id
stringlengths 36
36
| text
stringlengths 1
1.24M
| language
stringclasses 4
values |
---|---|---|
553f7a7b-fc65-45a9-8ab5-2022cc8acb1c | Sachverhalt
ab Seite 152
BGE 108 IV 152 S. 152
A.-
In Bestätigung eines Urteils des Gerichtspräsidenten VIII von Bern vom 2. März 1982 hat das Obergericht des Kantons Bern (II. Strafkammer) am 17. August 1982 H. wegen eines im Migros-Markt in Hinterkappelen begangenen Diebstahls zu zwölf Tagen Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug verurteilt. Die Probezeit wurde auf 3 Jahre festgesetzt, Schutzaufsicht angeordnet und der Verurteilten die Weisung erteilt, während zwölf vollen Arbeitstagen im Inselspital Bern halb- oder ganztagsweise eine ihr zugeteilte Arbeit zu verrichten.
B.-
Gegen diesen Entscheid führt der Generalprokurator Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei in bezug auf die Weisung aufzuheben. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Das Gesetz gibt dem Richter die Freiheit, jede denkbare Weisung zu erteilen, welche geeignet ist, nach der ratio legis von
Art. 41 StGB
der Resozialisierung zu dienen, und vom Betroffenen nicht mehr als eine zumutbare, verhältnismässige Anstrengung verlangt.
a) Die Weisung kann und darf aber nicht ausschliesslich die Funktion einer Strafe (Ersatz für die aufgeschobene Freiheitsstrafe) haben (vgl.
BGE 94 IV 12
). Auch von der nach dem Verschulden bemessenen Strafe wird eine resozialisierende Wirkung erwartet; doch Spezialprävention durch eigentliche Strafen kann nicht die Aufgabe von Weisungen sein (vgl. SCHULTZ, Allgem. Teil, 2. Band, 3. Aufl., S. 98). Dass einzelne zulässige Weisungen
BGE 108 IV 152 S. 153
- wie etwa das Verbot, ein Motorfahrzeug zu führen oder der Verzicht auf Alkohol - für den Betroffenen einen pönalen Einschlag haben mögen, ist kein Argument gegen die grundsätzliche Schranke des Weisungsrechtes, welche dann überschritten ist, wenn der Richter eine als Ersatz der verwirkten (und aufgeschobenen) Freiheitsstrafe gemeinte, nach dem Verschulden bemessene Leistung anordnet.
b) Im vorliegenden Fall geht es um eine solche "Weisung": Die von der Staatsanwaltschaft angefochtene Verpflichtung, zwölf Tage im Inselspital zu arbeiten, hat mit dem Delikt keinen Zusammenhang und ist auch nicht dazu bestimmt oder geeignet, die Bewährungssituation zu verbessern, sondern es handelt sich um eine dem Sühnebedürfnis der Täterin entsprechende Arbeitsleistung, die sinnvollerweise an Stelle der ausgefällten Freiheitsstrafe treten sollte, aber nach geltendem Recht keine gesetzlich mögliche Sanktion darstellt. Wollte man dem Postulat, dass kurze Freiheitsstrafen durch eine Verpflichtung zur Arbeitsleistung sollten ersetzt werden können, auf dem hier von den kantonalen Instanzen eingeschlagenen Weg durch entsprechende Weisungen beim bedingten Strafvollzug Rechnung tragen, so hätte dies faktisch im Falle der Nichtbewährung eine "doppelte Bestrafung" zur Folge; denn trotz der bereits erbrachten, die Freiheitsstrafe nicht formell, aber der Idee nach ersetzenden Arbeitsleistung müsste bei Nichtbewährung (z.B. bei Begehung neuer Delikte in der Probezeit) die bedingt aufgeschobene Freiheitsstrafe allenfalls doch vollzogen werden.
Die Idee der Verpflichtung zur Arbeitsleistung als Sanktion ist denn auch richtigerweise im Jugendstrafrecht (Art. 87 Abs. 1/95 Ziff. 1 StGB) in der Form einer möglichen "Hauptstrafe" - nicht als Modalität (Auflage) bei bedingtem Strafvollzug - vorgesehen und wird für das Erwachsenenstrafrecht de lege ferenda als möglicher Ersatz kurzer Freiheitsstrafen gefordert (M. BOEHLEN, Ist Strafe unbedingt notwendig? Aarau 1974, S. 59 ff., SCHULTZ, Dreissig Jahre schweiz. StGB, ZStR 88/1972 S. 59/63). Nach geltendem Recht kann jedoch eine Freiheitsstrafe nicht in dieser Weise durch die Verpflichtung zu einer angemessenen Arbeitsleistung abgelöst werden. Die Pflicht zu sühnender Arbeitsleistung ist aber aus den dargelegten Gründen auch nicht ein zulässiger Weisungsinhalt. Die angefochtene Weisung verstösst somit gegen
Art. 41 StGB
und muss aufgehoben werden. Der Beschwerdegegnerin steht es selbstverständlich frei, sich aus eigenem Antrieb
BGE 108 IV 152 S. 154
durch Vermittlung des Schutzaufsichtsorgans für bestimmte Arbeitsleistungen in einem Spital zur Verfügung zu halten. Sie muss aber wissen, dass diese persönliche Sühnehandlung, welche der charakterlichen Reifung und Festigung dienen mag, bei erneutem Versagen während der Bewährungsfrist den Vollzug der bedingten Strafe nicht hindert. | de |
032ddea3-4ae7-4c2c-9e4a-a2f113bebd9f | Erwägungen
ab Seite 145
BGE 84 II 145 S. 145
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat der Richter, der die Scheidung ausspricht, von Bundesrechts wegen zugleich auch die Nebenfolgen zu regeln; höchstens für die güterrechtliche Auseinandersetzung darf er eine Ausnahme machen (
BGE 77 II 18
ff., Urteil vom 6. Juli i.S. Leimgruber,
BGE 80 II 5
ff.). Die in den eben angeführten Entscheiden dargelegten Erwägungen, die das Bundesgericht zu dieser Auffassung führten, gelten in entsprechender Weise auch für den Fall der Trennung. Wie ein Scheidungsurteil muss daher ein auf Trennung lautendes Urteil unter Vorbehalt der güterrechtlichen Auseinandersetzung alle Nebenfolgen ordnen. Dieser Schluss drängt sich um so mehr auf, als es dem Zweck der Trennung, im Verhältnis der Ehegatten eine Beruhigung herbeizuführen, geradeswegs zuwiderliefe, wenn während der Trennungszeit noch über die Nebenfolgen der Trennung prozessiert werden müsste. Auch die güterrechtliche Auseinandersetzung, die nötig wird, wenn nach
Art. 155
BGE 84 II 145 S. 146
ZGB
die Gütertrennung angeordnet wird, ist daher wenn immer möglich im Trennungsurteil zu regeln.
Mit diesen aus dem Bundesrecht sich ergebenden Grundsätzen hat sich die Vorinstanz in Widerspruch gesetzt, indem sie die Trennung aussprach und die Sache zur Regelung aller Nebenfolgen (insbesondere auch der Kinderzuteilung und der damit zusammenhängenden Fragen) an das Bezirksgericht zurückwies. Die Berufungen beider Parteien sind daher in dem Sinne gutzuheissen, dass das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiessen wird. Will diese im Hauptpunkt an ihrer bisherigen Auffassung festhalten oder kommt sie etwa zum Schlusse, dass das Scheidungsbegehren des Klägers begründet sei, so hat sie entweder selber ein die Trennung bezw. Scheidung aussprechendes und zugleich die Nebenfolgen ordnendes Urteil zu erlassen oder (was ihr durch das Bundesrecht nicht verwehrt wird) die Sache zur Ausfällung eines solchen Urteils an das Bezirksgericht zurückzuweisen. | de |
11ff9e2a-2466-4c6a-950a-f51e8aa94be0 | Sachverhalt
ab Seite 342
BGE 98 II 341 S. 342
A.-
René Peretti und Rosa Kalberer heirateten am 19. Mai 1939. Rosa Peretti-Kalberer war zusammen mit ihrer Mutter Marie Kalberer und ihren Brüdern Christian und Emil Kalberer Miteigentümerin mehrerer zum landwirtschaftlichen Betrieb ihres verstorbenen Vaters gehörender Grundstücke. Am 19. August 1939 trat die Mutter ihre Miteigentumsrechte am Heimwesen an die drei Kinder ab, welche die auf den Liegenschaften lastenden Hypothekarschulden gemeinsam übernahmen. Die Eheleute Rosa und René Peretti-Kalberer schlossen hierauf am 3. Februar 1943 mit Christian und Emil Kalberer einen Vertrag, mit welchem sie das Eigentum am ganzen Heimwesen erwarben und sich verpflichteten, für alle darauflastenden Schulden aufzukommen. Am 20. Februar 1958 sahen sich die inzwischen stark verschuldeten Eheleute Peretti-Kalberer gezwungen, zur Finanzierung des ihnen gewährten Nachlassvertrages ihr Heimwesen der Bürgergemeinde Cazis zu verkaufen. Sie liessen sich jedoch ein Rückkaufs- und ein Vorkaufsrecht einräumen, so dass sie, nachdem sie für den Verkauf eines ihrer ehemaligen Grundstücke entschädigt worden waren, sich das Eigentum am landwirtschaftlichen Betrieb wieder verschaffen konnten. Sie sind heute im Grundbuch Cazis als Miteigentümer je zur Hälfte eingetragen.
B.-
Am 14. März 1968 reichte Rosa Peretti-Kalberer die Scheidungsklage ein. Ihr Ehemann verlangte widerklageweise ebenfalls die Scheidung der Ehe. Das Bezirksgericht Heinzenberg sprach in Gutheissung von Klage und Widerklage die Scheidung aus. Die güterrechtliche Auseinandersetzung verbunden mit der Teilung des Miteigentums an den Liegenschaften verwies es jedoch ad separatum, da das Beweismaterial zu wenig Aufschluss gebe, um darüber Recht sprechen zu können.
C.-
Gegen dieses Urteil erklärte der Beklagte die Berufung an das Kantonsgericht. Er beantragte die Vornahme der güterrechtlichen Auseinandersetzung und die Aufteilung des Miteigentums. Im Laufe des Verfahrens zog er die Berufung jedoch zurück, soweit er damit die güterrechtliche Auseinandersetzung verlangt hatte, so dass sie lediglich für die Aufteilung des Miteigentums hängig blieb.
BGE 98 II 341 S. 343
Das Kantonsgericht wies die Berufung am 21. Februar 1972 ab. Der Begründung ist zu entnehmen, prozessrechtlich sei es zulässig, die Klage auf Scheidung mit der Klage auf Teilung des Miteigentums zu verbinden, da für beide Klagen dasselbe Gericht zuständig und dasselbe Verfahren anzuwenden sei. Indessen könne dem Begehren auf Teilung des Miteigentums nicht mehr stattgegeben werden, nachdem die güterrechtliche Auseinandersetzung infolge Rückzugs der Berufung in diesem Punkt in ein separates Verfahren verwiesen worden sei. Denn die güterrechtliche Auseinandersetzung müsse alle ehelichen Güter umfassen, unter denen sich auch die im Miteigentum stehenden Werte befänden, so dass der Antrag auf güterrechtliche Auseinandersetzung das Begehren um Teilung des Miteigentums in sich schliesse. Wohl könne dem Grundsatze nach entschieden werden, welche Miteigentumsquote jeder Partei zustehe und wie die Aufteilung durchzuführen sei; die Zuteilung der Anteile zur freien Verfügung dürfe indessen nicht erfolgen. Dies müsse dem Richter vorbehalten bleiben, der die güterrechtliche Auseinandersetzung vorzunehmen habe, da dieser sonst in seiner Entscheidung über die güterrechtliche Vermögensaufteilung allenfalls nicht mehr frei wäre und namentlich allfällige Ersatzansprüche eines Ehegatten nicht mehr durch die Zuweisung von Liegenschaften abgelten könnte. An einem Entscheid aber, der lediglich die Miteigentumsquote der Ehegatten oder die Aufteilungsart festlegen würde, ohne eine Zuweisung zu frei verfügbarem Eigentum vorzunehmen, fehle dem Beklagten das rechtliche Interesse. Die erste Instanz sei deshalb zu Recht auf den Antrag auf Teilung des Miteigentums nicht eingetreten.
D.-
Peretti hat gegen dieses Urteil Berufung an das Bundesgericht erklärt. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils unter Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Vornahme der Miteigentumsteilung. Zur Begründung beruft er sich auf
Art. 650 ZGB
, wonach jeder Miteigentümer das Recht habe, die Teilung des Miteigentums zu verlangen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
...
2.
Der Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden lässt sich nicht entnehmen, welche Bedeutung der Wendung "wird ad separatum verwiesen" zukommt. Aus den Urteilen der kantonalen Instanzen und aus den Rechtsschriften ist zu schliessen, dass
BGE 98 II 341 S. 344
die kantonalen Gerichte die Parteien mit dieser Wendung auf den Weg einer neuen Klage verweisen wollten. Das Kantonsgericht hat dies auf Anfrage des Bundesgerichtes denn auch bestätigt.
Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist ein solches Vorgehen nicht unbekannt. Das Bundesgericht hat bereits anerkannt, dass der Richter im Scheidungsprozess die güterrechtliche Auseinandersetzung in ein besonderes Verfahren verweisen kann (vgl.
BGE 62 II 167
,
BGE 77 II 22
,
BGE 95 II 66
). Ob allerdings eine mit der Scheidungsklage verlangte Aufteilung des Miteigentums unter den Ehegatten auch in ein besonderes Verfahren verwiesen werden darf, musste es bisher nicht entscheiden.
3.
Das Bundesprivatrecht stellt Bestimmungen über Entstehung, Untergang und Inhalt subjektiver Rechte und der ihnen entsprechenden Pflichten auf. Sollen diese Bestimmungen wirksam sein, so müssen sie sich nötigenfalls mit Zwang durchsetzen lassen. Dies setzt aber voraus, dass diese Rechte vorher hinlänglich festgestellt werden können. Der Ansprecher eines Rechtes muss demnach die Möglichkeit haben, dem Richter die Frage des Bestandes und des Inhaltes seines behaupteten Rechtes zu unterbreiten. Dieser Anspruch entspringt mithin unmittelbar dem Bundeszivilrecht. Welchen formellen Anforderungen eine Klage zu genügen hat, um das Gericht zu Fällung einer Entscheidung in der Sache zu verpflichten, bestimmt sich indessen nach kantonalem Zivilprozessrecht. Der Richter, der sich weigert, eine nach kantonalem Prozessrecht formgerecht eingereichte Klage zu behandeln, verletzt Bundeszivilrecht (vgl. GULDENER, in ZSR 1961, II. Halbbd., S. 25; KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im Schweizerischen Recht, Bern 1954, S. 21).
4.
Nach
Art. 650 Abs. 1 ZGB
hat jeder Miteigentümer das Recht, die Aufhebung des Miteigentums zu verlangen, wenn sie nicht durch ein Rechtsgeschäft, durch Aufteilung zu Stockwerkeigentum oder durch die Bestimmung der Sache für einen dauernden Zweck ausgeschlossen ist. Der Umstand, dass die Miteigentümer Ehegatten sind, vermag deren Anspruch auf Aufhebung weder zu beschränken noch auszuschliessen. Die Ehe der Parteien bildet auch kein Hindernis, diesen Anspruch klageweise geltend zu machen.
Art. 650 Abs. 3 ZGB
schreibt vor, die Aufhebung des Miteigentums dürfe nicht zur Unzeit verlangt werden. Diese Bestimmung
BGE 98 II 341 S. 345
steht einer Aufhebung dann entgegen, wenn eine solche für die übrigen Miteigentümer oder einzelne von ihnen eine übermässige Belastung oder erhebliche Nachteile zur Folge haben müsste (vgl.
BGE 47 II 57
Erw. 2; MEIER-HAYOZ, N. 23 zu
Art. 650 ZGB
). Dabei können jedoch bloss Umstände berücksichtigt werden, die mit dem Teilungsobjekt im Zusammenhang stehen. Die Befürchtungen der Klägerin, der Beklagte könnte bei einer sofortigen Teilung seinen Teil verschleudern und wäre dann im Zeitpunkt der güterrechtlichen Auseinandersetzung ausserstande, ihre Ersatzansprüche zu befriedigen, lässt die sofortige Aufhebung des Miteigentums nicht als unzeitig erscheinen. Die Argumentation der Klägerin vermag überdies auch deshalb nicht zu überzeugen, da der Beklagte schon vor der Aufhebung des Miteigentums über seinen Anteil verfügen kann (vgl.
Art. 646 Abs. 3 ZGB
).
Der Beklagte war infolgedessen berechtigt, die Aufhebung des Miteigentums zu verlangen und die kantonalen Instanzen wären grundsätzlich verpflichtet gewesen, die Klage, die nach ihren Angaben den formellen Anforderungen des kantonalen Zivilprozessrechtes genügt, materiell zu entscheiden.
5.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob es das Bundesrecht dem Richter nicht gestatte, ein mit einer Scheidungsklage erhobenes Begehren um Teilung des Miteigentums unter den Ehegatten in ein besonderes Verfahren zu verweisen.
Nach konstanter Rechtsprechung (
BGE 62 II 167
/168,
BGE 77 II 22
,
BGE 80 II 8
,
BGE 95 II 68
) kann der Richter im Scheidungsprozess das Begehren um güterrechtliche Auseinandersetzung in ein besonderes Verfahren verweisen, sofern das Ergebnis der güterrechtlichen Auseinandersetzung für die Beurteilung der Ansprüche auf Entschädigung oder Unterhalt nicht präjudiziell ist. Durch eine solche Verweisung ad separatum wird das Bundesrecht nicht verletzt. Es ist darin eine Ausnahme vom Grundsatz zu erblicken, nach dem der Richter ein Begehren materiell beurteilen muss, wenn es den prozessrechtlichen Anforderungen genügt und der Kläger an dessen Beurteilung ein berechtigtes Interesse hat. Diese Ausnahme rechtfertigt sich aus Zweckmässigkeitsgründen. Die Ausnahmeregelung erweist sich vor allem dann als nützlich, wenn der Scheidungspunkt umfangreicher Abklärungen bedarf, so dass die Fragen der güterrechtlichen Auseinandersetzung in den Hintergrund gedrängt werden.
Im vorliegenden Fall bedurfte die Scheidungsfrage umfangreicher
BGE 98 II 341 S. 346
Abklärungen. Es wurden keine Ansprüche auf Entschädigung oder Unterhalt geltend gemacht, für die das Ergebnis der güterrechtlichen Auseinandersetzung oder der Aufteilung des Miteigentums präjudiziell wirken könnte. Die Begehren um güterrechtliche Auseinandersetzung und um Teilung des Miteigentums hängen sehr eng zusammen, was der Beklagte durch deren Verbindung vor erster Instanz selbst zum Ausdruck brachte. In der Berufungsschrift deutet er sogar an, dass er allenfalls gewillt wäre, auf die gerichtliche Ausscheidung des Vermögens zu verzichten, falls das Miteigentum geteilt werde. Besteht ein derart enger Zusammenhang zwischen beiden Begehren, dass die Beurteilung des einen das andere hinfällig werden lässt, so muss es dem Richter offen stehen, beide Begehren gleich zu behandeln. Daran vermag der Umstand,dass die Aufhebung des Miteigentums bereits früher als die güterrechtliche Auseinandersetzung hätte verlangt werden können, nichts zu ändern. War es im vorliegenden Scheidungsprozess zulässig, das Begehren um güterrechtliche Auseinandersetzung in ein besonderes Verfahren zu verweisen, so muss dies auch für das Begehren um Teilung des Miteigentums gelten. Die Vorinstanz hat demnach Bundesrecht nicht verletzt, als sie das Begehren um Teilung des Miteigentums in ein besonderes Verfahren verwies. Eine Bundesrechtsverletzung würde hingegen dann vorliegen, wenn sich die Vorinstanz geweigert hätte, das Begehren um Teilung des Miteigentums überhaupt zu beurteilen. Dies ist aber nicht der Fall. Die Verweisung ad separatum galt nur für den Scheidungsprozess. Die Berufung erweist sich somit als unbegründet. | de |
957974b9-30c6-4c52-b4b5-b4844b868e2e | Sachverhalt
ab Seite 354
BGE 129 II 353 S. 354
Der Kinderarzt Dr. A. verabreichte der am 15. Februar 1994 geborenen X. in seiner Praxis am 12. April 1994 und am 8. Juni 1994 jeweils eine DTP-Impfung (Diphtherie/Tetanus/Pertussis) sowie Impfungen gegen Polio (Impfstoff Poloral) und Meningitis (Impfstoff HibTITER). Die Impfungen erfolgten gemäss den Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit korrekt im Alter von zwei und vier Monaten mit landesüblichen Impfstoffen. Im Anschluss an die zweite Impfung beobachtete die Mutter bei ihrem - nach Darstellung des Kinderarztes bis dahin völlig normal entwickelten - Kind zunächst kurze Zuckungen, später krampfartige Zuckungen und Zittern. Nach verschiedenen medizinischen Untersuchungen diagnostizierte das Ostschweizer Kinderspital St. Gallen, Abteilung Neuropädiatrie/EEG, am 8. Oktober 1997 schliesslich einen Entwicklungsrückstand, eine Wahrnehmungsstörung mit autistischen Zügen und eine Epilepsie. Im August/September 1998 bestätigte der zuständige Oberarzt eine schwer einzustellende Epilepsie bei schwerer geistiger Behinderung. Am 26. März 1999 teilte er der Mutter mit, dass bei X. eine 100%ige, dauernde Invalidität vorliege, die voraussichtlich eine lebenslange ständige Betreuung erfordern werde.
Gemäss ärztlichem Privatgutachten von Dr. Peter Mattmann ist die verabreichte Impfung als wahrscheinlichste Ursache für die bei X. ausgebrochene neurologische Krankheit zu betrachten. Mit Klage vom 1. April 1999 beantragte die Mutter von X. deshalb gestützt auf
Art. 23 des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1970 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101)
dem Bezirksgericht St. Gallen, den Kanton St. Gallen zu verpflichten, ihrer Tochter als Schadenersatz einen Betrag von Fr. 1'611'854.- zu bezahlen nebst Zins von 5% auf Fr. 15'231.- seit 1. April 1997.
X. reichte zugleich gegen den behandelnden Kinderarzt, der die in Frage stehenden Impfungen in seiner Privatpraxis vorgenommen
BGE 129 II 353 S. 355
hatte, beim Bezirksgericht See eine Zivilklage ein, mit welcher von diesem Schadenersatz im Betrag von Fr. 1'731'854.- verlangt wird. Das Bezirksgericht beschränkte das Beweisverfahren auf die Abklärung der Haftungsvoraussetzungen und ordnete ein medizinisches Gutachten an. Am 22. Januar 2002 wurde der Gutachter ernannt.
Am 5. Juli 1999 beschränkte der Präsident des Bezirksgerichts St. Gallen das Prozessthema auf die Fragen der Haftung aus kantonalem Verantwortlichkeitsgesetz und der Subsidiarität der Haftung aus Epidemiengesetz. Mit Urteil vom 14. Oktober 1999 wies das Bezirksgericht die Klage ab; nachdem die Klägerin ausdrücklich erklärt hatte, es werde kein Anspruch aus kantonalem Verantwortlichkeitsgesetz geltend gemacht, entschied das Bezirksgericht einzig über den Entschädigungsanspruch nach Art. 23 des Epidemiengesetzes, den es verneinte.
Gegen dieses Urteil wandte sich X. an das Kantonsgericht St. Gallen, welches ihre Berufung am 23. Februar 2001 abwies.
Eine von X. gegen dieses Urteil gerichtete kantonale Nichtigkeitsbeschwerde hiess das Kassationsgericht des Kantons St. Gallen am 23. Oktober 2001 gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurück. Die Gutheissung wurde damit begründet, das Kantonsgericht habe die Tatsache, dass X. an den fraglichen Daten ebenfalls gegen Polio geimpft worden war, seinem Urteil nicht zu Grunde gelegt.
Mit neuem Urteil vom 9. August 2002 wies das Kantonsgericht die Klage wiederum ab.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 12. September 2002 beantragt X. dem Bundesgericht im Hauptantrag, das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 9. August 2002 aufzuheben und den Kanton St. Gallen zu verpflichten, ihr Fr. 1'611'854.- zu bezahlen nebst 5% Zins auf Fr. 15'231.- seit dem 1. April 1997.
Der Kanton St. Gallen beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
Das Kantonsgericht St. Gallen hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Art. 23 EpG
(Marginale: "Impfungen") lautet:
1 Die Kantone haben für die Möglichkeit der kostenlosen Impfung gegen übertragbare Krankheiten, die für die Bevölkerung eine erhebliche
BGE 129 II 353 S. 356
Gefahr bedeuten, zu sorgen. Der Bundesrat bezeichnet diese Krankheiten. Es steht den Kantonen frei, der Bevölkerung im Einvernehmen mit dem Bundesamt für Gesundheitswesen die kostenlose Impfung gegen weitere Krankheiten anzubieten.
2 Die Kantone bestimmen, ob diese Impfungen freiwillig oder obligatorisch sind.
3 Die Kantone leisten bei behördlich angeordneten oder empfohlenen Impfungen Entschädigungen für den Schaden aus Impffolgen, soweit er nicht anderweitig gedeckt wird. Die Ersatzpflicht entfällt ganz oder teilweise, wenn der Geimpfte den Schaden durch grobes Selbstverschulden herbeigeführt oder vergrössert hat.
3.2
Sowohl die Schadenersatzklage als auch der angefochtene Entscheid stützen sich auf
Art. 23 Abs. 3 EpG
. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe diese Bestimmung unzutreffend bzw. willkürlich ausgelegt. In diesem Sinne macht sie zunächst geltend, die Vorinstanz habe den Begriff der "behördlich empfohlenen Impfung" zu eng ausgelegt. Denn
Art. 23 Abs. 3 EpG
beschränke die Haftung des Kantons entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht auf kostenlose Impfungen. Die Impfung könne zudem entweder durch eine kantonale Behörde oder eine Bundesbehörde, wie beispielsweise das Bundesamt für Gesundheit, empfohlen worden sein.
3.3
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungsmomente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben (
BGE 128 V 116
E. 3b S. 118 f. mit Hinweisen).
3.4
Wie sich aus der Botschaft des Bundesrates zum Epidemiengesetz ergibt, stellt
Art. 23 Abs. 3 EpG
eine allgemeine Haftungsbestimmung dar, müssen doch die Kantone eingetretene Impfschäden (Schaden aus Impffolgen) von Bundesrechts wegen "grundsätzlich" entschädigen; diese Verpflichtung ist zwingend (JOST GROSS, Haftung für medizinische Behandlung, Bern 1987, S. 84). Die Entschädigungspflicht besteht sowohl bei obligatorischen als auch bei
BGE 129 II 353 S. 357
freiwilligen von den Behörden empfohlenen Impfungen. Begründet wird dies damit, dass es stossend wäre, einerseits der Bevölkerung Impfungen zu empfehlen und andererseits beim Auftreten eines Impfschadens keine Kosten zu übernehmen (BBl 1970 I 419).
Der Wortlaut von
Art. 23 Abs. 3 EpG
ist an sich klar: Nach ihm umfasst die Entschädigungspflicht sämtliche behördlich empfohlenen Impfungen. Eine Einschränkung der Kantonshaftung auf kostenlose Impfungen kann ihm nicht entnommen werden. Die Begründung der Vorinstanz in ihrem ersten Urteil, auf welches sie im angefochtenen Entscheid verweist, die Haftungsvoraussetzung der Kostenlosigkeit ergebe sich aus Abs. 1 und Abs. 2 der Bestimmung, vermag deshalb nicht auf Anhieb zu überzeugen. Der Hinweis der Vorinstanz auf die kantonale Regelung über kostenlose Impfungen ist insoweit von vornherein untauglich, als die bundesrechtlich vorgeschriebene Haftung nicht durch kantonales Recht aufgehoben werden könnte (
Art. 49 Abs. 1 BV
). Auch die Auffassung, auf Bundesebene könne nur der Bundesrat eine allenfalls entschädigungspflichtige Impfung empfehlen, erscheint zweifelhaft. Denn die Befugnis des Bundesamtes für Gesundheit, entsprechende Impfempfehlungen abzugeben, dürfte sich bereits aus
Art. 3 EpG
ergeben (MARKUS MÜLLER, Zwangsmassnahmen als Instrument der Krankheitsbekämpfung, Basel 1992, S. 64 f.; Bericht der Kommission für Gesundheit und Umwelt zur parlamentarischen Initiative betreffend Verzicht auf die Impfkampagne gegen Masern, Mumps und Röteln, AB 1990 N 1657 f.; vgl.
BGE 118 Ib 473
E. 5c S. 480).
Die Frage kann aber offen bleiben, wenn mit der Vorinstanz davon auszugehen ist, dass die Haftung des Kantons gemäss
Art. 23 Abs. 3 EpG
im Sinne einer so genannten Ausfallhaftung nur subsidiär zum Tragen kommt.
4.
4.1
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe durch die Qualifizierung von
Art. 23 Abs. 3 EpG
als Ausfallhaftung den "Grundsatz der Solidarität (als bundesrechtlicher Fundamentalsatz bzw. gestützt auf
Art. 51 OR
)" verletzt.
4.2
Die Entschädigungspflicht des Kantons für den Schaden aus Impffolgen besteht gemäss
Art. 23 Abs. 3 EpG
, "soweit er nicht anderweitig gedeckt wird". Es handelt sich dabei nicht um eine blosse Billigkeitsdeckung, sondern um eine volle Deckung für Impfschäden, d.h. aller schädlichen Folgen, die mit der Impfung in adäquatem Zusammenhang stehen und nachweisbar den Geimpften getroffen haben (BBl 1970 I 419). Daraus erhellt, dass der Gesetzgeber
BGE 129 II 353 S. 358
mit dieser Regelung eine sozial als nicht vertretbar erscheinende Lücke im System der staatlichen Entschädigungspflicht für rechtmässige Schädigungen des von einer Massnahme der gesundheitspolizeilichen Gefahrenabwehr Betroffenen schliessen wollte (vgl. JOST GROSS, a.a.O., S. 82).
4.3
Auch wenn es sich beim Grundsatz der Solidarität zwischen mehreren Ersatzpflichtigen nach Auffassung der Beschwerdeführerin um einen "ungeschriebenen bundesrechtlichen Fundamentalsatz" handeln sollte, würde dieser nur gelten, sofern keine abweichende spezialgesetzliche Regelung besteht (BALZ GROSS, Die Haftpflicht des Staates, Diss. Zürich 1996, S. 204 f.; vgl.
BGE 94 I 628
E. 3 S. 638 f.; vgl. auch Art. 3 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten [Verantwortlichkeitsgesetz, VG; SR 170.32]). Die Entschädigungspflicht des Kantons für Impfschäden gemäss
Art. 23 Abs. 3 EpG
stellt eine solche - neben der eigentlichen Haftpflicht des Staates - spezialgesetzlich vorgesehene öffentlichrechtliche Haftung für rechtmässige Schädigung dar (BALZ GROSS, a.a.O., S. 43 N. 8), die dem Verantwortlichkeitsrecht von Bund und Kanton vorgeht (JOST GROSS, a.a.O., S. 83; vgl.
BGE 115 II 237
E. 2 S. 242 ff.; vgl. auch OTTO K. KAUFMANN, Das Staatshaftungsrecht in der Schweiz, in: Entwicklungen im Staatshaftungsrecht, hrsg. von Ferdinand O. Kopp, Passau 1982, S. 51).
4.4
Der Wortlaut von
Art. 23 Abs. 3 EpG
ist (auch) in diesem Punkt klar. Mit der Verwendung des Adjektivs "soweit" wird zum Ausdruck gebracht, dass der Kanton nur in dem Umfang haftet, der nach Inanspruchnahme anderer Ersatzpflichtiger, wie z.B. der Krankenversicherung (BBl 1970 I 419) verbleibt. Auch die französische und die italienische Fassung der Bestimmung "si ce risque n'est pas couvert autrement" bzw. "semprechè il rischio no sia altrimenti coperto" setzen voraus, dass allfällige weitere Ersatzpflichtige bereits in Anspruch genommen worden sind. Aus den parlamentarischen Beratungen ergibt sich ebenfalls eine umfangmässige Beschränkung der Ersatzpflicht auf den verbleibenden Schaden "... les cantons doivent indemniser les lésions postvaccinales dans la mesure où le risque n'est pas couvert" (AB 1970 N 577).
4.5
Obwohl
Art. 19 VG
nur eine Entschädigung für widerrechtliche Schädigung erfasst, kann auch auf diese Bestimmung, die ebenfalls eine Ausfallhaftung darstellt (JOST GROSS, Schweizerisches Staatshaftungsrecht, S. 22 und 142), verwiesen werden. Sie regelt die Verantwortlichkeit der mit Aufgaben des Bundes betrauten
BGE 129 II 353 S. 359
besonderen Organisationen und ihres Personals. Auch der frei praktizierende Arzt, der eine behördlich empfohlene Impfung vornimmt, handelt im öffentlichen Interesse und ist in einer vergleichbaren Situation. Gemäss
Art. 19 Abs. 1 lit. a VG
haftet der Bund dem durch die Organisation oder ihr Personal Geschädigten ebenfalls nur für den ungedeckten Betrag.
4.6
Insbesondere kann aber die am 1. Januar 1976 in Kraft getretene Fassung von
Art. 76 Abs. 3 SVG
(vgl. heute Art. 76 Abs. 6) auf Grund ihres ähnlichen Wortlautes für die Auslegung von
Art. 23 Abs. 3 EpG
herangezogen werden: Nach
Art. 76 SVG
entschädigt der Bund nach den Grundsätzen der Halterversicherung Personenschäden sowie Sachschäden, die von unbekannten oder nichtversicherten Motorfahrzeugen verursacht werden. Nach Absatz 3 deckt der Bund dabei jedoch "nur den Teil des Schadens, für den der Geschädigte nicht anderweitig Ersatz beanspruchen kann". Danach tritt die Ersatzpflicht des Bundes erst dann ein, wenn der Betroffene alle anderen Möglichkeiten der Schadensdeckung ausgeschöpft hat. Mit anderen Worten besitzt der Geschädigte solange keinen Anspruch auf Leistungen des Bundes, als eine Entschädigungspflicht Dritter besteht. Die Bundesdeckung ist somit (absolut) subsidiär gegenüber anderen Ersatzpflichtigen (
BGE 106 V 107
E. 2). Das Gleiche gilt sinngemäss für
Art. 23 Abs. 3 EpG
. Denn diese Bestimmung ist ebenfalls ausschliesslich sozial begründet und auch hier bezieht der allenfalls ersatzpflichtige Kanton für seine Leistung keine Prämien, sondern deckt den allfälligen Ausfall aus öffentlichen Mitteln. Als primär leistungspflichtig sind deshalb Versicherungen bzw. Krankenkassen anzusehen, die für die Deckung entsprechender Schadenrisiken Prämien beziehen und mit dem Ersatzpflichtigen in einem Vertragsverhältnis stehen. Dies erklärt auch den bereits erwähnten Hinweis in der Botschaft auf die primäre Schadensdeckung "z.B durch die Krankenversicherung" (BBl 1970 I 419). Dass diese Nennung der Krankenversicherung nicht abschliessend ist, ergibt sich schon aus der eindeutigen Bezeichnung als Beispiel.
4.7
Eine solche einschränkende Auslegung entspricht auch dem zwischen Patient und Arzt bestehenden Auftragsverhältnis (
Art. 394 ff. OR
). Nach diesem hat der Arzt Patienten stets fachgerecht zu behandeln, zum Schutze ihres Lebens oder ihrer Gesundheit die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt aufzuwenden und grundsätzlich für jede Pflichtverletzung einzustehen. Soweit die Möglichkeit negativer Auswirkungen der Behandlung erkennbar ist, muss der Arzt alle Vorkehren treffen, um deren Eintritt
BGE 129 II 353 S. 360
zu verhindern (
BGE 120 II 248
E. 2c). Die Haftung für medizinische Behandlung setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung und ein Verschulden des behandelnden Arztes voraus (JOST GROSS, Haftung für medizinische Behandlung, S. 143 und 159; vgl.
BGE 120 II 248
E. 2c). Die hohen Anforderungen, die an die ärztliche Sorgfaltspflicht gestellt werden, rechtfertigen es nun aber, zunächst festzustellen, ob ein allfälliger Impfschaden nicht auf einen (rechtswidrigen) ärztlichen Behandlungsfehler zurückzuführen ist, für welchen im Übrigen in der Regel wiederum eine durch Prämien finanzierte Versicherung (Berufshaftpflichtversicherung des Arztes) aufkommt.
4.8
Für die Auslegung von Bedeutung ist schliesslich der Umstand, dass
Art. 23 Abs. 3 EpG
den Kantonen eine Entschädigungspflicht für rechtmässiges Handeln auferlegt. Eine solche fällt immer nur "zuallerletzt in Betracht" (vgl.
BGE 118 Ib 473
E. 6b S. 482). Da die in Frage stehenden Impfungen gemäss einem Impfplan des Bundesamtes für Gesundheit verabreicht worden sind, trifft die Entschädigungspflicht für Impffolgen im vorliegenden Fall zudem einen Kanton, dessen Behörden selber keine allenfalls schädigenden bzw. eingreifenden Handlungen vorgenommen haben. Er hätte demnach für eine Gefahr einzustehen, die er nicht selber geschaffen hat. Dies legt von vornherein eine zurückhaltende Annahme einer kantonalen Entschädigungspflicht nahe. Im Übrigen erhält der Kanton für solche Leistungen heute keine Bundesbeiträge gemäss
Art. 32 Abs. 1 EpG
mehr (vgl. BBl 1981 III 799).
4.9
Mit der im angefochtenen Urteil vorgenommenen Auslegung, bei
Art. 23 Abs. 3 EpG
handle es sich um eine Ausfalldeckung, die erst in Betracht falle, wenn keine ausreichende Deckung von primär Ersatzpflichtigen erlangt werden könne, hat die Vorinstanz somit kein Bundesrecht verletzt. | de |
3ed0900b-d1d7-4a83-81d2-fd94b15c378d | Sachverhalt
ab Seite 18
BGE 137 II 17 S. 18
A.
Mit Ergänzungsabrechnung vom 12. Juni 1996 schätzte die Eidgenössische Steuerverwaltung X. nach pflichtgemässem Ermessen ein und forderte für die Abrechnungsperiode vom 1. Juli 1995 bis 31. Dezember 1995 Mehrwertsteuern im Betrag von Fr. 20'000.- nebst Verzugszinsen nach. Für die Abrechnungsperiode vom 1. Januar 1996 bis zum 18. November 1996 deklarierte der Steuerpflichtige mit eigener Abrechnung Mehrwertsteuern von Fr. 19'398.55.
Am 18. November 1996 wurde über X. der Konkurs eröffnet. Nach durchgeführtem Konkurs erhielt die Eidgenössische Steuerverwaltung einen Verlustschein vom 26. Mai 1999 über Fr. 56'489.70 (umfassend u.a. die beiden Mehrwertsteuerforderungen nebst Zins bis Konkurseröffnung). Gestützt auf diesen leitete die Eidgenössische Steuerverwaltung mit Zahlungsbefehl vom 28. November 2005 die Betreibung gegen den Steuerpflichtigen ein. Dieser erhob (...) dagegen Rechtsvorschlag mit der Einrede des mangelnden neuen Vermögens. Mit Urteil vom 22. Februar 2006 bewilligte das Gerichtspräsidium Zofingen den Rechtsvorschlag nicht, worauf die Eidgenössische Steuerverwaltung (...) den Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl im Umfang von insgesamt Fr. 40'328.- (Mehrwertsteuer 1. Juli 1995 bis 18. November 1996 nebst Zinsen) aufhob. Mit Einspracheentscheid vom 7. Dezember 2006 bestätigte sie die ihr von X. geschuldete Mehrwertsteuer.
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Februar 2010 ab.
B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X. dem Bundesgericht u.a., das (...) Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben und festzustellen, dass die Mehrwertsteuerforderungen verjährt seien. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Am 1. Januar 2010 trat das Mehrwertsteuergesetz vom 12. Juni 2009 (MWSTG; SR 641.20) in Kraft. Der vorliegende Sachverhalt ereignete sich noch unter der Geltung der Verordnung vom 22. Juni 1994 über die Mehrwertsteuer (MWSTV; AS 1994 1464), die somit
BGE 137 II 17 S. 19
noch anwendbar ist (Art. 93 und 94 aMWSTG; AS 2000 1300). Dies gilt auch für die hier streitige materiell-rechtliche Frage der Verjährung (
Art. 112 Abs. 1 MWSTG
i.V.m. Art. 93 aMWSTG; vgl. dazu
BGE 126 II 1
E. 2a mit Hinweisen).
1.2
Am 1. Januar 1997 trat das revidierte Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG; SR 281.1; AS 1995 1307) in Kraft. Der Konkurs über den Beschwerdeführer wurde zwar noch unter der Geltung des alten Rechts eröffnet. Massgebend ist im vorliegenden Fall indessen die Ausstellung des Verlustscheines, welche nach Inkrafttreten des neuen Rechts erfolgte, sodass sich kein übergangsrechtliches Problem stellt (Art. 2 Abs. 2 der Schlussbestimmungen der Änderungen vom 16. Dezember 1994 SchKG). Im Zusammenhang mit dem am 26. Mai 1999 ausgestellten Verlustschein ist daher
Art. 149a Abs. 1 SchKG
anwendbar.
2.
2.1
Streitig ist im vorliegenden Fall einzig, ob bezüglich der in Frage stehenden Mehrwertsteuerforderung, für die ein Verlustschein ausgestellt worden ist, die (relative) fünfjährige Verjährungsfrist für Mehrwertsteuerforderungen gemäss
Art. 40 Abs. 1 MWSTV
(ebenso Art. 49 Abs. 1 aMWSTG) zur Anwendung gelangt oder die zwanzigjährige Verjährungsfrist gemäss
Art. 149a Abs. 1 SchKG
.
Gemäss
Art. 40 Abs. 1 MWSTV
verjährt die Steuerforderung fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden ist. Die Verjährung wird durch jede Einforderungshandlung und durch jede Berichtigung durch die zuständige Behörde unterbrochen (Abs. 2).
Nach
Art. 149a Abs. 1 SchKG
verjährt die durch den Verlustschein verurkundete Forderung 20 Jahre nach der Ausstellung des Verlustscheines.
2.2
Nach unbestrittener Darstellung der Vorinstanz hat die Eidgenössische Steuerverwaltung erst mehr als fünf Jahre nach der Ausstellung des Verlustscheins vom 26. Mai 1999 gestützt auf diesen die Betreibung der Mehrwertsteuerforderung eingeleitet. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie auch keine Handlungen vorgenommen, welche geeignet gewesen wären, eine allfällige Verjährung zu unterbrechen.
2.3
Art. 40 MWSTV
enthielt - wie damals im übrigen Bundessteuerrecht üblich - lediglich eine relative Verjährungsfrist; auf die Aufnahme einer absoluten Frist wurde - wie schon zuvor im
BGE 137 II 17 S. 20
Warenumsatzsteuerrecht (
Art. 28 WUStB
; DIETER METZGER, Handbuch der Warenumsatzsteuer, 1983, N. 877; WILHELM WELLAUER, Die Eidgenössische Warenumsatzsteuer, 1959, N. 868) - bewusst verzichtet; es gab daher keine absolute Verjährung der Steuerforderung (Kommentar des Eidgenössischen Finanzdepartements zur Verordnung über die Mehrwertsteuer vom 22. Juni 1994, S. 39). Wurde die Selbstveranlagung durch den Steuerpflichtigen nicht seitens der Steuerverwaltung berichtigt oder die mit Ergänzungsabrechnung vorgenommene Steuernachforderung vom Steuerpflichtigen nicht bestritten, war die Veranlagung nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist somit unanfechtbar (vgl. DIETER METZGER, a.a.O., N. 891). Diese Verjährungsregelung ist von Art. 128 WStB bzw.
Art. 128 BdBSt
übernommen worden (HANS HEROLD, Praxis des Umsatzsteuerrechts, 1983, N. 1 zu
Art. 28 WUStB
), wobei es sich unbestrittenermassen um eine Veranlagungs- oder Festsetzungsverjährung - d.h. um eine Frist, innert welcher eine Veranlagung vorzunehmen bzw. der Steueranspruch festzustellen ist - und nicht um eine Bezugs- oder Vollstreckungsverjährung handelt (vgl.
BGE 126 II 1
; Urteil 2A.293/2001 vom 21. Mai 2002 E. 4b, mit Hinweisen auf die Lehre). Es ist somit davon auszugehen, dass diese Frist zwar für die Festsetzung der Steuer, hingegen nicht für den Steuerbezug gilt.
Eine absolute Verjährungsfrist - von 15 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die Steuerforderung entstanden ist - wurde erst mit dem Bundesgesetz über die Mehrwertsteuer vom 2. September 1999 (aMWSTG), welches am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, eingeführt (Art. 49 Abs. 4).
2.4
Bei der Mehrwertsteuer als Selbstveranlagungssteuer entsteht die Steuerforderung bei Lieferungen und Dienstleistungen von Gesetzes wegen - d.h. unabhängig davon, ob die steuerpflichtige Person rechtzeitig und richtig abrechnet - im Normalfall bereits mit der Rechnungstellung, ausnahmsweise mit der Vereinnahmung des Entgelts (
Art. 34 lit. a MWSTV
[SR 641.201]). Eine eigentliche Veranlagung, wie sie bei den direkten Steuern zwingend erforderlich ist, findet nicht statt. Die Steuerverwaltung kann die unaufgefordert einzureichende Steuerabrechnung des Steuerpflichtigen entweder akzeptieren oder - wenn dieser die zu entrichtende Steuer nicht richtig berechnet - seine fehlerhafte Abrechnung korrigieren und die so ermittelte Steuernachforderung in Form einer Ergänzungsabrechnung geltend machen. In den Fällen ohne Anfechtung erwächst die Mehrwertsteuer zwar nicht in formelle Rechtskraft, sie kann
BGE 137 II 17 S. 21
jedoch nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist weder durch die Steuerverwaltung noch durch den Steuerpflichtigen korrigiert werden (Urteil 2A.121/2004 vom 16. März 2005 E. 5.3); sie wird damit inhaltlich unabänderlich und in diesem Sinn materiell rechtskräftig (IVO P. BAUMGARTNER UND ANDERE, Vom alten zum neuen Mehrwertsteuergesetz, 2010, § 8 N. 40).
Der Beschwerdeführer bestreitet die von ihm gemäss Selbstdeklaration bzw. Ergänzungsabrechnung geschuldeten Mehrwertsteuern nicht. Da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschwerdeführer die Ergänzungsabrechnung bestritten hat, ist davon auszugehen, dass beide Veranlagungen in Bezug auf die geschuldeten Steuerbeträge unangefochten geblieben sind. Das Steuerfestsetzungsverfahren war somit mit der Selbstdeklaration bzw. der Ergänzungsabrechnung abgeschlossen und die geschuldeten Mehrwertsteuern betragsmässig festgelegt.
2.5
Die Ausstellung eines Verlustscheins lässt die ursprüngliche Forderung zwar grundsätzlich bestehen. Neben den betreibungsrechtlichen Folgen bewirkt der Verlustschein aber, dass die Forderung nunmehr nach den betreibungsrechtlichen Bestimmungen verjährt. Bis zum 1. Januar 1997 waren Verlustscheinforderungen gemäss
Art. 149 Abs. 5 SchKG
unverjährbar (
BGE 102 Ia 363
E. 2a mit Hinweis), während sie nunmehr der zwanzigjährigen Verjährungsfrist gemäss
Art. 149a Abs. 1 SchKG
unterliegen (Urteile 5P.434/2005 vom 21. März 2006 E. 2.3 und 4P.126/2003 vom 25. August 2003 E. 2.3; AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 8. Aufl. 2008, § 31 N. 18 und 24 f.).
2.6
Die Bestimmungen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs sind entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers grundsätzlich auch auf öffentlich-rechtliche Geldforderungen wie namentlich Steuern und Abgaben anwendbar (
BGE 115 III 1
E. 3).
Für die direkten Steuern ist denn auch anerkannt, dass mit der Ausstellung eines Verlustscheines für die darin verurkundete Steuerforderung eine neue Verjährungsfrist gemäss
Art. 149a Abs. 1 SchKG
von 20 Jahren zu laufen beginnt(ZWEIFEL/CASANOVA, Schweizerisches Steuerverfahrensrecht, direkte Steuern, 2008, § 29 N. 54; PETER AGNER UND ANDERE, Kommentar zum Gesetz über die direkte Bundessteuer, Ergänzungsband, 2000, N. 2a zu
Art. 121 DBG
, sowie
dieselben
, Kommentar zum Gesetz über die direkte Bundessteuer, 1995, N. 2 zu
Art. 121 DBG
).
BGE 137 II 17 S. 22
Auch der Bundesrat weist in seiner Botschaft vom 25. Juni 2008 zur Vereinfachung der Mehrwertsteuer denn darauf hin, dass sich - obwohl der Entwurf neu ausdrücklich eine absolute Bezugsverjährungsfrist von zehn Jahren vorsehe - für Steuerforderungen, für die ein Verlustschein bestehe, die Verjährung - "wie bei allen anderen Forderungen auch" - nach
Art. 149a SchKG
richte (BBl 2008 7012). Die entsprechende Bestimmung des Entwurfes ist nunmehr als
Art. 91 Abs. 5 und 6 MWSTG
am 1. Januar 2010 in Kraft getreten.
2.7
Das Mehrwertsteuerrecht selbst regelt die Vollstreckung von Forderungen ebenso wenig wie das Zivilrecht. Hierfür kommt grundsätzlich das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht zur Anwendung (
Art. 38 SchKG
). Wenn aber die Forderungen gemäss diesem Erlass zwangsvollstreckt werden, müssen auch dessen Vorschriften - einschliesslich der Verjährungsnorm von
Art. 149a Abs. 1 SchKG
- zur Anwendung gelangen. Die Vorinstanz verweist denn auch zu Recht darauf, dass bei zivilrechtlichen Forderungen die allgemeinen Verjährungsregeln des Obligationenrechts gegenüber jenen des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts zurücktreten müssen, weil es sich bei Forderungen, für welche ein Verlustschein ausgestellt wurde, um eine besondere Art von Forderungen handle. Der Gesetzgeber habe für solche eine längere als die zivilrechtlich nach Obligationenrecht geltende Verjährungsfrist gewähren wollen (vgl. BBl 1991 III 104).
Dem entspricht, dass das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) ausdrücklich festlegt, dass für die Vollstreckung von Beitragsforderungen aArt. 149 Abs. 5 SchKG nicht anwendbar sei (
Art. 16 Abs. 2 AHVG
), was ebenfalls für den neuen
Art. 149a Abs. 1 SchKG
gilt (vgl. dazu CARL JAEGER, Das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 2006, N. 7 zu
Art. 149a SchKG
). Die Vorinstanz schliesst denn auch aus dieser Bestimmung zutreffend, dass Mehrwertsteuerforderungen gerade nicht von
Art. 149a Abs. 1 SchKG
ausgenommen sind, da dies im Mehrwertsteuerrecht nirgends vorgesehen ist.
2.8
Die Folgerung der Vorinstanz, in Bezug auf Mehrwertsteuerforderungen, für welche ein Verlustschein ausgestellt wurde, gelte die Verjährungsfrist von
Art. 149a Abs. 1 SchKG
und nicht jene von
Art. 40 Abs. 1 MWSTV
- weshalb die Mehrwertsteuerforderung der
BGE 137 II 17 S. 23
Eidgenössischen Steuerverwaltung gegen den Beschwerdeführer nicht verjährt sei, weil die zwanzigjährige Verjährungsfrist gemäss
Art. 149a Abs. 1 SchKG
erst mit Ausstellung des Verlustscheins zu laufen begonnen habe - verletzt demnach kein Bundesrecht. | de |
2b735692-48b1-44bc-a56f-1ce73d3859b2 | Sachverhalt
ab Seite 473
BGE 99 Ia 473 S. 473
A.-
Die politische Gemeinde Horgen will im Gebiet der Allmend eine Schulhausanlage mit 40 Klassenzimmern und Nebeneinrichtungen erstellen. Sie beansprucht dafür einen Teil des Grundstücks Kat. Nr. 7349, welches der Allmend-Korporation Horgen, einer dem kantonalen öffentlichen Recht unterstehenden privatrechtlichen Körperschaft, gehört. Die Allmend-Korporation ist bereit, der Gemeinde ein Baurecht einzuräumen, weigert sich jedoch, das volle Eigentum am Land abzutreten.
Am 30. Dezember 1971 wies der Regierungsrat des Kantons Zürich in zweiter Instanz die von der Allmend-Korporation Horgen gegen das Enteignungsgesuch erhobene Einsprache ab und erteilte der Gemeinde Horgen das Enteignungsrecht für den Erwerb von ca. 34'000 m2 Land im südlichen Teil des
BGE 99 Ia 473 S. 474
genannten Grundstückes. Die Allmend-Korporation Horgen gelangte hiergegen an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, das die Beschwerde am 23. Juni 1972 abwies. Das Verwaltungsgericht fand, dass die Erstellung einer Schulhausanlage im Baurecht mit Nachteilen verbunden sei, die dem öffentlichen Interesse zuwiderliefen und von keinem besonders gewichtigen Privatinteresse an einer solchen rechtlichen Lösung überwogen würden. Die Erteilung des vollen Enteignungsrechts stelle deshalb keinen unverhältnismässigen Eingriff in die Eigentumsrechte der Allmend-Korporation Horgen dar.
B.-
Die Allmend-Korporation Horgen (im folgenden kurz "Allmend-Korporation" genannt) führt gegen diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Juni 1972 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Eigentumsgarantie (
Art. 22ter BV
) und
Art. 4 BV . Es wird beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und das Enteignungsrecht auf die Einräumung eines Baurechts zu beschränken. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich, soweit nötig, aus den nachstehenden Erwägungen.
C.-
Die politische Gemeinde Horgen, vertreten durch die Schulpflege, und das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Kassatorische Natur der staatsrechtlichen Beschwerde).
2.
a) Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung der Eigentumsgarantie geltend und beruft sich dabei auf
Art. 22ter BV
und Art. 4 der Zürcher KV. Die kantonale Verfassungsbestimmung hat jedoch neben der in
Art. 22ter BV
enthaltenen Gewährleistung des Eigentums keine selbständige Bedeutung, da sie keinen darüber hinausgehenden Schutz verleiht (
BGE 96 I 355
Erw. 2). Zu prüfen ist daher bloss, ob der angefochtene Entscheid gegen
Art. 22ter BV
verstösst.
b) Dem Verwaltungsgericht wird auch eine Verletzung von
Art. 4 BV
vorgeworfen. Soweit dabei eine willkürliche Anwendung der für öffentliche Eigentumsbeschränkungen geltenden Grundsätze behauptet wird, deckt sich die Rüge mit derjenigen der Verletzung der Eigentumsgarantie und hat neben dieser keine selbständige Bedeutung. Auf den weiteren Vorwurf, das Verwaltungsgericht habe der Beschwerdeführerin das rechtliche Gehör verweigert, ist nicht einzutreten, sofern damit eine formelle
BGE 99 Ia 473 S. 475
Rechtsverweigerung gemeint ist. Denn nach § 67 des zürcherischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 24. Mai 1959 (VRG) kann man sich dagegen auf dem Wege der Revision wenden. Von diesem kantonalen Rechtsbehelf hat die Beschwerdeführerin keine Gebrauch gemacht, weshalb es für die staatsrechtliche Beschwerde am Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs fehlt (
Art. 87 OG
). In der Beanstandung, das Verwaltungsgericht habe einen von der Beschwerdeführerin beantragten Bericht über die im Baurecht erstellten Verwaltungsgebäude nicht eingeholt, ist nach der Beschwerdebegründung jedoch eher der Vorwurf einer materiellen Rechtsverweigerung wegen unzureichender Abklärung der tatsächlichen Verhältnisse zu sehen. In diesem Sinne bezieht sich die Rüge auf die unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsgarantie zu beurteilende Frage, ob eine Beschränkung der Enteignung auf eine Baurechtsdienstbarkeit im öffentlichen Interesse steht.
3.
Die Allmend-Korporation anerkennt das Bedürfnis der Gemeinde nach einem neuen Schulhaus und wendet sich auch nicht gegen die Wahl des Standortes und das Ausmass der beanspruchten Fläche. Sie macht einzig geltend, das Schulhaus lasse sich ohne weiteres im Baurecht erstellen, weshalb die volle Enteignung ihres Bodens einen unverhältnismässigen und daher verfassungswidrigen Eingriff darstelle. Damit wird das öffentliche Interesse an der Beanspruchung des vollen Eigentums am Boden bestritten, und zwar in dem Sinne, dass dies weder notwendig noch verhältnismässig sei. Wie es sich damit verhält, prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei (
BGE 97 I 796
Erw. 4, 648, je mit Verweisungen).
4.
Eine Enteignung darf nur so weit gehen, als dies zur Erreichung des im öffentlichen Interesse liegenden Zweckes notwendig ist. Dieses Prinzip der Verhältnismässigkeit des staatlichen Eingriffes ergibt sich unmittelbar aus
Art. 22ter BV
und ist in § 7 Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes betreffend die Abtretung von Privatrechten vom 30. November 1879 (AbtrG) ausdrücklich festgehalten, wonach grundsätzlich niemand verpflichtet ist, von seinem Eigentum mehr abzutreten, als zur Ausführung und zweckmässigen Benutzung des zu erstellenden Werkes erforderlich ist. Das bedeutet, dass nicht das volle Eigentum entzogen werden darf, wenn sich der öffentliche Zweck auch mit einer privatrechtlichen Dienstbarkeit oder einer
BGE 99 Ia 473 S. 476
öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkung erreichen lässt (Urteil des Bundesgerichts vom 12. Juli 1971 i.S. G., Erw. 3, in ZBl 73/1972 S. 19; IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 4. unver. Aufl., Basel 1971, Nr. 342 III c, 433 II c; GRISEL, Droit administratif suisse, Neuchâtel 1970, S. 369; OSKAR BOSSHARDT, Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Enteignungsrecht, ZBl 65/1964 S. 399; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes,
Art. 1 N 5
).
a) Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts sind bei der Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips im konkreten Fall die Interessen des Grundeigentümers an der Erhaltung des Resteigentums dem Interesse des Enteigners am vollen Eigentumserwerb gegenüberzustellen. Das öffentliche Interesse verlange klare Verhältnisse. Wenn der Wert des Hauses offenbar den des Bodens übersteige, so solle keine Spaltung des Eigentums an Bau und Boden eintreten; entsprechend dem in
Art. 673 ZGB
niedergelegten allgemeinen Rechtsgedanken solle vielmehr der Boden als der weniger wertvolle Teil ins Eigentum des Bauherrn überführt werden. Das Baurecht nach
Art. 675 und 779 - 779 1
ZGB habe trotz der weitgehenden Befugnisse des Bauberechtigten gegenüber dem vollen Eigentum den Nachteil, dass es zeitlich befristet sei. Das Gemeinwesen müsste sich demzufolge nach Ablauf der Baurechtsdauer ein neues Baurecht einräumen lassen (
Art. 779 1
Abs. 2 ZGB) und hiefür nötigenfalls wiederum den Enteignungsweg beschreiten. Auf der andern Seite verbleibe dem Grundeigentümer, auf dessen Boden ein Schulhaus im Baurecht erstellt werde, nur die "nuda proprietas", wobei er nicht damit rechnen könne, dass die Dienstbarkeit je wieder wegfalle. Sein Interesse an der Erhaltung des Grundeigentums beschränke sich somit im wesentlichen auf die Sicherung der Grundrente. Gegenüber diesem Privatinteresse überwiege das öffentliche Interesse, ein dem öffentlichen Wohle dienendes Werk ohne die mit dem Baurecht verbundenen Hemmnisse und administrativen Mehraufwendungen erstellen zu können. Die Beschwerdeführerin bestreitet die vom Verwaltungsgericht angeführten Nachteile für das Gemeinwesen und ist der Ansicht, dass sich der Zweck zumindest ebensogut erreichen lasse, wenn das Schulhaus im Baurecht erstellt werde. Die von der Gemeinde verlangte volle Enteignung des für das Werk benötigten Bodens gehe daher über das unbedingt Notwendige hinaus und stelle angesichts
BGE 99 Ia 473 S. 477
der von der Verfassung gebotenen restriktiven Handhabung öffentlicher staatlicher Eigentumsbeschränkungen einen unverhältnismässigen Eingriff dar. Ob die volle Enteignung oder nur die Einräumung eines Baurechts zulässig sei, entscheide sich einzig darnach, was zur Erreichung des öffentlichen Zweckes notwendig sei und dürfe nicht aufgrund einer Interessenabwägung zwischen Grundeigentümer und Gemeinwesen beurteilt werden.
b) Seit jeher hat in Praxis und Lehre die Beanspruchung von privatem Boden für den Bau einer Schulhausanlage zu den typischen Fällen gehört, in denen die volle Enteignung zulässig ist. Die Beschwerdeführerin glaubt jedoch, dass sich angesichts der zunehmenden Bodenverknappung und insbesondere auch mit Rücksicht auf die Bedeutung, die das Rechtsinstitut des Baurechts seit seiner Neugestaltung im Jahre 1965 gewonnen hat (
Art. 779 - 779 1
ZGB), eine andere Betrachtungsweise aufdränge. Auch wenn eine solche Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bei der Abwägung der in Frage stehenden öffentlichen und privaten Interessen zu berücksichtigen ist, so führt dies jedoch nicht zu einer solchen Gewichtsverlagerung, dass nunmehr in der vollen Enteignung grundsätzlich ein unverhältnismässiger Eingriff ins Privateigentum zu erblicken wäre. Wie im folgenden dargetan wird, ist die Erstellung einer Schulhausanlage im Baurecht mit Nachteilen verbunden, die dem Gemeinwesen nur dann zuzumuten wären, wenn ein besonders schützenswertes Interesse des Grundeigentümers an der ihm verbleibenden Verfügungsmöglichkeit vorangestellt werden müsste.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts fordert das öffentliche Interesse an einem Werk unter anderem auch, dass dieses auf möglichst zweckmässige Weise erstellt wird. Das gilt nicht nur in technischer Hinsicht, sondern es müssen auch die rechtlichen Belange so ausgestaltet sein, dass das Gemeinwesen nicht mit unverhältnismässigen Lasten und Kosten beschwert wird (
BGE 90 I 331
; Urteil des Bundesgerichts vom 12. Juli 1971 i.S. G., Erw. 3 c, in ZBl 73/1972 S. 20). Der Grundsatz der Notwendigkeit des Eingriffs bedeutet somit entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht, dass nur gerade der Eingriff ins Eigentum zulässig sei, der zur Verwirklichung des öffentlichen Werkes unbedingt notwendig ist, sondern es ist der zur zweckmässigen Realisierung des Werkes erforderliche
BGE 99 Ia 473 S. 478
Eingriff zulässig. Eine Missachtung der gebotenen restriktiven Handhabung staatlicher Eigentumsbeschränkungen liegt darin nicht. Das Prinzip der Verhältnismässigkeit erschöpft sich jedoch nicht in dem Erfordernis, dass der Eingriff in die Eigentumsrechte zur Erreichung des verfolgten Zwecks notwendig sein muss, sondern verlangt auch eine Abwägung der im konkreten Fall einander entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen. Je gewichtiger das öffentliche Interesse an einer Eigentumsbeschränkung ist, desto mehr tritt das private Interesse an der Erhaltung des Grundeigentums in den Hintergrund. Eine solche Interessenabwägung hat das Bundesgericht stets vorgenommen (das genannte Urteil vom 12. Juli 1971 in ZBl 73/1972 S. 20;
BGE 97 I 647
Erw. 5, 799,
BGE 93 I 250
Erw. 3; BOSSHARDT a.a.O. S. 399). Die Behauptung der Beschwerdeführerin, es sei einzig auf den Gesichtspunkt der Notwendigkeit des Eingriffs abzustellen und eine Interessenabwägung zwischen Gemeinwesen und Privatem dürfe nicht erfolgen, geht fehl und kann denn auch nicht näher dargetan werden.
c) Wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Entscheid zutreffend ausführt, enthält die Baurechtsdienstbarkeit alle zivilrechtlichen Befugnisse, deren das Gemeinwesen bedarf, um eine Verwaltungsbaute, wie z.B. ein Schulhaus, zu erstellen und zu betreiben; Inhalt und Umfang des Baurechts können so umschrieben werden, dass der Bau im Laufe der Jahre wenn nötig erneuert und erweitert werden kann. Das Baurecht gewährleistet auch den Fortbestand dieser Befugnisse, sofern ihm keine Grundpfandrechte im Range vorgehen und damit die Gefahr einer vorzeitigen Löschung des Baurechts ausgeschaltet ist (vgl. die Botschaft des Bundesrates zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung der Vorschriften betreffend das Baurecht und den Grundstückverkehr vom 9. April 1963, BBl 1963 I 993; Komm. HAAB zum ZGB
Art. 675 N 3
; MEIER-HAYOZ, Komm. zum ZGB,
Art. 675 N 14
). Das Baurecht kann jedoch als selbständiges Recht auf höchstens hundert Jahre begründet werden (
Art. 779 1
Abs. 1 ZGB), und mit seinem Ablauf fallen die Bauwerke dem Grundeigentümer heim (
Art. 779 c ZGB
). Die öffentlichen Bedürfnisse, denen das Gemeinwesen auf dem Gebiet der Schule zu genügen hat, sind dagegen zeitlich nicht begrenzt. Gerade eine Schulhausanlage wie die hier in Frage stehende wird auf Dauer angelegt,
BGE 99 Ia 473 S. 479
und der dafür beanspruchte Boden wird durch das Werk voll ausgenützt. Der Wert des Baues übersteigt denn auch, wie in der Beschwerde gleichfalls nicht bestritten wird, den Wert des Bodens. Die Gemeinde müsste somit das Baurecht nach seinem Ablauf verlängern und dafür allenfalls wiederum den Enteignungsweg beschreiten (
Art. 779 1
Abs. 2 ZGB). Unter diesen Umständen aber ist die Abtretung einer blossen Baurechtsdienstbarkeit statt des vollen Eigentums am Boden mit Umtrieben und Mehraufwendungen verbunden, die mit dem Gebot einer rationellen Verwaltung nicht zu vereinbaren sind und damit dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen. Zudem widerspricht insbesondere das mit dem Baurecht verbundene Abrechnungsverhältnis zwischen der Gemeinde und dem Grundeigentümer den geltenden Prinzipien über die Finanzrechnung, wonach gerade die Ausgaben für Schulhäuser typische ausserordentliche Ausgaben sind, die nicht jährlich wiederkehren (§ 13 der zürcherischen Verordnung über das Rechnungswesen der Gemeinden vom 11. November 1926). Das Baurecht auf lange Dauer kommt zudem wesentlich teurer zu stehen. Erfahrungsgemäss erreicht die Summe der jährlich zu leistenden Baurechtszinse bereits nach etwa zwanzig Jahren den vollen Verkehrswert des Landes; nach dem von der Beschwerdeführerin verlangten Baurechtszins aufgrund des halben Bodenpreises würde der heute für die volle Entschädigung zu leistende Betrag in etwa vierzig Jahren erreicht. Auch ist es üblich, den Baurechtszins an die veränderten Bodenwertverhältnisse anzupassen, und jedenfalls wäre er spätestens bei der Verlängerung des Baurechts aufgrund der dannzumal geltenden Bodenpreise neu festzusetzen (vgl. VICTOR MÜLLER, Der Baurechtszins und seine grundpfandrechtliche Sicherung, Diss. Zürich 1968 S. 21 ff.; GÜNTHER WITT, Das Baurecht, Basel 1970, S. 151; H. P. FRIEDRICH, Das Baurecht des Zivilgesetzbuches im Dienste öffentlicher Aufgaben, ZBl 68/1967 S. 290 f.). Die Pflicht des Staates, bei Enteignung volle Entschädigung zu leisten (
Art. 22ter Abs. 3 BV
), bedeutet jedoch nur, dass der Verkehrswert des Bodens im Zeitpunkt des Enteignungsverfahrens zu entschädigen ist (vgl.
BGE 93 I 142
ff. Erw. 7 a u. b). Von solchen Überlegungen hat sich auch der Bundesrat in einem Entscheid leiten lassen, in welchem er das Enteignungsbegehren für einen Panzerstellungsraum in vollem Umfang geschützt hat; er fand, dass dem Bund nicht zuzumuten sei,
BGE 99 Ia 473 S. 480
bedeutende öffentliche Mittel in ein Werk zu investieren auf das Risiko hin, mit dem Enteigneten nach Jahr und Tag über die weitere Benützungsberechtigung erneut verhandeln zu müssen (Verwaltungspraxis der Bundesbehörden Heft 32/1964-1965 Nr. 100). Nach der Praxis zum deutschen Bundesbaugesetz, welches in § 92 ausdrücklich bestimmt, dass die Enteignung auf die Belastung des Grundstücks mit einem Recht zu beschränken ist, sofern dies zur Verwirklichung des Enteignungszweckes ausreicht, ist ein Baurecht bzw. Erbbaurecht auf dem beanspruchten Grundstück überhaupt nicht möglich, wenn es sich um sogenannte Gemeinbedarfsflächen handelt (Kommentar HEITZER-ÖSTERREICHER zum Bundesbaugesetz, 2. Aufl. Berlin 1965, § 92 Anm. 2).
Diese Gründe des öffentlichen Interesses, die der Erstellung einer Schulhausanlage im Baurecht entgegenstehen, sind allerdings zu einem wesentlichen Teil finanzieller Natur. Dem Gebot einer zweckmässigen und rationellen Verwaltung kommt aber doch eine solche Bedeutung zu, dass nur ein ganz besonderes privates Interesse an der Beibehaltung eines Restes der Verfügungsgewalt am Eigentum es überwiegen und den Eingriff der vollen Enteignung als unverhältnismässig und damit verfassungswidrig erscheinen lassen könnte. Der Enteignete müsste dartun können, dass die ihm neben der Baurechtsdienstbarkeit verbleibende Verfügungsbefugnis noch eine erhebliche Restnutzung des Grundstücks ermögliche, an der ein schützenswertes Interesse anzuerkennen wäre. So wäre z.B. denkbar, dass sich der Enteignete eine unter- oder oberirdische Nutzungsmöglichkeit vorbehalten möchte, die sich neben dem öffentlichen Werk ohne weiteres vertragen würde und angesichts deren Bedeutung dem Gemeinwesen die Beschränkung auf die Enteignung bloss einer Baurechtsdienstbarkeit zuzumuten wäre (vgl. das Urteil des Bundesgerichts i.S. Gauger vom 12. Juli 1971 Erw. 3 c in ZBl 73/1972 S. 20). Auch in solchen Fällen, wie z.B. dann, wenn der Enteignete eine unterirdische Parkgarage erstellen will, wird diesem privaten Interesse in der Regel aber wohl damit hinreichend Rechnung getragen werden, dass der Staat als Enteigner ihm die Einräumung eines Baurechts zusichert. Wie es sich damit verhält, kann jedoch offen bleiben, da im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für einen Verzicht der Gemeinde auf das volle Eigentum offensichtlich nicht erfüllt sind. Die Beschwerdeführerin macht überhaupt nicht geltend,
BGE 99 Ia 473 S. 481
einen neben der geplanten Schulhausanlage verbleibenden Rest des Grundstückes noch nutzen zu wollen. Sie beruft sich einzig auf ihr Interesse an der Erhaltung des Eigentums als solchen. Die Erhaltung der "nuda proprietas" ist jedoch ein Interesse, das angesichts desjenigen des Gemeinwesens am vollen Verfügungsrecht unerheblich ist. Der damit verbundene Vorteil ist der, dass die Enteignete statt zu einer Enteignungsentschädigung in der Höhe des Verkehrswertes des Bodens zur Zeit des Enteignungsverfahrens in den Genuss eines den steigenden Bodenwerten sich anpassenden Baurechtszinses käme und somit an einer künftigen Wertsteigerung ihres Bodens noch teilhaben könnte. Auf eine solche Leistung seitens des Staates besteht aufgrund der Eigentumsgarantie aber kein Anspruch, weshalb darin auch kein schützenswertes privates Interesse gesehen werden kann. Es lässt sich sogar sagen, dass die Beanspruchung des vollen Eigentums wirtschaftlich gar keinen schwereren Eingriff darstellt als die Enteignung einer Baurechtsdienstbarkeit (so auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem in DöV 1964 S. 611 publizierten Urteil). Die Beschwerdeführerin stellt zwar in Abrede, mit ihrem Begehren einen solchen wirtschaftlichen Vorteil zu verfolgen. Wie ihren Ausführungen zu entnehmen ist, soll ihr schützenswertes besonderes Interesse an der Erhaltung der "nuda proprietas" in der Tatsache liegen, dass sie als eine seit alters her bestehende Korporation statutarisch verpflichtet sei, ihr Eigentum zu erhalten. Abgesehen davon, dass eine Erhaltung des nackten Eigentums einzig aus diesem Grunde sich in einer rein abstrakten Bedeutung erschöpfen würde, kann die Beschwerdeführerin keine andere Behandlung für sich beanspruchen als andere private Grundeigentümer, die nicht weniger bestrebt sein können, ihr Eigentum zu erhalten. Als eine dem kantonalen öffentlichen Recht unterstehende privatrechtliche Körperschaft unterliegt die Beschwerdeführerin dem Enteignungsrecht wie alle andern privaten und öffentlichen Eigentümer. Freilich kann der Enteigner aus irgendwelchen politischen Überlegungen gegenüber einer solchen Korporation auf die volle Enteignung verzichten und sich mit einer komplizierteren und aufwendigeren rechtlichen Lösung abfinden. Das Bundesgericht hat unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsgarantie nur zu prüfen, ob die volle Enteignung einen unverhältnismässigen Eingriff darstellt, was nach dem Gesagten nicht der Fall ist.
BGE 99 Ia 473 S. 482 | de |
6f8a3f1f-6777-4f02-91f8-67ac45f63bfb | Sachverhalt
ab Seite 132
BGE 103 IV 131 S. 132
Am 8. Februar 1977 reichte Frau R. beim Präsidenten des Bezirksgerichts Pfäffikon Klage gegen B. wegen Ehrverletzung ein. Mit Verfügung vom 17. März 1977 setzte der Instruktionsrichter der Klägerin eine Frist von 20 Tagen an, um dem Gericht die Weisung des zuständigen Friedensrichteramtes einzureichen. Aus der innert Frist abgegebenen Weisung ergab sich, dass das Sühnebegehren dem Friedensrichter erst am 7. März 1977 zugegangen war.
Am 29. März 1977 beschloss das Bezirksgericht Pfäffikon, die Anklage von der Hand zu weisen.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies einen gegen diesen Beschluss eingelegten Rekurs der Klägerin am 16. Mai 1977 ab.
Eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde der Klägerin wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 25. Juli 1977 abgewiesen.
Frau R. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den Beschluss des Obergerichts aufzuheben. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin von den als ehrverletzend eingeklagten Äusserungen der Beschwerdegegnerin am 10. November 1976 Kenntnis erhalten hat. Die Frist von drei Monaten, innert der nach
Art. 29 StGB
Strafantrag zu stellen ist, lief somit am 10. Februar 1977 ab (
BGE 97 IV 239
). Wo und in welcher Form der Strafantrag einzureichen ist, bestimmt das kantonale Prozessrecht (
BGE 78 IV 49
E. 2). Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz muss nach zürcherischem Prozessrecht in Ehrverletzungssachen innert der Antragsfrist sowohl Anklage beim zuständigen Bezirksgericht erhoben als auch beim Friedensrichter das Sühnebegehren gestellt werden. Nur wenn beide Erfordernisse erfüllt worden sind, liegt ein Strafantrag
BGE 103 IV 131 S. 133
im Sinne der Rechtsprechung vor, der die Strafverfolgung endgültig und unbedingt in Gang setzt, so dass das Verfahren ohne weitere Erklärung des Antragstellers seinen Lauf nimmt (
BGE 98 IV 247
).
Die Beschwerdeführerin hat nur rechtzeitig beim Bezirksgericht Klage eingereicht, das Sühnebegehren dagegen erst am 7. März 1977, also nach Ablauf der Antragsfrist, beim Friedensrichteramt gestellt. Das Obergericht hat daher den Rekurs gegen den Entscheid des Bezirksgerichts, durch den die Klage wegen Verwirkung des Antragsrechts von der Hand gewiesen wurde, zu Recht abgewiesen. Der Einwand der Beschwerdeführerin, sie sei durch die Verfügung des Bezirksgerichts vom 17. März 1977 irregeführt worden, hält nicht stand. Durch diese Verfügung wurde die Beschwerdeführerin nur aufgefordert, innert 20 Tagen die Weisung des Friedensrichters einzureichen, nicht aber, innert dieser Frist das Sühnebegehren zu stellen. Dass die Beschwerdeführerin die angeforderte Weisung innerhalb der angesetzten Frist beibrachte, ändert nichts daran, dass sie den Sühnevorstand nicht innert der gesetzlichen Antragsfrist verlangt und damit keinen gültigen Strafantrag gestellt hatte.
2.
Aus den Akten ist kein Grund ersichtlich, der die Beschwerdeführerin gehindert hätte, das Sühnebegehren rechtzeitig zu stellen. Blosse Rechtsunkenntnis entschuldigt die Fristversäumnis nicht. Ausserdem hat die Beschwerdeführerin nicht innert 10 Tagen nach Wegfall des Hindernisses um die Wiederherstellung gegen die Folgen der Säumnis nachgesucht. Die Voraussetzungen des
Art. 35 Abs. 1 OG
sind daher nicht gegeben. | de |
64ea28df-3b53-47f3-9528-218edb38b018 | Sachverhalt
ab Seite 453
BGE 121 III 453 S. 453
In einem schriftlichen Kaufvertrag vom 30. Oktober 1991 verpflichtete sich H., gegen Bezahlung von Fr. 28'000.-- innert ca. zwei Wochen einen gebrauchten Hubstapler des Typs TCM an M. zu liefern. Der Kaufgegenstand sollte gemäss der vertraglichen Umschreibung unter anderem einen Wandler, d.h. ein Automatikgetriebe, aufweisen. Am 20. November 1991 lieferte H. einen Hubstapler des vereinbarten Typs, welcher aber kein Automatik-
BGE 121 III 453 S. 454
sondern ein Handschaltgetriebe aufwies. Aus diesem Grunde verweigerte M. die Annahme des Hubstaplers und erklärte am 21. November 1991 schriftlich den Rücktritt vom Kaufvertrag. In seinem Antwortschreiben vom 26. November 1991 wies H. die Erklärung zurück und versprach eine korrekte Ersatzlieferung, welche am 2. Dezember 1991 bei M. eintraf. Dieser liess am folgenden Tag durch seinen Anwalt sinngemäss mitteilen, er verweigere die Annahme der Ersatzlieferung. In der Folge setzte H. die Kaufpreisforderung in Betreibung. M. erhob Rechtsvorschlag.
Am 23. Dezember 1991 klagte H. beim Amtsgericht Solothurn-Lebern gegen M. auf Bezahlung von Fr. 28'000.-- nebst Zins zu 8% seit 10. Dezember 1991 zuzüglich der Kosten des Zahlungsbefehls von Fr. 76.--. Das Amtsgericht wies die Klage am 4. November 1993 ab. Es ging davon aus, M. habe aus dem Verhalten von H. schliessen dürfen, dieser sei nicht mehr Willens, den Vertrag zu erfüllen, weshalb M. gemäss
Art. 108 Ziff. 1 OR
in Verbindung mit
Art. 107 Abs. 2 OR
ohne Ansetzung einer Nachfrist habe vom Kaufvertrag zurücktreten können.
H. appellierte an das Obergericht des Kantons Solothurn, welches beweismässig davon ausging, die Parteien hätten den Kaufvertrag nicht einvernehmlich aufgehoben, und H. habe stets richtige Erfüllung angeboten. Gestützt auf diesen Sachverhalt hob das Obergericht den Entscheid des Amtsgerichts mit Urteil vom 28. Juni/16. August 1994 auf und verurteilte M., den Kaufpreis von Fr. 28'000.-- zuzüglich Zins zu 5% seit dem 10. Dezember 1991 sowie die Kosten des Zahlungsbefehls von Fr. 76.-- an H. zu bezahlen.
M. ficht das Urteil des Obergerichts mit Berufung an und beantragt dem Bundesgericht, dieses aufzuheben und die Klage vollumfänglich abzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Der Beklagte rügt, das Obergericht habe Bundesrecht verletzt, indem es den Kaufvertrag der Parteien als Gattungskauf qualifizierte.
a) Ein Gattungskauf zeichnet sich im Gegensatz zum Stückkauf dadurch aus, dass der Verkäufer keine vertraglich individualisierte, sondern eine nur der Gattung nach bestimmte Sache schuldet (
Art. 71 OR
;
BGE 94 II 26
E. 2 S. 29,
BGE 85 II 402
E. 1a S. 407 f.; WEBER, Berner Kommentar, N 12 ff. zu
Art. 71
BGE 121 III 453 S. 455
OR
; SCHÖNLE, Zürcher Kommentar, N 44 zu
Art. 184 OR
; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 20 f. zu
Art. 71 OR
; KOLLER, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel, N 28 zu
Art. 184 OR
; CAVIN, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. VII/1, S. 121 f.; GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Auflage, S. 47; HONSELL, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 3. Auflage, S. 99).
b) Der vorliegende Kaufvertrag hatte nicht eine individuell bestimmte Sache zum Gegenstand. Entgegen der nicht näher begründeten Behauptung des Beklagten führte auch der vereinbarte Triplexmast nicht zu einer Individualisierung der Kaufsache, weshalb es unerheblich ist, ob ein solcher Mast vom erstgelieferten auf den zweitgelieferten Hubstapler umgebaut wurde, wie dies der Beklagte vorbringt. Das Obergericht ist daher zu Recht davon ausgegangen, es liege ein Gattungskauf vor.
4.
Das Obergericht hat angenommen, der erstgelieferte Hubstapler habe ein aliud dargestellt, weil er das vereinbarte Merkmal des automatischen Getriebes nicht aufgewiesen habe, und leitete daraus ab, es kämen die Regeln über die Nichterfüllung gemäss
Art. 97 ff. OR
zur Anwendung. Da der Beklagte den Kläger nicht gemahnt und ihm auch keine Frist zur Vertragserfüllung angesetzt habe, seien die Voraussetzungen zum Vertragsrücktritt gemäss
Art. 107 OR
nicht gegeben gewesen. Das Obergericht verneinte auch die Möglichkeit eines Vertragsrücktritts gemäss
Art. 108 OR
und ging daher davon aus, der Vertrag habe weiterbestanden und sei durch die Lieferung eines der vereinbarten Gattung entsprechenden Hubstaplers erfüllt worden, weshalb der Kaufpreis geschuldet sei.
Der Beklagte macht demgegenüber geltend, auch wenn von einem Gattungskauf ausgegangen werde, sei er berechtigt gewesen, den Vertrag zu wandeln. Er schulde daher den Kaufpreis nicht.
a) Die Regelung der Sachgewährleistung in den
Art. 197-210 OR
bezieht sich auf Mängel der Kaufsache (vgl. Marginalie zu
Art. 197 OR
). Da der Begriff der Kaufsache in den
Art. 197 ff. OR
nicht speziell definiert wird, ist die allgemeine Umschreibung des Kaufgegenstandes gemäss
Art. 184 Abs. 1 OR
massgebend. Diese versteht unter dem Kaufgegenstand die geschuldete Sache (frz. la chose vendue, it. l'oggetto venduto). Da beim Stückkauf eine vertraglich individualisierte Sache geschuldet wird, stellt diese auch dann die Kaufsache dar, wenn ihr wesentliche vereinbarte Merkmale fehlen (
BGE 82 II 411
E. 3b S. 416; GIGER, Berner Kommentar, N 46 der Vorbemerkungen zu
Art. 197-210 OR
; HONSELL, a.a.O., S. 99). Beim Gattungskauf wird dagegen
BGE 121 III 453 S. 456
bloss eine der Gattung nach bestimmte Sache geschuldet, weshalb eine gelieferte Sache bei dieser Art des Kaufes nur dann der Kaufsache entspricht, wenn sie die vereinbarten Gattungsmerkmale aufweist (
Art. 71 Abs. 1 OR
). Es stellt sich daher die Frage, welcher Begriff der Gattung massgebend sei. Das Bundesgericht ist anfänglich von einem abstrakten, objektiven Gattungsbegriff ausgegangen, der dem Wesen der Sache entspricht (BGE 22 566 E. 3 S. 571 f.; vgl. auch BGE 20 960 E. 6 S. 976), hat diesen dann insoweit eingeschränkt, als es die Verkehrsauffassung und den im Einzelfall vereinbarten Verwendungszweck berücksichtigte (
BGE 69 II 97
E. 2 S. 100 f.) und ist schliesslich zu einem relativen Gattungsbegriff übergegangen, welcher sich nach der konkreten Umschreibung des Kaufgegenstandes durch die Parteien richtet (
BGE 94 II 26
E. 2a S. 30; vgl. auch schon
BGE 40 II 480
E. 3b S. 488). In der Lehre wird grundsätzlich ebenfalls von einem relativen Gattungsbegriff ausgegangen (KELLER/SIEHR, Kaufrecht, 3. Auflage 1995, S. 30; SCHÖNLE, Zürcher Kommentar, N 82 zu
Art. 185 OR
; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 13 zu
Art. 71 OR
; WEBER, Berner Kommentar, N 85 f. zu
Art. 71 OR
; vgl. ferner CAVIN, a.a.O., S. 122; VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, S. 98 Fn. 32g). Zum Teil wird in der Literatur aber auch die Auffassung vertreten, bei der Definition der geschuldeten Gattung sei in erster Linie das Wesen oder die Natur der Sache gemäss der Verkehrsauffassung und dem Verwendungszweck massgebend, wobei es im Ergebnis gerechtfertigt sei, ein aliud erst dann anzunehmen, wenn die gelieferte Sache "krass", "ganz erheblich" oder "ganz offensichtlich" von der vertraglich umschriebenen Sache abweiche (HONSELL, a.a.O., S. 100; derselbe, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, N 2 zu
Art. 206 OR
; WEBER, Berner Kommentar, N 91 f. zu
Art. 71 OR
; GIGER, Berner Kommentar, N 44 und 50 der Vorbemerkungen zu
Art. 197-210 OR
; vgl. auch CAVIN, a.a.O., S. 125; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 60 f. zu
Art. 71 OR
; OSER/SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, N 14 zu
Art. 197 OR
). Ein abstrakter Gattungsbegriff ist aber abzulehnen, weil die Parteien den Kaufgegenstand autonom bestimmen und daher je nach der Wichtigkeit, die sie gewissen Spezifikationen beimessen, mehr oder weniger genau präzisieren können, welche Merkmale die zu liefernde Sache aufweisen muss (
BGE 94 II 26
E. 2a s. 30). Ein allgemeiner Begriff der Gattung ist zudem kaum justitiabel, zumal er ganz unterschiedlich eng oder weit gefasst werden kann (vgl. HONSELL, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auflage, S. 99).
BGE 121 III 453 S. 457
Aus diesen Gründen ist an einem relativen Gattungsbegriff festzuhalten, welcher sich nach der Umschreibung der geschuldeten Sache im Kaufvertrag richtet, wobei dieser - wenn ein tatsächlicher übereinstimmender Parteiwille nicht feststeht - nach dem Vertrauensprinzip auszulegen ist (SCHÖNLE, Zürcher Kommentar, N 82 zu
Art. 185 OR
). Demgemäss stellt jede gelieferte Sache, welche nicht alle von den Parteien vereinbarten Gattungsmerkmale aufweist, nicht die geschuldete, sondern eine andere Sache, ein aliud, dar. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein geliefertes Automobil anstatt des vertraglich vorgesehenen Automatikgetriebes eine gewöhnliche Schaltung aufweist (
BGE 94 II 26
E. 2a S. 30; ebenso für das deutsche Recht: REINKING/EGGERT, Der Autokauf, Düsseldorf, 5. Auflage, S. 128 Rz. 412 unter Hinweis auf ein Urteil des OLG Hamburg vom 22. September 1987) oder nicht dem ausdrücklich vereinbarten Modell entspricht (
BGE 94 II 26
E. 2a S. 30; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 13 zu
Art. 71 OR
). Keine andere, sondern eine mangelhafte Kaufsache (peius) liegt beim Gattungskauf hingegen dann vor, wenn die gelieferte Sache zwar der geschuldeten Gattung zugehört (
Art. 71 Abs. 1 OR
), nicht aber die vereinbarte oder gesetzlich vorgeschriebene Qualität aufweist (
Art. 71 Abs. 2 OR
;
BGE 40 II 480
E. 3b S. 488 f.,
BGE 69 II 97
E. 2 S. 100; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 60 zu
Art. 71 OR
; GIGER, Berner Kommentar, N 42 und 44 ff. der Vorbemerkungen zu
Art. 197-210 OR
; SCHÖNLE, Zürcher Kommentar, N 82 zu
Art. 185 OR
; vgl. auch KELLER/SIEHR, Kaufrecht, 3. Auflage 1995, S. 29 f.). So ist zum Beispiel ein vertragskonform spezifiziertes Automobil mangelhaft, wenn sein Motor stottert oder seine Karosserie durchgerostet ist.
