschafft dem Kind keine
klagbare Grundrechtsposition. (Kurt Eichenberger, Verfassung des
Kantons Aargau, Textausgabe mit Kommentar, Aarau/Frankfurt
a.M./Salzburg 1986, § 28 N 1). In seinem Kerngehalt entspricht diese
Bestimmung dem Sozialziel in Art. 41 lit. f BV: Bund und Kantone
setzen sich dafür ein, dass sich Kinder und Jugendliche sowie Perso-
nen im erwerbsfähigen Alter nach ihren Fähigkeiten bilden, aus- und
weiterbilden können.
c) Das Schulgesetz in der Fassung, welche im Zeitpunkt des
vorliegenden Versetzungsentscheides der Schulpflege N. galt bzw.
anwendbar war, enthielt noch keine Bestimmungen, welche die Be-
sonderheiten der Schüler mit besonderen Begabungen ausdrücklich
regelte. Die allgemeine Bestimmung in § 10 SchulG verpflichtet die
Volksschule, alles zu unternehmen, damit ein Kind gesund heran-
wachsen kann (Satz 1). Sie fördert jeden einzelnen Schüler und legt
dabei gleiches Gewicht auf die Entwicklung seines Geistes, seines
Gemütes und seiner körperlichen Fähigkeiten (Satz 2). Sie vermittelt
dem Schüler die Grundausbildung (Satz 3). Daraus ergibt sich aller-
dings kein Anspruch auf individuellen Unterricht, sondern § 10
SchulG stellt einzig entsprechende Anforderungen an den Regelun-
terricht, bzw. legt programmatisch fest, welchen Anforderungen die
Volksschule zu genügen hat.
d) Der ausreichende Grundschulunterricht in der Bundesverfas-
sung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dessen Konkretisierung
den Kantonen ein weites Ermessen zusteht (vgl. Marco Borghi,
Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung, Stand Juni
1988, Zürich/Basel/Bern, Art. 27 N 31 ff.). Die Kantonsverfassung
definiert den Volksschulunterricht und die elementare (Schul-)Bil-
2002
Verwaltungsgericht
140
dung ebenfalls nicht, sondern überlässt die Festlegung und Um-
schreibung dem Gesetzgeber (Eichenberger, a.a.O., § 28 N 6). Der
kantonale Gesetzgeber muss die Ziele, die Organisation und Lern-
methoden der Schule sowie die Ausbildung der Lehrer definieren.
Verfassungsrechtlich hat er einen Mindeststandard einzuhalten, wel-
cher die Kinder und Jugendlichen befähigt, die Anforderungen eines
modernen Erwachsenen-Alltags selbständig zu meistern, einen Beruf
zu erlernen und auszuüben sowie am demokratischen Gemeinwesen
zu partizipieren (Borghi, a.a.O., Art. 27 N 33; Andreas Auer/Giorgio
Malinveri/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Vol. II: Les
droits fondamentaux, Bern 2000, Rz. 1519; Regina Kiener, Bildung,
Forschung und Kultur, in: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg
Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001,
§ 57 Rz. 7a mit Hinweisen). Bei der Auslegung dieses unbestimmten
Rechtsbegriffes sind - insbesondere im Hinblick auf die Hochbega-
bung - ein Wandel der Anschauungen und die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Bedingungen zu berücksichtigen (Borghi, a.a.O.,
Art. 27 N 31; VPB 59/1995 Nr. 58).
In jüngster Zeit ist in der Öffentlichkeit das Bewusstsein ge-
wachsen, dass hochbegabte Kinder der gezielten Förderung bedür-
fen. Seitens der Schulbehörden wird zunehmend versucht, in diesem
Zusammenhang gezielte pädagogische und organisatorische Mass-
nahmen zu treffen. Die per 1. Oktober 2000 in Kraft getretene neue
Norm in § 15 Abs. 4 SchulG sieht ausdrücklich vor, dass Schüler mit
besonderen Begabungen, die durch den ordentlichen Unterricht nicht
genügend gefördert werden können und für die das Überspringen
von Klassen nicht angezeigt ist, in der Regelklasse mit geeigneter
Unterstützung gefördert werden können. Der Regierungsrat hat am
28. Juni 2000 die Verordnung über die Förderung von Kindern und
Jugendlichen
mit
besonderen
schulischen
Bedürfnissen
(SAR 421.331) erlassen und darin auch Bestimmungen zur Förde-
rung Hochbegabter eingeschlossen. Gemäss § 20 Abs. 1 dieser Ver-
ordnung ist dafür zu sorgen, dass die Begabungsförderung in erster
Linie innerhalb der bestehenden Schulorganisation und mit den zur
Verfügung stehenden Mitteln vor Ort sichergestellt ist. Die Schul-
pflege kann hochbegabten Schülern den Besuch von Lektionen in
2002
Schulrecht
141
einer höheren Klasse, in einem andern Schultyp oder Gruppen- und
Einzelangebote in Ergänzung zur bestehenden Schulorganisation
einrichten. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es sich
beim Überspringen von Klassen nicht um eine Förderungsmass-
nahme handelt, sondern dass dadurch vielmehr versucht wird, bei
Schülerinnen und Schülern mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten
psychische Beeinträchtigungen zu begrenzen oder zu verhindern, die
durch anhaltende Unterforderung entstehen können. Der Anspruch
auf ausreichenden Grundschulunterricht ist indessen auch nach den
neuen Bestimmungen nicht gleichbedeutend mit dem Bedürfnis auf
die optimalste bzw. geeignetste Schulung des einzelnen Kindes. Bis
zu einem gewissen Grad müssen im Sinne der Organisation und des
vernünftig Machbaren auch Defizite hingenommen werden, die sich
zum Beispiel durch eine gewisse Klassengrösse, deren Zusammen-
setzung oder durch andere Gründe ergeben (AGVE 1998, S. 604).
Die Volksschule hat im Rahmen ihres Auftrags mit Hilfe von interes-
sens- und begabungsgeleiteter Individualisierung und Differenzie-
rung des Unterrichts und der schulischen Angebote den individuellen
Lern- und Entwicklungsbedürfnissen der Kinder gebührend Rech-
nung zu tragen und gegebenenfalls Sondermassnahmen zu treffen
(§ 28 Abs. 1 KV). Sind solche erforderlich, bedeutet dies jedoch
nicht, dass bei der Prüfung verschiedener Varianten nur eine gewählt
werden darf, sofern mehrere der in Frage stehenden Möglichkeiten
tauglich und für das betreffende Kind zumutbar sind. Insbesondere
ist das Gemeinwesen daher auch nach diesen Bestimmungen nicht
zur Kostenübernahme verpflichtet, wenn der Besuch einer Privat-
schule nur eine von verschiedenen Möglichkeiten darstellt, welche
den Begabungen im Einzelfall gerecht wird. Es können mit anderen
Worten keine Kosten für den Besuch einer Privatschule übernommen
werden, wenn sich die besonderen Bedürfnisse eines hochbegabten
Kindes durch gezielte Massnahmen im Rahmen des Besuchs der
öffentlichen Schule befriedigen lassen (vgl. auch Urteil der Schulre-
kurskommission des Kantons Zürich vom 14. August 2000, in: ZBl,
102/2001, S. 498 ff.; bestätigt durch das Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich am 22. November 2000). | 2,089 | 1,783 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-40_2002-07-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-40.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-40.pdf | AGVE_2002_40 | null | nan |
84d17254-fd94-5be7-b77d-6ff0a409f655 | 1 | 412 | 870,430 | 954,720,000,000 | 2,000 | de | 2002
Verwaltungsgericht
410
96
Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts.
-
Keine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts für Beschwerden gegen
Beschwerdeentscheide des Verwaltungsrates der AGVA.
-
Zur Beurteilung von Schadenersatzansprüchen gegen die AGVA ge-
stützt auf das GebVG ist das Verwaltungsgericht im Klageverfahren
zuständig.
-
Der Verwaltungsrat der AGVA kann im Rechtsmittelverfahren nach
§ 14 Abs. 3 GebVG keine rechtskraft- und vollstreckungsfähigen
Verfügungen über vermögensrechtliche Streitigkeiten erlassen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 12. April 2000 in Sa-
chen H. gegen Entscheid der Aargauischen Gebäudeversicherungsanstalt und
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 6. Dezember 2002 in
Sachen H. gegen die Aargauische Gebäudeversicherungsanstalt.
Aus den Erwägungen
1. a) Nach Auffassung des Beschwerdeführers folgt die sachli-
che Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts aus § 52 Ziff. 20 VRPG,
da es sich beim gegenüber der AGVA geltend gemachten Schadener-
satzanspruch um einen zivilrechtlichen Anspruch nach Art. 6 EMRK
handle. Die AGVA vertritt demgegenüber die Ansicht, der Entscheid
des Verwaltungsrats sei kantonal letztinstanzlich, ein kantonales
Rechtsmittel somit nicht gegeben.
b) Das Verwaltungsgericht beurteilt Beschwerden gegen letztin-
stanzliche Verfügungen und Entscheide von Verwaltungsbehörden
über Anordnungen im Einzelfall, bei denen Art. 6 Ziff. 1 EMRK
einen Anspruch auf richterliche Überprüfung gewährt und weder im
Kanton noch im Bund eine konventionsgemässe richterliche Prüfung
besteht (§ 52 Ziff. 20 VRPG). Geht es nun aber wie im vorliegenden
Falle um finanzielle Ansprüche, ist die Frage zu prüfen, ob nicht die
verwaltungsgerichtliche Klage nach § 60 VRPG zu ergreifen wäre,
bevor aus § 52 Ziff. 20 VRPG eine Ersatzzuständigkeit abgeleitet
werden kann. Das Verwaltungsgericht urteilt gemäss § 60 Ziff. 3
VRPG als einzige kantonale Instanz u.a. über vermögensrechtliche
2002
Verwaltungsrechtspflege
411
Streitigkeiten, an denen der Kanton, eine Gemeinde oder eine öffent-
lich-rechtliche Körperschaft oder Anstalt des kantonalen oder kom-
munalen Rechts beteiligt ist, sofern nicht die Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde gegeben oder das Zivilgericht zuständig ist.
Zum Verhältnis der beiden Subsidiaritäten der Verwaltungsge-
richtsbeschwerde nach § 52 Ziff. 20 VRPG und der verwaltungsge-
richtlichen Klage nach § 60 Ziff. 3 VRPG hat das Verwaltungsgericht
in einem kürzlich ergangenen Entscheid erwogen, mit der Ergänzung
des Kompetenzkatalogs von § 52 VRPG durch eine Ziff. 20 gemäss
Dekret vom 24. September 1996 (Inkraftsetzung am 15. Februar
1997) habe der Dekretsgeber ausschliesslich sicherstellen wollen,
dass das Ergreifen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde möglich sei,
wenn die EMRK ein Rechtsmittel an ein Gericht vorschreibe und
dies auf Grund der bestehenden Normen nicht vorgesehen sei (vgl.
dazu und zum Folgenden: AGVE 1999, S. 375 ff.). § 52 Ziff. 20
VRPG sei demzufolge im Sinne einer
absoluten
Subsidiarität auch
subsidiär gegenüber der in § 60 Ziff. 3 VRPG normierten Subsidia-
rität der verwaltungsgerichtlichen Klage. Dies bedeute, dass ein Be-
schwerdeverfahren mit Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ge-
stützt auf § 52 Ziff. 20 VRPG ausser Betracht falle, wenn die Vor-
aussetzungen einer verwaltungsgerichtlichen Klage gemäss § 60
Ziff. 3 VRPG erfüllt seien. Ein EMRK-konformes Gerichtsverfahren
sei mit der verwaltungsgerichtlichen Klage sichergestellt.
c) Nach dem Gesagten ist daher vorab zu prüfen, ob die Voraus-
setzungen der verwaltungsgerichtlichen Klage gemäss § 60 Ziff. 3
VRPG erfüllt sind.
aa) Bei der AGVA handelt es sich um eine juristische Person
des kantonalen öffentlichen Rechts; sie ist ein selbständiges staatli-
ches Unternehmen zur Versicherung der Gebäude im Kantonsgebiet
(§ 1 Abs. 1 GebVG [in der Fassung vom 18. Juni 1996]). Als selb-
ständige Anstalt des öffentlichen Rechts fällt sie unter § 60 Ziff. 3
VRPG.
bb) In den Anwendungsbereich von § 60 Ziff. 3 VRPG fallen
ausschliesslich vermögensrechtliche Streitigkeiten. Vermögensrecht-
licher Natur sind Klagen über behauptete Rechte, die zum Vermögen
gehören; die in der Klage anbegehrte Leistung muss sich dabei un-
2002
Verwaltungsgericht
412
mittelbar auf das Vermögen des Klägers auswirken (Michael Merker,
Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem aar-
gauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar zu
den §§ 38-72 VRPG, Zürich 1998, § 60 N 31). Gemäss § 2 lit. b
GebVG ersetzt die AGVA an den versicherten Gebäuden entstandene
Schäden, soweit diese nach Massgabe der in der gleichen Bestim-
mung enthaltenen Aufzählung ersatzpflichtig sind. Beim Schadener-
satzanspruch des Versicherten gestützt auf das GebVG handelt es
sich um einen finanziellen Anspruch. Vorliegend geht es zwar (noch)
nicht um die Höhe einer Entschädigungsleistung, sondern vorerst um
die Klärung der Rechtsfrage, ob überhaupt ein versichertes Ereignis
vorliegt bzw. ob ein Entschädigungsanspruch des Beschwerdeführers
gegen die Anstalt besteht. Dass es sich dabei um eine vermögens-
rechtliche Streitigkeit im Sinne von § 60 Ziff. 3 VRPG handelt, kann
indessen nicht bezweifelt werden. Der Umstand, dass die Schaden-
höhe derzeit noch nicht genau bezifferbar ist, ändert am vermögens-
rechtlichen Charakter des geltend gemachten Anspruchs ebenfalls
nichts und schliesst die verwaltungsgerichtliche Klage nicht aus (vgl.
auch Art. 42 Abs. 2 OR).
cc) Die verwaltungsgerichtliche Klage in vermögensrechtlichen
Streitigkeiten ist nur zulässig, sofern nicht die Verwaltungsgerichts-
beschwerde gegeben ist; dies gilt aber wie dargelegt nicht im Ver-
hältnis zur absolut subsidiären Zuständigkeit gemäss § 52 Ziff. 20
VRPG (siehe vorne, Erw. b). Eine andere sachliche Zuständigkeit des
Verwaltungsgerichts als Beschwerdeinstanz ist vorliegend nicht ge-
geben; weder der Zuständigkeitskatalog des § 52 VRPG noch ein
Sondererlass (§ 51 Abs. 1 und 2 VRPG) kennen eine entsprechende
Bestimmung. Insbesondere sieht auch das GebVG die Beschwerde
an das Verwaltungsgericht nicht vor. Auch unter diesem Gesichts-
punkt ist die verwaltungsgerichtliche Klage somit zulässig. Daran
vermag im Übrigen auch das Urteil des Bundesgerichts vom
10. März 1999 in Sachen M. (2P.341/1997), auf das sich die AGVA
beruft, nichts zu ändern. Das Bundesgericht stellt darin zwar fest,
beim angefochtenen Entscheid des Verwaltungsrats der AGVA
handle es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid, wes-
halb die staatsrechtliche Beschwerde zulässig sei; indessen betraf der
2002
Verwaltungsrechtspflege
413
fragliche Entscheid der AGVA die Nichtzusprechung einer "Härte-
fallsubvention" für den Bau einer Brandmauer, mithin die Ausrich-
tung von Staatsbeiträgen, für die § 60 Ziff. 3 Satz 2 VRPG die ver-
waltungsrechtliche Klage explizit ausschliesst.
d) Als Zwischenergebnis ist demnach festzuhalten, dass die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde im vorliegenden Falle nicht gegeben
ist, was zu einem Nichteintretensentscheid führt.
2. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Verwaltungsrat der
AGVA habe eine Verfügung erlassen, zu der er kompetent gewesen
sei und die es nun aufzuheben gelte. Dies sei im verwaltungsgericht-
lichen Klageverfahren, das zur ursprünglichen Verwaltungsgerichts-
barkeit gehöre, nicht möglich; dieses komme nur zum Zug, wenn der
betroffenen Verwaltungsbehörde im betreffenden Sachbereich keine
Verfügungskompetenz zukomme.
Gemäss § 14 Abs. 3 GebVG können Verfügungen des Direktors
der AGVA (bzw. der an seiner Stelle handelnden Abteilungsleiter)
mit Beschwerde beim Verwaltungsrat der AGVA angefochten werden
(vgl. auch die §§ 3 und 8 der Verordnung über die Organisation des
Aargauischen Versicherungsamtes vom 15. Oktober 1997). Dieser
anstaltsinterne Rechtsmittelweg macht im Rahmen der Führungs-
aufgabe, welche der Verwaltungsrat wahrzunehmen hat, durchaus
Sinn. Richtigerweise ist aber dieser Instanzenzug in vermögens-
rechtlichen Streitigkeiten nicht mit einer rechtskraft- und voll-
streckungsfähigen Verfügung abzuschliessen, sondern es hat die Ab-
lehnung des Anspruchs durch die AGVA zu erfolgen, zusammen mit
dem Hinweis, dass der Gebäudeeigentümer verwaltungsgerichtliche
Klage erheben könne (so wie es im umgekehrten Fall, nämlich bei
Abzügen von der Versicherungsentschädigung, in § 49 GebVG aus-
drücklich vorgesehen ist, wobei dort die AGVA klagen muss). § 14
Abs. 3 GebVG ist einer solchen Auslegung durchaus zugänglich.
Wird nun - wie im vorliegenden Falle - fälschlicherweise eine
eigentliche Verfügung erlassen (wie dies das AGVA selber annimmt),
so kann dies die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts als Klagein-
stanz nicht ausschliessen (vgl. Merker, a.a.O., § 60 N 36; AGVE
1979, S. 272 ff.). Anderseits muss dem Beschwerdeführer ein ausrei-
chendes Rechtsschutzinteresse an der gerichtlichen Feststellung zu-
2002
Verwaltungsgericht
414
gebilligt werden, dass der von ihm angefochtene Entscheid der
AGVA nicht vollstreckungsfähig ist. Analog wird - aus praktischen
Gründen - bei behauptungsweise nichtigen Verfügungen vorgegan-
gen, obwohl es dort bei bejahter Nichtigkeit streng logisch an einem
Anfechtungsobjekt fehlt (vgl. BGE 115 Ia 4; AGVE 1981, S. 147;
VGE III/76 vom 4. Juni 1999 [BE.97.00279] in Sachen S. AG, S. 4;
VGE II/100 vom 26. Oktober 1999 [BE.99.00029] in Sachen S., S. 9
f.; Merker, a.a.O., § 38 N 14). Insoweit ist auf die Beschwerde ein-
zutreten und eine entsprechende Feststellung in das Dispositiv auf-
zunehmen. | 2,152 | 1,699 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-96_2000-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-96.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-96.pdf | AGVE_2002_96 | null | nan |
84fd790f-4363-5070-a551-cd3f7ecbb3ea | 1 | 412 | 871,307 | 1,230,768,000,000 | 2,009 | de | 2009
Strassenverkehrsrecht
95
I. Strassenverkehrsrecht
22
Entzug des Führerausweises; vorsorglicher Sicherungsentzug
-
Kostenregelung gemäss Verwaltungsrechtspflegegesetz vom 4. De-
zember 2007 bei Gegenstandslosigkeit eines Verfahrens betreffend
vorsorglicher Sicherungsentzug des Führerausweises.
-
Es ist sachgerecht darauf abzustellen, wer das Verwaltungs- und Be-
schwerdeverfahren veranlasst hat (summarische Prüfung), und in
welchem Stadium (vor welcher Instanz) das Verfahren gegenstands-
los geworden ist, wobei sich für das Verfahren vor dieser Instanz eine
pauschale Kostenaufteilung aufdrängt, während der Kostenentscheid
der Vorinstanz nicht zu korrigieren ist (Bestätigung der Recht-
sprechung, vgl. AGVE 1998, S. 160 ff.).
vgl. AGVE 2009
52
280 | 175 | 132 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-22_2009 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-22.pdf | AGVE_2009_22 | null | nan |
85144b32-2971-540f-b47b-675f246cf811 | 1 | 412 | 870,462 | 1,070,409,600,000 | 2,003 | de | 2004
Verwaltungsgericht
164
45 Projektänderung während des Beschwerdeverfahrens. Ausstand (§ 5
VRPG).
- Wesentliche nachträgliche Änderungen am Projekt eines regionalen
Sport-, Freizeit- und Begegnungszentrums, die eine nochmalige
öffentliche Auflage erfordern (Erw. 1/b).
- Grundsätze der Ausstandspflicht (Erw. 2/b). Rechtsanwendung: Feh-
len der Voraussetzung, dass die Mitwirkung in einer "andern In-
stanz" (§ 2 lit. c ZPO i.V.m. § 5 Abs. 1 VRPG) bzw. "untern Instanz"
(§ 5 Abs. 2 VRPG) erfolgt ist (Erw. 2/c). Fehlerhafte Mitwirkung von
Gemeinderäten, welche Exekutivfunktionen in dem als Bauherr auf-
tretenden Gemeindeverband ausüben, am betreffenden Baubewilli-
gungsentscheid (Erw. 2/d).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 15. Dezember 2003 in
Sachen B. und Mitb. gegen Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
1. a) aa) Das geplante regionale Sport-, Freizeit- und Begeg-
nungszentrum "Burkertsmatt" umfasst im Wesentlichen
· eine Dreifach-Sporthalle mit einem Haupttrakt (64.9 m x
53.2 m x 6.7 m; Turnhalle, Geräteräume, Mannschaftsgarde-
roben, Leiterzimmer, Toilettenanlagen und Technikbereich
mit Holzschnitzelheizung im Erdgeschoss, Zuschaueranla-
gen, Eingangshalle/Foyer, Büro/Regie und Kü-
che/Office/Vorräte im Obergeschoss) und einem einge-
schossigen Nebentrakt (41.0 m x 9.0 m x 4.5 m; Veranstal-
tungsraum, Jugendkafi mit Küche und WC, Büro/Sitzung,
Basteln/Werkstatt und Stauraum),
· im Aussenbereich eine Leichtathletik-Anlage mit Rasenfeld
(100 m x 64 m) und sechs 400 m-Rundbahnen, ein weiteres
Rasenfeld (100 m x 64 m), zwei Rasen-Trainingsfelder (je
55 m x 40 m), ein Beachvolleyball-Feld (28 m x 24 m), eine
Halfpipe (9 m x 6 m), einen Asphaltplatz für Streetball (40 m
x 20 m), einen Kinderspielplatz mit verschiedenen Spiel-
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
165
geräten (26.0 m x 17.0 m), eine Parkierungsanlage mit 99
PW-Abstellplätzen und zwei Bus-Abstellplätzen, einen ge-
deckten Velounterstand sowie insgesamt sechs 18 m und
neun 16 m hohe Beleuchtungsmasten.
Die approximativen Baukosten werden im Baugesuch vom
29. Juni 2001 mit 20 Millionen Franken angegeben, der umbaute
Raum mit 46'300 m
3
.
bb) Der Pflanzerbach durchfliesst auf dem Weg von seiner
Quelle am "Hasenberg" bis zur Mündung in die Reuss das Grenzge-
biet zwischen den Gemeinden Widen und Rudolfstetten-Friedlisberg
und dort u.a. auch die Bauparzelle Nr. 143, in welchem Bereich er
seit der Güterregulierung von 1930 eingedolt ist. Das im Zusammen-
hang mit dem Bauvorhaben des regionalen Sport-, Freizeit- und Be-
gegnungszentrums "Burkertsmatt" entstandene Bauprojekt sieht nun
vor, den Bach zwischen der Unterquerung der Hasenbergstrasse
(Kantonsstrasse K 412) und dem Areal des regionalen Altersheims
auf einer Gesamtlänge von ca. 600 m neu zu führen und gleichzeitig
zu öffnen. Dabei sind vier Durchlässe (Erlenmattweg, Zufahrten
Sportanlage Nord und Süd sowie Kirchweg) nötig. Im Zuge der Of-
fenlegung soll auch die bestehende Bachleitung saniert werden.
b) aa) Anlässlich der Augenscheinsverhandlung des regie-
rungsrätlichen Rechtsdiensts vom 3. Juli 2002 stellte sich heraus,
dass bezüglich der Aussenanlagen der öffentlich aufgelegte Situati-
onsplan 1:500 vom 29. Juni 2001 mit dem bewilligten Situationsplan
1:500 vom 12. Dezember 2001 (letztes Revisionsdatum) nur teil-
weise übereinstimmt. Änderungen sind hinsichtlich der folgenden
Anlagen vorgenommen worden:
· Halfpipe (Verlegung vom Standort nördlich der Leichtathle-
tik-Anlage neben die Parkierungsanlage, Verkleinerung von
127.8 auf 54 m
2
);
· Beachvolleyball (Verschiebung um rund 20 m in südwestli-
cher Richtung, Anpassung an internationale Standards mit
Vergrösserung von 442 auf 672 m
2
);
· Kinderspielplatz (Verlegung vom Standort südöstlich der
Dreifach-Sporthalle nordwestlich davon);
2004
Verwaltungsgericht
166
· Velounterstand (Verlegung von der Nordwestfassade der
Dreifach-Sporthalle neben die Parkierungsanlage);
· Retentionsbecken südwestlich der Leichtathletik-Anlage
(neu);
· Parkierungsanlage (Erhöhung von 97 auf 99 PW-Abstell-
plätze, leicht geänderte Anordnung und teilweise Verschie-
bung in nordwestlicher Richtung).
Der Regierungsrat hat unter Hinweis darauf, dass sich die Di-
mensionen der Anlage und ihre Nutzungsart gleich geblieben seien,
die Änderung als geringfügig und eine erneute öffentliche Auflage
demzufolge als nicht erforderlich betrachtet. Die Beschwerdeführer I
sind demgegenüber der Meinung, dass die Planänderungen nach
Massgabe von § 59 Abs. 1 BauG zwingend einer Baubewilligung
bedürften, weshalb die öffentliche Auflage wiederholt werden müsse;
(...).
bb) Das Verwaltungsgericht lässt Projektänderungen im Grund-
satz zu, auch wenn sie erst bei oder nach Einreichung der Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde vorgenommen wurden (AGVE 1986,
S. 304 ff.). Voraussetzung ist, dass die Interessen Dritter und der
Öffentlichkeit gewahrt bleiben (AGVE 1986, S. 305). Dies ist in der
Regel dann der Fall, wenn auch das abgeänderte Projekt publiziert
und öffentlich aufgelegt wird (§ 60 Abs. 2 und 3 BauG i.V.m. den
§§ 34 f. ABauV; Erich Zimmerlin, Baugesetz des Kantons Aargau,
Kommentar, Aarau 1985, § 151 N 4; siehe zum Ganzen auch:
VGE III/15 vom 8. Februar 2001 [BE.1998.00045] in Sachen G. u.
Mitb., S. 13) oder wenn wegen der Geringfügigkeit des Bauvor-
habens keine öffentliche Auflage erforderlich ist. Im vereinfachten
Verfahren kann der Gemeinderat Bauvorhaben, die weder nachbar-
liche noch öffentliche Interessen berühren, nach schriftlicher Mittei-
lung an direkte Anstösser ohne Auflage, Veröffentlichung und
Profilierung bewilligen (§ 61 BauG). Das Verwaltungsgericht legt
diese Bestimmung dahingehend aus, dass hier Bagatellprojekte
gemeint sind, die aufgrund ihrer Art, Grösse, Zweckbestimmung und
Immissionsträchtigkeit generell kaum geeignet erscheinen, sich
negativ auf das benachbarte Grundeigentum auszuwirken und die
Interessen Dritter zu verletzen; es können von ihnen höchstens
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
167
direkte Anstösser betroffen sein (AGVE 1997, S. 326 f.; siehe auch
AGVE 1986, S. 304 f.). In der Kasuistik sind etwa folgende Fälle
einschlägig: Die öffentliche Auflage der Projektänderung wurde
hinsichtlich der Verlegung einer Zufahrt für Zweiradfahrzeuge zu
einem Spielsalon (VGE III/17 vom 18. März 1993 [BE.1992.00055]
in Sachen M., S. 11 f.) oder hinsichtlich der Erhöhung der Leistung
einer Antennenanlage für Mobilfunk (VGE III/15 vom 8. Februar
2001 [BE.1998.00045] in Sachen G. u. Mitb., S. 13) verlangt. Die
Fälle, in welchen das vereinfachte Verfahren gemäss § 61 BauG als
genügend erachtet wurde, betrafen allesamt Projektänderungen,
welche sich für die Betroffenen vorteilhaft oder zumindest nicht
nachteilig auswirkten (VGE III/33 vom 26. April 1995
[BE.1994.00038] in Sachen Erbengemeinschaft B. u. Mitb., S. 10 f.
betreffend gebäudeinterne Umgestaltungen; VGE III/39 vom 26. Mai
1997 [BE.1996.00247] in Sachen B., S. 12 f. betreffend
Herabsetzung der Kniestockhöhe; VGE III/105 vom 12. Juli 2000
[BE.1998.00101] in Sachen S. AG u. Mitb., S. 13 f. betreffend
Weglassung von Dachfenstern; VGE III/49 vom 27. Mai 2003
[BE.2002.00304] in Sachen B., S. 8 betreffend Änderung einer
Stützmauer).
Die Auffassung des Regierungsrats, die fraglichen Projekt-
änderungen seien geringfügig, ist mit der angeführten Praxis des
Verwaltungsgerichts nicht vereinbar. Richtig ist zwar, dass die geän-
derte Anordnung der genannten Anlagen in gestalterischer Hinsicht
nicht sehr bedeutend ist. In Bezug auf die Lärmeinwirkungen kann
die Änderung für die Anwohner aber durchaus von Belang sein.
Trotz der relativ grossen Entfernungen zwischen den Sportanlagen
und den Liegenschaften der Beschwerdeführer I erweist sich na-
mentlich etwa die Verlegung der Halfpipe als kritisch; die Aktivitäten
auf dieser Anlage werden sowohl vom Beschwerdeführer II als auch
von den Verfassern der Lärmprognose unter den "erwartungsgemäss
dominierenden Lärmquellen" eingestuft. Besonders betroffen ist
diesbezüglich der Beschwerdeführer K., war doch dessen Wohnhaus
auf der Parzelle Nr. 413 gemäss dem bewilligten Situationsplan vom
29. Juni 2001 von der erwähnten Anlage durch die Sporthalle
abgeschirmt, aufgrund des neuen Standorts gemäss dem Situations-
2004
Verwaltungsgericht
168
plan Nr. 976-05 B vom 12. Dezember 2001 (letztes Revisionsdatum)
nicht mehr; die Lärmfachleute gehen hier zwar davon aus, dass eine
beträchtliche Hinderniswirkung vorhanden ist, doch ist anderseits zu
bedenken, dass bereits die Möglichkeit einer Beeinträchtigung legi-
timationsbegründend ist, und eine solche Möglichkeit kann ange-
sichts der topographischen Verhältnisse nicht verneint werden. Auch
das südwestlich der Leichtathletik-Anlage neu geplante Retentions-
becken mit einem Volumen von 530 m
3
ist für benachbarte Grundei-
gentümer und Anstösser des Pflanzerbachs keineswegs ohne Bedeu-
tung. Mögliche zusätzliche Beeinträchtigungen sind jedenfalls nicht
auszuschliessen. Abgesehen davon, dass die hier in Frage stehende
Projektänderung nicht den "Bagatellfällen" zugeordnet werden kann,
wäre das vereinfachte Verfahren gemäss § 61 BauG in Fällen wie
dem vorliegenden, wo am Hang gegenüber dem Bauprojekt ein gan-
zes Wohnquartier gelegen ist, kaum durchführbar, da die Frage, wer
"direkter Anstösser" ist, nicht eindeutig geklärt werden kann. Auch
aus diesem Grunde lässt sich eine öffentliche Auflage der Projekt-
änderung nicht umgehen. Zu diesem Zwecke ist der Baubewilli-
gungsentscheid vom 23. Januar 2002 aufzuheben.
(...)
2. a) Die Beschwerdeführer I rügen hinsichtlich verschiedener
Personen die Verletzung von Ausstandspflichten. (...).
b) Der aus Art. 30 Abs. 1 BV sowie aus Art. 6 Ziffer 1 EMRK
fliessende Anspruch auf einen unabhängigen und unparteiischen
Richter bezieht sich nur auf die Beurteilung von Streitsachen durch
Gerichte. Wann Mitglieder einer Administrativbehörde in den Aus-
stand zu treten haben, bestimmt sich ausschliesslich nach dem kanto-
nalen Verfahrensrecht sowie nach den aus Art. 8 Abs. 1 und 29
Abs. 1 BV herzuleitenden Grundsätzen. Nach der bundesgerichtli-
chen Praxis haben Behördenmitglieder entsprechend diesen Grund-
sätzen nur dann in den Ausstand zu treten, wenn sie an der zu be-
handelnden Sache ein persönliches Interesse haben; nimmt ein Be-
hördenmitglied jedoch öffentliche Interessen wahr, so besteht grund-
sätzlich keine Ausstandspflicht (BGE vom 20. Juni 2000
[1P.426/1999], in: ZBl 103/2002, S. 37 mit Hinweis).
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
169
Im aargauischen Verfassungs- und Verfahrensrecht ist die Frage
des Ausstands geregelt. So haben sich Mitglieder von Behörden und
Beamte bei Geschäften, die sie unmittelbar betreffen, in den Aus-
stand zu begeben (§ 69 Abs. 5 KV). Im Weitern bestimmt § 5 VRPG,
der u.a. für das Verfahren vor den Verwaltungsbehörden des Kantons
und der Gemeinden gilt (§ 1 Abs. 1 VRPG) und auf den auch § 19
Abs. 1 des Organisationsgesetzes (Gesetz über die Organisation des
Regierungsrates und der kantonalen Verwaltung) vom 26. März 1985
(SAR 153.100) betreffend die Verhandlungen des Regierungsrates
verweist, konkretisierend:
"
1
Behördemitglieder und Sachbearbeiter dürfen beim Erlass von
Verfügungen und Entscheiden nicht mitwirken, wenn ein Aus-
standsgrund im Sinne der Zivilprozessordnung vorliegt.
2
Sie haben sich insbesondere in Ausstand zu begeben, wenn sie
selbst oder ihnen nahe verbundene Personen an der Verfügung oder
dem Entscheid persönlich interessiert sind, sowie in Angelegen-
heiten von juristischen Personen, deren Verwaltung sie oder ihnen
nahe verbundene Personen angehören, ferner wenn sie in der Sache
schon in einer untern Instanz, oder als Berater oder Vertreter eines
Beteiligten mitgewirkt haben.
3
(...)"
c) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer I war Regie-
rungsrat X. bei der Beschlussfassung über das Bachöffnungsprojekt
nicht zum Ausstand verpflichtet. Ein Ausstandsgrund im Sinne von
§ 2 ZPO bzw. von § 5 Abs. 2 VRPG liegt nicht vor. Namentlich hat
Regierungsrat X. nicht bereits "in einer andern Instanz" bzw. einer
"untern Instanz" mitgewirkt (§ 2 lit. c ZPO i.V.m. § 5 Abs. 1 VRPG;
§ 5 Abs. 2 VRPG). Entscheidungsträger war hier ausschliesslich der
Regierungsrat, d.h. eine untere Instanz im Sinne der erwähnten Be-
stimmungen gab es gar nicht; allein dies ist aber entscheidend, denn
in der verwaltungsinternen Rechtspflege und erst recht in einem
erstinstanzlichen Verfahren, wo nicht die gleich strengen Massstäbe
gelten wie in Bezug auf die verwaltungsunabhängigen Organe
(Thomas Merkli / Arthur Aeschlimann / Ruth Herzog, Kommentar
zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern
1997, Art. 9 N 8), rechtfertigt es sich, den Begriff der "Mitwirkung"
2004
Verwaltungsgericht
170
in einem rein formalen Sinne aufzufassen (AGVE 2000, S. 394 f. mit
Hinweis). Selbst wenn - über diese Praxis hinausgehend - dem
Gemeinderat W., der die öffentliche Auflage des Bauprojekts durch-
führte, deswegen mehr als eine blosse Hilfsfunktion zugeschrieben
würde, wäre dies darum nicht von Belang, weil Regierungsrat X.
dem erwähnten Behördengremium nie angehörte. Somit könnte ein-
zig noch der Fall gegeben sein, dass Regierungsrat X. am "Entscheid
persönlich interessiert" war (§ 5 Abs. 2 VRPG; siehe auch
Bundesgericht in ZBl 103/2002, S. 37). Die Beschwerdeführer I
machen in dieser Hinsicht geltend, der Anschein der Befangenheit sei
bei Regierungsrat X. deshalb gegeben, weil dieser den als Bauherr
auftretenden Gemeindeverband als ehemaliger Gemeindeammann
von B. mitbegründet habe und der Verband wegen des engen
Sachzusammenhangs mit dem Sportplatzprojekt vom Ausgang des
Wasserbauprojektverfahrens betroffen sei. Eine solche Behauptung
erachtet das Verwaltungsgericht als abwegig. Dass Regierungsrat X.
seinerzeit die Satzungen des Gemeindeverbands mitunterzeichnet
hat, indiziert in keiner Weise, dass er beim Projektgenehmigungs-
entscheid vom 18. Dezember 2002 andere als rein öffentliche
Interessen wahrgenommen hat. Einem Regierungsratsmitglied muss
und darf zugetraut werden, sich mit einem Geschäft unvorein-
genommen auseinander zu setzen, auch wenn es damit in unterge-
ordnetem Rahmen schon früher einmal befasst war (VGE III/58 vom
25. Juli 1989 in Sachen F. AG u. Mitb., S. 21; siehe auch BGE 107 Ia
136 f.).
d) aa) Anders stellt sich die Rechtslage in Bezug auf die Ge-
meinderäte Y. und Z. dar. Y. ist Vizepräsident des Gemeindeverbands
und Präsident der im Hinblick auf das Projekt "Burkertsmatt" gebil-
deten internen Baukommission, Z. Vorstandsmitglied des Gemeinde-
verbands und Vizepräsident der erwähnten Kommission. Als Vize-
präsident des Verbands ist Y. zudem (neben dem Präsidenten) zeich-
nungsberechtigt. Der Richter (bzw. über die Verweisung von § 5
Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 VRPG u.a. das einzelne Gemeinderatsmit-
glied) ist nun aber von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen in
Streitsachen, in denen Gemeinden oder andere öffentlich-rechtliche
Körperschaften oder Anstalten, deren Verwaltungsorganen er oder
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
171
sein Ehegatte angehört, Partei sind (§ 2 lit. a Ziff. 7 ZPO). Eine
solche Konstellation ist hier klarerweise gegeben. Ein Gemeinde-
verband ist eine aus verschiedenen Gemeinden bestehende Körper-
schaft des öffentlichen Rechts (§ 74 GG). Der Vorstand des Gemein-
deverbands ist dessen Verwaltungs- und Vollzugsbehörde (§ 80
Abs. 1 Satz 1 GG); auch im Zusammenhang mit dem vorliegenden
Baugesuch führt er die Geschäfte des Gemeindeverbands und vertritt
ihn nach aussen. Somit hätten Y. und Z. nach Massgabe von § 2 lit. a
Ziffer 7 ZPO am Baubewilligungsentscheid vom 23. Januar 2002
nicht mitwirken dürfen.
Die in § 2 ZPO geregelten Ausschliessungsgründe unterschei-
den sich von den in § 3 ZPO aufgeführten Ablehnungsgründen da-
durch, dass das betreffende Behördenmitglied bei ihrem Vorliegen
ohne weitere Voraussetzung, d.h. ohne entsprechenden Antrag, in den
Ausstand treten muss. Sie wirken insofern absolut, als der unter
Mitwirkung eines ausstandspflichtigen Behördenmitglieds zustande
gekommene Entscheid anfechtbar bleibt, auch wenn ein erkennbarer
Ausstandsgrund während des Verfahrens nicht sofort gerügt wurde
oder unbemerkt blieb. Auch die erst im Rechtsmittelverfahren ge-
rügte Nichtbeachtung der Ausstandspflicht führt zur Aufhebung des
Entscheids (Alfred Bühler / Andreas Edelmann / Albert Killer,
Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, 2. Auflage,
Aarau 1998, § 2 N 1). Vor diesem Hintergrund kann von vornherein
nicht von Belang sein, dass sich die Beschwerdeführer I seinerzeit
mit der Leitung der Einspracheverhandlung durch Gemeinderat Z.
ausdrücklich einverstanden erklärt hatten und dass sie später kein
Ausstandsbegehren stellten. (...).
bb) Auch die weiteren in diesem Zusammenhang vorgebrachten
Gegenargumente erweisen sich nicht als stichhaltig:
aaa) Der Regierungsrat sowie die Gemeinderäte von R. und W.
vergleichen den vorliegenden Fall mit jenem, in welchem ein Ge-
meinderat ein Baugesuch der Einwohner- oder Ortsbürgergemeinde
zu beurteilen hat. Richtig ist, dass die zuständigen Baubewilligungs-
behörden praxisgemäss auch dann rechtsanwendend tätig werden
dürfen, wenn sie ein Bauvorhaben des von ihnen vertretenen Ge-
meinwesens zu beurteilen haben, obwohl selbstverständlich auch in
2004
Verwaltungsgericht
172
diesen Fällen ein Anwendungsfall von § 2 lit. a Ziffer 7 ZPO vor-
liegt. Eine Ausnahme von dieser Vorschrift drängt sich ausschliess-
lich aus einem institutionellen Sachzwang heraus auf, denn allge-
meine Baubewilligungsbehörde ist der Gemeinderat (§ 59 Abs. 1
BauG), und eine besondere Regelung für die Beurteilung von kom-
munalen Bauvorhaben hat der Gesetzgeber nicht getroffen. Die Aus-
standsbestimmungen und das Prinzip der Gesetzmässigkeit der Ver-
waltung lassen sich nicht gleichzeitig befolgen, und das Rechtsver-
weigerungsverbot verlangt, dass trotzdem verfügt wird. Der daraus
entstehende Konflikt lässt sich in diesen Fällen nur adäquat lösen,
indem die Ausstandspflicht dem Prinzip der Gesetzmässigkeit der
Verwaltung und dem Rechtsverweigerungsverbot "geopfert" wird
(VGE III/82 vom 23. November 1994 [BE.92.00379] in Sachen VCS
u. Mitb., S. 49). In Fällen wie dem vorliegenden dagegen besteht der
erwähnte Konflikt nicht; es verhält sich hier nicht so, dass das be-
hördliche Handeln bei Beachtung der Ausstandsvorschriften faktisch
lahmgelegt würde. Ein Sachzwang liegt auch insoweit nicht vor, als
in den Vorstand des Gemeindeverbands nicht nur Mitglieder der
Gemeinderäte der Verbandsgemeinden wählbar sind (Art. 12 Abs. 1
i.V.m. Art. 11 Abs. 1 Satz 3 der Satzungen).
bbb) Die Gemeinderäte von R. und W. weisen darauf hin, dass
der Ausstand von Y. und Z. am Entscheidergebnis nichts geändert
hätte, weil der Beschluss vom 23. Januar 2002 je einstimmig gefasst
worden sei. Abgesehen davon, dass sich eine derartige Heilung des
Verfahrensmangels mit der Absolutheit der rechtlichen Konsequen-
zen einer Verletzung der Ausstandspflicht (vorne Erw. aa) schlecht
verträgt, ist zu bedenken, dass die Mitwirkung an einem Entscheid
nicht nur die Teilnahme an der Abstimmung als solcher, sondern
namentlich auch die Möglichkeit der Beeinflussung während der
Beratung des betreffenden Sachgeschäfts umfasst (Michael Merker,
Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren nach dem aar-
gauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege [Kommentar zu
den §§ 38-72], Zürich 1998, § 50 N 8 a.E.; BGE vom 14. Oktober
2003 [1P.316/2003] in Sachen Einwohnergemeinde U., S. 9 f.;
AGVE 1984, S. 698).
2004
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
173
3. a) Als Zwischenergebnis ist mithin festzuhalten, dass in Gut-
heissung der Beschwerde der Beschwerdeführer I der Baubewilli-
gungsentscheid der Gemeinderäte R. und W. vom 23. Januar 2002
wegen Verletzung der Verfahrensvorschriften (§ 60 Abs. 2 und 3
BauG) und der Ausstandspflicht (§ 5 Abs. 1 VRPG i.V.m. § 2 lit. a
Ziff. 7 ZPO) aufzuheben ist. Die beiden Gemeinderäte werden im
Sinne der Erwägungen neu entscheiden müssen. | 4,705 | 3,760 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-45_2003-12-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-45.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-45.pdf | AGVE_2004_45 | null | nan |
85c318b4-d997-584f-98db-444a8d29d4ba | 1 | 412 | 870,145 | 1,083,369,600,000 | 2,004 | de | 2004
Verwaltungsgericht
242
[...]
59 Rechtliches Gehör, nichtiger Zwangsmassnahmenentscheid (ZME);
Anordnung und Ausgestaltung der Isolation.
- Anspruch auf rechtliches Gehör beinhaltet Anhörung der betroffenen
Person vor jedem Zwangsmassnahmenentscheid (Erw. 3/a/bb-ff).
2004
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
243
- Anordnung einer neuen Zwangsmassnahme nach Fristablauf nur
durch neuen Zwangsmassnahmenentscheid (Erw. 3/a/ee).
- Rechtsgültige Eröffnung, bzw. ordnungsgemässe Zustellung einer Ver-
fügung bedeutet, dass ein Zwangsmassnahmenentscheid der betroffe-
nen Person sowohl mündlich zu eröffnen als auch schriftlich zuzu-
stellen ist (Erw. 3/b/aa-cc).
- Nichtige Verfügung bei einer Häufung von erheblichen Verfahrens-
mängeln (Erw. 3/c/aa-bb).
- Eine zum Schutz der betroffenen Person zwangsweise angeordnete
Isolation ist nur dann verhältnismässig, wenn sie unter Beachtung der
Menschenwürde geeignet ist, den für die betroffene Person erforderli-
chen Schutz zu bieten (Erw. 4/b/aa-cc).
- Isolation einer suizidalen Person nur so lange verhältnismässig als
akute Selbstgefährdung besteht (Erw. 4/c/aa).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 11. Mai 2004 in Sa-
chen L.R. gegen den Entscheid der Klinik Königsfelden.
Aus den Erwägungen
3. (...)
a) (...)
aa) (...)
bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der
Sachaufklärung, sondern ist auch ein persönlichkeitsbezogenes Mit-
wirkungsrecht des Einzelnen beim Erlass eines in seine Rechtsstel-
lung eingreifenden Entscheides (BGE 122 II 287). Er umfasst na-
mentlich das Recht des Betroffenen, sich grundsätzlich vor Erlass
eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu
äussern (BGE 122 II 286 mit Hinweisen). Dabei soll der Einzelne ge-
mäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung eigenverantwortlich an ihn
betreffenden Entscheidprozessen beteiligt sein (BGE 127 I 14). Die
Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör bestimmt sich nach
der konkreten Interessenlage im Einzelfall. Das Bedürfnis, vor Erlass
einer Verfügung angehört zu werden, ist dort besonders intensiv und
2004
Verwaltungsgericht
244
daher unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten schutzwürdig,
wo die Gefahr besteht, dass jemand durch einen staatlichen Hoheits-
akt beschwert werden könnte (BGE 111 Ia 274; 105 Ia 197; Ulrich
Häfelin / Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage,
Zürich 2002, Rz. 1310 ff.; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der
Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 520 ff.). Insbesondere in einem
Verfahren betreffend Zwangsmassnahmen, in dem es um Grund-
rechtseingriffe und damit um eine besondere Eingriffsschwere geht,
muss Gewähr bestehen, dass sich die betroffene Person vor Erlass
der Verfügung wirksam wehren kann.
cc) Das Bundesgericht geht in seiner Praxis davon aus, dass der
Umfang des rechtlichen Gehörs zunächst durch die kantonalen
Verfahrensvorschriften umschrieben wird. Nur dort, wo sich der
kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen subsidiär die
unmittelbar aus Art. 29 Abs. 2 BV folgenden bundesrechtlichen
Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz
(BGE 121 I 232 mit Hinweisen). Die Verweigerung des rechtlichen
Gehörs hat grundsätzlich zur Folge, dass die angefochtene Verfügung
aufzuheben ist (AGVE 1989, S. 191 mit Hinweisen).
dd) Während §§ 15 ff. VRPG allgemeine Verfahrensvorschrif-
ten zur Gewährung des rechtlichen Gehörs vor Erlass einer Verfü-
gung statuieren, enthält § 67 e
bis
Abs. 3 EG ZGB ausdrücklich die für
den Erlass eines Zwangsmassnahmen-Entscheids zu beachtenden
Verfahrensvorschriften. Diese lauten:
"Vor dem Entscheid sind die Patienten vom zuständigen entschei-
dungsberechtigten Arzt anzuhören. Der Entscheid ist der betroffenen Person
auch nach mündlicher Mitteilung mit Begründung und mit Rechtsmittel-
belehrung schriftlich zu eröffnen, unter Mitteilung an den Kantonsarzt.
Dieser führt ein entsprechendes Verzeichnis."
ee) Wenn seitens der Klinik geltend gemacht wird, es habe sich
lediglich um eine Verlängerung einer ersten Zwangsmassnahme
gehandelt, so ändert dies nichts am Erfordernis der Gewährung des
rechtlichen Gehörs. Der erste ZME (vom 19. April 2004) war wegen
akuter Suizidgefahr zum Schutz und zur Lebenserhaltung der Be-
schwerdeführerin bis zum 26. April 2004 befristet worden. Nach
Ablauf dieser Frist durfte eine Verlängerung der Isolation nur durch
2004
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
245
Erlass eines neuen ZME angeordnet werden. Insbesondere musste
die Frage, ob nach wie vor eine akute Selbstgefährdung der Be-
schwerdeführerin bestand und deshalb eine Verlängerung der Isola-
tion gerechtfertigt war, vor Erlass eines neuen ZME durch den Lei-
tenden Arzt umfassend abgeklärt und mit der Beschwerdeführerin
besprochen werden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss
§ 67e
bis
Abs. 3 EG ZGB besteht für einen Patienten bei jedem Ent-
scheid. Gemäss ZME vom 26. April 2004 war der einzige Zweck der
weiteren Isolation der Schutz und die Lebenserhaltung der Be-
schwerdeführerin. Ob bei der Beschwerdeführerin aber am 26. April
2004 und damit nach Ablauf der siebentägigen Isolation tatsächlich
noch eine akute Suizidgefahr bestand, konnte nur auf Grund einer
persönlichen Anhörung festgestellt werden. Wie die Beschwerdefüh-
rerin anlässlich der Verhandlung glaubwürdig ausführte, hatte sie seit
dem 24. April 2004 keine Suizidgedanken mehr. Da die Anhörung
unterblieb, blieb einerseits die Stellungnahme der Beschwerdeführe-
rin im ZME vom 26. April 2004 unberücksichtigt (bzw. es wurde
eine tatsachenwidrige Stellungnahme aufgeführt) und andererseits
war es der Beschwerdeführerin verwehrt, sich gegen diese "Verlän-
gerung" der Isolation vom 26. April 2004 bis zum 15. Mai 2004 zur
Wehr zu setzen. Bei korrekter Gewährung des rechtlichen Gehörs am
26. April 2004 hätte sich gezeigt, dass die Beschwerdeführerin mit
der Zwangsmassnahme der Isolation nicht mehr einverstanden war.
Entsprechend hätte das Formular ausgefüllt und der Beschwer-
deführerin ausgehändigt werden müssen, sofern der zuständige Arzt
die Isolation trotzdem noch für notwendig befunden und angeordnet
hätte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte die Beschwerdeführerin
bei korrekter Vorgehensweise viel früher ein Rechtsmittel ergriffen.
ff) Zusammenfassend ergibt sich, dass eine krasse Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehörs erfolgt ist, da eine Anhörung
der Beschwerdeführerin vor Erlass der angefochtenen Verfügung
unterblieben ist. Dieser Verfahrensfehler erscheint um so gewichti-
ger, als dass im Formular fälschlicherweise aufgeführt ist, eine An-
hörung der Beschwerdeführerin sei erfolgt, sie sei mit der Mass-
nahme einverstanden und über die Beschwerdemöglichkeit orientiert
worden.
2004
Verwaltungsgericht
246
b) (...)
aa) Die Eröffnung einer Verfügung ist eine empfangsbedürftige,
aber nicht annahmebedürftige einseitige Rechtshandlung. Die
Rechtsmittelfrist beginnt deshalb nicht mit der tatsächlichen Kennt-
nisnahme, sondern im Zeitpunkt der ordnungsgemässen Zustellung
zu laufen. Als ordnungsgemässe Zustellung gilt grundsätzlich die
tatsächliche Aushändigung der Verfügung an den Adressaten
(VGE II/18 vom 27. März 2001 [BE.2000.00289] in Sachen A.,
S. 12; Max Imboden/René A. Rhinow, Schweizerische Verwaltungs-
rechtsprechung, Band I, 6. Auflage, Basel/Frankfurt a.M. 1986,
Nr. 84 B I; René A. Rhinow/Beat Krähenmann, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel/Frankfurt a.M.
1990, Nr. 84 I f. mit Hinweisen; Michael Merker, Rechtsmittel,
Klage und Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz
über die Verwaltungsrechtspflege [Kommentar zu den §§ 38-72
VRPG], Diss., Zürich 1998, § 40 N 6 Anm. 18).
bb) Die vom Gesetz geforderte mündliche Eröffnung des Ent-
scheids an die Beschwerdeführerin ist erwiesenermassen unterblie-
ben. So hat auch nach dem 26. April 2004 nie ein Gespräch des Lei-
tenden Arztes mit der Beschwerdeführerin über seinen Entscheid, die
"Verlängerung der Isolation" vom 26. April 2004 bis zum 15. Mai
2004 anzuordnen, stattgefunden. Eine korrekte schriftliche Eröffnung
des Entscheids, bzw. eine tatsächliche Aushändigung des
ZME unterblieb ebenfalls. Eine Eröffnung erfolgte insbesondere
auch nicht am 30. April 2004, obwohl aktenmässig erstellt ist, dass
die Beschwerdeführerin an diesem Tag ausdrücklich die Entlassung
aus der Isolation beantragt hatte, weil dieser Schutz nicht mehr nötig
sei. Die Beschwerdeführerin hat anlässlich der Verhandlung
ausgeführt, sie habe schon früher aus dem Isolationszimmer
austreten wollen, habe aber keine Gelegenheit gehabt, ihr Begehren
anzubringen, da die Oberarztvisite ausgefallen sei.
cc) Damit ist erstellt, dass es an einer ordnungsgemässen Zu-
stellung des ZME vom 26. April 2004 fehlt, es liegt ein schwerwie-
gender Eröffnungsfehler vor. Auch bei diesem Verfahrensfehler
kommt erschwerend hinzu, dass auf dem Formular selber tatsachen-
2004
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
247
widrig angekreuzt ist, die Patientin sei über die Beschwerdemöglich-
keit informiert worden.
c) aa) Die normale Folge der Fehlerhaftigkeit von Verwal-
tungsakten ist ihre Anfechtbarkeit. Nur ausnahmsweise ist auf
Nichtigkeit zu schliessen, so, wenn der Mangel besonders schwer
wiegt, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und
wenn die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht
ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgründe fallen hauptsächlich
schwere Verfahrensmängel in Betracht (vgl. BGE 122 I 98 f.;
118 Ia 340; 116 Ia 219; AGVE 1994, S. 217 mit Hinweisen;
vgl. auch Imboden/Rhinow, a.a.O.; Rhinow/Krähenmann, je Nr. 40 B
IV/V; Häfelin/Müller, Rz. 769). So hat das Verwaltungsgericht auf-
grund einer Häufung von erheblichen Verfahrensmängeln - wegen
einer krassen Verletzung des rechtlichen Gehörs und wegen schwer-
wiegenden Eröffnungsfehlern - einen Entscheid für nichtig erklärt
(AGVE 1981, S. 274 f.).
bb) Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist erwiesen, dass
die vom ZME vom 26. April 2004 betroffene Beschwerdeführerin
weder vorgängig dazu angehört wurde (obwohl auf dem Formular so
aufgeführt), noch dass ihr der Entscheid in gesetzmässiger Weise
eröffnet worden ist. Diese sehr schweren Verfahrensmängel sind
derart gewichtig, dass der angefochtene Entscheid als nichtig zu
bezeichnen ist. In Gutheissung der Beschwerde ist die angeordnete
Isolation daher sofort aufzuheben und es ist die Nichtigkeit des
ZME vom 26. April 2004 festzustellen.
4. (...)
a) (...)
b) aa) Gemäss § 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB dürfen im Rahmen ei-
ner fürsorgerischen Freiheitsentziehung in der Psychiatrischen Klinik
Königsfelden Behandlungen und andere Vorkehrungen, die nach
Massgabe des Einweisungsgrundes medizinisch indiziert sind, auch
gegen den Willen der betroffenen Person vorgenommen werden,
wenn die notwendige Fürsorge auf andere Weise nicht gewährleistet
werden kann. Beim Entscheid über den Einsatz von Zwangsmass-
nahmen kann auch das Schutzbedürfnis Dritter in die Beurteilung
miteinbezogen werden. Ziel und Zweck jeder Zwangsmassnahme ist
2004
Verwaltungsgericht
248
der Schutz der betroffenen Person und deren Mitmenschen vor kör-
perlichen und seelischen Schäden. In Anwendung des
Verhältnismässigkeitsprinzips muss eine solche Massnahme "ultima
ratio" sein, indem der betroffenen Person die notwendige Fürsorge
nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann. Der Begriff der
"notwendigen persönlichen Fürsorge" beinhaltet nicht nur den Schutz
der Öffentlichkeit vor Fremdaggressionen, sondern umfasst auch den
Schutz eines Menschen, der sich in einem Zustand der
Urteilsunfähigkeit selbst verletzt oder tötet (AGVE 2000, S. 168).
Eine Zwangsmassnahme ist namentlich dann unverhältnismässig,
wenn eine ebenso geeignete mildere Anordnung für den angestrebten
Erfolg ausreicht.
bb) Für die Verhältnismässigkeit von Grundrechtseingriffen
liefert der in Art. 7 BV statuierte Schutz der Menschenwürde einen
Massstab. Das Bundesgericht hat dazu ausgeführt, dass die Men-
schenwürde nach Art. 7 BV im staatlichen Handeln ganz allgemein
zu achten und zu schützen ist. Diese Bestimmung ist Leitsatz für
jegliche staatliche Tätigkeit und bildet als innerster Kern zugleich die
Grundlage der Freiheitsrechte (BGE 127 I 6). Die Menschenwürde
ist beizuziehen, um den Kerngehalt von Grundrechten zu bestimmen
(Philippe Mastronardi, in: Die schweizerische Bundesverfassung,
St. Galler Kommentar, Zürich/Basel/Genf 2002, Art. 7 N 28). Der
grundrechtliche Anspruch auf menschenwürdige Behandlung - wie er
übrigens auch in Art. 3 EMRK enthalten ist - gilt für alle Menschen,
unabhängig von ihrer Urteilsfähigkeit oder ihrer körperlichen
Konstitution, d.h. auch für psychisch Kranke (Markus Schefer, Die
Kerngehalte von Grundrechten, Geltung, Dogmatik, inhaltliche Aus-
gestaltung, Bern 2001, S. 22). Eine Konkretisierung findet dieser An-
spruch nebst §§ 9 und 15 der aargauischen Kantonsverfassung, wel-
che für staatliches Handeln die Wahrung der Menschenwürde statuie-
ren und menschenunwürdige Behandlung verbieten, im aargauischen
Gesundheitsgesetz, welches in § 49 regelt, dass Spitäler die persönli-
che Freiheit und die Persönlichkeitsrechte ihrer Patienten zu wahren
haben. Das aargauische Dekret über die Rechte und Pflichten der
Krankenhauspatienten vom 21. August 1990 [PD; SAR 333.110] hält
in § 3 fest, dass Untersuchung, Behandlung und Pflege des Patienten
2004
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
249
sich nach den Regeln der Fachkunde zu richten und die Menschen-
würde zu respektieren haben.
cc) Für die Isolation, welche den Schutz der betroffenen Person
- und damit einhergehend den Schutz ihrer Mitmenschen - vor kör-
perlichen und seelischen Schäden bezweckt, bedeutet dies, dass sie
auf Grund der vorstehenden Ausführungen nur verhältnismässig sein
kann, wenn sie unter Beachtung der Menschenwürde geeignet ist,
den für die betroffene Person erforderlichen Schutz zu bieten und in
zeitlicher Hinsicht auf die absolut notwendige Dauer beschränkt wird
(AGVE 2001, S. 233). Entsprechend hat das Verwaltungsgericht
entschieden, dass eine Isolation sich in aller Regel nur während kur-
zer Frist als rechtmässig erweisen kann, weshalb im Voraus maximal
eine Isolation für die Dauer von sieben Tagen angeordnet werden
darf (AGVE 2001, S. 234). Bereits unter diesem Aspekt hält der
ZME vom 26. April 2004, der bis zum 15. Mai 2004 befristet wurde,
vor der Rechtsordnung nicht stand.
c) Gemäss Wortlaut des ZME vom 26. April 2004 war das Ziel
der angeordneten Isolation "Schutz, Lebenserhaltung" der Be-
schwerdeführerin. Die aufschiebende Wirkung wurde verweigert mit
der Begründung "Suizidalität".
aa) Die Beschwerdeführerin bestätigte selber, dass sie aufgrund
einer akuten Krise mit Suizidalität am 19. April 2004 mit der Mass-
nahme der Isolation im Auszeitzimmer einverstanden gewesen war.
Dieser Schutz vor selbstschädigendem Verhalten kann eine massive
Einschränkung der persönlichen Freiheit rechtfertigen, in dem die
gefährdete Person mittels Isolation vor Entweichung, gefährlichen
Gegenständen etc. geschützt wird. Eine Isolation ist unter diesen
Umständen als ultima ratio verhältnismässig, allerdings nur so lange,
als akute Selbstgefährdung besteht. Dabei erfordern die zentral
betroffenen Verfassungsrechte, dass die Selbstgefährdung nicht nur
abstrakt möglich ist, sondern dass sie gestützt auf die tatsächlichen
Verhältnisse konkret in Betracht fällt (BGE 130 I 24). Selbst in der
psychiatrischen Literatur ist anerkannt, dass nur die sichtbare und
konkrete Suizidgefährdung eine restriktive Massnahme gegen den
Willen des Patienten rechtfertigt (Asmus Finzen, Suizidprophylaxe
bei psychischen Störungen, Bonn 1997, S. 128). | 3,441 | 2,833 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-59_2004-05-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-59.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-59.pdf | AGVE_2004_59 | null | nan |
85f30e14-d2e3-5624-94b9-7e5de3cb3a84 | 1 | 412 | 871,497 | 1,046,736,000,000 | 2,003 | de | 2003
Schulrecht
95
I. Schulrecht
30
Anspruch auf Schulgeld für den Besuch einer Privatschule.
- In erster Linie ist die Schulpflege verpflichtet, für ein sonderschulbe-
dürftiges Kind eine geeignete Sonderschule zu finden. Kann sie keine
Alternative zu einer Privatschule aufzeigen, liegen wichtige Gründe
für die ausnahmsweise Übernahme von Schulgeldern für den Besuch
einer Privatschule vor.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 27. März 2003 in Sa-
chen D. gegen die Einwohnergemeinde A.
Aus den Erwägungen
1. a) Gegenstand der Klage ist die Forderung der Kläger betref-
fend die Übernahme des Schulgeldes für die Privatschule B für das
Schuljahr 2002/2003. (...)
2. a) Gemäss § 34 Abs. 1 KV ist der Unterricht an öffentlichen
Schulen und Bildungsanstalten für Kantonseinwohner unentgeltlich
(vgl. auch § 3 Abs. 3 SchulG). § 6 Abs. 1 SchulG sieht vor, dass die
Schulpflicht in der Regel in der öffentlichen Schule der Wohnge-
meinde oder des Schulkreises, zu dem die Wohngemeinde gehört, zu
erfüllen ist. Im Gegenzug dazu werden die Gemeinden verpflichtet,
die Volksschule selbst zu führen oder sich an einer entsprechenden
Kreisschule zu beteiligen bzw. das Schulgeld für Kinder mit Aufent-
halt auf ihrem Gebiet zu übernehmen (§ 52 Abs. 1 SchulG). Ein
Anspruch auf auswärtigen Schulbesuch besteht folglich einerseits
dann, wenn die Aufenthaltsgemeinde die betreffende Schulstufe oder
den entsprechenden Schultyp nicht führt, und anderseits in Fällen,
wo ausnahmsweise aus triftigen Gründen von der Regel des Schulbe-
suchs in der Aufenthaltsgemeinde abgewichen werden muss (AGVE
2001, S. 155 ff. mit Hinweisen).
2003
Verwaltungsgericht
96
b) Für den entgeltlichen Unterricht an Privatschulen haben die
Betroffenen indessen grundsätzlich selber aufzukommen (§ 3 Abs. 3
SchulG e contrario). Das Gemeinwesen wird ausnahmsweise dann
kostenpflichtig, wenn ausserordentliche Situationen Sonderheiten
herbeiführen, welche den unterhaltspflichtigen Eltern unverhältnis-
mässige Lasten aufbürden würden. Als solche Ausnahmen fallen
namentlich abseits gelegener Wohnort, soziale Benachteiligung oder
Invalidität, die insbesondere die Unterrichtung Schulpflichtiger in
Sonderschulen und Heimen erfordern, in Betracht (AGVE 2001,
S. 156).
c) aa) § 10 SchulG verpflichtet die Volksschule alles zu unter-
nehmen, damit ein Kind gesund heranwachsen kann (Satz 1). Sie
fördert jeden einzelnen Schüler und legt dabei gleiches Gewicht auf
die Entwicklung seines Geistes, seines Gemüts und seiner körperli-
chen Fähigkeiten (Satz 2). Sie vermittelt dem Schüler die Grundaus-
bildung (Satz 3). Daraus ergibt sich allerdings kein Anspruch auf
individuellen Unterricht, sondern § 10 SchulG stellt einzig entspre-
chende Anforderungen an den Regelunterricht bzw. legt programma-
tisch fest, welchen Anforderungen die Volksschule zu genügen hat.
bb) Kann ein Kind in den Regelstufen bzw. -klassen der
Volkschule (Primarschule, Oberstufe, Kleinklasse) nicht seiner Bil-
dungsfähigkeit entsprechend geschult werden, so sind die Schulbe-
hörden zu entsprechenden Abklärungen verpflichtet (§ 11 Abs. 1 der
Verordnung über die Sonderschulung [Sonderschulverordnung; SAR
428.511] vom 2. Mai 1988). Die Schulpflege ordnet die vorzuneh-
menden Untersuchungen an und bestimmt die Fachstelle (§ 11 Abs. 2
Sonderschulverordnung). Im Anschluss an die Abklärung erlässt sie
nach Anhörung der Eltern eine Einweisungsverfügung in eine geeig-
nete Sonderschule (§ 12 Abs. 1 Sonderschulverordnung). Bei ausser-
kantonalen Platzierungen hat sie die erforderliche Zustimmung des
Departements Bildung, Kultur und Sport einzuholen (§ 12 Abs. 2
Sonderschulverordnung). Nicht von der Schulpflege veranlasste
Einweisungen in Sonderschulen und Heime gelten als Privatschulung
und jede Leistungspflicht von Gemeinden und Kanton entfällt (§ 11
Abs. 6 Sonderschulverordnung).
2003
Schulrecht
97
d) S. D. besucht eine Privatschule, für die grundsätzlich kein
Anspruch auf Schulgelder besteht. Zu prüfen ist, ob Gründe vorlie-
gen, welche die ausnahmsweise Übernahme von Schulkosten einer
Privatschule rechtfertigen.
3. a) aa) S. wurde im Februar 2000 in die Kleinklasse versetzt,
was sich jedoch nicht als ihren Fähigkeiten entsprechend erwies.
Eine Sonderschulung stellte sich als die einzige, S. wirklich för-
dernde und gerecht werdende Lösung heraus. Es fand sich jedoch
keine geeignete, von der IV anerkannte Sonderschule im Kanton
Aargau. Es wurden auch geeignete ausserkantonale, von der IV an-
erkannte Sonderschulen angefragt, jedoch ohne Erfolg. In Zusam-
menarbeit mit der Kleinklassenlehrerin, der Kinder- und Jugend-
psychiaterin Dr. G., dem Jugendpsychologischen Dienst des Bezirks
M. und der Schulpflege A. konnte die Privatschule B gefunden wer-
den. Die beigezogenen Fachleute unterstützten die Zuweisung von S.
an diese Schule vollumfänglich.
bb) Trotz aller Bemühungen konnte auch für das Schuljahr
2002/2003 kein Platz für S. an einer IV-anerkannten Sonderschule
gefunden werden. S. war unter diesen Umständen darauf angewie-
sen, in der Privatschule B zu verbleiben.
b) Die Sonderschulbedürftigkeit von S. ist aus den Akten er-
stellt und wird auch von der Beklagten nicht bestritten. Die Beklagte
anerkennt, dass S. weder in einer Kleinklasse noch in der Realschule
hätte platziert werden können. Sie bestreitet auch nicht, dass es trotz
intensiver Bemühungen der Schulpflege und anderer Fachstellen
nicht gelang, einen Platz in einer geeigneten, IV-anerkannten kanto-
nalen oder ausserkantonalen Sonderschule zu finden und hielt in
ihrer Verfügung vom 29. April 2002 selber fest, dass ein Verbleib von
S. in der Privatschule B um ein weiteres Jahr die einzig anwendbare
und vertretbare Lösung für das Kind sei. Bereits in ihrem Beschluss
vom 5. Juni 2001, wo es um die Kostenübernahme für dieselbe
Schule für das Schuljahr 2001/2002 ging, hielt sie fest, dass für S.
keine freie IV-anerkannte Schule habe gefunden werden können,
weshalb andere Privatschulen kontaktiert worden seien. In beiden
Entscheiden sprach sie zwar einen Teilbetrag zu, dies jedoch ohne
2003
Verwaltungsgericht
98
Präjudiz und unter Hinweis darauf, dass die Gemeinde grundsätzlich
keine Schulgelder an Privatschulen bezahle.
c) Steht fest, dass der Schulwechsel von S. in die Privatschule B
nicht freiwillig erfolgte, kein anderes Sonderschulangebot bestand
und S. ihre Schulpflicht nach der Beurteilung der Schulpflege, der
Kläger und der Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. G. die Schul-
pflicht (§ 4 Abs. 1 SchulG) nur an dieser Privatschule erfüllen
konnte, sind die wichtigen Gründe für die ausnahmsweise Über-
nahme des Schulgeldes für die Privatschule B erfüllt. Der Jugend-
psychologische Dienst des Bezirks M. und der Kinder- und Jugend-
psychiatrische Dienst W. bestätigten die Notwendigkeit einer Son-
derschulung und die Eignung der B. Die Schulpflege hat die Wahl
dieser Privatschule den schulischen Bedürfnissen von S. als ange-
messen beurteilt und deren Besuch als Erfüllung der Schulpflicht
erkannt. Es kann offen gelassen werden, ob damit eine Zustimmung
erteilt wurde. Massgebend ist in diesem Zusammenhang, dass in
erster Linie die Schulpflege verpflichtet ist, die geeignete Sonder-
schule zu finden (siehe vorne, Erw. 2/c) und sie im vorliegenden Fall
keine Alternative zur Privatschule B aufzeigen konnte. Unter diesen
Umständen kann es für die Leistungspflicht der Gemeinde nicht auf
die fehlende formelle Einwilligung gemäss § 11 Abs. 6 Sonderschul-
verordnung ankommen. Liegen die wichtigen Gründe im Sinne von §
6 Abs. 2 SchulG vor, ist das zuständige Gemeinwesen aus dem
Grundsatz der Unentgeltlichkeit verpflichtet, das klageweise gefor-
derte Schulgeld zu übernehmen. | 1,654 | 1,390 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-30_2003-03-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-30.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-30.pdf | AGVE_2003_30 | null | nan |
86521b8b-4f88-5858-a983-c15584346358 | 1 | 412 | 870,650 | 975,715,200,000 | 2,000 | de | 2000
Verwaltungsgericht
352
[...]
85
Zuständigkeit. Beschwerdelegitimation. Kostenauflage.
- Ist die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts im Hauptpunkt ge-
geben, so erstreckt sie sich auch auf Nebenpunkte wie die Kosten-
verlegung; der Kostenpunkt kann auch allein angefochten werden
(Erw. I/1).
- Schutzwürdiges Interesse als Voraussetzung der Beschwerdelegiti-
mation: Gegeben, soweit die Befreiung von Verfahrenskosten verlangt
wird, nicht aber hinsichtlich der Frage, wer sonst die Kosten zu
tragen hat (Erw. I/2).
- Kostenauflage an den obsiegenden Beschwerdeführer wegen ver-
späteten Vorbringens von Sachverhaltselementen, aber in der Regel
nicht wegen verspäteten Vorbringens rechtlicher Argumente
(Erw. II).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 7. Dezember 2000 in
Sachen M.J.M. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts. Zur Publikation
vorgesehen in StE 2001.
Sachverhalt
Der Steuerpflichtige M. zog aus der Gemeinde V. nach W. Dort
wurde er zu einer Jahressteuer veranlagt, deren Tatbestand sich be-
reits vor dem Umzug verwirklicht hatte. Er erreichte im Rekursver-
fahren, dass die Veranlagung der Steuerkommission W. wegen örtli-
cher Unzuständigkeit aufgehoben wurde. Das Steuerrekursgericht
auferlegte ihm gleichwohl die Kosten des Rekursverfahrens, mit der
Begründung, er habe dieses Argument im Einspracheverfahren vor
der Steuerkommission W. nicht vorgebracht und dadurch das Re-
2000
Verwaltungsrechtspflege
353
kursverfahren verursacht. Mit Beschwerde beantragte M., die Kosten
des Rekursverfahrens seien der Gemeinde W. aufzuerlegen.
Aus den Erwägungen
I. 1. Das Verwaltungsgericht beurteilt Beschwerden gegen
sämtliche Entscheide des kantonalen Steuerrekursgerichts in Staats-
und Gemeindesteuersachen (§ 54 Abs. 1 VRPG). Ist die Zuständig-
keit im Hauptpunkt gegeben, so erstreckt sie sich auch auf Neben-
punkte, wie insbesondere die Verlegung der Verfahrenskosten; der
Kostenpunkt kann auch für sich allein angefochten werden (AGVE
1983, S. 230). Das Verwaltungsgericht ist somit zur Behandlung des
vorliegenden Falles zuständig und überprüft den angefochtenen
Entscheid im Rahmen der Beschwerdeanträge vollumfänglich (§ 56
Abs. 3 VRPG).
2. Gemäss § 38 Abs. 1 VRPG setzt die Beschwerdeführung ein
schutzwürdiges eigenes Interesse voraus; ein solches liegt vor, wenn
die tatsächliche oder rechtliche Situation des Beschwerdeführers
durch den Ausgang des Verfahrens beeinflusst werden kann (vgl.
Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren
nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege
[Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Zürich 1998, § 38 N 129 f.).
Die Legitimation des Beschwerdeführers ist gegeben, soweit er die
Befreiung von den auferlegten Verfahrenskosten beantragt. Wer die
Kosten diesfalls zu tragen hat, ob der Staat oder die Einwohnerge-
meinde W., berührt ihn dagegen nicht (VGE II/54 vom 26. Juli 2000
in Sachen A.W., S. 4). Es ist denn auch anzunehmen, dass es ihm in
erster Linie darum geht, von der Kostenauflage befreit zu werden.
II. 1. Gemäss § 138 Abs. 1 StG werden die amtlichen Kosten
des Rekurs- und des Beschwerdeverfahrens der unterliegenden Partei
auferlegt. In Abweichung hiervon können die Gerichtskosten unab-
hängig vom Ausgang des Verfahrens verteilt werden, wenn der
2000
Verwaltungsgericht
354
unterliegende Steuerpflichtige das Rechtsmittel in guten Treuen er-
griffen hat oder wenn der obsiegende Steuerpflichtige das Rekurs-
oder Beschwerdeverfahren durch sein Verhalten in der Vorinstanz
verursacht hat (§ 138 Abs. 3 StG; vgl. auch § 33 Abs. 2 VRPG).
Die (ausnahmsweise) Kostenauflage an den obsiegenden Steu-
erpflichtigen kommt namentlich dann in Frage, wenn er sich trö-
lerisch oder widersprüchlich verhalten hat, wenn er die ihm obliegen-
den Mitwirkungs- und Verfahrenspflichten trotz Mahnung nicht er-
füllt hat (vgl. Jürg Baur, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz,
Muri/BE 1991, § 138 N 11), allgemein, wenn er wesentliche Sach-
verhaltselemente, die den Steuerbehörden nicht bekannt sind, ver-
spätet vorbringt oder Beweismittel zu spät vorlegt. Bei verspäteter
Geltendmachung von
rechtlichen Argumenten
ist eine Kostenauflage
zwar auch nicht völlig ausgeschlossen. Sie ist aber auf diejenigen
Fälle zu beschränken, wo die Steuerbehörde - in aller Regel im
Zusammenhang mit neuen tatbeständlichen Aspekten - zu einer
neuen rechtlichen Beurteilung gelangt, nachdem sie zuvor keinen
Anlass hatte, diesen Rechtsstandpunkt in Betracht zu ziehen. In den
anderen Fällen kann nicht gesagt werden, der Steuerpflichtige habe
das Rechtsmittelverfahren verursacht, zumal die korrekte Rechts-
anwendung der Behörde von Amtes wegen obliegt (§ 1 Abs. 1 und 2
i.V.m. § 20 Abs. 1 Satz 2 VRPG; vgl. auch Baur, a.a.O., § 127 N 2,
24). Wo es vorwiegend oder ebensosehr der Steuerbehörde anzu-
lasten ist, dass das Rechtsmittelverfahren erforderlich wurde, ist es
nicht gerechtfertigt, dem obsiegenden Steuerpflichtigen Kosten auf-
zuerlegen.
2. b) ... Dass der Beschwerdeführer die erhaltene Kapitalleis-
tung in seiner in W. abgegebenen Steuererklärung deklarierte, war
korrekt. Die Steuerkommission W. hätte ihre örtliche Zuständigkeit
hinsichtlich der Jahressteuer von Amtes wegen prüfen müssen
(Bernhard Meier, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, § 60
N 3). Somit kann nicht gesagt werden, der Beschwerdeführer habe
durch sein Verhalten im Veranlagungs- und Einspracheverfahren das
2000
Verwaltungsrechtspflege
355
Rekursverfahren verursacht oder es liege überwiegend an ihm, dass
das Rekursverfahren notwendig wurde, auch wenn er erst in seinem
Rekurs auf die Zuständigkeit der Gemeinde V. hinwies.
3. Die Auferlegung der Kosten des Rekursverfahren an den Be-
schwerdeführer erweist sich somit als nicht gerechtfertigt. In Gut-
heissung der Beschwerde sind ihm diese Kosten abzunehmen. Pra-
xisgemäss sind sie vom Staat zu tragen (vgl. § 35 Abs. 1 VRPG). | 1,331 | 1,079 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-85_2000-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-85.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-85.pdf | AGVE_2000_85 | null | nan |
866deef3-39cd-585d-856f-26b9aa7d7e55 | 1 | 412 | 870,397 | 1,214,870,400,000 | 2,008 | de | 2008
Strassenverkehrsrecht
61
[...]
15
Entzug des Führerausweises; Sicherungsentzug.
-
Keine Ausnahmebewilligung bei Visusmangel aufgrund Unfallfrei-
heit, wenn nicht eine kompensierende Fähigkeit nachgewiesen ist
(Erw. 2.5 und Erw. 2.6).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 9. Juli 2008 in Sachen
L.G. gegen den Entscheid des Departements Volkswirtschaft und Inneres
(WBE.2008.145).
2008
Verwaltungsgericht
62
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Eine Grundvoraussetzung für die Erteilung des Führerausweises
ist die sogenannte Fahreignung. Diese umfasst die körperlichen und
geistigen Voraussetzungen des Individuums zum sicheren Lenken ei-
nes Motorfahrzeugs im Strassenverkehr (vgl. BGE 133 II 384
Erw. 3.1 mit weiteren Hinweisen). Ausweise und Bewilligungen sind
zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Vorausset-
zungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1
SVG). Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG sieht die Entziehung des Führer-
ausweis einer Person auf unbestimmte Zeit vor, wenn ihre körperli-
che und geistige Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr ausreicht,
ein Motorfahrzeug sicher zu führen.
1.2.
Gemäss Art. 25 Abs. 3 lit. a SVG stellt der Bundesrat nach An-
hörung der Kantone Vorschriften auf über die Mindestanforderungen,
denen der Motorfahrzeugführer in körperlicher und psychischer Hin-
sicht genügen muss. Nach Art. 7 Abs. 1 VZV muss, wer einen Füh-
rerausweis erwerben will, die medizinischen Mindestanforderungen
nach Anhang 1 VZV erfüllen. Für die Ausweiskategorie der dritten
Gruppe (unter anderem Führerausweis-Kategorien A und B) muss die
Sehschärfe des einen Auges korrigiert minimal 0.6 und die des
anderen korrigiert minimal 0.1 betragen. Weiter darf das Gesichtsfeld
horizontal nicht weniger als 140° erfassen und kein Doppelsehen
vorhanden sein.
1.3.
Die am 18. Dezember 2007 beim Strassenverkehrsamt einge-
gangene ärztliche Begutachtung des Beschwerdeführers durch
Dr. med. X. hielt fest, die Sehschärfe des Beschwerdeführers betrage
korrigiert 0.4 (rechtes Auge) und 0.3 (linkes Auge). Dr. med. Y. kon-
statierte am 4. Dezember 2007 eine bestkorrigierte Sehschärfe von
0.5 (rechtes Auge) und 0.2 (linkes Auge).
2008
Strassenverkehrsrecht
63
1.4.
Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer die medizini-
schen Mindestanforderungen bezüglich Sehschärfe von Anhang 1
VZV nicht erreicht, weshalb gemäss Art. 16 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG der Führerausweis grundsätzlich zu
entziehen ist.
2.
2.1.
Gemäss Art. 7 Abs. 3 VZV kann die kantonale Behörde von den
medizinischen Mindestanforderungen abweichen, wenn eine mit
Spezialuntersuchungen betraute Stelle dies beantragt und soweit
nicht ein Ausschlussgrund nach Art. 14 SVG vorliegt. Nur wenn da-
von ausgegangen werden kann, dass ein Motorfahrzeugführer trotz
seines Gebrechens fähig ist, ein Motorfahrzeug sicher zu führen,
kommt ein Abweichen von den medizinischen Mindestanforderun-
gen in Frage. Gemäss Bundesgericht ist dies nur dann der Fall, wenn
die Verkehrssicherheit trotz der mangelnden Sehschärfe gewähr-
leistet ist bzw. ein Mangel im Visus durch eine besondere Fähigkeit
in einem anderen Bereich ausgeglichen werden kann (BGE vom
31. Juli 2000 [6A.16/2000], Erw. 3 und 4b). Da die Bestimmungen
über die medizinischen Mindestanforderungen an Motorfahrzeugfüh-
rer im Hinblick auf eine erhöhte Sicherheit im Strassenverkehr ver-
schärft worden sind, darf von diesen Anforderungen nicht leichtfertig
abgewichen werden (erwähnter BGE vom 31. Juli 2000, Erw. 3). Ist
trotz entsprechender Auflagen und Beschränkungen keine Gewähr
gegeben, dass ein Fahrzeuglenker sein Motorfahrzeug im Sinne von
Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG sicher zu führen vermag, muss ihm der
Führerausweis aus Sicherheitsgründen zwingend entzogen werden
(erwähnter BGE vom 31. Juli 2000, Erw. 3; 103 Ib 29 Erw. 1a).
2.2.
Der Beschwerdeführer führt an, vorliegend sei in Anwendung
von Art. 7 Abs. 3 VZV eine Abweichung der medizinischen Min-
destanforderungen nach Anhang 1 VZV angebracht. Sowohl der
ärztliche Bericht von Dr. med. Y. als auch derjenige von Dr. med. X.
würden dem Beschwerdeführer Fahrtauglichkeit mit der Auflage des
Tagfahrens und einer halbjährlichen ärztlichen Kontrolle bescheini-
2008
Verwaltungsgericht
64
gen. Diese ärztlichen Aussagen seien verbindlich und eine Abwei-
chung dürfe nicht ohne Not und nur unter qualifizierter Begrün-
dungspflicht erfolgen. Der eigens vom Strassenverkehrsamt für die
Untersuchung des Beschwerdeführers eingesetzte Gutachter Dr. med.
X. habe im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unter Er-
wähnung der vom Beschwerdeführer erfüllten jahrelangen unfall-
freien Fahrpraxis einen Antrag auf Sonderbewilligung im Sinne von
Art. 7 Abs. 3 VZV gestellt. Es sei willkürlich zu behaupten, ein An-
trag im Sinne von Art. 7 Abs. 3 VZV liege nicht vor, zumal das Stra-
ssenverkehrsamt Dr. med. X. zu dieser Thematik gar nicht befragt
habe.
2.3.
Das DVI führt mit Verweis auf die bundesgerichtliche Recht-
sprechung an, ein Abweichen von den medizinischen Mindestanfor-
derungen sei nur möglich, wenn ein Mangel im Visus durch eine be-
sondere Fähigkeit in einem anderen Bereich ausgeglichen werden
könne. Weder Dr. med. X. noch Dr. med. Y. hätten eine ent-
sprechende Fähigkeit des Beschwerdeführers dargelegt. Die von
Dr. med. X. erwähnte jahrelange unfallfreie Fahrpraxis rechtfertige
ein Abweichen von den medizinischen Mindestanforderungen nicht.
Weiter äussere Dr. med. X. in seinem Bericht an das Strassenver-
kehrsamt lediglich die Bitte, praktisch zu prüfen, inwiefern eine
Sonderregelung möglich wäre; daher überlasse er die Beurteilung, ob
ein Abweichen von den medizinischen Mindestanforderungen ge-
rechtfertigt sei, letztlich dem Strassenverkehrsamt, weshalb kein
Antrag im Sinne von Art. 7 Abs. 3 VZV vorliege.
2.4.
Dr. med. X. beurteilt den Beschwerdeführer am 18. Dezember
2007 als nicht tauglich als Motorfahrzeugführer der Gruppe 3. Mit
Blick auf den die Fahrtauglichkeit eindeutig verneinenden ärztlichen
Bericht ist die Aussage des Beschwerdeführers, Dr. med. X. beschei-
nige ihm Fahrtauglichkeit, nicht nachvollziehbar. Dr. med. X. emp-
fiehlt lediglich eine praktische Prüfung durch das Strassenverkehrs-
amt. Diese kann aber einen eindeutigen Antrag einer mit Spezialun-
tersuchungen betrauten Stelle im Sinne von Art. 7 Abs. 3 VZV nicht
ersetzen. Dr. med. Y. führt in seiner Begutachtung vom 4. Dezember
2008
Strassenverkehrsrecht
65
2007 aus, der Beschwerdeführer erfülle die medizinischen Mindest-
anforderungen knapp nicht; er sei aus augenärztlicher Sicht fahr-
tauglich (mit Ausnahme in der Nacht). Es ist nicht ersichtlich, worauf
Dr. med. Y. die Festestellung der Fahrtauglichkeit stützt, nachdem er
gerade selber konstatiert hat, die medizinischen Mindestanforderun-
gen seien nicht erfüllt. Sicherlich kann in dieser unbegründeten Fest-
stellung kein Antrag auf eine Ausnahmebewilligung gesehen werden,
zumal im Kanton Aargau grundsätzlich ausschliesslich die Kliniken
der Kantonsspitäler und die Psychiatrische Klinik Königsfelden für
verkehrsmedizinische Spezialabklärungen zuständig sind (vgl. § 19
Abs. 1 lit. c SVV). Ein Antrag auf Abweichung von den medizini-
schen Mindestanforderungen im Sinne von Art. 7 Abs. 3 VZV liegt
somit eindeutig nicht vor. Deshalb geht auch die Rüge des Be-
schwerdeführers, es liege Rechtsverweigerung vor, weil das Gutach-
ten von Dr. med. X. einen Antrag im Sinne von Art. 7 Abs. 3 VZV
darstelle und nicht behandelt worden sei, ins Leere.
2.5.
Dr. med. X. schreibt in seinem Bericht vom 18. Dezember
2007, da der Beschwerdeführer offenbar jahrelang unfallfrei gefah-
ren sei, bitte er, praktisch zu prüfen, inwiefern eine Sonderregelung
(Fahren tagsüber mit Brille) möglich wäre. Wie das DVI richtig dar-
legt, kann die mangelnde Sehschärfe des Beschwerdeführers nicht
durch eine jahrelange unfallfreie Fahrpraxis wettgemacht werden. Ist
der Beschwerdeführer in der Vergangenheit unfallfrei gefahren, lässt
sich dadurch nicht auf eine künftige Gewährleistung der Verkehrs-
sicherheit schliessen. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer be-
reits vor einem Jahr ungenügende Visuswerte aufwies und seither
keinen verkehrssicherheitsrelevanten Vorfall verursachte, vermag da-
ran nichts zu ändern. Vielmehr wäre gemäss bundesgerichtlicher
Rechtsprechung eine besondere, den Visusmangel ausgleichende
Fähigkeit in einem anderen Bereich gefordert. Eine solche wird von
keinem ärztlichen Gutachten dargelegt und wird vom Beschwerde-
führer weder behauptet noch bewiesen.
2.6.
Ein Antrag auf eine Ausnahmebewilligung liegt somit nicht vor
und es ist auch nicht bewiesen, dass der Mangel im Visus durch eine
2008
Verwaltungsgericht
66
besondere Fähigkeit des Beschwerdeführers in einem anderen Be-
reich ausgeglichen wird. Unfallfreiheit genügt zweifellos nicht, um
einen Ausnahmetatbestand zu begründen. Unter diesen Umständen
besteht keine Gewähr, dass der Beschwerdeführer sein Motorfahr-
zeug sicher zu führen vermag. Eine Ausnahmebewilligung im Sinne
von Art. 7 Abs. 3 VZV ist bei dieser Sachlage nicht angebracht. | 2,073 | 1,650 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-15_2008-07-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-15.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-15.pdf | AGVE_2008_15 | null | nan |
86920267-68ed-5f30-ab6d-3c671df2495a | 1 | 412 | 871,132 | 1,496,448,000,000 | 2,017 | de | 2017
Verwaltungsrechtspflege
253
XII. Verwaltungsrechtspflege
44
Gutachten
Im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren ist grundsätzlich keine Beleh-
rung des Sachverständigen über die Strafbarkeit eines falschen Gutach-
tens vorzunehmen; eine unzureichende Instruktion des Experten führt
nicht zur Unverwertbarkeit des Gutachtens und ist im Rahmen der Be-
weiswürdigung zu berücksichtigen.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 7. Juni 2017,
i.S. A. gegen Regierungsrat (WBE.2016.246)
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
In formeller Hinsicht rügt der Beschwerdeführer schliesslich,
vor der Erstellung des psychiatrischen Gutachtens sei keine Inpflicht-
nahme der Gutachterin erfolgt. Die Sachverständige sei zuvor nicht
auf die Wahrheitspflicht, das Amtsgeheimnis und die Neutralitäts-
pflicht hingewiesen worden. Auch ein Hinweis auf die Straffolgen
des falschen Gutachtens sei unterblieben. Entgegen den vorinstanzli-
chen Erwägungen sei die Inpflichtnahme aufgrund des Verweises auf
das Zivilprozessrecht Voraussetzung für die Verwertung des Gutach-
tens. Die Inpflichtnahme habe sich umso mehr aufgedrängt, als das
Gutachten der PDAG nicht durch den Chefarzt Dr. B., sondern durch
dipl. psych. C., Psychologin FSP Forensik, erstattet worden sei. Es
sei nicht verwertbar.
3.2.
Gemäss § 24 Abs. 1 VRPG kann sich die Behörde jener
Beweismittel bedienen, die sie nach pflichtgemässem Ermessen zur
Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält. Sie kann insbeson-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
254
dere Expertisen anordnen (lit. d). § 24 Abs. 4 Satz 1 VRPG verweist
auf das Zivilprozessrecht, wenn die Unterschiede der beiden Verfah-
rensarten dies nicht ausschliessen.