Das Bundesgericht hat in einem obiter dictum in
BGE 94 II 26
E. 4 S. 34 f. erkannt, beim Gattungskauf könne ein Käufer, dem eine Sache anderer Gattung geliefert wurde, nicht nur gemäss den allgemeinen Verzugsregeln, sondern auch gestützt auf
Art. 206 OR
vom Vertrag zurücktreten, weil diese Bestimmung von einem weiten Mangelbegriff ausgehe. Ein Teil der Lehre betrachtet eine solche alternative Anwendung der Sachgewährleistungsregeln bei der Lieferung eines aliud dann als wünschbar, wenn die konkrete Abgrenzung zur Schlechtlieferung im Einzelfall Schwierigkeiten bereite (SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 62 zu
Art. 71 OR
; GIGER, Berner Kommentar, N 49 der Vorbemerkungen zu
Art. 197-210 OR
; WEBER, Berner Kommentar, N 91 zu
Art. 71 OR
). In der Literatur wird auch die Meinung vertreten, die Lieferung eines aliud solle beim Gattungskauf ausschliesslich nach der
BGE 121 III 453 S. 458
Regelung der Sachgewährleistung beurteilt werden, weil damit schwierige Abgrenzungsfragen und die Umgehung der kurzen Fristen des Sachgewährleistungsrechts vermieden werden könnten (HANS-PETER KATZ, Sachmängel beim Kauf von Kunstgegenständen und Antiquitäten, Diss. Zürich 1973, S. 96; MARKUS NEUENSCHWANDER, Die Schlechterfüllung im schweizerischen Vertragsrecht, Diss. Bern 1971, S. 24; ALFRED SCHUBIGER, Verhältnis der Sachgewährleistung zu den Folgen der Nichterfüllung oder nicht gehörigen Erfüllung, Diss. Bern 1957, S. 122 ff.; vgl. auch GUHL/MERZ/KOLLER, a.a.O., S. 364 und ROBERTO CYPRIAN, Die Aliud-Lieferung im schweizerischen Kaufvertragsrecht, Diss. St. Gallen 1981, S. 67 f. und S. 121 f.). Diese Auffassungen sind aber abzulehnen, weil sich die Regelung der Sachgewährleistung gemäss der Marginalie zu
Art. 197 OR
auf die Kaufsache bezieht und beim Gattungskauf nur dann eine Kaufsache geliefert wird, wenn diese der vereinbarten Gattung entspricht. Dies wird dadurch bestätigt, dass
Art. 206 OR
, welcher gemäss seiner systematischen Stellung im Gesetz die besonderen gewährleistungsrechtlichen Folgen der Lieferung einer mangelhaften Sache beim Gattungskauf regelt (vgl. CAVIN, a.a.O., S. 123 f.; derselbe, Considérations sur la garantie en raison des défauts de la chose vendue, SJ 91/1969, S. 329 ff., S. 339 f.), nur einen Anspruch auf Nachlieferung anderer währhafter Ware "derselben" Gattung vorsieht und damit voraussetzt, dass eine Sache der vereinbarten Gattung geliefert wurde. Die herrschende Lehre geht somit zu Recht davon aus, die Lieferung eines aliud stelle keinen Tatbestand der Sachgewährleistung, sondern eine Nichterfüllung dar, welche sich ausschliesslich nach den Bestimmungen über den Schuldnerverzug beurteile (SCHÖNLE, Zürcher Kommentar, N 82 zu
Art. 185 OR
; HONSELL, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, N 3 zu
Art. 206 OR
; derselbe, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 3. Auflage, S. 100 f.; GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 5. Auflage, Bd. II, S. 194 Rz. 3178; BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 3. Auflage 1988, S. 118 f.; GAUCH, der Werkvertrag, 3. Auflage, S. 279 Rz. 978; grundsätzlich ebenso: GIGER, Berner Kommentar, N 42 der Vorbemerkungen zu
Art. 197-210 OR
; WEBER, Berner Kommentar, N 85 zu
Art. 71 OR
; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N 61 zu
Art. 71 OR
). Ein Käufer, der ein aliud erhalten hat, kann demnach - wenn die Erfüllung noch möglich ist - nur nach den Verzugsregeln vom Vertrag zurücktreten, was grundsätzlich die erfolglose
BGE 121 III 453 S. 459
Ansetzung einer angemessenen Frist zur nachträglichen Erfüllung voraussetzt (Art. 107 f. OR).
b) Im vorliegenden Kaufvertrag haben die Parteien ausdrücklich vorgesehen, der zu liefernde Hubstapler müsse einen Wandler, d.h. ein Automatikgetriebe, aufweisen. Diese Spezifikation stellt keine blosse Qualitätsangabe, sondern ein gattungsbestimmendes Merkmal dar. Die Vorinstanz hat daher zu Recht angenommen, der Kläger habe mit dem ersten Hubstapler, welcher anstatt eines Automatik- ein Handschaltgetriebe aufwies, ein aliud geliefert. Diese Lieferung bildete somit keine Schlecht- sondern eine Nichterfüllung, weshalb sich die Frage, ob der vom Beklagten am 21. November 1991 erklärte Vertragsrücktritt zulässig war, nach den Verzugsregeln beurteilt. Da der Beklagte den Kläger nicht mahnte (
Art. 102 Abs. 1 OR
) und ihm auch keine Frist zur nachträglichen Erfüllung ansetzte, war ein Vertragsrücktritt gemäss
Art. 107 Abs. 2 OR
ausgeschlossen. Der Beklagte konnte auch nicht gemäss
Art. 108 Ziff. 1 OR
ohne Ansetzung einer Frist zur nachträglichen Erfüllung vom Vertrag zurücktreten, weil der Kläger gemäss den für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz immer korrekte Erfüllung angeboten hatte und daher aus seinem Verhalten nicht hervorging, dass sich die Ansetzung einer Nachfrist als unnütz erweisen würde. Es bestehen ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass die nachträgliche Leistung für den Beklagten nutzlos geworden war (
Art. 108 Ziff. 2 OR
). Schliesslich geht aus dem Vertrag - welcher eine Lieferfrist von ca. zwei Wochen vorsah - auch nicht die Absicht der Parteien hervor, die Leistung solle genau bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen (
Art. 108 Ziff. 3 OR
). Der Beklagte konnte demnach nicht ohne Ansetzung einer Nachfrist vom Vertrag zurücktreten, weshalb seine Rücktrittserklärung vom 21. November 1991 unzulässig war. Der Kläger erfüllte somit den weiterbestehenden Vertrag, als er am 2. Dezember 1991 einen der vereinbarten Gattung entsprechenden Hubstapler lieferte. Der Beklagte macht zwar geltend, der zweitgelieferte Hubstapler habe Mängel aufgewiesen, bestreitet aber nicht, dass er diese nicht rechtzeitig gerügt hat (
Art. 201 OR
), weshalb eventuelle entsprechende Ansprüche verwirkt sind (
Art. 201 Abs. 2 OR
). Die Vorinstanz hat demnach kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Klage auf Bezahlung des Kaufpreises guthiess. | de |
9b77c1d0-3051-4254-aacf-c2ef69110261 | Sachverhalt
ab Seite 778
BGE 97 I 778 S. 778
A.-
Art. 227 des bernischen Gesetzes über die direkten Staats- und Gemeindesteuern (StG; Fassung vom 28. Juni 1964)
lautet wie folgt:
"Auf den 1. Januar 1967 ist eine Hauptrevision der amtlichen Werte der Grundstücke und Wasserkräfte durchzuführen. Der Grosse Rat erlässt das erforderliche Dekret und setzt insbesondere das Ausmass der Neubewertung fest."
Das erwähnte Dekret "betreffend die Hauptrevision der amtlichen Werte der Grundstücke und Wasserkräfte" (HRD) wurde vom Grossen Rat bereits am 5. Mai 1964 erlassen. Es sieht in § 25 Abs. 1 und 2 folgendes vor:
"Für Grundstücke, die mit einem Baurecht belastet sind, richtet sich der amtliche Wert nach dem Ertragswert.
Der Ertragswert berechnet sich in der Regel nach dem vereinbarten Baurechtszins, kapitalisiert zu 4 Prozent."
B.-
In Anwendung von § 25 HRD setzte die Gemeindeschatzungskommission Bern den amtlichen Wert eines in der Stadt Bern gelegenen Grundstücks auf Fr. 7'625,000.-- fest. Die Parzelle steht im Miteigentum der Erben X. und ist mit einem auf 45 Jahre begründeten, d.h. im Jahre 2010 ablaufenden
BGE 97 I 778 S. 779
selbständigen und dauernden Baurecht belastet. Der jährliche Baurechtszins beträgt Fr. 305'000.--.
Nachdem die Grundeigentümer gegen die Festsetzung des amtlichen Werts erfolglos Einsprache erhoben hatten, gelangten sie am 25. April 1969 an die kantonale Rekurskommission mit dem Begehren, den amtlichen Wert ihres Grundstücks angemessen herabzusetzen. Die Kommission wies indessen den Rekurs am 11. September 1970 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts ab.
C.-
Gegen diesen Entscheid erhoben die Erben X. Beschwerde beim Verwaltungsgericht. Sie machten geltend, der Zinssatz von 4% widerspreche krass den heutigen Verhältnissen auf dem Kapitalmarkt und führe im vorliegenden Fall zu einem Ertragswert, der zum Verkehrswert in keinem vernünftigen Verhältnis stehe.
Mit Urteil vom 22. Februar 1971 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen folgendes aus: Wie in einem grundlegenden Entscheid vom 11. August 1969 erkannt worden sei, hielten die in § 25 HRD aufgestellten Bewertungsnormen für baurechtsbelastete Grundstücke vor dem Steuergesetz ohne weiteres stand. Die aufgrund der Hauptrevision festgesetzten Steuerwerte hätten unverändert auf Jahre hinaus zu gelten. Der vom Grossen Rat beschlossene Zinssatz von 4% sei angemessen und gestatte in aller Regel eine sachgemässe Anpassung der amtlichen Werte an die steigenden Bodenpreise, was eine annähernd richtige Bewertung auf längere Sicht gewährleiste und damit auch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Bewertungsgrundsätze entspreche. Im vorliegenden Fall bestehe kein Anlass, von der Bewertungsregel des § 25 HRD abzuweichen, denn der ermittelte Ertragswert übersteige den aufgrund der Richtpreise geschätzten Verkehrswert bloss um rund 28%; diese Differenz liege im Rahmen des Vertretbaren, weshalb der Verzicht der Rekurskommission auf eine - an sich mögliche - "Normalisierung" des Baurechtszinses nicht zu beanstanden sei.
D.-
Die Erben X. führen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
. Sie stellen folgenden Antrag:
"Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 22. Februar 1971 sei aufzuheben. und die Sache sei zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Weisung. den Wert der Parzelle der Beschwerdeführer nicht nach § 25
BGE 97 I 778 S. 780
des Dekrets über die Hauptrevision der amtlichen Werte der Grundstücke und Wasserkräfte sondern gemäss dem Bodenverkehrswert festzusetzen." Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
E.-
Das Verwaltungsgericht und die kantonale Steuerverwaltung beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Formelles).
2.
Die Beschwerdeführer machen geltend, es gehe nicht an, den amtlichen Wert einer baurechtsbelasteten Parzelle aufgrund des realisierten Ertrags festzusetzen, denn dieses Vorgehen führe zu einer rechtsungleichen Behandlung gegenüber dem Eigentümer eines unbelasteten Grundstücks. Verfassungswidrig sei auch der im Dekret vorgesehene Kapitalisierungssatz von 4%, denn er werde den heutigen Verhältnissen auf dem Kapitalmarkt offensichtlich nicht mehr gerecht. Damit erheben die Beschwerdeführer Verfassungsrügen, die sich gegen die in § 25 HRD enthaltene Ordnung richten. Das ist zulässig, denn die Verfassungswidrigkeit einer kantonalen Vorschrift kann auch vorfrageweise im Zusammenhang mit der Anfechtung eines Anwendungsaktes gerügt werden (
BGE 97 I 29
Erw. 2 mit Verweisungen).
a) Gemäss
Art. 54 Abs. 1 StG
ist der amtliche Wert der Grundstücke "unter Berücksichtigung des Verkehrs- und des Ertragswerts" festzusetzen. Bei der Bewertung von Baurechtsparzellen ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese während der Dauer des Baurechts keinen Verkehrswert aufweisen, der mit jenem eines unbelasteten Grundstücks verglichen werden könnte. Freilich besteht ein Restwert (Wert der nuda proprietas), welcher zur Zeit des Vertragsabschlusses unbedeutend ist, gegen den zeitlichen Ablauf des Baurechts hin ansteigt und je nach der Ausgestaltung des Baurechtsvertrags den vollen Verkehrswert der Parzelle erreichen kann (vgl. dazu REIMANN/ZUPPINGER/SCHÄRRER, Kommentar zum zürcherischen Steuergesetz, Bd. 3, N. 45 zu
§ 34 StG
; HANS MICHAEL RIEMER, Das Baurecht (Baurechtsdienstbarkeit) des Zivilgesetzbuches und seine Behandlung im Steuerrecht, Diss. Zürich 1968, S. 240/1). Es leuchtet deshalb ohne weiteres ein, dass der erwähnte Restwert zumindest zu Beginn der Vertragsdauer nicht geeignet ist,
BGE 97 I 778 S. 781
Anhaltspunkt für die Bestimmung des tatsächlichen Wertes eines baurechtsbelasteten Grundstücks zu bilden. Mit Rücksicht darauf ist es vielmehr durchaus vernünftig, den amtlichen Wert einer solchen Parzelle aufgrund des Ertragswerts, d.h. aufgrund des Barwerts der Grundrente zu ermitteln (W. NAEGELI, Die Wertberechnung des Baulandes, 2. Aufl. 1965, S. 110). Auf den Ertragswert abzustellen, rechtfertigt sich auch im Hinblick darauf, dass der Wert eines baurechtsbelasteten Grundstückes in geringerem Masse konjunkturellen Schwankungen unterworfen ist als derjenige eines unbelasteten Grundstücks. Die in § 25 HRD enthaltene Ordnung schliesst im übrigen eine Berücksichtigung des Verkehrswerts nicht zu vorneherein aus, kann doch der Baurechtszins bei der Ermittlung des Vermögenssteuerwerts "normalisiert", d.h. angemessen herabgesetzt werden, wenn sich ein Ertragswert ergibt, der zum Verkehrswert eines vergleichbaren unbelasteten Grundstücks in einem offenbaren Missverhältnis steht (vgl. Bewertungsnormen der kantonalen Schatzungskommission, zitiert bei RIEMER, a.a.O., S. 238/9). Damit ist ohne weiteres Gewähr dafür geboten, dass den Besonderheiten des Einzelfalles genügend Rechnung getragen werden kann. Die Kritik der Beschwerdeführer an der in § 25 HRD vorgesehenen Ermittlung des amtlichen Werts aufgrund des Ertragswerts geht daher fehl.
b) Auch der angefochtene Kapitalisierungssatz von 4% lässt sich sachlich begründen. Als massgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung gilt der 1. Januar 1967 (
Art. 227 Abs. 1 StG
). Das Bewertungsdekret (HRD) wurde jedoch bereits im Jahre 1964 erlassen. Damals lag der Hypothekarzinsfuss im Kanton Bern bei 4% (Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1971, S. 276). Dass der Grosse Rat diesen Satz als Kapitalisierungszinsfuss wählte, bedeutet jedoch nicht, dass dieser notwendigerweise dem Zinsfuss für 1. Hypotheken entsprechen muss. Die Frage des angemessenen Kapitalisierungssatzes wurde im Grossen Rat eingehend erörtert. Aus den Verhandlungen (teilweise wiedergegeben bei RIEMER, a.a.O., S. 237/8) geht hervor, dass der Rat eine generelle Gleichstellung mit dem Zinsfuss für 1. Hypotheken ablehnte und dem Umstand Rechnung tragen wollte, dass der Baurechtsgeber, der einen Nettoertrag erzielt, weniger hohe Lasten zu tragen hat als der Eigentümer eines unbelasteten bebauten Grundstücks. Diese Überlegungen des Gesetzgebers erscheinen ohne weiteres haltbar und geben zumindest unter
BGE 97 I 778 S. 782
dem Gesichtswinkel des
Art. 4 BV
keinen Anlass zu Kritik. Bei Erlass des HRD entsprach der beschlossene Zinssatz von 4% durchaus den tatsächlichen Verhältnissen, was auch im Schrifttum anerkannt wird (vgl. W. NAEGELI, a.a.O., S. 110). Dass der Hypothekarzinsfuss in dem für die Bewertung massgeblichen Zeitpunkt (1. Januar 1967) bei 4 1/4% lag, lässt den in § 25 HRD vorgesehenen Satz von 4% jedenfalls nicht als schlechthin unhaltbar erscheinen. Eine allzugrosse Differenz zwischen Kapitalisierungs- und Hypothekarzinsfuss wäre freilich mit
Art. 4 BV
nicht vereinbar. Eine Abweichung von 1/4%, wie sie im massgeblichen Zeitpunkt bestand, liegt jedoch durchaus im Rahmen des sachlich Vertretbaren und ist daher nicht zu beanstanden. Die seit 1967 erfolgte Erhöhung der Hypothekarzinssätze ist für die Beurteilung der angefochtenen Regelung belanglos, denn massgeblich für die Bewertung waren die tatsächlichen Verhältnisse am 1. Januar 1967 (
Art. 227 StG
). Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem System der bernischen Vermögenssteuer, wonach der Steuerwert der Grundstücke während längerer Zeit, d.h. während ungefähr 10 Jahren unverändert bleibt. Dass dieses System, für welches im übrigen beachtliche Gründe angeführt werden können, gegen die Verfassung verstosse, behaupten die Beschwerdeführer selbst nicht, weshalb sich weitere Ausführungen dazu erübrigen.
c) Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die in § 25 HRD enthaltene Ordnung weder sinn- und zwecklos ist, noch rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist. Sie verstösst demnach nicht gegen
Art. 4 BV
(
BGE 96 I 456
Erw. 1, 143 mit Hinweisen auf frühere Urteile).
3.
Zu prüfen bleibt, ob die Bewertung des fraglichen Grundstücks vor der Verfassung standhält.
Die Beschwerdeführer machen geltend, die Bewertung gemäss § 25 HRD führe im vorliegenden Fall zu einem Ertragswert bzw. amtlichen Wert, der den von den Schätzern ermittelten Verkehrswert um rund 28% übersteige und daher vor
Art. 4 BV
nicht haltbar sei. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang erwogen, die erwähnte Differenz halte sich im Rahmen des Vertretbaren und erfordere nach den Bewertungsnormen der kantonalen Schatzungskommission (vgl. RIEMER, a.a.O., S. 238) keine "Normalisierung" des vereinbarten Baurechtszinses von Fr. 305'000.--.
BGE 97 I 778 S. 783
Im Schätzungsprotokoll vom 3. Juli 1967 ist in der Tat ein "massgebender Verkehrswert" von Fr. 15'000.--/m2 aufgeführt. Der auf den Quadratmeter umgerechnete Ertragswert beträgt demgegenüber Fr. 19'350.--. Wie der erwähnte "Verkehrswert" im Einzelnen ermittelt wurde, geht aus den Akten nicht hervor; im Entscheid der kantonalen Rekurskommission vom 11. September 1970 wird lediglich ausgeführt, massgebend seien dabei "Richtpreise im betreffenden Gebiet" gewesen. Da Baurechtsparzellen keinen eigentlichen "Verkehrswert" aufweisen (vgl. oben Erw. 2 a), handelt es sich beim "Verkehrswert" gemäss Schätzungsprotokoll bloss um eine weitgehend hypothetische Grösse, bei deren Festsetzung den Schätzern ein weiter Ermessensspielraum offen steht. Das gilt insbesondere auch für das Grundstück der Beschwerdeführer, das verkehrsmässig ausserordentlich günstig gelegen ist. Die umstrittene Differenz von 28% zwischen Ertragswert und "Verkehrswert" der Parzelle darf somit in ihrer Aussagekraft nicht überbewertet werden. In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass das bernische Vermögenssteuerrecht den Restwert der Baurechtsparzellen (vgl. oben Erw. 2 a) nicht erfasst und damit eine für den Baurechtsgeber verhältnismässig günstige Ordnung darstellt. Es erscheint daher sachlich gerechtfertigt, bei der "Normalisierung" von Baurechtszinsen Zurückhaltung zu üben und von den Bewertungsregeln des § 25 HRD nur in jenen Fällen abzugehen, in denen ein krasses Missverhältnis zwischen Ertragswert und "Verkehrswert" besteht. Wie das Verwaltungsgericht mit Recht ausführt, durften die Steuerbehörden im vorliegenden Fall ohne Willkür davon absehen, den vereinbarten Baurechtszins von Fr. 305'000.-- zu "normalisieren", denn auch in ihrer staatsrechtlichen Beschwerde sind die Beschwerdeführer den Nachweis dafür schuldig geblieben, dass der angefochtene amtliche Wert zu den tatsächlichen Verhältnissen im Jahre 1967 in einem derart krassen Gegensatz stand, dass sich selbst bei der gebotenen Zurückhaltung ein Abgehen von den gesetzlichen Bewertungsgrundsätzen aufgedrängt hätte. | de |
5c1effd5-85c5-4471-9c13-3652ee064099 | Sachverhalt
ab Seite 383
BGE 124 II 383 S. 383
Die Eidgenössische Steuerverwaltung teilte der PAX Schweizerische Lebensversicherungs-Gesellschaft am 21. Februar 1995 mit, eine steuerliche Anerkennung der PAX-Fonds-Police als gebundene Vorsorgeversicherung (Säule 3a) könne nicht erteilt werden. Die PAX Schweizerische Lebensversicherungs-Gesellschaft verlangte darauf wiederholt den Erlass einer beschwerdefähigen Verfügung über die Anerkennung der von ihr entwickelten Fonds-Police mit periodischer Prämie (PAX-Fonds-Plan) als gebundene Vorsorgeversicherung (Säule 3a) im Sinne von
Art. 82 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG; SR 831.40)
. Die Eidgenössische Steuerverwaltung lehnte dies ab, mit der Begründung, sie habe keine entsprechende Verfügungskompetenz.
Am 12. August 1996 reichte die PAX Schweizerische Lebensversicherungs-Gesellschaft beim Eidgenössischen Finanzdepartement eine Rechtsverweigerungs- und Aufsichtsbeschwerde ein.
BGE 124 II 383 S. 384
Das Eidgenössische Finanzdepartement wies die Rechtsverweigerungsbeschwerde mit Entscheid vom 11. März 1997 ab und trat auf die Eingabe nicht ein, soweit sie als Aufsichtsbeschwerde eingereicht worden war.
Gegen diesen Entscheid hat die PAX Schweizerische Lebensversicherungs-Gesellschaft am 22. April 1997 Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht erhoben. Sie beantragt, den Entscheid des Eidgenössischen Finanzdepartements aufzuheben, auf die Rechtsverweigerungs- ebenso wie auf die Aufsichtsbeschwerde einzutreten und das Eidgenössische Finanzdepartement anzuweisen, durch die Eidgenössische Steuerverwaltung gemäss Art. 1 Abs. 4 der Verordnung vom 13. November 1985 über die steuerliche Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen (BVV 3; SR 831.461.3) in der Form einer beschwerdefähigen Verfügung einen Entscheid über die Anerkennung der von der Beschwerdeführerin entwickelten Fonds-Police mit periodischer Prämie (PAX-Fonds-Plan) als gebundene Vorsorgeversicherung (Säule 3a) gemäss Art. 52 (recte: 82) BVG zu erlassen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Gemäss
Art. 97 OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätten stützen sollen, sofern diese von den in
Art. 98 OG
genannten Vorinstanzen erlassen worden sind und keiner der in
Art. 99-102 OG
oder in der Spezialgesetzgebung vorgesehenen Ausschlussgründe gegeben ist. Der angefochtene Entscheid des Eidgenössischen Finanzdepartements ist eine Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
. Das Departement gelangte gestützt auf das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes sowie die Gesetzgebung über die berufliche Vorsorge, die direkte Bundessteuer (Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer, DBG; SR 642.11) und die Steuerharmonisierung (Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden, StHG; SR 642.14) zum Ergebnis, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht in Form einer Verfügung darüber zu befinden habe, ob ein zur Prüfung vorgelegtes Vorsorgemodell den gesetzlichen Vorschriften der Säule 3a entspricht, weshalb keine unrechtmässige Verweigerung einer
BGE 124 II 383 S. 385
Verfügung im Sinne von
Art. 70 VwVG
vorliege. Die Beschwerde an eine Rekurskommission als Vorinstanz des Bundesgerichts (
Art. 98 lit. e OG
) ist gesetzlich nicht vorgesehen. Die Zuständigkeit der Eidgenössischen Steuerrekurskommission bezieht sich auf die Stempelabgaben, die Mehrwertsteuer und die Verrechnungssteuer (PETER UEBERSAX, Zur Entlastung der eidgenössischen Gerichte durch eidgenössische Schieds- und Rekurskommissionen sowie durch die Neuregelung des verwaltungsrechtlichen Klageverfahrens, AJP 1994 S. 1234), nicht aber auf die direkte Bundessteuer oder die Steuerharmonisierung. Sodann handelt es sich weder bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung noch beim Eidgenössischen Finanzdepartement um eine Aufsichtsbehörde im Sinne von
Art. 61 ff. BVG
, so dass auch die Beschwerde an die Eidgenössische Beschwerdekommission der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (
Art. 74 BVG
) nicht gegeben ist. Das Eidgenössische Finanzdepartement ist demnach Vorinstanz des Bundesgerichts (
Art. 98 lit. b OG
). Ein Ausschlussgrund nach
Art. 99 ff. OG
liegt nicht vor. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten. Unzulässig ist allerdings das Begehren, das Eidgenössische Finanzdepartement anzuhalten, über die von der Beschwerdeführerin eingereichte Aufsichtsbeschwerde zu befinden. Aufsichtsentscheide unterliegen nicht der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht (vgl.
Art. 71 VwVG
).
2.
Das Bundesgericht hat in
BGE 121 II 473
entschieden, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung nicht zuständig ist, eine Feststellungsverfügung darüber zu treffen, ob ein von einer Versicherungsgesellschaft vorgelegtes Versicherungsvertragsmodell als rückkaufsfähige private Kapitalversicherung (Säule 3b) den Anforderungen entspricht, damit die Leistungen gemäss
Art. 24 lit. b DBG
von der Besteuerung ausgenommen sind. Das Bundesgericht hat ausgeführt, zum Erlass einer Feststellungsverfügung wäre, wenn eine solche überhaupt zulässig sein sollte, die in der Sache kompetente kantonale Veranlagungsbehörde zuständig. Der Eidgenössischen Steuerverwaltung kommt die Funktion einer Aufsichtsbehörde zu. Sie sorgt nach
Art. 102 Abs. 2 DBG
für die einheitliche Anwendung des Gesetzes und erlässt die Vorschriften für die richtige und einheitliche Veranlagung und den Bezug der direkten Bundessteuer. Zu diesem Zweck erlässt sie Verwaltungsverordnungen, die sich an die kantonalen Steuerbehörden richten, in Form von Kreisschreiben, Rundschreiben, Merkblättern, Kurslisten oder Wegleitungen. Sie kann ihre Aufsicht ferner nach
Art. 103 Abs. 1 DBG
ausüben durch
BGE 124 II 383 S. 386
Kontrollen bei den kantonalen Veranlagungs- und Vollzugsbehörden und durch Einsichtnahme in die Steuerakten der Kantone und Gemeinden (lit. a); sie kann sich bei den Verhandlungen der Veranlagungsbehörden vertreten lassen und diesen Anträge stellen (lit. b); sie kann im Einzelfall Untersuchungsmassnahmen anordnen oder nötigenfalls selber durchführen (lit. c); oder sie kann im Einzelfall verlangen, dass die Veranlagung oder der Einspracheentscheid auch ihr eröffnet wird (lit. d). Die Eidgenössische Steuerverwaltung kann ferner Veranlagungs- und Einspracheentscheide bei der kantonalen Rekurskommission oder einer weiteren verwaltungsunabhängigen kantonalen Instanz sowie deren Entscheide mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht anfechten (Art. 141 und Art. 145 f. DBG sowie
Art. 103 OG
). Auf diese Aufsichtsmittel ist die Eidgenössische Steuerverwaltung beschränkt, und es steht ihr insbesondere nicht zu, in einem Einzelfall Feststellungsverfügungen über konkrete Steuerfolgen zu treffen. Der Meinungsäusserung der Eidgenössischen Steuerverwaltung über die steuerrechtliche Qualifizierung eines Versicherungsprodukts kommt daher keine Verfügungsqualität zu, sondern sie hat den Sinn, die kantonalen Vollzugsbehörden (und die Steuerpflichtigen bzw. die Versicherungsgesellschaft) frühzeitig über die Rechtsauffassung der antrags- und beschwerdebefugten Aufsichtsbehörde zu informieren (
BGE 121 II 473
E. 3).
3.
a) Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, bei der Prüfung eines Vertragsmodells der Säule 3a sei das dargestellte steuerrechtliche System der direkten Bundessteuer nicht massgebend. Der Eidgenössischen Steuerverwaltung komme hier die Funktion zu, an der Schnittstelle zwischen Vorsorge- und Steuerrecht den Entscheid darüber zu fällen, ob sowohl für die Bundessteuer als auch für die kantonalen Steuern ein vorgelegtes Versicherungsmodell den gesetzlichen Anforderungen genügt und als gebundene Vorsorgeversicherung gemäss
Art. 82 BVG
und
Art. 1 BVV 3
anerkannt wird. Die Vorinstanzen sind demgegenüber der Auffassung, die Eidgenössische Steuerverwaltung habe auch hier lediglich im Sinne einer Meinungsäusserung die für den Bereich der gebundenen Selbstvorsorge vorgelegten Versicherungsverträge zu prüfen, während die Entscheidkompetenz den kantonalen Behörden (für die direkte Bundessteuer und um so mehr für die kantonalen Steuern) zukomme.
b) Gemäss
Art. 34quater Abs. 1 BV
trifft der Bund Massnahmen für eine ausreichende Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge; diese beruht auf einer eidgenössischen Versicherung (AHV), der
BGE 124 II 383 S. 387
beruflichen Vorsorge und der Selbstvorsorge. Für die Selbstvorsorge bestimmt
Art. 34quater Abs. 6 BV
, dass der Bund in Zusammenarbeit mit den Kantonen die Selbstvorsorge, insbesondere durch Massnahmen der Fiskal- und Eigentumspolitik zu fördern hat. Der Verfassungsgeber hat dem Bund damit eine neue Kompetenz zugewiesen, welche die Steuersouveränität der Kantone einschränkt und diesen nur noch erlaubt, bei der Wahl und der Anwendung der Förderungsmassnahmen mitzuwirken (
BGE 119 Ia 241
E. 6a). Der Gesetzgeber hat von der neuen Bundeskompetenz Gebrauch gemacht und in
Art. 82 BVG
die steuerliche Gleichstellung anderer Vorsorgeformen mit den Vorsorgeeinrichtungen der beruflichen Vorsorge (2. Säule) vorgenommen. Danach können Arbeitnehmer und Selbständigerwerbende auch Beiträge für weitere, ausschliesslich und unwiderruflich der beruflichen Vorsorge dienende, anerkannte Vorsorgeformen abziehen (Abs. 1). Der Bundesrat legt in Zusammenarbeit mit den Kantonen die anerkannten Vorsorgeformen und die Abzugsberechtigung für Beiträge fest (Abs. 2). Gestützt hierauf hat der Bundesrat die BVV 3 erlassen, welche in Art. 1 die anerkannten Vorsorgeformen der Säule 3a bestimmt und in Art. 7 die Abzugsberechtigung für die Beiträge bei den direkten Steuern von Bund, Kantonen und Gemeinden vorsieht. Die entsprechenden Bestimmungen lassen dabei den Kantonen keinen Gestaltungsspielraum, wie das Bundesgericht festgehalten hat (
BGE 119 Ia 241
E. 4b S. 247). Gemäss
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
sind Vertragsmodelle für gebundene Vorsorgeversicherungen und -vereinbarungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung einzureichen. Diese prüft, ob Form und Inhalt den gesetzlichen Vorschriften entsprechen, und teilt das Ergebnis mit.
c) Die Eidgenössische Steuerverwaltung und das Eidgenössische Finanzdepartement sind der Auffassung, die Prüfung der Vertragsmodelle durch die Eidgenössische Steuerverwaltung habe einzig steuerrechtliche Aspekte zum Gegenstand. Im Bereich der direkten Bundessteuer stehe der Eidgenössischen Steuerverwaltung keine direkte Weisungs- oder Verfügungskompetenz zu, und für die direkten Steuern von Kantonen und Gemeinden könne die Meinungsäusserung der Eidgenössischen Steuerverwaltung ohnehin nicht bindend sein. Kantone und Gemeinden hätten sich zwar an das Harmonisierungsrecht des Bundes zu halten, doch ändere das an der Zuständigkeit und Entscheidkompetenz nichts.
d) Diese rein steuerrechtliche Betrachtungsweise trägt dem Sinn und Zweck der beruflichen Vorsorge nicht hinreichend Rechnung und verkennt
BGE 124 II 383 S. 388
die Funktion der gebundenen Selbstvorsorge (Säule 3a). Diese ermöglicht Selbständigerwerbenden und Arbeitnehmern ohne oder mit ungenügender beruflicher Vorsorge (2. Säule) auf Grundlage anerkannter Vorsorgeformen die wirtschaftliche Vorsorge für die Risiken des Alters, des Todes und der Invalidität und dient insoweit dem sozialen Ziel der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, wie es von
Art. 34quater BV
angestrebt wird. Vorsorgeformen der Säule 3a müssen nach
Art. 82 Abs. 1 BVG
ausschliesslich und unwiderruflich der beruflichen Vorsorge dienen. Sie sind nur Erwerbstätigen (Arbeitnehmern oder Selbständigerwerbenden) zugänglich (
Art. 82 Abs. 1 BVG
). Zulässig sind nur gebundene Vorsorgevereinbarungen mit Bankstiftungen oder gebundene Vorsorgeversicherungen mit Versicherungseinrichtungen (vgl.
Art. 1 Abs. 1 und 2 BVV 3
). Der Kreis der begünstigten Personen kann nicht frei gewählt werden, sondern ist in
Art. 2 BVV 3
zur Sicherung des Vorsorgezweckes gesetzlich vorgeschrieben.
Art. 3 BVV 3
sichert den Vorsorgezweck bei Ausrichtung der Leistung, Art. 4 bei Abtretung, Verpfändung und Verrechnung von Leistungsansprüchen, Art. 5 enthält die Anlagevorschriften. Die Vertragsmodelle für gebundene Vorsorgeversicherungen und -vereinbarungen sind somit besondere Versicherungs- oder Sparverträge, die besonderen und zwingenden gesetzlichen Vorschriften unterstehen (vgl.
Art. 1 Abs. 3 BVV 3
).
e)
Art. 82 Abs. 1 BVG
setzt für den Abzug von Beiträgen an Einrichtungen der gebundenen Selbstvorsorge voraus, dass die Vorsorgeform "anerkannt" ist. Die Bestimmung sieht somit ein besonderes Anerkennungsverfahren vor. Dieses ist nach
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
vor der Eidgenössischen Steuerverwaltung durchzuführen, der die Vertragsmodelle einzureichen sind und die zu prüfen hat, ob Form und Inhalt der Vertragsmodelle den gesetzlichen Vorschriften entsprechen. Die Anerkennung bezieht sich nicht unmittelbar auf die steuerliche Abzugsberechtigung der Beiträge, sondern auf die Vorsorgeform als solche (vgl.
Art. 82 Abs. 1 BVG
und
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
). Bei der Prüfung geht es somit nicht lediglich darum, einen in Aussicht genommenen Sachverhalt auf die steuerrechtlichen Folgen zu beurteilen, wie dies in
BGE 121 II 473
in bezug auf die freie Selbstvorsorge (Säule 3b) der Fall war. Vielmehr soll das Vertragsmodell selber darauf überprüft werden, ob es den Anforderungen entspricht, um als gebundene Selbstvorsorge im Sinne von
Art. 82 BVG
anerkannt zu werden.
Die Anforderungen an Form und Inhalt der Vertragsmodelle sind in
Art. 82 BVG
und in der BVV 3 detailliert geregelt (vgl. oben lit. d).
BGE 124 II 383 S. 389
Die Anerkennung eines Vertragsmodells der Säule 3a ist nicht bloss die Mitteilung einer Rechtsauffassung, wie dies für Meinungsäusserungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung über die steuerliche Behandlung von Anlageformen der Säule 3b zutrifft, für die keine Vorlagepflicht besteht (vgl. dazu
BGE 121 II 473
E. 3a S. 481). Mit der Anerkennung im Sinne von
Art. 82 Abs. 1 BVG
bzw.
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
wird vielmehr durch eine behördliche Anordnung im Einzelfall autoritativ erkannt, dass ein Vertragsmodell die für die Säule 3a gültigen gesetzlichen Voraussetzungen formeller und inhaltlicher Art erfüllt. Die Feststellung, dass ein Vertragsmodell nach Form und Inhalt den gesetzlichen Vorschriften entspricht (
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
), bezieht sich auf das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechten und Pflichten (Feststellung der Übereinstimmung eines Vertragsmodells mit den gesetzlichen Vorschriften) und stellt somit eine (Feststellungs-)Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
dar. Es ist nicht von Belang, dass
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
die Anerkennung nicht ausdrücklich als Verfügung bezeichnet und untechnisch bloss von der Mitteilung des Ergebnisses der Prüfung spricht.
f) Ginge der in
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
vorgesehenen Anerkennung der Verfügungscharakter ab, würde ein in Aussicht genommenes Vertragsmodell bei einer negativen Einschätzung der Eidgenössischen Steuerverwaltung praktisch hinfällig, wenn deren Entscheid nicht im Rechtsmittelverfahren überprüft werden könnte. Es ist weder den Versicherungseinrichtungen und Bankstiftungen, welche die gebundene Selbstvorsorge betreiben wollen, noch den Versicherten selber zumutbar, einen Vorsorgevertrag einzugehen, ohne dass gewiss wäre, ob es sich dabei um eine anerkannte Vorsorgeform handelt und die Beiträge steuerlich abgezogen werden können. Die Beschwerdeführerin hat somit als Versicherungseinrichtung, die ein Vertragsmodell als Säule 3a anbieten will, gestützt auf die Handels- und Gewerbefreiheit (
Art. 31 BV
) ein Rechtsschutzinteresse, dass über die Anerkennung ihres Vertragsmodells mit Feststellungsverfügung entschieden wird.
g) Das steht nicht im Widerspruch zu
BGE 121 II 473
. Im dort beurteilten Fall, der die freie Selbstvorsorge (Säule 3b) betraf, fehlte eine Pflicht, vorgängig das Vertragsmodell von der Eidgenössischen Steuerverwaltung anerkennen zu lassen. Würde über die Steuerfolgen eines in Aussicht genommenen Rechtsgeschäftes im Bereich der Säule 3b mit einer beschwerdefähigen Feststellungsverfügung entschieden, liefe dies auf eine vorgängige konsultative
BGE 124 II 383 S. 390
Beanspruchung der Steuerjustiz hinaus. Die Konsultation über die Steuerfolgen bloss geplanter Geschäfte kann aber nicht die Aufgabe des Justizverfahrens sein. Im Bereich der Säule 3a ist jedoch ein besonderes Anerkennungsverfahren ausdrücklich vorgesehen, in dem auch der gesetzliche Rechtsschutz zu gewähren ist.
Die vom Bundesrat der Eidgenössischen Steuerverwaltung in
Art. 1 Abs. 4 BVV 3
zugewiesene Zuständigkeit steht auch nicht in Widerspruch zur steuerrechtlichen Kompetenzordnung bei der direkten Bundessteuer und den Steuern von Kantonen und Gemeinden. Sie stützt sich auf
Art. 82 BVG
und nicht auf das Gesetz über die direkte Bundessteuer oder auf das Steuerharmonisierungsgesetz. Es ist auch durchaus sachgerecht, wenn die Beurteilung von Vorsorgeformen der Säule 3a, die gesamtschweizerisch vertrieben werden, durch eine Bundesbehörde erfolgt. Jedenfalls lässt sich nicht sagen, der Bundesrat habe die ihm in
Art. 82 Abs. 2 BVG
delegierten Kompetenzen für die Regelung der anerkannten Vorsorgeformen überschritten oder es liege sonstwie ein Verstoss gegen Gesetz oder Verfassung vor (
BGE 114 Ib 17
E. 2;
BGE 118 Ib 81
E. 3b, 536 E. 1;
BGE 120 Ib 97
E. 3a), wenn der Bundesrat die Prüfung der Vertragsmodelle der Eidgenössischen Steuerverwaltung übertragen hat.
4.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung hätte somit über das Begehren der Beschwerdeführerin um Anerkennung ihres Vorsorgemodells mit beschwerdefähiger Verfügung befinden müssen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich daher, soweit darauf einzutreten ist, als begründet, der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Eidgenössische Steuerverwaltung anzuweisen, eine beschwerdefähige Verfügung zu erlassen.
Entsprechend diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben, da die Eidgenössische Steuerverwaltung im vorliegenden Fall nicht finanzielle Interessen des Bundes verfolgt hat (
Art. 156 Abs. 2 OG
). Hingegen hat die Eidgenössische Steuerverwaltung der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren und für das Verfahren vor dem Departement auszurichten (
Art. 159 Abs. 2 OG
). | de |
3da4f950-7b47-4b6b-aeef-e58f8f6d2018 | Sachverhalt
ab Seite 212
BGE 117 II 211 S. 212
Mit Urteil des Kantonsgerichts vom 21. September 1977 wurde die am 12. Juli 1966 geschlossene Ehe von O.X., geboren 1936, und P.Y., geboren 1937, geschieden. Die drei Kinder wurden unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt, und O.X. wurde verpflichtet, an deren Unterhalt monatliche Beiträge von je Fr. 750.-- zu leisten. Ferner genehmigte das Kantonsgericht die Scheidungskonvention vom 16. August 1977, wonach sich O.X. unter anderem verpflichtete, der geschiedenen Ehefrau eine "Rente gemäss
Art. 151 ZGB
" von Fr. 1'900.--, bei Untergang der Unterhaltspflicht gegenüber den Kindern jedes Mal um Fr. 100.-- erhöht, im Monat zu zahlen.
Mit Eingabe vom 27. Juni 1988 reichte P.X.-Y. beim Kantonsgericht gegen O.X. Klage ein mit dem Rechtsbegehren, die Unterhaltsbeiträge für den (von den Kindern damals noch einzig unterhaltsberechtigten) Sohn M. und für sie persönlich seien mit Wirkung ab 1. November 1987 um 25% zu erhöhen; ferner sei dem Scheidungsurteil eine Indexklausel beizugeben, welche ohne Abänderungsklage die der Teuerung angepasste Rente erkennen lasse.
Der Beklagte schloss auf Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem Begehren, die der Klägerin gemäss Scheidungsurteil zustehende Rente nach
Art. 151 ZGB
sei auf einen Betrag zu reduzieren, den er nach durchgeführtem Instruktionsverfahren noch bezeichnen werde.
Das Kantonsgericht hiess die Klage am 1. Juni 1989 insofern gut, als es die scheidungsrichterliche Regelung der Unterhaltsbeiträge durch eine Indexklausel ergänzte; die Widerklage wies es vollumfänglich ab.
Hiergegen erhoben der Beklagte Appellation und die Klägerin Anschlussappellation, worauf das kantonale Obergericht am 29. März 1990 erkannte, Klage und Widerklage würden abgewiesen.
BGE 117 II 211 S. 213
Gegen das obergerichtliche Urteil hat der Beklagte beim Bundesgericht Berufung eingereicht mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei bezüglich seiner Widerklage aufzuheben und diese sei gutzuheissen.
Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Gemäss
Art. 153 Abs. 2 ZGB
wird eine wegen Bedürftigkeit ausgesetzte Rente (
Art. 152 ZGB
) auf Verlangen des pflichtigen Ehegatten aufgehoben oder herabgesetzt, wenn die Bedürftigkeit nicht mehr besteht oder in erheblichem Masse abgenommen hat sowie wenn die Vermögensverhältnisse des Pflichtigen der Höhe der Rente nicht mehr entsprechen. Dass die Rente unter Umständen auf einer Vereinbarung der geschiedenen Ehegatten beruht, steht der Aufhebung oder Herabsetzung nicht entgegen (dazu
BGE 105 II 168
f. E. 1). Zur Vermeidung von Härten lässt die bundesgerichtliche Rechtsprechung seit langem zu, dass auch eine Rente nach
Art. 151 Abs. 1 ZGB
- soweit zur Abgeltung des Verlustes des ehelichen Unterhaltsanspruchs bestimmt - herabgesetzt oder aufgehoben werden kann, wenn die Lage des Pflichtigen sich wesentlich verschlechtert hat (
BGE 110 II 114
f. E. 3b).
b) Hingegen hat das Bundesgericht bisher stets dafürgehalten, eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf seiten des Berechtigten bilde bei der Unterhaltsersatzrente nach
Art. 151 ZGB
keinen Herabsetzungsgrund (dazu
BGE 110 II 114
f. E. 3b mit Hinweis; vgl. auch
BGE 115 II 316
E. 4a mit Hinweis; abweichend das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 14. Mai 1947, veröffentlicht in: ZR 46/1947 Nr. 70). Unter Hinweis auf die Anregungen von HINDERLING (Das schweizerische Ehescheidungsrecht, 3. A., S. 144) und BÜHLER/SPÜHLER (N. 59 zu
Art. 1 53
ZGB) sowie auf die Kritik von DESCHENAUX/TERCIER (Le mariage et le divorce, 3. A., S. 129, Rz. 673) vertritt der Beklagte die Ansicht, die bisherige Praxis sei aufzugeben und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf seiten des Rentenberechtigten sei auch bei der Unterhaltsersatzrente als Herabsetzungsgrund zuzulassen (zu dieser Frage auch PIOTET, Des rapports entre les articles 151 et 152 CC, in: JdT 1986 I S. 100, und PETER SCHUMACHER, Die Abänderbarkeit der Unterhaltsersatzrente nach
Art. 151 Abs. 1 ZGB
, in: SJZ 87/1991, S. 93 ff.).
BGE 117 II 211 S. 214
2.
a) Dass die der Klägerin gemäss Scheidungsurteil zustehende Rente ausschliesslich auf
Art. 151 Abs. 1 ZGB
beruht, anerkennt auch der Beklagte. Sein Standpunkt weicht jedoch insofern von der klägerischen Auffassung ab, als er die Rente in vollem Umfang als Entschädigung für den entgangenen ehelichen Unterhalt geschuldet wissen will, während die Klägerin in der Rente auch Ersatz für den Verlust von Ansprüchen güterrechtlicher Natur erblickt.
b) Dem angefochtenen Urteil lässt sich entnehmen, dass das Obergericht die Rente mindestens zum Teil als Unterhaltsersatzrente betrachtet hat, begründet es doch die Abweisung der Widerklage damit, die Abänderung einer Rente nach
Art. 151 Abs. 1 ZGB
sei nur insoweit möglich, als sich die Verhältnisse auf seiten des Pflichtigen verschlechtert hätten. Aufgrund ihrer Betrachtungsweise hatte die Vorinstanz keinen Anlass, zu prüfen, in welchem Masse die zwischen den Parteien seinerzeit vereinbarte Rente allenfalls auch als Abgeltung von Anwartschaften gedacht war. Sollte die vom Beklagten mit gewichtigen Argumenten verlangte Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung zum Schluss führen, dass der geltend gemachte Herabsetzungsgrund auch bei Unterhaltsersatzrenten gemäss
Art. 151 Abs. 1 ZGB
zum Tragen kommt, müsste die Sache nach dem Gesagten zur näheren Abklärung der Natur der strittigen Rente an das Obergericht zurückgewiesen werden.
3.
a) Bei
Art. 151 Abs. 1 ZGB
, wonach der schuldige Ehegatte dem schuldlosen Ehegatten eine angemessene Entschädigung zu entrichten hat, falls durch die Scheidung der Ehe dessen Vermögensrechte oder Anwartschaften beeinträchtigt werden, handelt es sich nach herrschender Auffassung um eine Bestimmung mit schadenersatzrechtlichen Zügen (dazu
BGE 107 II 400
E. b; BÜHLER/SPÜHLER, N. 11 zu
Art. 151 ZGB
; HAUSHEER, Das neue Eherecht und seine Auswirkungen auf die Scheidung, in: Berner Tage für die juristische Praxis 1987, S. 212; DESCHENAUX/TERCIER, a.a.O., S. 122 f., Rz. 634). Dies kommt auch in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Ausdruck, wo erklärt wird,
Art. 151 Abs. 1 ZGB
habe den Zweck, grundsätzlich den Schaden zu decken, der bei der Scheidung dadurch entstehe, dass die Versorgung der Ehegatten (und gegebenenfalls der Kinder) nicht mehr durch das einträchtige Zusammenwirken von Mann und Frau im gemeinsamen Haushalt gesichert sei (
BGE 115 II 8
f. E. 3). Soweit das Bundesgericht in seiner bisherigen Praxis ausdrücklich dargelegt hat, weshalb eine sinngemässe Anwendung von
Art. 153
BGE 117 II 211 S. 215
Abs. 2 ZGB
auf Unterhaltsersatzrenten nach
Art. 151 Abs. 1 ZGB
im Falle einer Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf seiten des Berechtigten nicht in Frage komme, hat es ebenfalls auf den Schadenersatzcharakter dieser Rente hingewiesen (
BGE 100 II 249
E. a).
b) Dem Beklagten ist einzuräumen, dass eine streng schadenersatzrechtliche Betrachtungsweise eine nachträgliche Abänderung einer Unterhaltsersatzrente in jedem Fall, d.h. auch dann verbieten würde, wenn sie wegen einer (wesentlichen) Verminderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Rentenpflichtigen verlangt wird (so auch BÜHLER/SPÜHLER, N. 59 zu
Art. 153 ZGB
). Allerdings finden - wie der Beklagte ebenfalls mit Recht bemerkt - die Grundsätze des allgemeinen Schadenersatzrechts schon bei der Festsetzung einer Rente nach
Art. 151 Abs. 1 ZGB
durch den Scheidungsrichter nicht uneingeschränkt Anwendung. Dass diese Bestimmung nicht Anspruch auf vollen Schadenersatz gewährt, hat das Bundesgericht etwa mit der Feststellung zum Ausdruck gebracht, der geschiedenen Ehefrau stehe für den Verlust des ehelichen Unterhaltsanspruchs gemäss Art. 160 Abs. 2 aZGB lediglich eine angemessene Entschädigung zu, die nicht die Beibehaltung des Lebensstandards vor der Scheidung ermögliche, aber in einem gewissen Masse, und soweit es die Verhältnisse rechtfertigten, die infolge der Scheidung wegfallenden wirtschaftlichen Vorteile ausgleichen solle (so
BGE 98 II 165
E. 2). In andern Entscheiden wurde erklärt, die schadenersatzrechtlichen Grundsätze dürften nicht schematisch angewendet werden (vgl.
BGE 109 II 290
;
BGE 108 II 82
).
4.
a) Noch unter der Herrschaft des Eherechts, wie es bis zum 31. Dezember 1987 galt, ist das Bundesgericht davon ausgegangen, dass die Ehescheidung für die nach Art. 160 Abs. 2 aZGB unterhaltsberechtigte Frau nicht zwangsläufig zu einer dauernden wirtschaftlichen Einbusse führe und es deshalb nicht in jedem Fall gerechtfertigt sei, eine unbefristete Unterhaltsersatzrente zuzusprechen. Nach Massgabe der konkreten Gegebenheiten (Dauer der Ehe; Alter und Gesundheitszustand der Frau; Alter allfälliger Kinder) und Möglichkeiten (berufliche Fähigkeiten; Lage auf dem Arbeitsmarkt) ist der geschiedenen Ehefrau - gewissermassen im Sinne einer Schadenminderungspflicht (dazu HAUSHEER, a.a.O., S. 213) - zunehmend zugemutet worden, hauptsächlich vom Zeitpunkt an, da das Betreuungsbedürfnis allfälliger Kinder entscheidend nachgelassen hat, eine Erwerbstätigkeit anzunehmen
BGE 117 II 211 S. 216
(vgl.
BGE 109 II 185
ff.). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt mit andern Worten schon seit einiger Zeit, dass im einzelnen Fall geprüft werde, ob die geschiedene Ehefrau sich auf längere Sicht eine wirtschaftliche Situation wird schaffen können, welche die durch die Scheidung erlittenen Nachteile auszugleichen vermag und die Zusprechung einer Unterhaltsersatzrente nur für eine bestimmte Zeit rechtfertigt (so
BGE 111 II 306
). Mit Rücksicht auf die Wandlungen in der Gesellschaft im allgemeinen und insbesondere auch auf die Tendenz, die Ehe immer mehr als partnerschaftliche Gemeinschaft zu betrachten, wurde mithin noch vor dem Inkrafttreten des neuen Eherechts damit begonnen, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der geschiedenen Frau stärker Rechnung zu tragen.
b) Der neue, seit 1. Januar 1988 - gemäss Art. 8 Abs. 1 SchlTZGB auch für altrechtliche Ehen - geltende
Art. 163 ZGB
hat im Vergleich zum früheren Recht eine bedeutsame Änderung gebracht, indem nicht mehr grundsätzlich der Ehemann allein für den (finanziellen) Unterhalt von Frau und Kind aufzukommen hat (Art. 160 Abs. 2 aZGB), sondern nunmehr die Ehegatten gemeinsam, ein jeder nach seinen Kräften, für den Unterhalt der Familie zu sorgen haben (
Art. 163 Abs. 1 ZGB
). Dabei wird es den Ehegatten überlassen, sich über den Beitrag eines jeden zu verständigen. Dieser kann namentlich etwa durch Geldzahlungen, Besorgen des Haushaltes, Betreuen der Kinder oder durch Mithilfe im Beruf oder Gewerbe des andern Ehegatten erbracht werden (
Art. 163 Abs. 2 ZGB
). Die Ehefrau hat damit keinen gesetzlichen Anspruch mehr, ihren Beitrag durch die Führung des Haushaltes zu leisten und von einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich befreit zu sein (
BGE 114 II 16
E. 3, 302 E. a). Eine solche anzunehmen, kann sie sich unter Umständen auch dann genötigt sehen, wenn sich die Ehegatten anfänglich auf eine andere Aufgabenteilung geeinigt haben, die Verhältnisse - etwa wegen Krankheit oder Verlust einer Arbeitsstelle, aber auch infolge Scheidung der Ehe - sich jedoch wesentlich verändert haben (
BGE 114 II 302
E. a). Zu beachten ist auch, dass die Leistungspflicht eines Ehegatten sich erhöhen kann, wenn seine Leistungsfähigkeit - beispielsweise als Folge eines beruflichen Aufstiegs - erheblich zugenommen hat (vgl. HAUSHEER, a.a.O., S. 221 f.; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Kommentar zum Eherecht, N. 46 zu
Art. 163 ZGB
).
c) Nach der dargelegten Praxis hat der Scheidungsrichter bei der Festsetzung von Höhe und Dauer einer Unterhaltsersatzrente
BGE 117 II 211 S. 217
gemäss Art, 151 Abs. 1 ZGB schon seit einiger Zeit, hauptsächlich seit dem Inkrafttreten des neuen Eherechts, auch die Leistungsfähigkeit des anspruchsberechtigten Ehegatten einzubeziehen. Eine unvorhergesehene spätere Verbesserung dieser Leistungsfähigkeit vollkommen ausser acht zu lassen und eine entsprechende Abänderung der Rente in jedem Fall von vornherein zu verweigern, lässt sich nach dem Gesagten durch nichts rechtfertigen. In Abänderung der bisherigen Rechtsprechung ist deshalb davon auszugehen, dass grundsätzlich auch eine Unterhaltsersatzrente bei einer Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf seiten des rentenberechtigten Ehegatten herabgesetzt werden kann.
5.
a) Die Herabsetzung (oder Aufhebung) einer Rente aufgrund der hier sinngemäss heranzuziehenden Bestimmung von
Art. 153 Abs. 2 ZGB
fällt nur in Betracht, wenn sich die massgeblichen wirtschaftlichen Verhältnisse erheblich verändert haben und die neuen Gegebenheiten nach menschlichem Ermessen von Dauer sind (
BGE 96 II 302
E. 3); bloss vorübergehende Schwankungen vermögen einen Herabsetzungsanspruch nicht zu begründen (BÜHLER/SPÜHLER, N. 53 zu
Art. 153 ZGB
). Wo die Klage - wie hier - mit einer Verbesserung der Einkommensverhältnisse des Rentenberechtigten begründet wird, kann ihr ausserdem nur dann entsprochen werden, wenn im Zeitpunkt der Scheidung nicht vorauszusehen war, dass der angerufene Umstand eintreten werde (
BGE 96 II 303
E. 5a).
b) Das Obergericht, das die Widerklage des Beklagten gestützt auf die bisherige Praxis zur Herabsetzung von Unterhaltsersatzrenten aus grundsätzlichen Überlegungen abwies, hatte keinen Anlass, auf die genannten Punkte näher einzugehen und die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, und die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese einerseits abkläre, in welchem Masse der strittigen Rente Unterhaltsersatzcharakter zukommt (vgl. E. 2), und andererseits prüfe, ob die vom Beklagten geltend gemachte Verbesserung der klägerischen Einkommensverhältnisse erheblich und von Dauer sei und im Zeitpunkt der Scheidung nicht habe vorausgesehen werden können. Gegebenenfalls wird das Obergericht schliesslich zu entscheiden haben, in welchem Umfang die Rente herabzusetzen sei.
... | de |
bfa584ea-87fb-4646-95c8-3290871201a0 | Erwägungen
ab Seite 202
BGE 136 IV 201 S. 202
Aus den Erwägungen:
1.
Nach
Art. 18 der Verordnung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements vom 10. Juni 1999 über die Produktion und das Inverkehrbringen von Futtermitteln, Zusatzstoffen für die Tierernährung, Silierungszusätzen und Diätfuttermitteln (Futtermittelbuch-Verordnung, FMBV; SR 916.307.1)
werden die Stoffe, die als Futtermittel verboten sind, in Anhang 4 aufgeführt. Gemäss Teil 2 lit. l des Anhangs 4 zur Futtermittelbuch-Verordnung dürfen Hanf oder Produkte davon in jeder Form oder Art weder zur Produktion von Futter für Nutztiere noch als Futter für Nutztiere in Verkehr gebracht oder an Nutztiere verfüttert werden. Die Futtermittelbuch-Verordnung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements stützt sich unter anderem auf
Art. 23a Abs. 1 und
Art. 23b Abs. 3 der Verordnung des Bundesrates vom 26. Mai 1999 über die Produktion und das Inverkehrbringen von Futtermitteln (Futtermittel-Verordnung; SR 916.307)
. Die Futtermittel-Verordnung regelt die Einfuhr, das Inverkehrbringen und die Produktion von Futtermitteln für Nutztiere und Heimtiere (Art. 1 Abs. 1). Sie gilt nicht unter anderem für Ausgangsprodukte, die in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf produziert werden, soweit nichts anderes bestimmt ist (Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung). Art. 23a der Futtermittel-Verordnung, eingefügt durch Verordnung vom 26. November 2003, in Kraft seit 1. Januar 2004 (AS 2003 4927), regelt das "Verwendungsverbot". Nach Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung kann das Departement die Stoffe festlegen, deren Verwendung als Futtermittel verboten ist. Art. 23b der Futtermittel-Verordnung, eingefügt durch Verordnung vom 23. November 2005, in Kraft seit 1. Januar 2006 (AS 2005 5555), regelt die "Anforderungen an die Verwendung". Gemäss Art. 23b Abs. 3 der Futtermittel-Verordnung kann das Departement Bestimmungen erlassen über (a) die Produktion von Futtermitteln in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf; (b) die Verwendung von Futtermitteln.
(...)
1.3
Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung vom 26. Mai 1999 bestimmte in seiner ursprünglichen Fassung Folgendes: "Die Verordnung gilt nicht für alle auf landwirtschaftlichen Betrieben anfallenden Ausgangsprodukte und Einzelfuttermittel, soweit sie nicht in Verkehr gebracht werden" (AS 1999 1780). Das Bundesgericht entschied im Urteil 6B_927/2008 vom 2. Juni 2009 (E. 6), dass
BGE 136 IV 201 S. 203
Hanfpflanzen, welche ein Landwirt zum Zwecke der Verfütterung an seine eigenen Nutztiere produziert, erntet und in einer Grastrocknungsanlage zu Hanffutterwürfeln verarbeiten lässt, nicht im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in der ursprünglichen Fassung vom 26. Mai 1999 "auf landwirtschaftlichen Betrieben
anfallende
Ausgangsprodukte und Einzelfuttermittel" sind.
Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in seiner ursprünglichen Fassung wurde entgegen einer Bemerkung im Bundesgerichtsurteil 6B_927/2008 vom 2. Juni 2009 (E. 6) nicht erst durch Verordnung vom 25. Juni 2008, in Kraft seit 1. September 2008 (AS 2008 3655), geändert. Die Bestimmung wurde vielmehr bereits durch Verordnung vom 23. November 2005, in Kraft seit 1. Januar 2006 (AS 2005 5555), revidiert. Das Bundesgericht hat diese Änderung, die auch in der Internet-Version der Systematischen Sammlung des Bundesrechts betreffend die Futtermittel-Verordnung in der Rubrik "Änderungen/Aufhebungen", offenbar aus Versehen, nicht angezeigt wird, im genannten Entscheid übersehen. Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in der Fassung gemäss Verordnung vom 23. November 2005, in Kraft seit 1. Januar 2006, lautete wie folgt: "Die Verordnung gilt nicht für Ausgangserzeugnisse und Futtermittel, die in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf produziert werden, soweit nichts anderes bestimmt ist" (AS 2005 5555). Diese Bestimmung wurde durch Verordnung vom 25. Juni 2008, in Kraft seit 1. September 2008, lediglich redaktionell leicht modifiziert, indem die Formulierung "Ausgangserzeugnisse und Futtermittel" durch den Begriff "Ausgangsprodukte" ersetzt wurde (AS 2008 3655). Das Bundesgericht hätte mithin im Urteil 6B_927/2008 vom 2. Juni 2009, der einen Fall des Anbaus von Hanf im Jahre 2006 zwecks Verfütterung an die eigenen Nutztiere betraf, die darin offengelassenen Fragen entscheiden müssen, ob der Landwirt, der Hanf zwecks Verfütterung an seine Nutztiere produziert, im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung, in der bereits seit 1. Januar 2006 geltenden Fassung, Futtermittel für den Eigenbedarf produziert, und welche Konsequenzen sich gegebenenfalls daraus insoweit in Bezug auf die Gültigkeit des in der Futtermittelbuch-Verordnung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements seit 1. März 2005 statuierten allgemeinen Verbots der Verfütterung von Hanf an Nutztiere ergeben, das sich auf die Futtermittel-Verordnung des Bundesrates stützt. Diese Fragen sind im vorliegenden Verfahren zu entscheiden.
BGE 136 IV 201 S. 204
1.4
1.4.1
Art. 23a der Futtermittel-Verordnung wurde durch Verordnung vom 26. November 2003, in Kraft seit 1. Januar 2004, eingefügt. In jenem Zeitpunkt sah Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung, entsprechend seiner ursprünglichen Fassung gemäss Verordnung vom 26. Mai 1999, noch vor, dass die Verordnung nicht galt für alle auf landwirtschaftlichen Betrieben anfallenden Ausgangsprodukte und Einzelfuttermittel, soweit sie nicht in Verkehr gebracht wurden. Insoweit war, wovon auch die Beschwerdeführerin auszugehen scheint, Art. 23a der Futtermittel-Verordnung nicht anwendbar und konnte somit das Departement nicht gestützt auf Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung Verwendungsverbote erlassen. Nach der Auffassung der Beschwerdeführerin hat sich aber der Anwendungsbereich von Art. 23a der Futtermittel-Verordnung mit der Revision von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung durch Verordnung vom 23. November 2005, in Kraft seit 1. Januar 2006, erweitert. Die Beschwerdeführerin sieht in Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung eine Vorschrift, durch welche im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in der seit 1. Januar 2006 in Kraft stehenden, revidierten Fassung etwas "anderes bestimmt" ist.
1.4.2
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung trat zwei Jahre vor der Revision von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in Kraft und wurde im Rahmen der Revision der letztgenannten Bestimmung nicht geändert. Soweit eine Vorschrift der Futtermittel-Verordnung abweichend vom Grundsatz gemäss Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung ausnahmsweise auch für Ausgangsprodukte, die in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf produziert werden, gelten soll, muss dies in der Vorschrift klar bestimmt sein. Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung, dessen Wortlaut seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 2004 unverändert geblieben ist, sieht aber nicht vor, dass das Departement die Verwendung bestimmter Stoffe als Futtermittel auch verbieten kann, soweit die Futtermittel in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf produziert werden. Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung unterscheidet sich darin wesentlich von Art. 23b Abs. 3 lit. a der Futtermittel-Verordnung, der - im Sinne einer Ausnahme gemäss Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung - explizit vorsieht, dass das Departement Bestimmungen über die Produktion von Futtermitteln in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf erlassen kann.
BGE 136 IV 201 S. 205
1.4.3
Die Futtermittel-Verordnung ist, unter Vorbehalt abweichender Bestimmungen, gemäss ihrem Art. 1 Abs. 2 lit. a in der seit 1. Januar 2006 geltenden Fassung nicht anwendbar auf Ausgangsprodukte beziehungsweise Futtermittel, die in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf produziert werden. Massgebend ist somit, dass das
Futtermittel
für den Eigenbedarf bestimmt ist. Diese in Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung genannte Voraussetzung ist auch erfüllt, wenn die aus den Nutztieren gewonnenen
Lebensmittel
(Fleisch, Milch etc.) ihrerseits nicht ebenfalls für den Eigenbedarf des Landwirts, sondern dazu bestimmt sind, in Verkehr gebracht zu werden.
1.4.4
Das in Teil 2 lit. l des Anhangs 4 zur Futtermittelbuch-Verordnung allgemein statuierte Verbot der Verfütterung von Hanf an Nutztiere kann somit nicht auf Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung gestützt werden, soweit der Landwirt selbst produzierten Hanf an seine Nutztiere verfüttert. An der Rechtsprechung kann daher nicht festgehalten werden, soweit darin die Auffassung vertreten wurde, das Verbot der Verfütterung von Hanf an Nutztiere lasse sich uneingeschränkt und somit auch im Falle der Verfütterung von selbst produziertem Hanf an die eigenen Nutztiere auf Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung stützen.
1.5
Die Futtermittel-Verordnung sieht indessen in Art. 23b ("Anforderungen an die Verwendung") vor, dass das Departement Bestimmungen erlassen kann über die Produktion von Futtermitteln in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf. Art. 23b der Futtermittel-Verordnung nimmt Bezug auf Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung. Dies ergibt sich auch daraus, dass Art. 23b der Futtermittel-Verordnung durch dieselbe Verordnung vom 23. November 2005, in Kraft seit 1. Januar 2006, eingefügt wurde, durch welche Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in dem Sinne geändert wurde, dass die Verordnung nicht gilt für die Produktion von Futtermitteln für den Eigenbedarf, soweit nichts anderes bestimmt wird. Art. 23b der Futtermittel-Verordnung hat seine formellgesetzliche Grundlage wie Art. 23a der Futtermittel-Verordnung in Art. 159a des Landwirtschaftsgesetzes vom 29. April 1998 (LwG; SR 910.1), wonach der Bundesrat Vorschriften über die Verwendung von Produktionsmitteln erlassen und insbesondere die Verwendung von Produktionsmitteln beschränken oder verbieten kann. Wenn gemäss Art. 23b Abs. 3 lit. a der Futtermittel-Verordnung das Departement Bestimmungen über die Produktion von Futtermitteln in einem Landwirtschaftsbetrieb
BGE 136 IV 201 S. 206
für den Eigenbedarf erlassen kann, so ist es dem Departement gestützt auf diese Delegationsnorm auch unbenommen, die Produktion von Hanf als Futtermittel in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf und damit
a fortiori
auch die Verfütterung von selbst produziertem Hanf an die eigenen Nutztiere zu verbieten. Daran vermag nichts zu ändern, dass Art. 23b der Futtermittel-Verordnung laut seinem Randtitel im Unterschied zu Art. 23a der Futtermittel-Verordnung nicht ein "Verwendungsverbot", sondern "Anforderungen an die Verwendung" regelt. Massgebend ist nicht in erster Linie der Randtitel, sondern der Inhalt einer Bestimmung. Der Randtitel von Art. 23b der Futtermittel-Verordnung ("Anforderungen an die Verwendung") ist ohnehin ungenau. Denn Bestimmungen über die Produktion von Futtermitteln für den Eigenbedarf, welche das Departement gemäss Art. 23b Abs. 3 lit. a der Futtermittel-Verordnung erlassen kann, betreffen nicht im eigentlichen Sinne "Anforderungen an die Verwendung".
1.6
Es ist kein vernünftiger Grund dafür ersichtlich, dass lediglich die Verfütterung von nicht selbst produziertem Hanf und nicht auch die Verfütterung von in einem Landwirtschaftsbetrieb selbst produziertem Hanf an die eigenen Nutztiere verboten sein soll. In Anbetracht des Zwecks des Hanfverfütterungsverbots, der darin besteht, dass Lebensmittel unter anderem aus Gründen des Gesundheitsschutzes frei von THC sein sollen, kann es keinen Unterschied machen, ob der Landwirt den an seine Nutztiere verfütterten Hanf von einem Dritten bezogen oder selbst produziert hat.
1.7
Zusammenfassend ergibt sich somit Folgendes. Das uneingeschränkte Verbot der Verfütterung von Hanf an Nutztiere gemäss Teil 2 lit. l des Anhangs 4 zur Futtermittelbuch-Verordnung kann, soweit der Landwirt selbst produzierten Hanf an seine eigenen Nutztiere verfüttert, nicht auf Art. 23a Abs. 1 der Futtermittel-Verordnung gestützt werden, da diese Bestimmung in Anbetracht von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Futtermittel-Verordnung in der seit 1. Januar 2006 geltenden Fassung auf die Produktion von Futtermitteln in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf gar nicht anwendbar ist. Das Verbot lässt sich aber auf Art. 23b Abs. 3 lit. a der Futtermittel-Verordnung in der seit 1. Januar 2006 geltenden Fassung stützen, wonach der Bundesrat Bestimmungen über die Produktion von Futtermitteln in einem Landwirtschaftsbetrieb für den Eigenbedarf erlassen kann. Das Verbot der Verfütterung von Hanf an Nutztiere hat somit, soweit es um selbst produzierten Hanf für die eigenen
BGE 136 IV 201 S. 207
Nutztiere geht, eine ausreichende gesetzliche Grundlage in Art. 23b Abs. 3 lit. a der Futtermittel-Verordnung und
Art. 159a LwG
und ist rechtmässig. Die Rechtsprechung ist daher im Ergebnis zu bestätigen.
1.8
Die Verfütterung von selbst produziertem Hanf an die eigenen Nutztiere stellt im Sinne von Art. 48 Abs. 1 lit. b des Lebensmittelgesetzes vom 9. Oktober 1992 (LMG; SR 817.0) eine Anwendung von verbotenen Stoffen bei der landwirtschaftlichen Produktion zwecks Herstellung von Lebensmitteln sowie im Sinne des am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Art. 173 Abs. 1 lit. i zweite Hälfte LwG eine Nichteinhaltung einer nach
Art. 159a LwG
erlassenen Vorschrift dar.
1.9
Der Freispruch des Beschwerdegegners von den Vorwürfen der Widerhandlung im Sinne von
Art. 48 Abs. 1 lit. b LMG
und Art. 173 Abs. 1 lit. i zweite Hälfte LwG sowie die Herausgabe der beschlagnahmten Hanffutterwürfel an den Beschwerdegegner können demnach nicht damit begründet werden, dass die Verfütterung von selbst produziertem Hanf an die eigenen Nutztiere nicht rechtsgültig verboten ist. | de |
4f61cf86-4141-424c-a350-8df4cd5a6e26 | Sachverhalt
ab Seite 311
BGE 115 II 309 S. 311
Die Ehe von A. und B. X.-Y. wurde durch Urteil des Bezirksgerichts N. vom 24. und 27. Juni 1966 geschieden. A. X. wurde verpflichtet, der geschiedenen Ehefrau eine Rente von zunächst Fr. 700.-- monatlich zu zahlen. Ferner wurde festgelegt, dass die Rente sich mit seiner Entlastung von der Unterhaltspflicht gegenüber den drei Kindern stufenweise erhöhe. Seit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes, d.h. seit 1. April 1973, betrug sie Fr. 1'000.-- im Monat.
Mit Eingabe vom 24. November 1987 erhob B. X. geborene Y. beim Bezirksgericht N. gegen A. X. Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils. Mit ihrem in der bezirksgerichtlichen Verhandlung ergänzten Rechtsbegehren verlangte sie, die ihr zugesprochene Rente sei dem aktuellen Stand der Teuerung anzupassen, d.h. neu auf Fr. 1'950.-- im Monat festzusetzen, und es sei für die Zukunft eine Indexierung vorzusehen.
Das Bezirksgericht hiess die Klage am 20. Mai 1988 gut und änderte das Scheidungsurteil dahin ab, dass der Beklagte mit Wirkung ab 1. Dezember 1987 eine monatliche und monatlich vorauszahlbare Rente nach
Art. 151 ZGB
von Fr. 1'950.-- zu zahlen habe und dass der Rentenbetrag für die Zukunft indexgebunden sei.
In teilweiser Gutheissung einer Berufung des Beklagten setzte das Kantonsgericht die Rente auf Fr. 1'500.-- im Monat fest; daneben formulierte es die Indexklausel neu.
Gegen das kantonsgerichtliche Urteil haben sowohl die Klägerin als auch der Beklagte Berufung erhoben. Die Klägerin beantragt, der Beklagte sei zu verpflichten, ihr eine Rente im indexierten Betrag von monatlich Fr. 1'950.-- zu bezahlen. Der Beklagte stellt seinerseits den Antrag, die Klage sei in Aufhebung des angefochtenen Urteils vollumfänglich abzuweisen.
Beide Parteien schliessen auf Abweisung der Berufung der Gegenpartei.
Die vom Beklagten gegen den kantonsgerichtlichen Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
hat die erkennende Abteilung am 6. Juni 1989 abgewiesen, soweit sie darauf eintrat.
BGE 115 II 309 S. 312 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Wie das Kantonsgericht zutreffend festhält, ist nach der in
BGE 100 II 245
ff. begründeten Rechtsprechung die Indexierung einer Unterhalts- oder Unterhaltsersatzrente im Sinne von Art. 152 bzw. 151 ZGB auch gegen den Willen des Rentenverpflichteten zulässig, wenn die bestimmte Aussicht besteht, dass dessen Einkommen der Teuerung laufend angeglichen wird (
BGE 100 II 253
). In
BGE 105 II 171
E. 3b hat das Bundesgericht sodann entschieden, dass diese Rechtsprechung sinngemäss ebenso für eine nachträglich anbegehrte Anpassung der Rente an die Teuerung gelten müsse; auch in diesem Fall werde keine nach
Art. 153 Abs. 2 ZGB
verpönte nachträgliche materielle Erhöhung der Rente vorgenommen, sondern diese lediglich wertmässig, im Vergleich zur Kaufkraft, auf derselben Höhe gehalten. Voraussetzung ist auch hier, dass sich das Einkommen des Pflichtigen seit der Scheidung der Teuerung angepasst hat...
2.
a) Dass die Rente, die der Klägerin vom erstinstanzlichen Scheidungsrichter ausdrücklich sowohl gestützt auf Art. 151 als auch gestützt auf
Art. 152 ZGB
zuerkannt, vom Kantonsgericht ... im Urteil vom 27. April 1967 wie auch vom Bundesgericht im Urteil vom 18. Dezember 1967 jedoch als Unterhaltsbeitrag gemäss
Art. 151 ZGB
bezeichnet wurde, vorwiegend dem Unterhaltsersatz dienen sollte, ist nicht mehr streitig. Das Kantonsgericht stellt fest, dass die Rente nur zu einem kleinen Teil als Ersatz für verlorene Anwartschaften gedacht gewesen sei. Zu prüfen ist dagegen, ob das Einkommen des Beklagten sich seit der Scheidung der Teuerung angepasst habe. Sollte dies nur beschränkt der Fall gewesen sein, wäre die Klage entgegen der Auffassung des Beklagten nicht einfach abzuweisen, sondern eben nur teilweise gutzuheissen.
b) Das Kantonsgericht hat zur strittigen Frage festgehalten, dass das vom Beklagten im Zeitpunkt der Scheidung erzielte Einkommen bei Berücksichtigung der Teuerung Ende 1987 dem Betrag von Fr. 73'165.90 entsprochen hätte. Sodann weist die Vorinstanz darauf hin, dass der 1915 geborene Beklagte als AHV-Rentner gemäss den Steuerunterlagen praktisch kein Einkommen erziele, jedoch über erhebliches Vermögen verfüge; es liege ein atypischer Fall vor, bei dem neben dem Renteneinkommen auch der Vermögensertrag des Pflichtigen in die Beurteilung miteinzubeziehen sei. Dabei gehe es nicht an, einfach auf den in den Steuerunterlagen
BGE 115 II 309 S. 313
ausgewiesenen Ertrag abzustellen, sondern es sei von einem durchschnittlichen, bei gewöhnlicher Vermögensanlage erzielbaren Betrag, mit andern Worten von dem auszugehen, was der Beklagte bei produktiver Verwendung des Vermögens normalerweise erzielen könnte. Das Kantonsgericht hat ausdrücklich festgehalten, dass diese Berechnungsart nicht ein doloses Verhalten des Pflichtigen voraussetze. Für die Ermittlung des Einkommens aus Vermögen hat es einen durchschnittlichen Zinssatz von 4,5% als angemessen betrachtet; ein solcher sei auch heute, ohne spekulieren zu müssen, erzielbar. Für Darlehen, die der Beklagte den beiden Kindern ... zu Vorzugszinsen gewährt hat, ging das Kantonsgericht allerdings von den effektiven Zinserträgen aus, welche die Klägerin an Schranken ausdrücklich anerkannt habe. Ausserdem setzte die Vorinstanz bezüglich der vom Beklagten bewohnten Liegenschaft, die einen Steuerwert von Fr. 218'000.-- aufweise und mit Fr. 100'000.-- hypothekarisch belastet sei, den Eigenmietwert von Fr. 11'200.-- ein; von einer Verzinsung des Nettobetrags (von Fr. 118'000.--) zu 4,5% sei in diesem Fall abzusehen.
c) Den gesamten Vermögensertrag des Beklagten bezifferte das Kantonsgericht auf Fr. 55'528.--, was zusammen mit der derzeitigen AHV-Rente von Fr. 18'000.-- ein massgebliches Jahreseinkommen von Fr. 73'528.-- ergebe. Diese Summe liegt über dem Betrag von Fr. 73'165.90, den es durch eine Aufwertung nach Massgabe der Teuerung als Einkommen des Beklagten im Zeitpunkt der Scheidung ermittelt hat. Dennoch hat die Vorinstanz die Rente nicht in dem von der Klägerin verlangten Umfang angepasst; statt der geforderten Fr. 1'950.-- im Monat, sprach sie der Klägerin lediglich Fr. 1'500.-- zu. Sie hat dafürgehalten, dass aus Gründen der Billigkeit auch die wirtschaftliche Lage der Klägerin und weitere Umstände einzubeziehen seien, so vor allem die seit der Scheidung verstrichene Zeit, die Tatsache, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Beibehaltung des gleichen Lebensstandards wie in der Ehe habe, und dass sie aus der Sicht ihres Alters nach der neuesten bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr ohne weiteres mit einer Dauerrente hätte rechnen können. Ferner hat die Vorinstanz berücksichtigt, dass die in Frage stehende Rente nicht ausschliesslich Unterhaltsersatz darstellt und dass andererseits der Beklagte sein erhöhtes Einkommen nicht mehr aus aktiver Arbeit erziele, sondern dass sich dieses hauptsächlich aus dem Vermögensertrag ergebe. All diese Umstände lassen nach Auffassung des Kantonsgerichts im vorliegenden - atypischen - Fall
BGE 115 II 309 S. 314
eine gewisse Zurückhaltung bei der Festsetzung des neuen Rentenbetrags als angebracht erscheinen.
3.
a) Mit seiner Berufung verlangt der Beklagte in grundsätzlicher Hinsicht, dass bei der Ermittlung seines Vermögensertrags nicht von hypothetischen, sondern von den tatsächlichen Einkünften ausgegangen werde; auf ein hypothetisches Einkommen dürfe bei der nachträglichen Indexierung einer Rente nur dann abgestellt werden, wenn es der Pflichtige absichtlich unterlasse, einen angemessenen Vermögensertrag zu erzielen; davon könne vorliegend keine Rede sein. Abgesehen davon, entspreche sein tatsächlich erzielter Vermögensertrag einer durchaus produktiven Verwendung des Vermögens. Im Rahmen einer Klage auf nachträgliche Indexierung der Scheidungsrente könnten nicht andere Massstäbe angelegt werden als diejenigen, die beim Scheidungsprozess Anwendung gefunden hätten, würde doch andernfalls der Grundsatz verletzt, dass die nachträgliche Indexierung nur bei vollem Teuerungsausgleich verfügt werden dürfe. Im Zeitpunkt der Urteilsfällung habe sein Einkommen nur Fr. 48'989.-- (bzw. gemäss der vom Beklagten persönlich eingereichten Eingabe vom 2. März 1989 Fr. 49'957.--) betragen. Damit sei die Voraussetzung für eine Anpassung nicht gegeben.
b) Es liegt hier in der Tat insofern ein besonderer Fall vor, als das ordentliche Einkommen des Beklagten sich auf die AHV-Rente beschränkt, der Beklagte jedoch über ein gewisses Vermögen verfügt. Bezüglich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des rentenpflichtigen Beklagten ist bei dieser Sachlage einzig von Belang, ob und in welchem Masse sie mit der seit der Scheidung eingetretenen Teuerung Schritt gehalten habe. Dazu bedarf es keiner exakten Ermittlung der Einnahmen, und es kann auch nicht darum gehen, abzuklären, ob und wie der Beklagte grössere Einkünfte erzielen könnte.
Dass sein Vermögen in die Beurteilung der Abänderungsklage einzubeziehen ist, anerkennt auch der Beklagte selbst. Hingegen beanstandet er das Vorgehen der Vorinstanz, die - abgesehen von zwei Abweichungen bezüglich des Wohnhauses, wo sie auf den Eigenmietwert abgestellt hat, und der den beiden Kindern gewährten Darlehen - den Vermögensertrag in der Weise ermittelt hat, dass sie von einer einheitlichen Verzinsung zu 4,5% ausging. Eine Verletzung von Bundesrecht liegt darin nicht. Das Vermögen des Beklagten besteht zu einem nicht unbedeutenden Teil aus Immobilien (Wohnhaus ..., Ferienhaus ... und Wald ...), deren Ertrag zu
BGE 115 II 309 S. 315
bestimmen angesichts ihrer Verschiedenartigkeit nicht einfach ist. Die vom Kantonsgericht gewählte Methode - Ermittlung eines durchschnittlichen Kapitalzinses - erscheint für einen Fall der vorliegenden Art grundsätzlich als angemessen, sofern dieser Rechnung kein übersetzter Zinssatz zugrunde gelegt wird. Die hier eingesetzten 4,5% mögen sich zwar an der oberen Grenze bewegen, doch ist andererseits darauf hinzuweisen, dass die Vorinstanz nicht vom effektiven Wert der Liegenschaften ausgegangen ist, sondern vom viel tieferen Steuerwert.
Dem Einwand des Beklagten, das Kantonsgericht hätte den Zins für die auf dem Wohnhaus lastende Hypothek (den der Beklagte ebenfalls mit 4,5% angibt) in Abzug bringen müssen, ist entgegenzuhalten, dass die Vorinstanz die Schuldenlast von Anfang an abgezogen und den Ertrag nur auf dem Netto-Vermögen errechnet hat. Zudem ist für das Wohnhaus ohnehin der Eigenmietwert eingesetzt worden.
Was der Beklagte mit Bezug auf das bewegliche Vermögen - in tatsächlicher Hinsicht - vorbringt (Auslagen für den Sohn C.; keine einheitliche Wahl des massgeblichen Zeitpunkts bei der Ermittlung des Vermögensstandes), findet im angefochtenen Entscheid keine Stütze und kann hier deshalb nicht gehört werden. Unbegründet ist von vornherein die Rüge betreffend den Zeitpunkt, den das Kantonsgericht für die Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Beklagten grundsätzlich als massgeblich erachtet hat. Dem Abstellen auf die Lage bei Einleitung der Klage steht jedenfalls von Bundesrechts wegen nichts entgegen (dazu BÜHLER/SPÜHLER, N. 79 zu
Art. 153 ZGB
; HINDERLING, Das schweizerische Ehescheidungsrecht, Zusatzband zur 3. Auflage, S. 91); die vorinstanzliche Lösung ist im übrigen durchaus sachgerecht.
c) Wo die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen - wie hier - zu einem bedeutenden Teil auf dem Vermögen beruht, darf die nachträgliche teuerungsbedingte Anpassung der Rente nicht dazu führen, dass der Verpflichtete genötigt wird, die Liegenschaft zu veräussern, die er selbst bewohnt. In Anbetracht der Zusammensetzung des Vermögens ist dies beim Beklagten nicht der Fall.
4.
a) Wie bereits erwähnt, hat die Vorinstanz die Rente nicht in dem von der Klägerin verlangten Mass erhöht. Unter Berufung auf
BGE 105 II 171
E. c führt sie aus, dass auch die nachträgliche Indexierung sich nach Recht und Billigkeit zu richten habe; es seien deshalb sowohl die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin
BGE 115 II 309 S. 316
wie auch weitere Umstände in die Beurteilung miteinzubeziehen.
An der erwähnten Stelle hat das Bundesgericht wohl festgehalten, die (nachträgliche) Indexierung entspreche - auch - einem Gebot der Billigkeit. Indessen hat es in diesem Zusammenhang einzig darauf hingewiesen, dass die Kaufkraft der der geschiedenen Ehefrau zugesprochenen Rente seit der Scheidung auf ungefähr die Hälfte gesunken sei, während das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten sich beinahe verdoppelt habe. Dass im Rahmen einer Rentenanpassung zur ausschliesslichen Erhaltung der Kaufkraft, auch etwa die wirtschaftlichen Verhältnisse der Rentenberechtigten (neu) zu würdigen oder noch andere Umstände in die Beurteilung einzubeziehen wären, hat das Bundesgericht dagegen nicht gesagt. Es ginge denn in der Tat nicht an, dass der Abänderungsrichter in einem Fall der vorliegenden Art den Rentenanspruch dem Grundsatze nach neu überprüfen würde. Wegen Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf seiten des Berechtigten kann eine auf
Art. 151 ZGB
beruhende Unterhaltsrente im übrigen ohnehin nicht herabgesetzt werden (vgl.
BGE 110 II 114
f. E. b mit Hinweisen). Entgegen der Ansicht des Kantonsgerichts ist nach dem Gesagten insbesondere auch ohne Belang, dass eine geschiedene Frau nicht Anspruch auf Beibehaltung des ehelichen Lebensstandards habe, dass nach der heutigen Praxis eine Frau, die im Zeitpunkt der Scheidung 45 Jahre alt ist, nicht ohne weiteres Anspruch auf eine zeitlich unbegrenzte Rente habe und dass seit der Scheidung der Ehe der Parteien 20 Jahre verstrichen sind.
b) Einziger Grund, die der Klägerin vom Scheidungsrichter zugesprochene Rente nicht in vollem Masse der eingetretenen Teuerung anzupassen, ist der Umstand, dass mit ihr zu einem - kleineren - Teil Anwartschaften abgegolten werden sollen. Dieser Tatsache hat die Klägerin bereits in ihrem Klagebegehren Rechnung getragen, indem sie statt der Erhöhung der Rente auf Fr. 2'203.80 (wie eine volle Anpassung sie nach den vorinstanzlichen Feststellungen ergeben würde) eine Heraufsetzung auf lediglich Fr. 1'950.-- im Monat verlangt hat. Dass und inwiefern mit diesem Abzug dem Umstand nicht ausreichend Rechnung getragen worden wäre, dass die Rente zum Teil als Anwartschaftsersatz gedacht war, und dass eine in diesem Punkt vollumfängliche Gutheissung der Klage Bundesrecht verletzen sollte, macht der Beklagte nicht geltend. Hingegen hat die Vorinstanz insofern gegen Bundesrecht verstossen, als sie die oben angeführten sachfremden
BGE 115 II 309 S. 317
Kriterien in die Beurteilung miteinbezogen hat. Die Klägerin hat somit Anspruch auf die Anpassung der Rente in dem von ihr beantragten Umfang. Ihre Berufung ist demnach gutzuheissen. | de |
5a69dacf-9f97-4e47-ac0a-1072256e2099 | Sachverhalt
ab Seite 113
BGE 128 III 113 S. 113
A.-
M.W. heiratete am 7. Juni 1985 V.S., welche die zwei Kinder K.S., geboren im Jahr 1971, und L.S., geboren im Jahr 1976, in die Ehe brachte. Diese Ehe wurde am 14. Mai 1991 geschieden.
BGE 128 III 113 S. 114
Am 19. Juni 1991 brachte K.S. einen Sohn zur Welt; der Vater des Kindes ist ihr Stiefvater M.W. Am 22. März 1994 gebar sie diesem einen zweiten Sohn. Am 9. März 1995 wurde der Nachname der beiden Söhne von S. auf W. geändert.
B.-
Am 25. September 2000 stellten M.W. und K.S., die seit Jahren im Konkubinat leben, beim Zivilstandsamt des Kreises Chur ein Gesuch um Vorbereitung der Eheschliessung. Mit Verfügung vom 26. September 2000 lehnte das Zivilstandsamt das Gesuch wegen Vorliegens eines Ehehindernisses gemäss
Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
ab.
Die dagegen erhobene Beschwerde von M.W. und K.S. lehnte das Justiz-, Polizei- und Sanitätsdepartement des Kantons Graubünden ab. Ihre Berufung an das Kantonsgericht von Graubünden blieb ebenfalls erfolglos.
C.-
Das Bundesgericht weist die von den Heiratswilligen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Das Kantonsgericht hat die Abweisung des Gesuchs der Beschwerdeführenden um Vorbereitung der Eheschliessung gestützt auf das Eheverbot gemäss
Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
bestätigt. Nach Ansicht der Beschwerdeführenden ist ihnen die Eheschliessung gleichwohl zu erlauben. Die Gesetzesbestimmung erscheine zwar auf den ersten Blick klar. Bei genauerer Prüfung sei jedoch unschwer zu erkennen, dass hier eine gesetzliche Lücke vorliege. Der Gesetzgeber habe den Fall übersehen, in welchem die Heiratswilligen wie hier gemeinsame Kinder gezeugt und eine Familie gegründet haben. Für diesen Fall müsse das Gesetz Ausnahmen zulassen.
a) Der Inhalt einer Norm ist ausgehend von ihrem Wortlaut nach ihrem Sinn und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen zu ermitteln. Ziel der Auslegung ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio legis. Erweist sich die gesetzliche Anordnung als zu undifferenziert und verlangt der Zweck der Norm für den in Frage stehenden Fall nach einer Ausnahme, kann das Gericht die Norm mittels teleologischer Reduktion für einen Fall als nicht anwendbar erklären, der gemäss dem noch möglichen Wortsinn in den Anwendungsbereich der Norm fällt. Das Gericht bleibt dabei aber an die klare Zwecksetzung der bestehenden Regelung gebunden
BGE 128 III 113 S. 115
(
BGE 121 III 219
E. 1d/aa S. 224 ff.;
BGE 124 III 229
E. 3c S. 235 f.;
BGE 127 III 415
E. 2 mit Hinweisen; KRAMER, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 161 f. und 169 f.).
b) Gemäss dem Wortlaut von
Art. 95 Abs. 1 ZGB
ist die Eheschliessung einerseits verboten zwischen Verwandten in gerader Linie sowie zwischen Geschwistern oder Halbgeschwistern, und zwar unabhängig davon, ob sie miteinander durch Abstammung oder durch Adoption verwandt sind. Andererseits ist sie untersagt zwischen Stiefeltern und Stiefkindern. Die Bestimmung ist am 1. Januar 2000 in Kraft getreten (AS 1999 S. 1144). Bis dahin umfasste das Eheverbot bezüglich Verwandtschaft auch die Beziehungen zwischen Onkel und Nichte sowie Tante und Neffe; es betraf überdies alle Schwägerschaftsverhältnisse ersten Grades und nicht nur jenes zwischen Stiefeltern und Stiefkind. Mit der am 26. Juni 1998 verabschiedeten Revision schränkte das Parlament die Ehehindernisse erheblich ein und entsprach damit der allgemeinen europäischen Tendenz (Botschaft über die Änderung des Zivilgesetzbuches vom 15. November 1995, BBl 1996 I 1, S. 63 [in der Folge: Botschaft]).
c) Die teilweise Aufhebung des Ehehindernisses der Schwägerschaft wurde damit begründet, dass es hier - im Gegensatz zum Ehehindernis der Blutsverwandtschaft - an einer eugenischen Rechtfertigung fehle. Wohl aufgrund der Tatsache, dass heute nur noch wenige Menschen in der Schweiz in Grossfamilien leben, vermochte in den Augen des Parlaments auch der zu wahrende Familienfriede das Eheverbot zwischen Verschwägerten nicht mehr generell zu rechtfertigen (Botschaft, S. 63). Demgegenüber hielt der Gesetzgeber bewusst am Eheverbot für Stiefkindverhältnisse fest. Zwar fehlt auch hier eine eugenische Rechtfertigung, doch wurde das Eheverbot aufgrund der Überlegung beibehalten, dass diese Beziehung einer leiblichen Eltern-Kind-Beziehung weitgehend nachgebildet ist. Die unterschiedliche Behandlung der Schwägerschaft im Allgemeinen und der Stiefverhältnisse im Besonderen wurde damit gerechtfertigt, dass sich die Integration des Stiefkindes in die neue Familie nicht mit derjenigen eines Schwiegerkindes in den Kreis der Schwägerfamilie vergleichen lasse. Dabei erwog der Gesetzgeber eine Einschränkung des Verbots auf Fälle, in denen das Stiefkindverhältnis während dessen Minderjährigkeit begründet worden ist, verwarf sie jedoch, da er in Anbetracht der Herabsetzung der Mündigkeit auf 18 Jahre mit einer Zunahme der Haushalte rechnete, in denen heiratsfähige Stiefkinder und Stiefeltern zusammenleben (Botschaft, S. 63 f.).
BGE 128 III 113 S. 116
d) Aus dem Umstand, dass diese Einschränkung verworfen wurde, kann geschlossen werden, dass das Eheverbot nach dem Willen des Gesetzgebers in Stiefverhältnissen absolut gilt, dass der Gesetzgeber also auch einen Ausschluss der Fälle, in denen aus der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder hervorgehen, abgelehnt hat. Ratio legis ist die Wahrung des Friedens in der - das Stiefverhältnis begründenden - Familie. Im Hinblick auf das zu schützende Rechtsgut macht es keinen sachlich relevanten Unterschied, ob der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder entspringen oder nicht. Käme das Eheverbot im einen Fall zur Anwendung und im anderen nicht, so läge darin eine rechtsungleiche Behandlung. Daraus folgt, dass keine Ausnahmelücke vorliegt, dass das geltende Bundeszivilrecht eine Eheschliessung im vorliegenden Fall also nicht zulässt.
3.
Die Beschwerdeführenden bringen des Weiteren vor, das Eheverbot verletze ihr durch
Art. 12 EMRK
(SR 0.101) garantiertes Recht auf Eheschliessung und Familie.
a) Der Prüfung einer eidgenössischen Gesetzesbestimmung auf ihre Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention steht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts nichts entgegen (
BGE 117 Ib 367
E. 2d f.;
BGE 118 Ia 473
E. 5b/bb;
BGE 118 Ib 277
E. 3b;
BGE 122 II 485
E. 3;
BGE 125 II 417
E. 4d S. 225).
b) Gemäss
Art. 12 EMRK
haben Männer und Frauen mit Erreichung des heiratsfähigen Alters gemäss den einschlägigen nationalen Gesetzen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Der Hinweis auf die einschlägigen nationalen Gesetze macht deutlich, dass das Grundrecht nicht schrankenlos ist. Umgekehrt dürfen die Nationen das Recht gesetzlich auch nicht beliebig einschränken. Obwohl
Art. 12 EMRK
im Gegensatz zu
Art. 8 EMRK
die Voraussetzungen einer gerechtfertigten Beschränkung nicht nennt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und nach der Lehre ein Grundrechtseingriff lediglich zulässig, wenn er den Kerngehalt des Rechts nicht berührt (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] i.S. Rees c. Grossbritannien vom 17. Oktober 1986, Serie A, Bd. 106, Ziff. 50) und sich die gesetzliche Grundlage auf allgemein anerkannte Gründe des öffentlichen Interesses stützt. Nationale Eheverbote müssen somit rational begründbar sein (FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, N. 2 zu
Art. 12 EMRK
). Aus dem Prinzip der Verhältnismässigkeit ergibt sich zudem, dass das öffentliche Interesse am Verbot gegenüber dem
BGE 128 III 113 S. 117
Interesse an der Eheschliessung nicht klar unterlegen sein darf (HAEFLIGER/SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl. 1999, S. 319).
c) Die Voraussetzungen der Wahrung des Kerngehalts sowie der gesetzlichen Grundlage sind vorliegend offensichtlich erfüllt. Zu prüfen ist, ob sich das für Stiefverhältnisse statuierte Eheverbot auf allgemein anerkannte Gründe des öffentlichen Interesses stützt und ob dieses das Interesse der Beschwerdeführenden an der Eheschliessung überwiegt.
4.
a) Bei der Beibehaltung des Eheverbots für Stiefverhältnisse stand die Wahrung des Familienfriedens im Vordergrund. Zwar hat die Familie viele ihrer früheren Funktionen verloren: so stellt sie heute kaum mehr eine Produktionsgemeinschaft dar, die Wissensvermittlung und die Berufsvorbereitung beim heranwachsenden Kind sind ihr weitgehend entzogen, und auch die Aufgabe, für kranke, schwache oder alte Familienmitglieder zu sorgen, hat sie teilweise an andere Institutionen abgetreten. Als ein Bezirk besonders enger emotionaler Bindungen fallen ihr heute jedoch vornehmlich die folgenden zwei Aufgaben zu: die primäre Sozialisation des Kindes und die gewissermassen private Verarbeitung von Konflikten, die im gesellschaftlichen Bereich, besonders im Beruf, auftreten (STRATENWERTH, Inzest und Strafrecht, in: Familienrecht im Wandel, 1976, S. 301 ff., S. 311). Angesichts dieser Funktionen ist die Stabilität der Familie möglichst zu wahren. Eine Geschlechtsverbindung zwischen Stiefelter und Stiefkind würde nicht nur die Ehe, auf der die Stieffamilie gründet, destabilisieren, sondern auch die weiteren Beziehungen unter den Familienmitgliedern - etwa zwischen leiblichem Elternteil und Kind sowie zwischen Geschwistern - erheblich gefährden (HÜRLIMANN, Die Eheschliessungsverbote zwischen Verwandten und Verschwägerten, Diss. Bern 1987, S. 147 und S. 151).
b) Von erheblicher Bedeutung ist ferner der Schutz der freien Entfaltung und der sexuellen Integrität des Stiefkindes: Die Familie bildet nach wie vor regelmässig den engsten ursprünglichsten Rahmen des Zusammenlebens, der Rahmen, in dem Kinder ihr Leben beginnen und heranwachsen. Sie soll deshalb von sexuellen Beziehungen und erotischen Spannungen freigehalten werden. Entsprechend steht die Verletzung der sexuellen Integrität des Abhängigen unter Strafe (
Art. 188 StGB
; STRATENWERTH, a.a.O., S. 311). Zivilrechtlich findet das Stiefverhältnis Ausdruck in der subsidiären elterlichen Sorge des Stiefelters: Gemäss
Art. 299 ZGB
hat er
BGE 128 III 113 S. 118
seinem Ehegatten in der Ausübung der elterlichen Sorge gegenüber dessen Kindern in angemessener Weise beizustehen und ihn zu vertreten, wenn es die Umstände erfordern. Damit befindet sich der Stiefelternteil regelmässig in einer Autoritätsstellung und das Stiefkind in einem Abhängigkeitsverhältnis. Es gilt demnach zu verhindern, dass dieses faktische Eltern-Kind-Verhältnis nahtlos in ein Paarverhältnis übergeht (HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl. 2000, Rz. 4.13; KARLHEINZ MUSCHELER, Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Eheschliessungsrechts, in: Juristenzeitung [JZ] 1997 S. 1142, S. 1145).
c) Der Umstand, dass das schweizerische Parlament anlässlich der mit Bundesgesetz vom 26. Juni 1998 verabschiedeten Revision des Zivilgesetzbuches zwar weitergehende Eheverbote abgeschafft, am Eheverbot für Stiefverhältnisse aber ohne jede Diskussion festgehalten hat, deutet daraufhin, dass das Verbot und die dafür genannten Gründe in der Schweiz nach wie vor allgemein anerkannt sind (AB 1996 S 750 f., 1997 N 2670). Seine Geltung wird denn auch in der schweizerischen Lehre - zumindest für die Fälle, in welchen das Stiefkindverhältnis während der Unmündigkeit begründet wurde - nicht in Frage gestellt (HEUSSLER, Basler Kommentar, 1996, N. 7 zu aArt. 100 ZGB; HEGNAUER/BREITSCHMID, a.a.O., Rz. 4.13; WERRO, Concubinage, mariage et démariage, 2000, N. 284 ff.).
d) Die Ehe zwischen Stiefelter und Stiefkind ist im Übrigen auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern verboten, nämlich in Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Luxemburg, Polen, Portugal, Serbien, der Türkei und Ungarn. Zwar sieht die Mehrheit dieser Länder die Möglichkeit eines Dispenses vor, doch wird dieser lediglich unter einschränkenden Voraussetzungen erteilt. So sind beispielsweise in Grossbritannien Schwäger- und Stiefverhältnisse grundsätzlich einem Dispens zugänglich, davon ausgenommen sind aber die Fälle, in welchen das Stiefkind - wie bei den Beschwerdeführenden - vor Erreichen seines achtzehnten Lebensjahres mit dem Stiefelter in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. Kein Eheverbot für Stiefverhältnisse kennen demgegenüber beispielsweise Deutschland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, das Fürstentum Liechtenstein, Schweden und Spanien (BERGMANN/FERID, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht: Belgien, 138. Lieferung, S. 51, Art. 161 ff.; Deutschland, 137. Lieferung, S. 49, §§ 1306 ff.; Finnland, 103. Lieferung, S. 22; Frankreich, 122. Lieferung, S. 68 f., Art. 161 ff.; Griechenland, 82. Lieferung, S. 17, Art. 1357; Grossbritannien, 113. Lieferung,
BGE 128 III 113 S. 119
S. 171, Art. 1 ff.; Italien, 142. Lieferung, S. 54 f., Art. 87; Fürstentum Liechtenstein, 118. Lieferung, S. 47, Art. 12 ff.; Luxemburg, 109. Lieferung, S. 53, Art. 161 ff.; Niederlande, 123. Lieferung, S. 63 f. Fn. 33; Norwegen, 138. Lieferung, §§ 3 f.; Österreich, 116. Lieferung, S. 141, Art. 4 ff.; Polen, 139. Lieferung, S. 40, Art. 14 § 1; Portugal, 132. Lieferung, S. 49, Art. 1602 lit. c; Schweden, 110. Lieferung, S. 22c, §§ 1 ff.; Spanien, 132. Lieferung, Art. 44 ff.; Türkei, 123. Lieferung, S. 24, Art. 92 Ziff. 2; Ungarn, 143. Lieferung, S. 37, § 8 Abs. 1 lit. d).
e) Indem die Ehe zwischen Stiefelter und Stiefkind dauernd ausgeschlossen ist, wird das Verhältnis zwischen ihnen ganz auf die Ebene der familiären Beziehung gestellt und jeder Zweideutigkeit enthoben. Auf diesem Weg trägt das Eheverbot zur Aufrechterhaltung intakter Familienbeziehungen bei: Es ermöglicht dem Stiefkind, im Verhältnis zum Stiefelter Zuneigung und Identifikation zu entwickeln, ohne dass es Gefahr läuft, sexuell ausgebeutet zu werden (WERRO, a.a.O., S. 855; HEGNAUER, "Soll das Ehehindernis der Schwägerschaft beibehalten werden?, in: ZZW 1993 S. 86). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführenden kann auch der Umstand, dass sich in Einzelfällen wie dem vorliegenden dennoch eine sexuelle Beziehung entwickelt, nichts daran ändern, dass das Verbot sachlich gerechtfertigt ist.
5.
Die Zulässigkeit eines Grundrechtseingriffs setzt ferner voraus, dass der angestrebte Zweck im konkreten Fall in einem vernünftigen Verhältnis zu den zu seiner Erreichung notwendigen Grundrechtsbeschränkungen steht (
BGE 117 Ia 472
E. 3g mit Hinweisen).
a) aa) Wird das Gesuch der Beschwerdeführenden abgewiesen, so können sie nicht heiraten. Sie werden ihre Beziehung voraussichtlich für deren ganze Dauer in der Form eines Konkubinats fortführen müssen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Konkubinat heute in unserer Gesellschaft eine weit verbreitete Form des Zusammenlebens darstellt, welche die Beschwerdeführenden schon seit Jahren freiwillig praktizieren. Rechtlich ist das Konkubinat der Ehe nur in einzelnen Bereichen gleichgestellt. Dies wirkt sich aber nicht in jedem Fall zum Nachteil der Konkubinatspartner aus (WERRO, a.a.O., N. 115 ff. und beispielsweise N. 139). Im Übrigen besteht teilweise die Möglichkeit, die Rechtsverhältnisse im Konkubinat durch Vereinbarungen jenen in der Ehe anzugleichen: so können unverheiratete Eltern beispielsweise gemeinsam die elterliche Sorge beantragen (
Art. 298a Abs. 1 ZGB
).
BGE 128 III 113 S. 120
Sozialversicherungsrechtlich sind Verheiratete im Hinblick auf die Witwenrente besser gestellt. Sie sind aber im Bereich der Altersrente gegenüber Konkubinatspartnern benachteiligt, ist doch die Ehepaarrente tiefer als die Summe von zwei Einzelrenten. Der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführenden auf Eheschliessung ist damit zwar von Dauer, aber nicht von einer ausserordentlichen Schwere.
bb) Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit berufen sich die Beschwerdeführenden auch auf die Interessen ihrer Kinder. Im schweizerischen Zivilrecht sind die ausserehelichen Kinder den ehelichen vollkommen gleichgestellt. Dass ein Kind nicht ehelich ist, kommt heute häufig vor und erscheint nicht mehr als etwas besonderes. Bei einer grossen Anzahl ehelicher Kinder wird überdies die Ehe der Eltern im Lauf ihrer Kindheit geschieden, so dass sich diese in einer Situation befinden, die jener der ausserehelichen Kinder sehr ähnlich ist. Unter diesen Umständen sind heute weder spezielle Vorurteile Dritter noch eine besondere soziale Benachteiligung zu erwarten, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor einigen Jahren noch befürchtete (Urteil i.S. F. c. Schweiz vom 18. Dezember 1987, Serie A, Bd. 128, Ziff. 36). Im Übrigen dürften auch die Beschwerdeführenden nicht von einer erheblichen Benachteiligung ausserehelicher Kinder ausgegangen sein, andernfalls hätten sie ihre Kinder nicht ausserhalb der Ehe gezeugt.
b) Dem Recht der Beschwerdeführenden auf Eheschliessung und Familie stehen hochrangige Rechtsgüter gegenüber: der Schutz des Familienfriedens sowie die Gewährleistung der freien Entfaltung und der sexuellen Integrität des unmündigen bzw. abhängigen Stiefkindes. Käme das Bundesgericht zum Schluss, dass ein Eheverbot vorliegend gegen das Grundrecht der Beschwerdeführenden verstösst, würde dies nicht nur zur Nichtanwendung von
Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
im vorliegenden Fall führen; ein solcher Entscheid hätte vielmehr die generelle künftige Nichtanwendung dieses Eheverbots zur Folge.
c) Unter diesen Umständen geht das Bundesgericht davon aus, dass der Integration des Kindes in die Stieffamilie und seiner freien Entwicklung und Entfaltung ein allgemein anerkanntes öffentliches Interesse zukommt, das die Grundrechtsbeschränkung auf Seiten der Beschwerdeführenden rechtfertigt. Die Anwendung von
Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
verstösst demnach nicht gegen
Art. 12 EMRK
. | de |
6e413cda-7b47-4e79-b8b0-1663fd88afe5 | Sachverhalt
ab Seite 110
BGE 103 II 110 S. 110
Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 5. April 1968 verkauften die Architekten Rolf Marc Wildbolz und Erwin Huber, welche an der Susenbergstrasse 64 in Zürich einen Wohnblock zu erstellen gedachten, Frau Schörg-von Guggenberger einen Miteigentumsanteil von 174/1000 an der Liegenschaft Kat. Nr. 3195 mit Sonderrecht an der Dreizimmerwohnung im Attikageschoss zu einem Preis von Fr. 300'000.--. Im Verlaufe der Bauausführung liess die Käuferin auf ihre
BGE 103 II 110 S. 111
Kosten verschiedene bauliche Änderungen vornehmen, die zu einer Erweiterung der Wohnung führten. Nach der Vollendung des Baues verlangten die Verkäufer unter Hinweis auf die mit den baulichen Änderungen verbundene Vergrösserung der Wohnfläche von 107 auf 171 m2 den Abschluss eines neuen Kaufvertrages mit einem Kaufpreis von Fr. 548'000.--, was die Käuferin aber ablehnte. Darauf verweigerten die Verkäufer die Eigentumsübertragung.
Frau Schörg klagte auf Übertragung des Miteigentumsanteils zu Eigentum gemäss Kaufvertrag. Dieses Begehren hiess das Bezirksgericht Zürich am 7. März 1975 und das Obergericht des Kantons Zürich am 10. Mai 1976 gut. Das Obergericht sprach Frau Schörg darüber hinaus noch Schadenersatz für den Fall zu, dass die Eigentumsübertragung nicht vollstreckt werden könnte. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Wohl können die Beklagten nur soweit zur Eigentumsübertragung verpflichtet werden, als sich dies aus dem beurkundeten Vertrag ergibt, und sie sind nur das zu übereignen verpflichtet, was sie verkauft haben. Dabei muss der beurkundete Vertrag alle wesentlichen Vertragsbestandteile enthalten, namentlich die genaue Bezeichnung des Kaufgegenstandes und die dafür versprochene Gegenleistung (
BGE 101 II 331
E. 3a mit Hinweisen). Kaufgegenstand ist vorliegend ein Miteigentumsanteil von 174/1000 an einer bestimmten Liegenschaft mit Sonderrecht an der Wohnung B4 im Attikageschoss. Dies ergibt sich aus der Vertragsurkunde und entspricht auch der gesetzlichen Ordnung (
Art. 712a Abs. 1 ZGB
). Unbestrittenermassen entfällt laut Grundbucheintrag auf die streitige Wohnung nach wie vor dieselbe Wertquote, nämlich 174/1000. Wenn die Beklagen geltend machen, die Wertquote entspreche infolge der Erweiterung der Attikawohnung nicht mehr den baulichen Gegebenheiten, hilft ihnen dies nichts, denn der Miteigentumsanteil braucht keineswegs genau der räumlichen Aufteilung der Sonderrechte zu entsprechen. Die Vorinstanz darf die Beklagten auch dabei behaften, dass sie ihrerseits für die streitige Wohnung noch lange nach Bauvollendung in andern Verträgen die gleiche Wertquote beibehielten, was zeigt, dass auch sie selbst die
BGE 103 II 110 S. 112
Wertquote keineswegs in eine unmittelbare Beziehung zur Wohnungsgrösse setzten. Ob eine Änderung der Wertquote im Sinne von
Art. 712e Abs. 2 ZGB
nachträglich doch noch möglich wäre, ist hier nicht zu entscheiden. Die Wohnung wurde jedenfalls mit der bisherigen Wertquote zu dem vereinbarten Kaufpreis verkauft.
Aber auch wenn man nicht den Miteigentumsanteil, sondern die Wohnung als Kaufgegenstand betrachten würde, ergäbe sich nichts zugunsten der Beklagten, handelt es sich doch bei der verkauften Wohnung so oder anders um die Wohnung B4 im Attikageschoss. Aus der Planbeilage des beurkundeten Vertrages ergibt sich überdies, dass mit Ausnahme von Aufzug und Treppenhaus das ganze Dachgeschoss der Klägerin zur ausschliesslichen Benutzung zugedacht war. Wenn in der Folge der umgebaute Wohnraum auf Kosten des Terrassengebietes erweitert wurde, blieb der Kaufgegenstand nach wie vor derselbe.
b) Zu prüfen ist weiter, welche Bedeutung der Tatsache zukommt, dass die Wohnung anders ausgestaltet wurde, als es nach dem beurkundeten Vertrag und seinen Planbeilagen vorgesehen war. Dass dies nach den Feststellungen der Vorinstanz einer Vereinbarung der Parteien entsprach, hält die Berufung mangels Beurkundung für unbeachtlich. Die aus
Art. 9 ZGB
sich ergebende Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit von öffentlichen Urkunden ist jedenfalls durch das Beweisergebnis widerlegt. Eher ist der Berufung darin beizustimmen, dass angesichts der zum beurkundeten Vertrag gehörenden Grundrisspläne nicht gesagt werden kann, es fehlten im beurkundeten Vertrag Angaben über den Wohnungsgrundriss. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass der schliesslich beurkundete Vertrag ein Flächenmass nur für die Nebenräume, nicht auch für die Wohnung selbst nennt. So betrachtet kann durchaus angenommen werden, dass nicht eine genau bestimmte, sondern nur eine bestimmbare Wohnung verkauft worden ist. Die blosse Bestimmbarkeit des Kaufgegenstandes genügt jedenfalls dann den Anforderungen des
Art. 216 OR
, wenn - wie hier - ein Grundstück gekauft wird, dessen Überbauung erst projektiert oder gerade erst begonnen worden ist; in solchen Fällen ist stets bis zu einem gewissen Grade mit baulichen Änderungen gegenüber Plänen und Beschrieb zu rechnen. Dass es unter Umständen genügen
BGE 103 II 110 S. 113
muss, wenn das verkaufte Grundstück nur bestimmbar ist, hat das Bundesgericht schon früher entschieden (
BGE 95 II 310
E. 2). Im vorliegenden Fall lässt es sich jedenfalls mit der Urkunde und den Absprachen der Parteien beim Vertragsabschluss vereinbaren.
c) Die Vorinstanz hat festgestellt, dass die Beklagten vor der Beurkundung auf eine Erhöhung des Kaufpreises wegen der baulichen Änderungen verzichtet haben. Wenn die Berufung dies nun beanstandet, so wendet sie sich nicht nur gegen eine das Bundesgericht bindende Feststellung, sondern auch gegen den beurkundeten Vertrag selbst, welcher den Kaufpreis auf Fr. 300'000.-- festsetzt. Wollten die Beklagten für die vorgesehenen baulichen Änderungen einen Mehrpreis beanspruchen, so hätten sie bei der Beurkundung einen entsprechenden Vorbehalt machen müssen. Eine solche Erhöhung des Kaufpreises bedarf nämlich der öffentlichen Beurkundung, nicht aber eine Vereinbarung über die Unentgeltlichkeit baulicher Veränderungen.
d) Die Klägerin hat somit zu Recht den Erfüllungsanspruch bezüglich der heute bestehenden Attikawohnung erhoben. Der Einwand der Beklagten, dass der Kaufvertrag unmöglich und damit nichtig sei, weil der von der Klägerin durchgeführte Umbau rechtswidrig gewesen sei, ist angesichts der zutreffenden Behandlung dieser Frage durch die Vorinstanzen und namentlich auch angesichts der tatsächlich erteilten Baubewilligung mutwillig. Das angefochtene Urteil ist in diesem Punkte zu bestätigen.
5.
a) Für den Fall, dass die Vollstreckung der Eigentumsübertragung nicht möglich sein sollte, hat die Vorinstanz Wildbolz und Huber verpflichtet, der Klägerin Fr. 580'952.65 nebst Zinsen zu zahlen. Die Berufung hält dies für unzulässig. Das Bundesrecht schliesst indessen bei einem aufschiebend bedingten Anspruch ein Leistungsurteil mit entsprechender Bedingung nicht aus (GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, S. 192 und 253; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur zürcherischen ZPO, N. 4 zu § 100 und N. 6 zu § 188; HABSCHEID, Droit judiciaire privé suisse, S. 272; KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im schweizerischen Recht, S. 58). Dies ist denn auch in
Art. 74 Abs. 2 BZP
für den Bundeszivilprozess ausdrücklich vorgesehen. Im übrigen verlangt das Bundesrecht wohl, dass die Kantone einen bundesrechtlichen
BGE 103 II 110 S. 114
Anspruch bei Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses beurteilen, verbietet aber anderseits eine Beurteilung trotz mangelndem Interesse nicht, wie dies auch für die Feststellungsklage entschieden wurde (
BGE 93 II 17
E. 2c, 92 II 109 E. 3). Es ist somit ausschliesslich eine Frage des kantonalen Prozessrechts, ob die Vorinstanz ein bedingtes Schadenersatzurteil erlassen durfte. Die Rüge, dass eine solche bedingte Verurteilung unzulässig bzw. vorliegend nicht gerechtfertigt sei, ist deshalb nicht zu hören (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
). | de |
41826c85-38f8-469a-b027-fbffda1e70d6 | Sachverhalt
ab Seite 115
BGE 114 Ia 114 S. 115
Mit Beschluss vom 9. September 1987 wies der Regierungsrat des Kantons Bern mehrere Beschwerden ab, welche gegen die durch die Baudirektion genehmigte Zonenplanänderung "Grafeschüre", Gemeinde Burgdorf, eingereicht worden waren. Mit der umstrittenen Zonenplanänderung wurde das für die Erstellung einer kommunalen Schiessanlage benötigte Areal von der Landwirtschaftszone in eine "Freifläche mit Zweckbestimmung Schiessanlage" umgezont.
Gemäss der Vorlage des Stadtrates Burgdorf an die Stimmbürger der Gemeinde war die Umzonung nötig, weil die betroffenen Landeigentümer nicht bereit waren, das Baugesuch für die
BGE 114 Ia 114 S. 116
Schiessanlage mitzuunterzeichnen (Vorlage zur Gemeindeabstimmung vom 22. September 1985, S. 5).
Gemäss Art. 96 des Baugesetzes des Kantons Bern vom 7. Juni 1970 (BauG 1970), das gemäss dem Entscheid des Regierungsrates für die umstrittene Freifläche mit Zweckbestimmung Schiessanlage anwendbar ist, wird mit der Genehmigung der Zone, deren Verwendungszweck festgelegt ist, das Enteignungsrecht erteilt. Die entsprechende Regelung gilt auch gemäss Art. 128 Abs. 1 lit. a des neuen Berner Baugesetzes vom 9. Juni 1985 (BauG 1985).
B. und S. als betroffene Landeigentümer führen staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht, mit der sie beantragen, der Regierungsratsbeschluss vom 9. September 1987 sei aufzuheben. Staatsrechtliche Beschwerde mit demselben Antrag führen ebenfalls P. und W., die als Eigentümer benachbarter, in der Gemeinde Wynigen gelegener Liegenschaften von dem zu erwartenden Schiesslärm betroffen sind.
Ihre Einwendungen begründen die Beschwerdeführer namentlich damit, dass das betroffene Areal bestes landwirtschaftliches Kulturland sei, weshalb sich ebenfalls die kantonale Landwirtschaftsdirektion gegen die Schiessanlage ausgesprochen habe. Auch wegen des Schiesslärms sei das Areal nicht für einen Schiessstand geeignet. Ausserdem käme die Anlage in ein in hohem Masse landschaftlich schutzwürdiges Gebiet zu liegen. Die vom Regierungsrat vorgenommene Interessenabwägung sei unhaltbar. Mit der Abweisung der Beschwerden habe der Regierungsrat verfassungsmässige Rechte der Beschwerdeführer verletzt, insbesondere ihr gemäss
Art. 22ter BV
gewährleistetes Eigentum sowie das Willkürverbot gemäss
Art. 4 BV
. Die Verletzung der Eigentumsgarantie erblicken die Beschwerdeführer u.a. auch darin, dass die Gemeinde Burgdorf im Chänerech-Täli in der Gemeinde Wynigen das "Aebi-Heimet" besitzt, auf welchem ursprünglich die Schiessanlage gestützt auf Art. 24 des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes (RPG) hätte erstellt werden sollen. Die entsprechende Baubewilligung war letztinstanzlich vom Bundesgericht mit Urteil vom 25. März 1981 geschützt worden. Dass der Regierungsrat keine andern möglichen Standorte geprüft habe, erachten die Beschwerdeführer als formelle Rechtsverweigerung.
BGE 114 Ia 114 S. 117 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Ob die Festsetzung einer Freiflächenzone für eine bestimmte öffentliche Nutzung durch ausreichende öffentliche Interessen, welche die entgegenstehenden privaten Interessen überwiegen, gerechtfertigt ist, prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei, doch auferlegt es sich Zurückhaltung, soweit örtliche Verhältnisse zu würdigen sind, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht, und soweit sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen (
BGE 113 Ia 33
E. 2;
BGE 110 Ia 172
E. b/aa;
BGE 109 Ia 259
E. 4 und 270 E. 5c, je mit Hinweisen).
In der vorliegenden Sache ist wesentlich, dass die Umzonung des umstrittenen Areales von der Landwirtschaftszone in eine Freifläche mit Zweckbestimmung Schiessanlage zur Folge hat, dass die betroffenen Eigentümer verpflichtet werden, ihr Land, soweit dies für die Erstellung der Anlage nötig ist, abzutreten, im übrigen das Überschiessen ihrer Parzellen als Eigentumsbeschränkung zuzulassen und den Schiesslärm, soweit sie als Nachbarn betroffen werden, zu dulden. Schon mit der Rechtskraft der Planfestsetzung steht dem zuständigen Gemeinwesen das Enteignungsrecht zu (Art. 96 Abs. 1 BauG 1970, Art. 128 Abs. 1 lit. a BauG 1985). Die Freifläche, deren öffentliche Nutzung im Plan verbindlich festgelegt wird, führt somit zu einem schweren Eingriff in das Eigentum. Das Bundesgericht prüft ohne Beschränkung seiner Kognition, ob die Voraussetzungen hiefür erfüllt sind (s.
BGE 110 Ia 169
E. 7a;
BGE 108 Ia 35
E. 3a;
BGE 104 Ia 338
E. 2;
BGE 102 Ia 115
E. 4 mit Hinweisen). Umfassend zu prüfen ist somit, ob die für den Eingriff erforderliche klare gesetzliche Grundlage gegeben ist (
BGE 110 Ib 139
E. 3). Desgleichen ist umfassend zu prüfen, ob die für die Rechtfertigung der Enteignung und der Eigentumsbeschränkungen geforderten öffentlichen Interessen vollständig ermittelt und mit den entgegenstehenden privaten Interessen richtig abgewogen wurden (
BGE 107 Ib 336
E. 2c). In gleicher Weise ist die Verhältnismässigkeit des angefochtenen Beschlusses, mit welchem das Enteignungsrecht verbunden ist, zu prüfen (
BGE 110 Ib 33
E. 4). Schliesslich ist auch ohne Beschränkung der Kognition zu prüfen, ob das kantonale Recht den betroffenen Eigentümern den bundesrechtlich gebotenen Rechtsschutz gewährt.
4.
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall führt zu folgendem Ergebnis:
a) Die gesetzliche Grundlage sowohl für die Planung als auch das Enteignungsrecht wird nicht bestritten. Sie ist eindeutig gegeben.
BGE 114 Ia 114 S. 118
Die Gemeinden sind nach dem in der vorliegenden Sache anwendbaren Baugesetz vom 7. Juni 1970 befugt, im Zonenplan Freiflächen für öffentliche Werke und Anlagen festzulegen (Art. 20 und 27). Mit der Genehmigung der entsprechenden Planung ist das Enteignungsrecht erteilt (Art. 96). Das neue Berner Baugesetz vom 9. Juni 1985 hat an dieser Rechtslage festgehalten (Art. 77 und 128). Für das Enteignungsrecht präzisiert Art. 128 Abs. 2 des nun geltenden Baugesetzes, es erstrecke sich auf die dinglichen und obligatorischen Rechte sowie Nachbarrechte, die zur Ausführung der geplanten Bauten, Anlagen oder Massnahmen benötigt werden oder ihr entgegenstehen.
b) Dass ein allgemeines öffentliches Interesse an der Erstellung von Gemeindeschiessanlagen besteht, wird ebenfalls nicht bestritten. Die Gemeinden sind von Bundesrechts wegen verpflichtet, Schiessplätze zur Verfügung zu stellen (Art. 32 des Bundesgesetzes über die Militärorganisation vom 12. April 1907 [MO, SR 510.10]; Art. 22 ff. der eidgenössischen Verordnung vom 29. November 1935 über das Schiesswesen ausser Dienst [SR 512.31]; s. hiezu auch nicht publ. Urteil vom 16. September 1987 i.S. F. D. c. Gemeinde Galgenen und EMD, E. 4). Hiefür können sie nötigenfalls das Enteignungsrecht beanspruchen, wobei gemäss
Art. 32 Abs. 2 MO
(in der Fassung vom 22. Juni 1984) primär das kantonale Enteignungsrecht zum Zuge kommt. Steht den Gemeinden das Enteignungsrecht nach kantonalem Recht nicht zu, so kann ihnen das Eidgenössische Militärdepartement das Enteignungsrecht nach dem Bundesgesetz über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (SR 711) erteilen. Im vorliegenden Fall gelangt das kantonale Enteignungsrecht zur Anwendung.
c) Die Beschwerdeführer bestreiten jedoch das konkrete öffentliche Interesse für die Inanspruchnahme ihres Grundeigentums und für die nach ihrer Meinung drohende Enteignung ihrer Nachbarrechte. Sie bezeichnen die "Grafeschüre" nicht als geeignet für eine Schiessanlage im Sinne von Art. 25 der Verordnung über das Schiesswesen ausser Dienst. Die öffentlichen Interessen der Landwirtschaft und des Landschaftsschutzes stünden der Errichtung des Schiessplatzes entgegen. Mit diesen Interessen würden sich ihre privaten Interessen an der ungeschmälerten Erhaltung ihres Eigentums decken. Der Regierungsrat habe die entgegenstehenden Interessen ungenügend berücksichtigt, die Interessenabwägung nicht richtig vorgenommen und damit auch das Verhältnismässigkeitsprinzip verletzt, namentlich wegen der Gefährdung
BGE 114 Ia 114 S. 119
der Existenz des Beschwerdeführers S. Er habe in unzulässiger Weise zur Frage der Enteignung nicht Stellung genommen und es abgelehnt, sich einlässlich mit Ersatzstandorten zu befassen. Hierin erblicken die Beschwerdeführer auch eine formelle Rechtsverweigerung. Sie betonen, dass die Zulässigkeit der Enteignung im späteren Enteignungsverfahren nicht mehr zur Diskussion gestellt werden könne.
ca) Die Mindestanforderungen für den Rechtsschutz, denen das kantonale Recht gegenüber Nutzungsplänen gemäss
Art. 33 RPG
zu genügen hat, sehen wenigstens ein Rechtsmittel vor. Für dieses muss die Legitimation mindestens im gleichen Umfang wie für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht und die volle Überprüfung durch wenigstens eine Beschwerdebehörde gewährleistet sein (
Art. 33 Abs. 3 lit. a und b RPG
).
Diesen Mindestanforderungen entspricht das im Berner Recht angeordnete Planauflage- und Genehmigungsverfahren, an das sich die Beschwerde an den Regierungsrat anschliesst (
BGE 106 Ia 72
f. E. 2). Die Nutzungspläne werden im Genehmigungsverfahren hinsichtlich ihrer Recht- und Zweckmässigkeit und des öffentlichen Interesses überprüft (ALDO ZAUGG, Kommentar zum BauG vom 7. Juni 1970, N. 1 ff. zu Art. 44, und Kommentar zum BauG vom 9. Juni 1985, N. 2 zu Art. 61). Die Rechtmässigkeitskontrolle umfasst die Prüfung der Pläne und des Planungsverfahrens auf ihre Übereinstimmung mit den sich aus dem Verfassungsrecht ergebenden Schranken. Die Genehmigungsbehörde ist verpflichtet, ihre Überprüfungsbefugnis voll auszuschöpfen, ansonst sie eine formelle Rechtsverweigerung begeht. Sie darf für die Genehmigung wesentliche Fragen nicht auf ein nachfolgendes Verfahren verweisen. Anderseits darf sie mit ihrem Beschluss nicht Fragen regeln, die gar nicht Gegenstand des Planverfahrens sind (ALDO ZAUGG, a.a.O., Kommentar BauG 1985, N. 7 zu Art. 61 mit Hinweis auf N. 28 ff. der Einleitung, und N. 16 zu Art. 61).
cb) Das Baugesetz hat mit den Vorschriften über das Enteignungsrecht, das mit der Nutzungsplanung verbunden ist, enteignungsrechtliche Vorschriften erlassen. Die Überprüfung eines Planfestsetzungsbeschlusses für bestimmte öffentliche Anlagen, mit dessen Genehmigung das Enteignungsrecht erteilt wird, hat sich daher bereits auch auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Enteignung und des Enteignungsverfahrens zu erstrecken. Diese Voraussetzungen zählen zu den für die Plangenehmigung wesentlichen Fragen. Insbesondere ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit
BGE 114 Ia 114 S. 120
zu beachten (ALDO ZAUGG, a.a.O., Kommentar BauG 1985, N. 36 der Einleitung, und N. 2 zu Art. 127).
Das Verhältnismässigkeitsprinzip lässt die Enteignung nur zu, wenn und soweit sie zur Erreichung des öffentlichen Zweckes notwendig ist und der Enteigner nachweist, dass Verhandlungen über einen freihändigen Erwerb nicht zum Ziele führten (Art. 3 Abs. 2 des Berner Gesetzes über die Enteignung vom 3. Oktober 1965). Die zweite Voraussetzung ist im vorliegenden Falle erfüllt, setzen sich doch die Beschwerdeführer mit ihrer Weigerung, ein Baugesuch für die Schiessanlage zu unterzeichnen, gegen die Enteignung zur Wehr (Vorlage zur Gemeindeabstimmung vom 22. September 1985, S. 5). Die erste Voraussetzung - die Notwendigkeit der Enteignung - wird hingegen mit Hinweis auf Ersatzstandorte bestritten, welche für eine Schiessanlage besser geeignet sein sollen.
Nach dem Gebot der Notwendigkeit der Enteignung ist darauf zu achten. dass private Rechte nur in Anspruch genommen werden, wenn das angerufene Interesse des Gemeinwesens sich im konkreten Fall als überlegen erweist und sich nicht auf anderem Wege befriedigen lässt (ARTHUR MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar zum Sachenrecht, 5. Auflage, 1. Teilband, Systematischer Teil, N. 509, S. 201; ULRICH ZIMMERLI, Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit im öffentlichen Recht, ZSR 1978 II S. 13 f. und S. 77 f.). Das geltend gemachte öffentliche Interesse muss um so stärker sein, je intensiver eine staatliche Massnahme in private Rechte eingreift (ARTHUR MEIER-HAYOZ, a.a.O., S. 202). Besitzt die Gemeinde für die Verwirklichung der öffentlichen Nutzung eigenes geeignetes Land, so wäre das aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip fliessende Gebot der Notwendigkeit der Enteignung verletzt, wenn sie ohne sachlichen Grund nicht ihre eigenen Landreserven ausschöpfen, sondern sich auf dem Enteignungsweg zusätzliches Land verschaffen würde (nicht publ. BGE vom 3. Juli 1985 i.S. A. B. c. Gemeinde Eischoll und Staatsrat des Kantons Wallis, E. 3c).
cc) Im vorliegenden Falle haben sich weder die Baudirektion noch der Regierungsrat einlässlich mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Enteignung, die mit der Genehmigung der Zone ermöglicht wird, befasst. Der Regierungsrat hält in seinem Entscheid vielmehr fest, er habe es in konstanter Praxis abgelehnt, im Rahmen von Plangenehmigungsverfahren bereits zu den Enteignungsproblemen Stellung zu nehmen. In ihrer im Namen
BGE 114 Ia 114 S. 121
des Regierungsrates erstatteten Vernehmlassung bestätigt dies die Justizdirektion. Sie bemerkt, die Frage einer allfälligen Enteignung sei hier nicht zu prüfen; es stehe im Plangenehmigungsverfahren noch nicht fest, ob überhaupt eine Enteignung zu erfolgen habe. Diese Frage werde namentlich davon abhängen, "welche Haltung die zukünftig betroffenen Grundeigentümer gegenüber einem heute noch nicht bekannten Kaufangebot der Stadt Burgdorf einnehmen werden".
Diese Praxis des Regierungsrates scheint zu übersehen, dass mit der Plangenehmigung das Enteignungsrecht verbindlich erteilt wird. Dadurch, dass - wie im vorliegenden Fall - der "Verwendungszweck (schon) im Plan festgelegt ist" (Art. 96 BauG 1970) und darüber hinaus auch bereits der Standort der in Frage stehenden öffentlichen Anlage feststeht, wird offensichtlich ein Teil des Enteignungsproblems bereits mit der Plangenehmigung entschieden. Entsprechend müssen auch die Enteignungsvoraussetzungen ebenfalls schon bei der Plangenehmigung erfüllt sein (ALDO ZAUGG, a.a.O., Kommentar BauG 1985, N. 7a und 10 zu Art. 127/128), denn in diesem Zeitpunkt werden die Eigentümer vom Enteignungsrecht betroffen und sind nicht mehr frei, nach ihrem Belieben über ihr Eigentum zu verfügen. Sie müssen vielmehr, falls sie zu einer Verständigung nicht Hand bieten, die Enteignung in Kauf nehmen. Hiezu können sie jedoch nur gehalten werden, wenn feststeht, dass die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Enteignung erfüllt sind.
cd) Sowohl die Baudirektion wie der Regierungsrat scheinen freilich davon auszugehen, dass mit der Genehmigung des Planes auf Grund der Rechts- und Zweckmässigkeitskontrolle auch die Zulässigkeit der Enteignung bejaht sei, obschon dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass der Regierungsrat die Eignung der "Grafeschüre" für die Erstellung einer Schiessanlage bejaht, allerdings nur unter Vorbehalten und mit Rücksicht auf die Autonomie der Gemeinde Burgdorf.
Die Vorbehalte leitet der Regierungsrat aus der Unterscheidung zwischen der Zonenplanänderung und dem konkreten Schiessanlageprojekt her. Nach seiner Auffassung ist es nicht erforderlich, dass bereits im Plangenehmigungsverfahren feststehen muss, dass das von der Gemeinde gewünschte Projekt, dem die Freiflächenzone dienen soll, auch so, wie es die Gemeinde begehrt, realisiert werden kann. Er führt aus, im Genehmigungsverfahren sei nur die
BGE 114 Ia 114 S. 122
Frage zu beantworten, ob sich auf dem umgezonten Terrain überhaupt eine Schiessanlage, die der Öffentlichkeit diene, realisieren lasse. Erst bei der Prüfung des konkreten Projektes könnten die Fragen nach der Beeinträchtigung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung und nach den zu erwartenden Lärmimmissionen beurteilt werden. Und erst im Baubewilligungsverfahren könne beantwortet werden, ob sich eine Anlage, wie sie die Stadt Burgdorf wünsche, erstellt werden könne.
Aus der Respektierung der Gemeindeautonomie leitet der Regierungsrat her, dass er nicht obere Planungsbehörde sei und daher nicht selber nach neuen Lösungen suche. Er beschränke sich darauf zu untersuchen, ob sich der kommunale Hoheitsakt mit vernünftiger Begründung halten lasse. Die Justizdirektion verdeutlicht diese Rücksichtnahme mit dem Hinweis darauf, dass es nicht um ein Baubewilligungsverfahren gehe, in welchem - allenfalls bei der Prüfung der Standortgebundenheit im Sinne von
Art. 24 RPG
- sämtliche möglichen Varianten zu überprüfen seien. Die Betrachtungsweise der Beschwerdeführer, welche als formelle Rechtsverweigerung rügen, dass der Regierungsrat nicht andere mögliche Standorte mitberücksichtigt habe, sei zu verwerfen. Anders entscheiden würde heissen, dass die Gemeindeautonomie in der Ortsplanung aufgehoben wäre.
Dieses Verständnis des Regierungsrates von einer Plangenehmigung, welche das Enteignungsrecht für eine Freifläche einschliesst, deren Verwendungszweck im Plan festgelegt ist (Art. 96 Abs. 1 BauG 1970), überzeugt nicht.
ce) Aus der Vorlage an die Stimmberechtigten für die Abstimmung vom 22. September 1985 ergibt sich klar, dass die Zonenänderung für ein präzis umschriebenes, gegenüber den früheren Plänen reduziertes Projekt beschlossen wurde. Es sollte den rund 1500 Schützen der sechs städtischen Schützenvereine ermöglichen, das obligatorische Schiessen, das Feldschiessen sowie sportliche Wettkämpfe durchzuführen. Wenn - was der Regierungsrat nicht ausschliesst - das vorgesehene, der Abstimmungsvorlage zugrundeliegende Projekt mit 18 elektronischen Scheiben, 25 Parkplätzen und einer Belastung von 70 Schiesshalbtagen sowie einem Munitionsverbrauch von 96 000 Schuss nicht realisiert werden kann, so wird ein Teil der Burgdorfer Schützen weiterhin Schiessplätze in anderen Gemeinden benützen müssen.
Der Vorlage, welcher die Stimmberechtigten zugestimmt haben, ist nicht zu entnehmen, dass möglicherweise mit einer weiteren
BGE 114 Ia 114 S. 123
Reduktion des Projektes gerechnet werden muss. Dass dies nicht auszuschliessen ist, ergibt sich aus dem von der Justizdirektion eingeholten Bericht der EMPA zur Lärmsituation im Bereich der geplanten Schiessanlage "Grafeschüre". Dieses Gutachten geht von dem genannten Projekt und von 70 Schiesshalbtagen aus. Es gelangt zum Ergebnis, dass beim Weiler Stöckacker und der Häusergruppe h (Grafeschüre) der von der Lärmschutzverordnung verlangte Planungswert, bei der Häusergruppe h auch der Immissionsgrenzwert, überschritten wird. Die Beschwerdeführer wenden ein, die Annahme von 70 Schiesshalbtagen sei unzutreffend, weil der Schiessoffizier nicht zwischen Werktags- und Sonntagsschiessen unterschieden habe. Nach ihrer Ansicht würde bei richtiger Berechnung jedenfalls bei der Häusergruppe h der Alarmwert überschritten. Die Justizdirektion anerkennt in ihrer Vernehmlassung, dass vermutlich die Benützung an 70 Halbtagen eher an der oberen Grenze des Bewilligungsfähigen liege.
Für das öffentliche Interesse, welches die Enteignung rechtfertigen und das um so stärker sein muss, je intensiver in private Rechte eingegriffen wird, ist entgegen der Meinung des Regierungsrates die Grösse des Projektes von erheblicher Bedeutung. Kann es nicht im vorgesehenen Mindestumfange verwirklicht und betrieben werden, ist nicht nur fraglich, ob der Stimmbürger der Zonenänderung zugestimmt hätte, sondern auch das Gewicht des geltend gemachten öffentlichen Interesses ist geringer, wenn die Anlage nicht allen Schützen von Burgdorf Platz bieten würde. Dass eine Gemeindeschiessanlage jedenfalls im Regelfalle den Schützen der Gemeinde dienen soll, geht auch aus den Vorschriften der eidgenössischen Verordnung über das Schiesswesen ausser Dienst hervor (Art. 22 ff.). Im vorliegenden Falle ist offenbar nicht auszuschliessen, dass das von der Gemeinde gewünschte Projekt namentlich im Hinblick auf die Lärmbelastung reduziert werden muss und dass daher weiterhin Schützen von Burgdorf andern Schiessplätzen zugewiesen werden müssen. Für die Interessenabwägung, bei welcher wie auch bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit ein strenger Massstab anzulegen ist (
BGE 101 Ia 221
E. 6), ist jedoch die Frage der Realisierbarkeit der von der Gemeinde für alle Burgdorfer Schützen gewünschten Anlage von wesentlichem Gewicht. Indem der Regierungsrat die Prüfung dieser Frage auf das spätere Baubewilligungsverfahren verschoben hat, hat er eine für die Plangenehmigung, mit welcher das Enteignungsrecht erteilt wird, wesentliche Frage in ein nachfolgendes Verfahren verwiesen,
BGE 114 Ia 114 S. 124
was nicht angeht (ALDO ZAUGG, a.a.O., Kommentar BauG 1985, N. 16 zu Art. 61).
cf) Für die Frage, ob das mit der Plangenehmigung erteilte Enteignungsrecht dem sich aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip ergebenden Grundsatz der Notwendigkeit der Enteignung entspricht, muss sodann feststehen, dass sich das vorgesehene Areal für die Verwirklichung der öffentlichen Nutzung eignet und dass die Gemeinde mit sachgerechten Erwägungen andere Standorte, namentlich solche, an denen sie selbst Grundeigentum besitzt, ausschliessen durfte (vgl. HESS/WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 10 zu Art. 35).
Aus der Vorlage an die Stimmbürger ergibt sich, dass die Gemeinde 17 Standorte in Betracht gezogen hat. Die Prüfung führte zunächst zum Ergebnis, dass der Gemeinderat das Stadtbauamt beauftragte, eine Umzonungsvorlage für eine Freifläche mit Zweckbestimmung Schiessanlage auf dem Binzberg vorzubereiten, eine Vorlage, welcher die erweiterte Baukommission, die Finanzkommission und der Gemeinderat zustimmten, doch wurde sie am 17. Dezember 1984 vom Stadtrat abgelehnt.
Aus der Vorlage an die Stimmbürger ergibt sich ferner, dass der Standort "Chänerech" in Wynigen, für welchen letztinstanzlich das Bundesgericht mit Entscheid vom 25. März 1981 die auf
Art. 24 RPG
gestützte Baubewilligung geschützt hatte, aufgehoben wurde, weil die Stimmbürger einen nötigen Zusatzkredit am 6. Juni 1982 abgelehnt hatten. Dieser Kredit war allerdings für ein wesentlich grösseres Projekt als das nun vorgesehene verlangt worden. In seinem Entscheid hatte sich das Bundesgericht eingehend mit der Standortfrage befasst und auf die damalige Stellungnahme des Stadtpräsidenten verwiesen, mit welcher die Ablehnung anderer Lösungen begründet wurde. Das Urteil verweist auch auf den vom Bundesamt für Raumplanung eingeholten Bericht, welcher insgesamt acht Standorte einlässlich prüfte und auf Grund der Evaluation zum Ergebnis gelangte, dass der Standort "Chänerech" am besten geeignet sei. Der Standort "Grafeschüre" wurde auch als geeignet bezeichnet, doch wurde auf die zu erwartende Lärmbelastung für die Weiler Stöckacker und Grafeschüre hingewiesen. Die Gemeinde gab gemäss der Eingabe ihres Vertreters vom 5. Dezember 1980 dem Standort "Chänerech" den Vorzug und lehnte den Standort "Grafeschüre" mit folgender Begründung ab: "Die Lage neben der Hauptstrasse nach Langenthal und die SBB-Linie Bern-Olten verhindern den Neubau. Notwendige
BGE 114 Ia 114 S. 125
Schutzmassnahmen würden ein Ausmass erreichen, das wegen Verletzung des Ortschaftsschutzes der Höfe Grafenscheuren und Bickigen, des Landschafts- und Heimatschutzes nicht bewilligt werden könnte."
Die Vorlage an die Stimmberechtigten belegt eindrücklich, wie sehr sich der Gemeinderat um eine Lösung der Schiessplatzfrage bemühte. Doch kann ihr nur in begrenztem Rahmen entnommen werden, aus welchen planerischen Erwägungen einzelne der in Betracht kommenden Standorte abgelehnt wurden. Für die meisten Standorte ergibt sich aus der Vorlage einzig, dass die Landbesitzer nicht bereit seien, ihre Zustimmung zur Landinanspruchnahme zu geben. Dass diese Begründung zu einem sachgerechten Vergleich nicht genügt, liegt auf der Hand, kann doch - wie dies nun auch bei "Grafeschüre" vorgesehen ist - für einen geeigneten Standort eines für die Schützen der Gemeinde notwendigen Schiessplatzes das Enteignungsrecht beansprucht werden.
Der Regierungsrat hat es im angefochtenen Entscheid ausdrücklich abgelehnt, andere Standorte zu prüfen. Er hat einzig zum Verzicht auf "Chänerech" Stellung genommen, veränderte Verhältnisse (kleineres Projekt), bessere Erkenntnisse und bisher offenbar zu wenig berücksichtigte Vorteile der "Grafeschüre" wie kürzere Wegdistanz für die Schützen geltend gemacht. Er ist der Meinung, er dürfe es dabei bewenden lassen, weil es nicht um eine Baubewilligung nach
Art. 24 RPG
gehe, sondern um eine Zonenplanung. Diese Auffassung ist als irrtümlich zu bezeichnen. Die Festsetzung einer Freifläche für eine Schiessanlage hat in gleicher Weise den für die Raumplanung massgebenden Grundsätzen zu entsprechen und auf Grund einer umfassenden, die Prüfung von Alternativstandorten einschliessenden Interessenabwägung zu erfolgen (s.
Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und
Art. 2 Abs. 1 RPG
), wie dies für eine allenfalls mögliche Ausnahmebewilligung nach
Art. 24 RPG
zutrifft (
BGE 113 Ib 229
ff. und 373 E. 5; vgl. auch
BGE 111 Ib 88
E. 3). Bei der Bewertung aller Alternativen sind der Schutz des landwirtschaftlichen Bodens und der Landschaftsschutz mitzuberücksichtigen (
Art. 3 Abs. 2 lit. a und d RPG
). Schliesslich muss der hinsichtlich Standort und Zweck zu treffende planerische Grundsatzentscheid, um den es im Moment erst geht, auch bereits nach den heute massgebenden umweltschutzrechtlichen Bestimmungen ausgerichtet werden und namentlich den Schutz gegen schädliche und lästige
BGE 114 Ia 114 S. 126
Einwirkungen umfassen (
Art. 3 Abs. 3 lit. b RPG
,
BGE 113 Ib 231
ff. mit Hinweisen).
cg) Der Auffassung, eine entsprechende Überprüfung würde in die Gemeindeautonomie eingreifen, kann ebenfalls nicht gefolgt werden. Eine solche Prüfung gehört vielmehr zur Rechtskontrolle, namentlich zur Kontrolle der Planung auf ihre Übereinstimmung mit den aus der Verfassung fliessenden rechtsstaatlichen Grundsätzen; die Kontrollfunktion der kantonalen Behörden soll so weit reichen, als es der Schutz der Grundrechte und die Wahrung der übergeordneten Interessen - im vorliegenden Falle also z.B. des Interesses daran, dass überhaupt eine Schiessanlage erstellt und hiezu nur das notwendige Land enteignet wird - erfordert. Ein Nutzungsplan für die gezielte Verwirklichung einer bestimmten öffentlichen Anlage, mit welchem das Enteignungsrecht erteilt wird, kann auch nicht wie die Justizdirektion in ihrer Vernehmlassung vorträgt - der Abgrenzung verschiedener Bauzonen für private Nutzungen in einem Zonenplan gleichgestellt werden. Er kommt einer Enteignungsverfügung zur Sicherstellung des Landerwerbs für ein bestimmtes öffentliches Werk gleich und bedingt daher zur Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips und zur Abklärung der Notwendigkeit der Enteignung die Prüfung allfälliger weiterer Standorte. Die vom Regierungsrat betonte Zurückhaltung steht dem nicht entgegen. Auch wenn der Regierungsrat nicht obere Planungsbehörde ist und nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Gemeinde setzen darf, so hat er im Beschwerdeverfahren auf die entsprechenden Einwendungen hin zu prüfen, ob die Gemeinde mit planerisch sachgerechten Erwägungen die weiteren, in Frage kommenden Standorte ausgeschlossen hat. Zu einer solchen Prüfung hätte um so mehr Anlass bestanden, als - wie dargelegt - die Gemeinde den Standort "Grafeschüre" ursprünglich als ungeeignet verworfen und der Gemeinderat nach dem Verzicht auf das Projekt "Chänerech" zunächst eine andere Lösung (Binzberg) befürwortet hatte. Die vom Regierungsrat betonte Zurückhaltung kommt nur dann zum Zuge, wenn es um die Auswahl unter mehreren, gleich gewichtigen Alternativen geht, wenn es um Ortskenntnis und örtliche Demokratie geht (
Art. 1 Abs. 1 und
Art. 4 Abs. 2 RPG
).
Weder aus der Genehmigung durch die Baudirektion noch aus dem Beschwerdeentscheid des Regierungsrates geht hervor, dass eine umfassende Prüfung im aufgezeigten Sinne vorgenommen wurde. Diese Unterlassung bezieht sich auf wesentliche Punkte,
BGE 114 Ia 114 S. 127
welche von Amtes wegen hätten geprüft werden müssen (ALDO ZAUGG, a.a.O., Kommentar BauG 1985, N. 3 zu Art. 61), lässt sich doch die Notwendigkeit der Enteignung ohne Prüfung der möglichen Alternativstandorte gar nicht beurteilen. Die von den kantonalen Instanzen vorgenommene Beschränkung der Überprüfungsbefugnis stellt daher - wie die Beschwerdeführer zutreffend vortragen - eine formelle Rechtsverweigerung dar (ALDO ZAUGG, a.a.O., Kommentar BauG 1985, N. 40 der Einleitung).
ch) Demnach ist der angefochtene Regierungsratsbeschluss in Gutheissung der Beschwerden aufzuheben, ohne dass geprüft werden muss, ob die Einwendungen in materieller Hinsicht begründet sind. Es ist Sache der kantonalen Instanzen, die notwendigen Abklärungen nachzuholen. Dabei werden sie auch zu berücksichtigen haben, dass die Beschwerdeführer S. und B. beanstanden, dass sie die Streitfrage der Notwendigkeit der Enteignung auf kantonaler Ebene keinem unabhängigen Richter vortragen können. Wird beachtet, dass die Festsetzung einer Freifläche mit Zweckbestimmung Schiessanlage durch speziellen Beschluss - wie dargelegt - einer Enteignungsverfügung gleichkommt, so ist daran zu erinnern, dass das Bundesgericht wiederholt festgestellt hat, dass ein von einer Enteignung betroffener Bürger verlangen kann, dass nicht nur über das Mass der Entschädigung, sondern auch über die Frage, ob eine Enteignung gerechtfertigt ist, ein Richter urteilt, welcher den Anforderungen des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention genügt (
BGE 114 Ia 19
E. 2c; betreffend Ausübung eines einer Enteignung gleichkommenden Vorkaufsrechtes 112 Ib 178 E. 3a, 294 E. 8a;
BGE 111 Ib 231
E. 2e mit Hinweisen, insbesondere auf den Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 22. September 1982 i.S. Sporrong und Lönnroth c. Schweden, Publications série A, vol. 52, Ziff. 59-83, in deutscher Übersetzung in der Europäischen Grundrechtszeitschrift 1983, S. 523 ff.; zur Rechtsprechung der EMRK-Organe auch DANIEL THÜRER, EMRK und schweizerisches Verwaltungsverfahren, ZBl 87/1986, S. 241, insb. S. 249 ff., sowie DANIEL THÜRER, Neuere Entwicklungen im Bereich der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZBl 89/1988 S. 377 ff., insb. S. 383 ff.). In einem Falle wie dem vorliegenden, der nicht einer umfassenden Nutzungsplanung zur Festsetzung von Rahmen- oder Sondernutzungsplänen, bei welcher die planerischen Gesamtzusammenhänge für die örtliche Begrenzung der Nutzungsanordnungen bestimmend sind (vgl.
BGE 112 Ib 167
E. 4), gleichgestellt
BGE 114 Ia 114 S. 128
werden kann, genügen die Baudirektion und der Regierungsrat diesen Anforderungen nicht. Anderseits ist nach dem Entscheid des Europäischen - Gerichtshofes für Menschenrechte vom 29. April 1988 i.S. Belilos c. die Schweiz (zur Veröffentlichung bestimmt in: Publications série A, vol. 132) anzunehmen, dass in einem solchen Falle auch das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde den Anforderungen von
Art. 6 EMRK
wohl nicht zu genügen vermag, da das Bundesgericht die Feststellung des Sachverhalts im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde, selbst wenn es - wie hier - um einen schweren Eingriff in das Eigentum geht, nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür prüft (s. etwa
BGE 105 Ia 19
f. E. 3). Welche Bedeutung die Strassburger Organe der im Anschluss an das Urteil i.S. Belilos mit Wirkung ab 29. April 1988 erfolgten Änderung der Auslegenden Erklärung der Schweiz zu
Art. 6 Abs. 1 EMRK
(AS 1988 S. 1264) beimessen werden, ist zur Zeit noch offen.
5.
Nach dem Ausgeführten sind die beiden staatsrechtlichen Beschwerden gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Bern vom 9. September 1987 ist aufzuheben. | de |
5d389ef5-b556-4907-8c88-d2f67888eb86 | Sachverhalt
ab Seite 380
BGE 110 II 380 S. 380
Paul T. kaufte 1971 durch Vermittlung der Architekten Markus und Christoph G. ein Grundstück in A. Unter den besonderen
BGE 110 II 380 S. 381
Vertragsbedingungen versprach er, den Vermittlern die gesamten Architekturarbeiten zu SIA-Bedingungen zu übertragen und im Falle eines Verkaufs die Verpflichtung dem Erwerber zu überbinden. Die Architekten nahmen in der Folge die Projektierung von zwei Mehrfamilienhäusern in Angriff. Da das Land vorerst nicht baureif war, verzögerte sich die Erteilung der Baubewilligung bis ins Jahr 1975. Auf Ersuchen des Bauherrn wurde das bewilligte Bauvorhaben sistiert und die Baubewilligung bis 1977 verlängert. Am 23. Dezember 1977 verkaufte T. das Grundstück samt dem bewilligten Bauprojekt an einen Dritten.
Die Architekten stellten am 15. August 1979 für ihre Arbeiten Rechnung und reichten unter Berücksichtigung von Fr. 100'000.-- Akontozahlung am 7. November 1980 beim Bezirksgericht Arlesheim gegen T. Klage ein über Fr. 71'239.30. Das Bezirksgericht hiess die Klage im Teilbetrag von Fr. 29'199.-- gut. Auf Appellation des Beklagten setzte das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft mit Urteil vom 25. Oktober 1983 den Betrag auf Fr. 23'043.70 herab, zuzüglich 5% Zins seit 22. Januar 1980.
Der Beklagte beantragt mit seiner Berufung, die Klage ganz abzuweisen, während die Kläger um Bestätigung des angefochtenen Urteils ersuchen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Es ist nicht streitig, dass der Beklagte mit den Klägern zumindest konkludent einen Architektenvertrag abgeschlossen hat. Das Obergericht hat mit Hilfe eines Experten den Honoraranspruch der Kläger für die von ihnen geleisteten Arbeiten ermittelt und auf Fr. 95'877.50 festgesetzt. Weil der Beklagte bereits Fr. 100'000.-- bezahlt hatte, ergab sich ein Saldo zu seinen Gunsten von Fr. 4'122.50. Insoweit ist das Urteil des Obergerichts unangefochten.
Der Beklagte stellt zu Recht auch nicht mehr in Abrede, dass er den Architektenauftrag sinngemäss widerrufen hat, indem er das Grundstück samt dem Bauprojekt an einen Dritten verkaufte, ohne den Architektenvertrag zu überbinden. Streitig ist dagegen, ob die Vorinstanz den Klägern wegen des Auftragsentzugs zu Recht die in Art. 5.5 und Art. 8.1 der SIA-Honorarordnung vorgesehenen Honorarzuschläge bewilligt hat. Dass die Parteien die Anwendung der SIA-Norm 102 (Ausgabe 1969) vereinbart haben, wird auch vom Beklagten anerkannt.
BGE 110 II 380 S. 382
2.
Das Obergericht lässt die Frage, ob der Architektenvertrag den Regeln des Auftrags oder des Werkvertrags zu unterstellen sei, mit der Begründung offen, die streitigen Ansprüche der Kläger seien selbst im Fall der Anwendung von Auftragsrecht begründet. Nach Auffassung des Beklagten kommt dagegen der Qualifikationsfrage entscheidende Bedeutung zu, weil Art. 5.5 und Art. 8.1 der SIA-Norm mit dem Widerrufsrecht gemäss
Art. 404 Abs. 1 OR
unvereinbar seien.
Mit
BGE 109 II 464
E. 3 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zum Architektenvertrag geändert. In diesem Urteil wird insbesondere ausgeführt,
Art. 394 Abs. 2 OR
schliesse die Anerkennung gemischter Verträge auf Arbeitsleistung nicht aus und zwinge nicht dazu, ein komplexes Vertragsverhältnis wie den Architektenvertrag entweder ganz als Auftrag oder ganz als Werkvertrag zu beurteilen. Architektenarbeiten, welche den Regeln des Werkvertrags unterstellt werden könnten, seien zum Beispiel das Erstellen von Ausführungsplänen und Kostenvoranschlägen, allenfalls sogar das Ausarbeiten von Bauprojekten. Andere Aufgaben wie Arbeitsvergebung und Bauaufsicht seien dagegen nur als Auftrag rechtlich erfassbar. Das Bundesgericht schloss eine Spaltung der Rechtsfolgen in bezug etwa auf die Mängelhaftung nicht aus, hielt diesen Weg aber nicht für gangbar, wenn die vorzeitige Auflösung eines Gesamtvertrags umstritten ist, der Auftrags- und Werkvertragselemente umfasst. Bei einem Projektierung und Bauausführung umfassenden Architektenvertrag komme dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Bauherrn und dem Architekten so grosse Bedeutung zu, dass die Auflösungsregel des
Art. 404 OR
den Vorzug verdiene (
BGE 109 II 466
).
Das Obergericht stellt unwidersprochen fest, dass nach dem Vertrag die Kläger ein Bauprojekt auszuarbeiten hatten, das unter ihrer Leitung ausgeführt werden sollte. Es handelte sich daher um einen Gesamtauftrag, dessen Widerruf nach
Art. 404 OR
zu beurteilen ist.
3.
Entzieht der Bauherr dem Architekten den Auftrag ohne dessen Verschulden, so hat der Architekt nach Art. 8.1 der SIA-Norm 102 Anspruch auf einen Honorarzuschlag von 15% oder mehr, sofern der nachgewiesene Schaden diesen Prozentsatz übersteigt. Das Obergericht anerkennt unter diesem Titel eine Forderung der Kläger von Fr. 14'381.60. Es geht davon aus, dass die SIA-Bestimmung dem
Art. 404 Abs. 2 OR
entspreche und der Honorarzuschlag wie der Schadenersatzanspruch davon abhänge,
BGE 110 II 380 S. 383
dass dem Architekten keinerlei Nachlässigkeit zur Last falle, die das Vertrauensverhältnis zum Bauherrn gestört hätte. Im Ergebnis, wenn auch nicht ohne weiteres in der Begründung, folgt die Vorinstanz sodann dem Urteil des Bundesgerichts in Sachen Disch (S. J. 1978 S. 385 ff.); es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass der Architekt durch den Auftragsentzug einen nur schwer konkretisierbaren Schaden erleide, was die Pauschalierung rechtfertige. Der Architekt führe in der Regel einen nach kaufmännischen Grundsätzen organisierten Betrieb, der schon bei Eingang des Auftrags weitreichende Dispositionen bezüglich Personaleinsatz, Behörden- und Unternehmerkontakten erfordere. Besonders während der Projektierungsphase bleibe wenig Raum für ein besonderes Vertrauensverhältnis, weil der Architekt ein fertiges Produkt abzuliefern habe. In dieser Phase könne daher auch nur ausnahmsweise ein Widerruf auf die Störung des Vertrauensverhältnisses gestützt werden, anders als etwa bei Ärzten und Anwälten.
a) Der Beklagte hält am Einwand fest, der streitige Honorarzuschlag sei eine verpönte Konventionalstrafe, die den freien Widerruf in unzulässiger Weise erschwere. Im bereits zitierten
BGE 109 II 462
ff. ist diese Frage einlässlich geprüft worden. Dabei wurde im Ergebnis an der Entscheidung Disch festgehalten, indes bei der Begründung der namentlich von TERCIER (in Baurecht 1979 S. 9 und 1982 S. 9) geäusserten Kritik Rechnung getragen. Danach begründet zwar Art. 8.1 SIA-Norm 102 eine Konventionalstrafe, doch ist sie wie die Schadenersatzpflicht gemäss
Art. 404 Abs. 2 OR
mit dem Widerrufsrecht vereinbar, falls der Widerruf zur Unzeit erfolgt. Daran ist auch im vorliegenden Fall festzuhalten.
b) Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beklagte zur Unzeit widerrufen hat, will das Obergericht entscheidend darauf abstellen, ob den Klägern eine - wenn auch geringe - Nachlässigkeit vorzuwerfen sei. Dieser Gesichtspunkt wurde zwar in
BGE 104 II 320
E. 5b in den Vordergrund gestellt; mit
BGE 106 II 160
E. 2c hat das Bundesgericht aber zum Ausdruck gebracht, dass eine weitere Bedingung gegeben sein muss. Die Annahme eines Widerrufs zur Unzeit setzt danach nicht nur voraus, dass der Architekt dazu keinen begründeten Anlass gegeben hat, sondern auch, dass die Vertragsauflösung hinsichtlich des Zeitpunkts und der von ihm getroffenen Dispositionen für ihn nachteilig ist.
BGE 110 II 380 S. 384
Das Obergericht hält die erste Voraussetzung für gegeben, weil selbst eine leichte Nachlässigkeit der Kläger nicht ersichtlich sei. Zur Zeit des Kaufs sei das Grundstück allerdings nicht baureif gewesen; die Kläger hätten sich möglicherweise dem Beklagten gegenüber in dieser Beziehung etwas zu optimistisch geäussert; doch habe der Beklagte gewusst, dass es sich nur um Prognosen mit einem spekulativen Element habe handeln können. Der Beklagte beharrt demgegenüber darauf, nicht zur Unzeit widerrufen zu haben, weil das Grundstück erst nach Jahren wirklich baureif geworden und den Klägern daher zumindest eine leichte Nachlässigkeit vorzuwerfen sei. Soweit sich dieser Einwand nicht nur gegen eine verbindliche tatsächliche Feststellung, sondern auch gegen eine überprüfbare rechtliche Würdigung der Vorinstanz richtet, ist er unbegründet. Es braucht daher nicht entschieden zu werden, ob der Beklagte allenfalls auch durch jahrelanges Zuwarten sein Widerrufsrecht verwirkt habe; sein Verhalten bestätigt immerhin, dass er selbst das Grundstück im Jahr 1971 noch nicht als völlig baureif betrachtet hat.
c) Das Obergericht stellt fest, die Kläger hätten in der Zeit zwischen 1975, als die Baubewilligung erteilt wurde, und 1977, als der Beklagte das Grundstück verkaufte, praktisch keine Tätigkeit entfaltet. Die Kläger machen in der Berufungsantwort nicht geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt lückenhaft festgestellt, indem sie konkrete Behauptungen nicht berücksichtigt habe. In der kantonalen Appellationsbegründung hatte zudem der Beklagte vorgebracht, die Kläger hätten einen Schaden aus Widerruf im Sinn des negativen Vertragsinteresses gar nie behauptet; weil die Arbeiten zwei Jahre geruht hätten, sei undenkbar, dass sie Vorkehren zur weiteren Ausführung oder Bearbeitung getroffen hätten. Die Kläger haben darauf in der Antwort lediglich auf der Pauschalierung im Sinn des Urteils in Sachen Disch bestanden. Für eine Ergänzung des Sachverhalts und Rückweisung an die Vorinstanz bleibt daher kein Raum. Es ist somit davon auszugehen, dass die Kläger durch den Widerruf im Jahre 1977 nicht nachweisbar hinsichtlich konkreter Dispositionen benachteiligt worden sind.
Wie bereits erwähnt, folgert das Obergericht aus der Natur des Architektenvertrags und der Lebenserfahrung, dass der Betrieb eines Architekturbüros ganz allgemein auf längerfristigen Dispositionen beruhe und sich dadurch von der Tätigkeit des Arztes und Anwalts unterscheide. Die gleiche Überlegung lag dem Urteil des Bundesgerichts in Sachen Disch (S. J. 1978 S. 392) und
BGE 109 II 470
BGE 110 II 380 S. 385
zugrunde. Obschon es sich in jenen Fällen um Grossaufträge mit Baukostensummen von 16,5 und 27 Millionen Franken handelte, kann der Erfahrungssatz doch nicht nur für Grossbauten gelten; auch die hier vorliegende Baukostensumme, die sich nach der Expertise auf ca. 2,4 Millionen Franken belief, machte entsprechende Dispositionen nötig. Das Obergericht nimmt demnach zu Recht an, die Kläger seien bis zur Einstellung der Tätigkeit für den Beklagten mit Aufwendungen belastet worden, die durch den Honoraranspruch nicht gedeckt sind.
Die vorstehenden Erwägungen machen deutlich, dass der Honorarzuschlag gemäss Art. 8.1 SIA-Norm 102 ohne weiteres zuzusprechen wäre, wenn der Beklagte den Vertrag schon im Jahre 1975 widerrufen hätte. Damit drängt sich aber die Frage auf, ob die Kläger den Anspruch, der ihnen bei früherem Auftragsentzug zugestanden hätte, wegen des zweijährigen Unterbruchs verlieren können. Dabei ist von Bedeutung, welche der Vertragsparteien die Einstellung der Architektenarbeiten zu verantworten hat. Das Obergericht stellt dazu fest, die Sistierung sei auf Wunsch des Beklagten und aus nicht von den Klägern zu vertretenden Gründen erfolgt. Der Beklagte äussert sich in der Berufung nicht zu dieser Frage. Die Kläger behaupten, die baupolizeilichen Hindernisse seien 1975 behoben gewesen, die seitherige Verzögerung habe allein der Beklagte zu vertreten. Es ist daher davon auszugehen, dass die Kläger weder für die Verzögerung noch für den Entzug des Auftrags verantwortlich sind. Sie mussten sich mit dem Unterbruch abfinden und konnten das auch tun in der Erwartung, zu gegebener Zeit die Arbeit wieder aufnehmen zu können. Verzögert aber ein Bauherr ohne Zutun des Architekten die Ausführung des Bauvorhabens und zwingt er ihn dadurch, die bereits vorgenommenen Dispositionen rückgängig zu machen, so kann er sich nicht nachträglich darauf berufen, der Widerruf erfolge nun nicht mehr zur Unzeit, weil der Architekt inzwischen bereits umdisponiert habe.
Das angefochtene Urteil ist demnach insoweit zu bestätigen.
4.
Wird nach dem Widerruf des Auftrags die Ausführung des Projekts ohne vorgängige Vereinbarung einem andern Architekten oder Dritten übertragen, so hat der Projektverfasser gemäss SIA-Norm 102 Anspruch auf einen Honorarzuschlag von 20% (Art. 8.2 in Verbindung mit Art. 5.5). Das Obergericht spricht den Klägern unter diesem Titel einen Betrag von Fr. 12'784.60 zu. Es vermag eine Zustimmung der Kläger zur anderweitigen Verwendung
BGE 110 II 380 S. 386
ihres Projekts nicht zu erkennen und sieht im Zuschlag eine Gegenleistung für die dem Architekten entgangene wirtschaftliche Verwertung eines urheberrechtlich geschützten Werkes.
a) Der Beklagte hält daran fest, dass es sich beim Zuschlag um eine Konventionalstrafe handle, die eine unzulässige Erschwerung des Widerrufs darstelle. Diese Auffassung lag
BGE 104 II 319
E. 5 zugrunde, wo Art. 5.5 der SIA-Norm 102 nicht als Entschädigung aus Urheberrecht, sondern als Anspruch wegen Auftragsentzugs behandelt und gleich wie der Honorarzuschlag aus Art. 8.1 SIA-Norm 102 abgewiesen wurde, weil der Architekt nachlässig gewesen war. Dem haben sowohl MERZ (ZBJV 116/1980 S. 23) als auch TERCIER (Baurecht 1980/2 S. 28) zugestimmt. Im vorliegenden Fall besteht kein Grund, von dieser Rechtsprechung abzuweichen; gleich wie in
BGE 104 II 320
E. 5b ist deshalb auf Art. 5.5 SIA-Norm 102 die Vorschrift von
Art. 404 Abs. 2 OR
anzuwenden.
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gibt
Art. 404 Abs. 2 OR
keinen Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns, sondern nur auf Ausgleich der besonderen Nachteile als Folge des unzeitigen Widerrufs (
BGE 109 II 469
/70 mit Hinweisen). Das Obergericht führt zutreffend aus, mit dem Zuschlag gemäss Art. 5.5 der SIA-Norm 102 solle der Architekt einen Gegenwert erhalten für die ihm entgangene wirtschaftliche Verwertung eines urheberrechtlich geschützten Werkes. Es nimmt zu Recht an, es handle sich dabei um einen reinen Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns. Die Kläger vertreten in der Berufungsantwort die gleiche Auffassung. Da aber ein derartiger Anspruch nach der Bundesgerichtspraxis mit
Art. 404 Abs. 2 OR
unvereinbar ist, muss das Urteil des Obergerichts aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen werden.
Damit kann offenbleiben, ob ein kumulierter Honorarzuschlag von 35% in Anwendung von
Art. 163 Abs. 3 OR
herabgesetzt werden müsste, wie der Beklagte geltend macht.
5.
Die Kläger haben somit Anrecht auf den Zuschlag gemäss Art. 8.1 SIA-Norm 102 in der Höhe von Fr. 14'381.60. Nach Abzug des Verrechnungssaldos von Fr. 4'122.50 verbleibt ein Restbetrag von Fr. 10'259.10. Im Mehrbetrag ist die Klage abzuweisen.
BGE 110 II 380 S. 387 | de |
098169e5-0438-4a22-a780-a23de4e07bb4 | Sachverhalt
ab Seite 98
BGE 99 V 98 S. 98
A.-
Der 1938 geborene, ledige G. leidet an Schizophrenie, die sich seit 1964 in wechselndem Masse auf die Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit auswirkt. Entsprechend der schwankenden Gesundheits- und Einkommensverhältnisse richtete die Invalidenversicherung dem Versicherten ab 1. März 1965 abwechselnd eine ganze Rente während 19 Monaten, eine halbe während 9 Monaten, eine ganze während 23 Monaten, eine halbe während 4 Monaten und schliesslich - bis Ende April 1972 - eine ganze Rente während 31 Monaten aus. Insgesamt erhielt der Beschwerdeführer somit während 73 Monaten eine ganze und während 13 Monaten eine halbe Invalidenrente. Mit Verfügung vom 21. April 1972 wurde die Rente auf Ende April 1972 aufgehoben. Beim entsprechenden Beschluss ging die Invalidenversicherungs-Kommission davon aus, dass der Versicherte seit Februar 1971 in der Firma X arbeitete und dort ein Jahreseinkommen von Fr. 15 400.-- erzielte. Im Vergleich zum Normaleinkommen eines kaufmännischen Angestellten von rund Fr. 25 000.-- ergebe sich ein Invaliditätsgrad von nurmehr 39%; ein Härtefall liege nicht vor.
B.-
Eine gegen diese Verfügung eingereichte Beschwerde wurde vom Versicherungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 30. Juni 1972 mit gleicher Begründung abgewiesen.
C.-
Mit rechtzeitiger Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Vater des Versicherten die Zusprechung einer halben
BGE 99 V 98 S. 99
Rente, da sein Sohn über 50% invalid sei. Dessen Einkommen liege unter der Hälfte des hypothetischen Einkommens von Fr. 25 000.--, da er nicht eine normale Arbeitszeit einhalten könne.
Während sich die Ausgleichskasse eines bestimmten Antrages enthält, trägt das Bundesamt für Sozialversicherung auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und Gewährung einer halben Rente für die Zeit nach dem 30. April 1972 an. Es liege eine Schubkrankheit vor, bei welcher der durchschnittliche Invaliditätsgrad aus einer längeren Beobachtungszeit (zwei Jahre) zu bestimmen sei.
D.-
Nachträglich reicht die Invalidenversicherungs-Kommission verschiedene zusätzliche Aktenstücke ein, aus denen sich ergibt, dass seit Frühjahr 1972 wiederum vermehrt psychische Störungen aufgetreten sind. Vom 4. Mai bis 14. Juni 1972war der Versicherte vollarbeitsunfähig, anschliessend 50% und vom 8. Juni bis 12. Oktober 1972 hielt er sich in einer Nervenklinik auf. Am 7. Mai 1973 nahm er die Arbeit in der Firma X zu einem Monatslohn von Fr. 860.-- in reduziertem Masse wieder auf. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Laut
Art. 28 IVG
besteht Anspruch auf eine ganze Rente, wenn der Versicherte mindestens zu 2/3, derjenige auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zur Hälfte invalid ist. Die halbe Rente kann in Härtefällen auch bei einer Invalidität von mindestens 1/3 ausgerichtet werden. Gemäss Abs. 2 der genannten Gesetzesbestimmung wird für die Bemessung der Invalidität "das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre".
Art. 29 Abs. 1 IVG
bestimmt, dass der Rentenanspruch entsteht, "sobald der Versicherte mindestens zur Hälfte bleibend erwerbsunfähig geworden ist oder während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich zur Hälfte arbeitsunfähigwarund weiterhin mindestens zur Hälfte erwerbsunfähig ist". Für die Frage des Anspruchsbeginns ist somit entscheidend, ob der Versicherte eine voraussichtlich bleibende
BGE 99 V 98 S. 100
Erwerbsunfähigkeit (Variante 1 des
Art. 29 Abs. 1 IVG
) oder eine längere Zeit dauernde Krankheit (Variante 2 des
Art. 29 Abs. 1 IVG
) aufweist. Bleibende Erwerbsunfähigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung und Verwaltungspraxis dann anzunehmen, wenn ein weitgehend stabilisierter, im wesentlichen irreversibler Gesundheitsschaden vorliegt, welcher die Erwerbsfähigkeit des Versicherten voraussichtlich dauernd in rentenbegründendem Ausmass beeinträchtigen wird. Als relativ stabil geworden kann ein ausgesprochen labil gewesenes Leiden nur dann betrachtet werden, wenn sich sein Charakter deutlich in der Weise geändert hat, dass vorausgesehen werden kann, in absehbarer Zeit werde keine praktisch erhebliche Wandlung mehr erfolgen (
BGE 97 V 245
, ZAK 1971 S. 466).
Laufende Renten sind für die Zukunft zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben, wenn sich der Invaliditätsgrad eines Rentners in einer für den Anspruch erheblichen Weise ändert (
Art. 41 IVG
). Die Revision erfolgt von Amtes wegen oder auf Gesuch hin, wobei die Regeln des
Art. 29 Abs. 1 IVG
über den Beginn des Rentenanspruchs sinngemäss anwendbar sind (
Art. 88bis Abs. 1 IVV
). Demnach darfin Fä'Ilen, die nach Variante 2 des
Art. 29 Abs. 1 IVG
zu beurteilen sind, die ganze Rente nur dann aufgehoben werden, wenn der Versicherte während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich weniger als zur Hälfte arbeitsunfähig war und weiterhin weniger als zur Hälfte erwerbsunfähig ist. Die ganze Rente ist aufeine halbe zu reduzieren, wenn der Versicherte während der genannten Wartezeit weniger als zu 2/3, aber mindestens zur Hälfte arbeitsunfähig war und weiterhin in diesem Ausmasse erwerbsunfähig ist.
2.
Der Beschwerdeführer leidet seit Jahren an Schizophrenie. Die Krankheit verläuft in der für Schubkrankheiten charakteristischen Form mit sich ablösenden Perioden von Remissionen und Rückfällen. Entsprechend den wechselnden Verhältnissen unterzog die Invalidenversicherungs-Kommission gestützt auf die Bestimmungen betreffend die Invaliditätsbemessung und die revisionsweise Überprüfung von Rentenverfügungen den Rentenanspruch innert 7 Jahren siebenmal einer Überprüfung, wobei fünfmal ein neuer Invaliditätsgrad ermittelt wurde.
Wie das Bundesamt für Sozialversicherung in seiner Vernehmlassung vom 9. November 1972 zutreffend darlegt, vermag die geltende Regelung der Invaliditätsbemessung bei Schubkrankheiten
BGE 99 V 98 S. 101
nicht durchwegs zu befriedigen. Bei diesen Leiden lösen sich Perioden der Arbeitsfähigkeit und solche der vollen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit oft kurzfristig ab. Beurteilt man dabei die sich ablösenden Perioden einzeln nach Variante 2 des
Art. 29 Abs. 1 IVG
, so wird man der tatsächlichen Beeinträchtigung häufig nicht gerecht. Der Versicherte ist unter Umständen dauernd vom Genuss einer Rente ausgeschlossen, wenn die einzelnen, die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheitsschübe regelmässig weniger als 360 Tage andauern. Ein befriedigendes Ergebnis lässt sich für die revisionsweise Beurteilung des Rentenanspruches in Fällen von Schubkrankheiten nur erreichen, wenn auf die durchschnittliche Beeinträchtigung während eines längeren Zeitabschnittes abgestellt wird. Es wird damit vermieden, dass die Rente einzig deshalb herabgesetzt oder aufgehoben werden muss, weil die auflängere Sicht erhebliche Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit von kurzen Perioden gesteigerter Erwerbsfähigkeit unterbrochen wird. Im übrigen bleibt dahingestellt, ob und in welcher Form diese Praxis auch auf die erstmalige Beurteilung des Rentenanspruchs anzuwenden ist.
3.
Die angefochtene Verfügung vom 21. April 1972 beruht auf dem Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission, auf den 29. Februar 1972 eine weitere Rentenrevision durchzuführen. Legt man der Beurteilung die vom Bundesamt für Sozialversicherung beantragte 2jährige Beobachtungsperiode zugrunde, so ergibt sich für diesen Zeitabschnitt (März 1970 bis Februar 1972) eine volle Erwerbsunfähigkeit des Versicherten während 11 Monaten (März 1970 bis Januar 1971) und eine teilweise Erwerbsunfähigkeit von 39% während 13 Monaten (Februar 1971 bis Februar 1972). Für die 2jährige Periode beträgt der Invaliditätsgrad somit 67%...
4.
Es bleibt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer auch die zweite der in
Art. 29 Abs. 1 IVG
für die Rentenzusprechung genannten Voraussetzungen erfüllt, wonach der Versicherte weiterhin mindestens zur Hälfte erwerbsunfähig sein muss. Bei der revisionsweisen Prüfung des Rentenanspruches ist dabei zu beachten, dass eine Revision zu unterbleiben hat, wenn die Erwerbsunfähigkeit im Zeitpunkt der Revisionsverfügung von neuem ein rentenbegründendes Ausmass erreicht oder eine solche Verschlimmerung unmittelbar bevorsteht (ZAK 1972 S. 61,
BGE 96 V 137
).
BGE 99 V 98 S. 102
Am 21. April 1972, als die angefochtene Verfügung erlassen wurde, arbeitete der Versicherte annähernd in vollem Umfange in der Firma X. Rund 14 Tage später musste er die Arbeit jedoch erneut für längere Zeit aufgeben. Eine Tätigkeit in beschränktem Ausmasse konnte offenbar erst wieder im Mai 1973 aufgenommen werden.
Für die richterliche Beurteilung eines Falles sind zwar grundsätzlich die tatsächlichen Verhältnisse zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Verwaltungsverfügung massgebend. Tatsachen, die sich erst später verwirklichen, sind jedoch insoweit zu berücksichtigen, als sie mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen (EVGE 1968 S. 16, ZAK 1970 S. 611).
Sowohl der bisherige Verlauf des Leidens wie auch die in den Akten enthaltenen ärztlichen Angaben lassen auf eine ungünstige Prognose hinsichtlich der künftigen Erwerbsfähigkeit des Versicherten schliessen. Auch im Zeitpunkt des Verfügungserlasses musste daher mit erneuter Arbeitsunfähigkeit gerechnet werden. Jedenfalls aber hätte die Verwaltung, sofern sie von der unmittelbar bevorstehenden Periode der vollen Erwerbsunfähigkeit Kenntnis gehabt hätte, dies bei der Beurteilung des Rentenanspruches berücksichtigen müssen. Da dieser Sachverhalt die prognostische Beurteilung des Falles im Zeitpunkt der Verwaltungsverfügung betrifft, ist er im Beschwerdeverfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht nach dem oben Gesagten in die Beurteilung des Rentenanspruches mit einzubeziehen.
Daraus ergibt sich, dass der Beschwerdeführer im massgebenden Zeitpunkt zu über 2/3 erwerbsunfähig war. Er hat demnach Anspruch auf Weiterausrichtung der ganzen Rente ab Mai 1972. Dem steht der Umstand nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer selbst nur die Ausrichtung einer halben Invalidenrente beantragt hat. Nach
Art. 132 lit. c OG
kann das Eidg. Versicherungsgericht über die Parteibegehren hinausgehen. | de |
0a1eea22-95bb-40f5-becd-8c94dee49f4f | Sachverhalt
ab Seite 16
BGE 82 III 16 S. 16
Gegen den die Lohnpfändung aufhebenden Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde vom 20. Februar 1956, zugestellt am 28. Februar, legte die Gläubigerin am 9. März den vorliegenden Rekurs ein mit dem Antrag auf Gültigerklärung der Lohnpfändung und mit der Bemerkung, der Entscheid verletze
Art. 93 SchKG
; eine nähere Begründung werde in den nächsten Tagen folgen. Dies geschah mit Postaufgabe vom 12. März. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
Wenn
Art. 19 SchKG
bestimmt, dass der Rekurs an das Bundesgericht binnen 10 Tagen seit Mitteilung des angefochtenen Entscheides bei der Vorinstanz einzureichen sei, so heisst das, dass binnen dieser Frist eine den Anforderungen des
Art. 79 OG
entsprechende Rekursschrift bei der Vorinstanz einzureichen ist. Eine nach Ablauf der Rekursfrist emgereichte Ergänzungsschrift kann nicht mehr berücksichtigt werden, selbst wenn sie in der rechtzeitigen Rekurserklärung angekündigt wurde. Im vorliegenden Falle lief die Rekursfrist mit dem 9. März ab.
BGE 82 III 16 S. 17
Es ist also nur die Rekurserklärung vom 9., nicht aber die Ergänzungseingabe vom 12. März rechtzeitig. Die letztere fällt mithin ausser Betracht. Die erstere Eingabe aber genügt nicht dem Erfordernis nach
Art. 79 Abs. 1 OG
, wonach in der Rekursschrift, neben der Antragstellung, "kurz darzulegen ist, welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind". Möchte allenfalls die Bemerkung, der Entscheid verletze
Art. 93 SchKG
, als Nennung des angeblich verletzten Rechtssatzes noch genügen, so ist daraus in keiner Weise zu entnehmen, "inwiefern" jenes der Fall sein soll. Es müsste gesagt sein, welche konkreten Erwägungen der Vorinstanz gegen welche der mehreren in
Art. 93 SchKG
enthaltenen Normen verstossen sollen. Die materielle Behandlung des Rekurses würde daher faktisch doch auf eine Berücksichtigung der Nachtragsbegründung hinauslaufen, was infolge ihrer Verspätung eben unzulässig ist (
BGE 42 III 131
E. 1,
BGE 71 II 34
, 35,
BGE 71 III 10
). | de |
54203a8a-ebc9-4029-864c-c00f3e4b0499 | Sachverhalt
ab Seite 432
BGE 147 III 431 S. 432
A.