Soweit der Beschwerdeführer vorbringen lässt, die Fachstelle
SIWAS der Kantonspolizei hätte die Gutachterin entsprechend
Art. 184 Abs. 2 ZPO auf die Strafbarkeit eines falschen Gutachtens
nach Art. 307 StGB hinweisen müssen, trifft dies nicht zu. Im erstin-
stanzlichen Verwaltungsverfahren unterliegen Sachverständige
grundsätzlich keiner Wahrheitspflicht gemäss Art. 307 StGB (vgl.
K
ASPAR
P
LÜSS
, in: A
LAIN
G
RIFFEL
[Hrsg.], Kommentar zum
Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Auflage,
Zürich/Basel/Genf 2014, § 7 N 74). Die Anwendbarkeit dieses Arti-
kels auf Verfahren vor Beamten setzt entsprechend Art. 309 StGB
deren ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Zeugenbefragung
voraus (vgl. V
ERA
D
ELNON
/B
ERNHARD
R
ÜDY
, in: Basler Kommen-
tar, Strafgesetzbuch II, Art. 111-401 StGB, 2003, Art. 309 N 3). Ge-
mäss § 24 Abs. 2 VRPG ist die Zeugeneinvernahme bei Verwal-
tungsverfahren nur im Rechtsmittelverfahren zulässig, weshalb die
Strafbestimmung im Grundsatz nur dort zur Anwendung gelangt
(vgl. AGVE 1986, S. 338). Art. 184 Abs. 2 ZPO betreffend die In-
pflichtnahme des Sachverständigen unter Hinweis auf die Straffolgen
eines falschen Gutachtens ist somit im erstinstanzlichen Verwal-
tungsverfahren grundsätzlich nicht analog anwendbar. Damit können
fehlende Hinweise auf die Pflichten von Sachverständigen im Gut-
achtensauftrag nicht zur Unverwertbarkeit des Gutachtens führen.
Hingegen stellt sich die Frage nach der analogen Anwendbar-
keit der übrigen Grundsätze von Art. 183 ff. ZPO, wenn erstinstanz-
liche Verwaltungsbehörden gestützt auf § 24 Abs. 1 lit. d VRPG Ex-
pertisen anordnen (vgl. A
LFRED
K
ÖLZ
/J
ÜRG
B
OSSHART
/M
ARTIN
R
ÖHL
, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons
Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, § 7 N 27 f.). Nachdem der Be-
schwerdeführer keine Befangenheit der Gutachterin geltend macht
und sich die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs bezüglich
der Einholung des Gutachtens als unbegründet erwies, können Vor-
schriften betreffend die vorgängige Anhörung (vgl. Art. 183 Abs. 1
Satz 2 und 185 Abs. 2 ZPO) und Ausstandsgründe (vgl. Art. 183
2017
Verwaltungsrechtspflege
255
Abs. 2 ZPO) nicht tangiert sein. Relevant sein können hingegen
Modalitäten der Instruktion der sachverständigen Person (vgl.
Art. 185 Abs. 1 ZPO) sowie fehlende Hinweise auf deren Pflichten
gemäss Art. 184 Abs. 1 ZPO.
Das Verwaltungsverfahrensrecht wird von der Untersuchungs-
maxime beherrscht, d.h. die Behörden ermitteln den Sachverhalt (un-
ter Beachtung der Vorbringen der Parteien) von Amtes wegen und
stellen die dazu notwendigen Untersuchungen an (§ 17 Abs. 1
VRPG). Der Sachverhaltsabklärung dient unter anderem die Exper-
tise (§ 24 Abs. 1 VRPG). Deren Beweiskraft (bzw. generell das
Ergebnis der Untersuchung) würdigt die Behörde frei (§ 17 Abs. 2
VRPG). Die sachverständige Person ist von Gesetzes wegen zur
Wahrheit verpflichtet (Art. 184 Abs. 1 ZPO); eines zusätzlichen Hin-
weises durch die den Auftrag erteilende Verwaltungsbehörde bedarf
es nicht. Die Vorschrift, wonach die sachverständige Person gebüh-
rend zu instruieren ist (Art. 185 Abs. 1 ZPO), bildet - im Gegensatz
zur Strafbarkeitsbelehrung gemäss Art. 184 Abs. 2 ZPO bei gericht-
lichen Gutachten - keine Verwertbarkeitsvoraussetzung. Aus diesen
Gründen ist es allein eine Frage der Beweiswürdigung, welche Kon-
sequenzen allenfalls daraus zu ziehen sind, dass der Sachverständige
nicht explizit auf die Wahrheitspflicht hingewiesen und/oder von der
Verwaltungsbehörde nicht gehörig instruiert worden ist. Dasselbe gilt
in Bezug auf eine allfällige Verletzung der Ausstandsvorschriften
(vgl. Art. 183 Abs. 2 ZPO). Wurden die erwähnten Vorschriften ver-
letzt, so ist dem entsprechenden Gutachten unter Umständen ein
deutlich geringerer Beweiswert zuzumessen als einem gerichtlichen
Gutachten; andernfalls mag der Beweiswert unter Umständen ver-
gleichbar sein. Im konkreten Fall darf aufgrund der regelmässig von
den PDAG erstatteten Gutachten davon ausgegangen werden, dass
deren Verantwortliche mit den Pflichten von Sachverständigen ver-
traut sind. Insbesondere sind vorliegend keine Anhaltspunkte für eine
fehlende Neutralität der Gutachterin ersichtlich. Weiter ergibt sich
aus dem Gutachten, dass der Expertin die Aufgabenstellung hinrei-
chend klar war. Aufgrund der Praxis ist überdies notorisch, dass
psychiatrischen Begutachtungen durch die PDAG in zahlreichen Ge-
bieten des Verwaltungsrechts grosse Bedeutung zukommt. Es ist da-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
256
her unter formellen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden, dass die
Vorinstanz auf das von der Kantonspolizei angeordnete Gutachten
abstellte und diesem einen hohen Stellenwert beimass. | 1,513 | 1,182 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-44_2017-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-44.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-44.pdf | AGVE_2017_44 | null | nan |
86f79adb-453a-54b4-8d21-b3aaf00fd441 | 1 | 412 | 871,425 | 1,133,395,200,000 | 2,005 | de | 2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
259
VI. Fürsorgerische Freiheitsentziehung
53 Verhältnismässigkeit der fürsorgerischen Freiheitsentziehung trotz
fehlender Behandlungsfähigkeit; Anstaltseinweisung zur Sicherstellung
der persönlichen Fürsorge.
-
Geistesschwäche bei Demenz (Erw. 2.3.).
- Trotz fehlender Behandlungsfähigkeit ist eine fürsorgerische Frei-
heitsentziehung dann verhältnismässig, wenn ein konkretes Fürsor-
gebedürfnis vorliegt, welches im ambulanten Rahmen nicht mehr
abgedeckt werden kann (Erw. 3.2.2.).
- Anstaltsunterbringung zur Sicherung eines menschenwürdigen Da-
seins, wenn nötige persönliche Fürsorge nur noch durch langfristigen
Aufenthalt in geeigneter Anstalt sichergestellt werden kann
(Erw. 3.3.3.).
- Psychiatrische Klinik als geeignete Anstalt bei (Alzheimer-) Demenz
(Erw. 4.).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 2. Dezember 2005 in
Sachen H. Z. gegen Entscheid der Klinik Königsfelden.
Sachverhalt
H.Z., der mit seiner Lebenspartnerin R.S. in deren Einfamilien-
haus zusammen lebt, wurde nach diversen Konflikten vom Be-
zirksarzt wegen Hinweisen auf ein fortgeschrittenes dementielles
Syndrom in die Klinik Königsfelden eingewiesen. Die Klinikärzte
diagnostizierten bei Klinikeintritt eine beginnende Alzheimer-De-
menz kombiniert mit depressivem Syndrom. Den ärztlichen Angaben
zufolge stünden Gedächtnisstörungen im Vordergrund, zudem be-
stehe ein schweres bis mittelgradiges Defizit in der Krankheitsein-
sicht und in der Selbstbeurteilung. Der Beschwerdeführer habe in
den letzten Jahren eine Wesensveränderung durchgemacht. Im Vor-
2005
Verwaltungsgericht
260
dergrund stehe auch eine Wahnhaftigkeit. Zudem sei ein depressives
Syndrom diagnostiziert worden. Der Verlauf sei nicht sehr erfreulich.
Der jetzige Zustand sei wohl das Maximum, das erreicht werden
könne. Die Desorientierung und die Vergesslichkeit seien Faktoren,
welche die Wahnhaftigkeit noch verstärkten. Das sei typisch für De-
menzerkrankungen. Der Patient finde Sachen nicht mehr und verar-
beite dies wahnhaft. Zusammen mit der fehlenden Impulskontrolle
werde der Beschwerdeführer unberechenbar. Aufgrund dieser ärztli-
chen Befunde steht für das Verwaltungsgericht die Diagnose einer
kortiko-subkortikalen Demenz gemischter Genese (Alzheimer/vasku-
lär) fest, was bedeutet, dass eine psychische Krankheit besteht.
Aus den Erwägungen
2.3.
2.3.1. Weil die medizinische Betrachtungsweise, d.h. die Frage,
ob eine psychische Erkrankung vorliegt, nicht mit der Definition der
Geisteskrankheit bzw. Geistesschwäche nach ZGB übereinstimmt,
sondern sich letztere nach dem äusseren Erscheinungsbild richtet,
kann die juristische Beurteilung von der medizinischen abweichen
(AGVE 1985, S. 205 mit Hinweis; Eugen Spirig, in: Zürcher Kom-
mentar, Art. 397a - 397f ZGB, Zürich 1995, Art. 397a N 32 mit
Hinweisen).
2.3.2.
2.3.2.1. Gemäss einem Bericht des Sozialdienstes X. vom
28. Oktober 2005 sei die Problematik des Beschwerdeführers und
R.S. der Gemeinde und dem Sozialdienst schon länger bekannt ge-
wesen. Nach ihrer Einschätzung sei der Beschwerdeführer dement.
Dies äussere sich in einem extremen Misstrauen, in Wutausbrüchen
mit weggeschmissenen Sachen und in Drohungen gegenüber R.S.
wie: "Ich zünde das Haus an", "ich jage das Haus in die Luft", "ich
besorge mir eine Waffe, dann wirst Du sehen, was passiert". R.S.
wünsche sich seit längerer Zeit, dass der Beschwerdeführer ausziehe.
Bisher ausgesprochene Kündigungen habe er ignoriert. In letzter Zeit
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
261
habe sich die Situation verschärft. Laut R.S. sei auch ein tätlicher
Angriff erfolgt.
2.3.2.2. Anlässlich eines Familiengesprächs in der Klinik Kö-
nigsfelden am 8. November 2005 gab R.S. an, der Beschwerdeführer
habe sich seit mindestens vier Jahren zunehmend verändert. Be-
gonnen habe es damit, dass er beim Autofahren nicht mehr gewusst
habe, wohin und er rechts und links verwechselt habe. Trotz Aus-
weisentzug im August 2003 sei er weiterhin Auto gefahren, seither
sei es "bergab" gegangen. Er habe zunehmend Bestehlungsideen ent-
wickelt. Zudem habe er plötzlich geglaubt, das von R.S. 1990 ge-
kaufte Haus gehöre ihm. Er habe auch vermehrt sein Geld irgendwo
im Haus versteckt, um es nachher nicht mehr zu finden. Insbesondere
nachts habe der Beschwerdeführer jeweils Suchaktionen nach ver-
schiedenen Dingen gestartet. Es habe in den letzten Jahren und ins-
besondere Monaten zunehmend "Auswüchse" im Sinne von Beschul-
digungen, Beschimpfungen und aggressiven Ausbrüchen gegeben.
Der Beschwerdeführer meinte, er wisse nichts von den Vorfällen.
Zudem gehöre das Haus weiterhin ihm. Das sei Diebstahl, wenn das
Haus nicht mehr ihm gehören würde. Er wisse auch nichts davon,
dass er hätte Miete bezahlen müssen.
2.3.2.3. (...)
2.3.2.4. Gemeindeammann Y. berichtete an der heutigen Ver-
handlung, der Beschwerdeführer habe am 28. Oktober 2005 zwei
Mal geäussert, dass er R.S. umbringen wolle. Im Vorfeld sei es
bereits zu einer Tätlichkeit gekommen.
2.3.2.5. Der Beschwerdeführer wusste anlässlich der Verhand-
lung auf sehr viele Fragen keine Antwort zu geben. Zum Beispiel auf
die Fragen, welches seine letzte Arbeitsstelle vor der Pensionierung
gewesen sei, ob er Vermögen habe, wann seine Scheidung gewesen
sei, warum er keinen Kontakt mehr zu seinen Söhnen habe, seit wann
er bei R.S. wohne und wie viel Miete er bezahle. Darauf ange-
sprochen, ob er mit dem Gedächtnis ein Problem habe, verneinte er
und sagte, dass man etwas vergesse, wenn man es vergessen wolle.
Bei mehreren Fragen bat er R.S. oder Y., ihm bei der Beantwortung
zu helfen. Der Beschwerdeführer gab zu, gedroht zu haben, das Haus
von Frau S. anzuzünden und meinte, das sei etwas, das man in einer
2005
Verwaltungsgericht
262
angespannten Diskussion so sage. Obwohl R.S. wünscht, dass der
Beschwerdeführer auszieht, äusserte dieser mehrmals, er wolle zu ihr
zurückgehen. Auf das Altersheim Z. angesprochen meinte der Be-
schwerdeführer, wenn er dahin müsse, dann passiere etwas, eher
gehe er in den Rhein als ins Altersheim. Unverständlich war, dass der
Beschwerdeführer behauptete, das Einfamilienhaus gehöre ihm und
R.S., obwohl er nicht wusste, wer von beiden im Grundbuch
eingetragen ist.
2.3.3. Gesamthaft betrachtet zeigen der Bericht des Sozial-
dienstes X. vom 28. Oktober 2005, die von der Lebenspartnerin ge-
machten glaubwürdigen Schilderungen sowie die Äusserungen des
Beschwerdeführers an der Verhandlung erhebliche Auffälligkeiten
seiner Denk- und Verhaltensweisen. Da diese schon länger andauern
und über weite Strecken befremdend und schwer nachvollziehbar
sind, ist zumindest das Vorliegen einer Geistesschwäche im juristi-
schen Sinne zu bejahen.
3.1. Allein die Tatsache, dass eine Person an einer Geistes-
schwäche im Sinne des ZGB leidet, genügt nicht zur Anordnung und
Aufrechterhaltung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Diese
einschneidende Massnahme ist nur dann zulässig, wenn das Fürsor-
gebedürfnis des Betroffenen unter Berücksichtigung seiner eigenen
Schutzbedürftigkeit und der Belastung der Umgebung sie erfordert
und andere, weniger weitgehende Vorkehren nicht genügen
(Art. 397a Abs. 1 und 2 ZGB; AGVE 1997, S. 240; 1992, S. 276;
1990, S. 223; Thomas Geiser in: Basler Kommentar, ZGB I/2,
2. Auflage, Basel/Genf/München 2002, Art. 397a N 12 f.; Spirig,
a.a.O., Art. 397a N 259 f.).
3.2.
3.2.1. Eine Verwaltungsmassnahme muss geeignet sein, das im
öffentlichen Interesse angestrebte Ziel zu erreichen (Ulrich Häfe-
lin/Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zü-
rich/Basel/Genf 2002, Rz. 581). Sie muss im Hinblick auf das im öf-
fentlichen Interesse angestrebte Ziel erforderlich sein und darf in
sachlicher, räumlicher, zeitlicher und personeller Beziehung nicht
über das Notwendige hinausgehen (Häfelin/Müller, a.a.O., Rz. 591,
594) und sie muss durch ein das private überwiegendes öffentliches
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
263
Interesse gerechtfertigt sein (Häfelin/Müller, a.a.O., Rz. 615). Dies
gilt auch im Falle einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Dass
dabei die Verhältnismässigkeit gewahrt werden muss, drückt
Art. 397a ZGB mit den Worten aus: "...wenn ihr die nötige persönli-
che Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann". Die fürsorgerische
Freiheitsentziehung muss also ultima ratio bleiben (Spirig, a.a.O.,
Art. 397a N 258 f.).
3.2.2. In der Regel soll der Klinikaufenthalt eine (meist medi-
kamentöse) Behandlung ermöglichen, die notwendig erscheint und
wegen des Zustands und Verhaltens der betroffenen Person nicht
ambulant erfolgen kann. Das Verwaltungsgericht hat in seiner bishe-
rigen Rechtsprechung daher festgehalten, die fürsorgerische Frei-
heitsentziehung sei unverhältnismässig, wenn nur vage Aussichten
auf einen Behandlungserfolg bestünden und der Betroffene nicht in
hohem Masse selbst- oder fremdgefährlich sei (AGVE 1993, S. 310
ff.). Bei Gefahr eines sofortigen Rückfalls könne jedoch keine Ent-
lassung erfolgen (AGVE 1994, S. 352 ff.). Es sei - namentlich in
schweren Fällen - zu prüfen, ob die Behandlungsfähigkeit der be-
troffenen Person gegeben ist. Der mit dem Freiheitsentzug verbun-
dene Eingriff in die persönliche Freiheit sei in der Regel unverhält-
nismässig, wenn der Freiheitsentzug weitgehend den Charakter einer
blossen Verwahrung annimmt (AGVE 1988, S. 265). Diese Recht-
sprechung ist zugeschnitten auf die Vielzahl der Fälle fürsorgerischer
Freiheitsentziehungen von psychisch kranken Menschen, die in
einem akuten Zustand (z.B. wegen Exazerbation einer paranoiden
Schizophrenie) in eine Psychiatrische Klinik zur stationären Be-
handlung eingewiesen werden. Das Ziel ist in diesen Fällen eine
Verbesserung des Zustands und eine Stabilisierung durch medika-
mentöse Behandlung, um danach die Patienten wieder aus der Klinik
zu entlassen und in einem ambulanten Rahmen weiter zu behandeln.
Daneben umfasst Art. 397a ZGB aber auch andere Situationen,
in denen einer psychisch kranken (bzw. süchtigen oder verwahrlos-
ten) Person die notwendige persönliche Fürsorge nur noch durch eine
stationäre Betreuung und Pflege erwiesen werden kann, ansonsten
ihr ein menschenwürdiges Leben verunmöglicht wird. Diese Voraus-
setzung kann unabhängig vom Vorliegen einer Behandlungsfähigkeit
2005
Verwaltungsgericht
264
erfüllt sein. Zu denken ist beispielsweise an Personen mit einer De-
menzerkrankung, welchen aufgrund dieser Geistesschwäche bzw.
Geisteskrankheit ein selbständiges Wohnen verunmöglicht ist (z.B.
wegen Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit, körperlicher Pflege-
bedürftigkeit, Verwahrlosungsgefahr, Selbstgefährdung) und welche
an einer Krankheit leiden, die im heutigen Zeitpunkt weder durch
Therapie noch durch medikamentöse Behandlung geheilt werden
kann. Das Fürsorgebedürfnis solcher Patienten, welche z.B. aufgrund
einer Alzheimer-Demenz an einer Geisteskrankheit im juristischen
Sinne leiden, kann in einer engmaschigen Betreuung, Pflege und
Kontrolle bestehen, die unter Umständen nur noch in einem
professionellen stationären Rahmen erwiesen werden kann, weil eine
1:1 Betreuung im privaten Umfeld aufgrund der Belastung der
Umgebung einerseits und der Schutzbedürftigkeit des Betroffenen
andererseits oft nicht mehr möglich ist. Fehlt es somit an einer ei-
gentlichen Behandlungsfähigkeit, so ist im Rahmen der Verhältnis-
mässigkeitsprüfung abzuklären, ob das konkrete Fürsorgebedürfnis
eine fürsorgerische Freiheitsentziehung rechtfertigt, d.h. ob dieses in
einem ambulanten Rahmen nicht mehr abgedeckt werden kann.
Diese konstante Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts ent-
spricht der neueren Lehre. So führt Elisabeth Scherwey aus: "Die
Freiheitsentziehung muss die persönliche Fürsorge sicherstellen und
hat die Anstaltsentlassung innert nützlicher Frist herbeizuführen.
Eine Relativierung erfährt diese Aussage bei unheilbaren Zuständen,
wenn Ziel und Zweck der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, näm-
lich die Wiedererlangung der Selbstständigkeit und Eigenverant-
wortung einer Person, nicht erreicht werden kann, die Anordnung
einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung sich aber gleichwohl auf-
drängt und rechtfertigt. Dies kann beispielsweise auf Personen mit
altersbedingter Verwirrtheit zutreffen. Hier ist die Anstaltsunter-
bringung zur Erbringung der notwendigen persönlichen Betreuung
und zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins trotz fehlender
Behandelbarkeit zulässig. In solchen Einzelfällen steht nicht mehr
die Entlassung im Vordergrund, sondern die Sicherung eines men-
schenwürdigen Daseins (unter Umständen mit ständigem Aufenthalt
in der hiefür geeigneten Anstalt). Welcher Art die persönliche Für-
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
265
sorge zu sein hat und in welchem Umfang sie zu gewähren ist, hängt
von den Umständen und Bedürfnissen des Einzelfalles ab" (Elisabeth
Scherwey, Das Verfahren bei der vorsorglichen fürsorgerischen Frei-
heitsentziehung, Diss. Lachen 2004, S. 15 f.; vgl. auch dazu Geiser,
a.a.O, Vor Art. 397a-f, N 9).
3.3.
3.3.1. Am Zustandsbild und am Verhalten des Beschwerdefüh-
rers hat sich seit der Abweisung des Entlassungsgesuches am
16. November 2005 bis zur heutigen Verhandlung nichts Wesent-
liches verändert. Die medikamentöse Behandlung ändert nichts am
Vorliegen einer kortiko-subkortikalen Demenz, sie führt einzig zu
einer gewissen Beruhigung des Beschwerdeführers und damit zu
einer besseren Sozialverträglichkeit. Die Frage der Rechtsmässigkeit
der Abweisung des Entlassungsgesuchs kann deshalb gleichzeitig mit
der Frage einer allfälligen Entlassung im Urteilszeitpunkt überprüft
werden. Die betroffene Person muss entlassen werden, sobald ihr
Zustand es erlaubt (Art. 397a Abs. 3 ZGB; § 67f EG ZGB). Es ist
demnach zu prüfen, ob der Beschwerdeführer im heutigen Zeitpunkt
entlassen werden kann (AGVE 1992, S. 276, 285; 1990, S. 224;
Gottlieb Iberg, Aus der Praxis der fürsorgerischen Freiheitsentzie-
hung, in: Schweizerische Juristenzeitung 79/1983, S. 297).
3.3.2. Der Beschwerdeführer verlangt sinngemäss die sofortige
Entlassung aus der Klinik, er fühle sich nicht krank und werde in der
Klinik zu Unrecht behandelt. Anlässlich der Verhandlung erklärte der
Beschwerdeführer, er wolle nach seiner Entlassung zu R.S. zurück.
Darauf angesprochen, dass er nicht mehr zu R.S. zurückkönne,
meinte der Beschwerdeführer, wenn er das Geld bekomme, das im
Haus stecke, dann gehe er in die Ostschweiz. Zudem erwähnte der
Beschwerdeführer eine Familie H.. Frau H. habe ihm vor langer Zeit
anerboten, er könne zu ihr kommen. Auf das Altersheim Z. ange-
sprochen meinte der Beschwerdeführer, dahin wolle er nicht, sonst
passiere etwas, dann gehe er eher in den Rhein.
3.3.3.
3.3.3.1. Nach Aussagen des zuständigen Assistenzarztes habe
sich das Zustandsbild des Beschwerdeführers seit der Einweisung
nicht gross verändert. Der behandelnde Oberarzt fügte an, der jetzige
2005
Verwaltungsgericht
266
Zustand sei wohl das Maximum, das erreicht werden könne. Die
Desorientierung und die Vergesslichkeit seien Faktoren, welche die
Wahnhaftigkeit verstärkten. Zusammen mit der fehlenden Impuls-
kontrolle werde der Beschwerdeführer unberechenbar. Solange der
Beschwerdeführer in der Klinik sei und behandelt werde, sei er rela-
tiv ruhig, die Situation könne aber schnell eskalieren. Er beurteile die
Selbstgefährdung des Beschwerdeführers als hoch, dieser sei sehr
impulsiv, das habe mit der vaskulären Komponente der Demenz zu
tun. Der Beschwerdeführer habe eine Hemmschwäche, so dass er
Impulse direkt umsetze. Dabei handle es sich um eine organische
Hirnschädigung, weshalb dies nicht verbessert werden könne. Eine
Verlegung ins Altersheim Z. zum jetzigen Zeitpunkt könnte er nicht
verantworten, was aber nicht heisse, dass der Beschwerdeführer zu
einem späteren Zeitpunkt nicht verlegt werden könnte.
3.3.3.2. Für das Verwaltungsgericht steht aufgrund der Kran-
kengeschichte, der ärztlichen Aussagen und des an der heutigen Ver-
handlung gewonnenen Eindrucks fest, dass trotz adäquater medika-
mentöser Behandlung des Beschwerdeführers nicht mit einem gross-
artigen Behandlungserfolg gerechnet werden kann. Alzheimer-De-
menz wird durch einen fortschreitenden Verlust von Zellen im Ge-
hirn ausgelöst. Bis heute gibt es keine Behandlung, die Alzheimer-
Demenz heilen oder aufhalten könnte (vgl.
Dörner/Plog/Teller/
Wendt, Irren ist menschlich, Lehrbuch der Psychiatrie/ Psychothera-
pie, Bonn, 2002, S. 417). Der Beschwerdeführer ist aufgrund seiner
Vergesslichkeit, wahnhaften Verarbeitung und fehlenden Impulskon-
trolle fürsorgebedürftig. Diese drei Komponenten verunmöglichen
ein selbstständiges Wohnen. Glaubwürdig schilderte die Lebens-
partnerin die Abhängigkeit des Beschwerdeführers sowie sein Un-
vermögen, selbstständig einen Haushalt zu führen. Auch an der Ver-
handlung zeigten sich massive Defizite der Gedächtnisleistung, die
Verstärkung der Wahnsymptomatik aufgrund der Vergesslichkeit und
die glaubwürdige Suizidandrohung, falls der Beschwerdeführer
beispielsweise ins Altersheim Z. verlegt würde. Unter diesen Um-
ständen ist trotz der Diagnose einer leichten bis mittelgradigen
Demenz eine engmaschige Betreuung notwendig, die ausserhalb
einer geschlossenen Anstalt eine 1:1 Betreuung rund um die Uhr mit
2005
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
267
zusätzlicher fachlicher Hilfe bedeuten würde. Das Fürsorgebedürfnis
des Beschwerdeführers wurde in den letzten Jahren von R.S. erfüllt.
Dies erweist sich heute aber als unmöglich. R. S. äusserte anlässlich
der Verhandlung, es sei definitiv, dass der Beschwerdeführer nicht zu
ihr zurückkehren könne, sie habe Angst vor ihm. Zudem erlaubt es
ihr Gesundheitszustand nicht, dem Beschwerdeführer die notwendige
persönliche Fürsorge zukommen zu lassen. Eine Entlassung ins
Einfamilienhaus von R.S. kommt somit nicht in Frage. Eine andere
Möglichkeit im Umfeld des Beschwerdeführers gibt es nicht. Die
nötige persönliche Fürsorge kann offensichtlich nur durch einen
langfristigen Aufenthalt in einer geeigneten Anstalt sichergestellt
werden. Eine weitere stationäre Betreuung und kontrollierte
Medikation kann dem Beschwerdeführer auf längere Sicht mehr
Freiheiten und eine bessere Lebensqualität ermöglichen als eine
Entlassung.
3.4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Aufrechterhal-
tung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung gerechtfertigt und
verhältnismässig ist.
4.
4.1. Die Unterbringung muss in einer "geeigneten Anstalt" er-
folgen. Zu diesem Begriff gibt es keine Legaldefinition. Der mit der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung verfolgte primär therapeutische
Zweck gibt jedoch hinreichend darüber Aufschluss, was unter einer
geeigneten Anstalt zu verstehen ist. Eine Anstalt ist dann "geeignet",
wenn sie mit den ihr normalerweise zur Verfügung stehenden orga-
nisatorischen und personellen Mitteln in der Lage ist, wesentliche
Bedürfnisse nach Fürsorge und Betreuung des Eingewiesenen zu
befriedigen (BGE 112 II 487 f.). Dabei muss das konkrete Behand-
lungskonzept genügend Erfolg versprechen, d.h. die Aussicht be-
stehen, dass die Gründe, welche zur Einweisung führten, auf irgend
eine Weise behoben oder doch zumindest mit einer gewissen Er-
folgsaussicht behandelt werden können. Eine Anstalt, welche diese
Anforderungen nicht erfüllt, kann nicht als "geeignet" angesehen
werden (Spirig, a.a.O., Art. 397a N 129 f., 203, 205; AGVE 1993,
S. 316 mit Hinweisen; 1992, S. 279).
2005
Verwaltungsgericht
268
Es handelt sich bei diesem Begriff um ein eigenes Tatbe-
standsmerkmal. Deshalb ist die fürsorgerische Freiheitsentziehung in
Fällen, wo eine Anstaltsunterbringung zwar grundsätzlich gerechtfer-
tigt und angezeigt wäre, aber keine geeignete und zur Aufnahme des
Betroffenen bereite oder verpflichtete Anstalt gefunden werden kann,
unzulässig. Eine Einweisung in eine nicht geeignete Anstalt würde
zudem eine untaugliche Massnahme darstellen und damit auch gegen
den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstossen (AGVE 1993,
S. 317; Gottlieb Iberg, Aus der Praxis der fürsorgerischen Freiheits-
entziehung, in: Schweizerische Juristenzeitung 79/1983, S. 296 f. mit
Hinweisen).
4.2.Es stellt sich die Frage, ob die Klinik Königsfelden eine ge-
eignete Anstalt für die Unterbringung des Beschwerdeführers ist,
oder ob es eine besser geeignete Institution gibt.
Das Verwaltungsgericht stimmt dem zuständigen Oberarzt zu,
dass momentan aufgrund der fehlenden Impulskontrolle in Verbin-
dung mit der Wahnsymptomatik des Beschwerdeführers sowie unter
Berücksichtigung der Belastung für die Umgebung ein Übertritt in
ein offenes Pflegeheim wie z.B. das Altersheim Z. nicht in Frage
kommt. Dabei wäre das Risiko sehr gross, dass der Beschwerdefüh-
rer aus der offenen Institution entweichen und sich selbst gefährden
würde bzw. dass er versuchen würde, R.S. aufzusuchen und sie zu
drängen, ihn wieder aufzunehmen. Vorderhand ist die Klinik Königs-
felden die geeignete Anstalt, da hier die Möglichkeit besteht, den
Beschwerdeführer in einem geschlossenen Teil unterzubringen und
nötigenfalls - z.B. bei Impulsdurchbrüchen oder akuter Suizidalität -
adäquate Zwangsmassnahmen anzuordnen. Eine konstante psychia-
trische Betreuung ist sodann in der aktuellen Phase ebenfalls notwen-
dig, weshalb keine andere Institution als die Klinik Königsfelden
geeignet ist, dem Beschwerdeführer die notwendige persönliche
Fürsorge zu erweisen.
4.3. Zusammenfassend ergibt sich, dass es zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keine Alternative zu einer stationären Behandlung und
Betreuung des Beschwerdeführers in der Klinik Königsfelden gibt,
weshalb die Beschwerde abzuweisen ist. | 4,834 | 3,784 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-53_2005-12-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-53.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-53.pdf | AGVE_2005_53 | null | nan |
87235001-89d0-53b3-93da-43c833621e32 | 1 | 412 | 870,291 | 1,123,113,600,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsgericht
292
[...]
60
Verweigerung der materiellen Hilfe wegen fehlender Notlage.
- Die Haltung der Hilfe suchenden Person und ihr fehlender Wille zur
Aufnahme einer Arbeitstätigkeit schliessen einen Anspruch auf ma-
terielle Hilfe nicht grundsätzlich aus (Erw. 2.4).
- Aufgrund des Eingriffs in die Existenzsicherung der gesuchstellenden
Person bedarf die Verweigerung materieller Hilfe einer eingehenden
2005
Sozialhilfe
293
und sorgfältigen Prüfung der arbeitsmarktlichen Chancen und der
konkreten finanziellen Situation (Erw. 2.5 und 2.6).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 12. August 2005 in Sachen
R.H. gegen das Bezirksamt Baden.
Aus den Erwägungen
2.4. Der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe besteht nach der Ver-
fassung (Art. 12 BV und § 39 KV) und den gesetzlichen Be-
stimmungen für die Existenzsicherung (§ 4 Abs. 1 SPG i.V.m. § 3
Abs. 1 SPV) unter der Voraussetzung, dass eine Notlage besteht und
derjenige, der in Not gerät, nicht in der Lage ist, rechtzeitig für sich
zu sorgen (BGE 130 I 71 Erw. 4.3, 121 I 367 Erw. 3c und d; BGE
vom 4. März 2003 [2P.148/2002], Erw. 2.3; Jörg Paul Müller, Grund-
rechte in der Schweiz, 3. Auflage, Bern 1999, S. 169 ff.). Das Recht
auf die Existenzsicherung durch die Sozialhilfe entlastet den Einzel-
nen nicht von der Verpflichtung, die eigene Arbeitskraft zu mobili-
sieren und die Sozialhilfe erst in Anspruch zu nehmen, wenn er
objektiv darauf angewiesen ist (vgl. Kathrin Amstutz, Das Grund-
recht auf Existenzsicherung, Bern 2002, S. 172). Die unterstützungs-
bedürftige Person hat somit kein Wahlrecht zwischen dem Einsatz
der eigenen Arbeitskraft und der Inanspruchnahme der Sozialhilfe
(Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe,
herausgegeben von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe
[SKOS-Richtlinien], Dezember 2000, Kapitel A.4).
Andererseits sind für den Anspruch auf materielle Hilfe die
Gründe, welche zur Notlage einer Hilfe suchenden Person führten,
für die Gewährung materieller Unterstützung weder bei der Prüfung
der Anspruchsvoraussetzung ("Notlage") noch für die Festsetzung
der materiellen Hilfe relevant (vgl. BGE 121 I 367 Erw. 3b). Die
Haltung des Beschwerdeführers und sein fehlender Wille zur Auf-
nahme einer Arbeitstätigkeit schliessen daher einen Anspruch nicht
grundsätzlich aus. Entscheidend ist, ob der Beschwerdeführer bei
objektiver Betrachtungsweise in der Lage ist, durch eigene Bemü-
2005
Verwaltungsgericht
294
hungen eine finanzielle Notlage zu beheben, welche eintreten kann,
sobald die elterliche Unterstützung entfällt.
2.5. Der Entscheid der Kerngruppe A stellt im Ergebnis eine
Verweigerung der materiellen Unterstützung in einer möglichen
tatsächlichen Notlage dar. Die Verweigerung materieller Hilfe in
einer Notlage unterliegt verfassungsrechtlichen Schranken. Nach
Art. 12 BV dürfen einer bedürftigen Person diejenigen Mittel, wel-
che für eine menschenwürdige Existenz notwendig sind, unter keinen
Umständen entzogen werden. Der Kerngehalt der Verfassungsbe-
stimmung garantiert damit ein (absolutes) Existenzminimum, in das
behördliche Eingriffe untersagt sind.
Kürzungen der materiellen Hilfe sind gemäss § 15 Abs. 2 SPV
in zeitlicher und betraglicher Hinsicht begrenzt zulässig. Vorbehalten
bleibt nur der Rechtsmissbrauch (§ 15 Abs. 2 Satz 3 SPV). Gemäss
§ 15 Abs. 4 Satz 2 SPV ist der Rechtsmissbrauch - nicht ab-
schliessend - mit einem Verhalten definiert, das einzig darauf ausge-
richtet ist, in den Genuss von materieller Hilfe zu gelangen.
Entsprechend dem Eingriff in das Verfassungsrecht bedarf die
Verweigerung materieller Hilfe zufolge fehlender Anspruchsvoraus-
setzungen einer eingehenden und sorgfältigen Prüfung. Ein Verlust
des Rechts bei Rechtsmissbrauch wird nur in Ausnahmefällen in
Frage kommen (vgl. BGE 130 I 71 Erw. 4.3.; 121 I 367 Erw. 3b und
c; Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November
1996, BBl 1997 I 150). Damit untersteht auch die Nichtgewährung
bzw. Verweigerung von Sozialhilfeleistungen grundsätzlich den
SKOS-Richtlinien und dem für Leistungskürzungen vorgesehenen
Regime (vgl. SKOS-Richtlinien, Kapitel A.8.3). Bei der Prüfung der
Anspruchsvoraussetzungen der materiellen Hilfe, insbesondere einer
Notlage, die wegen ungenügender Selbsthilfe verneint wird, drängt
sich ein analoges Vorgehen nach den Bestimmungen der Kürzung
und Verweigerung wegen Rechtsmissbrauchs auf. Bei der Abklärung
des Sachverhalts, insbesondere des Rechtsmissbrauchs, gilt ein
strenger Massstab, da in die Existenzsicherung einer gesuchstellen-
den Person eingegriffen wird. Immerhin ist festzuhalten, dass dem
Beschwerdeführer bei der Abklärung von Amtes wegen (§ 20 VRPG)
Mitwirkungspflichten obliegen (§ 21 VRPG; AGVE 2002, S. 431).
2005
Sozialhilfe
295
Den für Rechtsmissbrauch anwendbaren Massstab sowie die Regeln
über die Kürzung gilt es auch bei der Prüfung der Notlage
einzuhalten.
2.6. Den bisherigen Akten lässt sich zur konkreten finanziellen
Situation des Beschwerdeführers und zu seinen arbeitsmarktlichen
Chancen wenig entnehmen. So ist unklar, ob die Eltern des Be-
schwerdeführers per Ende August 2004 oder zu einem späteren Zeit-
punkt die Unterstützungsleistungen tatsächlich eingestellt haben.
Ebenso wenig ist ersichtlich, welche realen Möglichkeiten der Be-
schwerdeführer hat, um als Tennislehrer eine Teilzeitanstellung zu
finden. (...) Fraglich ist schliesslich, wie sich die vom Beschwerde-
führer vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf seine
Möglichkeiten zur Tätigkeit als Tennislehrer auswirken. Bestehen
aber für den Beschwerdeführer keine realen Aussichten, sich als
Tennislehrer zu betätigen, kann das Gesuch um materielle Hilfe nicht
unter Hinweis auf diese Selbsthilfemöglichkeit abgewiesen werden.
Zulässig ist in solchen Fällen, dem Beschwerdeführer Auflagen und
Weisungen zu erteilen und ihm gleichzeitig die Kürzung der mate-
riellen Hilfe bei Missachtung solcher Weisungen anzudrohen.
Den Akten lässt sich auch nicht entnehmen, dass für den Be-
schwerdeführer andere Arbeitsstellen objektiv in Frage kommen,
wobei auch die eindeutigen Hinweise auf bestehende psychische
Probleme noch zu prüfen sind, da sie geeignet erscheinen, die Chan-
cen des Beschwerdeführers auf dem Arbeitsmarkt zu beeinträchtigen.
Jedenfalls erlauben die Akten nicht zwingend den Schluss, der Be-
schwerdeführer habe es ausschliesslich darauf angelegt, keiner Er-
werbstätigkeit nachzugehen und von der Sozialhilfe zu leben
(vgl. oben Erw. 2.4). | 1,425 | 1,164 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-60_2005-08-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-60.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-60.pdf | AGVE_2005_60 | null | nan |
874cd683-ade1-55f2-a5f2-eb4c2c3b719b | 1 | 412 | 869,775 | 959,817,600,000 | 2,000 | de | 2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
175
[...]
48
Verhältnismässigkeit von Zwangsmedikationen; Notfallmassnahmen
nach Patientendekret im Rahmen fürsorgerischer Freiheitsentziehung be-
schwerdefähig?
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 13. Juni 2000 in
Sachen D.V. gegen Verfügung des Bezirksarzt-Stellvertreters L. und Ent-
scheide der Klinik Königsfelden.
Aus den Erwägungen
3. a) Die Beschwerdeführerin wurde erstmals am 23. Mai 2000
als Notfallmassnahme mit 150 mg Clopixol acutard intramuskulär
und einer Ampulle Temesta à 4 mg intravenös zwangsmediziert. Mit
Zwangsmassnahme-Entscheid vom 26. Mai 2000 ordnete die Klinik
eine Behandlung der Beschwerdeführerin mit Clopixol-Depot
250 mg intramuskulär und Clopixol acutard 150 mg intramuskulär
an. Als Grund für die Massnahme wurde angegeben: "Verweigerung
jeglicher Medikation bei aggressivem, fremdgefährlichen Zustands-
bild".
b) Wie bereits aufgezeigt, sind die Voraussetzungen einer für-
sorgerischen Freiheitsentziehung erfüllt und es ist erstellt, dass die
Beschwerdeführerin an einer chronischen paranoiden Schizophrenie
leidet. Es bleibt daher zu prüfen, ob die angefochtene Zwangsbe-
2000
Verwaltungsgericht
176
handlung in einem sachlichen Zusammenhang mit dieser Geistes-
krankheit steht, medizinisch indiziert und verhältnismässig ist.
4. Die Beschwerdeführerin wurde seit 1988 in mehr oder weni-
ger regelmässigen Abständen im Zusammenhang mit der bei ihr
festgestellten Schizophrenie immer wieder medikamentös behandelt.
Nach ihrer ersten Hospitalisation in der Klinik Königsfelden wurde
sie über Jahre mit Fluanxol-Depot behandelt. Sie brach diese Be-
handlung zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt aufgrund
der Nebenwirkungen wieder ab und musste in der Folge erneut in die
Klinik eingewiesen werden. Nach ihrem Austritt leistete sie der
Empfehlung der Klinik, unter ärztlicher Kontrolle Clopixol Depot
einzunehmen, keine Folge und setzte auch eine anderweitige Medi-
kation nach kurzer Zeit wieder ab, weil sie von den "ovalen, braune
Kapseln" angeblich müde wurde. Genauere Angaben zu diesem Zeit-
raum liegen nicht vor. Der Vorfall, welcher zu ihrer erneuten, aktuel-
len Hospitalisation führte, und der gesamte Krankheitsverlauf bewei-
sen, dass die Beschwerdeführerin zur Stabilisierung ihres Zustandes
und zur Behandlung der Schizophrenie einer medikamentösen Be-
handlung bedarf. Insofern und auch nach Ansicht des Fachrichters ist
erwiesen, dass die von der Klinik verfügte Zwangsbehandlung im
Zusammenhang mit der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden
paranoiden Schizophrenie steht und medizinisch indiziert ist.
5. a) aa) Eine neuroleptische Zwangsmedikation stellt zweifel-
los einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit dar und darf
daher nur erfolgen, wenn der Beschwerdeführerin die notwendige
Fürsorge auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann. Die
Zwangsbehandlung kann nur verhältnismässig sein, wenn die per-
sönliche Freiheit der Beschwerdeführerin auf längere Sicht durch die
Verabreichung dieser Medikamente eindeutig weniger eingeschränkt
wird als durch andere erforderliche Ersatzmassnahmen. So hat auch
das Bundesgericht ausgeführt, eine Zwangsmedikation berühre den
Kerngehalt des Grundrechtes der persönlichen Freiheit, weshalb von
einer derart weitgehenden Massnahme nur mit der gebotenen Zu-
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
177
rückhaltung Gebrauch gemacht werden dürfe. Damit der Richter in
der Lage sei, die Verhältnismässigkeit solcher Eingriffe zu beurtei-
len, seien an die Aussagekraft einer Krankengeschichte hohe Anfor-
derungen zu stellen. Je schwerer ein Eingriff wiege, desto sorgfälti-
ger sei er folglich zu begründen (BGE 124 I 304). In der Lehre wird
überdies die Meinung vertreten, dass das Verhältnismässigkeitsprin-
zip für eine Zwangsbehandlung voraussetzt, dass die Vorteile der
Massnahme die Nachteile eindeutig überwiegen (Thomas Geiser, Die
fürsorgerische Freiheitsentziehung als Rechtsgrundlage für eine
Zwangsbehandlung?, in: Familie und Recht, Festgabe der Rechtswis-
senschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg für Bernhard
Schnyder, Freiburg 1995, S. 311).
bb) Grundsätzlich bedarf jede Behandlung und jeder medizini-
sche Eingriff der Zustimmung des betreffenden Patienten, in Notfäl-
len darf die Zustimmung vermutet werden (§ 15 Abs. 1 und 3 PD).
Die Vermutung der Zustimmung rechtfertigt vorerst einen sofortigen
notfallmässigen Eingriff, schliesst indes die nachträgliche Verhält-
nismässigkeitsprüfung der zwangsweise angewandten Massnahme
nicht aus. § 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB bezieht sich konkret auf Be-
handlungen und Vorkehrungen, die - unter gegebenen Voraussetzun-
gen - gegen den Willen der betroffenen Person im Rahmen einer
fürsorgerischen Freiheitsentziehung in der Psychiatrischen Klinik
Königsfelden vorgenommen werden. Damit muss § 67e
bis
EG ZGB
als lex specialis § 15 PD vorgehen. Auch trat § 67e
bis
EG ZGB am
3. Dezember 1999 als lex posterior im Wissen um die älteren Rege-
lungen des Patientendekrets (Inkrafttreten: 1. September 1990) in
Kraft (vgl. Ulrich Häfelin/Georg Müller, Grundriss des Allgemeinen
Verwaltungsrechts, 3. Auflage, Zürich 1998, Rz. 179). Auch der
Rechtsschutzgedanke verlangt, dass eine notfallmässig angewandte
Zwangsbehandlung ebenfalls der Verhältnismässigkeitsprüfung zu
unterstellen ist. Somit muss eine notfallmässig durchgeführte
Zwangsbehandlung allen gesetzlichen Voraussetzungen genügen und
2000
Verwaltungsgericht
178
unterliegt insbesondere auch der Beschwerdemöglichkeit gemäss
§ 67e
bis
Abs. 4 EG ZGB.
b) Die erstmalige als Notfallintervention erfolgte Zwangsbe-
handlung vom 23. Mai 2000 ist gesondert von der am 26. Mai 2000
ordnungsgemäss von der PKK verfügten Zwangsmassnahme zu prü-
fen. Die Beschwerdeführerin zeigte am 23. Mai 2000 ein stark psy-
chotisches Zustandsbild und hat durch ihr Verhalten mehrere Ange-
stellte der PKK massiv gefährdet, worauf eine notfallmässige
Zwangsbehandlung als unumgänglich erachtet wurde. Weil sich die
hochgradig psychotische und fremdgefährliche Beschwerdeführerin
nach der Flucht der Psychiatrie-Lehrschwester alleine mit den übri-
gen Insassen auf der geschlossenen Abteilung befand, lag eine Aus-
nahmesituation vor, die ein schnelles Eingreifen erforderlich machte.
Die Tatsache, dass sich die Beschwerdeführerin nach erfolgter
Zwangsmedikation innert kurzer Zeit beruhigte und damit die Situa-
tion entschärft werden konnte, belegt, dass die Zwangsmassnahme
geeignet war und zum gewünschten Resultat führte. Unter den ge-
schilderten Umständen und in Anbetracht der Tatsache, dass die Be-
schwerdeführerin nur mit Hilfe mehrer Leute überwältigt werden
konnte und dabei versuchte, einer Person in den Hals zu beissen,
kam kein milderes Mittel als eine Zwangsmedikation in Betracht. Im
vorliegenden Fall war die Anordnung einer Zwangsmassnahme auch
im Hinblick auf das Schutzbedürfnis der übrigen Insassen der ge-
schlossenen Abteilung und des Klinikpersonals angebracht (vgl.
§ 67e
bis
Abs. 1 EG ZGB; § 15 Abs. 1 und 3 PD). Die notfallmässige
durchgeführte Zwangsbehandlung vom 23. Mai 2000 genügt somit
den gesetzlichen Anforderungen und ist als zulässig zu erachten.
c) Weil die Beschwerdeführerin weiterhin aggressiv und fremd-
gefährlich erschien und jegliche Medikation verweigerte, entschied
die Klinik am 26. Mai 2000, die Beschwerdeführerin gegen ihren
Willen mit Clopixol Depot 250 mg und Clopixol acutard 150 mg zu
behandeln (Zwangsmassnahmen-Entscheid vom 26. Mai 2000). Ins-
gesamt erhielt die Beschwerdeführerin bereits drei kurz wirksame
2000
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
179
und zwei lang wirksame Spritzen, die nächste Depotspritze war für
den 19. Juni 2000 vorgesehen. Der behandelnde Oberarzt führte
anlässlich der Verhandlung aus, dass die Aggressionen nicht auf die
Behandlung zurückzuführen seien, sondern immer dann auftreten
würden, wenn das Klinikpersonal die Wünsche der Beschwerdefüh-
rerin nicht erfülle. Zudem sei von der Behandlung eine erhebliche
Besserung und auch eine Krankheitseinsicht zu erwarten. Er sei nach
wie vor von der Notwendigkeit der Zwangsbehandlung überzeugt.
Nach der nächsten Depotspritze vom 19. Juni 2000 sei allenfalls ein
"Gentleman-Agreement" mit der Beschwerdeführerin denkbar.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass ein Abbruch der medika-
mentösen Behandlung regelmässig zu einer erneuten Exazerbation
der bestehenden chronischen paranoiden Schizophrenie führte. Weil
die Beschwerdeführerin dies aber selbst nicht einsieht und sich kon-
stant weigert, ihre Medikamente freiwillig einzunehmen, besteht
keine andere Möglichkeit als die Zwangsmedikation, um ihr die nö-
tige Fürsorge zukommen zu lassen. Namentlich in Anbetracht der
prognostizierten guten Besserungschancen und der gleichzeitigen
schlechten Compliance der Beschwerdeführerin, scheint eine medi-
kamentöse Behandlung, wenn nötig während einer gewissen Zeit
auch gegen den Willen der Beschwerdeführerin, ein geeignetes und
erfolgsversprechendes Mittel hierzu. Ohne entsprechende Behand-
lung hätte die Beschwerdeführerin mit einem wesentlich längeren
Zwangsaufenthalt in der Klinik zu rechnen.
d) Zusammenfassend ist die Beschwerde gegen die von der
Klinik am 23. Mai durchgeführten bzw. 26. Mai 2000 angeordneten
Zwangsmassnahmen abzuweisen. Die Zwangsmassnahmen stehen in
einem sachlichen Zusammenhang mit der paranoiden schizophrenen
Erkrankung der Beschwerdeführerin, sind medizinisch indiziert und
verletzen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht. | 2,005 | 1,578 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-48_2000-06-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-48.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-48.pdf | AGVE_2000_48 | null | nan |
881267f4-e5f7-5167-94d9-4949ef59de43 | 1 | 412 | 870,914 | 1,236,038,400,000 | 2,009 | de | 2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
153
IV. Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
31
Gestaffelte und terrassierte Bauweise
-
Begriffe der Staffelung und der Terrassierung im Sinne von § 12
Abs. 3 Satz 2 ABauV. Anwendungsfall einer gestaffelten Baute.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 2. März 2009 in Sachen G.
gegen das Departement Bau, Verkehr und Umwelt (WBE.2008.161).
Aus den Erwägungen
2.2.
2.2.1.
Allseits unbestritten ist, dass sich das geplante Gebäude in einer
Hanglage (vgl. § 12a ABauV) befindet. Am Hang werden Gebäude-
höhe, Firsthöhe und Geschosszahl talseitig gemessen (§ 12 Abs. 3
Satz 1 ABauV). Bei gestaffelten und terrassierten Bauten werden sie
für jeden Gebäudeteil einzeln gemessen (§ 12 Abs. 3 Satz 2 ABauV).
Mit dieser Sonderregelung wird bezweckt, Treppenüberbauungen an
Hanglagen zu ermöglichen. Andernfalls würden nämlich die Höhen-
vorschriften der Nutzungsordnung regelmässig bei Weitem über-
schritten. Rechtfertigen lässt sich dabei die auf den einzelnen Gebäu-
deteil bezogene Betrachtungsweise deshalb, weil der Eindruck einer
einheitlichen Gebäudefront bei derartigen Treppenüberbauungen
wegen der Versetzung der einzelnen Gebäudestufen und deren An-
lehnung an den Hangverlauf massgeblich abgeschwächt wird; dies ist
denn auch der Grund, weshalb die Praxis die Voraussetzung geschaf-
fen hat, dass die Terrassenfläche ein bestimmtes Verhältnis zur
Wohnfläche nicht unterschreiten darf (siehe nachfolgend
Erw. 2.2.2.). § 12 Abs. 3 Satz 2 ABauV ist also auf eine ganz be-
stimmte Art von Bauten, nämlich eben Treppenbauten an Hanglagen,
bei denen die versetzte Anordnung der einzelnen Gebäudestufen auf
2009
Verwaltungsgericht
154
einem baulichen Sachzwang beruht, zugeschnitten (AGVE 2005,
S. 156 mit Hinweis).
2.2.2.
Zu den Begriffen der gestaffelten bzw. terrassierten Bauweise
(siehe § 12 Abs. 3 Satz 2 ABauV) lässt sich Folgendes festhalten:
Eine "Staffelung" liegt vor, wenn der betreffende Bauteil oder
-körper sich in einem gewissen Masse optisch verselbständigt hat;
andernfalls liesse es sich nicht rechtfertigen, die Bauhöhen und die
Geschosszahl einzeln, separat zu messen. Massgebend muss danach
das äussere Erscheinungsbild einer Baute sein (AGVE
1999,
S.
215
f. mit Hinweis; VGE
III/103 vom 9.
Dezember 2002
[BE.2001.00378/BE.2002.00053], S. 17). Eine Staffelung kann etwa
vorliegen bei markant unterschiedlichen Gebäudeformen, Propor-
tionen oder versetzter Anordnung der verschiedenen Gebäudeteile
(vgl. Handbuch zum Bau und Nutzungsrecht [BNR], 2. Auflage,
Aarau 2003, Ziff. 4.3.1).
Als "terrassiert" gelten der Hangneigung nach erstellte Gebäu-
destufen von einem oder mehreren übereinanderliegenden Geschos-
sen, wobei jede Stufe in der Regel eine selbständige Wohneinheit
nach dem Modell eines Einfamilienhauses bildet. Die einzelnen Ge-
bäudestufen der Terrassenbaute liegen also senkrecht übereinander,
wenn auch nur teilweise; deshalb gelten sie nicht als "senkrecht
übereinander liegend". Der Raum über der unteren Stufe dient dabei
der oberen Stufe als verhältnismässig geräumiger Vorplatz oder
Garten, nicht bloss als überdimensionierter Balkon. Die Terrasse
muss daher eine minimale Grösse im Verhältnis zum Volumen des
Hauses, dem sie dient, aufweisen, um ihre Funktionen überhaupt er-
füllen zu können; die Regel ist hier ein Verhältnis von Terrassen-
fläche zur Wohnfläche von mindestens 1:3. Senkrecht übereinander
befinden sich demgegenüber Geschosse, die praktisch mit der ganzen
Fläche übereinander liegen, mit Ausnahme von Vorbauten wie
Treppen, Erkern, Balkonen oder Gebäudevorsprüngen oder ent-
sprechenden nebensächlichen Rückversetzungen (AGVE
2005,
S.
155 mit Hinweisen; AGVE
1997, S.
330 mit Hinweisen;
VGE
III/55 vom 31.
August 2006 [WBE.2005.289], S.
7;
VGE III/152 vom 14. Dezember 2000 [BE.1999.00270], S. 10).
2009
Bau-,Raumplanungs-undUmweltschutzrecht
155
2.2.3.
Gestützt auf die bei den Akten liegenden Fotos des Baumodells
sowie die Projektpläne ist festzustellen, dass die treppenförmige
Baute visuell aus drei versetzt angeordneten, verselbständigten Ge-
bäudeteilen bzw. -kuben besteht:
-
Den untersten und westlichsten Gebäudeteil bildet der Kubus
bestehend aus den beiden Wohneinheiten im Erdgeschoss und
im 1. Obergeschoss (jeweils inkl. deren Kellerräumlichkeiten).
Diese beiden Wohneinheiten bilden optisch eine Einheit.
-
Den mittleren, zweiten Gebäudeteil bildet die Wohneinheit im
2. Obergeschoss sowie die dazugehörenden Keller- / Eingangs-
räumlichkeiten, welche auf der Ebene des 1. Obergeschosses
liegen. Dieser Gebäudeteil liegt von der Bergseite her ""-för-
mig auf dem untersten Kubus. Gleichzeitig ist er gegenüber dem
darunter liegenden Gebäudekubus als Ganzes um 1.5
m
Richtung Osten versetzt.
-
Der oberste, dritte Gebäudeteil besteht aus der Wohneinheit im
3. Obergeschoss (als "Attika" bezeichnet), welche auf der Ebene
des 2. Obergeschosses über weitere Räumlichkeiten und auf der
Ebene des 1. Obergeschosses über Kellerräume verfügt, sich
mithin über drei Stockwerke erstreckt. Diese Wohneinheit bzw.
dieser Gebäudeteil liegt von der Bergseite her ""-förmig auf
dem Gebäudeteil mit der Wohneinheit des 2. Obergeschosses.
Gleichzeitig ist der Gebäudeteil gegenüber dem darunter lie-
genden Gebäudeteil um 1.5 m Richtung Osten versetzt.
Da die treppenförmig übereinander liegenden Gebäudeteile bzw.
-kuben gleichzeitig je seitlich versetzt angeordnet sind, tritt die Baute
optisch als eine aus drei verselbständigten Baukörpern bestehende
Baute in Erscheinung. Der unterste Gebäudekubus beherbergt die
untersten zwei Wohneinheiten und die beiden treppenförmig darüber
liegenden, gleichzeitig je seitlich um 1.5 m Richtung Osten ver-
setzten Gebäudekörper bestehen je aus einer abgeschlossenen
Wohneinheit. Dies zeigen die Fotos des Baumodells und die
Fassadenpläne illustrativ auf. Von der äusseren Erscheinung her ist
die Baute mithin gestaffelt aufgebaut (unabhängig davon, ob die
treppenförmige Anordnung eine "Terrassierung" darstellt); sie be-
2009
Verwaltungsgericht
156
steht aus drei verselbständigten Gebäudeteilen bzw. -körpern, welche
am Hang seitlich versetzt angeordnet sind. Aufgrund der gestaffelten
Bauweise sind Gebäudehöhe, Firsthöhe und Geschosszahl für jeden
Gebäudeteil einzeln zu messen (§ 12 Abs. 3 ABauV). Die Parameter
sind somit bei den Koten 436.89, 438.02 und 439.40 je neu zu
messen. Dabei ist festzustellen, dass der hinterste bzw. oberste
Gebäudekörper bei Kote 439.40 dreigeschossig ist, was in der HW2
unzulässig ist. | 1,530 | 1,182 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-31_2009-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-31.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-31.pdf | AGVE_2009_31 | null | nan |
89004aeb-8f3e-5590-9ea6-c5bdb46dfa27 | 1 | 412 | 870,890 | 1,498,953,600,000 | 2,017 | de | 2017
Steuern
99
[...]
16
Liegenschaftsunterhaltskosten (§ 39 Abs. 2 StG)
Umbau von Ein- in Zweifamilienhaus als umfassende Instandstellung, bei
welcher kein Unterhaltsabzug gewährt wird (kein Unterhaltsanteil;
Quasi-Neubau-Praxis)
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 3. Juli 2017,
i.S. R.J. und B.J. gegen KStA (WBE.2017.21)
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Streitgegenstand bildet die Höhe der abzugsfähigen Unterhalts-
kosten für die Liegenschaft bei der Kantons- und Gemeindesteuer
2012. In diese Periode fallen von den gesamten Kosten von
Fr. 1'250'000.00 lediglich Fr. 26'407.00. Das Spezialverwaltungs-
gericht ging davon aus, dass es sich beim Umbau der Liegenschaft
um eine umfassende Instandstellung handelte, welche sämtliche we-
sentlichen Bereiche der Liegenschaft betraf und deren Nutzungswert
im Vergleich zum Standard beim Erwerb erheblich erhöhte. Es
taxierte die Renovation im Sinne einer Gesamtbetrachtung als wert-
vermehrende Investition und dementsprechend als nicht abziehbar.
1.2.
Die Beschwerdeführer machen geltend, die Renovations- resp.
Umbaukosten
hätten
Fr. 830'000.00
betragen
und
nicht
Fr. 1'250'000.00. Die Kosten für den Anbau, den alleinstehenden
Carport sowie die Kosten im Zusammenhang mit dem abparzellier-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
100
ten Grundstück (Teichanlage, Stützmauer) seien nicht zu berück-
sichtigen. Für diese habe man auch keinen Abzug verlangt. Die Lie-
genschaft sei dauernd bewohnt und in einem gut unterhaltenen Zu-
stand gewesen; wenn auch nicht mehr dem heutigen Standard
entsprechend. Der Standard der Liegenschaft habe sich mit dem Um-
bau nicht erhöht und der umgebaute Teil habe keine Wertsteigerung
erfahren. Die Kosten seien daher zum Abzug zuzulassen.
2.
2.1.
Das Spezialverwaltungsgericht hat die gesetzlichen Grundlagen
zu den abzugsfähigen und nicht abzugsfähigen Kosten von Arbeiten
an Liegenschaften richtig dargestellt. Auch der Hinweis, wonach bei
der Ausscheidung von werterhaltenden und wertvermehrenden Auf-
wendungen grundsätzlich eine Einzelbetrachtung und nur ausnahms-
weise eine Gesamtbetrachtung erfolgt, ist korrekt und lediglich mit
einem Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu ergän-
zen (Urteil vom 4. September 2014 [2C_153/2014] Erw. 2.2 mit
zahlreichen Hinweisen).
2.2.
Beim Entscheid, ob es sich um nicht abziehbare Um- und Aus-
baukosten oder um abziehbare Liegenschaftsunterhaltskosten han-
delt, ist der Zweck der baulichen Massnahme wegleitend. Dient die
Massnahme in erster Linie oder ganz überwiegend einer Ausweitung
der Nutzung, so ist in aller Regel auf reine Um- bzw. Ausbaukosten
zu schliessen. Dagegen liegen zumindest hinsichtlich des nicht klar
wertvermehrenden Anteils baulicher Massnahmen Liegenschafts-
unterhaltskosten vor, wenn die infrage stehenden Arbeiten insgesamt
gesehen keine massgebliche Nutzungserweiterung zur Folge haben.
Die Grenze zum Umbau dürfte indessen dann überschritten sein,
wenn zusätzlicher Wohnraum geschaffen wird, d.h. wenn aus den
baulichen Massnahmen zusätzliche Raumeinheiten resultieren. So-
bald diese eine gewisse Grösse übersteigen, überwiegt der Um- bzw.
Ausbaucharakter, so dass ein Unterhaltsabzug ausser Betracht fällt
(Urteil des Verwaltungsgerichts vom 17. Dezember 2013
[WBE.2013.245] Erw. 3.4).
2017
Steuern
101
2.3.
Bei der Unterscheidung von werterhaltenden und wertvermeh-
renden Aufwendungen besteht eine grosse Begriffsvielfalt. Zuweilen
ist auch von Modernisierungen die Rede. Diese können, müssen aber
nicht Wertvermehrung darstellen: Das Wesen der Modernisierung,
welche noch als Instandstellung bezeichnet werden kann, besteht da-
rin, dem Gebäude den zeitgemässen Komfort wiederzugeben, den es
ursprünglich besessen, durch den technischen Fortschritt und die
Veränderung der Lebensgewohnheiten jedoch verloren hatte. Die
Aufwendungen für die Instandstellung oder Modernisierung eines
Grundstücks, welche einer eigentlichen Neueinrichtung gleich-
kommt, sind dagegen nicht als Unterhaltskosten abzugsfähig. Wird
ein Gebäude umfassend erneuert, spricht die Vermutung dafür, dass
die gesamten Aufwendungen wertvermehrenden Charakter haben
(F
ELIX
R
ICHNER
/W
ALTER
F
REI
/S
TEFAN
K
AUFMANN
/H
ANS
U
LRICH
M
EUTER
, Handkommentar zum DBG, 3. Auflage, Zürich 2016,
Art. 32 N 49 ff.).
3.
3.1.
Das Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung liessen die Be-
schwerdeführer in ein Zweifamilienhaus umbauen und daran Stock-
werkeigentum begründen. Dazu musste die innenliegende Treppe ab-
gebrochen und mussten die Eingangsbereiche neu konzipiert werden,
sodass jede Wohnung danach über einen eigenen Eingang verfügte.
Weiter wurde die gesamte Haustechnik und der Innenausbau entfernt,
sodass bloss noch der Rohbau vorhanden war. In etwa die Hälfte der
Innenwände mussten weichen und zudem fand ein Eingriff in die tra-
gende Struktur des Gebäudes statt. Die beiden Wohnungsgrundrisse
wurden grundlegend umgestaltet - Küchen und Nasszellen erhielten
einen anderen Standort. Schliesslich vergrösserte sich das Volumen
der Wohnliegenschaft durch einen zusätzlichen Anbau gemäss den
Berechnungen der Beschwerdeführer um 24,4%. Durch den Anbau
von je zwei zusätzlichen Zimmern entstanden nach dem Umbau zwei
5-Zimmer-Wohnungen. Schliesslich liessen sie einen Carport mit
Geräteschuppen und auf dem abparzellierten Grundstück eine Teich-
anlage sowie eine Stützmauer erstellen.
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
102
3.2.
Entgegen den Beschwerdeführern ist das vom Spezialverwal-
tungsgericht zitierte Urteil des Bundesgerichts vom 23. Februar 2015
(2C_286/2014) für die Beurteilung ihres Falles einschlägig, obwohl
der Sachverhalt nicht identisch ist. Das Spezialverwaltungsgericht
hat denn auch bloss die auch auf den vorliegenden Fall zutreffenden
allgemeingültigen Ausführungen in Erwägung 3.4 des Bundes-
gerichtsurteils wiedergegeben. Von einer Ruine, welche 30 Jahre un-
bewohnt war, ist das Spezialverwaltungsgericht klarerweise nicht
ausgegangen. Zu relativieren ist einzig der Vorhalt im angefochtenen
Urteil, wonach die Renovation deutlich mehr gekostet habe als die
Liegenschaft - spielte sich der Kauf doch innerhalb der Familie ab,
wobei meist Vorzugspreise zur Anwendung kommen. Wie im zitier-
ten Bundesgerichtsurteil wurden aber auch bei der Liegenschaft der
Beschwerdeführer Heizung, elektrische Installationen, sanitäre Anla-
gen und Fenster mit kostspieligen Arbeiten auf einen Schlag erheb-
lich verbessert. Sämtliche wesentlichen Bereiche der Liegenschaft
waren betroffen, womit es sich nicht mehr um eine partielle, sondern
um eine umfassende Instandstellung handelte.
Ein Bündel derartiger Baumassnahmen hebt den Standard eines
Gebäudes gegenüber seinem Zustand beim Erwerb und führt zu einer
Wertvermehrung (R
ICHNER UND ANDERE
, a.a.O., Art. 32 N 53). In-
standstellungs- und Modernisierungsmassnahmen, die für sich allein
noch als Unterhaltsmassnahmen zu beurteilen wären, können in ihrer
Gesamtheit zu einer Wertvermehrung führen, wenn dadurch der Ge-
brauchswert (das Nutzungspotenzial) des Gebäudes gegenüber dem
ursprünglichen Zustand (im Zeitpunkt des Erwerbs bzw. der Herstel-
lung) deutlich erhöht wird (R
ICHNER UND ANDERE
, a.a.O. Art. 32
N 52). Dies trifft auf die Liegenschaft der Beschwerdeführer zu,
denn mit dem Ausbau zu zwei separaten Wohnungen hat sich das
Nutzungspotenzial verdoppelt. Das Spezialverwaltungsgericht hat
damit die Abzugsfähigkeit der geltend gemachten Kosten zu Recht
verneint.
3.3.
Auch im Hinblick auf die in Erw. 2.2. dargelegte verwaltungs-
gerichtliche Rechtsprechung (WBE.2013.245) erscheint die vorin-
2017
Steuern
103
stanzliche Würdigung überzeugend. Im Ergebnis geht das Spezial-
verwaltungsgericht davon aus, dass ein Umbau der Liegenschaft vor-
liegt, durch den die Art der Nutzung der Liegenschaft zwar nicht
grundlegend verändert, aber doch merklich ausgeweitet worden ist,
weshalb keine Kosten zum Abzug zuzulassen sind. Aufgrund der er-
heblichen Umbaumassnahmen, der hohen Kosten und des Umstands,
dass anstelle des Einfamilienhauses mit Einliegerwohnung neu zwei
separate Eigentumswohnungen bestehen, sowie der vorgenommenen
Abparzellierung wäre überdies die Annahme einer grundlegenden
Neugestaltung und somit eines Neubaus - wie von der
Steuerkommission angenommen - ebenfalls nicht abwegig. Da je-
doch das Resultat (Nichtabziehbarkeit der Kosten) dasselbe bleibt,
erübrigen sich weitere Ausführungen dazu.
3.4.
Das Spezialverwaltungsgericht liess schliesslich offen, ob beim
Umbau eines Einfamilienhauses mit Einliegerwohnung in ein Zwei-
familienhaus mit gleichzeitiger Wohnraumerweiterung eine
Nutzungsänderung vorliegt. Gemäss ständiger bundesgerichtlicher
Rechtsprechung ist immer dann von einer Wertvermehrung auszuge-
hen, wenn die Renovation zu einer Nutzungsänderung führt
(B
ERNHARD
Z
WAHLEN
/A
LBERTO
L
ISSI
,
in:
M
ARTIN
Z
WEIFEL
/M
ICHAEL
B
EUSCH
[Hrsg.], Bundesgesetz über die direkte
Bundessteuer, 3. Auflage, Basel 2017, Art. 32 N 13, mit Verweis auf
die bundesgerichtliche Rechtsprechung).
Die Beschwerdeführer haben die obere Wohnung von den unte-
ren Räumlichkeiten durch den Abbruch der innenliegenden Verbin-
dungstreppe abgetrennt, im Erd- wie auch im Untergeschoss die
Wohnfläche erweitert, die beiden Wohnungen mit separaten neuen
Hauseingängen erschlossen und an den beiden Einheiten schliesslich
Stockwerkeigentum begründet. Das vormals im Eigentum der Be-
schwerdeführer stehende Untergeschoss gehört neu ihrer Tochter und
deren Ehemann. Es fand somit eine Nutzungsänderung statt. So ge-
sehen stand auch hier nicht der Erhalt der Einkommensquelle im
Vordergrund, sondern die Schaffung einer neuen Einkommensquelle,
welche die Beschwerdeführer allerdings mit dem Verkauf der Stock-
werkeinheit wieder abgestossen haben. Die Liegenschaft wurde ent-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
104
sprechend umfunktioniert, was zur Verweigerung der Abzugsfähig-
keit der geltend gemachten Kosten führt (Urteil des Bundesgerichts
vom 28. Juli 2011 [2C_233/2011] Erw. 3.2; Urteil des Bundesge-
richts vom 4. September 2009 [2C_153/2014]). Damit ist der bean-
tragte Abzug auch deshalb zu verwehren, weil mit dem umstrittenen
Umbau auch eine Nutzungsänderung einherging.
4.
Was die Beschwerdeführer gegen das angefochtene Urteil über-
dies noch einwenden, ändert an der Nichtabziehbarkeit der geltend
gemachten Kosten nichts.
4.1.
Die Kosten des neu erstellten Carports mit Geräteschuppen, des
Anbaus und der Umgebungsarbeiten sind entgegen den Beschwerde-
führern nicht einfach separat zu behandeln, auch wenn klar ist, dass
die drei Positionen keine Unterhaltskosten darstellen. Die Kosten
gehören zum Gesamtprojekt und die Arbeiten wurden in derselben
Zeit realisiert, wie die Arbeiten am Einfamilienhaus. Das Spezialver-
waltungsgericht ist zu Recht von einer Bausumme von
Fr. 1'250'000.00 ausgegangen bei der Beurteilung, ob eine Gesamtbe-
trachtung vorzunehmen ist oder nicht.
4.2.
Nicht zu beanstanden ist auch die von den Beschwerdeführern
kritisierte Begriffsverwendung des Spezialverwaltungsgerichts, wel-
ches die Umbauarbeiten als umfassende Instandstellung qualifizierte
(die Beschwerdeführer erachten den Begriff Instandhaltung für kor-
rekt). Denn bezüglich der Rechtsfolgen ist die begriffliche
Unterscheidung von Instandstellung und Instandhaltung mit Abschaf-
fung der Dumont-Praxis bedeutungslos geworden (D
IETER
E
GLOFF
,
in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/D
AVE
S
IEGRIST
/D
IETER
W
EBER
[Hrsg.], Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, 4. Auflage,
Muri/Bern 2015, § 39 N 43). In § 39 Abs. 2 StG werden die In-
standstellungskosten zudem explizit als abziehbar erwähnt. Handelt
es sich jedoch um umfassende Instandstellungskosten, bei welchen
die Ausweitung der Nutzung im Vordergrund steht, können diese
Kosten, wie bereits ausgeführt, nicht abgezogen werden (siehe vorne
Erw. 3.2).
2017
Steuern
105
4.3.
Die Beschwerdeführer weisen ausserdem auf den gut
unterhaltenen Zustand der Liegenschaft vor Ausführung der Arbeiten
hin. Das Haus sei ohne jegliche Investitionen weiter bewohnbar
gewesen. In den letzten sieben Jahren vor dem Umbau seien
Fr. 59'081.00 investiert worden. Diese Summe ist jedoch zu relativie-
ren: Aus den Steuerveranlagungen geht hervor, dass in fünf von sie-
ben Jahren lediglich der Pauschalabzug von 20% geltend gemacht
worden ist. Für ihre eigene Berechnung haben sie zudem die höheren
Ansätze für die direkte Bundessteuer verwendet. Der Pauschalabzug
sagt offensichtlich nichts darüber aus, ob und wie hoch tatsächlich
Unterhaltskosten angefallen sind. Zudem spricht die Tatsache, wo-
nach die Liegenschaft trotz des behaupteten gut unterhaltenen Zu-
stands dennoch umfassend erneuert worden ist, nicht für das Vorlie-
gen von abzugsfähigen Unterhaltskosten, sondern für Einkommens-
verwendung, respektive Lebenshaltungskosten. Als solche gelten der
Ersatz von Installationen kurz nach deren Investition (R
ICHNER UND
ANDERE
, a.a.O., Art. 32 N 78). Letztendlich ändert dies nichts daran,
dass die Beschwerdeführer die Liegenschaft 2012 und 2013 umfas-
send erneuert haben.
Die Beschwerdeführer widersprechen sich zudem hinsichtlich
des Standards, wenn sie einerseits ausführen, der Standard habe teil-
weise nicht mehr dem heutigen entsprochen und andererseits anmer-
ken, der Standard der Liegenschaft habe sich nicht erhöht. Sind die
wesentlichen Einrichtungen (Heizungs-, Sanitär- und Elektroinstalla-
tionen sowie Fenster) im Zeitpunkt der Anschaffung nur im nötigen
Umfang und/oder in einem technisch überholten Zustand vorhanden,
handelt es sich um einen einfachen Wohnungsstandard. Wenn im Zug
von Baumassnahmen diese Einrichtungen nicht nur in zeitgemässer
Form ersetzt, sondern darüber hinaus in ihrer Funktion (Gebrauchs-
wert) deutlich erweitert und ergänzt werden und dadurch der Wohn-
komfort des Hauses insgesamt deutlich gesteigert wird (bspw. Ersatz
einfach verglaster Fenster durch Isolierglasfenster, höhere Zahl von
Elektroanschlüssen und neue Multimedia-Anschlüsse, Ersatz tech-
nisch überholter Heizungsanlage durch eine dem Stand der Technik
entsprechende Heizungsanlage), dann wird ein Wohnhaus dadurch
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
106
wesentlich verbessert (R
ICHNER UND ANDERE
, a.a.O., Art. 32
N 52 f.). Wie bereits ausgeführt, haben die Beschwerdeführer sämtli-
che wesentlichen Einrichtungen der Liegenschaft auf einmal er-
neuert. Damit wurde das Wohnhaus insgesamt wesentlich verbessert,
weshalb die damit zusammenhängenden Kosten nicht Liegenschafts-
unterhalt, sondern Umbaukosten darstellen.
4.4.
Die Beschwerdeführer machen mit Verweis auf ihren Rekurs
geltend, vom Eigenmietwert müssten die Kosten für den Anbau und
den Carport in Abzug gebracht werden, dann falle die Erhöhung des
Eigenmietwerts niedriger aus, was gegen die Annahme von nicht ab-
zugsfähigen Umbaukosten spreche.
Diese Überlegung geht fehl. Im Eigenmietwert sind die Kosten
von Anbau und Carport nicht spiegelbildlich enthalten und können
daher auch nicht einfach so herausgerechnet werden. Zudem handelt
es sich bei den ausgeführten Arbeiten um eine umfassende In-
standstellung, wofür eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist. Diese
kann nicht mittels Umweg über ein beliebiges Herausrechnen von
Positionen aus dem Eigenmietwert umgangen werden. Damit gilt
nach wie vor Folgendes: Erhöht sich der Eigenmietwert einer
Liegenschaft infolge von Arbeiten an dieser, besteht kein Zusammen-
hang zwischen den dafür aufgewendeten Kosten und dem bis dahin
versteuerten Ertrag der Liegenschaft. Im Umfang der zusätzlichen
Nutzungsmöglichkeit und deren Ertrag liegen daher keine Liegen-
schaftsunterhaltskosten mehr vor (WBE.2013.245 Erw. 3.2 mit Ver-
weis auf Urteil des Bundesgerichts vom 2. Februar 2005
[2A.480/2004]). Vorliegend hat sich der Eigenmietwert von
Fr. 24'816.00 des Einfamilienhauses mit Einliegerwohnung auf
Fr. 46'979.00 für das Zweifamilienhaus erhöht, wobei für die Woh-
nung im Erdgeschoss ein Eigenmietwert von Fr. 24'139.00 und für
diejenige im Untergeschoss ein solcher von Fr. 22'840.00 festgelegt
worden ist. Der Eigenmietwert hat sich für die gesamte Liegenschaft
beinahe verdoppelt. Hinsichtlich der Wohnung im Erdgeschoss ist
der Eigenmietwert zwar annähernd gleich hoch geblieben,
flächenmässig hat sich diese jedoch mit dem Wegfall der Nutzungs-
möglichkeit im Untergeschoss beinahe halbiert. Eine Erhöhung des
2017
Steuern
107
Eigenmietwerts in diesem Umfang überschreitet die Schwelle der
Wesentlichkeit der Nutzungserweiterung klar, womit keine Kosten
zum Abzug zuzulassen sind. | 3,580 | 2,901 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-16_2017-07-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-16.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-16.pdf | AGVE_2017_16 | null | nan |
8934f18a-7d0c-504e-b9e2-8f3f4a309caa | 1 | 412 | 870,093 | 959,904,000,000 | 2,000 | de | 2000
Kantonales Steuerrecht
157
[...]
41
Zustellung an gemeinsam steuerpflichtige Ehegatten.
- Ist nur einer der Ehegatten vertreten, muss die Zustellung an dessen
Vertreter und an den anderen Ehegatten separat erfolgen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 7. Juni 2000 in Sachen
B.A. und S.A. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts. Zur Publikation vor-
gesehen in StE 2001.
2000
Verwaltungsgericht
158
Aus den Erwägungen
1. Gemäss § 134
bis
StG erfolgen Zustellungen an - wie vorlie-
gend - gemeinsam steuerpflichtige Ehegatten in einem Exemplar an
beide Ehegatten gemeinsam; separate Zustellungen sind vorge-
schrieben, wenn die Voraussetzungen für eine getrennte Besteuerung
erfüllt sind und ein entsprechendes Gesuch vorliegt. Die Frage, ob
nicht über § 134
bis
Abs. 2 StG hinaus eine separate Zustellung
generell erforderlich ist, wenn Eheleute tatsächlich nicht am gleichen
Ort wohnen, kann hier offen bleiben. Die Beschwerdeführerin ist seit
April 1997 entmündigt. Zustellungen, die sie betreffen, müssen an
ihren (gesetzlichen) Vertreter, den Vormund gerichtet werden (AGVE
1997, S. 226 = StE 1998, B 93.6 Nr. 17 mit Hinweisen). Wo nur ein
Ehegatte vertreten ist, genügt eine gemeinsame Zustellung nicht;
richtet sie sich an den Vertreter, ist nicht sichergestellt, dass der
unvertretene Ehegatte davon Kenntnis erhält; richtet sie sich an den
unvertretenen Ehegatten, so läuft dies auf eine Ausschaltung des
Vertreters des anderen Ehegatten hinaus. Schon die Veranlagung und
der Einspracheentscheid hätten somit auch an den Vormund der Be-
schwerdeführerin zugestellt werden müssen; beim Rekursentscheid
wurde die Unterlassung nachgeholt. Ein Nachteil ist dadurch offen-
sichtlich nicht entstanden, und die Beschwerdeführerin (bzw. ihr Vor-
mund) macht denn auch nichts Derartiges geltend. Die Beschwer-
deführung durch den Ehemann, mit dem Risiko der Kostenauflage,
hätte sie nicht verhindern können (vgl. AGVE 1998, S. 206 f.). | 463 | 369 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2000-41_2000-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-41.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-41.pdf | AGVE_2000_41 | null | nan |
89759e29-82eb-5717-821d-6b18c36cd2e4 | 1 | 412 | 870,313 | 1,517,529,600,000 | 2,018 | de | 2018
Steuern
77
II. Steuern
7
Feststellung Steuerpflicht
Kein Anspruch auf Feststellung der unbeschränkten Steuerpflicht, wenn
unstreitig mindestens eine beschränkte Steuerpflicht besteht
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 28. Februar
2018, in Sachen A. gegen KStA und Gemeinderat Y. (WBE.2017.490).
Aus den Erwägungen
1.
Das Spezialverwaltungsgericht hat im angefochtenen Entscheid
zunächst geprüft, ob die Steuerkommission Y. einen negativen Fest-
stellungsentscheid betreffend die unbeschränkte Steuerpflicht des
Beschwerdeführers hätte fällen dürfen. Dabei ist es zum Ergebnis ge-
langt, dass in der hier vorliegenden Konstellation - unbestrittenes
Bestehen einer Steuerpflicht, wobei einzig streitig ist, ob (nur) eine
beschränkte oder eine unbeschränkte Steuerpflicht besteht - kein An-
lass für eine separate Feststellung der Steuerpflicht besteht. Dement-
sprechend hat das Spezialverwaltungsgericht den angefochtenen Ent-
scheid aufgehoben und die Angelegenheit zur Veranlagung des Be-
schwerdeführers an die Steuerkommission Y. zurückgewiesen.
1.1.
Wie bereits im verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 17. Juni
2009 (WBE.2008.328 = AGVE 2009, S. 137) festgehalten, ist das
Verwaltungsgericht bei Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen
Grundlage für den Erlass von Feststellungsentscheiden im kantona-
len Steuerrecht hinsichtlich der Zulässigkeit solcher Entscheide in
Anlehnung an die insoweit sehr restriktive Praxis des Bundesgerichts
ebenfalls sehr zurückhaltend: In Veranlagungen sind über die Festle-
gung der Steuerfaktoren hinausgehende rechtskraftfähige Feststel-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
78
lungen ausgeschlossen. Ebenso sind selbstständige Feststellungsver-
fügungen im Steuerrecht, abgesehen vom Fall der Feststellung der
Steuerpflicht, grundsätzlich ausgeschlossen. Nur aus zwingenden
praktischen Gründen kann in besonderen Einzelsituationen die Vor-
wegnahme eines Entscheids über eine Rechtsfrage geboten sein, ob-
wohl es mangels Verwirklichung eines Steuertatbestands noch nicht
zu einer Veranlagung kommt. Nur für solche Sonderfälle behält die
verwaltungsgerichtliche Praxis das Recht bzw. die Pflicht zum Erlass
einer selbstständigen Feststellungsverfügung vor.
1.2.
Hier steht fest, dass der Beschwerdeführer per 31. Dezember
2014 im Kanton Aargau steuerpflichtig war. Streitig ist einzig, ob er
(nur) qua wirtschaftlicher Zugehörigkeit (Eigentum an der Liegen-
schaft in Y.; § 17 Abs. 1 lit. b StG) der beschränkten Steuerpflicht
oder qua Wohnsitz in Y. (§ 16 Abs. 1 StG) im Kanton Aargau der un-
beschränkten Steuerpflicht unterliegt.
Für interkantonale Verhältnisse hat das Bundesgericht mit Blick
auf doppelbesteuerungsrechtlich erhebliche Sachverhalte aus dem
Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung gemäss Art. 127
Abs. 3 BV direkt, d.h. ohne dass es dafür einer weiteren gesetzlichen
Grundlage im Bundes- oder kantonalen Recht bedürfte, einen An-
spruch des Bürgers auf Vorausbeurteilung der Steuerhoheitsfrage ab-
geleitet (BGE 137 I 273 Erw. 3.3.2 S. 278; Urteil des Bundesgerichts
2C_1025/2016 vom 14. November 2016 Erw. 3.2). Ist die Steuer-
hoheit im interkantonalen Verhältnis bestritten, so kann und muss die
kantonale Steuerverwaltung, die sich zur Besteuerung zuständig er-
achtet, in dieser Frage einen Feststellungentscheid erlassen, ehe sie
das Veranlagungsverfahren fortsetzen kann. Zur Begründung dieser
Praxis hat das Bundesgericht darauf verwiesen, dass derjenige, der
die Steuerhoheit eines Kantons gemäss dem Doppelbesteuerungs-
verbot bestreite, in diesem Kanton weder mit einer Steuer belegt
noch auch nur in ein Steuerveranlagungsverfahren einbezogen wer-
den dürfe. Daher müsse dem zur Veranlagung Herangezogenen ein
Anspruch auf einen Vorentscheid darüber zustehen, ob er einer be-
stimmten Steuerhoheit überhaupt unterliegt.
2018
Steuern
79
Ein solcher Entscheid muss und darf aber nur dann gefällt
werden, wenn die kantonale Steuerhoheit als solche, d.h. der Bestand
der subjektiven Steuerpflicht, in Frage steht. Ist das Bestehen einer
subjektiven Steuerpflicht ohnehin zu bejahen und lediglich noch
streitig, ob eine der Steuerhoheit eines Kantons unterworfene Person
beschränkt oder unbeschränkt steuerpflichtig ist, so betrifft dies nicht
den Bestand, sondern den Umfang der subjektiven Steuerpflicht. Ein
Vorentscheid betreffend den Umfang der subjektiven Steuerpflicht ist
somit weder bundes- noch kantonalrechtlich geboten und, wie die
Vorinstanz zutreffend erkannt hat, auch gar nicht zulässig (ebenso
bereits das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, Urteil vom
31. Januar 1997 = StE 1997 B 11.3 Nr. 10; vgl. auch Urteil vom
18. Dezember 2002 = StE 2003 B 92.51 Nr. 9; ausserdem PETER
LOCHER, Kommentar DBG, I. Teil, Therwil 2004, Einführung zu
Art. 3 ff. N 10 sowie MARTIN ZWEIFEL/HUGO CASANOVA, Schwei-
zerisches Steuerverfahrensrecht, Zürich 2008, S. 256 § 20 Rz 9). Zu
Recht hat die Vorinstanz daher den Feststellungsentscheid der
Steuerkommission Y., wonach der Beschwerdeführer in Y. lediglich
der beschränkten Steuerpflicht unterliegt, aufgehoben und damit den
Rekurs implizit teilweise gutgeheissen. | 1,121 | 871 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2018-7_2018-02-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2018-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2018-7.pdf | AGVE_2018_7 | null | nan |
89b893b0-03ba-57b5-96d2-cbef1ea6f3bc | 1 | 412 | 870,597 | 1,549,152,000,000 | 2,019 | de | 2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
99
IV. Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
13
Ausnahmebewilligung zur Unterschreitung des Strassenabstands
Die Erteilung einer Ausnahmebewilligung nach § 67 Abs. 1 BauG kann
sich ohne das Vorliegen eines Härtefalls rechtfertigen, wenn namhafte öf-
fentliche Interessen eine Baute oder Anlage innerhalb des Strassenab-
stands als angezeigt erscheinen lassen und insofern ausserordentliche
Verhältnisse gegeben sind; Zusammenfassung der bisherigen Praxis zu
§ 67 Abs. 1 BauG.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 22. Februar
2019, in Sachen Einwohnergemeinde A. gegen B., C., D. und Regierungsrat
(WBE.2018.147).
Aus den Erwägungen
2.4.
2.4.1.
Das Verwaltungsgericht hatte sich schon verschiedentlich mit
der Frage zu befassen, ob für Bauvorhaben im Unterabstand zu einer
Strasse eine Ausnahmebewilligung nach § 67 Abs. 1 BauG erteilt
werden kann. Meistens, aber nicht immer, ging es dabei um Bauvor-
haben privater Bauherren. Nach dem Wortlaut der erwähnten Be-
stimmung kommt eine Ausnahme nur bei Vorliegen ausserordent-
licher Verhältnisse oder eines Härtefalls in Betracht, wenn es mit
dem öffentlichen Wohl sowie Sinn und Zweck der Rechtssätze ver-
einbar ist, unter billiger Abwägung der beteiligten Interessen. § 67
Abs. 1 BauG verlangt somit nicht nur eine Interessenabwägung, son-
dern setzt kumulativ das Vorliegen ausserordentlicher Verhältnisse
oder einer unzumutbaren Härte voraus (AGVE 2006, S. 167; VGE
vom 19. September 2014 [WBE.2013.537], Erw. II/2.4.1; VGE vom
25. Mai 2010 [WBE.2009.293], Erw. II/4.1). Ein Ausnahmetatbe-
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
100
stand lässt sich nicht allein damit begründen, es bestünden keine
öffentlichen (oder privaten) Interessen an der Einhaltung des Stras-
senabstands bzw. die Ausnahme sei mit dem Sinn und Zweck des
Rechtssatzes (von dem abgewichen wird) vereinbar. Es bedarf
darüber hinaus ausserordentlicher Verhältnisse oder eines Härtefalls,
die eine Ausnahme rechtfertigen (VGE vom 19. September 2014
[WBE.2013.537], Erw. II/2.4.1; VGE vom 27. April 2013
[WBE.2012.68], Erw. II/2.4; VGE vom 25. Mai 2010
[WBE.2009.293], Erw. II/4.1; VGE vom 22. August 2008
[WBE.2007.333], Erw. II/2.5; VGE vom 19. Juni 2008
[WBE.2007.136], Erw. II/3.5). Das gilt auch dann, wenn öffentliche
Interessen (an einem Bauwerk) beteiligt sind. Das Verwaltungsge-
richt hat in seiner bisherigen Praxis stets strenge Anforderungen an
das Vorliegen einer Ausnahmesituation gestellt; eine solche darf
nicht leichthin angenommen werden, auch nicht in Bezug auf den
gesetzlichen Strassenabstand (AGVE 2001, S. 296, 298; VGE vom
30. März 2005 [BE.2004.00160], Erw. II/3b).
Die Frage, ob ausserordentliche Verhältnisse vorliegen, beurteilt
sich einerseits nach der Interessenlage: Die Umschreibung der Norm-
tatbestände richtet sich an durchschnittlichen Lebenssituationen aus.
Dem Gesetz liegt eine Interessenbeurteilung zugrunde, die der Ge-
setzgeber für diese typische Lebenssituation durchgeführt hat. Ein-
schränkungen, die sich aus dieser Beurteilung ergeben, muss der Be-
troffene hinnehmen. Der zu entscheidende Sachverhalt kann indessen
von der Interessenlage her so ausserordentlich sein, dass angenom-
men werden muss, der Gesetzgeber habe diesen Einzelfall still-
schweigend ausgeschlossen, sei es, dass der Gesuchsteller durch die
Einhaltung der Norm wesentlich schwerer getroffen wird, als dies
dem Gesetzgeber bei der Normierung des Regelfalls vorschwebte,
oder sei es, dass die öffentlichen oder privaten Interessen, welche
normalerweise die Eigentumsbeschränkung verlangen, im konkreten
Fall gar nicht vorliegen. Die Verhältnisse sind aussergewöhnlich,
wenn der konkrete Fall nach der Interessenlage von der durchschnitt-
lichen Lebenssituation abweicht, die der Gesetzgeber geregelt hat.
Unter diesem Gesichtspunkt hat die Behörde, die eine Ausnahme in
Erwägung zieht, zu prüfen, in welchem Mass die Verhältnisse des
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
101
Einzelfalls von der Interessenbeurteilung abweichen, die der Gesetz-
geber vorgenommen hat (vgl. zum Ganzen: AGVE 1997, S. 314 f.,
S. 332; 1992, S. 348 und 355, je mit Hinweisen). Sieht sich ein Bau-
herr Sachzwängen gegenüber, die er durch bauliche Vorkehren selber
geschaffen und zu vertreten hat, vermag dies noch keine Ausnahme-
situation zu begründen (AGVE 1992, S. 348).
Bei der Beurteilung der Frage, ob aussergewöhnliche Verhält-
nisse vorliegen, ist ausserdem die im Gesetz angelegte Aufgabentei-
lung zwischen Legislative und Exekutive zu beachten. Die rechtsan-
wendende Behörde hat im Normalfall die gesetzliche Grundordnung
zu respektieren, die der Gesetzgeber in generell-abstrakter Form er-
lassen hat. Die Exekutivbehörde darf § 67 BauG nicht dazu miss-
brauchen, die gesetzliche Grundordnung auszuhöhlen oder das ge-
setzlich vorgegebene Verhältnis von Regel und Ausnahme zu korri-
gieren (ähnlich ERICH ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons Aargau
vom 2. Februar 1971 [aBauG], Kommentar, 2. Auflage, Aarau 1985,
§ 155 N 2). Das wäre dann der Fall, wenn die Behörde die Ausnah-
mebestimmung so anwendet, dass die Regel zur Ausnahme wird,
oder Ausnahmen auf Gründe stützt, die sich in einer Vielzahl der
Fälle anführen lassen (AGVE 2006, S. 167; 2001, S. 296; 1978,
S. 248 f.; vgl. auch ZIMMERLIN, a.a.O., § 155 N 1 mit Hinweisen).
So stellt etwa die optimale Nutzung des Baugrundstücks ein allge-
meines (privates) Interesse dar, das für sich allein keinen ausreichen-
den Grund für die Erteilung einer Ausnahmebewilligung bilden kann
(AGVE 2001, S. 296). Hätte der Gesetzgeber Gesichtspunkte be-
rücksichtigen wollen, die in einer Vielzahl der Fälle geltend gemacht
werden können, hätte er die Grundordnung angepasst oder um ge-
setzliche Ausnahmegründe erweitert. Nach der gesetzlich vorgegebe-
nen Aufgabenteilung zwischen Legislative und Exekutive bietet § 67
BauG keine rechtliche Handhabe, in jedem Einzelfall eine individua-
lisierte Würdigung der Interessen vorzunehmen. Sonst würde die ge-
setzliche Grundordnung ihres Anwendungsbereichs beraubt. Nur in
besonders gelagerten Situationen darf und soll gestützt auf § 67
BauG eine individualisierte Interessenbeurteilung eingreifen (vgl.
zum Ganzen VGE vom 19. September 2014 [WBE.2013.537],
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
102
Erw. II/2.4.2; VGE vom 22. August 2008 [WBE.2007.333],
Erw. II/2.7.1).
2.4.2.
Bei der Mehrzahl der von ihm beurteilten Bauvorhaben sprach
sich das Verwaltungsgericht gegen die Erteilung einer Ausnahmebe-
willigung nach § 67 BauG zur Unterschreitung des Strassenabstands
bzw. gegen das Vorliegen ausserordentlicher Verhältnisse oder eines
Härtefalls aus. Es betraf dies die folgenden Fälle: eine Tiefgaragen-
einfahrt, die trotz Hanglage des Baugrundstücks ohne grössere tech-
nische Schwierigkeiten auf den Strassenabstand zurückversetzt wer-
den konnte (AGVE 1997, S. 332 f.); Autoverkaufsplätze, die keinen
betriebsnotwendigen Teil einer Autowaschanlage bildeten; einmal
mehr wurde festgehalten, dass die optimale Ausnützung des Bau-
grundstücks keine Ausnahme rechtfertigt (VGE vom 30. März 2005
[BE.2004.00160-K3], Erw. II/3b); (freistehende) Plakatträger, mit
der Begründung, es lägen keine besonderen topographischen Ver-
hältnisse vor und die bessere Lesbarkeit der Plakate liesse sich in
einer Vielzahl vergleichbarer Situationen als Argument für die Ver-
ringerung des Strassenabstands anführen (AGVE 2006, S. 165 ff.);
einen Pylon mit Firmenanschrift, weil eine solche auch noch mit
einem Strassenabstand von 6 m erkannt werden kann, wenn sie aus-
reichend dimensioniert ist (VGE vom 24. Januar 2006
[WBE.2004.365], Erw. II/3.3.3); einen überdeckten Containerplatz,
der problemlos auch an einer anderen Stelle des Baugrundstücks er-
richtet werden konnte; bereits bestehende Bauten im Unterabstand
zur Strasse (Stützmauer) verleihen dabei keinen Anspruch auf eine
weitere Ausnahmebewilligung (VGE vom 28. August 2006
[WBE.2005.331], Erw. II/3.2); eine Gartengestaltung (bestehend aus
einer Terrainveränderung, erhöhten Rabatten, einem Weiher und
einer Holzpalisadenwand von über 1,8 m Höhe), weil sich eine roll-
stuhlgängige Zufahrt zum Wintergarten und erhöhte Rabatten auch
unter Einhaltung des Strassenabstands realisieren liessen und eine
ästhetisch schöne Gartengestaltung einen Beweggrund darstellt, den
jeder beliebige Eigentümer für sich anführen kann (VGE vom
16. März 2007 [WBE.2006.98], Erw. II/2.3.5); einen offenen Au-
tounterstand (Carport), da es auf dem Baugrundstück genügend nicht
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
103
überbautes Areal gab, auf dem der Autounterstand in Beachtung der
massgeblichen Abstandsvorschriften erstellt werden konnte, auch
wenn dies nicht die komfortabelste Lösung war und die Bauherrin zu
gewissen (baulichen) Anpassungen zwang (VGE vom 24. April 2008
[WBE.2007.190], Erw. II/3.3.2); einen Anbau an eine Gewerbehalle,
mit der Begründung, solange der Baugrund bestimmungsgemäss
nutzbar bleibe, führe die Anwendung des Strassenabstands nicht zu
einem Härtefall; bei der Projektierung der neuen Gewerbehalle hatte
die Bauherrin die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse rechtmässig umzu-
setzen (VGE vom 25. Mai 2010 [WBE.2009.293], Erw. II/4.4 f.);
vier Aussenabstellplätze, weil weder die Beschaffenheit oder Topo-
graphie noch die Lage des Baugrundstücks eine Ausnahmesituation
begründeten und die Parzelle auch unter Wahrung des Strassen-
abstands sinnvoll überbaut werden konnte (VGE vom 15. Dezember
2011 [WBE.2010.383], Erw. II/4.5.3); sechs Parkfelder und einen
Gartensitzplatz samt Umfassungsmauer und Holzsichtschutzwand,
weil mindestens vier Parkfelder anstatt auf dem Vorplatz der Liegen-
schaft auf einer strassenabgewandten Seite hätten ausgeschieden
werden können, anstelle des dortigen Gartensitzplatzes, bei dem es
sich um ein selbst geschaffenes Hindernis handelte (VGE vom
19. September 2014 [WBE.2013.537], Erw. II/2.5); diverse Stütz-
mauern, vier Besucherparkplätze, eine Zugangsrampe, einen Notaus-
stieg aus dem Schutzraum und zwei Terrassen zu Erdgeschosswoh-
nungen eines Mehrfamilienhauses; auch hier stand die Einhaltung
des Strassenabstands einer sinnvollen Überbauung des Grundstücks
trotz dessen Hanglage nicht entgegen (VGE vom 17. August 2016
[WBE.2015.502/503], Erw. II/3.3.3).
In lediglich zwei Fällen hielt das Verwaltungsgericht in jüngerer
Zeit eine Ausnahmebewilligung nach § 67 BauG für angezeigt. Nur
in einem Fall ging es explizit von ausserordentlichen Verhältnissen
aus. Dieser betraf Lücken in einer vorbestehenden (rechtmässigen)
Gartenabschlussmauer. Eine Ausnahmesituation wurde insbesondere
daraus abgeleitet, dass eine gezackte Mauerlinie (mit Lücken) unter
dem Ortsbildschutzaspekt nachteilig gewesen wäre. Die gesamte
Länge der Mauer betrug 23,17 m; diejenige der Lücken 1,12, 3,6 und
9,18 m (VGE vom 21. Juni 2000 [BE.1998.00255-K3], Erw. 2d/cc).
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
104
Ein anderes Mal schützte das Verwaltungsgericht einen Entscheid
des Baudepartements, wonach im Unterabstand zu einer Gemein-
destrasse mit niedriger Verkehrsfrequenz fünf Parkplätze angelegt
werden durften, ohne allerdings zu prüfen, ob ausserordentliche Ver-
hältnisse oder ein Härtefall vorlagen (AGVE 2002, S. 245 ff.).
2.4.3.
2.4.3.1.
Die Parzelle Nr. xxx weist eine nicht ganz alltägliche Form auf,
die an die Planung einer Überbauung erhöhte Anforderungen stellt,
sie aber keineswegs verunmöglicht oder auch nur unzumutbar kom-
pliziert. Erschwerend kommt zwar hinzu, dass die Nutzung des trich-
terförmigen Grundstücks durch die Strassenabstands- und Gewässer-
raumvorschriften praktisch rundum, nämlich auf seinen drei Haupt-
seiten stark begrenzt wird. Es verbleiben von einem Grundstück mit
einer Fläche von insgesamt 1'032 m2 neben dem bestehenden Ge-
bäude Nr. yyy mit einer Grundfläche von ca. 135 m2 noch freie 215
m2, also zusammengerechnet rund ein Drittel der Gesamtfläche, die
(unter Wahrung des Besitzstandes) überbaubar sind. Auch insofern
kann die Lage der Beschwerdeführerin als Eigentümerin der Parzelle
Nr. xxx nicht als singulär betrachtet werden, zumal sie keinen Ab-
bruch des bestehenden Gebäudes Nr. yyy beabsichtigt, was die Aus-
nützung klar verschlechtern würde. Nach der unwidersprochen ge-
bliebenen Darstellung des Rechtsdienstes des Regierungsrats liesse
sich das bestehende, im Grundbuch als Scheune und Lager be-
zeichnete Gebäude Nr. yyy für die von der Beschwerdeführerin ge-
planten Zwecke (Buswarteraum, Veloabstellplätze, Entsorgungs-
stelle) mitnutzen. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden,
die Einhaltung der Strassenabstandsvorschriften treffe die Beschwer-
deführerin im Vergleich zu anderen Grundeigentümern mit Parzellen
entlang einer oder mehrerer Strassen und/oder eines Gewässers be-
sonders hart. Sie kann die Parzelle Nr. xxx bestimmungsgemäss
nutzen, namentlich mit den vorgesehenen Infrastrukturanlagen über-
bauen, auch wenn ihr Projekt allenfalls redimensioniert oder zumin-
dest anders konzipiert werden müsste (unter Einbezug des bestehen-
den Gebäudes Nr. yyy) und nicht mehr in der gleichen Weise opti-
miert wäre.
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
105
Mit der Vorinstanz ist sodann festzuhalten, dass die Beschwer-
deführerin nicht nachgewiesen hat, dass sie zwingend auf eine Ent-
sorgungsstelle auf der Parzelle Nr. xxx angewiesen ist, und schon gar
nicht auf einen Reserveraum für das Bauamt. Die zentrale Lage der
Parzelle Nr. xxx eignet sich zwar bestens für eine Entsorgungsstelle.
Alternativlos ist der Standort deswegen nicht. Mit den ebenfalls in
ihrem Eigentum stehenden Parzellen Nrn. zzz und www verfügt die
Beschwerdeführerin über Grundeigentum an ähnlich zentraler Lage,
wo sie die Entsorgungsstelle stattdessen errichten könnte. Ein Teil
der Parzelle Nr. www liegt sogar - wie die angrenzende Parzelle
Nr. vvv - in einer Zone für öffentliche Bauten und Anlagen. Der Ge-
staltungsplan E., innerhalb dessen Perimeter sich die Parzellen
Nrn. zzz, vvv und Teile der Parzelle Nr. www befinden, schliesst eine
solche Nutzung nicht aus. Gemäss § 7 Abs. 2 der Sondernutzungs-
vorschriften zum Gestaltungsplan E. ist der Baubereich für öffent-
liche Bauten und Anlagen für unter- und oberirdische Nutzungen be-
stimmt, soweit diese mit der Zielsetzung eines parkartigen Freiraums
vereinbar sind. Zugelassen sind Hochbauten bis höchstens 7 m Ge-
bäudehöhe sowie unterirdische Bauten für die erforderlichen Ge-
meindewerke (z.B. Regenbecken). Inwiefern insbesondere die nur
durch die Einwurfbehälter in Erscheinung tretenden Unterflur-
Container den parkartigen Freiraum stören könnten, ist nicht ersicht-
lich. Eine Verlegung der geplanten Entsorgungsstelle würde zwar die
Beschwerdeführerin zu Anpassungen ihres Nutzungskonzepts
öffentliche Bauten und Anlagen in A. zwingen. Nutzungskonzepte
müssen sich allerdings an den vorhandenen Überbauungsmöglich-
keiten und bestehenden Bauvorschriften orientieren, nicht umge-
kehrt. Entsprechend vermag ein Nutzungskonzept von vornherein
keine Ausnahmesituation zu begründen, ebenso wenig wie die Gut-
heissung eines Projektierungs- und Baukredits durch die Gemeinde-
versammlung.
2.4.3.2.
Obwohl nach dem oben Dargelegten kein Härtefall vorliegt,
dürfen die konkreten Verhältnisse in anderer Hinsicht als ausser-
ordentlich bezeichnet werden. Im Vergleich zum Regelfall besteht im
vorliegenden Fall nicht nur keinerlei (öffentliches oder privates) Inte-
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
106
resse an der Einhaltung des Kantonsstrassenabstands. Vielmehr gibt
es sogar gewichtige öffentliche Interessen für eine Unterschreitung
dieses Strassenabstands. Es ist zwischen den Parteien unbestritten,
dass durch die Unterschreitung des Kantonsstrassenabstands weder
die Verkehrssicherheit noch gesundheitspolizeiliche Interessen ge-
fährdet sind. Die Distanz zwischen dem projektierten Mehrzweck-
gebäude und dem Fahrbahnrand beträgt mindestens 6 m, so dass die
Sicht auf die Fahrbahn in keiner Weise eingeschränkt wird. Die Er-
schliessung des Mehrzweckgebäudes bzw. der darin untergebrachten
Entsorgungsstelle und der Unterflur-Container erfolgt rückwärtig
über die F.-strasse. Eine direkte Zufahrt zur Kantonsstrasse existiert
nicht. Ferner ist ein Interesse an der Erhaltung des Planungsspiel-
raums und der Landerwerbsmöglichkeit für die Bedürfnisse des zu-
künftigen Strassenbaus zu verneinen, das nicht schon mit dem von
der Abteilung für Baubewilligungen angeordneten und von der Be-
schwerdeführerin akzeptierten Revers gewährleistet wäre. Danach
hätte die Beschwerdeführerin ihre Bauten und Anlagen bis auf einen
Abstand von 8 m zum heutigen Fahrbahnrand auf eigene Kosten und
entschädigungslos zu entfernen oder zu versetzen, sofern der Neu-
oder Ausbau eines öffentlichen Werks es erfordert.
Das gestützt auf die rechtskräftige Baubewilligung vom (...)
2016 weitgehend errichtete Regenbecken samt Betriebsgebäude wür-
de optisch erheblich aufgewertet, wenn die Lücke zwischen dem Be-
triebsgebäude und dem (noch zu erstellenden) Lüftungs- bzw. Pum-
penraum mit einer eingeschossigen Baute auf der über das gewachse-
ne Terrain hinausragenden Decke des Regenbeckens geschlossen
werden könnte, so dass ein formvollendeter und einheitlicher Bau-
körper entstünde. Zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang der
Einschätzung der zuständigen kantonalen Ortsbildschützerin in ihrem
Fachbericht vom (...) 2017, dass das Bauvorhaben einer guten Orts-
bildgestaltung entspreche. Als positiv wird namentlich das Erschei-
nungsbild des geplanten Mehrzweckgebäudes beschrieben, das durch
eine ruhig gestaltete Volumetrie und eine klare Gliederung überzeu-
ge, und sich mit dem vorgelagerten Platz zur F.-strasse hin gut in die
bestehende Bebauungsstruktur einfüge. Der heutige Überbauungszu-
stand mit Regenbecken samt Betriebsgebäude erweckt dagegen den
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
107
Eindruck eines schlecht gestalteten Provisoriums, wobei anzumerken
ist, dass der Standort des Regenbeckens durch die Generelle Entwäs-
serungsplanung der Gemeinde A. vorgegeben, mithin nicht frei ge-
wählt wurde. Ausserdem wird aus Sicht des Ortsbildschutzes be-
grüsst, dass verschiedene öffentliche Nutzungen in einem zentralen
Gebäude konzentriert werden, wodurch ein wichtiger Begegnungsort
entstehen könne. Die Beschwerdeführerin hat also nicht bloss ein
wirtschaftliches Interesse an einer möglichst kompakten Überbauung
der Parzelle Nr. xxx. Mit dem Bauvorhaben kann auch eine
Nutzungskonzentration erreicht werden, die dem öffentlichen Inte-
resse an einer verdichteten Bauweise vor allem in Ortszentren und
einem möglichst sparsamen und rationellen Landverbrauch Rech-
nung trägt. Es müsste nicht noch weiteres nicht überbautes Land,
beispielsweise auf den Parzellen Nrn. zzz, www oder vvv, für eine
Entsorgungsstelle geopfert werden, das sich aufgrund seiner Lage
auch als Standort für einen Pavillon für Tagesstrukturen sehr gut
eignen würde. Das bestehende Gebäude Nr. yyy könnte weiterhin zur
Unterbringung von Material des Werkhofes verwendet werden.
Ohnehin gilt es diesbezüglich zu bedenken, dass das Gebäude im
Lichte von § 68 BauG (Besitzstandsgarantie) nicht beliebig umge-
baut respektive umgestaltet werden könnte. Der in das Mehrzweck-
gebäude eingegliederte Buswarteraum mit rückwärtig angeglieder-
tem, überdachtem Velo- und Mofaabstellplatz wäre schliesslich sehr
viel benutzerfreundlicher als es ein separates Buswartehaus mit
einem Abstand von 6 m zum Gehweg oder ein in das bestehende
Gebäude Nr. yyy integrierter Warteraum zu sein vermöchte. In
derartige Räumlichkeiten hätte der Buschauffeur im Gegensatz zur
geplanten Lösung mit leicht abgewinkeltem Fassadenverlauf keinen
Einblick. In Anbetracht dieser mannigfaltigen öffentlichen Interessen
an der Realisierung des projektierten Mehrzweckgebäudes sind
ausserordentliche Verhältnisse im Sinne von § 67 Abs. 1 lit. b BauG
anzunehmen, die eine Unterschreitung des Kantonsstrassenabstands
ausnahmsweise rechtfertigen.
(...) | 4,628 | 3,521 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-13_2019-02-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-13.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-13.pdf | AGVE_2019_13 | null | nan |
89b93ba4-06c3-5bfe-bf70-3e0d2161e2b8 | 1 | 412 | 871,610 | 1,209,859,200,000 | 2,008 | de | 2008
Anwaltsrecht
287
[...]
50 Disziplinarverfahren;
befristetes
Berufsausübungsverbot.
-
Weiterleiten von Kassibern ist - unabhängig von der strafrichterli-
chen Beurteilung - ein schwerer Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA
(Erw. 3).
-
Wahl der geeigneten Sanktion (Erw. 4 ).
-
Eine befristete Berufseinstellung kann auch für eine erstmalige Dis-
ziplinierung angemessen sein (Erw. 5)
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 13. Mai 2008 in Sachen X.
gegen die Anwaltskommission (WBE.2008.46).
2008
Verwaltungsgericht
288
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Zur allgemeinen Berufspflicht des Anwalts gehört gemäss
Art. 12 lit. a BGFA, dass der Beruf sorgfältig und gewissenhaft aus-
geübt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts umfasst
die Generalklausel nicht nur das Verhalten zwischen Anwalt und
Klient, sondern auch das Verhalten des Anwalts gegenüber Behör-
den, der Gegenpartei und der Öffentlichkeit (Fellmann, in: Walter
Fellmann / Gaudenz Zindel [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz,
Zürich / Basel / Genf 2005, Art. 12 N 12). In seiner Tätigkeit hat der
Anwalt in erster Linie die Interessen seines Klienten zu wahren, ist
aber den Zielen des Rechtsstaats verpflichtet. Auch wenn der Straf-
verteidiger seine Tätigkeit nicht am Strafverfolgungsinteresse des
Staats auszurichten und in der Wahl der Verteidigungsmittel ein ho-
hes Mass an Entscheidungsfreiheit hat, ist es ihm verwehrt, rechts-
widrige Mittel zu ergreifen (Fellmann, a.a.O., Art. 12 N 37; Peter
Noll, Die Strafverteidigung und das Disziplinarrecht der Rechtsan-
wälte, in: ZStr 1981, S. 181; BGE 106 Ia 100 Erw. 6b; Beschluss der
Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte des Kantons Zürich
vom 1. Juni 1995, in: ZR 94/1995, S. 285 f.). Unstatthaft ist es insbe-
sondere, die Ermittlungen der staatlichen Behörden aktiv und pro-
zessordnungswidrig zu vereiteln, namentlich durch die Weiterleitung
von Kassibern aus dem Gefängnis, welche den Tatbestand der Be-
günstigung erfüllen können (Peter Albrecht, in: Marcel Alexander
Niggli / Philippe Weissenberger, Strafverteidigung, Basel 2002,
Rz. 2.20, 2.39 und 2.45; Hansruedi Müller, Die Grenzen der Vertei-
digertätigkeit, in: ZStr 1996, S. 177).
3.2.
Der Beschwerdeführer hat seine Berufspflichten gemäss Art. 12
lit. a BGFA nicht nur durch die Widerhandlung gegen die über den
freien Verkehr zwischen Strafverteidiger und Klient geltenden straf-
prozess- und verwaltungsrechtlichen Vorschriften verletzt
(AGVE 1998, S. 96 ff.), sondern seine Handlungen erfüllten den
Straftatbestand der versuchten Begünstigung gemäss Art. 305 Abs. 1
2008
Anwaltsrecht
289
i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB, teilweise i.V.m. Art. 23 Abs. 1 StGB. Der
Umstand, dass es in der strafrechtlichen Beurteilung durch das Be-
zirksgericht Aarau bei vollendeten und untauglichen Versuchen blieb,
vermag das pflichtwidrige Verhalten des Beschwerdeführers nur sehr
eingeschränkt zu relativieren. Der Beschwerdeführer leitete die weit-
aus überwiegende Anzahl der Schreiben ungeprüft weiter. Dass es im
Strafurteil bei versuchtem (zwei Fälle) bzw. bei untauglichem Ver-
such (vier Fälle) der Begünstigung blieb, war allein dem dem Be-
schwerdeführer unbekannten Inhalt der Schreiben und dem Umstand
zuzuschreiben, dass die Ehefrau des Verhafteten die Anweisungen
nicht befolgte. Somit ist erstellt, dass der Beschwerdeführer in ob-
jektiver Hinsicht durch das Weiterleiten der Briefe die Berufspflich-
ten mehrfach und wiederholt verletzte und seine Handlungsweise den
Straftatbestand der versuchten Begünstigung erfüllte.
4.
4.1.
Die disziplinarische Einstellung in der Berufsausübung ist eine
der schwersten Sanktionen, welche sich nur bei schweren Wider-
handlungen gegen die Berufsregeln rechtfertigen lässt. Auch ein be-
fristetes Verbot ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich nur im
Wiederholungsfall gerechtfertigt (BGE vom 24.
Februar 2006
[2A.177/2005], Erw. 4.1; BGE vom 11. Juni 2007 [2A.499/2006],
Erw. 5.1). Bei der Wahl der geeigneten Sanktionen aus dem Katalog
von Art. 17 BGFA ist der Einzelfall zu betrachten, wobei general-
und spezialpräventive Aspekte für die Wahl und Bemessung der
Sanktion massgebend sind. Die Sanktion hat grundsätzlich einen
administrativen Charakter und dient dem Schutz des rechtssuchenden
Publikums und der Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft
(BGE 128 I 346 Erw. 2.2 mit Hinweisen; Tomas Poledna, in: Kom-
mentar zum Anwaltsgesetz, a.a.O., Art. 17 N 14 f.). Bei der Wahl und
Bemessung der Sanktion steht der Anwaltskommission ein gewisser
Ermessensspielraum zu, welcher durch das Verhältnismässigkeitsge-
bot eingeschränkt ist.
4.2.
Die Vorinstanz begründete das befristete Berufsverbot mit der
Tatschwere und setzte die Dauer aufgrund der objektiven und der
2008
Verwaltungsgericht
290
persönlichen Umstände des Beschwerdeführers mit sechs Monaten
fest. Auch für das Verwaltungsgericht ist der Missbrauch der Privile-
gien des Strafverteidigers im Verkehr mit Untersuchungsgefangenen
ein schwerer Verstoss gegen die Berufspflichten. Besonders ins Ge-
wicht fällt aber, dass sich der Beschwerdeführer auch der mehrfa-
chen versuchten Begünstigung schuldig machte. Die besondere Tat-
schwere einer strafrechtlichen Verurteilung in anwaltsrechtlicher
Hinsicht findet ihre Begründung darin, dass eine fehlende strafrecht-
liche Verurteilung wegen Handlungen, die mit dem Anwaltsberuf
nicht zu vereinbaren sind und die im Strafregisterauszug für Privat-
personen erscheinen, zu den persönlichen Voraussetzungen für den
Registereintrag gehört (Art. 8 Abs. 1 lit. b BGFA). Der Gesetzgeber
hat damit die Tätigkeit der Rechtsanwälte im Monopolbereich ausge-
schlossen, wenn eine für den Rechtsanwaltsberuf relevante straf-
rechtliche Verurteilung im Strafregister erscheint. Ziel dieser Rege-
lung ist der Schutz des Vertrauensverhältnisses. Das Vertrauensver-
hältnis, das zwischen einer Anwältin oder einem Anwalt und der
Klientschaft bestehen muss, ist erheblich beeinträchtigt, wenn die
Anwältinnen oder Anwälte aufgrund eines strafrechtlichen Vorlebens
nicht vollumfänglich für Seriosität und Ehrenhaftigkeit in der Be-
rufsausübung bürgen können.
Nicht jede strafrechtliche Verurteilung ist geeignet, dieses Ver-
trauensverhältnis zu beeinträchtigen; relevant sind nur solche Verur-
teilungen, die Auswirkungen auf die Ausübung des Anwaltsberufs
haben (vgl. Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen
und Anwälte vom 28. April 1999 [Botschaft BGFA], in: BBl 1999 IV
6050). Die Begünstigung eines Straftäters steht ebenso wie die
Widerhandlung gegen die Bestimmungen über den freien Verkehr
des Strafverteidigers mit seinem inhaftierten Klienten im Zusam-
menhang mit der anwaltlichen Tätigkeit. Der freie Verkehr zwischen
Strafverteidiger und Klient ist ein zentrales Element seiner Unabhän-
gigkeit von staatlichen Instanzen und bildet damit die Basis des Ver-
trauens zwischen Verteidiger und Klient. Dieses Vertrauen ist auch
die Grundlage für eine wirksame Strafverteidigung von Inhaftierten,
wie sie u.a. Art. 6 Ziff. 3 lit. b EMRK und Art. 32 Abs. 2 BV ge-
währleisten (vgl. dazu Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen
2008
Anwaltsrecht
291
Menschenrechtskonvention [EMRK], 2.
Auflage, Zürich 1999,
Rz. 514 ff.; BGE 126 I 153 Erw. 4a). In diesem Sinne haben die An-
wältinnen und Anwälte eine wichtige Funktion für die Gewähr-
leistung korrekter rechtsstaatlicher Strafverfahren (vgl. BGE 130 II
270 Erw. 3.2.2 mit Hinweis; Fellmann, a.a.O., Art. 12 N 16 mit Hin-
weis) mit der entsprechenden Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit
gegenüber der Allgemeinheit. Strafbare Begünstigungshandlungen
eines Strafverteidigers und der Missbrauch seiner Privilegien unter-
graben daher auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Anwalt-
schaft. Die Seriosität des Anwaltsstandes leidet auch aus der Sicht
der Klienten, wenn sich Strafverteidiger über strafrechtliche Verbote
hinwegsetzen. Fehlbare Anwältinnen und Anwälte bieten auch keine
Gewähr dafür, dass sie sich im Mandatsverhältnis uneingeschränkt
an die gesetzlichen Vorschriften und Berufsregeln halten. Auch wenn
bei Straftaten gegen die Rechtspflege Zurückhaltung angebracht ist
und es nicht darum gehen kann, den Strafbehörden unliebsame Straf-
verteidiger zu massregeln oder ihren Handlungsspielraum einzu-
schränken (Ernst Stähelin / Christian Oetiker, in: Kommentar zum
Anwaltsgesetz, a.a.O., Art. 8 N 21), überschreitet die dem Beschwer-
deführer anzulastende Verletzung der Berufsregeln die Schwelle
eines leichten oder mittleren Vergehens. Die strafrechtliche Verurtei-
lung beeinträchtigt die Vertrauenswürdigkeit des Beschwerdeführers
sehr stark, und sie betrifft seine berufsspezifische Zutrauenswürdig-
keit erheblich, weil seine Vergehen im Zusammenhang mit seiner
Funktion als Rechtsanwalt und amtlicher Verteidiger stehen. Das be-
fristete Berufsverbot ist in solchen Fällen in der Regel eine zutreffen-
de Sanktion (vgl. den Entscheid der Aufsichtskommission über die
Rechtsanwälte des Kantons Zürich vom 2. April 1980, in: ZR
80/1981, S. 17 ff.). Die Verwarnung und der Verweis sind für leich-
tere Pflichtverletzungen bestimmt und kommen daher vorliegend
nicht in Betracht.
Die mit dem Strafregistereintrag bis August 2007 fehlende per-
sönliche Voraussetzung für die Eintragung ins Anwaltsregister hat
den Beschwerdeführer in seiner beruflichen Tätigkeit nicht einge-
schränkt. Auch wenn im Zeitpunkt der vorinstanzlichen Beurteilung
eine Löschung des Registereintrags infolge fehlender persönlicher
2008
Verwaltungsgericht
292
Voraussetzungen (Art. 9 BGFA) nicht mehr in Frage kam, kann der
Beschwerdeführer aus diesem Umstand nichts zu seinen Gunsten
ableiten. Die Wahl der Sanktion im Disziplinarverfahren wird durch
die Voraussetzungen für den Registereintrag nicht eingeschränkt.
5.
5.1.
Die Vorinstanz hat in subjektiver Hinsicht das schwierige Man-
datsverhältnis, die kurze Dauer der Anwaltstätigkeit, fehlende Ein-
tragungen in der Disziplinarkontrolle und die Einsichtigkeit sowie
das seitherige Wohlverhalten des Beschwerdeführers in Rechnung
gestellt. Nicht massgeblich ist die Beurteilung durch das Bezirksge-
richt Aarau, da sich diese auf die strafrechtliche Würdigung be-
schränkte. Die vom Beschwerdeführer angeführte Belastung durch
das Straf- und Disziplinarverfahren sowie die Pressepublizität, seine
Einsicht und auch die Auswirkungen in finanzieller Hinsicht wurden
von der Vorinstanz bereits zureichend berücksichtigt. Ein Strafver-
teidiger muss auch nach Auffassung des Verwaltungsgerichts in der
Lage sein, mit manipulativen, aggressiven Mandanten umzugehen,
oder das Pflichtmandat abgeben.
Den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers hat die
Vorinstanz dadurch Rechnung getragen, dass sie auf die Ausspre-
chung einer Busse verzichtete. Das befristete Berufsverbot be-
schränkt sich sodann auf die Monopoltätigkeit. Dem Beschwerdefüh-
rer sind die Beratungstätigkeit und die Anwaltstätigkeit im gerichtli-
chen Verfahren ausserhalb des Anwaltsmonopols während der Dauer
des befristeten Berufsverbots gestattet. Er ist in einer Anwaltskanzlei
mit mehreren Anwälten tätig, so dass organisatorische Möglichkeiten
zu einer internen Arbeitsaufteilung bestehen.
Nicht zu folgen ist der Auffassung des Beschwerdeführers, dass
die Tatschwere das Vertrauen des Klienten in seinen Anwalt nicht
beschlägt. Ein Anwalt, der sich willentlich über die Anstaltsordnung
und über strafrechtliche Schranken hinwegsetzt, verletzt das Klien-
tenvertrauen selbst dann in schwerwiegender Weise, wenn er diese
Handlungen im vermeintlichen Interesse seines Mandanten vor-
nimmt. Der Klient kann daraus nur den Schluss ziehen, dass die Per-
2008
Anwaltsrecht
293
sönlichkeit des Anwalts auch im Mandatsverhältnis solche Risiken
nicht ausschliesst.
5.2.
Das Verschulden des Anwalts ist mit der Vorinstanz als sehr
schwer zu qualifizieren. Insbesondere ins Gewicht fällt, dass der Be-
schwerdeführer die überwiegende Anzahl der Briefe, welche er wei-
terleitete, nicht einmal inhaltlich überprüfte und damit die elementar-
ste Vorsichtmassnahme zur Vermeidung von Kollusions- und Begün-
stigungshandlungen unterliess. Auch der Umstand, dass der Be-
schwerdeführer Briefe der Ehefrau ohne jede Druckausübung in die
Untersuchungshaft schmuggelte und auch diese Briefe mehrheitlich
ungeprüft und im Wissen um die mögliche Strafbarkeit seines Ver-
haltens weiterleitete, lässt die im unteren Bereich des Strafrahmens
von Art. 17 Abs. 1 lit. d BGFA angesetzte Dauer des Berufsverbots
nicht als unverhältnismässig erscheinen. Eine strafrechtliche Verur-
teilung wegen fortgesetzter und wiederholter Handlungen, die mit
dem Anwaltsberuf nicht zu vereinbaren sind (Art. 8 Abs. 1 lit. b
BGFA), kann in der Regel auch nicht mehr als mittelschwere Pflicht-
verletzung nur mit Busse geahndet werden. Aussergewöhnliche Um-
stände, welche diese mildere Massnahme rechtfertigen könnten, wer-
den vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht und sind auch aus
den Akten nicht ersichtlich. Das Strafverfahren gegen den Klienten
des Beschwerdeführers kann nicht als äusserst heikel oder schwierig
bezeichnet werden. Die mangelnde Erfahrung und der behauptete
grosse Leistungsdruck sind ohnehin nicht geeignet, den Beschwerde-
führer zu entlasten.
5.3.
Die Beurteilung der Anwaltskommission der persönlichen Um-
stände des Beschwerdeführers trägt seinen subjektiven Einschrän-
kungen und Belastungen wie der Zeitdauer seit den begangenen Ver-
fehlungen angemessen Rechnung. Wird weiter in Betracht gezogen,
dass der Beschwerdeführer weder im Straf- noch im Disziplinarver-
fahren eine plausible Erklärung dafür geben konnte, warum er sich
zu diesem fortgesetzten und wiederholten pflichtwidrigen Verhalten
verleiten liess, sich auch seinen Büropartnern gegenüber nicht über
seine Situation offenbarte und bis zu seiner Anhaltung durch die Po-
2008
Verwaltungsgericht
294
lizei keinerlei Schritte unternahm, um vom strafbaren Verhalten Ab-
stand zu nehmen, erscheint die befristete Berufseinstellung mit der
Dauer von sechs Monaten auch unter spezialpräventiven Gesichts-
punkten zwar für eine erstmalige Disziplinierung hart, aber angemes-
sen. Auf jeden Fall liegt die Dauer noch im Rahmen des der Vorin-
stanz zustehenden Ermessens. | 3,110 | 2,481 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-50_2008-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-50.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-50.pdf | AGVE_2008_50 | null | nan |
8a62d557-3d64-56d6-be91-c27693ae273d | 1 | 412 | 871,555 | 1,280,880,000,000 | 2,010 | de | 2010
Anwaltsrecht
259
XI. Anwaltsrecht
47
Kostenauflage an den Anzeiger; rechtliches Gehör.
Vor einer Auflage von Verfahrenskosten oder eines Parteikostenersatzes
ist einem Anzeiger das rechtliche Gehör zu gewähren.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 16. August 2010 in Sachen
N. gegen C. und Anwaltskommission des Kantons Aargau (WBE.2009.349).
Aus den Erwägungen
1.
Für die von der Anwaltskommission durchgeführten Diszipli-
narverfahren werden Gebühren von Fr. 300.-- bis Fr. 6'000.-- erhoben
(§ 19 Abs. 2 EG BGFA). Nach § 14 Abs. 1 EG BGFA gehen die
Kosten des Verfahrens grundsätzlich zu Lasten des Staates, sind aber
von der anzeigenden Person zu tragen, wenn die Anzeige mutwillig
oder trölerisch erstattet wurde, oder von der verzeigten Anwältin
oder Anwalt, wenn sie oder er bestraft wurde oder das Verfahren
schuldhaft veranlasst hat. Ähnliche oder gleich lautende Bestimmun-
gen über die Kostenverlegung kennen das Bundesrecht und das
kantonale Verfahrensrecht (Art. 343 Abs. 3 OR; Art. 61 lit. a ATSG;
Art. 30 des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten
vom 23. März 2007 [Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5] i.V.m.
BGE 122 II 211 Erw. 4b [noch zu Art. 16 aOHG]; BGE 124 II 507
Erw. 3; § 38 Abs. 3 VRPG; § 125 Abs. 2 ZPO; § 369 Abs. 3 ZPO;
§ 139 Abs. 4 StPO).
§ 14 Abs. 2 EG BGFA gestattet es sodann dem oder den Kos-
tenpflichtigen auch einen Parteikostenersatz aufzuerlegen, wo es die
Umstände rechtfertigen.
2010
Verwaltungsgericht
260
2.
2.1
Das rechtliche Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. auch § 22
Abs. 1 KV) dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es
ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines
Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen ein-
greift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor
Erlass eines ihn belastenden Entscheides zur Sache zu äussern
(BGE 135 I 190 mit Hinweisen; AGVE 1997, S. 373 f.; Ulrich Häfe-
lin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht,
5. Auflage, Zürich 2006, Rz. 1672). Betroffene in diesem Sinne sind
nicht nur die (formellen) Parteien eines Verfahrens. Auch andere Ver-
fahrensbeteiligte, wie zum Beispiel ein Anzeiger, sind Träger des
durch die Bundesverfassung und die kanntonale Verfassung gewähr-
ten Gehörsanspruchs, soweit sie durch den Ausgang des Verwal-
tungsverfahrens materiell betroffen sind und insofern ein schutz-
würdiges Bedürfnis an der Mitwirkung haben (Michele Albertini,
Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwal-
tungsverfahren des modernen Staates, Diss., Bern 2000, S. 141, 154).
Die Kostenauflage an den Anzeiger und insbesondere die Auf-
erlegung einer Parteientschädigung ist ein den Anzeiger belastender
Entscheid, mit dem zu seinem Nachteil in seine Rechtsstellung ein-
gegriffen wird. Vor Erlass eines belastenden Kostenentscheides ist
der Anzeiger in der Regel anzuhören (§ 21 Abs. 1 VRPG). | 738 | 584 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-47_2010-08-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-47.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-47.pdf | AGVE_2010_47 | null | nan |
8b5793b3-ae56-5a6a-99b1-6ea5f109d5ea | 1 | 412 | 870,709 | 1,199,232,000,000 | 2,008 | de | 2008
Kantonale Steuern
75
17
Berufskosten (Gewinnungskosten); Fahrtkosten eines Wochenaufenthal-
ters.
-
Zumutbarer zeitlicher Mehraufwand für die Benützung des öffentli-
chen Verkehrs.
-
Berechnung der Zeitersparnis.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 23. Januar 2008 in Sachen
Kantonales Steueramt gegen M. (WBE.2007.176). Zur Publikation vorgese-
hen in StE 2009.
Aus den Erwägungen
3.
Gemäss § 35 Abs. 1 lit. a StG werden die notwendigen Kosten
für Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsstätte als Berufskosten ab-
gezogen. Steht kein öffentliches Verkehrsmittel zur Verfügung oder
ist dessen Benutzung objektiv nicht zumutbar, so können die Kosten
des privaten Fahrzeugs abgezogen werden (§§ 12 ff. StGV i.V.m.
Art. 5 Abs. 3 der Verordnung des EFD über den Abzug von Berufs-
kosten der unselbständigen Erwerbstätigkeit bei der direkten Bun-
dessteuer vom 10. Februar 1993 [Berufskostenverordnung,
SR 642.118.1]). Grundsätzlich sind also in erster Linie die Kosten
des öffentlichen Verkehrs abziehbar.
4.
4.1
Die Kosten des privaten Fahrzeuges werden steuerlich dann be-
rücksichtigt, wenn die Benützung des öffentlichen Verkehrsmittels
nicht zumutbar ist. Dies trifft namentlich zu bei:
"- Krankheit oder körperlichen Gebrechen
- beachtlicher Entfernung der nächsten Haltestelle
2008
Verwaltungsgericht
76
- schlechten Bahn- oder Busverbindungen
- Arbeitsbeginn oder -schluss ausserhalb der Verkehrszeiten
- erheblichem zeitlichem Mehraufwand bei Benützung der
öffentlichen
Verkehrsmittel"
(Philip Funk, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz,
2. Auflage, Muri-Bern 2004, § 35 N 7 mit Hinweisen)
Soweit es um das Kriterium des erheblichen zeitlichen Mehr-
aufwands bei Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel geht, wird
nach der Rechtsprechung die Benützung des öffentlichen Verkehrs
als zumutbar erachtet, wenn der damit verbundene Zeitverlust, ver-
glichen mit der Benützung des privaten Fahrzeuges, weniger als eine
Stunde pro Tag beträgt (AGVE 1997, S. 406 m.H.). Die genannte
Zeitersparnis von einer Stunde stellt einen Richtwert dar, der nicht
sklavisch zu befolgen ist. Massgebend sind die Umstände des Einzel-
falles (BGE vom 25. April 1995 in Sachen R., publiziert in: Die neue
Steuerpraxis 1995, S. 84), insbesondere die Quantität (Fahrplan-
dichte) und Qualität (direkte Verbindungen, S-Bahn oder Bummel-
züge) des Angebotes an öffentlichen Verkehrsmitteln, die Umsteige-
verhältnisse und die Distanzen zu den Haltestellen. Lässt sich bei
Benützung des Privatfahrzeugs mehr als eine Stunde pro Tag einspa-
ren, so deutet dies indessen auf ungenügende öffentliche Verbindun-
gen hin (AGVE 2005, S. 364 f.; 1997, S. 409).
4.2.
4.2.1
Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Pendler, welche den Ar-
beitsweg täglich zurücklegen. Sie lässt sich auf Wochenaufenthalter
sinngemäss übertragen. Auch hier sind die Kosten des privaten Fahr-
zeugs abzugsfähig, wenn dessen Benützung für den Arbeitsweg not-
wendig - oder anders ausgedrückt, wenn die Benützung der öffentli-
chen Verkehrsmittel nicht zumutbar ist. Dabei gilt es zu bestimmen,
welcher zeitliche Mehraufwand beim Benützen der öffentlichen Ver-
kehrsmittel noch als zumutbar erachtet werden kann. Das KStA ist
der Meinung, dieser sei auf ungefähr fünf Stunden pro Woche fest-
zulegen, da dies umgerechnet einer Stunde pro Arbeitstag ent-
spreche; bei Wochenaufenthaltern führt dies zu einem zumutbaren
Mehraufwand von 2,5 Stunden pro Wegstrecke. Die Vorinstanz er-
2008
Kantonale Steuern
77
achtet demgegenüber gleich wie beim Pendler eine Stunde Mehrauf-
wand pro Tag - was beim Wochenaufenthalter auf eine Stunde Mehr-
aufwand pro Wegstrecke hinausläuft - als Grenze des Zumutbaren.
4.2.2.
Es erscheint angezeigt, beim Wochenaufenthalter gleich wie
beim Pendler die Hin- und Rückfahrt insgesamt zu bewerten, denn
letztlich steht für ihn der gesamte Zeit- bzw. Mehraufwand am
Wochenende im Zentrum.
Die vom KStA vorgenommene Umrechnung vermag nicht zu
überzeugen. Der auf (rund) eine Stunde festgelegte zumutbare Mehr-
aufwand pro Arbeitstag ist nicht aus der Überlegung entstanden, wie
viele Stunden einem Pendler in der Woche zuzumuten sind. Wesent-
lich ist vielmehr die Zumutbarkeit, den öffentlichen Verkehr zu be-
nützen, was von dessen Quantität und Qualität abhängt. Es liegt auf
der Hand, dass bei einem zeitlichen Unterschied von 2,5 Stunden für
eine Wegstrecke (was auf eine Reisezeit von 5 Stunden oder mehr
mit den öffentlichen Verkehrsmitteln schliessen lässt) grundsätzlich
nicht mehr von einem genügenden Angebot an öffentlichen Ver-
kehrsmitteln gesprochen werden kann. Zu beachten ist auch, dass
beim Wochenaufenthalter die Fahrten auf das Wochenende und damit
auf eine für die Erholung besonders wertvolle Zeit fallen können.
Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Wochenaufenthalter nur
zwei Mal wöchentlich eine solche Fahrt absolvieren muss, und über-
dies geschieht die Hin- und Rückfahrt nicht gleichentags, summiert
sich also nicht an einem einzigen Tag.
In einer Gesamtwürdigung rechtfertigt es sich, die vom Steuer-
rekursgericht beachtete Grenze etwas zu erhöhen und den zeitlich
zumutbaren Mehraufwand für die Benützung der öffentlichen Ver-
kehrsmittel bei Wochenaufenthaltern, für Hin- und Rückfahrt zu-
sammengenommen, auf 2,5 Stunden festzusetzen. Im Weiteren dürfte
- was hier allerdings nicht endgültig entschieden werden muss - die
Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel generell unzumutbar sein,
wenn es nicht möglich ist, nach Arbeitsschluss noch am Freitagabend
nach Hause zurückzukehren.
2008
Verwaltungsgericht
78
4.3.
4.3.1.
Massgeblich sind selbstverständlich die Fahrpläne des Jahres
2003. (...).
4.3.2.
Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen K. und
B. dauert gemäss den Feststellungen der Vorinstanz 260 Minuten
(Hinweg) bzw. 280 Minuten (Rückweg), also insgesamt 540 Minu-
ten. Nach Abzug der Fahrtzeit mit dem Privatfahrzeug (zweimal 2,5
Stunden, insgesamt 300 Minuten) ergibt sich ein zeitlicher Mehrauf-
wand von 240 Minuten. Dieser Mehraufwand von vier Stunden pro
Woche macht die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel unzu-
mutbar. Selbst wenn noch geringfügige Änderungen an der Berech-
nung vorgenommen würden, vermöchte dies am Ergebnis nichts zu
ändern. | 1,410 | 1,135 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-17_2008-01-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-17.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-17.pdf | AGVE_2008_17 | null | nan |
8bb4e5ab-54aa-5fa5-97cf-73edf54575b0 | 1 | 412 | 871,275 | 1,167,609,600,000 | 2,007 | de | 2007
Verwaltungsgericht
180
[...]
42
Einweisung zur Untersuchung; Aufhebung der fürsorgerischen Freiheit-
sentziehung, wenn deren Voraussetzungen mangels Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche nicht mehr gegeben sind.
-
Keine Geisteskrankheit/Geistesschwäche bei fraglicher Fremdge-
fährdung im Ehekonflikt.
-
Zeigt sich anlässlich einer Klinikeinweisung zur Untersuchung, dass
keine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche vorliegt, so ist der Pa-
tient aus der Klinik zu entlassen, auch wenn die Frage der Fremdge-
fährdung (im Rahmen eines Ehekonflikts) nicht restlos geklärt ist.
2007
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
181
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 16. Januar 2007 in Sa-
chen M.C.L. gegen den Bezirksarzt X. (WBE.2007.3).
Aus den Erwägungen
3.
Bei einer Einweisung zur Untersuchung darf die betroffene Per-
son gemäss § 67d Abs. 3 EG ZGB nur so lange zurückbehalten wer-
den, als es für die Untersuchung unbedingt erforderlich ist. Der
Klinikvertreter hat an der Verhandlung bestätigt, dass die im Rahmen
des stationären Klinikaufenthalts mögliche Untersuchung des Be-
schwerdeführers abgeschlossen ist. Die Frage der Fremdgefährdung
könnte einzig durch ein forensisches Gutachten im Rahmen des
Strafverfahrens näher abgeklärt werden. Es stellt sich somit die
Frage, ob der Beschwerdeführer zu entlassen sei oder ob die
Voraussetzungen für eine definitive Einweisung zur Behandlung er-
füllt seien.
3.1.
Voraussetzung für die Errichtung oder Aufrechterhaltung einer
fürsorgerischen Freiheitsentziehung ist gemäss Art. 397a ZGB u.a.
das Vorliegen einer Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht,
anderen Suchterkrankungen oder einer schweren Verwahrlosung.
Bei den im ZGB verwendeten Begriffen Geisteskrankheit und
Geistesschwäche handelt es sich um (veraltete) Rechtsbegriffe, die
nicht im medizinischen Sinn zu verstehen sind und auch nicht ihrer
Bedeutung in der Umgangssprache entsprechen (Eugen Spirig, in:
Zürcher Kommentar, II. Band: Familienrecht, Zürich 1995, Art. 397a
N 26 und 42; Thomas Geiser, in: Basler Kommentar, ZGB I/2, Ba-
sel/Genf/München 1999, Art.
397a N 7). Während das
Verwaltungsgericht in Anlehnung an Hans Binder eine Geisteskrank-
heit beim Auftreten psychischer Störungen, die stark auffallen und
einem besonnenen Laien als uneinfühlbar, tiefgreifend abwegig, grob
befremdend erscheinen, bejaht (vgl. Ernst Langenegger, in: Basler
Kommentar, ZGB I/2, 2. Aufl., Basel/Genf/München 2002, Art. 369
N 21; Spirig, a.a.O., Art. 397a N 27), fallen unter den Begriff der
2007
Verwaltungsgericht
182
Geistesschwäche andere seelische Abweichungen, welche (erheblich)
auffallen, aber nicht völlig uneinfühlbar sind (Langenegger, a.a.O.,
Art. 369 N 23; Spirig, a.a.O., Art. 397a N 44). Nach dieser Ausle-
gung beschränkt sich Geistesschwäche im Sinne des ZGB nicht auf
intellektuelle Mängel, sondern umfasst auch psychische Störungen
von weniger gravierender Art als bei Geisteskrankheit (Hans Michael
Riemer, Grundriss des Vormundschaftsrechts, Bern 1997, S. 47). Ge-
mäss herrschender Lehre sind damit alle weiteren seelischen Abwei-
chungen gemeint, welche der Laie nicht geradezu als Krankheit
erachtet, weil er den Eindruck hat, sich in das Seelenleben des an-
dern noch einigermassen einfühlen zu können (Hans Binder, Die
Geisteskrankheit im Recht, Zürich 1952, S. 78). Auch die Geistes-
schwäche bezeichnet also einen dauerhaften, zumindest längere Zeit
dauernden Zustand. Das Verwaltungsgericht betrachtet es als Indiz
für das Vorliegen einer Geistesschwäche im Sinne des ZGB, wenn
einer Person die Fähigkeit abgeht, sich in ihrem Verhalten der Umge-
bung wenigstens so weit anzupassen, dass sie ihr Leben einigermas-
sen geordnet und ihren eigenen dringenden Wünschen gemäss zu
führen vermag (vgl. zum Ganzen AGVE 1996, S. 264 f.; 1990,
S. 221 f.; 1989, S. 192, 195 f.; 1986, S. 197 f.; 1985, S. 207; 1983,
S. 121 f.; 1982, S. 140 ff.).
3.1.1.
Anlässlich der verwaltungsgerichtlichen Verhandlung vom
16. Januar 2007 erklärte der behandelnde Klinikarzt, dass aktuell
kein depressives Zustandsbild des Beschwerdeführers vorliege, wo-
bei dies auch auf die konstante Behandlung mit dem Antidepres-
sivum Efexor zurückzuführen sei. Im Gegensatz zu einem an einer
Depression erkrankten Patienten sei der Beschwerdeführer in der
Lage, zu kämpfen und sich aufzubäumen, was dieses Krankheitsbild
ausschliesse. Ebenfalls auszuschliessen seien eine Krankheit aus dem
schizophrenen Formenkreis, Zwangs- oder Angststörungen sowie ei-
ne Persönlichkeitsstörung. Auch die neurologische Untersuchung sei
ohne Befund ausgefallen. Somit sei erstellt, dass keine akute
psychiatrische Erkrankung vorliege. Allenfalls könne von einer ak-
zentuierten Persönlichkeit des Beschwerdeführers gesprochen wer-
den, was jedoch keine stationäre psychiatrische Behandlung notwen-
2007
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
183
dig mache. So gesehen seien die Voraussetzungen für eine fürsorgeri-
sche Freiheitsentziehung nicht mehr erfüllt; schwierig abzuschätzen
sei jedoch die Frage der Fremdgefährdung.
3.1.2.
Für das Verwaltungsgericht, dem auch ein Fachrichter angehört,
steht auf Grund der Akten, der ärztlichen Befunde und der eigenen
Wahrnehmung somit fest, dass keine behandlungsbedürftige akute
psychiatrische Erkrankung des Beschwerdeführers vorliegt. Auch
eine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche im juristischen Sinn
liegt nicht vor, da sich der Beschwerdeführer während des gesamten
Klinikaufenthalts angepasst verhalten hat. Die Verhaltensauffällig-
keiten im Zusammenhang mit den Konflikten zwischen ihm und
seiner Ehefrau erreichen nicht das Mass einer Geistesschwäche, da
keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dem Beschwerdeführer die
Fähigkeit abgeht, sich in seinem Verhalten der Umgebung wenig-
stens so weit anzupassen, dass er sein Leben einigermassen geordnet
und seinen eigenen dringenden Wünschen gemäss zu führen vermag.
Überdies fehlt es offensichtlich auch an einer stationären Behand-
lungsbedürftigkeit des Beschwerdeführers. Die nötige persönliche
Fürsorge kann ihm ausserhalb der Klinik erwiesen werden. Entspre-
chend hat er sich auch freiwillig bereit erklärt, die ambulante Thera-
pie fortzusetzen.
3.2.
Somit steht fest, dass die Voraussetzungen für die Aufrecht-
erhaltung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung mangels Geistes-
krankheit oder Geistesschwäche spätestens seit dem Verhandlungs-
zeitpunkt nicht mehr gegeben sind, weshalb die fürsorgerische Frei-
heitsentziehung aufzuheben und der Beschwerdeführer aus der Kli-
nik zu entlassen ist. Dieser Ausgang des Verfahrens ist unabhängig
von der Beurteilung einer allfälligen Fremdgefährdung. Das von der
Ehefrau und der Klinik Barmelweid mehrfach glaubwürdig geschil-
derte Aggressionspotential des Beschwerdeführers seiner Ehefrau
gegenüber war zwischendurch auch an der Verhandlung spürbar,
jedoch hatte sich der Beschwerdeführer stets unter Kontrolle und es
lag keine derart akute Fremdgefährdung vor, welche unverzüglich
2007
Verwaltungsgericht
184
staatliche Massnahmen zum Schutz der Angehörigen erforderlich
machen würde. | 1,585 | 1,255 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-42_2007-01-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-42.pdf | AGVE_2007_42 | null | nan |
8bd09f99-f768-52cd-b268-e71fd38b4b22 | 1 | 412 | 870,879 | 999,475,200,000 | 2,001 | de | 2001
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
299
[...]
67
Hobbymässige Tierhaltung in Wohnzonen.
- Bedeutung der Gemeindeautonomie in diesem Bereich (Erw. 2/b).
- Fehlende Zonenkonformität der Mastschweinehaltung (Erw. 2/c).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 26. September
2001 in Sachen K. gegen Baudepartement.
Aus den Erwägungen
1. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet einzig noch
der Tierunterstand zur Haltung von zwei Mastschweinen auf der
Parzelle Nr. x. Die Baubewilligungen für den Kleinanbau auf der
Nordseite des Gebäudes Nr. y und die Sitzplatzüberdachung auf des-
sen Ostseite sind demgegenüber infolge Nichtanfechtung formell
rechtskräftig geworden.
2. Die Beschwerdeführerinnen machen in erster Linie geltend,
die Mastschweinehaltung sei in einer reinen Wohnzone - die Parzelle
Nr. x liegt gemäss dem Bauzonenplan der Gemeinde H. vom
18. September 1997/23. März 1999 in der Wohnzone 2 - nicht zo-
nenkonform und entspreche auch nicht den bundesrechtlichen Im-
missionsvorschriften.
a) Vorab stellt sich die Frage nach der Abgrenzung zwischen
dem Immissionsschutzrecht des Bundes und den kantonalen bzw.
kommunalen Bau- und Nutzungsvorschriften (vgl. zum Folgenden:
BGE 118 Ia 114 f.; 118 Ib 595; AGVE 1998, S. 317 f. mit Hinwei-
sen).
(...)
b) Gemäss § 13 Abs. 1 und § 15 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a BauG
erlassen die Gemeinden allgemeine Nutzungspläne (Zonenpläne) und
2001
Verwaltungsgericht
300
allgemeine Nutzungsvorschriften (Bau- und Zonenordnungen), die
das Gemeindegebiet in verschiedene Nutzungszonen einteilen sowie
Art und Mass der Nutzung regeln; sie können dabei insbesondere
Bauzonen, namentlich Wohn-, Kern-, Gewerbe-, Industriezonen und
Zonen für öffentliche Bauten ausscheiden. Bei der Ausscheidung und
Definition der verschiedenen Zonen geniessen die Gemeinden auf-
grund von § 106 KV verfassungsrechtlich geschützte Autonomie;
hierin eingeschlossen ist die Anwendung des autonomen Gemeinde-
rechts. Daraus folgt, dass sich das Verwaltungsgericht bei der Über-
prüfung einschlägiger gemeinderätlicher Entscheide zurückzuhalten
hat. Dies gilt auch bei Immissionsfragen - obwohl dem Verwal-
tungsgericht dort die Ermessensüberprüfung obliegt (§ 56 Abs. 2 lit. f
VRPG) - insoweit, als es bei den zu entscheidenden Fragen um rein
lokale Anliegen geht und weder überörtliche Interessen noch
überwiegende Rechtsschutzanliegen berührt werden. Die Gemeinde
kann sich in solchen Fällen bei der Auslegung kommunalen Rechts
insbesondere dort auf ihre Autonomie berufen, wo eine Regelung un-
bestimmt ist und verschiedene Auslegungsergebnisse rechtlich ver-
tretbar erscheinen. Die kantonalen Rechtsmittelinstanzen sind hier
gehalten, das Ergebnis der gemeinderätlichen Rechtsauslegung zu re-
spektieren und nicht ohne Not ihre eigene Rechtsauffassung an die
Stelle der gemeinderätlichen zu setzen. Die Autonomie der Gemein-
debehörden hat jedoch auch in diesen Fällen dort ihre Grenzen, wo
sich eine Auslegung mit dem Wortlaut sowie mit Sinn und Zweck
des Gesetzes nicht mehr vereinbaren lässt (AGVE 1998, S. 319 f. mit
Hinweisen).
c) aa) Der Gemeinderat hält die Haltung von zwei Mastschwei-
nen mit Freilandhaltung in der Wohnzone 2 entsprechend der ver-
waltungsgerichtlichen Praxis zur hobbymässigen Haltung von Haus-
tieren für zonenkonform. Bei Schweinen handle es sich, auch wenn
die Meinungen hierüber auseinander gingen, um Haustiere. In einer
ländlichen Umgebung wie hier - das Bauvorhaben sei am Rand der
Landwirtschaftszone und in unmittelbarer Nähe des Waldes geplant -
sei die Haltung von zwei Mastschweinen für die Nachbarn zumutbar;
es seien nicht grössere Immissionen als von der Haltung von einem
oder mehreren Pferden zu erwarten. Die Beschwerdeführerinnen ma-
2001
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
301
chen hingegen geltend, bei Schweinen handle es sich nicht um Haus-
tiere im klassischen Sinne, jedenfalls nicht um solche, die in einer
Wohnzone als Teil der Wohnnutzung gehalten würden. Dies möge
vor 50 oder vor 100 Jahren noch anders gewesen sein; in der heuti-
gen Zeit lösten Mastschweine in der Wohnzone beim durchschnitt-
lichen, objektiven Betrachter Reaktionen zwischen höchstem Erstau-
nen und grobem Befremden aus. Schweine seien von ihrer Immis-
sionsträchtigkeit her sehr problematisch und würden von vielen Zeit-
genossen als schmutzige oder unreine Tiere empfunden, die Unge-
ziefer anzögen und die Wohnhygiene massiv beeinträchtigten. Mast-
schweine könnten daher auch nicht mit Hunden, Katzen, Kaninchen
oder Pferden verglichen werden. Es spiele überdies keine Rolle, ob
eine Gemeinde eher ländlich geprägt sei und sich der Tierunterstand
in der Nähe der Grenze zur Grünzone befinde. Wenn eine grössere
Zahl von Bewohnern der Wohnzone die Haltung von Mastschweinen
ebenfalls für sich beanspruchen würde, wären die wohnhygienischen
und siedlungsplanerischen Zustände innert kurzer Zeit unhaltbar.
bb) In der Wohnzone 2 sind Wohnbauten und nicht störende, in
Wohngebiete passende Gewerbe und Läden zugelassen (§ 16 Abs. 1
der Bau- und Nutzungsordnung der Gemeinde H. [BNO] mit den
gleichen Beschluss- und Genehmigungsdaten wie der Bauzonen-
plan). Hier ist dem Wohnen somit der klare Vorrang eingeräumt. Die
Wohnnutzung kann dabei in erster Linie als eine Reihe verschiedener
Zwecke und Tätigkeiten beschrieben werden, zu denen etwa Erho-
lung, Schlafen, Haus- und Heimarbeit, Essen usw. zu zählen sind.
Das Wohnen ist jedoch nicht allein auf den Wohnraum fixiert, ob-
wohl diesem als "Ort der Handlung" eine Schüsselstellung zukommt;
für das Wohnen mitentscheidend sind vielmehr auch die Wohnstand-
orte und Wohnanlagen, die Siedlungs- und Bauformen sowie das
umgebende Quartier. Wohnen ist somit nicht nur eine sich nach In-
nen (Wohnraum) orientierende Tätigkeit, sondern hat auch eine Aus-
senwirkung und wird von aussen beeinflusst. Die Ausübung der
Wohnnutzung bedingt eine Umgebung, die frei ist von Lärm, Gerü-
chen und anderen Immissionen, die das mit dem Wohnen selbst ver-
bundene Mass überschreiten (AGVE 1994, S. 370 mit Hinweisen).
2001
Verwaltungsgericht
302
cc) Das Verwaltungsgericht anerkennt das hobbymässige Halten
von Haustieren wie Hunden, Katzen oder Kaninchen, aber auch von
einzelnen Pferden, als Bestandteil der reinen Wohnnutzung, jedoch
immer unter der Voraussetzung, dass die Tierhaltung nach Art und
Umfang mit dem Wohnzweck noch vereinbart werden kann (AGVE
1998, S. 320 mit Hinweisen). Die Mehrheit des Verwaltungsgerichts
erachtet nun bei Schweinen diese Erfordernisse nicht als erfüllt.
Mastschweine sind zwar ebenfalls Haustiere. Sie unterscheiden sich
von den genannten Tieren aber dadurch, dass bei ihnen das Element
der Nutzung zur Fleischproduktion eine zentrale Rolle spielt. Bei den
andern Haustieren steht demgegenüber die emotionale Verbundenheit
des Besitzers zum Tier oder auch die pädagogische Funktion im
Rahmen der Kindererziehung im Vordergrund. Es ist daher nicht
abwegig, mit den Beschwerdeführern anzunehmen, die Haltung von
Mastschweinen, wie sie hier zur Diskussion steht, rücke tendenziell
in die Nähe eines Gewerbe- oder Landwirtschaftsbetriebs. Schon von
diesem Ansatzpunkt her bereitet es Mühe, die Schweinehaltung mit
dem Wohnzweck in Einklang zu bringen. Dazu kommen die Immis-
sionsträchtigkeit und der ideelle Aspekt. Letztlich ist nicht bestreit-
bar, dass Schweine eher mehr Immissionen verursachen als andere
Tiere. Die Lebenserfahrung zeigt, dass Schweine bzw. die von ihnen
stammenden Exkremente namentlich bei warmer Witterung und
entsprechender Windlage einen sehr unangenehmen Geruch verbrei-
ten können; diesem Gesichtspunkt kommt vor dem Hintergrund der
verdichteten Bauweise, welche die Gemeinden zu fördern haben
(§ 46 BauG), eine erhöhte Bedeutung zu. Es darf auch nicht verkannt
werden, dass die Erscheinungsweise von Schweinen in dem Sinne
"negativ besetzt" ist, als diese Tiere bei vielen Menschen Gefühle
von Ekel erregen können; nicht von ungefähr dient das Schwein in
der Umgangssprache vielfach als Metapher für Schmutz und man-
gelnde Reinlichkeit. In Wohnzonen, welche wie erwähnt der Ruhe
und Erholung dienen (Erw. bb hievor) und in denen die Bewohner
vielfach Wert auf die Pflege und das Aussehen ihrer Häuser und
Gärten legen, wirken deshalb Schweine - selbst wenn sie in geringer
Anzahl gehalten werden - auch in ästhetischer Hinsicht störend. In
einem neuzeitlichen Wohnverständnis hat jedenfalls die Schweine-
2001
Bau-, Raumplanungs- und Umweltschutzrecht
303
haltung kaum Platz, selbst wenn wie hier versucht wird, die Auswir-
kungen der Geruchsimmissionen durch Nebenbestimmungen in den
Griff zu bekommen. Es wäre dabei verfehlt, nur den Einzelfall im
Auge zu betrachten, wie dies der Gemeinderat offenbar tut; käme
man den Beschwerdegegnern entgegen, könnten sich andere Bewoh-
ner auf gleiches Recht ebenfalls berufen, und dann wäre die Unver-
einbarkeit mit den Wesensmerkmalen einer reinen Wohnzone voll-
ends offensichtlich. Der Gemeinderat legt hier die Nutzungsbestim-
mungen einer Wohnzone in derart extensiver Weise aus, dass dies mit
Sinn und Zweck einer solchen Zonierung nicht mehr in Überein-
stimmung zu bringen und deshalb auch durch die autonome Stellung
der Gemeinden nicht mehr abgedeckt ist (Erw. b hievor). Die Be-
schwerde ist deshalb gutzuheissen.
Für eine Minderheit des Gerichts ist eine Differenzierung zwi-
schen dem hobbymässigen Halten von Schweinen und jenem anderer
Haustiere nicht objektiv begründbar. Jedes Haustier bringe seinem
Halter einen gewissen Nutzen ideeller oder materieller Art. Bei der
Haltung von Mastschweinen spiele zwar die Fleischproduktion eine
gewichtige Rolle; sofern sie rein hobbymässig betrieben werde,
diene sie jedoch der Selbstversorgung, und von der Ausübung einer
gewerblichen oder landwirtschaftlichen Tätigkeit könne deshalb
nicht gesprochen werden. Es müsse zudem berücksichtigt werden,
dass nicht nur die Haltung von Kleintieren, sondern auch die Haltung
einer beschränkten Anzahl von Pferden mit der Wohnnutzung ver-
einbar sei (Erw. cc hievor), und die von Pferden verursachten Ge-
ruchsbelastungen seien nicht wesentlich geringer als jene von
Schweinen. Gesamthaft erweise sich der gemeinderätliche Stand-
punkt vor dem Hintergrund der Gemeindeautonomie als vertretbar. | 2,194 | 1,829 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-67_2001-09-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-67.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-67.pdf | AGVE_2001_67 | null | nan |
8c39dec6-df35-5ffe-8f57-0753a86a88bf | 1 | 412 | 871,861 | 1,485,993,600,000 | 2,017 | de | 2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
132
[...]
23
Familiennachzug; bedarfsgerechte Wohnung
-
Präzisierung der im Kanton Aargau angewandten Praxis zu den für
einen Familiennachzug erforderlichen Wohnverhältnissen
-
Im Rahmen von Art. 42, 43 und 44 AuG sind die Anforderungen an
die Wohnverhältnisse ohne Weiteres erfüllt, wenn die Anzahl Perso-
nen die Anzahl Zimmer der Familienwohnung um höchstens eins
überschreitet. Wird die Zahl um mehr als eins überschritten, ist auf-
grund der konkreten Umstände zu prüfen, ob die Wohnverhältnisse
trotz erhöhter Belegung der Wohnung angemessen sind.
-
Sofern bei objektiver Betrachtung ein störungsfreies und gegebenen-
falls dem Kindswohl entsprechendes Zusammenleben möglich er-
scheint, sind die Wohnverhältnisse auch bei erhöhter Belegung der
Familienwohnung als angemessen einzustufen. Bei der entsprechen-
den Beurteilung sind die Grösse der Wohnung, die konkreten Wohn-
verhältnisse sowie die Familienkonstellation im Einzelfall massge-
bend.
2017
Migrationsrecht
133
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 3. Februar
2017, i.S. A. gegen das Amt für Migration und Integration (WBE.2015.341)
Aus den Erwägungen
2.1.2.
Die Vorinstanz ist der Ansicht, die Viereinhalbzimmerwohnung
des Beschwerdeführers erweise sich für seine (nach einer Bewilli-
gung des Familiennachzugs) sechsköpfige Familie - gemessen an der
weitverbreiteten, auch im Kanton Aargau geltenden Praxis beim Fa-
miliennachzug bei Personen mit Aufenthaltsbewilligung - als zu
klein und genüge den Anforderungen für einen Familiennachzug
nicht. Nach der besagten Praxis gelte eine Wohnung dann als ange-
messen bzw. bedarfsgerecht, wenn die Anzahl Personen die sie be-
wohne, die Anzahl Zimmer um höchstens eins überschreite.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts spielen die
Wohnverhältnisse zwar auch im Rahmen von Art. 43 Abs. 1 AuG
eine gewisse Rolle, zumal das Gesetz ein Zusammenwohnen der Fa-
milienmitglieder verlangt. So ist es gerechtfertigt, den Nachweis
einer tauglichen Wohnung zu verlangen. Diese Anforderungen dür-
fen jedoch nicht schematisch gehandhabt werden; entscheidend ist
im Rahmen einer Gesamtsicht der Schutz vor unwürdigen Lebens-
bedingungen, das Kindsinteresse und der Vorbehalt einer allfälligen
Fürsorgeabhängigkeit bei veränderten Wohnverhältnissen (Urteil des
Bundesgerichts
vom
17. November
2011
[2C_194/2011],
Erw. 2.4.5). Im Übrigen gilt eine Wohnung bereits dann als be-
darfsgerecht im Sinne von Art. 44 lit. b AuG, wenn sie - vorbehält-
lich einer offenkundigen Überbelegung - für die darin lebenden
Personen tauglich erscheint, auch wenn keine komfortablen Platzver-
hältnisse gegeben sind. Mit Blick auf die persönliche Freiheit der be-
troffenen Personen darf z.B. aufenthaltsberechtigten Ehepaaren nicht
verwehrt werden, mit ihren Eltern oder Dritten zusammenzuwohnen
(vgl. Urteil
des
Bundesgerichts
vom
25. Oktober
2011
[6B_497/2010], Erw. 1.2 a.E.).
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
134
2.1.3.
Die im Kanton Aargau angewandte Praxis, wonach eine Woh-
nung dann bedarfsgerecht bzw. angemessen (Art. 44 AuG) bzw. ein
Zusammenleben möglich ist (Art. 42 f. AuG), wenn die Anzahl Per-
sonen die Anzahl Zimmer um höchstens eins überschreitet, erweist
sich damit nur insofern als zutreffend, als bei Erfüllung dieser Vor-
aussetzung ohne Weiteres von einer bedarfsgerechten Wohnung aus-
gegangen werden kann. Wird die Zahl um mehr als eins überschrit-
ten, ist aufgrund der konkreten Umstände zu prüfen, ob die Wohnung
trotzdem bedarfsgerecht ist. Nach dem Gesagten ist die mit Ent-
scheid des RGAR vom 12. November 2004 (BE.2004.0021)
bestätigte Praxis des MKA zu präzisieren (siehe dort, Erw. II/4.b).
Massgebend für die Beurteilung, ob eine Familienwohnung
trotz einer nach Massstab der genannten Praxis vorliegenden "Über-
belegung" bedarfsgerecht ist, sind neben der Grösse der Wohnung
die konkreten Familien- bzw. Wohnverhältnisse. Nicht zu beanstan-
den ist z.B., wenn neben den Ehegatten auch Kinder gemeinsam in
einem Zimmer schlafen. Ob zwei oder gar mehrere Kinder zusam-
men ein Zimmer belegen können, hängt im Einzelfall vom Alter und
Geschlecht der Kinder, von der Zimmergrösse und von der Grösse
der gemeinschaftlich nutzbaren Zimmer bzw. Wohnfläche ab. Mass-
gebend ist letztlich immer, ob bei objektiver Betrachtung ein stö-
rungsfreies und gegebenenfalls dem Kindswohl entsprechendes Zu-
sammenleben möglich erscheint. Dabei ist insbesondere den schuli-
schen Bedürfnissen und der Adoleszenz Rechnung zu tragen.
2.1.4.
Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz einzig auf die Anzahl
der zur Verfügung stehenden Zimmer und die Anzahl Personen abge-
stellt, ohne die konkreten Umstände zu berücksichtigen. Andererseits
nahm der Beschwerdeführer trotz Nachfrage der Vorinstanz nicht zur
Frage Stellung, wie er sich das konkrete Zusammenleben vorstelle.
Er begnügte sich mit dem Hinweis darauf, dass er über eine grosse
Wohnung verfüge und bereit wäre, eine grössere Wohnung zu mie-
ten, sollte dies notwendig sein.
Der Beschwerdeführer verfügt aktuell über eine Viereinhalb-
zimmerwohnung. Wird der Nachzug seiner Kinder bewilligt, sollen
2017
Migrationsrecht
135
in der Wohnung der Beschwerdeführer selbst, seine Tochter B.
(geb. 1991) mit deren Tochter C., der Sohn D. (geb. 1996) sowie die
Zwillinge E. und F. (geb. 1997) leben. Im Gesuchszeitpunkt
(27. September 2013) waren der Sohn 17 1⁄2 Jahre und die Zwillinge
16 Jahre alt. Geht man davon aus, dass es sich wie behauptet um eine
überdurchschnittlich grosse Wohnung handelt und die Zimmereintei-
lung im optimalen Fall vier Einzelzimmer und ein mit der Küche
verbundenes halbes Esszimmer umfasst, könnten sich die Zwillinge
sowie B. und ihre Tochter je ein Zimmer teilen. Damit verbliebe ne-
ben je einem Zimmer für den Beschwerdeführer und den Sohn D. als
gemeinsam nutzbare Wohnfläche das halbe Esszimmer. Dies ent-
spricht nicht Wohnverhältnissen, die bei objektiver Betrachtung ein
störungsfreies und dem Kindswohl entsprechendes Zusammenleben
von insgesamt sechs Personen möglich erscheinen lassen. Selbst un-
ter Berücksichtigung, dass sich die Behörden im Rahmen von
Art. 42 f. AuG mit Blick auf die Anforderungen an die Grösse der
Wohnung eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen haben, steht fest,
dass die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen ist, die
Wohnung sei für ein Zusammenleben der sechs Personen untauglich. | 1,424 | 1,173 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-23_2017-02-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-23.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-23.pdf | AGVE_2017_23 | null | nan |
8c832763-d9b0-5db0-a803-fcb9490b1c18 | 1 | 412 | 870,881 | 1,396,483,200,000 | 2,014 | de | 2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
192
33
Unterangebot; Vorbefassung
-
Unterangebote sind nicht per se verboten. Umfasst ein ungewöhnlich
niedriges Angebot alle geforderten Leistungen bzw. ist die Anbieterin
2014
Submissionen
193
in der Lage, diese Leistungen zum offerierten Preis zu erbringen und
verletzt die Anbieterin mit ihrem Angebot auch nicht die Teilnahme-
oder Antragsbedingungen, so besteht kein Grund für einen Aus-
schluss des Angebots vom Verfahren. Dies umso weniger, wenn sich
die Vergabestelle der Preisdifferenzen zwischen den Angeboten be-
wusst ist und zusätzliche Abklärungen vorgenommen hat (Erw. 7.).
-
Die Frage einer unzulässigen Vorbefassung (§ 28 Abs. 1 lit. h SubmD)
stellt sich nicht, wenn die fragliche Person (welche heute für die Zu-
schlagsempfängerin tätig ist) an der Erstellung der Ausschreibungs-
unterlagen für das vorliegende Verfahren nicht mitgewirkt hat. Ob
die Zuschlagsempfängerin für die Ausarbeitung ihres Angebots aus
der Tatsache, dass diese Person aufgrund ihrer früheren Tätigkeit
für die Beschwerdeführerin bereits über Vorkenntnisse verfügte, ei-
nen Nutzen ziehen konnte und damit allfällige private Rechte der Be-
schwerdeführerin verletzt wurden, ist submissionsrechtlich nicht
relevant (Erw. 8.).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 22. April 2014 in Sachen
A. AG gegen Einwohnergemeinde B. (WBE.2014.29).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Sog. Unterangebote bzw. ungewöhnlich niedrige Angebote sind
nicht per se verboten. Weder die IVöB noch das SubmD sehen den
Ausschluss von Unterangeboten vor. Es wird als zulässig erachtet,
wenn ein Anbieter mit einkalkuliertem Risiko ein bezüglich des Prei-
ses (zu) niedriges Angebot einreicht, solange die Eignungs- und Zu-
schlagskriterien erfüllt sind. Ein im Vergleich zu den andern Angebo-
ten deutlich geringerer Preis bedeutet nicht zwangsläufig das Vorlie-
gen eines Unterangebots; denkbar ist auch, dass die andern Angebote
schlicht überhöht bzw. zu teuer sind. Wird ein ungewöhnlich niedri-
ges Angebot eingereicht, kann die Vergabebehörde beim Anbieter Er-
kundigungen einziehen, um sich zu vergewissern, dass dieser die
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
194
Teilnahmebedingungen einhalten und Auftragsbedingungen erfüllen
kann. Eine Verpflichtung zu entsprechenden Nachfragen besteht aber
nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Verletzung der Teil-
nahme- und Auftragsbedingungen bestehen (vgl. zum Ganzen P
ETER
G
ALLI
/A
NDRÉ
M
OSER
/E
LISABETH
L
ANG
/M
ARC
S
TEINER
, Praxis des
öffentlichen Beschaffungsrechts, 3. Auflage, Zürich/Basel/Genf
2013, Rz. 1115 ff. mit Hinweisen).
2.2.
(...)
Die Differenz zwischen dem Preisangebot der Beschwer-
deführerin und demjenigen der Zuschlagsempfängerin beträgt 26 %
(ohne Optionen) bzw. 17 % (mit Optionen). Wesentlich grösser sind
die Preisdifferenzen zum drittplatzierten Angebot der C. AG. Dies
gilt aber nicht nur für die Beschwerdeführerin, sondern auch für die
Zuschlagsempfängerin. Solche Preisunterschiede sind im Dienst-
leistungsbereich indessen keineswegs unüblich und lassen nicht per
se auf das Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots bzw.
"Dumpingangebots" schliessen.
Festzustellen ist, dass das Angebot der Zuschlagsempfängerin -
im Gegensatz zur Offerte der Beschwerdeführerin - eine detaillierte
Kostenschätzung enthält, aus der die Kosten für die einzelnen
Leistungen hervorgehen. Auf dem Planerhonorar inkl. Nebenkosten
wird ein Rabatt von 15 % gewährt. Die offerierten Stundenansätze
basieren auf den (im Übrigen nicht verbindlichen) KBOB-Richtli-
nien; von unrealistisch tiefen Ansätzen kann entgegen der Auffas-
sung der Beschwerdeführerin nicht die Rede sein.
Die eingereichten Angebote wurden von der Vergabebehörde
bzw. von der damit beauftragten D. AG rechnerisch und inhaltlich
geprüft, insbesondere auch auf Vollständigkeit und Vergleichbarkeit.
Mit Schreiben vom 4. Oktober 2013 wurden alle drei Anbieter zu
verschiedenen Klarstellungen in Bezug auf den Umfang der offerier-
ten Leistungen aufgefordert. Die Zuschlagsempfängerin bestätigte in
ihrem Antwortschreiben vom 19. Oktober 2013, dass das offerierte
Kostendach von Fr. 122'784.00 auch die Optionen enthalte bzw.
diese von ihr erbracht würden. Für das Mitwirkungsverfahren seien
Fr. 5'000.00 als ausreichend angenommen worden. Es würden keine
2014
Submissionen
195
zusätzlichen Kosten verrechnet. Für das Einwendungsverfahren sei
mit 10 Einwendungen gerechnet worden. Sollte die Zahl der Einwen-
der massiv höher ausfallen, müssten dadurch begründete Zusatz-
kosten allenfalls weitergegeben werden. Ein allfälliges Beschwerde-
verfahren sei nicht Bestandteil des Angebots.
Vorliegend ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das
Angebot der Zuschlagsempfängerin nicht alle geforderten Leistungen
umfassen würde bzw. die Zuschlagsempfängerin nicht in der Lage
wäre, diese Leistungen zum offerierten Preis zu erbringen. Ebenfalls
ist nicht ersichtlich, inwiefern die Zuschlagsempfängerin mit ihrem
Angebot die Teilnahme- oder Antragsbedingungen verletzen würde
(vgl. dazu G
ALLI
/M
OSER
/L
ANG
/S
TEINER
, a.a.O., Rz. 1126 ff.).
Selbst wenn das Angebot der Zuschlagsempfängerin nicht kosten-
deckend sein sollte, wäre dies letztlich irrelevant. Entscheidend ist,
dass sich die Vergabebehörde der Preisdifferenzen zwischen den An-
geboten durchaus bewusst war und sie auch zusätzliche Abklärungen
vorgenommen hat. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin
besteht kein Grund für einen Ausschluss des Angebots der
Zuschlagsempfängerin vom Verfahren.
3.
Die Beschwerdeführerin vermutet, dass die Zuschlags-
empfängerin die Vorkenntnisse von E. aus der ersten Offertstellung
(für die Beschwerdeführerin) ausgenutzt habe, was unlauteren Wett-
bewerb darstelle.
Unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin am 15. März
2012 dem Gemeinderat B. ein Pflichtenheft mit Honorarofferte zur
Gesamtrevision der Nutzungsplanung unterbreitet hat. Diese Unterla-
gen wurden nach Angaben der Beschwerdeführerin von E. erstellt,
der bis zum 1. Oktober 2012 als Freelancer bei ihr tätig war. Nach-
dem die Gemeindeversammlung vom 25. Juni 2012 den Verpflich-
tungskredit für die Gesamtrevision der Bau- und Nutzungsordnung
nicht genehmigte, sondern die Sache zur Überarbeitung an den Ge-
meinderat zurückwies mit dem Auftrag, Konkurrenzofferten
einzuholen, beauftragte der Gemeinderat die D. AG mit der Erarbei-
tung eines Pflichtenhefts sowie mit der Begleitung des Submissions-
verfahrens.
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
196
Klar ist damit zunächst, dass E. nicht an der Erstellung der Aus-
schreibungsunterlagen für das vorliegende Verfahren mitgewirkt hat.
Die Frage einer allfälligen unzulässigen Vorbefassung (§ 28 Abs. 1
lit. h SubmD) stellt sich somit von vornherein nicht. Ob die
Zuschlagsempfängerin für die Ausarbeitung ihres Angebots aus der
Tatsache, dass E. aufgrund seiner früheren Tätigkeit für die Be-
schwerdeführerin bereits über Vorkenntnisse verfügte, einen Nutzen
ziehen konnte und damit allfällige private Rechte der Be-
schwerdeführerin verletzt wurden, ist hingegen keine submissions-
rechtlich relevante Fragestellung, welche die Vergabebehörde (oder
das Verwaltungsgericht) zu prüfen hätte (vgl. Urteil des Verwaltungs-
gerichts des Kantons Luzern vom 4. Oktober 2004 [V 04 186],
Erw. 3.c a.E. = LGVE 2004 II Nr. 9). | 1,592 | 1,301 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-33_2014-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-33.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-33.pdf | AGVE_2014_33 | null | nan |
8cc30978-3bf1-5b5d-9514-8d265280d2d1 | 1 | 412 | 870,490 | 1,194,134,400,000 | 2,007 | de | 2007
Verwaltungsgericht
172
[...]
40 Kostendach.
-
Bedeutung eines Kostendachs in einer Gesamtleistungssubmission.
-
Kostendach als zwingendes (absolutes) Vergabekriterium.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 22. November 2007 in Sa-
chen P. AG gegen den Stadtrat Z. (WBE.2007.207).
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Angebote, die zwingende Vorgaben der Ausschreibungsunterla-
gen nicht einhalten, sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungs-
gerichts vom Vergabeverfahren auszuschliessen. Es ist auch nicht
zulässig, die fehlende Vereinbarkeit mit den Ausschreibungsunterla-
gen im Rahmen der Bereinigung nachträglich herzustellen (siehe
VGE IV/28 vom 5. April 2007 [WBE.2007.20], S. 5 ff.). Auch bei
2007
Submissionen
173
Planungs- und Gesamtleistungswettbewerben kann die Auftraggebe-
rin ohne weiteres sachliche Vergabekriterien aufstellen, die absolut
gelten (Bedingungen oder "Musskriterien"), wie z.B. betriebliche
Anforderungen oder die Vorgabe eines Kostendachs. Ein Beitrag, der
ein solches Kriterium nicht erfüllt, weicht in einem wesentlichen
Punkt von den Programmbestimmungen ab, was den Ausschluss vom
Wettbewerb zur Folge haben muss. Die Wettbewerbsteilnehmer
dürfen darauf vertrauen, dass sich das Preisgericht an die eigenen
Programmbestimmungen hält. Andernfalls würden die grundlegen-
den submissionsrechtlichen Gebote des fairen und transparenten Ver-
fahrens wie auch der Gleichbehandlung der Anbietenden verletzt
(siehe Beat Messerli, Der Planungs- und Gesamtleistungswettbewerb
im öffentlichen Beschaffungsrecht, 2. Auflage, Bern 2007, S. 109 f.;
Felix Jost / Claudia Schneider Heusi, Architektur- und Ingenieur-
wettbewerbe im Submissionsrecht, in: ZBl 105/2004, S. 355).
2.2.
Zu prüfen ist die strittige Frage, ob dem Kostendach von 5 Mio.
Franken vorliegend der Charakter einer zwingend einzuhaltenden
Programmvorgabe (im Sinne eines "Musskriteriums") zukommt oder
nicht. Grundlage für diese Prüfung sind die den Bewerbern zur Ver-
fügung gestellten Unterlagen und Informationen.
Ziff. 8.5 (Wirtschaftlichkeit) des Programms der Präqualifika-
tion vom 23. Oktober 2006 lautet wie folgt:
"Die Stadt Z. verlangt, neben einer gestalterisch guten auch eine in Er-
stellung, Betrieb und Unterhalt wirtschaftliche Lösung realisieren zu kön-
nen. Aus der Finanzplanung der Stadt Z. ergibt sich für die Dreifachturn-
halle ein Kostendach von Fr. 5 Mio. inkl. feste Einrichtungen, Honoraren
und MwST.
Separat zu offerieren sind der Abbruch der bestehenden Halle, die An-
passungen an das Hallenbad und die Abtragung des Spielhügels sowie das
bewegliche Mobiliar und die Sportgeräte."
Ziff. 8.6 des Programms Skizzenqualifikation (Wirtschaftlich-
keit) vom 16. November 2006 und Ziff. 8.3.6 (Wirtschaftlichkeit)
des Programms Gesamtleistungssubmission vom 13. Februar 2007
lauten bis auf die Ergänzung "sowie der Ersatz von Kugelstoss- und
2007
Verwaltungsgericht
174
Weitsprunganlage" (im Programm Gesamtleistungssubmission)
praktisch identisch:
"Die Stadt Z. verlangt, neben einer gestalterisch guten auch eine in Er-
stellung, Betrieb und Unterhalt wirtschaftliche Lösung realisieren zu kön-
nen. Aus der Finanzplanung der Stadt Z. ergibt sich für die Dreifachturn-
halle ein Kostendach von Fr. 5 Mio. inkl. Einrichtungen, Mobiliar, Honora-
ren und MwSt.
Nicht im Kostendach von Fr. 5 Mio. inbegriffen und separat zu offe-
rieren sind der Abbruch der bestehenden Halle, die Anpassungen an das
Hallenbad und die Abtragung des Spielhügels sowie der Ersatz von Kugel-
stoss- und Weitsprunganlage."
In allen drei Programmen wird somit - jeweils unter dem Ober-
titel "Erläuterungen und Projektierungshinweise" - ein Kostendach
von 5 Mio. Franken vorgegeben. Zu den Konsequenzen der Nicht-
einhaltung des Kostendachs wird in den verschiedenen Programmen
nichts gesagt.
Im Rahmen der Fragenbeantwortung zur Skizzenqualifikation
vom 19. Dezember 2006 wurde aber von einem der Bewerber die
Frage gestellt, was geschehe, wenn die 5 Mio. von keinem Team ein-
gehalten werden könnten. Die Frage wurde von der Auftraggeberin
wie folgt beantwortet:
"Die Vorgabe von 5 Mio. ist als Kostendach absolut verbindlich. In
dieser Summe ist auch die Ausstattung enthalten, soweit diese als Zubehör
des Gebäudes zu verstehen ist (insbesondere die fest mit dem Gebäude ver-
bundenen Einrichtungen). Nicht enthalten sind: Abbruch bestehende Halle
mit Anpassungskosten, Umgebungsarbeiten; diese sind separat auszuwei-
sen.
Wenn keiner der Teilnehmer das Ziel erreichen sollte, ist mit keinem
Zuschlag zu rechnen (Aufhebung Submission)."
Im Zwischenbericht des Beurteilungsgremiums vom 16. April
2007, der den beiden verbliebenen Teilnehmern der Gesamt-
leistungssubmission zugestellt wurde, ist schliesslich Folgendes fest-
gehalten:
"Das Kostendach von CHF 5'000'000.-- ist unter allen Umständen ein-
zuhalten."
2007
Submissionen
175
Im Rahmen der Fragebeantwortung vom 9. Mai 2007 wird in
Ziff. 3 die Kostenvorgabe noch einmal explizit für die Überarbeitung
bestätigt.
2.3.
Wie bereits festgestellt, nennen alle drei den Anbietern im Ver-
lauf des Verfahrens abgegebenen Programme ein Kostendach von
5 Mio. Franken. Das Kostendach wird in den Programmen zwar
nicht explizit als Ausschlusskriterium bezeichnet, nichtsdestotrotz
kann kein Zweifel daran bestehen, dass dem mit 5 Mio. Franken be-
zifferten Kostendach der Charakter einer verbindlichen Vorgabe und
nicht einer blossen Zielvorstellung zukommt. Zivilrechtlich bedeutet
ein Kostendach die Limitierung der Vergütungspflicht in Fällen, in
denen über die einzelnen Leistungen nach Aufwand abgerechnet
wird (Peter Gauch, Der Werkvertrag, 4.