Mit Mietvertrag vom 30. März bzw. 4. April 2017 mietete B. (Mieterin, Beschwerdegegnerin) von der A. AG (Vermieterin, Beschwerdeführerin) per 16. April 2017 eine 2-Zimmerwohnung in V. Vereinbart wurde ein monatlicher Nettomietzins von Fr. 1'060.- zuzüglich einer Akontozahlung von Fr. 165.-. Mit Formular vom 30. März 2017 teilte die Vermieterin der Mieterin den von der Vormieterin zuletzt geschuldeten sowie den neuen Mietzins mit. Der frühere Nettomietzins belief sich auf monatlich Fr. 738.- (bei gleichen Akontozahlungen für Nebenkosten). Zur Begründung der Mietzinserhöhung führte die Vermieterin eine "Anpassung an die orts- und quartierüblichen Verhältnisse" an.
B.
Mit Eingabe vom 2. Mai 2017 stellte die Mieterin bei der zuständigen Schlichtungsbehörde das Begehren, es sei der Anfangsmietzins für missbräuchlich zu erklären. Nachdem an der Schlichtungsverhandlung keine Einigung erzielt werden konnte, unterbreitete die Schlichtungsbehörde den Parteien einen Urteilsvorschlag. Dieser wurde von der Vermieterin abgelehnt, worauf ihr die Klagebewilligung erteilt wurde. Mit Klage vom 14. September 2017 beantragte die Vermieterin beim Mietgericht Zürich, es sei der Anfangsmietzins von netto Fr. 1'060.- pro Monat für die von der Mieterin gemietete Wohnung, kostenfällig als nicht missbräuchlich zu erklären. Eventualiter sei der vom Gericht als nicht missbräuchlich erachtete Nettomietzins für die Wohnung gerichtlich festzulegen.
Zur Begründung der Orts- und Quartierüblichkeit des Mietzinses reichte die Vermieterin ein Privatgutachten ins Recht und offerierte insgesamt 23 Vergleichsobjekte, die hinsichtlich Lage, Grösse,
BGE 147 III 431 S. 433
Bauperiode, Ausstattung und Zustand mit der von der Mieterin gemieteten Wohnung vergleichbar seien und für die durchwegs ein höherer Nettomietzins bezahlt werde. Die Mieterin stellte die Vergleichbarkeit der Objekte in Abrede.
Mit Urteil vom 26. August 2019 erklärte das Mietgericht den monatlichen Nettomietzins von Fr. 1'060.- als missbräuchlich und setzte diesen rückwirkend per Mietbeginn auf Fr. 855.- fest (zzgl. einer monatlichen Akontozahlung von insgesamt Fr. 165.-).
Eine dagegen gerichtete Berufung wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 2. März 2020 ab.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Vermieterin dem Bundesgericht, das angefochtene Urteil des Obergerichts sei kostenfällig aufzuheben und demgemäss sei der Anfangsmietzins von netto Fr. 1'060.- pro Monat für die von der Beschwerdegegnerin gemietete Wohnung als nicht missbräuchlich zu erklären. Eventualiter sei die Sache zur Ergänzung des Verfahrens und neuer Entscheidung an das Obergericht oder das Mietgericht zurückzuweisen. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde abzuweisen und das Urteil des Obergerichts zu bestätigen. Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Es hebt das Urteil des Obgergerichts auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurück.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Unbestritten ist, dass es sich bei der vermieteten Liegenschaft mit Baujahr 1933, welche die Beschwerdeführerin 1948 erworben hat, um eine Altbaute handelt. Umstritten ist hingegen, ob der vereinbarte Anfangsmietzins gemäss
Art. 269a lit. a OR
im Rahmen der orts- und quartierüblichen Mietzinse liegt. Dabei ist namentlich umstritten, wer vorliegend den Beweis für die Quartierüblichkeit zu erbringen hatte.
(...)
3.2
3.2.1
Gemäss
BGE 139 III 13
ist Rechtsmissbrauch eine rechtshindernde Tatsache, für welche die Beweislast der Gegenpartei des Rechtsinhabers obliegt, woraus sich ergibt, dass die Beweislast
BGE 147 III 431 S. 434
betreffend die Missbräuchlichkeit des vereinbarten Anfangsmietzinses vom Mieter zu tragen ist, wenn die Vermieterin sich im amtlichen Formular auf die quartierüblichen Mietzinse berufen hat, um die Erhöhung des Mietzinses gegenüber demjenigen des Vormieters zu rechtfertigen (
BGE 139 III 13
E. 3.1.3.2). Der Nachweis der fünf Vergleichsobjekte, die in Bezug auf die in
Art. 11 Abs. 1 der Verordnung vom 9. Mai 1990 über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen (VMWG; SR 221.213.11)
genannten Aspekte mit dem strittigen Mietobjekt vergleichbar sein müssen, obliegt somit bei der Anfechtung des Anfangsmietzinses dem Mieter.
3.2.2
In
BGE 139 III 13
hat das Bundesgericht im Falle erheblicher Mietzinserhöhungen diesen Grundsatz aber gleichzeitig abgeschwächt. Eine Mietzinserhöhung von 43.61 % im Vergleich zum vorherigen Mietzins wurde vom Bundesgericht als massiv erachtet. Es sei ersichtlich, dass die gegenwärtige Wirtschaftslage ("conjoncture économique actuelle"; Entwicklung des Referenzzinssatzes bzw. der Schweizerischen Konsumentenpreise) eine solche Mietzinserhöhung nicht rechtfertige (
BGE 139 III 13
E. 3.1.4). Gemäss
BGE 139 III 13
hat die Vermieterin in diesem Fall die Pflicht, Gegenbeweise anzubieten und zu beweisen, dass es sich trotz des Anscheins um einen Ausnahmefall handelt, mithin der Anfangsmietzins nicht missbräuchlich ist. Nach Treu und Glauben müsse die Vermieterin bei der Beweiserhebung loyal mitwirken, indem sie alle in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen vorlege, die zur Überprüfung des von ihr im amtlichen Formular angeführten Erhöhungsgrundes nötig seien (
BGE 139 III 13
E. 3.2). Nach dem Gesagten sei die Vermieterin verpflichtet gewesen, bei der Beweiserhebung mitzuwirken und mindestens fünf Vergleichsobjekte beizubringen, die ähnliche Merkmale gemäss
Art. 11 Abs. 1 VMWG
wie die gemietete Sache aufweisen würden (
BGE 139 III 13
E. 3.3).
3.2.3
Die dargelegte Rechtsprechung wurde zuletzt im Urteil 4A_191/2018 vom 26. März 2019 E. 3.3.3 wiedergegeben, wobei insbesondere auch auf kritische Stimmen in der Lehre verwiesen wurde. Auch im Urteil 4A_400/2017 vom 13. September 2018 E. 2.2.2.2, nicht publ. in:
BGE 144 III 514
und im Urteil 4A_295/2016 vom 29. November 2016 E. 5.3.1 wurde die dargelegte Rechtsprechung erläutert. Eine Anwendung der Rechtsprechung musste allerdings in allen drei Urteilen nicht erfolgen. Im Urteil 4A_191/2018 vom 26. März 2019 kam das Bundesgericht zum Schluss, die Vorinstanz habe zu Recht das Kriterium des übermässigen Nettoertrags
BGE 147 III 431 S. 435
angewandt (zit. Urteil 4A_191/2018 E. 4.1), in
BGE 144 III 514
war nur zu beurteilen, ob eine Altbaute vorlag, und im Urteil 4A_295/2016 vom 29. November 2016 entsprach die vom neuen Mieter zu bezahlende Miete derjenigen, die der Vormieter bezahlt hatte (zit. Urteil 4A_295/2016 E. 5.3.1). Eine Anwendung der Rechtsprechung erfolgte aber im [am selben Tag wie
BGE 139 III 13
ergangenen] Urteil 4A_475/2012 vom 6. Dezember 2012).
3.3
Die Tragweite von
BGE 139 III 13
ist in der Lehre umstritten.
3.3.1
So führt KOLLER aus, die beweisrechtlichen Erwägungen des Bundesgerichts seien unklar: Zum einen spreche es von einer Pflicht der Vermieterin zur Mitwirkung bei der Beweiserhebung, zum andern führe es aus, der Vermieterin obliege der Gegenbeweis. Das stelle mehr dar, als eine blosse Mitwirkung bei der Beweiserhebung (vgl. THOMAS KOLLER, Die mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2013 [nachfolgend: KOLLER 2013], ZBJV 150/2014 S. 917 ff., 943). BOHNET/JEANNIN erwägen, ihnen scheine, dass das Bundesgericht eine Vermutung eingeführt habe, wonach gewisse Anfangsmietzinse missbräuchlich seien, und das Urteil somit auf die Frage nach der Mitwirkungspflicht des Vermieters keine Antwort enthalte (BOHNET/JEANNIN, Beweislast und Mitwirkungspflicht im Verfahren um Anfechtung des Anfangsmietzinses, in: Festschrift für Thomas Koller, 2018, S. 59 ff., 69). Auch KOLLER führt aus, die Erwägungen des Bundesgerichts, wonach die Mietzinserhöhung mit Sicherheit ("très certainement") missbräuchlich sei, weshalb die Vermieterin an der Beweiserhebung mitzuwirken habe, könnten so interpretiert werden, dass die klar missbräuchliche Mietzinserhöhung - ermittelt nach der relativen Methode - eine Vermutung dafür bilde, dass der neue Mietzins - ermittelt nach der absoluten Methode - missbräuchlich sei (KOLLER 2013, a.a.O., S. 945). Im Gegensatz dazu geht WEBER von einer blossen Mitwirkungsobliegenheit aus (ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2019, N. 13a und 13c zu
Art. 270 OR
).
Im zitierten Urteil 4A_400/2017 E. 2.2.2.2, nicht publ. in:
BGE 144 III 514
, nahm das Bundesgericht seine Überlegungen in
BGE 139 III 13
auf und hielt fest, werde der vereinbarte Anfangsmietzins erheblich erhöht, sei zu vermuten, dass der vereinbarte Mietzins als missbräuchlich anzusehen sei ("est présumé abusif"), sodass es der Vermieterin obliege, sich auf Vergleichselemente stützende Gegenbeweise zu erbringen ("incombe au bailleur d'apporter des
BGE 147 III 431 S. 436
contre-preuves fondées sur des éléments comparatifs"). Aus dieser Formulierung (vgl. auch bereits zit. Urteil 4A_295/2016 E. 5.3.1) ergibt sich, wie auch die Vorinstanz zu Recht annimmt, dass das Bundesgericht von einer eigentlichen Vermutung und nicht bloss von einer verstärkten Mitwirkungsobliegenheit ausgeht (vgl. THOMAS KOLLER, Die mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2018 [nachfolgend: KOLLER 2018], ZBJV 155/2019 S. 529 ff., 533 f.; XAVIER RUBLI, Jurisprudence choisie en droit du bail, Plädoyer 2019 5 S. 28 ff., 29; vgl. PHILIPPE CONOD, Contestation du loyer initial; calcul de rendement net; âge d'un immeuble ancien, Newsletter bail.ch November 2018, S. 3). Nicht zutreffend ist der Hinweis von WEBER, wonach das Bundesgericht im Urteil 4A_461/2015 vom 15. Februar 2016 E. 3.3.1 klargestellt habe, dass es bloss um eine verstärkte Mitwirkungsobliegenheit gehe (WEBER, a.a.O., N. 13c zu
Art. 270 OR
). Das Urteil betrifft - anders als vorliegend - den Fall, in dem die dem Richter zur Verfügung stehenden Dokumente eine Bestimmung der Nettorendite nicht ermöglichten (zit. Urteil 4A_461/2015 E. 3.3). Diesbezüglich erwähnt das Bundesgericht die Konstellation, in der die Vermieterin sich weigere oder es ohne jegliche Rechtfertigung versäume, die in ihrem Besitz befindlichen Buchhaltungsunterlagen vorzulegen, womit sie ihre Mitwirkungspflicht verletze (zit. Urteil 4A_461/2015 E. 3.3.1).
Es ist somit präzisierend festzuhalten, dass bei einer erheblichen Erhöhung des Mietzinses gegenüber dem Vormietverhältnis - über eine (verstärkte) Mitwirkungsobliegenheit hinaus - von einer tatsächlichen Vermutung der Missbräuchlichkeit auszugehen ist.
3.3.2
Umstritten ist weiter, was im Hinblick auf die in
BGE 139 III 13
begründete Vermutung der Missbräuchlichkeit als erhebliche Erhöhung des Anfangsmietzinses gilt. In
BGE 139 III 13
ging es um eine massive Erhöhung von 43.61 % (
BGE 139 III 13
E. 3.1.1). Im Urteil 4A_475/2012 vom 6. Dezember 2012 ging es um eine Erhöhung von 28.97 % für die Wohnung, wobei zudem die Miete für den - mit separatem Vertrag gemieteten - Parkplatz um 75 % erhöht wurde (zit. Urteil 4A_475/2012 E. 2.1.1).
BGE 139 III 13
erwähnt allerdings bereits eine Schwelle von 10 % ("[...] trouve tout son sens dans l'hypothèse où ce dernier, comme en l'espèce, a augmenté le nouveau loyer de plus de 10 % par rapport à l'ancien loyer";
BGE 139 III 13
E. 3.2). Auch im Urteil 4A_400/2017 vom 13. September 2018 wird mit Verweis auf
BGE 136 III 82
E. 3.4 eine Erhöhung von mehr als 10 % erwähnt (zit. Urteil 4A_400/2017
BGE 147 III 431 S. 437
E. 2.2.2.2, nicht publ. in:
BGE 144 III 514
; vgl. auch bereits zit. Urteil 4A_295/2016 E. 5.3.1).
Ein Teil der Lehre schliesst daraus, die Vermutung der Missbräuchlichkeit gemäss
BGE 139 III 13
greife bereits bei einer Mietzinserhöhung, welche 10 % überschreite (PETER ZAHRADNIK, Fragen im Zusammenhang mit der Anfechtung der Anfangsmiete und der Formularpflicht, mp 2014 S. 267 ff., 285 f.; RUBLI, a.a.O., S. 29 f.; BOHNET/JEANNIN, a.a.O., S. 69; CONOD, a.a.O., S. 3; KOLLER 2018, a.a.O., S. 533 f.). Auch WEBER führt aus, die Rechtsprechung des Bundesgerichts scheine sich in die Richtung zu entwickeln, dass dieses die Erheblichkeit im Zusammenhang mit der Missbrauchsüberprüfung gleichsetze mit der formalen Anfechtungsvoraussetzung nach
Art. 270 Abs. 1 lit. b OR
(WEBER, a.a.O., N. 13a zu
Art. 270 OR
).
In den nach
BGE 139 III 13
ergangenen Urteilen (zit. Urteile 4A_400/ 2017 E. 2.2.2.2, nicht publ. in:
BGE 144 III 514
und 4A_295/2016 E. 5.3.1) werden die 10 % zwar erneut erwähnt, aus dem Verweis auf
BGE 136 III 82
E. 3.4 geht indes hervor, dass das Bundesgericht die 10 % in Bezug auf die
formelle Voraussetzung
für die Anfechtbarkeit des Anfangsmietzinses nach
Art. 270 Abs. 1 lit. b OR
heranzieht. Daraus kann nun aber nicht abgeleitet werden, dass eine Erhöhung von mehr als 10 % bereits als erhebliche Erhöhung gilt, welche die Vermutung der Missbräuchlichkeit gemäss
BGE 139 III 13
greifen lässt. So werden im Übrigen im Urteil 4A_191/2018 vom 26. März 2019 die 10 % nicht mehr erwähnt (zit. Urteil 4A_191/2018 E. 3.3.3).
ROHRER, der die in
BGE 139 III 13
begründete Vermutung per se ablehnt, und darin eine eigentliche Beweislastumkehr erblickt, argumentiert, soweit man aus
BGE 139 III 13
ableiten möchte, die Vermutung greife schon dann, wenn der Mietzins gegenüber dem früher massgebenden Mietzins um mehr als 10 % angehoben werde, ergäbe sich die stossende Situation, dass die Vermieterin immer - und nicht nur im Ausnahmefall - den Beweis für die Zulässigkeit des Anfangsmietzinses zu erbringen hätte. Abgesehen von Ausnahmefällen fehle es ja bei einer Erhöhung des Anfangsmietzinses gegenüber dem vom Vormieter bezahlten Mietzins um weniger als 10 % an der Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Anfechtungsrechts (BEAT ROHRER, in: Das schweizerische Mietrecht [nachfolgend: Mietrecht], 4. Aufl. 2018, N. 54 zu
Art. 270 OR
). Diese Argumentation überzeugt, selbst wenn nicht von einer (eigentlichen)
BGE 147 III 431 S. 438
Beweislastumkehr ausgegangen werden kann (vgl. nicht publ. E. 4.1). Die in
BGE 139 III 13
statuierte Vermutung der Missbräuchlichkeit bei einer massiven Mietzinserhöhung mildert die konkrete Beweisführungslast des für die Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses beweisbelasteten Mieters. Sie ist daher mit einer gewissen Zurückhaltung anzunehmen und kann jedenfalls nicht mit den formellen Voraussetzungen der Mietzinsanfechtung gemäss
Art. 270 Abs. 1 lit. b OR
gleichgesetzt werden. Die Vermutung greift daher nicht bereits dann, wenn der Mietzins um 10 % erhöht wird. Vorausgesetzt ist vielmehr eine massive Erhöhung des Mietzinses von deutlich über 10 %, welche nicht durch die Entwicklung des Referenzzinssatzes bzw. der Schweizerischen Konsumentenpreise (vgl.
BGE 139 III 13
E. 3.1.4) erklärt werden kann. Bei der vorliegend unbestrittenen Erhöhung um 44 % ist dies der Fall und es greift die Vermutung der Missbräuchlichkeit.
(...)
4.
(...)
4.2
Entgegen der missverständlichen Formulierung in
BGE 139 III 13
(E. 3.3 und E. 3.4), wonach es der Vermieterin nicht gelungen sei, zu beweisen, dass sich der angefochtene Mietzins in den Grenzen der orts- und quartierüblichen Mieten bewege, ist von der Vermieterin nicht der volle Beweis für die Nichtmissbräuchlichkeit des angefochtenen Mietzinses zu verlangen. Dies würde eine Umkehr der Beweislast oder eine rechtliche Vermutung voraussetzen (vgl. KOLLER 2013, a.a.O., S. 943 und 945 f.; ebenso BEAT ROHRER, Anfechtung des Anfangsmietzinses, MietRecht Aktuell [MRA] 2013 S. 15 ff., 26;
derselbe
, Mietrecht, a.a.O., N. 52 zu
Art. 270 OR
). Wie die Beschwerdeführerin aber zu Recht geltend macht, hält die Botschaft vom 27. März 1985 zur Revision des Miet- und Pachtrechts (BBI 1985 I 1389, 1491 Ziff. 526) ausdrücklich fest, dass der Mieter die Beweislast für die behauptete Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses trägt. Dafür, dass die Beweislast unter gewissen Umständen auf die Vermieterin überwälzt werden könne, enthält der Text der Botschaft keinen Anhaltspunkt.
BGE 139 III 13
ist somit dahingehend zu präzisieren, dass es ausreicht, wenn die Vermieterin beim Gericht begründete Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Vermutung der Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses weckt.
4.3
4.3.1
Um begründete Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung zu wecken, ist beispielsweise denkbar, dass die Vermieterin Statistiken
BGE 147 III 431 S. 439
hinzuzieht, selbst wenn diese den Anforderungen gemäss Art. 11 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 VMWG (vgl. nicht publ. E. 3.1.2) nicht durchwegs genügen sollten bzw. es sich dabei nicht um amtliche Statistiken handelt. Nicht genügen kann jedenfalls, dass die Vermieterin bloss 1 oder 2 Vergleichsobjekte anführt (anderer Ansicht offenbar: LAURENT BIERI, Le fardeau de la preuve des loyers usuels de la localité ou du quartier lors de la contestation du loyer initial, AJP 2014 S. 1399 ff., 1401 f.). Unter Umständen mag es ausreichen, dass die Vermieterin bloss 3 oder 4 Vergleichsobjekte aufführt, um begründete Zweifel an der Vermutung zu wecken, sofern beispielsweise zusätzlich eine Statistik, selbst wenn diese den Anforderungen gemäss VMWG nicht durchwegs entspricht, oder andere Faktoren, die Orts- und Quartierüblichkeit indizieren. Auch ist an die Vergleichbarkeit der Objekte betreffend die relevanten Kriterien nicht der gleich strenge Massstab wie beim eigentlichen Nachweis der Orts- und Quartierüblichkeit anzulegen. Geht es doch in diesem Schritt nur darum, begründete Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung der Missbräuchlichkeit zu wecken. Auch ein Privatgutachten kann dafür allenfalls geeignet sein.
4.3.2
Dabei ist auch dem Umstand eines lange dauernden Vormietverhältnisses von 15-20 Jahren (vgl. nicht publ. E. 3.5.3) angemessen Rechnung zu tragen. Die Vermutung der Missbräuchlichkeit soll jedenfalls nicht dazu führen, dass eine Vermieterin die Miete gegenüber der vom Vormieter bezahlten Miete nicht (entscheidend) erhöhen kann, obwohl eine solche Mietzinserhöhung aufgrund erheblich gestiegener Mieten im Quartier berechtigt wäre (vgl. BIERI, a.a.O., S. 1401; PHILIPPE CONOD, Contestation du loyer initial: fardeau de la preuve lorsque le bailleur s'est prévalu des loyers usuels du quartier [...], Newsletter bail.ch Februar 2013 S. 4). Ein lange dauerndes Vormietverhältnis kann daher - für sich allein oder zusammen mit anderen Faktoren (vgl. hiervor E. 4.3.1) - ein gewichtiges Indiz sein, um begründete Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung der Missbräuchlichkeit zu wecken.
4.3.3
Der kantonale Richter hat die von der Vermieterin dargelegten Indizien, einschliesslich der Vergleichsobjekte, unter Berücksichtigung seiner allgemeinen Lebenserfahrung und seiner Kenntnis des lokalen Marktes zu würdigen. Kommt er zum Schluss, die Vermieterin habe begründete Zweifel an der Vermutung geweckt, entfällt diese. In diesem Fall obliegt es dem Mieter, mithilfe von 5 Vergleichsobjekten bzw. einer amtlichen Statistik (vgl. hiervor
BGE 147 III 431 S. 440
E. 3.2.1 und nicht publ. E. 3.1.2) die Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses nachzuweisen. Gelingt es der Vermieterin andererseits nicht, begründete Zweifel zu wecken, gilt zugunsten des Mieters die Vermutung der Missbräuchlichkeit. In diesem Fall steht der Vermieterin - im Sinne eines Beweises des Gegenteils - der Beweis der Orts- und Quartierüblichkeit des Anfangsmietzinses offen. Die Anforderungen an die Vergleichsobjekte sind dabei die gleichen wie für den dem Mieter obliegenden Beweis der Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses. Die Vermieterin hat fünf Vergleichsobjekte zu bringen, die mit dem Vergleichsobjekt betreffend die relevanten Aspekte vergleichbar sein müssen. | de |
89b4132f-9c91-45c8-b7a0-6a7164f8b489 | Sachverhalt
ab Seite 251
BGE 145 I 250 S. 251
A.
A.A. und B.A. sind Eigentümer des in der Gemeinde C. in der Landwirtschaftszone gelegenen Grundstücks Nr. x, auf dem sich ihr Wohnhaus befindet. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite liegt etwas erhöht das ebenfalls der Landwirtschaftszone zugehörige Grundstück Nr. y. Auf diesem wurde bis ins Jahr 2011 eine private Internatsschule geführt. Im Jahr 2015 erhielt der Kanton St. Gallen die Bewilligung zur Umnutzung der ehemaligen Schulanlage in ein Zentrum für Asylsuchende. Dagegen erhoben A.A. und B.A. Rekurs beim Baudepartement des Kantons St. Gallen, den sie in der Folge wegen einer am 4. Dezember 2015 mit dem Kanton getroffenen Vereinbarung wieder zurückzogen. (...) Im Februar 2016 nahm das Asylzentrum den Betrieb auf. Per Anfang 2019 wurde es in ein Ausreise- und Nothilfezentrum umgewandelt.
B.
Am 26. Februar 2016 beantragten A.A. und B.A. bei der Schätzungskommission gestützt auf das kantonale Enteignungsgesetz, es sei ihnen für die Enteignung ihrer nachbarrechtlichen Abwehransprüche gegen die aus dem Betrieb des Asylzentrums resultierenden übermässigen Immissionen eine volle Entschädigung zuzusprechen. Die Schätzungskommission führte am 9. April 2016 einen Augenschein
BGE 145 I 250 S. 252
mit Einigungsverhandlung durch. Mit Entscheid vom gleichen Datum wies sie das Entschädigungsbegehren ab.
C.
Diesen Entscheid der Schätzungskommission zogen A.A. und B.A. an das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen weiter. Dieses wies ihr Rechtsmittel am 28. Juni 2018 ab.
D.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 12. September 2018 an das Bundesgericht beantragen A.A. und B.A., den Entscheid des Verwaltungsgerichts sowie Ziff. 1 und 3 des Entscheids der Schätzungskommission aufzuheben und die Sache zur Festlegung einer Enteignungsentschädigung an die Schätzungskommission oder das Verwaltungsgericht zurückzuweisen bzw. eventuell eine Entschädigung im Mindestbetrag von Fr. 200'000.- bis Fr. 300'000.- zuzusprechen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
5.1
In materieller Hinsicht ist strittig, ob die Vorinstanz Bundesrecht (
Art. 26 BV
,
Art. 684 ZGB
) verletzt hat, indem sie den Entscheid der Schätzungskommission, das hinsichtlich des Betriebs des Asylzentrums gestellte Begehren der Beschwerdeführer um Zusprechung einer Entschädigung aus formeller Enteignung nachbarrechtlicher Abwehrrechte sei abzuweisen, bestätigte. Das Enteignungsgesetz des Kantons St. Gallen vom 31. Mai 1984 (EntG/SG; sGS 735.1), auf das sich das Begehren stützt, enthält keine besondere Regelung hinsichtlich der Voraussetzungen der formellen Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche (vgl. insb.
Art. 8 Abs. 1 lit. b EntG
/SG); massgebend ist die einschlägige bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. HANS BRUNNER, Voraussetzungen der Enteignung, in: Das neue st. gallische Enteignungsgesetz, 1985, S. 24), was unbestritten ist. Die Prüfung der strittigen Frage richtet sich demnach nach dieser Rechtsprechung.
5.2
Mit der Führung des Asylzentrums erfüllte der Kanton eine ihm bundesrechtlich zugewiesene öffentliche Aufgabe (vgl. Art. 27 und 28 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG; SR 142.31];
Art. 21 der Asylverordnung vom 11. August 1999 [AsylV 1; SR 142.311]
). Es handelte sich somit um den Betrieb eines öffentlichen Werks. Gehen
BGE 145 I 250 S. 253
von einem Werk, das im öffentlichen Interesse liegt und für das dem Werkeigentümer oder Konzessionär das Enteignungsrecht zusteht, übermässige Einwirkungen aus, die nicht oder nur mit einem unverhältnismässigen Kostenaufwand vermieden werden können, müssen die nachbarrechtlichen Abwehransprüche gemäss
Art. 679 und
Art. 684 ZGB
dem vorrangigen Interesse am Unternehmen weichen. Dem Betroffenen verbleibt einzig die Möglichkeit, für die Unterdrückung seiner zivilrechtlichen Abwehransprüche gegen die übermässigen Einwirkungen eine enteignungsrechtliche Entschädigung zu fordern (
BGE 143 III 242
E. 3.5 S. 248 f.;
BGE 134 III 248
E. 5.1 S. 252 f.;
BGE 132 II 427
E. 3 S. 434 ff.; jeweils mit Hinweisen).
Übermässig und verboten sind nach
Art. 684 ZGB
namentlich schädliche und nach Lage und Beschaffenheit der Grundstücke oder nach Ortsgebrauch nicht gerechtfertigte Einwirkungen durch Lärm und üblen Geruch. Bei der Abgrenzung zwischen zulässiger und unzulässiger, das heisst übermässiger Immission ist nachbarrechtlich die Intensität der Einwirkungen massgebend. Diese beurteilt sich nach objektiven Kriterien. Der Richter hat eine sachlich begründete Abwägung der Interessen vorzunehmen, wobei er den Massstab des Empfindens eines Durchschnittsmenschen in der gleichen Situation zugrunde zu legen hat (
BGE 138 III 49
E. 4.4.5 S. 57;
BGE 132 III 49
E. 2.1 S. 50 f.;
BGE 126 III 223
E. 4a S. 227 f.). Gemäss der zu Lärmimmissionen aus öffentlichen Verkehrsanlagen entwickelten enteignungsrechtlichen Praxis gelten Einwirkungen aus dem Betrieb eines öffentlichen Werks abweichend vom Nachbarrecht im Allgemeinen nur dann als übermässig und begründen nur dann eine Entschädigungspflicht, wenn sie - kumulativ - für den Grundeigentümer nicht vorhersehbar waren, ihn in spezieller Weise treffen (sog. Spezialität) und einen schweren Schaden verursachen (
BGE 142 II 136
E. 2.1 S. 138;
BGE 136 II 263
E. 7 S. 266 mit Hinweisen). Die Voraussetzung der Spezialität ist erfüllt, wenn die fraglichen Immissionen eine Intensität erreichen, die das Mass des Üblichen und Zumutbaren übersteigt. Dies ist regelmässig anzunehmen, wenn die Immissionsgrenzwerte der eidgenössischen Umweltschutzgesetzgebung überschritten werden (
BGE 134 II 164
E. 7 S. 165 f.;
BGE 130 II 394
E. 12.2 S. 415; je mit Hinweisen). Das Erfordernis der Schwere des Schadens ist gegeben, wenn der durch die Einwirkungen verursachte Schaden eine gewisse Höhe oder einen gewissen Prozentsatz des Gesamtwerts der betroffenen Liegenschaft erreicht (
BGE 134 II 49
E. 11 S. 66 f. mit Hinweisen).
BGE 145 I 250 S. 254
5.3
Die Möglichkeit der Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche soll verhindern, dass das Gemeinwesen in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben behindert wird (
BGE 143 III 242
E. 3.5 S. 247 f.;
BGE 132 III 49
E. 2.3 S. 52 f.). Eine Enteignung solcher Ansprüche kommt daher nicht nur in Betracht, wenn es um die im Zentrum der Rechtsprechung stehenden Verkehrslärmimmissionen geht, sondern bei sämtlichen Einwirkungen nach
Art. 684 ZGB
(
BGE 143 III 242
E. 3.5 S. 247 f.;
BGE 132 III 49
E. 2.3 S. 52 f.;
BGE 119 II 411
E. 3-6 S. 414 ff.; ADRIAN GOSSWEILER, Entschädigungen für Lärm von öffentlichen Verkehrsanlagen, Elemente für eine Neuordnung durch den Gesetzgeber, 2014, S. 212 ff. Rz. 368 ff.). Sie kommt somit auch bei allfälligen von einem öffentlichen Werk ausgehenden ideellen resp. immateriellen Immissionen in Frage (
BGE 119 II 411
E. 4b S. 415 f.; Urteil 5A_47/2016 vom 26. September 2016 E. 2.1 und 4.1 mit Hinweisen; GOSSWEILER, a.a.O., S. 214 Rz. 371), das heisst bei Einwirkungen, die das seelische Empfinden verletzen bzw. unangenehme psychische Eindrücke (wie etwa Ekel, Abscheu oder Angst) erwecken (
BGE 136 I 395
E. 4.3.2 S. 401;
BGE 108 Ia 140
E. 5c/aa S. 144 ff.; Urteil 5A_47/2016 vom 26. September 2016 E. 2.1). Ob und inwiefern solche Immissionen vorliegen, ist gestützt auf eine objektive, von einem durchschnittlich empfindlichen Menschen ausgehende Betrachtung zu beurteilen (Urteile 1C_91/2018 vom 29. Januar 2019 E. 3.3; 5A_47/2016 vom 26. September 2016 E. 2.1; 1A.80/1994 vom 18. Januar 1995 E. 2c). Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, dass sich (auch) ideelle Immissionen jedenfalls teilweise mit geeigneten Massnahmen vermeiden lassen. So können etwa Unsicherheitsgefühle, die mit gewissen öffentlichen Werken verbunden sein mögen, grundsätzlich mit den konkreten Umständen angemessenen Betriebs-, Betreuungs- oder Sicherheitskonzepten zumindest vermindert werden. Die Frage einer Entschädigung aus formeller Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche kann sich entsprechend überhaupt nur stellen, wenn sich allfällige von einem öffentlichen Werk ausgehende übermässige ideelle Immissionen durch geeignete Massnahmen nicht oder nur mit einem unverhältnismässigen Aufwand auf ein akzeptables Mass reduzieren lassen, sind diese Einwirkungen andernfalls doch nicht unvermeidbar im Sinne der zitierten Rechtsprechung (vgl. vorne E. 5.2).
5.4
Die zivilrechtliche Praxis zu
Art. 684 ZGB
erachtet ideelle Immissionen als übermässig und daher verboten, wenn sie ein erhebliches, ständig fühlbares Unbehagen verursachen (Urteil 5A_47/2016
BGE 145 I 250 S. 255
vom 26. September 2016 E. 2.1 mit Hinweisen). Angst und damit Beeinträchtigungen des Gefühlslebens bedürfen einer gewissen Konkretheit und Intensität, um als übermässige ideelle Immissionen gelten zu können (Urteil 5A_47/2016 vom 26. September 2016 E. 4.2 f.). Dieser nachbarrechtliche Massstab kann grundsätzlich für die Prüfung der enteignungsrechtlichen Voraussetzung der Spezialität herangezogen werden. Ideelle Immissionen, die diese Voraussetzung erfüllen, sind nach der erwähnten Praxis enteignungsrechtlich allerdings nur dann als übermässig zu beurteilen, wenn sie zusätzlich für den Grundeigentümer nicht vorhersehbar waren und einen schweren Schaden verursachen (vgl. vorne E. 5.2). Es besteht kein Anlass, in Bezug auf ideelle Immissionen von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
6.
6.1
Die Beschwerdeführer rügen neben verschiedenen materiellen Immissionen (Kindergeschrei auch nachts, Abhol- und Bringverkehr bis 23.30 Uhr oder die ganze Nacht hindurch, Aufenthalt rund um das Asylzentrum herum bis in die Nacht hinein, Nachtlärm während Ramadan, vermehrter Anlieferverkehr, Betreten ihres Grundstücks, herumfliegende Papierfetzen, Küchengerüche) insbesondere ideelle Immissionen. Ihr Wohnhaus befinde sich direkt unterhalb des Asylzentrums. In ihrer grosszügig bemessenen Freizeit lungerten die Asylbewerber um das Zentrum und damit auch auf der Strasse herum, die an ihrem Wohnhaus vorbeiführe. Von dieser seien der Garten, die Terrasse und durch die Fenster sogar der Wohnbereich einsehbar. Damit werde ihnen im Garten jegliche Privatsphäre genommen, weshalb es der Beschwerdeführerin und der Tochter zum Beispiel nicht mehr in den Sinn käme, sich im Badeanzug in den Garten zu legen. Bei den gemäss tatsächlicher Nutzung 50 bis 120 grösstenteils traumatisierten, mehrheitlich männlichen Asylbewerbern aus einem fremdem Kulturkreis sei es offensichtlich, dass sie sich bis zu einem gewissen Mass auch bedroht fühlten bzw. ein ungutes Gefühl und eine latente Angst verblieben, was ihre Wohnqualität ebenfalls beeinträchtige. Die vom Asylzentrum ausgehenden Immissionen seien übermässig im Sinne der enteignungsrechtlichen Rechtsprechung, weshalb ein Anspruch auf eine Enteignungsentschädigung bestehe.
6.2
Die Vorinstanz hat wie bereits die Schätzungskommission die Unvorhersehbarkeit der geltend gemachten Immissionen mit der Begründung bejaht, die Beschwerdeführer besässen ihr Grundstück bereits seit Jahrzehnten. Die beiden kantonalen Instanzen haben zudem
BGE 145 I 250 S. 256
erklärt, auch die Voraussetzung der Spezialität sei erfüllt. Effektiv haben sie im Rahmen ihrer Übermässigkeitsprüfung allerdings das Vorliegen dieses Erfordernisses ebenso verneint wie einen durch die fraglichen Einwirkungen bewirkten schweren Schaden. Diese beiden Voraussetzungen sind demnach im Unterschied zur Frage der Unvorhersehbarkeit strittig. Nachfolgend ist zunächst auf das Erfordernis der Spezialität einzugehen.
6.3
Die Beschwerdeführer bringen nicht vor, die geltend gemachten materiellen Immissionen aus dem bis Ende 2018 betriebenen Asylzentrum hätten Immissionsgrenzwerte der eidgenössischen Umweltschutzgesetzgebung - soweit solche für die fraglichen Einwirkungen bestehen - überschritten. Ebenso wenig bestreiten sie, dass gemäss dem Baureglement der Gemeinde C. in der Landwirtschaftszone, in der ihr Wohnhaus liegt, wie in der Wohn-Gewerbezone die Lärmempfindlichkeitsstufe III gilt und nicht wie in der Wohnzone die Lärmempfindlichkeitsstufe II. Sie räumen ausserdem ein, dass die Leitung des Asylzentrums und das Migrationsamt Bemühungen unternommen haben, um die gerügten materiellen Immissionen zu begrenzen. Zwar kritisieren sie diese Bemühungen als nicht immer erfolgreich. Ihr daraus gezogener Schluss, es habe keine geeigneten Massnahmen gegeben, um übermässige materielle Immissionen zu verhindern, bzw. derartige Einwirkungen seien unvermeidlich und "systemimmanent" gewesen, überzeugt jedoch nicht. Bereits ihre eigenen Ausführungen deuten darauf hin, dass die ergriffenen Massnahmen grundsätzlich zweckmässig waren. Dass im Wesentlichen ausreichende Vorkehren getroffen wurden, legen auch die verschiedenen kantonalen Konzepte, die beim Betrieb des Asylzentrums zu beachten waren, und dessen Hausordnung nahe (vgl. dazu nachfolgend E. 6.4.1). Aus den vagen Ausführungen der Beschwerdeführer ergibt sich überdies nichts Näheres zu Häufigkeit, Dauer und Schwere und damit zur angeblichen Übermässigkeit der geltend gemachten Einwirkungen. Zwar gingen mit dem Betrieb des Asylzentrums unbestritten gewisse materielle Immissionen einher. Dass diese Einwirkungen unter den gegebenen Umständen bei objektiver Betrachtung eine Intensität erreichten, die das Mass des Zumutbaren überschritt, ist jedoch weder dargetan noch ersichtlich, zumal in der Landwirtschaftszone gewisse Immissionen hinzunehmen sind, bereits von der ehemaligen Schulanlage bestimmte Immissionen ausgegangen waren und auch bei anderweitiger Nutzung dieser Anlage mit Einwirkungen zu rechnen gewesen wäre.
BGE 145 I 250 S. 257
6.4
6.4.1
Hinsichtlich der von den Beschwerdeführern geltend gemachten ideellen Immissionen ist zu berücksichtigen, dass beim Betrieb des Asylzentrums kantonale Betreuungs-, Betriebs-, Beschulungs- und Sicherheitskonzepte zu beachten waren. Im Entscheid des Gemeinderats C. zur Umnutzung der ehemaligen Schulanlage vom 18. August 2015 wurde dazu namentlich ausgeführt, der Beschäftigung der Asylsuchenden während des Zentrumsaufenthalts komme wesentliche Bedeutung zu. Die Betreuung der Asylsuchenden sei während 24 Stunden und sieben Tagen in der Woche gewährleistet. In der Asylunterkunft würden Einzelpersonen, Familien und unbegleitete minderjährige Asylsuchende beherbergt. Diese seien zwar zum Teil traumatisiert und gehörten fremden Kulturkreisen an. Gerade aus diesen Gründen würden sie aber umfassend betreut, sodass der Alltag nach kurzer Zeit einen geordneten Gang nehme. Mit den Betreuungs- und Beschäftigungsprogrammen, Konzepten und Massnahmen werde verhindert, dass die Asylsuchenden "herumlungerten" oder Abfälle liegen liessen. Mit dem Sicherheitsprogramm sei gewährleistet, dass keine bedrohlichen Situationen für die Anwohner entstünden. Sowohl das Betriebs- und das Betreuungskonzept wie auch die Hausordnung - die unter anderem Anwesenheitskontrolle, Pflichtanwesenheit während der Nacht, vollständiges Alkohol- und Drogenverbot, Nachtruhe von 22 bis 7 Uhr sowie disziplinarische Massnahmen bei Nichteinhaltung vorsehe - legten strikte Massnahmen und Regeln fest. Zudem sei während des Abends und in der Nacht täglich eine Sicherheitsperson einer Sicherheitsfirma anwesend und die Kantonspolizei markiere hohe Präsenz.
6.4.2
Die Beschwerdeführer bringen nichts vor, was diese Darstellung - die ihnen aus dem Umnutzungsverfahren bekannt gewesen sein muss - wesentlich in Frage stellen würde, sondern kritisieren einzig, die kantonalen Konzepte seien nicht konsequent umgesetzt worden. Sie machen insbesondere nicht geltend, dass es während des Betriebs des Asylzentrums zu bedrohlichen Situationen oder Übergriffen auf Anwohner gekommen sei. Ebenso wenig führen sie aus, die Kriminalität in der Nachbarschaft, im Quartier oder in der Gemeinde habe wegen des Zentrumsbetriebs zugenommen bzw. die Sicherheit der Nachbarschaft sei als Folge davon nicht gewährleistet gewesen (vgl. dagegen
BGE 119 II 411
E. 6a S. 418 f.). Ihren vagen Ausführungen ist überdies nichts zu Häufigkeit und Dauer sowie den Umständen des von ihnen beanstandeten "Herumlungerns" zu
BGE 145 I 250 S. 258
entnehmen. Dass der Aufenthalt der Asylsuchenden ausserhalb des Asylzentrums bzw. auf der am Wohnhaus vorbeiführenden Strasse in Umfang oder Art übertrieben gewesen wäre, geht daraus nicht hervor. Die Beschwerdeführer liessen sich im Weiteren in der Vereinbarung vom 4. Dezember 2015 vom Kanton verschiedene Massnahmen, insbesondere die Errichtung einer Sichtschutzwand auf dem Grundstück des Asylzentrums, zusichern, mit denen ihren Anliegen teilweise Rechnung getragen wurde. Zudem räumen sie ein, dass runde Tische stattfanden, an denen die Anwohner gegenüber den Behörden ihre Anliegen einbringen konnten.
6.4.3
Dem von den Beschwerdeführern beschriebenen "unguten Gefühl" bzw. Gefühl des Bedrohtseins und der geltend gemachten latenten Angst lagen demnach keine objektiven Gründe von hinreichendem Gewicht zugrunde. Ebenso wenig wurde das von ihnen geschilderte Gefühl, in der Privatsphäre eingeschränkt zu sein bzw. diese hinsichtlich des Gartens verloren zu haben, durch einen in Umfang oder Art inakzeptablen Aufenthalt der Asylsuchenden auf der an ihrem Wohnhaus vorbeiführenden Strasse oder sonst durch objektive und hinreichende Gründe verursacht. Zwar sind die Gefühle, die der Betrieb des Asylzentrums bei den Beschwerdeführern offenbar auslöste, insbesondere wegen der bestehenden örtlichen Verhältnisse ernst zu nehmen. Dass der Zentrumsbetrieb unter den gegebenen Umständen bei objektiver Betrachtung ideelle Immissionen zur Folge hatte, deren Intensität das zumutbare Mass überschritt, ist jedoch weder dargetan noch ersichtlich. Der von den Beschwerdeführern vor Bundesgericht erneut beantragte Augenschein vermöchte an dieser Beurteilung aus den bereits genannten Gründen (vgl. nicht publ. E. 4.4) nichts zu ändern, zumal das Asylzentrum per Anfang 2019 in ein Ausreise- und Nothilfezentrum umgewandelt wurde. Der Beweisantrag ist daher abzuweisen.
6.5
Mit dem Betrieb des Asylzentrums gingen demnach für die Beschwerdeführer weder materielle noch ideelle Immissionen einher, die für sich allein betrachtet die Voraussetzung der Spezialität erfüllten. Eine Gesamtbetrachtung führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar erscheint die durch die fraglichen Immissionen bewirkte Gesamtbelastung der Beschwerdeführer nicht als geringfügig. Dass sie eine Intensität erreichte, die das Mass des Zumutbaren überschritt, ist jedoch nicht erkennbar.
6.6
Da das Erfordernis der Spezialität nicht gegeben ist, können die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Immissionen nicht
BGE 145 I 250 S. 259
als übermässig im enteignungsrechtlichen Sinn beurteilt werden, müssen die Voraussetzungen der Unvorhersehbarkeit, Spezialität und Schwere des Schadens doch kumulativ erfüllt sein (vgl. vorne E. 5.2). Die fraglichen Einwirkungen vermögen daher keinen Anspruch auf eine Enteignungsentschädigung zu begründen. Ob sie einen Wertverlust des Grundstücks der Beschwerdeführer zur Folge hatten, der im enteignungsrechtlichen Sinn als schwerer Schaden zu beurteilen ist, kann damit offenbleiben. Der von den Beschwerdeführern vor Bundesgericht wiederholte Beweisantrag auf Einholung einer Expertise zu dieser Frage ist deshalb abzuweisen.
6.7
Das hinsichtlich des Betriebs des Asylzentrums gestellte Begehren der Beschwerdeführer auf Zusprechung einer Entschädigung aus formeller Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche erweist sich demnach als unbegründet. Der Entscheid der Vorinstanz ist somit auch in materieller Hinsicht nicht bundesrechtswidrig. Die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführer vermögen daran nichts zu ändern, weshalb nicht darauf einzugehen ist. | de |
3f35fc7c-86bd-4e51-98f5-1db6db038b15 | Sachverhalt
ab Seite 546
BGE 143 III 545 S. 546
Die Mitglieder der ARGE A., die Gesellschaften B. AG und C. AG (Unternehmerinnen, Beschwerdeführerinnen), verpflichteten sich in einem Werkvertrag mit der D. AG (Bauherrin, Beschwerdegegnerin), Baumeisterarbeiten zu einem Pauschalpreis zu erbringen. Die SIA-Norm 118 war Bestandteil dieses Vertrags. Nach Beendigung der Arbeiten machten die Beschwerdeführerinnen noch offene Forderungen geltend. Sie begründeten diese insbesondere mit einseitigen Bestellungsänderungen (Art. 84 SIA-Norm 118) resp. aufgrund von der Bauherrin verschuldeter besonderer Verhältnisse (Art. 58 Abs. 2 SIA-Norm 118).
Das Handelsgericht des Kantons Zürich wies diese Forderungen, soweit nicht von der Gegenseite anerkannt, mit der Begründung ab, die Preise für die geltend gemachten Arbeiten seien analog
Art. 374 OR
anhand des effektiven Aufwands zu bestimmen, da die SIA-Norm 118 insofern lückenhaft sei. Die Beschwerdeführerinnen, die diese Preise teilweise anders festgesetzt hätten, würden keine genügenden Angaben zu ihrem effektiven Aufwand machen, womit es an erforderlichen rechtserheblichen Behauptungen fehle.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
(Zusammenfassung) Aus den Erwägungen:
Erwägungen
4.
(...)
4.4
Die Vorinstanz beurteilte durch Auslegung der SIA-Norm 118 sowie unter Anwendung des OR, wie bei einem Werkvertrag mit Pauschalpreis die Preise für Nachtragsarbeiten wegen einseitigen Bestellungsänderungen (Art. 84 SIA-Norm 118) resp. aufgrund vom
BGE 143 III 545 S. 547
Bauherrn verschuldeter besonderer Verhältnisse (Art. 58 Abs. 2 SIA-Norm 118) zu bestimmen sind, wenn die Unternehmerin diese Arbeiten ausgeführt hat, ohne dass sich die Parteien vorgängig über die entsprechenden Entschädigungen geeinigt hätten oder die Bauherrin deren Ausführung in Regie angeordnet hätte. Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz dabei zu Recht von einer Lücke ausging und gegebenenfalls diese alsdann auch zutreffend füllte.
4.4.1
Gemäss Abs. 1 von Art. 89 SIA-Norm 118, der sich zusammen mit Art. 88 SIA-Norm 118 unter Ziffer 3.4 "Auswirkungen der Bestellungsänderung bei anderen Leistungen" findet und laut Randtitel die "Bestellungsänderung bei Leistungen zu Global- oder Pauschalpreisen" regelt, ist ein Mehr- oder Minderpreis als Nachtragspreis zu vereinbaren, wenn eine Bestellungsänderung zur Änderung einer pauschal zu vergütenden Leistung oder ihrer Ausführungsvoraussetzungen führt. Abs. 2 ergänzt, dass dieser Nachtragspreis bei Pauschalpreisen auf Basis jener Kostengrundlage vereinbart wird, die im Zeitpunkt der Bestellungsänderung gültig ist. Abs. 3 erklärt Art. 87 Abs. 4 SIA-Norm 118 (Randtitel dieser Norm: "Fehlen von Einheitspreisen; veränderte Ausführungsvoraussetzungen") für anwendbar, wenn bei zusätzlichen Arbeiten keine Einigung über den Nachtragspreis zustandekommt. Dort ist vorgesehen, dass diesfalls die Bauleitung die fraglichen Arbeiten in Regie ausführen lassen oder unter voller Schadloshaltung des Unternehmers einem Dritten vergeben kann. Für die Bemessung der zusätzlichen Vergütung bei vom Bauherrn verschuldeten besonderen Verhältnissen erklärt Art. 58 Abs. 2 SIA-Norm 118 die Art. 86-91 der Norm für sinngemäss anwendbar.
Gemäss OR ist zu unterscheiden, ob die Vergütung im Voraus genau bestimmt worden ist oder nicht. Im ersten Fall ist der Unternehmer grundsätzlich verpflichtet, das Werk zum vereinbarten Preis fertigzustellen (
Art. 373 Abs. 1 OR
). Liegen jedoch ausserordentliche Umstände vor, welche die Fertigstellung hindern oder übermäsig erschweren, kann das Gericht nach seinem Ermessen eine Erhöhung des Preises bewilligen (
Art. 373 Abs. 2 OR
). Wurde der Preis hingegen im Voraus nicht oder nur ungefähr bestimmt, ist er nach Massgabe des Wertes der Arbeit und der Aufwendungen des Unternehmers festzusetzen (
Art. 374 OR
).
4.4.2
Das Bundesgericht hat sich zu der sich hier stellenden Frage bislang noch nicht geäussert:
Das Urteil 4A_183/2010 vom 27. Mai 2010 ist - entgegen der Vorinstanz - nicht vergleichbar. Zwar war die SIA-Norm 118 dort
BGE 143 III 545 S. 548
grundsätzlich ebenfalls Vertragsbestandteil geworden (Sachverhalt Bst. A). Strittig war jedoch eine einvernehmliche Bestellungsänderung, die in der SIA-Norm 118 gerade nicht geregelt ist. Da zudem nicht festgestellt war, dass sich die Parteien darauf geeinigt hätten, die Vergütung für die Arbeiten gemäss einvernehmlicher Bestellungsänderung anhand der Normen zur einseitigen Bestellungsänderung (Art. 84 ff. SIA-Norm 118) zu bestimmen, war die SIA-Norm 118 für die Preisbestimmung nicht einschlägig. Die Vergütung bemass sich daher ausschliesslich nach dem OR, namentlich
Art. 374 OR
(E. 3.2; kritisch zur Nichtanwendung der Regeln der SIA-Norm zur Preisbestimmung bei einseitigen Bestellungsänderungen auf einvernehmliche PETER GAUCH, Der Werkvertrag [nachfolgend: Werkvertrag], 5. Aufl. 2011, S. 325 Rz. 807a; HÜRLIMANN/SIEGENTHALER, Das Werkvertragsrecht in den Entscheiden des Bundesgerichts in den Jahren 2008-2011, Jusletter 6. Februar 2012 Rz. 40; vgl. aber auch Urteil 4A_234/2014 vom 8. September 2014 E. 5.1, wo allerdings nicht auf das zit. Urteil 4A_183/2010 Bezug genommen wird).
Das zit. Urteil 4A_234/2014 liegt dem vorliegenden Fall insofern näher. Dort galt es, bei einem Vertrag mit Pauschalpreis einen Minderpreis aufgrund einer Leistungsreduktion zu berechnen. Das Bundesgericht hielt fest, wenn diesbezüglich keine Einigung zwischen den Parteien zustande gekommen sei, habe das Gericht den Minderpreis sinngemäss nach Art. 89 SIA-Norm 118 zu bestimmen (E. 5.2). Es schützte dabei die Vorgehensweise der Vorinstanz, die den Minderpreis anhand eines auf der Basis der Pauschale umgerechneten Quadratmeterpreises bestimmte. Dass dies bundesrechtswidrig sei und stattdessen auf die "Budgetpreise" hätte abgestellt werden müssen, wie von der dortigen Beschwerdeführerin begehrt, sei nicht dargetan (E. 5.3). In seiner Urteilsanmerkung bezweifelt SIEGENTHALER, ob diese Lösung kalkulatorisch richtig sei, auch wenn sie den "Charme der Einfachheit" habe (THOMAS SIEGENTHALER, Bestellungsänderung bei Pauschalpreisen - die Tücke der Lücke, BR 2015 S. 149).
In
BGE 113 II 513
waren Einheitspreise - nicht wie hier ein Pauschalpreis - vereinbart, wobei sich die Menge wesentlich änderte. Da Angaben zur ursprünglichen Kostengrundlage fehlten, um die neuen Einheitspreise gemäss Art. 86 Abs. 2 SIA-Norm 118 zu bestimmen, wurde die SIA-Norm als nicht anwendbar erachtet und die Entschädigung nach dem OR festgesetzt (
BGE 113 II 513
E. 3a S. 515 f. = Pra 1989 Nr. 17 S. 81 f.; kritisch zu dieser Vorgehensweise PEDRAZZINI/PRADER, A propos de l'augmentation de la
BGE 143 III 545 S. 549
rémunération de l'entrepreneur, BR 1990 S. 12). Das Bundesgericht kam dabei zum Ergebnis, mangels Beweises des beanspruchten Betrags habe das Gericht die Lage nach freiem Ermessen zu würdigen. Denn es sei kein Grund ersichtlich, warum der in
Art. 373 Abs. 2 OR
für Verträge mit Festpreisen eingeräumte Bemessungsspielraum nicht auch bei eigentlichen Änderungen des Werkvertrags gemäss
Art. 374 OR
zur Anwendung gelangen sollte (
BGE 113 II 513
E. 5b S. 520 f. = Pra 1989 Nr. 17 S. 86 f.; kritisch zu dieser Begründung PETER GAUCH, Anmerkung zu
BGE 113 II 513
, BR 1989 S. 71; PEDRAZZINI/PRADER, a.a.O., S. 13).
4.4.3
[Darstellung der Ansichten, die in der Lehre zur sich stellenden Frage vertreten werden.]
In Anbetracht dieser divergierenden Lehrmeinungen überrascht es wenig, wenn in der Lehre moniert wird, die Art. 85-91 SIA-Norm 118 seien "nicht leicht zu verstehen, jedenfalls aber auslegungsbedürftig" (GAUCH, Werkvertrag, a.a.O., S. 321 f. Rz. 796), resp. sie seien "sehr kompliziert[e] und sehr abstrakt[e]" (SCHUMACHER/KÖNIG, Die Vergütung im Bauwerkvertrag, 2. Aufl. 2017, S. 256 Rz. 700); es wird gar "eine erneute Revision der Norm" als angezeigt erachtet (so ANTON EGLI, in: Kommentar zur SIA-Norm 118, Gauch/Stöckli [Hrsg.], 2. Aufl. 2017, N. 116 Vorbem. Art. 84-91 SIA-Norm 118).
4.4.4
4.4.4.1
Seinem Wortlaut nach regelt Art. 89 SIA-Norm 118 den vorliegenden Fall nicht. Denn Abs. 1 und 2 sehen vor, dass die Parteien einen Mehr- oder Minderpreis
vereinbaren
. Was gilt, wenn sie sich nicht einigen, ist in diesen Absätzen bei einem wörtlichen Verständnis nicht geregelt. Abs. 3 betrifft zwar die Nichteinigung, regelt diese aber bloss teilweise. Zum einen betrifft er nur "zusätzliche[n] Arbeiten". Zum anderen sind die Handlungsmöglichkeiten,die er dem Bauherrn bei Nichteinigung einräumt (Anordnung der Ausführung in Regie oder Vergabe an Dritte unter Schadloshaltung), dazu bestimmt, vor Ausführung der Arbeiten ausgeübt zu werden. Geschieht dies aber nicht und werden die Arbeiten dennoch ausgeführt, fehlt es wiederum an einer Regelung.
Ein derart auf den Wortlaut abstellendes Verständnis überzeugt allerdings nicht (vgl. auch
Art. 18 Abs. 1 OR
). Art. 84 SIA-Norm 118 räumt dem Bauherrn ein einseitiges Änderungsrecht ein. Dass gestützt darauf erfolgende Bestellungsänderungen hinsichtlich der Vergütung nicht folgenlos bleiben, ist selbstverständlich. Würden Abs. 1
BGE 143 III 545 S. 550
und 2 von Art. 89 SIA-Norm 118 nun so verstanden, dass sie einzig die Vereinbarung des Nachtragspreises durch die Parteien regeln, hätte dies unstimmige Konsequenzen: Entweder würde diesfalls die Einigung der Parteien über den Preis nämlich als eine Voraussetzung für die Pflicht zur Ausführung der Bestellungsänderung verstanden, wodurch der Unternehmer das einseitige Änderungsrecht durch Obstruktion bei der Preisverhandlung aushebeln könnte. Oder eine vorgängige Einigung würde nicht als Voraussetzung aufgefasst, mit der Folge, dass der Unternehmer trotz Nichteinigung über den Preis verpflichtet wäre, die einseitig angeordnete Bestellungsänderung auszuführen, obwohl ungeregelt bliebe, wie diese zu vergüten ist. Weder das eine noch das andere überzeugt. Vielmehr ist erforderlich, dass als Pendant zum einseitigen Änderungsrecht auch geregelt ist, wie sich die Vergütung für eine solche Änderung bemisst - und zwar nicht nur im Fall einer diesbezüglichen Einigung. Zudem wird eine antizipierte Regelung, wie Nachtragspreise zu bilden sind, vor allem dann relevant, wenn sich die Parteien später nicht einigen können oder es aus anderen Gründen vor der Arbeitsausführung nicht zu einer Einigung kommt. Andernfalls, d.h. bei einer Vereinbarung, sind die Parteien in der Preisbestimmung nämlich frei und Abs. 2, der die Kostengrundlage als Basis nennt, kann nicht mehr als eine Anregung sein. Diese Anregung würde allerdings untergraben, wenn der Preis bei Nichteinigung nach anderen Kriterien zu bestimmen wäre. Verspricht sich eine Partei von der anderen Bemessungsmethode nämlich ein für sie besseres Resultat, bestünde für sie im konkreten Fall ein Anreiz, die Verhandlung über den Preis auf der vereinbarten Basis scheitern zu lassen. Auch mit Blick darauf ist nicht davon auszugehen, dass die Klausel nur gerade die eher unproblematische Situation der Einigung regeln will, im kritischen Fall, insbesondere bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung, hingegen nicht einschlägig sein soll. Das Bundesgericht verstand die Norm im zit. Urteil 4A_234/2014 E. 5.2 denn auch dahingehend, dass bei Nichteinigung das Gericht den Minderpreis nach Art. 89 SIA-Norm 118 zu bestimmen hat.
Entgegen der Vorinstanz ist Art. 89 SIA-Norm 118, insbesondere deren Absätze 1 und 2, nicht bereits deshalb unbeachtlich, weil sich die Parteien nicht auf einen Mehr- oder Minderpreis einigten. Vielmehr hat diesfalls das Gericht den Mehr- oder Minderpreis in sinngemässer Anwendung dieser Norm zu bestimmen, eine Lücke liegt insofern nicht vor.
BGE 143 III 545 S. 551
4.4.4.2
Eine andere Frage ist, wie der Mehr- oder Minderpreis nach Art. 89 SIA-Norm 118 zu bestimmen ist. Der vereinbarte Pauschalpreis bleibt grundsätzlich bestehen und es ist ein Mehr- oder Minderpreis als Nachtragspreis festzusetzen. Basis für diesen ist gemäss Art. 89 Abs. 2 SIA-Norm 118 bei einem Pauschalpreis die Kostengrundlage im Zeitpunkt der Bestellungsänderung. Was als Kostengrundlage zu verstehen ist, hält Art. 62 SIA-Norm 118 fest. Es handelt sich dabei um Kostenfaktoren, die von der Kostenstruktur und dem Ermessen des konkreten Unternehmers unabhängig sind. Es liegt also eine objektive Grundlage vor (PRADER/STÖCKLI, in: Kommentar zur SIA-Norm 118, Gauch/Stöckli [Hrsg.], 2. Aufl. 2017, N. 2 und 4 Vorbem. zu Art. 62-63 SIA-Norm 118; SCHUMACHER/KÖNIG, a.a.O., S. 239 f. Rz. 654), wobei Art. 62 Abs. 1 SIA-Norm 118 an zwei Stellen ausdrücklich auf die "allgemeinen Marktpreise" verweist. Die angestrebte Objektivierung sowie die explizite Nennung der Marktpreise spricht dafür, dass demnach - gerade in Anbetracht des Rückgangs von Listen- und Richtpreisen - für die Bestimmung der Nachtragspreise bei vereinbartem Pauschalpreis generell auf die allgemeinen Marktpreise im Zeitpunkt der Bestellungsänderung abgestellt werden kann (HUBERT STÖCKLI, Was ist mit der Vergütung los - ein Arbeitspapier, in: Schweizerische Baurechtstagung 2015, S. 15 und 20; im Ergebnis ähnlich SCHUMACHER/KÖNIG, a.a.O., S. 239 f. Rz. 654; vgl. auch EGLI, a.a.O., N. 9.1 zu Art. 89 SIA-Norm 118).
In einem gewissen Widerspruch dazu sieht allerdings Art. 18 Abs. 2 SIA-Norm 118 vor, Preisanalysen würden "bei der Festlegung von Nachtragspreisen (Art. 86-89) mitberücksichtigt". Denn damit wird nicht auf den Marktpreis, sondern auf die vereinbarten Preise Bezug genommen, was für eine Preisfortschreibung spricht (vgl. EGLI, a.a.O., N. 9 zu Art. 18 SIA-Norm 118). Preisanalysen können zwar im Einzelfall bestehen, müssen aber nicht. Und anders als bei Werkverträgen mit Einheitspreisen muss bei solchen mit einem Pauschalpreis den Parteien, insbesondere dem Bauherrn, auch nicht ein mit Preisen versehenes Leistungsverzeichnis des Unternehmers vorliegen, an dem sich die Preise für eine Fortschreibung orientieren könnten (vgl. Art. 87 Abs. 2 SIA-Norm 118). Infolgedessen ist vorbehältlich einer anderslautenden Vereinbarung bei der Bestimmung von Nachtragspreisen bezüglich Werkverträgen mit Pauschalpreis nicht von einer Preisfortschreibung auszugehen - es ist vielmehr, wie ausgeführt, auf die allgemeinen Marktpreise abzustellen.
BGE 143 III 545 S. 552
Dies heisst nun aber freilich nicht, dass deshalb bei einem Werkvertrag mit Pauschalpreis ein ausgefülltes Leistungsverzeichnis oder Preisanalysen von vornherein unbeachtlich wären, insbesondere wenn diese dem Bauherrn bekannt waren. Denn der Bauherr schloss den Werkvertrag mit diesem Unternehmer ab, was dafür spricht, dass dessen Preise im Zeitpunkt der Offertstellung konkurrenzfähig waren. Dies jedenfalls dann, wenn der Bauherr - wie es üblich ist - von mehreren Unternehmern Offerten einholte und womöglich noch Abgebotsrunden durchführte. Allfällige Rabatte oder Nachlässe, die im Rahmen von Abgebotsrunden gewährt wurden, sind allerdings bei den ursprünglichen Preisangaben im Leistungsverzeichnis noch in Anschlag zu bringen, etwa durch einen entsprechenden prozentualen Abzug. Ohne anderslautende Anhaltspunkte (etwa eine negative Teuerung und/oder sinkende Lohnkosten) dürften diese Preise auch zu einem späteren Zeitpunkt (erst recht) noch als konkurrenzfähig - und damit einen allgemeinen Marktpreis reflektierend oder gar unterbietend - zu betrachten sein. Solche Unterlagen sind daher im Rahmen der gerichtlichen Bildung der Nachtragspreise sehr wohl zu berücksichtigen und können als Hilfsmittel dazu dienen (vgl. zit. Urteil 4A_234/2014 E. 5.2; EGLI, a.a.O., N. 108 Vorbem. Art. 84-89 SIA-Norm 118; betr. Preisanalysen auch Art. 18 Abs. 2 SIA-Norm 118), etwa indem sie mangels anderer Anhaltspunkte als Indizien für die allgemeinen Marktpreise verstanden werden, auch wenn als Grundsatz nicht von einer Preisfortschreibung auszugehen ist.
Hingegen ist bei der Bestimmung der Nachtragspreise durch das Gericht bei einem Werkvertrag mit Pauschalpreis grundsätzlich nicht auf eine Ausführung in Regie abzustellen (nach Art. 89 Abs. 3 i.V.m. Art. 87 Abs. 4 SIA-Norm 118). Erstens könnte dies von vornherein nur für "zusätzliche[n] Arbeiten" gelten, wodurch eine dahingehende Unterscheidung erforderlich würde und das Gericht womöglich im selben Fall zwei unterschiedliche Preisbestimmungsmethoden parallel anwenden müsste. Und zweitens geht diese Norm von einer vorgängigen Anordnung von Regiearbeiten durch die Bauherrin aus (vgl. auch Art. 44 Abs. 3 SIA-Norm 118), damit dem Unternehmer bewusst ist, dass er diese Arbeiten entsprechend erfassen und dokumentieren muss (siehe auch Art. 47 SIA-Norm 118). Unterblieb eine solche Anordnung jedoch und ist es nunmehr am Gericht, die Nachtragspreise zu bestimmen, ist es offenkundig zu spät für eine zeitnahe Erfassung und Dokumentation dieser Arbeiten. Entsprechend lässt sich eine nachträgliche Preisbestimmung nicht darauf
BGE 143 III 545 S. 553
abstellen. Heranzuziehen sind vielmehr, wie hiervor ausgeführt, die allgemeinen Marktpreise - und zwar auch für "zusätzliche[n] Arbeiten", deren Ausführung in Regie nicht vorgängig angeordnet worden ist.
4.4.4.3
Bei der Bestimmung der Nachtragspreise durch das Gericht nach Art. 89 Abs. 2 SIA-Norm 118 anhand der unbestimmten, nicht näher konkretisierten "allgemeinen Marktpreise" kann es nicht das Ziel sein, das einzig richtige Ergebnis zu ermitteln, dürfte es ein solches doch gar nicht erst geben. Wäre den Parteien wichtig gewesen, dass ein Gericht bei der nachträglichen Bestimmung der Nachtragspreise an eine exakte Bemessungsmethode gebunden wäre, hätten sie eine entsprechend präzisere vertragliche Regelung treffen können und müssen. Indem sie sich stattdessen für die Übernahme der SIA-Norm 118 entschieden haben, die zur Frage, wie bei einem Vertrag mit Pauschalpreis die Preise für Nachtragsarbeiten wegen einseitigen Bestellungsänderungen resp. aufgrund vom Bauherrn verschuldeter besonderer Verhältnisse zu bilden sind, bloss eine vage Vorgabe enthält, räumen sie dem Gericht einen erheblichen Beurteilungsspielraum ein. Das Gericht hat infolgedessen bei der Festsetzung der Nachtragspreise einen Ermessensentscheid zu treffen und dabei alle Preiselemente zu berücksichtigen, die aufgrund der Parteibehauptungen vorhanden sind (im Ergebnis einen Ermessensentscheid herbeiführend, wenn auch ausserhalb der SIA-Norm und unter Heranziehung von
Art. 373 Abs. 2 OR
, bereits
BGE 113 II 513
E. 5b S. 520 f.; vgl. dazu auch GAUCH, Werkvertrag, a.a.O., S. 316 f. Rz. 787). Das Gericht hat dieses Ermessen pflichtgemäss wahrzunehmen und die Nachtragspreise sachgerecht und mit Augenmass zu bestimmen (im Ergebnis dahingehend auch zit. Urteil 4A_234/2014 E. 5.3).
Soweit die Vorinstanz die Mehrforderungen zufolge Bestellungsänderungen bzw. besonderen Verhältnissen einzig mit der Begründung abgewiesen hat, es fehle an den erforderlichen rechtserheblichen Behauptungen bezüglich deren Berechnung, da der effektive Aufwand nachzuweisen gewesen wäre, ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen - es betrifft dies die Mehrforderungen aus Zusatzleistungen Nr. 5, 8, 9, 11, 15, 16 und 22. Von der Vorinstanz werden diesbezüglich einerseits, soweit erforderlich, die bislang noch nicht behandelten Punkte zu prüfen sein (etwa, ob überhaupt zu vergütende Bestellungsänderungen vorliegen) und andererseits die
BGE 143 III 545 S. 554
Nachtragspreise zu bestimmen sein. Diese Preisbestimmung setzt zunächst voraus, dass die zusätzlichen Leistungen behauptet sind (und auch bewiesen werden können). Ferner müssen nach dem Gesagten Behauptungen vorliegen, die dem Gericht ermöglichen, die Nachtragspreise für diese Leistungen in Ausübung seines Ermessens zu bestimmen, wobei grundsätzlich die Marktpreise im Zeitpunkt der Bestellungsänderung massgeblich sind (vgl. E. 4.4.4.2 hiervor). | de |
a17ff2d0-3199-4598-9d5e-f4c6ed7a8d58 | Sachverhalt
ab Seite 73
BGE 100 III 73 S. 73
Aus dem Tatbestand: Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer trat am 17. Oktober 1973 auf einen Rekurs gegen den Entscheid einer kantonalen Aufsichtsbehörde nicht ein, weil die Rekursschrift nicht unterschrieben war. Sie bemerkte dabei in ihren Erwägungen:
BGE 100 III 73 S. 74
"Es fehlt auch ein Begleitbrief, der die Unterschrift der Rekurrentin oder ihres Vertreters tragen würde, was nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Heilung des Formmangels zur Folge hätte (
BGE 83 II 514
Erw. 1)."
Am 11. November 1973 ersuchte die Rekurrentin das Bundesgericht um Revision dieses Entscheides, weil sie ihren Rekurs der Vorinstanz entgegen der Annahme des Bundesgerichts mit einem von ihr unterzeichneten Begleitschreiben zur Weiterleitung an das Bundesgericht eingereicht habe. Eine Erkundigung bei der Vorinstanz ergab die Richtigkeit dieser Darstellung. Deshalb wurde das Revisionsgesuch geschützt und der Entscheid vom 17. Oktober 1973 aufgehoben.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Revision eines bundesgerichtichen Entscheides ist nach
Art. 136 lit. d OG
zulässig, wenn das Gericht in den Akten liegende erhebliche Tatsachen aus Versehen nicht berücksichtigt hat.
Der von der Rekurrentin unterzeichnete Begleitbrief zum Rekurs vom 6. Oktober 1973, auf den das Bundesgericht am 17. Oktober 1973 wegen Nichtunterzeichnung der Rekursschrift und Fehlens eines unterzeichneten Begleitbriefs nicht eintrat, lag dem Bundesgericht nicht vor, als es seinen Nichteintretensentscheid fällte. Die Akten, die dem Bundesgericht damals vorlagen, enthielten auch keinen Hinweis auf diesen Begleitbrief. Bei streng wörtlicher Auslegung von
Art. 136 lit. d OG
lässt sich daher nicht sagen, das Bundesgericht habe diesen Begleitbrief, der nach
BGE 83 II 514
Erw. 1 zum Eintreten auf den Rekurs geführt hätte, "aus Versehen nicht berücksichtigt" (vgl. zum allgemeinen Sinn dieser Wendung
BGE 96 I 280
Erw. 3 mit Hinweisen).
Die kantonale Aufsichtsbehörde, bei welcher die Rekurrentin ihren Rekurs vom 6. Oktober 1973 gemäss
Art. 78 Abs. 1 OG
zur Weiterleitung an das Bundesgericht eingereicht hatte, hätte jedoch der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts mit der Rekursschrift und den Akten des kantonalen Beschwerdeverfahrens auch den erwähnten, an sie gerichteten Begleitbriefübermitteln sollen; denn nach
Art. 80 Abs. 1 OG
hat die kantonale Aufsichtsbehörde dieser Kammer ausser den Rekursschriften und deren Beilagen "sämtliche Akten" einzusenden.
BGE 100 III 73 S. 75
Behält die kantonale Instanz ein Aktenstück zurück, weil sie es übersieht oder irrtümlich nicht zu den einzusendenden Akten rechnet, und entdeckt das Bundesgericht diesen Mangel nicht, so darf daraus der Partei, zu deren Ungunsten dieser Umstand den Entscheid des Bundesgerichts beeinflusst, kein Nachteil entstehen. Vielmehr muss dieser Partei die Revision des bundesgerichtlichen Entscheids wegen Nichtberücksichtigung einer in den Akten liegenden erheblichen Tatsache offen stehen, wie wenn ein eigenes Versehen des Bundesgerichts an der Nichtberücksichtigung des betreffenden Aktenstücks schuld wäre (
BGE 42 II 76
f. Erw. 2; BIRCHMEIER, N. 5 b zu
Art. 136 OG
; FORNI, Svista manifesta, fatti nuovi e prove nuove nella procedura di revisione davanti al Tribunale federale, in Festschrift Max Guldener, 1973, S. 83 ff., 92 f. und 89, zweitletzter Absatz von Anm. 15). Das muss zum mindesten dann gelten, wenn die benachteiligte Partei im frühern Verfahren die kantonalen Akten bei Ausarbeitung ihrer Rechtsschrift an das Bundesgericht nicht vor sich hatte oder aus einem andern Grunde nicht in der Lage war, die kantonale Instanz oder das Bundesgericht auf die Unvollständigkeit der Akten aufmerksam zu machen und so den Beizug des fehlenden Aktenstücks zu erwirken (vgl. FORNI, a.a.O. S. 94 vor lit. c, der in Frage stellt, ob im gegenteiligen Falle als Revisionsgrund geltend gemacht werden könne, die Plaidoyernotizen, welche der Revisionskläger als Zusammenfassung der mündlichen Vorträge im Sinne von Art. 51 Abs. 1 lit. b Abs. 2 OG behandelt wissen möchte, hätten dem Bundesgericht im frühern Verfahren nicht vorgelegen und die Akten seien deshalb unvollständig gewesen).
Die Voraussetzungen, unter denen hienach wegen Unvollständigkeit der dem Bundesgericht eingesandten Akten die Revision nach
Art. 136 lit. d OG
zu bewilligen ist, sind im vorliegenden Falle erfüllt. Die Rekurrentin, die vor Erhalt des Entscheides vom 17. Oktober 1973 nicht wissen konnte, dass ihr Begleitbrief zum Rekurs an das Bundesgericht nicht bei den diesem eingesandten Akten lag, hat das Revisionsgesuch innert der 30tägigen Frist von
Art. 141 Abs. 1 lit. a OG
in einer den Anforderungen von
Art. 140 OG
genügenden Form gestellt. Daher ist der Nichteintretensentscheid vom 17. Oktober 1973 aufzuheben und der Rekurs vom 6. Oktober 1973 materiell zu behandeln. | de |
9105d85b-a2ed-4424-b0d0-247fb9d253c2 | Sachverhalt
ab Seite 324
BGE 126 V 323 S. 324
A.-
M. war Mitglied der Konkordia, Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung (seit 1. Januar 2000 Concordia; im Folgenden Concordia) und bei dieser obligatorisch für Krankenpflege versichert; überdies hatte sie die Versicherungen DIVERSA, NATURA und Spitalversicherung PE 1 abgeschlossen. Wegen eines Mammakarzinoms hielt sie sich ab dem 19. Oktober 1996 zur Behandlung in der Klinik X auf. Am 21. Oktober 1996 wurde sie wegen Appendicitis perforata im Spital Y operiert. Am 29. Oktober 1996 wurde sie zur "Weiterführung der Spitalbehandlung" in die Klinik X entlassen, wo sie sich bis 18. November 1996 aufhielt.
Gestützt auf eine Stellungnahme ihres Vertrauensarztes Dr. med. S. vom 30. April 1997 teilte die Concordia der Versicherten mit, dass als Folge der Blinddarmoperation nach dem 29. Oktober 1996 keine Spitalbedürftigkeit mehr vorgelegen und auch wegen des Mammakarzinoms keine Notwendigkeit für eine stationäre Behandlung bestanden habe, so dass an den Aufenthalt in der Klinik X lediglich die reglementarischen Leistungen für Kuraufenthalte erbracht werden könnten; zudem bestehe Anspruch auf Übernahme der Arzt- und Arzneikosten nach Tarif aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Verfügung vom 13. Mai 1997). Die hiegegen erhobene Einsprache hiess die Concordia insoweit teilweise gut, als sie die Kosten für ein weiteres Medikament (Redoxon) übernahm; im Übrigen hielt sie daran fest, dass für den Aufenthalt in der Klinik X vom 29. Oktober bis 18. November 1996 keine Akutspitalbedürftigkeit, sondern lediglich eine Erholungskurbedürftigkeit bestanden habe, weshalb sich die Kostenübernahme auf die entsprechenden reglementarischen Leistungen beschränke (Einspracheentscheid vom 7. Juli 1997).
BGE 126 V 323 S. 325
B.-
Die Erben der am 3. Juni 1997 verstorbenen M. liessen beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Beschwerde einreichen und beantragen, in Aufhebung des Einspracheentscheids sei die Concordia zu verpflichten, sämtliche Kosten des stationären Aufenthaltes in der Klinik X vom 29. Oktober bis 18. November 1996 im Rechnungsbetrag von Fr. 25'866.70, abzüglich allfälliger Selbstbehalte und der in Rechnung gestellten Verbandswechsel, zu übernehmen.
Mit Entscheid vom 29. April 1999 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Beschwerde insoweit teilweise gut, als die Concordia verpflichtet wurde, auch für die Kosten des Medikamentes Natrium Chlorat 0,9% im Betrag von Fr. 38.50 aufzukommen; im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Erbengemeinschaft M. das erstinstanzliche Beschwerdebegehren erneuern; eventualiter wird beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids, soweit damit die Spitalbedürftigkeit der Verstorbenen für die Zeit vom 29. Oktober bis 18. November 1996 verneint werde, sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Concordia beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hat sich nicht vernehmen lassen.
D.-
(...). Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Im vorliegenden Fall geht es um Leistungen für die Zeit vom 29. Oktober bis 18. November 1996, weshalb die Bestimmungen des am 1. Januar 1996 in Kraft getretenen KVG und der zugehörigen Verordnungen anwendbar sind. Auf die Streitsache ist auch insoweit einzutreten, als sie Leistungen im Sinne der bisherigen Zusatzversicherungen zum Gegenstand hat. Die Concordia hat von der mit
Art. 102 Abs. 2 KVG
eingeräumten Übergangsfrist zur Anpassung der über die obligatorische Krankenpflegeversicherung hinausgehenden Versicherungen Gebrauch gemacht und die Anpassung auf den 1. Januar 1997 vorgenommen (vgl.
BGE 123 V 324
). Weil es hier nicht um die Wahrung des bisherigen Versicherungsschutzes, sondern um die Leistungspflicht aus der früheren Zusatzversicherung geht, ist die Zuständigkeit des Sozialversicherungsrichters zu bejahen (
BGE 124 V 134
).
BGE 126 V 323 S. 326
2.
a) Die obligatorische Krankenversicherung übernimmt nach
Art. 24 KVG
die Kosten für die Leistungen gemäss
Art. 25-31 KVG
nach Massgabe der in Art. 32-34 festgelegten Voraussetzungen. Die Leistungen umfassen u.a. die Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen, die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durchgeführt werden von Ärzten, Chiropraktoren und Personen, die im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (
Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG
), die ärztlich durchgeführten oder angeordneten Massnahmen der medizinischen Rehabilitation (
Art. 25 Abs. 2 lit. d KVG
) und den Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung eines Spitals (
Art. 25 Abs. 2 lit. e KVG
).
b) Die Leistungspflicht für stationäre Behandlung setzt zunächst voraus, dass sich die versicherte Person in einem Spital, d.h. einer Anstalt oder deren Abteilung aufhält, das der stationären Behandlung akuter Krankheiten oder der stationären Durchführung von Massnahmen der medizinischen Rehabilitation dient (
Art. 39 Abs. 1 KVG
). Des Weiteren muss eine Krankheit vorliegen, welche eine Akutbehandlung oder medizinische Rehabilitation unter Spitalbedingungen erforderlich macht. Spitalbedürftigkeit in diesem Sinne ist einerseits dann gegeben, wenn die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Massnahmen nur in einem Spital zweckmässig durchgeführt werden können, anderseits auch dann, wenn die Möglichkeiten ambulanter Behandlung erschöpft sind und nur noch im Rahmen eines Spitalaufenthaltes Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Dabei kann eine Leistungspflicht für den Spitalaufenthalt auch dann bestehen, wenn der Krankheitszustand der versicherten Person einen solchen nicht unbedingt erforderlich macht, die medizinische Behandlung jedoch wegen besonderer persönlicher Lebensumstände nicht anders als im Spital durchgeführt werden kann (
BGE 120 V 206
Erw. 6a mit Hinweisen; RKUV 1984 Nr. K 591 S. 197).
c) Im Gesetz nicht näher umschrieben wird der Begriff der medizinischen Rehabilitation im Sinne von
Art. 25 Abs. 2 lit. d KVG
. Nach GEBHARD EUGSTER (Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, Rz 142 ff.) besteht das besondere Merkmal der medizinischen Rehabilitation darin, dass die Behandlung der Krankheit an sich abgeschlossen ist und Therapieformen zur Nachbehandlung von Krankheiten zur Anwendung gelangen. Die medizinische Rehabilitation schliesst an die eigentliche Krankheitsbehandlung an und
BGE 126 V 323 S. 327
bezweckt, die durch die Krankheit oder die Behandlung selbst bewirkte Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit mit Hilfe medizinischer Massnahmen ganz oder teilweise zu beheben, oder sie dient insbesondere bei Chronischkranken der Erhaltung und allenfalls Verbesserung des verbliebenen Funktionsvermögens. Sie kann ambulant, teilstationär, in einer Kuranstalt, in einem Pflegeheim oder in einer spezialisierten Rehabilitationsklinik erfolgen, wobei im letztern Fall eine Spitalbedürftigkeit vorausgesetzt ist, welche nach der notwendigen Behandlungsintensität, dem Behinderungsgrad, der Pflegebedürftigkeit und der Schwere des Hauptleidens oder zusätzlich komplizierender Krankheiten zu beurteilen ist.
d) Im Gesetz nicht erwähnt sind die Erholungskuren, an welche die Krankenversicherer, wie nach dem früheren Recht (
BGE 109 V 271
Erw. 4), keine Pflichtleistungen zu erbringen haben. Dies gilt auch für Anwendungen, welche einzig die Erholung oder Genesung fördern sollen, und diagnostische Massnahmen zur Klärung des dafür notwendigen Therapiebedarfs. Von der blossen Erholung ist die Fortsetzung einer begonnenen Heilbehandlung unter Kurbedingungen zu unterscheiden. Dient die Kur der Durchführung besonderer Therapien oder Therapieprogramme bei bestimmten Erkrankungen, hat der Krankenversicherer grundsätzlich die gleichen Leistungen zu erbringen wie bei der ambulanten Behandlung (EUGSTER, a.a.O., Rz 146 f.). Für die Abgrenzung zwischen Erholungskuren und der medizinischen Rehabilitation ist auf die Zielsetzung der Massnahme abzustellen. Die medizinische Rehabilitation ist auf die Wiedererlangung verlorener oder die Verbesserung beeinträchtigter Funktionsfähigkeiten mit medizinischen Mitteln gerichtet. Erholungskuren dienen Versicherten ohne besondere Pflege- und Behandlungsbedürftigkeit zur Erholung und Genesung nach Erkrankungen, die eine wesentliche Verminderung des Allgemeinzustandes zur Folge hatten (EUGSTER, a.a.O., Rz 144).
3.
a) Die Beschwerdegegnerin hat an die Kosten für den Klinikaufenthalt in der Zeit vom 19. bis 21. Oktober 1996 im Betrag von Fr. 3'790.40 Leistungen in Höhe von Fr. 1'013.40 für schulmedizinische Spitalleistungen und Fr. 42.35 für Medikamente sowie einen Kostenbeitrag von 15 Franken im Tag aus der Zusatzversicherung NATURA erbracht. Für die Aufenthaltskosten ist sie nicht aufgekommen, weil nach Auffassung ihres Vertrauensarztes für eine erfahrungsmedizinische Behandlung des Mammakarzinoms keine Spitalbedürftigkeit vorgelegen hat. Eine Leistungspflicht für den
BGE 126 V 323 S. 328
Klinikaufenthalt bestand auch deshalb nicht, weil dieser überwiegend, wenn nicht ausschliesslich, zur Durchführung alternativ- oder komplementärmedizinischer Massnahmen erfolgte, für welche die Beschwerdegegnerin weder im Rahmen der obligatorischen Versicherung noch der Zusatzversicherungen (vorbehältlich des Beitrages von 15 Franken aus der Zusatzversicherung NATURA) aufzukommen hatte, was auch von der Beschwerdeführerin nicht bestritten wird. Streitig ist lediglich, ob die Beschwerdegegnerin Leistungen für die stationäre Behandlung der Versicherten nach deren Wiedereintritt in die Klinik am 29. Oktober 1996 und bis zum Klinikaustritt am 18. November 1996 zu erbringen hat.
b) Am 29. Oktober 1996 reichte der Sozialdienst des Spitals Y der Beschwerdegegnerin eine ärztliche Verordnung für die Weiterführung der Spitalbehandlung in der Klinik X ein. In dem von Assistenzarzt Dr. med. V. unterzeichneten Schreiben wird ausgeführt, die Patientin leide an einer unheilbaren Krankheit der Brust, zudem habe sie sich wegen eines geplatzten Blinddarms einer Operation unterziehen müssen; unter Berücksichtigung der gesamten Umstände sei eine Weiterführung der Spitalbehandlung in der genannten Klinik indiziert. Dem ebenfalls von Dr. V. verfassten Austrittsbericht des Spitals Y vom 30. Oktober 1996 ist zu entnehmen, dass sich die Versicherte im Laufe der Hospitalisation bei problemlosem Nahrungs- und Mobilisationsaufbau gut erholt hatte und schmerzfrei war. Der Austritt am 29. Oktober 1996 erfolgte zur weiteren Rehabilitation in der Klinik X. Dr. med. O., Assistenzärztin an der Klinik X, teilte der Beschwerdegegnerin am 12. November 1996 mit, die Patientin sei schon am siebten (recte: achten) postoperativen Tag in noch schlechtem Allgemeinzustand aus dem Spital Y überwiesen worden. Angesichts der allgemeinen Schwächen habe die aufbauende Therapie nur "einschleichend" erfolgen können. Wohl wegen der Grunderkrankung habe die Rekonvaleszenz der Patientin nur langsame Fortschritte gemacht, so dass bei noch stark reduziertem Allgemeinzustand, welcher sich objektiv in pathologisch erheblich erhöhten Laborparametern zeige, weiterhin Spitalbedürftigkeit bestehe. Der Vertrauensarzt der Beschwerdegegnerin, Dr. med. S., stellte unter Hinweis auf den Austrittsbericht des Spitals Y vom 30. Oktober 1996 fest, dass als Folge der Blinddarmoperation nach dem 29. Oktober 1996 keine Spitalbehandlungsbedürftigkeit mehr und auch hinsichtlich des Brustkarzinoms keine Notwendigkeit zu einem stationären Aufenthalt bestanden habe. Dass acht Tage nach einem perforierten
BGE 126 V 323 S. 329
Blinddarm der Allgemeinzustand noch reduziert war, sei nachvollziehbar, weshalb der Kasse die Vergütung der reglementarischen Leistungen für Erholungskuren empfohlen werde.
c) Mit der Vorinstanz ist auf Grund der vorhandenen medizinischen Akten davon auszugehen, dass die Versicherte während des Klinikaufenthaltes vom 29. Oktober bis 18. November 1996 lediglich erholungsbedürftig, nicht aber spital- oder rehabilitationsbedürftig im Sinne von Art. 25 Abs. 2 lit. d bzw. e KVG gewesen ist. Nach dem im Austrittsbericht des Spitals Y vom 30. Oktober 1996 erwähnten problemlosen postoperativen Verlauf hat ab dem 29. Oktober 1996 keine Spitalbedürftigkeit mehr bestanden. Im Austrittsbericht ist - entgegen dem Schreiben des Sozialdienstes vom 29. Oktober 1996 - denn auch nicht von einer Weiterführung der Spitalbehandlung, sondern von einer Rehabilitation die Rede. Um eine Rehabilitationsbehandlung im Sinne von
Art. 25 Abs. 2 lit. d KVG
handelte es sich beim Aufenthalt in der Klinik X in der Zeit ab dem 29. Oktober 1996 indessen ebenfalls nicht. Weder gelangten besondere Therapieformen zur Nachbehandlung von Krankheiten zur Anwendung, noch bezweckten die durchgeführten Massnahmen, die durch die interkurrente Erkrankung und ihre Behandlung bewirkte Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit ganz oder teilweise zu beheben. Zufolge der Blinddarmoperation und des reduzierten Allgemeinzustandes bestand lediglich noch eine Erholungsbedürftigkeit, wofür die Beschwerdegegnerin ihre Leistungspflicht im Rahmen der reglementarischen Kurbeiträge anerkannt hat (Schreiben der Concordia vom 9. Dezember 1996). Im Übrigen stand die alternativmedizinische Behandlung des Krebsleidens im Vordergrund. Aus den Rechnungen der Klinik X geht hervor, dass in der Zeit vom 29. Oktober bis 18. November 1996 vorab Eigenbluttherapie nach Höveler (nicht identisch mit Eigenbluttransfusion gemäss KLV Anhang 1), Fussreflexzonen-Massage, Moxatherapie, Hämatogene Oxydationstherapie, Colonhydrotherapie und Ozonbehandlung durchgeführt wurden. Dabei handelt es sich um alternativ- oder komplementärmedizinische Massnahmen, für welche die Beschwerdegegnerin nach dem Gesagten nicht leistungspflichtig ist. Die Beschwerdegegnerin hat für den Klinikaufenthalt somit auch deshalb nicht aufzukommen, weil dabei eindeutig die Nichtpflichtleistungen im Vordergrund standen (
BGE 120 V 212
Erw. 7b). Weiterer Abklärungen, wie sie die Beschwerdeführerin beantragt, bedarf es nicht. Entgegen den Ausführungen in der
BGE 126 V 323 S. 330
Verwaltungsgerichtsbeschwerde bilden die vorhandenen Arztberichte eine hinreichende Grundlage zur Beurteilung des streitigen Leistungsanspruchs. Zwar decken sich die ärztlichen Feststellungen nicht durchwegs. Insgesamt ist der rechtlich relevante Sachverhalt aber genügend abgeklärt, um die streitige Rechtsfrage zweifelsfrei beurteilen zu können. Mit dem Einwand, die Vorinstanz habe nach Verneinung der Spitalbedürftigkeit im engeren Sinn nicht geprüft, ob allenfalls dennoch ein Aufenthalt im Spitalmilieu erforderlich gewesen sei (
BGE 115 V 48
Erw. 3b), übersieht die Beschwerdeführerin, dass selbst wenn die fraglichen Massnahmen nur unter Spitalbedingungen durchgeführt werden konnten, die Beschwerdegegnerin für den Klinikaufenthalt nicht aufzukommen hat, weil dieser überwiegend der Durchführung nichtpflichtiger Leistungen diente. Fehl geht damit auch die Rüge einer Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (
Art. 87 lit. c KVG
) durch die Vorinstanz. | de |
6d607947-7515-4fbc-b54f-9945db0a9b96 | Erwägungen
ab Seite 354
BGE 117 V 354 S. 354
Aus den Erwägungen:
2.
a) Gemäss
Art. 9 Abs. 1 UVG
gelten Krankheiten, die bei der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind, als Berufskrankheiten. Der Bundesrat erstellt die Liste dieser Stoffe und Arbeiten sowie der arbeitsbedingten Erkrankungen. Gestützt auf diese Delegationsnorm und
Art. 14 UVV
hat er im Anhang 1 zur UVV eine Liste der schädigenden Stoffe und der arbeitsbedingten Erkrankungen erstellt.