Auflage, Zürich 1996,
Rz. 1036). Die Beschwerdeführerin weist daher zu Recht darauf hin,
dass in der Baupraxis unter dem Kostendach der vereinbarte maxi-
mal geschuldete Werkpreis, den der Besteller zu bezahlen hat, ver-
standen wird. Eine Überschreitung des vereinbarten Kostendachs
geht zu Lasten des Unternehmers. Hätte die Vergabestelle das
Kostendach daher abweichend vom herkömmlichen Verständnis le-
diglich als nach Möglichkeit anzustrebenden Richtwert bzw. Ziel-
grösse (siehe dazu Gauch, a.a.O., Rz. 1038) verstanden, hätte dies in
den Programmen entsprechend klar zum Ausdruck kommen müssen
(z.B. mittels Hinweis, dass bei einem ansonsten überragenden Pro-
jekt Kostenüberschreitungen bis zu 10 % toleriert würden). Aus der
Fragenbeantwortung zur Skizzenqualifikation vom 19. Dezember
2006 und dem Zwischenbericht des Beurteilungsgremiums vom
16. April 2007 geht indessen klar hervor, dass die Vergabebehörde
das Kostendach als absolut verbindlich und damit als Ausschluss-
grund angesehen hat. Auch die Formulierung in der Fragebeantwor-
tung, falls keiner der Teilnehmer das Ziel erreichen sollte, sei mit
keinem Zuschlag zu rechnen (Aufhebung Submission), lässt letztlich
nur darauf schliessen, dass die Nichteinhaltung des Kostendaches zur
Ungültigkeit des Angebots und zum Ausschluss des betreffenden
Bewerbers führen würde.
2007
Verwaltungsgericht
176
Der im Beschwerdeverfahren vorgebrachte Einwand der Verga-
bestelle, jedenfalls im eigentlichen Gesamtleistungssubmissionsver-
fahren sei das Kostendach lediglich als blosse Zielgrösse zu verste-
hen, die rechtlich unverbindlich sei, erweist sich als nicht stichhaltig.
Die in der Fragebeantwortung unmissverständlich kundgegebene
"absolute Verbindlichkeit" des Kostendachs wird durch Ziff. 8.3.6
des Programms Gesamtleistungssubmission keineswegs relativiert
oder gar aufgehoben. Hinzu kommt die Formulierung des Zwischen-
berichts vom 16. April 2007, das Kostendach von 5 Mio. Franken sei
unter allen Umständen
einzuhalten. Dieser Zwischenbericht betrifft
eindeutig die 3. Stufe, also die eigentliche Gesamtleistungssubmis-
sion. Auch in der Fragebeantwortung vom 9. Mai 2007 wurde die
Kostenvorgabe (Kostendach von 5 Mio. Franken) erneut bestätigt
und nicht etwa relativiert. Die Vergabestelle macht in der Vernehm-
lassung geltend, aufgrund der in der Skizzenqualifikation einge-
reichten Beiträge habe sich gezeigt, dass die Obergrenze von 5 Mio.
Franken nicht absolut verstanden werden könne. Trotz dieser Er-
kenntnis ist die Formulierung in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und
Kostendach im Programm Gesamtleistungssubmission nicht ent-
sprechend angepasst worden; im Zwischenbericht vom 16. April
2007 ist die Einhaltung des Kostendach von 5 Mio. Franken "unter
allen Umständen" vielmehr noch einmal bestätigt und den Anbietern
auch kommuniziert worden. Hätte die Vergabestelle von der absolu-
ten Verbindlichkeit des vorgegebenen Kostendachs tatsächlich Ab-
stand nehmen wollen, hätte dies aufgrund des Transparenzgebots ei-
ner ausdrücklichen und eindeutigen Erklärung gegen über den An-
bietern bedurft. | 1,897 | 1,523 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-40_2007-11-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-40.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-40.pdf | AGVE_2007_40 | null | nan |
8dc43e67-13d1-5cbb-ae76-34c4b9e1f26a | 1 | 412 | 870,031 | 1,128,384,000,000 | 2,005 | de | 2005
Verwaltungsrechtspflege
339
[...]
68
Funktionelle Zuständigkeit bei Rechtsverzögerungsbeschwerden.
- Auch im Sozialhilfebereich ist in jenen Fällen, wo einer unteren Instanz
Untätigkeit angelastet wird, letztinstanzlich zuständige Verwaltungs-
behörde im Sinne von § 52 VRPG der Regierungsrat.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 26. Oktober 2005 in Sa-
chen E.W. und G.G.
Aus den Erwägungen
1. Die Beschwerde an das Verwaltungsgericht ist zulässig in den
Fällen, welche das Gesetz, ein Dekret oder allenfalls eine Ver-
ordnung bestimmt (§ 51 Abs. 1 und 2 VRPG). Gemäss § 58 SPG
können Verfügungen und Entscheide der Sozialbehörden mit Be-
schwerde beim Bezirksamt angefochten werden (Abs. 1). Dessen
Entscheid kann ans Verwaltungsgericht weitergezogen werden
(Abs. 2). Das Verwaltungsgericht ist somit sachlich zur Beurteilung
von Beschwerden gegen Verfügungen und Entscheide in Anwendung
des Sozialhilferechts zuständig.
Das Verwaltungsgericht darf jedoch nur Entscheide und Verfü-
gungen der letztinstanzlichen Verwaltungsbehörden beurteilen (§ 52
Ingress VRPG). Diese Einschränkung der funktionalen Zuständigkeit
des Verwaltungsgerichts gilt auch dort, wo Rechtsverzögerung oder
Rechtsverweigerung geltend gemacht wird (AGVE 1989, S. 308 f.
mit Hinweis).
Der Regierungsrat ist allgemeine Aufsichtsbehörde über die
(kantonale) Verwaltung und die anderen Träger von öffentlichen Auf-
2005
Verwaltungsgericht
340
gaben (§ 90 Abs. 1 KV). In dieser Eigenschaft hat er auch darüber zu
wachen, dass die ihm unterstellten Verwaltungsinstanzen die Be-
schwerdeverfahren ohne ungebührliche Verzögerungen durchführen
und zu Ende bringen. Er hat auch die nötigen Mittel in der Hand, um
gegen entsprechende Fehlleistungen und Versäumnisse wirksam vor-
gehen zu können (Erteilung von Weisungen, Disziplinierungen usw.;
Kurt Eichenberger, Verfassung des Kantons Aargau, Textausgabe mit
Kommentar, Aarau / Frankfurt a.M. / Salzburg 1986, § 90 N 5). Nach
der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtes darf daher in Fällen
behaupteter Rechtsverzögerung innerhalb der Verwaltung der Regie-
rungsrat nicht übergangen werden (AGVE 1989, S. 308 f.; vgl.
Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfahren
nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege
[Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Diss. Zürich 1998, § 40 N 18.
Auch im Sozialhilfebereich ist daher in jenen Fällen, wo einer unte-
ren Instanz, d.h. dem Bezirksamt, Untätigkeit angelastet wird, letzt-
instanzlich zuständige Verwaltungsbehörde im Sinne von § 52 VRPG
der Regierungsrat.
Im Sozialhilfebereich sind die Bezirksämter Beschwerdeinstan-
zen gegen kommunale Entscheide (§ 58 Abs. 1 SPG); daneben sind
der Kantonale Sozialdienst und teilweise das Departement Gesund-
heit und Soziales (DGS) mit Aufsichts- und beratenden Funktionen
beauftragt (§ 42 SPG; § 40 Abs. 2 SPV). Durch die aufsichtsrechtli-
che Zuständigkeit des Regierungsrats kann eine einheitliche Aufsicht
und Verfahrenspraxis der genannten Verwaltungsbehörden gewähr-
leistet werden. Für den Bereich der Sozialhilfe drängt sich daher eine
Änderung der Praxis des Verwaltungsgerichts hinsichtlich des
Instanzenzuges nicht auf. Nach Merker, der diese Rechtsprechung
bei Beschwerden gemäss § 53 VRPG kritisiert, ist die verwaltungs-
gerichtliche Praxis für den Fall der Rechtsverzögerung vertretbar und
Aufgabe des Gesetzgebers, die Zuständigkeitsordnung neu zu regeln
(Merker, a.a.O., § 53 N 16).
Mangels funktioneller Zuständigkeit ist auf die Rechtsverzöge-
rungsbeschwerde daher nicht einzutreten. | 796 | 630 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2005-68_2005-10-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-68.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-68.pdf | AGVE_2005_68 | null | nan |
8e25b1af-1af9-5e04-9b62-9f531127855f | 1 | 412 | 869,840 | 1,151,971,200,000 | 2,006 | de | 2006
Submissionen
195
[...]
38
Varianten (§ 16 SubmD).
-
Anforderungen an Varianten (Erw. 2.1).
-
Indem die Vergabebehörde vorliegend die Unternehmervariante be-
rücksichtigt hat, hat sie nicht gegen das ihr zustehende Ermessen
verstossen (Erw. 2.2).
-
Es ist Sache des Anbieters, seine Unternehmervariante so detailliert
auszuarbeiten und ausgereift zu formulieren, dass allfällige Kosten-
vorteile bzw. entstehende Mehrkosten für die Vergabestelle klar er-
sichtlich sind. Dies schliesst es jedoch nicht aus, dass die Vergabebe-
hörde ihrerseits im Rahmen der Bereinigung der Angebote die (zu-
lässigen) Unternehmervarianten einer vertieften Prüfung unterzieht
(Erw. 2.3).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 6. Juli 2006 in Sachen J.
gegen das Departement Bau, Verkehr und Umwelt.
2006
Verwaltungsgericht
196
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Den Anbietenden steht es frei, Offerten für Varianten und Teil-
angebote einzureichen (§ 16 Abs. 1 SubmD). Die Vergabestelle be-
zeichnet in den Ausschreibungsunterlagen die Mindestanforderungen
an Varianten und Teilangebote (§ 16 Abs. 2 SubmD). Das Angebot
einer Variante ist ungültig, wenn damit nicht eine Offerte für das
Grundangebot eingereicht wird (§ 16 Abs. 3 SubmD in der hier an-
wendbaren bis zum 31. Dezember 2005 geltenden Fassung [siehe
§ 42 lit. a SubmD]).
2.1.1.
In der Baubranche wird als Variante üblicherweise jeder Offert-
vorschlag bezeichnet, der inhaltlich von der ausgeschriebenen Bau-
leistung abweicht. Bei der Projektvariante offeriert ein Unternehmer
die Werkausführung mit einer Projektierung, die von den ausge-
schriebenen Planunterlagen ganz oder teilweise abweicht. Bei einer
Ausführungsvariante bietet ein Unternehmer die Ausführung in einer
Art und Weise an, die sich von den Ausschreibungsunterlagen (z.B.
bezüglich Baumethode, Konstruktionsart, Reihenfolge der Arbeiten)
unterscheidet (siehe Roland Hürlimannn, Unternehmervarianten
- Risiken und Problembereiche, in: BR 1996, S. 3 f.; AGVE 2001,
S. 337 mit Hinweisen). Beim Entscheid, ob sie einer Variante den
Zuschlag erteilen oder auf der von ihr erarbeiteten Amtslösung be-
harren will, kommt der Vergabestelle ein grosser Ermessensspiel-
raum zu, und sie ist nicht verpflichtet, irgendwelche mit der Variante
verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen (AGVE 2001, S. 339 mit
Hinweis).
2.1.2.
Nicht unproblematisch ist im Einzelfall die Abgrenzung, ob
überhaupt noch eine Variante (des Grundangebots) oder etwas völlig
anderes angeboten wird. Auch wird die Vergleichbarkeit der Ange-
bote zunehmend erschwert, je weiter sich eine Variante vom
Grundangebot bzw. vom Leistungsverzeichnis entfernt. Aus § 15
Abs. 3 IVöB ergibt sich, dass die Variante dem Amtsvorschlag be-
2006
Submissionen
197
züglich der technischen Spezifikationen gleichwertig sein sollte, wo-
bei die Gleichwertigkeit von der Anbieterin oder vom Anbieter zu
beweisen ist (Entscheid des Verwaltungsgerichts Zug vom
24. September 1998, in: BR 2000, S. 62; AGVE 2001, S. 338 f.).
Ein Sonderfall sind Varianten, die nicht der Erbringung der aus-
geschriebenen Leistung dienen bzw. eine andere technische Lösung
vorschlagen, sondern einzig eine Reduktion des ausgeschriebenen
Leistungsinhalts in quantitativer oder qualitativer Hinsicht zum Ge-
genstand haben (z.B. Reduktion einer Wandstärke). Solche Varianten
sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts des Kantons
Zürich grundsätzlich ebenfalls zulässig, da sie der Vergabebehörde
Gelegenheit geben, eine allenfalls diskutable Vorgabe nochmals zu
überprüfen. Gelangt die Behörde jedoch zum Schluss, dass die An-
forderungen entsprechend der Variante zu reduzieren sind, muss auch
den andern Anbietern Gelegenheit gegeben werden, ihre Offerten im
Blick auf die neue Umschreibung des Leistungsinhalts zu ergänzen
(Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom
17. Februar 2000 [VB.1999.00015], Erw. 8c; Entscheid des Verwal-
tungsgerichts des Kantons Zürich vom 20.
Juli 2004
[VB.2004.00006], Erw. 2.2.2). Mit der Gelegenheit zur Anpassung
der Konkurrenzofferten soll gewährleistet werden, dass die als Vari-
ante offerierte Minderleistung nicht zu einem Kostenvorteil gegen-
über den Mitbewerbern ausgenützt werden kann. Diese Gefahr be-
steht allerdings dann nicht, wenn das Angebot, welches die Minder-
leistung enthält, so weit vor den Angeboten der Mitbewerber liegt,
dass es selbst unter Aufrechnung der Preisdifferenz, die für eine volle
Leistung zu veranschlagen wäre, noch seinen Vorsprung behält.
Denn bei dieser Sachlage werden die Mitbewerber durch die Zulas-
sung des Angebots mit der Minderleistung nicht benachteiligt (er-
wähnter Entscheid vom 20. Juli 2004, Erw. 2.2.2).
2.2.
2.2.1.
Die Ausschreibungsunterlagen enthalten unter dem Titel ,,Ein-
gabe des Angebots" folgende Vorschriften:
,,Auf Verlangen der Bauherrschaft gelten folgende Bestimmun-
gen:
2006
Verwaltungsgericht
198
- Die Leistungsverzeichnisse sind unverändert auszufüllen. Es wer-
den keinerlei Abänderungen in Bezug auf vorgegebene Masse und
Materialien akzeptiert. Unbegründete Abänderungen der Aus-
schreibung führen zum Ausschluss des Wettbewerbes.
- Unternehmervarianten sind mit ausführlichem Beschrieb (unter
Verwendung derselben Positionsnummern wie in der Vorgabe) und
mit Planunterlagen (Grundriss und Ansichten) einzureichen. Es ge-
nügt nicht auf einem beigelegten Katalog und eine darin enthaltene
Produktebenennung hinzuweisen!"
Im Sinne von § 16 Abs. 2 SubmD hat die Vergabebehörde somit
in den Ausschreibungsunterlagen in der zweitgenannten Bestimmung
ihre Mindestanforderungen an die Varianten näher umschrieben.
Hingegen bezieht sich die erste Bestimmung, wonach die Leistungs-
verzeichnisse unverändert auszufüllen seien und keinerlei Abände-
rungen in Bezug auf vorgegebene Masse und Materialien akzeptiert
würden, klarerweise nur auf die Amtslösung. Dem von der Be-
schwerdeführerin vertretenen Standpunkt, sämtliche Vorgaben von
Materialien und Massen seien auch von den Unternehmervarianten
zwingend einzuhalten gewesen, kann nicht gefolgt werden. Die Aus-
schreibungsunterlagen enthalten keine Anhaltspunkte für eine derar-
tige einschränkende Interpretation. Eine solche Auslegung stünde im
Übrigen auch im Widerspruch zu Sinn und Zweck von Varianten, mit
denen der Anbieter gerade bewusst von den Vorgaben des Leistungs-
verzeichnisses abweicht und der Vergabestelle einen Alternativvor-
schlag unterbreitet. Anders verhält es sich bei Rahmenbedingungen
für Varianten, welche die Vergabebehörde ausdrücklich als zwingend
einzuhalten vorgibt (z.B. Vorgabe oder Ausschluss bestimmter Mate-
rialien auch für Varianten).
Der in den Ausschreibungsunterlagen enthaltene Ausführungs-
beschrieb hält in Ziff. 15 fest, dass die Leistungsverzeichnisse unver-
ändert auszufüllen seien. Allfällige Bemerkungen, Vorbehalte, kon-
struktive Änderungen und Ergänzungen seien vom Bewerber in be-
sonderer Beilage anzubringen. Auch der Ausführungsbeschrieb ent-
hält keine Vorgaben, die auch von Varianten zwingend erfüllt sein
müssen bzw. einzuhalten sind.
2006
Submissionen
199
2.2.2.
Die Zuschlagsempfängerin hat ihre Variante (Angebot II) zu-
sätzlich zum vollständig und korrekt ausgefüllten Leistungsverzeich-
nis für das Grundangebot eingereicht. Die Variante erweist sich im
Hinblick auf § 16 Abs. 3 SubmD somit als gültig. Ebenfalls erfüllt
sind die von der Vergabestelle in den Ausschreibungsunterlagen an
die Varianten gestellten Anforderungen.
2.2.3.
Als Unternehmervariante (Angebot II) bietet die Y. AG ein
Standardprodukt des deutschen Laborherstellers Z. an. Dieses Ange-
bot weicht unbestrittenermassen in verschiedenen Punkten von den
Vorgaben des Leistungsverzeichnisses ab. So trifft etwa die Vermu-
tung der Beschwerdeführerin zu, dass teilweise die Lieferung von be-
schichteten (und nicht von belegten) Möbeln (Schrankfronten, Sicht-
seiten) vorgesehen ist. Ebenfalls werden für die Tablare 19 mm (statt
22 mm) starke, mit Aluminiumkanten verstärkte Spanplatten gelie-
fert. An Stelle einer VE-Glas Blattabdeckung ist die Lieferung einer
mit Ceradur beschichteten Abdeckung vorgesehen. Bei den Unter-
bauten und Schränken bestehen Abweichungen bei der Farbgebung
der Fronten und Sichtseiten sowie des Sockels, bei der Stärke der
Tablare und bei der Materialisation der Tablare, der Griffleisten und
des Sockels. Weitere Abweichungen ergeben sich hinsichtlich des
(Unter-)Lieferanten der Glasschiebefronten, in Bezug auf die Stärke
der Blattabdeckung aus Kunstharz und Polypropylen sowie hinsicht-
lich der Materialisation der Blattabdeckung aus VE-Glas (siehe obige
Ausführungen) und der Korpusseiten. Die Variante weicht bei der
Beleuchtung, hinsichtlich der Metallteile und der Becken und bei der
Materialisation und der Lage des Armaturenbands von der Amtsvari-
ante ab.
Derartige Abweichungen von der Amtslösung sind indessen ty-
pisch für eine Variante und erscheinen als durchaus zulässig. Insge-
samt ist die vorliegende Unternehmervariante als eigenständiger Lö-
sungsvorschlag der Y. AG für die von der Vergabebehörde ausge-
schriebene Laboreinrichtung zu beurteilen und nicht als eine blosse
Reduktion des ausgeschriebenen Leistungsinhalts in quantitativer
oder qualitativer Hinsicht. Es lässt sich auch nicht sagen, die Zu-
2006
Verwaltungsgericht
200
schlagsempfängerin habe mit der Variante in Bezug auf Umfang und
Qualität etwas völlig anderes offeriert, als die Vergabestelle ausge-
schrieben hat, weshalb die Variante hätte als submissionswidrig aus-
geschlossen werden müssen. Wie bereits festgehalten, enthalten die
Ausschreibungsunterlagen entgegen der Auffassung der Beschwer-
deführerin keine auch von Varianten zwingend zu erfüllende Anfor-
derungen. Im Übrigen ist festzuhalten, dass es auch der Beschwerde-
führerin offen stand, mit einer Variante ihre Chancen im Wettbewerb
zu erhöhen.
2.2.4.
Die Vergabebehörde hat im vorliegenden Fall vom Fachplaner
eine Stellungnahme zur Variante der Y. AG eingeholt. Darin werden
zwar gewisse Vorbehalte (Farbgebung; Fragezeichen bezüglich Voll-
auszug und Einzugdämpfung) angebracht; insbesondere wird darauf-
hin gewiesen, dass es sich um ein Standardprodukt handle. In Bezug
auf den markanten Preisunterschied wird festgehalten, dieser gehe
darauf zurück, dass die Firma Z. zum Teil andere Produkte einsetze
oder diese in grösseren Mengen zu besseren Konditionen einkaufen
könne, wobei diese durchwegs dem heutigen Laboreinrichtungsstan-
dard entsprechen und die nötigen Normen erfüllen würden. Seitens
des Fachplaners ist als Referenzobjekt das von der Firma Z. im
Sommer 2004 eingerichtete Labor der Kantonsschule S. besichtigt
worden. Dabei zeigte sich eine saubere Verarbeitung der Materialien,
die eingesetzten Armaturen (Produkt Ila) erschienen einwandfrei und
die Qualität in Ordnung. Die befragte Kontaktperson zeigte sich sehr
zufrieden mit der Einrichtung. Am 28. Oktober 2005 besichtigte auch
eine Delegation der Kantonsschule X. zusammen mit Vertretern der
Vergabebehörde und dem Generalplaner das Referenzobjekt in
S. und kam - in Kenntnis der Differenzen der Unternehmervariante
zur ausgeschriebenen Amtslösung - zum Schluss, dass das Labor den
Ansprüchen voll und ganz entspreche. Schliesslich wurden von der
Y. AG im Rahmen der Bereinigung der Angebote für die Variante
nachträglich Materialmuster und der Nachweis verlangt, dass keine
toxischen Stoffe (in den Spanplatten und in anderen Materialien) aus-
dünsten oder sich verflüchtigen.
2006
Submissionen
201
Wie bereits ausgeführt, steht der Vergabestelle bei der Frage, ob
sie eine Unternehmervariante berücksichtigen will oder nicht, ein
grosser Ermessensspielraum zu (siehe vorne Erw. 2.1.1). Dies gilt
namentlich in auch in Bezug auf die Frage der Gleichwertigkeit
(nicht Gleichheit oder Identität) der vorgeschlagenen Variante mit
der ausgeschriebenen Amtslösung. Im vorliegenden Fall hat sich die
Vergabestelle bzw. der von ihr beigezogene Fachplaner mit der Un-
ternehmervariante der Y. AG und deren Vor- und Nachteilen im Ver-
gleich zum Hauptangebot eingehend auseinandergesetzt und die da-
mit verbundenen Risiken überprüft. Sie ist aufgrund der Prüfung zum
Schluss gelangt, dass auch die Variante die gestellten Anforderungen
in Bezug auf die Qualität und Gebrauchstauglichkeit der zu beschaf-
fenden Laboreinrichtung in durchaus ausreichendem Mass erfüllt.
Das Verwaltungsgericht hat sich insbesondere bei der Überprüfung
technischer und betrieblicher Aspekte, welche die Vergabebehörde
aufgrund ihres Fachwissens besser beurteilen kann, Zurückhaltung
aufzuerlegen. Es kann nicht Sache des Verwaltungsgerichts, dem
keine Ermessenskontrolle zusteht, sein, diesbezüglich an Stelle der
Vergabebehörde eine eigene Beurteilung vorzunehmen. Die Abwei-
chungen in der Unternehmervariante begründen jedenfalls keine der-
artigen Differenzen zu den Leistungsanforderungen, wie sie das
Grundangebot umschreibt, dass die Gleichwertigkeit zu verneinen
und eine Berücksichtigung der Variante daher ausgeschlossen ist. Es
trifft zwar zu, dass die Unternehmervariante in erheblichem Mass
kostengünstiger ist als die eingereichten Hauptangebote. Dies hat
seine Ursache indessen nicht einer ungenügenden Qualität der offe-
rierten Einrichtung, sondern vor allem im Umstand, dass es sich
weitgehend um ein Standard- bzw. Serienprodukt handelt.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Verga-
bebehörde als massgebende Zuschlagskriterien einzig den Preis (mit
einem Gewicht von 95 %) und die Lehrlingsausbildung (mit einem
Gewicht von 5 %) festgelegt hat. Die Qualität ist hingegen kein Zu-
schlagskriterium. Aufgrund der hohen Gewichtung des Preises ist
davon auszugehen, dass der Kostenfaktor der vorliegenden Beschaf-
fung für die Vergabestelle von erheblicher Bedeutung ist. Dies war
aufgrund der Bekanntgabe der Zuschlagskriterien in den Ausschrei-
2006
Verwaltungsgericht
202
bungsunterlagen auch für die Anbietenden erkennbar (und wird im
Übrigen auch von der Beschwerdeführerin anerkannt). Aus dem Um-
stand, dass die Beschwerdeführerin möglicherweise eine qualitativ
hochwertigere Lösung (siehe Beilagen 1 bis 4 zu den Bemerkungen)
angeboten hat als die Zuschlagsempfängerin in ihrem berücksichtig-
ten Angebot, kann die Beschwerdeführerin daher letztlich nichts zu
ihren Gunsten herleiten.
2.3.
2.3.1.
Die Beschwerdeführerin vertritt den Standpunkt, dass die Zu-
schlagsempfängerin den Nachweis für die Gleichwertigkeit der Vari-
ante spätestens bis zum Zeitpunkt des Eingabetermins hätte erbrin-
gen müssen. Dies sei nicht der Fall gewesen. Vielmehr habe die Ver-
gabebehörde die Gleichwertigkeit erst aufgrund des von ihr einge-
holten Gutachten bejaht; dies stelle eine unzulässige Begünstigung
der Zuschlagsempfängerin dar. Eine unzulässige Begünstigung sei
auch darin zu sehen, dass es die Vergabestelle der Zuschlags-
empfängerin ermöglicht habe, den Nachweis zu erbringen, dass keine
toxischen Stoffe ausdünsteten oder sich verflüchtigten. Eine unzuläs-
sige Bevorzugung der Zuschlagsempfängerin bedeute auch die Be-
sichtigung der Laboreinrichtung in der Kantonsschule S. durch Ver-
treter der Vergabestelle und der Kantonsschule X.
2.3.2.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts ist es Sache
des Anbieters, seine Unternehmervariante so detailliert auszuarbeiten
und ausgereift zu formulieren, dass allfällige Kostenvorteile bzw.
entstehende Mehrkosten für die Vergabestelle klar ersichtlich sind.
Es kann nicht ihre Aufgabe sein, unvollständig eingereichte Unter-
nehmervarianten selbst so weit entwickeln zu müssen, bis die Ko-
stenvorteile bzw. -nachteile in Zahlenform zum Ausdruck kommen
(AGVE 2001, S. 339 mit Hinweis). Es ist auch Sache des Anbieters,
die Gleichwertigkeit der Variante mit der Amtslösung nachzuweisen.
Die Folgen der Nichtbeweisbarkeit von Tatsachen bzw. der nicht
ohne übermässigen Aufwand zu führenden Beweise hat zu tragen,
wer eine Variante einreicht (AGVE 2001, S. 338). Dies schliesst es
selbstverständlich nicht aus, dass die Vergabebehörde ihrerseits im
2006
Submissionen
203
Rahmen der Bereinigung der Angebote (§ 17 SubmD) die (zulässi-
gen) Unternehmervarianten - auch im Hinblick auf das Herstellen der
Vergleichbarkeit sowie auf das mit der Berücksichtigung einer Vari-
ante möglicherweise verbundene erhöhte Risiko - einer vertieften
Prüfung unterzieht. Grundsätzlich erscheint es auch zulässig, dass
sich die Vergabebehörde die Unternehmervariante vom betreffenden
Anbieter noch näher erläutern lässt und allfällige Unklarheiten und
offene Fragen klärt. Auch die Besichtigung eines entsprechenden Re-
ferenzobjekts kann sich hier aufdrängen. Ebenso kann sich der Bei-
zug einer Fachinstanz zur Beurteilung der Variante als zweckmässig
erweisen.
2.3.3.
Die Zuschlagsempfängerin hat - wie von der Vergabestelle in
den Ausschreibungsunterlagen verlangt - eine auf den Positionen des
Leistungsverzeichnisses basierende, vollständig ausgearbeitete Un-
ternehmervariante (mit entsprechender Dokumentation) eingereicht.
Damit hat sie den an eine Variante gestellten Anforderungen Genüge
getan. Die Vergabestelle hat die gültige und für den Zuschlag grund-
sätzlich in Betracht kommende Variante in der Folge von einem un-
abhängigen externen Fachplaner (A. AG) fachlich prüfen und mit
dem Angebot der Beschwerdeführerin (der preisgünstigsten Amtslö-
sung) vergleichen lassen. Besichtigt wurde mit der Kantonsschule
S. sodann eine der Variante entsprechende Referenzeinrichtung.
Schliesslich wurde von der Beschwerdeführerin noch der Nachweis
verlangt, dass das verwendete Material keine toxischen Stoffe aus-
dünstet. In den Ausschreibungsunterlagen waren derartige Nach-
weise weder für das Hauptangebot noch für allfällige Unternehmer-
varianten verlangt worden. Die Zuschlagsempfängerin hatte daher
keine Veranlassung, entsprechende Bestätigungen ihrer Lieferanten-
firmen bereits ihren beiden Angeboten beizulegen. Es ist durchaus
nachvollziehbar, dass die Vergabestelle die entsprechenden Belege
im Rahmen der Bereinigung von der Zuschlagsempfängerin für das
günstigere Variantenangebot einforderte. Um eine nachträgliche Än-
derung des Angebots handelt es sich hierbei entgegen der Auffassung
der Beschwerdeführerin nicht.
2006
Verwaltungsgericht
204
Die im Vergleich zu den Amtslösungen vertieften Abklärungen
bezüglich der Variante (Qualität der Einrichtung, Schadstoffe) waren
angesichts der Tatsache, dass die Berücksichtigung einer Variante für
die Vergabestelle regelmässig, namentlich wenn es sich um ein deut-
lich preisgünstigeres Alternativangebot handelt, mit einem erhöhten
Risiko bezüglich vorhandener Qualität der Materialien und der Ver-
arbeitung verbunden ist, durchaus sachlich gerechtfertigt und gebo-
ten. Es handelt sich hierbei um eine verschärfte sachliche Überprü-
fung und entgegen der Beschwerdeführerin nicht um eine unzuläs-
sige Bevorzugung der Zuschlagsempfängerin gegenüber den Offer-
ten der Amtslösung. Das Vorgehen der Vergabebehörde ist daher
sachgerecht und nicht zu beanstanden. | 3,964 | 3,207 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2006-38_2006-07-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-38.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-38.pdf | AGVE_2006_38 | null | nan |
8e2ef6f1-de6e-5c77-89d0-ad49866108d2 | 1 | 412 | 869,934 | 1,054,598,400,000 | 2,003 | de | 2003
Verwaltungsrechtspflege
319
[...]
84 Zuständigkeit
(Handelsregistersache).
- Sachliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts in Handelsregister-
sachen gestützt auf § 52 Ziff. 19 VRPG (Erw. 1/a).
- Gegen den Entscheid des Departements des Innern kann gestützt auf
Art. 3 Abs. 4
bis
HRegV direkt das Verwaltungsgericht angerufen
werden (Erw. 1/b).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 16. Juni 2003 in Sa-
chen A. gegen Departement des Innern.
Aus den Erwägungen
1. a) Das Verwaltungsgericht beurteilt Beschwerden gegen letzt-
instanzliche Verfügungen und Entscheide der Verwaltungsbehörden
über Anordnungen im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des
Bundes stützen und bei denen unmittelbar die Verwaltungsgerichts-
beschwerde an das Bundesgericht zulässig ist (§ 52 Ziff. 19 VRPG).
Im vorliegenden Fall ist ein Anwendungsfall dieser Bestimmung
gegeben. Gegen Entscheide und Verfügungen letzter Instanzen in
Handelsregistersachen kann nämlich Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erhoben werden (Art. 5 Abs. 1 HRegV). Die
sachliche
Zuständigkeit
des Verwaltungsgerichts ist mithin zu bejahen.
b) Zu prüfen ist noch die
funktionelle
Zuständigkeit des Ver-
waltungsgerichts. Wenn nämlich ein Departement wie im vorlie-
genden Falle erstinstanzlich entscheidet, so gilt auch in Fällen, in
denen letztinstanzlich ein Weiterzug an das Verwaltungsgericht mög-
lich ist, normalerweise die Regelung, dass zunächst die Beschwerde
2003
Verwaltungsgericht
320
an den Regierungsrat gegeben ist (§ 46 Abs. 2 lit. a VRPG). Diese
Zuständigkeitsordnung derogiert nun allerdings Art. 3 Abs. 4
bis
HRegV, der folgendermassen lautet:
"Ist die kantonale Aufsichtsbehörde keine gerichtliche Instanz, so
kann gegen deren Entscheid beim zuständigen kantonalen Gericht Be-
schwerde erhoben werden (Art. 98a Abs. 1 des Bundesrechtspflege-
gesetzes, OG)."
Wie der Regierungsrat zutreffend annimmt, gilt Art. 3 Abs. 4
bis
HRegV auch, wenn wie im vorliegenden Falle eine zwangsweise
Eintragung gemäss Art. 57 HRegV zur Diskussion steht; werden in
einem solchen Fall Weigerungsgründe schriftlich geltend gemacht
(Art. 57 Abs. 1 und 4 HRegV), überweist der Registerführer, statt
selber zu verfügen, die Angelegenheit der kantonalen Aufsichtsbe-
hörde, die nach Prüfung der Verhältnisse - erstinstanzlich - entschei-
det (Art. 58 Abs. 1 HRegV). In Handelsregistersachen kommt es auf
eine speditive Abwicklung der einzelnen Vorgänge an, und diesem
Ziel würde eine Dazwischenschaltung des Regierungsrats entgegen-
wirken. Im Übrigen kann auch auf § 4 Satz 3 der kantonalen Verord-
nung über den Vollzug des Bundesgesetzes über die Revision der
Titel 24-33 des Obligationenrechts (SAR 210.251) vom 23. Juli 1937
verwiesen werden, wonach eine Weiterziehung der Entscheide des
Departements des Innern (in seiner Eigenschaft als kantonale
Aufsichtsbehörde über das Handelsregisteramt) an den Regierungsrat
nicht zulässig ist; auch hinter dieser Bestimmung steht offensichtlich
das Beschleunigungsanliegen.
Demgemäss ist das Verwaltungsgericht zur Beurteilung der
vorliegenden Streitsache auch funktionell zuständig. | 688 | 572 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-84_2003-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-84.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-84.pdf | AGVE_2003_84 | null | nan |
8f9a632b-4e38-52bb-9f7c-d07eb21f9893 | 1 | 412 | 871,558 | 1,244,073,600,000 | 2,009 | de | 2009
Verwaltungsrechtspflege
295
57 Verjährung
-
Die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche des kantonalen
Rechts regelt das Verwaltungsrechtspflegegesetz.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 30. Juni 2009 in Sachen
K.P. gegen Gemeinde X. (WKL.2007.1).
Aus den Erwägungen
2.
Der in § 38 SubmD vorgesehene Schadenersatz im vergabe-
rechtlichen Rechtsschutz ist eine Haftung aus öffentlichem Recht
und untersteht den vergaberechtlichen Haftungsnormen. Das Sub-
missionsdekret enthält keine Bestimmungen über die Verjährung,
sondern schreibt eine Klagefrist vor (§ 38 Abs. 2 SubmD). Die
Nichteinhaltung der Klagefrist führt als Erlöschungsgrund zum voll-
ständigen Untergang des Schadenersatzanspruchs und damit zur
Verwirkung des Anspruchs. Die Verwirkung ist von der Verjährung
zu unterscheiden (Gauch Peter / Schluep Walter R. / Schmid Jörg /
Heinz Rey, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil,
8. Auflage, Rz. 3574). Das kantonale Recht enthält in § 78a aVRPG
für das öffentliche Recht generelle Verjährungsregeln, soweit keine
Sonderbestimmungen bestehen (AGVE 2001, S. 384, Erw. 7a unter
Hinweis auf die Botschaft des Regierungsrats vom 21. Mai 1990
zum neuen Baugesetz, S. 55 f.). Ein Rückgriff auf allgemeine
Rechtsgrundsätze oder - Lücken füllend - auf die Bestimmungen des
OR als subsidiäres kantonales öffentliches Recht kommt daher nicht
in Betracht (Attilio R. Gadola, Verjährung und Verwirkung im öffent-
liche Recht, in: Aktuelle juristische Praxis [AJP] 1995, S. 49). Zwar
spricht das Gesetz sowohl in § 78a Abs. 1 und Abs. 2 aVRPG von
"Erlöschen" der öffentlichen Forderung, was mit der Verwirkung
gleichzusetzen wäre. Nach der Praxis handelt es sich aber bei den
Fristen in § 78a Abs. 2 aVRPG um Verjährungsfristen (AGVE 2001,
S. 384). Einmalige Leistungen verjähren daher, vorbehaltlich aus-
drücklich abweichender Bestimmungen im Gesetz, innert zehn Jah-
2009
Verwaltungsgericht
296
ren nach Eintritt der Fälligkeit (vgl. die Rechtsprechung vor Erlass
von § 78a aVRPG, in: AGVE 1986, S. 212; AGVE 1979, S. 176 mit
weiteren Hinweisen). Anhaltspunkte dafür, dass mit der Klage- und
Verwirkungsfrist in § 38 SubmD auch die Verjährungsfristen des
§ 78a aVRPG auf ein Jahr verkürzt wurden, können dem Gesetz
nicht entnommen werden.
Auf die vorliegende Frage ist daher § 78a Abs. 2 aVRPG an-
wendbar und somit gilt eine Verjährungsfrist von zehn Jahren, wobei
gemäss § 78a Abs. 2 aVRPG und § 38 Abs. 3 SubmD davon auszu-
gehen ist, dass die Einhaltung der Klagefrist als Anspruchvorausset-
zung gilt und von Amtes wegen zu prüfen ist.
Die Verjährungseinrede ist demgemäss abzuweisen. | 666 | 501 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2009-57_2009-06-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-57.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-57.pdf | AGVE_2009_57 | null | nan |
8fc5711e-ce36-5b68-b964-5e0be3d3df8d | 1 | 412 | 869,773 | 1,275,436,800,000 | 2,010 | de | 2010
Verwaltungsgericht
118
23 Berufskostenabzug für notwendige Mehrkosten für Verpflegung aus-
serhalb der Wohnstätte und bei Schichtarbeit.
Mehrkosten für auswärtige Verpflegung sind nur abziehbar, wenn diese
notwendigerweise mit der Erwerbstätigkeit verknüpft sind (Erw. 2.2).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 16. Juni 2010, in Sachen
KStA gegen G. (WBE.2009.382).
Aus den Erwägungen
1.3.
Auch Mehrkosten für Verpflegung ausserhalb der Wohnstätte
werden vom Reineinkommen nur abgezogen, sofern sie notwendige
Berufskosten darstellen (§ 35 Abs. 1 lit. b StG). Dabei wird von Un-
selbstständigerwerbenden wie dem Beschwerdegegner nicht der
Nachweis verlangt, dass sie sich tatsächlich auswärts verpflegten
(VGE II/17 vom 5. März 2007 [WBE.2006.350], Erw. 3.3, publiziert
in StE 2007 B 22.3 Nr. 92). Der Abzug für Mehrkosten der auswär-
tigen Verpflegung setzt indes voraus, dass der Steuerpflichtige wegen
zu grosser Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsstätte oder wegen
kurzer Essenspause oder Schichtarbeit eine Hauptmahlzeit nicht zu
Hause einnehmen kann (§ 35 Abs. 2 StG i.V.m. § 12 StGV sowie
Art. 6 Abs. 1 der Verordnung über den Abzug von Berufskosten der
unselbstständigen Erwerbstätigkeit bei der direkten Bundessteuer
vom 10. Februar 1993 [Berufskostenverordnung; SR 642.118.1]).
2.
2.1.
2.1.1.
Nach bisheriger Praxis der Vorinstanz galt die Verpflegung zu
Hause als zumutbar, wenn die nach Abzug der Wegzeit verbleibende
Aufenthaltsdauer daheim mindestens 75 Minuten beträgt, sofern die
steuerpflichtige Person die Mittagsmahlzeit selbst zubereiten muss.
Muss sie dies nicht, ist ein Aufenthalt in den eigenen Räumen von
mindestens 45 Minuten erforderlich (Entscheid des Steuerrekursge-
2010
KantonaleSteuern
119
richts vom 26. April 2007 [3-RV.2006.224, Erw. 4.2]; AGVE 1995,
S. 443 ff., AGVE 1981, S. 338).
2.1.2.
Im angefochtenen Entscheid hat die Vorinstanz dem Beschwer-
degegner den Abzug für die Mehrkosten der Verpflegung zugestan-
den. Zur Begründung führte sie an, dass an ihrer bisherigen Recht-
sprechung nicht festzuhalten sei. Es sei eine Tatsache, dass sich die
Gepflogenheiten im Arbeitsalltag verändert hätten. Während früher
die mittägliche Rückkehr nach Hause die Regel gewesen sei, könne
dies in der heutigen Berufswelt nicht mehr gelten. Ein Grossteil der
Berufstätigen lege im Hinblick auf einen frühen Feierabend eine
kurze Mittagspause ein und verpflege sich am Arbeitsort. Hinzu
komme, dass nach gängiger Veranlagungspraxis ein beantragter Ab-
zug auswärtiger Verpflegungskosten regelmässig ohne nähere Über-
prüfung gewährt werde, sofern eine Rückkehr über Mittag nicht ge-
radezu auf der Hand liege. Deshalb erscheine es sachgerecht, von der
bisherigen Praxis insofern abzuweichen, als das strikte Erfordernis
der beruflichen Notwendigkeit zu lockern und bei glaubhaft gemach-
ten Mehrkosten der auswärtigen Verpflegung ein Abzug zu gewähren
sei. Der Beschwerdegegner habe glaubhaft dargetan, sein Mittag-
essen jeweils im Restaurant eingenommen zu haben, weshalb sein
Rekurs gutgeheissen werde.
2.2.
In Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung des KStA ergibt
sich aus den steuergesetzlichen Regelungen zu den Berufskosten
nach wie vor klar, dass solche nur dann zum Abzug zuzulassen sind,
wenn sie mit der Erwerbstätigkeit notwendigerweise verknüpft sind.
Art. 6 Abs. 1 der Berufskostenverordnung macht die Abzugsfähigkeit
der Mehrkosten auswärtiger Verpflegung ausschliesslich davon ab-
hängig, dass der Steuerpflichtige eine Hauptmahlzeit nicht zu Hause
einnehmen kann. Dabei sind gemäss Wortlaut der Bestimmung nur
konkrete, sich auf den einzelnen Steuerpflichtigen beziehende Sach-
umstände massgebend, welche die Länge des Arbeitswegs beeinflus-
sen oder gewisse Regelungen der Arbeitszeit (Essenspause, Schicht-
arbeit) betreffen. Zwar mag es im Sinne der vorinstanzlichen Aus-
führungen zutreffen, dass sich die Verpflegungsgewohnheiten im Ar-
2010
Verwaltungsgericht
120
beitsalltag im Laufe der Zeit verändert haben und sich heute ein er-
heblicher Teil der Berufstätigen am Arbeitsort verpflegt. Es entsprä-
che indessen nicht einer am Gebot der vertikalen Steuerharmo-
nisierung orientierten Auslegung der einschlägigen kantonalen Nor-
men, wenn jedwelche glaubhafte Verpflegungskosten, die mit allge-
mein veränderten Alltagsgewohnheiten einhergehen, ohne weitere
Voraussetzungen zum Abzug zugelassen würden. Es fehlen denn
auch jegliche Hinweise dafür, dass der kantonale Gesetzgeber im
Sinne der vom Steuerrekursgericht vertretenen Auffassung eine vom
Bundesrecht abweichende Lösung hätte treffen wollen. Entschei-
dendes Kriterium für die Gewährung eines Abzugs für auswärtige
Verpflegungsmehrkosten bleibt daher auch bei allfällig veränderten
gesellschaftlichen Verhältnissen einzig, ob die Aufwendungen - auf-
grund der geschilderten Sachumstände im Einzelfall - mit der Ein-
kommenserzielung in unvermeidbarer Weise verbunden sind.
3.
3.1.
Das Verwaltungsgericht hat zur Zumutbarkeit der mittäglichen
Heimkehr bisher keine konkreten zeitlichen Umschreibungen hin-
sichtlich der Gesamtdauer der Mittagspause oder der erforderlichen
Aufenthaltsdauer daheim getroffen.
Das Bundesgericht wies in seinem Entscheid vom 12. Mai 2003
(StE 2003 B 22.3 Nr. 76, Erw. 4.3) darauf hin, dass die kantonalen
Behörden unter Berücksichtigung der regionalen bzw. lokalen Bege-
benheiten Zeitpauschalen festlegen könnten, innerhalb welcher die
Rückkehr nach Hause zur Mittagsverpflegung als zumutbar gelte. Es
billigte dabei die Praxis der Steuerverwaltung Graubünden, wonach
die Verpflegung zu Hause zumutbar sei, wenn für das Mittagessen zu
Hause inklusive Hin- und Rückweg nicht mehr als 90 Minuten benö-
tigt werden und die Aufenthaltsdauer am Mittagstisch mindestens 30
Minuten beträgt. Im konkreten Fall erachtete das Bundesgericht - für
einen alleinstehenden Steuerpflichtigen mit flexiblen Arbeitszeiten -
einen Zeitaufwand von 85 Minuten für das Mittagessen inklusive
Hin- und Rückreise bei einer Aufenthaltsdauer daheim von
50 Minuten zur Zubereitung und Einnahme der Mahlzeit als aus-
reichend.
2010
KantonaleSteuern
121
3.2.
In seiner Rekurseingabe an die Vorinstanz vom 7. Dezember
2009 brachte der Beschwerdegegner vor, zu den normalen Büro-
zeiten zwischen 08.00 Uhr und 12.00 Uhr sowie von 13.00 Uhr bis
17.00 Uhr "plus minus eine Viertelstunde" im Betrieb anwesend sein
zu müssen, da er sowohl für andere interne Abteilungen als auch ex-
tern erreichbar sein sollte. Bereits aus der Formulierung des Be-
schwerdegegners ("plus minus eine Viertelstunde") geht indes her-
vor, dass es sich hierbei nicht um zwingende Fixzeiten handelt. Der
Beschwerdegegner räumte denn im Rekursschreiben auch ein, über
gleitende Arbeitszeit zu verfügen. In seiner Einsprache vom 7. Sep-
tember 2009 an die Steuerkommission führte er noch aus, er verfüge
über "grundsätzlich gleitende Arbeitszeit ohne Fixstunden", wobei er
keine Präsenzzeiten erwähnte. Überdies ist - wie das KStA zu Recht
geltend macht - aus der Zeiterfassungstabelle 2007 ersichtlich, dass
der Beschwerdegegner nicht selten vor 12.00 Uhr - teilweise auch
vor 11.45 Uhr - die Mittagspause beginnt und nach 13.00 Uhr - zu-
weilen auch nach 13.15 Uhr - die Arbeit wieder aufnimmt. Demnach
verfügt der Beschwerdegegner über flexible Arbeitszeiten.
3.3.
Mit dem Fahrrad benötigt der Beschwerdegegner höchstens
neun Minuten für seinen 2 km langen Arbeitsweg. Legt er diesen mit
dem Auto oder einem seiner zwei Motorräder zurück, nimmt dies
rund vier Minuten in Anspruch (Twixroute). Mit dem Bus, den er
nach eigenen Angaben bei Schnee und kaltem Wetter benützt, beläuft
sich die Fahrtdauer auf rund fünf Minuten zuzüglich einiger Minuten
Fussweg. Der Ansicht des Beschwerdegegners, die sich infolge der
stündlichen Busfahrzeiten ergebende Mittagspause von eineinhalb
Stunden sei untragbar, kann nicht gefolgt werden. Vielmehr ergibt
sich aufgrund seines kurzen Arbeitswegs und seiner flexiblen Ar-
beitszeiten, dass eine Rückkehr am Mittag - im Lichte der bundes-
gerichtlichen Rechtsprechung - ohne weiteres als zumutbar er-
scheint.
2010
Verwaltungsgericht
122
4.
Demgemäss ist die Beschwerde des KStA gutzuheissen und
dem Beschwerdegegner der Abzug für die Mehrkosten auswärtiger
Verpflegung zu verwehren. | 1,820 | 1,438 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-23_2010-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-23.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-23.pdf | AGVE_2010_23 | null | nan |
902616c0-aa19-5313-947a-c8faa3299517 | 1 | 412 | 870,408 | 1,022,976,000,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
178
[...]
49
Rechtliches Gehör. Liegenschaftsunterhaltskosten.
-
Werden durch einen fachkundigen Richter neue erhebliche Sachver-
haltselemente eingebracht, muss den Parteien Gelegenheit zur Stel-
lungnahme gegeben werden (Erw. 2).
-
Dem Unterhalt gleichgestellte Energiesparmassnahmen. Erweiterung
der Abzugsfähigkeit durch die Änderung von § 19 Abs. 3 StGV
(Erw. 4).
2002
Kantonale Steuern
179
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 18. Juni 2002 in Sa-
chen H.R.R. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts. Zur Publikation vor-
gesehen in StE 2003.
Sachverhalt
In Abweichung von der Selbstdeklaration wurden unter ande-
rem die für 1996 geltend gemachten Kosten für die Einglasung des
Balkons samt weiteren Isolationsmassnahmen nur teilweise zum
Abzug zugelassen: Malerarbeiten vollständig, Metallbau und Zim-
merei nur zu 1/5, im Einspracheentscheid dann zur Hälfte.
Aus den Erwägungen
2. Der fachkundige Richter des Steuerrekursgerichts, der Ar-
chitekt ist, vertrat die Auffassung, dass sich eine Wärmedämmung
am Haus der Beschwerdeführer kostengünstiger hätte realisieren las-
sen. Er berechnete die für eine Isolation notwendigen Aufwendungen
detailliert (vgl. angefochtener Entscheid, S. 7). Damit wurden neue
Sachverhaltselemente von erheblicher Bedeutung ins Verfahren ein-
geführt, denn zuvor war lediglich abstrakt, ohne jede Konkretisie-
rung von der Möglichkeit einer kostengünstigeren Isolation die Rede
gewesen. Dass das Steuerrekursgericht darauf abstellte, ohne den Be-
schwerdeführern zuvor Gelegenheit zu bieten, dazu Stellung zu neh-
men, verletzte deren Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 1 i.V.m. § 15
VRPG; AGVE 1995, S. 223 mit Hinweisen; vgl. auch die Hinweise
bei Andreas Edelmann, in: Kommentar zur aargauischen Zivilpro-
zessordnung, 2. Auflage, Aarau/Frankfurt a.M./Salzburg 1998, § 253
N 8). Angesichts des Verfahrensausgangs bleibt der Mangel aller-
dings ohne Folgen.
4. a) Gemäss § 24 lit. c Ziff. 3 StG in der Fassung vom
26. Januar 1988 können die Kosten für den Unterhalt von Liegen-
schaften vom Roheinkommen abgezogen werden, wobei der Regie-
rungsrat bestimmt, in welchem Umfang energiesparende und um-
2002
Verwaltungsgericht
180
weltgerechte Massnahmen als Liegenschaftsunterhalt anzuerkennen
sind.
b) aa) § 19 Abs. 3 der Verordnung zum Steuergesetz (StGV;
SAR 651.111) vom 13. Juli 1984 in der alten Fassung vom 11. Juli
1988 umschrieb im Detail, welche konkreten Massnahmen zu wel-
chem Prozentsatz abziehbar seien.
bb) In der früheren Rechtsprechung wurde aus dem energiepo-
litischen Zweck solcher Abzugsmöglichkeiten gefolgert, dass davon
jene baulichen Massnahmen auszunehmen seien, welche in der Regel
ohnehin, das heisst ohne steuerliche Vergünstigungen erstellt worden
wären. Bei baulichen Vorkehren, welche nicht in erster Linie ener-
giesparenden und umweltgerechten Zwecken dienten, dürfe ange-
nommen werden, dass steuerliche Anreize der in Frage stehenden Art
verhältnismässig selten auslösende Wirkung ausübten und dass sie
gegenteils unabhängig davon erstellt würden. Insoweit bedürfe es der
lenkenden Abgabebegünstigung nicht. Wintergärten und ähnliche
Konstruktionen wurden auf Grund dieser Rechtsprechung regelmäs-
sig nicht zum Abzug zugelassen (StE 1995, B 25.6 Nr. 28; vgl. auch
StE 1990, B 25.6 Nr. 19, StE 2000, B 25.7 Nr. 1).
Weiter kam früher ein Abzug als Energiesparmassnahme bei
Wintergärten und ähnlichen Konstruktionen deshalb nicht in Be-
tracht, weil § 19 Abs. 3 Ziff. 1 StGV nur Energiesparmassnahmen,
die, bezogen auf das
Gesamtgebäude
, eine
erhebliche
Wirkung hat-
ten, als abzugsfähig bezeichnete (StE 1995, B 25.6 Nr. 28).
Schliesslich wurden nicht die gesamten Auslagen als Unter-
haltskosten behandelt, wenn im Zuge von dem Unterhalt gleichge-
stellten Energiesparmassnahmen Verbesserungen an der Liegenschaft
vorgenommen wurden. Diesfalls wurde ein durch Schätzung zu er-
mittelnder Teil davon als wertvermehrend betrachtet und war dem-
zufolge nicht abzugsfähig (Jürg Baur, in: Kommentar zum Aargauer
Steuergesetz, Muri/BE 1991, § 24 N 244).
c) § 19 Abs. 3 StGV wurde am 19. Oktober 1994, mit Wirkung
ab der Steuerperiode 1995/96, geändert. Seither sind den Unterhalts-
kosten Investitionen gleichgestellt, "die dem Energiesparen und dem
Umweltschutz dienen, soweit sie bei der direkten Bundessteuer ab-
ziehbar sind." Massgebend wurden damit die in Ausführung von
2002
Kantonale Steuern
181
Art. 32 Abs. 2 DBG vom 14. Dezember 1990 erlassenen Verordnun-
gen des Bundesrats über den Abzug der Kosten von Liegenschaften
des Privatvermögens bei der direkten Bundessteuer (VAKLP;
SR 642.116) vom 24. August 1992 und des Eidgenössischen Fi-
nanzdepartements über die Massnahmen zur rationellen Energiever-
wendung
und
zur
Nutzung
erneuerbarer
Energien
(VMRE;
SR 642.116.1) vom 24. August 1992. Als Investitionen, die dem
Energiesparen und dem Umweltschutz dienen, gelten nach Art. 5
VAKLP Aufwendungen für Massnahmen, welche zur rationellen
Energieverwendung oder zur Nutzung erneuerbarer Energien beitra-
gen. Diese sind in Art. 1 VMRE näher umschrieben. Es geht insbe-
sondere um Massnahmen zur Verminderung der Energieverluste der
Gebäudehülle (lit. a) und Massnahmen zur rationellen Energienut-
zung bei haustechnischen Anlagen (lit. b). Die Auflistung der Mass-
nahmen in Art. 1 lit. a und b VMRE ist nicht abschliessend, womit an
sich Raum bleibt für die steuerliche Berücksichtigung weiterer Mass-
nahmen (Peter Locher, Kommentar zum DBG, I. Teil, Therwil/Basel
2001, Art. 32 N 37; Bernhard Zwahlen, in: Kommentar zum
Schweizerischen
Steuerrecht,
Band
I/2a
[DBG],
Basel/Genf/
München 2000, Art. 32 N 26; StR 2001, S. 284).
Somit sind Investitionen jetzt schon abzugsfähig, wenn sie zur
rationellen Energieverwendung (oder zur Nutzung erneuerbarer
Energien)
beitragen
(Art. 5 VAKLP), und zwar ab dem sechsten Jahr
nach der Anschaffung der Liegenschaft zu 100 % (Art. 8 VAKLP).
Massnahmen zur Wärmedämmung von Böden, Wänden, Dächern
und Decken gegen Aussenklima werden ohne Einschränkung als
abzugsfähige Massnahmen zur rationellen Energieverwendung be-
zeichnet (Art. 1 lit. a Ziff. 1 VMRE); auch die übrigen Beispiele in
Art. 1 lit. a VMRE lassen kaum Einschränkungen erkennen. So wird
beispielsweise der Ersatz von Jalousieläden oder Rollläden unbe-
schränkt zugelassen (Ziff. 5). Angesichts dieser (allerdings
sehr
weit
gehenden) Regelung im Bundesrecht, die kraft Verweises auch auf
kantonaler Ebene gilt, lassen sich die zum früheren Recht entwickel-
ten Einschränkungen der Abzugsfähigkeit nicht aufrecht erhalten.
Eine nachweisbare Wirkung auf das Gesamtgebäude ist nicht mehr
vorausgesetzt; die etappenweise Sanierung schadet der Abzugsfähig-
2002
Verwaltungsgericht
182
keit nicht (vgl. Art. 5 VAKLP). Auch eine Aufteilung nach wertver-
mehrenden und nach energiesparenden Anteilen ist auf Grund der
hundertprozentigen Abzugsmöglichkeit (Art. 8 VAKLP) nicht mehr
zulässig. Insbesondere aber sind Vorkehren, welche wahrscheinlich
auch unabhängig von Energiesparüberlegungen getätigt wurden,
nicht mehr ausgeschlossen. Vielmehr ist heute jede Massnahme,
welche in der VMRE aufgelistet oder deren energiesparende Wir-
kung erwiesen ist, vollumfänglich abzugsfähig. | 1,725 | 1,371 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-49_2002-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-49.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-49.pdf | AGVE_2002_49 | null | nan |
9122e377-2a28-5b58-8a37-ee19d5ec1b06 | 1 | 412 | 871,922 | 988,848,000,000 | 2,001 | de | 2001
Verwaltungsgericht
336
71
Ausschluss eines Anbieters gemäss § 16 Abs. 3 SubmD.
- Wird kein dem Leistungsverzeichnis entsprechendes Hauptangebot,
sondern bloss eine Variante eingereicht, muss die Offerte als ungültig
vom weiteren Verfahren ausgeschlossen werden (Erw. 3/c).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 22. Mai 2001 in
Sachen O. AG gegen die Verfügung des Kantonsspitals A.
Aus den Erwägungen
3 c) Die Beschwerdeführerin hat als Offertversion A zwei Mo-
noblockbrenner (Verbrennungsluftgebläse befindet sich am Brenner)
und als Offertversion B einen Duoblockbrenner mit nur einem Bren-
nerkopf angeboten. Beide Angebote weichen somit klarerweise vom
verlangten Hauptangebot (Duoblockbrenner mit zwei Brennerköp-
fen) ab und sind deshalb als Unternehmervarianten im Sinne von
§ 16 SubmD zu betrachten. Ein dem Leistungsverzeichnis entspre-
chendes Hauptangebot wurde von der Beschwerdeführerin nicht
eingereicht. Richtigerweise hätte die Vergabestelle somit die beiden
Offertversionen von vornherein als ungültig vom weiteren Verfahren
ausschliessen müssen (§ 16 Abs. 3 i. V. m. § 28 Abs. 1 lit. g SubmD;
vgl. VGE III/14 vom 7. Februar 2001 [BE.2000.00405] in Sachen St.
AG, S.
16). Indem sie sie zunächst in den Offertvergleich
miteinbezogen hat, hat sie nicht nur gegen § 16 Abs. 3 SubmD
verstossen, sondern sich auch in Widerspruch zu ihren eigenen Aus-
schreibungsunterlagen gesetzt.
Die beiden ungültigen Angebotsversionen können somit für den
Zuschlag nicht in Betracht kommen, da die Vergabestelle diese in
den Offertvergleich nicht hätte miteinbeziehen dürfen. Dementspre-
chend ist die Beschwerde ohne weitere materielle Prüfung des Ver-
gabeentscheids abzuweisen (vgl. VGE III/30 vom 2. März 2000
[BE.99.00095/96] in Sachen K., S. 15 f.). | 435 | 331 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2001-71_2001-05-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-71.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-71.pdf | AGVE_2001_71 | null | nan |
91374592-7fe3-5536-8419-48503e2f553f | 1 | 412 | 870,722 | 1,438,387,200,000 | 2,015 | de | 2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
94
12
Art. 446 Abs. 1 ZGB; Art. 447 ZGB, Art. 428 ZGB
-
Die Möglichkeit zur nachträglichen Stellungnahme stellt grundsätz-
lich keine den Anforderungen von Art. 447 Abs. 2 ZGB genügendene
Anhörung dar (Erw. II/2.2 und II/3).
-
Ist primär eine kurzzeitige Klinikeinweisung anvisiert, erscheint es
zwingend, dass entweder eine Übertragung der Entlassungszustän-
digkeit an die Einrichtung erfolgt oder in Kürze eine erneute gericht-
liche Überprüfung der fürsorgerischen Unterbringung vorgesehen
wird (Erw. II/5.2).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 25. August
2015 in Sachen A. gegen das Familiengericht X. (WBE.2015.338).
Aus den Erwägungen
II.
2.2.
2.2.1.
Die Erwachsenenschutzbehörde erforscht den Sachverhalt von
Amtes wegen (Art. 446 Abs. 1 ZGB). Sie zieht die erforderlichen Er-
kundigungen ein und erhebt die notwendigen Beweise. Sie kann eine
geeignete Person oder Stelle mit Abklärungen beauftragen. Nötigen-
falls ordnet sie das Gutachten einer sachverständigen Person an
(Art. 446 Abs. 2 ZGB).
2.2.2.
Ein erstes wichtiges Mittel der Sachverhaltserhebung sind Aus-
künfte der Beteiligten. Die Behörde kann solche Auskünfte schrift-
lich einholen, sich die nötigen Informationen aber auch durch münd-
liche Befragungen verschaffen. Abklärungen in Form von persön-
lichen Befragungen haben den Vorteil, dass sie unter Umständen ein
differenzierteres Bild über bestimmte Sachverhaltselemente vermit-
teln. Zudem gewinnt die Behörde einen unmittelbaren, persönlichen
Eindruck von der befragten Person und deren Einstellung. Persön-
liche Befragungen sind vor allem dort nützlich, wo ein auch persön-
liche Aspekte umfassendes Bild einer Person oder Situation erhoben
2015
Fürsorgerische Unterbringung
95
werden muss (C
HRISTOPH
A
UER
/M
ICHLE
M
ARTI
, in: Basler Kom-
mentar, Zivilgesetzbuch I, Art. 1-456 ZGB, 5. Auflage, Basel 2014,
Art. 446 N 11). Gesetzlich vorgeschrieben ist eine persönliche münd-
liche Anhörung der betroffenen Person; vorbehalten sind Fälle, in
denen eine solche Anhörung unverhältnismässig wäre (Art. 447
Abs.1 ZGB). Die persönliche Anhörung verfolgt - wie der Anspruch
auf rechtliches Gehör - zwei Ziele: Zum einen stellt sie ein Mitwir-
kungsrecht der betroffenen Person dar. Zum anderen bildet sie ein
Mittel zur Sachverhaltsabklärung. Das Mitwirkungsrecht ist umfas-
send: Der betroffenen Person ist im Rahmen der persönlichen Anhö-
rung nicht nur in allgemeiner Form von der in Aussicht genommenen
Massnahme Kenntnis zu geben. Vielmehr sind ihr sämtliche
Einzeltatsachen bekannt zu geben, auf die sich die Kindes- und Er-
wachsenenschutzbehörde bei ihrem Entscheid stützen will. Soweit
die Anhörung der Sachverhaltsfeststellung dient, kann auf sie nicht
verzichtet werden, selbst wenn sich die betroffene Person wider-
setzen sollte. Die Behörde hat sich anhand der persönlichen Anhö-
rung einen umfassenden Eindruck von den Zukunftsaussichten und
der jüngeren Vergangenheit der betroffenen Person zu verschaffen,
der ihr mit Blick auf die Geeignetheit, die Notwendigkeit und die
Angemessenheit der Massnahme als Entscheidungsgrundlage dient
(C
HRISTOPH
A
UER
/M
ICHLE
M
ARTI
, a.a.O., Art. 447 N 4 ff.). Für
den Fall, dass eine fürsorgerische Unterbringung in Frage steht, hat
die persönliche Anhörung der betroffenen Person gemäss Art. 447
Abs. 2 ZGB in der Regel durch das Kollegium (der entscheidenden
Behörde) zu erfolgen.
Von einer persönlichen Anhörung der betroffenen Person kann -
wie erwähnt - wegen Unverhältnismässigkeit ausnahmsweise abge-
sehen werden (Art. 447 Abs. 1 ZGB). Ob die Anhörung unverhält-
nismässig erscheint, ist stets im konkreten Einzelfall unter Berück-
sichtigung der gesamten Umstände zu beurteilen. Unverhältnis-
mässigkeit im Sinne von Art. 447 Abs. 1 ZGB kann etwa bei beson-
derer Dringlichkeit vorliegen. In einem solchen Fall ist die Anhörung
bei nächster Gelegenheit nachzuholen. Unverhältnismässig kann die
Anhörung auch dann sein, wenn sich eine urteilsfähige Person einer
solchen widersetzt und sich die Anhörung in der Gewährung des Mit-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
96
wirkungsrechts erschöpfen würde, d.h. nicht gleichzeitig der
Sachverhaltsabklärung dient. Die blosse Passivität der betroffenen
Person entbindet jedoch nicht von der Pflicht zur Anhörung. Eine
persönliche Anhörung kann ferner aufgrund einer Krankheit oder
anderer persönlichkeitsbedingter Gründe des Betroffenen unterblei-
ben. Kommt es auf den persönlichen Eindruck des Betroffenen nicht
(mehr) an, was beispielsweise zutrifft, wenn eine Massnahme aufge-
hoben wird oder wenn bloss ergänzende Anordnungen getroffen wer-
den müssen, braucht es nicht notwendigerweise eine (weitere) Anhö-
rung (C
HRISTOPH
A
UER
/M
ICHLE
M
ARTI
, a.a.O., Art. 447 N 25 ff.).
Ein anderer Ausnahmetatbestand könnte darin erblickt werden, dass
die letzte Anhörung noch nicht lange zurückliegt und sich die
Verhältnisse in der Zwischenzeit kaum verändert haben. Hier ist
allerdings bei fürsorgerischen Unterbringungen Zurückhaltung gebo-
ten, weil sich die Verhältnisse sehr schnell auch grundlegend verän-
dern können.
2.2.3. (...)
3.
3.1.
B. von den sozialen Diensten C. führte Gespräche mit dem
Vater, der Mutter und der Schwester des Beschwerdeführers sowie
mit der pro infirmis. Im Wesentlichen gaben die Auskunftspersonen
an, der Beschwerdeführer sei cannabisabhängig und benötige
Fr. 1'500.00 bis Fr. 2'000.00 pro Monat, um seine Sucht zu befriedi-
gen. Zudem betreibe er Medikamentenmissbrauch. Er lebe bei der
Mutter, welche jedoch grosse Angst vor ihm habe, da er sich aggres-
siv verhalte, ihr drohe und das Mobiliar zerschmettere. Er drohe re-
gelmässig mit Selbstmord und mit vorgängigem Mord an seinen Fa-
milienangehörigen. Niemand wolle dem Beschwerdeführer eröffnen,
dass er bald aus der Wohnung in C. ausziehen müsse, weil die Mutter
in ein Pflegeheim übertrete. Die Selbst- und Fremdgefährdung wurde
von allen Auskunftspersonen als hoch eingestuft. Aufgrund dieser
Aussagen lud B. von den Sozialen Diensten C. den Beschwerdefüh-
rer und seinen Vater, D., mit Schreiben vom 6. August 2015 zu einem
Gespräch bei den Sozialen Diensten in C. am 11. August
2015
ein.
Der Beschwerdeführer sagte dieses Gespräch am Vortag ab.
2015
Fürsorgerische Unterbringung
97
In der Folge ordnete das Familiengericht X. am 11. August
2015 die fürsorgerische Unterbringung des Beschwerdeführers an.
Gleichentags wurde er um 15.10 Uhr von der Gerichtspräsidentin,
einem Fachrichter und der Gerichtsschreiberin in Begleitung von
zwei Stadtpolizisten zuhause besucht. Gemäss der Besprechungsno-
tiz habe der Beschwerdeführer zuerst geweckt werden müssen und es
habe im Anschluss ein Gespräch im Wohnzimmer stattgefunden. Die
Gerichtspräsidentin habe den Beschwerdeführer und die Anwesenden
vorgestellt. Der Fachrichter habe ihm erklärt, es habe von Seiten des
Familiengerichts X. Abklärungen gegeben. Die Mitglieder des Ge-
richts seien bei ihm, um ihm den Entscheid zu eröffnen. Zudem
werde er Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Fachrichter
erklärte dem Beschwerdeführer, dass die Mutter Ende August in ein
Pflegeheim ziehen werde. Er könne dorthin nicht mit. Die Stadtpoli-
zei sei anwesend, um ihn zur weiteren Abklärung der Betreuung und
Behandlung in die Psychiatrische Klinik Königsfelden zu bringen.
Zudem werde ein Beistand eingesetzt, welcher sich unter anderem
um seine Finanzen kümmern werde, da die Mutter das nicht mehr
übernehmen könne. Der Beschwerdeführer habe während des ganzen
Gesprächs schläfrig gewirkt, geseufzt und gemeint, das alles werde
gemacht, ohne dass er etwas sagen könne. Auf die entsprechende
Frage hin habe er gesagt, er habe alles verstanden. Als ihm Gelegen-
heit zur Stellungnahme und zum Stellen von Fragen gegeben worden
sei, habe er zu Protokoll gegeben, er sei mit dem Entscheid nicht ein-
verstanden. Anschliessend habe der Fachrichter das weitere Vorge-
hen erklärt. In der Folge wurden dem Beschwerdeführer Handschel-
len für den Transport angelegt und er wurde in die Psychiatrische
Klinik Königsfelden gebracht. Die Anhörung endete um 15.25 Uhr.
3.2.
Der Beschwerdeführer wurde bis zum Hausbesuch am
11. August 2015 nie angehört. Beim Gespräch, das von 15.10 Uhr bis
15.25 Uhr dauerte, wurde der Beschwerdeführer vor vollendete Tat-
sachen gestellt (vgl. Besprechungsnotiz: "Man sei hier, um ihm den
Entscheid zu eröffnen") und konnte nur noch eine nachträgliche Stel-
lungnahme abgeben. Es erfolgte somit keine den Anforderungen von
Art. 447 ZGB genügende Anhörung. Eine der in Erw. 2.2.2 vorne an-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
98
geführten Ausnahmesituationen, in welchen auf eine Anhörung ver-
zichtet werden kann, lag nicht vor. Weder bestand besondere Dring-
lichkeit noch standen - soweit aus den Akten ersichtlich - einer
Anhörung persönlichkeitsbedingte Hindernisse auf Seiten des Be-
schwerdeführers entgegen. Die einmalige Absage des Gesprächs bei
den Sozialen Diensten C. kann auch nicht als Verweigerung gewertet
werden, an einer Anhörung durch das Familiengericht teilzunehmen.
Da somit feststeht, dass das Gespräch am 11. August 2015 nicht als
Anhörung gemäss Art. 447 ZGB qualifiziert werden kann, erübrigen
sich Ausführungen dazu, dass nur (aber immerhin) die Mehrheit des
entscheidenden Kollegiums anwesend war. Entscheidend ist, dass
aufgrund der zeitlichen Abfolge die mitwirkenden Richter keine Ge-
legenheit hatten, den Beschwerdeführer vor der Entscheidfindung
persönlich kennenzulernen und auf diese Weise einen eigenen, un-
mittelbaren Eindruck von seinem Wesen sowie seiner gesundheitli-
chen und sozialen Situation zu erlangen bzw. sich so von der Richtig-
keit und Angemessenheit der angeordneten Massnahme zu überzeu-
gen. Dadurch sind die Parteirechte des Beschwerdeführers in grund-
legender Weise missachtet worden; zudem konnte durch dieses Vor-
gehen der Sachverhalt nicht korrekt abgeklärt werden. Demzufolge
ist der angefochtene Entscheid des Familiengerichts X. in Gutheis-
sung der vorliegenden Beschwerde aufzuheben.
4. (...)
5.
5.1.
Festzuhalten ist des Weiteren Folgendes: Die Zuständigkeit für
die Entlassung aus einer fürsorgerischen Unterbringung richtet sich
danach, wer die Unterbringung angeordnet hat. Hat die Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde die Unterbringung verfügt, ist sie ge-
mäss Art. 428 Abs. 1 ZGB grundsätzlich auch für die Entlassung zu-
ständig. Wurde die Unterbringung von einem Arzt angeordnet, ent-
scheidet die Einrichtung über die Entlassung (Art. 429 Abs. 3 ZGB).
Im Gesetz ist vorgesehen, dass die Kindes- und Erwachsenenschutz-
behörde im Einzelfall die Zuständigkeit für die Entlassung der Ein-
richtung übertragen kann (Art. 428 Abs. 2 ZGB). Die Möglichkeit
der Delegation der Entlassungszuständigkeit entspricht der geltenden
2015
Fürsorgerische Unterbringung
99
Praxis. Damit soll sichergestellt werden, dass der Patient sofort ent-
lassen wird, wenn dies aus medizinischer Sicht möglich ist und die
Klinik nicht zuerst einen Antrag an die Kindes- und Erwachsenen-
schutzbehörde stellen muss. Die Übertragung kann nur im Einzelfall
erfolgen und nicht in einer generell-abstrakten Norm festgehalten
werden (Botschaft Erwachsenenschutz, BBl 2006, S. 7064; T
HOMAS
G
EISER
/M
ARIO
E
TZENSBERGER
, in: Basler Kommentar, Zivilgesetz-
buch I, Art. 1-456 ZGB, 5. Auflage, Basel 2014, Art. 428 N 8 f.).
Weitere Hinweise, unter welchen Voraussetzungen die Entlassungs-
zuständigkeit im Einzelfall an die Einrichtung übertragen werden
kann, lassen sich aus dem Bundesrecht nicht ableiten.
5.2.
Die fürsorgerische Unterbringung wurde vorliegend primär an-
geordnet, um dem Beschwerdeführer die Kündigung der Wohnung
und den Wegzug der Mutter zu vermitteln bzw. um seine Reaktion,
die als schwer abschätzbar taxiert wurde, in einem stationären Rah-
men auffangen zu können. Es kann vorliegend offen gelassen wer-
den, ob aufgrund dieser speziellen Konstellation, verbunden mit der
befürchteten Fremd- und Selbstgefährdung (vgl. die entsprechenden
Aussagen der Familienangehörigen, vorne Erw. 3.1), ausnahmsweise
auf die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens verzichtet wer-
den durfte. Jedenfalls erscheint es zwingend, dass in derartigen
Fällen, die primär auf eine kurzzeitige Klinikeinweisung abzielen,
entweder eine Übertragung der Entlassungszuständigkeit an die Psy-
chiatrische Klinik Königsfelden erfolgt oder in Kürze eine erneute
gerichtliche Überprüfung der fürsorgerischen Unterbringung vorge-
sehen wird.
Das Familiengericht verzichtete explizit auf die Übertragung
der Entlassungszuständigkeit an die Psychiatrische Klinik Königsfel-
den und ordnete an, dass eine erneute gerichtliche Überprüfung erst
nach der maximalen Dauer von sechs Monaten erfolgen werde. Die-
ses Vorgehen lässt sich mit dem Ziel, das mit der fürsorgerischen Un-
terbringung angestrebt wurde, nicht vereinbaren. Der angefochtene
Entscheid erweist sich folglich auch aus diesem Grund als unverhält-
nismässig. | 2,813 | 2,372 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-12_2015-08-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-12.pdf | AGVE_2015_12 | null | nan |
915c0eb6-afd9-54a3-8560-8c7e484163e5 | 1 | 412 | 870,026 | 1,514,764,800,000 | 2,018 | de | 2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
60
5
Schwerwiegende Verletzung des Beschleunigungsgebots
Die unverhältnismässig lange Verfahrensdauer von mehr als sieben Jah-
ren seit der letzten Widerhandlung sowie der Umstand, dass der Be-
schwerdeführer mittlerweile seit mehr als acht Jahren keine strassenver-
kehrsrechtlichen Widerhandlungen mehr begangen hat, führen dazu,
dass ein Warnungsentzug keine spezialpräventive beziehungsweise er-
zieherische Wirkung mehr entfaltet. Es ist von der Anordnung einer
Administrativmassnahme abzusehen.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 31. Januar
2018, in Sachen Y. gegen das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau und
das Departement Volkswirtschaft und Inneres (WBE.2017.381).
2018
Strassenverkehrsrecht
61
Aus den Erwägungen
II.
1.
1.1.
Dem angefochtenen Entscheid liegt im Wesentlichen folgender
Sachverhalt zugrunde:
a)
Am 30. Juli 2006 missachtete der Beschwerdeführer auf der Autobahn A2
in Basel die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um netto 29 km/h.
b)
Am 16. September 2007, 20.01 Uhr, überschritt der Beschwerdeführer in
Dürrenäsch die allgemeine Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 80 km/h um
netto 32 km/h.
c)
Am 8. Dezember 2007 war der Beschwerdeführer um ca. 17.20 Uhr in
Seon, ausserorts, mit seinem Personenwagen mit ca. 80 km/h unterwegs. Als
er aus der Mittelkonsole Kaugummis behändigen wollte oder aus einem ande-
ren Grund abgelenkt war und seine Aufmerksamkeit nicht mehr der Strasse
zugewandt hatte, geriet er auf die Gegenfahrbahn. Der Lenker des entgegen-
kommenden Personenwagens konnte eine Frontalkollision nur durch ein Aus-
weichmanöver in den an die Strasse angrenzenden Acker verhindern, als er
bemerkt hatte, dass der Beschwerdeführer die Gefahr seines Manövers nicht
erkannt hatte und keine Korrektur vornahm.
d)
Am 22. April 2009 um 8.50 Uhr herrschte in Spreitenbach auf der Auto-
bahn A1 in Fahrtrichtung Zürich Staulage mit Stop and Go -Verkehr auf
allen drei Fahrstreifen. Mindestens 300-400 m vor der Ausfahrt Dietikon fuhr
der Beschwerdeführer mit seinem Personenwagen auf dem Pannenstreifen mit
einer Geschwindigkeit von ca. 50-60 km/h an der auf der rechten Fahrspur
sich gebildeten Kolonne rechts vorbei, wobei er die Warnblinkanlage einge-
schaltet hatte. Der Polizeifunktionär eines überholten zivilen Polizeifahrzeugs
nahm unverzüglich die Verfolgung des Beschwerdeführers auf, worauf dieser
trotz eingeschaltetem Blaulicht und der Matrix Stopp Polizei erst anhielt,
nachdem er auf dem Pannenstreifen weitere geschätzte 20 Autos überholt
hatte.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
62
1.2.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet der mit Verfü-
gung des Strassenverkehrsamtes vom 5. August 2016 angeordnete
und von der Vorinstanz mit Entscheid vom 3. Juli 2017 bestätigte
dreimonatige Warnungsentzug des Führerausweises. Der Sachverhalt
sowie dessen Qualifikation sind unbestritten und zutreffend.
2.
(...)
3.
3.1.
3.1.1.
Die Vorinstanz führte im Wesentlichen aus, dass die Verwal-
tungsbehörde grundsätzlich mit dem Erlass einer Administrativmass-
nahme zuzuwarten habe, bis ein rechtskräftiges Strafurteil vorliege.
Das Abwarten des rechtskräftigen Abschlusses des Strafverfahrens
durch das Strassenverkehrsamt, das eine Gesamtmassnahme erwogen
habe, sei nicht zu beanstanden. Die lange Dauer des Strafverfahrens
sei nicht absehbar gewesen und das Strassenverkehrsamt habe sich
regelmässig um Akteneinsicht bemüht. Die lange Verfahrensdauer sei
vorliegend insbesondere auf das Strafverfahren zurückzuführen, wo-
bei eine Verletzung des Beschleunigungsgebots bereits festgestellt
und das Strafmass entsprechend reduziert worden sei. Ab Eingang
der Strafakten beim Strassenverkehrsamt habe dieses innerhalb eines
halben Jahres die Verfügung erlassen. Die Verletzung des Anspruchs
auf Beurteilung innert angemessener Frist wiege deshalb insgesamt
nicht derart schwer, dass auf den Entzug des Führerausweises
verzichtet werden könne. Der Verletzung des Beschleunigungsgebots
werde dadurch Rechnung getragen, dass die Mindestentzugsdauer
nicht erhöht worden sei. Schliesslich sei auch nicht ersichtlich, dass
der Entzug des Führerausweises unter den gegebenen Umständen
wegen des Zeitablaufs keine erzieherische Wirkung mehr zeitigen
würde.
3.1.2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Verfahrensdauer vor
dem Strassenverkehrsamt sei für sich allein genommen irrelevant.
Massgebend sei die gesamte Dauer von Straf- und Mass-
2018
Strassenverkehrsrecht
63
nahmeverfahren. Das Verfahren habe seit der dritten Widerhandlung
vom 8. Dezember 2007 und der vierten Widerhandlung vom
22. April 2009 die Grenze zur schweren Verletzung des Beschleu-
nigungsgebots deutlich überschritten, weshalb keine behördliche
Bindung an die Mindestentzugsdauer angezeigt sei. Aufgrund der
grossen Zeitspanne könne die Massnahme ihren Sinn und Zweck -
die Erziehung und Besserung des Beschwerdeführers - nicht mehr
erfüllen. Vielmehr habe sich der verkehrserzieherische Zweck
vorliegend bereits erfüllt, da sich der Beschwerdeführer in den
letzten siebeneinhalb Jahren klaglos und gesetzestreu verhalten habe.
Ausserdem seien gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
die strafrechtlichen Verjährungsregeln heranzuziehen, da das SVG
die Verjährung für den Warnungsentzug nicht regle. Gemäss Art. 97
lit. c StGB sei die strafrechtliche Verfolgungsverjährung nach sieben
Jahren eingetreten. Dies habe zur Folge, dass im Zeitpunkt der
Verfügung vom 5. August 2016 die massnahmerechtliche Verfol-
gungsverjährung eingetreten gewesen sei. Konsequenterweise müsse
deshalb von einer Massnahme abgesehen werden, da der mass-
nahmerechtliche Sanktionsanspruch des Staates untergangen sei.
3.2.
Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungs-
instanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf
Beurteilung innert angemessener Frist (Art. 29 Abs. 1 BV). Ein sol-
ches Recht ergibt sich auch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Die Beurtei-
lung der angemessenen Verfahrensdauer entzieht sich starren Regeln.
Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob sich die Dauer unter den kon-
kreten Umständen als angemessen erweist. Der Streitgegenstand und
die damit verbundene Interessenlage können raschere Entscheide er-
fordern oder längere Behandlungsperioden erlauben. Zu berück-
sichtigen ist der Umfang und die Komplexität der aufgeworfenen
Sachverhalts- und Rechtsfragen, das Verhalten des Beschuldigten
und dasjenige der Behörden (z.B. unnötige Massnahmen oder Lie-
genlassen des Falles) sowie die Zumutbarkeit für den Beschuldigten.
Die Parteien dürfen von ihren prozessualen Rechten Gebrauch ma-
chen, müssen sich aber dadurch verursachte Verfahrensverzöge-
rungen anrechnen lassen. Von den Behörden und Gerichten kann zu-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
64
dem nicht verlangt werden, dass sie sich ständig einem einzigen Fall
widmen. Zeiten, in denen das Verfahren stillsteht, sind unumgäng-
lich. Wirkt keiner dieser Zeitabschnitte stossend, ist eine Gesamtbe-
trachtung vorzunehmen. Dabei können Zeiten mit intensiver behörd-
licher oder gerichtlicher Tätigkeit andere Zeitspannen kompensieren,
in denen aufgrund der Geschäftslast keine Verfahrenshandlungen er-
folgten (Urteil des Bundesgerichts vom 19. März 2012
[1C_486/2011], Erw. 2.2.).
Das Administrativmassnahmenrecht des Strassenverkehrsge-
setzes wurde per 1. Januar 2005 verschärft. Gemäss Art. 16 Abs. 3
Satz 2 SVG darf die Mindestentzugsdauer nun nicht mehr unter-
schritten werden. Ziel der Revision war eine einheitlichere und
strengere Ahndung von schweren und wiederholten Widerhand-
lungen gegen Strassenverkehrsvorschriften (Botschaft vom
31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes [SVG],
BBl 1999 4485). Die besonderen Umstände des Einzelfalls, nament-
lich die Gefährdung der Verkehrssicherheit, das Verschulden, der
Leumund als Motorfahrzeugführer sowie die berufliche Notwendig-
keit, ein Motorfahrzeug zu führen, sollen nur bis zur gesetzlich
vorgeschriebenen Mindestentzugsdauer berücksichtigt werden kön-
nen (vgl. Art. 16 Abs. 3 Satz 1 SVG). Zu den bei der Festsetzung des
Führerausweisentzugs zu berücksichtigenden Umständen zählt wie
unter dem früheren Recht auch die Verletzung des Anspruchs auf Be-
urteilung innert angemessener Frist (Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1
EMRK; siehe auch BBl 1999 4486, wo auf die entsprechende frühere
Bundesgerichtspraxis, eingeführt mit BGE 120 Ib 504 hingewiesen
wird). Entsprechend kommt die Unterschreitung der Mindestentzugs-
dauer wegen einer Verletzung dieses Anspruchs nicht in Frage. Eine
andere Frage ist, ob bei einer schweren Verletzung des Anspruchs auf
Beurteilung innert angemessener Frist, der nicht in anderer Weise
Rechnung getragen werden kann, ausnahmsweise gänzlich auf eine
Massnahme verzichtet werden kann. Diese Frage ist vom Bundesge-
richt bis anhin offen gelassen worden (BGE 135 II 334, Erw. 2 mit
Hinweisen).
3.3.
2018
Strassenverkehrsrecht
65
Eine Unterschreitung der Mindestentzugsdauer wegen Verlet-
zung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist ist ge-
mäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht zulässig. Des-
halb ist die Frage zu beurteilen, ob es sich vorliegend um eine
schwere Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemes-
sener Frist handelt und somit zu prüfen ist, ob ein gänzlicher Verzicht
auf die Anordnung einer Massnahme in Betracht kommt.
Vorliegend wurde die leichte Widerhandlung vom 30. Juli 2006
mit Strafbefehl vom 14. August 2007 rechtskräftig abgeurteilt. Das
Strafverfahren dauerte etwas mehr als ein Jahr. Die Strafakten zu die-
sem Vorfall gingen am 15. Januar 2008 beim Strassenverkehrsamt
ein. Weil aber der Beschwerdeführer in der Zwischenzeit bereits
zwei weitere Widerhandlungen begangen hatte, erwog das Strassen-
verkehrsamt den Erlass einer Gesamtmassnahme. Bis zur (zweitin-
stanzlichen) Beurteilung der drei schweren Widerhandlungen mit Ur-
teil vom 12. November 2015 vergingen - ausgehend vom ersten Vor-
fall vom 16. September 2007 - insgesamt rund acht Jahre und zwei
Monate. Die lange Dauer des Verfahrens ist insbesondere auf die auf-
wendige, sechs Jahre dauernde Untersuchung bis zur Anklageerhe-
bung zurückzuführen, wobei die lange Dauer auf die vorgeworfenen
Delikte, die ausserhalb des Strassenverkehrsrechts liegen, zurück-
zuführen ist. Anschliessend verstrichen weitere anderthalb Jahre bis
zum erstinstanzlichen Strafurteil. Sowohl das Strafgericht als auch
das Kantonsgericht stellten eine Verletzung des Beschleunigungs-
gebots durch die Anklagebehörde fest. Das Urteil des Kantons-
gerichts Schwyz ging am 17. Februar 2016 beim Strassenverkehrs-
amt ein. In der Folge wurde dem Beschwerdeführer das rechtliche
Gehör am 26. Februar 2016 gewährt, wobei der Beschwerdeführer
am 23. Mai 2016 zu der in Aussicht gestellten Massnahme Stellung
nahm. In der Folge erliess das Strassenverkehrsamt die angefochtene
Verfügung am 5. August 2016.
Auch wenn das Strassenverkehrsamt mit seinem Entscheid über
eine Warnungsmassnahme grundsätzlich zuzuwarten hat, bis ein
rechtskräftiges Strafurteil vorliegt (BGE 119 IB 158, Erw. 2c/bb), be-
steht diese Pflicht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung je-
doch nicht, wenn im zu beurteilenden Fall hinsichtlich des Sachver-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
66
halts keine ernsthaften Zweifel ersichtlich sind und die Strafbehörde
innert vernünftiger Frist nicht reagiert bzw. sich das Strafverfahren
so lange verzögert, dass möglicherweise nicht vor Eintritt der Verjäh-
rung mit einem rechtskräftigen Strafurteil zu rechnen ist (Urteil des
Bundesgerichts vom 7. Juni 2001 [6A.121/2000], Erw. 3). Der Sach-
verhalt des Vorfalls vom 30. Juli 2006 war nicht umstritten, lag doch
mit Datum vom 14. August 2007 ein rechtskräftiger Strafbefehl vor.
Auch die Sachverhalte, die das Kantonsgericht zu beurteilen hatte,
waren zumindest vor Kantonsgericht nicht umstritten und aufgrund
der Polizeirapporte konnte das Strassenverkehrsamt keine ernsthaften
Zweifel an den Sachverhalten haben. Aufgrund der langen Verfah-
rensdauer und insgesamt achtzehn Akteneinsichtsgesuchen des
Strassenverkehrsamts an die Strafverfolgungs- und Gerichtsbehörden
des Kantons Schwyz war für das Strassenverkehrsamt ausserdem
nicht absehbar, ob das Strafurteil vor Eintritt der Verjährung ergehen
würde, weshalb es ausnahmsweise eine Administrativmassnahme vor
der strafrechtlichen Beurteilung hätte anordnen können und müssen.
Dies gilt im vorliegenden Fall unabhängig von einem Sistierungs-
gesuch, ist es doch das Strassenverkehrsamt, dem die Hoheit über
das Verfahren zukommt und das für die Erledigung der Verfahren
innert angemessener Frist zu sorgen hat.
Durch das Verstreichen von sieben Jahren und dreieinhalb Mo-
naten, die zwischen der letzten Widerhandlung und dem Erlass der
Verfügung des Strassenverkehrsamts liegen, verliert das öffentliche
Interesse an einer Sanktionierung des fehlbaren Verhaltens stark an
Bedeutung (BERNHARD RÜTSCHE, in: MARCEL ALEXANDER
NIGGLI/THOMAS PROBST/BERNHARD WALDMANN [Hrsg.], Basler
Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz, Basel 2014, Art. 16 N 94).
Der spezialpräventive Zweck im Sinne einer abschreckenden Wir-
kung nimmt mit fortschreitender zeitlicher Distanz zum Vorfall ab
(PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und
Ordnungsbussengesetz, Zürich/St. Gallen 2015, Art. 16 N 33). Dem
Beschwerdeführer kann die lange Verfahrensdauer nicht vorgeworfen
werden. In Anbetracht des geschilderten Verfahrenslaufs ist der An-
spruch auf Beurteilung innert angemessener Frist schwer verletzt,
2018
Strassenverkehrsrecht
67
wie das bereits das erstinstanzliche Strafgericht sowie das Kantons-
gericht Schwyz festgestellt haben.
Zu diesem Ergebnis führt auch ein Vergleich mit den
strafrechtlichen Verjährungsfristen (vgl. BGE 120 Ib 504, Erw. 4d,
sowie 127 II 297, Erw. 3d, wonach die fehlende Regelung der Folgen
eines langen Zeitablaufs auf den Führerausweisentzug eine echte
Lücke darstellt; vgl. auch AGVE 2012, S. 93, wonach die sinnge-
mässe Anwendung der strafrechtlichen Verjährungsfristen geboten
ist, solange nicht eindeutig einer Behörde ein krasser Verstoss gegen
das Beschleunigungsgebot vorgeworfen werden kann), beträgt doch
die Verfolgungsverjährung für eine Verletzung der Verkehrsregeln im
Sinne von Art. 90 Ziff. 2 aSVG sieben Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. c
StGB i.V.m. Art. 90 Ziff. 2 aSVG).
Im Sinne der herrschenden Lehre sollte zumindest in einem
schweren Fall der Verletzung des Beschleunigungsgebots auf eine
Massnahme verzichtet werden können (WEISSENBERGER, a.a.O.,
Art. 16 N 32 f.; HANS GIGER, SVG Kommentar, Zürich 2014, Art. 16
N 25). Die unverhältnismässig lange Verfahrensdauer sowie der Um-
stand, dass der Beschwerdeführer mittlerweile seit mehr als acht Jah-
ren keine strassenverkehrsrechtlichen Widerhandlungen mehr be-
gangen hat, führen dazu, dass durch den verfügten Warnungsentzug
Sinn und Zweck der Massnahme nicht mehr erfüllt werden und ein
Warnungsentzug nach so langer Dauer keine spezialpräventive bezie-
hungsweise erzieherische Wirkung mehr entfaltet. Folglich sind in
Gutheissung der Beschwerde der angefochtene Entscheid vom 3. Juli
2017 und damit auch die Verfügung des Strassenverkehrsamts vom
5. August 2016 aufzuheben und ist von der Anordnung einer Admi-
nistrativmassnahme abzusehen. | 3,305 | 2,628 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2018-5_2018-01-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2018-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2018-5.pdf | AGVE_2018_5 | null | nan |
916eff98-bb1c-539f-a518-d6c1c66fc1a2 | 1 | 412 | 870,917 | 1,470,182,400,000 | 2,016 | de | 2016
Bau-, Raumentwicklungs -und Umweltschutzrecht
171
[...]