BGE 117 V 354 S. 355
Nach der Rechtsprechung ist eine "vorwiegende" Verursachung von Krankheiten durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten nur dann gegeben, wenn diese mehr wiegen als alle andern mitbeteiligten Ursachen, mithin im gesamten Ursachenspektrum mehr als 50% ausmachen. "Ausschliessliche" Verursachung hingegen meint praktisch 100% des ursächlichen Anteils der schädigenden Stoffe oder bestimmten Arbeiten an der Berufskrankheit (
BGE 114 V 111
Erw. 3c mit Hinweisen).
b) Als Berufskrankheiten gelten auch andere Krankheiten, von denen nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sind (
Art. 9 Abs. 2 UVG
). Diese Generalklausel bezweckt, allfällige Lücken zu schliessen, die dadurch entstehen könnten, dass die bundesrätliche Liste gemäss Anhang 1 zur UVV entweder einen schädigenden Stoff, der eine Krankheit verursachte, oder eine Krankheit nicht auf führt, die durch die Arbeit verursacht wurde (
BGE 116 V 141
Erw. 5a, 114 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung ist die Voraussetzung des "ausschliesslichen oder stark überwiegenden" Zusammenhangs gemäss
Art. 9 Abs. 2 UVG
erfüllt, wenn die Berufskrankheit mindestens zu 75% durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden ist (
BGE 114 V 109
mit Hinweisen).
4.
Es ist unter den Verfahrensbeteiligten - zu Recht - unbestritten, dass der Beschwerdegegner keine Ansprüche aus Berufskrankheit im Sinne von
Art. 9 Abs. 1 UVG
ableiten kann, da weder schädigende Stoffe noch arbeitsbedingte Erkrankungen gemäss Anhang 1 UVV in Frage stehen. Streitig und zu prüfen ist hingegen, ob eine Berufskrankheit nach
Art. 9 Abs. 2 UVG
vorliegt.
a) Die Vorinstanz hat ihren Entscheid damit begründet, "in einem in Anwendung von
Art. 9 Abs. 1 UVG
(recte:
Art. 68 Abs. 1 KUVG
) gefällten Entscheid (stelle) das Eidgenössische Versicherungsgericht die berufsspezifische Verschlimmerung einer Krankheit deren Verursachung gleich (
BGE 108 V 160
)". Dies erscheine richtig und solle auch im Rahmen von
Art. 9 Abs. 2 UVG
berücksichtigt werden, sei doch kein vernünftiger Grund ersichtlich, der eine Ungleichbehandlung der beiden Fälle rechtfertige. Gestützt auf die Aussage des Dr. med. H., welcher in seinem Bericht vom 28. Juni 1989 die vorbestandenen Veränderungen mit einem Viertel ansetzte, folgerte das kantonale Gericht sodann, die berufsbedingte Verschlimmerung betrage "unausgesprochen" 75%,
BGE 117 V 354 S. 356
womit rechtsgenüglich dargetan sei, dass der Verursachungsanteil der beruflichen Tätigkeit an der Krankheit mindestens drei Viertel betrage und demzufolge die Voraussetzungen für die Bejahung einer Berufskrankheit erfüllt seien.
b) Wie bereits im erstinstanzlichen Verfahren stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, die berufsbedingte Verschlimmerung eines vorbestandenen Gesundheitsschadens genüge für die Anerkennung von
Art. 9 Abs. 2 UVG
nicht. Analog zu
BGE 108 V 160
könne allenfalls unter der Geltung des UVG für Berufskrankheiten nach Abs. 1 von
Art. 9 UVG
entschieden werden, nicht aber auch für die "anderen" Krankheiten gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung. Diese Ungleichbehandlung sei um so mehr am Platz, als letzterer Absatz nach dem klaren Willen des Gesetzgebers ein Auffangstatbestand sei, laut
BGE 114 V 109
die Trennung zwischen Krankheit und Berufskrankheit klar zutage liegen müsse und Lehre wie Rechtsprechung an den Nachweis einer Berufskrankheit im Sinne der Generalklausel strenge Anforderungen stellten.
c) Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. In
BGE 108 V 158
, in dem es um die Verschlimmerung einer vorbestandenen Krankheit durch einen Listenstoff nach altem Recht (
Art. 68 Abs. 1 KUVG
in Verbindung mit Art. 1 der Verordnung über Berufskrankheiten) ging, hat das Eidg. Versicherungsgericht in Änderung der Rechtsprechung erkannt, die Unfallversicherung habe wesentlich den Zweck, die Arbeitnehmer vor den wirtschaftlichen Folgen unfall- bzw. berufskrankheitsbedingter Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit zu schützen. Unter diesem Gesichtspunkt sei es unerheblich, ob eine bestimmte Verminderung der Erwerbsfähigkeit bei einem bisher Gesunden eintrete oder auf einer Verschlimmerung eines vorbestandenen Leidens beruhe. Die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen seien für die Betroffenen in beiden Fällen grundsätzlich die gleichen. Es lasse sich daher nicht rechtfertigen, die ausschliesslich oder vorwiegend durch die Einwirkung eines Listenstoffes verursachte Verschlimmerung einer bereits bestehenden Krankheit rechtlich anders zu behandeln als eine Krankheit, die als solche ausschliesslich oder vorwiegend durch einen Listenstoff verursacht worden ist.
Diese Überlegungen behalten auch unter der Herrschaft des neuen Rechts ihre volle Gültigkeit, und zwar im Rahmen von Abs. 1 wie Abs. 2 des
Art. 9 UVG
. Denn wie die Vorinstanz richtig erkannt hat, lässt sich sachlich in der Tat kein vernünftiger Grund
BGE 117 V 354 S. 357
ausmachen, der eine unterschiedliche Behandlung der Verschlimmerung von Berufskrankheiten nach der Enumerationsmethode (Listenstoffe oder Listenkrankheiten) und denjenigen nach der Generalklausel als gerechtfertigt erscheinen liesse. Sodann entspricht das Krankheitsverzeichnis des Anhangs 1 UVV, von wenigen redaktionellen Abänderungen abgesehen, weitgehend der früheren Verordnung über Berufskrankheiten vom 17. Dezember 1973, so dass die zum alten Recht ergangene Rechtsprechung im Bereich des UVG nach wie vor anwendbar ist. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin vermögen die von ihr ins Feld geführten Argumente eine Ungleichbehandlung der Verschlimmerung von Berufskrankheiten nach dem ersten Absatz einerseits und dem zweiten Absatz anderseits nicht zu untermauern. Zutreffend ist zwar, dass es sich bei der Generalklausel um einen Auffangstatbestand handelt. Daraus kann aber mit Bezug auf die Verschlimmerung einer Krankheit ebensowenig etwas abgeleitet werden wie aus dem Umstand, dass die Anerkennung solcher Berufskrankheiten an einen strengen Massstab geknüpft ist, indem für deren Nachweis das Erfordernis des qualifizierten Kausalzusammenhanges ("stark überwiegende Ursache") erfüllt sein muss. Die beiden Bestimmungen unterscheiden sich darin, dass
Art. 9 Abs. 1 UVG
in Verbindung mit Anhang 1 UVV die für Berufskrankheiten verantwortlichen schädigenden Stoffe (Listenstoffe) sowie die Krankheiten (Listenkrankheiten) und Arbeiten, die als Ursache für die jeweils aufgeführten Krankheiten zugelassen sind, abschliessend aufzählt (RKUV 1988 Nr. U 61 S. 449 Erw. 1a). Dieses Verzeichnis beinhaltet grundsätzlich jene Krankheiten, von denen man aus der Erfahrung weiss, dass sie durch krankmachende Stoffe oder durch den Beruf erworben worden sind (vgl. dazu MORGER, Berufskrankheiten, in: Schweizerischer Versicherungskurier, 1988, S. 120; vgl. auch MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 222 am Ende). In dem Sinne handelt es sich dabei um bekannte, nicht aber notwendigerweise auch typische Krankheitsbilder, wobei es in diesem Zusammenhang freilich zu präzisieren gilt, dass die Listenarbeiten und arbeitsbedingten Erkrankungen gemäss der Doppelliste stets mit bestimmten Krankheitsbildern korrespondieren, während die Anerkennung als Berufskrankheit im Rahmen der einfachen Liste des Stoffverzeichnisses kein bestimmtes, typisches Krankheitsbild voraussetzt (RKUV 1988 Nr. U 61 S. 449 f. Erw. 1; vgl. auch EVGE 1963 S. 6). Demgegenüber dient
Art. 9 Abs. 2 UVG
als Auffangbecken für
BGE 117 V 354 S. 358
alle durch die berufliche Tätigkeit verursachten Krankheiten, die in der bundesrätlichen Verordnung nicht figurieren, zumal das ihr zugrunde liegende Listensystem die Gefahr von Unvollständigkeit und Lücken in sich birgt. Davon erfasst sind nicht nur jene Krankheiten, die zum typischen Berufsrisiko des Betroffenen gehören (vgl. RKUV 1987 Nr. U 28 S. 401), sondern auch solche, die durch die Berufsarbeit verursacht werden, aber eben nicht typisch sind oder zwar typisch sind, aus irgend einem Grunde aber auf der Liste fehlen. Die Generalklausel bildet insoweit nichts anderes als das Auffangnetz für neue Erkenntnisse im Bereich der krankmachenden Arbeiten oder krankmachenden Stoffe (MORGER, a.a.O., S. 120); falls neue schädigende Stoffe oder neue beruflich bedingte Erkrankungen mit ausreichender Zuverlässigkeit festgestellt werden sollten, dürfte in der Regel der Anhang 1 UVV über die Berufskrankheiten zu ergänzen sein (MAURER, a.a.O., S. 222). Die neue Regelung von
Art. 9 Abs. 2 UVG
trat an die Stelle der bisherigen "freiwilligen Leistungen", welche die SUVA unter dem Regime des KUVG zur Schliessung von Lücken des Listensystems ausrichtete (Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung, BBl 1976 III 166).
Nach dem klaren Wortlaut von
Art. 9 Abs. 2 UVG
findet keine Beschränkung der gefährdenden Stoffe oder bestimmter Krankheiten statt. Grundsätzlich ist jede Einwirkung am Arbeitsplatz als Ursache für eine Berufskrankheit anerkannt, unter der Bedingung, der ursächliche Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Krankheit sei "stark überwiegend", was im Verhältnis zum ersten Absatz von
Art. 9 UVG
("vorwiegend") eine zusätzliche Quantifizierung bedeutet und nach der Rechtsprechung einen berufsbedingten Verursachungsanteil von mindestens 75% voraussetzt (
BGE 114 V 109
; vgl. dazu auch SCHLEGEL/GILG, Kausalitätsfragen bei der Beurteilung von Unfällen und Berufskrankheiten, in: Mitteilungen der medizinischen Abteilung der SUVA, Heft Nr. 57, November 1984, S. 15 f.). Daraus erhellt, dass kein Ansatzpunkt vorhanden ist, bezüglich der listenmässig erfassten und der "anderen" Berufskrankheiten einen Unterschied darin zu machen, dass bei jenen die Verschlimmerung des Leidens der Verursachung gleichgesetzt wird, bei den übrigen aber nicht. Die unterschiedliche Behandlung wäre im Gegenteil mit dem Sinn und Zweck der Generalklausel nicht zu vereinbaren und würde deren Grundgedanken zuwiderlaufen. So wie das Wort "verursacht" in
Art. 9 Abs. 1 UVG
die Verschlimmerung der bestehenden Krankheit
BGE 117 V 354 S. 359
durch die berufliche Tätigkeit miteinschliesst, kommt diesem Wort in Abs. 2 von
Art. 9 UVG
die gleiche Bedeutung zu. Sämtliche in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Einwände vermögen hieran nichts zu ändern. | de |
2c6e986d-c767-438a-9a97-b7b46ab628d0 | Sachverhalt
ab Seite 500
BGE 140 V 499 S. 500
A.
A., geb. 1986, ist Bürger der Gemeinde U. (SZ). Er ist wegen einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung dauernd auf Pflege und Betreuung angewiesen. Im März 2009 kehrte A. mit seiner Mutter, unter deren alleiniger Obhut er stand, nach einer 11-jährigen Aufenthaltszeit in Amerika zurück in die Schweiz. Er wurde unmittelbar nach seiner Rückkehr in verschiedenen Einrichtungen gepflegt. Die Gemeinde V. (LU) errichtete eine kombinierte Mitwirkungs- und Vermögensbeistandschaft nach aArt. 392/393 ZGB. Die Mutter von A. reiste im Oktober 2010 wieder nach Amerika aus. Der Kanton Luzern liess dem Kanton Schwyz im Juli 2009 für die Kosten der Pflege und Betreuung eine Unterstützungsanzeige im Sinne von Art. 15 in Verbindung mit
Art. 31 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1)
zukommen. Der Kanton Schwyz kam in der Folge bis März 2011 für die Unterbringungskosten im Alters- und Pflegeheim B. (LU) auf. Auf die zweite Quartalsrechnung 2011 hin und in der Folge auch gegen weitere Abrechnungen erhob der Kanton Schwyz jeweils Einsprache. Er beanstandete im Wesentlichen den Aufenthalt des jugendlichen A. in einem Alters- und Pflegeheim. Dieser habe als Bezüger einer IV-Rente Anspruch auf Unterbringung in einem nach dem IFEG anerkannten Heim. Gemäss Art. 7 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG; SR 831.26) dürften A. für den Aufenthalt in einer anerkannten Institution keine Sozialhilfekosten erwachsen. Diese Kosten könnten daher auch nicht dem Heimatkanton weiterverrechnet werden. Mit Beschluss vom 28. Mai 2013 wies der Kanton Luzern die Einsprachen nach
Art. 34 ZUG
ab. Zwischenzeitlich hatte A. am 19. Dezember 2012 vom Alters- und Pflegeheim B. in das Wohnheim C. gewechselt.
BGE 140 V 499 S. 501
B.
Die vom Kanton Schwyz gegen den Beschluss vom 28. Mai 2013 geführte Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 27. Mai 2014 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt der Kanton Schwyz, der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern sei aufzuheben.
Während dieses auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst der Kanton Luzern auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Kanton Schwyz als Heimatkanton für die Unterbringungs- und Pflegekosten des A. im Alters- und Pflegeheim B. aufzukommen hat.
Der Kanton Luzern bejaht dies und beruft sich dabei auf
Art. 15 ZUG
, der wie folgt lautet: "Hat der Unterstützte keinen Wohnsitz in der Schweiz, so vergütet der Heimatkanton dem Aufenthaltskanton die Kosten der Unterstützung."
Der Kanton Schwyz vertritt die Auffassung, A. habe im Kanton Luzern Wohnsitz begründet, womit eine Kostenübernahme durch den Heimatkanton nach
Art. 15 ZUG
ausser Betracht falle. Zudem handle es sich bei den in Rechnung gestellten Aufwendungen nicht um Fürsorgekosten im Sinne des Zuständigkeitsgesetzes.
4.
Der Bedürftige hat seinen Wohnsitz nach dem Zuständigkeitsgesetz (Unterstützungswohnsitz) in dem Kanton, in dem er sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Dieser Kanton wird als Wohnkanton bezeichnet (
Art. 4 Abs. 1 ZUG
). Der Unterstützungswohnsitz nach dieser Regelung ist nicht zwingend identisch mit dem zivilrechtlichen Wohnsitz (
BGE 139 V 433
E. 3.2.1 S. 435 mit Hinweis).
4.1
Das kantonale Gericht hat als Erstes auf die Regelung gemäss
Art. 5 ZUG
Bezug genommen, wonach u.a. der Aufenthalt in einem Heim, einem Spital oder einer anderen Anstalt keinen Unterstützungswohnsitz begründet. Es hat erwogen, dies bedeute zunächst einmal nur, dass der Eintritt in eine solche Anstalt einen bestehenden Unterstützungswohnsitz nicht beende. Das trifft zu (vgl.
Art. 9 Abs. 3 ZUG
;
BGE 138 V 23
E. 3.1.3 S. 25; URSPRUNG/RIEDI, Zur
BGE 140 V 499 S. 502
neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet der Sozialhilfe, ZBl 115/2014 S. 231 ff., 241). Dementsprechend schliesst
Art. 5 ZUG
nicht aus, dass A. im Kanton Luzern Unterstützungswohnsitz begründet hat. Ob ein solcher Wohnsitz begründet wurde, bedarf daher weiterer Betrachtung.
4.2
4.2.1
Die Vorinstanz hat erwogen, A. sei bei der Rückkehr in die Schweiz mündig gewesen und habe daher den Wohnsitz seiner Mutter in V. auf der Grundlage von
Art. 25 Abs. 1 ZGB
nicht geteilt. Es habe sodann keine wohnsitzbestimmende Massnahme der Vormundschaftsbehörde (heute: Erwachsenen- und Kindesschutzbehörde) im Sinne von
Art. 25 Abs. 2 und
Art. 26 ZGB
bestanden. Gestützt auf seinen körperlichen und geistigen Schwächezustand sei der Betroffene aber auch nicht in der Lage gewesen, einen eigenen Wohnsitz im Sinne von
Art. 23 Abs. 1 ZGB
zu begründen.
Der Beschwerdeführer stellt diese Erwägungen zu Recht nicht in Frage. Er beruft sich vielmehr darauf, A. habe Wohnsitz nach
Art. 24 Abs. 2 ZGB
begründet.
4.2.2
Gemäss
Art. 24 Abs. 2 ZGB
gilt der Aufenthaltsort als Wohnsitz, wenn ein früher begründeter Wohnsitz nicht nachweisbar oder ein im Ausland begründeter Wohnsitz aufgegeben und in der Schweiz kein neuer begründet worden ist.
Das kantonale Gericht hat zu Recht erkannt, dass aus dieser Regelung nicht auf einen Unterstützungswohnsitz geschlossen werden kann. Ein im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 ZGB
begründeter Wohnsitz ist im Anwendungsbereich des Zuständigkeitsgesetzes nicht massgeblich. Der Gesetzgeber hat zwar angestrebt, den Unterstützungswohnsitz weitmöglichst dem zivilrechtlichen Wohnsitz anzugleichen. Eine begriffseinheitliche Legiferierung lässt sich aber nicht immer verwirklichen. So dient der zivilrechtliche Wohnsitzbegriff der Festlegung zivilrechtlicher, zivilprozessualer und vollstreckungsrechtlicher Zuständigkeiten. Einen solchen Wohnsitz muss jedermann jederzeit haben. Demgegenüber dient der Unterstützungswohnsitz zur Bestimmung des fürsorgepflichtigen Gemeinwesens. Dabei kann es sich nicht um einen Ort handeln, zu dem die betroffene Person keine dauerhafte persönliche Beziehung hat. Das Zuständigkeitsgesetz kennt daher den fiktiven Wohnsitz im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 ZGB
nicht (vgl. Urteil 8C_223/2010 vom 5. Juli 2010 E. 3.1, in: Pra 2011 Nr. 38 S. 274; WERNER THOMET,
BGE 140 V 499 S. 503
Kommentar zum Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], 2. Aufl. 1994, N. 89, 144 und 153 zu
Art. 9 ZUG
; URSPRUNG/RIEDI, a.a.O., S. 241 und 242; siehe auch Botschaft vom 22. November 1989 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger, BBl 1990 I 49, 58 Ziff. 213).
4.3
Mithin steht fest, dass A. im Kanton Luzern keinen Unterstützungswohnsitz begründet hat. Dieser Kanton gilt vielmehr als Aufenthaltsort nach
Art. 15 ZUG
und der Kanton Schwyz ist als Heimatkanton für die Kosten der Unterstützung ersatzpflichtig (in diesem Sinne auch: THOMET, a.a.O., N. 202 zu
Art. 15 ZUG
).
5.
Der Kanton Schwyz wendet weiter ein, die zuständigen Behörden im Kanton Luzern hätten A. zu Unrecht in einem Alters- und Pflegeheim untergebracht. A. habe nach den Bestimmungen des IFEG Anspruch auf eine Platzierung in einer nach
Art. 4 und 5 IFEG
anerkannten Behinderteninstitution. Gemäss
Art. 7 IFEG
dürften keiner Person infolge Aufenthalts in einer solchen Institution Sozialhilfekosten erwachsen.
5.1
Gemäss
Art. 15 ZUG
hat der Heimatkanton dem Aufenthaltskanton die Unterstützungskosten zu erstatten. Gegenstand der Ersatzpflicht sind demnach nur Unterstützungen. Laut
Art. 3 ZUG
handelt es sich dabei um Geld- und Naturalleistungen des Gemeinwesens, welche nach kantonalem Recht an Bedürftige ausgerichtet und nach den Bedürfnissen berechnet werden. Gemeint sind in erster Linie Sozialhilfeleistungen von Kanton und Gemeinden (THOMET, a.a.O., N. 74 zu
Art. 3 ZUG
). Nicht unter solche Leistungen fallen die Kosten für den Aufenthalt in einer nach dem IFEG anerkannten Institution. Diese Kosten dürfen die Kantone nicht aus Mitteln der Sozialhilfe bestreiten (vgl.
Art. 7 IFEG
; Botschaft vom 7. September 2005 zur Ausführungsgesetzgebung zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen [NFA; nachfolgend: Botschaft NFA], BBl 2005 6029, 6208 Ziff. 2.9.4.4). Sie haben dies mittels Subventionen an die entsprechenden Institutionen oder mit direkten Unterstützungsbeiträgen, etwa als Ergänzungsleistungen, zu tun. Stellen die hier in Rechnung gestellten Unterstützungs- und Pflegevergütungen Kosten im Sinne von
Art. 7 IFEG
dar, handelt es sich demnach nicht um Unterstützungen, welche der Kanton als Heimatkanton nach
Art. 15 ZUG
zu übernehmen hätte.
BGE 140 V 499 S. 504
5.2
Der Beschwerdegegner macht hiezu vorerst geltend, er sei, da A. im Kanton Luzern keinen Wohnsitz habe, auch nicht für die Unterbringung nach IFEG zuständig. Schon deshalb könne es bei den in Rechnung gestellten Kosten nicht um solche nach IFEG gehen.
Der Einwand verfängt nicht. A. hat zwar keinen Unterstützungswohnsitz im Kanton Luzern begründet, da
Art. 24 Abs. 2 ZGB
in diesem Zusammenhang keine Anwendung findet (E. 4.2.2 hievor). Indessen ist im Regelungsbereich des IFEG nicht der Unterstützungswohnsitz nach dem Zuständigkeitsgesetz, sondern der zivilrechtliche Wohnsitzbegriff massgebend (vgl. Botschaft NFA, a.a.O., 6205 Ziff. 2.9.4.4). Das bedarfsgerechte Angebot an geeigneten Plätzen, welches der Wohnkanton zur Verfügung zu stellen hat, soll für alle Kantonsbewohner gelten und nicht von einem Unterstützungswohnsitz abhängen. Deshalb bleibt die subsidiäre Bestimmung von
Art. 24 Abs. 2 ZGB
anwendbar.
5.3
A. hat sich nun aber unbestrittenermassen nicht in einer nach Art. 4 f. IFEG anerkannten Institution aufgehalten. Bei den für die Unterbringung im Alters- und Pflegeheim B. entstandenen Kosten handelt es sich demnach grundsätzlich um Unterstützungen nach kantonalem Recht im Sinne von
Art. 3 ZUG
und nicht um solche, welche durch eine Spezialsubventionierung oder ähnliche Mittel zu finanzieren wären.
Dagegen wendet der Kanton Schwyz ein, der Kanton Luzern wäre zu einer Unterbringung des Betroffenen in einer anerkannten Institution verpflichtet gewesen. Hätte er diese bundesrechtliche Verpflichtung befolgt, wären keine Unterstützungskosten im Sinne des Zuständigkeitsgesetzes angewachsen.
5.3.1
Gemäss
Art. 2 IFEG
gewährleistet jeder Kanton, dass invaliden Personen, die Wohnsitz in seinem Kanton haben, ein Angebot an Institutionen zur Verfügung steht, das ihren Bedürfnissen in angemessener Weise entspricht. Ein "angemessenes" Angebot bedeutet zum einen, dass der Kanton den Bedarf nicht rein quantitativ ermitteln darf, sondern u.a. auch der Vielfalt der Behinderungen Rechnung tragen muss. Zum andern sollen die Kosten für die öffentliche Hand und der Nutzen für die invaliden Personen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Botschaft NFA, a.a.O., 6205 Ziff. 2.9.4.4). Die Kantone beteiligen sich so weit an den Kosten des Aufenthaltes in einer anerkannten Institution, dass keine invalide Person wegen dieses Aufenthaltes Sozialhilfe
BGE 140 V 499 S. 505
benötigt (
Art. 7 Abs. 1 IFEG
). Findet eine invalide Person keinen Platz in einer von ihrem Wohnsitzkanton anerkannten, geeigneten Institution, so hat sie Anspruch darauf, dass der Kanton sich an den Kosten für einen Aufenthalt in einer anderen Institution beteiligt, welche die Anforderungen erfüllt, zum Beispiel in einer von einem anderen Kanton anerkannten oder in einer nicht anerkannten Institution (vgl.
Art. 7 Abs. 2 IFEG
; Botschaft NFA, a.a.O., 6208 Ziff. 2.9.4.4). Der Wohnsitzkanton wird jedoch nur dann leistungspflichtig, wenn der Antrag gerechtfertigt ist, namentlich dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspricht. Verweigert die kantonale Behörde die Unterstützung, kann die invalide Person diesen Entscheid bis vor Bundesgericht anfechten (vgl. Botschaft NFA, a.a.O., 6208 Ziff. 2.9.4.4).
5.3.2
Aus dem Gesagten erhellt einerseits, dass die Kantone für ein ausgewogenes, genügendes Angebot an Plätzen für invalide Personen zu sorgen haben. Diese müssen die speziellen Voraussetzungen für die Anerkennung erfüllen (
Art. 5 IFEG
). Ist eine Unterbringung innerhalb des Wohnsitzkantons nicht möglich, ist sie ausserhalb zu gewährleisten.
Anderseits ergibt sich aus der gesetzlichen Regelung, dass der Anspruch auf eine angemessene Unterbringung der invaliden Person zukommt. Diese hat ihn geltend zu machen. Zwar richtet sich die Verpflichtung für ein angemessenes Angebot im Sinne von
Art. 2 IFEG
an den Kanton. Dieser hat ein Konzept zur Förderung der Eingliederung zu erstellen und dieses bei der erstmaligen Erstellung dem Bundesrat zur Genehmigung vorzulegen (
Art. 10 IFEG
). Das ändert indessen nichts daran, dass der Rechtsanspruch auf einen Platz in einer anerkannten Institution der invaliden Person zusteht. Demnach war der Kanton Luzern in casu ohne entsprechendes Gesuch des A. nicht verpflichtet, diesen in einer anerkannten Institution unterzubringen. Es kann daher offenbleiben, ob er genügend unternommen hat, um eine solche Unterbringung innert nützlicher Frist zu realisieren, und wie es sich verhielte, wenn A. ein entsprechendes Gesuch gestellt hätte. Die aus dem Aufenthalt im Alters- und Pflegeheim B. entstandenen Kosten durften demnach ohne Verletzung von Bundesrecht als Unterstützungskosten im Sinne von
Art. 3 ZUG
an den Heimatkanton weiterverrechnet werden (
Art. 15 ZUG
). Das führt zur Abweisung der Beschwerde. | de |
3ac45b5e-b4b2-4f81-a3c8-70505544ee43 | Erwägungen
ab Seite 120
BGE 115 II 120 S. 120
Aus den Erwägungen:
4.
In der Berufung wird geltend gemacht, dass die Bejahung der Wohnsitzbegründung der Klägerin in W. durch die Vorinstanz
BGE 115 II 120 S. 121
mit den Grundsätzen nicht vereinbar sei, die das Bundesgericht in
BGE 97 II 1
ff. im Hinblick auf den Scheidungsgerichtsstand des
Art. 144 ZGB
aufgestellt habe und die auch noch seit dem Inkrafttreten des neuen Eherechts Gültigkeit hätten.
a) Die Vorinstanz hat mit Recht darauf hingewiesen, dass
BGE 97 II 1
ff. unter dem alten Eherecht ergangen ist, während dessen Gültigkeitsdauer die Ehefrau nicht über einen selbständigen, sondern bloss über einen vom Ehemann abgeleiteten Wohnsitz verfügte (Art. 25 aZGB). Dieser Umstand bildete denn auch einen der Gründe, weshalb das Bundesgericht es nicht leichthin anerkennen wollte, dass ein Ehemann den Wohnsitz am Orte, wo er mit seiner Familie gelebt hatte, aufgegeben und anderswo einen neuen Wohnsitz begründet habe (so
BGE 97 II 4
f.). Nachdem die Ehefrau seit dem Inkrafttreten des neuen Eherechts in gleicher Weise wie der Mann zur Begründung eines selbständigen Wohnsitzes berechtigt ist, besteht unter diesem Gesichtspunkt kein Grund mehr, bei der Beurteilung der Wohnsitzfrage im Interesse der Frau besondere Zurückhaltung zu üben. Wo sich der Wohnsitz eines Ehegatten befindet, beurteilt sich heute vielmehr ausschliesslich nach
Art. 23 ff. ZGB
und nicht nach dem Ort der ehelichen Wohnung, wenn auch einzuräumen ist, dass sich der Lebensmittelpunkt beider Ehegatten im Normalfall nach wie vor dort lokalisieren lässt (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Kommentar zum Eherecht, N. 6 zu Art. 25/162 ZGB). Das andere in
BGE 97 II 4
f. angeführte Argument zugunsten der Fixierung des Scheidungsgerichtsstandes des
Art. 144 ZGB
am Ort des gemeinsamen ehelichen Wohnsitzes ist mit der Eherechtsrevision allerdings nicht weggefallen: Der letzte gemeinsame eheliche Wohnsitz würde aus Gründen der Zweckmässigkeit eigentlich den natürlichen Gerichtsstand für die Scheidungsklage bilden. Diesem Gesichtspunkt kann indessen nur in dem Sinne weiterhin massgebende Bedeutung zukommen, als der Wille eines Ehegatten, den gemeinsamen ehelichen Wohnsitz zu verlassen und einen eigenen, neuen Wohnsitz zu begründen, sich deutlich manifestiert haben muss. In Zweifelsfällen wird daher in der Regel nach wie vor als Wohnsitz des klagenden Ehegatten im Sinne von
Art. 144 ZGB
der bisherige gemeinsame eheliche Wohnsitz zu betrachten sein.
b) Nicht beigepflichtet werden kann der in der Berufung vertretenen Auffassung, es müssten ganz ausserordentliche Umstände vorliegen, wenn bei einem gemeinsamen ehelichen Wohnsitz, der wie hier insgesamt 33 Jahre gedauert und sich während der letzten
BGE 115 II 120 S. 122
Jahre stets in U. befunden habe, angenommen werden könne, dass ein Ehegatte nach einer faktischen Trennung von nur 35 Tagen einen eigenen Wohnsitz begründet habe. Die Vermutung, dass sich der Wohnsitz eines Ehegatten am Ort der gemeinsamen ehelichen Wohnung befinde, beruht in erheblichem Masse auf der grossen Bedeutung, die der ehelichen Lebensgemeinschaft bei der Wohnsitzbestimmung zukommt. Ist jedoch davon auszugehen, ein Ehegatte habe den festen Willen, diese Lebensgemeinschaft aufzugeben und die eheliche Wohnung endgültig zu verlassen, kann es bei der Prüfung der Frage, wo sich der Lebensmittelpunkt dieses Ehegatten befinde, nicht mehr darauf ankommen, dass die Ehegatten lange Zeit gemeinsam am gleichen Ort gewohnt haben. Ein solcher Fall liegt aufgrund der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hier vor. Bereits während der etwa ein halbes Jahr lang dauernden ehelichen Streitigkeiten hat die Klägerin bei jedem Streit die Möglichkeit eines endgültigen Bruches erwogen und diesen dann am 13. Juni 1988 vollzogen. In dieser Situation hat sie sich zu ihrer alleinstehenden Schwester in W. begeben, die bereit war, sie nötigenfalls für dauernd aufzunehmen, wobei noch andere menschliche Beziehungen sie mit dem neuen Aufenthaltsort verbanden. Unter diesen Umständen kann der Vorinstanz keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn sie dem bisherigen ehelichen Wohnort bei der Beurteilung des Wohnsitzes der Klägerin keine Bedeutung mehr beimass.
c) Richtig ist, dass bei der für die Bestimmung des Wohnsitzes entscheidenden Frage, wo sich der Mittel- oder Schwerpunkt der Lebensbeziehungen einer Person befinde, nicht einfach auf deren inneren Willen abzustellen ist, sondern auf die objektiv erkennbaren äusseren Umstände, aus denen auf die Absicht dauernden Verbleibens geschlossen werden kann (
BGE 97 II 3
/4 mit Hinweisen; PEDRAZZINI/OBERHOLZER, Grundriss des Personenrechts, 2. Aufl., S. 103). Entgegen der in der Berufung vertretenen Meinung kann jedoch nicht gesagt werden, die Vorinstanz habe dies verkannt. Sie durfte aus dem ersten Aufenthalt der Klägerin bei ihrer Schwester in W. im Herbst 1987 auf eine gewisse Brüchigkeit des Ehebandes schliessen und ihrem Auszug aus der ehelichen Wohnung vom 13. Juni 1988 einen endgültigen Charakter beimessen. Für die Bestimmung des Lebensmittelpunktes der Klägerin nach dem Verlassen der ehelichen Wohnung in U. durfte die Vorinstanz neben der Aufenthaltnahme in W. den verschiedenen Beziehungen der Klägerin zu diesem Ort und insbesondere zu ihrer
BGE 115 II 120 S. 123
dort als alleinstehende Witwe lebenden Lieblingsschwester erhebliches Gewicht beimessen. Noch vor der Einreichung der Scheidungsklage beim Bezirksgericht hat die Klägerin sodann erste Schritte unternommen, sich bei der Gemeindeverwaltung in W. anzumelden; dass die definitive Anmeldung erst später erfolgen konnte, beruhte auf von ihrem Willen unabhängigen Gründen. Wenn einer solchen Anmeldung bei der Wohnsitzbestimmung auch kein sehr grosses Gewicht zukommt, so handelt es sich doch um ein objektiv feststellbares Indiz für die Absicht der Klägerin, in W. zu bleiben. Hiefür spricht auch, dass sie in der Folge eine eigene Wohnung in W. suchte, wobei dieser Umstand allerdings, wie in der Berufung zutreffend eingewendet wird, erst nach dem massgebenden Stichtag eintrat. Dass die Klägerin ihre Kleider erst anfangs September 1988 aus der früheren ehelichen Wohnung in U. holte, wurde von der Vorinstanz in durchaus vertretbarer Weise nicht stark gewichtet, nachdem der Trennung der Parteien Streitigkeiten vorausgegangen waren. Jedenfalls kann bei der Würdigung aller Umstände nicht gesagt werden, die Vorinstanz habe das ihr bei der Abwägung der einzelnen Faktoren zustehende Ermessen in einer gegen Bundesrecht verstossenden Weise verletzt. | de |
ba919199-70d9-4070-9c2b-dd6f30e41dcd | Sachverhalt
ab Seite 98
BGE 120 III 97 S. 98
A.-
Im Konkurs über Herbert K. als Inhaber der gleichlautenden, im Handelsregister eingetragenen Einzelfirma setzte die Gläubigerversammlung am 22. Januar 1993 die I. Treuhand AG, als ausseramtliche Konkursverwaltung ein.
B.-
Nachdem die X und die Y Bank als Gläubigerinnen in einer gegen die I. Treuhand AG eingereichten Beschwerde deren Absetzung als Konkursverwalterin beantragt hatten, verlangten sie mit Eingabe vom 7. Dezember 1993 von der Aufsichtsbehörde, "schon jetzt von Amtes wegen tätig zu werden, die ausseramtliche Konkursverwaltung zu einer Zwischenabrechnung betreffend Honorare aufzufordern ... und die Angemessenheit der bis heute aufgelaufenen Honorarforderungen zu überprüfen". Auf Grund einer entsprechenden Auflage der Aufsichtsbehörde
BGE 120 III 97 S. 99
stellte die I. Treuhand AG als Konkursverwalterin den Antrag, die bis zum 31. März 1994 aufgelaufenen Gebühren auf Fr. 162'855.75 festzusetzen und im Sinne von
Art. 270 Abs. 2 SchKG
die Frist zur Durchführung des Konkurses bis Ende 1994 zu verlängern.
Während die Fristverlängerung von der Aufsichtsbehörde des Kantons Schaffhausen über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen mit Entscheid vom 8. Juli 1994 gewährt wurde, wies diese den Antrag um Festsetzung der Gebühr in der genannten Höhe ab, setzte die einzelnen Stundenansätze fest und lud die I. Treuhand AG als Konkursverwalterin ein, nach den von der Aufsichtsbehörde festgesetzten Ansätzen und Weisungen eine neue Abrechnung zu erstellen und diese der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung zu unterbreiten.
C.-
Die I. Treuhand AG gelangt mit Rekurs an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts und verlangt, neben der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses die Festsetzung der Gebühr nach den von ihr beantragten Stundenansätzen, allenfalls die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz.
Die Aufsichtsbehörde des Kantons Schaffhausen über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen verzichtet mit Hinweis auf den angefochtenen Entscheid auf Gegenbemerkungen. Weitere Vernehmlassungen sind nicht eingeholt worden.
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts weist den Rekurs ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Rekurrentin erachtet es als willkürlich, dass die Vorinstanz bei der Tarifierung der Arbeiten der ausserordentlichen Konkursverwaltung nicht von den von ihr beantragten Stundenansätzen ausgegangen ist. Es handle sich um einen rechtlich anspruchsvollen Fall und die sehr allgemein gehaltenen Ausführungen, mit denen die Vorinstanz eine Reduktion gegenüber den Ansätzen der Treuhand-Kammer rechtfertige, widerspreche einer pflichtgemässen Ausübung des Ermessens.
In den Art. 47 ff. GebVSchKG (SR 281.35) werden die Gebühren im Konkursverfahren geregelt. Dabei sehen die Art. 47 bis 49 GebVSchKG feste Ansätze für die einzelnen Verrichtungen vor. Diese Ansätze gelten sowohl für die amtliche wie auch für die ausseramtliche Konkursverwaltung (Art. 46a GebVSchKG). Bei umfangreichen Verfahren, die überdies
BGE 120 III 97 S. 100
aufwendige Abklärungen des Sachverhaltes oder von Rechtsfragen erfordern, kann die Aufsichtsbehörde höhere Gebühren bewilligen (Art. 49a GebVSchKG). Nach Art. 49a Abs. 2 GebVSchKG berücksichtigt die Aufsichtsbehörde in diesen Verfahren für die Entschädigung der ausseramtlichen Konkursverwaltung den Zeitaufwand, den Wert der Interessen und die ausgewiesenen Auslagen. Dabei kommt ihr ein grosses Ermessen zu (
BGE 108 III 69
;
BGE 114 III 44
). Das Bundesgericht greift nur ein, wenn die Vorinstanz ihr Ermessen überschritten hat, namentlich wenn sie sachwidrige Gesichtspunkte berücksichtigt oder sachgemässe unberücksichtigt gelassen hat. Dabei ist auch der soziale Charakter der Gebührenverordnung zu beachten (
BGE 108 III 69
).
Während mit Bezug auf das Entgelt des Kommissärs im Bankenstundungsverfahren die Ansätze des Tarifs der Eidgenössischen Bankenkommission für die Kosten der Revision von Banken und Anlagefonds ausdrücklich als Richtlinie dienen sollen (Art. 64 Abs. 2 GebVSchKG), hat der Tarif der Treuhand-Kammer keinerlei Erwähnung in der Gebührenverordnung von 1971 gefunden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann bei der Festsetzung der Entschädigung der Gebührentarif der Treuhand-Kammer zwar berücksichtigt werden, die Aufsichtsbehörde ist aber an diesen Gebührentarif keineswegs gebunden (
BGE 114 III 45
f.).
Ein Abweichen von den Ansätzen der Treuhand-Kammer rechtfertigt sich schon vom systematischen Zusammenhang her, in welchem Art. 49a Abs. 2 GebVSchKG steht. Er berechtigt die Aufsichtsbehörde nur, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Verfahren besonders anspruchsvoll ist und deshalb eine höhere als die übliche Entschädigung festzusetzen. Diese Entschädigung muss aber in einem vernünftigen Verhältnis zu den in der Gebührenverordnung für die einfacheren Verfahren festgesetzten Entschädigungen stehen. Zudem ist zu beachten, dass auch in einem anspruchsvollen Verfahren nicht alle Arbeiten anspruchsvoll sind. Mit dem Argument, es seien besondere Kenntnisse nötig, lassen sich nicht bei allen Verrichtungen, wie beispielsweise den Sekretariatsarbeiten, höhere Ansätze rechtfertigen. Hier lässt sich eine Erhöhung höchstens mit einer Mischrechnung vertreten. Dies setzt aber voraus, dass bei den anspruchsvollen Arbeiten nicht der in anderen Bereichen für die entsprechenden Arbeiten marktübliche Ansatz verrechnet wird.
3.
a) Die Aufsichtsbehörde hat für die Arbeit der Rechtsanwälte einen Stundenansatz von Fr. 200.-- zugelassen. Die Rekurrentin fordert Fr. 250.--. Letzteres ist - nach den Feststellungen der Vorinstanz - der höchste nach
BGE 120 III 97 S. 101
Honorarordnung der Schaffhauser Anwaltskammer zulässige Stundenansatz, wobei allerdings noch gewisse Streitwertzuschläge zulässig sind. Vom sozialen Zweck des Gebührentarifs her rechtfertigt es sich zweifellos, unter den maximal zulässigen Ansatz zu gehen. Die Vorinstanz verweist diesbezüglich auf die Ansätze die einem amtlichen Verteidiger im Kanton Schaffhausen zustehen (Fr. 140.-- pro Stunde). Mit Blick auf diese Überlegungen, die der Gebührenverordnung zu Grunde liegen, liesse es sich ohne weiteres rechtfertigen, die anwaltliche Tätigkeit im Rahmen der ausserordentlichen Konkursverwaltung gleich zu entschädigen wie die amtliche Verteidigung.
Wohl hält die Vorinstanz selber fest, dass die Auffassung der Gläubiger, es seien "mannigfach reine Routinearbeiten zum Volltarif verrechnet" worden, nicht zutreffe. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, es habe sich ausschliesslich um anspruchsvolle Anwaltstätigkeit gehandelt. Zwischen reiner Routine und anspruchsvoller Anwaltstätigkeit gibt es auch noch die gewöhnlichen anwaltlichen Aufgaben.
Ein Stundenansatz von Fr. 200.-- kann deshalb nicht als zu niedrig angesehen werden.
b) Von daher lässt sich auch der Ansatz für die juristischen Mitarbeiter von Fr. 160.-- pro Stunde nicht beanstanden.
c) Für die Funktion des Architekten und des Immobilientreuhänders liess die Vorinstanz einen Stundenansatz von Fr. 130.--, für die blosse Verwaltungstätigkeit von Fr. 110.-- zu. Die Rekurrentin will Fr. 170.-- bzw. Fr. 150.--. Art. 47 GebVSchKG ist zu entnehmen, dass bei nicht anspruchsvollen Verfahren der Stundenansatz für diese Tätigkeit zum Teil nur Fr. 60.-- beträgt. Die von der Vorinstanz zugestandene Erhöhung gegenüber diesem Tarif erscheint von daher als angemessen, ohne dass dies einer weiteren Begründung bedürfte.
d) Die Sekretariatsarbeiten lässt die Vorinstanz schliesslich mit Fr. 50.-- pro Stunde verrechnen. Die Rekurrentin verlangt Fr. 80.--. Dass die Sekretariatsarbeiten im vorliegenden Verfahren besonders anspruchsvoll seien, z.B. Fremdsprachenkenntnisse verlange, ist in keiner Weise dargetan. Mit Blick auf den Tarif in nicht anspruchsvollen Verfahren, lässt sich somit auch dieser Ansatz ohne weiteres rechtfertigen. Er liegt wohl noch deutlich über den nach Art. 47 bis 49 GebVSchKG verrechenbaren Beträgen. | de |
3bbb1453-15e4-4d7f-b97c-0f8a012e8034 | Sachverhalt
ab Seite 476
BGE 108 II 475 S. 476
A.-
Die Generaldirektion PTT lässt durch ihren Pressedienst wöchentlich Zeitungsartikel, die sich mit Anliegen von Post, Telefon, Telegraf, Radio oder Fernsehen befassen, unter dem Titel "ptt-intern" zusammenstellen. Auch vom Verfasser gezeichnete Originalbeiträge werden darin aufgenommen. Die Schrift wird auf einem handelsüblichen Kopiergerät in 530 Exemplaren angefertigt und den Chefbeamten der Generaldirektion, den Kreisdirektoren sowie den Mitgliedern des PTT-Verwaltungsrates, der konsultativen PTT-Konferenz und den parlamentarischen Geschäftsprüfungskommissionen abgegeben; sie kann nicht abonniert werden.
Die Nummer vom 25. März 1981 enthielt u.a. einen am Vortag in der NZZ erschienenen Originalbeitrag von Dr. Uchtenhagen, Direktor der SUISA, der sich darin unter der Überschrift "Das Urheberrecht im Kreuzfeuer der Medien" zu aktuellen Fragen des Kabelfernsehens äusserte. Wiedergabe und Weiterverbreitung des Artikels mit vollem Wortlaut veranlassten die Genossenschaft PRO LITTERIS, deren Direktor ebenfalls Dr. Uchtenhagen ist, zum Einschreiten. Die seit 1975 bestehende PRO LITTERIS verwaltet Urheberrechte, die mit der Verbreitung literarischer Werke nichttheatralischer Art zusammenhängen. Ihre Tätigkeit stützt sich auf Verträge mit den Mitgliedern und auf Gegenseitigkeitsverträge mit ausländischen Verwertungsgesellschaften. Die Genossenschaft umfasste im September 1982 angeblich 354 Autoren sowie 20 Verleger, von denen jeder zahlreiche weitere Autoren vertreten soll.
B.-
Am 30. April 1981 klagte die PRO LITTERIS beim Bundesgericht gegen die Schweiz. Eidgenossenschaft (PTT-Betriebe) auf Feststellung, dass die Beklagte ganze Werke der von ihr vertretenen Urheber nur mit ihrer Erlaubnis für den PTT-Pressedienst kopieren darf.
Die Beklagte hielt die Klage zunächst mangels eines Feststellungsinteresses der Klägerin und wegen ungenügenden Streitwertes für unzulässig. Diese Einreden wurden mit Zwischenbeschluss vom 1. September 1981 verworfen, weil die Möglichkeit einer Leistungs- oder Unterlassungsklage ein Feststellungsinteresse
BGE 108 II 475 S. 477
nicht ausschliesse und nach den Tarifvorstellungen der Klägerin ein Streitwert von rund Fr. 40'000.-- anzunehmen sei.
Daraufhin beantragte die Beklagte, die Feststellungsklage ganz oder jedenfalls insoweit abzuweisen, als es nicht um Originalbeiträge von Autoren gehe, welche die Klägerin vertrete. In der Duplik bestritt sie zudem die Aktivlegitimation der Klägerin. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach Auffassung der Beklagten ist die Klägerin nicht aktivlegitimiert, weil sich weder aus den Statuten noch aus dem Mustervertrag ergebe, dass der Klägerin Reprographierechte (Wiedergabe durch Vervielfältigen oder Kopieren) übertragen worden seien.
a) Die Klägerin hält die erst in der Duplik erhobene Einrede fehlender Aktivlegitimation für verspätet, da ihre Sachdarstellung von der Beklagten in der Klageantwort stillschweigend anerkannt worden sei. Dazu komme, dass
Art. 19 Abs. 2 BZP
in weiteren Rechtsschriften nur noch Ergänzungen zulasse und ihr Feststellungsinteresse mit dem Zwischenbeschluss bejaht worden sei; ihr Klagerecht setze nicht voraus, dass sie selbst materiell am festzustellenden Rechtsverhältnis beteiligt sei.
Die Klägerin hat in der Klageschrift indes nicht behauptet, es seien ihr Reprographierechte abgetreten worden; im Stillschweigen der Beklagten kann deshalb keine Anerkennung liegen, die einer ergänzenden Bestreitung in der Duplik entgegenstünde. Dies ist daher auch insoweit zulässig, als es sich nicht ohnehin um eine Frage der Rechtsanwendung handelt (
BGE 107 II 85
). Gewiss können sodann auch Rechtsverhältnisse Dritter Gegenstand einer Feststellungsklage sein, wenn ein schutzwürdiges Interesse des Klägers gegeben ist (
BGE 93 II 16
mit Zitaten). Darauf kann die Klägerin sich jedoch nicht berufen. Sie verkennt, dass ihr Klagebegehren nicht auf Feststellung von Ansprüchen lautet, die von ihr vertretene Autoren gegen die Beklagte haben; es geht vielmehr dahin, dass Artikel solcher Autoren nur mit Erlaubnis der Klägerin in "ptt-intern" aufgenommen werden dürfen. Das setzt voraus, dass sie selbst Reprographierechte erworben hat und geltend machen kann.
b) Es fällt auf, dass die der Klägerin zur Wahrung abgetretenen Urheberrechte weder in deren Statuten noch in den Verträgen mit den Mitgliedern umfassend umschrieben, sondern einzeln aufgezählt
BGE 108 II 475 S. 478
werden, wobei das Reprographierecht nicht erwähnt wird. Die gesetzliche Vermutung des
Art. 9 Abs. 2 URG
spricht daher gegen die Übertragung weiterer Befugnisse. Die Klägerin macht geltend, die Lücke in den Verträgen sei teils einem redaktionellen Versehen, teils dem Umstand zuzuschreiben, dass der Mustervertrag angesichts der hängigen Gesetzesrevision von einem Vergütungsanspruch ausgehe, der ihr von den Mitgliedern abgetreten worden sei. Sie offeriert Beweis dafür, dass nach dem wirklichen Willen der Beteiligten stets auch die Reprographierechte übertragen worden seien. Wie es sich damit verhält, braucht indes nicht abgeklärt zu werden.
Im Falle Dr. Uchtenhagen, dessen Artikel Anlass zur Klage gegeben hat, ist nämlich bewiesen, dass der Klägerin auch die Reprographierechte abgetreten worden sind; das geschah offenbar auch in weiteren Einzelfällen. Mit dem Einwand angeblicher Befangenheit ist dagegen nicht aufzukommen. Die Beklagte irrt auch insofern, als sie seit der Rechtshängigkeit der Streitsache eingetretene Tatsachen nicht berücksichtigt wissen will; denn im Verfahren vor dem Bundesgericht folgt aus der Rechtshängigkeit nicht, dass der Sachverhalt auf den Zeitpunkt der Klageeinreichung festgelegt werde (
Art. 21 Abs. 3 BZP
). Es muss deshalb genügen, wenn die Aktivlegitimation der Klägerin im Zeitpunkt des Urteils gegeben ist (GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl. S. 377 Anm. 62/b).
Zu bedenken ist ferner, dass die Klägerin Statuten und Verträge im beanstandeten Punkt ändern und ergänzen will. Das entspricht zudem der Aufgabe, die ihr als Verwertungsgesellschaft zukommt und vom Bundesrat hinsichtlich der Weitersenderechte bereits anerkannt worden ist. Wie beim Kabelfernsehen können die Autoren ihre Rechte auch im Bereich der Reprographie praktisch nicht allein wahrnehmen. Das eine wie das andere darf im Rahmen einer Feststellungsklage mitberücksichtigt werden. Das gilt sinngemäss auch für die Gegenseitigkeitsverträge mit ausländischen Verwertungsgesellschaften, denen die Beklagte einstweilen eine entsprechende Berechtigung ebenfalls abspricht. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob die Geschäftsführung ohne Auftrag, die der Klägerin nach ihren Statuten im Interesse von Nichtmitgliedern obliegt, als Grundlage einer Feststellungsklage ausreichen würde oder ob das Klagerecht sich diesfalls erst aus einem staatlichen Verwertungsauftrag ergäbe.
c) Die Klägerin ist daher zur Klage legitimiert. Ihr Rechtsbegehren
BGE 108 II 475 S. 479
kann sich aber zum vorneherein nur auf Werke von Autoren beziehen, die ihr tatsächlich auch die Reprographierechte abgetreten haben.
2.
Gemäss
Art. 25 URG
dürfen in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlichte Werke der Literatur, Wissenschaft oder Kunst grundsätzlich ohne Rücksicht auf ihren Gegenstand nur mit Zustimmung des Urhebers wiedergegeben werden (Abs. 1). Ausgenommen ist insbesondere die Wiedergabe von Artikeln über Tagesfragen wirtschaftlicher, politischer oder religiöser Natur in der Presse, wenn die Wiedergabe nicht ausdrücklich vorbehalten worden ist oder die Artikel nicht ausdrücklich als Originalbeiträge oder Originalberichte bezeichnet worden sind (Abs. 2). Erlaubt sind ferner kurze Zitate aus Zeitungs- oder Zeitschriftenartikeln, auch in Form von Presseübersichten (Abs. 3).
Im vorliegenden Fall geht es nicht um blosse Zitate im Sinne der zweiten Ausnahme, da nach dem Wortlaut des Feststellungsbegehrens nur die Wiedergabe "ganzer Werke" von einer Erlaubnis abhängig gemacht werden soll. Die Beklagte beruft sich hingegen auf die erste Ausnahmebestimmung; denn sie beantragt, das Feststellungsbegehren sei jedenfalls insoweit abzuweisen, als es sich nicht um Artikel mit ausdrücklich vorbehaltenem Wiedergaberecht handelt. Indem die Klägerin einen Originalartikel von Dr. Uchtenhagen zum Anlass ihrer Klage nahm, erweckte sie vorerst den Eindruck, sie wolle der Beklagten die Berufung auf diese Bestimmung zugestehen. Ihr Klagebegehren ging indes von Anfang an darüber hinaus, und sie machte in der Folge auch klar, dass sie eine Anwendung der Bestimmung auf "ptt-intern" ablehnt.
Die Wiedergabe von Zeitungsartikeln "in andern Zeitungen" war schon nach
Art. 25 Abs. 1 aURG
unter ähnlichen Vorbehalten erlaubt. In der parlamentarischen Beratung über die Fassung von 1922 machte Berichterstatter Wettstein ausdrücklich auf diese Beschränkung erlaubten Nachdrucks aufmerksam (Sten.Bull. 1920 StR S. 409/10). Anlässlich der Revision von 1955 wurde das Sonderrecht für die Zeitungen auf Zeitschriftenartikel ausgedehnt; es sollte gemäss Art. 9 Abs. 2 der revidierten Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst (RBÜ) vom 26. Januar 1948 aber weiterhin nur "zugunsten der Presse" bestehen (vgl. Botschaft zur Novelle, BBl 1954 II S. 658). Der geltende
Art. 25 Abs. 2 URG
erlaubt übereinstimmend damit, vom Nachdruckverbot ausgenommene Artikel "in der Presse wiederzugeben"
BGE 108 II 475 S. 480
(reproduire par la presse, riprodurre mediante la stampa).
Mit dieser Regelung sollten national wie international kleinere Blätter die Möglichkeit erhalten, Artikel aus grösseren Zeitungen im Interesse der öffentlichen Meinungsbildung zu übernehmen (TROLLER, Immaterialgüterrecht II S. 804; LUDWIG, Schweizerisches Presserecht, S. 213; LUTZ, Die Schranken des Urheberrechts im schweizerischen Recht, Diss. Zürich 1964, S. 9). Diese Rechtfertigung trifft auf eine innerbetriebliche Dokumentationshilfe wie "ptt-intern" nicht zu. Es handelt sich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht einmal um eine sogenannte Hauszeitung, weil sie keine eigenen Artikel enthält; eine solche fiele übrigens nach dem gesetzgeberischen Motiv ebenfalls nicht unter die Ausnahmebestimmung. Fehl geht auch der Einwand, dass es widersinnig wäre, einem Dritten gegen Bezahlung die Herausgabe einer Presseübersicht zu gestatten, nicht aber dem PTT-Pressedienst, der keinen Gewinnzweck verfolge. Sollte die Beklagte dabei an Unternehmen wie "Argus der Presse" denken, so übersieht sie, dass die Weiterleitung von Zeitungsausschnitten keine Wiedergabe im Sinne von
Art. 25 Abs. 2 URG
bedeutet.
Die Beklagte kann sich somit nicht auf das Sonderrecht zugunsten der Presse berufen. Ihr Einwand, dass zwischen Originalbeiträgen und andern Artikeln zu unterscheiden sei, ist daher gegenstandslos.
3.
Nach
Art. 22 URG
ist, vom Bereich der Baukunst abgesehen, die Wiedergabe eines Werkes zulässig, wenn sie ausschliesslich zu eigenem, privatem Gebrauch und zudem nicht zu Gewinnzwecken erfolgt. Die Bestimmung stützt sich nicht auf die RBÜ, sondern ist bereits 1922 ins Gesetz eingefügt und seither unverändert beibehalten worden. Die Beklagte hält ihre Voraussetzungen im vorliegenden Fall für erfüllt, weil "ptt-intern" sich nicht an die Öffentlichkeit wende und keine Gewinnzwecke verfolge; ein Privatgebrauch müsse auch zugunsten von juristischen Personen und grösseren Betrieben anerkannt werden. Die Klägerin ist dagegen der Auffassung, dass es sich um eine gewerbliche Wiedergabe mit Gewinnzwecken handle, weshalb
Art. 22 URG
nicht anwendbar sei.
a) Mit der Beklagten ist davon auszugehen, dass "ptt-intern" für den Eigengebrauch bestimmt ist; dies lässt sich ohne Bedenken selbst für die Abgabe der Zeitschrift an die Mitglieder der konsultativen PTT-Konferenz und der parlamentarischen
BGE 108 II 475 S. 481
Geschäftsprüfungskommissionen sagen, obschon diese nicht den PTT-Betrieben angehören. Dass
Art. 22 URG
sich nach seiner Entstehungsgeschichte nur auf den Gebrauch dessen bezieht, der die Wiedergabe des Werkes vornimmt, wie die Klägerin unter Hinweis auf Gesetzesmaterialien darzutun versucht, und dass sich dafür auch die romanischen Gesetzestexte (usage ... de celui qui y procède; uso ... di chi la compie) anführen lassen, rechtfertigt jedenfalls aus heutiger Sicht eine derart einschränkende Auslegung nicht; sie wäre mit einem vernünftigen Sinn und Zweck des Gesetzes schon angesichts der einfachen und billigen Vervielfältigungsmethoden, welche die Technik inzwischen geschaffen hat, nicht zu vereinbaren (vgl.
BGE 83 I 178
mit Hinweisen; LUTZ, S. 230/31 und 235). Nach
Art. 22 URG
muss es sich indes nicht nur um einen eigenen, sondern auch um einen privaten Gebrauch handeln; das erhellt aus den romanischen Texten (usage personnel et privé; uso personale e privato) noch deutlicher als aus dem deutschen.
Der Begriff des privaten Gebrauchs ist umstritten (TROLLER, II S. 793 ff.; LUTZ, S. 208 ff.). Entgegen der Auffassung der Beklagten geht es nicht an, ihn mit Hilfe von Definitionen der Öffentlichkeit für Radio- und Fernsehkonzessionen, für das Weitersendungsrecht (
BGE 107 II 71
und 81/82) oder gar im Strassenverkehrsrecht (
BGE 92 IV 11
) abgrenzen zu wollen. Der private Gebrauch ist hier nicht als Gegensatz zu einem öffentlichen zu verstehen; näher liegt, ihn der gewerblichen oder beruflichen Verwendung gegenüberzustellen (TROLLER, II S. 795; ders. in Rechtsgutachten über die Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werke ... durch Mikrofilme und Photokopien, 1954, S. 23 ff.; LUTZ, S. 223 und 236).
Das heisst nicht, ein privater Gebrauch sei im Rahmen einer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zum vorneherein ausgeschlossen und, wie TROLLER (Gutachten S. 16 und 23) und LUTZ (S. 236) annehmen, bei juristischen Personen überhaupt nicht denkbar; andernfalls bleibt man beim Wortlaut der Bestimmung stehen. Bei ihrer Auslegung nach dem Sinn und Zweck sowie nach den Wertungen, auf denen unter den heutigen Verhältnissen die Geltung der Norm beruht (
BGE 105 Ib 53
E. 3a mit Hinweisen), ergeben sich selbst zugunsten juristischer Personen, freier Berufe und des Gemeinwesens erlaubte Verwendungen. So ist nicht zu beanstanden, dass z.B. Anwälte und juristische Sachbearbeiter einer Gesellschaft oder einer Behörde einschlägige Seiten eines Kommentars kopieren lassen, statt das Buch beizulegen, um sich
BGE 108 II 475 S. 482
und andern die Arbeit in einem bestimmten Einzelfall zu erleichtern. Solche Fälle vertragen sich durchaus mit dem Grundgedanken der Bestimmung. Das leuchtet namentlich dann ein, wenn das Erfordernis des eigenen und privaten Gebrauchs nicht für sich allein, sondern zusammen mit der negativen Voraussetzung des
Art. 22 URG
, wonach mit dem Gebrauch kein Gewinnzweck verfolgt werden darf, ausgelegt wird.
b) Diese Voraussetzung eignet sich am besten zur Abgrenzung, auch wenn dabei nicht übersehen werden darf, dass sie kumulativ mit den beiden andern gegeben sein muss. Wer mit Kopien einzelner Seiten eines Werkes bloss Zeit gewinnen oder sich oder anderen die Arbeit im Sinne der angeführten Beispiele erleichtern will, ist nicht auf geldwerte Vorteile, geschweige denn auf einen verpönten Gewinn bedacht. Mit Gewinnzweck handelt dagegen nicht nur, wer ein Werk wiedergibt oder gar vervielfältigt, um sich daraus Einnahmen zu verschaffen, sondern auch, wer durch das Kopieren oder Vervielfältigen die Kosten für die Anschaffung von Werkexemplaren einsparen will (TROLLER, Gutachten S. 10; LUTZ, S. 233). Der Beklagten hilft es daher nichts, dass sie "ptt-intern" kostenlos abgibt, wie dies für Eigengebrauch ohnehin typisch ist.
Immerhin rechtfertigt sich in der Anwendung dieses Grundsatzes eine gewisse Zurückhaltung, wobei die Umstände des Einzelfalles zu mitzuberücksichtigen sind. Auch ist dabei der Gewinnzweck nicht bloss auf den bescheidenen Vergütungsanspruch des Urhebers, sondern auf den Preis des Werkes zu beziehen. So liegt der Gewinnzweck auf der Hand, wenn ein Anwalt einen Kommentar entlehnt und für Selbstkosten von 60 Franken kopiert, statt ihn für 140 Franken selbst anzuschaffen. Ein Unternehmen sodann kann eine Zeitung oder einen Zeitungsausschnitt zwecks betriebsinterner Information ohne weitere Umtriebe zirkulieren lassen, wenn die Sache nicht eilt und nur für wenige Adressaten bestimmt ist; kopiert es statt dessen, so bedeutet das im Ernst keine Einsparung zusätzlicher Werkexemplare, folglich auch keinen geldwerten Vorteil. Handelt es sich dagegen wie vorliegend um über 500 Adressaten, so ist eine zulässige Information auf dem Zirkulationswege, wie die Klägerin mit Recht einwendet, praktisch und innert angemessener Zeit nur möglich, wenn die Zeitungen jeweils in einer Vielzahl von Exemplaren angeschafft werden. Dies hat der PTT-Pressedienst durch Vervielfältigung vermeiden wollen, weshalb sein Vorgehen neben dem Rationalisierungs- offensichtlich auch einem Gewinnzweck gedient hat.
BGE 108 II 475 S. 483
c) Auch wenn der Gewinnzweck darin zu sehen ist, dass der Kauf weiterer Werkexemplare vermieden wird, geht das im Ergebnis auf Kosten des Urhebers oder des Verlegers, der ihn vertritt. Gerade darin liegt nach der jüngeren Entwicklung der RBÜ das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung des zulässigen Privatgebrauchs von der dem Urheber vorbehaltenen Werkwiedergabe. Sowohl die Stockholmer Fassung vom 14. Juli 1967 (SR 0.231.14) wie die Pariser Fassung vom 24. Juli 1971, von denen erstere im massgebenden (materiellrechtlichen) Teil und letztere von der Schweiz überhaupt noch nicht ratifiziert worden ist, behalten dem Urheber im neuen Art. 9 Abs. 1 das ausschliessliche Recht zur Vervielfältigung seines Werks vor; sie überlassen es in Abs. 2 aber der nationalen Gesetzgebung, die Vervielfältigung in gewissen Sonderfällen zu gestatten, wenn dadurch weder die normale Auswertung des Werks beeinträchtigt noch die berechtigten Interessen des Urhebers unzumutbar verletzt werden (zu diesen Fassungen: SCHULZE, in UFITA 93/1982 S. 73 ff.; MASOUYE, in Droit d'auteur, 1982 S. 81 ff.; KOUMANTOS, ebendort 98/1978 S. 3 ff.; COLLOVA, ebendort 99/1979 S. 77 ff.). Die neuere internationale Entwicklung entspricht damit der Empfehlung TROLLERS von 1954 (Gutachten S. 11), für die Abgrenzung des privaten Gebrauchs die mechanische Vervielfältigung schon de lege lata insoweit zu tolerieren, als die Interessen des Urhebers damit nicht ernstlich gefährdet werden. Diese Gefahr droht dem Urheber aber gerade dann, wenn ein Betrieb wie hier die interne Information nur durch Ankauf einer grossen Zahl weiterer Werkexemplare erreichen könnte, würde er die Presseausschnitte nicht zu einer eigenen Schrift zusammenstellen und diese vervielfältigen lassen.
4.
Art. 22 URG
so verstehen, heisst nach Meinung der Beklagten, die Bestimmung anders als in der gesamten Privatwirtschaft, in der Bundesverwaltung, in den Kantonen und Gemeinden auslegen und sich über die heute massgebende Rechtsauffassung hinwegsetzen. Dem widerspricht die Klägerin zu Recht.
a) Was die Beklagte als allgemeine Rechtsauffassung gewürdigt wissen will, ist nur ein faktischer Zustand, der sich aus der rasanten Entwicklung der Technik ergeben hat, aber die Rechte der Urheber so wenig wie im Fall des Kabelfernsehens zu beseitigen vermag (
BGE 107 II 81
). Nach
Art. 12 Ziff. 1 URG
steht dem Urheber das ausschliessliche Recht auf Wiedergabe seines Werkes durch irgendwelche Verfahren zu, selbst durch solche, die bei Erlass des Gesetzes noch gar nicht bekannt gewesen sind (Sten.Bull.
BGE 108 II 475 S. 484
1922 NR S. 266; TROLLER, II S. 781; ders. Gutachten S. 8; TROLLER/TROLLER, Kurzlehrbuch S. 123; ULMER, Urheber- und Verlagsrecht, 1980 S. 230). Dass selbst die Urheber der technischen Entwicklung lange untätig zugesehen haben, kann ihnen nicht schaden, zumal eine Wahrung ihrer Rechte durch diese Entwicklung ausserordentlich erschwert worden ist.
Reprographierechte sind seit Jahren weltweit ein Hauptgegenstand urheberrechtlicher Erörterung (ULMER, a.a.O., S. 309). Von einer allgemeinen Rechtsauffassung, wonach die beliebige Vervielfältigung geschützter Rechte zur betriebsinternen Information gemeinfrei sei, kann dabei keine Rede sein. Deutschland hat das Problem in den §§ 53/54 des Urheberrechtsgesetzes von 1965 dahin gelöst, dass Vervielfältigung zur betriebsinternen Information nicht gemeinfreier Privatgebrauch ist, sondern unter den sonstigen Eigengebrauch fällt, wobei aber nur "einzelne Vervielfältigungsstücke eines Werkes" (offenbar 6-7) erstellt werden dürfen und bei Verfolgung gewerblicher Zwecke eine angemessene Vergütung zu zahlen ist (SCHULZE, Urheberrechtskommentar, insbes. zu § 54 Ziff. 4a; ULMER, a.a.O., S. 296 ff.; HUBMANN, Urheber- und Verlagsrecht, 1978 S. 157 ff.). Wie schwierig solche Abgrenzungen sind, erhellt aus der seitherigen Auseinandersetzung in Deutschland und weiteren Revisionsbemühungen (vgl. die Streitgutachten in UFITA 84/1979 S. 79 ff. und 85/1979 S. 99 ff.; zu den Revisionsarbeiten HOEPFFNER, in GRUR 82/1980 S. 533 ff.). In Frankreich gilt nach Art. 41 des Gesetzes vom 11. Mai 1957 eine strikte Beschränkung des Privatgebrauchs unter Ausschluss jeder kollektiven Benützung (DESBOIS, La Reprographie et le Droit d'Auteur en France, in Festschrift für Alois Troller, 1976 S. 167; ders., in le Droit d'Auteur en France, 1978 S. 306 ff. und 354 ff.; PLAISANT, in Juris classeur, Propriété littéraire et artistique, fasc. 4bis). Die allgemeine Tendenz geht jedenfalls nicht dahin, das Urheberrecht zugunsten betriebsinterner Information schlicht zu durchbrechen, sondern es gegen Vergütung bloss begrenzt freizugeben (ULMER, in Festschrift für Alois Troller, S. 201/2; SCHULZE, in UFITA 93/1982 S. 73 ff.).
b) Die schweizerische Gesetzgebung ist auch in diesem Bereich in Rückstand geraten. Mit der technischen Entwicklung aufkommende Probleme, namentlich im Kopierbereich, waren schon bei der Vorbereitung des Gesetzes von 1955 bekannt, wenn auch nicht im heutigen Ausmass (BUSER, in SJZ 49/1953 S. 136 ff.). Der Entwurf des Eidg. Amtes für geistiges Eigentum von 1953 wollte
BGE 108 II 475 S. 485
in einem Art. 22bis für die Wiedergabe durch Photokopie zugunsten der Bibliotheken eine Ausnahme machen (TROLLER, Gutachten S. 31/32 zum Entwurf Bolla). Bundesrat und Parlament anerkannten die Dringlichkeit, dieses und andere Probleme der technischen Entwicklung zu lösen, wollten Entscheide darüber aber wegen deren Tragweite und grosser Meinungsverschiedenheiten der baldigen Totalrevision vorbehalten (Botschaft zur Novelle, in BBl 1954 II S. 643 und 649; Sten.Bull. 1955 NR S. 87/88 und StR S. 80). Das heisst entgegen der Auffassung der Beklagten indes nicht, dass heute insoweit eine Gesetzeslücke anzunehmen sei (
BGE 103 Ia 503
mit Zitaten); es bleibt vielmehr beim geltenden Recht, das den Ausschliesslichkeitsanspruch des Urhebers auch vor neuen Wiedergabeformen schützt.
Die seitherigen Revisionsarbeiten bestätigen, dass in der Schweiz ebenfalls nach einer Lösung gesucht wird, welche Urheberrechte nicht leichthin dem technischen Fortschritt opfert. Nach dem Vorentwurf 1971 der ersten Expertenkommission sollte zwar das betriebsinterne Kopieren freigegeben werden, wenn dafür ein rechtmässig erworbenes Werkexemplar verwendet wird (Art. 29 Abs. 3; vgl. auch DITTRICH, Die Vervielfältigung zum eigenen Gebrauch, in Festgabe Georg Roeber, S. 109 ff.). Der Vorentwurf 1974 der zweiten Expertenkommission rückte davon aber deutlich ab; er beschränkte den erlaubten Privatgebrauch ausdrücklich auf einen privaten Kreis von Freunden und Verwandten (Art. 29 Abs. 2, 30 Abs. 1), liess dagegen als Eigengebrauch auch die Wiedergabe zur Information von Mitarbeitern in Instituten, Verwaltungen und Betrieben zu, jedoch nur gegen angemessene Vergütung (Art. 31; Erläuterungen S. 33 ff.; dazu ULMER, in Festschrift Troller, S. 200 f.). Diese Lösung wurde in den weiteren Bearbeitungen durch das Bundesamt für geistiges Eigentum dem Sinn nach beibehalten und durch eine Bestimmung über die Vergütung ergänzt (Art. 29/30 der Fassung vom 21. Mai 1981; überholt PERRET, in SJ 104/1982 S. 113 ff.).
c) Die Bemühungen gehen also auch in der Schweiz dahin, zwischen den offensichtlichen Bedürfnissen privater und öffentlicher Unternehmen, den technischen Fortschritt zur Rationalisierung zu nutzen, einerseits und den Ansprüchen der Urheber auf Vergütung für ihr geistiges Schaffen anderseits einen vernünftigen Ausgleich zu finden. Dies kann, wie u.a. schon LUTZ (S. 238) befürwortet hat, mittels einer gesetzlichen Lizenz geschehen, welche die Wiedergabeerlaubnis mit dem Vergütungsanspruch verbindet.
BGE 108 II 475 S. 486
Das geltende Recht sieht indes noch keine solche Lösung vor; es fehlt zudem an einer vertraglichen oder gesetzlichen Verwertungsordnung, welche den Benützern den Erwerb der Rechte ermöglicht und den Urhebern die Vergütung vermittelt.
Der PTT-Pressedienst bedarf daher vorerst für sein Vorgehen noch der Erlaubnis des Urhebers bzw. der Klägerin, wenn diese im Rahmen einer Abtretung als Berechtigte auftritt; die Erlaubnis kann von einer Vergütung abhängig gemacht werden. Die Rechte der Urheber brauchen dem Druck des technischen Fortschritts sowenig wie im Falle des Kabelfernsehens (
BGE 107 II 81
) zu weichen. Daran ändert auch der Einwand nichts, falls die Klage gutgeheissen werde, bestehe die Schweiz noch mehr als nach den Kabelfernsehentscheiden aus einem Volk von Urheberrechtsdelinquenten; das wäre so oder anders nicht die Folge dieses Urteils, sondern der Tatsache, dass man der technischen Entwicklung zu lange bedenkenlos und ohne Rücksicht auf das Urheberrecht freien Lauf gelassen hat. Die zweite Expertenkommission hat 1974 ihren Vorschlag denn u.a. auch damit begründet, dass der gegenwärtige "Zustand der Illegalität" beseitigt werden müsse (Erläuterungen S. 35 und 41).
Unerheblich ist schliesslich die Befürchtung, bei Gutheissung der Klage würden - wie beim Kabelfernsehen - für Benützer wie für Urheber grosse Probleme entstehen, weil die Fotokopie weit verbreitet sei. Drohende Schwierigkeiten entbinden namentlich den Gesetzgeber nicht davon, das vor mehr als 25 Jahren abgegebene Versprechen ohne weiteren Verzug einzulösen. Ausländische Beispiele im Bereiche der Reprographie wie bei Ton- und Bildkassetten zeigen, dass praktikable Lösungen durchaus möglich sind. Die Gutheissung der Klage wird den Weg dafür ebnen, durch Verhandlungen und staatliche Beihilfe den Urhebern zu einem angemessenen Entgelt für ihre Leistung zu verhelfen, was nicht nur den Absichten des Gesetzgebers (Sten.Bull. 1955 StR S. 78), sondern auch dem einzigen Zweck entspricht, den die Klägerin mit diesem Prozess verfolgt hat. | de |
73424c30-8265-425e-8f71-196344a6a973 | Sachverhalt
ab Seite 12
BGE 93 II 11 S. 12
Die Schwestern Frau O. und Frau Z. bilden die Erbengemeinschaft H. Zur Erbschaft gehörte neben einem dem Ehemann Z. verpachteten Landwirtschaftsbetrieb ein grösserer Weinbaubetrieb, den die Eheleute Z. ungefähr zehn Jahre lang für Rechnung der Erbengemeinschaft H. führten. Nachdem der Ehemann Z. im Jahre 1960 gestorben war, erstellte Frau Z. zur Vorbereitung der Teilung der Erbschaft H. eine Abrechnung über den Stand dieser Erbschaft, in der sie die Erbengemeinschaft H. für die Führung des Weinbaubetriebs durch "Familie Z." in den Jahren 1951-1960 mit Fr. 63'501.25 belastete. Im Erbteilungsprozess, den Frau O. hierauf gegen Frau Z. einleitete, beantragte die Klägerin u.a. die Feststellung, dass die geltend gemachte "Lohnforderung" unbegründet und die erwähnte Belastung daher zu streichen sei. Das obere kantonale Gericht schützte die - vom Bezirksgericht auf Fr. 30'000.-- herabgesetzte - "Lohnforderung" für den Betrag von Fr. 62'500.--. Das Bundesgericht weist das Feststellungsbegehren der Klägerin ab mit der Begründung, eine allfällige
BGE 93 II 11 S. 13
Forderung gegen die Erbengemeinschaft H. aus der Führung des Weinbaubetriebs durch die Eheleute Z. stünde den Erben des (nicht nur von der Beklagten, sondern auch noch von weitern Personen beerbten) Ehemannes Z. zu, und über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Forderung der Erben Z. gegen die Erben H. könne im vorliegenden Prozesse nicht entschieden werden. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
... a) Soweit die Erbengemeinschaft H. dem Z. dafür, dass er und die Beklagte für Rechnung der Erbengemeinschaft H. den Weinbaubetrieb führten, ein Entgelt schuldig geworden ist, handelt es sich um eine sog. Erbgangsschuld, d.h. um eine Verpflichtung, die nach dem Tode des Erblassers zulasten der Erbengemeinschaft entstanden ist.
In der neuern Lehre herrscht die Auffassung vor, das Gesetz weise hinsichtlich der Haftung für solche Schulden eine Lücke auf, die in der Weise auszufüllen sei, dass die Erben für diese Schulden wie für die Schulden des Erblassers (
Art. 603 ZGB
) grundsätzlich solidarisch haften (ESCHER, 3. Aufl., N. 3a zu
Art. 603 ZGB
; TUOR/PICENONI N. 7a zu
Art. 603 ZGB
, mit Hinweisen auf weitere neuere Lehrmeinungen und auf zahlreiche kantonale Entscheide sowie auf das in ZBGR 1955 Nr. 19 S. 114 ff. abgedruckte Urteil des Bundesgerichtes vom 30. September 1954 i.S. K. gegen Regierungsrat des Kantons Bern). Im eben genannten Urteil hatte das Bundesgericht zu entscheiden, ob das zuständige Grundbuchamt die Eintragung eines Schuldbriefes, den eine Witwe im eigenen Namen sowie im Namen ihrer minderjährigen Kinder zwecks Finanzierung eines Umbaues zulasten des Heimwesens ihres verstorbenen Ehemannes errichten lassen wollte, mit der Begründung ablehnen durfte, der Errichtungsakt verpflichte die Verpfänder als Glieder einer Erbengemeinschaft solidarisch und führe somit zu einer Verpflichtung der Kinder im Interesse der Mutter, weshalb gemäss
Art. 282 ZGB
ein Beistand mitzuwirken und die Vormundschaftsbehörde das Geschäft zu genehmigen habe. Zur Begründung dafür, dass ein zureichender Grund bestanden habe, der Mutter das Recht zur Vertretung der Kinder in dieser Sache abzusprechen, führte das Bundesgericht u.a. aus, es liege nahe, aus der Art des Gemeinschaftsverhältnisses der Erben eine solidarische Verpflichtung abzuleiten;
BGE 93 II 11 S. 14
Art. 603 ZGB
sehe die solidarische Haftung der Erben für Schulden des Erblassers vor, und bei vertraglichen Verpflichtungen der Erben selbst in gemeinsamen Angelegenheiten komme eine entsprechende Anwendung der für die Gemeinderschaft und für die einfache Gesellschaft geltenden Vorschriften, welche sie solidarische Haftung vorsehen (
Art. 342 Abs. 2 ZGB
, 544 Abs. 3 OR), in Frage. In der Tat ist die Solidarhaftung der Erben für Erbgangsschulden auf jeden Fall dann, wenn sie im Zusammenhang mit der für gemeinsame Rechnung erfolgten Weiterführung eines landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betriebs des Erblassers eingegangen wurden, sachlich ebensosehr gerechtfertigt wie die Solidarhaftung, die nach den angeführten Gesetzesbestimmungen für die zulasten einer Gemeinderschaft oder einer einfachen Gesellschaft begründeten Verpflichtungen besteht.
Haftet die Klägerin als eine der beiden Erbinnen, welche die Erbengemeinschaft H. bilden, für eine allfällige Schuld dieser Gemeinschaft gegenüber den Erben Z. aus der Führung des Weinbaubetriebs durch Z. und die Beklagte solidarisch, so ist die Klägerin legitimiert, selbständig, d.h. ohne Mitwirkung ihrer Miterbin, auf Feststellung des Nichtbestehens einer solchen Schuld zu klagen (
BGE 89 II 433
Erw. 3).
b) Eine in der Person des Z. entstandene Forderung gegen die Erbengemeinschaft H. steht seinen Erben gemäss
Art. 602 ZGB
zu gesamter Hand zu, solange seine Erbschaft mit Bezug auf diese Forderung noch nicht geteilt ist, wofür keine Anhaltspunkte bestehen.
Forderungen gegen Dritte, die den Erben zu gesamter Hand zustehen, können grundsätzlich nicht von einzelnen Erben, sondern nur von allen Erben zusammen (oder an ihrer Stelle von einem Erbenvertreter gemäss
Art. 602 Abs. 3 ZGB
, einem Willensvollstrecker oder einem Erbschaftsverwalter) gerichtlich geltend gemacht werden (
BGE 50 II 219
ff.,
BGE 51 II 269
/70,
BGE 52 II 197
,
BGE 54 II 112
, 200 Erw. 2 und 243; zur prozessualen Stellung des Erbenvertreters, Willensvollstreckers und Erbschaftsverwalters vgl. namentlichBGE 53 II 208,
BGE 54 II 200
Erw. 1,
BGE 59 II 123
,
BGE 79 II 116
,
BGE 85 II 601
,
BGE 90 II 381
; soweit LEUCH, 3. Aufl., in N. 2 zu Art. 36 der bern. ZPO hinsichtlich der Notwendigkeit gemeinsamer Klage der Erben eine andere Ansicht vertritt, ist ihm nicht zu folgen). Die Rechtsprechung lässt die Klage eines einzelnen Erben zur Wahrung von Interessen der
BGE 93 II 11 S. 15
Erbengemeinschaft nur ausnahmsweise in Fällen der Dringlichkeit und nur in dem Sinne zu, dass der betreffende Erbe im Namen aller Erben, d.h. im eigenen Namen und als gesetzlicher Vertreter der Miterben, zu klagen hat (
BGE 58 II 200
).
Umgekehrt darf eine Klage, mit der ein Dritter die Feststellung des Nichtbestehens einer von der Erbengemeinschaft gegen ihn erhobenen Forderung verlangt, nicht gegen einzelne Erben geführt werden, sondern eine solche Klage ist gegen alle Erben (oder gegebenenfalls gegen den für sie handelnden Erbenvertreter, Willensvollstrecker oder Erbschaftsverwalter) zu richten (vgl. KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im schweiz. Recht, S. 193), was in aller Regel auch in dem bei solchen Klagen wohl seltenen (hier nicht gegebenen) Falle der Dringlichkeit möglich sein dürfte. Auch das ist eine notwendige Folge der Gesamtberechtigung der Erben. Zudem kann ein für alle Erben verbindliches Urteil, wie es mit einer solchen Klage regelmässig erstrebt wird, grundsätzlich nur ergehen, wenn in der angegebenen Weise alle Erben in den Prozess einbezogen werden (vgl.
BGE 89 II 434
Erw. 4).
Im Streit über ein Rechtsverhältnis unter den Erben dürfen nach der Rechtsprechung solche Erben, die sich dem Urteil zum voraus unterzogen haben, dem Prozess fernbleiben (vgl. z.B.
BGE 74 II 217
,
BGE 75 II 198
/99). Ob das auch für Streitigkeiten über Rechtsverhältnisse zwischen der Erbengemeinschaft und einem Dritten gelte (vgl.
BGE 89 II 435
), was KUMMER in ZBJV 1964 S. 540 f. bei Besprechung des zuletzt genannten Urteils in Zweifel zieht, kann dahingestellt bleiben; denn die Personen, die neben der Beklagten Erben von Z. sind, haben nicht erklärt, sie seien bereit, das gegenüber der Beklagten ergehende Urteil gegen sich gelten zu lassen.
Dass die Beklagte behördlich ernannte Vertreterin der Erben Z., Willensvollstreckerin des Z. oder für dessen Nachlass bestellte Erbschaftsverwalterin sei, wird nicht behauptet, geschweige denn dargetan. Die Beklagte ist vielmehr nach den vorliegenden Akten nichts anderes als einer der Erben des Z. Daher ist sie bezüglich einer Klage auf Feststellung, dass die Erbengemeinschaft Z. von der Erbengemeinschaft H. bzw. von der Klägerin als solidarisch haftendem Glied dieser Gemeinschaft für die Führung des Weinbaubetriebs durch Z. nichts zu fordern habe, für sich allein nicht passivlegitimiert.
Das Fehlen der Passivlegitimation (die von der Beklagten
BGE 93 II 11 S. 16
im kantonalen Verfahren unter Hinweis auf die Möglichkeit einer Klage gegen die Erben Z. bestritten wurde) führt zur Abweisung des Feststellungsbegehrens der Klägerin (vgl. LEUCH, 3. Aufl., N. 8 zu Art. 192 der bern. ZPO; GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl., S. 181).
c) Das Bezirksgericht vertrat in seinem Urteil freilich die Auffassung, mit Bezug auf den streitigen "Lohnanspruch" stelle sich die Frage der Sachlegitimation überhaupt nicht; für die Teilung der Hinterlassenschaft (gemeint: der Erbschaft H.) sei die Ermittlung der Aktiven und Passiven notwendige Voraussetzung; die Beklagte habe diese Aufgabe übernommen, indem sie sich bereit erklärt habe, eine Abrechnung zu erstellen; darüber, was als Aktivum oder als Passivum in diese Abrechnung aufzunehmen sei, seien Meinungsverschiedenheiten entstanden, die zu entscheiden der Richter angerufen worden sei. Das Bezirksgericht scheint also anzunehmen, es handle sich im vorliegenden Prozess nur darum, zur Gewinnung der Grundlagen für die Teilung der Erbschaft H. mit Wirkung für die beiden Erbinnen festzustellen, welche Forderungen und welche Schulden gegenüber Dritten zum Nachlass gehören; diese Feststellung könne in einem Verfahren getroffen werden, an dem nur die beiden Erbinnen teilnehmen.
Richtig ist, dass die Feststellungsklage nicht bloss rechtliche Beziehungen zwischen den Parteien oder einer Partei zu einer Sache sowie die daraus sich ergebenden Rechte und Pflichten, sondern auch Rechtsverhältnisse Dritter, z.B. die Rechtsbeziehungen zwischen einem Dritten und einer Prozesspartei zum Gegenstand haben kann (LEUCH, 3. Aufl., N. 2 zu Art. 174; GULDENER a.a.O. S. 176; ROSENBERG, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechtes, 7. Aufl., S. 389/90; STEIN/JONAS, 18. Aufl., Bem. II/3 zu § 256 der deutschen ZPO; vgl.
BGE 84 III 19
/20). Voraussetzung einer solchen Klage ist nach den angeführten Lehrmeinungen, dass der Kläger gegenüber dem Beklagten ein rechtliches Interesse an der verlangten Feststellung hat, was z.B. für den Fall bejaht wird, dass der Bestand oder Inhalt der Rechtsbeziehungen unter den Prozessparteien vom Vorhandensein eines bestimmten Rechtsverhältnisses zwischen Dritten (oder zwischen einer Partei und einem Dritten) abhängig ist (GULDENER S. 176 Fussnote 12). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Klage auf Feststellung eines dem eidgenössischen Recht unterstehenden Rechtsverhältnisses
BGE 93 II 11 S. 17
von Bundesrechts wegen stets zuzulassen, wenn der Kläger an der Feststellung ein erhebliches rechtliches Interesse hat (
BGE 91 II 409
mit Hinweisen), und dürfen die Kantone eine solche Klage in weitern Fällen gewähren, insbesondere an das Feststellungsinteresse weniger strenge Anforderungen stellen als das Bundesrecht, sofern dieses eine derartige Erweiterung der Klagemöglichkeit nicht ausdrücklich oder dem Sinne nach verbietet (
BGE 92 II 108
mit Hinweisen).
Ein Erbe hat daran, dass in einem nur zwischen den Erben geführten Prozess das Nichtbestehen einer Forderung festgestellt werde, die ein Dritter gegenüber dem Erblasser oder der Erbengemeinschaft erworben zu haben behauptet, kaum ein rechtliches Interesse, sondern das Bundesrecht schliesst eine solche Klage seinem Sinne nach geradezu aus. Die in Gutheissung einer solchen Klage getroffene Feststellung des Nichtbestehens der Forderung des Dritten wäre nämlich, da ein Urteil grundsätzlich nur für die Prozessparteien Recht schafft (
BGE 89 II 434
Erw. 4), für den Gläubiger nicht verbindlich. Dieser wäre also nicht gehindert, den einen oder andern Erben als Solidarschuldner (vgl. lit. a hievor) zu belangen, und dem Erben, der zahlen müsste, bliebe das Recht gewahrt, gegen die andern Erben gemäss
Art. 640 ZGB
Rückgriff zu nehmen. Eine Klage gegen die Miterben auf Feststellung des Nichtbestehens einer bestimmten Erbschaftsschuld vermag daher die Erbteilung nicht zu fördern. Die Forderung des Dritten müsste vielmehr, auch wenn das Urteil ihren Bestand verneinen würde, auf Verlangen eines Erben gemäss
Art. 610 Abs. 3 ZGB
(der auf Erbgangsschulden entsprechend anzuwenden ist) vor der Teilung der Erbschaft sichergestellt werden, da nach wie vor mit ihrer erfolgreichen Geltendmachung durch den Gläubiger zu rechnen wäre. Mit einer Klage gegen die Miterben auf Feststellung des Nichtbestehens einer von einem Dritten behaupteten Forderung gegen die Erbengemeinschaft lässt sich daher überhaupt kein vernünftiger Zweck erreichen, so dass einer solchen Klage das aus
Art. 2 Abs. 2 ZGB
sich ergebende Verbot völlig nutzloser Rechtsausübung entgegensteht.