28
Wassernutzung: Konzession und Projektgenehmigung
-
Je separate Zuständigkeit der beteiligten Kantone zur Konzessionie-
rung und Bewilligung von Wasserkraftwerken bei interkantonaler
Gewässernutzung
-
Das aargauische Recht sieht für Wasserkraftwerke grundsätzlich ein
einstufiges Konzessions- und Projektgenehmigungsverfahren vor, in
welchem die Umweltverträglichkeitsprüfung und die Koordination
erfolgen.
-
Massnahmen zum Fischschutz (d.h. für Fischauf- und -abstieg), wel-
che sich auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse abstützen und
technisch machbar sind, sind notwendiger Bestandteil der Projektge-
nehmigung; es besteht keine Pflicht, Massnahmen, deren Eignung
und Realisierbarkeit aufgrund des aktuellen Forschungsstandes
nicht nachgewiesen sind, im Umweltverträglichkeitsbericht zu prü-
fen; in Bereichen, wo Forschungsbedarf besteht und in den nächsten
Jahren mit Ergebnissen und verbesserten Lösungen zu rechnen ist,
sind Vorbehalte in der Konzession zu prüfen.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 23. August 2016 in Sa-
chen A. und weitere gegen B. AG und Regierungsrat (WBE.2015.131).
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
172
Aus den Erwägungen
I.
1. (...)
2.
Die Gewässerhoheit über die Aare steht im Bereich der Was-
sernutzung durch das Kraftwerk Aarau dem Kanton Solothurn und
dem Kanton Aargau gemeinsam zu (Art. 76 Abs. 4 Satz 1 BV). Die
Verleihung der Nutzungsrechte erfolgt gemeinsam durch die Kantone
Solothurn und Aargau als verfügungsberechtigte Gemeinwesen
(Art. 3 Abs. 1 WRG). Das Bundesrecht sieht vor, dass sich die Kan-
tone über die interkantonale Gewässernutzung durch ein einzelnes
Wasserkraftwerk einigen können. Bei Uneinigkeit ist eine Entschei-
dung der Bundesbehörde vorgesehen (Art. 76 Abs. 5 BV; 38 Abs. 2
WRG). Liegt ein Gewässer, dessen Nutzung ein Dritter beabsichtigt,
auf dem Gebiet mehrerer Kantone, muss von jedem dieser Gemein-
wesen das Recht auf Sondernutzung erhältlich gemacht werden
(M
ICHAEL
M
ERKER
,
in:
B
RIGITTA
K
RATZ
/M
ICHAEL
M
ERKER
/R
ENATO
T
AMI
/S
TEFAN
R
ECHSTEINER
/K
ATHRIN
F
ÖHSE
[Hrsg.], Kommentar zum Energierecht, Band I, Bern 2016, Art. 38
N 4). Die interkantonale Einigung kann in verschiedenen Formen des
Verwaltungshandelns erfolgen (vgl. dazu R
ICCARDO
J
AGMETTI
,
Energierecht, in: H
EINRICH
K
OLLER
/G
EORG
M
ÜLLER
/R
ENÉ
R
HINOW
/U
LRICH
Z
IMMERLI
[Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwal-
tungsrecht, Band VII, Basel 2005, Ziffern 4115 ff.). Die subsidiäre
Bundeszuständigkeit bei der Verleihung von Wasserrechten an inter-
kantonalen Gewässerstrecken greift, wenn sich die Kantone nicht
innert angemessener Frist über die Konzessionierung einigen können
(M
ERKER
, in: Kommentar zum Energierecht, a.a.O., Art. 38 N 4).
Im vorliegenden Fall wurde das Konzessionsverfahren je für
den Kanton Aargau und für den Kanton Solothurn durchgeführt; für
die Verleihung an die Beschwerdegegnerin ist eine von beiden
Kantonen gemeinsam unterzeichnete Konzessionsurkunde vorge-
sehen. Die Genehmigung der Nutzungsplanung "Konzessionserneue-
rung und Ausbau Wasserkraftwerk (...)" durch den Regierungsrat des
Kantons Solothurn erfolgte (unter anderem) unter der aufschieben-
2016
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
173
den Bedingung, dass der Regierungsrat des Kantons Aargau das Ge-
samtprojekt genehmigt und die "zugehörige Konzession (...) in Kraft
gesetzt wird". Der Beschluss des Kantonsrats Solothurn betreffend
Konzessionserteilung steht unter der gleichen aufschiebenden Bedin-
gung. Der angefochtene Entscheid des Regierungsrats des Kantons
Aargau steht ebenfalls unter dem interkantonalen Koordinationsvor-
behalt.
Werden mehrere Kantone durch die Verleihung von Wasserrech-
ten berührt, so ist das Verfahren in jedem Kanton nach dessen Vor-
schriften durchzuführen (Art. 61 Abs. 1 WRG). Die von den Kanto-
nen Solothurn und Aargau durchgeführten getrennten, koordinierten
Bewilligungsverfahren entsprechen somit den bundesrechtlichen
Vorgaben. Die beidseits angeordneten interkantonalen Bedingungen
sowie die geplante Umsetzung der Entscheide in einer gemeinsamen
Konzessionsurkunde gewährleisten die Einheit der Konzession.
Voraussetzung für die Unterzeichnung der Konzessionsurkunde ist,
dass die Konzessionierungs- und Projektbewilligungsverfahren in
beiden Kantonen rechtskräftig abgeschlossen sind.
Die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit der kantonalen
(Rechtsmittel-)Verfahren schliessen aus, dass die Beschwerdelegi-
timation im Kanton Aargau von der Erhebung von Rechtsmitteln
gegen die (parallelen) Entscheide im Kanton Solothurn abhängig
gemacht wird. Der Antrag der Beschwerdegegnerin auf Nicht-
eintreten wegen fehlender Anfechtung der Entscheide im Kanton
Solothurn ist daher abzuweisen. Von der Legitimation zu un-
terscheiden ist die materielle Frage, ob das Verwaltungsgericht bei
einer allfälligen Gutheissung der Beschwerde mehr als die von den
Beschwerdeführern beantragte Aufhebung der Konzessionserteilung
und Projektgenehmigung des (aargauischen) Regierungsrats anord-
nen kann.
3.-5. (...)
II.
1.
Die nachgesuchte Konzession für das Wasserkraftwerk Aarau
erfolgt auf den Zeitpunkt des Konzessionsablaufs, weshalb unabhän-
gig von einer Erweiterung des Kraftwerks eine neue Konzession er-
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
174
teilt werden muss. Die im Zeitpunkt der Konzessionserneuerung gel-
tenden Umweltschutzvorschriften sind grundsätzlich uneinge-
schränkt anzuwenden (vgl. G
IERI
C
AVIEZEL
, Wasserrechtskonzes-
sionen und Umweltrecht, in: ZBl 105/2004, S. 90 f. mit Verweis auf
BGE 119 Ib 254, Erw. 5b; J
AGMETTI
, a.a.O., Ziffer 4215).
Das geplante Laufkraftwerk ist eine Anlage im Sinne von Art. 7
Abs. 7 USG mit einer Leistung von mehr als 3 MW. Gemäss
Ziff. 21.3 des Anhangs zur UVPV ist daher das Kraftwerk Aarau der
Umweltverträglichkeitsprüfung unterstellt (vgl. Art. 10a Abs. 2 und 3
USG in Verbindung mit Art. 1 UVPV). Bei Energieanlagen ist eine
mehrstufige Umweltverträglichkeitsprüfung vorgesehen, wobei das
massgebliche Verfahren für die zweite Stufe durch das kantonale
Recht bestimmt werden kann (BGE 140 II 262, Erw. 4.1). Wie be-
reits erwähnt, sieht das massgebende kantonale Verfahrensrecht ein
einstufiges Verfahren vor (§ 29 Abs. 1 lit. a WnG). Die Beschwerde-
gegnerin hat keinen Antrag auf ein getrenntes Verfahren für Konzes-
sionserteilung und Projektgenehmigung gestellt (vgl. § 29 Abs. 1
lit. b WnG; Botschaft des Regierungsrats des Kantons Aargau an den
Grossen Rat vom 2. Mai 2007, Neues Wassernutzungsgesetz, Bericht
und Entwurf zur 1. Beratung, GR.07.106 [nachfolgend Botschaft
WnG], S. 37; M
ICHAEL
M
ERKER
, Wasserkraft und Wasserkraft-
nutzung,
in:
G
IOVANNI
B
IAGGINI
/I
SABELLE
H
ÄNER
/U
RS
S
AXER
/M
ARKUS
S
CHOTT
[Hrsg.], Fachhandbuch Verwaltungsrecht,
Zürich 2015, Rz. 11.102; E
NRICO
R
IVA
, Wasserkraftanlagen: Anfor-
derungen an die Vollständigkeit und Präzision des Konzessionsent-
scheids, in: URP 2014, S. 9).
Die Beurteilung der Umweltverträglichkeit im einstufigen
Verfahren ist grundsätzlich einfacher möglich, weil das konkrete
Bauprojekt vorliegt und nicht bloss ein generelles Konzessionspro-
jekt. Gemäss Art. 32 Abs. 4 EG UWR darf auf die mehrstufige UVP
verzichtet werden, wenn in der ersten Stufe eine umfassende Beurtei-
lung der Umwelt möglich ist. Das einstufige Verfahren ist auch für
die Erteilung von Wassernutzungskonzessionen durch den Bund
vorgesehen (Art. 62 WRG; vgl. dazu Botschaft zu einem Bundesge-
setz über die Koordination und Vereinfachung der Plangeneh-
migungsverfahren vom 25. Februar 1998, 98.017, in: BBl 1998 III
2016
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
175
2601 f.; J
AGMETTI
, a.a.O, Ziffer 4434; R
ETO
H
ÄGGI
F
URRER
, in:
Kommentar zum Energierecht, a.a.O., Vorbem. zu Art. 62-62k N 10).
2.
Die Erstellung einer Wasserwerkanlage bedarf nicht nur der
Verleihung der Wasserkraftnutzung, sondern auch der Erteilung
weiterer Bewilligungen, so namentlich der gewässerschutzrecht-
lichen, der fischereirechtlichen und der naturschutzrechtlichen Be-
willigung. Es entspricht dem Koordinationsgebot, dessen Beachtung
unter anderem die UVP dient (Art. 14 und 21 UVPV; BGE 119 Ib
254, Erw. 6b; 116 Ib 260, Erw. 1b und c), wenn die Regierung als
Genehmigungs- und Bewilligungsbehörde mit ihrem Entscheid die
Umweltverträglichkeit des Werkes feststellt.
Der Regierungsrat, dem sämtliche Pläne des Bauprojekts vorla-
gen (vgl. Projektdossier), erteilte die umstrittene Projektgenehmi-
gung gestützt auf folgende Bewilligungen:
- fischereirechtliche Bewilligung
- Rodungsbewilligung
- gewässerschutzrechtliche Bewilligungen
- Bewilligung zum Einbau eines Koaleszenzabscheiders
- Ausnahmebewilligung für die Beseitigung von Ufervegetation
- Bewilligung für Bauten und Anlagen innerhalb des Gewässer
raums
- Bewilligung für Bauten und Anlagen ausserhalb Bauzonen.
Mit diesem Vorgehen hat der Regierungsrat dem Koordinations-
gebot Genüge getan. Dessen Verletzung wird nicht gerügt.
3.
3.1.
Wer eine Anlage, die der UVP untersteht, planen, errichten oder
ändern will, muss der zuständigen Behörde einen Umweltverträglich-
keitsbericht (UVB) unterbreiten (Art. 10b Abs. 1 Satz 1 USG). Der
Bericht enthält alle Angaben, die zur Prüfung des Vorhabens nach
den Vorschriften über den Schutz der Umwelt nötig sind, und um-
fasst folgende Punkte: a) den Ausgangszustand; b) das Vorhaben,
einschliesslich der vorgesehenen Massnahmen zum Schutze der Um-
welt und für den Katastrophenfall, sowie einen Überblick über die
wichtigsten allenfalls vom Gesuchsteller geprüften Alternativen;
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
176
c) die voraussichtlich verbleibende Belastung der Umwelt (Art. 10b
Abs. 2 USG; die zitierte Fassung von lit. b trat per 1. Juni 2014, mit-
hin erst nach der Erstellung des UVB, in Kraft). Das Konzessions-
und Genehmigungsgesuch datiert vom 9. September 2013; am
19. August 2014 reichte die Beschwerdeführerin korrigierte Pläne
ein. Der Regierungsrat entschied am 18. Februar 2015 über die Ein-
sprachen und das Konzessions- und Projektgenehmigungsgesuch.
Damit gelangt die zitierte Bestimmung in der aktuellen Fassung zur
Anwendung. Der Bericht muss insbesondere alle Angaben enthalten,
welche die zuständige Behörde benötigt, um gemäss Art. 3 UVPV
die Umweltverträglichkeit des Projekts überprüfen zu können (Art. 9
Abs. 2 UVPV). Er muss die der geplanten Anlage zurechenbaren
Auswirkungen auf die Umwelt sowohl einzeln als auch gesamthaft
und in ihrem Zusammenwirken ermitteln und bewerten (Art. 9
Abs. 3 UVPV).
Die Umweltschutzfachstellen beurteilen die Voruntersuchung
und den Bericht und beantragen der für den Entscheid zuständigen
Behörde die zu treffenden Massnahmen (Art. 10c Abs. 1 Satz 1
USG). Bei Projekten, zu denen nach dem Anhang das Bundesamt für
Umwelt (BAFU) anzuhören ist, nimmt dieses gestützt auf die
Beurteilung der kantonalen Umweltschutzfachstelle summarisch zu
Voruntersuchung, Pflichtenheft und Bericht Stellung (Art. 12 Abs. 3
UVPV).
3.2.
Der vorliegenden Konzessionierung und Projektgenehmigung
liegen insbesondere folgende umwelt- und gewässerschutzrechtliche
Berichte zu Grunde:
- Bericht über die Umweltverträglichkeit - UVB Haupt-
untersuchung
- Beilagen zur UVB Hauptuntersuchung (mit einem
Fachbericht Gewässerökologie und Fische sowie einer
Fischbestandserhebung Entleerung Oberwasserkanal)
- Restwasserbericht
- Definitive Beurteilung durch die Umweltschutzfachstel-
len der Kantone Aargau und Solothurn
- Stellungnahme des BAFU
2016
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
177
Somit wurden die gemäss den einschlägigen Vorgaben von
USG und UVPV notwendigen Berichte eingeholt. Ebenso ist die vor-
geschriebene Beurteilung durch die Umweltschutzfachstellen der
Kantone Aargau und Solothurn erfolgt. Schliesslich hat das BAFU
die erforderliche Stellungnahme erstattet.
4.
4.1.
Die Beschwerdeführer beanstanden insbesondere eine Verlet-
zung von Art. 9 Abs. 1 lit. b und d des Bundesgesetzes über die
Fischerei vom 21. Juni 1991 (BGF; SR 923.0), Art. 23 WRG und
Art. 10b Abs. 2 lit. b USG. Sie verlangen namentlich eine vertiefte
Prüfung von sämtlichen bekannten technischen und betrieblichen
Fischschutz- und Fischabstiegsmassnahmen beim Maschinenhaus
(unter Berücksichtigung von Louvers, Bar Racks, Horizontalrechen
mit Bypass, Feinrechen mit Bypass, Feinrechen mit Fischheberinne
sowie fischfreundlicher Turbinen). Auf der Grundlage des vorliegen-
den UVB sei eine seriöse Überprüfung der vorgesehen Massnahmen
nicht möglich, weil er die angedachten Massnahmen zum Fisch-
schutz nicht genügend detailliert ausarbeite, für die abschliessende
Beurteilung ein Fachgutachten fehle und trotz der Fortschritte in der
Forschung zum Fischabstieg lediglich auf eine generelle Nicht-Reali-
sierbarkeit entsprechender Anlagen bei Grosswasserkraftwerken ver-
wiesen werde. Aus dem UVB gehe lediglich hervor, dass zur Proble-
matik des Fischabstiegs insbesondere für grössere Fische und Aale
keine Art. 9 Abs. 1 lit. b und d BGF genügende Lösung gefunden
werden konnte. Der Fischabstieg erfolge beim Hauptkraftwerk über
die Turbinen. Das Mortalitätsrisiko sei auch bei den geplanten Turbi-
nen hoch. Der UVB enthalte keine detaillierten Ausführungen zur
Umsetzbarkeit und Wirksamkeit von Abstiegsmassnahmen wie bei-
spielsweise dem Einbau fischfreundlicher Turbinen oder der Erstel-
lung von Fischabstiegsanlagen. Art. 9 Abs. 1 lit. b BGF verlange
Massnahmen zur Sicherstellung der freien Fischwanderung flussauf-
und flussabwärts. Nach Art. 9 Abs. 1 lit. d BGF sei zu verhindern,
dass Fische und Krebse beim Passieren der Anlagen getötet oder ver-
letzt würden. In der Replik wird zusätzlich ausgeführt, im Rahmen
der Umweltverträglichkeitsprüfung seien Variantenvergleiche von
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
178
Fischabstiegsanlagen und detaillierte Abklärungen durch Fachexper-
ten zu tätigen. Es müssten auch neue und innovative Lösungsansätze
berücksichtigt werden.
Weiter bemängeln die Beschwerdeführer, dass die Einstiege zu
den Fischaufstiegshilfen am linken Ufer nicht korrekt platziert seien.
Deren Lage sei mit weitergehenden Modellversuchen und Mes-
sungen zu überprüfen. Am rechten Ufer bestehe ein ungünstiger Ein-
mündungswinkel, wobei der Einstieg ebenfalls zu weit vom Wander-
hindernis entfernt sei. Zur Sicherstellung der Fischwanderung seien
angepasste Lockströmungen erforderlich. Generell seien die bisher
erfolgten Abklärungen betreffend Verbesserung des Fischschutzes,
Reduktion der Fischmortalität und Fischabstiegsmassnahmen
ungenügend.
4.2.
Der Regierungsrat erwog, Fischabstiegsmassnahmen seien
aktuell Gegenstand der Forschung und Entwicklung. Damit
Anpassungen - gestützt auf gesicherte Erkenntnisse - vorgenommen
werden könnten, werde die Konzessionärin verpflichtet, zum Schutze
der Fische alle zweckmässigen Massnahmen zu treffen, geeignete
Einrichtungen zu erstellen und diese bei Bedarf zu verbessern. Ferner
könnten die zuständigen Behörden zu Lasten der Konzessionärin An-
passungen an den jeweiligen Stand der Technik und Gesetzgebung
verfügen. Darin eingeschlossen seien auch Massnahmen für den
Fischabstieg beim Maschinenhaus.
Zu den Fischaufstiegsmassnahmen erwog die Vorinstanz, sie
seien das Resultat zahlreicher Fachgespräche und erfüllten nach
heutigem Kenntnisstand die gestellten Anforderungen. Die Einstiege
seien so ausgestaltet, dass die Lockstromverhältnisse je nach den Er-
kenntnissen der Erfolgskontrolle nachträglich angepasst werden
könnten. Die Resultate weitergehender Modellversuche wären in-
folge zahlreicher Annahmen mit Unsicherheiten behaftet und
Möglichkeiten zur Anpassung der Strömungsverhältnisse dennoch
vorzusehen.
5.
5.1.
2016
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
179
Die zur Erteilung der fischereirechtlichen Bewilligung zuständi-
gen Behörden haben unter Berücksichtigung der natürlichen
Gegebenheiten und allfälliger anderer Interessen insbesondere alle
Massnahmen vorzuschreiben, die geeignet sind, günstige Lebens-
bedingungen für die Wassertiere zu schaffen (Art. 9 Abs. 1 lit. a
BGF); die freie Fischwanderung sicherzustellen (lit. b); die natür-
liche Fortpflanzung zu ermöglichen (lit. c); zu verhindern, dass
Fische und Krebse durch bauliche Anlagen oder Maschinen getötet
oder verletzt werden (lit. d). Mit diesen Zielsetzungen hat das um-
weltschutzrechtliche Vorsorgeprinzip in der Fischereigesetzgebung
eine strenge Ausgestaltung erfahren. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung gehören zu den wesentlichen Massnahmen nament-
lich die Ausgestaltung des Fischpasses und die Massnahmen zur Ab-
weisung der Fische vor Turbinen. Dies gilt insbesondere, wenn es
sich um ein bedeutsames Fischaufstiegsgewässer für gefährdete
Fischarten handelt (Urteil des Bundesgerichts vom 15. März 2002
[1A.104/2001], Erw. 4.4). Für den Fischaufstieg sind Fischpässe von
Bedeutung (J
AGMETTI
, a.a.O., Ziffer 4317 mit Hinweis). Die Recht-
sprechung anerkennt ferner die Wirksamkeit von Umgehungsgewäs-
sern zur Verbesserung von Fischauf- und -abstieg (Urteil des
Bundesgerichts vom 15. März 2002 [1A.104/2001], Erw. 4.5.3).
Die aufgrund der fischereirechtlichen Bewilligung erforderli-
chen Massnahmen müssen grundsätzlich bereits in der Bewilligung
vorgeschrieben werden und ihre Anordnungen gehören zu deren not-
wendigen Inhalt (vgl. Art. 9 Abs. 3 BGF; Urteil des Bundesgerichts
vom 29. Oktober 2001 [1A.331/2000], Erw. 3a/5d). Es ist allerdings
denkbar, dass Einzelheiten der in Art. 9 Abs. 1 BGF aufgezählten
Massnahmen nicht schon bei der Projektierung, sondern erst auf-
grund zu sammelnder Erfahrungen festgelegt werden können (vgl.
R
IVA
, a.a.O., S. 16 f.).
5.2.
Soweit sich Massnahmen zum Fischschutz, mithin auch im Zu-
sammenhang mit dem Fischabstieg, auf gesicherte wissenschaftliche
Erkenntnisse abstützen und technisch machbar sind, sind diese not-
wendiger Bestandteil der Projektgenehmigung. Ebenso sind sie - ge-
stützt auf den UVB - im Rahmen der UVP zu würdigen. Die Ver-
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
180
pflichtung zur Realisierung der Massnahmen erfolgt im einstufigen
Verfahren über entsprechende Auflagen in der Projektgenehmigung.
Wie gesehen (vorne Erw. 5.1) statuiert Art. 9 Abs. 1 BGF weit-
gehende Massnahmen zugunsten des Fischschutzes. Daraus darf
indessen nicht abgeleitet werden, dass beim Fehlen von gesicherten
wissenschaftlichen Grundlagen die entsprechenden Forschungsarbei-
ten gewissermassen "am Projekt" vorzunehmen bzw. im Rahmen des
UVB zu erbringen sind. Die Rechtsprechung hat erkannt, dass keine
Pflicht besteht, "ein Paket aller für den Schutz der Fischerei in einem
bestimmten Wasserlauf denkbaren Massnahmen umzusetzen"
(J
AGMETTI
, a.a.O., Ziffer 4318, Fn 471a mit Hinweis). Dies ergibt
sich letztlich auch aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 BGF, ist doch
darin explizit festgehalten, dass die angeordneten Massnahmen
"geeignet" sein müssen. Ungeeignete Massnahmen bzw. Massnah-
men, deren Eignung und Realisierbarkeit nicht nachgewiesen sind
und sich aufgrund des aktuellen Forschungsstandes auch nicht nach-
weisen lassen, fallen daher ausser Betracht. Demzufolge besteht
a priori auch keine Pflicht, derartige Massnahmen im Rahmen von
Art. 10b Abs. 2 lit. b USG zu prüfen, wobei offen gelassen werden
kann, ob diese Bestimmung - entgegen deren Wortlaut - überhaupt
eine Prüfung von Alternativen zu den bereits vorgesehenen Massnah-
men verlangt.
5.3.
Immerhin sind in jenen Bereichen, wo Forschungsbedarf be-
steht und in den nächsten Jahren mit Ergebnissen und verbesserten
Lösungen zu rechnen ist, Vorbehalte in der Konzession zu prüfen.
Die Konzession verschafft dem Konzessionär nach Massgabe des
Verleihungsaktes ein wohlerworbenes Recht auf die Benutzung des
Gewässers (Art. 43 Abs. 1 WRG). Aufgrund der grundsätzlichen Ge-
setzesbeständigkeit sind allgemeine Vorbehalte der künftigen Gesetz-
gebung zwar unbeachtlich. Der Umfang wohlerworbener Rechte
kann indessen durch genau umschriebene Vorbehalte in der Konzes-
sion eingeschränkt werden (vgl. C
AVIEZEL
, a.a.O., S. 73 f. mit Ver-
weis auf BGE 119 Ib 254, Erw. 9d). Sind in der Konzession spätere
Entscheide aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse
beispielsweise im Zusammenhang mit dem Fischschutz vorbehalten,
2016
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
181
können diese zu gegebener Zeit ausserhalb des Konzessionsverfah-
rens getroffen werden (vgl. J
AGMETTI
, a.a.O., Ziffern 4214 und
4505). Die Rechtsprechung erachtet Vorbehalte in der Konzession im
Bereich der Fischerei jedenfalls als beachtlich, soweit entsprechende
Massnahmen wirtschaftlich voraussehbar, planbar und letztlich trag-
bar sind (vgl. zum Ganzen: M
ERKER
, in: Kommentar zum Energie-
recht, a.a.O., Art. 43 N 7 und 15 mit Hinweisen).
Grundsätzlich ist die Zulässigkeit derartiger nachlaufender Ver-
fahren selbst dann gegeben, wenn sie in der Spezialgesetzgebung
nicht ausdrücklich vorgesehen sind. Wesentlich ist, dass im nachlau-
fenden Verfahren die Parteirechte wie etwa der Anspruch auf rechtli-
ches Gehör umfassend zu wahren sind. Weiter ist der Entscheid in
eine Verfügung zu kleiden. Den Parteien ist überdies der Rechts-
schutz im gleichen Umfang zu gewähren wie gegen die Projektge-
nehmigung selbst. In sachlicher Hinsicht muss sich die zu ver-
feinernde Projektplanung an die vorausgehende Projektgenehmigung
halten; diese kann im nachfolgenden Verfahren nicht mehr in Frage
gestellt werden. Schliesslich muss sichergestellt sein, dass die
Anforderungen des Enteignungsrechts gewahrt bleiben (Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2012 [A-567/2012],
Erw. 3.4.3 mit zahlreichen Hinweisen und Erw. 3.4.6).
5.4.
Aus den obigen Ausführungen folgt, dass entgegen dem Vor-
bringen der Beschwerdeführer im UVB nicht alle möglichen tech-
nischen und betrieblichen Massnahmen einer Überprüfung hinsicht-
lich "einer technischen Machbarkeit" unterzogen werden müssen.
Vielmehr haben die geplanten fischereirechtlichen Massnahmen und
allenfalls im UVB aufzuzeigende Alternativen dem aktuellen Stand
der Technik zu entsprechen und sind daher auf gesicherte wissen-
schaftliche Erkenntnisse (insbesondere betreffend Wirksamkeit und
technische Realisierbarkeit) angewiesen. Im Weiteren ist es zulässig,
dass die zuständige Behörde unter bestimmten Voraussetzungen (vgl.
vorne Erw. 5.3) Anpassungen an allfällige spätere neue Erkenntnisse
vorbehält. Dies ist im vorliegenden Verfahren unbestritten. | 5,202 | 4,068 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2016-28_2016-08-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2016-28.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2016-28.pdf | AGVE_2016_28 | null | nan |
91f555c0-77d5-5d14-8fd8-5d9d4769b522 | 1 | 412 | 869,784 | 1,462,060,800,000 | 2,016 | de | 2016
Fürsorgerische Unterbringung
95
I. Fürsorgerische Unterbringung
14
Ambulante Massnahme
-
Unterschied ambulante Massnahmen - Nachbetreuung (Erw. II/1.1)
-
Bei der Anordnung ambulanter Massnahmen und der Anordnung
einer Nachbetreuung muss das konkrete Medikament genannt sein
(Präzisierung der Praxis von AGVE 2000, S. 188; Erw. II/5).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 17. Mai
2016 in Sachen A. gegen den Entscheid des Familiengerichts X.
(WBE.2016.179).
Aus den Erwägungen
II.
1.
1.1.
Nachdem das Bundesgericht im Urteil vom 7. Oktober 2013
(5A_666/2013) in einem den Beschwerdeführer betreffenden Verfah-
ren auf den Inhalt einer Nachbetreuung eingegangen ist, rechtfertigt
es sich vorliegend, auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten einer
Nachbetreuung und von ambulanten Massnahmen einzugehen. Die
Kantone regeln die Nachbetreuung und die ambulanten Massnahmen
(Art. 437 ZGB). Im Kanton Aargau ist die Nachbetreuung in
§ 67k ff. EG ZGB und sind die ambulanten Massnahmen in § 67n
EG ZGB geregelt. Die Nachbetreuung und die ambulanten Massnah-
men unterscheiden sich einzig durch den Zeitpunkt der Anordnung
und nicht durch deren Inhalt. Während die Nachbetreuung im An-
schluss an einen stationären Aufenthalt angeordnet wird, erfolgt die
Anordnung ambulanter Massnahmen nicht direkt im Nachgang zu
einem solchen sondern zur Verhinderung einer Klinikeinweisung
(Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Schweizerischen Zivil-
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
96
gesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht;
nachfolgend: Botschaft Erwachsenenschutz] vom 28. Juni 2006,
BBl S. 7071; Botschaft des Regierungsrats des Kantons Aargau an
den Grossen Rat vom 27. April 2011, 11.153, S. 72, 75).
Um die Einweisung in eine Einrichtung zu vermeiden, kann die
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bei einer Person, die an
einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder
schwer verwahrlost ist, ambulante Massnahmen gegen den Willen
der betroffenen Person anordnen, wenn die nötige Behandlung oder
Betreuung nicht anders erfolgen kann. § 67k Abs. 1 EG ZGB gilt
sinngemäss. Sie lässt ihren Entscheid gegebenenfalls der Beiständin
oder dem Beistand zukommen. Ambulante Massnahmen sind auf
höchstens zwölf Monate zu befristen. Sie fallen spätestens mit Ab-
lauf der festgelegten Dauer dahin, wenn keine neue Anordnung der
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde vorliegt (§ 67n EG ZGB).
In § 67k EG ZGB ist statuiert, dass bei Rückfallgefahr beim Austritt
(aus der Einrichtung) eine Nachbetreuung vorzusehen ist. Im Rah-
men der Nachbetreuung sind jene Massnahmen zulässig, die geeignet
erscheinen, einen Rückfall zu vermeiden, namentlich die (a) Ver-
pflichtung, regelmässig eine fachliche Beratung oder Begleitung in
Anspruch zu nehmen oder sich einer Therapie zu unterziehen, (b)
Anweisung, bestimmte Medikamente einzunehmen, (c) Anweisung,
sich alkoholischer Getränke oder anderer Suchtmittel zu enthalten
und dies gegebenenfalls mittels entsprechender Untersuchungen
nachzuweisen (Abs. 1). Stimmt die betroffene Person der Nach-
betreuung zu, trifft die Einrichtung mit ihr im Rahmen des Aus-
trittsgesprächs eine schriftliche Vereinbarung über die Durchführung
der Nachbetreuung. Ist diese Vereinbarung sachgerecht, wird sie im
Entlassungsentscheid genehmigt (Abs. 2). Fehlt die Zustimmung der
betroffenen Person oder ist die Nachbetreuungsvereinbarung gemäss
Abs. 2 nicht sachgerecht, entscheidet die für die Entlassung zustän-
dige Stelle über die Nachbetreuung (Abs. 3).
Die Auffassung des Bundesgerichts (Urteil des Bundesgerichts
vom 7. Oktober 2013 [5A_666/2013], Erw. 3.1-3.3) wonach Art. 437
Abs. 1 ZGB (Nachbetreuung) die Behandlung des Betroffenen nicht
umfasse, sondern in erster Linie aus freiwilligen Angeboten oder
2016
Fürsorgerische Unterbringung
97
anderen behördlichen Anordnungen bestehen sollte, widerspricht der
Auffassung des Gesetzgebers (Botschaft Erwachsenenschutz,
S. 7071).
1.2. (...)
2.-4. (...)
5.
Schliesslich ist festzuhalten, dass die Vorinstanz zu Recht auf
einen Widerspruch zwischen dem Urteil des Verwaltungsgerichts
vom 20. August 2013 (WBE.2013.384) und dem Urteil vom 22. Ap-
ril 2016 (WBE.2016.163) hinweist. Wenn im Urteil vom 20. August
2013 (WBE.2013.384, S. 11) unter Hinweis auf AGVE 2000, S. 188
ausgeführt wurde, was die konkrete Medikamentenwahl und -dosis
anbelangt, so gelte auch unter dem neuen Recht die noch unter dem
alten Recht entwickelte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts,
dass das Gericht grundsätzlich nicht zur Beurteilung der konkreten
ärztlichen Anordnungen zuständig sei, weil die Wahl des Medika-
mentes, die Dosierung, die Behandlungsart, die Wahl der Abteilung
etc., in den Fachbereich der Ärzte gehöre, so ist dies zutreffend für
die Dauer der fürsorgerischen Unterbringung in einer Psychiatri-
schen Klinik (so auch AGVE 2000, S. 169). Der Entscheid des Ver-
waltungsgerichts vom 20. August 2013 sowie AGVE 2000, S. 188
sind allerdings dahingehend zu präzisieren, dass bei der Anordnung
einer Nachbetreuung oder einer ambulanten Massnahme das Medi-
kament zu bezeichnen ist, welches die betroffene Person einnehmen
oder sich durch Depotspritzen verabreichen lassen muss. Selbst-
redend gilt die bisherige Rechtsprechung insofern, als dass ein
Familiengericht bei einer Anordnung (bzw. das Verwaltungsgericht
bei der Überprüfung) einer ambulanten medikamentösen Behandlung
(sei es in der Form einer Nachbetreuung gemäss § 67m EG ZGB
oder einer ambulanten Massnahme gemäss § 67n EG ZGB) auf den
Bericht und den Antrag des behandelnden Psychiaters abstellt, und
nur dann etwas anderes anordnet, wenn gemäss einem psychiatri-
schen Gutachten die beantragte Massnahme aus medizinischer Sicht
offensichtlich fragwürdig oder unverhältnismässig ist (so auch
AGVE 2000, S. 169). Während es im Rahmen einer stationären
psychiatrischen Behandlung regelmässig zu einem Wechsel der
2016
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
98
Medikation kommen kann, ist es für die von einer ambulanten Mass-
nahme betroffene Person von grosser Bedeutung, genau zu wissen,
welches Medikament ihr gegen ihren Willen verabreicht wird.
(Hinweis: Das Bundesgericht trat auf eine Beschwerde in
Zivilsachen gegen diesen Entscheid nicht ein; Urteil des Bundesge-
richts vom 6. Juli 2016 [5A_497/2016]) | 1,399 | 1,161 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2016-14_2016-05-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2016-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2016-14.pdf | AGVE_2016_14 | null | nan |
92c72ac2-dea1-5b2d-a3cf-59cef54dd419 | 1 | 412 | 869,747 | 1,051,833,600,000 | 2,003 | de | 2003
Straf- und Massnahmenvollzug
99
II. Straf- und Massnahmenvollzug
31
Bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug (Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB).
- Es ist nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig, die bedingte
Entlassung von der Sicherstellung sofortiger Ausreise/Ausweisung aus
der Schweiz abhängig zu machen. Begründungspflicht hinsichtlich
dieser Voraussetzungen (Erw. 2/c, 3).
- Zeitpunkt der Entlassung bei Gutheissung der Beschwerde (Erw. 4).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 23. Mai 2003 in Sa-
chen L.S. gegen Verfügung des Departements des Innern.
Aus den Erwägungen
(Für die Grundsätze der bedingten Entlassung auf Grund der
neueren Rechtsprechung vgl. AGVE 2002, S. 159 ff.)
2. c) aa) Nur unter besonderen Voraussetzungen ist es zulässig,
die bedingte Entlassung mit der sofortigen Ausreise aus der Schweiz
zu verknüpfen und die Entlassung zu verweigern, wenn die Ausreise
oder die Ausschaffung nicht sichergestellt ist (AGVE 1995, S. 268
ff., auch zum Folgenden). Nebenbestimmungen müssen sich, um
zulässig zu sein, aus dem mit dem Gesetz verfolgten Zweck, aus
einem mit der Hauptanordnung in unmittelbarem Sachzusammen-
hang stehenden öffentlichen Interesse ergeben. Bei der Prüfung der
bedingten Entlassung steht das Ziel der Resozialisierung im Vorder-
grund. Bei unterschiedlicher Resozialisierungsprognose (schlecht,
wenn der Entlassene in der Schweiz bleibt; gut oder jedenfalls bes-
ser, wenn er ausgewiesen wird und in sein Heimatland zurückkehrt)
kann deshalb die bedingte Entlassung selber davon abhängig ge-
macht werden, dass die Ausschaffung aus der Schweiz möglich und
sichergestellt ist; der erforderliche sachliche Zusammenhang ist kla-
rerweise gegeben. Ein derartiger Sachverhalt lag einem Entscheid
2003
Verwaltungsgericht
100
des Bundesgerichts vom 3. November 2000 (6A.78/2000) zu
Grunde, wo festgehalten wurde, nur wenn eine gute Prognose beim
Verbleib in der Schweiz zu Recht verneint worden sei, dürfe die be-
dingte Entlassung von der gleichzeitigen Ausschaffung (dort durch
Vollzug der Landesverweisung) abhängig gemacht werden (BGE,
Erw. 2 a.E.; vgl. auch Marianne Heer-Hensler/Hans Wiprächtiger,
Ausgewählte Fragen bei der Entlassung aus dem Strafvollzug und
dem Massnahmenvollzug, in: Brennpunkt Strafvollzug, Festschrift
zum 25-jährigen Jubiläum des Schweizerischen Ausbildungszen-
trums für das Strafvollzugspersonal, Bern 2002, S. 55).
bb) Besonders problematisch ist es, wenn (noch) gar keine
rechtskräftige Landesverweisung bzw. Fernhaltemassnahme seitens
der zuständigen Behörden (Strafgericht, Fremdenpolizei) vorliegt,
deren Vollzug sicherzustellen wäre. Zwar wird sich auch dann eine
Verbindung der bedingten Entlassung mit der Ausschaffung aus der
Schweiz nicht völlig ausschliessen lassen, aber sie bedarf einer be-
sonders überzeugenden Begründung. Wenn das Strafgericht - wie
hier - auf die Ausfällung einer unbedingten Landesverweisung ver-
zichtet hat, ergibt sich dies aus der grundsätzlichen Verbindlichkeit
des Strafurteils für die Strafvollzugsbehörden (AGVE 2000, S. 131).
Wurde die Landesverweisung bzw. Fernhaltemassnahme zwar ange-
ordnet, aber angefochten und ist sie deshalb noch nicht rechtskräftig,
so ist zu beachten, dass Nebenbestimmungen bei der bedingten Ent-
lassung nicht dazu dienen dürfen, die ordentlichen Rechtsmittel zu
unterlaufen, indem die bedingte Entlassung bis zum Abschluss der
Rechtsmittelverfahren verweigert und damit der Gebrauch der ge-
setzlichen Rechtsmittel mit massiven Nachteilen "bestraft" wird
(VGE II/30 vom 9. April 2003 [BE.2003.00056] in Sachen Z.T.,
S. 10).
3. a) In der angefochtenen Verfügung wird ausgeführt, die Be-
währungsaussichten bei einem Verbleib in der Schweiz würden nicht
näher geprüft, da der Beschwerdeführer auf Grund der Entscheide
des Migrationsamtes die Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit
werde verlassen müssen (vgl. auch Vernehmlassung, S. 1 f., wonach
in solchen Fällen die Prognosestellung für den Fall des Verbleibs in
der Schweiz zu aufwändig sei); eine summarische Prüfung zeige
2003
Straf- und Massnahmenvollzug
101
aber, dass der Beschwerdeführer bei einem Verbleib in der Schweiz
gefährdet sei, sich einerseits weiterhin von seinen Eltern aushalten zu
lassen und anderseits wieder in den Kreisen seiner Mittäter zu
verkehren und erneut den Verlockungen einer schnellen Geldbeschaf-
fung zu erliegen.
b) Das Strafgericht hat die Landesverweisung bedingt ausge-
sprochen, sodass auf der strafrechtlichen Seite insoweit keine
Grundlage besteht, die bedingte Entlassung vom Verlassen der
Schweiz abhängig zu machen. In einem solchen Fall bedarf es zudem
guter Gründe, um - anders als das Strafgericht - beim Verbleib in der
Schweiz eine schlechte Legalprognose zu stellen. Die Vorinstanz hat
diese Frage indessen gar nicht eingehend geprüft, und ihre summari-
sche Beurteilung vermag nicht zu überzeugen. Es handelt sich um
die erste Freiheitsstrafe von längerer Dauer, die der Beschwerde-
führer verbüsst. Dieser Umstand stellt einen massgeblichen Unter-
schied zur vorherigen Situation dar; es ist deshalb unzulässig, einfach
darauf abzustellen, dass der Beschwerdeführer straffällig wurde,
sondern vielmehr müsste eingehend und überzeugend dargelegt wer-
den, warum von vornherein feststeht bzw. als sicher anzunehmen ist,
der Strafvollzug habe - für den Fall des Verbleibens in der Schweiz -
seine resozialisierende Wirkung auch in Form der Abschreckung
(Spezialprävention) verfehlt; wie dem Verwaltungsgericht aus ande-
ren Verfahren bekannt ist, geht die Vorinstanz in aller Regel davon
aus, ein erstmaliger und langer Freiheitsentzug erziele eine
abschreckende Wirkung (ein anderer Sachverhalt liegt vor, wenn ein
Verurteilter schon früher
unter gleichen Umständen
, d.h. nach Ver-
büssung von vergleichbar schweren Freiheitsstrafen und bedingter
Entlassung, rückfällig wurde, allenfalls sogar schon mehrfach; vor-
liegend gingen indessen nur geringfügige Strafen voraus). Ausser-
dem kann nicht stillschweigend und als gleichsam selbstverständlich
unterstellt werden, der drohende Vollzug des Strafrestes von einem
Jahr Zuchthaus lasse den Beschwerdeführer völlig unbeeinflusst
(erwähnter VGE vom 9. April 2003, S. 11).
c) Für die Vorinstanz war letztlich die Annahme entscheidend,
dass die verfügte, aber noch nicht rechtskräftige fremdenpolizeiliche
Ausweisung bestehen bleibt. Dieser Beurteilung ist zwar angesichts
2003
Verwaltungsgericht
102
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach die Ausweisung
bei der Verurteilung zu einer mehr als zweijährigen Freiheitsstrafe
praktisch ausnahmslos zulässig ist (BGE 120 Ib 14), schwer zu wi-
dersprechen; doch wurde bereits ausgeführt (vorne, Erw. 2/c/bb),
dass Nebenbestimmungen bei der bedingten Entlassung nicht dazu
dienen dürfen, die ordentlichen Rechtsmittel im fremdenpolizeili-
chen Verfahren zu unterlaufen. Dies mag verfahrensökonomisch
unbefriedigend erscheinen, ist aber bedingt durch das Nebeneinander
zweier Verfahren, die je ihre eigene Rechtsmittelordnung haben.
Verhindern lassen sich derartige Unzukömmlichkeiten dann, wenn
(nach der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung) die fremden-
polizeiliche Ausweisung speditiv genug erfolgen kann, um bereits
vor dem Termin für die bedingte Entlassung in Rechtskraft zu er-
wachsen.
d) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die
bedingte Entlassung als vierte und letzte Etappe des Stufenstrafvoll-
zugs die Regel, von der nur ausnahmsweise "aus guten Gründen"
abgewichen werden darf (BGE 125 IV 115; 124 IV 194; AGVE
2002, S. 159). Solche Gründe sind hier nicht ersichtlich, zumal nicht
überzeugend dargelegt werden konnte, dass der Beschwerdeführer
nach der Entlassung in der Schweiz ungeachtet des erheblichen
Strafrestes umgehend wieder straffällig werden dürfte.
4. Die Beschwerde ist deshalb grundsätzlich gutzuheissen. Eine
Entlassung am 16. April 2003, wie beantragt, war allerdings schon
im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung unmöglich. Bei der Fest-
setzung des Entlassungsdatums ist zudem zu berücksichtigen, dass
das Bundesamt für Justiz legitimiert ist, Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde beim Bundesgericht zu erheben (Art. 103 lit. b OG); es
muss ihm möglich bleiben, einen Weiterzug und damit einhergehend
die Beantragung von vorsorglichen Massnahmen noch vor der Ent-
lassung zu prüfen und gegebenenfalls in die Wege zu leiten. Die
Entlassung ist daher erst 10 Tage nach Zustellung des vorliegenden
Urteils anzuordnen; sie kann früher erfolgen, falls das Bundesamt für
Justiz verbindlich mitteilt, auf ein Rechtsmittel zu verzichten.
2003
Straf- und Massnahmenvollzug
103
Der Vorinstanz steht es frei, ihre Verfügung vom 31. März 2003
mit der Anordnung der Schutzaufsicht und der Erteilung geeigneter
Weisungen zu ergänzen. | 1,860 | 1,556 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-31_2003-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-31.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-31.pdf | AGVE_2003_31 | null | nan |
931acf15-34e0-5f79-9ac2-ef5fc96850ff | 1 | 412 | 871,707 | 1,441,152,000,000 | 2,015 | de | 2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
123
18
§ 42 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 StG
Ausbildungsabzug bei Ausbildungsunterbruch (Tochter schloss Erstaus-
bildung im August 2012 ab, absolvierte Sprachaufenthalt in den USA, be-
gann Zweitausbildung im folgenden Sommer); für 2012 kein Ausbil-
dungsabzug
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 22. September 2015,
i.S. X. gegen KStA (WBE.2014.423).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Für jedes volljährige Kind in Ausbildung, für dessen Unterhalt
die Steuerpflichtigen zur Hauptsache aufkommen, werden gemäss
§ 42 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 StG bei der Steuerberechnung vom Reinein-
kommen Fr. 9'500.00 abgezogen. Die steuerpflichtige Person kommt
für ein Kind dann zur Hauptsache auf, wenn sie mehr als die Hälfte
des Unterhaltes bestreitet (§ 27 StGV).
1.2.
Die Gewährung des Kinderabzuges als Sozialabzug, die Ausge-
staltung als Steuerfreibetrag, gleicht auf schematische Weise die
durch Kinder erhöhten Lebenshaltungskosten bzw. die dadurch redu-
zierte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern aus (D
ANIEL
A
ESCHBACH
, in: M
ARIANNE
K
LÖTI
-W
EBER
/D
AVE
S
IEGRIST
/D
IETER
W
EBER
, Kommentar zum Aargauer Steuergesetz [Kommentar StG],
4. Auflage, Muri-Bern 2015, § 42 N 13). Der Kinderabzug knüpft an
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
124
das Zivilrecht, an die Wirkungen des Kindesverhältnisses gemäss
ZGB an (A
ESCHBACH
, Kommentar StG, § 42 N 24).
1.3.
Nach Art. 277 Abs. 1 ZGB dauert die Unterhaltspflicht der El-
tern bis zur Mündigkeit des Kindes. Hat es dann noch keine ange-
messene Ausbildung, so haben die Eltern, soweit es ihnen nach den
gesamten Umständen zugemutet werden darf, bis zum ordentlichen
Abschluss der entsprechenden Ausbildung für seinen Unterhalt
weiterhin aufzukommen (Art. 277 Abs. 2 ZGB). Als Ausbildung gilt
die unmittelbare oder mittelbare systematische berufliche Ausbil-
dung, wie Anlehre, Berufslehre, Mittel- und Hochschule, ein allfällig
notwendiges Praktikum oder ein notwendiger Kurs. Eine Anstellung
zur Ausbildung kann nur dann als berufliche Ausbildung anerkannt
werden, wenn ein Lehrvertrag abgeschlossen worden ist. Der Besuch
einer Schule gilt in der Regel nur dann als Ausbildung, wenn er min-
destens halbtags stattfindet und sich ohne Unterbruch auf wenigstens
ein halbes Jahr erstreckt (vgl. F
ELIX
R
ICHNER
/W
ALTER
F
REI
/S
TEFAN
K
AUFMANN
/H
ANS
U
LRICH
M
EUTER
, Kommentar zum Zürcher
Steuergesetz, 3. Aufl., Zürich 2013, § 34 N 33). Die Ausbildung ist
grundsätzlich dann abgeschlossen, wenn sie die Aufnahme einer
beruflichen Tätigkeit ermöglicht und das Kind einen angemessenen
Lebensunterhalt zu verdienen in der Lage ist (A
ESCHBACH
,
Kommentar StG, § 42 N 26 mit Hinweisen; P
ETER
L
OCHER
, in:
Kommentar zum DBG, Basel 2001, Art. 35 N 32). Unter Art. 277
Abs. 2 ZGB fällt grundsätzlich nur der Abschluss der beruflichen
Erstausbildung, auch wenn eine Zweitausbildung, Weiterbildung und
Zusatzausbildung als nützlich angesehen werden können (BGE 118
II 97).
1.4.
Die steuerliche Berücksichtigung einer Zweitausbildung wird
von Lehre und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Nach der
einen Auffassung entfällt der Kinderabzug, wenn seitens der Eltern
keine gesetzliche Unterhaltspflicht mehr besteht (StE 2002 BE/DBG
B 29.3 Nr. 19). Insoweit die angemessene Ausbildung nach Art. 277
Abs. 2 ZGB auch eine Zweitausbildung umfasst - sie erweitert die
Grundausbildung, vertieft sie oder setzt sie zwingend oder alternativ
2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
125
voraus -, ist auch die steuerliche Berücksichtigung über den Kin-
derabzug gewährleistet (StE 2001 ZH B 29.3 Nr. 17; vgl. auch
R
ICHNER
/F
REI
/K
AUFMANN
/M
EUTER
, a.a.O., § 34 N 33). Das Ver-
waltungsgericht des Kantons Luzern hat auch bei fehlender Ver-
pflichtung der Eltern auf die Gewährung eines Kinderabzuges bei
einer Zweitausbildung erkannt, sofern es sich dabei nur nicht um
eine blosse Weiterbildung, sondern um die Erlernung eines neuen
Berufs handelt (StE 1995 LU B 29.3 Nr. 13). Gemäss den Weisungen
der Eidgenössischen Steuerverwaltung bleibt der Kinderabzug bei
Aufnahme einer Zweitausbildung dann möglich, wenn sachliche
Gründe dafür sprechen, um danach eine angemessene berufliche
Tätigkeit auszuüben (Kreisschreiben Nr. 30 vom 21. Dezember 2010,
Ehepaar- und Familienbesteuerung nach dem Bundesgesetz über die
direkte Bundessteuer [DBG], S. 20). Das Vorliegen von sachlichen
Gründen bzw. einer angemessenen Ausbildung beurteilt sich nach
den Neigungen und Fähigkeiten des Kindes, den Verhältnissen der
Eltern, allfälligen Absprachen, aber auch nach den Verhältnissen am
Arbeitsmarkt (vgl. I
VO
P.
B
AUMGARTNER
, in: M
ARTIN
Z
WEIFEL
/
P
ETER
A
THANAS
, Kommentar zum DBG, 2. Auflage 2008, Art. 35
N 8, insbes. N 8a und c). Nach der Praxis des KStA schliesslich, die
sich auf die Rechtsprechung der Vorinstanz stützt, berechtigt
grundsätzlich auch die Zweitausbildung zum Kinderabzug
(RGE vom 20. Dezember 2012, 3-RV.2012.113, mit Hinweisen). Der
steuerrechtliche Abzug knüpfe weniger an die familienrechtliche
Unterhaltsverpflichtung, als an die eingeschränkte wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit des Leistenden an (D
ANIEL
A
ESCHBACH
, Kom-
mentar StG, § 42 N 26a mit Hinweisen).
1.5.
Die Berechtigung zum Kinderabzug beurteilt sich nach den Ver-
hältnissen am Stichtag, am Ende der Steuerperiode, nicht jedoch
nach denjenigen während der Steuerperiode. Wurde die Berufsausbil-
dung noch vor Ablauf der Steuerperiode abgeschlossen, besteht am
Stichtag kein Anspruch mehr auf den Kinderabzug, auch wenn alle
übrigen Voraussetzungen während der Periode erfüllt gewesen sind,
insbesondere der Leistende überwiegend oder gar ausschliesslich für
den Unterhalt des Auszubildenden aufgekommen ist. Sind aber am
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
126
Stichtag die Voraussetzungen (noch) erfüllt, besteht Anspruch auf
den vollen Kinderabzug, unabhängig von der effektiven Dauer der
Ausbildung und der Höhe der Auslagen. Findet ein Ausbildungs-
unterbruch statt, schadet es nicht, wenn er bloss vorübergehend ist
und aus objektiven Gründen erfolgt, wie Krankheit oder Militär-
dienst (P
ETER
L
OCHER
, a.a.O., Art. 36 N 34). Ist der Unterbruch
dagegen subjektiv bedingt, in der Person des Auszubildenden be-
gründet, schliesst dies die Gewährung des Kinderabzuges regelmäs-
sig aus. Stattdessen können die Voraussetzungen des Unterstüt-
zungsabzuges im Sinne von § 42 Abs. 1 lit. b StG erfüllt sein.
1.6.
Die Gewährung des Kinderabzuges hängt letztlich auch davon
ab, dass der Leistende für den Unterhalt des Kindes in überwiegen-
dem Mass, zu mehr als der Hälfte aufkommt (§ 27 StGV). Erzielt ein
volljähriges Kind eigene Einkünfte, so muss der Beitrag der Eltern
selbige übersteigen (D
ANIEL
A
ESCHBACH
, Kommentar StG, § 42
N 28). Massgebend sind diesbezüglich die Verhältnisse in der ganzen
Steuerperiode und nicht alleine jene am Stichtag.
2.
2.1.
Die Tochter der Beschwerdeführerin hat unstreitig ihre berufli-
che Erstausbildung als Fotofachfrau, welche ihr die Aufnahme einer
beruflichen Tätigkeit ermöglichte, am 9. August 2012 abgeschlossen.
Dem Eintritt ins Berufsleben zog sie aber zunächst einen knapp drei-
monatigen Sprachaufenthalt in den USA vor. Am 22. Juli 2013 be-
gann sie mit der Lehre als Kauffrau im E-Profil, einer dreijährigen
beruflichen Grundausbildung, welche mit einem eidgenössischen Fä-
higkeitszeugnis abschliesst und den Einstieg in eine höhere Berufs-
bildung ermöglicht, eine Zweitausbildung. Erst- und Zweitausbil-
dung stehen in keinem sachlichen Zusammenhang, die zweite
Ausbildung ist weder notwendige noch logische Folge der Erstaus-
bildung. Ebenso wenig besteht ein notwendiger oder zwingender
Zusammenhang des Sprachaufenthalts zur einen oder anderen Be-
rufslehre.
2.2.
2.2.1.
2015
Kantonale Steuern Migrationsrecht
127
Am Stichtag war die Tochter der Beschwerdeführerin an keiner
Lehrstätte eingeschrieben. Nach den Behauptungen der Beschwerde-
führerin will sich ihre Tochter jedoch der Sprachnachbereitung
gewidmet haben. Zu entscheiden ist damit die Frage, ob sich ihre
Tochter - noch bzw. bereits wieder - in Ausbildung bzw. in einem
objektiv bedingten Ausbildungsunterbruch befunden hat und demge-
mäss (weiterhin) Anspruch auf einen Kinderabzug bestand, sofern
bei einer Zweitausbildung ein solcher zu gewähren ist (zur Kontro-
verse vgl. vorne Erw. 1.5).
2.2.2.
Festzuhalten ist zunächst, dass die Tochter der Beschwerde-
führerin ihre Erstausbildung, welche ihr den Einstieg ins Erwerbsle-
ben ermöglichte, im August 2012 abgeschlossen hatte. Der
Erstausbildung folgte der Beginn der Zweitausbildung nicht unmit-
telbar. Die Beschwerdeführerin begründet dies damit, dass der Be-
ginn der Zweitlehre wegen zeitlicher Überschneidung nicht im direk-
ten Anschluss an die Erstlehre möglich gewesen sei. Dass ihre Toch-
ter aber bereits im Sommer 2012 zur Zweitausbildung als Kauffrau
entschlossen gewesen war und sich, wenn auch vergeblich, um eine
Sonderregelung bemüht hatte, wird weder belegt, noch auch nur gel-
tend gemacht. Zur Unterzeichnung des Lehrvertrages kam es am
12. April 2013.
2.2.3.
Im dreimonatigen Sprachaufenthalt ist keine systematische
Fortsetzung der Erstausbildung und auch keine planmässige Vorbe-
reitung der Zweitausbildung zu erblicken. Daran ändert auch die
behauptete Sprachnachbereitung nach der Rückkehr in die Schweiz
nichts, welche der prophylaktischen Vorbereitung der Prüfungs-
wiederholung gedient haben soll für den Fall, dass das in den USA
absolvierte Examen misslungen wäre. Zudem war der Sprachau-
fenthalt weder eine notwendige Voraussetzung für die Zweitlehre
noch eine notwendige Ergänzung der Erstlehre. Damit fehlt es auch
an objektiven Gründen für den Ausbildungsunterbruch; dieser
erfolgte vielmehr aus subjektiven Gründen.
2.2.4.
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
128
In der Anmeldung zum Bezug von Arbeitslosengeldern und der
Erzielung eines Zwischenverdienstes kommt zum Ausdruck, dass die
Tochter der Beschwerdeführerin zur Erzielung eines Erwerbseinkom-
mens willens und entschlossen war. Damit hat sie die Ausbildung -
einstweilen - zurückgestellt.
2.2.5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass in der Phase zwischen dem
Abschluss der Erst- und dem Beginn der Zweitausbildung von kei-
nem objektiv bedingten Ausbildungsunterbruch gesprochen werden
kann. Die Gründe waren subjektiver Natur, sie dienten der berufli-
chen Neuorientierung der Tochter. Eine Berechtigung zum Kinderab-
zug nach § 42 Abs. 1 lit. a StG per Stichtag 31. Dezember 2012 be-
steht danach nicht. Damit fehlt es auch an den Voraussetzungen für
die Anwendung des Tarifs B gemäss § 43 Abs. 2 StG.
2.3.
Aufgrund des belegmässigen Nachweises erhellt, dass die Be-
schwerdeführerin für ihre Tochter überwiegend aufgekommen ist.
Dies führt dazu, dass ihr zu Recht der Unterstützungsabzug gemäss
§ 42 Abs. 2 StG zugebilligt worden ist. | 2,491 | 2,084 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-18_2015-09-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-18.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-18.pdf | AGVE_2015_18 | null | nan |
93d3660f-581a-577d-bbae-2870a917c321 | 1 | 412 | 871,220 | 1,435,881,600,000 | 2,015 | de | 2015
Schulrecht
233
XI. Schulrecht
36
Schulrecht; Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)
-
Die Beschwerdekommission FHNW ist keine Verwaltungsjustizbe-
hörde und hat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren keine Partei-
stellung; diese kommt der FHNW zu, welche durch die Direktion
bzw. das Direktionspräsidium handelt.
-
Das Anwaltsmonopol (§ 14 Abs. 3 VRPG), die Vorschriften über den
Rechtsstillstand (§ 28 Abs. 2 VRPG) und das Verbot der reformatio
in peius (§ 48 Abs. 2 VRPG) gelten im Verfahren vor der Beschwer-
dekommission FHNW nicht.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 16. Juli 2015 in Sachen A.
gegen Fachhochschule Nordwestschweiz (WBE.2014.387).
Aus den Erwägungen
2.2.
Die Parteistellung in einem Beschwerdeverfahren regelt § 13
Abs. 2 VRPG. Gemäss § 13 Abs. 2 lit. e VRPG ist die Vorinstanz
Partei. Nur wenn die erstinstanzliche Entscheidungsbehörde einem
andern Gemeinwesen angehört, kommt ihr im Beschwerdeverfahren
ebenfalls Parteistellung zu (§ 13 Abs. 2 lit. f VRPG). Vorinstanz und
damit Partei im vorliegenden Verfahren wäre daher die Beschwerde-
kommission FHNW; der FNHW selber käme demgegenüber keine
Parteistellung zu.
Die Beschwerdekommission FHNW erfüllt indessen nach ihrem
eigenen Verständnis die Kriterien eines Gerichts im Sinne der
Rechtsweggarantie von § 29a BV und wäre daher als Verwaltungs-
justizbehörde zu betrachten (Entscheid der Beschwerdekommission
FHNW vom 18. Juni 2012, Nr. 11.016, Erw. 3 unter Hinweis auf
G
ABRIELLA
M
ATEFI
, Das Verfahren vor der Beschwerdekommission
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
234
der Fachhochschule Nordwestschweiz [FHNW], in: Der Weg zum
Recht, Festschrift für Alfred Bühler, Zürich 2008, S. 301 ff.). Verwal-
tungsjustizbehörden haben nach dem Verwaltungsrechtspflegegesetz
keine Parteistellung (§ 13 Abs. 3 VRPG).
2.3.
Das Verwaltungsgericht hat in seiner bisherigen Rechtspre-
chung die Rechtsnatur der Beschwerdekommission FHNW offen ge-
lassen (AGVE 2010, S. 225 ff., Erw. 2.4.2). Der zitierte Entscheid
erging im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens in Schulsachen (Prü-
fungsentscheid).
Die Entscheide der Beschwerdekommission FHNW in Perso-
nalfragen waren bis zum 31. Dezember 2012 beim früheren Perso-
nalrekursgericht des Kantons Aargau anfechtbar. Das Personalrekurs-
gericht entschied mit Urteil vom 3. Juli 2008 (AGVE 2008,
S. 433 ff.), dass bei personalrechtlichen Streitigkeiten aus einem Ver-
trag das Personalgesetz des Kantons Aargau, PersG) und seine
Folgeerlasse sowie für den Rechtsmittelweg analog die
Bestimmungen
der Aargauischen
Zivilprozessordnung
zur
Anwendung gelangen würden. Demzufolge entscheide die
Beschwerdekommission FHNW im Klageverfahren; die ent-
sprechenden Entscheide seien mittels Appellation an das Personalre-
kursgericht weiterziehbar (AGVE 2008, S. 433, Erw. 2). Zumindest
implizit beruht diese Auffassung auf der Grundlage, dass die Be-
schwerdekommission FHNW im Personalbereich eine Gerichtsbe-
hörde darstellt.
Seit der Umsetzung der Justizverfassungsreform im Kanton
Aargau auf den 1. Januar 2013 entscheidet das Verwaltungsgericht
auch über Beschwerden gegen Entscheide der Beschwerdekommis-
sion FHNW in Personalsachen (AGS 2012/5-02). Die Aargauische
Zivilprozessordnung wurde mit Inkrafttreten der Schweizerischen Zi-
vilprozessordnung aufgehoben (AGS 2010/5-07). Das Rechtsmittel-
verfahren in der Schweizerischen Zivilprozessordnung mit Berufung
und Beschwerde an die (obere) kantonale Rechtsmittelinstanz unter-
scheidet sich in wesentlichen Punkten von der Regelung, wie sie un-
ter der Aargauischen Zivilprozessordnung galt. Für die Berufung be-
steht eine Streitwertgrenze und das Novenrecht im Rechtsmittel-
2015
Schulrecht
235
verfahren unterscheidet sich von der früheren aargauischen Rege-
lung.
In verschiedenen Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungs-
gericht in Schulsachen war die funktionale Zuständigkeit einzelner
Organe und Institutionen der FHNW im Beschwerdeverfahren kon-
trovers. Eine grundsätzliche Prüfung der verfassungsmässigen Stel-
lung der Beschwerdekommission FHNW ist schliesslich auch mit
Blick auf die Verfahrensgarantien der Parteien im verwaltungsge-
richtlichen Verfahren angebracht.
3.
3.1.
Der Staatsvertrag FHNW (Staatsvertrag zwischen den Kantonen
Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt und Solothurn über die Fach-
hochschule Nordwestschweiz [FHNW] vom 27. Oktober 2004
[SAR 426.070]) regelt Aufgaben, Organisation und Zuständigkeit der
Beschwerdekommission FHNW in § 33. Danach besteht die Be-
schwerdekommission aus fünf, von den Regierungen der Vertrags-
kantone auf vier Jahre gewählten Mitgliedern, inkl. Präsidentin/ Prä-
sident (Abs. 1). Jeder Vertragskanton ist durch mindestens ein Mit-
glied vertreten (Abs. 2). Die Beschwerdekommission organisiert sich
selbst (Abs. 2
bis
) und entscheidet über Beschwerden gegen Verfü-
gungen der Fachhochschule und in personalrechtlichen Streitigkeiten
in einer Besetzung mit mindestens drei Mitgliedern (Abs. 4).
Mit der Beschwerde an die Beschwerdekommission können alle
Mängel des Verfahrens und der angefochtenen Verfügung geltend ge-
macht werden (Abs. 5). Die Beschwerdekommission informiert den
Fachhochschulrat jährlich summarisch über die erledigten Verfahren
(Abs. 8).
Die Regierungen haben die Mitglieder der Beschwerdekommis-
sion zu wählen (§ 17 Abs. 1 lit. g Staatsvertrag FHNW) und die Ver-
gütung der Beschwerdekommission festzulegen (§ 17 Abs. 1 lit. h
Staatsvertrag FHNW).
3.2.
Art. 191b Abs. 1 BV verpflichtet die Kantone, für öffentlich-
rechtliche Streitigkeiten richterliche Behörden einzusetzen. Sie kön-
nen die Rechtsprechung auch gemeinsamen richterlichen Behörden
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
236
übertragen (Abs. 2). Richterliche Behörden sind unabhängige, nur
dem Recht verpflichtete Organe der Rechtsprechung (Art. 191c BV).
Diese Kriterien gewährleisten die institutionelle Unabhängigkeit der
Justiz in grundrechtlicher Hinsicht (Art. 29a und 30 BV) und sichern
organisationsrechtlich das Gewaltenteilungsprinzip (C
HRISTINA
K
ISS
/H
EINRICH
K
OLLER
, in: St. Galler Kommentar zur BV, 3. Aufl.,
Zürich/St. Gallen 2014, Art. 191b N 13; G
EROLD
S
TEINMANN
, in:
St. Galler Kommentar, a.a.O., Art. 191c N 3; R
EGINA
K
IENER
, Rich-
terliche Unabhängigkeit, Verfassungsrechtliche Anforderungen an
Richter und Gerichte, Bern 2001, S. 25 f.; BGE 126 I 228,
Erw. 2a/bb). Verfassungskonforme richterliche Behörden sind im
formellen Sinn die Rechtsprechungsinstanzen, welche in die Justizor-
ganisation eines Kantons eingebunden sind (vgl. zur Differenzierung
BGE 139 III 98, Erw. 3.2.1).
Im Kanton Aargau wird die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch
das Spezialverwaltungsgericht, das Obergericht und das Justizgericht
ausgeübt (§ 100 KV). Auch nach den Kantonen Solothurn und Basel-
Landschaft ist die Beschwerdekommission FHNW verfassungsrecht-
lich keine Justizbehörde mit Zuständigkeit in der Rechtsprechung
öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten (Art. 91 Abs. 1 lit. a-f der Verfas-
sung des Kantons Solothurn vom 8. Juni 1986 [KV/SO; BGS 111.1];
vgl. auch: §§ 47 ff. des Gesetzes über die Gerichtsorganisation vom
13. März 1977 [GO; BGS 125.12]; § 85 der Verfassung des Kantons
Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984 [KV/BL; SGS 100]). Die Ver-
fassung des Kantons Basel-Stadt vom 23. März 2005 (KV/BS;
SG 111.100) weist die Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Sozialversi-
cherungsgericht, den vom Gesetz vorgesehenen Rekurskommissio-
nen und dem Appellationsgericht zu (§ 115 KV/BS). Rekurskom-
missionen im Sinne dieser Bestimmung sind die Behörden, deren
Mitglieder ausschliesslich vom Grossen Rat oder Regierungsrat des
Kantons Basel-Stadt gewählt werden (vgl. § 10 Abs. 1 des Gesetzes
über die Verfassungs- und Verwaltungsrechtspflege vom 14. Juni
1928 [SG 270.100]), nicht aber Behörden, deren Mitglieder von
mehreren Kantonsregierungen gewählt werden (S
TEPHAN
W
ULL
-
SCHLEGER
/A
NDREAS
S
CHRÖDER
, Praktische Fragen des Verwal-
tungsprozesses im Kanton Basel-Stadt, in: BJM 2005, S. 285 f.). In
2015
Schulrecht
237
den Verfassungen der vier Vertragskantone der FHNW ist auch keine
institutionelle oder organisatorische Zusammenarbeit, insbesondere
in der Verwaltungsjustiz, vorgesehen (vgl. § 3 KV/BS; Art. 2
KV/SO; § 3 KV/BL; § 4 Abs. 1 KV/AG). Eine verfassungsrechtliche
Grundlage für eine institutionelle interkantonale Zusammenarbeit be-
steht in den Kantonsverfassungen der Kantone Basel-Landschaft und
Basel-Stadt nur im gegenseitigen Verhältnis (§ 3 KV/BS; § 3
KV/BL).
Die Beschwerdekommission FHNW ist in die Justizorganisa-
tion der Vertragskantone nicht eingebunden und somit kein Gericht
im formellen Sinn.
3.3.
Für die Qualifikation als richterliche Behörde ist eine Einbin-
dung in die (ordentliche) Gerichtsstruktur eines Kantons nicht erfor-
derlich. Ein Gericht im materiellen Sinn, das die Anforderungen der
Bundesverfassung an die richterliche Unabhängigkeit erfüllt, genügt.
Die Bundesverfassung (Art. 191c BV) und die Kantonsverfassung
(§ 95 KV/AG) gewährleisten in grundrechtlicher Hinsicht die rich-
terliche Unabhängigkeit in der Rechtsprechung nach Massgabe der
verfassungsrechtlichen Garantien aus Art. 29a und Art. 30 Abs. 1 BV.
Ein verfassungskonformes Gericht zeichnet sich funktional durch
seine rechtsprechende Tätigkeit und organisatorisch durch seine
institutionelle Unabhängigkeit aus. Die Behörde muss organisato-
risch und personell, nach der Art ihrer Ernennung, der Amtsdauer,
dem Schutz vor äusserer Beeinflussung und nach ihrem Erschei-
nungsbild sowohl gegenüber anderen Behörden als auch gegenüber
den Parteien unabhängig und unparteiisch sein (BGE 126 I 228,
Erw. 2 a/bb; vgl. auch BGE 139 III 98, Erw. 4.2; 134 I 16, Erw. 4.2;
S
TEINMANN
, a.a.O., Art. 30 N 8).
Die Unabhängigkeit eines Gerichts wird nach der Praxis und
Lehre noch nicht in Frage gestellt, nur weil dessen Mitglieder durch
eine Exekutivbehörde gewählt werden. Bedenken ergeben sich be-
züglich solcher Gerichte, die regelhaft zur Überprüfung von Akten
der Verwaltung aufgerufen sind, gerade wenn in regelmässigen Ab-
ständen eine Wiederwahl der Richter erforderlich ist. Hier rechtfer-
tigt sich eine Wahl durch die Exekutive allein dann, wenn das
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
238
Vorverfahren der Richterauslese transparenten Kriterien folgt und die
Gewählten ihrem Werdegang und persönlichen Zuschnitt nach Ge-
währ für eine unabhängige Kontrolle der Verwaltung bieten (K
IENER
,
a.a.O., S. 258).
3.4.
Der Staatsvertrag regelt in § 33 Abs. 2 die Vertretung der Ver-
tragskantone in der Beschwerdekommission, nicht aber die Wählbar-
keitsvoraussetzungen. Er enthält auch keine Bestimmung, welche die
Unabhängigkeit gegenüber den Organen der Fachhochschule sichert
(vgl. demgegenüber § 30 des Vertrages zwischen den Kantonen
Basel-Landschaft und Basel-Stadt über die gemeinsame Trägerschaft
der Universität Basel vom 27. Juni 2006 [SG 442.400]). Im Organi-
sationsstatut der Fachhochschule Nordwestschweiz vom 1. Januar
2006 wird die Beschwerdekommission nicht erwähnt. Sie erscheint
auch nicht im Organigramm und im Funktionsdiagramm der Fach-
hochschule (vgl. www.fhnw.ch/ueber-uns/organisation-fhnw, letzt-
mals besucht am 16. Juli 2015). Der Staatsvertrag verlangt keine Un-
abhängigkeit der Mitglieder der Beschwerdekommission. Insbeson-
dere ist die Wahl von Personen, die bei der FHNW oder ihren In-
stitutionen tätig sind, vom Wortlaut des Staatsvertrages nicht ausge-
schlossen. Eine Garantie für die Unabhängigkeit gibt auch § 20 des
Staatsvertrages nicht. Die Nichterwähnung der Beschwerdekom-
mission in der Liste der
obligatorischen
Organe der FHNW sichert
ihre institutionelle und organisatorische Unabhängigkeit nicht (a.A.
M
ATEFI
, a.a.O., S. 305, FN 26), zumal der Fachhochschulrat weitere
Organe bezeichnen kann (§ 20 Abs. 2 Staatsvertrag FHNW).
Von den fünf Mitgliedern der Beschwerdekommission in dieser
Amtsperiode sind die Präsidentin, die Vertreterin des Kantons Basel-
Stadt und der Vertreter des Kantons Basel-Landschaft (vornehmlich)
in der Justiz ihrer Kantone tätig (der Vertreter des Kantons Basel-
Landschaft ist auch Inhaber eines Anwaltsbüros in Liestal). Der Ver-
treter des Kantons Aargau ist im Generalsekretariat des Departe-
ments Bildung, Kultur und Sport und die Vertreterin des Kantons
Solothurn im Bildungs- und Kulturdepartement (Rechtsabteilung) ih-
res Kantons hauptamtlich tätig. Die Vertreter des Kantons Aargau
und Solothurn sind somit in ihrer beruflichen Haupttätigkeit bei Mit-
2015
Schulrecht
239
gliedern ihrer Wahlbehörde, die auch die Entschädigung der Mitglie-
der der Beschwerdekommission festsetzen (§ 17 Abs. 1 lit. h Staats-
vertrag FHNW), angestellt.
Nach dem Reglement über die Organisation der Beschwerde-
kommission FHNW vom 3. Juli 2007 nimmt an den Beratungen eine
Kommissionsschreiberin bzw. ein Kommissionsschreiber mit bera-
tender Stimme teil (§ 4 Abs. 4 Reglement). Die Kanzlei, der die
Kommissionsschreiberinnen und Kommissionsschreiber und das üb-
rige Kanzleipersonal angehören, wird von der FHNW geführt (§ 6
Abs. 1 und 2 Reglement). Aus diesen Organisationsregeln ergibt sich
nicht zwingend, dass der Kommissionsschreiber unabhängig sein
muss und nicht für die FHNW oder ihre Institute tätig sein darf (a.A.
offenbar M
ATEFI
, a.a.O., S. 305). Gegenüber dem Kanzleipersonal ist
das Präsidium weisungsbefugt (§ 6 Abs. 3 Reglement), was darauf
schliessen lässt, dass die arbeits- oder auftragsrechtliche Weisungs-
befugnis nicht - zumindest nicht zwingend und ausschliesslich - aus-
serhalb der Organisation der Fachhochschule Nordwestschweiz lie-
gen muss. In ihrem Auftritt in der (Schul-) Öffentlichkeit präsentiert
sich die Beschwerdekommission auf der Homepage der FHNW als
eine Organisationseinheit der Fachhochschule (www.fhnw.ch/ueber-
uns/organisation-fhnw, letztmals besucht am 16. Juli 2015).
Die Unabhängigkeit muss vor allem gegenüber den Organen der
Hochschule bestehen (B
ENJAMIN
S
CHINDLER
, Erstinstanzlicher
Rechtsschutz gegen universitäre Prüfungsentscheidungen, in: ZBl
112/2011, S. 514 mit Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts vom
2. April 2009 [2D_14/2009], Erw. 2.1). Diese Unabhängigkeit ist
nach dem Wortlaut von § 33 und § 17 des Staatsvertrages nicht ge-
währleistet und angesichts der Zuständigkeiten und der Aufsichtsbe-
fugnisse der Regierungen der Vertragskantone (§ 17 Abs. 1 Satz 1
Staatsvertrag FHNW) und der Interparlamentarischen Kommission
(§ 16 Abs. 5 und 6 Staatsvertrag FHNW) auch institutionell nicht
abgesichert. Die organisatorischen Bestimmungen in den Reglemen-
ten der FHNW und der Beschwerdekommission FHNW gewährleis-
ten nicht, jedenfalls nicht in einem den Anforderungen von Art. 30
BV und Art. 191c BV genügenden Mass, die Unabhängigkeit der Be-
schwerdekommission gegenüber der Fachhochschule und ihrer Or-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
240
gane. Die Beschwerdekommission erscheint zudem im Auftritt in der
(Schul-) Öffentlichkeit als eine Institution der Schule.
Diese Beurteilung der Rechtsnatur der Beschwerdekommission
findet eine teilweise Bestätigung in den Materialien zum Staatsver-
trag: Gemäss Bericht der Regierungen der Vertragskantone "Detailer-
läuterungen zum Staatsvertrag" vom 27. Oktober 2004 (Beilage 3 zur
Botschaft des Regierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen
Rat vom 27. Oktober 2004, GR.04.294) nimmt die Beschwerdekom-
mission auch Aufgaben der Qualitätssicherung wahr und informiert
über ihre Arbeit den Fachhochschulrat (§ 33 Abs. 8 Staatsvertrag
FHNW), damit dieser die notwendigen Verbesserungen einleiten
kann. Die Beschwerdekommission hat diese Funktion auch schon di-
rekt gegenüber einer einzelnen Hochschule der FHNW ausgeübt, als
sie der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik (HABG)
untersagte, eine Bestimmung der Prüfungsordnung anzuwenden
(Entscheid Nr. 11.016 vom 18. Januar 2012, Erw. 3).
Zusammenfassend ist die Ausgestaltung der Organisationsnor-
men mit Blick auf die personelle und institutionelle Unabhängigkeit
nicht ausreichend, um die Beschwerdekommission FHNW als
richterliche Behörde im materiellen Sinne zu qualifizieren. Es fehlen
die grundlegenden formellen Organisationsregeln zur Gewährleis-
tung der verfassungsrechtlich erforderlichen institutionellen und
organisationsrechtlichen Unabhängigkeit. Sie ist zwar kein Organ der
Fachhochschulleitung (§ 20 Abs. 1 lit. b und § 23 Abs. 1 Staatsver-
trag FHNW), erscheint jedoch als eine Instanz der interkantonalen
öffentlich-rechtlichen Anstalt FHNW (§ 1 Abs. 1 Staatsvertrag
FHNW), die von den Vertragskantonen im Rahmen und zur Wahrung
der Selbstbestimmung (Autonomie) der Fachhochschule eingerichtet
wurde.
3.5.
3.5.1.
Die fehlende Qualität der Beschwerdekommission als richter-
liche Behörde hat zur Folge, dass sie keine Verwaltungsjustizbehörde
im Sinne von § 13 Abs. 3 VRPG ist und im System von § 13 Abs. 2
VRPG Partei im Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht
wäre (siehe vorne Erw. 2.2). Im (internen) Rechtsmittelverfahren vor
2015
Schulrecht
241
der Beschwerdekommission FHNW hat die FHNW Parteistellung
gemäss § 13 Abs. 2 lit. e VRPG. Die Beschwerdekommission ist in-
dessen kein Organ der FHNW, welche für die FHNW im Beschwer-
deverfahren vor dem Verwaltungsgericht handeln kann. Im Be-
schwerdeverfahren vor Verwaltungsgericht bleibt aufgrund dieser or-
ganisationsrechtlichen Besonderheit die FHNW als öffentlich-recht-
liche Anstalt Partei. Sie wird durch die Direktion (§ 23 Abs. 1 Staats-
vertrag FHNW) bzw. durch das Direktionspräsidium (§ 8 lit. a
Organisationsstatut der FHNW vom 1. Januar 2006) vertreten. Ent-
sprechend ist im vorliegenden Verfahren das Rubrum zu ändern und
die Fachhochschule Nordwestschweiz, vertreten durch die Direktion
FHNW, als Beschwerdegegnerin aufzuführen.
3.5.2.
Die Rechtsnatur und Stellung der Beschwerdekommission ha-
ben auch Auswirkungen auf die Verfahrensordnung und den Rechts-
mittelweg in personalrechtlichen Belangen. Die Regelung in § 39
PersG, wonach vertragliche Streitigkeiten im Klageverfahren beur-
teilt werden, lässt sich nicht auf Fälle der FHNW übertragen. Viel-
mehr werden auch diese Streitigkeiten - obwohl das Arbeitsverhält-
nis auf einem Vertrag beruht - seitens der FHNW stets mittels Verfü-
gung entschieden. Der anschliessende Rechtsmittelzug mit Einspra-
che, Verwaltungsbeschwerde an die Beschwerdekommission FHNW
und anschliessender verwaltungsgerichtlicher Beschwerde an das
Verwaltungsgericht entspricht den Vorgaben des Staatsvertrags, dem
VRPG (§ 54 und § 60 VRPG) und ist auch im Gesamtarbeitsvertrag
vorgesehen (vgl. Gesamtarbeitsvertrag für die Fachhochschule Nord-
westschweiz vom 23. Oktober 2006, Fassung vom 1. Januar 2011,
Ziff. 15.2 bis 15.4). Die Beschwerdekommission FHNW entscheidet
somit auch in Personalsachen stets im Verwaltungsbeschwerde-
verfahren gemäss §§ 41 ff. VRPG. Die abweichende Rechtsauffas-
sung und die Praxis des früheren Personalrekursgerichts zum Verfah-
ren und zum Rechtsmittelweg werden vom Verwaltungsgericht nicht
weitergeführt.
Weitere prozessuale Konsequenzen der rechtlichen Qualifika-
tion der Beschwerdekommission FHNW sind, dass in den Beschwer-
deverfahren das Anwaltsmonopol (§ 14 Abs. 3 VRPG) keine Geltung
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
242
hat und die Rechtsstillstandsfristen (§ 28 Abs. 2 VRPG) sowie das
Verschlechterungsverbot (§ 48 Abs. 2 VRPG) nicht zur Anwendung
gelangen. | 4,481 | 3,512 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-36_2015-07-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-36.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-36.pdf | AGVE_2015_36 | null | nan |
94147064-5510-5860-abd0-9a1d24795588 | 1 | 412 | 869,740 | 1,383,436,800,000 | 2,013 | de | 2013
Submissionen
219
[...]
39
Eignungskriterien; nachträgliche Lockerung, Rechtsgleichheit
Erfüllt keines der Angebote die Eignungskriterien und kann nicht gesagt
werden, die Anbieter oder einzelne davon seien zur Ausführung des Auf-
trags überhaupt nicht geeignet, so liegt es - jedenfalls in einem Einla-
dungsverfahren - im Ermessen der Vergabestelle, das Verfahren als Gan-
zes zu wiederholen oder sich auf eine (rechtsgleiche) Relativierung der
Anforderungen im laufenden Verfahren zu beschränken.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 11. November 2013 in Sa-
chen A. AG gegen Stadt B. (WBE.2012.174).
Aus den Erwägungen
4.
4.1.
Die Beschwerdeführerin rügt weiter eine Ungleichbehandlung
bzw. Benachteiligung durch die nachträgliche Abänderung und
Lockerung wesentlicher Eignungskriterien.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
220
4.2.
Die (fachliche, finanzielle, organisatorische etc.) Leistungsfä-
higkeit der Anbieter muss in der Ausschreibung bzw. den Ausschrei-
bungsunterlagen mit objektiven und überprüfbaren Eignungskriterien
umschrieben werden (P
ETER
G
ALLI
/
A
NDRÉ
M
OSER
/
E
LISABETH
L
ANG
/
M
ARC
S
TEINER
, Praxis des öffentlichen Beschaffungsrechts,
3. Auflage Zürich/Basel/Genf 2013, Rz. 558 ff. mit Hinweisen;
AGVE 1998, S.
372). Die Vergabebehörde ist an die ausge-
schriebenen Eignungskriterien gebunden (G
ALLI
/M
OSER
/L
ANG
/
S
TEINER
, a.a.O., Rz. 628 ff.). Ihr kommt aber sowohl bei der Wahl
und Formulierung als auch der Anwendung und Bewertung der
Eignungskriterien ein grosses Ermessen zu (G
ALLI
/M
OSER
/L
ANG
/
S
TEINER
, a.a.O., Rz. 557, 564; Urteil des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt vom 15.
Februar 2012 [VD.2011.119],
Erw. 2.2). Wer die Eignungskriterien nicht oder nur teilweise erfüllt
oder keinen entsprechenden Eignungsnachweis erbringt, wird in der
Regel vom Verfahren ausgeschlossen (vgl. § 28 Abs. 1 lit. a SubmD).
Wie bereits ausgeführt haben Eignungskriterien vorab im offenen
und selektiven Verfahren ihre Bedeutung, können aber auch in einem
Einladungsverfahren zur Anwendung kommen.
4.3.
Die Eignungsprüfung durch die Vergabebehörde führte vorlie-
gend zum Ergebnis, dass alle fünf Anbieter die Kriterien "Schlüssel-
personen" und "Projektreferenzen Implementierung und Unterhalt
Webauftritt" adäquat erfüllten, nicht aber das Kriterium "Kompeten-
zen und Referenzen Online-Marketing". Zwei Anbieter (u.a. auch die
Beschwerdeführerin) verfügten zwar über die verlangten beiden
SEO-Referenzen, wiesen aber nur je eine als genügend qualifizierte
SMM-Referenz auf. Bei zwei Anbietern (u.a. der Zuschlagsemp-
fängerin) waren die geforderten SMM-Referenzen vorhanden, jedoch
fehlten die SEO-Referenzen ganz oder teilweise. Eine Anbieterin
verfügte weder über ausreichende SEO-Referenzen noch über
ausreichende SMM-Referenzen.
Weiter stellte die Vergabebehörde bei der Bedingungsprüfung
fest, dass drei der fünf Angebote den beim Lösungskonzept verlang-
ten Mindest-Erfüllungsgrad von 95% nicht erreichten. Die Zu-
2013
Submissionen
221
schlagsempfängerin erzielte nach ihrer Beurteilung einen Erfüllungs-
grad von 94.36% und die Beschwerdeführerin einen solchen von
94.00%.
Da somit keines der Angebote die Eignungskriterien nach Auf-
fassung der Vergabestelle vollumfänglich erfüllte und drei Angebote
auch den geforderten Erfüllungsgrad von mindestens 95% nicht er-
reichten, folglich bei sämtlichen Angeboten ein Ausschlussgrund
vorlag, entschied sich die Vergabestelle für eine Herabsetzung der
Eignungsanforderungen (beim Kriterium "Kompetenzen und Refe-
renzen Online-Marketing" genügten nun mindestens zwei Referen-
zen, die SMM oder SEO enthielten); zugleich reduzierte sie den
verlangten Mindest-Erfüllungsgrad auf 93%. Dies hatte zur Folge,
dass nun sämtliche fünf Anbieter die modifizierten Anforderungen
erfüllten.
4.4. (...)
4.5.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin hätte die Vergabe-
stelle auch im Fall, dass alle Anbieter einen Ausschlussgrund erfüll-
ten, die ursprünglichen Anforderungen nicht lockern dürfen, sondern
das Verfahren abbrechen und neu durchführen müssen. Auch diesem
Standpunkt ist nicht zu folgen. Richtig ist zwar, dass die Vergabebe-
hörde grundsätzlich an die Ausschreibungsunterlagen und damit auch
an die von ihr festgelegten und bekannt gegebenen Eignungs- und
sonstigen Ausschlusskriterien gebunden ist und diese nicht nachträg-
lich nach Belieben abändern darf (G
ALLI
/M
OSER
/L
ANG
/S
TEINER
,
a.a.O., Rz. 628 ff. mit Hinweisen). Insbesondere ist eine nachträgli-
che Relativierung der Anforderungen untersagt, um auf diese Weise
einem bestimmten Angebot, das richtigerweise auszuschliessen wäre,
den Verbleib im Verfahren zu ermöglichen. Dies stellt klarerweise
eine unzulässige Begünstigung eines Anbieters dar (vgl. Entscheid
der Eidgenössischen Rekurskommission für das öffentliche Be-
schaffungswesen [BRK] vom 5.
Dezember 2006 [2006-016],
Erw. 3e; vgl. auch G
ALLI
/M
OSER
/L
ANG
/S
TEINER
, a.a.O., Rz. 630 mit
Hinweis). Im vorliegenden Fall wären indessen alle fünf Anbieter,
wie dargelegt auch die Beschwerdeführerin, auszuschliessen gewe-
sen, da sich bei jedem aufgrund des ursprünglichen Pflichtenhefts ein
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
222
Ausschlussgrund verwirklicht hatte, ohne dass allerdings gesagt wer-
den kann, die betroffenen Anbieter oder einzelne davon seien zur
Ausführung des Auftrags überhaupt nicht geeignet. Die Relativierung
der Anforderungen hatte somit nicht den Zweck, ein einzelnes Ange-
bot zu begünstigen, sondern diente der Vermeidung des als nutzlos
und als Zeitverschwendung erachteten Abbruchs. Von der Lockerung
haben alle fünf Anbieter, auch die Beschwerdeführerin, in ver-
gleichbarer Weise profitiert; eine Benachteiligung oder rechtsunglei-
che Behandlung hat nicht stattgefunden. Bei einer Konstellation wie
der vorliegenden, wo kein gültiges Angebot vorliegt, muss es -
jedenfalls für ein Einladungsverfahren - im Ermessen der Vergabe-
stelle liegen, ob sie das Verfahren entweder als Ganzes wiederholen
oder sich auf eine (rechtsgleiche) Relativierung der Anforderungen
im laufenden Verfahren beschränken will. Zu beachten ist in diesem
Zusammenhang auch Folgendes: Wäre es der Vergabebehörde vorlie-
gend nur darum gegangen, durch ihr Vorgehen einen bestimmten An-
bieter zu begünstigen, wäre es ihr wohl unbenommen gewesen, den
Auftrag gestützt auf § 8 Abs. 3 lit. b SubmD freihändig an den
favorisierten Anbieter zu vergeben. Entgegen der Ansicht der Be-
schwerdeführerin war die Vergabebehörde selbstredend auch nicht
verpflichtet, die Zustimmung der Anbieter zu ihrem Vorgehen einzu-
holen oder diesen sogar Gelegenheit zu geben, ihr Angebot neu zu
kalkulieren.
4.6. (...) | 1,527 | 1,255 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-39_2013-11-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-39.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-39.pdf | AGVE_2013_39 | null | nan |
941485bb-6972-5eeb-b36b-96649737e5b1 | 1 | 412 | 871,621 | 1,296,777,600,000 | 2,011 | de | 2011
Schulrecht
185
VI. Schulrecht
47 Anfechtbarkeit von Prüfungsnoten/Leistungsausweisen der Fachhoch-
schule Nordwestschweiz (FHNW)
-
Anfechtbar sind Prüfungsnoten/Leistungsausweise der FHNW mit
unmittelbaren Auswirkungen auf den Studienverlauf.
-
Die Leistungsausweise der FHNW sind Entscheide gemäss § 26
VRPG.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 15. Februar 2011 in
Sachen A. gegen B. und C. (WBE.2010.327).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
Für den Erlass von Verfügungen und für das Rechtsmittelver-
fahren gilt das Recht des Kantons Aargau (§ 32 und § 33 des
Staatsvertrags zwischen den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft,
Basel-Stadt und Solothurn über die Fachhochschule Nordwest-
schweiz vom 27. Oktober 2004 / 9. November 2004 / 18./19. Januar
2005 [Staatsvertrag FHNW; SAR 426.070]).
Das revidierte Verwaltungsrechtspflegegesetz vom 4. Dezember
2007 verzichtet auf eine Umschreibung des Verfügungsbegriffs bzw.
des Begriffs der Entscheide (vgl. § 26 VRPG). Nach der Recht-
sprechung zum Verwaltungsrechtspflegegesetz vom 9. Juli 1968 war
der Verfügungsbegriff mit der Definition in Art. 5 Abs. 1 VwVG und
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum - inzwischen aufge-
hobenen - Art. 97 Abs. 1 OG identisch (AGVE 1978, S. 300;
AGVE 1972, S. 339; Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und
Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege [Kommentar zu den §§ 38-72 aVRPG],
2011
Verwaltungsgericht
186
Diss. Zürich 1998, § 38 N 3). Nach dieser Rechtsprechung gilt als
Verfügung ein individueller, an den Einzelnen gerichteter Hoheitsakt,
durch welchen eine konkrete verwaltungsrechtliche Rechtsbeziehung
gestaltend oder feststellend in verbindlicher Weise geregelt wird. Die
Verfügung ist also auf Rechtswirkung ausgerichtet (AGVE 2006,
S.
85, Erw.
2.1.; AGVE
1981, S.
209 f. je mit Hinweisen;
BGE 131 I 13, Erw. 2.2). Diese Ausrichtung erfährt mit der Feststel-
lungsverfügung insoweit eine Ausnahme, als diese Verfügungsart
Rechte und Pflichten nur autoritativ feststellt, nicht begründet
(Art. 25 und Art. 5 Abs. 1 lit. b und c VwVG; Ulrich Häfelin/Georg
Müller/Felix Uhlmann, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungs-
rechts, 6. Auflage, Zürich 2010, Rz. 858 ff., Rz. 862).
Auf dieser Grundlage wird in Lehre und Rechtsprechung der
Verfügungscharakter einzelner Zeugnis- und Prüfungsnoten verneint,
soweit sie für das Bestehen einer Prüfung oder den Erwerb eines
Diploms nicht relevant sind. Die einzelnen Schulnoten beeinflussen
ausserhalb eines Promotions- und Prüfungskontextes die Rechtslage
der benoteten Schüler nicht, sondern geben lediglich eine Leistungs-
qualifikation wieder (vgl. Herbert Plotke, Schweizerisches Schul-
recht, 2.
Auflage, Bern/Stuttgart/Wien 2003, Kapitel 21.721;
BGE 136 I 229, Erw. 2.2 mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts
vom 8. September 2005 [2P.208/2005], Erw. 2.1 und VGE III/35
vom 26. April 2005 [WBE.2005.34]). Bei laufbahnrelevanten Schul-
und Zeugnisnoten ist sodann zu differenzieren, ob sich die einzelne
Note allein oder im Rahmen eines Notendurchschnitts auf das
Ergebnis auswirkt. Zeugnis- und Prüfungsnoten ohne Auswirkungen
auf den Ausbildungsgang sind Teil der Begründung eines Prüfungs-
oder Promotionsentscheids, weshalb das schutzwürdige Interesse an
einer Änderung und damit die Beschwerdelegitimation fehlt. Führt
demgegenüber die Gutheissung eines Begehrens zu einer Änderung
des Ergebnisses eines Prüfungs- oder eines Promotionsentscheides,
kann nicht mehr von fehlenden Rechtswirkungen gesprochen werden
(AGVE 2010, S. 235 f. Erw. 4.3.)
2011
Schulrecht
187
3.2.
Zur Bestimmung der Rechtsnatur und der Wirkungen des ange-
fochtenen Prüfungsentscheides sind die Regelungen, welche die
FHNW erlassen hat heranzuziehen.
Gemäss Rahmenordnung für die Bachelor- und Masterstudien-
gänge an der Fachhochschule Nordwestschweiz vom 1. Januar 2007,
mit Änderungen vom 1. Juni 2009 (Rahmenordnung), erhalten die
Studierenden nach Abschluss jedes Semesters eine Datenabschrift als
Leistungsausweis. Im Leistungsausweis sind alle im betreffenden Se-
mester besuchten Module mit den entsprechenden Leistungsbewer-
tungen und vergebenen ECTS-Credits aufgeführt (§ 7 Abs. 4 Satz 1
und § 5 Rahmenordnung). Diese Datenabschrift ist als einsprache-
fähige Verfügung mit Rechtsmittelbelehrung auszustellen (§ 7 Abs. 4
Satz 2 Rahmenordnung). Ebenso sehen die §§ 7 und 9 der Studien-
und Prüfungsordnung des Bachelor of Science in Wirtschaftsinfor-
matik vom 1. Oktober 2006 (StuPO FHNW) eine Leistungsbewer-
tung und einen Leistungsausweis mit ECTS-Credits und Bewertun-
gen vor. Gemäss § 14 Abs. 1 StuPO FHNW sind Entscheidungen
gestützt auf die StuPO FHNW den Betroffenen schriftlich und mit
Rechtsmittelbelehrung mitzuteilen. Einsprachen gegen Entscheide,
"die auf dieser Ordnung basieren" sind bei der Hochschuldirektion
zu erheben (§ 14 Abs. 2 Satz 1 StuPO FHNW). Die Überprüfung
einzelner Leistungsbewertungen "wegen Unangemessenheit" ist aus-
geschlossen und erfolgt lediglich "im Hinblick auf Missbrauch und
Willkür" (§ 14 Abs. 2 Satz 2 StuPO FHNW). Die Bestimmungen im
Abschnitt "V. Beschwerdeverfahren" setzen die Regeln über die
Rechtspflege in § 15 Rahmenordnung um. Der Hinweis der Be-
schwerdekommission FHNW auf die Möglichkeit einer Fortsetzung
des Studiums mit Wiederholung des Moduls oder durch den Besuch
anderer Module die erforderliche Mindestzahl in den Modulgruppen
erreichen zu können ändert nichts an der reglementarischen Verfü-
gungsqualität und Anfechtungsfähigkeit des Leistungsausweises.
Eine ungenügende Leistungsbewertung in einem Pflichtmodul ver-
pflichtet die Studierenden zur Wiederholung (§ 8 Rahmenordnung
und § 8 StuPO FHNW). Bei Wahlpflichtmodulen und Wahlmodulen
(vgl. dazu § 4 Rahmenordnung; § 5 StuPO FHNW) können die Stu-
2011
Verwaltungsgericht
188
dierenden allenfalls auf andere Module ausweichen. Diese Regelung
zeigt, dass die Prüfungsbewertung unmittelbare Auswirkung auf den
Studienverlauf hat. Zudem sind die einzelnen Abschlüsse in den
Modulen für den Studienabschluss relevant (vgl. § 12 Abs. 1 StuPO
FHNW). Das Erreichen der ECTS-Credits steht nicht im Ermessen
der Direktion oder der Hochschulleitung der FHNW, sondern be-
stimmt sich nach der Rahmenordnung und der StuPO FHNW auch
aus den Noten der Modulprüfungen (§ 6 Rahmenordnung; § 7 StuPO
FHNW und Anhang). Die Wirkung der einzelnen Note einer Modul-
prüfung ist daher nicht auf die tatsächlichen Folgen beschränkt. Die
Bewertung einer Prüfung mit den reglementarischen ECTS-Credits
im Leistungsausweis trifft eine Feststellung mit hoheitlichem
Charakter. Der Leistungsausweis vom 12. März 2010 stellt daher
nach der Rahmenordnung, der StuPO FHNW und den Auswirkungen
einen Entscheid mit hoheitlichem Charakter gemäss § 26 VRPG dar.
(...)
3.3.
Die Beschwerdekommission FHNW führt des Weiteren an, dass
sie nach § 33 Abs. 5 Staatsvertrag FHNW bei Beschwerden gegen
Prüfungsentscheide eine beschränkte Kognition habe. Die einge-
schränkte Kognition ist jedoch keine Frage der Zuständigkeit, son-
dern der Überprüfungsbefugnis einer Rechtsmittelinstanz. | 1,674 | 1,290 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2011-47_2011-02-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-47.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-47.pdf | AGVE_2011_47 | null | nan |
941ffe0a-c350-5ce6-9bd0-9f6e002aa2a4 | 1 | 412 | 871,149 | 1,212,537,600,000 | 2,008 | de | 2008
Sozialhilfe
245
[...]
41
Therapieaufenthalte suchtmittelabhängiger Personen (§ 14 SPG).
-
Voraussetzungen der Kostenübernahme.
-
Nur bei einer Gleichwertigkeit zweier Therapieangebote liegt es im
Ermessen der Sozialbehörde, das günstigere bzw. das von der Kran-
kenkasse anerkannte zu wählen.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 20. Juni 2008 in Sachen
Einwohnergemeinde X. gegen das Bezirksamt Aarau (WBE.2008.79).
Aus den Erwägungen
1.
Sozialhilfe bezweckt die Existenzsicherung, fördert die wirt-
schaftliche und persönliche Selbstständigkeit und unterstützt die ge-
sellschaftliche Integration (§ 4 Abs. 1 SPG). Die Existenzsicherung
gewährleistet Ernährung, Kleidung, Obdach und medizinische
Grundversorgung (§ 3 Abs. 1 SPV). Materielle Hilfe wird auf Ge-
such hin in der Regel durch Geldleistungen oder durch Erteilung von
2008
Verwaltungsgericht
246
Kostengutsprachen gewährt (§ 9 Abs. 1 SPG). Kostengutsprachen
sind, sofern die Voraussetzungen zur Gewährung materieller Hilfe
gegeben sind, insbesondere an medizinische Leistungserbringer im
ambulanten und im stationären Bereich sowie an Heime zu erteilen
(§ 9 Abs. 1 SPV). Ohne Kostengutsprache oder bei verspäteter Ge-
suchstellung besteht keine Pflicht zur Kostenübernahme bereits er-
brachter Leistungen (§ 9 Abs. 4 SPV). Für die Bemessung der mate-
riellen Hilfe sind gemäss § 10 Abs. 1 SPG i.V.m. § 10 Abs. 1 SPV
grundsätzlich die Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung
der Sozialhilfe, herausgegeben von der Schweizerischen Konferenz
für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien), 3.
Auflage, Dezember 2000,
verbindlich.
Die Kosten des Aufenthalts suchtmittelabhängiger Personen in
einer Therapieeinrichtung werden als materielle Hilfe übernommen,
wenn die Therapieeinrichtung im Sinne von § 15 SPG anerkannt ist.
Besondere Bestimmungen bleiben vorbehalten (§ 14 Abs. 1 SPG).
Die Gemeinde entscheidet beförderlich über die Erteilung der Kos-
tengutsprache (§ 14 Abs. 3 SPG). Sie stützt sich bei ihrem Entscheid
auf die Abklärungen und Empfehlungen medizinischer und anderer
Fachstellen, die dabei die Bedürfnisse der Hilfe suchenden Personen
berücksichtigen (§ 14 Abs. 4 SPG).
Die Pflicht zur Erteilung einer Kostengutsprache für Aufent-
halte in Heimen oder Kliniken als Form materieller Hilfe ist nach der
Rechtsprechung an verschiedene Voraussetzungen geknüpft. Neben
der materiellen Notlage, die es dem Gesuchsteller unmöglich macht,
für die Kosten einer therapeutischen Behandlung - nach Abzug all-
fälliger Versicherungsleistungen - selber aufzukommen, muss seine
Behandlungsbedürftigkeit, aber auch seine Behandlungswilligkeit
feststehen. Im Weiteren muss die dafür vorgesehene Institution für
die Behandlung geeignet sein. Soweit erforderlich, ist zur Beant-
wortung dieser Fragen auf die Beurteilung von Fachleuten abzustel-
len (AGVE 1993, S. 613 mit Hinweis; VGE II/28 vom 9. April 2003
[BE.2003.00038], S. 16 f.).
2.
Der Beschwerdegegner ist drogensüchtig. Er hat am 7. August
2007 einen ersten Anlauf für einen Entzug mit anschliessender
2008
Sozialhilfe
247
Suchttherapie genommen. Dieser Versuch wurde am 24. September
2007 abgebrochen. Am 16. Oktober 2007 meldete sich der Be-
schwerdegegner erneut für eine Entzugsbehandlung in der Klinik für
Suchtmedizin an. Diese erachtete den Beschwerdegegner nach er-
folgter Entzugsbehandlung als rückfallgefährdet. Die Behandlungs-
bedürftigkeit des suchtmittelabhängigen Beschwerdegegners ist des-
halb für das Verwaltungsgericht erstellt. Gleichermassen verhält es
sich mit dessen Behandlungswilligkeit. Beim ersten Therapieversuch
ist der Beschwerdegegner zwar gescheitert. Daraus kann jedoch nicht
ohne weiteres auf eine fehlende Behandlungswilligkeit geschlossen
werden. Therapieabbrüche und wiederholte Anläufe für eine Sucht-
therapie kommen bei Drogenabhängigen relativ häufig vor. Dass der
Beschwerdegegner behandlungsbedürftig und behandlungswillig ist,
wird denn auch von der Einwohnergemeinde X. nicht bestritten. Des-
halb hat sie in ihrem ablehnenden Beschluss vom 26. November
2007 ausdrücklich festgehalten, dass sie die Kostengutsprache ge-
genüber der Klinik im Hasel aufrechterhalten werde.
3.
Strittig ist, ob der zweite Therapieversuch des Beschwerdegeg-
ners wiederum in der Klinik im Hasel oder im Reha-Zentrum Nie-
derlenz (mit einem vorgängigen Übergangsprogramm in der Klinik
für Suchtmedizin) durchzuführen ist.
3.1.
3.1.1.
Die Klinik für Suchtmedizin empfiehlt für den zweiten Versuch
einer suchtspezifischen stationären Langzeittherapie nicht mehr die
Klinik im Hasel, sondern das Reha-Zentrum Niederlenz. Dieses biete
einen überschaubareren, familiären Rahmen und sei aufgrund der
spezifischen Bedürfnisstruktur und der persönlichen Biografie des
Beschwerdegegners bestens geeignet. Für die Zeit bis zum Übertritt
in das Reha-Zentrum Niederlenz wird das sozialtherapeutische
Übergangsprogramm in der Klinik für Suchtmedizin empfohlen.
Die Klinik im Hasel erachtet den Beschwerdegegner für eine
erneute Aufnahme als nicht geeignet. Die Klinik im Hasel setze ein
hohes Mass an Eigenverantwortung und Selbstdisziplin als Basis für
eine erfolgreiche Therapie voraus. Diese Voraussetzungen habe der
2008
Verwaltungsgericht
248
Beschwerdegegner nicht mitbringen können. Geeigneter wären des-
halb eher familiär ausgerichtete Therapiesettings mit deutlich struk-
turierenden und kontrollierenden Elementen, wie sie z.B. das Reha-
Zentrum Niederlenz darstelle.
3.1.2. (...)
3.1.3.
Im verwaltungs- sowie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren
gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Die Behörden prüfen
den Sachverhalt von Amtes wegen und stellen hiezu die notwendigen
Ermittlungen an. Sie würdigen das Ergebnis der Untersuchung frei
und wenden das Recht von Amtes wegen an (§ 20 Abs. 1 VRPG).
Auf Gutachten ist abzustellen, wenn sie schlüssig erscheinen. Ein
Grund zum Abweichen kann vorliegen, wenn die Gerichtsexpertise
widersprüchlich ist oder wenn ein vom Gericht eingeholtes Obergut-
achten in überzeugender Weise zu anderen Schlussfolgerungen ge-
langt. Abweichende Beurteilung kann ferner gerechtfertigt sein,
wenn gegensätzliche Meinungsäusserungen anderer Fachexperten
dem Richter als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des Ge-
richtsgutachtens in Frage zu stellen, sei es, dass er die Überprüfung
durch einen Oberexperten für angezeigt hält, sei es, dass er ohne
Oberexpertise vom Ergebnis des Gerichtsgutachtens abweichende
Schlussfolgerungen zieht (BGE 125 V 351 Erw. 3a/aa mit Hinwei-
sen).
3.1.4.
Die Empfehlungen der Klinik für Suchtmedizin sowie der Kli-
nik Hasel liefern nachvollziehbare Begründungen, weshalb ein
zweiter Anlauf für eine stationäre Drogentherapie in einer anderen
Institution als der Klinik im Hasel erfolgen sollte. Diese Begründun-
gen erscheinen dem Verwaltungsgericht als schlüssig. Allein aus dem
Umstand, dass die Klinik für Suchtmedizin und das Reha-Zentrum
der gleichen Stiftung angehören, kann noch nicht der Schluss gezo-
gen werden, die betreffenden Fachpersonen seien nicht in der Lage,
unabhängige Empfehlungen abzugeben. Dies zeigt sich auch daraus,
dass die Klinik für Suchtmedizin den Beschwerdegegner anlässlich
des ersten Entzugs auf die verschiedenen Therapieangebote hinge-
wiesen und anschliessend eine Empfehlung für die Klinik im Hasel
2008
Sozialhilfe
249
abgegeben hat. Der Vorhalt, die Klinik im Hasel hätte bei einer all-
fälligen Unterbelegung eine andere Empfehlung abgegeben, stellt
eine reine Vermutung dar. Die Einwohnergemeinde X. hält denn auch
ausdrücklich fest, dass sie an der Fachkompetenz der Personen, wel-
che diese Empfehlungen verfasst haben, nicht zweifle, und beantragt
kein Obergutachten.
Unter Berücksichtigung der fachrichterlichen Mitwirkung bei
der Beurteilung der Empfehlungen der betreffenden Fachstellen ist
der relevante Sachverhalt für die umstrittene Frage, bei welcher In-
stitution Kostengutsprache für eine stationäre suchtspezifische Lang-
zeittherapie Kostengutsprache zu erteilen sei, ausreichend erstellt.
Auf die Vornahme weiterer Abklärungen oder das Einholen weiterer
Gutachten kann deshalb verzichtet werden.
3.2.
Die Einwohnergemeinde X. stellt die Eignung des Reha-Zent-
rums Niederlenz (sowie des Übergangsprogramms in der Klinik für
Suchtmedizin) nicht grundsätzlich in Frage. Sie macht jedoch gel-
tend, dass auch die Klinik im Hasel geeignet und zumutbar sei. Dies
müsse aus dem Umstand geschlossen werden, dass es sich bei der
Suchtklinik Hasel um eine von den Krankenkassen anerkannte The-
rapieinstitution handle. Der Unterschied zwischen den beiden Thera-
pieeinrichtungen liege vor allem in den für die Einwohnergemeinde
X. entstehenden Kosten. Bei im Wesentlichen medizinischer/thera-
peutischer Gleichwertigkeit der Angebote müsse auch der - vorlie-
gend sogar enorme - Preisunterschied für das zahlungspflichtige Ge-
meinwesen eine Rolle spielen dürfen.
Die Gewährleistung der Existenzsicherung umfasse nur die me-
dizinische Grundversorgung gemäss § 3 Abs. 1 SPV. Medizinische
Grundversorgung heisse nicht Finanzierung nach den Wünschen und
Vorstellungen des sozialhilfeberechtigten Anspruchsstellers mit allen
zu Verfügung stehenden Mitteln und Institutionen, ungeachtet der
Kosten für die Allgemeinheit.
Gemäss § 5 Abs. 1 SPG bestehe ein Anspruch auf Sozialhilfe
nur, wenn u.a. andere Hilfeleistungen nicht erhältlich seien oder
nicht ausreichten. Mit seiner Weigerung, in die Klinik im Hasel ein-
treten zu wollen, verzichte der Beschwerdegegner freiwillig auf "an-
2008
Verwaltungsgericht
250
dere Hilfeleistungen", so insbesondere auf Beiträge der Krankenver-
sicherung. Gemäss Bericht der Klinik im Hasel vom 16. Dezember
2007 sei er zum damaligen Zeitpunkt von der Situation überfordert
gewesen. Dies bedeute nicht, dass er es heute immer noch sei. Er be-
finde sich bereits zum zweiten Mal in der Klinik für Suchtmedizin.
Die Einwohnergemeinde X. fragt sich, wieso dies nicht auch in der
Klinik im Hasel möglich sein soll.
Die Einwohnergemeinde X. kritisiert weiter das Schreiben des
Departementsvorstehers des DGS vom 12. Februar 2007. Sie könne
mit der dort geäusserten Meinung, dass aus gesundheitspolitischen,
ethischen und volkswirtschaftlichen Überlegungen in Bezug auf die
gesamthaft eingesetzten Mittel von Gemeinden, Kanton und Kran-
kenkassen nur die am besten geeigneten und die erfolgversprechend-
sten Behandlungen süchtigen Menschen ermöglicht werden sollten,
nichts anfangen. Die Einwohnergemeinde X. stellt die rechtliche
Verbindlichkeit dieses Schreiben in Frage.
3.3.
3.3.1.
Die Existenzsicherung umfasst u.a. die medizinische Grundver-
sorgung (§ 4 Abs. 1 SPG i.V.m. § 3 Abs. 1 SPV). Zur genaueren
Festlegung, was unter die medizinische Grundversorgung fällt, haben
die SKOS-Richtlinien (siehe vorne Erw. 1) z.B. in Bezug auf Kosten-
gutsprachen für Zahnbehandlungen die Grundsätze von Art. 32
Abs. 1 KVG sinngemäss übernommen (SKOS-Richtlinien, Kapi-
tel H-2). Nach dieser Bestimmung müssen die von der Krankenver-
sicherung übernommenen Leistungen wirksam, zweckmässig und
wirtschaftlich sein. Das Sozialhilfe- und Präventionsgesetz regelt je-
doch die Voraussetzung der Kostenübernahme für Therapieaufent-
halte suchtmittelabhängiger Personen in einem gesonderten Ab-
schnitt (vgl. § 14 SPG; Abschnitt: "IV. Sonderbestimmungen", sowie
§ 16 SPV). Die oben erwähnten Grundsätze des Krankenversiche-
rungsgesetzes finden in den sozialhilferechtlichen Bestimmungen zu
Kostengutsprachen für Therapieeinrichtungen keine Erwähnung. Die
dem Kostengutsprachegesuch beizulegenden Stellungnahmen von
Fachstellen haben sich gemäss § 16 Abs. 2 SPV zur Therapiebedürf-
tigkeit und Therapiebereitschaft der gesuchstellenden Person zu äus-
2008
Sozialhilfe
251
sern sowie sich mit der Frage der geeigneten Therapieeinrichtung
auseinanderzusetzen. Die genannte Bestimmung sieht aber ausdrück-
lich vor, dass die Fachstellen auch zu weiteren Faktoren Stellung
nehmen ("nebst anderem"). Unter diesem Gesichtspunkt kann auch
die Frage der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit
berücksichtigt werden.
Die Stellungnahmen der Fachstellen bedeuten nicht, dass der
Sozialbehörde beim Entscheid über das Gesuch keinerlei Ermessen
zukommt. Fachspezifische Beurteilungen, wie hier die Frage der
Notwendigkeit einer suchtspezifischen Langzeittherapie für eine So-
zialhilfeempfängerin, können zu einem Ergebnis führen, wonach
eine solche Behandlung zwar als nicht zwingend geboten, jedoch als
wünschbar erscheint. In diesem Sinne verbleibt der entscheidungsbe-
fugten Sozialbehörde durchaus ein Ermessensspielraum. Bei der
diesbezüglichen Ermessensausübung darf und muss sie auch andere
sachliche Gesichtspunkte (nicht fachspezifischer Art) berücksichti-
gen, namentlich auch finanzielle Gesichtspunkte (Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 19.
Mai 2004
[VB.2004.00088], Erw. 3.5). Stehen sich zwei gleichwertige Thera-
pieangebote gegenüber, liegt es ebenfalls im Ermessen der Sozialbe-
hörde, das günstigere zu wählen (vgl. SOG 1998, S. 118). Dies ergibt
sich bereits aus § 4 SPG, wonach die Sozialhilfe (lediglich) die Exis-
tenzsicherung bezweckt. Es ergibt sich aber auch aus der Pflicht der
Gemeindebehörden, mit den ihnen zu Verfügung stehenden finanziel-
len Mitteln sinnvoll und haushälterisch umzugehen (vgl. dazu § 2
Abs. 1 des für die kantonalen Behörden und die kantonale Verwal-
tung geltenden Gesetzes über die wirkungsorientierte Steuerung von
Aufgaben und Finanzen vom 11. Januar 2005 [GAF; SAR 612.100],
wonach die zur Erfüllung der Aufgaben erbrachten Leistungen
[Geld-, Sach- oder Dienstleistungen] auf ihre Wirksamkeit und Wirt-
schaftlichkeit zu überprüfen sind).
3.3.2.
Das Schreiben des Departementsvorstehers des DGS vom
12. Februar 2007, welches das Resultat einer Diskussion im Fach-
ausschuss DGS festhält, steht mit dieser Rechtsprechung im Ein-
klang. Es hält fest, dass für die Auswahl der Therapie nicht aus-
2008
Verwaltungsgericht
252
schliesslich der finanzielle Aspekt im Vordergrund stehen könne. Bei
der Beurteilung seien fachliche Argumente im Sinne der Gesetzge-
bung (§§ 14 und 15 SPG, insbesondere § 14, sowie §§ 16 und 17
SPV, insbesondere § 16) mit zu berücksichtigen. Der Erfolg könne
sich nur einstellen, wenn der Patient die für ihn geeignetste Behand-
lung erhalte.
Die Empfehlungen eines Fachausschusses weisen weder Geset-
zeskraft auf noch binden sie grundsätzlich den Richter oder die Ver-
waltungsbehörden. Dennoch sind solche Empfehlungen oder Richtli-
nien nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Re-
gel Ausdruck des Wissens und der Erfahrung bewährter Fachstellen
und in diesem Sinn beachtlich (BGE vom 10. September 2007
[1C_97/2007], Erw. 2.4 mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat demnach
zu Recht auf das Schreiben des Departementsvorstehers des DGS
vom 12. Februar 2007 abgestellt.
3.4.
Der Kanton Aargau verfügt über mehrere Therapieeinrichtun-
gen mit verschiedenartigen Angeboten für suchtmittelabhängige Per-
sonen. Das Reha-Zentrum, die Klinik für Suchtmedizin und die Kli-
nik im Hasel sind anerkannte Therapieeinrichtungen im Sinne von
§ 15 Abs. 1 SPG (Beschluss des Regierungsrats vom 28. Februar
2007 [Art. Nr. 2007-0002343]). Eine dieser Institutionen - die Klinik
im Hasel - ist von der Krankenkasse anerkannt. Dies führt dazu, dass
sich im vorliegenden Fall zwei Therapieeinrichtungen zur Auswahl
gegenüberstehen, die sich nicht nur durch ihr Konzept unterscheiden,
sondern auch durch eine unterschiedliche finanzielle Belastung, wel-
che sie für das kostentragende Gemeinwesen darstellen.
Für das Verwaltungsgericht ist aufgrund der Stellungnahmen
der Fachstellen (siehe vorne Erw. 3.1.1) erstellt, dass das Reha-Zen-
trum Niederlenz (kombiniert mit dem sozialtherapeutischen Über-
gangsprogramm in der Klinik für Suchtmedizin) für den Beschwer-
degegner die geeignete Therapieeinrichtung darstellt. Aus den Stel-
lungnahme der Fachstellen geht deutlich hervor, dass die Klinik im
Hasel den Beschwerdegegner überfordert, indem sie ein hohes Mass
an Eigenverantwortung und Selbstdisziplin voraussetzt. Der Be-
schwerdegegner benötigt einen überschaubaren, familiären Rahmen
2008
Sozialhilfe
253
sowie mehr strukturierende und kontrollierende Elemente, als ihm
dies die Klinik im Hasel bieten kann. Die Fachstellen können sich
bei diesen Empfehlungen auf die gemachten Erfahrungen während
des ersten gescheiterten Therapieversuchs des Beschwerdegegners in
der Klinik im Hasel abstützen. Es wäre somit - auch unter finanziel-
len Gesichtspunkten - wenig sinnvoll, trotz der negativen Erfahrun-
gen, welche im vorliegenden Fall mit dem Therapiekonzept in der
Klinik im Hasel gemacht wurden, versuchsweise nochmals einen
zweiten, gleichartigen Versuch zu starten, wie dies die Einwohner-
gemeinde X. fordert. Vielmehr leuchtet es ein, dass für den Be-
schwerdegegner ein andersartiges Therapiekonzept für den zweiten
Versuch fachspezifisch indiziert ist.
Ist - wie vorliegend - nur eine der beiden Institutionen auf-
grund ihres Konzepts für eine Therapie des Beschwerdegegners ge-
eignet, so stehen einander nicht zwei gleichwertig geeignete Thera-
pieeinrichtungen gegenüber. Damit verbleibt auch kein Ermessens-
spielraum für die kostentragende Gemeinde, die kostengünstigere
Variante auszuwählen (siehe vorne Erw. 3.3).
Unbehelflich ist auch die Berufung auf das in § 5 Abs. 1 SPG
ausgedrückte Subsidiaritätsprinzip (siehe vorne Erw. 3.2), wonach
Anspruch auf Sozialhilfe besteht, sofern die eigenen Mittel nicht ge-
nügen und andere Hilfeleistungen nicht rechtzeitig erhältlich sind
oder nicht ausreichen. Dem Beschwerdegegner kann nicht entgegen-
gehalten werden, er müsse die für ihn nicht geeignete Therapie als
"andere Hilfeleistung" in Anspruch nehmen.
Die Einwohnergemeinde X. hat deshalb die Kostengutsprache
für den zweiten Therapieversuch im Reha-Zentrum Niederlenz
(kombiniert mit dem sozialtherapeutischen Übergangsprogramm in
der Klinik für Suchtmedizin) zu Unrecht abgelehnt. Die Beschwerde
ist demnach vollumfänglich abzuweisen. | 3,809 | 3,082 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-41_2008-06-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-41.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-41.pdf | AGVE_2008_41 | null | nan |
94f04db9-6d09-5cb7-94d2-98fcd13f0dd4 | 1 | 412 | 871,735 | 1,207,267,200,000 | 2,008 | de | 2008
Verwaltungsgericht
230
[...]
38
Betriebskosten eines Motorfahrzeugs (§ 10 Abs. 5 lit. c SPV).
-
Wird ein Motorfahrzeug von einem Dritten zur Verfügung gestellt,
so muss dessen Benützung durch den Sozialhilfeempfänger eine
gewisse Intensität aufweisen.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 9. April 2008 in Sachen
R.R. gegen das Bezirksamt Baden (WBE.2007.395).
Aus den Erwägungen
1.
1.1. (...)
1.2.
Vom Bedarf der Hilfe suchenden Person werden die Betriebs-
kosten eines Motorfahrzeugs in Abzug gebracht, sofern dessen Be-
nützung nicht beruflich oder krankheitsbedingt zwingend erforder-
lich ist (§ 10 Abs. 5 lit. c Satz 1 SPV). Ein durch Dritte zur Verfü-
gung gestelltes Motorfahrzeug gilt als Naturalleistung, die ohne Vor-
liegen der erwähnten zwingenden Gründe als eigene Mittel ange-
rechnet wird (§ 10 Abs. 5 lit. c Satz 3 SPV).
2008
Sozialhilfe
231
2.
2.1.
Das Bezirksamt führte im Entscheid vom 17. Dezember 2007
aus, am 14. Februar 2007 habe der Beschwerdeführer sein Fahrzeug
verkauft, wobei er das Auto weiterhin nutzen dürfe. Vor dem Hinter-
grund, dass die Miete eine Autos der unteren Mittelklasse pro Tag ca.
Fr. 225.-- koste, erscheine die Aufrechnung einer monatlichen Zu-
wendung in der Höhe von Fr. 200.-- durchaus vertretbar. Es dürfe je-
doch auch für den Monat Februar 2007 nur eine Aufrechnung auf der
Basis von Fr. 200.-- erfolgen. Da der Verkauf des Wagens am
14. Februar 2007 erfolgt sei, dürfe für den Monat Februar 2007 zu-
dem nur ein halber Monat, d.h. Fr. 100.--, angerechnet werden.
2.2. (...)
3.
3.1.
Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer sein Fahrzeug an
einen Dritten verkauft hat und die Fahrzeugkosten vom neuen Halter
bezahlt werden. Ein Abzug der Betriebskosten in Anwendung von
§ 10 Abs. 5 lit. c Satz 1 SPV ist daher nicht zulässig. Sodann wird
vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht, dass er berufs- oder
krankheitsbedingt zwingend auf das Auto angewiesen sei. Zu prüfen
ist jedoch, ob die Vorinstanz § 10 Abs. 5 lit. c Satz 3 SPV richtig an-
gewandt hat bzw. ob diese Bestimmung im vorliegenden Fall über-
haupt zur Anwendung gelangt.
3.2.
In § 10 Abs. 5 lit. c SPV werden zwei Arten der Fahrzeugbe-
nützung unterschieden: einerseits die Benützung des eigenen Fahr-
zeugs, andererseits das zur Verfügung Stellen des Fahrzeugs durch
einem Dritten. Das Benützen des eigenen Fahrzeugs führt dazu, dass
die Betriebskosten in Abzug gebracht werden (Satz 1). Grundge-
danke dieser Bestimmung ist das Subsidiaritätsprinzip in der Sozial-
hilfe, wonach der Anspruch auf Sozialhilfe nur besteht, sofern die ei-
genen Mittel nicht genügen (vgl. § 5 Abs. 1 SPG). Besitzt der So-
zialhilfeempfänger ein eigenes Fahrzeug, so verwendet er die Unter-
stützungsleistung nicht nach ihrem ursprünglichen Zweck (Grundbe-
darf, Wohnkosten, medizinische Grundversorgung, usw.; siehe dazu
2008
Verwaltungsgericht
232
VGE IV/26 vom 29. März 2007 [WBE.2007.12], S. 6; VGE IV/37
vom 6. Juli 2006 [WBE.2006.142], S. 7). Auflagen und Weisungen
(so eben der Verkauf des Fahrzeugs) sichern die richtige Verwendung
der materiellen Hilfe (§ 14 SPV). Der Beschwerdeführer ist nicht
mehr Halter und Eigentümer des Fahrzeugs. Eine Kürzung wegen
Verletzung der Auflage, das Fahrzeug zu verkaufen, ist daher unzu-
lässig.
Satz 3 will die Umgehung von Satz 1 verhindern. An der
Grundaussage, dass der Sozialhilfeempfänger aus beruflichen oder
gesundheitlichen Gründen kein Fahrzeug benötigt, ändert sich näm-
lich nichts. Wird das Fahrzeug von einem Dritten zur Verfügung ge-
stellt, so muss dessen Benützung durch den Sozialhilfeempfänger je-
doch eine gewisse Intensität aufweisen; gelegentliches Benützen darf
nicht umgehend einen Abzug bzw. eine Aufrechnung nach sich zie-
hen (vgl. VGE IV/21 vom 26. April 2006 [WBE.2005.412], S. 12).
§ 10 Abs. 5 lit. c SPV gibt aber keine Grundlage für eine Aufrech-
nung eines allfälligen zu tiefen Verkaufserlös.
Den Akten sind keine Anhaltspunkte zu entnehmen, wonach das
Fahrzeug dem Beschwerdeführer ab Februar 2007 längerfristig oder
wiederholt zur Verfügung gestellt wird. Auch die Gemeinde A. bringt
nicht vor, dass der Beschwerdeführer das Fahrzeug mehr als nur
gelegentlich benutzt. Entsprechende Ausführungen können sodann
auch dem Entscheid der Vorinstanz nicht entnommen werden. Es ist
somit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer das verkaufte
Fahrzeug nur gelegentlich benutzt. Die Aufrechnung eigener Mittel
gestützt auf § 10 Abs. 5 lit. c Satz 3 SPV ab 14. Februar 2007 ist
daher nicht rechtmässig. Sollte der Beschwerdeführer das Fahrzeug
in Zukunft mehr als nur gelegentlich benutzen, ist eine Anrechnung
eigener Mittel zulässig, jedoch nur insoweit, als der Beschwer-
deführer durch die Fahrzeugbenützung finanziell begünstigt ist. | 1,116 | 935 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-38_2008-04-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-38.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-38.pdf | AGVE_2008_38 | null | nan |
9511718e-efdf-50f0-916b-0e6541e85612 | 1 | 412 | 870,871 | 1,196,553,600,000 | 2,007 | de | 2007
Verwaltungsrechtspflege
217
[...]
51 Treu und Glauben. Anspruch auf Veranlagung gemäss einer zuvor
erhaltenen unrichtigen Auskunft?
-
Voraussetzungen für die Verbindlichkeit einer unrichtigen Auskunft.
2007
Verwaltungsgericht
218
-
Nachweis nachteiliger Dispositionen, wenn diese in (behaupteten)
Unterlassungen bestehen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 7. Dezember 2007 in
Sachen E.S. gegen Steuerrekursgericht (WBE.2007.309). Zur Publikation
vorgesehen in StE 2008.
Sachverhalt
Der Steuerpflichtige meldete sich zur Teilnahme an einem be-
fristeten friedenserhaltenden Einsatz der Schweizer Armee im Aus-
land (SWISSCOY). Von einem zuständigen Mitglied der Steuerbe-
hörde erhielt er die Auskunft, die Einkünfte aus dem SWISSCOY-
Einsatz müssten nicht versteuert werden, sondern würden lediglich
satzbestimmend berücksichtigt. Nach seiner Rückkehr wurden diese
Einkünfte trotzdem erfasst mit der (zutreffenden) Begründung, die
Auskunft sei falsch gewesen. Darauf machten er und seine Ehefrau
geltend, er habe gestützt auf die Auskunft auf Vorkehrungen zur
Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland verzichtet (wonach die
SWISSCOY-Einkünfte in der Schweiz nicht hätten besteuert werden
können), und sie beanspruchten, gemäss der - wenn auch falschen -
Auskunft veranlagt zu werden.
Aus den Erwägungen
4./4.1. Die Gesetzmässigkeit der Verwaltung und damit verbun-
den der Grundsatz der Gleichbehandlung verbieten es von vorn-
herein, jede falsche behördliche Auskunft als verbindlich zu behan-
deln in dem Sinne, dass daraus im Einzelfall ein Anspruch auf ent-
sprechend falsche Gesetzesanwendung entstünde. Mit der Tatsache,
dass der Vorsteher des Gemeindesteueramtes in Aussicht stellte, das
Einkommen des Beschwerdeführers werde in Abzug gebracht (d.h.
nur satzbestimmend berücksichtigt), lässt sich das Beschwerdebe-
2007
Verwaltungsrechtspflege
219
gehren daher nicht begründen, da diese Auskunft mit dem geltenden
Recht nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
4.2./4.2.1. Nach dem heute in Art. 9 BV ausdrücklich veran-
kerten Grundsatz von Treu und Glauben kann eine unrichtige be-
hördliche Auskunft unter bestimmten Umständen Rechtswirkungen
entfalten. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Auskunft auf eine
konkrete, den betreffenden Bürger berührende Angelegenheit be-
zieht, dass die Amtsstelle für die Auskunftserteilung zuständig war
oder der Bürger sie aus zureichenden Gründen als zuständig be-
trachten durfte, dass der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht
ohne weiteres erkennen konnte, dass er im Vertrauen hierauf eine
nicht ohne Nachteil rückgängig zu machende Disposition getroffen
hat und dass sich die Rechtslage seit der Auskunftserteilung nicht
geändert hat (BGE 127 I 36; 121 II 479). Selbst wenn diese Voraus-
setzungen erfüllt sind, bedarf es zusätzlich einer Abwägung des In-
teresses an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts gegen-
über demjenigen des Vertrauensschutzes (BGE 116 Ib 187).
4.2.2. Im vorliegenden Fall ist vor allem fraglich, ob die Be-
schwerdeführer nachteilige Dispositionen getroffen haben. In dieser
Beziehung wird vorgebracht, sie hätten es unterlassen, sich gericht-
lich zu trennen oder andere steuersparende Massnahmen, wie bei-
spielsweise die vollumfängliche Aufgabe des Wohnsitzes in S. durch
beide Ehegatten mit Vermietung/ Verkauf der Liegenschaft, über-
haupt nur zu prüfen.
Wenn die geltend gemachten nachteiligen Dispositionen in Un-
terlassungen bestehen, muss der Bürger, der wegen einer falschen
Auskunft eine Vorzugsbehandlung im Vergleich zum objektiven
Recht beansprucht, glaubhaft machen, dass er bei korrekter Auskunft
die unterlassene Handlung tatsächlich vorgenommen hätte. Selbst
wenn es vereinzelte Zeitgenossen geben mag, die um einer Steuerer-
sparnis willen ein aufwendiges und sogar ein abwegiges und wirt-
schaftlich nachteiliges Vorgehen in Betracht ziehen, ist nicht hierauf
abzustellen, sondern als glaubhaft - auch ohne strikten Nachweis -
erscheint ein Vorgehen, wie es vernünftige Bürger in der gleichen
Situation wählen würden. Um dagegen anzuerkennen, jemand hätte
sich gegen die wirtschaftliche Vernunft verhalten, nur um von der
2007
Verwaltungsgericht
220
falschen Auskunft zu profitieren, bedarf es überzeugender Beweis-
mittel.
Die Beschwerdeführer machen nicht geltend, wegen Ehepro-
blemen wäre es ohnehin zu einer Trennung gekommen. Sie leben
denn auch seit der Rückkehr des Beschwerdeführers von seinem
Auslandeinsatz wieder zusammen in ihrem Haus. Eine gerichtliche
Trennung der Ehe zwecks Steuerersparnis, also zu einem diesem
Institut völlig fremden Zweck, läuft auf Rechtsmissbrauch bzw. auf
eine Steuerumgehung hinaus (siehe dazu BGE 131 II 267; Häfe-
lin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Auflage, Zü-
rich/Basel/Genf 2006, Rz. 715 ff.). Wer aber eine Behandlung nach
dem Grundsatz von Treu und Glauben beansprucht (siehe vorne
Erw. 4.2.1), darf selber nicht treuwidrig handeln. Die "entgangene
Möglichkeit", durch gerichtliche Trennung und anschliessende Ab-
meldung den Wohnsitz des Ehemanns zu verlegen, kann deshalb
nicht als "nachteilige Disposition" im Sinne des Vertrauensschutzes
anerkannt werden.
Die weitere angedeutete Möglichkeit, dass die Beschwerdefüh-
rer ihre eigene Liegenschaft hätten vermieten/verkaufen und dann
beide von S. wegziehen können, ist nicht mehr als eine blosse Hy-
pothese. Zudem ist es unglaubwürdig, dass die Beschwerdeführer die
ganzen Umstände um eines temporären Steuervorteils willen auf sich
genommen hätten, wenn sie ja eigentlich nach einem Jahr wieder
gemeinsam in ihrem Haus leben wollten (wie sie es dann tatsächlich
auch machten).
4.2.3. Aus der falschen Auskunft können die Beschwerdeführer
somit keinen Anspruch auf gesetzwidrige Bevorteilung ableiten. | 1,223 | 1,015 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2007-51_2007-12-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-51.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-51.pdf | AGVE_2007_51 | null | nan |
955fb628-996f-50d9-836e-cb328c8e2737 | 1 | 412 | 869,645 | 1,062,460,800,000 | 2,003 | de | 2003
Verwaltungsrechtspflege
311
[...]
78 Rechtliches
Gehör.
Akteneinsichtsrecht.
- Untaugliche Beweismittel müssen nicht abgenommen werden; antizi-
pierte Beweiswürdigung (Erw. 1).
- Zieht eine Behörde Akten bei, so haben die Parteien Anspruch auf
Einsicht, selbst wenn die Behörde die Akten als irrelevant betrachtet
(Erw. 2/a-c).
- Verweigerte Akteneinsicht: Heilung im Rechtsmittelverfahren
(Erw. 2/d).
2003
Verwaltungsgericht
312
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 10. September 2003 in
Sachen G..B. gegen Entscheid des Steuerrekursgerichts.
Aus den Erwägungen
1. a) Im Sinne eines Beweisantrages verlangt die Beschwerde-
führerin den Beizug sämtlicher Steuerakten ihres verstorbenen Ehe-
mannes.
b) Vom Steuerpflichtigen oder der Steuerbehörde angebotene,
gesetzlich zulässige Beweise, die zur Feststellung erheblicher Tatsa-
chen geeignet sind, müssen abgenommen werden (§
133
Abs. 2 aStG). Der Anspruch des Steuerpflichtigen auf Abnahme sol-
cher Beweismittel ist Ausfluss des rechtlichen Gehörs. Er besteht
indessen nicht unbeschränkt, sondern unter der Voraussetzung, dass
das beantragte Beweismittel geeignet ist, eine für die Veranlagung
wesentliche Behauptung zu erhärten (AGVE 1991, S. 365 f.; 1983,
S. 366 f.; Jürg Baur, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz,
Muri/BE 1991, § 133 N 4). Ein Verzicht ist insbesondere dann ge-
boten, wenn die Abnahme von Beweisen in Frage steht, die sich von
vorneherein als untauglich erweisen (Ulrich Häfelin/Georg Müller,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2002,
Rz. 1686; Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechts-
pflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, § 7 N 10,
§ 8 N 34, je mit Hinweisen). Diese sog. antizipierte Beweiswürdi-
gung ist zulässig, bedarf allerdings jeweils einer genügenden Be-
gründung (vgl. AGVE 1991, S. 365 f., 378 f.; 1989, S. 152;
VGE II/31 vom 3. April 1996 [BE.1994.00169] in Sachen E. K.,
S. 12).
c) Die Vorinstanz hat vom Gemeindesteueramt B. die Steuerak-
ten des Ehemannes für die Veranlagungsperiode 1999/2000 beige-
zogen, vom Beizug von Akten früherer Veranlagungsperioden hat sie
abgesehen. Vorliegend geht es um die für die Steuerveranlagung
1999/2000 massgebenden Einkommensverhältnisse der Beschwer-
deführerin in den Bemessungsjahren 1997/98 (§ 53 aStG), insbeson-
dere um die ihr vom Ehemann geleisteten Unterhaltszahlungen für
2003
Verwaltungsrechtspflege
313
die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 31. Dezember 1998. Die Steuerakten
des Ehemannes können, wie die Beschwerdeführerin selber zutref-
fend ausführte, einzig insoweit von Bedeutung sein, als es um die
Überprüfung der von ihm in diesem Zeitraum effektiv erbrachten
Unterhaltsleistungen geht. Hierfür sind allein die Steuerakten
1999/00 des Ehemannes von Bedeutung, da die älteren Akten ledig-
lich in die vorliegend nicht bedeutsamen Einkommens- und Vermö-
gensverhältnisse weiter zurückliegender Jahre Einblick geben kön-
nen. Das vorliegende Beschwerdeverfahren kann nicht dazu dienen,
für die Beschwerdeführerin weitere Akten anzufordern, an denen sie
in anderem Zusammenhang (Zwischenveranlagung; güter- und erb-
rechtliche Auseinandersetzung) interessiert sein mag. Dies führt zur
Abweisung des Beweisantrags der Beschwerdeführerin.
2. a) Die Beschwerdeführerin rügt, sie sei durch die Verweige-
rung des Akteneinsichtsrechts betreffend die Steuerakten des
Ehemannes in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wor-
den.
b) Das Recht auf Akteneinsicht als Teilgehalt des Anspruchs auf
rechtliches Gehör hat Verfassungsrang (Art. 29 Abs. 2 BV). Es soll
den Verfahrensbeteiligten dazu verhelfen, von den einem Verfahren
zu Grunde liegenden Akten Kenntnis zu nehmen (BGE 108 Ia 7;
Michele Albertini, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches
Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern
2000, S. 225). Das Recht auf Akteneinsicht während eines Verfah-
rens gilt nicht uneingeschränkt. Die Einsicht in ein Aktenstück kann
nach § 16 Abs. 1 VRPG mit Grundangabe verweigert werden, wenn
dieses nur dem verwaltungsinternen Gebrauch dient, wie Notizen,
Entwürfe, Referate und dergleichen (lit. a) oder wenn wichtige
öffentliche oder schutzwürdige private Interessen zu wahren sind (lit.
b). Nicht zulässig ist es indessen, den Anspruch von besonderen Vor-
aussetzungen abhängig zu machen (AGVE 1990, S. 407). So ist es
insbesondere unerheblich, ob das Aktenstück den Ausgang des
Verfahrens tatsächlich beeinflusst; es genügt, dass es überhaupt
geeignet ist, die Entscheidfindung zu beeinflussen (Albertini, a.a.O.,
S. 227; vgl. auch Alfred Kölz/Isabelle Häner, Verwaltungsverfahren
und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, Zürich 1998, Rz. 296;
2003
Verwaltungsgericht
314
Willy Huber, Das Recht des Bürgers auf Akteneinsicht im Verwal-
tungsverfahren, Diss. St. Gallen, 1980, S. 47). In diesem Sinne hat
das Bundesgericht festgehalten, dass die Einsicht in Akten, die für
ein bestimmtes Verfahren beigezogen wurden, nicht mit der Begrün-
dung verweigert werden dürfe, die fraglichen Akten seien für den
Verfahrensausgang belanglos; es müsse dem Betroffenen vielmehr
selber überlassen sein, die Relevanz der Akten zu beurteilen
(unpublizierter Bundesgerichtsentscheid vom 13. August 1996 i.S.
E., zitiert bei Albertini, a.a.O., S. 227).
c) Die Vorinstanz verweigerte der Beschwerdeführerin nicht aus
den in § 16 Abs. 1 VRPG genannten Gründen die Einsicht in die
Steuerakten 1999/2000 des Ehemannes, sondern weil sie (an sich
zutreffend) zum Schluss gekommen war, dass sich darin keine rele-
vanten Unterlagen befänden, welche nicht auch in den Steuerakten
der Beschwerdeführerin enthalten seien, und dass die Veranlagung
des Ehemannes keinen Einfluss auf das vorliegende Verfahren habe.
Damit machte die Vorinstanz das Akteneinsichtsrecht der Beschwer-
deführerin letztlich zu Unrecht vom Verfahrensausgang abhängig
und verletze damit deren Anspruch auf rechtliches Gehör.
d) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur.
Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Be-
schwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Ent-
scheids (vgl. statt vieler BGE 127 I 132 mit Hinweis). Eine Heilung
in einem Rechtsmittelverfahren ist ausnahmsweise möglich. Dies
hängt namentlich von der Schwere und Tragweite der Gehörsverlet-
zung sowie davon ab, ob die Rechtsmittelinstanz den angefochtenen
Entscheid in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht frei überprüfen
kann (BGE 127 V 437 f.; 126 V 132; vgl. zum Ganzen auch:
AGVE
1997, S.
374; VGE IV/54 vom 23.
Dezember 2002
[BE.2000.00270] in Sachen A.R. und Mitbeteiligte, S. 8, je mit Hin-
weisen).
Der Beschwerdeführerin ist aus dem Vorgehen der Vorinstanz
kein Rechtsnachteil erwachsen. Die ihr nicht zugestellten Steuerak-
ten 1999/2000 des Ehemannes dienten der Vorinstanz nicht als Ent-
scheidungsgrundgrundlage. Zudem war die Beschwerdeführerin auf
Grund ihrer Anfrage vom 20. Februar 2001 an das Gemeindesteuer-
2003
Verwaltungsrechtspflege
315
amt B. im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils zumindest im Be-
sitz der Steuererklärung 1999/2000 ihres Ehemannes. Die Gehörs-
verletzung wiegt somit nicht schwer und konnte durch die Zustellung
der Steuerakten 1999/2000 des Ehemannes durch das Verwaltungs-
gericht, dem die gleiche Kognition wie der Vorinstanz zukommt,
geheilt werden. | 1,729 | 1,396 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2003-78_2003-09-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-78.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-78.pdf | AGVE_2003_78 | null | nan |
957b060b-79ce-5d3c-93c6-88c8d353adca | 1 | 412 | 869,760 | 1,017,792,000,000 | 2,002 | de | 2002
Verwaltungsgericht
296
[...]
74
Verfahrensbeteiligung; Anfechtungszeitpunkt; Auswahl der Zuschlags-
kriterien.
-
Verfahrensbeteiligung (Erw. I/4). Allgemeine Grundsätze in Bezug auf
die Verfahrensbeteiligung des Zuschlagsempfängers (Erw. I/4/a-c).
Verfahrensbeteiligung von Arbeitsgemeinschaften (Erw. I/4/d).
-
Zeitpunkt der Anfechtung von Ausschreibung und Ausschreibungsun-
terlagen (Erw. II/3/c).
-
Auswahl und Gewichtung der Zuschlagskriterien; Zulässigkeit der
Berücksichtigung von sogenannten "weichen" Zuschlagskriterien
(Erw. II/3/d).
2002
Submissionen
297
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 30. April 2002 in Sa-
chen ARGE Argovia A1 Baregg West gegen Regierungsrat.
Aus den Erwägungen
I. 4. a) Den Zuschlagsempfängerinnen wurde die Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde mit Verfügung des Instruktionsrichters vom
5. Februar 2002 zugestellt mit dem Hinweis, dass es ihnen freige-
stellt sei, sich am Verfahren zu beteiligen und eine Vernehmlassung
zu erstatten. Sie wurden darauf aufmerksam gemacht, dass mit einer
Verfahrensbeteiligung ein allfälliges Kostenrisiko für den Fall des
Unterliegens verbunden sei.
b) Mit einer vom Geschäftsführer und vom Leiter Administra-
tion unterzeichneten Eingabe vom 13. Februar 2002 teilt die B. AG
mit, dass die Arbeitsgemeinschaft B. AG, W. AG und Z. AG be-
schlossen habe, "sich als ARGE am Verfahren nicht zu beteiligen".
Weiter wird aber ausgeführt:
"Ich erlaube mir indessen als Vertreter der mit der Federführung be-
trauten Gesellschafterin einige Bemerkungen genereller Natur, sowie
einzelne Richtigstellungen von Behauptungen der Einsprecherin, die
sich lediglich gegen die B. AG richten."
Daran anschliessend äussert sich die B. AG zu verschiedenen,
vor allem sie betreffenden Aussagen in der Verwaltungsgerichtsbe-
schwerde. Förmliche Anträge stellt sie keine.
Die Beschwerdeführerinnen vertreten den Standpunkt, da sich
die Zuschlagsempfängerinnen hätten vernehmen lassen, seien sie
ungeachtet ihrer eigenen Ansichten am Verfahren beteiligt. Andern-
falls sei die Eingabe unbeachtlich und aus dem Recht zu weisen.
c) Gemäss § 41 Abs. 1 VRPG ist die Beschwerde, soweit sie
sich nicht sofort als unzulässig oder unbegründet darstellt, der Vorin-
stanz und allen Beteiligten, die durch das Beschwerdebegehren be-
troffen werden, zur Vernehmlassung zuzustellen. Wird ein Zuschlag
angefochten, hat derjenige Anbieter, der den Zuschlag ursprünglich
erhielt, ein eigenes, schützenswertes Interesse an der Beibehaltung
der zu seinen Gunsten lautenden Zuschlagsverfügung (Peter Galli /
2002
Verwaltungsgericht
298
Daniel Lehmann / Peter Rechsteiner, Das öffentliche Beschaffungs-
wesen in der Schweiz, Zürich 1996, Rz. 542; vgl. auch Urteil des
Bundesgerichts vom 18. Oktober 2001 [2P.153/2001] in Sachen In-
genieurbüro X. AG, E. 1a). Er ist "Beteiligter" im Anfechtungsver-
fahren "seines" Zuschlags (Galli/Lehmann/Rechsteiner, a.a.O.). Es
ist ihm deshalb die Beschwerdeschrift gestützt auf § 41 Abs. 1 VRPG
in Verbindung mit § 23 SubmD zur Kenntnisnahme und allfälligen
Stellungnahme
zuzustellen.
Die
Verpflichtung,
den
Zu-
schlagsempfänger solchermassen von Amtes wegen in das Verfahren
einzubeziehen, folgt auch aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör
(§ 15 VRPG; Art. 29 Abs. 2 BV). Das Äusserungsrecht der Verfah-
rensbeteiligten umfasst (formell) das Recht, am Verfahren mitzuwir-
ken, ihren Standpunkt wirksam zu vertreten, Anträge zu stellen und
an Beweisverhandlungen teilzunehmen. Die Wahrnehmung dieser
Verfahrensrechte in einem verwaltungsgerichtlichen Beschwerde-
verfahren setzt voraus, dass der Betroffene am Verfahren als Partei
und mit den gesetzlichen Kostenfolgen auch dann teilnimmt, wenn
die Beteiligung nicht zwingend ist. Wer im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren auf eine Parteistellung verzichtet, begibt sich damit in der
Regel gleichzeitig der Möglichkeit, im Rahmen des Prozesses die
Partei- und Mitwirkungsrechte einschliesslich des Anspruchs auf
rechtliches Gehör auszuüben. Damit geht keine Schmälerung dieses
bedeutenden Verfahrensrechts einher: Das Kostenrisiko als Reflex
einer Verfahrensbeteilung wäre nur dann mit dem Anspruch auf
rechtliches Gehör unvereinbar, wenn die Höhe der drohenden Kosten
dessen Ausübung faktisch verunmöglichen würde (vgl. VGE III/67
vom 9. September 1997 [BE.1996.00144] in Sachen Pro Natura
Schweiz u. M., S. 5 f., bestätigt durch Entscheid des Bundesgerichts
vom 23. Februar 2000 [1P.718/1999] in gleicher Sache). Der
Zuschlagsempfänger ist in einem Submissionsbeschwerdeverfahren
in aller Regel nicht zwingend beteiligt; er kann folglich auf eine
Parteistellung verzichten. Ein solcher Verzicht hat zur Folge, dass der
Verzichtende an der (weiteren) Mitwirkung am Verfahren ausge-
schlossen ist. Auch die Ausübung der Verfahrensgarantie des
rechtlichen Gehörs darf - wie ausgeführt - von der Teilnahme am
Verfahren abhängig gemacht werden. Dies gilt insbesondere auch für
2002
Submissionen
299
die Möglichkeit, sich zu einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vernehmen zu lassen (erwähnter VGE in Sachen Pro Natura Schweiz
u. M., S. 6). Wer sich auf ein Rechtsmittelverfahren einlässt und
entsprechende Rechtsbegehren stellt, hat mit seinem Unterliegen zu
rechnen und die damit verbundenen finanziellen Folgen zu tragen.
Will eine Partei ein solches Prozessrisiko nicht auf sich nehmen, hat
sie sich vom Prozess zu distanzieren. Es steht ihr wie erwähnt frei,
sich am Rechtsmittelverfahren nicht zu beteiligen und auf eine Stel-
lungnahme zu verzichten (BGE 119 Ia 3).
d) aa) Im vorliegenden Fall haben die drei Zuschlagsempfänge-
rinnen ausdrücklich darauf verzichtet, sich als Arbeitsgemeinschaft
am Beschwerdeverfahren zu beteiligen. Angesichts dieses klar und
unmissverständlich deklarierten Verzichts kann aus der Tatsache,
dass die B. AG als innerhalb der Arbeitsgemeinschaft federführende
Gesellschafterin in eigenem Namen zur Beschwerde Stellung nimmt,
entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen nicht auf eine Ver-
fahrensbeteiligung der Zuschlagsempfängerinnen als Gesamtheit
geschlossen werden.
bb) Zu prüfen bleibt, ob die Eingabe vom 13. Februar 2002 al-
lenfalls zu einer alleinigen Beteiligung der B. AG am vorliegenden
Beschwerdeverfahren (mit entsprechendem Kostenrisiko) führt.
aaa) Zunächst stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage,
inwiefern sich eine Partnerin einer Arbeitsgemeinschaft auch allein
an einem Beschwerdeverfahren beteiligen kann. Die Mitglieder einer
einfachen Gesellschaft, was die Arbeitsgemeinschaft in der Regel ist,
bilden eine Gesamthandschaft und damit grundsätzlich eine
notwendige Streitgenossenschaft. Im Verwaltungsprozess wird den
einzelnen Gesamthandschaftern jedoch eine selbständige Anfech-
tungsbefugnis zuerkannt, wenn das Rechtsmittel darauf gerichtet ist,
eine belastende oder pflichtbegründende Anordnung abzuwenden.
In Bezug auf die Beschwerdelegitimation der einzelnen Gesell-
schafter einer im Submissionsverfahren nicht berücksichtigten Ar-
beitsgemeinschaft ist die Rechtsprechung nicht einheitlich. Nach der
Praxis der Eidgenössischen Rekurskommission für das öffentliche
Beschaffungswesen (BRK/CRM) kann auch ein einzelner Gesell-
schafter allein Beschwerde erheben, insbesondere um für die Gesell-
2002
Verwaltungsgericht
300
schaft allfällige Nachteile abzuwenden. An der Beschwerdelegitima-
tion fehlt es allerdings dann, wenn ein oder mehrere Gesellschafter
bewusst aus der Arbeitsgemeinschaft ausgeschieden und an einem
Zuschlag nicht mehr interessiert sind (Urteil vom 16. August 1999
[CRM 1999-002] in Sachen P. SA, E. 1b; André Moser, Überblick
über die Rechtsprechung 1998/99 zum öffentlichen Beschaffungswe-
sen, in: AJP 2000, S. 684 m. H.). Das Verwaltungsgericht des Kan-
tons Zürich hingegen spricht einem einzelnen Mitglied einer Anbie-
tergemeinschaft die Legitimation zur Beschwerde gegen einen Ver-
gabeentscheid, der die Gemeinschaft als Ganzes betrifft, ab mit der
Überlegung, der Entscheid, mit welchem einer Anbietergemeinschaft
der Zuschlag oder die Teilnahme am selektiven Verfahren verweigert
werde, begründe zu Lasten derselben keine Rechtspflichten oder
sonstigen Nachteile. Die Beschwerde sei daher nicht darauf
ausgerichtet, eine die Gemeinschaft belastende Anordnung abzu-
wehren; sie wolle vielmehr zu Gunsten der Gemeinschaft die positi-
ven Rechtswirkungen herbeiführen, die sich aus dem Zuschlag ergä-
ben. Die Übernahme eines öffentlichen Auftrags als Folge des Zu-
schlags könne nur durch die Bietergemeinschaft als Ganzes erfolgen
(Urteil vom 1. Februar 2000 [VB.1999.00347], in: RB an den Kan-
tonsrat 2000 Nr. 11, S. 54 f.).
In einer grundsätzlich anderen Situation als eine für die Vergabe
nicht berücksichtigte Bietergemeinschaft befindet sich eine Arbeits-
gemeinschaft, wenn die zu ihren Gunsten lautende Zuschlagsverfü-
gung von einer unterlegenen Konkurrentin angefochten wird; ihr
droht der mögliche Entzug eines ihr zugesprochenen Rechts. Ob sie
sich dagegen aktiv zur Wehr setzt oder die Verteidigung des Zu-
schlags ausschliesslich der Vergabebehörde überlässt, ist ihr freige-
stellt. Hier muss nicht nur der Arbeitsgemeinschaft als solcher, son-
dern darüber hinaus auch den einzelnen Streitgenossen die Befugnis
zukommen, sich durch eine Beteiligung am Beschwerdeverfahren für
die Beibehaltung des erteilten Zuschlags einzusetzen. Ein solcher
Einsatz dient zwangsläufig den Interessen der gesamten Arbeitsge-
meinschaft; die Gefahr von Interessenkollisionen bzw. einer Benach-
teiligung der Gemeinschaft oder der übrigen Mitglieder besteht des-
2002
Submissionen
301
wegen nicht. Grundsätzlich steht einer Beteiligung einzelner Mitglie-
der einer Bietergemeinschaft daher nichts entgegen.
bbb) Im Folgenden ist indessen nicht von einer Verfahrensbe-
teiligung der B. AG auszugehen. Die kurz gehaltene Stellungnahme
vom 13. Februar 2002 beschränkt sich im Wesentlichen auf Bemer-
kungen allgemeiner Natur und auf das Widerlegen einiger als un-
richtig erachteter Behauptungen in der Beschwerde betreffend ins-
besondere die B. AG. Um eine umfassende, sich eingehend mit der
Beschwerde und der darin enthaltenen Argumentation auseinander-
setzende Vernehmlassung handelt es sich nicht. Auch werden - und
dies erscheint wesentlich - weder materielle noch prozessuale An-
träge gestellt. Die B. AG hat zudem bestätigt, sich nicht am Verfah-
ren beteiligen zu wollen. Mithin steht ihr aber auch kein Anspruch
auf rechtliches Gehör zu (vgl. vorne Erw. c). Dies hat zur Konse-
quenz, dass die Stellungnahme von 13. Februar 2002 soweit aus dem
Recht zu weisen ist, als nicht der Untersuchungsgrundsatz (§ 20 Abs.
1 VRPG) eine Berücksichtigung darin erwähnter Tatsachen gebietet
(vgl. auch AGVE 1997, S. 283).
(...)
II. 3. b) (...) Die Beschwerdeführerinnen rügen die vorliegend
ausgewählten Zuschlagskriterien in ihrem Gesamtsystem als sachlich
unhaltbar und willkürlich. Sie beanstanden vor allem die Gewichtung
des Zuschlagskriteriums "Kompetenz" mit über 50%. Bei den ge-
wählten Teil- und Unterkriterien handle es sich zum allergrössten
Teil um "weiche" Kriterien, die sich nicht annähernd konkret
bemessen liessen und der Vergabebehörde einen praktisch unbe-
schränkten Ermessens- bzw. Manipulationsspielraum einräumten.
Die Vertreter des Baudepartments hätten anlässlich der Besprechung
vom 18. Januar 2002 eingeräumt, dass bei Bauvorhaben wie dem
vorliegenden die Differenzen beim Kriterium Kompetenz erfah-
rungsgemäss nie gross und die Anbieter diesbezüglich stets in etwa
gleich zu beurteilen und zu gewichten seien. Unter diesen Umstän-
den gebe es keinen sachlichen Grund, die Kompetenz mit über 50%
Gewichtung zum ausschlaggebenden Kriterium zu erheben; im
Gegenteil müssten Kriterien wie Preis und Termin klar in den Vor-
dergrund rücken, wenn die Kompetenzunterschiede gering oder nur
2002
Verwaltungsgericht
302
schwer fassbar seien. Mit Hilfe der Zuschlagskriterien sei unter den
geeigneten Anbietern das wirtschaftlich günstigste Angebot zu er-
mitteln. Dies schliesse es aus, nicht angebotsbezogenen und damit
nicht der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots die-
nenden Kriterien in einem offenen Verfahren den absoluten Vorrang
einzuräumen. Die Vergabestelle habe unter dem Zuschlagskriterium
"Kompetenz" indessen fast ausschliesslich anbieterbezogene Eig-
nungskriterien bewertet, was widersprüchlich, sachfremd und will-
kürlich sei. Hinter einer angemessenen Gewichtung des Preises
stünden bei Grossprojekten wie dem vorliegenden erhebliche öffent-
liche Interessen. Es sei absurd, wenn ein Anbieter allein auf Grund
der "weichen" Kriterien den Zuschlag erhalten könne, obwohl er
vom Preis her ein Vielfaches teurer sei. Jeder Anbieter müsse zu-
mindest die theoretische Chance haben, den Zuschlag zu erringen,
wenn er bei den "harten", messbaren und angebotsbezogenen Krite-
rien obenaus schwinge.
c) Zu prüfen ist zunächst, ob die Beschwerdeführerinnen mit
den gegen die Auswahl und Gewichtung der Zuschlagskriterien ge-
richteten Rügen im vorliegenden Verfahren überhaupt noch zu hören
sind, was der Regierungsrat verneint.
aa) Die Ausschreibung gilt im Anwendungsbereich des
GATT/WTO-Übereinkommens als anfechtbare Verfügung (§ 37
Abs. 2 lit. b SubmD, § 33 lit. b der Vergaberichtlinien auf Grund der
interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswe-
sen [IVöB; SR 172.056.4] vom 25. November 1994 [VRöB]).
Konnten die Ausschreibung und die Ausschreibungsunterlagen selb-
ständig angefochten werden, so stellt sich die Frage, ob auf sie im
Anschluss an den Zuschlag bzw. im Rahmen seiner Anfechtung noch
zurückgekommen werden darf.
bb) Die Rechtsprechung der eidgenössischen und kantonalen
Rechtsmittelinstanzen zu dieser Frage ist nicht einheitlich:
aaa) Nach Auffassung des Bundesgerichts ist die Anfechtung
grundsätzlich nicht mehr möglich; es verstiesse gegen Treu und
Glauben, wenn ein Anbieter, der sich auf ein Submissionsverfahren
eingelassen habe, obwohl er die von ihm als ungenügend erachtete
Umschreibung der Zuschlagskriterien in der Ausschreibung oder in
2002
Submissionen
303
den Ausschreibungsunterlagen hätte anfechten können, noch in die-
sem Zeitpunkt dagegen Beschwerde führen könnte (BGE 125 I 207;
Entscheid des Bundesgerichts vom 2. März 2000 [2P.222/1999] in
Sachen S. AG / K. AG, S. 6). Das Verwaltungsgericht des Kantons
Aargau hat die Rechtsprechung des Bundesgerichts für Vergaben im
Anwendungsbereich des Übereinkommens über das öffentliche Be-
schaffungswesen [ÜoeB; SR 0.632.231.422] vom 15. April 1994 und
des IVöB bzw. §§ 29 ff. SubmD übernommen, ohne sich damit
fundiert auseinander zusetzen (VGE III/155 vom 15. Dezember 2000
[BE.1997.00372] in Sachen ARGE Argovia A1, S. 12). Eine Ver-
pflichtung zur sofortigen Anfechtung (zumindest) der öffentlichen
Ausschreibung bejahen grundsätzlich auch das Obergericht des
Kantons Uri und das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (vgl.
die Urteile des Obergerichts des Kantons Uri vom 5. Mai 1999 und
23. August 1999, in: Rechenschaftsbericht über die Rechtspflege des
Kantons Uri in den Jahren 1998 und 1999, Nr. 28, S. 73, und Nr. 29,
S. 75; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
25. August 2000, in: LGVE 2000 II Nr. 11, S. 211).
bbb) Die BRK hat in einem neueren Grundsatzurteil die selb-
ständige Anfechtbarkeit der Ausschreibungsunterlagen klar verwor-
fen. In Bezug auf die Verpflichtung zur sofortigen Anfechtung der
öffentlichen Ausschreibung argumentiert die BRK in Präzisierung
ihrer bisherigen Rechtsprechung nun differenziert: Anordnungen, die
bereits aus sich selbst heraus rechtswidrig erscheinen und deren
Bedeutung und Tragweite für die Interessenten ohne weiteres er-
kennbar sind (z.B. Anordnungen betreffend Verfahrensart, Einga-
befristen, Losbildung, Zulässigkeit von Varianten, Teilangeboten,
Bietergemeinschaften, Verfahrensprache), müssen selbständig an-
gefochten werden, andernfalls verwirkt das Anfechtungsrecht. So-
weit die öffentliche Ausschreibung hingegen Anordnungen enthält,
deren volle Bedeutung und Tragweite auch bei objektiver Betrach-
tungsweise noch wenig klar ist und sich für die Interessenten erst im
Verlauf des weiteren Verfahrens mit genügender Eindeutigkeit ergibt,
bleibt die Anfechtungsmöglichkeit in einem späteren Verfahrensab-
schnitt, gegebenenfalls erst im Rahmen der Zuschlagsverfügung, er-
halten. Solche Anordnungen können insbesondere den Gegenstand
2002
Verwaltungsgericht
304
der Beschaffung oder die Eignungs- und Zuschlagskriterien oder
Teile davon betreffen (Urteil der BRK vom 16. November 2001
[BRK 2001-011] in Sachen P. AG, S. 4 ff., 9 f.; in einem Urteil vom
29. Oktober 1999 hatte die BRK demgegenüber die Verpflichtung,
die in der öffentlichen Ausschreibung bekannt gegebene Auswahl der
Zuschlagskriterien sofort zu rügen, noch bejaht [BRK 1999-07, S. 5
m. H.]).
ccc) Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich schliesslich
vertritt auf Grund des besonderen Verfügungscharakters der öffent-
lichen Ausschreibung die Auffassung, die darin enthaltenen An-
ordnungen zum Verfahren stellten in der Regel lediglich Zwi-
schenentscheide dar, die den Verlauf des weiteren Verfahrens be-
stimmten, ohne dieses abzuschliessen. Sie seien zwar selbständig
anfechtbar, eine Pflicht zur Anfechtung bestehe aber grundsätzlich
nicht. Soweit die Ausschreibung auch Fragen des materiellen Verga-
berechts, wie z.B. die Gewichtung der Zuschlagskriterien, verbind-
lich regle, stellten die diesbezüglichen Anordnungen nicht Zwischen-
, sondern Vor- bzw. Teilentscheide dar, die einen Teilaspekt der Ver-
gabe abschliessend regelten. Soweit eine Ausschreibung solche Teil-
entscheide über materielle Aspekte enthalte, habe deren Nichtan-
fechtung zur Folge, dass die betreffenden Fragen für das Vergabe-
verfahren definitiv entschieden seien. Solche Teil- oder Vorent-
scheide, die einzelne materielle Fragen vorweg erledigten, seien in
bestimmten Situationen aus Gründen der Prozessökonomie zulässig.
Dies treffe indessen bei der Ausschreibung eines öffentlichen Auf-
trags nur in Ausnahmefällen zu, zumal die in Frage kommenden
Rechtsfragen in der Ausschreibung selten mit ausreichender Be-
stimmtheit umschrieben seien, um als verbindliche Festlegungen im
Sinne eines Teilentscheides gelten zu können. Dieses Ergebnis er-
scheine auch sachgerecht. Eine gesonderte Anfechtung materiell-
rechtlicher Teilentscheide mit einem gegen die Ausschreibung ge-
richteten Rechtsmittel würde das Verfahren in den meisten Fällen nur
unnötig verzögern. Nach den Erfahrungen der Rechtsmittelinstanzen
des Bundes und der Kantone würden denn auch kaum je Beschwer-
den gegen eine Ausschreibung erhoben. Zu beachten sei ferner, dass
die in Frage kommenden materiellen Rechtsfragen in der Ausschrei-
2002
Submissionen
305
bung kaum je mit ausreichender Bestimmtheit umschrieben seien,
um als verbindliche Festlegungen im Sinne eines Teilentscheids gel-
ten zu können. Soweit die fraglichen Elemente, z.B. die Zuschlags-
kriterien, nicht in der öffentlichen Ausschreibung selbst, sondern in
den Ausschreibungsunterlagen enthalten seien, könnten sie ohnehin
nicht als anfechtbarer Inhalt der Ausschreibung gelten (Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 16. April 1999, in: ZBl
2000, S. 456 f.; RB 1999, Nr. 24, S. 60 ff; BR 1999, S. 147; vgl. auch
Matthias Hauser, Zuschlagskriterien im Submissionsrecht, in: AJP
2001, S. 1420).
ddd) Nach dem Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg kann
im Rahmen der Anfechtung des Zuschlags nicht mehr gerügt werden,
ein in der Ausschreibung korrekt veröffentlichtes Kriterium sei un-
geeignet; hingegen kann das Fehlen von Zuschlagskriterien noch im
Beschwerdeverfahren gegen den Zuschlag geltend gemacht werden,
da es sich dabei um einen Verstoss gegen das Gebot der Transparenz
handle, der sich über die Ausschreibung hinaus auf das ganze Verga-
beverfahren auswirke (Urteil vom 8. Juni 1999 [2A99 15/16/17]
E. 2a).
cc) Im vorliegenden Fall geht es ausschliesslich um die Frage,
zu welchem Zeitpunkt die Auswahl und die Gewichtung der Zu-
schlagskriterien anzufechten sind. Sie sind in Ziffer 8 der öffentli-
chen Ausschreibung einschliesslich ihrer prozentualen Gewichtung
aufgeführt worden. Damit war an sich klar erkennbar, dass dem Preis
mit 35% und den Terminen mit 10% im Vergleich zur Kompetenz
mit 55% ein vergleichsweise geringes Gewicht zukam. Die Interes-
senten mussten somit bereits zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen,
dass für die Vergabestelle die qualitativen Aspekte und nicht der
Preis im Vordergrund standen. Hingegen hatten sie weder Kenntnisse
von den verschiedenen Teilkriterien noch vom genauen Inhalt der zu
vergebenden Leistungen. Wohl enthielt Ziffer 4 der öffentlichen
Ausschreibung stichwortartige Angaben zu Art und Umfang der
Leistung. Ob die Interessenten sich indessen bereits anhand dieser
rudimentären Leistungsumschreibung ein ausreichendes Bild von
den zu vergebenden Arbeiten und deren Anforderungen bzw.
Schwierigkeitsgrad machen konnten, um die Richtigkeit respektive
2002
Verwaltungsgericht
306
Fehlerhaftigkeit der ausgewählten Zuschlagskriterien und vor allem
auch der vorgenommenen Gewichtung im Hinblick auf den konkret
zu vergebenden Auftrag einigermassen zuverlässig beurteilen zu
können, muss ernsthaft in Frage gestellt werden. Die dafür notwen-
digen Detailerkenntnisse in Bezug auf den Auftrag ergeben sich in
der Regel erst aus den Ausschreibungsunterlagen (Leistungsver-
zeichnisse, Pflichtenhefte, Besondere Bestimmungen etc.) mit genü-
gender Bestimmtheit (vgl. auch BRK 2001-011, S. 10). Vor diesem
Hintergrund erscheint es nicht sachgerecht, von den Interessenten zu
verlangen, bereits gegen die in der öffentlichen Ausschreibung be-
kannt gegebenen Zuschlagskriterien auf dem Beschwerdeweg vorge-
hen zu müssen, um die diesbezügliche Rügebefugnis nicht zu ver-
wirken.
Zu verneinen ist auch die Verpflichtung, die Zuschlagskriterien
unmittelbar nach Erhalt der Ausschreibungsunterlagen anzufechten.
Die selbständige Anfechtbarkeit der Ausschreibungsunterlagen ist
generell abzulehnen (vgl. auch BRK 2001-011, S. 6 ff.; erwähntes
Urteil des Zürcherischen Verwaltungsgerichts vom 16. April 1999,
in: RB 1999 Nr. 24, S. 654; Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 28. April 1999, in: Thurgauische Verwal-
tungsrechtspflege [TVR] 1999, Nr. 25, S. 142). Nach § 37 Abs. 2
lit. b SubmD und § 33 lit. b VRöB gilt als (durch Beschwerde
selbständig anfechtbare) Verfügung die Ausschreibung des Auftrags.
Schon eine grammatikalisch-systematische Betrachtung des SubmD,
namentlich von §§ 12 Abs. 1 und 2, 34 und 35 und der Anhänge 3, 4,
5 und 6, legt den Schluss nahe, dass mit dem in § 37 Abs. 2 lit. b
SubmD genannten Begriff "Ausschreibung" nur die öffentliche Aus-
schreibung gemeint ist. Auch in der VRöB wird zwischen Ausschrei-
bung im Sinne der öffentlichen Ausschreibung (§§ 11 ff. VRöB) und
den Ausschreibungsunterlagen (§ 14 VRöB) unterschieden. Die Ver-
pflichtung, allfällige Fehler und Mängel der Ausschreibungsunterla-
gen innert 10 Tagen nach Zustellung durch die Vergabestelle an-
fechten zu müssen (§ 25 Abs. 1 SubmD; Art. 15 Abs. 2 IVöB) hätte
zur Folge, dass die Anbietenden innerhalb der zehntägigen Be-
schwerdefrist entweder ihre Angebote (statt der vierzigtägigen Mini-
malfrist für die Angebotseinreichung gemäss Art. XI Ziff. 2 und 3
2002
Submissionen
307
ÜoeB, § 17 Abs. 3 VRöB und Anhang 6 zum SubmD) bereits ausar-
beiten oder aber zumindest die - bei GATT-Vergaben häufig sehr um-
fangreichen - Ausschreibungsunterlagen sorgfältig auf mögliche
Mängel überprüfen müssten. Viele Mängel sind nicht offensichtlich,
sondern werden erst im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung,
welche im Rahmen der Ausarbeitung der Offerte erfolgt, erkennbar;
dies gilt auch für eine möglicherweise fehlerhafte Auswahl und Ge-
wichtung der Zuschlagskriterien. Ein Anbieter, der seine Offerte erst
nach Ablauf der Beschwerdefrist erarbeitet und dabei auf Mängel in
den Ausschreibungsunterlagen stösst, könnte diese auf dem Be-
schwerdeweg nicht mehr rügen. Diese Konsequenz einer sofortigen
Anfechtbarkeit erscheint nicht sachgerecht und stossend.
Aus praktischer Sicht von erheblicher Relevanz dürften nicht
zuletzt auch die (begründeten oder unbegründeten) Befürchtungen
der Anbietenden sein, sich durch das Ergreifen eines Rechtsmittels
gegen die (öffentliche) Ausschreibung oder die Ausschreibungsun-
terlagen von vornherein um die Chancen auf den Zuschlag zu brin-
gen. Die Hemmschwelle dürfte zu Beginn eines Verfahrens noch um
einiges höher liegen als bei der Anfechtung des die Submission ab-
schliessenden Zuschlags (BRK 2001-011, S. 8; Hauser, a.a.O.,
S. 1420). Auch dieser Umstand spricht dafür, im Hinblick auf die
Ausschreibungsunterlagen von einer unmittelbaren Anfechtung
abzusehen und die Verpflichtung zur selbständigen Anfechtung der
öffentlichen Ausschreibung restriktiv zu handhaben, d.h. auf in ihrer
Bedeutung und Tragweite eindeutige Anordnungen zu beschränken.
dd) Aus dem soeben Gesagten folgt, dass die von den Be-
schwerdeführerinnen gegen die Auswahl und die Gewichtung der
Zuschlagskriterien erhobenen Einwände nicht verspätet sind. Ihre
sachliche Berechtigung ist demzufolge im vorliegenden Beschwerde-
verfahren zu prüfen.
d) aa) Es ist grundsätzlich Sache der Vergabebehörde, je nach
Bedeutung des Auftrags und den gestellten Anforderungen die mass-
geblichen Zuschlagskriterien auszuwählen und deren Reihenfolge
und Gewichtung festzusetzen. Dabei kommt ihr sowohl bei der
Auswahl als auch bei der Gewichtung der Zuschlagskriterien ein
weiter Ermessensspielraum zu. Beides ist einer Rechtskontrolle nur
2002
Verwaltungsgericht
308
beschränkt zugänglich. Wie beispielsweise die Erfahrung einer
Unternehmung oder die Ästhetik eines Bauwerks gewichtet und in
Relation zu einer bestimmten Preisdifferenz gesetzt werden, ist
weitgehend eine Ermessensfrage (Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 26. Oktober 1999, in: St. Gallische Gerichts-
und Verwaltungsentscheide [GVP] 1999 Nr. 37, S. 108). Auswahl
und Gewichtung der Kriterien müssen sich aber im Einzelfall sach-
lich rechtfertigen lassen, d.h. sie haben sich am konkreten Auftrag zu
orientieren, um so der Ermittlung des im Hinblick auf den zu verge-
benden Auftrag wirtschaftlich günstigsten Angebots zu dienen. Die
sachwidrige Überbewertung eines Kriteriums stellt eine Ermessens-
überschreitung dar (AGVE 1998, S. 381; VGE III/100 vom 16. Juli
1998 [BE.1998.00173] in Sachen K. AG, S. 10 f.; III/124 vom
28. August 1998 [BE.1998.00120] in Sachen A. AG, S. 18; vgl. auch
VGE III/123 vom 15. September 1999 [BE.1999.00179] in Sachen
W. GmbH, S. 13 ff., insbes. S. 25 f. und 28 f., auszugsweise publi-
ziert in: BR 2000, S. 59 Nr. S18). Zu beachten sind weiter das
Gleichbehandlungsgebot und das Diskriminierungsverbot.
bb) Der Regierungsrat weist darauf hin, dass die Zuschlags-
kriterien auf Grund von projektspezifischen Überlegungen ausge-
wählt und gewichtet worden seien. Mit der Gewichtung stelle die
Vergabestelle sicher, dass kein Anbieter ohne die notwendige Erfah-
rung und ohne ausreichend durchdachte Bauabläufe den Zuschlag für
die Arbeiten alleine auf Grund eines sehr günstigen Angebotspreises
erhalte. Bei komplexen Baustellen wie den ausgeschriebenen Arbei-
ten könne im Extremfall mangelnde Erfahrung oder ungeeignete
Baumethoden Folgekosten bereits während der Bauausführung (Ge-
fahrenpotential Autobahn) verursachen.
cc) Die im vorliegenden Fall zu vergebenden Bauleistungen
stehen im Zusammenhang mit der Kapazitätserweiterung des Ba-
reggtunnels durch eine dritte Tunnelröhre. Im Zentrum der Vergabe
steht die Belagserneuerung westlich des Bareggtunnels auf einer
Länge von 2,2 km. Betroffen ist eine Teilstrecke der Nationalstrasse
A1, die mit einem täglichen Verkehrsaufkommen von gegen 90'000
Fahrzeugen (siehe www.baregg.ch) zu den am stärksten befahrenen
Autobahnteilstücken der Schweiz gehört. Im fraglichen Bereich be-
2002
Submissionen
309
finden sich die Ein- und Ausfahrten Baden-Dättwil und Birmenstorf.
Gemäss Vorgaben der Vergabestelle sind die Verkehrsverbindungen
auf der A1 (4/1 Verkehrsführung Etappen 2002 und 2003, 3/2/0 und
3/0/2 Verkehrsführung Etappe 2004 Süd und 2004 Nord) und den
betroffenen Kantonsstrassen Birmenstorf-Dättwil und Birmenstorf-
Fislisbach aufrecht zu erhalten. Die Baustelle befindet sich überdies
teilweise in den Gewässerschutzbereichen A und B sowie im
Grundwasserschutzareal. Für sämtliche Arbeiten gilt die Bauwerks-
klasse (BWK) I gemäss "QM-Anforderungen im Nationalstrassenbau
ab 1997" vom 3. April 1997. Bereits diese Umstände zeigen, dass es
sich von Art und Umfang her doch um ein als eher komplex zu
bezeichnendes Bauvorhaben handelt, das an die Anbietenden in
qualitativer Hinsicht überdurchschnittliche Anforderungen stellt.
Insofern lässt sich das erhöhte Gewicht, das dem Zuschlagskriterium
"Kompetenz" mit 55% gegenüber dem Preis mit 35% eingeräumt
wird, nicht als sachlich ungerechtfertigt bezeichnen. Wie aus der
Vernehmlassung
des
Regierungsrats
hervor
geht,
wird
die
Gewichtung in vergleichbaren Fällen ähnlich gehandhabt. Bei der
Fahrbahnerneuerung der A1 zwischen Rothrist und Lenzburg, die
vom Kanton Ende 1997 vergeben worden war, kam dem Preis ein
Gewicht von 20% zu (erwähnter VGE in Sachen ARGE Argovia A1,
S. 13). Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit der Vergabe
der Bauarbeiten für einen Autobahntunnel (A7, Girsbergtunnel)
festgehalten, bei einer Gewichtung des Preises mit bloss 13% auf
Grund der mit Tunnelbauten verbundenen besonderen Probleme und
Risiken könne noch nicht von einer Verletzung des Grundsatzes der
Berücksichtigung des wirtschaftlich günstigsten Angebots gespro-
chen werden (Entscheid des Bundesgerichts vom 2. März 2000
[2P.274/1999] in Sachen ARGE X., E. 3 f.; vgl. auch Hauser, a.a.O.,
S. 1414). Auch diese Vergleichsfälle lassen die vorgenommene Kri-
teriengewichtung nicht als aussergewöhnlich erscheinen.
Im vorliegenden Fall hat die Vergabestelle die qualitätsbezoge-
nen Aspekte der Vergabe unter dem Sammelkriterium "Kompetenz"
zusammengefasst. Gemäss der Beschreibung der Unter- und Teilkri-
terien in den Ausschreibungsunterlagen umfasst die "Kompetenz" ein
baustellenbezogenes Organigramm, die Qualifikation des Schlüs-
2002
Verwaltungsgericht
310
selpersonals (Ausbildung, Erfahrung, Referenzen), Referenzen des
Unternehmers und des Subunternehmers für ähnliche Arbeiten, Bau-
stelleneinrichtung, Bauverfahren, Qualitätssicherung und schliesslich
auch die Transportdistanzen. Der Einwand der Beschwerdefüh-
rerinnen, es handle sich bei den bei der "Kompetenz" gewählten
Unterkriterien zum allergrössten Teil um sogenannt "weiche" Krite-
rien trifft zwar zu, soweit damit gemeint ist, dass der Vergabestelle
bei der Bewertung ein relativ grosses Ermessen zukommt. Diese
Tatsache schliesst es indessen nicht aus, dass auch solche "weichen"
Kriterien berücksichtigt werden dürfen und dass ihnen, sofern der zu
vergebende Auftrag dies rechtfertigt, auch ein vergleichsweise gros-
ses Gewicht beigemessen werden darf. § 18 Abs. 1 SubmD nennt
nicht bloss zufällig die "Qualität" an erster Stelle vor dem "Preis"
und führt dann eine ganze Reihe weiterer qualitativer Zuschlagskrite-
rien auf. Dies entspricht vielmehr dem Willen des Dekretgebers, bei
der Ermittlung des wirtschaftlich (und nicht des preislich) günstig-
sten Angebots dem qualitativen Aspekt die ihm gebührende Bedeu-
tung zukommen zu lassen. Anhand von Zuschlagskriterien wie
"Qualität", "Erfahrung", "Innovation", "Zweckmässigkeit", "Ästhe-
tik" etc. soll objektiv beurteilt werden, welche Leistungsqualität bei
den einzelnen Angeboten zu erwarten ist.
Bei den unter dem Zuschlagskriterium "Kompetenz" genannten
Teil- und Unterkriterien handelt es sich um sachbezogene Gesichts-
punkte; sie erscheinen im Grundsatz ohne weiteres geeignet, um die
Angebote in zuverlässiger, nachvollzieh- und überprüfbarer Weise
auf ihre Qualität hin zu beurteilen. Ob allerdings die vorgenommene
Zuordnung der Transportdistanzen zum Begriff "Kompetenz" logisch
einen Sinn macht, ist zumindest zu bezweifeln. Ein sachlicher
Zusammenhang zwischen den Transportdistanzen und den drei an-
dern unter dem Stichwort "Kompetenz III" bewerteten qualitativen
Gesichtspunkten, nämlich dem "Q-Zertifikat", der "Ergänzung Q-
Plan" und den "Q-relevanten Tätigkeiten", ist nicht ersichtlich. Ver-
mutungsweise ging es der Vergabestelle bei den Transportdistanzen
vorab um ökologische Aspekte. Die Festsetzung eines eigenständigen
Zuschlagskriteriums "Umwelt" bzw. "Umweltverträglichkeit" (mit
entsprechender Gewichtung) wäre hiefür das transparentere und
2002
Submissionen
311
richtigere Vorgehen gewesen. Immerhin konnten aber die Anbieten-
den den Ausschreibungsunterlagen entnehmen, dass auch dieser
Aspekt im Rahmen der "Kompetenz" mitbeurteilt werden würde.
Einen Verstoss gegen massgebende Verfahrensgrundsätze stellt die
wenig logische Zuordnung daher letztlich nicht dar.
Zutreffen mag die vom Regierungsrat grundsätzlich bestätigte
Feststellung, dass die Differenzen zwischen den (besten) Anbietern
beim Kriterium "Kompetenz" erfahrungsgemäss nicht gross seien.
Auch dieser Umstand spricht indessen nicht grundsätzlich gegen die
von der Vergabestelle vorgenommene Gewichtung der Zuschlags-
kriterien. Zu berücksichtigen ist, dass es sich im vorliegenden Fall
um eine Vergabe im offenen Verfahren nach dem GATT-Überein-
kommen handelt, d.h. mit der öffentlichen Ausschreibung angespro-
chen werden soll - jedenfalls nach Sinn und Zweck des heutigen
Submissionsrechts, das eine Öffnung des öffentlichen Beschaf-
fungswesens anstrebt - ein nationaler und internationaler Anbieter-
kreis, der über die im Kanton oder allenfalls in Nachbarkantonen an-
sässigen und der Vergabestelle ohnehin bekannten Tiefbauunterneh-
men hinausgeht. Die Vergabestelle muss somit - zumindest theore-
tisch - davon ausgehen, dass sie möglicherweise auch mit Angeboten
von Unternehmen konfrontiert wird, deren Qualitätsstandards ihr
nicht aus eigener Erfahrung bekannt sind. Wenn sie sich bei der Fest-
setzung der Zuschlagskriterien und deren Gewichtung danach richtet,
und den qualitativen Aspekten im Vergleich zum Preis ein Überge-
wicht einräumt, lässt sich dies nicht beanstanden. Damit wird sicher-
gestellt, dass nur ein Angebot den Zuschlag bekommen kann, das den
qualitativen Ansprüchen zu genügen vermag. Gibt die Vergabestelle
durch die Kriterienwahl und -gewichtung allerdings - wie hier - zu
erkennen, dass für sie der Qualitätsaspekt und nicht der Preis im
Vordergrund steht, so ist sie zu einer differenzierten Prüfung der
sach- bzw. qualitätsbezogenen Kriterien verpflichtet, um zu verhin-
dern, dass dem Preis eine ausschreibungswidrige Bedeutung zu-
kommt, indem er trotz geringem Gewicht allein über den Zuschlag
entscheidet (AGVE 2000, S. 337 f.). Diesem Erfordernis hat die Ver-
gabestelle im vorliegenden Fall mit der Schaffung einer Reihe quali-
tätsbezogener Teil- bzw. Subkriterien Rechnung getragen.