Hiezu kommt im vorliegenden Falle, dass die Beklagte einer der Erben von Z. ist, denen die streitige Forderung im Falle ihrer Begründetheit zusteht. Mit Wirkung bloss für einen oder einzelne von mehreren Erben Feststellungen über Rechte der Erbengemeinschaft gegen Dritte zu treffen, ist mit der Gesamtberechtigung
BGE 93 II 11 S. 18
der Erben nicht vereinbar und hätte auch praktisch unleidliche Folgen (KUMMER, Das Klagerecht...., S. 190 ff.).
Aus diesen Gründen ist das Feststellungsbegehren der Klägerin auch insoweit abzuweisen, als es entsprechend der Auffassung des Bezirksgerichtes darauf abzielen sollte, das Nichtbestehen der streitigen Forderung im Hinblick auf die Teilung der Erbschaft H. mit Wirkung für die Parteien feststellen zu lassen. | de |
e36f56aa-a9a0-406f-9177-e4d6900001d4 | ("Territorialitäts-" bzw. "Ubiquitätsprinzip") begründen keinen Anknüpfungsgrund für die entsprechende Strafnorm. Dennoch liegt keine unzulässige Ausdehnung der kantonalen Strafrechtshoheit auf ausserkantonale Sachverhalte vor. Das durch das bündnerische Jagdpolizeirecht geschützte Rechtsgut wird durch das inkriminierte Verhalten nämlich in erheblicher Weise berührt, so dass insofern eine ausreichende Binnenbeziehung besteht ("Auswirkungsprinzip").
Sachverhalt
ab Seite 138
BGE 118 Ia 137 S. 138
Am 7. September 1990, dem Vorabend der bündnerischen Hochjagd 1990, fuhr B. mit seinem Personenwagen über Pfäfers - St. Margrethenberg bis zum auf st. gallischem Kantonsgebiet gelegenen Standort "Fürggli" und stellte dort sein Fahrzeug ab. Danach überschritt er die Kantonsgrenze zum Kanton Graubünden und ging auf Bündner Territorium bis zum 13. September 1990 der Hochjagd nach. Mit Strafmandat vom 30. November 1990 legte der Kreispräsident Fünf Dörfer B. wegen Widerhandlung gegen die bündnerischen Jagdvorschriften eine Busse von Fr. 100.-- auf. Auf Einsprache hin verurteilte der Kreisgerichtsausschuss Fünf Dörfer B. am 30. Mai 1991 zu der gleichen Strafe. Die dagegen von B. erhobene Berufung wies der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden mit Urteil vom 9. Oktober 1991 ab.
Gegen das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses gelangte B. mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 10. Februar 1992 an das Bundesgericht. Er rügt die Verletzung von
Art. 4 BV
(Legalitätsprinzip) und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Art. 17 der bündnerischen Vollziehungsverordnung zum kantonalen Jagdgesetz vom 28. Februar 1989 (ABzKJG) schränkt die Verwendung von Motorfahrzeugen zur Jagdausübung im Kanton Graubünden ein. Diese dürfen nur zur Anfahrt bis zu gewissen Standorten, die in Art. 17 Abs. 1-2 ABzKJG ausdrücklich genannt sind, benutzt werden. Gemäss Abs. 3 der Bestimmung gilt die Einschränkung "auch für die Benützung von motorisierten Transportmitteln auf ausserkantonalem Gebiet, wenn diese zur Jagdausübung im Kanton Graubünden erfolgt". Unbestrittenermassen erfolgte die Anfahrt des Beschwerdeführers zur bündnerischen Hochjagd 1990 bis zum auf st. gallischem Kantonsgebiet gelegenen Standort "Fürggli",
BGE 118 Ia 137 S. 139
welcher die Kriterien von Art. 17 Abs. 1-2 ABzKJG nicht erfüllt. In Anwendung von Abs. 3 der gleichen Bestimmung lag demnach ein Verstoss gegen Art. 17 ABzKJG vor, der gemäss Art. 47 des kantonalen Jagdgesetzes vom 4. Juni 1989 (KJG) mit Haft oder Busse bis zu Fr. 20'000.-- bestraft werden kann.
b) Der Beschwerdeführer wendet gegen seine Verurteilung ein, Art. 17 Abs. 3 ABzKJG könne "nicht als rechtsbeständig angesehen werden", weil die Bestimmung gegen das "Territorialitätsprinzip kantonaler Polizeivorschriften" verstosse. Mangels einer gültigen Strafnorm verletze die Verurteilung daher den aus
Art. 4 BV
folgenden Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz".
Im angefochtenen Entscheid wird demgegenüber argumentiert, die Ausdehnung der Strafrechtshoheit des Kantons Graubünden auf Sachverhalte, die das Territorium des Kantons St. Gallen berühren, sei in Anwendung des in
Art. 7 StGB
verankerten Ubiquitätsprinzips zulässig. "Der Erfolgseintritt, nämlich die Anwesenheit im Jagdgebiet zum Zwecke der Jagdausübung nach unerlaubter Benützung eines Motorfahrzeuges", habe sich nämlich "in Graubünden verwirklicht". Ausserdem sei der Kanton Graubünden durch das inkriminierte Verhalten an seiner Kantonsgrenze erheblich berührt. Es sei nämlich "offensichtlich, dass ein unbeschränktes Aufsuchen des Jagdgebietes mit Motorfahrzeugen durch eine Vielzahl von Patentjägern mit den entsprechenden Massierungen nicht nur dann eine waid- und umweltgerechte Jagd in Frage stellt, wenn dies auf Alp- und Flurwegen in Graubünden geschieht, sondern auch, wenn dies in unmittelbarer Nähe zur Kantonsgrenze erfolgt". Ein Verstoss gegen das Territorialitätsprinzip liege daher nicht vor.
c) Der Grundsatz "nulla poena sine lege" ist vom Bundesgesetzgeber ausdrücklich in
Art. 1 StGB
verankert worden. Explizit findet sich die Regel auch in
Art. 7 EMRK
. Im Rahmen des kantonalen Strafrechts gilt das Legalitätsprinzip nicht gestützt auf
Art. 1 StGB
, sondern es fliesst direkt aus
Art. 4 BV
oder aus dem kantonalen Verfassungsrecht. Soweit die Anwendung von Bundesrecht in Frage stünde, wäre die Verletzung des Legalitätsprinzips daher mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde geltend zu machen (
Art. 269 BStP
). Im Bereich der Anwendung des kantonalen Strafrechts dagegen steht für die Rüge der Verletzung des Grundsatzes "nulla poena sine lege" nur die staatsrechtliche Beschwerde offen (
BGE 112 Ia 112
E. 3a;
BGE 103 Ia 96
E. 4;
BGE 96 I 28
; vgl. STEFAN TRECHSEL, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Zürich 1989,
Art. 1 N 8
). Nach der Praxis des Bundesgerichtes ist der in
BGE 118 Ia 137 S. 140
Art. 4 BV
enthaltende Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" insbesondere dann verletzt, wenn ein Bürger wegen einer Handlung, die im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet ist, strafrechtlich verfolgt wird, oder wenn ein Verhalten zwar gesetzlich mit Strafe bedroht ist, dieses Gesetz aber nicht als rechtsbeständig angesehen werden kann (
BGE 112 Ia 112
E. 3a mit Hinweisen).
d) Nachfolgend ist im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren somit zu prüfen, ob Art. 17 Abs. 3 ABzKJG, der das genannte Verbot der Verwendung von Motorfahrzeugen zur Jagdausübung im Kanton Graubünden auf ausserkantonales Gebiet ausdehnt, als rechtsbeständig anzusehen ist, oder ob mangels Strafrechtshoheit des Kantons Graubünden im vorliegenden Fall der Grundsatz "nulla poena sine lege" als Teilgehalt von
Art. 4 BV
verletzt worden ist.
2.
Es fragt sich, ob der Kanton Graubünden in Art. 17 Abs. 3 der Vollziehungsverordnung zum kantonalen Jagdgesetz seine Strafrechtshoheit in Missachtung der strafrechtlichen Anknüpfungsregeln auf ausserkantonale Sachverhalte ausgedehnt hat.
a) Gemäss
Art. 1 StPO
/GR finden die Allgemeinen Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches auf die nach kantonalem Recht strafbaren Handlungen entsprechende Anwendung. Der Kantonsgerichtsausschuss hat im angefochtenen Urteil kantonales Strafrecht angewendet und für die Beurteilung seiner räumlichen Geltung analog die bundesrechtlichen Anknüpfungsregeln von
Art. 3 und 7 StGB
für das internationale (kollisionsrechtliche) Strafrecht herangezogen. Der Beschwerdeführer macht geltend, durch die Ausdehnung der bündnerischen Strafrechtshoheit auf den Tatbestand des Fahrens auf dem Gebiet des Kantons St. Gallen sei in seinem Fall das für das Bundesrecht in
Art. 3 StGB
verankerte Territorialitätsprinzip verletzt worden. Als Grundlage des grenzüberschreitenden Strafrechts weist dieses dem Staat die Strafrechtshoheit über die auf dem eigenen Territorium verübten Straftaten zu (
BGE 111 IV 3
E. 2a;
BGE 108 IV 146
f. mit Hinweisen). Der moderne Staat ist ein Territorialstaat, an dessen Grenzen gemäss dem völkerrechtlichen Grundsatz der Souveränität und Gleichberechtigung grundsätzlich auch seine strafrechtliche Hoheitsgewalt endet (vgl. PETER NOLL/STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl., Zürich 1990, S. 46; OSKAR ADOLF GERMANN, Rechtsstaatliche Schranken im internationalen Strafrecht, ZStrR 69 (1954) 237; VITAL SCHWANDER, Das Territorialitätsprinzip im schweizerischen Strafrecht, in: Recueil de travaux suisses présentés au VIIIe Congrès international de droit comparé, Basel 1970, S. 365 f.). Das Territorialitätsprinzip findet
BGE 118 Ia 137 S. 141
auch auf kantonale Polizeivorschriften Anwendung (vgl. MAX IMBODEN/RENÉ RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Bd. 1, 5. Aufl., Basel 1976, S. 119 f.). Ob ein strafrechtlich relevantes Verhalten als intra- oder extraterritorial zu betrachten ist, beurteilt sich nach dem in
Art. 7 StGB
verankerten Ubiquitätsprinzip (vgl. TRECHSEL, Kurzkommentar,
Art. 3 StGB
N 4). Eine Straftat gilt da als verübt, wo der Täter sie ausführt, und da, wo der Erfolg eingetreten ist (
Art. 7 Abs. 1 StGB
).
Beim Verwenden von Motorfahrzeugen zur Jagdausübung gemäss Art. 17 Abs. 3 ABzKJG handelt es sich nicht um ein Erfolgsdelikt im technischen Sinne, sondern um ein Tätigkeitsdelikt. Der objektive Tatbestand verlangt keine räumlich und zeitlich vom Täterverhalten getrennte Veränderung der Aussenwelt (
BGE 109 IV 3
E. 3b;
BGE 105 IV 327
ff. E. 3c-g; vgl. ROBERT HAUSER/JÖRG REHBERG, Strafrecht I, Verbrechenslehre, 4. Aufl., Zürich 1988, S. 44, 61; NOLL/TRECHSEL, a.a.O., S. 48 f.; TRECHSEL, Kurzkommentar,
Art. 7 StGB
N 6). Der objektive Tatbestand von Art. 17 Abs. 3 ABzKJG umfasst sodann nicht das Jagen im Kanton Graubünden, sondern das Verwenden von Motorfahrzeugen auf ausserkantonalem Gebiet zum Zweck der späteren Jagdausübung in Graubünden. Das Jagen gehört nicht zum objektiven Tatbestand, es stellt allenfalls eine selbständige Strafbarkeitsvoraussetzung oder ein subjektives Tatbestandsmerkmal dar. Die Norm liesse sich typologisch als Absichtsdelikt interpretieren. Verboten wäre danach eine bestimmte Verwendung von Motorfahrzeugen auf ausserkantonalem Gebiet, in der Absicht, später auf Bündner Gebiet die Jagd auszuüben. Über die dogmatische Einordnung der kantonalen Strafbestimmung braucht indessen vorliegend nicht entschieden zu werden. Da es sich beim inkriminierten Verhalten nicht um ein Erfolgsdelikt im technischen Sinne handelt, führt das Ubiquitätsprinzip von
Art. 7 StGB
zu keinem unmittelbaren Anknüpfungspunkt für die Bündner Strafrechtshoheit. Weil der objektive Tatbestand von Art. 17 Abs. 3 ABzKJG aber auch nicht das Jagen im Kanton Graubünden verbietet, sondern (unter bestimmten Voraussetzungen) das Verwenden von Motorfahrzeugen ausserhalb der Bündner Kantonsgrenzen, ist ebensowenig das Territorialitätsprinzip (Art. 3 i.V.m.
Art. 7 Abs. 1 StGB
) anwendbar. Es liegt im vorliegenden Fall vielmehr eine extraterritoriale Anwendung von Bündner Recht auf einen ausserhalb des Kantons gesetzten Sachverhalt vor.
b) Es fragt sich, ob dem Kanton Graubünden aus diesem Grund eine unzulässige Ausdehnung seiner Strafrechtshoheit vorzuwerfen
BGE 118 Ia 137 S. 142
ist, welche mit dem Legalitätsprinzip von
Art. 4 BV
unvereinbar erschiene. Dabei ist zu beachten, dass die extraterritoriale Anwendung des eigenen Rechts auch im Völkerrecht und im internationalen Strafrecht nicht a priori als unzulässig betrachtet wird. Vielmehr darf sich die interne Gesetzgebung nach vorherrschender Lehre und Praxis auch auf extraterritoriale Sachverhalte beziehen, wenn eine eindeutige Binnenbeziehung dieser Sachverhalte zum inländischen Recht besteht (
BGE 76 IV 210
; VPB 40 (1976) Nr. 89, S. 102; "Lotus"-Entscheid des Ständigen Internationalen Gerichtshofes im Haag, Publications de la Cour Permanente de Justice Internationale, Série A, vol. 10, S. 18 f.; vgl. ROLF BÄR, Extraterritoriale Wirkung von Gesetzen, in: Die schweizerische Rechtsordnung in ihren internationalen Bezügen, Bern 1988, S. 12 f.; JÖRG PAUL MÜLLER/LUZIUS WILDHABER, Praxis des Völkerrechts, 2. Aufl., Bern 1982, S. 248 f.; HANS-JÜRGEN SCHLOCHAUER, Die extraterritoriale Wirkung von Hoheitsakten, Frankfurt/M. 1962, S. 41 f.; TRECHSEL, Kurzkommentar, Vor
Art. 3 StGB
, N 1 f.; TRECHSEL, Neuer Zündstoff im Justizkonflikt Schweiz-USA, in: Roger Zäch (Hrsg.), Geheimnisschutz, St. Galler Studien zum Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bd. 11, Bern 1986, S. 71 f.). Der die Strafrechtshoheit begründende Anknüpfungspunkt kann dabei insbesondere im geschützten inländischen Rechtsgut liegen (vgl. TRECHSEL, Kurzkommentar, Vor
Art. 3 StGB
, N 1). Diese Anknüpfungskriterien gründen auf dem "Real- oder Schutzprinzip", welches im Bundesrecht für gewisse Staatsschutzdelikte in
Art. 4 StGB
verankert ist. Fälle von "extraterritorialer" Anwendung von ausländischem Recht mit Wirkung auf die Schweiz betrafen in neuerer Zeit etwa das Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft und der USA sowie amerikanische Straf- und Verfahrensbestimmungen betreffend "Insider-Trading" (vgl. JOHN W. BRIDGE, Extraterritorial Conflict, Issues of Law and Policy, in: Roger Zäch (Hrsg.), Geheimnisschutz, St. Galler Studien zum Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bd. 11, Bern 1986, S. 41 ff.; ROBERT E. HERZSTEIN, The Effect of the Extraterritorial Application of United States Laws, in: Festschrift Probst, Zürich 1984, S. 153 ff.; ERIC HOMBURGER, Zur extraterritorialen Anwendung der amerikanischen Antitrustgesetze, SJZ 54 (1958) 97 ff.; ERIC J. MC FADDEN, Extraterritoriality: Swiss Supreme Court Refuses United States Request for Information Concerning Insider Trading, Harvard International Law Journal 25 (1984) 456 ff.). Aber auch das Bundesgericht hat die Anwendung von schweizerischem Kartellrecht schon an den Auswirkungen der Kartellabrede am schweizerischen Markt angeknüpft
BGE 118 Ia 137 S. 143
(vgl.
BGE 93 II 192
ff. = Pra 56 Nr. 144). Dementsprechend liegt nach der Praxis des Bundesgerichtes keine unzulässige Ausdehnung des Geltungsbereiches des kantonalen Rechtes vor, wenn dieses ausserkantonale Sachverhalte erfasst, welche das Kantonsgebiet erheblich berühren (
BGE 95 I 427
mit Hinweisen;
54 I 28
f.).
c) In Berücksichtigung von Sinn und Zweck der fraglichen Bündner Regelung lässt sich im vorliegenden Fall eine ausreichende Binnenbeziehung im Sinne der erwähnten Lehre und Praxis willkürfrei annehmen. Die unbeschränkte Zufahrt zu den Bündner Jagdgebieten über die angrenzenden Strassen der Nachbarkantone kann gemäss den Darlegungen im angefochtenen Entscheid eine umwelt- und waidgerechte Jagd im Kanton Graubünden beeinträchtigen. Dass der Jagdverkehr auf bündnerischem Gebiet sachgerechten Einschränkungen im Interesse des Jagd- und Naturschutzes und aus flurpolizeilichen Gründen unterliegt, ist nicht zu beanstanden. In der Tat sind negative Auswirkungen auf die bündnerische Tier- und Pflanzenwelt aber auch dann zu befürchten, wenn sich die Jagdberechtigten in der Absicht, möglichst schnell und bequem optimale Jagdstandorte zu erreichen, auf die günstigsten Zufahrtswege über das Gebiet angrenzender Kantone konzentrieren. Eine entsprechende unbeschränkte Massierung des Jagdverkehrs wäre nicht nur aus umwelt- und waidpolizeilichen Gründen unerwünscht, eine einheitliche Zufahrtsregelung für alle im Kanton Graubünden Jagdberechtigten liegt auch im Interesse der Chancengleichheit unter den Jägern (vgl. PKG 1985 Nr. 40). In Anbetracht dieser Umstände liegt eine ausreichend erhebliche Berührung des Kantons Graubünden durch ein Verhalten ausserhalb der Kantonsgrenzen vor, auch wenn von diesem Verhalten kein tatbeständlicher Erfolg im engen strafrechtsdogmatischen Sinne ausgeht. In der neueren Literatur ist in diesem Zusammenhang auch vom "Auswirkungsprinzip" als besonderer Anknüpfungsregel die Rede, welche gleichzeitig die Gesichtspunkte des Territorial- und Schutzprinzips sowie des passiven Personalitätsprinzips berücksichtigt (vgl. BÄR, a.a.O., S. 16 f.). Der Anknüpfungsgrund besteht im gefährdeten Rechtsgut, nämlich vor allem in den schützenswerten Interessen der bündnerischen Wildhege sowie des allgemeinen Tier- und Umweltschutzes im Kanton Graubünden. | de |
cc74bd9b-620d-4c9e-9029-f669faf6bfb2 | Erwägungen
ab Seite 149
BGE 84 II 149 S. 149
Die Klägerin beharrt auf der Einrede des nichterfüllten Vertrages (
Art. 82 OR
) und will die Auffassung des Handelsgerichts, dass sie schon vor dem Prozesse hätte erhoben werden müssen, um berücksichtigt werden zu können, nicht gelten lassen.
Ob diese Kritik begründet ist, kann dahingestellt bleiben.
Art. 82 OR
bestimmt, wer bei einem zweiseitigen Vertrage den andern zur Erfüllung anhalten wolle, müsse entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, dass er nach dem Inhalte oder der Natur des Vertrages erst später zu erfüllen habe. Diese Bestimmung betrifft die Ordnung in der Erfüllung (s. Randtitel) von
BGE 84 II 149 S. 150
Leistung und Gegenleistung aus einem zweiseitigen Vertrage, und nur dieses Verhältnis. Sie hat nicht den Sinn, dass jeder, der zugleich Gläubiger und Schuldner eines andern ist, die geschuldete Leistung solange zurückbehalten dürfe, bis der andere die eigene Leistung erfüllt oder angeboten habe. Nur wenn die eine und die andere Leistung in ein und demselben Vertrage versprochen worden sind und gegenseitig derart aufeinander Bezug haben, dass die eine die Gegenleistung für die andere ist, trifft
Art. 82 OR
zu (
BGE 44 II 74
,
BGE 67 II 126
). Im Sukzessivlieferungsvertrag besteht dieses Austauschverhältnis zwischen allen Raten des Verkäufers einerseits und dem gesamten Kaufpreis anderseits und braucht daher der Verkäufer weitere Leistungen nicht zu erbringen, solange der Käufer mit der Zahlung des Preises für frühere Lieferungen im Verzug ist (
BGE 52 II 139
f.,
BGE 78 II 34
f.,
BGE 79 II 304
). Weiter reicht die Befugnis aus
Art. 82 OR
nicht. Die Tatsache, dass die Beklagte schon zur Zeit, da sie die Erfüllung der ausstehenden 15 t Brom verlangte, Schuldnerin der Klägerin gewesen sein soll, berechtigte daher für sich allein die Klägerin nicht, die Bromlieferungen zurückzuhalten. Die Klägerin hätte vielmehr dartun müssen, dass ihre Forderung zum mindesten teilweise Kaufpreisforderung für frühere Teillieferungen aus den Verträgen vom 16. und 19. Juni 1953 sei. Dass das zutreffe, hat sie in ihren Eingaben und Vorträgen vor dem Handelsgericht nicht behauptet, wie sie es übrigens auch im Berufungsverfahren nicht darzutun versucht. Daher ist davon auszugehen, dass ihr die Einrede des nichterfüllten Vertrages nicht zustand und die Beklagte sie berechtigterweise zur Lieferung aufforderte, insbesondere auch noch am 6. April 1955, als sie ihr die letzte Nachfrist ansetzte. | de |
1978ed17-52bd-47f8-adc4-26faeed4672b | Sachverhalt
ab Seite 168
BGE 119 Ia 167 S. 168
X. unterrichtet seit 1986 als Verweserin an der Primarschule in Zürich-Schwamendingen. Im November 1990 schrieb der Schulkreis Zürich-Schwamendingen drei Lehrerstellen zur definitiven Besetzung durch Wahl aus. Als Zeitpunkt des Stellenantritts wurde der Beginn des Schuljahres 1991/92, d.h. der 19. August 1991, angegeben. Auf diese Ausschreibung hin bewarb sich X. um eine definitive Lehrerstelle. Auf einen entsprechenden Antrag der Wahlkommission hin beschloss die Kreisschulpflege Zürich-Schwamendingen am 22. März 1991, X. den Stimmberechtigten nicht zur Wahl vorzuschlagen. Die im Schulblatt zur Wahl ausgeschriebenen Lehrerstellen wurden zugleich von drei auf eine reduziert. Zur Besetzung dieser einen Stelle schlug die Kreisschulpflege Y. zur Wahl vor. Diese zog jedoch in der Folge ihre Bewerbung zurück. Die Kreisschulpflege beschloss deshalb am 16. Mai 1991, auf die Durchführung von Primarlehrerwahlen im Sommer 1991 ganz zu verzichten und die verbleibende ausgeschriebene Lehrerstelle nicht definitiv zu besetzen.
Gegen die Absetzung der Lehrerwahlen beschwerte sich X. zunächst beim Bezirksrat Zürich und anschliessend beim Regierungsrat des Kantons Zürich. Sie machte geltend, der Verzicht auf die Durchführung der Primarlehrerwahlen verletze ihr passives Wahlrecht, da das Volk nun keine Gelegenheit erhalte, sie zu wählen. Die Kreisschulpflege habe in unzulässiger Weise ihre Wahl zu verhindern versucht, nur weil sie Mitglied des Vereins zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM) sei. Der Bezirksrat und der Regierungsrat wiesen die von X. ergriffenen Rechtsmittel ab.
BGE 119 Ia 167 S. 169
X. hat gegen den Entscheid des Regierungsrats eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Rückweisung der Sache an den Regierungsrat zur Neubeurteilung. Sie ist der Auffassung, der regierungsrätliche Entscheid verletze ihr passives Wahlrecht.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Gegenstand des angefochtenen Entscheids bildet die Frage, ob der Verzicht der Kreisschulpflege Zürich-Schwamendingen, im Sommer 1991 Primarlehrerwahlen durchzuführen, die politischen Rechte der Beschwerdeführerin verletze.
a) Nach
Art. 85 lit. a OG
beurteilt das Bundesgericht Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen. Als kantonal gelten auch Wahlen und Abstimmungen in den Gemeinden (
BGE 110 Ia 186
E. 3c;
BGE 108 Ia 39
E. 2;
BGE 105 Ia 369
E. 2). Der angefochtene Entscheid schützt den Verzicht, eine Primarlehrerstelle durch eine kommunale Volkswahl definitiv zu besetzen. Er berührt damit die politischen Rechte und kann mit einer Stimmrechtsbeschwerde nach
Art. 85 lit. a OG
angefochten werden.
b) Zur Erhebung einer Stimmrechtsbeschwerde ist legitimiert, wer an der fraglichen Wahl oder Abstimmung teilnehmen kann. In der bisherigen Rechtsprechung ist dabei die Beschwerdebefugnis stets auf die aktiv stimm- und wahlberechtigten Bürger beschränkt worden. Eine Ausnahme machte das Bundesgericht nur, soweit Beschwerdeführer rügten, es werde ihnen das Stimmrecht zu Unrecht vorenthalten (
BGE 116 Ia 364
E. 3a;
BGE 114 Ia 264
E. 1b). Auch die Lehre geht von einer Beschränkung der Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde auf Aktivbürger aus (vgl. CHRISTOPH HILLER, Die Stimmrechtsbeschwerde, Diss. Zürich 1990, S. 257 ff., 276 ff., mit weiteren Hinweisen).
Im vorliegenden Fall wohnt die Beschwerdeführerin nicht im Schulkreis Zürich-Schwamendingen und wäre somit an der von der Kreisschulpflege abgesagten Wahl, bei der sie hätte kandidieren wollen, nicht stimmberechtigt gewesen. Es fragt sich daher, ob sie zur Erhebung einer Stimmrechtsbeschwerde nach
Art. 85 lit. a OG
legitimiert ist.
BGE 119 Ia 167 S. 170
c) Die politischen Rechte umfassen das Recht, an Abstimmungen teilzunehmen, Initiativen und Referendumsbegehren zu unterschreiben, sowie das aktive und passive Wahlrecht. Im Gegensatz zu den anderen Inhalten der politischen Rechte setzt das passive Wahlrecht den Wohnsitz im betreffenden Wahlbezirk nicht unbedingt voraus. Die Beschwerdeführerin ist im Schulkreis Zürich-Schwamendingen als Primarlehrerin wählbar, auch wenn sie selber nicht dort wohnt und daher dort nicht stimmberechtigt ist. Das passive Wahlrecht setzt also nicht notwendigerweise auch die aktive Stimmberechtigung voraus, dafür unter Umständen andere, namentlich fachliche Qualifikationen.
Das Bundesgericht hat in seiner jüngsten Rechtsprechung mehrfach bestätigt, dass auch die Vorschriften über das passive Wahlrecht, insbesondere Wählbarkeits- und unter Umständen Unvereinbarkeitsbestimmungen, zu dem von
Art. 85 lit. a OG
erfassten Schutzbereich der politischen Rechte zählen (
BGE 116 Ia 244
E. 1a, 479 E. 1a;
114 Ia 400
f.;
91 I 192
E. 1a). Die Verletzung solcher Normen kann daher mit der Stimmrechtsbeschwerde genauso geltend gemacht werden wie diejenige von Bestimmungen, welche den Inhalt des aktiven Stimm- und Wahlrechts umschreiben.
In der bisherigen Rechtsprechung wurde allerdings - wie erwähnt - die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde regelmässig allein den Aktivbürgern vorbehalten, auch wenn damit die Verletzung von Vorschriften über das passive Wahlrecht gerügt werden sollte. Die Tatsache, dass in materieller Hinsicht sowohl die Normen über das aktive Stimm- und Wahlrecht als auch diejenigen über das passive Wahlrecht zum Schutzbereich der politischen Rechte gemäss
Art. 85 lit. a OG
zählen, legt es nahe, auch in formeller Hinsicht die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde den aktiv und passiv an einer Wahl Beteiligten zuzuerkennen. Ob es sich rechtfertigt, die Rechtsprechung in diesem Sinne zu erweitern, ist im folgenden zu prüfen.
d) Bei der Stimmrechtsbeschwerde richtet sich die Beschwerdebefugnis gleich wie bei der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte nach dem persönlichen Geltungsbereich der angerufenen Rechte. Wem ein bestimmtes Recht von vornherein nicht zusteht, dem fehlt die Legitimation, daraus abgeleitete Ansprüche mit einer staatsrechtlichen Beschwerde beim Bundesgericht geltend zu machen. Dies ist eine Folge aus der Regel von
Art. 88 OG
, wonach das Recht zur Beschwerdeführung Bürgern und Korporationen nur bezüglich Rechtsverletzungen zusteht. Die Tragweite von
Art. 88 OG
weicht jedoch wegen des anderen
BGE 119 Ia 167 S. 171
Geltungsbereichs der politischen Rechte bei Stimmrechtsbeschwerden erheblich von derjenigen bei staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte ab. Einzelne Entscheide nahmen diesen Unterschied sogar zum Anlass für die Feststellung, die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde richte sich nicht nach
Art. 88 OG
, sondern ausschliesslich nach
Art. 85 lit. a OG
(vgl.
BGE 114 Ia 399
;
BGE 113 Ia 149
E. 1b;
BGE 105 Ia 359
f. E. 4a). In der Literatur ist demgegenüber mit Recht darauf hingewiesen worden, dass
Art. 88 OG
auch für Stimmrechtsbeschwerden gelte, bei diesen aber wegen der besonderen Rechtsnatur der politischen Rechte eine andere Umschreibung des Kreises der Beschwerdelegitimierten bewirke (HILLER, a.a.O., S. 250 ff.; vgl. auch schon
BGE 99 Ia 729
).
Gestützt auf die Regel von
Art. 88 OG
gilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht jeder als zur Beschwerdeführung legitimiert, der daran ein faktisches Interesse hat. Vielmehr ist nur derjenige zur Erhebung einer staatsrechtlichen Beschwerde befugt, der durch den angefochtenen Entscheid in seiner durch besondere Normen geschützten Rechtsstellung berührt wird (
BGE 118 Ia 51
E. 3a;
117 Ia 93
E. 2a;
115 Ia 78
E. 1c). Bei der Stimmrechtsbeschwerde ergibt sich die Legitimation aus der Umschreibung des Schutzbereichs der politischen Rechte. Wem die politischen Rechte von vornherein nicht zustehen, ist nicht befugt, deren Verletzung mit einer Stimmrechtsbeschwerde zu rügen. So fehlt beispielsweise einem Eigentümer, der in einer Gemeinde ein Grundstück besitzt, ohne dort stimmberechtigt zu sein, die Legitimation, Mängel des Abstimmungsverfahrens gegenüber einem sein Eigentum einschränkenden Volksentscheid geltend zu machen. Dieser wird durch den Entscheid allenfalls als Eigentümer, jedoch nicht als Stimmbürger betroffen und kann daher eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Eigentumsgarantie, nicht aber der politischen Rechte erheben.
Im Gegensatz zur Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte setzt die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde nicht voraus, dass der beschwerdeführende Bürger durch den angefochtenen Entscheid auch in seinen persönlichen Interessen tangiert wird (
BGE 116 Ia 479
E. 1a;
BGE 114 Ia 399
;
105 Ia 359
f. E. 4a). Dieser Unterschied erklärt sich aus der unterschiedlichen Funktion der verfassungsmässigen Individualrechte, die in erster Linie den Bürger vor Übergriffen staatlicher Organe in seine persönliche Interessensphäre schützen, und der politischen Rechte, welche dem Bürger die Mitwirkung an der Staatstätigkeit ermöglichen wollen. Werden
BGE 119 Ia 167 S. 172
Bestimmungen über die politischen Rechte des Bürgers verletzt, ist dieser dadurch in seiner Stellung als Stimmbürger betroffen, weshalb er ohne weiteres zur Erhebung einer Stimmrechtsbeschwerde befugt ist. Durch das politische Stimm- und Wahlrecht nehmen die Bürger nämlich nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine Organkompetenz und damit eine öffentliche Funktion wahr. Eine Verletzung der politischen Rechte kann deshalb in Frage stehen ohne Rücksicht darauf, ob der Bürger irgendwie in seinen persönlichen Rechten betroffen ist, und mit der Stimmrechtsbeschwerde werden immer auch öffentliche Interessen verfolgt (
BGE 104 Ia 229
;
BGE 99 Ia 729
f.).
Die bisherige Rechtsprechung erstreckt die Schutzwirkung der politischen Rechte ausschliesslich auf die Aktivbürger. Das Individualrecht auf Teilnahme an der politischen Willensbildung wird wie erwähnt mit der Wahrnehmung der staatlichen Organfunktion verknüpft. Der Bürger, der an einer Volkswahl als Kandidat teilnimmt, ohne im betreffenden Wahlkreis zugleich wahlberechtigt zu sein, übt zwar ebenfalls ein politisches Recht, nämlich sein passives Wahlrecht, aus. Allerdings erfüllt er damit nicht direkt die gleiche staatliche Funktion, wie dies die Aktivbürger tun. Überdies erfolgen Kandidaturen für ein bestimmtes Amt meist mehr aus persönlichen Motiven als zur Wahrung öffentlicher Interessen. Trotzdem ermöglichen die Bürger, die sich als Kandidaten bei einer Volkswahl zur Verfügung stellen, überhaupt erst die aktive Ausübung des Wahlrechts. Sie dürfen zur Wahl nur zugelassen werden, wenn sie die Wählbarkeitsvoraussetzungen erfüllen, und sie haben meist besondere Regeln, die bei Volkswahlen gelten, zu beachten. Sie sehen sich zudem oft mit Unannehmlichkeiten, die eine Volkswahl mit sich bringt, konfrontiert. Vor allem aber bildet der Zugang des Bürgers zu den öffentlichen Ämtern ein zentrales Element der schweizerischen demokratischen Ordnung. Mit der Erstreckung der politischen Rechte auch auf den Anspruch, als Kandidat an Volkswahlen teilnehmen zu können, erfahren die demokratischen Rechte eine wichtige Erweiterung, die im Begriff "passives Wahlrecht" nur unzureichend zum Ausdruck kommt. Wer dieses Recht für sich in Anspruch nimmt, handelt nicht weniger als der Aktivbürger der ja bei seiner Stimmabgabe auch persönliche Interessen verfolgen darf im öffentlichen Interesse. Es rechtfertigt sich daher, den Bürgern, die im Rahmen des kantonalen Rechts von ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch machen und sich als Kandidaten an einer Volkswahl beteiligen, ohne im betreffenden Gemeinwesen selber stimmberechtigt zu sein, die Legitimation zur Erhebung
BGE 119 Ia 167 S. 173
einer Stimmrechtsbeschwerde gemäss
Art. 85 lit. a OG
zuzuerkennen.
Die Legitimation der lediglich passiv Wahlberechtigten zur Stimmrechtsbeschwerde erstreckt sich nicht nur auf die Geltendmachung der Verletzung von Vorschriften über die Wählbarkeit oder die Unvereinbarkeit, sondern ebenfalls auf die weiteren auf die fragliche Wahl anwendbaren Normen, welche die politischen Rechte betreffen. Der passiv Wahlberechtigte ist befugt, auch Verletzungen von Vorschriften über das aktive Stimm- und Wahlrecht und namentlich Unregelmässigkeiten bei Vorbereitungshandlungen von Wahlen und Abstimmungen geltend zu machen, soweit seine Rügen im Zusammenhang mit dem ausgeübten passiven Wahlrecht stehen. Die Legitimation des nicht stimmberechtigten Kandidaten besteht aber selbstverständlich nur in dem Umfang, als er selber an der fraglichen Volkswahl teilnimmt.
e) Die Beschwerdeführerin hat sich für eine gemäss
§ 96 des Gesetzes über die Wahlen und Abstimmungen vom 4. September 1983 (WG)
ausgeschriebene Lehrerstelle im Schulkreis Zürich-Schwamendingen beworben. Sie wurde in der Folge von der Kreisschulpflege den Stimmbürgern zwar nicht zur Wahl vorgeschlagen. Nach
§ 97 Abs. 1 WG
zählte sie aufgrund ihrer Bewerbung aber zu den Kandidaten, aus denen die Stimmberechtigten ihre Wahl - bei Durchführung der Wahl - hätten treffen können. Die Beschwerdeführerin hat damit an den erforderlichen Vorbereitungen zu einer Volkswahl teilgenommen und damit von ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch gemacht. Aus den bei den Akten liegenden Erkundigungen über das Datum der Lehrerwahlen und dem bereits vorbereiteten Wahlpropagandamaterial geht unmissverständlich hervor, dass die Beschwerdeführerin an einer Urnenwahl teilgenommen hätte, wenn diese durchgeführt worden wäre.
Nach den oben dargestellten Grundsätzen steht somit der im Schulkreis Zürich-Schwamendingen zwar nicht stimmberechtigten, aber wahlfähigen Beschwerdeführerin die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde gemäss
Art. 85 lit. a OG
zu.
f) Da auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, ist auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten. Einzig soweit die Beschwerdeführerin mehr verlangt als die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden, da die staatsrechtliche Beschwerde, von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen, lediglich kassatorischer Natur ist (
BGE 117 II 95
f. E. 4;
BGE 116 Ia 95
E. 1;
BGE 114 Ia 212
E. 1b).
BGE 119 Ia 167 S. 174
2.
Das Bundesgericht prüft bei Stimmrechtsbeschwerden nicht nur die Auslegung und Anwendung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei, sondern auch diejenige von kantonalen Vorschriften, die den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts regeln oder mit diesem eng zusammenhängen. Demgegenüber ist die Auslegung und Anwendung anderer kantonaler Normen nur auf Willkür hin zu prüfen (
BGE 116 Ia 244
E. 1b;
BGE 113 Ia 44
f. E. 2, 51 E. 2b; Urteil vom 7. Februar 1991 in ZBl 92/1991 349 f. E. 3b).
Da die von der Beschwerdeführerin als verletzt angeführten Bestimmungen des Wahlgesetzes das Stimm- und Wahlrecht regeln, untersucht das Bundesgericht ihre Auslegung und Anwendung daher mit freier Kognition. Dagegen ist die Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts bezüglich der ebenfalls als verletzt gerügten Bestimmungen des Gesetzes über das gesamte Unterrichtswesen vom 23. Dezember 1859 (UG) auf Willkür beschränkt.
3.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin hat der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid zu Unrecht den Verzicht der Kreisschulpflege Zürich-Schwamendingen geschützt, im Sommer 1991 Lehrerwahlen durchzuführen und die zuvor öffentlich ausgeschriebene Lehrerstelle zu besetzen. Dieses Vorgehen habe allein dazu gedient, sie als unliebsame Kandidatin bei den Lehrerwahlen auszubooten. Die Annahme des Regierungsrats, Lehrerwahlen könnten ohne Vorschlag eines Kandidaten der Schulpflege nicht durchgeführt werden, verletze die
§
§ 95-98 WG
und beruhe zudem auf einer willkürlichen Auslegung von §§ 278/279 UG.
a) Nach § 279 UG richtet sich das Verfahren bei der Wahl von Volksschullehrern nach den Vorschriften des Wahlgesetzes. Dieses geht in § 95 vom Grundsatz der Volkswahl aus. Die anschliessenden
§
§ 96-100 WG
enthalten mit Rücksicht auf die besondere Interessenlage bei Lehrerwahlen eine detaillierte Regelung des Wahlverfahrens. Dabei wird zunächst zwischen Neu- und Bestätigungswahlen unterschieden. Für die hier in Frage stehenden Neuwahlen sieht das Gesetz ein ordentliches (
§ 97 WG
) und ein ausserordentliches Wahlverfahren (sog. stille Wahl,
§ 98 WG
) vor. Bei beiden Verfahrensarten geht der Wahl eine Ausschreibung und eine Behandlung des Geschäfts in der Schulpflege voraus. Diese kann den Stimmbürgern einen Lehrer zur Wahl vorschlagen (
§ 96 WG
). Im Gesetz ist jedoch nicht ausdrücklich geregelt, welche Bedeutung einem solchen Wahlvorschlag der Schulpflege zukommt.
Umstritten ist im vorliegenden Fall, ob die Durchführung einer Volkswahl nur möglich sei, wenn die Schulpflege den Stimmbürgern
BGE 119 Ia 167 S. 175
einen Kandidaten zur Wahl vorschlägt. Die Beschwerdeführerin macht geltend, eine solche Annahme würde letztlich den Grundsatz der Volkswahl unterlaufen und gäbe der Schulpflege ein zu grosses Gewicht. Der Regierungsrat ist demgegenüber der Auffassung, es wäre sachlich nicht vertretbar, das Volk einen Lehrer wählen zu lassen, wenn die Schulpflege wegen fachlicher Bedenken keinen der Kandidaten zur Wahl vorschlagen könne.
b) Nach
§ 98 WG
kommt die stille Wahl zur Anwendung, wenn für eine zu besetzende Stelle keine zusätzlichen Anmeldungen vorliegen. In diesem Fall veröffentlicht die Schulpflege ihren Vorschlag, und der Vorgeschlagene gilt als gewählt, wenn nicht innert sieben Tagen 15 Stimmberechtigte die Durchführung eines Wahlgangs verlangen. Demgegenüber findet das ordentliche Verfahren gemäss
§ 97 WG
statt, wenn sich neben den Kandidaten, welche die Schulpflege vorschlagen will, noch andere gemeldet haben. Die Stimmberechtigten treffen diesfalls die Wahl, wobei sie an den Vorschlag der Schulpflege nicht gebunden sind, aber ausser den Vorgeschlagenen nur wählbaren Kandidaten stimmen können, die sich angemeldet haben. Bereits aus dem Wortlaut dieser beiden Bestimmungen geht deutlich hervor, dass eine Volkswahl nur beim Vorliegen eines Vorschlags der Schulpflege durchgeführt werden kann, denn andere als die beiden beschriebenen Verfahren sieht das Wahlgesetz bei Lehrerwahlen nicht vor. Die von der Beschwerdeführerin angeführte andere Deutung der
§
§ 97 und 98 WG
erscheint kaum nachvollziehbar. Immerhin ist zuzugeben, dass die Rechtslage bei Fehlen eines Vorschlags der Schulpflege nach einer durchgeführten Ausschreibung einer Lehrerstelle nicht ausdrücklich geregelt ist und mit Blick auf den Grundsatz der Volkswahl gemäss
§ 95 WG
allenfalls zu gewissen Zweifeln Anlass geben könnte.
Eine nähere Betrachtung des Konzepts des Wahlgesetzes zeigt, dass die stille Wahl für unbestrittene Fälle vorbehalten ist, bei denen nur ein - von der Schulpflege vorgeschlagener - Kandidat vorhanden ist. Wäre nun das Prinzip der Volkswahl voll verwirklicht, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, so hätte immer das Volk zu entscheiden, wenn die stille Wahl nicht zur Anwendung kommt, unabhängig davon, ob ein Vorschlag der Schulpflege vorliegt. Dass das Wahlgesetz jedoch gerade diese Konsequenz nicht ziehen will, zeigt die Tatsache, dass
§ 97 WG
für das ordentliche Verfahren ausdrücklich erwähnt, die Stimmbürger seien bei der Wahl nicht an die von der Schulpflege vorgeschlagenen Kandidaten gebunden. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll es offensichtlich die Ausnahme
BGE 119 Ia 167 S. 176
sein, dass ein nicht vorgeschlagener Lehrer gewählt wird. Daraus folgt zugleich, dass immer ein Vorschlag der Schulpflege vorliegen muss, wenn eine Volkswahl stattfindet, da sonst die erwähnte Klarstellung in
§ 97 Abs. 1 WG
überflüssig wäre.
Es ist überdies auch sachlich gerechtfertigt, die Durchführung einer Volkswahl von Lehrern vom Vorliegen eines Vorschlags der Schulpflege abhängig zu machen. Die Erziehungsdirektion hebt in ihrer Vernehmlassung mit Grund hervor, dass die Schulpflege über die Fachkenntnisse verfüge, um die sich bewerbenden Kandidaten zu beurteilen und dem Volk aufgrund des gewonnenen Eindrucks den geeignetsten zur Wahl vorzuschlagen. Dies schliesst zwar wie erwähnt nicht aus, dass die Stimmbürger einmal nicht den Vorgeschlagenen wählen, sondern einem anderen Kandidaten den Vorzug geben. Doch dürfte eine solche Volksentscheidung regelmässig nur aufgrund einer intensiven öffentlichen Auseinandersetzung zustande kommen, in welcher die Eignung der Kandidaten eingehend erörtert wird. Wenn dagegen die Schulpflege alle Bewerber für eine Lehrerstelle als ungeeignet ansieht, erscheint die Durchführung von Wahlen nicht vertretbar. Es ist nämlich dem Stimmbürger in einem solchen Fall kaum möglich abzuklären, ob ein Kandidat allenfalls trotz der ablehnenden Haltung der Schulpflege die nötige Eignung aufweist oder ob er an der Urne ebenfalls alle Bewerber zurückweisen muss.
Aus diesen Gründen erweist sich die Auslegung der
§
§ 97 und 98 WG
durch den Regierungsrat als zutreffend. Aus der dargelegten Funktion des Vorschlags der Schulpflege folgt zudem, dass die Durchführung einer Volkswahl auch dann nicht zulässig sein kann, wenn die Schulpflege zwar zunächst einen Kandidaten zur Wahl vorschlägt, dieser hierauf aber seine Bewerbung zurückzieht. Dem Stimmbürger muss vielmehr in jedem Fall ein von der Schulpflege vorgeschlagener Kandidat zur Auswahl stehen.
Im vorliegenden Fall hat die Kreisschulpflege Zürich-Schwamendingen zur Besetzung der noch verbleibenden ausgeschriebenen Lehrerstelle Y. vorgeschlagen. Als diese in der Folge ihre Bewerbung zurückzog, blieb der Kreisschulpflege nach der dargestellten Ordnung des Wahlgesetzes nichts anderes übrig, als die zunächst vorgesehene Lehrerwahl abzusagen. Es ist zuzugeben, dass diese Folge für die Beschwerdeführerin, die sich bereits auf einen Wahlkampf eingestellt und entsprechende Vorbereitungen getroffen hat, unbefriedigend erscheinen mag. Sie ist jedoch die unausweichliche Konsequenz aus der gesetzlichen Regelung, die aus sachlichen Gründen das Prinzip
BGE 119 Ia 167 S. 177
der Volkswahl nicht in reiner Form verwirklicht, sondern an das Vorhandensein eines Vorschlags der Schulpflege knüpft.
Es ergibt sich somit, dass der angefochtene Entscheid die
§
§ 95-98 WG
nicht verletzt und das passive Wahlrecht der Beschwerdeführerin nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigt. Ihre Beschwerde erweist sich insoweit als unbegründet.
c) Die Kreisschulpflege Zürich-Schwamendingen hat sich um die Besetzung der fraglichen freien Lehrerstelle bemüht. Sie hat damit die ihr durch §§ 277 Abs. 1 und 278 UG auferlegte Pflicht erfüllt. Dass die definitive Besetzung gescheitert ist, hat sie nicht zu verantworten, sondern ist die Folge des Rückzugs der Bewerberin Y. Es verhält sich also gerade umgekehrt, als die Beschwerdeführerin behauptet: Die Kreisschulpflege sah von einer definitiven Besetzung der freien Lehrerstelle nicht ab, um die bevorstehende Lehrerwahl absagen zu können, sondern weil die Wahlen mangels eines Vorschlags nicht mehr durchgeführt werden konnten. Von einer willkürlichen Auslegung und Anwendung des Unterrichtsgesetzes kann unter diesen Umständen keine Rede sein, weshalb die Beschwerde auch in diesem Punkt unbegründet ist. | de |
8ef4643d-eca3-460d-866f-6da253288bd7 | Sachverhalt
ab Seite 87
BGE 109 V 86 S. 87
A.-
Hans T. war Verwaltungsratspräsident, W. B. zunächst Mitglied des Verwaltungsrates und später dessen Vizepräsident und V. S. Delegierter des Verwaltungsrates und Geschäftsführer der Firma W. AG. Hans T. schied im Frühjahr 1976 aus dem Verwaltungsrat aus; die entsprechende Publikation im Schweizerischen Handelsamtsblatt erfolgte am 12. Mai 1976.
Am 13. Juli 1976 wurde über die Firma W. AG der Konkurs eröffnet. Im Konkursverfahren kam die Ausgleichskasse des Kantons Zürich für in den Jahren 1971 bis 1976 nicht abgerechnete paritätische Sozialversicherungsbeiträge sowie Verwaltungskosten und Mahngebühren in der Höhe von Fr. 41'177.35 zu Verlust. Am 13. April 1977 wurde der Konkurs geschlossen und die Firma von Amtes wegen im Handelsregister gelöscht.
Gestützt auf
Art. 52 AHVG
erklärte die Ausgleichskasse die obgenannten Verwaltungsräte für den Betrag von Fr. 41'177.35 solidarisch haftbar und forderte sie zur Bezahlung des Schadenersatzes auf (Verfügungen vom 4. und 25. Juli 1977).
B.-
Gegen diese Verfügungen erhoben Hans T. sowie W. B. und V. S. im Sinne von
Art. 81 Abs. 2 AHVV
Einspruch, worauf die Kasse am 8. September 1977 bei der AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Klage erhob.
Die Rekurskommission hiess die Klage gegen Hans T. gut und verpflichtete diesen zur Bezahlung des Schadenersatzes in der
BGE 109 V 86 S. 88
Höhe von Fr. 41'177.35. Dagegen wies sie die Klage gegen W. B. und V. S. wegen Verspätung ab (Entscheid vom 29. April 1980).
C.-
Hans T. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit dem Antrag, der Entscheid der Rekurskommission sei aufzuheben, soweit dieser ihn zur Bezahlung von Schadenersatz verpflichte; evtl. sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(Kognition.)
2.
(Vgl.
BGE 108 V 200
Erw. 1.)
3.
(Vgl.
BGE 108 V 202
Erw. 3a.)
4.
Es steht fest, dass die Firma W. AG entgegen der Vorschrift des
Art. 14 Abs. 1 AHVG
paritätische bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge, Verwaltungskosten und Mahngebühren in der Höhe von Fr. 41'177.35 der Ausgleichskasse nicht bezahlt hat und dass dieser dadurch ein Schaden entstanden ist. Hiefür haften somit die Verwaltungsratsmitglieder, insoweit sie den Schaden durch grobfahrlässige oder vorsätzliche Missachtung von AHV-Vorschriften verursacht haben. Die ohne nähere Begründung in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde aufgestellte Behauptung, die subsidiäre Haftung der Organe einer Aktiengesellschaft für Schäden gemäss
Art. 52 AHVG
widerspreche den massgebenden gesetzlichen Bestimmungen, ist unzutreffend.
5.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, dass die Sozialversicherungsbeiträge "nicht aus einer Unterlassung heraus", sondern in Ermangelung finanzieller Mittel nicht bezahlt worden seien. Das ist indessen unerheblich. Denn für die Beurteilung der Haftbarkeit des Beschwerdeführers kommt es nicht darauf an, dass die Aktiengesellschaft nicht über ausreichende materielle Mittel verfügte. Entscheidend ist vielmehr, ob sie infolge Verschuldens des Beschwerdeführers nicht in der Lage war, ihrer Zahlungspflicht gegenüber der Ausgleichskasse nachzukommen.
6.
Unerheblich ist auch der weitere Einwand, weder der Buchhalter noch der Geschäftsführer V. S. habe dem Beschwerdeführer je Mahnungen der Ausgleichskasse gezeigt. Als Verwaltungsratspräsident einer Firma, die nach eigenen Angaben in der
BGE 109 V 86 S. 89
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sich "in einer zunehmend schwierigeren Liquiditätskrise befand" und bei der "die in solchen Fällen üblichen Verzögerungen" in der "Begleichung aller Rechnungen" eintraten, war der Beschwerdeführer verpflichtet, sich einen Überblick über die hängigen Verbindlichkeiten und deren Bedeutung zu verschaffen. Er musste wissen, dass und wieviel AHV-Beiträge noch zu bezahlen waren, und er hätte dafür sorgen müssen, dass mit den Löhnen auch die Beiträge bezahlt werden. Indem er im Verlaufe mehrerer Jahre (1971-1975) dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, hat er das ausser acht gelassen, "was jedem verständigen Menschen in gleicher Lage und unter gleichen Umständen als beachtlich hätte einleuchten müssen". Der Einwand, dass er "kein ausgebildeter Wirtschaftswissenschafter" und "keinesfalls der kaufmännische Experte in der Firma" war und dass es nach Ausbildung und interner Funktionsaufteilung in erster Linie am Geschäftsführer V. S., am Buchhalter V. und am Verwaltungsrats-Vizepräsidenten W. B. gelegen hätte, bezüglich der AHV-Abrechnungspflicht für Ordnung zu sorgen, vermag den Beschwerdeführer nicht zu entlasten. Zwar dürfte es zutreffen, dass die genannten drei Personen intern primär für die AHV-Abrechnungen zuständig und über die Sache im einzelnen besser orientiert waren. Dies ändert aber nichts daran, dass dem Beschwerdeführer selber im Sinne der obigen Darlegungen ebenfalls grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Er kann als Verwaltungsratspräsident dort, wo es um die Verantwortlichkeit in Geschäften geht, mit denen er sich ihrer Bedeutung wegen befassen musste, nicht darauf berufen, dass sich seine Tätigkeit "vor allem auf die Leitung der Verwaltungsratssitzungen und der Generalversammlungen" beschränkt und er "als Nichtaktionär ... auch keinen faktischen Einfluss auf die Geschäftsführung" gehabt habe.
7.
Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, ein Verwaltungsrat hafte nur anteilsmässig für den von ihm verursachten Schaden. Das Eidg. Versicherungsgericht habe jeweils keine solidarische Haftung der Verwaltungsräte für den entstandenen Schaden angenommen. Das AHVG sehe eine solidarische Haftung nicht vor. Zudem unterstehe der Arbeitgeber bezüglich der Zahlung paritätischer Beiträge dem Verantwortlichkeitsgesetz (VG); dessen Art. 9 Abs. 2 bestimme, dass mehrere Beamte, welche einen Schaden gemeinsam verschuldet haben, in Abweichung von
Art. 50 OR
lediglich anteilsmässig nach der Grösse des Verschuldens haften.
BGE 109 V 86 S. 90
a) Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers hat das Eidg. Versicherungsgericht stets solidarische Haftung der schuldhaft handelnden Organpersonen einer in Konkurs geratenen Aktiengesellschaft angenommen. In Übereinstimmung mit der bisherigen Praxis ist in diesem Zusammenhang auf
Art. 754 Abs. 1 OR
in Verbindung mit
Art. 759 Abs. 1 OR
abzustellen, wonach alle mit der Verwaltung, Geschäftsführung oder Kontrolle einer Aktiengesellschaft betrauten Personen sowohl der Gesellschaft als den einzelnen Aktionären und Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich sind, den sie durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen, und solidarisch dafür haften, wenn sie für den gleichen Schaden verantwortlich sind. Im Falle einer einfachen Gesellschaft als Arbeitgeberin hat das Gericht ebenfalls auf die zivilrechtlich vorgesehene solidarische Haftung der Gesellschafter (
Art. 544 Abs. 3 OR
) abgestellt und dazu erklärt, dass die zivilrechtlichen Solidaritätsbestimmungen auch im öffentlichen Recht zu beachten sind (ZAK 1981 S. 378).
b) Zur Begründung der bloss anteilsmässigen Haftung beruft sich der Beschwerdeführer auch auf SOMMERHALDER, Die Rechtsstellung des Arbeitgebers in der AHV, und auf
BGE 96 V 125
. SOMMERHALDER führt auf S. 59 aus, dass der Arbeitgeber wegen seiner Organeigenschaft dem Verantwortlichkeitsgesetz unterstehe. Für diese Annahme spricht der sehr weit gefasste Wortlaut von
Art. 1 Abs. 1 lit. f VG
, wonach ausser den in den lit. a-e genannten Behördemitgliedern, Beamten und übrigen Arbeitskräften des Bundes "alle anderen Personen, insoweit sie unmittelbar mit öffentlichrechtlichen Aufgaben des Bundes betraut sind", dem Verantwortlichkeitsgesetz unterstehen. Dabei ist es keineswegs erforderlich, dass diese mit öffentlichrechtlichen Bundesaufgaben betrauten Personen in einem Arbeitsverhältnis zum Bund, sei es öffentlich- oder privatrechtlicher Natur, stehen (
BGE 106 Ib 275
). Gerade zu dieser Personenkategorie würden grundsätzlich die Arbeitgeber gehören, denen die in
Art. 14 Abs. 1 AHVG
statuierte öffentlichrechtliche Pflicht zur Abrechnung und Ablieferung der paritätischen Sozialversicherungsbeiträge obliegt. Indessen hat das Eidg. Versicherungsgericht in
BGE 96 V 125
erklärt,
Art. 52 AHVG
bilde "innerhalb des Systems des Verantwortlichkeitsgesetzes eindeutig eine Spezialbestimmung", indem nach dem klaren Wortlaut des
Art. 52 AHVG
- in Umkehrung des im
Art. 19 Abs. 1 lit. b VG
statuierten allgemeinen Grundsatzes der primären
BGE 109 V 86 S. 91
Haftung der fehlbaren Organe und der bloss subsidiären Haftung der Organisation als solcher - "primär der Arbeitgeber, also gegebenenfalls die Organisation, haftet". Daneben müsse "im Hinblick auf den erwähnten allgemeinen Grundsatz aber auch die - wenigstens subsidiäre - Haftung der handelnden Personen angenommen werden". Ferner hat das Gericht im gleichen Urteil erklärt, dass die dem Verantwortlichkeitsgesetz zugrundeliegenden allgemeinen Rechtsnormen auch bei der Auslegung des
Art. 52 AHVG
heranzuziehen seien.
Unter der Voraussetzung,
Art. 9 Abs. 2 VG
, auf den sich der Beschwerdeführer beruft, wäre eine solche allgemeine, auch im Bereiche des
Art. 52 AHVG
anwendbare Rechtsnorm, würde sie auf den konkreten Fall nicht bzw. mindestens nicht direkt zutreffen. Denn
Art. 2 Abs. 1 VG
bestimmt, dass die Vorschriften über die Beamten auch für alle übrigen, in
Art. 1 VG
genannten Personen gelten, sofern das Verantwortlichkeitsgesetz nicht besondere Normen enthält. Der in Art. 9 verwendete Begriff des lediglich anteilsmässig haftenden "Beamten" würde hier dem Arbeitgeber entsprechen. Das hätte zur Folge, dass nur dann, wenn zwei oder mehr Arbeitgeber (natürliche oder juristische Personen) als solche gemeinsam einen Schaden verursachen, keine solidarische, sondern lediglich anteilsmässige Haftung besteht. Hier geht es aber darum, ob die subsidiär haftenden Organpersonen einer juristischen Person, die ihrerseits als Arbeitgeberin ohne Mitwirkung weiterer Arbeitgeber einen Schaden verursacht hat, solidarisch oder anteilsmässig für diesen von der juristischen Person verursachten Schaden haften. Es stellt sich also die Frage, ob diese subsidiären Haftungssubjekte entgegen ihrer zivilrechtlichen solidarischen Haftung (
Art. 759 Abs. 1 OR
) in Analogie zu
Art. 9 Abs. 2 VG
bloss anteilsmässig haftbar erklärt werden sollen. Dies ist zu verneinen, weil eine solche analoge Behandlung - jedenfalls theoretisch - auf eine doppelte Privilegierung der subsidiären Haftungssubjekte hinausliefe. Denn bei gemeinsamer Schadenszufügung durch mehrere Arbeitgeber würde zunächst der einzelne Arbeitgeber zum vornherein nur im Rahmen von
Art. 9 Abs. 2 VG
anteilsmässig haften, und danach wären - im Falle einer juristischen Person - die subsidiären Haftungssubjekte ihrerseits zum vornherein nochmals nur für ihren Anteil haftpflichtig und käme nicht erst auf dem Wege des Rückgriffs die Verteilung des Schadens nach Massgabe des Verschuldens in Frage, wie dies
Art. 759 Abs. 2 OR
vorsieht. Zu einer solchen zweifachen Privilegierung
BGE 109 V 86 S. 92
dieser subsidiären Haftungssubjekte, die dann in allen Fällen gelten müsste, in denen eine juristische Person in "amtlicher Tätigkeit" dem Bund einen Schaden zufügt, besteht kein Anlass; denn bei dieser subsidiären Haftung steht doch im Vordergrund, dass diese Organpersonen im Rahmen von
Art. 759 OR
für die juristische Person, in deren Namen sie gehandelt haben, voll einstehen sollen, unabhängig von der Rechtsnatur der auf diese Weise für die juristische Person geschaffenen Verbindlichkeit.
8.
...
9.
Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, die vor dem 25. Juli 1972 fällig gewesenen Sozialversicherungsbeiträge seien verjährt, weil für diese Beiträge die fünfjährige Verjährungsfrist des
Art. 82 AHVV
zur Zeit ihrer Geltendmachung durch die Schadenersatzverfügung am 25. Juli 1977 bereits abgelaufen gewesen sei.
Nach
Art. 82 Abs. 1 AHVV
verjährt die Schadenersatzforderung, wenn sie nicht innerhalb eines Jahres seit Kenntnis des Schadens verfügungsweise geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber mit Ablauf von 5 Jahren seit Eintritt des Schadens. Der Eintritt des Schadens muss als erfolgt gelten, sobald anzunehmen ist, dass die geschuldeten Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr erhoben werden können (
BGE 103 V 122
). Dies trifft im Falle eines Konkurses beispielsweise bei Erhalt des Verlustscheins zu (vgl.
BGE 108 V 50
). In diesem Zeitpunkt beginnt die fünfjährige Frist des
Art. 82 AHVV
zu laufen. In dem am 13. Juli 1976 über die Firma W. AG eröffneten Konkurs hat die Ausgleichskasse durch Zustellung des Verlustscheins am 13. April 1977 Kenntnis erhalten, dass sie mit ihrer Forderung zu Verlust kommen würde. Bereits am 25. Juli 1977 machte die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung verfügungsweise gegenüber dem Beschwerdeführer geltend. Seither läuft das Schadenersatzverfahren ununterbrochen. Von Verjährung der Forderung der Ausgleichskasse kann somit keine Rede sein.
Insofern der Beschwerdeführer durch den Hinweis auf
BGE 102 V 206
geltend machen will, die Forderung der Ausgleichskasse sei gemäss
Art. 16 Abs. 1 AHVG
verwirkt, kann ihm ebenfalls nicht gefolgt werden. Die Beitragsverwirkung nach
Art. 16 Abs. 1 AHVG
wird häufig eine Voraussetzung dafür bilden, dass überhaupt Schadenersatz gefordert werden kann. Der eigentliche Rechtsgrund des Schadenersatzes ist aber - neben dem Schaden - die absichtliche oder grobfahrlässige Rechtsverletzung seitens
BGE 109 V 86 S. 93
des Arbeitgebers. Liegt eine solche vor, so löst diese - anstelle der bisherigen Beitragsforderung - eine Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse aus, für welche nicht die Verwirkungsfrist des
Art. 16 Abs. 1 AHVG
, sondern die Verjährungsfrist des
Art. 82 AHVV
gilt. Die allgemeine Verwirkung gemäss
Art. 16 AHVG
hat damit nichts zu tun (EVGE 1961 S. 231).
10.
Nach Auffassung des Beschwerdeführers wäre es auch deshalb unzulässig, ihn ins Recht zu fassen, weil die Frist zur Geltendmachung der Schadenersatzforderung gegenüber W. B. und V. S. versäumt worden sei. Auch dieser Einwand ist unerheblich. Es ist gerade die Eigentümlichkeit der Solidarschuldnerschaft, dass es im Belieben des Gläubigers steht, welchen Solidarschuldner er in Anspruch nehmen will (
BGE 108 V 195
Erw. 3). Der Beschwerdeführer geht fehl, wenn er seine einseitige Inanspruchnahme für rechtsungleich hält. Ebenso unerheblich ist es, ob sich das Vorgehen der Ausgleichskasse auf das Regressrecht des Beschwerdeführers, zu dem sich das Eidg. Versicherungsgericht nicht zu äussern hat, allenfalls nachteilig auswirken wird.
11.
...
12.
Zusammengefasst ergibt sich folgendes: Der Beschwerdeführer als Organperson der ehemaligen Arbeitgeberin W. AG hat der Ausgleichskasse dadurch, dass er sich nicht hinreichend um die Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge kümmerte und dass deshalb der Ausgleichskasse ein Schaden erwachsen ist, mindestens grobfahrlässig diesen Schaden verursacht (bzw. mitverursacht). Es sind keine Exkulpations- oder Rechtfertigungsgründe dargetan. Schliesslich ist die Forderung auch nicht aus formellen Gründen untergegangen. Die Schadenersatzpflicht des Beschwerdeführers ist somit grundsätzlich zu bejahen.
13.
In masslicher Hinsicht ist indessen folgendes zu beachten: Der Beschwerdeführer macht geltend, die im Jahre 1976 fällig gewordenen Sozialversicherungsbeiträge könnten ihm nicht mehr angelastet werden, weil er bereits am 17. März 1976 aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden sei. Auf den gleichen, schon vor der Rekurskommission erhobenen Einwand hat diese darauf hingewiesen, dass der Rücktritt aus dem Verwaltungsrat nach
Art. 932 Abs. 2 OR
gegenüber Dritten nicht vor der Publikation im Schweizerischen Handelsamtsblatt wirksam werde. Im vorliegenden Fall sei die Publikation erst im Mai 1976 erfolgt. Weil sich der ganze Schaden aus nicht bezahlten Beiträgen auf bis Ende April 1976 ausbezahlten Löhnen zusammensetze, hafte Hans T., obschon
BGE 109 V 86 S. 94
bereits am 17. März 1976 aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden, in vollem Umfang. Die Vorinstanz beruft sich auf
BGE 103 V 123
. In diesem Urteil hat das Eidg. Versicherungsgericht wohl erklärt, dass nicht nur die Eintragung, sondern auch die Löschung eines Verwaltungsratsmandats im Handelsregister gegenüber Dritten mit der Veröffentlichung im Handelsregister wirksam werde. Das Gericht hat aber auch darauf hingewiesen, dass die Organhaftung für Unterlassungen der Firma nur für Vorfälle in Betracht komme, die sich ergeben hatten, "als er (sc. der Beschwerdeführer und frühere Verwaltungsratspräsident) tatsächlich Organ der Firma war".
Im nicht publizierten Urteil B. und S. vom 3. Dezember 1982 wurde die Schadenshaftung eines Verwaltungsratspräsidenten deshalb verneint, weil dieser bereits rund einen Monat vor der Fälligkeit der Beiträge aus dem Verwaltungsrat entlassen worden war und damals noch auf die Beitragsausstände aufmerksam gemacht hatte. Keine Bedeutung wurde dem Umstand beigemessen, dass das Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat erst nach Fälligkeit der Beitragsforderung im Handelsamtsblatt veröffentlicht worden war. - In ähnlichem Sinne verneinte das Eidg. Versicherungsgericht im nicht publizierten Urteil B. vom 31. Januar 1983 die grobe Fahrlässigkeit bei einem Verwaltungsratsmitglied, das zehn Tage vor der Fälligkeit der Beiträge effektiv aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden war, weil dieses Verwaltungsratsmitglied vom Zeitpunkt seines Ausscheidens hinweg keine Möglichkeit mehr hatte zu prüfen, ob die Beiträge bei Fälligkeit oder später tatsächlich bezahlt würden. Als unmassgeblich bezeichnete das Gericht dem Sinne nach den Umstand, dass die Organstellung der betreffenden Personen im Handelsregister noch nicht gelöscht war.
Es scheint angezeigt, die dargelegte Rechtsprechung wie folgt zu präzisieren: Die Organhaftung aus
Art. 52 AHVG
besteht nicht für Beitragsforderungen, die nach der Publikation der Löschung der Organstellung der betreffenden Person im Handelsregister fällig werden, weil die betreffende Person im Zeitpunkt der Fälligkeit nicht mehr Organ ist. Für die vor der Publikation fälligen Beitragsforderungen haftet das Organ, wenn es durch eine vorsätzliche oder grobfahrlässige Handlung bzw. Unterlassung bewirkt hat, dass die Beiträge im Zeitpunkt der Fälligkeit nicht bezahlt werden konnten. Ein Verschulden des Organs kann nur so lange in Frage kommen, als es die Möglichkeit hat, durch Handlungen oder Unterlassungen die Geschäftsführung massgeblich zu
BGE 109 V 86 S. 95
beeinflussen. Das ist faktisch längstens bis zum effektiven Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat der Fall.
Der Beschwerdeführer ist am 17. März 1976 aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden und hat deshalb bis zu diesem Zeitpunkt die Geschäftsführung der Firma W. AG massgeblich mitbeeinflussen können. Nachher hatte er keine Möglichkeit mehr zu veranlassen, dass die für das erste Quartal des Jahres 1976 geschuldeten und mit dem Ablauf dieser Zahlungsperiode fällig gewordenen Beiträge in diesem Zeitpunkt bzw. innerhalb von zehn Tagen nach ihrer Fälligkeit (
Art. 34 Abs. 1 lit. a und Abs. 4 AHVV
) bezahlt würden. Somit haftet er für die Beiträge, die auf den ab Januar 1976 ausbezahlten Löhnen geschuldet und Ende März und später fällig geworden sind, sowie für die entsprechenden Verwaltungskosten nicht. Damit reduziert sich die Schadenersatzsumme von Fr. 41'177.35 um Fr. 22'133.90 (Fr. 21'489.20 + 644.70) auf Fr. 19'043.45. | de |
67305b7c-8bcd-4206-bd87-ff39c0386e8c | Erwägungen
ab Seite 88
BGE 87 III 87 S. 88
Mit Ihrem Schreiben unterbreiten Sie uns eine Frage betreffend die Anwendung des
Art. 91 Abs. 1 SchKG
.
Nach dieser Vorschrift ist der Schuldner bei Straffolge verpflichtet, der Pfändung beizuwohnen oder sich bei derselben vertreten zu lassen. Darauf wird er jeweilen bei der Pfändungsankündigung laut dem Formular Nr. 5 hingewiesen. In der Praxis der Betreibungsämter hat sich die Befragung des Schuldners oder eines zur Auskunfterteilung fähigen Vertreters in manchen Fällen als unentbehrlich erwiesen (wie auch H. AMMANN, Vorsteher des Betreibungsamtes Zürich 7, Die polizeiliche Vorführung des Schuldners im Pfändungsverfahren, BlSchK 1954 S. 129 ff., ausführt). Viele Betreibungsämter pflegen daher den dem Pfändungsvollzug ohne Entschuldigung fern gebliebenen und dabei auch nicht gehörig vertretenen Schuldner polizeilich zur Auskunfterteilung in das Amtsbureau vorführen zu lassen. Mitunter bezweifelt jedoch die hiezu in Anspruch genommene Polizeibehörde die Zulässigkeit
BGE 87 III 87 S. 89
dieser Massnahme. Auf Wunsch der Polizeidirektion des Kantons Bern möchten Sie diese Frage durch einen Bescheid der eidgenössischen Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs abklären lassen.
Wir stehen nicht an, zu der praktisch bedeutungsvollen Frage Stellung zu nehmen. Sie ist grundsätzlicher Art und lässt sich auch ausserhalb eines Rekursverfahrens beantworten.
1.
Es fällt zunächst auf, dass dem Betreibungsamt zwar nicht in Abs. 1, wohl aber in Abs. 2 des Art. 91 die Anwendung unmittelbaren Zwanges, nötigenfalls mit Hilfe der Polizei, zugestanden wird: zur Öffnung von Räumen und Behältnissen. Wie das Bundesgericht in einer staatsrechtlichen Entscheidung ausgeführt hat, ist dies keine singuläre Bestimmung, sondern Ausfluss eines allgemein gültigen Prinzips; es erscheine als eine selbstverständliche Forderung der Rechtsordnung, "dass die Staatsgewalt ihre Organe mittelst Hülfe der Polizei bei der Ausübung ihrer amtlichen Funktionen unterstützt, soweit letztere ohne diese Unterstützung verunmöglicht oder mit grossen Schwierigkeiten bezw. Gefahren für den pflichtigen Beamten verbunden wäre" (BGE 22 S. 996). Auf diese Entscheidung weist JAEGER, N. 14 zu
Art. 91 SchKG
, hin, und sie wird gelegentlich auf dem Wege der Analogie zur Ergänzung des Abs. 1 dieses Artikels und damit eben zur Rechtfertigung der zwangsweisen Vorführung des Schuldners herangezogen (namentlich von H. AMMANN, a.a.O. S. 131). JAEGER (a.a.O.) hält zwar ebenfalls die Beiziehung polizeilicher Hilfe auch in andern als den in Art. 91 Abs. 2 erwähnten Fällen für zulässig, jedoch gerade nicht zur Erzwingung der Anwesenheit des Schuldners nach Art. 91 Abs. 1, wofür nur die Strafanzeige in Betracht komme (N. 4 daselbst). Auch FRITZSCHE (SchK I 143) nimmt diesen Standpunkt ein, indem er sich auf die Feststellung beschränkt, das Gesetz bestimme nicht, dass der fern gebliebene und auch nicht richtig vertretene Schuldner herbeigeschafft würde, sondern sehe als Sanktion
BGE 87 III 87 S. 90
nur die Bestrafung (jetzt gemäss
Art. 323 Ziff. 1 StGB
) vor. Indessen haben bereits mehrere kantonale Aufsichtsbehörden die polizeiliche Vorführung eines Schuldners, der das Gebot des Art. 91 Abs. 1 missachtet hat, gebilligt (Zürich: Bescheid an die kantonale Direktion der Polizei vom 22. Dezember 1922; siehe H. AMMANN, a.a.O. S. 133; Graubünden: Entscheid, veröffentlicht in der Praxis des Kantonsgerichts 1953 und in BlSchK 1956 S. 19/20; Luzern: Weisung vom 31. März 1959 an die Betreibungs- und Konkursämter, BlSchK 1961 S. 61 ff.). Im Kanton Waadt ist diese Massnahme sogar gesetzlich festgelegt durch Art. 72 Abs. 4 der loi d'application de la LP vom 18. Mai 1955, lautend:
"Lorsqu'un débiteur, avisé conformément à la loi, n'assiste pas en personne à une saisie ou à une prise d'inventaire et ne s'y fait pas représenter (art. 91 al. 1, 163 et 317 al. 1 LP), ou encore ne reste pas à disposition de la masse en faillite pendant la durée de la liquidation (art. 229 al. 1 LP), le préfet peut, sur demande du préposé, le faire conduire dans les locaux de l'office pour y être entendu. La poursuite pénale (art. 323 ch. 1 du code pénal) est réservée."
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts hat, bisweilen an die erwähnte staatsrechtliche Entscheidung anknüpfend, die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch die Organe des Betreibungs- und Konkursverfahrens in verschiedenen Fällen in Analogie zu
Art. 91 Abs. 2 SchKG
zugelassen: gegen den Schuldner zur Durchführung von Beschlagnahmehandlungen (
BGE 42 III 267
/68), gegen einen Gläubiger, der gepfändete Sachen heimlich weggenommen hat (
BGE 43 III 195
ff., 199), unter Umständen auch gegen Dritte (
BGE 51 III 137
/38,
BGE 55 III 14
ff. - kritisiert von JAEGER, N. 5a zu Art. 91 in SchK =Praxis IV -,
BGE 66 III 30
ff.,
BGE 79 III 113
). Abgelehnt wurde Gewaltanwendung gegen einen Dritten, der den Besitz gepfändeter Sachen verneinte oder keine Auskunft darüber gab, ob er solche Sachen besitze (
BGE 31 I 721
=Sep.-Ausg. 8 S. 267,
BGE 51 III 40
). Ebenso wurde einem Betreibungsamt verwehrt, durch Gewalt in die
BGE 87 III 87 S. 91
Geheimsphäre eines Schuldners einzudringen, der die Auskunft über seine Lohnverhältnisse verweigerte. Zulässig und zugleich geboten sei in einem solchen Falle bloss die Anwendung mittelbaren Zwanges durch Strafanzeige (
BGE 69 III 75
ff.).
2.
Wie es sich mit der Möglichkeit einer unmittelbaren Erzwingung der Erscheinens- oder Vertretungspflicht als solcher, gemäss
Art. 91 Abs. 1 SchKG
, verhalte, ist bei alldem offen geblieben. Es erweckt Bedenken, eine dahingehende Befugnis des Betreibungsamtes analogieweise aus Abs. 2 daselbst herzuleiten, denn diese Bestimmung betrifft eben keine Amtshandlungen, die sich gegen die Person des Schuldners zu richten hätten. Eine andere Frage ist es, ob
Art. 91 Abs. 2 SchKG
Ausfluss eines so umfassenden Prinzips sei, dass auch Massnahmen der hier in Frage stehenden Art (polizeiliche Vorführung) erlaubt wären, ohne dass es hiefür einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung bedürfte. Die Lehre und Praxis des Verwaltungsrechts gibt hierauf keine eindeutige Antwort. Nach FLEINER (Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Auflage, S. 222) ist zur Bewirkung von Leistungen, "bei deren Vollstreckung Ersatzvornahme oder Ungehorsamsstrafe unanwendbar sind oder nicht zum Ziele führen", die Behörde vermöge ihrer Amtsgewalt ein- für allemal ermächtigt, den rechtlich geforderten Zustand mit unmittelbarem Zwang herzustellen. "In gleicher Weise darf auch der Private zur Erteilung von Auskunft oder zur Erstattung eines Zeugnisses zwangsweise der Behörde zugeführt werden, sofern für ihn im gegebenen Falle eine rechtsgültige Auskunftspflicht besteht" (ebenda S. 224). Ähnlich äussert K. BRUNNER (Die Lehre vom Verwaltungszwang, Diss. 1923, S. 43 ff.) die Meinung, "dass die Befugnis, obrigkeitliche Anordnungen zu erlassen, das Recht einschliesse, dieselben in Vollzug zu setzen". Dieser Autor betrachtet den Verwaltungszwang als eine Folge der Verfügungskompetenz der Verwaltung und umschreibt seinen Standpunkt wie folgt: "Es ist unzulässig zu behaupten,
BGE 87 III 87 S. 92
dort, wo eine besondere gesetzliche Bestimmung über den unmittelbaren Zwang fehle, stehe er der Verwaltung überhaupt nicht zu. Solange der unmittelbare Zwang keinen weitern Eingriff in Freiheit und Eigentum des Bürgers bedeutet, als der Polizeibefehl, und ihm vor allem jeder pönale Nebenzweck fehlt, ist er anwendbar auch ohne gesetzliche Grundlage" (a.a.O. S. 55). Grundsätzlich, aber nur unter gewissen Voraussetzungen, bejaht diese Befugnis auch RUCK (Schweizerisches Verwaltungsrecht, 3. Auflage, I 128): "Die Zwangsbefugnis ist nicht mehr wie einst im Polizeistaat selbstverständlicher Bestandteil und Wesensmerkmal der Amtsgewalt, sondern die Verwaltungsbehörden haben nur diejenige Zwangsgewalt und diejenigen Zwangsmittel zur Verfügung, die ihnen gemäss dem Wortlaut oder Sinn und Zweck der Rechtsordnung zustehen." Anderseits wendet sich GIACOMETTI (Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts I S. 540) gegen die Ansicht, in der Befugnis zu Verwaltungsakten sei auch die Befugnis enthalten, sie bei Ungehorsam des Verpflichteten zu vollstrecken. Er verlangt für jeden Vollstreckungszwang "die vom Prinzip der Gesetzmässigkeit der Verwaltung geforderte Rechtsgrundlage". Vollends verpönt er die Anwendung von Gewalt zur Erzwingung eines vom Willen des Verpflichteten abhängigen Tuns, wie insbesondere der Erfüllung einer Auskunftspflicht (S. 561). Auch die staatsrechtliche Praxis verlangt zur Rechtfertigung von Eingriffen in Individualrechte grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage (
BGE 67 I 76
,
BGE 81 I 132
,
BGE 83 I 113
). Dieses Erfordernis wird in der Deutschen Bundesrepublik aus Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes hergeleitet (FORSTHOFF, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Auflage, I S. 265 und 274). Immerhin hält dieser Autor die Verwaltungbehörde für berechtigt, zur Erreichung von Auskünften "den Auskunftspflichtigen vorführen zu lassen und durch Festhalten die Auskünfte zu erzwingen", allerdings nur, wenn das vorerst als Beugmittel verhängte "Zwangsgeld" wirkungslos geblieben sei (S. 274/75). Die französische Lehre nimmt demgegenüber den Standpunkt
BGE 87 III 87 S. 93
ein, die Verwaltungsbehörden seien - Fälle dringender Notwendigkeit ausgenommen - zur Anwendung unmittelbarer Gewalt nicht befugt, sofern ihnen andere Rechtsbehelfe, insbesondere die Strafklage, zur Verfügung stehen (M. WALINE, Droit administratif, 8. Auflage, nos 877/78; VEDEL, Droit administratif I S. 130).
3.
Dem schweizerischen Recht ist der letztere Grundsatz fremd. Gerade das SchKG enthält eine Vorschrift, aus der sich eine gegenteilige Ordnung ergibt: Nach
Art. 229 Abs. 1 SchKG
ist der Gemeinschuldner "bei Straffolge" verpflichtet, während des Konkursverfahrens zur Verfügung der Konkursverwaltung zu stehen; er kann dieser Pflicht nur durch besondere Erlaubnis enthoben werden; nötigenfalls wird er mit Hilfe der Polizeigewalt zur Stelle gebracht. Neben der Strafanzeige steht somit der Konkursverwaltung die zwangsweise Vorführung mit Hilfe der Polizei zu.
Diese konkursrechtliche Vorschrift bildet nun auch den Schlüssel zur Beantwortung der vorwürfigen Frage des Pfändungsverfahrens. Das Gebot des
Art. 91 Abs. 1 SchKG
dient ebenso wie dasjenige des
Art. 229 Abs. 1 SchKG
dazu, die richtige und zweckentsprechende Durchführung einer Zwangsvollstreckung zu ermöglichen. Dem Gegenstande nach geht jenes erste Gebot freilich weniger weit als dieses; es ist nur für das Stadium des Pfändungsvollzuges aufgestellt. Soweit es reicht, ist es aber ebenso streng einzuhalten und denn auch seine Missachtung mit gleicher Strafe bedroht (
Art. 323 Ziff. 1 und 5 StGB
). Um der Interessen der betreibenden Gläubiger willen kann sich die Einvernahme des Schuldners beim Pfändungsvollzug als notwendig erweisen, und diese Interessen verdienen denselben Schutz wie die Interessen von Konkursgläubigern. Sachlich ist es somit vollauf gerechtfertigt, die in Art. 229 Abs. 1 am Ende vorgesehene Massnahme des unmittelbaren Zwanges auch beim Pfändungsvollzuge, zur Durchsetzung des Gebotes des
Art. 91 Abs. 1 SchKG
, zuzulassen.
Warum das Gesetz dies in der letztern Bestimmung nicht
BGE 87 III 87 S. 94
vorgesehen hat, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Man hat anscheinend eine solche Massnahme beim Pfändungsvollzug für unnötig erachtet, sei es, dass man davon ausging, der Schuldner sei mehr nur der Ordnung halber verpflichtet, beim Pfändungsvollzug anwesend oder vertreten zu sein, oder dass man annahm, die Strafandrohung bilde einen genügenden Ansporn zur Erfüllung dieser Pflicht. Wie dem auch sein mag, steht nichts im Wege, die für das Konkursverfahren vorgesehene Befugnis der Zwangsvollstreckungsorgane zur Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen den Schuldner in entsprechendem Sinne auch für den Pfändungsvollzug zu bejahen, wenn sich eine solche Analogie als im wahren Sinn des Gesetzes liegend erweist. Für die Rechtsanwendung ist ja keineswegs einfach der Wille des historischen Gesetzgebers massgebend, wie er sich aus Diskussionsvoten in vorberatenden Kommissionen und in Vollsitzungen des Parlamentes ergibt. Vielmehr ist das Gesetz aus sich selbst auszulegen und dabei als Ganzes in seinem Aufbau und seinen innern Zusammenhängen ins Auge zu fassen. Insbesondere ist zu beachten, dass ein gesetzgeberischer Erlass nicht unbedingt in allen seinen Teilen eine starre, immer gleich bleibende Ordnung schaffen will. Eine einzelne Norm kann mit fortschreitender Zeit infolge veränderter technischer, wirtschaftlicher oder sonstiger Lebensverhältnisse eine andere Bedeutung gewinnen, als wie sie ihr am Anfang zugeschrieben wurde, und es kann je nach der Stellung der Norm im Rechtssystem dem wahren Gesetzeswillen entsprechen, dass solchen Veränderungen äusserer Umstände bei der Auslegung und namentlich bei der Frage nach der analogen Anwendbarkeit anderer Rechtsgrundsätze Rechnung getragen werde (vgl.
BGE 83 I 178
,
BGE 86 III 151
; W. YUNG, Le Code civil suisse et nous, Centenarium des Schweizerischen Juristenvereins 1861-1961 II S. 329 ff.). Hier fällt nun vor allem in Betracht, dass im Lauf der Jahrzehnte seit dem Erlass des SchKG die Lohnpfändungen immer grössere Bedeutung
BGE 87 III 87 S. 95
erlangt haben und die neuere Rechtsprechung ausserdem in höherem Mass als früher die Pfändung des Reineinkommens aus selbständiger Erwerbstätigkeit entsprechend dem
Art. 93 SchKG
zulässt (vgl.
BGE 84 IV 156
,
BGE 85 III 39
,
BGE 86 III 16
und 53 ff.). Um diesen Gegenstand der Pfändung richtig ermitteln und bemessen zu können, bedarf es aber in manchen Fällen unbedingt der Auskunfterteilung durch den Schuldner. Es liegt daher im wohlverstandenen Sinn des Gesetzes, dass das Gebot des Art. 91 Abs. 1 sich ebenso wie dasjenige des Art. 229 Abs. 1 durch zwangsweise Vorführung des Schuldners durchsetzen lässt. Die dahingehende Praxis zahlreicher Betreibungsämter, die, wie erwähnt, von den Aufsichtsbehörden mehrerer Kantone gebilligt worden ist, erweist sich somit als rechtmässig. Die analoge Anwendung des
Art. 229 Abs. 1 SchKG
in der erwähnten Beziehung auf das Gebot des
Art. 91 Abs. 1 SchKG
rechtfertigt sich infolge des durchaus gleichen Charakters der beiden Gebote. Es wird nicht etwa eine spezielle Norm auf einen andersartigen Sachverhalt angewendet, was bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt in den privaten Rechtsbereich kaum anginge (vgl. GIACOMETTI, a.a.O. S. 541).
Im übrigen ist die unter Umständen notwendige Vorführung eine im Offizialcharakter der Zwangsvollstreckung begründete, dem Schutz höherer Interessen dienende Massnahme. Der Eingriff in die persönliche Freiheit ist verhältnismässig geringfügig. Selbst in gewissen Zivilprozessen (um Familienrecht) hat nach mehreren kantonalen Gesetzen eine säumige Partei die polizeiliche Vorführung zu gewärtigen (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Auflage, S. 237, Fussnote 5; vgl. auch P. JAEGGI, Fragen des privatrechtlichen Schutzes der Persönlichkeit, ZSR NF 79 II 215a, wo von blossen "Persönlichkeitssplittern" die Rede ist).
4.
Voraussetzung der polizeilichen Vorführung des Schuldners im Verlauf des Pfändungsvollzuges ist, dass er ohne genügende Entschuldigung wegblieb und sich auch
BGE 87 III 87 S. 96
nicht gehörig vertreten liess, und dass sich seine persönliche Anwesenheit zum Abschluss der Vollzugsmassnahmen als notwendig erweist. Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen muss ihm die Vorführung angedroht worden sein (vgl. W. JELLINEK, Verwaltungsrecht, 3. Auflage, S. 341; FORSTHOFF, a.a.O. S. 269; DUEZ et DEBEYRE, Traité de droit administratif, no 764 ch. 2). Wir werden in das Formular der Pfändungsankündigung (Nr. 5) eine solche Androhung in den Drucktext aufnehmen lassen. Unter Umständen hat das Betreibungsamt Veranlassung, sie zu wiederholen: so, wenn der Schuldner seine Abwesenheit genügend entschuldigt hat, dann aber zur Auskunfterteilung vor den Betreibungs- oder Pfändungsbeamten vorgeladen werden muss.
Was die Art der Massnahme betrifft, so hat sie sich in der Vorführung vor den Beamten zu erschöpfen. Gewöhnlich wird damit der Zweck erreicht, indem der zur Stelle gebrachte Schuldner nun bereitwillig die verlangte Auskunft gibt. In diesem Falle mag der Beamte prüfen, ob gleichwohl wegen des früheren Ungehorsams Strafanzeige zu erstatten sei gemäss
Art. 323 Abs. 1 StGB
.
Verweigert der vorgeführte Schuldner die Auskunft, so ist ihm die Strafanzeige nach
Art. 323 Ziff. 2 StGB
in Aussicht zu stellen. Weitere Massnahmen unmittelbaren Zwanges, wie Festhalten im Amtsraum usw., sind nicht zulässig.
Die mit der Vorführung beauftragte Polizei handelt als Hilfsorgan des Betreibungsamtes. Sie hat die Rechtmässigkeit der Massnahme, die nach dem Gesagten im Rahmen der betreibungsamtlichen Zuständigkeit liegt, nicht nachzuprüfen. Wie in BGE 22 S. 997 ausgeführt ist, sind die vom Betreibungsamt beigezogenen Polizeiorgane "blosse Gehülfen des Betreibungsamtes, die dem letzteren vorübergehend zur Ausführung seiner Befehle untergeordnet worden sind und die deshalb auch für die gemäss den Weisungen ihres Vorgesetzten begangenen Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden können". Die Art
BGE 87 III 87 S. 97
und Weise, wie sich die Polizei ihrer Aufgabe entledigt, richtet sich dann aber nach den die polizeiliche Tätigkeit überhaupt beherrschenden Regeln. In dieser Hinsicht haben die Betreibungsbehörden nichts zu bestimmen, sondern es handelt die Polizei insoweit auf eigene Verantwortung. Sie wird das Prinzip der Verhältnismässigkeit der staatlichen Eingriffe im Auge behalten und jede nach den Umständen unnötige Anwendung von Gewalt vermeiden (vgl. GIACOMETTI, a.a.O. S. 561 ff.; RUCK, a.a.O. S. 128 und 134; FORSTHOFF, a.a.O. S. 275). | de |
c890dd3b-0449-4de9-8f16-340259654bf7 | Sachverhalt
ab Seite 350
BGE 115 II 349 S. 350
A.-
a) Gemäss Vereinbarung vom 29. November 1984 erwarb die Zürcher Kantonalbank von M. Karpf vier Inhaberschuldbriefe über insgesamt 1,6 Millionen Franken, lastend im 1.-4. Rang auf der Liegenschaft Rossacher 8 in Zumikon nach Massgabe folgender Bestimmungen zu Eigentum:
"Die Parteien vereinbaren, dass die Bank die oben erwähnte(n) Schuldbriefforderung(en) nebst drei verfallenen Jahreszinsen und dem laufenden Zins zu je 7% im Jahr, wofür der Schuldner seine persönliche Schuldpflicht anerkennt, anstelle von Forderungen irgendwelcher Art gegenüber dem Schuldner aus bereits abgeschlossenen oder im Rahmen der Geschäftsbeziehungen künftig abzuschliessenden Vertrügen geltend machen kann.
Bei Schuldbrieferhöhungen gilt die Vereinbarung auch für die erweiterten Schuldbriefforderungen.
Die einer Geschäftsstelle der Bank geleisteten Sicherheiten haften auch für die Forderungen aller andern Geschäftsstellen. Die Bank bestimmt, auf welche von mehreren Forderungen der Pfanderlös anzurechnen ist. Wird bei Veräusserung des(der) Pfandgrundstücke(s) die gesicherte Schuld vom Erwerber übernommen, so ist die Bank berechtigt, diese Vereinbarung mit allen Rechten und Pflichten auf den neuen Schuldner zu übertragen.
BGE 115 II 349 S. 351
Sobald die Bank gegen den Schuldner keine Ansprüche mehr hat, ist sie verpflichtet, den/die obgenannten Schuldbrief(e) in das Eigentum des Schuldners zurückzuübertragen. Dies gilt nicht, wenn ein Bürge oder ein sonstiger Dritter (z.B. Zessionar, Drittpfandsteller) die Bank befriedigt; in diesem Falle ist die Bank zwar nicht verpflichtet, aber berechtigt, den/die Schuldbrief(e) auf den Bürgen oder den sonstigen Dritten zu übertragen.
Im übrigen gelten die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bank, von denen der Schuldner ein Exemplar erhalten und in zustimmendem Sinne Kenntnis genommen hat."
Am 10. Dezember 1984 gewährte die Zürcher Kantonalbank M. Karpf zur Ablösung der Schweizerischen Kreditanstalt Kredite über insgesamt 4,6 Millionen Franken. 1,2 Millionen Franken wurden als I. Hypothek und Fr. 800'000.-- als II. Hypothek auf der Liegenschaft Rossacher 8 in Zumikon zum Zinssatz von 5,5 bzw. 6% jährlich gewährt, sichergestellt durch die bereits erwähnten Inhaberschuldbriefe "gemäss separater Vereinbarung vom 30. November 1984" (gemeint: die wiedergegebene Vereinbarung vom 29. November 1984) sowie durch Grundpfandverschreibung im 5. Rang auf der nämlichen Liegenschaft über Fr. 500'000.--. Ein Kredit über 2,6 Millionen wurde M. Karpf in einem neuen Konto "Braunwald" eröffnet, sichergestellt durch eine Grundpfandverschreibung und durch sieben der Zürcher Kantonalbank verpfändete Inhaberschuldbriefe. Hiezu erklärte M. Karpf unterschriftlich sein Einverständnis.
b) Am 27. Juli 1986 verstarb M. Karpf. Sein Nachlass wird konkursamtlich liquidiert. Mit Eingabe vom 21. April 1987 meldete die Zürcher Kantonalbank dem mit der Durchführung der Liquidation betrauten Konkursamt Küsnacht ihre Forderungen und Kreditsicherheiten an, unter anderem die Forderungen aus den genannten, auf der Liegenschaft in Zumikon lastenden Inhaberschuldbriefen über 1,6 Millionen Franken samt drei verfallenen Jahreszinsen à 7%, laufendem Zins à 7% bis 1.4.1987 und weiterem Zins à 7% ab 1.4.1987. Ebenso wurden Fr. 108'163.75 als Restforderung aus diesem Hypothekardarlehen, berechnet per 1.4.1987, angemeldet mit Zins à 5 3/4% ab 1.4.1987. Diese Positionen wurden wie folgt erläutert: Man habe seinerzeit M. Karpf zwei Hypothekardarlehen über 2 Millionen Franken gewährt, welche per Datum der Konkurseröffnung zusammen mit Fr. 2'090'811.-- zu Buche stünden. Dieser Betrag werde durch die zur Sicherheit übereigneten vier Inhaberschuldbriefe samt Titelzinsen nicht vollständig gedeckt, weswegen die genannte Restforderung verbleibe.
BGE 115 II 349 S. 352
Die Konkursverwaltung nahm in das Lastenverzeichnis zwar das in den vier Inhabertiteln verbriefte Kapital von 1,6 Millionen Franken auf, aber lediglich mit den viel geringeren Zinsen, wie sie auf den beiden Hypothekardarlehen gemäss Vertrag vom 10. Dezember 1984 tatsächlich noch ausstehend waren, und auch das nicht bezogen auf das Darlehenskapital von 2 Millionen Franken, sondern nur auf das Kapital von 1,6 Millionen Franken gemäss Schuldbriefen.
In einem Schreiben an die Gläubiger wurde dieser Standpunkt wie folgt umschrieben: "Die Konkursverwaltung vertritt die Auffassung, dass die Bank aus diesen Schuldbriefen lediglich eine Zinsforderung in der Höhe des normal vereinbarten Zinsfusses ab 1. Juni 1986 bzw. 30. Juni 1986 (ab diesem Datum ist die Verzinsung durch den Gemeinschuldner ausstehend) bis zum Tage der Pfandverwertung beanspruchen kann. Eine Parteivereinbarung, womit der gemäss
Art. 818 ZGB
umschriebene Umfang des Pfandrechtes ausgedehnt wird (über die tatsächlich geschuldeten Zinsen hinaus), erachtet die Konkursverwaltung als unmöglich."
B.-
Gegen die abweisende Verfügung der Konkursverwaltung erhob die Zürcher Kantonalbank beim Einzelrichter im beschleunigten Verfahren des Bezirkes Meilen innert Frist Kollokationsklage. Der Einzelrichter hat die Klage mit Urteil vom 28. Juli 1988 gutgeheissen. Das Obergericht des Kantons Zürich hat die von der beklagten Konkursmasse gegen dieses Urteil erhobene Berufung am 3. Februar 1989 abgewiesen und den erstinstanzlichen Entscheid bestätigt.
C.-
Die Beklagte ficht das Urteil des Obergerichts mit Berufung beim Bundesgericht an. Sie beantragt die Abweisung der Klage oder - eventuell - die Rückweisung der Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen zur Berufung verzichtet. Die Klägerin beantragt die Abweisung der Berufung und die Bestätigung des angefochtenen Entscheids.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
2.
Es ist unbestritten, dass aufgrund der Vereinbarung zwischen der Klägerin und M. Karpf vom 29. November 1984 das Eigentum an den dort aufgeführten vier Inhaberschuldbriefen im Gesamtbetrag von 1,6 Millionen Franken sicherungshalber auf die
BGE 115 II 349 S. 353
Klägerin übergegangen und dass diese damit Gläubigerin der Schuldbriefforderungen geworden ist. Die Sicherungsübereignung der vier Schuldbriefe sollte nach der erwähnten Vereinbarung der Sicherung von Forderungen irgendwelcher Art gegenüber M. Karpf aus bereits abgeschlossenen oder im Rahmen der Geschäftsbeziehungen künftig abzuschliessenden Verträgen dienen. Die Klägerin machte im Konkurs über den Nachlass ihres Schuldners die ihr aus der Sicherungsübereignung der Schuldbriefe zustehenden Rechte hinsichtlich der beiden, M. Karpf gewährten Darlehen von Fr. 1'200'000.-- und Fr. 800'000.-- geltend, die in der Kreditbestätigung der Klägerin an M. Karpf vom 10. Dezember 1984 als I. und II. Hypothek auf der Liegenschaft Rossacher 8 in Zumikon bezeichnet wurden. Unbestritten ist ebenfalls, dass die Forderung, die der Klägerin aus der Gewährung dieser beiden Darlehen zusteht, gesamthaft höher ist als jene, die sie aufgrund der ihr sicherungshalber übereigneten vier Schuldbriefe angemeldet hat. Es geht im vorliegenden Fall somit nicht darum, dass die Klägerin aus dem Sicherungsverhältnis rein betragsmässig mehr fordern wollte, als ihr aus dem Grundverhältnis, d.h. der Darlehensgewährung, zusteht. Umstritten ist hingegen, ob die Klägerin ausser den Schuldbriefforderungen im Gesamtbetrag von 1,6 Millionen Franken auch die von M. Karpf in der Sicherungsvereinbarung zusätzlich anerkannten drei verfallenen Jahreszinsen und den laufenden Zins von je 7% pro Jahr auf dem Schuldbriefkapital geltend machen kann, obwohl der im Grundverhältnis noch offene Darlehenszins erheblich geringer ist; M. Karpf hatte die Darlehenszinsen bis auf den letzten Halbjahreszins und den laufenden Zins bezahlt. Es fragt sich mit andern Worten, ob der sich aus den sicherungshalber übertragenen Schuldbriefen ergebende Zins auch zur Deckung einer Kapitalforderung aus dem Grundverhältnis beansprucht werden kann. Die Beklagte ist im Unterschied zur Klägerin und zu den kantonalen Instanzen der Auffassung, dass die Geltendmachung der sicherungshalber anerkannten Zinsen aus den Schuldbriefen gegen obligationenrechtliche und sachenrechtliche Regeln verstosse, soweit die Schuldbriefzinsen die effektiven Zinsschulden aus dem Grundverhältnis überstiegen.
3.
Es trifft zu, dass die auf den Schuldbriefforderungen geschuldeten Zinsen, wie in der Berufung ausgeführt wird, nicht in den Titeln selber verbrieft sind. In den Schuldbriefen sind nur die Zinspflicht als solche entsprechend "den mit dem Gläubiger
BGE 115 II 349 S. 354
vereinbarten Bestimmungen" und der Maximalzinsfuss, der 8% beträgt, geregelt. Zinscoupons fehlen. Damit sind die Schuldbriefzinsen im Unterschied zum Schuldbriefkapital nicht wertpapierrechtlich verurkundet. Sie beruhen vielmehr auf einer separaten Parteiabrede, nämlich der Sicherungsvereinbarung vom 29. November 1984 zwischen der Klägerin und M. Karpf, wo dieser eine Zinsschuld im Umfang von drei verfallenen Jahreszinsen und dem laufenden Zins zu je 7% anerkannt hat. In der Berufung wird daraus abgeleitet, die Forderung auf Schuldbriefzinsen sei anders als die in den Titeln verbriefte Kapitalforderung nicht materiell abstrakt, sondern von einem Grundverhältnis abhängig. Die Zinsen dürften deshalb nicht gleich behandelt werden wie diese Kapitalforderung.
In der Berufungsantwort wird mit Recht darauf hingewiesen, dass auch die Schuldbriefforderungen als solche nicht in dem Sinne abstrakter Natur sind, dass sie von einem sie begründenden Schuldverhältnis völlig unabhängig wären. Die Beklagte geht in Übereinstimmung mit der Vorinstanz selber zutreffend davon aus, die Klägerin sei bezüglich der von ihr sicherungshalber erworbenen Titel als erste Nehmerin zu betrachten, weshalb die dem Schuldner persönlich gegenüber der Gläubigerin zustehenden Einreden gemäss
Art. 872 ZGB
im Kollokationsverfahren erhoben werden könnten. Auch im Zusammenhang mit den Schuldbriefforderungen kann daher unbestrittenermassen auf die Sicherungsvereinbarung zwischen der Klägerin und M. Karpf zurückgegriffen und es können alle Einreden aus diesem Grundverhältnis erhoben werden. Ein Unterschied zu den Schuldbriefzinsen besteht nur insofern, als sich die Schuldpflicht für das Schuldbriefkapital direkt aus den Schuldbriefen ergibt, währenddem die Schuldbriefzinsen zur Hauptsache auf der Sicherungsvereinbarung zwischen der Klägerin und M. Karpf beruhen, wo der Zinssatz auf 7% festgelegt und die Verzinsung in zeitlicher Hinsicht näher umschrieben wird.
In der Berufung wird nun die Auffassung vertreten, dass M. Karpf sich in der Sicherungsvereinbarung nicht etwa zur Verzinsung der Schuldbriefforderungen verpflichtet, sondern lediglich eine persönliche Schuldpflicht im Umfange dreier verfallener Jahreszinsen und des laufenden Zinses, berechnet zu 7% auf einem Kapital von 1,6 Millionen Franken, als Kapitalschuld anerkannt habe. Hiefür spreche neben dem Wortlaut der Vereinbarung der Umstand, dass im Zeitpunkt des Abschlusses der Sicherungsvereinbarung keine Zinsen aus den auf die Klägerin übertragenen
BGE 115 II 349 S. 355
Schuldbriefen offen gewesen seien (was von der Klägerin allerdings bestritten wird); einer der Schuldbriefe sei im übrigen damals erst etwas mehr als ein Jahr alt gewesen, weshalb noch gar nicht drei Jahreszinsen hätten verfallen sein können. In der von M. Karpf hinsichtlich der Schuldbriefzinsen anerkannten Schuld sei somit ein Schuldbekenntnis ohne Angabe des Verpflichtungsgrundes im Sinne von
Art. 17 OR
zu erblicken; die Worte "Jahreszinsen" bzw. "laufender Zins" hätten nicht die Bedeutung der Angabe des Verpflichtungsgrundes, sondern sie dienten vielmehr nur der umfangmässigen Festlegung des Schuldbetrages.
Es bereitet in der Tat Mühe, in der Anerkennung der Schuldbriefzinsen durch M. Karpf eine eigentliche Verpflichtung zur Bezahlung von Zinsen zu erblicken. Unter Zins wird gemeinhin die Vergütung verstanden, "welche ein Gläubiger zu fordern hat für die Entbehrung einer ihm geschuldeten Geldsumme, sofern diese Vergütung sich nach der Höhe der geschuldeten Summe und der Dauer der Schuld bestimmt" (VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweiz. OR, Zürich 1974, S. 68;
BGE 52 II 233
E. 3). Eine Zinsschuld liegt somit nur vor, wenn nicht nur eine Geldschuld vorhanden ist, sondern auch die Zeitdauer feststeht, während welcher der Gläubiger das Kapital entbehrt und entsprechend der sich die Vergütung berechnet. Nach dem Wortlaut der Sicherungsvereinbarung kann die Klägerin drei verfallene Jahreszinsen auf den Schuldbriefforderungen und den laufenden Zins auch für Forderungen geltend machen, die ihren Grund nicht in der Vorenthaltung von Kapital haben und die nicht in der entsprechenden Zeitspanne entstanden sind. Im Sinne des Sicherungszwecks der betreffenden Vereinbarung geht es vielmehr darum, den in den Schuldbriefen verurkundeten Kapitalbetrag, der anstelle irgendwelcher Forderungen gegenüber dem Schuldner geltend gemacht werden kann, um den Betrag dreier verfallener Jahreszinsen zu 7% sowie des laufenden Zinses zu erhöhen. Die Bezeichnung "Zins" dient damit im Grunde genommen, wie die Beklagte zutreffend geltend macht, nur der umfangmässigen Bestimmung des zum Zwecke der Sicherung insgesamt einsetzbaren Kapitalbetrages.
Daraus ergibt sich jedoch nicht zwingend die in der Berufung aus der Verneinung des Zinscharakters gezogene Konsequenz, nämlich dass die in der Sicherungsvereinbarung anerkannte Schuld hinsichtlich der Schuldbriefzinsen nur in dem Umfange Bestand haben könne, als im Grundverhältnis tatsächlich eine Zinsschuld bestehe. Nach
Art. 18 Abs. 1 OR
ist bei der Beurteilung eines Vertrages
BGE 115 II 349 S. 356
vielmehr der übereinstimmende wirkliche Wille zu beachten und nicht die unrichtige Bezeichnung oder Ausdrucksweise. Die unzutreffende Verwendung der Bezeichnung "Zins" in der Sicherungsvereinbarung schadet der Klägerin daher nicht, sofern der Wille der Parteien nicht darauf gerichtet war, eine eigentliche Zinsabrede zu treffen, sondern nur den Umfang des als Sicherheit dienenden Gesamtbetrages festzulegen. Davon kann aufgrund des Sicherungszweckes, der mit der betreffenden Vereinbarung verfolgt wurde, ausgegangen werden. Die zur Sicherung der Forderungen aus dem Grundverhältnis dienenden Schuldbriefforderungen sollten offensichtlich um die im Rahmen von
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
pfandberechtigten Zinsforderungen erhöht werden. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass M. Karpf diese Ausdehnung des Umfanges der Sicherung durch die an die Klägerin übergebenen Schuldbriefe nicht hätte erkennen können.
Eine andere Frage ist hingegen, ob eine solche Ausdehnung des Sicherungsumfanges auch mit den Bestimmungen des Sachenrechts vereinbar ist und zu einer entsprechenden Erweiterung des Umfanges der Pfandsicherung führen kann.
4.
In der Berufung wird geltend gemacht, die in
Art. 818 Abs. 1 ZGB
vorgesehene Ausdehnung der Pfandsicherung über die Kapitalforderung hinaus habe insofern zwingenden Charakter, als sie nicht durch Parteivereinbarung auf andere Sachverhalte erstreckt werden könne. Eine solche über das Gesetz hinausgehende Erweiterung der Pfandsicherung lasse sich aber nur vermeiden, wenn das gesetzliche Pfandrecht einzig für solche Forderungen vorbehalten bleibe, die den in
Art. 818 Abs. 1 ZGB
erwähnten Anspruchstypen von ihrer Entstehung her entsprächen. Das in
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
vorgesehene Zinsenpfandrecht könne daher nur für tatsächlich als Zinsen entstandene Forderungen in Anspruch genommen werden. Bloss sicherungshalber begründete Forderungen wie die hier in Betracht fallenden Schuldbriefforderungen seien nicht zinstragend, da ihnen keine vom Schuldner abzugeltende Kapitalüberlassung zugrunde liege. Zinstragend seien allein die aufgrund der Sicherungsvereinbarung gesicherten Forderungen - hier also die als Hypotheken bezeichneten Darlehen -, für die M. Karpf aber die Zinsen bis auf den letzten Halbjahreszins und den laufenden Zins bezahlt habe. Nur im Umfang der aus dem Grundverhältnis noch offenen Zinsschuld könne daher das gesetzliche Pfandprivileg des
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
in Anspruch genommen werden.
BGE 115 II 349 S. 357
Es ist der Beklagten zuzugestehen, dass es sich bei den von der Klägerin geltend gemachten Schuldbriefzinsen aus den bereits dargelegten Gründen materiell nicht um echte Zinsforderungen handelt, sondern dass diese lediglich in abstrakter Weise wie Zinsen berechnet werden. Echte Zinsen können nur im Grundverhältnis zwischen den Beteiligten entstehen. Es fragt sich, ob dieser Umstand dazu führen muss, dass solche "Zinsen" der Pfandsicherung gemäss
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
nicht teilhaftig werden können.
a) Die Vorinstanz und die Klägerin haben mit Recht darauf hingewiesen, dass das Bundesgericht bei der Verpfändung von Eigentümergrundpfandtiteln eine Erstreckung der Pfandsicherung auf Zinsen, denen keine echte Zinsschuld zugrunde lag, stets zugelassen hat. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf
BGE 44 II 252
ff. zu verweisen, wo diese Praxis näher begründet wurde. In
BGE 51 II 152
ff. ist der zitierte Entscheid nicht nur vollumfänglich bestätigt, sondern es ist darin ausdrücklich als zulässig bezeichnet worden, dass Schuldbriefzinsen nicht nur zur Sicherung einer Darlehenszinsforderung, sondern auch zur Befriedigung für eine Kapitalforderung aus Darlehen dienen können (a.a.O., S. 154). Auf diese alte Rechtsprechung ist auch in neueren Entscheiden ohne Vorbehalt immer wieder verwiesen worden (
BGE 104 III 35
f.,
BGE 102 III 93
E. 3a). Entgegen den Ausführungen in der Berufung kann die Vergleichbarkeit dieser Tatbestände mit dem hier zu beurteilenden Fall nicht verneint werden. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob bei der Behandlung von Schuldbriefzinsen in der Zwangsvollstreckung etwas darauf ankommen kann, dass den geltend gemachten Zinsen keine echten Zinsforderungen zugrunde liegen. Die Unterschiede zwischen der Faustpfandverwertung von Schuldbriefen und der Grundpfandverwertung rechtfertigen eine unterschiedliche Beurteilung dieser Frage entgegen der Auffassung der Beklagten nicht.
In der Berufung wird an der zitierten Rechtsprechung betreffend die Behandlung der Zinsen bei der Verpfändung von Eigentümerschuldbriefen beanstandet, sie habe nur den Gesichtspunkt des Schutzes der nachfolgenden Grundpfandgläubiger berücksichtigt. Weder das Bundesgericht noch einer der ihm seither kritiklos folgenden Autoren habe sich aber je die Frage gestellt, ob diese Praxis auch mit dem Prinzip der öffentlichen Beurkundung von Pfandbestellungsverträgen und dem Eintragungsprinzip vereinbar sei. Ein öffentlich beurkundeter Pfandvertrag gemäss
Art. 799
BGE 115 II 349 S. 358
Abs. 2 ZGB
ist indessen für die Errichtung eines Schuldbriefes nicht immer erforderlich. Der Grundeigentümer kann einen Eigentümer- oder Inhaberschuldbrief durch einfache schriftliche Anmeldung beim Grundbuchamt zur Entstehung bringen (Art. 20 Grundbuchverordnung;
BGE 71 II 265
E. 2). Im übrigen ist nicht einzusehen, weshalb die hier zu beurteilende Frage massgebend vom Prinzip der öffentlichen Beurkundung und vom Eintragungsprinzip beherrscht werden soll. Die in
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
geregelte Pfandsicherung für Zinsen stellt, wovon auch die Beklagte ausgeht, ein gesetzliches Pfandrecht dar. Entscheidend ist nun, wie dieses Zinsenpfandrecht zu verstehen und auszulegen ist. Wenn es sich mit dem Sinn des Gesetzes vereinbaren lässt, dass auch Schuldbriefzinsen darunter fallen, denen materiell keine Zinsforderung im üblichen Sinne zugrunde liegt, kann einer solchen Auffassung das Beurkundungs- und Eintragungsprinzip nicht entgegengehalten werden.
b) In der Berufung wird ferner vorgebracht, die Auffassung der Vorinstanz lasse sich mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu
Art. 818 Abs. 2 ZGB
nicht in Einklang bringen. In
BGE 101 III 75
habe das Bundesgericht eine auf einer gültigen Vereinbarung zwischen Gläubiger und Schuldner beruhende echte Zinsforderung von 5,5% nicht in vollem Umfang zur Grundpfanddeckung zugelassen, obwohl der dergestalt berechnete Zinsbetrag absolut kleiner gewesen sei als das maximal zulässige Zinsenpfandrecht von 5% berechnet für drei verfallene Jahreszinsen und den laufenden Zins. Damit habe das Bundesgericht dem
Art. 818 ZGB
eine über den blossen Schutz der nachfolgenden Grundpfandgläubiger hinausgehende Tragweite zugemessen; es habe die Zinsberechnung zu einem höheren Zinssatz als dem eingetragenen Maximalzinsfuss deshalb nicht zugelassen, weil es an der Pfandsicherung fehle.
Eine derart weitreichende Bedeutung kann indessen dem von der Beklagten angeführten Bundesgerichtsentscheid nicht beigemessen werden. Aus dessen - übrigens äusserst knappen - Begründung geht nicht hervor, dass die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer bei ihrem Urteil einem andern Gesichtspunkt als jenem des Schutzes nachgehender Grundpfandgläubiger Rechnung tragen wollte. Nur diesem Schutz dient denn auch, wie sich aus dem Gesetzeswortlaut klar ergibt, die Regelung in
Art. 818 Abs. 2 ZGB
. In
BGE 101 III 75
wurde von zwei theoretisch an sich denkbaren Berechnungsarten der pfandgesicherten drei verfallenen Jahreszinsen jener der Vorzug gegeben, die für die nachstehenden
BGE 115 II 349 S. 359
Grundpfandgläubiger günstiger war. Aus der Begründung ergibt sich, dass das Bundesgericht den im Gesetz vorgesehenen Zinssatz von 5% als eine Schranke betrachtete, die ohne Zustimmung der nachfolgenden Grundpfandgläubiger keinesfalls überschritten werden darf, sofern nicht von Anfang an ein höherer Zins vereinbart worden ist. Eine darüber hinausgehende Folgerung kann aus diesem Entscheid nicht abgeleitet werden.
c) Schliesslich macht die Beklagte noch geltend, dass die Auffassung der Vorinstanz darauf hinausliefe, eine beim Schuldbrief nicht mögliche Maximalhypothek einzuführen, welche für einen wesentlichen Teil des grundpfandgesicherten Betrages weder der öffentlichen Beurkundung noch der Eintragung im Grundbuch bedürfte; durch einfache Abrede könnte nämlich die Pfandhaft des Grundstücks um maximal den vierfachen Betrag des Jahreszinses, berechnet zum Maximalzinsfuss, erweitert werden, und zwar unabhängig von dem für die Kapitalüberlassung effektiv vereinbarten Darlehenszins.
Unter einer Maximalhypothek wird ein Pfandrecht verstanden, bei dem im Sinne von
Art. 794 Abs. 2 ZGB
ein Höchstbetrag angegeben wird, bis zu dem das Grundstück für alle Ansprüche des Gläubigers haftet; eine Erstreckung der Pfandhaft auf Zinsen im Sinne von
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
ist damit ausgeschlossen (
BGE 75 I 339
f.). Wenn es bei der Sicherungsübereignung von Schuldbriefen zulässig ist, im Rahmen von
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
Schuldbriefzinsen geltend zu machen, denen keine echte Zinsforderung zugrunde liegt, nähert sich das Schuldbriefpfandrecht in der Tat der Rechtsfigur der Maximalhypothek in dem Sinne an, dass die Schuldbriefzinsen im Grunde genommen der Erhöhung des pfandversicherten Kapitalbetrages dienen. Es liegt nahe, in einem solchen Fall von einer Maximalhypothek im Kleide einer Kapitalhypothek zu sprechen. Ein Nachteil für die andern Grundpfandgläubiger ergibt sich jedoch daraus nicht, da diese ohnehin davon ausgehen müssen, dass
Art. 818 Abs. 1 ZGB
in solchen Fällen zur Anwendung gelangt. Dass es sich bei den Schuldbriefzinsen nicht um Zinsen im üblichen Sinne handelt, betrifft allein das Verhältnis zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger, nicht aber die übrigen Gläubiger. Der Schuldner hat diese Form der Zinsberechnung, die einer Erhöhung des Schuldbriefkapitals gleichkommt, in der Sicherungsvereinbarung jedoch selber akzeptiert. Ob im übrigen der Grundsatz der Beurkundungspflicht und der Grundbucheintragung verletzt sei, wie in der
BGE 115 II 349 S. 360
Berufung vorgebracht wird, hängt davon ab, wie
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
auszulegen ist. Da unter Zinsen im Sinne dieser Bestimmung - wie dargelegt - auch solche verstanden werden dürfen, die es nur rechnungsmässig, nicht aber materiell sind, kann von einer Verletzung der Beurkundungs- und Eintragungspflicht nicht gesprochen werden. Das gleiche gilt in bezug auf die Frage, ob die Zuerkennung der Pfandsicherung für solche Zinsen gegen den Grundsatz des numerus clausus verstosse, der die sachenrechtlichen Einrichtungen beherrscht.
d) Im Parteivortrag hat die Beklagte schliesslich noch darauf hingewiesen, dass die Auffassung der Vorinstanz dem Bundesbeschluss vom 6. Oktober 1989 über eine Pfandbelastungsgrenze für nichtlandwirtschaftliche Grundstücke (AS 1989, S. 1978 ff.) zuwiderlaufe. Dieser dringliche Bundesbeschluss sieht vor, dass nichtlandwirtschaftliche Grundstücke während der ersten fünf Jahre seit dem letzten Eigentumserwerb nicht über vier Fünftel des Verkehrswertes mit Pfandrechten dinglich belastet werden dürfen. Die Beklagte macht geltend, dass die Haftung des Grundstückes nach
Art. 818 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
auch für eine Kapitalschuld beansprucht werden könne, führe bei einem Zinssatz von gegen 7% dazu, dass auch während der ersten fünf Jahre der ganze Verkehrswert grundpfandrechtlich in Anspruch genommen werden könne. Es ist nicht zu verkennen, dass das diesem Fall zugrunde liegende Sicherungskonzept zu gewissen Schwierigkeiten bei der Durchführung des genannten Bundesbeschlusses Anlass geben kann. Das kann aber nicht dazu führen, die Zulässigkeit dieses Sicherungskonzepts als solchen zu verneinen. Die im vorliegenden Rechtsstreit zu beurteilenden Schuldbriefe wurden im übrigen vor dem Inkrafttreten des genannten Bundesbeschlusses errichtet. Dieser bestimmt in Art. 1 Abs. 1 ausdrücklich, dass bereits eingetragene Pfandrechte in ihrem Bestand nicht berührt werden. | de |
5e346917-3171-4d47-8934-e44c90f2ec40 | Sachverhalt
ab Seite 358
BGE 115 Ia 358 S. 358
Die Bürgergemeinde Pratteln ist Eigentümerin der am südlichen Rand von Pratteln gelegenen Parzelle Nr. 2823 im Gebiet Erli/Chäppeli/Chäppelimatt (im folgenden Gebiet "Erli"). Der nördliche Teil dieser rund 120 000 m2 umfassenden Parzelle liegt gemäss Zonenplan der Einwohnergemeinde Pratteln von 1957/1960 in der Zone 2a.
Aufgrund eines Baulandumlegungsverfahrens, einer Erschliessungsstudie und von Anpassungen an GKP und Strassenplan beabsichtigte der Gemeinderat vorerst, den nördlichen Teil der Parzelle einer Bauzone zuzuweisen und diesen über eine Ringstrasse zu erschliessen, änderte in der Folge aber seine Auffassung und stellte dem Einwohnerrat der Einwohnergemeinde Pratteln den Antrag, das Land keiner Bauzone zuzuweisen. Im Rahmen des Zonenplanverfahrens hat der Einwohnerrat die Zonenvorschriften Siedlung revidiert, am 22. Oktober 1984 ein neues Zonenreglement verabschiedet und am 22./26. November 1984 einen neuen Zonenplan angenommen. Dieser weist die genannte Parzelle der Bürgergemeinde Pratteln im Gebiet "Erli" keiner Bauzone zu.
BGE 115 Ia 358 S. 359
Diese Beschlüsse des Einwohnerrates, gegen die kein Referendum ergriffen worden war, wurden öffentlich aufgelegt. Die Bürgergemeinde reichte beim Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft Einsprache ein und verlangte - entsprechend den früheren Vorstellungen des Gemeinderates - die Zuweisung des nördlichen Teils der Parzelle zur Bauzone. Mit Entscheid vom 24. November 1987 hat der Regierungsrat dieses Begehren abgelehnt, die Einsprache abgewiesen und die Beschlüsse des Einwohnerrates in bezug auf die genannte Parzelle genehmigt.
Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates reichte die Bürgergemeinde Pratteln beim Bundesgericht wegen Verletzung von
Art. 22ter BV
staatsrechtliche Beschwerde ein, beantragt dessen Aufhebung und verlangt, dass der Regierungsrat anzuweisen sei, im Sinne der früheren Vorstellungen des Gemeinderates zu entscheiden und den nördlichen Teil ihrer Parzelle einer Bauzone zuzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Auszug aus den Erwägungen:
3.
b) In tatsächlicher Hinsicht hat der Augenschein ergeben, dass das Gelände vom Geisswaldweg und vom Erliweg steil gegen den umstrittenen Grundstücksteil ansteigt. Das ist der Grund, weshalb dieser Hang auch bei einer Einzonung freigehalten werden soll; zum andern bewirkt die Topographie eine relativ starke Exponiertheit des fraglichen Landes. Nach diesem Abhang wird das Gelände, das vorerst gewissermassen eine "Hochebene" bildet, gegen Süden immer flacher. Der Augenschein hat ferner gezeigt, dass das Land von guter Bodenqualität ist und sich für den Ackerbau bzw. als Fruchtfolgeflächeland gut eignet.
c) Zur Begründung der streitigen Nichteinzonung führt der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid das Folgende aus:
"Bereits im Rahmen der 1. Vorprüfung zur Ortsplanungsrevision im Jahre 1977 hat die Baudirektion dem Gemeinderat empfohlen, aus Gründen der exponierten Lage der Bauzone innerhalb bzw. am Rande des Landschaftsschutzgebietes sowie der ungünstigen und aufwendigen Erschliessung eine Neuüberprüfung der Baugebietsabgrenzung vorzunehmen.
Die später geplante Auszonung wurde von der Baudirektion denn auch ausdrücklich unterstützt. Ausserdem bilden die Gebiete "Chäppeli" und "Schönenberg" zusammen eine landschaftliche Einheit und ein besonders wertvolles Naherholungsgebiet. Zur Frage der Baulandumlegungskosten
BGE 115 Ia 358 S. 360
bzw. der Landabtretung kann sich der Regierungsrat im Rahmen dieses Verfahrens nicht äussern".
d) (Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zonenplanung und Interessenabwägung; siehe
BGE 115 Ia 353
E. 3d.)
f) Für die Abwägung der auf dem Spiele stehenden Interessen sind die folgenden Gesichtspunkte von Bedeutung:
aa) Gemäss
Art. 15 RPG
umfassen Bauzonen Land, das sich für die Überbauung eignet und weitgehend überbaut ist oder voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt und erschlossen wird. Im vorliegenden Fall ist die streitige Landfläche auf Parzelle Nr. 2823 klarerweise im Sinne von
Art. 15 RPG
zur Überbauung geeignet. Das zeigen namentlich die von der Bauverwaltung Pratteln ausgearbeitete "Erschliessungsstudie Erli" vom 20. Juli 1978, der darauf ausgerichtete Strassennetzplan und der darauf abgestimmte GKP-Perimeter. Das Land ist zwar nicht als weitgehend überbaut zu betrachten, aber es kann auch nicht gesagt werden, es werde nicht voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt und erschlossen (
Art. 15 lit. b RPG
). Die Einwohnergemeinde hält dies in ihrem Bericht vom 14. November 1988 selbst fest, führt sie doch aus, ihres Erachtens würde die Einzonung des streitigen Gebietes nicht zu einem Überangebot an Bauland führen.
bb) Am Augenschein hat sich ergeben, dass es sich bei der streitigen Parzelle um Land von guter Bodenqualität handelt, das für die Landwirtschaft im allgemeinen und als Fruchtfolgefläche im speziellen gut geeignet ist. Das Bundesgericht misst dem Gesichtspunkt des Kulturlandschutzes und damit auch der Fruchtfolgeflächensicherung in seiner Praxis grundsätzlich grosses Gewicht zu (vgl.
BGE 115 Ia 354
E. bb;
BGE 114 Ia 375
E. d). Unter diesem Gesichtswinkel lässt sich die Nichteinzonung im vorliegenden Fall nicht beanstanden.
cc) Wie im angefochtenen Entscheid ausgeführt, hat der Regierungsrat die Nichteinzonung auch deshalb genehmigt, weil das Gebiet exponiert ist und Teil eines besonders wertvollen Naherholungsgebietes bildet. Diese Überlegungen haben sich am Augenschein bestätigt. Das Gebiet der einst vorgesehenen ringförmigen Überbauung liegt gewissermassen auf einer höher gelegenen, leicht gegen Süden ansteigenden "Hochebene". Diese ist landschaftlich relativ exponiert, auch wenn der Abhang zum Geisswaldweg und Erliweg freigehalten werden. Daran vermag auch der Umstand
BGE 115 Ia 358 S. 361
nichts zu ändern, dass westlich im Gebiet "Chäppeli" und "Chäppelimatt" die bestehende Bebauung gegen den Wald hin höher hinauf reicht. Es darf auch berücksichtigt werden, dass die Parzelle der Beschwerdeführerin der Anfang des gegen Süden gerichteten Naherholungsgebietes von "Schönenberg" und "Munimatt" ist. Bei dieser Sachlage können die Überlegungen zum Landschaftsschutz und zum Schutz des Naherholungsgebietes nicht von der Hand gewiesen werden.
dd) Im vorliegenden Fall ist sodann die Vorgeschichte der hier streitigen Planung sowie die Erschliessungsplanung von einer gewissen Bedeutung und bedarf der näheren Prüfung.
Im Hinblick auf eine Überbauung im Gebiet "Erli" wurde die Parzelle Nr. 2823 der Beschwerdeführerin teilweise in ein Landumlegungsverfahren einbezogen, und die Beschwerdeführerin musste namentlich für Erschliessungszwecke rund 2000 m2 Land abtreten. In Übereinstimmung mit der Grundeigentümerin arbeitete die Bauverwaltung der Gemeinde eine detaillierte Erschliessungsstudie für das Gebiet "Erli" mit einer ohrförmigen Ringerschliessungsstrasse aus. Diese fand hernach Eingang in den vom Einwohnerrat beschlossenen Strassennetzplan und das GKP. Der Regierungsrat brachte in seinen Genehmigungsentscheiden vom 29. Juni 1982 bzw. 21. Januar 1981 betreffend den Strassennetzplan und das GKP allerdings den Vorbehalt an, im Falle abweichender Beschlüsse im Rahmen der Ortsplanung gingen diese vor. Die Haltung der Gemeindebehörden, welche vorerst eine teilweise Einzonung befürworteten, änderte sich erst mit der Eingabe von Einwohnern aus der Nachbarschaft: Der Gemeinderat sah in der Folge von einer Einzonung ab, und der Einwohnerrat beschloss die umstrittene Nichteinzonung am 22./26. November 1984.
Angesichts dieser Sachlage kann nicht davon gesprochen werden, dass eine rechtsverbindliche Zusicherung vom für die Zonenplanung zuständigen Organ (Einwohnerrat unter Vorbehalt des fakultativen Referendums) vorliegt. Demnach sind die Voraussetzungen an rechtsgültige Zusicherungen gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht gegeben (vgl.
BGE 114 Ia 213
E. 3 im allgemeinen und
BGE 102 Ia 33
in bezug auf Zonenplanungen, je mit Hinweisen).
Darüber hinaus kann aber auch nicht gesagt werden, die ganze, der streitigen Planung vorausgehende Vorgeschichte sei eindeutig auf eine Einzonung im Gebiete der Parzelle der Beschwerdeführerin hinausgelaufen. Zwar hat der Gemeinderat eine entsprechende
BGE 115 Ia 358 S. 362
Einzonung während gewisser Zeit verfolgt, und der Einwohnerrat hat mit dem Strassennetzplan und dem GPK Beschlüsse gefasst, welche auf der Vorstellung einer Einzonung beruhten. Zum einen darf indessen nicht übersehen werden, dass insofern die Erschliessungsplanung Mängel aufwies. Denn die folgerichtige Planung hätte vielmehr erfordert, dass vor der Erschliessung das Baugebiet ausgeschieden worden wäre (vgl. §§ 4, 10, 12 und 26 BauG). Zum andern zeigt die Vorgeschichte, dass die Gemeindebehörden in der Tat vorerst während einer gewissen Zeit eine Einzonung anstrebten. Solche Planungsvorstellungen vermögen indessen auch bei der nach
Art. 22ter BV
erforderlichen gesamthaften Interessenabwägung keinen für sich allein ausschlaggebenden Einfluss auszuüben. Im Gegensatz zum Gebiet "Wannen" (vgl.
BGE 115 Ia 350
) sieht die Sachlage im Falle "Erli" wesentlich anders aus: Die Bemühungen und Planungen um eine Einzonung erstreckten sich auf eine wesentlich kürzere Zeitspanne; der Regierungsrat hat in seinen Genehmigungsentscheiden betreffend Strassennetzplan und GKP klare Vorbehalte angebracht; nur ein kleiner Teil der Parzelle der Beschwerdeführerin war von der Planung erfasst; und schliesslich sind auch die Strassenflächen für die Erschliessung noch nicht ausgeschieden und der Einwohnergemeinde übertragen worden.
ee) Gesamthaft gesehen zeigt sich, dass sich aus
Art. 15 RPG
weder spezifische Gründe für noch solche gegen die streitige Nichteinzonung herleiten lassen. Die gesamte Vorgeschichte deutet zwar auf eine Einzonung des fraglichen Gebietes hin, doch kann ihr angesichts der konkreten Umstände kein ausschlaggebendes Gewicht zukommen. Demgegenüber sprechen Gründe des Landschaftsschutzes und der Sicherung hinreichender Fruchtfolgeflächen klar für die angefochtene Nichteinzonung. Bei dieser Sachlage überwiegen bei der nach
Art. 22ter BV
erforderlichen gesamthaften Interessenabwägung die gegen die Einzonung sprechenden Gesichtspunkte. Demnach hält die Zonenplanung und der Genehmigungsentscheid des Regierungsrates vor der Eigentumsgarantie nach
Art. 22ter BV
stand. Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde der Bürgergemeinde Pratteln erweist sich daher als unbegründet. | de |
962310c3-420f-4d72-a9a6-80fac6d6ef4c | Sachverhalt
ab Seite 279
BGE 93 I 278 S. 279
A.-
Der Beschwerdeführer, das Nationalunternehmen Ceskoslovenské Textilni Zavody in Prag, stellte am 23. März 1966 beim Kreisamt Oberengadin das Begehren, ein in St. Moritz gelegenes, dem Beschwerdegegner Giovanni Baj-Macario in Mailand gehörendes Wohnhaus, das darin befindliche Mobiliar und allfällig dort untergebrachte weitere Gegenstände (Motorfahrzeuge, Wertschriften, Schmuck und Bargeld) mit Arrest zu belegen für eine vom Zivilgericht Mailand mit Urteil vom 1. Oktober 1953 rechtskräftig geschützte Forderung von Fr. 216'000.-- gegen die Kollektivgesellschaft E.M.B.A. in Mailand, deren unbeschränkt haftender Teilhaber Baj-Macario gewesen sei. Dieser bestritt, dem Beschwerdeführer etwas zu schulden, und ersuchte das Kreisamt, ihn gemäss
Art. 273 Abs. 1 SchKG
zur Leistung einer Sicherheit von Fr. 3'000.-- zu verhalten. Der Beschwerdeführer beantragte Abweisung dieses Begehrens, leistete dann aber zur Vermeidung einer weiteren Verzögerung die verlangte Arrestkaution am 27. Juni 1966 unter Vorbehalt.
Durch Verfügung vom 23. Januar 1967 verpflichtete das Kreisamt Oberengadin den Beschwerdeführer, die hinterlegten Fr. 3'000.-- bis zur Aufhebung des Arrestes als Sicherheitsleistung beim Kreisamt zu belassen. Zur Begründung führte es aus: Seit dem Erlass des Arrestbefehls sei nun fast ein Jahr vergangen.
BGE 93 I 278 S. 280
Dass bisher kein Rechtsöffnungsgesuch gestellt worden sei, lasse vermuten, dass die Rechtslage nicht eindeutig sei. Die Möglichkeit, dass der Arrest ungerechtfertigt sei, sei daher nicht von der Hand zu weisen, weshalb das Gesuch um Sicherheitsleistung begründet sei. Der Schuldner werde durch Verarrestierung seines Eigentums für längere Zeit in seinen Verfügungsmöglichkeiten wesentlich behindert. Daraus könne ihm, abgesehen von den Unkosten und Umtrieben, welche ihm die Arrestierung bringe, ein bedeutender Schaden entstehen. Die verlangte Summe erscheine nicht übertrieben. Ausführungen über die internationalen Verträge erübrigten sich, da die Sicherheitsleistung sich nur auf
Art. 273 SchKG
stütze und der Wohnsitz der Parteien im Ausland lediglich in dem Sinne Bedeutung habe, dass die Erledigung der Hauptfrage voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nehmen und dadurch ein eventueller Schaden infolge des Arrestes sich vergrössern werde.
B.-
Gegen diese Verfügung des Kreisamts Oberengadin führt der Arrestgläubiger staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, sie aufzuheben. Er macht eine Verletzung des
Art. 4 BV
sowie des Art. 17 der Haager Übereinkunft betreffend Zivilprozessrecht (IÜ) geltend.
C.-
Das Kreisamt Oberengadin hat unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid auf Vernehmlassung verzichtet. Der Beschwerdegegner G. Baj-Macario beantragt Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Am 1. März 1954 ist im Haag eine neue internationale Übereinkunft betreffend Zivilprozessrecht abgeschlossen worden. Diese ist für die Schweiz am 5. Juni 1955 und für die Tschechoslowakei am 11. August 1966 in Kraft getreten (AS 1957 S. 467 und 1966 S. 972) und ist daher im vorliegenden Falle anwendbar (Art. 29 der IÜ vom 1. März 1954). Dass sich der Beschwerdeführer noch auf die IÜ vom 17. Juli 1905 beruft, schadet ihm indes nicht, da der als verletzt bezeichnete Art. 17 in beiden Staatsverträgen den gleichen Wortlaut hat.
2.
Art. 17 IÜ ist keine zivil- oder strafrechtliche Staatsvertragsbestimmung (
Art. 84 lit. c OG
), sondern prozessrechtlicher Natur. Da die behauptete Verletzung des Art. 17 IÜ auch nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde geltend gemacht
BGE 93 I 278 S. 281
werden kann (vgl.
Art. 125 lit. c OG
), ist die staatsrechtliche Beschwerde zulässig (
Art. 84 Abs. 2 OG
).
3.
Die angefochtene Verfügung des Kreisamtes kann mit keinem kantonalen Rechtsmittel angefochten werden (Art. 10 Ziff. 12 und Art. 12 der bünd. Ausführungsverordnung vom 23. November 1954 zum SchKG), stellt also einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid dar. Dass die Nichtleistung der vom Arrestgläubiger verlangten Sicherheit die Nichtbewilligung bzw. das Dahinfallen des Arrestes zur Folge gehabt hätte, wird im angefochtenen Entscheid nicht ausdrücklich gesagt, ist aber klar, da sonst die Auflage der Sicherheitsleistung keinen Sinn hätte. Die angefochtene Verfügung ist somit ein Zwischenentscheid, der für den Beschwerdeführer einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge hat (vgl.
BGE 77 I 46
Erw. 2), so dass auch auf die Rüge der Verletzung des
Art. 4 BV
einzutreten ist (
Art. 87 OG
). Für die Beschwerde wegen Missachtung von Art. 17 IÜ gilt
Art. 87 OG
ohnehin nicht (
BGE 87 I 368
mit Verweisungen) und ist auch die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht erforderlich (
BGE 86 I 36
Erw. 1 mit Verweisungen). Ob die angefochtene Verfügung gegen diese Bestimmung eines Staatsvertrages verstosse, ist vom Bundesgericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht frei zu prüfen (
BGE 89 I 117
Erw. 2 mit Verweisungen,
BGE 90 I 117
Erw. 3).
4.
Das Kreisamt erklärt im angefochtenen Entscheid, Ausführungen über die internationalen Verträge erübrigten sich, da sich die Arrestkaution nur auf die Bestimmung des SchKG stütze. Mit dieser in der Beschwerde als "schlechthin unverständlich" bezeichneten Bemerkung will das Kreisamt offenbar sagen, dass Art. 17 IÜ auf Sicherheitsleistungen gemäss
Art. 273 Abs. 1 SchKG
nicht anwendbar sei. Dem wird in der Beschwerde lediglich entgegengehalten, auch die Bestimmungen des SchKG unterständen den staatsvertraglichen Beschränkungen. Die in diesem Zusammenhang angerufenen Urteile des Bundesgerichts betreffen jedoch nicht die hier streitige Frage, ob eine Arrestkaution unter Art. 17 IÜ falle, sondern befassen sich mit der Zulässigkeit von Arresten im Hinblick auf den Gerichtsstandsvertrag mit Frankreich vom 15. Juni 1869 (
BGE 49 I 550
und
BGE 63 I 240
) und mit der Zulässigkeit der Pfändung und Arrestierung von rollendem Eisenbahnmaterial im Hinblick auf das Internationale Abkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 23. Oktober 1924 (BGE 63
BGE 93 I 278 S. 282
III 98). Aus diesen Entscheiden lässt sich nichts ableiten für die Auslegung des Art. 17 IÜ. Diese Bestimmung steht im Abschnitt über "Sicherheitsleistung für die Prozesskosten", bezieht sich auf "Kläger oder Intervenienten (vor Gericht)" und handelt von der Befreiung von der Sicherheitsleistung, Hinterlegung oder Vorauszahlung von "Gerichtskosten" und "Prozesskosten" (französischer Originaltext: "frais judiciaires" und "caution judicatum solvi"). Art. 18 IÜ spricht von dem "Staate der Klageerhebung". Angesichts dieses klaren Wortlauts lassen sich unter Sicherheitsleistungen im Sinne von Art. 17 IÜ nur solche verstehen, die einer im Zivilprozess als Kläger oder Intervenient auftretenden Partei auferlegt werden, also nur eigentliche Prozesskautionen. Um eine solche handelt es sich bei der von der Arrestbehörde gemäss
Art. 273 Abs. 1 SchKG
angeordneten Arrestkaution nicht, weshalb sie nicht unter Art. 17 IÜ fällt (so schon das zürch. Obergericht, ZR 27 Nr. 34 S. 61). Das gilt jedenfalls, soweit die Arrestkaution der Sicherstellung von Ansprüchen auf Ersatz des unmittelbaren Schadens dient, der dem Arrestschuldner aus der Verfügungsbeschränkung über den Arrestgegenstand erwächst und für den nach Auffassung des Beschwerdeführers die Sicherheitsleistung allein statthaft ist. Fraglich könnte nur sein, ob die Arrestkaution insoweit unter Art. 17 IÜ fällt, als sie auch zur Deckung der Kosten und Umtriebe angeordnet wird, die dem Arrestschuldner im Arrestaufhebungs- oder Arrestprosequierungsprozess entstehen, wobei der Arrestgläubiger allerdings nur in letzterem als "Kläger" auftritt. Die Frage kann offenbleiben, da Art. 17 IÜ aus einem andern Grunde nicht anwendbar ist.
Diese Bestimmung verbietet, Angehörigen eines Vertragsstaates mit Wohnsitz in einem solchen Staate Prozesskautionen aufzuerlegen "wegen ihrer Eigenschaft als Ausländer oder deswegen, weil sie keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland haben".
Art. 273 Abs. 1 SchKG
sieht die Arrestkaution nicht wegen ausländischer Staatsangehörigkeit, Wohnsitzes oder Aufenthaltes des Arrestgläubigers vor, sondern ohne Rücksicht hierauf zur Sicherstellung des Schadens aus einem ungerechtfertigten Arrest, für den der Gläubiger dem Arrestschuldner nach dieser Bestimmung haftet. Trifft aber
Art. 273 Abs. 1 SchKG
Inländer und Ausländer ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und Aufenthalt in gleicher Weise, so verstösst er nicht gegen Art. 17 IÜ, der lediglich verhindern will, dass der Angehörige
BGE 93 I 278 S. 283
eines Vertragsstaates deswegen, weil er Ausländer ist oder im Inland weder Wohnsitz noch Aufenthalt hat, schlechter gestellt wird als ein Inländer. Daran ändert auch die Erwägung im angefochtenen Entscheid nichts, der Wohnsitz der Parteien im Ausland habe nur in dem Sinne Bedeutung, dass deswegen die Erledigung "der Hauptfrage" (womit die Frage der Begründetheit der Arrestforderung gemeint ist) voraussichtlich längere Zeit brauchen werde, wodurch ein eventueller Schaden infolge der Verfügungsbeschränkung vergrössert werde. Diese Erwägung bezieht sich lediglich auf die Höhe des Schadens und damit der zu leistenden Sicherheit und hat Gültigkeit ohne Rücksicht darauf, ob es sich um schweizerische oder ausländische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland handelt.
Falls der Beschwerdeführer mit der Bemerkung, es wäre unzulässig, einem Ausländer, dessen Heimatland der IÜ beigetreten ist, eine höhere Kaution aufzuerlegen als einem Schweizer, geltend machen will, dass einem Schweizer eine kleinere Kaution auferlegt worden wäre und insofern Art. 17 IÜ verletzt sei, so wäre auf diese Rüge nicht einzutreten, da sie der nach
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
erforderlichen Begründung ermangelt.
5.
Der Beschwerdeführer rügt als Willkür (Verletzung des
Art. 4 BV
), dass das Kreisamt in aktenwidriger Weise davon ausgehe, es sei ein unmittelbarer Arrestschaden geltend gemacht worden, und dass es entgegen Praxis und Literatur annehme,
Art. 273 SchKG
lasse den Arrestgläubiger auch für bloss mittelbaren Schaden haften.
a) Der Arrestschuldner begründete sein Sicherheitsleistungsgesuch vom 21. April 1966 mit dem Schaden, der ihm aus dem ungerechtfertigten Arrest erwachse. Er sprach dabei von Schaden schlechthin, ohne ihn auf die Kosten und Umtriebe des zu erwartenden Arrestprosequierungsprozesses zu beschränken. Da auch der angefochtene Entscheid sich über die Natur des in Frage stehenden Schadens nicht äussert, ist unerfindlich, wieso der Beschwerdeführer behaupten kann, das Kreisamt gehe "in aktenwidriger Weise" davon aus, der Arrestschuldner habe (auch) einen unmittelbaren Schaden geltend und glaubhaft gemacht. Abgesehen davon ist es gar nicht erforderlich, dass der Arrestschuldner Schadenersatzansprüche geltend macht und begründet, da die Sicherheitsleistung, wie jedenfalls ohne Willkür angenommen werden kann, von Amtes wegen anzuordnen
BGE 93 I 278 S. 284
ist, wenn die Forderung oder der Arrestgrund zweifelhaft ist (JAEGER N. 5 zu
Art. 273 SchKG
).
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts haftet der Arrestgläubiger nur für den unmittelbaren Vermögensschaden, der auf die Behinderung in der Verfügung über die Arrestobjekte zurückzuführen ist (
BGE 34 II 283
,
BGE 48 II 236
), und die Rechtslehre hat sich dieser Auffassung angeschlossen (JAEGER und JAEGER-DAENIKER N. 2 zu
Art. 273 SchKG
, FRITZSCHE, SchK II S. 227/8, FAVRE, SchK [deutsche Ausgabe] S. 332/3). Ferner hat das Bundesgericht in
BGE 48 III 236
/7 die Ansicht geäussert, dass die Kosten des Arrestaufhebungs- und des Arrestprosequierungsprozesses nicht zum unmittelbaren Schaden zu rechnen seien. Das zürch. Obergericht hat jedoch in ZR 27 Nr. 34 S. 60 gegenteilig entschieden. Seine Auffassung, die auch von JUD (Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Arrestrecht des SchKG, Zürch. Diss. 1940 S. 73/4) geteilt wird, stützt sich auf beachtliche Gründe und kann zum mindesten nicht als offensichtlich unrichtig, geradezu unhaltbar bezeichnet werden, zumal da
Art. 273 Abs. 1 SchKG
vom Schaden schlechthin spricht und nicht zwischen unmittelbarem und mittelbarem Schaden unterscheidet. Soweit die im vorliegenden Falle angefochtene Arrestkaution zur Deckung der dem Arrestschuldner im Arrestprosequierungsprozess erwachsenden Kosten bestimmt ist, hält sie daher vor
Art. 4 BV
stand, obwohl sie auf einer Auslegung von
Art. 273 Abs. 1 SchKG
beruht, die von der in einem BGE vertretenen abweicht (vgl.
BGE 86 I 269
mit Verweisungen). Davon abgesehen ist sie auch deshalb nicht willkürlich, weil sich sehr wohl die Auffassung vertreten lässt, die Verfügungsbeschränkung über ein Wohnhaus samt Mobiliar und weiteren darin befindlichen Vermögenswerten könne einen die Auferlegung einer Arrestkaution rechtfertigenden unmittelbaren Schaden verursachen, wenn die Rechtsverhältnisse zwischen Arrestgläubiger und Arrestschuldner wie hier nicht klar sind und daher über die Begründetheit der Arrestforderung, wie der Beschwerdeführer selber ausführt, in einem ordentlichen Prozessverfahren zu entscheiden ist, das längere Zeit dauern kann. | de |
51058408-3fc7-4120-a45d-4d3e8e5377c0 | Sachverhalt
ab Seite 46
BGE 102 II 45 S. 46
N. trat als Privatpatient in die Ohren-Nasen-Hals-Abteilung des Kantonsspitals Olten ein. Er starb einen Tag später während einer durch Dr. X. durchgeführten Kieferhöhlen- und Siebbeinoperation. An der Operation wirkte als Narkosearzt Dr. Y. mit, der für diese Funktion am Kantonsspital hauptamtlich angestellt ist. Der Verstorbene hinterliess seine Ehefrau und eine Tochter. Diese reichen beim Bundesgericht - trotz der Einstellung der Strafuntersuchung gegen die beiden Ärzte wegen fahrlässiger Tötung - Klage ein. Sie vertreten die Ansicht, die beiden Ärzte hätten als Beamte des Kantons Solothurn ihnen in Ausübung ihrer amtlichen Verrichtungen widerrechtlich Schaden zugefügt, und begehren, der Kanton Solothurn sei zu verpflichten, ihnen Schadenersatz und Genugtuung zu leisten. Der Kanton Solothurn widersetzt sich der Klage. Anlässlich der Vorbereitungsverhandlung einigten sich aber die Parteien darauf, dass das Bundesgericht zunächst in einem sog. Vorurteil entscheiden solle, ob der Kanton Solothurn überhaupt hafte, wiewohl der Verstorbene Privatpatient von Dr. X. war. Das Bundesgericht stellt fest, dass der Kanton Solothurn gegenüber den Klägerinnen für eine allfällige Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, die den Ärzten Dr. X. und Dr. Y. hinsichtlich der Operation des verstorbenen N. vorgeworfen wird, einzustehen hat. Erwägungen
Erwägungen:
2.
Das Kantonsspital Olten beruht auf dem Gründungsbeschluss des Kantonsrates vom 17. Mai 1878, der an der Volksabstimmung vom 16. Juni 1878 angenommen worden und am 22. Juni 1878 in Kraft getreten ist. Für den Betrieb gilt die Verordnung, die am 27. Mai 1893 gestützt auf § 6 des Gründungsbeschlusses durch den Regierungsrat erlassen worden und am 15. November 1893 in Kraft getreten ist. Aus diesen rechtlichen Grundlagen geht hervor, dass das Kantonsspital Olten eine vom öffentlichen Recht des Kantons Solothurn beherrschte unselbständige Anstalt ist.
Die Beziehungen zwischen einer solchen öffentlich-rechtlichen Anstalt und ihren Benützern (oder deren Angehörigen) beruhen auf einem besondern Rechtsverhältnis. Ob dieses allein öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist, oder ob es auch Elemente privatrechtlichen Charakters enthält, ergibt sich aus
BGE 102 II 45 S. 47
den massgeblichen kantonalen Bestimmungen über den rechtlichen Status und die Organisation der staatlichen Krankenanstalt (
BGE 101 II 177
E. 3;
BGE 98 Ia 508
E. 8;
BGE 82 II 321
; alle mit Hinweisen). Das selbe gilt für das Rechtsverhältnis zwischen dem Träger der öffentlich-rechtlichen Anstalt (hier dem Kanton) und den in der Anstalt beschäftigten personellen Kräften (hier Ärzte, Pflege- und anderes Personal).
a) Nach
Art. 61 Abs. 1 OR
können die Kantone über die Pflicht ihrer Beamten und Angestellten, den in Ausübung ihrer amtlichen Verrichtungen verursachten Schaden zu ersetzen oder Genugtuung zu leisten, vom Bundeszivilrecht abweichende Bestimmungen aufstellen. Nach Abs. 2 des selben Artikels können jedoch die Regeln des Bundeszivilrechts für gewerbliche Verrichtungen von öffentlichen Beamten und Angestellten durch kantonale Gesetze nicht abgeändert werden. Unter gewerblichen Verrichtungen im Sinne dieser Vorschrift wird die Staatstätigkeit verstanden, die keinen hoheitlichen Charakter trägt (
BGE 101 II 183
; auch
BGE 89 II 271
; OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II/I, S. 121 ff., insbesondere S. 127 f.; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 13 zu
Art. 61 OR
). Die Krankenbetreuung in öffentlichen Krankenhäusern und namentlich die ärztliche Berufsausübung in öffentlichen Spitälern wird nach herrschender Ansicht nicht den gewerblichen Verrichtungen im Sinne von
Art. 61 Abs. 2 OR
zugerechnet, sondern als hoheitliche Staatstätigkeit betrachtet, soweit sie durch Ärzte in amtlicher Eigenschaft erfolgt (
BGE 101 II 183
; auch
BGE 82 II 324
ff.;
BGE 70 II 208
;
BGE 56 II 200
f.;
BGE 48 II 417
; OFTINGER, a.a.O., S. 130; a.M. GAUTSCHI, N. 42 und 53c zu
Art. 394 OR
; LOEFFLER, Die Haftung des Arztes aus ärztlicher Behandlung, Diss. Zürich 1945, S. 33). In den (bereits erwähnten) für das Kantonsspital Olten geltenden Rechtsgrundlagen finden sich keinerlei Anhaltspunkte, dass die Betreuung der in dieser öffentlich-rechtlichen Krankenanstalt hospitalisierten Patienten als gewerbliche Verrichtung im Sinne von
Art. 61 Abs. 2 OR
zu betrachten wäre; diese Tätigkeit untersteht daher grundsätzlich den Haftungsregeln des kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzes (Gesetz vom 26. Juni 1966 über die Haftung des Staates, der Gemeinden, der öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten und die Verantwortlichkeit der Behörden, Beamten und öffentlichen Angestellten und Arbeiter). Nach § 1 dieses Gesetzes unterstehen dessen Bestimmungen
BGE 102 II 45 S. 48
alle Personen, denen die Ausübung eines öffentlichen Amtes des Staates, der Gemeinden, der öffentlich-rechtlichen Körperschaften und öffentlich-rechtlichen Anstalten des kantonalen Rechts übertragen ist, und zwar die Behörden, Beamten, Angestellten und Arbeiter sowie alle übrigen Arbeitskräfte, auch wenn sie nur nebenamtlich, provisorisch oder obligatorisch angestellt sind. Die Haftung des Gemeinwesens erstreckt sich nach § 2 des Verantwortlichkeitsgesetzes auf den Schaden, den öffentliche Funktionäre in Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit Dritten widerrechtlich mit oder ohne Verschulden zufügen.
Die prinzipielle Haftbarkeit des Kantons Solothurn, deren Feststellung von den Klägerinnen im vorliegenden Verfahren begehrt wird, setzt demnach voraus, dass die beiden Ärzte, Dr. X. und Dr. Y, als sie N. im Kantonsspital Olten operiert haben, die Stellung von öffentlichen Funktionären im Sinne der eben erwähnten Bestimmungen des Verantwortlichkeitsgesetzes innehatten, mit andern Worten, dass das Rechtsverhältnis, in das N. bei seiner Aufnahme in die Privatabteilung des Kantonsspitals eingetreten ist, auch bezüglich seiner Beziehung zu dem ihn operierenden Chefarzt sowie zum Narkosearzt öffentlich-rechtlicher Natur war. Wie es sich mit letzterem verhält, beurteilt sich nach der Rechtsstellung dieser beiden Ärzte innerhalb der staatlichen Krankenanstalt.
b) Hinsichtlich der Rechtsstellung der beiden Chefärzte, Dr. X. und Dr. Y., ergibt sich aus den Akten folgendes:
Die Rechtsstellung von Dr. X. war festgelegt in zwei Beschlüssen des Regierungsrates vom 23. Januar und 4. Oktober 1968. Darnach wurde Dr. X. als "nebenamtlicher Chefarzt" gewählt. Er wurde mit der Leitung der am Kantonsspital bestehenden Abteilung für Ohren-Nasen- und Halskrankheiten betraut. Das medizinische Hilfspersonal wurde ihm in Bezug auf die dienstlichen Verrichtungen direkt unterstellt. Er hatte (alle) seine Patienten selbständig zu behandeln. Es wurde ihm das Recht eingeräumt, im Operationssaal des Kantonsspitals an Patienten, die nicht hospitalisiert werden mussten, ambulant Operationen auszuführen, wobei er die daraus dem Spital erwachsenden Unkosten gemäss spezieller Regelung zu vergüten hatte. Die Besoldungs- und Honoraransprüche des "nebenamtlichen Chefarztes der ONH-Abteilung" wurden wie folgt festgelegt: Es wurde ein Fixum bestimmt, in dem die
BGE 102 II 45 S. 49
konsultative Inanspruchnahme des Chefarztes durch andere Spitalärzte für Patienten der allgemeinen Abteilung inbegriffen war. Aus den vom Chefarzt selbst ausgeführten oder unter seiner Aufsicht und Verantwortung vorgenommenen Operationen an Privatpatienten sowie aus der ärztlichen Behandlung dieser Patienten wurde ihm ein Anspruch auf 60% der Spitaleinnahmen eingeräumt, wobei dieser Anspruch bei Ferien, Krankheit, Militärdienstleistung oder bei Beurlaubung von mehr als einer Woche entfiel.
Die Rechtsstellung von Dr. Y. gründet im Regierungsratsbeschluss vom 22. Dezember 1964. Darnach wurde Dr. Y. auf den 1. April 1965 zum Anästhesiearzt am Kantonsspital Olten gewählt und sein Anfangsgehalt festgelegt. Ferner wurde ihm ein Anspruch auf 60% der Spitaleinnahmen aus den von ihm selbst oder unter seiner Aufsicht und Verantwortung bei Patienten der Privatabteilungen ausgeführten Anästhesien eingeräumt. In der Folge wurde Dr. Y. durch den Regierungsratsbeschluss vom 5. Dezember 1967 zum hauptamtlichen Chefarzt für Anästhesie gewählt und gemäss dem durch die Sanitätsdirektion erlassenen Pflichtenheft vom 17. Mai 1968 den andern Chefärzten in allen Rechten und Pflichten gleichgestellt.
c) Der seit dem 22. Juni 1878 in Kraft stehende Gründungsbeschluss für das Kantonsspital Olten bestimmt als Zweck der Krankenanstalt, "körperlich kranke Kantonsbewohner zu verpflegen". Die für den Spitalbetrieb ebenfalls immer noch gültige Verordnung vom 27. Mai 1893 umschreibt den Zweck insofern weiter, als das Kantonsspital Olten bestimmt ist, körperlich Kranke zur Behandlung und Pflege aufzunehmen; eine Einschränkung auf Kantonsbewohner besteht nach dieser Bestimmung nicht mehr. Was die Rechtsstellung des Chefarztes anbelangt, führt die Verordnung u.a. aus, dass diesem die Privatpraxis gestattet sei. Die Taxordnung vom 8. Juli 1971 regelte die Taxen sowohl für die Benutzung der allgemeinen als auch der "Privatabteilung", also auch der Abteilung, in der die Privatpatienten der Chefärzte untergebracht sind. Die Tagestaxen für die Benutzung der allgemeinen Abteilung schliessen - von Ausnahmen abgesehen - sämtliche Leistungen des Spitals ein. Für die Privatabteilung enthält der Tarif sowohl die Ansätze für die Unterkunft (Zimmertaxe) und die Benutzung von Operations- und Gebärsaal, als auch
BGE 102 II 45 S. 50
die Ansätze für die Nebenleistungen, zu denen gemäss Tarifordnung auch die operativen Eingriffe gehören. Diese sind je nach Herkunft der Patienten verschieden. Der neuen Taxordnung vom 14. Dezember 1972 liegt das selbe System zugrunde; sie ist für die Patienten der Privatabteilung insofern differenzierter, als nicht mehr einzig zwischen Patienten, die innerhalb oder ausserhalb des Kantons Niederlassung oder Aufenthalt haben, unterschieden wird, sondern bei den ausserkantonalen Patienten noch zwischen jenen, die in der Schweiz, und jenen, die im Ausland wohnen.
d) Diese kantonalrechtliche Ausgestaltung der Organisation des Kantonsspitals Olten lässt erkennen, dass das Rechtsverhältnis zwischen dem Träger der Anstalt und seinen Benutzern gänzlich vom öffentlichen Recht beherrscht wird. Wer als Patient der allgemeinen Abteilung in das Kantonsspital Olten eingewiesen wird, tritt in ein besonderes Rechtsverhältnis ein, das hinsichtlich seiner Ausgestaltung dem öffentlichen Recht des Kantons untersteht. Erleidet dieser Patient wegen Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht oder aus einem andern den Organen der Anstalt anzulastenden widerrechtlichen Verhalten einen Schaden, können er und allenfalls seine Angehörigen den Kanton nach Massgabe des Verantwortlichkeitsgesetzes belangen. Dies wird vom beklagten Kanton auch nicht bestritten.
Die Haftung des Kantons entfällt aber auch nicht, wenn der Geschädigte Patient in der Privatabteilung, d.h. Privatpatient des Chefarztes ist und diesem hinsichtlich der Operation seines Patienten eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht vorgeworfen werden muss. Mit Ausnahme der unterschiedlichen Ansätze des zu entrichtenden Entgelts für die einzelnen Haupt- und Nebenleistungen der Anstalt unterscheidet sich nämlich die Stellung der Patienten der Privatabteilung von jener der allgemeinen Abteilung nach Massgabe der einschlägigen kantonalrechtlichen Normen nicht. Jeder Patient, gleich welcher Abteilung, tritt daher bei seiner Einweisung in das Kantonsspital Olten in das besondere, vom öffentlichen Recht des Kantons beherrschte Rechtsverhältnis; dieses umfasst auch die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzteschaft. Sieht man von den ambulanten Operationen ab, d.h. von den operativen Eingriffen, welche Chefärzte an Patienten ausführen, die im Spital nicht hospitalisiert werden, ergibt sich aus
BGE 102 II 45 S. 51
den massgeblichen kantonal-rechtlichen Bestimmungen keinerlei Hinweis dafür, dass bei den Patienten der Privatabteilung, welche durch Chefärzte ins Spital eingewiesen und hier operiert werden, ein sog. gespaltenes Rechtsverhältnis bestehen soll, d.h. ein vom öffentlichen Recht beherrschtes Benutzungsverhältnis gegenüber der Anstalt als solcher und ein privatrechtliches Auftragsverhältnis gegenüber dem Chefarzt, der die Operation durchführt.
Für die rechtliche Qualifikation des Verhältnisses zwischen Privatpatient, Spital und Chefarzt kann es daher auch keine massgebliche Rolle spielen, von welchen persönlichen Motiven der Willensentschluss des Patienten, sich gerade von diesem Chefarzt als Patient der Privatabteilung des Kantonsspitals Olten behandeln und operieren zu lassen, getragen wird. Der Patient dürfte sich ohnehin meist über das Rechtsverhältnis, in das er bei seiner Einweisung in eine Krankenanstalt tritt, kaum völlig im klaren sein. Der Patient erwartet, wenn er die Einweisung in die Privatabteilung verlangt, eine bessere Betreuung, d.h. bessere Leistungen, insbesondere eine persönliche Betreuung durch den Chefarzt. Der Patient ist auch bereit, selbst oder über seine Versicherung für dieses "Bessere" ein höheres Entgelt zu entrichten. Er wünscht aber das Bessere innerhalb der öffentlich-rechtlichen Institution. Selbst wenn daher dieser Patient bereits vor seiner Einweisung ins Spital Privatpatient in der Privatpraxis des Chefarztes war und zu diesem in einem privatrechtlichen Auftragsverhältnis stand, ändert sich mit der Einweisung als Patient ins Kantonsspital Olten sein Rechtsverhältnis zu seinem Arzt. Dieser betreut ihn als Bediensteter des Spitals; das Rechtsverhältnis zum Chefarzt geht in jenem zur Anstalt auf. Welcher Teil des vom Privatpatienten zu entrichtenden Entgelts an den Chefarzt fliesst und wieviel von den Taxen dem Kanton verbleibt, ist für die rechtliche Qualifikation der Beziehung zwischen Anstalt und Patient bzw. Patient und Chefarzt umso weniger von Belang, weil im Kantonsspital Olten selbst die Operationstaxen für die Patienten der Privatabteilung in der Taxordnung festgelegt sind.
3.
Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass, gemäss den für das Kantonsspital Olten massgeblichen kantonalrechtlichen Grundlagen, einerseits die gesamte klinische Tätigkeit eines Chefarztes, gleichgültig, ob er diese haupt-
BGE 102 II 45 S. 52
oder nebenamtlich, an Patienten der allgemeinen oder der Privatabteilung ausübt, eine unter der Aufsicht des Kantons stehende amtliche Verrichtung darstellt und anderseits das Benutzungsverhältnis sämtlicher im Kantonsspital Olten hospitalisierten Patienten öffentlich-rechtlicher Natur ist und auch die Beziehungen zwischen den Patienten der Privatabteilung und den sie behandelnden Chefärzten umfasst.
Daraus folgt, dass der Kanton Solothurn nach Massgabe der Bestimmungen des Verantwortlichkeitsgesetzes gegenüber den Klägerinnen für eine allfällige Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, die den beiden Ärzten Dr. X. und Dr. Y. hinsichtlich der Operation des verstorbenen N. vorgeworfen wird, einzustehen hat.
4.
Nicht zu entscheiden ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens, wie weit sich die für das Kantonsspital Olten nach Massgabe des kantonalen Rechts ergebende Haftungsregelung grundsätzlich auch auf die Haftung anderer Kantone für die in ihren Spitälern hospitalisierten Privatpatienten übertragen liesse (vgl.
BGE 82 II 321
, wo das Bundesgericht die Haftung des Kantons Aargau für die Behandlung, die ein Privatpatient im Kantonsspital durch den Stellvertreter des Chefarztes der chirurgischen Abteilung erfahren hatte, verneinte). | de |
643c0394-9162-4ddf-a12a-04bab31d1c00 | Sachverhalt
ab Seite 261
BGE 93 II 260 S. 261
A.-
Die Parfa Parfümerie und Kosmetik AG in Zürich ist Inhaberin der im schweizerischen Register unter Nr. 147'397 eingetragenen und auch im internationalen Register stehenden Wortmarke BRISEMARINE, die für Parfümerien und kosmetische Erzeugnisse bestimmt ist. Sie wurde in der Schweiz in Erneuerung einer gleich lautenden älteren Marke letztmals am 29. Juli 1953 hinterlegt. Der Parfa steht ausserdem zum Gebrauch für Parfümerien, Kosmetika, Badezusätze und Seife die am 29. März 1949 beim eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum hinterlegte Marke Nr. 130'410 zu, die im wesentlichen aus einer in einem Schaumbad stehenden Frau und dem Ausdruck Blue Pearls besteht, ferner die am 4. Mai 1962 hinterlegte und unter Nr. 191'722 eingetragene Wortmarke Blue Pearls, die sie für Mittel und Gegenstände zur Körperpflege, insbesondere Parfümerien, Kosmetika, Badezusätze, Seifen und Bürstenwaren eintragen liess.
Am 12. Oktober 1965 hinterlegte die Esthetic SA in Zug beim eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum die für einen "kosmetischen Badezusatz (Schlankheitszusatz)" bestimmte Marke Nr. 213'640. Sie besteht aus vier wellenförmigen Flächen verschiedener Helligkeit und den darauf geschriebenen Wörtern Blue Marine.
B.-
Am 22. September 1966 reichte die Parfa gegen die Esthetic SA beim Kantonsgericht Zug eine Klage ein. Diese zielte auf Ungültigerklärung der Marke der Beklagten ab, ferner auf Feststellung der Verletzung des Rechts der Klägerin an ihrer Marke BRISEMARINE, auf Feststellung unlauteren Wettbewerbs, auf Untersagung der Fortsetzung der unerlaubten Handlungen, auf Verurteilung zur Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes, auf Zahlung von mindestens Fr. 10'000.-- Schadenersatz und auf Veröffentlichung des Urteils in zwei Fachzeitschriften auf Kosten der Beklagten.
Das Kantonsgericht Zug erkannte am 11. August 1967:
BGE 93 II 260 S. 262
"1. Die Eintragung der Marke Nr. 213'646 'Blue Marine' der Beklagten wird wegen mangelnder Unterscheidungskraft im Register der Fabrik- und Handelsmarken beim eidg. Amt für geistiges Eigentum gelöscht.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte durch die Verwendung des Zeichens 'Blue Marine' auf ihren Erzeugnissen und deren Verpackung sowie in der Werbung das Recht der Klägerin aus der Marke 'BRISEMARINE' (national registriert unter der Nr. 147'397, international registriert unter der Nr. 247'204) verletzt.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte durch die Verwendung des Zeichens 'Blue Marine' auf ihren Erzeugnissen und deren Verpackung sowie in der Werbung gegenüber der Klägerin unlauteren Wettbewerb im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. d UWG
begeht.
4. Der Beklagten wird jede weitere Verwendung des Zeichens 'Blue Marine' untersagt, und es wird ihr für den Fall der Übertretung dieses Verbotes Überweisung an den Strafrichter wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen im Sinne von
Art. 292 StGB
angedroht.
5. Das Begehren der Klägerin um Zusprechung einer Schadenersatzsumme wird abgewiesen.
6. Die Klägerin wird ermächtigt, das Urteilsdispositiv innert Monatsfrist nach Eintritt der Rechtskraft je einmal in zwei Fachzeitschriften ihrer Wahl in der Grösse einer Achtelseite auf Kosten der Beklagten zu veröffentlichen."
C.-
Die Beklagte hat die Berufung erklärt. Sie hält an ihrem schon im kantonalen Verfahren gestellten Antrag auf vollständige Abweisung der Klage fest.
Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beklagte macht geltend, zahlreiche für Kosmetika und insbesondere Parfümerien hinterlegte Marken, die auf Luft, Meeresluft oder Nebel hinwiesen, machten die Marke BRISEMARINE zum Freizeichen, weil sie die Vorstellung eines gelinden Seewindes erwecke und sich damit einer typischen Gedankenverbindung (Hinweis auf den Duft und die erfrischende Wirkung der Ware) bediene. Die Beklagte nennt als andere Marken, die sich angeblich dieser Gedankenverbindung bedienen, die Zeichen Air Marin, L'Air du Temps, Sun Air, Blue Grass Perfume Mist und Blue Daisy Mist.
Diese Anbringen genügen nicht, um die Marke der Klägerin als Gemeingut im Sinne der
Art. 3 Abs. 2 Satz 2 und
Art. 14 Abs. 1 Ziff. 2 MSchG
zu stempeln und ihr damit den Schutz des Gesetzes abzusprechen. Der Ausdruck Brisemarine stände nur dann im Gemeingebrauch, wenn er eine für kosmetische
BGE 93 II 260 S. 263
Erzeugnisse oder deren Eigenschaften oder Herkunft allgemein übliche Bezeichnung wäre. Dass das zutreffe, behauptet die Beklagte nicht. Der Umstand allein, dass er eine ähnliche Vorstellung erweckt wie die von der Beklagten angeführten anderen Marken, von denen die Beklagte übrigens nicht sagt, seit wann sie gebraucht werden, macht ihn nicht zum Gemeingut.
2.
Gegenstand der Berufung ist sodann die Frage, ob die Beklagte durch ihre aus Wort und Bild bestehende Marke Blue Marine die ältere Marke BRISEMARINE der Klägerin in einer Weise nachgeahmt hat, dass das Publikum irregeführt werden kann (
Art. 24 lit. a MSchG
), oder ob sich die Marke der Beklagten durch wesentliche Merkmale von jener der Klägerin unterscheidet (
Art. 6 MSchG
). Die Beklagte stellt sich auf den Standpunkt, das letztere treffe zu, denn das in beiden Marken vorkommende Wort Marine sei Gemeingut und das Wort Blue unterscheide sich vom Bestandteil BRISE der Marke der Klägerin genügend, um Verwechslungen auszuschliessen.
a) Als Gemeingut erachtet die Beklagte den Bestandteil Marine in erster Linie deshalb, weil er die Beschaffenheit oder Herkunft aller Erzeugnisse bezeichne, die ganz oder teilweise aus dem Meer stammten, wie es für den kosmetischen Badezusatz Blue Marine der Beklagten zutreffe.
Einen unmittelbaren Hinweis auf die Beschaffenheit oder die Herkunft des Erzeugnisses der Beklagten enthält das Wort Marine nicht. Es deutet die Herkunft höchstens durch eine Anspielung an. Eine solche macht aber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtes ein Zeichen jedenfalls dann nicht zum Gemeingut, wenn es nur entfernt, mit Hilfe besonderer Phantasie, als Hinweis auf die Beschaffenheit oder Herkunft der Ware verstanden werden kann (
BGE 54 II 406
,
BGE 56 II 410
,
BGE 59 II 80
,
BGE 63 II 428
,
BGE 70 II 243
,
BGE 79 II 102
,
BGE 83 II 218
,
BGE 84 II 224
,
BGE 90 II 263
). Das trifft im vorliegenden Falle auf das Wort Marine zu. Die Marke der Beklagten weist es in Verbindung mit dem Worte Blue auf. Der Ausdruck Blue Marine kann entweder als blaue Marine (blaue Seeflotte) oder als Meeresblau verstanden werden. Letztere Bedeutung liegt näher, zumal das Wellenmotiv, auf dem die beiden Wörter stehen, für sie spricht. Der Begriff Meeresblau wird daher vom Leser in erster Linie auf die Farbe bezogen, die dem Bade durch den von der Beklagten verkauften kosmetischen Zusatz allenfalls verliehen wird. Vielleicht stellt sich der Leser auch vor, die Eigenschaften des
BGE 93 II 260 S. 264
Bades liessen sich mit denen des Meeres vergleichen. Wie dem auch sei, bedarf es jedenfalls einer besonderen Phantasie, um zu schliessen, der kosmetische Badezusatz werde aus Rohstoffen hergestellt, die aus dem Meer gewonnen würden. Das träfe in vermehrtem Masse auch zu, wenn man Blue Marine als "blaue Marine" verstände. Unter keinen Umständen kann davon die Rede sein, dass die Marke der Beklagten unmittelbar auf die Herkunft oder Beschaffenheit der Rohstoffe hinweise, aus denen das Erzeugnis bestehen mag, so dass die Beklagte berechtigt wäre, den Ausdruck Blue Marine als Sachbezeichnung frei zu gebrauchen.
b) Die Beklagte sieht im Worte Marine auch deshalb ein Freizeichen, weil es als Bestandteil der Marken Aquamarine, Aqua-Marina, Air Marin, Perlmarin, Algemarin vorkomme, die für kosmetische Erzeugnisse bestimmt seien.
Ein schutzfähiger Markenbestandteil wird indessen nicht schon dadurch Gemeingut, dass er in Marken Dritter, die für gleichartige oder ähnliche Waren gebraucht werden, ebenfalls vorkommt. Selbst ein häufiger Gebrauch durch Dritte hat diese Wirkung nicht notwendigerweise. Sie tritt nur selten ein, nämlich dann, wenn der Gebrauch des betreffenden Zeichens so allgemein geworden ist, dass es über die Herkunft der Ware aus einem bestimmten Betriebe nichts mehr auszusagen vermag, weil alle am Verkehr der Ware beteiligten Kreise, namentlich auch die Fabrikanten, es für eine Sachbezeichnung halten und die Rückentwicklung in ein Individualzeichen sich trotz darauf gerichteter Bestrebungen als unmöglich erweist (
BGE 42 II 171
,
BGE 57 II 606
f.,
BGE 60 II 254
,
BGE 62 II 325
,
BGE 83 II 219
,
BGE 90 II 263
). Dass der Begriff Marine eine solche Entwicklung durchgemacht habe und von allen beteiligten Kreisen unwiderruflich für eine Sachbezeichnung für kosmetische Erzeugnisse gehalten werde, bringt die Beklagte nicht vor. Sie hat das auch im kantonalen Verfahren nicht behauptet, sondern nur geltend gemacht, die Silben Marine bzw. Marin würden in den erwähnten fünf Zusammensetzungen von den verschiedensten Produzenten für ähnliche Erzeugnisse verwendet.
c) Ist somit davon auszugehen, dass der Ausdruck Marine weder von Anfang an Gemeingut war noch sich nachträglich zu einem solchen entwickelt hat, so muss er beim Entscheide darüber, ob die Marke der Beklagten das Publikum über die Herkunft der Ware irreführen könne, mitberücksichtigt werden.
BGE 93 II 260 S. 265
Denn die Verwechslungsgefahr beurteilt sich nach dem Eindruck, den die sich gegenüberstehenden Marken als Ganzes hinterlassen (
Art. 6 Abs. 2 MSchG
;
BGE 47 II 234
,
BGE 58 II 455
Erw. 2,
BGE 78 II 380
,
BGE 82 II 233
f.,
BGE 83 II 220
,
BGE 84 II 446
Erw. 3,
BGE 87 II 36
,
BGE 88 II 376
, 378,
BGE 90 II 264
). Auf die Ausführungen, mit denen die Beklagte darzutun versucht, dass "Brise" und "Blue", für sich allein betrachtet, voneinander völlig verschieden seien, ist somit nicht einzutreten.
3.
Die Beklagte macht geltend, ihre Marke könne mit jener der Klägerin selbst dann nicht verwechselt werden, wenn "Marine" nicht Gemeingut sei.
a) Zwei Marken sind nicht schon dann genügend unterscheidbar, wenn der Richter, der sie beide gleichzeitig vor sich sieht, sie voneinander zu unterscheiden vermag. Massgebend ist vielmehr, ob der Käufer der Ware durch die jüngere Marke zur Auffassung gelangen könnte, das Erzeugnis stamme aus dem Betrieb des Inhabers der älteren Marke. Der Käufer hat die beiden Zeichen nicht immer gleichzeitig vor sich. Oft kennt er sie oder wenigstens das eine überhaupt nur vom Hörensagen. Hat er das ältere Zeichen schon gesehen, so kann es in seiner Erinnerung teilweise verblasst sein. Er hat es sich vielleicht überhaupt nicht scharf eingeprägt und bekommt möglicherweise auch das jüngere Zeichen nur flüchtig zu Gesicht. Bei der Beurteilung der Unterscheidbarkeit ist daher auf das Erinnerungsvermögen des Durchschnittkäufers und überhaupt auf die gesamten Umstände, unter denen sich der Handel mit Waren der in Frage stehenden G attung abzuwickeln pflegt, Rücksicht zu nehmen (s. z.B.
BGE 58 II 455
Erw. 2,
BGE 78 II 381
f.,
BGE 87 II 37
).
b) Beide hier zu vergleichenden Marken setzen sich offensichtlich aus zwei Bestandteilen zusammen, von denen der zweite, das Wort Marine, für beide identisch ist. Der erste Bestandteil sodann beginnt in beiden Marken mit dem Buchstaben B und endet mit dem Buchstaben E. Er ist in beiden Marken fast gleich lang. Es ist leicht möglich, dass der Käufer mehr den Wortteil Marine als die Silbe Brise beachtet und dass er daher, wenn ihm später Waren mit der Marke Blue Marine angeboten werden, ein Erzeugnis der Klägerin vor sich zu haben glaubt. Diese Gefahr ist umso grösser, als das Wort "Blue" aus der Marke "Blue Pearls" der Klägerin entlehnt ist. Dass Brisemarine ein einziges Wort ist, Blue Marine dagegen deren zwei aufweist, ändert nichts, ebenso wenig der Umstand,
BGE 93 II 260 S. 266
dass die beiden Wörter der Marke der Beklagten auf zwei Zeilen verteilt und gegeneinander etwas verschoben sind und dass nur ihr erster Buchstabe gross geschrieben ist, während das Wort BRISEMARINE durchwegs aus gleich grossen Kapitalbuchstaben besteht. Diese Unterschiede sind zu schwach, als dass sie in der Erinnerung notwendigerweise haften blieben. Zudem betrachtet der Käufer kosmetischer Erzeugnisse die Marke nicht immer selber. Die Ware wird ihm vom Verkäufer im Laden oder am Telephon oft nur mündlich als "Brisemarine" oder "Blue Marine" angeboten. Wenn dies zutrifft, kommt dem Käufer die verschiedene Schreibweise überhaupt nicht zum Bewusstsein. In solchen Fällen tragen auch die stilisierten Wellen auf der Marke der Beklagten zur Unterscheidbarkeit nichts bei, denn der Verkäufer erwähnt sie nicht, wenn er von "Blue Marine" spricht. Dieser Ausdruck ist übrigens im Vergleich zum Wellenbild der charakteristische Bestandteil, der selbst dann den Ausschlag gibt, wenn der Käufer die Marke der Beklagten zu Gesicht bekommt. Der Käufer kann der Meinung sein, die stilisierten Wellen seien nur eine dekorative Beigabe, die überhaupt nicht zur Marke gehöre. Erkennt er sie als einen Markenbestandteil, so weiss er vielleicht nicht oder erinnert er sich jedenfalls nicht notwendigerweise daran, dass die Marke der Klägerin diesen Bestandteil nicht aufweist. Das Wellenbild auf der Marke der Beklagten trägt umso weniger zur Unterscheidung der beiden Marken bei, als auch der Begriff Brisemarine durch Gedankenverbindung die Vorstellung von einer leicht gewellten Meeresoberfläche hervorrufen kann.
c) Die Beklagte verneint die Verwechselbarkeit der beiden Marken, weil jene der Klägerin nur sehr geringe Kennzeichnungskraft habe, denn ihr Wortsinn "gelinder Seewind" weise auf eine wesentliche Eigenschaft der Erzeugnisse hin, nämlich auf deren Duft und erfrischende Wirkung, und zudem beständen für kosmetische Erzeugnisse schon ähnliche Marken, z.B. Air Marin, L'Air du Temps, Sun Air, Blue Grass Perfume Mist und Blue Daisy Mist.
Der Umstand allein, dass der Begriff des gelinden Seewindes die Gedanken allenfalls auf den Duft oder die erfrischende Wirkung kosmetischer Erzeugnisse zu lenken vermag, setzt indessen die Kennzeichnungskraft der Marke der Klägerin nicht herab. Der Sinn des Wortes Brisemarine würde diese Marke nur dann zu einem schwachen Zeichen machen, wenn
BGE 93 II 260 S. 267
die Anspielung auf gelinde Seewinde in Marken für kosmetische Erzeugnisse allgemein üblich wäre. Die Beklagte behauptet aber nicht, das treffe zu. Eine solche Behauptung kann aus der Anführung einiger Marken, die den Gedanken an Wind, Luft oder Nebel erwecken und von denen die Beklagte nicht einmal sagt, wem sie gehören und seit wann sie bestehen, nicht herausgelesen werden.