2002
Verwaltungsgericht
312
Die Beschwerdeführerinnen wenden gegen diese Unterkriterien
bei der "Kompetenz" ein, es handle sich fast ausschliesslich um
(anbieterbezogene) Eignungskriterien. Soweit hier die vorgeschla-
gene Baustelleneinrichtung, das Bauverfahren und die Qualitätssi-
cherung beurteilt werden, handelt es sich klarerweise um qualitative
Aspekte des Angebots; zumindest steht dies im Vordergrund. Soweit
Referenzen der Anbietenden für ähnliche Arbeiten oder Referenzen
des vorgesehenen Schlüsselpersonals verlangt werden, fallen diese
Gesichtspunkte letztlich unter die "Erfahrung", die nach § 18 Abs. 2
SubmD - und auch nach andern kantonalen Submissionsordnungen
(u.a. Art. 15 Abs. 2 des Submissionsgesetzes des Kantons Graubün-
den vom 7. Juni 1998, § 5 Abs. 2 des Gesetzes über die öffentlichen
Beschaffungen des Kantons Luzern vom 19. Oktober 1998, § 26
Abs. 2 lit. l des Gesetzes über öffentliche Beschaffungen des Kan-
tons Solothurn vom 22. September 1996) - ein Zuschlagskriterium
darstellt, obwohl sie sich primär auf den Anbieter selbst und nur mit-
telbar auf das Angebot bezieht. Genau betrachtet handelt es sich bei
der Erfahrung um ein Eignungs- und nicht um ein Zuschlagskrite-
rium. Gerade die Kriterien "Qualität" und "Erfahrung" hängen indes-
sen häufig eng zusammen. Die Erwartung, dass vom "erfahreneren"
Anbieter in qualitativer Hinsicht ein besseres Angebot zu erwarten
ist, ist in der Regel nicht unbegründet. In der Rechtsprechung wird
denn auch festgehalten, dass sich Eignungs- und Zuschlagskriterien
überlappen können, indem z.B. die Eignung des Anbieters (bzw. das
Ausmass der Eignung) auch beim Zuschlag eine Rolle spielen kann
(AGVE 1999, S. 329; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons
Waadt vom 22. Januar 1999, in: BR 1999, S. 57 Nr. S11; Hauser,
a.a.O., S. 1414 m.H.). Das Verwaltungsgericht lehnt eine strikte
Trennung als nicht praktikabel ab (AGVE 1999, S. 329 f.). Der von
der Vergabestelle verwendete Begriff "Kompetenz" fasst die Aspekte
"Qualität" und "Erfahrung" zusammen. Beizupflichten ist den Be-
schwerdeführerinnen, dass unter diesem Kriterium auch Gesichts-
punkte beurteilt werden, welche die Eignung der Anbietenden betref-
fen. Dies lässt sich indessen nicht als sachwidrig beanstanden, denn
auch in einem offenen Verfahren darf der Zuschlag nur an einen An-
bieter erteilt werden, der zur qualitativ einwandfreien Ausführung
2002
Submissionen
313
der Arbeiten geeignet ist. Eine Eignungsprüfung muss also auch hier
stattfinden. | 8,198 | 6,625 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2002-74_2002-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-74.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-74.pdf | AGVE_2002_74 | null | nan |
95cb1c6d-da0f-5f6d-8c8e-e93618fd6e64 | 1 | 412 | 871,418 | 1,280,793,600,000 | 2,010 | de | 2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
165
[...]
30
Erleichterte Ausnahmebewilligung im Unterabstand von Strassen (§ 67a
BauG).
Begriff der untergeordneten Baute; Anwendungsfall einer Beton- bzw.
Blocksteinmauer.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 19. August 2010 in Sachen
X. und Y. (WBE.2009.407).
Aus den Erwägungen
1.
Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bilden die
von den Beschwerdeführern auf der Parzelle Nr. (...) in Abweichung
von der ursprünglichen Baubewilligung vom 2. Juli 2007 erstellte
Beton- und Blocksteinmauer entlang des A.-wegs. Die streitbetrof-
fenen Bauten werden im vorinstanzlichen Entscheid wie folgt be-
schrieben:
"Die Betonmauer verläuft parallel entlang des A.-wegs zwischen der
Nordwest- und Südwestecke des Gebäudes auf einer Länge von 10.5
m, weist eine Höhe bis zu 1.95 m und eine Breite von 20 cm auf. Der
Zwischenraum zwischen der Betonmauer und der Garagenmauer weist
im Bereich der Betonmauerkrone einen "Pflanztrog" mit einer Thuja-
hecke auf. Die Betonmauer steht unmittelbar neben dem Fahrbahnrand
des A.-wegs. An die Betonmauer schliesst eine Blocksteinmauer aus
Granitblöcken an, die in zwei Reihen bündig aufeinander geschichtet
sind und bis an die östliche Parzellengrenze verläuft".
2010
Verwaltungsgericht
166
Die Betonmauer weist gegenüber dem Fahrbahnrand des
A.-wegs keinen Abstand auf, die Blocksteinmauer einen Abstand von
bis zu 20 cm.
2. (...)
3.
3.1.
(...)
Gemäss § 67a Abs. 1 BauG kann für untergeordnete Bauten und
Anlagen wie namentlich Klein- und Anbauten eine erleichterte Aus-
nahmebewilligung betreffend Abstände gegenüber Strassen erteilt
werden, sofern kein überwiegendes, aktuelles öffentliches Interesse
entgegensteht. Die Bauten und Anlagen, die gestützt auf diese Be-
stimmung bewilligt worden sind, müssen vom Eigentümer auf erst-
malige Aufforderung hin sowie auf eigene Kosten und entschädi-
gungslos entfernt oder versetzt werden, wenn die überwiegenden In-
teressen eines öffentlichen Werkes es erfordern (§ 67a Abs. 2 BauG).
Wie den Materialien zu dieser Bestimmung zu entnehmen ist, kommt
eine Ausnahmebewilligung nach § 67a BauG nur bei Bagatellbauten
in Betracht, die sich im Falle eines Strassenausbaus mit wenig
Aufwand entfernen lassen, wie z.B. Reklametafeln, Schaukästen,
Gerätehäuschen oder Autounterstände (Botschaft des Regierungsrats
vom 5. Dezember 2007 zur Teilrevision des BauG [Ges.-Nr. 07.314],
S. 89). Ob sich eine Baute oder Anlage noch als "untergeordnet" im
Sinn von § 67a Abs. 1 BauG bezeichnen lässt, richtet sich somit nach
dem Aufwand, der bei einer späteren Beseitigung nach Abs. 2
anfiele. Die Erfahrung lehrt, dass Beseitigungsaufforderungen, selbst
wenn sie aufgrund eines Reverses erfolgen, meistens nicht wider-
standslos befolgt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn erheb-
liche wirtschaftliche Interessen im Spiel sind (AGVE 2006, S. 164).
Je aufwändiger die spätere Beseitigung ist, desto eher ist mit Wider-
stand des Eigentümers zu rechnen, weshalb es sachgerecht erscheint,
eine erleichterte Ausnahmebewilligung nach § 67a BauG nur dann zu
erteilen, wenn sich die Baute oder Anlage mit wenig Aufwand besei-
tigen lässt.
2010
Bau-,Raumentwicklungs-u.Umweltschutzrecht
167
Im vorliegenden Fall ist eine Beseitigung der umstrittenen
Mauern schon konstruktionsbedingt (Beton- bzw. Blocksteinmauer)
mit beträchtlichem Aufwand verbunden, was sich namentlich in den
Beseitigungskosten von Fr. 16'700.-- niederschlägt. Hinzu kommen
die nutzlos gewordenen Kosten für die Erstellung der ursprünglichen
Mauer sowie die Auslagen für die Erstellung einer neuen Mauer bzw.
einer Böschung. Die beiden Mauern können daher nicht mehr unter
den Begriff der untergeordneten Klein- oder Anbauten im Sinne von
§ 67a BauG subsumiert werden. Eine erleichterte Ausnahmebewil-
ligung nach § 67a BauG fällt deshalb ausser Betracht. | 898 | 698 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2010-30_2010-08-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-30.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-30.pdf | AGVE_2010_30 | null | nan |
96031a7f-3006-5c12-9e07-7835495cd5fb | 1 | 412 | 870,931 | 1,207,267,200,000 | 2,008 | de | 2008
Waffenrecht
271
48 Waffenbeschlagnahmung.
-
Voraussetzungen für eine vorläufige Waffenbeschlagnahmung.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 30. April 2008 in Sachen
R.D. gegen den Regierungsrat (WBE.2007.356).
Aus den Erwägungen
1. (...)
1.1.
(...) Nach Art. 31 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes über Waffen,
Waffenzubehör und Munition vom 20. Juni 1997 (Waffengesetz,
WG; SR 514.54) werden Waffen, wesentliche Waffenbestandteile,
Waffenzubehör, Munition und Munitionsbestandteile aus dem Besitz
einer Person beschlagnahmt, bei der ein Hintergrundsgrund nach
Art. 8 Abs. 2 WG besteht. Ein solcher liegt unter anderem bei Perso-
nen vor, welche entweder zur Annahme Anlass gegeben haben, dass
sie sich selbst oder Dritte gefährden (Art. 8 Abs. 2 lit. c WG), die
wegen einer Handlung, welche eine gewalttätige oder gemeingefähr-
liche Gesinnung bekundet, oder die wegen wiederholt begangener
Verbrechen oder Vergehen im Strafregister eingetragen sind, so lange
der betreffende Eintrag nicht gelöscht ist (Art. 8 Abs. 2 lit. d WG;
zum Ganzen: AGVE 2003, S. 545).
Hinsichtlich der Erteilung eines Waffenerwerbsscheines sieht
Art. 10 Abs. 2 der Verordnung über Waffen, Waffenzubehör und
Munition vom 21.
September 1998 (Waffenverordnung, WV;
SR 514.541) vor, dass die zuständige Behörde zu prüfen hat, ob die
Voraussetzungen für den Waffenerwerb (Art. 8 WG) erfüllt sind.
Gleiches muss für den Fall der Beschlagnahmung nach Art. 31
Abs. 1 WG gelten, d.h. die zuständige Behörde hat abzuklären, ob
2008
Verwaltungsgericht
272
ein Hinderungsgrund gemäss Art. 8 Abs. 2 WG vorliegt (Art. 31
Abs. 1 lit. b WG) oder Waffen ohne Berechtigung getragen werden
(lit. a).
An den Nachweis der von der betroffenen Person ausgehenden
Gefahr für sich oder für Dritte (Art. 8 Abs. 2 lit. c WG) sind keine
allzu hohen Anforderungen zu stellen, weil die Beschlagnahmung
präventiven Charakter hat. Immerhin muss aber ein ausreichendes
Mass an Wahrscheinlichkeit bestehen, dass ohne Beschlagnahmung
die Sicherheit von Personen oder der öffentlichen Ordnung gefährdet
wäre. Das Gesetz stellt für den Träger verbotener Waffen, für Un-
mündige und Entmündigte die unumstossbare Vermutung auf, dass
diese Voraussetzung erfüllt ist. Abgesehen von diesen unproblemati-
schen Fällen wird man eine Selbst- oder Fremdgefährdung bzw. An-
haltspunkte dafür etwa bei Betrunkenen, Geisteskranken sowie sui-
zidgeneigten Personen regelmässig bejahen müssen. Eine ausrei-
chende Gefährdung muss auch für Personen gelten, welche einen
Dritten mit einer Waffe bedrohen, einen Waffeneinsatz in Aussicht
stellen oder mit einer Schusswaffe unkontrolliert in die Luft schies-
sen. Waffen dürfen sodann auch bei einer einmaligen Entgleisung be-
schlagnahmt werden, weil den Polizeibehörden im ersten Moment
eine nähere Abklärung, ob die Gefahr für einen Waffenmissbrauch
fortbesteht, nicht zugemutet werden kann (AGVE 2003, S. 546;
VGE IV/13 vom 15. März 2007 [WBE.2006.75], S. 7; Philippe
Weissenberger, Die Strafbestimmungen des Waffengesetzes, in: AJP
2000, S. 163).
1.2.
Mit Beschlagnahmeverfügung vom 6. August 2007 ordnete die
Kantonspolizei an, dass die sichergestellten Gegenstände (Waffen
und Munition) bis zum Abschluss der Prüfung einer definitiven Be-
schlagnahme bei der Kantonspolizei, Fachstelle SIWAS, eingelagert
bleiben. Zur Begründung wurden die Hinderungsgründe von Art. 31
Abs. 1 lit. b WG i.V.m. Art. 8 Abs. 2 lit. c und d WG sowie die Dro-
hung mit Selbstjustiz angeführt.
Die Vorinstanz führte diesbezüglich insbesondere aus, aufgrund
des Schreibens des Beschwerdeführers habe ein grosses Mass an
Wahrscheinlichkeit bestanden, dass er mit den sich in seinem Besitz
2008
Waffenrecht
273
befindlichen Waffen eine Verzweiflungstat begehen könnte. Die
Häufung bzw. Zunahme entsprechender Vorkommnisse in den letzten
Jahren, insbesondere auch der Vorfall im zugerischen Parlament im
Herbst 2001, habe zu einer Sensibilisierung der Behörden geführt.
Aufgrund dieser Vorkommnisse hätten die Erklärungen des Be-
schwerdeführers nicht als Meinungsäusserung aufgefasst werden
können, immerhin habe er mit der Drohung der Selbstjustiz ganz
konkret Straftaten in Aussicht gestellt. Aufgrund seines Umgangs mit
Behörden sowie seiner Ausbildung und beruflichen Stellung habe
sodann nicht einfach von einer unerheblichen Unbedachtheit oder
"Unbedarftheit im Sprachgebrauch" ausgegangen werden können.
1.3. (...)
1.4.
1.4.1.
Die im Schreiben des Beschwerdeführers vom 12. April 2007
an den Vorsteher DVI verwendete Formulierung "Sollte eine solche
[Antwort auf sein Gesuch um Gewährung eines Rechtsbeistandes]
ausbleiben, verstehe ich dies als ultimative Aufforderung zur Selbst-
justiz." kann entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers
nicht anders verstanden werden, als dass er, sofern die Behörden sei-
ner Forderung um Gewährung eines Rechtsbeistandes nicht (recht-
zeitig) nachgekommen, sich aufgefordert fühle, seine vermeintlichen
Rechte selber und mit Gewalt durchzusetzen. Mit dem Hinweis auf
Notwehr bzw. Notstand werden strafrechtliche Handlungen gerecht-
fertigt.
Die Ausführungen im Schreiben des Beschwerdeführers vom
12. April 2007 an den Vorsteher DVI zeigen deutlich, dass sich der
Beschwerdeführer bei der Durchsetzung seiner vermeintlichen Rech-
te gegenüber seiner früheren Lebenspartnerin nicht nur als ungerecht
behandelt fühlt, sondern sich als Opfer behördenübergreifender und
systematisch gefällter Fehlurteile sieht. Ohne behördliche Abhilfe
dieser Missstände fühlt und erklärte er sich zudem zur Selbstjustiz
berechtigt. Diese Erklärungen können damit nicht als blosse Mei-
nungsäusserung verstanden werden. Aufgrund der Umstände musste
vielmehr mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass der Beschwer-
deführer zur Durchsetzung seiner vermeintlichen Rechte tatsächlich
2008
Verwaltungsgericht
274
zur Selbstjustiz greifen könnte und dabei auch vor deliktischen
Handlungen nicht zurückschreckt. Die Gefahr, dass er Straftaten un-
ter Einsatz von Waffengewalt begehen könnte, war damit nicht aus-
zuschliessen. Der Vorwurf des Beschwerdeführers, der im Entscheid
des Regierungsrates dargelegte Sachverhalt beschränke sich im We-
sentlichen auf aus dem Zusammenhang gezogene Formulierungen
und Passagen seiner Eingabe vom 12. April 2007, trifft nicht zu.
Seine Ausführungen betreffend Aufforderung zur Selbstjustiz und
Berufung auf Notwehr und Notstand sind unmissverständlich for-
muliert. Dem Beschwerdeführer wurde in den Zivilurteilen die
Rechtslage und auch das Vorgehen zur Durchsetzung seiner be-
haupteten Forderungen dargelegt. Auch aus der Vorgeschichte konnte
daher eine irrationale Reaktion des Beschwerdeführers auf die ver-
meintlich ungerechte Behandlung durch systematische Fehlurteile
gegen ihn nicht völlig ausgeschlossen werden. Solche Gefühlslagen
können Anlass zur Annahme geben, dass es tatsächlich zur Selbst-
justiz mit Waffengewalt kommen kann.
Die Beschlagnahme gemäss Art. 31 WG setzt nicht die Bege-
hung eines Deliktes voraus. Es spielt daher keine Rolle, ob mit die-
sem Schreiben tatsächlich der Tatbestand der Drohung bzw. Nöti-
gung erfüllt ist oder der Adressat Strafanzeige erhoben hat bzw. sich
tatsächlich bedroht fühlte.
Aus diesen Gründen haben die Kantonspolizei und die Vorin-
stanz die Voraussetzungen einer präventiven Beschlagnahmung zu
Recht bejaht.
1.4.2.
Ob der Beschwerdeführer sich über eine hohe Belastbarkeit so-
wie die Fähigkeit, Verantwortung zu tragen, ausweisen kann, muss
und kann im Rahmen dieses Verfahrens nicht beurteilt werden. Ein
ausreichendes Mass an Wahrscheinlichkeit, dass die Sicherheit ge-
fährdet ist, und objektive Zweifel an der charakterlichen Fähigkeit im
Umgang mit Waffen genügen für die vorsorgliche, vorläufige Be-
schlagnahmung. Im anschliessenden Verfahren sind die Hintergründe
und die Voraussetzungen im Einzelnen abzuklären. | 1,705 | 1,397 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-48_2008-04-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-48.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-48.pdf | AGVE_2008_48 | null | nan |
96b5f798-dde2-5bfa-ab59-240cb773869b | 1 | 412 | 871,120 | 1,483,401,600,000 | 2,017 | de | 2017
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
145
V. Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
26
Bausperre (§ 30 BauG)
Als Rechtsmittelinstanz, die nicht Planungsorgan ist, darf das Verwal-
tungsgericht in einem Beschwerdeverfahren (gegen eine Baubewilligung)
nicht gegen den Willen des in erster Linie zuständigen Gemeinderats eine
Bausperre anordnen, um eine künftige Planung zu sichern.
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 11. Januar
2017, i.S. A., B., C. und D. gegen E. AG, Gemeinderat F. sowie Departement
Bau, Verkehr und Umwelt (WBE.2016.108)
Aus den Erwägungen
2.2.1.
Die sog. Bausperre ist eine Plansicherungsmassnahme und wird
in § 30 BauG geregelt: Während der Erlass oder die Änderung von
Nutzungsordnungen vorbereitet wird, kann die zuständige Behörde
die Gesuche für die Bewilligung von Bauten und Anlagen in den von
den neuen Plänen betroffenen Gebieten für die Dauer von höchstens
zwei Jahren zurückstellen. Bewilligungen für Bauten und Anlagen
dürfen nur erteilt werden, wenn feststeht, dass diese die Verwirkli-
chung der neuen Pläne nicht erschweren.
Die "zuständige Behörde" für die Verfügung von Bausperren ist
in erster Linie der Gemeinderat als Baubewilligungsbehörde. Dane-
ben können die Beschwerdeinstanzen ebenfalls in die Lage kommen,
§ 30 BauG anzuwenden, entweder erstinstanzlich, wenn die Pflicht
zum Erlass einer Bausperre erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens
entstanden ist, oder im Rahmen der Überprüfung dessen, ob der Ge-
meinderat § 30 BauG korrekt angewandt und zu Recht auf die Verfü-
gung einer Bausperre verzichtet hat. Allerdings werden die entspre-
chenden Befugnisse der Rechtsmittelinstanzen durch die verfas-
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
146
sungsrechtlich geschützte Gemeindeautonomie (§ 106 KV) erheblich
eingeschränkt. Mit Rücksicht auf die in diesem Bereich autonome
Stellung der Gemeinden darf eine Beschwerdeinstanz, die - wie das
Verwaltungsgericht - nicht selber Planungsorgan ist, § 30 BauG nur
dann anwenden, wenn sich der Gemeinderat im Beschwerdeverfah-
ren klar dahingehend äussert, er wolle an der Neuordnung festhalten
bzw. würde § 30 BauG selber anrufen, wenn er (im heutigen Zeit-
punkt) selber über die Baubewilligung zu entscheiden hätte (AGVE
2004, S. 191; 1980, S. 256 ff.; VGE III/24 vom 17. März 1989,
S. 13).
2.2.2.
Anlass für die von den Beschwerdeführern beantragte Bausper-
re ist die von der Gemeindeversammlung am beschlossene und vom
Regierungsrat am (...) genehmigte Wiedereinführung einer Aus-
nützungsziffer von 0,4 für die W2. Die im Zeitpunkt der Bewillli-
gung des streitgegenständlichen Baugesuchs geltende Bau- und
Nutzungsordnung (BNO) der Gemeinde F. vom (...) sah für die W2
(im Gegensatz zur alten BNO) keine Ausnützungsziffer vor.
Die Wiedereinführung einer Ausnützungsziffer für die W2 stand
schon im Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung im Raum. Das
erhellt auch aus den Ausführungen des Gemeinderates im Bewilli-
gungsentscheid vom 23. März 2015 unter der Rubrik Ausnützungs-
ziffer. Danach hat sich der Gemeinderat jedoch bewusst gegen die
Verfügung einer Bausperre entschieden. Zur Begründung gab er an,
die beabsichtigte Zonenplanrevision (Ausnützungsziffer von 0,4 für
die W2) sei noch mit grossen Unsicherheiten behaftet. Deshalb
werde das Vertrauen der Bauherrschaft in die geltende Zonenordnung
(Rechtssicherheit für die Bauplanung) höher gewichtet und das Bau-
vorhaben mit einer Ausnützungsziffer von 0,553 bewilligt.
Im Rechtsmittelverfahren hat der Gemeinderat F. seine diesbe-
zügliche Haltung nicht geändert. Vor Verwaltungsgericht verteidigte
er seinen Entscheid, keine Bausperre über die Parzelle X zu verhän-
gen, sogar explizit, unter Hinweis darauf, dass für den Gemeinderat
sehr ungewiss gewesen sei, ob die Gemeindeversammlung einer
Ausnützungsziffer von 0,4 zustimmen würde. Aufgrund der an der
Gemeindeversammlung (...) abgegebenen Voten sei zwar der Ein-
2017
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
147
druck entstanden, dass die Beibehaltung einer Ausnützungsziffer (an-
stelle der Einführung des vom Gemeinderat vorgeschlagenen, von
der Gemeindeversammlung schliesslich zurückgewiesenen grossen
Grenzabstandes von 8 m) mehrheitlich begrüsst worden sei. Eine Er-
höhung der Ausnützungsziffer von 0,4 auf 0,6 habe aber nicht ausge-
schlossen werden können. In diesem noch offenen Planungsstadium
ein "fertiges, in allen Punkten korrektes Baugesuch" abzuweisen, das
zudem die Erwägungen der Rechtsabteilung BVU (im Beschwerde-
entscheid vom 6. Oktober 2014) beherzigt habe, sei für den Gemein-
derat keine Option gewesen.
2.2.3.
Dem Verwaltungsgericht ist es nach dem oben Gesagten
(Erw. 2.2.1 vorne) nicht gestattet, gegen den ausdrücklich erklärten
Willen des Gemeinderats F. § 30 BauG anzuwenden und an dessen
Stelle eine Bausperre über die Parzelle X zu verfügen. Damit würde
das Verwaltungsgericht eine Planungsabsicht sichern, wo nach dem
Dafürhalten der zuständigen Planungsbehörde kein entsprechender
Absicherungsbedarf besteht, eine Vorwirkung der künftigen Nut-
zungsordnung nicht erwünscht ist. Insofern kann auf den Antrag der
Beschwerdeführer auf Erlass einer Bausperre über die Parzelle X
mangels Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zum Erlass von Bau-
sperren gegen den Willen des zuständigen Planungsorgans nicht ein-
getreten werden.
Im Übrigen wäre dieser Antrag ohnehin unbegründet. Mit der
Vorinstanz (...) ist festzuhalten, dass eine gefestigte Planungsabsicht
allein nicht genügt, um eine Bausperre zu rechtfertigen. Darüber hi-
naus muss das Bauvorhaben die Verwirklichung der Planung er-
schweren. Das ist dann anzunehmen, wenn mit einem Bauvorhaben
ein derart starkes Präjudiz geschaffen würde, dass die vorgesehene
Zonierung generell fragwürdig erschiene. Es geht darum, Abwei-
chungen zu verhindern, die für die Ausscheidung, Abgrenzung und
Gestaltung der Zonierung im fraglichen Gebiet wesentlich sind
(AGVE 1988, S. 363; VGE III/20 vom 22. März 1996
[BE.95.00357], Erw. II/1c). Von solchen Abweichungen kann im vor-
liegenden Fall nicht ausgegangen werden. Im Dorfteil mit der streit-
betroffenen Parzelle X ist die W2 weitestgehend überbaut. Nach der
2017
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
148
insoweit unbestritten gebliebenen Darstellung der Vorinstanz ist das
Bauvorhaben der Beschwerdegegnerin das einzige Projekt, welches
eine Ausnützungsziffer von über 0,4 beansprucht. Es ist nicht ersicht-
lich, inwiefern ein einziger Bau am Rande der Bauzone mit einer hö-
heren Ausnützungsziffer die Planung der Gemeinde durchkreuzen
und die Nutzungsordnung (im betreffenden Gebiet) in Frage stellen
könnte. Was die Beschwerdeführer dagegen vorbringen, vermag
nicht zu überzeugen. Auch wenn der geplante Bau augenscheinlich
grösser dimensioniert sein wird als die benachbarten Bauten, wird
der Charakter dieser Zone dadurch nicht ausgehebelt. Welche über-
mässig nachteiligen Auswirkungen das Bauvorhaben auf die nordöst-
lich angrenzende Landschaftsschutzzone hat, wird von den Be-
schwerdeführern nicht näher konkretisiert. Zu Recht schützte deshalb
die Vorinstanz den gemeinderätlichen Ermessensentscheid, keine
Bausperre über die Parzelle X zu verfügen. | 1,627 | 1,270 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2017-26_2017-01-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2017-26.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2017-26.pdf | AGVE_2017_26 | null | nan |
96f8bdd0-1791-5e95-a19d-39ddd9a293e0 | 1 | 412 | 871,070 | 1,380,672,000,000 | 2,013 | de | 2013
Migrationsrecht
143
[...]
31 Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung; Verschweigen wesent-
licher Tatsachen; Verhältnismässigkeit; öffentliches Interesse
Je gewichtiger sich das Verschweigen wesentlicher Tatsachen auf einen
korrekten Entscheid der Bewilligungsbehörden auswirken kann und je
grösser das Verschulden des Betroffenen zu qualifizieren ist, umso höher
ist das öffentliche Interesse an der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbe-
willigung zu veranschlagen.
2013
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
144
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 25. Oktober
2013 in Sachen A. gegen das Amt für Migration und Integration
(WBE.2012.1059).
Aus den Erwägungen
4.2.
4.2.1.
Liegt ein Widerrufsgrund vor, weil ein Betroffener im Bewilli-
gungsverfahren falsche Angaben gemacht oder wesentliche Tatsa-
chen verschwiegen hat (Art. 62 Abs. 1 lit. a AuG), bestimmt sich das
Mass des öffentlichen Interesses an der Nichtverlängerung der Auf-
enthaltsbewilligung vorab daran, wie gross das Interesse der Be-
hörden zu veranschlagen ist, im Bewilligungsverfahren über korrekte
Angaben zu verfügen bzw. in Kenntnis der verschwiegenen Tatsa-
chen entscheiden zu können. Zudem ist das Verschulden des Be-
troffenen zu gewichten und der seit der Falschangabe bzw. seit dem
Verschweigen vergangene Zeitraum und das Verhalten der auslän-
dischen Person während dieser Periode zu berücksichtigen (vgl.
BGE 135 II 377, Erw. 4.3). Je gewichtiger sich die Falschangabe
oder das Verschweigen auf einen korrekten Entscheid der Bewilli-
gungsbehörden auswirken kann und je grösser das Verschulden des
Betroffenen zu qualifizieren ist, umso höher ist das öffentliche Inte-
resse an der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung zu veran-
schlagen.
In Bezug auf das öffentliche Interesse ist festzuhalten, dass der
Erwerb einer Aufenthaltsbewilligung durch Verschweigen wesentli-
cher Tatsachen verwerflich ist. Es besteht seitens der Migrations-
behörden ein erhebliches Interesse, in Kenntnis aller wesentlichen
Umstände über die Bewilligung eines Betroffenen entscheiden zu
können, damit nur diejenigen Personen von einer besonderen gesetz-
lichen Privilegierung profitieren können, welche die entsprechenden
Voraussetzungen auch tatsächlich erfüllen. Insofern ist auch von
einem grossen öffentlichen Interesse auszugehen, eine Bewilligung,
die mittels Verschweigens wesentlicher Tatsachen erhältlich gemacht
2013
Migrationsrecht
145
wurde, nicht zu verlängern bzw. zu widerrufen. Bei der Beurteilung
des öffentlichen Interesses ist zudem die Art der Täuschungshandlun-
gen zu berücksichtigen. Je gravierender und verwerflicher diese wa-
ren, desto eher ist die Nichtverlängerung bzw. der Widerruf ange-
messen bzw. umso höher müssen die privaten Interessen an einem
weiteren Verbleib in der Schweiz sein, um die Nichtverlängerung
bzw. einen Widerruf der Aufenthaltsbewilligung als unverhältnismäs-
sig erscheinen zu lassen (vgl. RGAE vom 2.
Februar 2012
[1-BE.2010.48], Erw. II/4.2).
4.2.2.
Bereits aufgrund des Umstandes, dass es der Beschwerdeführer
über Jahre hinweg konsequent unterlassen hat, die Behörden über die
Existenz seines ausserehelichen Sohnes aufzuklären und damit er-
reichte, dass diese seine Aufenthaltsbewilligung in Unkenntnis des
vollständigen Sachverhalts erteilten bzw. verlängerten, ist von einem
grossen öffentlichen Interesse an der Nichtverlängerung seiner Auf-
enthaltsbewilligung und seiner Wegweisung aus der Schweiz aus-
zugehen. Hätten die Behörden Kenntnis aller Umstände gehabt, wäre
die Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers wohl ernsthaft
in Frage gestellt worden. Hinzu kommt, dass aufgrund des Ablaufs -
Zeugung eines Kindes im Ausland, Heirat einer Schweizerin, Schei-
dung nach vermeintlicher Sicherung eines Aufenthaltsrechts, Aner-
kennung des Kindes und Heirat der Kindsmutter - von einem plan-
mässigen Vorgehen und vom Führen einer Parallelbeziehung im
Ausland auszugehen ist. Insgesamt besteht deshalb ein sehr grosses
öffentliches Interesse an der Nichtverlängerung seiner Aufenthaltsbe-
willigung und seiner Wegweisung aus der Schweiz. | 863 | 680 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2013-31_2013-10-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2013-31.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2013-31.pdf | AGVE_2013_31 | null | nan |
970f3613-744b-5671-a186-2aad7af9df9b | 1 | 412 | 869,644 | 1,217,808,000,000 | 2,008 | de | 2008
Submissionen
179
[...]
31 Zuschlagskriterien.
-
Zuschlagskriterium "gerechte Abwechslung und Verteilung" als
"vergabefremdes" Kriterium.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 18. August 2008 in Sachen
ARGE F. (Z. AG und E. AG) gegen das Departement Bau, Verkehr und Um-
welt (WBE.2008.150).
2008
Verwaltungsgericht
180
Aus den Erwägungen
5.
Von den Beschwerdeführerinnen als rechtswidrig und willkür-
lich gerügt wird schliesslich auch die Benotung des Zuschlagskri-
teriums "Verteilung der Arbeiten". Die Beschwerdeführerinnen
haben bei diesem Kriterium - im Gegensatz zu den übrigen Anbie-
tern für das Los 7 - mit 2,5 Punkten lediglich die Hälfte von mögli-
chen 5 Punkten erhalten.
5.1.
Unter dem Kriterium "Verteilung der Arbeiten" ist gemäss den
Submissionsbedingungen die angemessene Aufteilung der Arbeiten
unter den verschiedenen Bauunternehmungen zu verstehen. Die Ver-
gabestelle hat die Bewertung dieses Kriteriums ebenfalls gemäss den
vorerwähnten internen Vorgaben (MS-Dokument W.1.002) vorge-
nommen. Danach wird im Normalfall die maximale Punktzahl von
100 Punkten bzw. gewichtet von 5 Punkten erteilt. Wenn hingegen
aufgrund der übrigen Kriterien bei einem Unternehmer das Total der
Gesamtvergabesumme einen Anteil von 30 % sämtlicher Einzelob-
jekte der Ausschreibung übertrifft, wird die Punktzahl bei jenen
Objekten, die über dieser Limite liegen, auf 50 reduziert (im Normal-
fall angefangen bei jenen Objekten mit der geringsten Preisdiffe-
renz).
Die Beschwerdeführerinnen haben bei der vorliegenden Sam-
melausschreibung sowohl für Los 7 (...) als auch für Los 9 (...) ein
Angebot eingereicht. Ihr Angebot für Los 7 beträgt Fr. 2'195'635.05,
dasjenige für Los 9 Fr. 738'940.80. Nach Darstellung der Vergabebe-
hörde übertrifft damit die Angebotssumme für beide Lose von zu-
sammen Fr. 2'934'575.85 den Anteil von 30 % (= Fr. 2'039'806.10)
an der Gesamtvergabesumme für die Sammelausschreibung der Lose
1-9 von Fr. 6'799'353.90 eindeutig, weshalb die Punktzahl bei jenen
Objekten, die über dieser Limite liegen, auf 50 Punkte reduziert wur-
2008
Submissionen
181
de. Da im Normalfall bei den Objekten mit der geringsten Preis-
differenz angefangen werde, habe die Reduktion bei Los 7 (...) mit
einer negativen Preisdifferenz, d.h. dem 2. Platz, erfolgen müssen.
Demgegenüber sind die Beschwerdeführerinnen der Ansicht,
das Vorgehen sei schon deshalb widerrechtlich und willkürlich, weil
die Vergabesumme des Loses 7 (...) wegen des besonderen Umfangs
der Arbeiten für sich allein über 30 % des Vergabetotals liege. Das
Vorgehen führe deshalb zum Ausschluss der Beschwerdeführerinnen
vom grössten und für sie interessantesten Auftrag. Es sei willkürlich,
diese Punktereduktion ausgerechnet bei jenem Los vorzunehmen, bei
welchem die Beschwerdeführerinnen preislich an 1. bzw. nach der
Korrektur an 2. Stelle lagen. Es widerspreche dem Grundsatz eines
fairen und transparenten Verfahrens, wenn ein Bewerber (in casu die
Beschwerdeführerinnen) durch solche Machenschaften vom für sie
interessantesten Auftrag ausgeschlossen würden. Wenn schon sei in
solchen Fällen die Punktereduktion bei jenem Auftrag vorzunehmen,
der von der Vergabesumme her der geringste, also für die Anbieter
der uninteressanteste sei. Darüber hinaus sei es willkürlich, in casu
eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus zwei unabhängigen Firmen,
einem einzelnen Unternehmer gleichzustellen. In solchen Fällen von
Arbeitsgemeinschaften müsste die auf sie entfallende Gesamtverga-
besumme durch die Anzahl der an der ARGE beteiligten Unterneh-
men geteilt werden (in casu also durch zwei). Hätten die Beschwer-
deführerinnen getrennt eingegeben, hätte es keine Kürzung gegeben
und sie hätten beide Aufträge erhalten.
5.2.
In § 18 Abs. 2 SubmD wird die "gerechte Abwechslung und
Verteilung" ausdrücklich als Kriterium zur Ermittlung des wirt-
schaftlich günstigsten Angebots erwähnt. Bei diesem Kriterium han-
delt es sich indessen um ein sog. "vergabefremdes" Zuschlagskrite-
rium, das nicht unmittelbar zur Bestimmung des im Hinblick auf die
konkrete Vergabe wirtschaftlich günstigsten Angebots beiträgt, son-
dern Allgemeininteressen berücksichtigt (Elisabeth Lang, Die Praxis
des Verwaltungsgericht des Kantons Aargau zum Submissionsrecht,
in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht
[ZBl] 103/2002, S. 470; Peter Galli / André Moser / Elisabeth Lang /
2008
Verwaltungsgericht
182
Evelyne Clerc, Praxis des öffentlichen Beschaffungsrechts, 1. Band,
2. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2007, Rz. 589). Gemäss Matthias
Hauser (Zuschlagskriterien im Submissionsrecht, in: Aktuelle Juristi-
sche Praxis [AJP] 2001, S. 1420) erscheint die gerechte Abwechs-
lung u.U. sinnvoll, wenn mit einer Mehrzahl entsprechender Kon-
stellationen (ähnliche Aufträge, zu erwartende Gleichwertigkeit meh-
rerer Offerten) mit den jeweils gleichen Anbietern zu rechnen ist.
Ansonsten sei eine Abwechslung nicht gewährleistet. Dass die einge-
henden Angebote gleichwertig sind, ist bei Vergaben wie der vorlie-
genden Sammelausschreibung von kleineren Strassenbauaufträgen
häufig der Fall. Mit dem Kriterium der Abwechslung hat es die Ver-
gabebehörde bei solchen Vergaben auch in der Hand, ein allfälliges
"Klumpenrisiko" zu vermeiden. Klar erscheint sodann, dass der "ge-
rechten Abwechslung und Verteilung" als vergabefremdem Kriterium
kein allzu grosses Gewicht zukommen darf (Lang, a.a.O., S. 470).
Letztlich soll damit lediglich erreicht werden, dass bei an sich (in Be-
zug auf die preis- und qualitätsrelevanten Zuschlagskriterien) gleich-
wertigen Angeboten eine Abwechslung möglich ist. Vorliegend
kommt dem Kriterium ein Gewicht von 5 % zu, was im Hinblick auf
das der Vergabestelle zukommende grosse Ermessen bei der Hand-
habung der Kriterien vertretbar erscheint.
Wie bereits dargelegt, ist nach der Praxis des Verwaltungsge-
richts in erster Linie entscheidend, dass ein Bewertungs- oder Beno-
tungssystem im Grundsatz sachgerecht ist und einheitlich, d.h. auf
alle Anbietenden bzw. auf alle Angebote in gleicher Weise und nach
gleichen Massstäben angewendet wird. Die Ausgestaltung im Detail
ist dabei von untergeordneter Bedeutung (AGVE 2000, S. 323; Lang,
a.a.O., S. 475).
Die Handhabung bzw. Benotung des strittigen Kriteriums ist im
Hinblick auf die Gleichbehandlung der Anbietenden zweifellos nicht
unproblematisch. Im vorliegenden Fall hat die Vergabebehörde - wie
dargelegt - für die Benotung des Kriteriums interne Richtlinien
festgelegt, die bei Vergaben wie der vorliegenden zur Anwendung
gelangen. Dies ist als durchaus zweckmässig anzusehen, da auf diese
Weise die Gleichbehandlung der Anbietenden von vornherein formell
sichergestellt ist. Das heisst, es wird verhindert, dass die Vergabe-
2008
Submissionen
183
stelle im Einzelfall unter Hinweis auf die "gerechte Abwechslung
und Verteilung" zumindest unter mehr oder weniger gleichwertigen
Angeboten nach ihrem Belieben, d.h. willkürlich, entscheiden kann.
Die Vergabebehörde hat sich bei der Benotung der Angebote im
konkreten Fall strikte an ihre eigenen Vorgaben gehalten, was die Be-
schwerdeführerinnen zu Recht nicht (mehr) in Frage stellen. Insofern
kann der Vergabebehörde weder eine Verletzung des Grundsatzes der
Gleichbehandlung noch Willkür vorgeworfen werden. Ebenso wenig
hat sie das ihr zukommende Ermessen überschritten. Dass die Be-
schwerdeführerinnen den zu ihrem Nachteil ausgefallenen Entscheid
als ungerecht empfinden, ist verständlich und nachvollziehbar, ändert
aber nichts daran, dass der Vergabebehörde keine Rechtsverletzung
vorgeworfen werden kann. Die von den Beschwerdeführerinnen vor-
gebrachten Einwände sind ebenfalls unbehelflich. Sie haben vorlie-
gend als Arbeitsgemeinschaft ein (gemeinsames) Angebot einge-
reicht und sind infolgedessen im gesamten Vergabeverfahren, somit
auch beim Kriterium der Abwechslung als ein Anbieter zu behan-
deln. Andernfalls könnte ein grosses Unternehmen beispielsweise
auch geltend machen, dass ihm aufgrund seiner Grösse ein höherer
Anspruch am Auftragsvolumen zustehen muss als einem kleineren
Anbieter. Die genannten internen Richtlinien sehen keine solche
Differenzierungen vor, was nicht zu beanstanden ist.
Ebenfalls besteht keine Verpflichtung der Vergabestelle, die
erwähnten Bewertungsrichtlinien offen zu legen, auch wenn dies aus
Gründen der Transparenz generell und bei einem problematischen
Kriterium der "gerechten Abwechslung und Verteilung" im Besonde-
ren wünschbar wäre. | 1,875 | 1,498 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2008-31_2008-08-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-31.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-31.pdf | AGVE_2008_31 | null | nan |
971f9c1f-ebf6-599e-9c8e-736891f97609 | 1 | 412 | 871,064 | 1,396,396,800,000 | 2,014 | de | 2014
Wahlen und Abstimmungen
229
X. Wahlen und Abstimmungen
42
§§ 37 und 38 GPR
-
Mangelnde Legitimation einer Kreisschulpflege als Behörde
-
Grundsätze für die Wahl einer Kreisschulpflege, insbesondere
Durchführung eines zweiten Wahlgangs
Urteil des Verwaltungsgerichts, 2. Kammer, vom 25. April 2014 in Sachen
A., B., C. und D. gegen Kreisschulrat X. (WBE.2014.37).
Aus den Erwägungen
I.
1. (...)
2.
2.1. (...)
2.2.
Die Kreisschulpflege ist als Behörde zur Beschwerdeerhebung
nicht legitimiert. Als solche kann sie nicht unter eigenem Namen ge-
gen Entscheide des Kreisschulrats Beschwerde führen (sog. Behör-
denbeschwerde; vgl. Botschaft zur Totalrevision des VRPG, S. 55
mit Hinweisen); dass eine entsprechende spezialgesetzliche Er-
mächtigung bestehe (vgl. § 42 Abs. 1 lit. b VRPG), macht die Kreis-
schulpflege zu Recht nicht geltend. Die Kreisschulpflege ist aber
auch kein Selbstverwaltungskörper (wie etwa eine Gemeinde oder
ein Gemeindeverband wie die Kreisschule S.), sondern lediglich Teil
eines solchen. Sie handelt hier, wo sich ihre Beschwerde gegen einen
Beschluss eines anderen Organs des gleichen Selbstverwaltungs-
körpers richtet, nicht für einen Selbstverwaltungskörper. Auch unter
diesem Aspekt kommt daher eine Beschwerdeführung durch die
Kreisschulpflege nicht infrage.
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
230
2.3.
Hingegen haben, worauf schon die Vorinstanz zutreffend hinge-
wiesen hat, die im ersten Wahlgang nicht gewählten bisherigen Mit-
glieder der Kreisschulpflege (A., B., C. und D.) ein aktuelles Inte-
resse an der Beurteilung ihrer Beschwerde, sind sie doch der Auffas-
sung, dass, wäre am 4. Dezember 2013 ein - nach ihrer Auffassung
zwingender - zweiter Wahlgang durchgeführt worden, sie wieder als
Mitglieder der Schulpflege gewählt worden wären. Mit ihrer Be-
schwerde wollen sie denn auch genau dieses Ziel - die Feststellung
durch das Verwaltungsgericht, dass sie rechtsgültig gewählt seien -
erreichen.
(...)
II.
1.
1.1.
Die Mitglieder der Schulpflege werden gemäss § 21 Abs. 1 lit. b
GG in der Gemeindeversammlung oder an der Urne gewählt. Dies
gilt sinngemäss auch für Kreisschulverbände (§ 69 Abs. 2 SchulG).
In einer Organisation mit einem Kreisschulrat werden die Schulpfle-
gemitglieder durch den Kreisschulrat gewählt. Für das Wahlpozedere
gelten dabei, wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, die Vor-
schriften des GPR. Auf die hier zu beurteilenden Gesamterneue-
rungswahlen, die der Kreisschulrat in öffentlicher Sitzung durchführt
(vgl. § 17 Abs. 5 und § 18 Ziff. 1 Satzungen), gelangen mithin die
Regeln von § 37 ff. GPR zur Anwendung.
1.2.
Gemäss § 23 des Geschäftsreglements des Kreisschulrats X.
sind vom Kreisschulrat durchzuführende Wahlen wie folgt abzuwi-
ckeln:
"1
Wahlen werden geheim durchgeführt.
2
Im ersten Wahlgang entscheidet das absolute, im zweiten das relative
Mehr der gültigen Stimmen.
3
Bei Stimmgleichheit zieht der Vorsitzende das Los.
2014
Wahlen und Abstimmungen
231
4
In Bezug auf die persönliche Stimmabgabe, Beurteilung der Stimmzettel,
absolutes Mehr, mehrere Namen, finden die Vorschriften des Gesetzes
über die politischen Rechte sinngemäss Anwendung."
§ 37 und 38 GPR bestimmen:
"§ 37
Durchführung
1
Die Wahlen in der Gemeindeversammlung werden geheim durchgeführt.
2
Die Wahl der Stimmenzähler und die Wahlen in der Ortsbürgergemeinde
können auf besonderen Beschluss der Versammlung offen stattfinden.
3
Sind mehrere Mitglieder für das gleiche Gremium zu wählen, entscheidet die
Versammlung in offener Abstimmung darüber, ob jede Wahl einzeln oder
alle Wahlen gleichzeitig vorgenommen werden.
4
Das Wahlverfahren ist so durchzuführen, dass alle zu treffenden Wahlen in
ein und derselben Versammlung erledigt werden können. Ist dies nicht mög-
lich, so muss innert 14 Tagen ein neuer Versammlungstermin angesetzt wer-
den.
§ 38
Wahlvorschläge, Ausstand, Wahlannahme
1
Die Wahlvorschläge sind in der Versammlung zu machen. Sie dürfen kurz
begründet werden.
2
Für den zweiten Wahlgang können neue Vorschläge eingebracht werden.
3
die vorgeschlagenen Kandidaten haben sich nicht in den Ausstand zu bege-
ben.
4
Ist ein Gewählter in der Versammlung anwesend, hat er umgehend die An-
nahme oder Ablehnung der Wahl zu erklären."
1.3.
Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, wie die Vorinstanz
zutreffend dargestellt hat, dass die am 4. Dezember 2013 durchge-
führten Gesamterneuerungswahlen der Mitglieder der Kreisschul-
pflege mangelhaft durchgeführt worden sind. Entgegen § 37 Abs. 4
GPR wurde die Wahl nämlich nicht in ein- und derselben Versamm-
lung durchgeführt, sondern der zweite Wahlgang wurde auf einen
späteren Termin verschoben. Dabei rechtfertigt sich auch der Hin-
weis der Vorinstanz, wonach die Vorschriften des GPR in jedem Fall
einzuhalten sind. Das GPR ist gemäss seinem § 1 Abs. 1 i.V.m. § 27
Abs. 1 Ziff. 4 auf die Wahlen in die Kreisschulpflege anwendbar und
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
232
enthält gewissermassen einen kantonalrechtlichen Mindeststandard
für Wahlverfahren in Gemeindeverbänden und damit auch für die
Wahl in die Kreisschulpflege. Soweit Bestimmungen im Reglement
eines Gemeindeverbands somit der Regelung im GPR widersprä-
chen, ginge die Regelung des GPR vor.
Das Vorgehen an der Versammlung vom 4. Dezember 2013 ver-
letzt im Übrigen auch § 23 Geschäftsreglement, der dann, wenn ein
Kandidat im ersten Wahlgang nicht das absolute Stimmenmehr er-
reicht, was hier hinsichtlich der drei bisherigen Mitglieder der Schul-
pflege A., B. und C. der Fall war, die Durchführung eines zweiten
Wahlgangs vorsieht. In diesem zweiten Wahlgang, in dem neue Vor-
schläge hätten vorgebracht werden können (§ 38 Abs. 2 GPR), wären
dann die Personen gewählt gewesen, welche das relative Mehr der
Stimmen auf sich vereinigt hätten. Erst wenn auch nach dem Ergeb-
nis des zweiten Wahlgangs die Kreisschulpflege nicht vollständig be-
setzt hätte werden können, wäre Unmöglichkeit im Sinn von § 37
Abs. 4 zweiter Satz GPR anzunehmen und die Durchführung einer
weiteren Wahlversammlung angezeigt gewesen.
Die Vorinstanz hat ausserdem zutreffend darauf hingewiesen,
dass die Nichtdurchführung des zweiten Wahlgangs mit Neuaus-
schreibung für die drei (noch) nicht gewählten Mitglieder der Kreis-
schulpflege - und ohne Nennung eines vor dem 22. Dezember 2013
liegenden zweiten Wahltermins - auch einen Verstoss gegen die
regierungsrätlichen Vorgaben hinsichtlich der Erneuerungswahlen in
den Gemeinden für die Amtsperiode 2014 - 2017 (Anordnung ge-
stützt auf § 13 GPR) darstellt, mussten solche Wahlen doch gemäss
den regierungsrätlichen Vorgaben im Zeitraum vom 9. Juni bis zum
22. Dezember 2013 durchgeführt werden.
1.4.
Nachdem die Vorinstanz wie dargelegt zutreffend festgestellt
hat, dass die am 4. Dezember 2013 durchgeführte Gesamterneue-
rungswahl der Kreisschulpflege an verschiedenen Mängeln litt, ist
einzig zu prüfen, welche Rechtsfolgen diese Mängel haben. Allein
darum dreht sich denn auch der vorliegende Streit.
2014
Wahlen und Abstimmungen
233
2.
2.1.
Der erste Wahlgang ist, wie im angefochtenen Entscheid zutref-
fend festgestellt wird, ordnungsgemäss durchgeführt worden. Es ist
daher entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht einzusehen, wa-
rum dieser für Personen, bei denen von der Annahme der Wahl
auszugehen ist, nochmals durchgeführt werden sollte.
2.2.-2.3. (...)
3.
Zu entscheiden bleibt, welche Folgen die Verletzungen der Vor-
schriften betreffend die Durchführung eines zweiten Wahlgangs bei
fehlendem absolutem Mehr im ersten Wahlgang haben.
3.1.
3.1.1.
Die Vorinstanz ist in diesem Zusammenhang zum Ergebnis ge-
langt, die ganze Wahl müsse nochmals durchgeführt werden. Unter
Einbezug des bisherigen Ergebnisses - keine Wiederholung der Wahl
vom 4. Dezember 2013 mit Bezug auf die beiden im ersten Wahl-
gang gewählten Mitglieder der Kreisschulpflege - ist davon auszuge-
hen, dass die Vorinstanz zumindest die Durchführung des zweiten
Wahlgangs für die im ersten Wahlgang nicht gewählten Mitglieder
für erforderlich hielte.
3.1.2.
Die Beschwerdeführer sind dagegen der Auffassung, die Durch-
führung eines zweiten Wahlgangs sei überflüssig. Gehe man davon
aus, dass im zweiten Wahlgang die noch nicht gewählten bisherigen
Mitglieder A., B. und C.wiederum sechs Stimmen erhalten hätten, so
könne festgestellt werden, dass deren Wahl rechtsgültig erfolgt sei,
nachdem sie das relative Mehr erreicht hätten. Aus prozessökonomi-
schen Gründen sei daher direkt durch das Verwaltungsgericht festzu-
stellen, dass auch die Mitglieder A., B. und C. rechtsgültig gewählt
seien.
3.2.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer kann nicht ein-
fach davon ausgegangen werden, dass die drei bisherigen im ersten
Wahlgang mangels Erreichens des absoluten Mehrs nicht gewählten
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
234
Mitglieder im zweiten Wahlgang gewählt worden wären. Es mag
zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass diejeni-
gen sechs Mitglieder des Kreisschulrats, die im ersten Wahlgang ihre
Stimme für A., B. und C. abgegeben haben, dies auch im zweiten
Wahlgang wieder tun würden. Dies ist jedoch nicht sicher. Deshalb
kann dem Hauptantrag der Beschwerdeführer A., B. und C. nicht ge-
folgt werden.
4.
Damit ist aber noch nicht darüber entschieden, wer zu diesem
zweiten Wahlgang noch als Kandidat zuzulassen ist. Während die
Vorinstanz und der Kreisschulrat offenbar davon ausgehen, dass im
zweiten Wahlgang noch beliebige Kandidaten vorgeschlagen werden
können, beantragen die Beschwerdeführer A., B. und C. der Sache
nach, dass nur noch sie als Kandidaten zum zweiten Wahlgang zuzu-
lassen sind.
4.1.
Die Wahlordnung gemäss den §§ 37 ff. GPR ist eine Wahlord-
nung für Versammlungswahlen - im Unterschied zu Wahlen an der
Urne gemäss den §§ 27 ff. GPR.
Anders als bei Urnenwahlen ist bei Versammlungswahlen die
unmittelbare Durchführung eines zweiten Wahlgangs technisch mög-
lich. Obwohl das nicht bedeutet, dass der Gesetzgeber sich auch für
das Modell der Wahl in einer Versammlung entscheiden muss, hat er
in § 37 Abs. 4 GPR genau dieses Modell verankert. Dabei fällt auf,
dass dieses Modell auch in anderen Kantonen weit verbreitet ist (vgl.
z.B. §§ 123 ff. des Luzerner Stimmrechtsgesetzes vom 25. Oktober
1988 [SRL 10]; §§ 47 ff. des Zürcher Gemeindegesetzes vom 6. Juni
1926 [SG 131.1]; §§ 5 ff des Zuger Gesetzes über die Organisation
und die Verwaltung der Gemeinden vom 4. September 1980 [BGS
171.1]; § 19b des Basellandschaftlichen Gesetzes über die Organisa-
tion und die Verwaltung der Gemeinden vom 28. Mai 1970 [SGS
180]; § 32 ff. des Solothurner Gemeindegesetz vom 16. Februar 1992
[BGS 131.1]). Hinzu kommt, dass der aargauische Gesetzgeber auch
bei der Urnenwahl, bei der die Durchführung eines unmittelbar an
den ersten Wahlgang anschliessenden zweiten Wahlgangs technisch
gar nicht möglich ist, sehr kurze Fristen für Wahlvorschläge für den
2014
Wahlen und Abstimmungen
235
zweiten Wahlgang vorgesehen hat (vgl. §§ 30a, 32, 33 GPR). Das
deutet darauf hin, dass es nach dem Willen des Gesetzgebers nicht
möglich sein soll, im Hinblick auf den zweiten Wahlgang in Ruhe
nach anderen Kandidaten Ausschau halten zu können als jenen, die
im ersten Wahlgang präsentiert wurden. Damit wird nicht nur für
eine Konzentration der Wahlgeschäfte gesorgt - es soll möglichst
rasch klar sein, wer ein bestimmtes Amt bekleiden soll. Diese Ausge-
staltung des Wahlverfahrens macht darüber hinaus auch Sinn, weil
sie einen gewissen Schutz für die Kandidierenden sowohl bei Neu-
als auch bei Gesamterneuerungswahlen beinhaltet: Es wird vermie-
den, dass im ersten Wahlgang nicht gewählte Kandidaten, welche
zum zweiten Wahlgang antreten, über lange Zeit im Ungewissen
darüber sind, ob sie nun doch noch gewählt werden. Diese Überle-
gung gilt umso mehr für bisherige Amtsinhaber, denen gegenüber
durch die Nichtwiederwahl im ersten Wahlgang (jedenfalls in deren
subjektiver Empfindung) das Misstrauen ausgesprochen wird; sie
sollen möglichst rasch wissen, ob sie nun - im zweiten Wahlgang, al-
lenfalls nur mit relativem Mehr - doch gewählt werden. Gerade der
hier zu beurteilende Sachverhalt zeigt einen weiteren Nachteil erst
lange nach dem ersten Wahlgang durchgeführter zweiter Wahlgänge:
Das Risiko, dass ein zu wählendes Gremium funktionsunfähig wird
bzw. dass es nur weiter funktionsfähig bleibt, weil Mitglieder, die im
ersten Wahlgang nicht gewählt wurden, in ihm weiter mitwirken, ist
gross. Gerade dies will der Gesetzgeber mit der in den §§ 37 ff. GPR
verankerten Wahlordnung verhindern.
Diese Umstände deuten darauf hin, dass der Gesetzgeber so-
wohl hinsichtlich der Urnen- als auch der Versammlungswahl eine
Ordnung verwirklichen wollte, die eine zügige Durchführung der
Wahlgeschäfte gewährleistet. Vor diesem Hintergrund kommt denn
auch dem Zusammenspiel der Vorschriften von § 37 Abs. 4 und § 38
Abs. 2 GPR erhebliche Bedeutung zu: Versammlungswahlen sollen
in einer Versammlung durchgeführt werden. Da in der Versamm-
lungswahl (im Gegensatz zur Urnenwahl; vgl. Botschaft des Regie-
rungsrats zum GPR vom 17. Dezember 1990, S. 13 und § 30 Abs. 1
GPR) stets nur in der Versammlung vorgeschlagene Kandidaten
wählbar sind, hat der Gesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
236
vorgesehen, dass für den zweiten Wahlgang noch Vorschläge ge-
macht werden können. Auch diese gesetzliche Ordnung, die denjeni-
gen, welche neue Kandidaten allenfalls auch erst im zweiten Wahl-
gang vorschlagen möchten, eine entsprechende Sitzungsvorbereitung
erlaubt, spricht klar gegen die Zulässigkeit einer Vertagung des zwei-
ten Wahlgangs.
4.2.
Das dargelegte in der gesetzlichen Ordnung zum Ausdruck
kommende Gewicht des Anliegens der zügigen Durchführung von
Wahlgeschäften insbesondere bei der Versammlungswahl verbietet
es, Verhaltensweisen quasi noch zu belohnen, die zu einer Aushebe-
lung der gesetzlichen Ordnung führen würden. Genau darauf liefe
aber, worauf die Beschwerdeführer zutreffend hinweisen, die einfa-
che Anordnung der Durchführung eines zweiten Wahlgangs hinaus:
Sie würde die Möglichkeit eröffnen, entgegen dem in § 37 Abs. 4
i.V.m. § 38 Abs. 1 GPR vorgesehenen Verfahren (und auch in Abwei-
chung von § 32 GPR) lange nach Durchführung des ersten Wahl-
gangs noch Kandidatenvorschläge einzureichen. Das läuft aber wie
dargelegt offensichtlich der ratio legis der gesetzlichen Ordnung
zuwider.
Hinzu kommt, dass auf diese Weise dem unter dem Gesichts-
punkt des auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatzes des
Handelns nach Treu und Glauben (vgl. U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl.,
Zürich 2010, Rz 622 mit Hinweisen) fragwürdigen Verhalten des
Kreisschulrats bzw. dessen federführender Mitglieder Vorschub ge-
leistet würde: Wie sich aus den Akten ergibt, suchte der Kreisschulrat
bereits mit zwei Inseraten im Landanzeiger vom 12. und 19. Septem-
ber 2013 nach möglichen Kandidaten für die Kreisschulpflege. In der
Folge wurde das Vorgehen für die Versammlung vom 4. Dezember
2013 vorbereitet, indem gestützt auf eine vom Büro des Grossen Rats
beim Rechtsdienst des Regierungsrats eingeholte schriftliche
Stellungnahme betreffend das Verfahren bei der Wiederwahl eines
Oberrichters dem Kreisschulrat ein von den Vorgaben des GPR und
des Geschäftsreglements abweichendes Wahlverfahren vorgeschla-
gen wurde. In diesem Zusammenhang rechtfertigt sich insbesondere
2014
Wahlen und Abstimmungen
237
der Hinweis, dass der Kreisschulrat nicht etwa geltend macht, er
habe eine Rechtsauskunft zur offenen Frage des Wahlverfahrens ein-
geholt, auf die er sich in der Folge aufgrund des Vertrauensschutz-
prinzips habe stützen können. Er hat vielmehr gerade keine
Rechtsauskunft eingeholt, sondern sich - ohne Absicherung durch
Einholen einer Auskunft des Rechtsdiensts der Gemeindeabteilung
(was näher gelegen hätte) - auf seine eigene Meinung zur Durchfüh-
rung des Wahlverfahrens verlassen (die er, wie bereits erwähnt, auf
eine ein gänzlich anderes Wahlgeschäft betreffende Rechtsauskunft
des Rechtsdiensts des Regierungsrats stützte) und auf dieser Grund-
lage ein Sitzungsszenario entworfen. Als in der Sitzung vom
4. Dezember 2013 Einwände gegen das vorgeschlagene Verfahren
erhoben wurden, hat die Sitzungsleitung auch nicht etwa zur Abklä-
rung der rechtlichen Zulässigkeit des beabsichtigten Vorgehens eine
Verschiebung des ganzen Wahlgeschäfts in Erwägung gezogen. Viel-
mehr wurde einfach über einen Antrag auf (korrekte) Durchführung
des Wahlverfahrens abgestimmt und dieser abgelehnt. Aus diesem
gesamten Ablauf (Stellenausschreibung, Vorbereitung und Durchfüh-
rung des Wahlgeschäfts) ist klar erkennbar, worum es dem
Kreisschulrat bzw. dessen federführenden Mitgliedern ging: Es soll-
ten zumindest zum Teil neue Kandidaten für die Wahl in die Kreis-
schulpflege präsentiert werden (weil offenbar eine gewisse Unzufrie-
denheit mit der Tätigkeit eines Teils der bisherigen Schulpflegemit-
glieder bestand). Da bis zur Versammlung des Kreisschulrats vom 4.
Dezember 2013 keine Kandidaten gefunden worden waren, sollte die
Durchführung eines zweiten Wahlgangs verhindert und ein Zeit-
fenster für das Finden neuer Kandidaten geöffnet werden. Es braucht
nicht entschieden zu werden, ob dieses Vorgehen geradezu rechts-
missbräuchlich war, wie die Beschwerdeführer geltend machen.
Jedenfalls widersprach es klar der gesetzlichen Ordnung und es wäre
den verantwortlichen Mitgliedern des Kreisschulrats auch möglich
gewesen, durch vorgängige Einholung geeigneter Auskünfte beim
Rechtsdienst der Gemeindeabteilung für einen korrekten Ablauf des
Wahlgeschäfts zu sorgen. Unter diesen Umständen fällt entgegen der
Auffassung der Vorinstanz eine einfache Wiederholung des zweiten
2014
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
238
Wahlgangs mit Präsentation allfälliger neuer Kandidaten ausser Be-
tracht.
4.3.
4.3.1.
Kommt ein zweiter Wahlgang mit vorgängiger erneuter Kandi-
datensuche nicht infrage, kann anlässlich der Durchführung des
zweiten Wahlgangs § 38 Abs. 2 GPR auch nicht zur Anwendung
gelangen: Zwar hätten am 4. Dezember 2013 vor Durchführung eines
zweiten Wahlgangs gemäss dieser Vorschrift neue Kandidaten prä-
sentiert werden können. Es wurde indessen kein zweiter Wahlgang
durchgeführt. Würden nunmehr nach Abschluss des verwaltungsge-
richtlichen Verfahrens in einem zweiten Wahlgang Kandidaten
präsentiert, so würde damit im Ergebnis wiederum wie bereits darge-
legt die gesetzliche Ordnung unterlaufen. Da andererseits aber nur
vorgeschlagene Kandidaten gewählt werden können (vgl. § 38 Abs. 1
GPR und den Kommentar zu dieser Bestimmung in der Botschaft des
Regierungsrats, S. 13), können somit im zweiten Wahlgang nur noch
die bisherigen Kandidaten A., B. und C. zur Wahl stehen.
4.3.2.
Damit fragt sich weiter, ob die Durchführung eines zweiten
Wahlgangs überhaupt noch Sinn macht: Im zweiten Wahlgang zählt
das relative Mehr (§ 23 Geschäftsreglement, § 23 Abs. 1 i.V.m. § 39
GPR). Gemäss dem auch bei der Versammlungswahl anwendbaren
§ 22 Abs. 1 GPR (erfasst vom Verweis in § 39 GPR) fallen bei der
Ermittlung des Mehrs die leeren und ungültigen Stimmzettel ausser
Betracht. Das bedeutet, dass für die Wahl der drei im ersten Wahl-
gang nicht gewählten Mitglieder eine einzige Stimme genügen kann
(wenn z.B. je ein Wählender je eine der drei Personen auf seinen
Stimmzettel schreibt und alle übrigen Wählenden leer einlegen).
Dies würde an sich nahe legen, den zweiten Wahlgang still durchzu-
führen (wie es im Ergebnis die Beschwerdeführer beantragen). Da
indessen (zumindest theoretisch) nicht auszuschliessen ist, dass die
drei bisherigen Kandidaten im zweiten Wahlgang (überhaupt) keine
Stimmen erhalten und das Gesetz für die Versammlungswahl - an-
ders als für bestimmte Konstellationen bei der Urnenwahl (vgl. § 30a
Abs. 2 und § 33 Abs. 2 GPR; beide Bestimmungen sind nicht vom
2014
Wahlen und Abstimmungen
239
Verweis in § 39 erfasst) - für Versammlungswahlen keine stille Wahl
vorsieht, rechtfertigt es sich, von der Durchführung eines zweiten
Wahlgangs nicht abzusehen. Als Ergebnis ist daher in teilweiser Gut-
heissung der Beschwerde die Durchführung eines zweiten Wahl-
gangs (nur) mit den drei Kandidaten A., B. und C. anzuordnen. | 4,343 | 3,726 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2014-42_2014-04-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2014-42.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2014-42.pdf | AGVE_2014_42 | null | nan |
9845f644-d74c-5ca2-9168-caad62d0f6f1 | 1 | 412 | 870,548 | 1,102,032,000,000 | 2,004 | de | 2004
Verwaltungsrechtspflege
279
[...]
77 Rechtliches Gehör (§ 14 Abs. 1 AnwT). Solidarhaftung für die
Prozesskosten. Festsetzung der Parteientschädigung (§ 36 VRPG; § 8
AnwT).
- Handhabung von § 14 Abs. 1 AnwT (Erw. 1).
- Solidarische Haftung des während des Beschwerdeverfahrens aus-
scheidenden Konsorten (Erw. 2).
- Handhabung von § 8 AnwT nach der Abschaffung des Zwangstarifs
(Erw. 3 a und b).
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 13. Dezember 2004 in
Sachen M. und Mitb. gegen Baudepartement.
2004
Verwaltungsgericht
280
Aus den Erwägungen
1.
§ 14 Abs. 1 AnwT lautet:
"Will die zuständige Instanz, welche die Parteientschädigung fest-
legt, eine Kostennote nicht in der beanspruchten Höhe genehmi-
gen, soll sie den Anwalt vor der Fällung des Entscheides in
geeigneter Form anhören und auf dessen Begehren den Kosten-
entscheid begründen."
a) In einem früher beurteilten Fall (VGE III/82 vom 14. Okto-
ber 2002 [BE.2002.00014] in Sachen P.) hatte das Baudepartement
zwar dem betreffenden Anwalt von der beabsichtigten Kürzung der
Kostennote Kenntnis gegeben, jedoch seinen Entscheid vor Ablauf
der angesetzten Äusserungsfrist zugestellt. Das Verwaltungsgericht
erblickte hierin keinen Verfahrensfehler. Es erwog dazu Folgendes:
Über den Sinn und die Tragweite von § 14 Abs. 1 AnwT lasse sich
der einschlägigen Botschaft des Regierungsrats an den Grossen Rat
vom 7. September 1987 (im Folgenden: Botschaft) entnehmen (S. 9
zu § 14):
"Nach aargauischer Praxis soll das dem Anwalt zustehende Hono-
rar mit der seiner Partei zugesprochenen Entschädigung überein-
stimmen. Bei der Bemessung dieser Entschädigung wird also indi-
rekt das Einkommen des Anwaltes festgesetzt. Bei dieser Trag-
weite des Entschädigungsentscheides für den Anwalt rechtfertigt
sich ein besonderes Anhörungsrecht."
Die Regelung in § 14 Abs. 1 AnwT sei somit vor dem Hinter-
grund des sogenannten Zwangstarifs zu sehen und auszulegen, d.h.
des Grundsatzes, dass der Anwalt für seine Verrichtungen im Ver-
fahren vor einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde mit seiner
Partei keine höhere Entschädigung vereinbaren dürfe, als nach dem
AnwT geschuldet sei (Botschaft, S. 2). Dieser Zwangstarif sei in der
Zwischenzeit abgeschafft worden; der Anwalt dürfe nunmehr, mit
Ausnahme der unentgeltlichen Rechtsvertretung und der amtlichen
Verteidigung, mit seiner Partei eine vom Tarif abweichende
Entschädigung vereinbaren (§ 39 Abs. 2 AnwG, Fassung vom
9. September 1997, in Kraft seit dem 1. März 1998). Vor diesem
Hintergrund relativiere sich die Bedeutung von § 14 Abs. 1 AnwT
2004
Verwaltungsrechtspflege
281
entsprechend. Die Bestimmung diene heute in erster Linie noch
dazu, den Begründungsaufwand der Gerichte und Verwaltungsbe-
hörden hinsichtlich des Kostenpunkts zu minimieren, da der nach
Massgabe von § 14 Abs. 1 AnwT konsultierte Anwalt sein Einver-
ständnis zur beabsichtigten Kürzung geben und somit eine Begrün-
dung des Kürzungsentscheids entfallen könne. Eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör im eigentlichen Sinne stelle die
Unterlassung der vorgängigen Anhörung gemäss § 14 Abs. 1 AnwT
dagegen nicht dar, da einerseits der Anwalt mit der Einreichung
seiner Kostennote seine Sicht der Dinge darlegen und insofern an
deren Festsetzung mitwirken könne, anderseits die Anwendung des
AnwT auf den sich aus den Akten ergebenden Streitwert und
relevanten Verfahrensaufwand reine Rechtsanwendung darstelle (S. 7
f. des erwähnten Entscheids).
Diese Optik erweist sich nach nochmaligem Überdenken als zu
eng. Der Dekretgeber wollte für einen speziellen Tatbestand ein An-
hörungsrecht schaffen; dieser Begriff findet in § 14 Abs. 1 AnwT
auch Verwendung. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sach-
aufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwir-
kungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechts-
stellung des Einzelnen eingreift; dazu gehört - im Sinne der Mini-
malgarantien gemäss Art. 29 Abs. 2 BV - insbesondere das Recht des
Betroffenen, sich vor dem Erlass eines solchen Entscheids zu äussern
(BGE 127 I 56 mit Hinweis). Die Wahrnehmung des Äusse-
rungsrechts wiederum setzt naturgemäss voraus, dass der Betroffene
über den wesentlichen Inhalt der belastenden Verfügung vorgängig in
Kenntnis gesetzt worden ist. Dies ist auch bei Anwendung von § 14
Abs. 1 AnwT zumindest in jenen Fällen unabdingbar, in denen nicht
bloss eine geringfügige, sondern eine erhebliche Herabsetzung der
geltend gemachten Parteientschädigung beabsichtigt ist. Andernfalls
bliebe § 14 Abs. 1 AnwT toter Buchstabe, und eine solche Annahme
verbietet sich angesichts des eindeutigen Wortlauts der Bestimmung.
Es wäre Sache des Dekretsgebers, eine entsprechende Anpassung
vorzunehmen, wenn er zur Auffassung gelangen sollte, es sei mit der
Abschaffung des Zwangstarifs eine neue Situation entstanden.
Konkret ist also dem Anwalt von den ins Auge gefassten Korrekturen
2004
Verwaltungsgericht
282
Kenntnis zu geben, verbunden mit einer kurzen Äusserungsfrist.
Innert dieser Frist kann der Anwalt der rechtsanwendenden Behörde
seine abweichende Meinung zur Kenntnis bringen und/oder
verlangen, dass der Kostenentscheid begründet wird. Die Form, in
welcher diese Anhörung erfolgt, stellt § 14 Abs. 1 AnwT der Behörde
frei ("in geeigneter Form").
b) Bei einer solchen Auslegung von § 14 Abs. 1 AnwT ist ein
Verfahrensfehler des Baudepartements zu bejahen. Dieses hat von
der Einholung einer aktualisierten Kostennote - zwischen der Ein-
reichung der ersten Kostennote und der Entscheidfällung vergingen
immerhin drei Jahre! - Umgang genommen und den Beschwerdefüh-
rer 1 zur sehr erheblichen Kürzung um 50% bzw. Fr. 10'281.-- auch
nicht angehört. Durch die Äusserungsmöglichkeit im Beschwer-
deverfahren ist der formelle Mangel freilich geheilt worden
(BGE 120 V 362 f. und 121 V 156, je mit Hinweisen; AGVE 1997,
S. 374; VGE III/72 vom 25. August 2003 [BE.2003.00021] in Sa-
chen K., S. 11). Der Verfahrensfehler wirkt sich aber im Kostenpunkt
entsprechend aus (AGVE 1996, S. 384 f. mit Hinweisen).
2. Die Beschwerdeführer erachten es als nicht nachvollziehbar,
dass das Baudepartement nur die E. AG als Verfahrensbeteiligte
behandle, obwohl sie das Baugesuch seinerzeit zusammen mit W.B.
eingereicht habe; es gehe deshalb nicht an, für den Parteikostenersatz
nicht auch W.B. einstehen zu lassen.
a) Baugesuchsteller waren W.B. und die E. AG gemeinsam; sie
bildeten eine einfache Gesellschaft im Sinne von Art. 530 OR. Rich-
tigerweise bezog dann das Baudepartement in dem sich an die Ertei-
lung der Baubewilligung anschliessenden Beschwerdeverfahren
beide Konsorten von Amtes wegen in das Verfahren ein (siehe
AGVE 2003, S. 309 ff.).
In einem Schreiben vom 4. Oktober 2000 an W.B. nahm das
Baudepartement Bezug auf dessen telefonische Mitteilung, dass das
Baugrundstück nicht mehr in seinem (Gesamt-)Eigentum stehe; im
Weitern wurde W.B. u.a. darüber belehrt, dass er neben der E. AG für
die Parteikosten solidarisch hafte. Mit Schreiben vom 31. Oktober
2000 bestätigte W.B., dass "die einfache Gesellschaft E. AG und
W.B. nicht mehr existent ist". In der Folge hat das Baudepartement
2004
Verwaltungsrechtspflege
283
nur noch die E. AG als Beschwerdegegnerin behandelt, auch in Be-
zug auf die den Beschwerdeführern zugesprochene Parteientschädi-
gung. Nach Meinung des Baudepartements handelt es sich um einen
Parteiwechsel.
b) Die Mitglieder einer einfachen Gesellschaft haften grund-
sätzlich solidarisch für Verpflichtungen, welche sie Dritten gegen-
über eingegangen sind (Art. 544 Abs. 3 OR). Dieses Prinzip kommt
auch hinsichtlich der Prozesskosten zur Geltung. Demgemäss haftet
W.B. neben der E. AG bis zu seinem Ausscheiden aus dem
Bauherrenkonsortium bzw. aus dem Verwaltungsbeschwerdever-
fahren solidarisch für die Bezahlung der gegenüber den Beschwerde-
führern geschuldeten Parteientschädigung mit. Zum gleichen Er-
gebnis gelangt man, wenn man wie das Baudepartement von einem
Parteiwechsel (von W.B. zur bisherigen Mitkonsortin E. AG) ausgeht
(siehe dazu Michael Merker, Rechtsmittel, Klage- und Normenkon-
trollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungs-
rechtspflege [Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Zürich 1998,
Vorbem. zu § 38 N 23); § 64 Abs. 3 ZPO schreibt für diesen Fall
ebenfalls vor, dass die austretende Partei neben der eintretenden für
die bis zum Parteiwechsel entstandenen Kosten solidarisch haftet.
Im vorliegenden Falle bietet sich als Stichtag für die Solidar-
haftung der 31. Oktober 2000 an. Die massgebende schriftliche Er-
klärung von W.B., dass er als Gesellschafter ausgeschieden sei, trägt
dieses Datum. Entsprechend ist im Zusammenhang mit der Partei-
kostenfestsetzung die Abgrenzung vorzunehmen.
3. a) Das Baudepartement hat die vom Beschwerdeführer 1 mit
Schreiben vom 4. Oktober 2000 eingereichte, auf den Gesamtbetrag
von Fr. 20'562.-- lautende Kostennote gestützt auf § 8 AnwT um
50% auf den Betrag von Fr. 10'281.-- herabgesetzt. Die Beschwerde-
führer akzeptieren diese Kürzung nicht und verlangen die Festset-
zung auf den Betrag von Fr. 20'599.--, einschliesslich der seit Okto-
ber 2000 hinzugekommenen Aufwendungen.
b) aa) Im Rechtsmittelverfahren beträgt das Honorar des An-
walts in Verwaltungssachen je nach Aufwand 25-100% des nach den
Regeln für das erstinstanzliche Verfahren berechneten Betrags (§ 8
AnwT). Hinter dieser Kürzungsmöglichkeit steht die Überlegung des
2004
Verwaltungsgericht
284
Dekretgebers, dass der Anwalt in aller Regel für das zweitinstanzli-
che Verfahren eher einen geringeren Aufwand habe als für das erstin-
stanzliche; die Instruktion und die Abklärung der tatsächlichen
Verhältnisse seien schon im erstinstanzlichen Verfahren weitgehend
erfolgt, so dass im Rechtsmittelverfahren eine Reduktion des Hono-
rars gerechtfertigt sei (Botschaft des Regierungsrats an den Grossen
Rat vom 7. September 1987 betreffend das Dekret über die Entschä-
digung der Anwälte, S. 7 zu § 8; siehe auch AGVE 1989, S. 287).
Hieraus schloss das Verwaltungsgericht, dass § 8 AnwT in allen Ver-
fahren anwendbar sei, die durch ein Rechtsmittel, namentlich durch
eine Beschwerde gemäss § 45 und den §§ 52 ff. VRPG in Gang ge-
setzt worden sei. Die Frage der Honorarreduktion hänge dann davon
ab, ob der betreffende Anwalt schon in einem vorangegangenen
Verfahren mitgewirkt habe; für den Fall, dass dies nicht zutreffe,
sehe § 8 AnwT die Möglichkeit vor, 100% des nach den Regeln der
§§ 3 bis 7 AnwT berechneten Honorars zuzusprechen (AGVE 1989,
S. 287).
bb) Unbestrittenermassen war der Beschwerdeführer 1 erst im
Verwaltungsbeschwerdeverfahren für die Beschwerdeführer 2 tätig.
Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung wäre somit § 8 AnwT hier
nicht anwendbar. Indessen stellt sich, nachdem der sog. Zwangstarif
abgeschafft worden ist, der Anwalt also in Fällen wie dem
vorliegenden mit seiner Partei eine vom Tarif abweichende Entschä-
digung vereinbaren kann (§ 39 Abs. 2 AnwG), die Frage, ob die
Mitwirkung des Anwalts in einem vorangehenden Verfahren immer
noch eine zwingende Voraussetzung für einen Abzug darstellt. Unter
der Herrschaft des Zwangstarifs wollte der Dekretgeber mit der
Tarifrevision von 1987 den überwiegend forensisch tätigen Anwälten
eine reale Einkommensverbesserung verschaffen (AGVE 1991,
S. 359; siehe ferner zum Wesen des Mischtarifs: VGE III/37 vom
26. April 1995 [BE.1993.00278] in Sachen M. AG und Mitb., S. 7
f.). Diese Überlegung hat für einen Anwalt, der im Verhältnis zu
seinem Klienten nicht an den AnwT gebunden ist, zumindest nicht
mehr dieselbe Bedeutung wie früher.
Die Mehrheit des Verwaltungsgerichts gelangt vor diesem Hin-
tergrund zur Auffassung, dass zwar die in der regierungsrätlichen
2004
Verwaltungsrechtspflege
285
Botschaft vom 7. September 1987 zum Ausdruck gebrachte ratio
legis nach wie vor Gültigkeit besitzt. Die Zu- und Abschläge bezüg-
lich des Grundhonorars (§ 3 Abs. 1 AnwT) richten sich nach dem
vom Anwalt getätigten Aufwand - so spricht § 6 Abs. 2 AnwT von
den "Minderleistungen des Anwalts", § 7 AnwT von "ausserordent-
lichen Aufwendungen eines Anwaltes" bzw. von "nur geringen
Aufwendungen" und § 8 AnwT vom "Aufwand", und auch bei der
Anwendung von § 5 Abs. 2 AnwT bildet der Aufwand ein Teilkrite-
rium (AGVE 1991, S. 360) -, wobei die §§ 6 f. AnwT auf die einzel-
nen Tätigkeiten des Anwalts Bezug nehmen und § 8 AnwT den
Sondertatbestand der Aufwandreduktion durch Auswertung in einem
vorangehenden Verfahren erworbener Kenntnisse regelt. Es besteht
kein Anlass, dieses vom Dekretgeber gewählte System aufzugeben.
Anderseits lässt es der Wortlaut von § 8 AnwT durchaus zu, unter
diese Bestimmung auch Tatbestände zu subsumieren, bei welchen
das formale Erfordernis, dass der betreffende Anwalt schon an einem
vorangehenden Verfahren beteiligt war, nicht erfüllt ist. Zu denken
ist etwa an den Fall, dass es nurmehr um formelle Fragen, um einen
einzigen Streitpunkt oder um Nebenbestimmungen einer Verfügung
geht, deren Aufarbeitung durch den Anwalt erheblich geringer
ausfällt als sonst üblich. Da solche Konstellationen erst in einem
Rechtsmittelverfahren auftreten können -
der erstinstanzliche
Verwaltungsakt muss inhaltlich umfassend sein -, werden sie vom
Wortlaut von § 8 AnwT ebenfalls abgedeckt. Eine in diesem Sinne
differenzierte Anwendung von § 8 AnwT setzt allerdings voraus,
dass die rechtsanwendende Behörde nachvollziehbar begründet,
welche Umstände den Aufwand des Rechtsvertreters im Rechtsmit-
telverfahren als besonders gering erscheinen lassen.
Die verwaltungsgerichtliche Minderheit hätte demgegenüber
uneingeschränkt an der bisherigen Praxis festgehalten.
cc) Die Beschwerdeführer 2 haben den Baubewilligungsent-
scheid vom 27. November 1995 als Ganzes angefochten und zur
Begründung auf die ungenügende Erschliessung und die Gestal-
tungsplanwidrigkeit bezüglich der Geschosszahl verwiesen. Streitge-
genstand bildete somit nicht bloss ein materieller Nebenpunkt oder
2004
Verwaltungsgericht
286
gar eine Formalie. Ein Abzug nach § 8 AnwT war somit nach dem
Gesagten (vorne Erw. bb) nicht rechtmässig. | 3,237 | 2,604 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2004-77_2004-12-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-77.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-77.pdf | AGVE_2004_77 | null | nan |
9916005f-5cee-5eaa-94b9-6ab39b8290b1 | 1 | 412 | 871,041 | 1,425,340,800,000 | 2,015 | de | 2015
Abgaben
257
40
Verfügungsbegriff; Verfügungscharakter einer Gebührenrechnung
Den periodischen Abwasser-Benützungsgebührenrechnungen der Ge-
meindeverwaltung kommt aufgrund ihrer konkreten (inhaltlichen) Aus-
gestaltung und mangels Verfügungskompetenz der Gemeindeverwaltung
kein Verfügungscharakter und damit keine Rechtsbeständigkeit zu. Sie
können grundsätzlich nachträglich abgeändert werden.
Urteil des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 19. März 2015 in Sachen
A. gegen die Einwohnergemeinde B. (WBE.2014.143).
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Gemäss § 34 Abs. 2 BauG können die Gemeinden von den
Grundeigentümern Beiträge an die Kosten der Erstellung, Änderung
und Erneuerung von Anlagen der Versorgung mit Wasser und elektri-
scher Energie sowie der Abwasserbeseitigung erheben. Die Gemein-
den regeln die Erhebung der Beiträge und Gebühren an die erwähn-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
258
ten Versorgungs- und Beseitigungsanlagen selber, soweit keine kan-
tonalen Vorschriften bestehen (§ 34 Abs. 3 BauG).
§ 29 des Reglements Erschliessungsfinanzierung der Gemeinde
B. (nachfolgend: REF) sieht vor, dass die Kosten (für die Erstellung,
Änderung, Erneuerung, den Unterhalt und Betrieb öffentlicher Er-
schliessungsanlagen u.a. der Wasserversorgung und Abwasserbeseiti-
gung) durch Benützungsgebühren zu finanzieren sind, soweit sie
nicht durch Erschliessungs- und Anschlussbeiträge gedeckt werden
(Abs. 1). Mit der Benützungsgebühr werden folgende Kosten abge-
deckt: a) Unterhalt und Betrieb der Anlagen; b) Effektiver Verbrauch
(Abwasser, Wasser); c) Benützung von Erschliessungsanlagen, so-
fern diese über den normalen Gebrauch hinausgeht; d) Nicht gedeck-
te Kosten für die Erstellung, Änderung und Erneuerung von Er-
schliessungsanlagen (Abs. 2). Nach § 30 Abs. 1 REF erfolgt die
Rechnungsstellung in regelmässigen Zeitabständen (Quartal, Semes-
ter, Jahr). Bei Besitzer- oder Benützerwechsel werden die Gebühren
auf den Zeitpunkt des Wechsels abgerechnet (§ 30 Abs. 3 REF). Zur
Bezahlung der Benützungsgebühren sind diejenigen Personen ver-
pflichtet, die im Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungspflicht das
Grundeigentum benützen oder besitzen (§ 31 Abs. 1 REF). Die Be-
nützungsgebühren für das Wasser und Abwasser gliedern sich in eine
Grundgebühr, die in erster Linie pro Wasserzähler bemessen wird,
und in eine Verbrauchsgebühr, die sich nach dem Frischwasserver-
brauch (pro m
3
bezogenem Wasser) richtet (§§ 39 f. und 43 f. REF).
(...)
1.2.
Vorliegend ist umstritten, wie hoch der tatsächliche Wasserver-
brauch der Bewohner des Mehrfamilienhauses an der Z.-strasse 11-
15 im Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2010 war
und ob die Beschwerdegegnerin auf die für den betreffenden Zeit-
raum ergangenen halbjährlichen Benützungsgebührenrechnungen zu-
rückkommen und die Differenz zwischen dem ursprünglich faktu-
rierten und einem höheren tatsächlichen Wasserverbrauch nachfor-
dern darf.
(...)
2.
2015
Abgaben
259
2.1.
Der Beschwerdeführer stellt sich in seiner Verwaltungsgerichts-
beschwerde - weiterhin - auf den Standpunkt, die periodischen Be-
nützungsgebührenrechnungen für die Zeiträume von März 2007 bis
Mai 2008 und Mai 2008 bis September 2010 seien formell rechts-
kräftig und nicht mehr abänderbar. Richtigerweise stehen hier die
Zeiträume von
Oktober 2006
bis Mai 2008 und Mai 2008 bis Sep-
tember 2010 zur Diskussion, denn die Gebührenrechnung vom
21. März 2007, die als erste Rechnung von der Korrektur durch die
Gebührenrechnungen vom 8. Juli 2011 erfasst wird, bezieht sich auf
die am 1. Oktober 2006 beginnende halbjährliche Abrechnungsperio-
de.
Der Beschwerdeführer argumentiert, den Gebührenrechnungen
komme entgegen der Auffassung der Vorinstanz Verfügungscharakter
zu. Aus verfahrensökonomischen Gründen würden Gebühren - wie
im vorliegenden Fall - bisweilen direkt, d.h. ohne vorgängige forma-
le Verfügung in Rechnung gestellt. Das ändere aber nichts daran,
dass die Behörde mit der Rechnungsstellung ihren klaren Willen er-
kennen lasse, ein Rechtsverhältnis mit dem Bürger als Adressaten
einseitig und hoheitlich zu regeln, womit die Rechnung unter den
Begriff der Verfügung zu subsumieren sei. Die Qualifizierung einer
behördlichen Handlung als Verfügung hänge nicht von der Form ab,
in der sie getätigt werde. Das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung sei
der Qualifikation als Verfügung nicht abträglich. Sobald eine Behör-
de die Absicht habe, auf die Rechtsstellung eines Adressaten einzu-
wirken oder dessen Rechtsstellung zu kommentieren, müsse die Be-
hörde eine Verfügung erlassen. Sei die Gewährung eines Rechts oder
die Auferlegung einer Pflicht vom Gesetz vorgesehen und komme
die Behörde zum Schluss, die Sachverhaltselemente seien erfüllt,
stelle ihre Anordnung eine Verfügung dar. Charakteristisches Merk-
mal sei die unmittelbare Vollziehbarkeit.
(...)
2.2.
Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass der Verfü-
gungsbegriff im VRPG nicht eigens umschrieben wird. Nach herr-
schender Lehre und Rechtsprechung ist die Verfügung ein individuel-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
260
ler, an den Einzelnen gerichteter Hoheitsakt, durch den eine konkrete
verwaltungsrechtliche Rechtsbeziehung rechtsgestaltend oder fest-
stellend in verbindlicher und erzwingbarer Weise geregelt wird
(BGE 139 V 72, Erw. 2.2.1; 135 II 38, Erw. 4.3; 131 II 13, Erw. 2.2;
Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. November 2014 [B-
198/2014], Erw. 2.3.1, vom 15. Mai 2012 [A-6037/2011],
Erw. 5.3.2.1, und vom 18. Mai 2010 [A-5646/2009], Erw. 3.1;
AGVE 2010, S. 235; 2006, S. 85 ff.; 1981, S. 209 f.; U
LRICH
H
ÄFELIN
/G
EORG
M
ÜLLER
/F
ELIX
U
HLMANN
, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 6. Auflage, Zürich/St. Gallen 2010, Rz. 854; P
IERRE
T
SCHANNEN
/U
LRICH
Z
IMMERLI
/M
ARKUS
M
ÜLLER
, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Bern 2014, § 28 N 16 ff.; M
ARTIN
B
ERTSCHI
/K
ASPAR
P
LÜSS
, in: A
LAIN
G
RIFFEL
[Hrsg.], Kommentar
zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG],
3. Auflage, Zürich/ Basel/Genf 2014, Vorbemerkungen zu §§ 4-31
N 19 ff.; M
ARKUS
M
ÜLLER
, Kommentar zum Bundesgesetz über das
Verwaltungsverfahren, Zürich/St. Gallen 2008, Art. 5 N 13 ff.;
M
ICHAEL
M
ERKER
, Rechtsmittel, Klage und Normenkontrollverfah-
ren nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege
vom 9. Juli 1968, Kommentar zu den §§ 38-72 [a]VRPG, Diss.
Zürich 1998, § 38 N 4). Diese Umschreibung entspricht der
Legaldefinition in Art. 5 VwVG, die nach ständiger Rechtsprechung
des Verwaltungsgerichts mit dem kantonalrechtlichen Verfügungsbe-
griff übereinstimmt (AGVE 2010, S. 235; 1978, S. 300; 1972,
S. 339; M
ERKER
, a.a.O., § 38 N 3). Vom (materiell verstandenen)
Verfügungsbegriff zu trennen ist die Frage nach der Form der Verfü-
gung. Die Missachtung von Formerfordernissen bewirkt lediglich ei-
nen Eröffnungsmangel: Die Verfügung wird fehlerhaft und als Folge
davon anfechtbar, in seltenen Fällen nichtig. Formfehler lassen den
Verfügungscharakter aber (ausser bei Nichtigkeit) nicht dahinfallen;
die
mangelhaft
eröffnete
Verfügung
bleibt
Verfügung
(T
SCHANNEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
, a.a.O., § 28 N 18).
Für die Verfügung ist zunächst charakteristisch, dass sie einsei-
tig von den Behörden erlassen wird. Sie ist also grundsätzlich auch
ohne Zustimmung des Betroffenen rechtswirksam (H
ÄFELIN
/
M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O., Rz. 858). Als Behörde im Sinne des Ver-
2015
Abgaben
261
waltungsverfahrensrechts gilt dabei jeder Akteur, der mit der unmit-
telbaren Erfüllung von Verwaltungsaufgaben betreut ist (T
SCHAN
-
NEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
, a.a.O., § 28 N 19). Mit der Verwaltungs-
kompetenz ist in der Regel die Befugnis verbunden, konkrete indivi-
duelle Rechtsverhältnisse des behördlichen Aufgabenbereichs mittels
Verfügung hoheitlich zu regeln (BGE 115 V 375, Erw. 3b). Ein
weiteres Begriffselement bildet, dass die Verfügung auf Rechtswir-
kungen ausgerichtet ist. Mit der Verfügung werden in einem konkre-
ten Fall Rechte und Pflichten eines bestimmten Privaten begründet,
geändert oder aufgehoben, oder es werden bestehende Rechte und
Pflichten autoritativ festgestellt (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
,
a.a.O., Rz. 862; T
SCHANNEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
, a.a.O., § 28 N 25).
Dadurch grenzt sich die Verfügung von Verwaltungshandlungen ab,
die keine unmittelbaren Rechtswirkungen haben und lediglich einen
tatsächlichen Erfolg herbeiführen. Dazu zählt die Lehre respektive
ein Teil davon Rechnungsstellungen (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
,
a.a.O., Rz. 878; T
SCHANNEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
, a.a.O., § 28 N 26;
B
ERTSCHI
/P
LÜSS
, a.a.O., Vorbemerkungen zu §§ 4-31 N 22). Das
bedeutet allerdings nicht, dass (Gebühren-)Rechnungen nicht als Ver-
fügung ausgestaltet werden können. Entscheidend ist, ob der Rech-
nungsadressat mit der Rechnung verpflichtet werden soll, den Rech-
nungsbetrag zu begleichen, oder ob eine blosse Zahlungsaufforde-
rung ohne gleichzeitige Begründung von Zahlungspflichten vorliegt.
Letzteres ist zweifelsohne der Fall, wenn die Rechnungsstellung auf
einer separaten Verfügung basiert und eine reine Inkassomassnahme
darstellt. Weniger eindeutig ist die Rechtslage, wenn Gebühren aus
verfahrensökonomischen Überlegungen direkt, d.h. ohne vorgängige
formale Verfügung in Rechnung gestellt werden (vgl. M
ÜLLER
,
a.a.O., Art. 5 N 9). Doch auch in dieser Konstellation kann einer
Rechnung nicht ohne weiteres Verfügungscharakter attestiert werden.
Notwendig ist eine Einzelfallbetrachtung. Es ist immerhin denkbar,
dass erst bei Streitigkeiten über eine Rechnung, also im Nachgang
zur Rechnungsstellung eine Gebührenverfügung erwirkt werden
kann und erlassen wird, und die Rechnung selbst - aufgrund ihrer
Ausgestaltung - nicht die Merkmale einer Verfügung aufweist (Bun-
desverwaltungsgerichtsentscheid [BVGE] 2008/41, Erw. 6.4). Verfü-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
262
gungen müssen verbindlich und erzwingbar sein, mithin zwangswei-
se vollstreckt werden können, ohne dass hierfür eine weitere Kon-
kretisierung notwendig ist (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/U
HLMANN
, a.a.O.,
Rz. 864; T
SCHANNEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
, a.a.O., § 28 N 34;
B
ERTSCHI
/P
LÜSS
, a.a.O., Vorbemerkungen zu §§ 4-31 N 23). Die
Verbindlichkeit fehlt, wenn sich eine Behörde mittels Hinweisen, Be-
lehrungen und dergleichen an einen Adressaten wendet, aber auf frei-
willige Erfüllung hofft (M
ERKER
, a.a.O., § 38 N 13).
In einem Entscheid vom 25. September 1972 (AGVE 1972,
S. 337 ff.), auf den sich die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin
stützen, erwog das Verwaltungsgericht, dass es sich bei der Gebüh-
renrechnung eines Finanzverwalters (für die Behandlung eines
Baugesuchs) im internen Verhältnis um einen Antrag an den Gemein-
derat als Kollegium und im externen Verhältnis (zum Rechnungsad-
ressaten) um einen blossen Vollstreckungsversuch handle. Nach her-
kömmlichem aargauischem Gemeinderecht stehe den einzelnen Ge-
meinderatsmitgliedern und Gemeindebeamten keine Verfügungsbe-
fugnis zu. Diese konzentriere sich beim Gemeinderat als Kollegial-
behörde. Im Interesse einer rationellen Verwaltungsführung schicke
die Finanzverwaltung ihren Antrag nicht primär an den Gemeinderat,
sondern zunächst an den Betroffenen. Begleiche dieser die Rechnung
freiwillig, erübrige sich eine Verfügung des Gemeinderats. Er sei in-
dessen nicht dazu verpflichtet, und die Finanzverwaltung dürfe ihm
auch keine Frist ansetzen und rechtliche Nachteile für den Fall der
Nichterfüllung androhen. Weigere sich der Betroffene die Rechnung
zu bezahlen, so bleibe der Verwaltung nichts anderes übrig, als dem
Gemeinderat den Erlass einer Verfügung im Sinne der Verwaltungs-
rechtspflege zu beantragen (a.a.O., S. 340).
2.3.
Durch den Erlass des revidierten VRPG vom 4. Dezember 2007
hat dieser Entscheid - entgegen der Annahme des Beschwerdeführers
- nicht an Aktualität eingebüsst. Der Verfügungsbegriff ist unter al-
tem wie neuem Recht derselbe (AGVE 2010, S. 235). Auch die
Verfügungskompetenz liegt gemäss § 39 Abs. 1 GG weiterhin beim
Gemeinderat, sofern sie nicht auf ein einzelnes Gemeinderatsmit-
glied, eine Kommission oder einen Mitarbeitenden der mit der ent-
2015
Abgaben
263
sprechenden Aufgabe betrauten Verwaltungsstelle übertragen wird.
Die Einzelheiten der Delegation sind vom Gemeinderat in einem
Reglement festzulegen (§ 39 Abs. 3 GG). Die Einwohnergemeinde
B. verfügt über kein Reglement, worin die Delegation der Verfü-
gungsbefugnis (auf Verwaltungsstellen) geregelt wäre. Im Gegenteil:
Aus § 46 des Wasserreglements und § 29 des Abwasserreglements
der Gemeinde B. ist zu schliessen, dass die Kompetenz zum Erlass
von Abgabeverfügungen im Bereich der Wasserversorgung und der
Abwasserbeseitigung beim Gemeinderat angesiedelt ist. Mit seiner
Autonomierüge übersieht der Beschwerdeführer, dass die Beschwer-
degegnerin selber den Standpunkt vertritt, der Gemeindeverwaltung
komme keine Verfügungskompetenz zu. Zwar stammen die als
Verfügung (mit Rechtsmittelbelehrung) ausgestalteten Gebühren-
rechnungen vom 8. Juli 2011 ebenfalls von der Finanzverwaltung.
Dazu ist festzuhalten, dass die sachliche Unzuständigkeit der ver-
fügenden Instanz unter Umständen zur Annahme der Nichtigkeit
einer Verfügung führen kann (H
ÄFELIN
/M
ÜLLER
/
U
HLMANN
, a.a.O.,
Rz. 961; T
SCHANNEN
/Z
IMMERLI
/M
ÜLLER
, a.a.O., § 31 N 16, mit
Hinweisen).
Von der Urheberschaft aber einmal abgesehen sind die halbjähr-
lichen Gebührenrechnungen der Finanzverwaltung B. vor allem auch
unter inhaltlichen Gesichtspunkten nicht als Abgabeverfügungen zu
verstehen. Es weist absolut nichts auf deren Verbindlichkeit bzw. den
Willen der Finanzverwaltung hin, mit den Rechnungen eine Zah-
lungsverpflichtung zu begründen. Es fehlt vorab an Rechtsmittelbe-
lehrungen, was zwar als Form- oder Eröffnungsfehler ohne Einfluss
auf den Verfügungscharakter gewertet werden könnte. Gegen die An-
nahme, dass die Finanzverwaltung versehentlich oder aus Unvermö-
gen keine Rechtsmittelbelehrungen angebracht hat, spricht jedoch
der Umstand, dass die halbjährlichen Gebührenrechnungen standar-
disiert sind. Die Finanzverwaltung könnte somit anfänglich durchaus
bewusst auf Rechtsmittelbelehrungen verzichtet haben, um damit ih-
rem Willen Ausdruck zu geben, die Gebührenrechnungen (vorerst)
nicht in die Form (anfechtbarer) Verfügungen zu kleiden. Den Ge-
bührenrechnungen vom 8. Juli 2011, die im Gegensatz zu den ur-
sprünglichen Gebührenrechnungen mit Rechtsmittelbelehrungen ver-
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
264
sehen sind, sind mündliche Verhandlungen zur Frage vorausgegan-
gen, ob die streitgegenständlichen Gebührennachforderungen zuläs-
sig sind. Weil keine Einigung erzielt werden konnte, ist die Finanz-
verwaltung dazu übergegangen, die Zahlungsverpflichtung auf dem
Verfügungsweg zu regeln. In den halbjährlichen Gebührenrechnun-
gen werden auch keine (gesetzlichen) Grundlagen dafür genannt, ob
und weshalb die in Rechnung gestellten Gebühren (im vorgesehenen
Ausmass) geschuldet sind. Ferner fehlt jeglicher Hinweis auf Konse-
quenzen, die drohen, falls die Rechnung nicht fristgerecht beglichen
wird. Eine Zahlungsaufforderung als solche, die eine freiwillige Zah-
lung auslösen kann - freiwillig im Sinne eines Verzichts auf den
Rechtsweg -, darf nicht mit der (einseitigen) Begründung einer Zah-
lungsverpflichtung verwechselt werden. Der Beschwerdeführer zieht
einen Zirkelschluss, wenn er meint, aus der vermeintlichen Verbind-
lichkeit und Beständigkeit der Gebührenrechnungen - eine Verbind-
lichkeit ergibt sich aus deren konkreten Ausgestaltung gerade nicht
und die Beständigkeit ist eine Eigenschaft, die aus dem Wesen von
Verfügungen fliesst -, ableiten zu können, dass diese als Verfügun-
gen aufzufassen sind. Eine Zwangsvollstreckung der fraglichen
Gebührenrechnungen fiele, wie die Beschwerdegegnerin zu Recht
festhält, ausser Betracht. In Ermangelung von Merkmalen für deren
Verfügungsqualität bilden die Rechnungen keinen Rechtsöffnungsti-
tel im Sinne von Art. 80 SchKG.
(...)
2.4.
(...)
Für seinen Standpunkt kann der Beschwerdeführer aus den von
ihm angeführten Gerichtsentscheiden nichts gewinnen. Zweifellos
können Rechnungen Verfügungscharakter haben, ohne als Verfügung
bezeichnet zu sein und eine Rechtsmittelbelehrung zu enthalten.
Mehr lässt sich aus BGE 111 V 251, Erw. 1b für den vorliegenden
Rechtsstreit nicht ableiten. Die fehlende Rechtsmittelbelehrung ist
nur ein Indiz unter mehreren, dass die Finanzverwaltung B. unter den
gegebenen Umständen mit den halbjährlichen Gebührenrechnungen
kein Schuldverhältnis begründen wollte, sondern der Erlass einer Ab-
gabeverfügung für den Streitfall vorbehalten war. Ohne Kenntnis der
2015
Abgaben
265
konkreten Ausgestaltung der Bezügerrechnung der Arbeitslosen-
kasse, die Gegenstand des betreffenden Bundesgerichtsentscheids
bildete, und der Bezugspraxis der Arbeitslosenkasse kann ohnehin
kein seriöser Vergleich vorgenommen werden. Hinzu kommt, dass
die Arbeitslosenkasse auf jeden Fall Verfügungskompetenz hatte und
nicht bekannt ist, ob der Verfügungscharakter der Bezügerrechnung
jemals streitig war oder vom Bundesgericht als Eintretensvorausset-
zung von Amtes wegen geprüft wurde. Mit dem Sachverhalt, welcher
BGE 100 Ib 429 zugrunde gelegen hat, lässt sich der vorliegend zu
beurteilende Sachverhalt erst recht nicht vergleichen. Das Schreiben
des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) vom
9. Juli 1972, dessen Verfügungscharakter umstritten war, erging als
Antwort auf ein Gesuch der dortigen Beschwerdeführerin, die Ein-
fuhr von roten Naturweinen zu bewilligen. Der Inhalt des Antwort-
schreibens wurde vom Bundesgericht als Abweisung des Importge-
suchs ausgelegt. Die Abweisung eines Gesuchs stellt immer eine Ver-
fügung dar, wogegen Rechnungen, wie bereits dargelegt, nicht not-
wendigerweise als Verfügungen ausgestaltet werden müssen. Die An-
fechtbarkeit ist auch gewährleistet, wenn im Nachgang zu einer
Rechnung im Streitfall eine Abgabeverfügung erlassen wird. Das und
nichts anderes besagt der vom Beschwerdeführer ebenfalls zitierte
BVGE 2008/41, auf den bereits in Erw. 2.2 vorne eingegangen
wurde. In BGE 100 Ib 429 hat das Bundesgericht nebenbei bemerkt
darauf abgestellt, dass die Zuständigkeit für die Bewilligungen von
Importgesuchen beim EVD lag. Die konkrete Ausgestaltung der vom
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden in einem Urteil vom
11. Januar 2008 (A-07-53) beurteilten Rechnungen ist ebenfalls nicht
bekannt, genau so wenig wie die Zuständigkeiten für den Erlass von
Gebührenverfügungen. Darüber hinaus bestehen keine Anhaltspunkte
dafür, dass sich die Beschwerdegegnerin im Streitfall auf den Stand-
punkt gestellt hätte, die halbjährlichen Gebührenrechnungen seien in
Rechtskraft erwachsen. Aus diesen Gründen ist auch der Hinweis auf
den Entscheid des Verwaltungsgerichts Graubünden unbehelflich.
Das Verwaltungsgericht Solothurn schliesslich hat die Frage, ob eine
Gebührenrechnung (mit wiederum unbekannter konkreter Ausgestal-
tung) ohne Rechtsmittelbelehrung (und Unterschrift) in Rechtskraft
2015
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
266
erwachsen kann, explizit offen gelassen. Es brauchte die Frage nicht
zu beantworten, weil die darin in Rechnung gestellten Anschlussge-
bühren (für Schmutzwasser, Wasserversorgung und Bauwasser)
durch eine spätere Rechnungsstellung keine Änderung erfuhren. Aus
der Feststellung, es sei zulässig, über sämtliche geschuldeten An-
schlussgebühren eine neue Rechnung auszustellen (...),
jedenfalls
solange diejenigen Positionen, welche bereits erhoben und bezahlt
wurden, nicht verändert würden, darf nach den Gesetzen der Logik
nicht der Umkehrschluss gezogen werden, eine Veränderung der be-
reits erhobenen und bezahlten Positionen sei in jedem Fall unzuläs-
sig. Im Übrigen verwies das Verwaltungsgericht auf seine Praxis,
wonach eine Rechnung die an eine Verfügung gestellten Anforderun-
gen in aller Regel nicht erfülle (SOG 2012 Nr. 17, S. 106 ff.,
Erw. 4.4 ff.).
2.5.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die halbjährlichen
Wasser- und Abwassergebührenrechnungen der Finanzverwaltung B.
aufgrund ihrer konkreten Ausgestaltung und mangels Verfügungs-
kompetenz der Gemeindeverwaltung nicht als Verwaltungsverfügun-
gen aufzufassen sind. Deren nachträgliche Abänderung ist unter dem
Vorbehalt der Wahrung des Grundsatzes von Treu und Glauben
zulässig. Ein Verstoss gegen diesen Grundsatz ist nicht schon darin
zu erblicken, dass nach einem gewissen Zeitablauf auf eine (unbe-
wusst) fehlerhafte Rechnungsstellung zurückgekommen wird. Vor in
zeitlicher Hinsicht ungebührlichen Gebührennachforderungen
schützt die Verjährungsfrist. (...)
(Hinweis: Das Bundesgericht hat eine Beschwerde in öffent-
lich-rechtlichen Angelegenheiten gegen diesen Entscheid abgewie-
sen; Urteil des Bundesgerichts vom 4. November 2015
[2C_444/2015]) | 4,874 | 3,905 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2015-40_2015-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2015-40.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2015-40.pdf | AGVE_2015_40 | null | nan |
99486fd4-fdb2-52e4-ad3a-a9b743277953 | 1 | 412 | 869,835 | 34,300,800,000 | 1,971 | de | 2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
135
18
Gestaltungsplan
§ 21 BauG kennt für das Gestaltungsplangebiet im Gegensatz zum
früheren Recht (aBauG vom 2. Februar 1971) keine Mindestfläche;
entscheidend für die Festlegung des Perimeters sind allein die quali-
tativen Anforderungen an den Gestaltungsplan (Erw. 3.1.2).
Mit einem Gestaltungsplan kann nach Massgabe von § 21 BauG, § 8
Abs. 2 BauV und allfälliger ergänzender Vorschriften in den kommu-
nalen Bauvorschriften grundsätzlich auch von den ordentlichen
Grenzabständen gegenüber Parzellen ausserhalb des Planungsge-
biets abgewichen werden (Erw. 3.3.2.3).
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 27. Novem-
ber 2019, in Sachen A. und B. gegen die Stadt C., das Departement Bau,
Verkehr und Umwelt und die D. AG (WBE.2018.344).
Aus den Erwägungen
3.1.2.
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
136
Nach § 141 Abs. 1 Satz 2 des alten Baugesetzes vom 2. Februar
1971 (aBauG; AGS Band 8, S. 125 ff.) bezweckten Gestaltungspläne
die wohnhygienisch, architektonisch und städtebaulich gute Über-
bauung grösserer zusammenhängender Flächen . Das geltende
BauG (vom 19. Januar 1993) enthält das Tatbestandsmerkmal der
grösseren zusammenhängenden Flächen in Bezug auf den der Ge-
staltungsplanung zugrunde liegenden Perimeter dagegen nicht mehr.
Der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, eine entsprechende Vorgabe
in § 21 BauG aufzunehmen. Aus den Materialien ergibt sich auch,
dass eine Mindestfläche als Voraussetzung für eine Gestaltungspla-
nung im Gesetzgebungsverfahren kein Thema war. Als massgebend
wurden vielmehr die vorgegebenen qualitativen Anforderungen er-
achtet (vgl. Protokolle der Sitzungen der Spezialkommission Bauge-
setzrevision vom 26. Oktober 1990, S. 91-95, vom 9. Oktober 1991,
S. 363 f., und vom 24. September 1992, S. 623-634; Protokoll der
Sitzung des Grossen Rats vom 17. März 1992, S. 2776, und vom
12. Januar 1993, S. 3791 f.). Aus einem Zitat von ERICH ZIMMERLIN
können die Beschwerdeführer nichts Gegenteiliges ableiten, da
dieser § 141 aBauG kommentiert hat (vgl. ERICH ZIMMERLIN, Bau-
gesetz des Kantons Aargau vom 2. Februar 1971 [aBauG], Kommen-
tar, 2. Auflage, Aarau 1985 [zit. ERICH ZIMMERLIN, Kommentar
aBauG], § 141 N 1 lit. b, S. 334). Dessen Aussagen beziehen sich
nicht auf § 21 BauG.
In diesem Zusammenhang ist auch das publizierte Urteil des
Verwaltungsgerichts AGVE 2007, S. 146 f. zu präzisieren, soweit es
noch auf § 141 Abs. 1 Satz 2 aBauG und auf die oben angegebene
Kommentarstelle bei ERICH ZIMMERLIN referenzierte. Es hielt indes-
sen zu Recht fest, dass das BauG (1993) kein Mindest- oder
Höchstmass für einen Gestaltungsplanperimeter vorschreibe. Aus-
zugehen ist vom geltenden BauG, das in Bezug auf die Fläche eines
Planungsgebiets keine Vorgaben macht. Entscheidend ist vielmehr im
Einzelfall, dass die richtige Abgrenzung des Plangebiets sich nach
dem Zweck und den zu lösenden planerischen Aufgaben in der Ge-
staltungsplanung richtet. An der Rechtsprechung ist allerdings dahin-
gehend festzuhalten, dass eine territoriale Begrenzung nach unten
besteht, soweit das Verbot von Kleinbauzonen zur Verhinderung
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
137
einer Streubauweise tangiert sein kann (AGVE 2007, S. 146 f. mit
Hinweisen). In einem Urteil aus dem Jahr 2013 erachtete das Verwal-
tungsgericht eine aus zwei Parzellen bestehende Perimeterfläche von
rund 2'500 m2 als möglich. Dabei wurde weiter ausgeführt, auch ein
Gestaltungsplan, der sich auf eine Parzelle beschränke, könne bei
Einhaltung der Planungsziele und der Vorgaben des kantonalen und
kommunalen Baurechts zulässig sein (VGE vom 17. Dezember 2013
[WBE.2012.342], Erw. II/5.4.3). Gerade um dem Gebot der bau-
lichen Verdichtung nachzukommen oder um auf besondere Lärm-
problematiken zu reagieren, kann sich ein Gestaltungsplan heute
auch für kleinere Gebiete vermehrt als ein wichtiges Planungs-
instrument erweisen.
Die Vorinstanz geht somit zu Recht davon aus, dass der streitge-
genständliche Gestaltungsplan über eine Parzelle mit einer Fläche
von 1'666 m2 rechtlich zulässig ist. Das entscheidende Kriterium ist
dabei nicht die Grösse eines Gestaltungsplanperimeters, sondern die
Einhaltung der in § 21 Abs. 1 BauG statuierten qualitativen Anforde-
rungen. Dass in Bezug auf ein Planungsgebiet in der Grösse der Par-
zelle Nr. XXX von vornherein kein wesentliches öffentliches Interes-
se an der Gestaltung der Überbauung und keine qualitativen Mass-
stäbe bestehen sollen bzw. verfolgt werden können, wie die Be-
schwerdeführer insinuieren, ist nicht ersichtlich. Aus den gesetz-
lichen Grundlagen lässt sich auch nicht herleiten, ein Gestaltungs-
plan dürfe nur dann ausgearbeitet werden, wenn die Überbauung
eines Gebiets für die Gesamtheit der Ortsplanung einer Gemeinde
von Belang sei. Mit dem vorgesehenen Gestaltungsplan wird nicht
gegen das Verbot von Kleinbauzonen verstossen. Die Beschränkung
des Perimeters auf die Fläche der Parzelle Nr. XXX ergibt sich
offensichtlich aus der tatsächlichen Situation bezüglich Überbauung
und Interessen der angrenzenden Liegenschaftseigentümer. Die Par-
zelle Nr. YYY ist bereits mit einem Mehrfamilienhaus überbaut und
aus den Akten ergeben sich keine Hinweise darauf, dass die Be-
schwerdeführer Interesse signalisiert hätten, mit ihrer Parzelle
Nr. ZZZ an der Gestaltungsplanung teilzunehmen. Die Rüge des zu
kleinflächigen Gestaltungsplanperimeters ist demnach unbegründet.
3.2. (...)
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
138
3.3.
3.3.1.
Nach § 21 Abs. 2 BauG können Gestaltungspläne von den all-
gemeinen Nutzungsplänen abweichen, wenn dadurch ein siedlungs-
und landschaftsgestalterisch besseres Ergebnis erzielt wird, die
zonengemässe Nutzungsart nicht übermässig beeinträchtigt wird und
keine überwiegenden Interessen entgegenstehen. Gemäss § 8 Abs. 2
lit. a BauV dürfen Gestaltungspläne, wenn die Gemeinden nichts
anderes festlegen, von den allgemeinen Nutzungsplänen abweichen
bezüglich Bauweise, Baumasse (höchstens jedoch um ein zusätz-
liches Geschoss), Gestaltung der Bauten (Gebäude- und Dachform)
und Abständen. Die BNO der Stadt C. schliesst im Gebiet, in wel-
chem die Parzelle Nr. XXX liegt, Abweichungen vom allgemeinen
Nutzungsplan nicht aus. Die Zulässigkeit eines weiteren Geschosses
wird in § 4 Abs. 1 BNO davon abhängig gemacht, dass damit eine
städtebaulich einwandfreie Lösung erreicht wird und die Nachbar-
grundstücke nicht übermässig beeinträchtigt werden. Ansonsten gilt
§ 8 Abs. 2 lit. a BauV unverändert.
Der vorliegende Gestaltungsplan weicht in Bezug auf den klei-
nen Grenzabstand (gegenüber der Parzelle Nr. ZZZ der Beschwerde-
führer), den Strassenabstand (zur E.-strasse) sowie den grossen
Grenzabstand, die Geschosszahl und die Gebäudehöhe von der
Grundnutzung ab.
3.3.2.
3.3.2.1.-3.3.2.2. (...)
3.3.2.3.
Zur Frage, ob im Rahmen einer Gestaltungsplanung auch von
den Abständen zu Parzellen ausserhalb des Perimeters abgewichen
werden darf, finden sich in der Rechtsprechung und in der Literatur
kaum Hinweise. In seinem Artikel Ausgewählte Fragen zum Gestal-
tungsplan im Kanton Schwyz (erschienen im ZBl 101/2000, S. 409)
kommt MARK GISLER zum Schluss, die Frage, ob durch einen Ge-
staltungsplan mittels Gewährung entsprechender Ausnahmen auch
externe Abstände (Grenzabstand zu ausserhalb des Einzugsgebietes
liegenden Grundstücken, Waldabstand usw.) unterschritten werden
dürfen, sei zu verneinen. Allerdings lässt sich die (vormalige)
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
139
Rechtslage im Kanton Schwyz nicht ohne weiteres mit derjenigen im
Kanton Aargau vergleichen. Im Unterschied zu § 24 Abs. 2 PBG-SZ
(SRSZ 400.100) in der bis 1. April 2010 geltenden Fassung differen-
ziert § 8 Abs. 2 lit. a BauV nicht zwischen internen und externen
Grenzabständen und lässt insofern auch nicht nur für die ersteren
eine Abweichung vom allgemeinen Nutzungsplan zu. Für den Ge-
staltungsplan im Kanton Solothurn hält die Richtlinie 6/2004 Der
Gestaltungsplan des Amts für Raumplanung auf S. 14 fest:
Unterschreitungen von Grenz- und Gebäudeabstand gegenüber
nicht einbezogenen Nachbargrundstücken sind ausserhalb des
Gestaltungsplanverfahrens und nach § 27 und § 29 der Kantonalen
Bauverordnung (KBV) nur zulässig, wenn keine erheblichen
öffentlichen oder nachbarlichen Interessen beeinträchtigt werden und
das Grundstück ohne Unterschreitung nicht zweckmässig überbaut
werden kann. Daraus ist der Umkehrschluss zu ziehen, dass mit
dem Gestaltungsplan bzw. im Rahmen des Gestal-
tungsplanverfahrens auch von externen Grenzabständen
abgewichen werden darf, ohne dass dafür die allgemeinen
Voraussetzungen gemäss den §§ 27 und 29 KBV erfüllt sein müssten.
Immerhin dürfte im konkreten Anwendungsfall zu prüfen sein, ob ein
Überbauungsprojekt vorliegt, das alle Auswirkungen hinsichtlich
Belichtung, Beschattung, Ein- und Aussicht, Feuerpolizei, Ästhetik,
Immissionen auf die Nachbarschaft etc. genau ausweist.
In den Sondernutzungsvorschriften zu Gestaltungsplänen trifft
man ab und zu auf Bestimmungen, in denen zwischen internen und
externen Grenzabständen unterschieden wird. Oftmals wird darin
geregelt, dass zu Grundstücken ausserhalb des Gestaltungsplanperi-
meters die ordentlichen Grenzabstände einzuhalten sind. Daraus lässt
sich nun aber nicht ableiten, dass eine entsprechende Rechtslage
schon kraft der Baugesetzgebung gelten würde. Dagegen spricht,
dass § 8 Abs. 2 lit. a BauV ganz allgemein von Abständen handelt,
von denen der Gestaltungsplan (unter bestimmten Voraussetzungen)
abweichen darf. Der Wortlaut dieser Bestimmung umfasst unter-
schiedslos alle im Planungsperimeter geltenden Grenz- und Gebäu-
deabstände, ungeachtet dessen, ob sich diese nur innerhalb oder auch
ausserhalb des Planungsperimeters (gegenüber benachbarten Parzel-
2019
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
140
len) auswirken. Im Gegensatz dazu sieht § 39 Abs. 4 lit. b BauV für
Arealüberbauungen explizit vor, dass gegenüber Nachbarparzellen
der zonengemässe Grenzabstand einzuhalten ist. Dass der Verord-
nungsgeber hier eine solche Festlegung getroffen hat, berechtigt zur
Annahme, dass im Anwendungsbereich von § 8 Abs. 2 lit. a BauV
bewusst auf eine entsprechende Regelung verzichtet wurde. Ein re-
daktionelles Versehen erscheint dagegen eher unwahrscheinlich. Mit
der Beigeladenen ist davon auszugehen, dass im Sondernutzungs-
planverfahren schon aus demokratiepolitischen Gründen weiter-
gehende Abweichungen vom allgemeinen Nutzungsplan zugestanden
werden dürfen als im Rahmen von Arealüberbauungen, die nur im
Baubewilligungsverfahren (ohne Mitwirkungsmöglichkeit einer brei-
teren Bevölkerung) überprüft werden. § 21 Abs. 2 BauG schliesst
Abweichungen von externen Grenzabständen nicht in allgemeiner
Weise aus. Der Vorinstanz ist zudem darin beizupflichten, dass die
übrigen möglichen Abweichungen vom allgemeinen Nutzungsplan,
insbesondere hinsichtlich der Baumasse, für die an den Planungs-
perimeter angrenzenden Parzellen respektive die Bewohner von sich
darauf befindlichen Bauten ähnlich nachteilige oder einschränkende
Auswirkungen haben können wie ein verkürzter Grenzabstand. Sol-
che (faktischen) Auswirkungen (z.B. auf die Wohnhygiene) dürfen
nicht mit den Rechtswirkungen eines Gestaltungsplans verwechselt
werden, welche auf das Planungsgebiet begrenzt sein müssen. Die
Zulässigkeit eines verkürzten externen Grenzabstandes muss nach
zutreffender Gesetzesauslegung der Vorinstanz im Lichte der konkre-
ten Auswirkungen auf die benachbarten Parzellen beurteilt werden.
Es gilt eine Interessenabwägung vorzunehmen. Für einen generellen
Ausschluss privilegierter Grenzabstände gegenüber Parzellen
ausserhalb des Planungsperimeters besteht hingegen keine gesetz-
liche Grundlage. Ebenso wenig verlangt das Gesetz den Nachweis,
dass eine Parzelle unter Wahrung des ordentlichen Grenzabstandes
zu Parzellen ausserhalb des Perimeters nicht überbaubar ist. Es ge-
nügt, dass der verkürzte Grenzabstand zu einem siedlungs- und land-
schaftsgestalterisch besseren Gesamtergebnis beiträgt, die zonen-
gemässe Nutzung nicht übermässig beeinträchtigt wird und keine
überwiegenden Interessen entgegenstehen (§ 21 Abs. 2 BauG).
2019
Bau-, Raumentwicklungs- und Umweltschutzrecht
141
An dieser Beurteilung ändert auch die Empfehlung
Gestaltungsplan nach § 21 BauG des BVU, Abteilung Raument-
wicklung, vom Januar 2009 (Stand September 2011), nichts. Zwar
lassen sich die Liste mit Minimalinhalten von Gestaltungsplänen in
Ziff. 3.1, S. 7, besagter Empfehlung und die dortigen Ausführungen
zu den internen Grenz- und Gebäudeabständen durchaus dahin-
gehend interpretieren, dass im Aussenverhältnis (zu Parzellen
ausserhalb des Perimeters) keine speziellen, mithin vom allgemeinen
Nutzungsplan abweichende Regelungen möglich sind. Doch kommt
der erwähnten Empfehlung lediglich der Charakter einer generellen
Dienstanweisung und damit einer Verwaltungsverordnung zu. Als
solche ist sie für das Verwaltungsgericht nicht bindend und wird nur
insoweit berücksichtigt, als sie eine dem Einzelfall gerecht werdende
Auslegung der einschlägigen Rechtssätze zulässt, welche diese über-
zeugend konkretisiert (vgl. BGE 144 III 353, Erw. 2.2; Urteil des
Bundesgerichts vom 23. Juli 2019 [1C_121/2019], Erw. 3.2; ULRICH
HÄFELIN/GEORG MÜLLER/FELIX UHLMANN, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016, Rz. 81 ff.). Wie ge-
sehen, liefern § 21 Abs. 2 BauG und § 8 Abs. 2 lit. a BauV keinerlei
Anhaltspunkte dafür, dass eine Überbauung nach Gestaltungsplan
den ordentlichen Grenzabstand gegenüber einer Parzelle ausserhalb
des Planungsperimeters nicht unterschreiten darf. Weder der Wortlaut
dieser Bestimmungen (für sich allein und im systematischen Gefüge
betrachtet) noch die ratio legis gebieten ein solches Auslegungs-
ergebnis. Hinzu kommt, dass die Vorinstanz als Herausgeberin der
Empfehlung dem in Frage stehenden Inhalt offenbar selbst zumindest
nicht jene Bedeutung zumisst, welche die Beschwerdeführer ihr ge-
ben wollen.
(...) | 3,182 | 2,449 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2019-18_1971-02-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2019-18.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2019-18.pdf | AGVE_2019_18 | null | nan |
9a2fce8e-69ad-5269-9b4d-c68a4e7bda68 | 1 | 412 | 871,991 | 1,533,254,400,000 | 2,018 | de | 2018
Anwalts- und Notariatsrecht
303
33
Anerkennung eines ausserkantonalen Fähigkeitsausweises als Notarin
oder Notar
Die Notariatstätigkeit steht wegen ihrer Nähe zu staatlichen Aufgaben
nicht unter dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Das FZA gilt
nicht für den Beruf des Notars, weshalb aus dem im BGMB statuierten
Grundsatz, wonach Inländerdiskriminierungen zu vermeiden sind, nicht
abgeleitet werden kann, das BGBM schreibe den Kantonen vor, ob und
unter welchen Voraussetzungen sie ausserkantonale Fähigkeitsausweise
als Notarin oder Notar anerkennen müssen. Auch mit Rücksicht auf das
Diskriminierungsverbot dürfen die Kantone bei der Anerkennung ausser-
kantonaler Fähigkeitsausweise als Notarin oder Notar die Gleichwertig-
keit der ausserkantonalen Notariatsprüfung beurteilen. Dabei ist aller-
dings das Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV) zu beachten.
Gibt es sachliche Gründe für die Verneinung der Gleichwertigkeit der
ausserkantonalen Notariatsprüfung, darf die Anerkennung des ausser-
kantonalen Fähikgkeitsausweises verweigert werden. Es verletzt jedoch
den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn einer Inhaberin eines ausser-
kantonalen Fähigkeitsausweises mit langjähriger beruflicher Praxis als
Notarin keine Erleichterungen bei der Ablegung einer ergänzenden Nota-
riatsprüfung im Kanton Aargau gewährt werden und ein zusätzliches be-
rufsspezifsches Praktikum im Kanton Aargau verlangt wird, obwohl die
Anerkennungsvoraussetzungen hinsichtlich der praktischen Ausbildung
im Herkunftskanton erfüllt sind.
Aus den Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 21. August
2018, in Sachen A. gegen Notariatskommission (WBE.2018.36).
Aus den Erwägungen
1.
Die Vorinstanz verweigerte der Beschwerdeführerin die Aner-
kennung des zugerischen Fähigkeitsausweises als Notarin unter Zu-
grundelegung von § 8 Abs. 2 BeurG und § 8 Abs. 1 BeurV mit der
Begründung, die Notariatsprüfung im Kanton Zug könne nicht als
gleichwertig mit derjenigen im Kanton Aargau bezeichnet werden.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
304
2.
Für die Beschwerdeführerin verletzt die Nichtanerkennung ihres
zugerischen Fähigkeitsausweises als Notarin die Wirtschaftsfreiheit
gemäss Art. 27 BV, das BGBM respektive den damit gewährleisteten
freien Zugang zum Markt, das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 8
Abs. 1 BV sowie das in Art. 9 BV statuierte Willkürverbot.
3.
3.1.
Nach bisheriger bundesgerichtlicher Rechtsprechung und herr-
schender Lehre weist die den Notarinnen und Notaren verliehene Be-
urkundungsbefugnis den Charakter einer (übertragenen) hoheitlichen
Funktion auf und fällt als solche weder unter den Schutzbereich der
Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) noch in den Anwendungsbereich des
BGBM. Bezüglich der Zulassung der Notare zur Berufsausübung
sind die Kantone weitgehend frei, ohne Einschränkung durch das
Bundesrecht (BGE 133 I 259, Erw. 2.2; 131 II 639, Erw. 6.1 und 7.3;
Urteile des Bundesgerichts vom 1. Juni 2017 [2C_131/2017],
Erw. 5.1, vom 28. März 2014 [2C_763/2013], Erw. 4.3.1, und vom
19. Dezember 2011 [2C_694/2011], Erw. 4.1). Mit Blick darauf sind
die Kantone auch nicht verpflichtet, Fähigkeitsausweise eines ande-
ren Kantons zu anerkennen (Urteil des Bundesgerichts vom
6. August 2003 [2P.110/2002, 2P.264/2002], Erw. 4.2.4).
Die Beschwerdeführerin wirft die Frage auf, ob diese Praxis mit
Rücksicht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäi-
schen Union (EuGH), für den die notarielle Tätigkeit der öffentlichen
Beurkundung keine Ausübung öffentlicher Gewalt und hoheitlicher
Befugnisse beinhaltet (Urteile des EuGH vom 24. Mai 2011 [C-
54/08, C-50/08, C-47/08, C-51/08, C-53/08, C-61/08]; bestätigt mit
Urteil vom 9. März 2017 [C-342/15], Rn. 54), noch aufrechterhalten
werden kann, oder eine Praxisänderung angezeigt ist.
3.2.
Die zitierte Rechtsprechung des EuGH veranlasste die nach
Art. 8 BGBM für die Überwachung dieses Gesetzes zuständige Wett-
bewerbskommission (WEKO) zu den folgenden Überlegungen und
Empfehlungen vom 23. September 2013 zuhanden der Kantone und
des Bundesrats:
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
305
Das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999
(FZA) müsse europakompatibel, d.h. unter Berücksichtigung auch
der neueren (nach Unterzeichnung des FZA ergangenen) Rechtspre-
chung des EuGH ausgelegt werden. Danach falle die notarielle Beur-
kundungstätigkeit nicht unter die sog. Bereichsausnahmen gemäss
Anhang I Art. 10 FZA (Beschäftigung in der öffentlichen Verwal-
tung), Anhang I Art. 16 FZA (Ausübung hoheitlicher Befugnisse)
und Anhang I Art. 22 Abs. 1 FZA (Tätigkeiten mit gelegentlicher
Ausübung hoheitlicher Befugnisse). Folglich könnten sich auch No-
tare auf die Marktzugangsrechte gemäss FZA berufen.
In Nachachtung von Anhang III FZA habe das Parlament mit
dem Bundesgesetz über die Meldepflicht und die Nachprüfung der
Berufsqualifikationen von Dienstleistungserbringerinnen und -er-
bringern in reglementierten Berufen vom 14. Dezember 2012
(BGMD; SR 935.01) Titel II der Richtlinie 2005/36/EG (Berufs-
qualifikationsrichtlinie) umgesetzt und ein Melde- und Nach-
prüfungsverfahren im Bereich der reglementierten Berufe eingeführt.
Die Meldepflicht gemäss Art. 2 BGMD gelte für die in Anhang I der
Verordnung über die Meldepflicht und die Nachprüfung der Berufs-
qualifikationen von Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern in
reglementierten Berufen vom 26. Juni 2013 (VMD; SR 935.011)
angeführten Berufe mit Auswirkung auf die öffentliche Sicherheit
und Gesundheit. Mit der Nennung der Notare unter Titel 11 (Bereich
der juristischen Berufe) in Anhang I VMD gehe auch der Veror-
dnungsgeber explizit davon aus, dass diese Berufsgruppe vom
sachlichen Geltungsbereich des FZA erfasst werde. Konkret bedeute
dies, dass ein Notar aus einem Mitgliedstaat der EU beim Staats-
sekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) ein Ge-
such um Anerkennung seiner Berufsqualifikation für einen be-
stimmten Kanton stellen könne, das an die dafür zuständige kanto-
nale Stelle weitergeleitet werde. Bestehe der Notar aus der EU das
kantonale Zulassungsverfahren, das innerhalb von zwei Monaten
abgeschlossen sein müsse, dürfe er im entsprechenden Kanton seine
Dienstleistungen während maximal 90 Tagen pro Jahr erbringen. Ne-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
306
ben dem freien Dienstleistungsverkehr gewährleistet das FZA auch
die Niederlassungsfreiheit für Selbständige. Das Anerkennungs-
verfahren zum Zwecke der Niederlassung richte sich nach den
strengeren Vorschriften in Titel III der Berufsqualifikationsrichtlinie,
der - je nach Dauer und Niveau der Ausbildung - zwischen fünf
Qualifikationsniveaus a (niedrigste Stufe) bis e (höchste Stufe)
unterscheide. Die Qualifikation eines Anbieters aus der EU sei
anzuerkennen, wenn sie dem erforderlichen Niveau des Zielkantons
entspreche oder unmittelbar darunter liege. Sei diese Voraussetzung
erfüllt, könnten gegebenenfalls Ausgleichsmassnahmen ergriffen und
ein Eignungstest oder Anpassungslehrgang verlangt werden. Dieses
allgemeine System der Anerkennung von Berufsqualifikationen
gelte auch für den (freiberuflichen) Notariatsberuf.
Zur Verhinderung einer Inländerdiskriminierung habe der Ge-
setzgeber den Geltungsbereich des BGBM bei der Teilrevision vom
16. Dezember 2005 mit Art. 4 Abs. 3bis an denjenigen des FZA ange-
passt. Weil Notare und deren Berufsqualifikation dem FZA unter-
stünden, verfüge ein Notar mit Sitz in der Schweiz im interkantona-
len Verhältnis mindestens über die gleichen Marktzugangsrechte wie
ein Notar im Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz. Er könne
sich in einem anderen Kanton niederlassen, zu diesem Zweck die
Anerkennungsrechte im Sinne von Titel III der Berufsqualifikations-
richtlinie geltend machen und dort eine freiberufliche Notariatspraxis
eröffnen, sofern es sich nicht um einen Kanton mit Amtsnotariat (ZH
und SH) handle. Sollte die derzeit in der EU laufende Revision der
Berufsqualifikationsrichtlinie zum Ausschluss der Notare vom Gel-
tungsbereich dieser Richtlinie führen, könnten Notare innerhalb der
EU immer noch von den primärrechtlichen Grundfreiheiten gemäss
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und
den darin verankerten Anerkennungsregeln profitieren, die gestützt
auf das FZA auch im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU
zum Tragen kämen und aufgrund von Art. 4 Abs. 3bis BGBM zudem
im Innenverhältnis zwischen den Kantonen beachtlich seien.
Entsprechend sei Art. 4 Abs. 1 BGBM, wonach kantonale Fä-
higkeitsausweise auf dem Gebiet der gesamten Schweiz gelten, ins-
besondere auf Berufsausübungsbewilligungen für Notare anwendbar;
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
307
diese seien grundsätzlich schweizweit anzuerkennen. Einschränkun-
gen des Marktzugangs seien analog dem europarechtlichen Anerken-
nungsverfahren nur in Form von Auflagen und Bedingungen und un-
ter der Voraussetzung zulässig, dass die Gleichwertigkeitsvermutung
gemäss Art. 2 Abs. 5 BGBM widerlegt werden könne und der Tatbe-
stand von Art. 3 Abs. 1 und 2 BGBM erfüllt sei. Eine Widerlegung
der Gleichwertigkeitsvermutung sei dann zu bejahen, wenn die Aus-
bildungsvoraussetzungen im Herkunftskanton bedeutend geringer
seien als im eigenen Kanton, was etwa dann der Fall sei, wenn ein
Hochschulstudium nur im Bestimmungs-, nicht aber im Herkunfts-
kanton vorausgesetzt werde. Werde die Gleichwertigkeitsvermutung
in einem konkreten Fall widerlegt, sei der ortsfremden Person ge-
mäss Art. 4 Abs. 3 BGBM der Nachweis zu ermöglichen, dass sie die
erforderlichen Kenntnisse im Rahmen ihrer praktischen Tätigkeit er-
worben habe. Gelinge auch dieser Nachweis nicht, könne die zustän-
dige Stelle nach Art. 3 Abs. 1 und 2 BGBM Auflagen zur Beschrän-
kung des Marktzugangs verfügen, sofern diese (a) gleichermassen
für ortsansässige Personen gelten, (b) zur Wahrung überwiegender
öffentlicher Interessen unerlässlich und (c) verhältnismässig seien.
Grundsätzlich unzulässig seien verdeckte Marktzutrittsschranken zu
Gunsten einheimischer Wirtschaftsinteressen und Markzugangsver-
weigerungen. Eine Auflage könnte etwa darin bestehen, dass der aus-
serkantonale Notar eine angepasste Eignungsprüfung über das kanto-
nale Recht absolvieren müsse.
Auch aus Sicht des Verhältnismässigkeitsgebots gemäss Art. 5
Abs. 2 BV lasse sich ganz unabhängig von den Entwicklungen im
Unionsrecht und im bilateralen Freizügigkeitsrecht kaum begründen,
weshalb beispielsweise ein Notar, der über ein Hochschulstudium
verfüge, ein mehrjähriges Praktikum und eine Prüfung absolviert ha-
be und mehrere Jahre als selbständiger Notar tätig gewesen sei, nicht
in einem anderen Kanton zugelassen werden könne, ohne wiederum
ein mehrjähriges Praktikum und die komplette Prüfung absolvieren
zu müssen.
Aufgrund dessen würden die Kantone ersucht, ausserkantonale
Notare unter Anerkennung von deren Fähigkeitsausweisen für dieje-
nigen Tätigkeiten zuzulassen, die im eigenen Kanton ebenfalls durch
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
308
freierwerbende Notaren ausgeübt werden dürften, wobei sich die
Anerkennung ausserkantonaler Fähigkeitsausweise nach folgenden
Hauptgrundsätzen richte:
? Die Anerkennung eines ausserkantonalen Fähigkeitsaus-
weises kann - muss aber nicht - verweigert werden, wenn
die Ausbildungserfordernisse im Herkunftskanton bedeu-
tend tiefer sind als im eigenen Kanton. Dies ist insbesonde-
re dann der Fall, wenn ein Hochschulstudium mit Master-
abschluss nur im Bestimmungs- und nicht im Herkunfts-
kanton vorausgesetzt wird.
? Bei gleichwertigen Ausbildungserfordernissen kann - muss
aber nicht - ein Eignungstest über kantonales Recht und lo-
kale Gegebenheiten durchgeführt werden, sofern sich diese
von Recht und Gegebenheiten des Herkunftskantons be-
deutend unterscheiden.
3.3.
Die Lehre hat diese Empfehlungen der WEKO zum Teil kritisch
gewürdigt. Argumentiert wird zunächst, es bestehe keine vertragliche
Verpflichtung der Schweiz, die sechs nach Unterzeichnung des FZA
ergangenen EuGH-Urteile vom 24. Mai 2011 zu berücksichtigen.
Das Bundesgericht könne insbesondere dann von einer Anpassung
seiner Rechtsprechung zur Qualifikation der notariellen Tätigkeit als
hoheitliche Tätigkeit absehen, wenn triftige Gründe für eine Beibe-
haltung derselben sprächen. Damit habe sich die WEKO nicht ausei-
nandergesetzt. Es gelte zu klären, ob die Interessen an der Beibehal-
tung der bisherigen schweizerischen Rechtspraxis ausreichend ge-
wichtig seien, um das Interesse an einer möglichst parallelen Rechts-
und Begriffsentwicklung mit der EU ausser Acht zu lassen.
Das Bundesgericht räume dem Parallelismus zwischen dem Re-
gime unter dem FZA und dem europäischen Binnenmarkt eine hohe
Priorität ein. In der Schweiz sei jedoch die Rechtsprechung zur Ho-
heitlichkeit notariellen Handelns klar und unbestritten. Das Bundes-
gericht habe zuletzt im Jahr 2002 festgehalten, dass es sich bei Ur-
kundstätigkeiten zweifellos um Tätigkeiten handle, welche für sich
genommen eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Aus-
übung öffentlicher Gewalt mit sich einschliessen würden. Gemäss
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
309
schweizerischer Rechtsauffassung komme im hoheitlichen Charakter
der notariellen Tätigkeit nichts anderes als der Kern des demokrati-
schen schweizerischen Staatsverständnisses zum Ausdruck, wonach
die Staatsgewalt durch die Staatsunterworfenen selbst ausgeübt wer-
de. Für Lehre und Rechtsprechung sei denn die notarielle Tätigkeit
auch vergleichbar mit richterlichen Funktionen oder hohen politi-
schen Ämtern. In den Händen des Notars liege die nicht streitige Ge-
richtsbarkeit. Entsprechend könne auch nicht ernsthaft bestritten wer-
den, dass allein das Gemeinwesen berechtigt sei, diese Tätigkeit den
eigenen Angehörigen vorzubehalten und autonom zu definieren, wel-
che Handlungen es als hoheitlich und welche als privat qualifiziere.
Die Idee, dass ein Staat sein diesbezügliches Verständnis aufgrund
eines fremden Gerichts revidiere, sei nicht leichthin anzunehmen.
Die Qualifikation von Urkundstätigkeiten als verliehene Hoheits-
rechte entspreche zudem dem Bedürfnis nach Verkehrssicherheit und
dem Schutz der Parteien vor ungenauen, unklaren und ihrem Willen
zuwiderlaufenden Verträgen. Würde man den Notar bei der Schaf-
fung qualifizierter privatrechtlicher Verhältnisse seiner staatlichen
(hoheitlichen) Funktion berauben, würde dies zu einer Verkehrsunsi-
cherheit führen und dem Übereilungsschutz entgegenwirken. Eine
neue Qualifikation notariellen Handelns hätte sodann ungeahnte
Konsequenzen für die Aufsicht, die Disziplinargewalt und die Ge-
bühren-/Honorarfestlegung. Sie käme einem revolutionären Paradig-
menwechsel gleich. Beim schweizerischen Verständnis der notariel-
len Tätigkeit handle es sich um eine während mehr als sieben Jahr-
hunderten gewachsene und tradierte Rechtsüberzeugung, deren Än-
derung die bestehende Rechtssicherheit qualifiziert tangieren würde.
Schliesslich hätte die Neudefinierung notariellen Handelns erhebli-
che finanzielle Konsequenzen für die Kantone. Die Bewilligung zur
(hoheitlichen) Ausübung notarieller Tätigkeiten stelle ein wohlerwor-
benes Recht dar, dessen Entzug beim Kanton eine Entschädigungs-
pflicht auslösen würde. In Anbetracht all dessen lägen triftige Gründe
für die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung vor; die neuere
Rechtsprechung des EuGH sei nicht zu übernehmen. Weiterhin sei
davon auszugehen, dass nach schweizerischem Verständnis notarielle
Tätigkeiten hoheitlich und damit unmittelbar sowie spezifisch mit
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
310
der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien. Das FZA bleibe
folglich - zumindest für die hauptberufliche Tätigkeit des Notars -
nach wie vor nicht anwendbar (ROLAND PFÄFFLI/FABRIZIO ANDREA
LIECHTI, Bemerkungen zu den rechtlichen Einschätzungen der eid-
genössischen Wettbewerbskommission [WEKO] zur Freizügigkeit
der Notare, in: Jusletter 16. Dezember 2013, S. 5 f.).
Das BGMD wiederum sei nur auf jene EU-Staatsangehörigen
anwendbar, die einen Beruf ausübten, der vom FZA abgedeckt sei.
Mit der Aufnahme der Notare in die VMD habe der Verordnungsge-
ber seine Kompetenzen überschritten. Er habe die notarielle Tätigkeit
dem Meldeverfahren nach dem BGMD unterstellt, obschon dieses
sachlich nicht auf diese Tätigkeiten anwendbar sei. Darin liege ein
Verstoss gegen das Gesetzmässigkeitsprinzip; die Gesetzeskonformi-
tät der VMD sei hinsichtlich der Aufnahme der Notare in Anhang 1
Ziffer 11 zu verneinen; der Norm sei insoweit die Anwendung zu
versagen. Unabhängig davon erstaune es, dass der Bundesrat nota-
rielle Tätigkeiten unter die Berufsqualifikationsrichtlinie subsumie-
ren wolle, obschon momentan im innereuropäischen Verhältnis keine
Freizügigkeit des Notariats bestehe. Die Schweiz gewähre also im bi-
lateralen Verhältnis weitergehende Rechte als die EU-Mitgliedstaaten
untereinander. Dazu bestehe kein Anlass (PFÄFFLI/LIECHTI, a.a.O.,
S. 7 f.).
Sei die notarielle Tätigkeit vom Geltungsbereich des FZA aus-
genommen, entfalle das von der WEKO als Begründung für die in-
terkantonale Freizügigkeit der Notare herangezogene Fundament der
Vermeidung von Inländerdiskriminierungen. Das BGBM gelte nur
für Berufe, die vom FZA mitumfasst seien, also nicht für Notare
(PFÄFFLI/LIECHTI, a.a.O., S. 9).
3.4.
Gemäss Art. 16 Abs. 2 FZA ist für dessen Anwendung die ein-
schlägige Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unter-
zeichnung (21. Juni 1999) massgebend. Trotzdem können, ohne ent-
sprechende Verpflichtung dazu, zum Zwecke der Auslegung des FZA
auch seither ergangene Urteile des EuGH herangezogen werden. Ziel
ist, dass in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU
gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der EU,
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
311
auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden. Das bedeutet,
dass für die vom Abkommen erfassten Bereiche insoweit eine paral-
lele Rechtslage verwirklicht werden soll. Da der EuGH nicht berufen
ist, für die Schweiz über die Auslegung des Abkommens verbindlich
zu bestimmen, ist es dem Bundesgericht nicht verwehrt, aus triftigen
Gründen zu einer anderen Rechtsauffassung als dieser zu gelangen.
Es wird das aber mit Blick auf die angestrebte parallele Rechtslage
nicht leichthin tun (BGE 140 II 112, Erw. 3.2; 139 II 393, Erw. 4.1.1;
136 II 65, Erw. 3.1; Urteile des Bundesgerichts vom 5. Januar 2010
[2C_269/2009], Erw. 3.1, und vom 29. September 2009
[2C_196/2009], Erw. 3.4).
Die in Anhang I Art. 10 FZA (Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung), Anhang I Art. 16 FZA (Ausübung hoheitlicher Befug-
nisse) und Anhang I Art. 22 Abs. 1 FZA (Tätigkeiten mit gelegentli-
cher Ausübung hoheitlicher Befugnisse) erwähnten Bereichsausnah-
men sind denjenigen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie zur Nie-
derlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäss AEUV nachgebildet.
Insofern drängt es sich grundsätzlich auf, die Rechtsprechung des
EuGH, wonach die Beurkundungstätigkeit von Notaren nicht mit der
Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sei und daher nicht unter
die erwähnten Bereichsausnahmen falle, zu übernehmen, zumal diese
Rechtsprechung in den Urteilen vom 24. Mai 2011 sorgfältig und
stichhaltig begründet wurde. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich
die Rechtslage in den betroffenen Ländern (allen voran Deutschland)
mit Bezug auf die Ausgestaltung der notariellen Tätigkeit wesentlich
von derjenigen in der Schweiz unterscheiden würde. Jedenfalls trifft
auch auf die hiesige öffentliche Urkunde zu, dass sich die Parteien
ihr freiwillig unterwerfen und innerhalb der gesetzlich vorgegebenen
Grenzen selbst über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten bestim-
men können (Urteil des EuGH vom 24. Mai 2011 [C-54/08], Rn. 91).
Ferner gilt auch in Deutschland (Urteil des EuGH vom 24. Mai 2011
[C-54/08], Rn. 94 ff.), dass die öffentliche Beurkundung zwingende
Voraussetzung für die Wirksamkeit bestimmter Rechtsgeschäfte ist,
die Notare vor Ausstellung der öffentlichen Urkunde prüfen müssen,
ob alle gesetzlichen Voraussetzungen für das Zustandekommen eines
Vertrags erfüllt sind, die Notare im öffentlichen Interesse (Allge-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
312
meininteresse) liegende Ziele verfolgen, indem sie die Rechtmässig-
keit und Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen ge-
währleisten, eine öffentliche Urkunde erhöhte Beweiskraft geniesst,
für Notare zwar Honorarvorschriften bestehen, sie ihren Beruf inner-
halb der Grenzen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeit aber den-
noch unter Wettbewerbsbedingungen ausführen, was für die Ausü-
bung öffentlicher Gewalt untypisch ist, und allein die Notare (unter
Ausschluss der Staatshaftung) für die Handlungen im Rahmen ihrer
beruflichen Tätigkeit haften. Der EuGH gelangte unter diesen Um-
ständen zum Schluss, dass die notariellen Tätigkeiten nach ihrer ge-
genwärtigen Definition in der deutschen Rechtsordnung nicht mit der
Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien (Urteil des EuGH
vom 24. Mai 2011 [C-54/08], Rn. 117).
Die von der Lehre gegen eine Übernahme der Rechtsprechung
des EuGH angeführten triftigen Gründe überzeugen nur be-
schränkt. Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass sich
mit dem Argument, die Qualifikation der notariellen Tätigkeit als
Ausübung einer hoheitlichen Funktion entspreche einer altherge-
brachten Rechtsauffassung, jegliche Rechtsfortbildung verhindern
liesse. Man muss sich vielmehr - wie es der EuGH getan hat - den
Charakter einer Tätigkeit anschauen, um zu entscheiden, ob sie ho-
heitliche Elemente beinhaltet, und zwar frei von jeder Voreingenom-
menheit gegenüber den Ideen fremder Richter . Dass die notarielle
Tätigkeit im Kanton Aargau relativ stark reglementiert ist (vgl.
§§ 21 ff. BeurG), macht sie noch nicht zu einer hoheitlichen Aufga-
be. Auch nicht hoheitliche Tätigkeiten können mehr oder weniger
stark reglementiert sein. Anders als ein Richter und andere staatliche
Behörden sind freiberufliche Notare nicht mit Zwangsbefugnissen
(gegenüber den Rechtsunterworfenen) ausgestattet. Sie treffen keine
einseitigen Entscheidungen ohne Mitwirkung der Parteien. Sie er-
bringen in erster Linie Dienstleistungen für ihre Kunden, auch wenn
sie sich im Allgemeininteresse betätigen und der Umstand, dass diese
Dienstleistungen Anbietern mit einer entsprechenden Ausbildung und
Berufsausübungsbewilligung vorbehalten sind, zweifelsohne zur Ver-
kehrssicherheit und dem Schutz der Parteien vor ungenauen, unkla-
ren und ihrem Willen zuwiderlaufenden Verträgen beiträgt. Diesen
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
313
Bedürfnissen kann allerdings schon mit entsprechenden Ausbil-
dungsanforderungen und - wie die Beschwerdeführerin zu Recht
festhält - mit einer wirkungsvollen Aufsicht mit Disziplinarbefugnis
sowie mit der Pflicht zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche-
rung Rechnung getragen werden. Daraus ergibt sich keine Notwen-
digkeit, die notarielle Tätigkeit als hoheitlich zu qualifizieren. Der
revolutionäre Paradigmenwechsel würde sich deshalb - von der an
und für sich erwünschten Erleichterung beim Marktzugang für orts-
fremde Notare abgesehen - wohl vor allem auf die Gebühren- und
Honorarfestlegung auswirken. Ob das als triftiger Grund genügt,
um die Notare von den Grundfreiheiten des (europäischen) Binnen-
marktes auszuschliessen, ist zumindest fraglich.
Eine Anerkennung ausländischer Fähigkeitsausweise gestützt
auf Art. 9 und Anhang III FZA, worin die sekundärrechtlichen Aner-
kennungsregeln der EU gemäss Richtlinie 2005/36/EG (Berufsquali-
fikationsrichtlinie) im Verhältnis Schweiz-EU als direkt anwendbar
erklärt werden, kommt aber für notarielle Tätigkeiten vorläufig nicht
mehr in Betracht. Mit der Richtlinie 2013/55/EU vom 20. November
2013 wurde nämlich Art. 2 der Richtlinie 2005/36/EG um einen vier-
ten Absatz ergänzt, wonach diese Richtlinie nicht für durch einen
Hoheitsakt bestellte Notare gilt. Grund für diese Novelle war, dass
die durch staatlichen Hoheitsakt bestellten Notare im Hinblick auf
die besonderen und unterschiedlichen Regelungen, denen sie in den
einzelnen Mitgliedstaaten in Bezug auf den Zugang zum Notarberuf
und seine Ausübung unterliegen, vom Anwendungsbereich der Richt-
linie 2005/36/EG ausgenommen werden sollten (Richtlinie
2013/55/EU, Ingress, Erw. 3). Ist eine Berufsqualifikation nicht vom
Geltungsbereich der Berufsqualifikationsrichtlinie erfasst, stellt sich
die Frage, ob eine Anerkennung von Fähigkeitsausweisen auf der
Grundlage des allgemeinen Diskriminierungsverbots gemäss Art. 2
FZA und dessen spezielle Ausprägung in Anhang I FZA möglich ist.
Die WEKO plädiert hier dafür, die Praxis des EuGH zur primärrecht-
lichen Anerkennung heranzuziehen. Danach haben die EU-Mitglied-
staaten zwecks Verwirklichung der Personenfreizügigkeit sämtliche
Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstige Befähigungsnachweise
sowie die einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise zu
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
314
berücksichtigen, dass sie die durch diese Nachweise und diese Er-
fahrung belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vor-
geschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichen (Urteile des
EuGH vom 10. Dezember 2009 [C-345/08], Rn. 37, vom 14. Sep-
tember 2000 [C-238-98], Rn. 23 und 40, und vom 7. Mai 1991
[C-340/89], Rn. 16 ff.). Für diesen Vergleich wird allerdings kein
standardisiertes Anerkennungsverfahren wie in den Titeln II und III
der Berufsqualifikationsrichtlinie vorgeschrieben. Es genügt eine
Einzelfallprüfung der Gleichwertigkeit im Lichte der Grundfreihei-
ten.
In Anbetracht dessen geht Anhang 1 Ziff. 11 VMD, der den Be-
ruf des Notars der Meldepflicht und Nachprüfung gemäss BGMD
unterstellt, weiter als das standardisierte Anerkennungsregime zwi-
schen den EU-Mitgliedsstaaten, welches nicht für Notare gilt, und
damit auch weiter, als es die in Art. 9 und Anhang III FZA stipulierte
Umsetzung der Berufsqualifikationsrichtlinie mit dem BGMD erfor-
dert. Weil der Geltungsbereich des BGMD gemäss dessen Art. 1
Abs. 2 lit. c auf Personen beschränkt ist, die sich nach Anhang III
FZA oder nach Anhang I des Übereinkommens vom 4. Januar 1960
zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) auf
die Richtlinie 2005/36/EG berufen können, was bei Notaren nicht
(mehr) der Fall ist, wird die Gesetzeskonformität von Anhang 1
Ziff. 11, was diesen Beruf anbelangt, in der Lehre zu Recht ange-
zweifelt (PFÄFFLI/LIECHTI, a.a.O., S. 7 f.). Es wird obendrein disku-
tiert, ob mit der betreffenden Verordnungsbestimmung in unzulässi-
ger Art und Weise in die verfassungsmässige Kompetenzausschei-
dung zwischen Bund und Kantonen eingegriffen wurde (ROLAND
PFÄFFLI/FABRIZIO ANDREA LIECHTI, Der Notar und das Freizügig-
keitsabkommen: Entwicklungen, in: Jusletter 20. April 2015). Auch
wenn die Forderung, die Berufsgattung der Notare aus der VMD zu
streichen, vom Verordnungsgeber nicht aufgenommen werden sollte,
ist insofern zweifelhaft, ob sich ein ausländischer Notar im Einzelfall
erfolgreich auf diese Bestimmung berufen und mit Blick auf die
Anerkennung seines Fähigkeitsausweises ein Meldeverfahren ge-
mäss BGMD einleiten und eine allfällige Nachprüfung verlangen
kann. Einer Verordnung, die den Rahmen der dem Bundesrat dele-
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
315
gierten Kompetenzen sprengt oder sich aus anderen Gründen als ge-
setz- oder verfassungswidrig erweist, ist in einem konkreten Fall die
Anwendung zu versagen (ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER/HE-
LEN
KELLER/DANIELA THURNHERR, Schweizerisches Bundesstaats-
recht, 9. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2016, Rz. 2099). Damit ist auch
offen, ob bei der Anerkennung von Fähigkeitsausweisen für die Tä-
tigkeit als Notar das Szenario einer Inländerdiskriminierung droht,
die es dadurch zu vermeiden gilt, dass man den Anwendungsbereich
des BGBM gestützt auf dessen Art. 4 Abs. 3bis entgegen herkömmli-
cher schweizerischer Rechtsauffassung auf ausserkantonale Berufs-
ausübungsbewilligungen als Notar ausdehnt und diese mit etwaigen
nach Art. 3 BGBM zulässigen Auflagen zur Beschränkung des
Marktzugangs schweizweit anerkennt. Eine Gleichwertigkeitsprü-
fung, in deren Rahmen ausserkantonale Befähigungsnachweise und
einschlägige Berufserfahrungen zu berücksichtigen sind, darf auch
mit Rücksicht auf die Bestrebungen zur Angleichung an den europäi-
schen Binnenmarkt nach wie vor stattfinden. Solange das kantonale
Beurkundungsrecht im Verfahren auf Anerkennung ausserkantonaler
Fähigkeitsausweise als Notarin oder Notar eine Gleichwertigkeits-
prüfung im erwähnten Sinne gewährleistet, fällt demnach ein Ver-
stoss gegen das BGBM, soweit dieses überhaupt anwendbar ist, von
vornherein ausser Betracht.
3.5.
Vom Schutz der nach rein schweizerischem Rechtsverständnis
auszulegenden Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV), die privatwirtschaft-
lichen Tätigkeiten vorbehalten ist, kann die Notariatstätigkeit wegen
ihrer Nähe zu den staatlichen Aufgaben, die in einigen Kantonen
dem freien Wettbewerb sogar ganz entzogen ist, nicht profitieren
(BGE 133 I 259, Erw. 2.2; FELIX UHLMANN, in: BERNHARD WALD-
MANN
/EVA MARIA BELSER/ASTRID EPINEY, Basler Kommentar zur
Bundesverfassung, Basel 2015, Art. 27 N 19 und 22; vgl. auch
BGE 140 II 112, Erw. 3.3).
4.
4.1.
Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots (Art. 8 Abs. 1
BV) und des Willkürverbots (Art. 9 BV) erblickt die Beschwerdefüh-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
316
rerin darin, dass sie durch die Nichtanerkennung ihres zugerischen
Fähigkeitsausweises als Notarin de facto einer Studienabgängerin
ohne Anwaltspatent und ohne jegliche berufliche Erfahrung gleich-
gestellt werde. Mit dem Bestehen der zugerischen Anwalts- und
Notariatsprüfung - der höchsten in der Schweiz für Juristen vorgese-
henen Fachprüfung - habe sie den Nachweis erbracht, mit den für
das Beurkundungs- und Notariatswesen wesentlichen gesetzlichen
Grundlagen vertraut zu sein. Sie verfüge über mehrjährige praktische
und berufliche Erfahrung als Notarin. Sie arbeite seit bald sechs Jah-
ren auf einem kommunalen Notariat und in sämtlichen Rechtsgebie-
ten. Davor habe sie unter anderem im Kanton Aargau Praktika absol-
viert. Zudem sei sie im Kanton Aargau aufgewachsen und daher mit
den lokalen Besonderheiten bestens vertraut.
4.2.
Der Anspruch auf Gleichbehandlung verlangt, dass Rechte und
Pflichten der Betroffenen nach dem gleichen Massstab festzusetzen
sind. Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Unglei-
ches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. Das
Gleichheitsprinzip verbietet einerseits unterschiedliche Regelungen,
denen keine rechtlich erheblichen Unterscheidungen zugrunde lie-
gen. Andererseits untersagt es aber auch die rechtliche Gleichbe-
handlung von Fällen, die sich in tatsächlicher Hinsicht wesentlich
unterscheiden. Die Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber oder
die rechtsanwendende Behörde ist allerdings nicht nur dann geboten,
wenn zwei Tatbestände in allen ihren Elementen absolut identisch
sind, sondern auch dann, wenn die im Hinblick auf die zu erlassende
oder anzuwendende Norm relevanten Tatsachen gleich sind (ULRICH
HÄFELIN/GEORG MÜLLER/FELIX UHLMANN, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 7. Auflage, Zürich/St. Gallen 2016, Rz. 572 mit Hinwei-
sen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung).
Soweit sich das Gebot der Rechtsgleichheit an den Gesetzgeber
wendet, kommt diesem eine erhebliche Gestaltungsfreiheit zu. Es ist
ihm jedoch verboten, Differenzierungen zu treffen, für die sachliche
und vernünftige Gründe fehlen, oder sich über erhebliche tatsächli-
che Unterschiede hinwegzusetzen. Ein Erlass verletzt das Rechts-
gleichheitsgebot, wenn hinsichtlich einer entscheidwesentlichen Tat-
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
317
sache rechtliche Unterscheidungen getroffen werden, für die ein
sachlicher und vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen
nicht ersichtlich ist, oder wenn Unterscheidungen unterlassen wer-
den, die aufgrund der Verhältnisse hätten getroffen werden müssen
(statt vieler: BGE 143 I 361, Erw. 5.1; 141 I 153, Erw. 5.1; 140 I 77,
Erw. 5.1; 134 I 23, Erw. 9.1).
Die Bindung der rechtsanwendenden Behörde an Art. 8 Abs. 1
BV ist vor allem dort wichtig, wo die anzuwendende Norm unbe-
stimmte Begriffe verwendet oder den Behörden Ermessen einräumt
(HÄFELIN/HALLER/KELLER/THURNHERR, a.a.O., Rz. 765). Davon
hat die rechtsanwendende Behörde in allen gleich gelagerten Fällen
gleichen Gebrauch zu machen (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O.,
Rz. 587).
Die Beschwerdeführerin verlangt nicht eine Gleichstellung mit
Inhabern von Fähigkeitsausweisen anderer Kantone als Zug, sondern
eine (sachgerechte) Privilegierung gegenüber Studienabgängern, die
im Unterschied zu ihr keine berufliche/praktische Erfahrung als No-
tarin oder Notar aufweisen und keine Notariatsprüfung abgelegt ha-
ben. Eine gewisse Privilegierung erfährt die Beschwerdeführerin im
Vergleich mit Studienabgängern, indem ihr die Vorinstanz in Anwen-
dung von § 11 Abs. 3 BeurG und § 9 Abs. 4 lit. a BeurV das in § 11
Abs. 1 und 2 BeurG sowie § 9 Abs. 2 BeurV vorgeschriebene Prakti-
kum bei einer Urkundsperson von mindestens sechsmonatiger Dauer
erlässt. Diese Privilegierung geht der Beschwerdeführerin indessen
zu wenig weit. In ihren Augen ist der Rechtsgleichheit nur mit einer
Anerkennung ihres zugerischen Fähigkeitsausweises als Notarin oder
eventualiter mit dem Verzicht auf ein weiteres Praktikum bei einem
Grundbuchamt und Erleichterungen bei der Notariatsprüfung Genüge
getan.
5.
5.1.
Gemäss § 8 Abs. 2 BeurG wird der ausserkantonale Fähigkeits-
ausweis als Notarin oder Notar anerkannt, wenn (a) ihm gleichwerti-
ge Voraussetzungen für die Erteilung zugrunde liegen, (b) die Ge-
suchstellerin oder der Gesuchsteller die deutsche Sprache beherrscht,
(c) der andere Kanton Gegenrecht hält. Der Ausweis über die Befähi-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
318
gung von Urkundspersonen eines anderen Kantons gilt als gleichwer-
tig, wenn die Gesuchstellerin oder der Gesuchsteller über einen
Hochschulabschluss gemäss § 10 Abs. 1 lit. b BeurG (juristisches
Masterdiplom oder juristisches Lizentiat einer schweizerischen Uni-
versität oder Masterdiplom einer Fachhochschule mit Fachrichtung
Notariat) verfügt, mindestens zwölf Monate spezifische Praxiserfah-
rung nachweist und eine gleichwertige Notariatsprüfung abgelegt hat
(§ 8 Abs. 1 BeurV).
Mit dem Erlass dieser Bestimmungen sollte der interkantonalen
Freizügigkeit von Urkundspersonen zum Durchbruch verholfen wer-
den. Vorher liess der Kanton Aargau - wie viele andere Kantone -
nur Notarinnen und Notare zur Berufsausübung zu, welche die Prü-
fung im eigenen Kanton abgelegt hatten (Botschaft Nr. 10.92 des Re-
gierungsrats des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 17. März
2010 zum Beurkundungs- und Beglaubigungsgesetz [BeurG],
Totalrevision [nachfolgend: Botschaft BeurG], S. 30). Die Verwirk-
lichung der angestrebten interkantonalen Freizügigkeit bedingt, dass
keine übertriebenen Anforderungen an den Nachweis der Gleichwer-
tigkeit des ausserkantonalen Fähigkeitsausweises gestellt werden.
Das betrifft auch die Notariatsprüfung als Teil der in § 8 Abs. 1
BeurV umschriebenen Anerkennungsvoraussetzungen.
Die (inhaltlichen) Probleme, denen eine Urkundsperson ge-
wachsen sein muss, werden weitgehend durch Bundesrecht vorgege-
ben. Die kantonalen Eigenheiten beziehen sich insbesondere auf Ver-
fahrensfragen sowie das Abgaberecht. Es ist daher vertretbar, ausser-
kantonale Fähigkeitsausweise als Notarin oder Notar anzuerkennen,
sofern der Ausbildungsstandard dem aargauischen entspricht (Bot-
schaft BeurG, S. 30).
5.2.
Das Rechtsgleichheitsgebot steht einer gesetzlichen Regelung,
wonach für die Anerkennung eines ausserkantonalen Fähigkeitsaus-
weises als Notarin oder Notar eine gleichwertige Notariatsprüfung
im Herkunftskanton vorausgesetzt wird, nicht grundsätzlich entge-
gen. Für diese Regelung gibt es durchaus sachliche und vernünftige
Gründe. Sind die Anforderungen der Notariatsprüfung im Herkunfts-
kanton wesentlich geringer, hätte die voraussetzungslose Anerken-
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
319
nung des ausserkantonalen Fähigkeitsausweises nicht nur negative
Auswirkungen auf die Qualitätssicherung im Bestimmungskanton.
Sie könnte auch den Prüfungstourismus in dem Sinne fördern, dass
Fähigkeitsausweise gezielt vorwiegend dort erworben werden, wo
die Anforderungen am geringsten sind. Auf diese Weise könnte wie-
derum der Qualitätsstandard im Bestimmungskanton kaum mehr auf-
rechterhalten werden.
Problematisch wäre es hingegen aus Rechtsgleichheitsgründen
wie auch unter dem Aspekt der interkantonalen Freizügigkeit von
Urkundspersonen, im Falle einer Verneinung der Gleichwertigkeit
der ausserkantonalen Notariatsprüfung diese und die bisherige Be-
rufspraxis eines Gesuchstellers gänzlich ausser Acht zu lassen. Das
Gesetz lässt die Berücksichtigung von Vorkenntnissen und Praxiser-
fahrung ohne weiteres zu, indem die Notariatskommission gemäss
§ 10 Abs. 5 BeurG für Inhaberinnen oder Inhaber eines kantonalen
Fähigkeitsausweises als Notarin oder Notar Erleichterungen gewäh-
ren kann. Diese Bestimmung ist entgegen der Auffassung der Vorin-
stanz nicht nur dann anwendbar, wenn die Gleichwertigkeit der No-
tariatsprüfung am Herkunftsort bejaht wird, der Fähigkeitsausweis
aber aus anderen Gründen nicht anerkannt werden kann, weil bei-
spielsweise der andere Kanton kein Gegenrecht hält. Für eine derart
restriktive Auslegung besteht kein Anlass. Vielmehr wird schon in
der Botschaft BeurG (a.a.O., S. 30) ausgeführt, dass die Kandidatin
oder der Kandidat verpflichtet werden kann, eine ergänzende Prü-
fung abzulegen, wenn ein ausserkantonaler Fähigkeitsausweis in Be-
zug auf verfahrens- und organisationsrechtliche Fragen (Beurkun-
dungsverfahren im engeren Sinne, Aufsicht, Gebührenwesen), Beur-
kundungstechnik oder kantonales Abgaberecht (Grundstückgewinn-
steuern, Handänderungssteuern, kantonale gesetzliche Pfandrechte)
nicht als gleichwertig erachtet wird. Im Weiteren wird in der Bot-
schaft (S. 33 oben) explizit erläutert, eine Beschränkung des Prü-
fungsstoffs komme in Frage für Kandidierende, die bereits über ein
ausserkantonales, aber nicht gleichwertiges Notariatspatent verfügen.
5.3.
5.3.1.
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
320
Im Kanton Aargau umfasst die Notariatsprüfung einen schriftli-
chen und einen mündlichen Prüfungsteil. Der schriftliche Prüfungs-
teil besteht gemäss § 14 BeurV aus zwei Klausurarbeiten von je vier
Stunden und vier Klausurarbeiten von je zwei Stunden namentlich
aus folgenden Rechtsgebieten: (a) Sachen- und Grundbuchrecht mit
Neben- und Ausführungserlassen, namentlich BewG, BGBB, EG
ZGB, (b) Personen-, Familien- und Erbrecht, (c) Obligationenrecht
mit Neben- und Ausführungserlassen, namentlich FusG, HRegV, (d)
Beurkundungs- und Beglaubigungsrecht. In den Klausurarbeiten sind
insbesondere öffentliche Urkunden abzufassen. Der mündliche Prü-
fungsteil dauert nach § 15 Abs. 3 BeurV in der Regel zwei Stunden
und umfasst neben den schon in § 14 BeurV (für den schriftlichen
Prüfungsteil) erwähnten namentlich folgende Rechtsgebiete: (d)
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Zivilprozessrecht, die für das
Notariat relevanten Bereiche des Internationalen Privatrechts, (e)
Grundzüge des öffentlichen Rechts, (f) Abgabenrecht.
5.3.2.
Im Kanton Zug gibt es keine eigenständige Notariatsprüfung;
die Beurkundungsprüfung ist Teil der Anwaltsprüfung. § 3 der zuge-
rischen Verordnung über die Anwaltsprüfung und die Beurkundungs-
prüfung für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vom 3. Dezember
2002 (Anwaltsprüfungsverordnung; BGS 163.2) regelt den schriftli-
chen Prüfungsteil, der aus der Bearbeitung von zwei Fällen und aus
der Erstellung einer öffentlichen Urkunde besteht (Abs. 1). Die Fälle
erstrecken sich auf folgende Rechtsgebiete: (a) Zivilrecht und Zivil-
prozessrecht inkl. Gerichtsorganisation, (b) Strafrecht und Strafpro-
zessrecht inkl. Gerichtsorganisation oder Staats- und Verwaltungs-
recht inkl. Verwaltungsrechtspflege. Die Prüfung gemäss lit. a kann
auch Fragen zum Schuldbetreibungs- und Konkursrecht enthalten.
Das zu prüfende Rechtsgebiet gemäss lit. b wird jeweils drei Wochen
vor dem Prüfungstermin bekannt gegeben (Abs. 2). Für die Bearbei-
tung der Fälle und die Erstellung der öffentlichen Urkunde stehen der
Kandidatin bzw. dem Kandidaten je fünf Stunden zur Verfügung
(Abs. 3). Die schriftliche Prüfung ist in Klausur und in der Regel im
Zeitraum einer Woche abzulegen (Abs. 4). Die mündliche Prüfung,
die in der Regel innert sechs Monaten nach bestandener schriftlicher
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
321
Prüfung abzulegen ist und mindestens zwei Stunden dauert, umfasst
die folgenden Gebiete des Bundesrechts und des zugerischen Rechts:
(a) Zivilrecht und Zivilprozessrecht, (b) Strafrecht und Strafprozess-
recht, (c) Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, (d) Staats- und Ver-
waltungsrecht, (e) Beurkundungsrecht und (f) Anwaltsrecht (§ 5 An-
waltsprüfungsverordnung).
5.3.3.
Die Notariatskommission begründete ihren Entscheid, die
Gleichwertigkeit der zugerischen Beurkundungsprüfung mit der aar-
gauischen Notariatsprüfung zu verneinen, vorab damit, dass der Kan-
ton Zug im Unterschied zum Kanton Aargau keine eigenständige
Notariatsprüfung kenne. Ferner umfasse der schriftliche Prüfungsteil
im Kanton Aargau zwei Klausurarbeiten von je vier Stunden und vier
Klausurarbeiten von je zwei Stunden. Sie daure somit insgesamt 16
Stunden, gegenüber lediglich fünf Stunden im Kanton Zug. Auch
wenn die Prüfungsdauer nichts über die Qualität der Prüfung besage,
könne in sechs Klausurarbeiten während insgesamt 16 Stunden eine
bedeutend breitere und tiefere Prüfung stattfinden als während eines
lediglich fünfstündigen Prüfungsteils. Zudem sei gemäss den
Ausführungen der Gesuchstellerin (Beschwerdeführerin) im Kanton
Zug nur eine öffentliche Urkunde abzufassen, während im Kanton
Aargau in sechs Klausurarbeiten mehrere öffentliche Urkunden zu
errichten seien. Dasselbe gelte für den mündlichen Prüfungsteil. Im
Kanton Aargau daure die mündliche Prüfung zwei Stunden. Im Kan-
ton Zug werde während zwei Stunden auch der Stoff des anwalt-
lichen Bereichs geprüft.
5.3.4.
Diesen Überlegungen kann insofern gefolgt werden, als eine
Prüfung grundsätzlich umso anforderungsreicher ist, je länger sie
dauert. Auch leuchtet ein, dass eine Notariats- oder Beurkundungs-
prüfung anspruchsvoller ist, wenn der Kandidat mehrere öffentliche
Urkunden anstelle von lediglich einer abfassen muss. Daher lässt es
sich nicht beanstanden, dass die Vorinstanz die aargauischen und die
zugerischen Prüfungen nicht als gleichwertig taxierte.
Im Hinblick auf mögliche Erleichterungen im Sinne von § 10
Abs. 5 BeurG blendet die Vorinstanz jedoch aus, dass die Beschwer-
2018
Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
322
deführerin eine langjährige Berufspraxis als Notarin mitbringt. Zu
ihren Aufgabegebieten als Urkundsperson/Notarin bei der Einwoh-
nergemeinde B., wo sie seit dem 21. Februar 2012 teilzeitlich tätig
ist, gehört gemäss Zwischenzeugnis vom 29. Juni 2017 die öffentli-
che Beurkundung von Rechtsgeschäften über dingliche und vormerk-
bare persönliche Rechte (Grundstücksgeschäfte), insbesondere Kauf-
verträge, Schenkungen, Erbvorbezüge, Mutationen, Grunddienstbar-
keitsverträge und Begründung von Stockwerkeigentum. Ausserdem
nimmt sie Beurkundungen im Ehe- und Erbrecht vor, insbesondere
das Verschreiben von Testamenten für die handschriftliche Abschrei-
bung durch die Kunden, das Abfassen von Ehe- und/oder Erbverträ-
gen und öffentlichen letztwilligen Verfügungen. Des Weiteren ist sie
mit öffentlichen Beurkundungen im Gesellschaftsrecht (Gründungen,
Sitzverlegungen und Liquidationen) sowie von Vorsorgeaufträgen
und Bürgschaften befasst. Diese Palette deckt den hauptsächlichen
Bereich notarieller Tätigkeiten beinahe vollständig ab. Die eigentli-
che Beurkundungstätigkeit wird gemäss Zwischenzeugnis durch die
Beratung der Parteien und die Anmeldung der Geschäfte beim
Grundbuch- und beim Handelsregisteramt abgerundet. Der Be-
schwerdeführerin wird im Zwischenzeugnis ein sehr fundiertes und
breites Fachwissen in allen Tätigkeitsgebieten attestiert. Es darf so-
mit darauf abgestellt werden, dass sie ohne weiteres in der Lage ist,
die auf sämtlichen Rechtsgebieten vorgeschriebenen öffentlichen Ur-
kunden eigenverantwortlich und qualitativ einwandfrei zu errichten.
Deshalb ist nicht einzusehen, weshalb sie ihre diesbezüglichen
Fähigkeiten mit der gesamten Notariatsprüfung im Kanton Aargau
(neuerlich) unter Beweis stellen muss.
Dies umso weniger, als sie mit dem Bestehen der zugerischen
Anwalts- und Beurkundungsprüfung grundsätzlich bewiesen hat,
dass ihre theoretischen und praktischen Kenntnisse auf dem Gebiet
des Bundesrechts (Bundeszivilrecht [ZGB, OR und Nebenerlasse],
Zivilprozessrecht, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Internatio-
nales Privatrecht) für die Tätigkeit als Anwältin und Urkundsperson
ausreichend sind. Weshalb hier die inhaltlichen Anforderungen res-
pektive der Schwierigkeitsgrad der Anwalts- und Beurkundungsprü-
fung im Kanton Zug wesentlich geringer sein sollten als diejenigen
2018
Anwalts- und Notariatsrecht
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der Notariatsprüfung im Kanton Aargau, ist nicht ersichtlich, zumal
sich der Anwalts- und Notariatsbereich nicht immer strikte trennen
lassen. Die Notariatsprüfung im Kanton Aargau wird zwar auf dem
Gebiet des Bundes(zivil)rechts wegen der deutlich längeren Prü-
fungsdauer spezifischer auf Fragestellungen eingehen können, die
sich primär aus der notariellen und weniger aus der anwaltlichen Tä-
tigkeit ergeben. Solchen Fragestellungen begegnet die Beschwerde-
führerin im Rahmen ihrer Tätigkeit als Amtsnotarin im Kanton Zug
regelmässig. Insofern bewirkt ihre Praxiserfahrung eine gewisse
Kompensation dafür, dass die Prüfungen nicht als gleichwertig ange-
sehen werden. Es spricht nichts dagegen, bei der Gewährung von Er-
leichterungen nach § 10 Abs. 5 BeurG die Praxiserfahrung ähnlich
hoch zu gewichten wie den Befähigungsnachweis anhand eines Exa-
mens. Das liegt durchaus noch im (vom Verwaltungsgericht über-
prüfbaren) Ermessensspielraum, der sich durch den sehr offen for-
mulierten Wortlaut dieser Bestimmung eröffnet.
Nachhol- oder Ergänzungsbedarf mag jedoch für die Beschwer-
deführerin im gesamten Bereich des kantonalen (aargauischen)
Rechts bestehen, also mit Blick auf das EG ZGB, das Beurkundungs-
und Beglaubigungsrecht, die Grundzüge des Verwaltungsrechts und
der Verwaltungsrechtspflege sowie das Abgabenrecht. Sie hat zwar
im Kanton Aargau Praktika absolviert. Diese liegen jedoch schon
einige Jahre zurück.
Insgesamt ist der Entscheid der Notariatskommission, der zuge-
rischen Beurkundungsprüfung (als Teil der dortigen Anwaltsprüfung)
die Gleichwertigkeit mit der aargauischen Notariatsprüfung abzu-
sprechen, zwar nicht zu beanstanden. Einen Anspruch auf Anerken-
nung ihres ausserkantonalen Fähigkeitsausweises als Notarin besitzt
die Beschwerdeführerin demnach nicht. Es sind ihr aber aufgrund
ihrer langjährigen Praxiserfahrung bei der öffentlichen Beurkundung
verschiedenster Rechtsgeschäfte und des Bestehens der zugerischen
Anwalts- und Beurkundungsprüfung gestützt auf § 10 Abs. 5 BeurG
Erleichterungen bei der Notariatsprüfung zu gewähren. Gegenstand
einer ergänzenden Notariatsprüfung im Kanton Aargau kann das ge-
samte für das Beurkundungs- und Beglaubigungswesen relevante
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Obergericht, Abteilung Verwaltungsgericht
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kantonale Recht bilden. Der genaue Prüfungsstoff wird von der Vor-
instanz noch im Detail festzulegen sein.
6.
Zu der von der Beschwerdeführerin zusätzlich verlangten Er-
leichterung beim Praktikum bzw. dem Erlass eines weiteren Prakti-
kums bei einem Grundbuchamt ist Folgendes festzuhalten:
§ 11 Abs. 3 BeurG, wonach aus wichtigen Gründen Erleichte-
rungen beim Praktikum gewährt werden können, ist wiederum so an-
zuwenden, dass dem verfassungsmässigen Gleichbehandlungsgebot
Rechnung getragen wird. Die Vorinstanz erwog, dass die Beschwer-
deführerin mit dem einjährigen Praktikum, welches sie (vor Able-
gung der zugerischen Anwalts- und Beurkundungsprüfung) bei
einem zugerischen Notar absolviert habe, über die gemäss § 8 Abs. 1
BeurV für eine Anerkennung ihres ausserkantonalen Fähigkeitsaus-
weises notwendige spezifische Praxiserfahrung verfüge. Es birgt nun
einen gewissen Widerspruch, wenn sie von der im Anerkennungsver-
fahren als genügend praktisch ausgebildet eingestuften Beschwerde-
führerin im Hinblick auf die Zulassung zur (ergänzenden) Notariats-
prüfung gleichwohl noch ein Praktikum bei einem Grundbuchamt
von mindestens dreimonatiger Dauer verlangt. Dieses Ansinnen lässt
sich nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Einklang bringen.
Es ist kein sachlicher und vernünftiger Grund ersichtlich, bei identi-
scher praktischer Ausbildung in einem anderen Kanton danach zu
unterscheiden, ob ein ausserkantonaler Fähigkeitsausweis als Notarin
oder Notar anerkannt wird oder ob der Inhaber eines ausserkantona-
len Fähigkeitsausweises mangels Gleichwertigkeit der ausserkanto-
nalen Notariatsprüfung noch eine ergänzende Notariatsprüfung im
Kanton Aargau absolvieren muss, und nur im einen, nicht aber im
anderen Fall ein zusätzliches Praktikum im Kanton Aargau zu ver-
langen. Das Defizit der nicht gleichwertigen Notariatsprüfung wird
schon mit der Nachprüfung ausgeglichen. Ein Zusatzpraktikum ist
beim Inhaber eines ausserkantonalen Fähigkeitsausweises, der die
Anerkennungsvoraussetzungen hinsichtlich der praktischen Ausbil-
dung in einem anderen Kanton erfüllt, sachlich nicht zu rechtferti-
gen. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Kanton Aargau diesbezüg-
lich seine eigenen Vorstellungen zur Länge und Ausgestaltung eines
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Praktikums zum Erwerb des aargauischen Notariatspatents durchset-
zen muss, die im Anerkennungsverfahren keine Rolle spielen.
Abgesehen davon würde eine derart rechtsungleiche Praxis
wohl eine fast unüberwindbare Hürde für die interkantonale Freizü-
gigkeit von Urkundspersonen darstellen, weit mehr als dies eine er-
gänzende Notariatsprüfung je zu tun vermöchte. Gestandene, mitten
im Erwerbsleben stehende Notarinnen und Notare mit einem ausser-
kantonalen Fähigkeitsausweis werden sich in den seltensten Fällen
darauf einlassen, sich noch einmal als Praktikant zu verpflichten.
Der vorinstanzliche Entscheid ist auch in diesem Punkt fehler-
haft. Die Beschwerdeführerin ist ohne ein weiteres Praktikum, insbe-
sondere ohne das von der Vorinstanz geforderte mindestens dreimo-
natige Praktikum bei einem Grundbuchamt, zur ergänzenden Nota-
riatsprüfung im Kanton Aargau zuzulassen. | 11,162 | 8,676 | AG_VG_001 | AG_VG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_VG_001_AGVE-2018-33_2018-08-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2018-33.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2018-33.pdf | AGVE_2018_33 | null | nan |