Zudem vermöchte die Beklagte aus der angeblichen Schwäche des Zeichens der Klägerin nichts für sich abzuleiten. Wer seine Marke schwächt, indem er sehr lange ähnliche andere Zeichen duldet, kann höchstens das Recht verlieren, sich gegenüber den Inhabern dieser anderen Marken nachträglich auf die Verwechslungsgefahr zu berufen. Dagegen begibt er sich damit nicht des Rechtes, den Gebrauch neuer Marken, die sich auf unerlaubte Weise ebenfalls an sein Zeichen heranschleichen, untersagen zu lassen (
BGE 73 II 61
, 189,
BGE 82 II 543
Erw. 4,
BGE 83 II 219
). Die Schwäche des älteren Zeichens setzt auch nicht die Verwechslungsgefahr herab, so dass an die Unterscheidungskraft neuer Marken geringere Anforderungen zu stellen wären. Der Umstand, dass die Marke der Klägerin die Vorstellung eines leichten Meerwindes erweckt und die Beklagte mit ihrer Marke die Gedanken der Käufer ebenfalls auf eine dem Meere eigene Naturerscheinung zu lenken versucht, erhöht die Verwechslungsgefahr geradezu und ist daher ein weiteres Argument für die Rechtswidrigkeit der Marke der Beklagten (vgl.
BGE 73 II 186
f.).
d) Die Verwechselbarkeit der beiden Marken wird auch nicht dadurch behoben, dass die Beklagte für ihr Erzeugnis umfassend geworben haben will. Die Marke der Beklagten wurde erst im Oktober 1965 eingetragen. Es ist nicht zu ersehen, durch welches Wunder sie in den elf Monaten bis zur Einreichung der Klage sich beim Publikum so hätte einleben können, dass es sie mit Sicherheit von der Marke BRISE-MARINE der Klägerin zu unterscheiden wüsste und sich ohne weiteres bewusst wäre, dass ihm unter der Bezeichnung Blue Marine ein Erzeugnis der Beklagten, nicht ein solches der Klägerin angeboten werde. Es fehlen nicht nur diesbezügliche Feststellungen der Vorinstanz, sondern auch entsprechende Behauptungen und Beweisangebote der Beklagten; diese beruft sich einfach darauf, dass die Klägerin vorgetragen habe, die Beklagte habe "eine umfassend grosse Werbung betrieben".
BGE 93 II 260 S. 268
4.
Die Beklagte macht geltend, das Kantonsgericht hätte die Löschung ihrer Marke nicht anordnen dürfen; der Zivilrichter dürfe die Marke nur nichtig erklären, wogegen die Löschung nur dem Amt für geistiges Eigentum, dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement oder dem Bundesgericht als Verwaltungsgericht zustehe. Sie verweist auf
Art. 16bis und 34 MSchG
sowie auf Art. 24 der Vollziehungsverordnung zum MSchG.
Art. 16bis MSchG
regelt die Löschung von Amtes wegen, wenn eine Marke entgegen Art. 13bis oder 14 Abs. 1 Ziff. 2 oder Abs. 2 MSchG eingetragen wurde. Mit dieser vom eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement oder vom Bundesgericht als Verwaltungsgericht anzuordnenden Löschung befasst sich Art. 24 Abs. 1 Ziff. 3 Vollziehungsverordnung zum MSchG. Daneben gibt es eine Löschung, die vom Amt für geistiges Eigentum vorzunehmen ist, wenn die Eintragung durch ein rechtskräftiges Urteil ungültig erklärt wurde (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 Vollziehungsverordnung zum MSchG). Das heisst nicht, der Richter dürfe die Marke nur "ungültig erklären", nicht die "Löschung" anordnen. Auch
Art. 34 MSchG
, wonach das Amt gegen Vorweisung des in Rechtskraft erwachsenen Urteils die Löschung der widerrechtlich eingetragenen oder ungültig gewordenen Marke vornimmt, hat nicht diesen Sinn. Die Ungültigerklärung kommt einem Befehl zur Löschung gleich, und ein Befehl zur Löschung bedeutet Ungültigerklärung der Marke. Diesen Sinn hat Spruch 1 des angefochtenen Urteils; das Kantonsgericht nimmt damit die Löschung nicht selber vor, sondern ordnet nur an, das Amt für geistiges Eigentum habe sie vorzunehmen. Auf diese Massnahme gibt das Urteil dem obsiegenden Kläger selbst dann Anspruch, wenn es nur auf "Ungültigerklärung" lautet (
BGE 40 II 288
). Sagt es statt dessen, die Marke sei zu "löschen", so ist die Gegenpartei in ihren Rechten nicht verletzt.
5.
Die Beklagte beanstandet sodann Spruch 2 des angefochtenen Urteils, wo das Kantonsgericht feststellt, "dass die Beklagte durch die Verwendung des Zeichens 'Blue Marine' auf ihren Erzeugnissen und deren Verpackung sowie in der Werbung das Recht der Klägerin aus der Marke 'BRISE-MARINE'... verletzt". Sie macht geltend, nur der markenmässige Gebrauch der Marke, also nur deren Verwendung auf den Erzeugnissen und deren Verpackung, nicht auch die Werbung falle unter das Markenschutzgesetz.
BGE 93 II 260 S. 269
Das ist an sich richtig (
BGE 86 II 281
,
BGE 87 II 42
,
BGE 88 II 34
,
BGE 92 II 261
). Spruch 2 des angefochtenen Urteils sagt aber nicht, die Verwendung des Zeichens in der Werbung falle unter das Markenschutzgesetz, sondern nur, sie verletze das Recht der Klägerin aus der Marke BRISEMARINE. Das heisst lediglich, im Hinblick auf das Recht der Klägerin an dieser Marke sei auch die Werbung mit dem Ausdruck Blue Marine unerlaubt. Das trifft in der Tat zu, wenn die Beklagte, wie das Kantonsgericht dann in Spruch 3 noch ausdrücklich feststellt, unter anderem auch durch diese Werbung unlauteren Wettbewerb im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. d UWG
begeht. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, fehlt der Beklagten ein rechtlich geschütztes Interesse an der Anfechtung der Fassung von Spruch 2, denn die Worte "sowie in der Werbung" nehmen überflüssigerweise nur voraus, was in Spruch 3 nochmals festgestellt wird. Die beanstandete Wendung erweist sich nur als redaktioneller Schönheitsfehler.
6.
Die Feststellung, die Beklagte begehe durch die Verwendung des Zeichens Blue Marine auf ihren Erzeugnissen und deren Verpackung sowie in der Werbung gegenüber der Klägerin unlauteren Wettbewerb im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. d UWG
(Spruch 3), ist begründet. Auf Verstösse gegen das Markenschutzgesetz kann kumulativ auch das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb angewendet werden (
BGE 73 II 117
f., 134 f.,
BGE 76 II 94
,
BGE 79 II 221
Erw. 1,
BGE 87 II 39
Erw. 3,
BGE 92 II 264
Erw. III 1), und umso mehr greift dieses auch ein, wenn eine unlautere Wettbewerbshandlung nicht schon vom Markenschutzgesetz erfasst wird. Die Beklagte bestreitet das übrigens nicht.
Dagegen macht sie geltend, wenn die markenrechtliche Verwechselbarkeit der Warenzeichen der Parteien bejaht werden sollte, fiele die Art der Verpackung und der Ausstattung der in Frage stehenden Erzeugnisse ins Gewicht; diesbezüglich bestünden wesentliche Unterschiede; insbesondere sei der Badezusatz "Blue Marine" an auffallender Stelle und mit grosser Schrift mit der Firma "Esthetic SA" bezeichnet.
Damit will die Beklagte vermutlich sagen, Verpackung und Ausstattung ihres Erzeugnisses sowie der Geschäftsname schlössen Verwechslungen im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. d UWG
aus. Dem ist nicht beizupflichten. Beim Einkauf sind nicht notwendigerweise alle Käufer darüber im Bilde, wie einerseits die Klägerin und anderseits die Beklagte ihre Erzeugnisse ausstatten und verpacken. Sie wissen auch nicht unter
BGE 93 II 260 S. 270
allen Umständen, wie die Fabrikantin von BRISEMARINE heisst. Kennen sie die Namen der beiden Firmen, so können sie sich doch vorstellen, die von der Beklagten vertriebene Ware stamme aus dem Unternehmen der Klägerin. Diese braucht sich solche Irreführung der Käufer nicht gefallen zu lassen. Das Vorgehen der Beklagten ist unlauter.
Wenn die Beklagte sodann noch geltend macht, soweit sich die Wörter Blue und Marine zur Charakterisierung ihrer Erzeugnisse eigneten, müsse ihr deren Verwendung auf alle Fälle gestattet bleiben, verkennt sie, dass das Bundesgericht sich heute nicht darüber auszusprechen hat, ob sie diese Wörter jedes für sich allein oder in einer von "Blue Marine" abweichenden Wendung gebrauchen darf.
7.
Der in
Art. 2 Abs. 1 lit. a UWG
vorgesehene Anspruch auf Feststellung der Widerrechtlichkeit setzt voraus, dass der Verletzte an der Feststellung rechtlich interessiert sei. Das Bundesgericht hat ein solches Interesse unter anderem dann bejaht, wenn der Richter die Veröffentlichung des Urteils anordnet (
BGE 77 II 185
f.,
BGE 82 II 359
,
BGE 90 II 58
Erw. 8). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Die Beklagte sagt nicht, aus welchen Gründen davon abzuweichen wäre. Sie bringt nur vor, das Kantonsgericht gehe zu Unrecht davon aus, die Feststellung sei zulässig, wenn die Veröffentlichung des Urteils geboten erscheine.
Im vorliegenden Falle wurde das Begehren um Veröffentlichung des Urteils geschützt. Wenn es standhält, ist deshalb auch der Anspruch auf Feststellung der Widerrechtlichkeit begründet.
8.
Die Veröffentlichung des Urteils, die von der Beklagten ebenfalls beanstandet wird, liegt gemäss
Art. 6 UWG
im Ermessen des Richters. Das Kantonsgericht hat es nicht überschritten. Die Beklagte irrt sich, wenn sie geltend macht, die Veröffentlichung setze ein mehr als nur kleines Verschulden des Täters voraus. Durch die Bekanntgabe des Urteils soll in erster Linie weiteren Verletzungen vorgebeugt und das Publikum aufgeklärt werden. Sie dient der Beseitigung der eingetretenen Störung, der Erhaltung der Kundschaft des Verletzten (
BGE 92 II 269
Erw. 9 und dort erwähnte Urteile). Sie kann deshalb auch am Platze sein, wenn den Störer kein Verschulden trifft (
BGE 79 II 329
). Auch setzt sie nicht voraus, dass die Marke des Verletzten "diskreditiert" worden sei, d.h. einen üblen Ruf erlangt habe. Es genügt, dass die beteiligten Kreise wahrscheinlich
BGE 93 II 260 S. 271
irregeführt wurden und deshalb der Aufklärung bedürfen. Die Beklagte nennt keine Tatsachen, aus denen sich ergäbe, dass diese Voraussetzung, die dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entspricht, im vorliegenden Falle nicht erfüllt sei. Die Vorinstanz stellt gegenteils fest, die Aussage des Dr. Dreiding, die Klägerin sei verschiedentlich angefragt worden, ob man das Erzeugnis "Blue Marine" bei ihr beziehen könne, weise darauf hin, dass die Verwechselbarkeit der beiden Zeichen einen Teil der Kundschaft dazu veranlasste, "Blue Marine" für ein Produkt der Klägerin zu halten. Nur einen Schaden hält das Kantonsgericht nicht für bewiesen. Unsicherheit und Verwirrung bei den Abnehmern und Vermögensschaden beim Verletzten sind indessen nicht dasselbe.
Die Beklagte beanstandet auch zu Unrecht, dass zwei Fachzeitschriften als Mittel zur Veröffentlichung dienen sollen. Ihre Auffassung, nur die letzten Abnehmer der Erzeugnisse bedürften allenfalls der Aufklärung, hält nicht stand. Auch Leute, welche die Erzeugnisse zum Wiederverkauf erwerben, können durch die Nachahmung der Marke der Klägerin irregeführt worden sein. Wenn sie auch in der Regel wissen, welche Firma sie beliefert, ist ihnen doch nicht notwendigerweise bewusst, woher der Lieferant die Ware bezieht und dass er mit dem Inhaber einer ähnlichen Marke geschäftlich in keiner Weise verbunden ist. Die Veröffentlichung des Urteils in Fachzeitschriften kann die Wiederverkäufer aufklären. Übrigens ist nicht von vornherein unwahrscheinlich, dass auch gewisse letzte Abnehmer Fachzeitschriften lesen. Dass nicht auch noch die Veröffentlichung in der Tagespresse verlangt und angeordnet wurde, benachteiligt die Beklagte nicht. | de |
f561faeb-662f-4dca-836a-770da2efc840 | Mangels vergleichbarer Sachverhalte innerhalb des Schutzbereichs einer Konventionsgarantie ist Art. 14 i.V.m.
Art. 8 EMRK
nicht anwendbar und liegt keine verpönte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor (E. 4).
Sachverhalt
ab Seite 379
BGE 146 V 378 S. 379
A.
A. ist als selbständige Rechtsanwältin der Ausgleichskasse des Kantons Zürich (fortan: Ausgleichskasse) angeschlossen. Im Februar 2018 wurde sie Mutter einer Tochter und meldete sich im Juni 2018 zum Bezug einer Mutterschaftsentschädigung sowie einer Betriebszulage von Fr. 67.- pro Tag an. Die Ausgleichskasse richtete erstere in Höhe des Maximalbetrags von Fr. 19'208.- (Fr. 196.- x 98) abzüglich AHV/IV/EO-Beiträgen aus. Mit Verfügung vom 20. Juli 2018 verneinte sie einen Anspruch auf Betriebszulagen. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 12. September 2018 fest.
B.
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. September 2019 ab.
C.
A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Anträgen, es sei der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. September 2019 aufzuheben und die zuständige Behörde anzuweisen, ihrem Antrag auf Ausrichtung einer Betriebszulage im Rahmen der Mutterschaftsentschädigung stattzugeben. Eventualiter sei festzustellen, dass deren Nichtausrichtung
Art. 8 Abs. 3 BV
verletze.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Strittig ist, ob das kantonale Gericht einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Betriebszulage bei Mutterschaft zu Recht verneint hat. Es handelt sich um eine frei überprüfbare Rechtsfrage.
(...)
3.
3.1
Dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 i.V.m.
Art. 16e Abs. 2 EOG
(SR 834.1) lässt sich kein Anspruch auf Betriebszulagen zur Mutterschaftsentschädigung entnehmen, wie sowohl das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat als auch die Beschwerdeführerin anerkennt. Unbestritten entsprach es dem Willen des Gesetzgebers, im Rahmen der Mutterschaftsentschädigung keinen solchen zu eröffnen (Erwägung 4.3 des angefochtenen Entscheids mit Verweis auf den ausdrücklichen Verzicht im Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 3. Oktober 2002 [BBl 2002 7522, 7547], was in den Räten diskussionslos übernommen wurde [AB 2001 N 1614 ff., 2002 N 1925 ff. und 2003 N 1337 ff. sowie AB 2003 S 529 ff. und 834 ff.]).
BGE 146 V 378 S. 380
3.2
Von diesem klar dokumentierten gesetzgeberischen Willen abzuweichen, würde den Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung, wie sie die Beschwerdeführerin verlangt (nicht publ. E. 2.2.1), sprengen (vgl.
BGE 140 I 305
E. 6.2 S. 311 und E. 7.4 S. 314;
BGE 141 II 338
E. 3.1 S. 340).
4.
4.1
Die Beschwerdeführerin rügt eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 i.V.m.
Art. 14 EMRK
; nicht publ. E. 2.2.2).
Im Vordergrund steht dabei, ob und inwieweit - als eine von mehreren Anwendungsvoraussetzungen von
Art. 14 EMRK
- mit Blick auf die Ausübung der geltend gemachten Rechtsposition überhaupt vergleichbare Verhältnisse vorliegen, die eine unterschiedliche Behandlung erfahren (Urteile des EGMR
Di Trizio gegen Schweiz
vom 2. Februar 2016 [7186/09], § 80;
Markin gegen Russland
vom 22. März 2012 [30078/06], § 125;MEYER-LADEWIG/LEHNER, in: EMRK, Handkommentar, 4. Aufl. 2017, N. 6 und 9 zu
Art. 14 EMRK
).
4.2
4.2.1
Das EOG regelt zwar sowohl den Entschädigungsanspruch für Dienstleistende (
Art. 1a ff. EOG
) als auch denjenigen bei Mutterschaft (
Art. 16b ff. EOG
). Die Regelung im selben Gesetz führt für sich allein indes nicht zur Annahme vergleichbarer Sachverhalte und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jeweiligen Ansprüche an grundsätzlich verschiedenen versicherten Lebenssachverhalten anknüpfen (Dienst - primär Militärdienst - im Sinne des EOG einerseits und Mutterschaft anderseits), von denen nur die Mutterschaft dem Schutzbereich von
Art. 8 EMRK
unterfällt. Die fundamentale Verschiedenheit kommt bereits in den separaten Kompetenznormen der Bundesverfassung zum Ausdruck (Art. 59 Abs. 4 bzw.
Art. 116 Abs. 3 BV
), die dem Gesetzgeber überdies unterschiedliche Vorgaben machen. So wird dieser gemäss Verfassung nur bei Militär- und Ersatzdienst zum Erlass von Vorschriften über den "angemessenen Ersatz des Erwerbsausfalls" ("juste compensation pour la perte de revenu" / "adeguata compensazione della perdita di guadagno") angehalten, während er im Falle der Mutterschaft eine "Mutterschaftsversicherung" ("assurance-maternité" / "assicurazione per la maternità") einzurichten hat, deren genaue Ausgestaltung nicht näher präzisiert wird. Soweit in der Lehre die Vergleichbarkeit der beiden Sachverhalte ohne nähere Begründung bereits aufgrund der Regelung im
BGE 146 V 378 S. 381
selben Erlass vorausgesetzt wird, kann ihr nicht gefolgt werden (EDGAR IMHOF, Schweizerische Leistungen bei Mutterschaft und FZA/Europarecht, in: Das europäische Koordinationsrecht der sozialen Sicherheit und die Schweiz, 2006, Rz. 164; STÉPHANIE PERRENOUD, La protection de la maternité, 2015, S. 1173; ANNEKATRIN WORTHA, Schutz und Förderung der Familie, 2016, Rz. 619; bloss die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gebot der Gleichbehandlung der Geschlechter aufwerfend SABINE STEIGER-SACKMANN, in: Recht der Sozialen Sicherheit, 2017, Rz. 32.65 i.f.; OLIVIER SUBILIA, La nouvelle loi sur les allocations pour perte de gain et maternité, AJP 2005 S. 1469 ff., S. 1474).
4.2.2
Ein "einheitlicher Zweck" der Erwerbsersatzregelungen bei Dienst und bei Mutterschaft lässt sich auch nicht den Materialien zur Parlamentarischen Initiative "Revision Erwerbsersatzgesetz. Ausweitung der Erwerbsersatzansprüche auf erwerbstätige Mütter" entnehmen, die der Einführung der Mutterschaftsversicherung zugrunde lag. Aus ihnen erhellt vielmehr, dass die Regelung der Mutterschaftsentschädigung primär aus zwei Gründen im Rahmen des bestehenden EOG erfolgte: Einerseits mit Blick darauf, dass die EO zum Zeitpunkt der Einführung Überschüsse erwirtschaftete und sich die notwendige Zusatzfinanzierung deshalb in Grenzen (Lohnpromille statt Lohnprozente) hielt; anderseits aufgrund des Wunsches, die Versicherung effizient und mit geringem Administrationsaufwand über bereits bestehende Strukturen vornehmen zu können (vgl. etwa Votum des Initianten Triponez, AB 2001 N 1615).
4.3
Ausschlaggebend ist letztlich die Anknüpfung der schweizerischen Mutterschaftsversicherung an die biologische Mutterschaft (Niederkunft mit anschliessender Erholungs- und Stillzeit), statt an die soziale Elternschaft und die damit verbundene Betreuungsaufgabe. Sie unterscheidet sich damit etwa von einer Elternzeit (zit.
BGE 140 I 305
E. 8.1 S. 314 und E. 10 S. 317 ff. mit Hinweisen; vgl. auch STÉPHANIE PERRENOUD, Durées du travail et discrimination, AJP 2017 S. 657 ff., S. 661; zur unterschiedlichen Zielsetzung von Mutterschafts- und Elternurlaub weiter zit. Urteil des EGMR
Markin gegen Russland
, a.a.O., § 132). Angesichts der Versicherung eines "Risikos", das sich nur geschlechtsspezifisch bei Frauen verwirklichen kann, fällt eine Geschlechterdiskriminierung grundsätzlich ausser Betracht (vgl. implizit zit. Urteil des EGMR
Markin gegen Russland
, a.a.O.; ausserdem [allerdings bezugnehmend auf
Art. 8 Abs. 3 BV
]
BGE 144 V 184
E. 5.2 S. 193). Dies bedeutet einerseits, dass
BGE 146 V 378 S. 382
Männer rechtlich durch eine solche Regelung keine Diskriminierung erfahren, obwohl sie vom Genuss der Versicherungsleistungen ausgeschlossen bleiben, da sich bei ihnen kein vergleichbarer Sachverhalt verwirklichen kann (vgl. zit.
BGE 140 I 305
E. 10 S. 317 ff.; ausserdem STÉPHANIE PERRENOUD, Le congé de maternité, AJP 2014 S. 1652 ff., 1658 i.f. und Nachweise in Fn. 53). Anderseits bedeutet es aber auch, dass die begünstigten Frauen mit Blick auf eine allenfalls von anderen Sozialversicherungen abweichende Ausgestaltung der Entschädigung keine rechtliche Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts geltend machen können.
4.4
Sind keine vergleichbaren Sachverhalte gegeben, gelangt Art. 14 i.V.m.
Art. 8 EMRK
von vornherein nicht zur Anwendung und kann - aus rechtlicher Sicht - in der geringeren Absicherung selbständig erwerbender Mütter für ihren Erwerbsausfall zufolge Mutterschaft im Vergleich zu den selbständig erwerbenden Dienst leistenden Männern und Frauen keine verpönte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts liegen. Gleichzeitig kann keine Rede davon sein, die Vorinstanz habe die prozessualen Rechte (Verfahrens- und Rechtsweggarantie, vgl. nicht publ. E. 2.2.2) der Beschwerdeführerin beschnitten, indem sie auf eine extensive grundrechtliche Überprüfung der
Art. 16b ff. EOG
verzichtet hat.
Angesichts des Ergebnisses besteht auch keine Veranlassung zur Überprüfung der getroffenen Regelung auf ihre Vereinbarkeit mit
Art. 8 Abs. 3 BV
: Ein Anspruch auf Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen besteht nicht. Ob dazu Veranlassung besteht, hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalles ab (
BGE 140 I 353
E. 4.1 S. 358 f.; SVR 2020 AHV Nr. 9 S. 25, 9C_659/2019 E. 4.2; vgl. ausserdem HANGARTNER/LOOSER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 11 zu
Art. 190 BV
und GIOVANNI BIAGGINI, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N.13 zu
Art. 190 BV
). Auf das dahingehende Eventualbegehren der Beschwerdeführerin ist mit Verweis auf das Anwendungsgebot von Bundesgesetzen (
Art. 190 BV
) nicht weiter einzugehen.
4.5
Anzufügen bleibt, dass die Beschlussfassung über Regelungen kollektiver Absicherung, ebenso wie deren Ausgestaltung, Sache des Gesetzgebers ist (so bereits Urteil 2P.296/1992 vom 11. Februar 1994 E. 4b, in: ZBl 1995 S. 375 ff., mit Verweis auf
BGE 116 Ib 270
E. 7a S. 282 f.; ausserdem zit.
BGE 144 V 184
E. 5.2 i.f. S. 194 f.). Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, sich zur politischen Opportunität
BGE 146 V 378 S. 383
einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Ersatzordnungen zu äussern, und es existiert kein genereller Grundsatz, demzufolge der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor sämtlichen Unwägbarkeiten des Lebens gleichermassen abzusichern hätte (zit.
BGE 144 V 184
, a.a.O.). Hinzuweisen ist immerhin darauf, dass das Parlament im Dezember 2019 zwei am 24. bzw. 26. September 2019 eingereichte Motionen mit den gleichlautenden Titeln "Betriebszulage bei Mutterschaftsentschädigung von Selbständigerwerbenden" angenommen hat. Damit wird der Bundesrat beauftragt, die gesetzlichen Grundlagen dafür zu schaffen, dass Selbständigerwerbende im Falle einer Mutterschaft Anspruch auf Betriebszulagen analog
Art. 8 EOG
erhalten (Motion Nr. 19.4110 von Nationalrätin Marti; Motion Nr. 19.4270 von Ständerätin Maury Pasquier, übernommen von Ständerätin Baume-Schneider). | de |
0ffd92ca-f04a-4ee6-8bc0-8ffe86cf20a2 | Sachverhalt
ab Seite 588
BGE 141 III 587 S. 588
A.
A.a
Über die A. GmbH mit Sitz in Basel wurde mit Entscheid des Zivilgerichts Basel am 4. November 2013 auf Antrag der Stiftung B. der Konkurs eröffnet. Am 20. November 2013 lud das Konkursamt des Kantons Basel-Stadt C., Gesellschafter und Geschäftsführer, wohnhaft in U./AG, auf den 28. November 2013 (mit per Einschreiben zugesandter Vorladung) zur Einvernahme auf die Amtsstelle ein, welcher er unentschuldigt fernblieb.
A.b
Mit Schreiben vom 10. Dezember 2013 gelangte das Konkursamt Basel-Stadt an das Konkursamt Aargau, Amtsstelle Brugg, und verlangte, die Einvernahme von C. rechtshilfeweise durchzuführen, und ersuchte um Erstellung eines (allenfalls leeren) Inventars und Unterzeichnung desselben durch C. Das Konkursamt Aargau, Amtsstelle Brugg, weigerte sich mit Antwort an das Konkursamt Basel-Stadt vom 11. Dezember 2013, den Rechtshilfeauftrag auszuführen.
B.
B.a
Gegen die Rückweisung des Rechtshilfeauftrages gelangte das Konkursamt Basel-Stadt an das Bezirksgericht (Gerichtspräsidium) Rheinfelden als untere betreibungsrechtliche Aufsichtsbehörde und verlangte, das Konkursamt Aargau, Amtsstelle Brugg, sei anzuweisen, den Rechtshilfeauftrag vom 10. Dezember 2013 auszuführen. Mit Entscheid vom 6. März 2014 wurde die Beschwerde gutgeheissen.
B.b
Hiergegen gelangte das Konkursamt Aargau, Amtsstelle Brugg, an das Obergericht des Kantons Aargau, Schuldbetreibungs- und Konkurskommission als obere betreibungsrechtliche Aufsichtsbehörde, welches die Beschwerde mit Entscheid vom 14. Januar 2015 guthiess und die Verweigerung des Rechtshilfeauftrages durch das Konkursamt Aargau, Amtsstelle Brugg, bestätigte.
C.
Das Konkursamt Basel-Stadt und die Konkursmasse A. GmbH, vertreten durch das Konkursamt Basel Stadt, haben am 2. Februar 2015 beim Bundesgericht Beschwerde erhoben. Es wird die Aufhebung des Entscheides des Obergerichts des Kantons Aargau als oberer kantonaler Aufsichtsbehörde beantragt. In der Sache wird beantragt, es sei der erstinstanzliche Entscheid zu bestätigen bzw. das Konkursamt Aargau, Dienststelle Brugg, anzuweisen, den Rechtshilfeauftrag vom 10. Dezember 2013 durchzuführen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)
BGE 141 III 587 S. 589 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt das Gesuch des Konkursamtes am Konkursort, welches vom Konkursamt in einem anderen Amtskreis verlangt, die Einvernahme des Schuldners anlässlich der Inventaraufnahme durchzuführen. Das Konkursamt Basel-Stadt bringt neben der Rüge der Gehörsverletzung vor, dass das Konkursamt Aargau, Dienststelle Brugg, zur Beschwerde gemäss
Art. 18 SchKG
nicht legitimiert sei, um die von der unteren Aufsichtsbehörde angeordnete Ausführung des Rechtshilfeauftrages anzufechten. In der Sache macht das Konkursamt Basel-Stadt im Wesentlichen geltend, dass die Rechtshilfe nach
Art. 4 Abs. 1 SchKG
eine Pflicht und auf Verlangen zu leisten sei.
2.1
Das Bundesgericht hat die Legitimation des Konkursamtes zur Beschwerdeführung im Fall, dass es im Rechtshilfedienst handelt, geklärt (
BGE 47 III 21
S. 22;
48 III 182
S. 183). Vorliegend ist die Voraussetzung, dass das Konkursamt Aargau, Dienststelle Brugg, die Interessen der Masse und damit solche der Gesamtheit der Gläubiger wahrzunehmen hat, nicht erfüllt. Das betreffende Konkursamt will mit seiner Beschwerde an die obere Aufsichtsbehörde lediglich feststellen lassen, dass es in seiner Eigenschaft als mit Rechtshilfe beauftragtes Amt zur Verweigerung der Rechtshilfe berechtigt gewesen sei, und dass die untere Aufsichtsbehörde in seinem Verhalten zu Unrecht einen Verstoss gegen
Art. 4 SchKG
erblickt habe. In einer Frage solcher Art ist das Konkursamt den Aufsichtsbehörden untergeordnet und kann ihre Anordnungen - wie das Betreibungsamt - nicht weiterziehen (
BGE 47 III 21
S. 22;
48 III 182
S. 183; Urteil 5A_688/2012 vom 29. April 2013 E. 2.3).
2.2
Mit den dargelegten Regeln ist nicht vereinbar, wenn die Vorinstanz auf die Beschwerde des Konkursamtes Aargau, Dienststelle Brugg, gegen den Entscheid der unteren Aufsichtsbehörde eingetreten ist. Das Eingreifen der oberen Aufsichtsbehörde von Amtes wegen, indem sie den erstinstanzlichen Entscheid trotz unzulässiger betreibungsrechtlicher Beschwerde aufgehoben hat, wird im angefochtenen Entscheid nicht gerechtfertigt.
2.3
Nach dem Dargelegten wird das Eintreten der Vorinstanz auf die Beschwerde (
Art. 18 SchKG
) zu Recht gerügt und ist die vorliegende Beschwerde begründet. Bei diesem Ergebnis sind die Rüge einer Gehörsverletzung im vorinstanzlichen Verfahren sowie die weiteren Vorbringen nicht zu erörtern. | de |
ba187961-4e8b-40b2-b49d-c336aed89ffb | Sachverhalt
ab Seite 31
BGE 100 II 30 S. 31
A.-
Hänzi, der in Zürich ein Gipsergeschäft führt, schloss am 19. Dezember 1966 mit dem Baukonsortium Büchelring, Zürich, vertreten durch Architekt Bucher, einen Werkvertrag über die Gesamtüberbauung im "Büchelring" in Adliswil. Am 28. März 1968 übertrug ihm Bucher im eigenen Namen gemäss Vertrag vom 19. Dezember 1966 die Gipserarbeiten für das Haus A 3. "Die Ausführung und die Ausmasse" sollten grundsätzlich dem bereits ausgeführten Haus A 1 entsprechen Am 18. Januar 1969 stellte Hänzi Rechnung für Fr. 41 584.97, abzüglich Anzahlungen von Fr. 28 000.--. Bucher bestritt die Restforderung von Fr. 14 139.37, indem er geltend machte, gewisse Arbeiten seien mangelhaft ausgeführt worden, so dass er nach Berücksichtigung des Minderwertes Fr. 7809.42 zuviel bezahlt habe.
In der Folge klagte Hänzi gegen Bucher auf Zahlung von Fr. 14 139.37 nebst 5% Zins seit 18. Januar 1969. Der Beklagte machte widerklageweise Fr. 3651.42 (Fr. 7809.42 abzüglich die Versicherungsgarantie von Fr. 4158.--) geltend.
B.-
Das Bezirksgericht Zürich hiess die Klage im Teilbetrag von Fr. 9086.15 nebst Zins seit 1. April 1969 gut und wies die Widerklage ab.
Auf Berufung des Klägers und Anschlussberufung des Beklagten sprach das Obergericht des Kantons Zürich dem Kläger Fr. 9119.51 zu. Im Mehrbetrag wies es die Klage ab. Es stellte zudem fest, dass der Beklagte berechtigt sei, auf Fr. 37 119.51 einen Skonto von 2% abzuziehen, wenn er die Restforderung innert einem Monat seit Rechtskraft des Urteils bezahle.
C.-
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die Berufung erklärt. Er beantragt, die Forderung auf Fr. 5159.51 herabzusetzen und dementsprechend den skontoberechtigten Betrag auf Fr. 33 159.51 festzulegen; eventuell das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur Ergänzung des Beweisverfahrens an das Obergericht zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Im kantonalen Verfahren waren zwischen den Parteien verschiedene Mängel streitig, die vor Bundesgericht nicht
BGE 100 II 30 S. 32
mehr zur Beurteilung stehen. Der Beklagte hält indessen an seinem Standpunkt vor Obergericht fest, der Kläger habe auf dem nackten Betonboden Lentolit statt gemäss Baubeschrieb einen Zementanspritz, Grundputz und Abrieb bzw. Zementanwurf, Grund- und Weissputz angebracht, was einen Minderwert von Fr. 3960.-- (990 m2 zu Fr. 4.-) ergebe. Es handle sich entgegen der Auffassung des Obergerichts nicht um einen Werkmangel im Sinne des
Art. 371 OR
, sondern um Nichterfüllung, die jederzeit geltend gemacht werden könne, also nicht den Verjährungs- und Verwirkungsfristen des Werkvertragsrechtes unterstehe.
2.
Die Haftung des Unternehmers für Mängel des Werkes wird in
Art. 367-371 OR
geordnet (vgl. Randtitel "Haftung für Mängel"). Sie hat ihr Gegenstück in der Haftung des Verkäufers für Sachmängel des Kaufgegenstandes nach
Art. 197 OR
(vgl. GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 424,
BGE 93 II 316
).
Art. 368 OR
, der vom "Recht des Bestellers bei Mängeln" handelt, unterscheidet zwischen Mängeln und sonstigen Abweichungen vom Vertrag (vgl. Abs. 1: "Leidet das Werk an... Mängeln oder weicht es sonst... vom Vertrag ab..."). Beide Sachverhalte sind im Ausdruck Mangel enthalten, den die übrigen Bestimmungen der Mängelhaftung allein verwenden (vgl.
Art. 367 und 369-371 OR
). Die Unterscheidung in
Art. 368 OR
hat daher nur klassifikatorische, nicht rechtliche Bedeutung (GAUCH, Der Unternehmer im Werkvertrag und seine Haftung für Mängel des Werkes, 1974, Nr. 110 S. 39). Es kommt daher nichts darauf an, dass Lehre und Rechtsprechung (vgl. GUHL/MERZ/KUMMER, a.a.O. S. 424; OSER/SCHÖNENBERGER N. 2 zu
Art. 368 OR
; REICHEL, ZSR 51/1932 S. 182;
BGE 93 II 316
) die Mängel und sonstigen Abweichungen des Werkes vom Vertrag nach
Art. 368 OR
dem Fehlen vorausgesetzter oder verabredeter Eigenschaften der Kaufsache gleichstellen (vgl. GAUCH, a.a.O. Nr. 11 l'S. 40). In beiden Fällen handelt es sich schlechthin um Mängel, also um nicht richtige Erfüllung des Werkvertrages.
Zu prüfen ist, ob sich der Besteller eines mangelhaften Werkes alternativ auf die Rechtsbehelfe des
Art. 368 OR
und die allgemeine Schadenersatzklage des
Art. 97 OR
berufen kann. Das ist zu verneinen.
Art. 368 OR
wandelt die Sachleistungsobligation des Unternehmers in bestimmte Gewährleistungsansprüche
BGE 100 II 30 S. 33
(Wandelung, Minderung, Nachbesserung und Ersatz des Mängelfolgeschadens), wenn der Besteller die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen (Prüfung des Werkes und rechtzeitige Rüge des Mangels) erfüllt hat (GAUTSCHI, N. 6 a und c zu
Art. 368 OR
und 11 b zu
Art. 369 OR
; GAUCH, a.a.O. Nr. 526, S. 129, GUHL/MERZ/KUMMER, a.a.O. S. 340; NEUENSCHWANDER, Die Schlechterfüllung im schweizerischen Vertragsrecht, Diss. Bern 1971, S. 24, 26 und 86; A. SCHUBIGER, Verhältnis der Sachgewährleistung zu den Folgen der Nichterfüllung oder nicht gehörigen Erfüllung, Diss. Bern 1937, S. 37 ff.; R. FURRER, Beitrag zur Lehre der Gewährleistung im Vertragsrecht, Diss. Zürich 1973, S. 34/35; unzutreffend KLAUSER (Die werkvertragliche Mängelhaftung und ihr Verhältnis zu den allgemeinen Nichterfüllungsfolgen, Diss. Zürich 1973, S. 132/33), der die
Art. 97 und 367 ff. OR
alternativ anwenden will, wenn Mängelansprüche des Bestellers im Sinne der Art. 369 bis 371 weder untergegangen noch verjährt sind).
Das Obergericht hatte demnach die streitige Frage, ob der Kläger die ihm übertragenen Arbeiten vertragsgemäss ausgeführt hat, nur dann abzuklären, wenn der Beklagte den Mangel innert der vertraglichen Garantiefrist oder nach einer allfälligen späteren Entdeckung sofort gerügt hat (
Art. 370 Abs. 3 OR
). Die Vorinstanz stellt fest, dass keine der beiden Parteien eine gemeinsame Prüfung des Werkes verlangt hat. Sie schliesst daraus zu Recht, dass es zwei Monate nach Einreichung der Schlussrechnung (Form. 118 SIA Art. 26 Abs. 5), d.h. am 18. März 1969, als vorläufig abgenommen galt, und dass die von da an laufende (vertragliche) zweijährige Rügefrist bei Einreichung der Berufungsbegründung vom 24. Januar 1973 abgelaufen war. Im übrigen räumt der Beklagte in der Berufungsschrift selber ein, es möge richtig sein, dass er schon einige Zeit vor jenem Datum von der angeblich vertragswidrigen Ausführung der streitigen Arbeiten Kenntnis gehabt habe.
Der Beklagte stellte sich im kantonalen Verfahren subsidiär auf den Standpunkt, der Kläger habe die angeblich mangelhafte Ausführung der Arbeiten arglistig verschwiegen, so dass die Rüge auch nach Ablauf der Garantiefrist während zehn Jahren habe erhoben werden können. Richtig ist, dass bei arglistiger Verschweigung eines Mangels die Verjährungsfrist
BGE 100 II 30 S. 34
für Ansprüche des Bestellers nach
Art. 371 Abs. 1 OR
- analog
Art. 210 Abs. 3 OR
- zehn Jahre seit der Abnahme (réception) des Werkes im Sinne von
Art. 371 Abs. 2 OR
beträgt (vgl.
BGE 89 II 409
Erw. 2 b). Damit war aber der Beklagte der Pflicht nicht enthoben, den Mangel sofort nach Entdeckung zu rügen (
Art. 370 Abs. 3 OR
, VON BÜREN, OR II S. 147, GAUTSCHI, N. 10 zu
Art. 370 OR
). Nach den Festellungen des angefochtenen Urteils hat er keinerlei Ausführungen darüber gemacht, wann er den angeblichen Mangel entdeckt haben will. Das Werk galt somit als genehmigt (
Art. 370 Abs. 3 OR
), und die Vorinstanz brauchte die Behauptung des Beklagten betreffend Arglist, Mangel und Minderwert des Werks nicht abzuklären. | de |
010736d3-23d8-4424-ab6e-de385917bd3a | Erwägungen
ab Seite 175
BGE 108 IV 175 S. 175
Aus den Erwägungen:
4.
Den Schuldpunkt des Landfriedensbruchs (
Art. 260 Abs. 1 StGB
) ficht A. zunächst erneut mit Behauptungen tatsächlicher
BGE 108 IV 175 S. 176
Natur an, mit denen er sich zu den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz in Widerspruch setzt und die deshalb nicht zu hören sind (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
).
In rechtlicher Beziehung aber kann, was die Begriffe der Zusammenrottung und der Teilnahme an dieser anbelangt, auf das zum Tatbestand des
Art. 285 Ziff. 2 Abs. 1 StGB
Gesagte verwiesen werden. Dasselbe gilt für den Teilnahmevorsatz. Legt man aber die entsprechenden rechtlichen Erwägungen zugrunde und berücksichtigt man, dass sich der Menge eine unbestimmte Zahl beliebiger Personen anschliessen konnte, sie also eine öffentliche war (
BGE 108 IV 34
E. 1a), so ist nicht ersichtlich, inwiefern das angefochtene Urteil gegen Bundesrecht verstossen sollte; dass A. objektiv und subjektiv an einer Zusammenrottung teilgenommen hat, aus der heraus gegen Menschen und Sachen Gewalttätigkeiten begangen wurden, steht nach den tatsächlichen Annahmen der Vorinstanz fest. So stellt der tätliche Angriff gegen Polizeiadjunkt X. ebenso eine Gewalttätigkeit im Sinne des Gesetzes dar wie das Verschmieren von Tramwagen des Kurses 466 mit Sprayfarbe; der Begriff der Gewalttätigkeit setzt zwar eine aktive, agressive Einwirkung auf Menschen oder Sachen voraus, nicht notwendig aber auch die Aufwendung besonderer physischer Kraft (s. STRATENWERTH, BT II, S. 293 in Verbindung mit BT I, S. 90). Er umfasst in seiner Weite alles, von der Tötung bis zu einer geringfügigen Sachbeschädigung (HAFTER, BT, zweite Hälfte, S. 455), und unter Umständen sogar die unmittelbar bloss drohende Anwendung von Gewalt (
BGE 103 IV 245
). Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet, soweit auf sie überhaupt einzutreten ist. | de |
e1db01e4-3b01-423d-8fba-3b873941b69c | Erwägungen
ab Seite 382
BGE 136 V 381 S. 382
Aus den Erwägungen:
2.
Zu prüfen ist, ob die IV-Stelle Zug (nachfolgend: IV-Stelle) einen Teil, nämlich Fr. 22'707.60, der dem Beschwerdeführer zustehenden Rentennachzahlung von insgesamt Fr. 63'368.- direkt zwecks
BGE 136 V 381 S. 383
Verrechnung mit einer Rückforderung wegen Überversicherung an die "Zürich" auszahlen darf. Diese macht in ihrem Antrag auf Drittauszahlung vom 21. Oktober 2008 geltend, vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2004 und vom 1. bis 20. September 2004 in diesem Umfang als Kollektivtaggeldversicherer gemäss Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG; SR 221.229.1) vorschussweise Krankentaggelder ausgerichtet zu haben, welche dem Beschwerdeführer angesichts der nunmehr erfolgten Rentenzusprache durch die Invalidenversicherung nicht zustünden.
2.1
Das kantonale Gericht hat zunächst festgestellt, die "Zürich" könne die beantragte Verrechnung nicht auf eine gesetzliche oder vertraglich vereinbarte Bestimmung stützen, aus welcher sich ein eindeutiges Rückforderungsrecht ergebe, welches sich gegen die Invalidenversicherung richtet. Weil der Beschwerdeführer seine Einverständniserklärung im Antrag der "Zürich" auf Drittauszahlung vom 21. Oktober 2008 verweigert hatte, prüfte - und bejahte - die Vorinstanz darauf die Frage, ob die bereits am 14. Juni 2003 unterzeichnete "Vereinbarung und Vollmacht" genüge, um die streitige Drittauszahlung zu rechtfertigen. In diesem von der "Zürich" vorgelegten Dokument hatte der Beschwerdeführer unterschriftlich bestätigt, er ermächtige die zuständige Ausgleichskasse, ein allfälliges Nachzahlungsguthaben mit zu viel gezahlten Taggeldleistungen der "Zürich" direkt zu verrechnen.
2.2
Der Beschwerdeführer bezeichnet den angefochtenen Entscheid insofern als bundesrechtswidrig, als die Vorinstanz die am 14. Juni 2003 unterzeichnete "Vereinbarung und Vollmacht" als Grundlage qualifiziert habe, aus welcher sich einerseits ein eindeutiges Rückforderungsrecht gegenüber der IV-Stelle ergebe und welche andererseits eine rechtsgenügliche Zustimmung zur Drittauszahlung beinhalte. Wie in vorstehender E. 2.1 erwähnt, hat das kantonale Gericht das Bestehen eines eindeutigen Rückforderungsrechts der "Zürich" im Sinne von
Art. 85
bis
Abs. 2 lit. b IVV
(SR 831.201), das sich mithin aus dem der Leistungserbringung zu Grunde liegenden Gesetz oder Vertrag ergeben würde (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 632/03 vom 9. Dezember 2005 E. 3.3.3), aber gerade nicht bejaht, sondern gegenteils mit klarer Begründung ausdrücklich verneint. Auf die erstgenannte Rüge ist daher nicht weiter einzugehen. Einzuräumen ist lediglich, dass die Vorinstanz in der Folge - etwas missverständlich vielleicht - von einem "klaren
BGE 136 V 381 S. 384
Rückforderungsrecht" spricht, das sich aus der Vereinbarung vom 14. Juni 2003 ergebe. Dieses ist indessen keineswegs - wie der Beschwerdeführer anzunehmen scheint - gleichzusetzen mit dem in
Art. 85
bis
Abs. 2 lit. b IVV
verlangten "eindeutigen Rückforderungsrecht", welches sich - wie erwähnt - aus einem Gesetz oder Vertrag ergeben muss, welche die später zu einer Verrechnung führende Leistungsausrichtung überhaupt erst begründeten. Zu prüfen bleibt demnach einzig, ob sich der Beschwerdeführer darauf behaften lassen muss, am 14. Juni 2003 seine Einwilligung zur nunmehr streitigen Drittauszahlung erteilt zu haben.
3.
3.1
Nach Art. 22 Abs. 1 des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen und hier anwendbaren ATSG (SR 830.1) ist der Anspruch auf Leistungen weder abtretbar noch verpfändbar (Satz 1); jede Abtretung oder Verpfändung ist nichtig (Satz 2). Nach Abs. 2 derselben Bestimmung können Nachzahlungen von Leistungen des Sozialversicherers jedoch dem Arbeitgeber oder der öffentlichen oder privaten Fürsorge abgetreten werden, soweit diese Vorschusszahlungen leisten (lit. a), oder aber einer Versicherung, die Vorleistungen erbringt (lit. b).
3.2
Die Zulässigkeit der hier zur Diskussion stehenden Drittauszahlung an einen Krankentaggeldversicherer nach VVG beurteilt sich, wie Vorinstanz und Verwaltung richtig erkannt haben, nach
Art. 85
bis
IVV
, welcher seine gesetzliche Grundlage nunmehr in
Art. 22 Abs. 2 ATSG
findet. Abs. 1 dieser Verordnungsbestimmung sieht vor, dass Arbeitgeber, Einrichtungen der beruflichen Vorsorge, Krankenversicherungen, öffentliche oder private Fürsorgestellen oder Haftpflichtversicherungen mit Sitz in der Schweiz, welche im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung Vorschussleistungen erbracht haben, verlangen können, dass die Nachzahlung dieser Rente bis zur Höhe ihrer Vorschussleistung verrechnet und an sie ausbezahlt wird (Satz 1); die bevorschussenden Stellen haben ihren Anspruch mit besonderem Formular frühestens bei der Rentenanmeldung und spätestens im Zeitpunkt der Verfügung der IV-Stelle geltend zu machen (Satz 3). Nach Abs. 2 von
Art. 85
bis
IVV
gelten als Vorschussleistungen freiwillige Leistungen, sofern die versicherte Person zu deren Rückerstattung verpflichtet ist und sie der Auszahlung der Rentennachzahlung an die bevorschussende Stelle schriftlich zugestimmt hat (lit. a), sowie vertraglich oder auf Grund eines Gesetzes erbrachte Leistungen, soweit aus dem Vertrag oder dem Gesetz ein
BGE 136 V 381 S. 385
eindeutiges Rückforderungsrecht infolge der Rentennachzahlung abgeleitet werden kann (lit. b). Die Nachzahlung darf nach Abs. 3 der Verordnungsbestimmung der bevorschussenden Stelle höchstens im Betrag der Vorschussleistung und für den Zeitraum, in welchem diese erbracht worden ist, ausbezahlt werden.
3.3
Gemäss der mit
BGE 118 V 88
eingeleiteten Rechtsprechung waren mangels einer gesetzlichen Bestimmung, welche die Abtretung von Nachzahlungen der Sozialversicherungen erlaubt hätte, an die Einwilligung des Versicherten zu einer nach der Praxis "praeter legem" zulässigen Drittauszahlung strenge Anforderungen zu stellen. Sie durfte nur Rechtswirksamkeit entfalten, wenn die Tragweite der Zustimmungserklärung klar ersichtlich war. Der bereits im Zeitpunkt der Anmeldung zum Rentenbezug - in welchem der Anspruch gegenüber der Invalidenversicherung noch gänzlich unbestimmt ist - erfolgten Zustimmung konnte deshalb nicht dieselbe Bedeutung wie einer Erklärung nach Bekanntgabe der konkret zugesprochenen Versicherungsleistung beigemessen werden. Die Zustimmung zu einer Drittauszahlung konnte daher erst dann rechtsgültig erteilt werden, wenn der entsprechende Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission (heute: IV-Stelle) ergangen war. Im Rahmen des daraufhin einsetzenden Vorbescheidverfahrens hatte die Verwaltung bis zum Verfügungserlass Gelegenheit, eine allfällige Einwilligung in eine Drittauszahlung einzuholen oder, falls diese vom Antrag stellenden Dritten beigebracht wurde, deren Eingang abzuwarten (
BGE 118 V 88
E. 2b S. 92 f.).
3.4
Als Antwort auf
BGE 118 V 88
erliess der Verordnungsgeber
Art. 85
bis
IVV
mit dem Randtitel "Nachzahlungen an bevorschussende Dritte" (E. 3.2 hievor), welcher am 1. Januar 1994 in Kraft getreten und seither lediglich auf den 1. Januar 1999 hin redaktionell bereinigt worden ist. Erst mit der Ergänzung des
Art. 50 IVG
durch den im Rahmen der 10. AHV-Revision per 1. Januar 1997 neu hinzugefügten und bis zum 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Abs. 2 hat diese Verordnungsbestimmung ihre gesetzliche Grundlage erhalten (vgl. zum Ganzen
BGE 135 V 2
E. 5.2.2 S. 7 und dortige Hinweise auf Rechtsprechung und Doktrin).
Art. 50 Abs. 2 IVG
schuf indessen für die Leistungsberechtigten noch keine Abtretungsmöglichkeit, sondern liess lediglich die Ausrichtung von Nachzahlungen an Drittpersonen oder Drittstellen zu, falls diese im Hinblick auf Leistungen der Invalidenversicherung Vorschussleistungen
BGE 136 V 381 S. 386
erbracht hatten (so genannte Drittauszahlung). Mit dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 ist die bis dahin geltende Fassung des
Art. 50 Abs. 2 IVG
aufgehoben worden und damit die frühere gesetzliche Grundlage für
Art. 85
bis
IVV
dahingefallen. Neu ist
Art. 22 Abs. 2 ATSG
, in welche Bestimmung aArt. 50 Abs. 2 IVG sinngemäss übernommen wurde, als
Art. 85
bis
IVV
auf Gesetzesstufe legitimierende Norm zu betrachten (
BGE 136 V 286
E. 5.2 S. 289 f. und Urteil des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts I 428/05 vom 18. April 2006 E. 4.3; je mit Hinweisen).
4.
4.1
Der am 1. Januar 2003 in Kraft getretene
Art. 22 ATSG
(E. 3.1 hievor) statuiert in Abs. 1 das bis anhin nur in einzelnen Versicherungszweigen (vgl.
BGE 135 V 2
E. 5.3 S. 8) ausdrücklich verankerte Verbot von Abtretung und Verpfändung von Sozialversicherungsleistungsansprüchen, lässt neu in Abs. 2 aber bezüglich der Abtretung auch eine Ausnahme zu für Arbeitgeber und für die öffentliche oder private Fürsorge (lit. a) sowie für Versicherungen (lit. b), soweit diese Vorschusszahlungen leisten oder Vorleistungen erbringen. Mit
Art. 22 Abs. 2 ATSG
besteht nunmehr eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage, welche die Abtretung von Nachzahlungen der Leistungen des Sozialversicherers in bestimmten Schranken zulässt (
BGE 135 V 2
E. 5.3 mit Hinweis). Daneben bleibt für die in
Art. 85
bis
IVV
genannten Institutionen, die auf Grund von ihnen erbrachter Leistungen später eine Verrechnung mit Nachzahlungen der Invalidenversicherung beanspruchen, als Alternative weiterhin das Ersuchen um eine Drittauszahlung nach
Art. 85
bis
IVV
möglich. Im Anwendungsbereich dieser Bestimmung bedarf es des Instituts der Abtretung nicht, da mit dem gesetzlichen Rückforderungsrecht die vom Drittansprecher erbrachte Leistung zur Vorschussleistung und die für eine Verrechnung erforderliche Wechselseitigkeit der zur Diskussion stehenden Forderungen kraft Gesetz herbeigeführt werden (
BGE 135 V 2
E. 5.2.2 S. 7 f. mit Hinweisen).
4.2
In
BGE 135 V 2
hatte sich das Bundesgericht mit einer Abtretung im Sinne von
Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG
zu befassen, wobei sich die Frage stellte, ob es die mit
Art. 22 ATSG
veränderte Rechtslage erlaube, eine Zessionserklärung schon vor dem Beschluss der IV-Stelle rechtsgültig abzugeben (
BGE 135 V 2
E. 5.3 S. 8). Dabei erkannte das Gericht zunächst, dass der Begriff der Abtretung, wie er in
Art. 22 ATSG
verwendet wird, mit demjenigen der Zession nach
BGE 136 V 381 S. 387
Art. 164 ff. OR
übereinstimme und kein Grund für eine im Rahmen von
Art. 22 Abs. 2 ATSG
abweichende Betrachtungsweise hinsichtlich der für deren Zulässigkeit erforderlichen Voraussetzungen bestehe (
BGE 135 V 2
E. 6.1 S. 8 ff. mit zahlreichen Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung). Unter Beachtung von klarem Wortlaut und Zweck der Bestimmung sowie des gesetzgeberischen Willens gelangte es zum Schluss, dass im Geltungsbereich von
Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG
die zivilrechtlichen Abtretungsregeln zur Anwendung zu bringen seien und dass dem mit
BGE 118 V 88
aufgestellten Erfordernis des Erkennens der Tragweite einer Einwilligung in die Drittauszahlung einer Rentennachzahlung (E. 3.3 hievor) bei einer Abtretungserklärung keine über die zivilrechtlichen Zessionsregeln hinausgehende Bedeutung zukomme; im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit seien aber gewisse Anforderungen an die Bestimmbarkeit der zedierten Forderung zu stellen. Als solche nannte es die Bezugnahme der schriftlichen Abtretungserklärung auf die Invalidenrente, wobei es auf den Zeitpunkt der Erklärung nicht ankomme (
BGE 135 V 2
E. 6.2 S. 10). Das Gericht erachtete es auch für die Gültigkeit einer Abtretung nicht als von Belang, dass die zu verrechnenden Leistungen seitens eines Drittansprechers in subjektiver Kenntnis eines bei der Invalidenversicherung bereits eingereichten oder noch zu stellenden Rentenantrages ausgerichtet worden waren; ebenso spiele es keine Rolle, ob der Versicherte anlässlich der Unterzeichnung seiner Abtretungserklärung Kenntnis eines bereits bestehenden, aber erst später zu verfügenden Nachzahlungsanspruches hatte (
BGE 135 V 2
E. 6.3 S. 10 f.).
5.
Diese zur im Bereich des Sozialversicherungsrechts neu geschaffenen Abtretungsmöglichkeit (E. 4.1 hievor) ergangene Rechtsprechung kann auf die Anforderungen an eine - weniger weit gehende - Einwilligung zu einer Drittauszahlung im Sinne von
Art. 85
bis
IVV
ohne weiteres übertragen werden. Vor diesem Hintergrund ist unter den in der Beschwerdeschrift aufgegriffenen Aspekten nachfolgend die Bedeutung der Zustimmung des Beschwerdeführers vom 14. Juni 2003 zur Drittauszahlung einer künftigen Rentennachzahlung der Invalidenversicherung an die "Zürich" zu prüfen.
5.1
Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, sein bereits am 14. Juni 2003 erklärtes Einverständnis mit einer Drittauszahlung könne entgegen der vorinstanzlichen Auffassung nicht als rechtsgenügliche Zustimmung im Sinne von
Art. 85
bis
Abs. 2 lit. a IVV
gewertet werden, weil er es zu einer Zeit erklärt habe, da ihm Bestand und
BGE 136 V 381 S. 388
Umfang eines allfällig zu erwartenden Nachzahlungsanspruchs gegenüber der Invalidenversicherung noch gar nicht bekannt waren und insbesondere auch noch kein entsprechender Beschluss der zuständigen Organe der Invalidenversicherung vorlag. Mit dieser Argumentation vermag er nach dem in
BGE 135 V 2
auszugsweise publ. Urteil 9C_27/2008 vom 20. Oktober 2008 nicht durchzudringen.
5.1.1
Wie das Bundesgericht in
BGE 135 V 2
festgehalten hat, müssen für eine rechtsgenügliche Abtretung der Inhalt der künftigen Forderung, die Person des Schuldners und der Rechtsgrund der Forderung genügend bestimmt oder zumindest bestimmbar sein. Mit Bezug auf die Globalzession muss dieses Erfordernis im Zeitpunkt des Entstehens oder der Geltendmachung der Forderung und nicht schon bei Abgabe der Abtretungserklärung erfüllt sein. Hingegen hat die Abtretungserklärung selbst alle Elemente aufzuweisen, welche die Bestimmung von Inhalt, Schuldner und Rechtsgrund im Zeitpunkt des Entstehens der Forderung erlauben (
BGE 135 V 2
E. 6.1.2 S. 9 f.). Das Gleiche gilt für die Einverständniserklärung bezüglich einer Drittauszahlung.
5.1.2
Der Beschwerdeführer hatte sich bereits im April 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Am 14. Juni 2003 erklärte er gegenüber der "Zürich" in einem als "Vereinbarung und Vollmacht" betitelten, persönlich unterzeichneten Dokument, er ermächtige die zuständige Ausgleichskasse, ein allfälliges Nachzahlungsguthaben mit zu viel gezahlten Taggeldleistungen der "Zürich" direkt zu verrechnen. Diese - ausdrücklich an die Organe der Invalidenversicherung gerichtete - Erklärung zuhanden der "Zürich" bezieht sich unmissverständlich auf die schon beantragte Invalidenrente, welche schliesslich mit Verfügung vom 9. Dezember 2008 für die Zeit ab 1. Juli 2003 bis 1. Juni 2006 auch zugesprochen wurde. Im Zeitpunkt der Zustimmung zu dieser Drittauszahlung am 14. Juni 2003 waren die künftigen Rentenbetreffnisse, aus welchen sich die mit einer Rückforderung der "Zürich" zur Verrechnung zu bringenden späteren Rentennachzahlung zusammensetzt, hinreichend bestimmbar, wobei es genügt, dass sich Ausmass und Höhe der Leistungen aus den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen, namentlich des IVG ableiten lassen (vgl.
BGE 135 V 2
E. 7.2 S. 11 f.).
5.2
In formeller Hinsicht beanstandet der Beschwerdeführer die vom kantonalen Gericht als rechtsgenüglich betrachtete Einwilligung vom 14. Juni 2003 in eine Drittauszahlung, weil diese nicht auf dem
BGE 136 V 381 S. 389
dafür vorgesehenen Formular erfolgt sei. Es trifft zwar zu, dass nach früherer Rechtsprechung aus der Formulierung in
Art. 85
bis
Abs. 1 Satz 3 IVV
geschlossen wurde, die Zustimmungserklärung zu einer Drittauszahlung müsse auf einem besonderen Formular erteilt werden. Diesbezüglich weist die IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung vom 17. Juni 2010 indessen zutreffend darauf hin, dass
Art. 85
bis
Abs. 1 IVV
lediglich für den Antrag einer Drittauszahlung, nicht aber für die Einwilligung des Leistungsberechtigten in eine solche die Verwendung eines bestimmten Formulars verlangt. Dessen ungeachtet könnte einer solchen Verordnungsbestimmung im heutigen Zeitpunkt angesichts der anzustrebenden Vereinfachung ohnehin nurmehr Ordnungscharakter beigemessen werden, was das Eidg. Versicherungsgericht im Übrigen schon in
BGE 131 V 242
E. 6.2 S. 249 noch unter der früheren Rechtslage erkannt hat (vgl. auch Urteil I 256/06 vom 26. September 2007 E. 4.3). Wenn das von der Verwaltung für den Antrag auf Drittauszahlung herausgegebene Formular "Verrechnung von Nachzahlungen der AHV/IV" auch eine Rubrik enthält, in welcher der Leistungsberechtigte seine Zustimmung zur vom Drittansprecher gewünschten Drittauszahlung erklären kann, mag es der Einfachheit und Klarheit des Verwaltungsverfahrens zwar dienlich sein, wenn davon Gebrauch gemacht wird. Davon aber die Gültigkeit einer schriftlichen Einwilligung in eine Drittauszahlung abhängig zu machen, müsste mangels sachlicher Rechtfertigung doch als übertrieben formalistisch bezeichnet werden. Dass die Erklärung des Beschwerdeführers vom 14. Juni 2003 auf einem andern als dem von der Verwaltung dafür vorgesehenen Formular erteilt wurde, vermag deren Gültig- und Wirksamkeit demnach nicht zu beeinträchtigen. | de |
7c6b7e63-a74d-4b02-8997-f0a1e1f6a9f2 | Erwägungen
ab Seite 95
BGE 96 I 94 S. 95
1.
Gegen den Entscheid der Eidg. Schätzungskommission des VI. Kreises vom 26. November/9. Dezember 1969 hat der Enteigner mit Eingabe vom 22. Januar 1970 Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Sie enthält die Begehren des Beschwerdeführers und ein Gesuch um Ansetzung einer Nachfrist gemäss Art. 108 Abs. 3 rev. OG. Das Gesuch wird damit begründet, dass die dem Entscheid zugrunde liegende Begutachtung von den in der Anleitung für die Schätzung landwirtschaftlicher Heimwesen und Liegenschaften aufgestellten Grundsätzen über die anzuwendende Methode abweiche, was die Ausarbeitung der Beschwerdebegründung ohne gründliches Studium der Akten, zu denen noch weitere Urkunden beizuziehen seien, verunmögliche. Es sei deshalb nicht möglich gewesen, eine den Anforderungen von Art. 108 rev. OG genügende Begründung mit den entsprechenden Beweisanträgen einzureichen.
2.
Gemäss
Art. 115 OG
in Verbindung mit Ziff. III der Übergangsbestimmungen bestimmt sich das Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen der Eidg. Schätzungskommissionen, welche nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Oktober 1969) getroffen wurden, nach den Art. 104 bis 109 dieses Gesetzes. Nach
Art. 108 OG
hat die Beschwerde die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters zu enthalten (Abs. 2). Fehlen die Beilagen oder lässt die Begründung die nötige Klarheit vermissen, so ist dem Beschwerdeführer eine kurze Nachfrist zur Behebung des Mangels anzusetzen, mit Androhung des Nichteintretens (Abs. 3).
a) Die in Enteignungssachen geltenden Vorschriften über die Begründung der Beschwerde weichen damit von der bisherigen Ordnung von
Art. 77 EntG
ab. Während danach die Weiterziehung durch schriftliche Eingabe an den Präsidenten der Schätzungskommission zu erklären war und nicht begründet zu werden brauchte, bedarf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einer schriftlichen Begründung. Deren notwendiger Inhalt ergibt sich aus
Art. 104 OG
. Es ist darzulegen, dass Bundesrecht verletzt, oder der massgebende Sachverhalt unrichtig oder unvollständig festgestellt wurde oder die Würdigung unangemessen
BGE 96 I 94 S. 96
sei. Die Rechtsprechung hat hieran schon bisher keine sehr strengen Anforderungen gestellt (
BGE 85 I 291
,
BGE 87 I 84
,
BGE 89 I 282
). Sie hat als genügend angesehen, dass der Beschwerdebegründung entnommen werden kann, was der Beschwerdeführer verlangen und auf welche Tatsachen er sich berufen will. Der Gesetzgeber hat nicht beabsichtigt, diese Rechtsprechung zu verschärfen. Das würde sich angesichts der Art einzelner Beschwerden, die von den Parteien häufig ohne Zuzug eines Rechtskundigen erhoben werden, wie insbesondere der Beschwerden an das Eidg. Versicherungsgericht, auf die das Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anwendbar ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 103 bis 114), auch nicht rechtfertigen.
b) Fehlt allerdingsjede Begründung, so ist auf die Beschwerde nicht einzutreten (
BGE 89 II 221
).
Ist bloss ihr Sinn unklar, d.h. mehrdeutig oder ist kein vernünftiger Sinn erkennbar, so setzt der Richter eine kurze Nachfrist zur Klarstellung (
Art. 108 Abs. 3 OG
).
Dies bedeutet, dass die Nachfrist nicht dazu dienen kann, die Frist zur Beschwerdebegründung zu verlängern, d.h. eine inhaltlich ungenügende Rechtsschrift zu ergänzen. Die beschwerdeführende Partei kann daher auch keinen Anspruch auf Fristansetzung haben. Sie erwirbt insbesondere einen solchen nicht dadurch, dass sie eine unvollständige Begründung einreicht.
Die Begründung, welche das Militärdepartement seinen Begehren gab, ist zwar sehr knapp, besteht sie doch in einem einzigen Satz, aber nicht unklar. Es ist aus ihr ersichtlich, dass eine Verletzung von Vorschriften des Bundesratsbeschlusses über die Schätzung landwirtschaftlicher Heimwesen und Liegenschaften (AS 51, 1287) gerügt werden will. Diese Rüge ist, auch wenn nicht gesagt wird, worin die Verletzung liegen soll, oder dass der Erlass auf das Enteignungsverfahren anwendbar sei, unmissverständlich.
Die Voraussetzungen für die Ansetzung einer Nachfrist im Sinn von
Art. 108 Abs. 3 OG
sind nicht gegeben. | de |
b8880b43-b703-4bc0-b0e6-f932f135e583 | Erwägungen
ab Seite 578
BGE 137 III 577 S. 578
Aus den Erwägungen:
8.
8.1
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
8.2
Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Das Bundesgericht kann die Kosten auch anders verteilen, wenn die Umstände es rechtfertigen (
Art. 66 Abs. 1 BGG
). Fraglich ist, ob solche Umstände vorliegen, weil gemäss Art. 105 Abs. 3 des Fusionsgesetzes vom 3. Oktober 2003 (FusG; SR 221.301) bei Überprüfungsklagen grundsätzlich der übernehmende Rechtsträger die Kosten des Verfahrens trägt. Diese Regelung soll den ausgeschlossenen Gesellschaftern erlauben, eine Überprüfungsklage zu erheben, wenn sie legitime Gründe dazu haben, ohne dass sich die voraussichtlichen Prozesskosten prohibitiv auswirken (
BGE 135 III 603
E. 2.1.2 S. 606 mit Hinweis). Die Kostenfolge zulasten der übernehmenden Gesellschaft stellt ein Korrektiv dafür dar, dass das Urteil nach
Art. 105 Abs. 2 FusG
Wirkung für alle Gesellschafter hat, die sich in der gleichen Rechtsstellung wie der Kläger befinden, und sich der Streitwert deshalb nach dem Betrag richtet, den die beklagte Gesellschaft im Fall ihres Unterliegens sämtlichen Gesellschaftern zu bezahlen hätte (Urteil 4A_440/2007 vom 6. Februar 2008 E. 1.1.2, nicht publ. in:
BGE 134 III 255
). Das Bundesgericht hat bisher offengelassen, ob die Kostenregelung in
Art. 105 Abs. 3 FusG
auch im Verfahren vor Bundesgericht gilt (Urteil 4A_440/2007 vom 6. Februar 2008 E. 3, nicht publ. in:
BGE 134 III 255
).
8.3
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bezüglich Klagen aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gilt die aus
Art. 759 Abs. 2 OR
abgeleitete Kostenregelung mit ähnlicher Zielsetzung grundsätzlich nur im erstinstanzlichen Verfahren, nicht jedoch vor zweiter oder dritter Instanz, da im Rechtsmittelverfahren die Unsicherheit
BGE 137 III 577 S. 579
bezüglich der ins Recht zu fassenden Beteiligten geringer sind (Urteil 4C.155/1998 vom 15. Oktober 1998 E. 4c, in: SJ 1999 I S. 349 f.;
BGE 125 II 138
E. 2c). In der Lehre wird eine analoge Anwendung dieser Rechtsprechung auf Überprüfungsklagen gemäss
Art. 105 FusG
abgelehnt, weil bei diesen der Kläger auch vor den Rechtsmittelinstanzen für alle Gesellschafter in der gleichen Rechtsstellung handelt (PETER BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl. 2009, § 3 Rz. 264 S. 428; ihm folgend: DANIEL EMCH, System des Rechtsschutzes im Fusionsgesetz, 2006, S. 167; NICCOLÒ GOZZI, Schutz der Aktionäre bei Fusion und Spaltung gemäss Fusionsgesetz, 2009, S. 275 f.; MATTHIAS AMMAN, Die Verletzung der Kontinuität der Anteils- und Mitgliedschaftsrechte und deren Ausgleichung nach
Art. 105 FusG
, 2006, S. 193 Rz. 361; PIERA BERETTA, Strukturanpassungen, in: SPR Bd. VIII/8, 2006, S. 171; vgl. auch MAURER/VON DER CRONE, Prozesskostentragung bei der Überprüfungsklage nach
Art. 105 FusG
, Schweizerische Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzmarktrecht, 2010, S. 77 ff., 79).
8.4
Der Gesetzgeber hat die Kostenfolgen im kantonalen und bundesgerichtlichen Verfahren insoweit unterschiedlich geregelt, als er in Art. 114 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) für bestimmte Klageverfahren aus sozialpolitischen Gründen auf kantonaler Ebene Gebührenfreiheit und im bundesgerichtlichen Verfahren eine (reduzierte) Kostenpflicht vorgesehen hat (
Art. 65 Abs. 4 BGG
). Eine entsprechende Differenzierung rechtfertigt sich gleich wie bezüglich
Art. 759 Abs. 2 OR
auch bezüglich der Überprüfungsklage nach
Art. 105 FusG
, da deren Erfolgsaussichten vor erster Instanz, welche in der Regel eine Klärung durch einen Gutachter vornehmen muss, wesentlich schwieriger zu beurteilen sind als die Aussichten einer Beschwerde vor Bundesgericht, dem insoweit nur eine beschränkte Überprüfungskognition zukommt. Zudem entfallen im bundesgerichtlichen Verfahren die unter Umständen erheblichen Kosten für die Beweiserhebungen, weshalb auch das Kostenrisiko wesentlich kleiner ist. Demnach kann nicht allgemein gesagt werden, bei Klagen gemäss
Art. 105 Abs. 1 FusG
würden sich die Prozesskosten für Beschwerden vor Bundesgericht prohibitiv auswirken, erst recht nicht, wenn ein Beschwerdeführer ein erhebliches eigenes finanzielles Interesse am Klageverfahren hat und damit bezüglich des bundesgerichtlichen Verfahrens kein Missverhältnis zwischen dem Kostenrisiko und den finanziellen Erfolgsaussichten besteht (vgl. Urteile 4C.386/2002 vom 12. Oktober 2004 E. 6, nicht publ. in:
BGE 131 III 38
, aber in: SJ 2005 I S. 380 f.; 4C.324/2001
BGE 137 III 577 S. 580
vom 7. Februar 2002 E. 5, nicht publ. in:
BGE 128 III 142
, aber in: SJ 2002 I S. 378).
8.5
Die Beschwerdeführer stellen Leistungsbegehren von insgesamt Fr. 216'000.-. Sie haben damit im Verhältnis zum Gesamtstreitwert von knapp Fr. 500'000.- ein eigenes erhebliches Interesse am Verfahrensausgang. Es ist ihnen daher zuzumuten, das gegenüber dem kantonalen Verfahren reduzierte Kostenrisiko des bundesgerichtlichen Verfahrens zu tragen, weshalb ihnen gemäss dem Ausgang des Verfahrens nach dem allgemeinen Grundsatz der Kostenverteilung nach Unterliegen und Obsiegen die Gerichtskosten aufzuerlegen sind (
Art. 66 Abs. 1 BGG
). Entsprechend haben sie zudem die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (
Art. 68 Abs. 2 BGG
). | de |
3cb07192-d252-4249-92d0-9e53748e4615 | Sachverhalt
ab Seite 347
BGE 124 III 346 S. 347
A.-
Mit Arbeitsvertrag vom 21. November 1988 wurde Y. von der X. AG als Hilfsarbeiterin für die Bandmontage angestellt. Sie arbeitete in einem Betriebsteil ("Betrieb I"), in welchem im Auftrag der Z. AG Bohrmaschinen montiert wurden. Im Juni 1993 wurde Y. schwanger. Mit Schreiben vom 19. Oktober 1993 kündigte die X. AG das Arbeitsverhältnis per 30. April 1994 mit der Begründung, die Z. AG habe den Montageauftrag nicht mehr erneuert, weshalb der Betrieb I geschlossen werden müsse. Am 22. März 1994 gebar Y. einen Sohn.
B.-
Am 22. Juni 1994 klagte Y. beim Arbeitsgerichtspräsidenten von Solothurn-Lebern auf Bezahlung von Fr. 19'023.35 nebst Zins, soweit die Forderung nicht von der Subrogationserklärung der Arbeitslosenkasse Q. erfasst werde. Das Arbeitsgericht hiess die Klage mit Urteil vom 24. September 1996 im Umfang von Fr. 11'414.-- nebst Zins gut. Auf Nichtigkeitsbeschwerde der X. AG reduzierte das Obergericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 8. Dezember 1997 die Parteientschädigung und bestätigte im Übrigen den angefochtenen Entscheid.
C.-
Die Beklagte gelangt mit eidgenössischer Berufung ans Bundesgericht und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
D.-
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat die Beklagte den Arbeitsvertrag zu einem Zeitpunkt gekündigt, als die Klägerin bereits schwanger war. Streitig ist im vorliegenden Fall einzig, ob der zeitliche Kündigungsschutz gemäss
Art. 336c Abs. 1 OR
auch im Falle einer Teilbetriebsschliessung zur Anwendung gelangt.
a)
Art. 336c Abs. 1 OR
verbietet dem Arbeitgeber, das Arbeitsverhältnis nach der Probezeit während bestimmter Sperrfristen zu kündigen. Wird die Kündigung gleichwohl ausgesprochen, ist sie nichtig (Abs. 2). Zweck dieser Bestimmung ist es, dem Arbeitnehmer die Stelle zu erhalten, solange er verhindert ist, nach einem neuen Arbeitsplatz Ausschau zu halten (
BGE 115 V 437
E. 3b S. 441;
BGE 109 II 330
E. 2b S. 332, je mit Hinweisen; AB 1985 N 533; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 3. Aufl., Zürich 1996, N. 1 zu
Art. 336c OR
; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: SPR VII/1, III, S. 173; BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl., Bern 1996, N. 1 zu
Art. 336c OR
). Ob der Arbeitgeber während der Zeit, da der
BGE 124 III 346 S. 348
Arbeitnehmer die Arbeitsleistung nicht erbringen kann, verpflichtet ist, den Lohn weiter zu entrichten, lässt sich
Art. 336c OR
indessen nicht entnehmen; Kündigungsschutz und Lohnfortzahlungspflicht gelten unabhängig voneinander (REHBINDER, Berner Kommentar, Bern 1992, N. 10 zu
Art. 336c OR
; VISCHER, a.a.O., S. 177; STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., Zürich 1992, N. 11 zu
Art. 336c OR
; BRÜHWILER, a.a.O., N. 9 zu
Art. 336c OR
;
BGE 120 II 365
, unveröffentlichte E. 5b).
b) Weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte dieser Norm enthalten einen Hinweis, wonach der zeitliche Kündigungsschutz bei einer vollständigen oder teilweisen Betriebsschliessung nicht zur Anwendung gelangen soll. Der überwiegende Teil der Lehre vertritt denn auch die Ansicht, die Sperrfristen gemäss
Art. 336c OR
würden auch in einem solchen Falle gelten (REHBINDER, a.a.O., N. 1 zu
Art. 336c OR
; STAEHELIN, a.a.O., N. 3 zu
Art. 336c OR
; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER, Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, Basel 1997, N. 1 zu
Art. 336c OR
; WERNER GLOOR, ArbR 1992 S. 64). Die Beklagte beruft sich aber auf Urs Nef (Aktuelle Probleme im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz, SJZ 88/1992 S. 102 ff.; ebenso Gabriela Riemer-Kafka, Der neurechtliche Kündigungsschutz bei Schwangerschaft und Niederkunft, SJZ 85/1989, S. 58) und macht geltend, die Gewerbetreibenden müssten aufgrund der Handels- und Gewerbefreiheit frei entscheiden können, ob und zu welchem Zeitpunkt sie ihren Betrieb einstellen wollten. Diese Möglichkeit würde ihnen aber genommen, wenn sie zuerst den Ablauf aller möglichen Sperrfristen abzuwarten hätten. Das Ziel des zeitlichen Kündigungsschutzes, dem Arbeitnehmer während gewisser Sperrfristen die Stelle zu erhalten, werde bei einer Betriebsschliessung ohnehin unerreichbar. Deshalb werde in diesem Fall das Arbeitsverhältnis beendigt und der Arbeitgeber gemäss
Art. 119 Abs. 1 OR
von der Lohnzahlungspflicht befreit.
2.
a) Gemäss
Art. 324 Abs. 1 OR
bleibt der Arbeitgeber, wenn die Arbeit infolge seines Verschuldens nicht geleistet werden kann oder er aus anderen Gründen mit der Annahme der Arbeitsleistung in Verzug kommt, zur Entrichtung des Lohnes verpflichtet. In Abweichung von
Art. 95 OR
zwingt diese Bestimmung den Arbeitnehmer nicht zum Vertragsrücktritt, sondern gewährt ihm einen Lohnanspruch, wenn der Arbeitgeber die Annahme der Arbeitsleistung verweigert. Ein Verschulden des Arbeitgebers ist dabei entgegen der Ansicht der Beklagten nicht erforderlich, der Verzug tritt auch dann ein, wenn er die Unmöglichkeit nicht zu vertreten hat
BGE 124 III 346 S. 349
(SCHÖNENBERGER/STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 3. Aufl., Zürich 1996, N. 2 und 10 zu
Art. 324 OR
; VISCHER, a.a.O., S. 122; STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 4 zu
Art. 324 OR
). Insofern geht
Art. 324 Abs. 1 OR
der allgemeinen Regel von
Art. 119 Abs. 1 OR
vor.
Ferner trägt nach nahezu einhelliger Auffassung der Arbeitgeber das Betriebs- und das Wirtschaftsrisiko (
BGE 57 I 370
ff.; SCHÖNENBERGER/STAEHELIN, a.a.O., N. 12 ff. zu
Art. 324 OR
; REHBINDER, Berner Kommentar, Bern 1992, N. 29 zu
Art. 324 OR
; VISCHER, a.a.O., S. 122 f.; STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 5 zu
Art. 324 OR
; BRÜHWILER, a.a.O., N. 2 zu
Art. 324 OR
; SCHWEINGRUBER, Kommentar zum Arbeitsvertrag, Zürich 1974, N. 2 f. zu
Art. 324 OR
; BENNO SCHNÜRIGER, Annahmeverzug und Betriebsrisiko, Diss. Zürich 1981, S. 39 f. und 58; anders in Bezug auf das wirtschaftliche Risiko NEF, a.a.O., S. 105). Ist die Arbeitsleistung als solche zwar möglich, lehnt sie der Arbeitgeber aber aus betriebstechnischen oder wirtschaftlichen Gründen ab, gerät er somit in Annahmeverzug und bleibt zur Lohnzahlung verpflichtet, wenn der Arbeitnehmer seine Leistung gehörig anbietet. Das Betriebsrisiko stellt überdies grundsätzlich auch keinen wichtigen Grund im Sinne von
Art. 337 OR
dar, der eine vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses gestatten würde (STAEHELIN, a.a.O., N. 25 zu
Art. 337 OR
; REHBINDER, a.a.O., N. 2 zu
Art. 337 OR
; SCHNÜRIGER, a.a.O., S. 107 f.).
b) Selbst wenn die Beklagte, wie sie vorbringt, aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen war, einen Betriebsteil zu schliessen, entbindet sie dies nach dem Gesagten nicht von der Erfüllung ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten. Auch Nef, dessen Meinung sich die Beklagte zu eigen macht, bestreitet im Übrigen nicht, dass auch im Falle einer Betriebsschliessung die ordentlichen Kündigungsfristen einzuhalten sind (NEF, a.a.O., S. 103). Weshalb aber die gesetzlichen Sperrfristen gemäss
Art. 336c Abs. 1 OR
diesfalls nicht zur Anwendung gelangen sollten, ist nicht einsehbar. Das Anliegen des Gesetzgebers, dem Arbeitnehmer genügend Zeit für die Stellensuche einzuräumen (E. 1a hiervor), wird dadurch keineswegs hinfällig. Wohl kann der Arbeitnehmer nach einer Betriebsschliessung nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Entscheidend ist aber die Sicherung des Einkommens für den Zeitraum, während dem er sich für eine neue Stelle umsehen muss (REHBINDER, a.a.O., N. 1 zu
Art. 336c OR
).
Die Beklagte macht im Anschluss an NEF (a.a.O., S. 105) geltend, die Anwendung des zeitlichen Kündigungsschutzes bei Betriebsschliessungen stünde mit der Handels- und Gewerbefreiheit in
BGE 124 III 346 S. 350
grundlegendem Widerspruch, und rügt damit sinngemäss eine verfassungswidrige Anwendung von
Art. 336c OR
durch die Vorinstanz. Dabei verkennt sie jedoch, dass der Arbeitgeber - auch wenn er noch Sperrfristen gemäss
Art. 336c OR
zu beachten hat - an einer Betriebsschliessung nicht gehindert ist und auch deren Zeitpunkt frei bestimmen kann. Einzuhalten hat er aber die ihm obliegenden finanziellen Verpflichtungen gegenüber seinen Angestellten aus Gesetz und Vertrag. Erst recht muss dies gegenüber jenen Arbeitnehmern gelten, die sich in einer nach
Art. 336c Abs. 1 OR
besonders schutzwürdigen Situation befinden. Dem Arbeitnehmer den zeitlichen Kündigungsschutz entgegen dem Wortlaut von
Art. 336c Abs. 1 OR
bei Betriebsschliessungen zu versagen, besteht demnach kein Anlass. | de |
70164258-5d69-4c11-928d-deb9c148aa67 | Erwägungen
ab Seite 177
BGE 126 III 177 S. 177
Aus den Erwägungen:
2.
Wenn die Stockwerkeigentümergemeinschaft die Abberufung des Verwalters unter Missachtung wichtiger Gründe ablehnt, kann jeder Stockwerkeigentümer binnen Monatsfrist die gerichtliche
BGE 126 III 177 S. 178
Abberufung verlangen (
Art. 712r Abs. 2 ZGB
). Im vorliegenden Fall sind die formellen Voraussetzungen für eine Abberufungsklage gegeben, da die Stockwerkeigentümerversammlung die Absetzung der Verwaltung abgelehnt und der Kläger rechtzeitig die entsprechende Klage eingereicht hat. Umstritten ist, ob die Stockwerkeigentümerversammlung durch die Ablehnung der Abberufung der Verwaltung wichtige Gründe verletzt hat.
a) Wenn das Gesetz das Gericht auf wichtige Gründe verweist, hat der Richter in Anwendung von
Art. 4 ZGB
seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen. Dies bedeutet, dass alle wesentlichen Besonderheiten des konkreten Falles beachtet werden müssen (
BGE 109 II 389
E. 3). Unter welchen Umständen wichtige Gründe, welche die gerichtliche Abberufung einer Verwaltung rechtfertigen, vorliegen, hatte das Bundesgericht bislang noch nicht zu beurteilen. In der Literatur wird das Vorliegen von wichtigen Gründen für die Absetzung der Verwaltung dann bejaht, wenn einem Stockwerkeigentümer die Fortsetzung des Verwaltungsverhältnisses nach Treu und Glauben nicht mehr zugemutet werden kann, weil das diesem Rechtsverhältnis immanente Vertrauensverhältnis fehlt bzw. zerstört worden ist (MEIER-HAYOZ/REY, Berner Kommentar, N. 18 zu
Art. 712r ZGB
).
b) Das Obergericht geht im angefochtenen Entscheid davon aus, dass die gegen die Verwaltung erhobenen Vorwürfe keine wichtigen Gründe darstellten, welche deren Absetzung rechtfertige. Der Kläger hält die Auffassung der Vorinstanz in verschiedener Hinsicht für bundesrechtswidrig.
aa) Zunächst wird geltend gemacht, dass die Verwaltung im Zusammenhang mit der Versammlung vom 10. März 1998 wesentliche Grundsätze der demokratischen Willensbildung verletzt habe. Soweit der Kläger rügt, dass die Traktandenliste von der Verwaltung nicht um einen vorgängig eingereichten Antrag ergänzt worden sei, geht die Vorinstanz zu Recht davon aus, dass sich eine Abberufung der Verwaltung aus diesem Grund nicht rechtfertige; wenn alle Stockwerkeigentümer an der Versammlung anwesend bzw. vertreten waren - was vom Kläger nicht bestritten wird -, können die Ungereimtheiten bei der Traktandierung nicht als Verletzung wesentlicher Grundsätze der demokratischen Willensbildung gelten.
bb) Weiter hält der Kläger einen wichtigen Grund für die Absetzung der Verwaltung für gegeben, weil diese zunächst ohne Diskussion über das Traktandum "Abberufung der Verwaltung" habe
BGE 126 III 177 S. 179
abstimmen lassen wollen. Das Obergericht hält dazu fest, dass die Verwaltung nach der Intervention eines Stockwerkeigentümers eine Diskussion doch noch zugelassen habe, nachdem sie zunächst ohne Diskussion zur Abstimmung habe schreiten wollen. Der Umstand, dass die Verwaltung über einen unliebsamen - ihr eigenes Schicksal betreffenden - Antrag ohne Diskussion sogleich abstimmen lassen wollte und die betreffende Abstimmung selber leitete, ist zwar geeignet, das Vertrauen in die Neutralität und Unabhängigkeit des Versammlungsleiters (MEIER-HAYOZ/REY, a.a.O., N. 29 zu
Art. 712n ZGB
) zu erschüttern. Wenn das Obergericht dieses Vorgehen nun aber - isoliert betrachtet - nicht als wichtigen Grund für eine Absetzung der Verwaltung einstufte, weil schliesslich eine Diskussion stattfinden konnte, mag dies angesichts des dem Richter bei Billigkeitsentscheiden zustehenden Ermessens noch hingehen; doch wird darauf in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein (E. 2c/dd).
cc) Der Kläger macht weiter geltend, dass sich eine Absetzung der Verwaltung auch deshalb rechtfertige, weil die Versammlungsbeschlüsse nicht richtig protokolliert worden seien. Das Obergericht hat dazu festgehalten, dass die Protokollierung in der Tat zu wünschen übrig lasse, doch seien die von der Stockwerkeigentümergemeinschaft gefällten Beschlüsse zumindest "im Ergebnis" nicht falsch protokolliert worden. Wenn wenigstens im Ergebnis von einer richtigen Protokollierung auszugehen ist - was vom Kläger nicht bestritten wird -, ist nicht ersichtlich, weshalb die im Übrigen tatsächlich mangelhafte Protokollführung ein wichtiger Grund für die Absetzung der Verwaltung darstellen soll.
c) Abgesehen von diesen Beanstandungen macht der Kläger weiter geltend, dass insofern ein wichtiger Grund für die Absetzung der Verwaltung vorliege, als diese wiederholt und trotz Beanstandungen der Stockwerkeigentümer mangelhafte Heizkostenabrechnungen erstellt habe.
aa) Das Obergericht hat unter Hinweis auf die erstinstanzlichen Erwägungen festgehalten, dass die Verwaltung hinsichtlich der Heizkostenabrechnungen 1995 bis 1997 ihre Pflichten verletzt habe, doch seien die Verletzungen angesichts der konkreten Umstände nicht derart schwerwiegend, dass das Vertrauensverhältnis zerstört worden wäre. Im Einzelnen wurde in der erstinstanzlichen Verfügung festgehalten, dass der Kläger der Jahresabrechnung 1996 zugestimmt habe, was ein starkes Indiz sei, dass im damaligen Zeitpunkt das Vertrauen in die Verwaltung noch nicht zerstört gewesen sei.
BGE 126 III 177 S. 180
Für die Frage des Vorliegens eines wichtigen Grundes für die Abberufung sei somit nur die Heizkostenabrechnung 1997 massgebend, die an der Stockwerkeigentümerversammlung vom 10. März 1998 nicht genehmigt worden sei. Nicht von Bedeutung sei der Umstand, dass die Verwaltung im Anschluss an die erwähnte Versammlung am 11. März 1998 und am 5. Mai 1998 zwei weitere Abrechnungen erstellt habe, die wiederum beanstandet worden seien, bevor die vierte Abrechnung vom 27. Mai 1998 habe akzeptiert werden können. Ob an der Versammlung vom 10. März 1998 die Verwaltung hätte abberufen werden müssen, sei nur aufgrund der damals bekannten Umstände zu prüfen. Es sei daher davon auszugehen, dass die einmalige Nichtgenehmigung der Heizkostenabrechnung durch die Stockwerkeigentümer kein wichtiger Grund für die Abberufung der Verwaltung darstelle.
bb) Gemäss
Art. 712s Abs. 2 ZGB
verteilt der Verwalter die gemeinschaftlichen Kosten und Lasten auf die einzelnen Stockwerkeigentümer, stellt ihnen Rechnung, zieht ihre Beiträge ein und besorgt die Verwaltung und bestimmungsgemässe Verwendung der vorhandenen Geldmittel. Die Aufgaben der Verwaltung im Bereich der finanziellen Angelegenheiten - mithin auch die korrekte Erstellung der Heiz- und Warmwasserabrechnung - haben ganz besondere Bedeutung (MEIER-HAYOZ/REY, a.a.O., N. 22 sowie N. 43 ff. zu
Art. 712s ZGB
; KURT MÜLLER, Der Verwalter von Liegenschaften mit Stockwerkeigentum, Bern 1965, S. 122 ff.). Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur die Meinung vertreten, als wichtiger Grund für eine gerichtliche Abberufung der Verwaltung gelte u.a. auch das Erstellen unkorrekter Abrechnungen (ROLF H. WEBER, Die Stockwerkeigentümergemeinschaft, S. 453 bei Fn. 188, unter Hinweis auf deutsche Entscheidungen).
cc) Im vorliegenden Fall ist zunächst zu berücksichtigen, dass es sich bei der mangelhaften Rechnungslegung nicht um einen Einzelfall handelte, sondern dass die Verwaltung nebst der Abrechnung für das Jahr 1997 auch diejenige für 1995 und 1996 nicht korrekt vorgenommen hatte. Zusätzlich ins Gewicht fällt sodann, dass nach den Feststellungen der Vorinstanz gegen die vorangegangenen Abrechnungen verschiedentlich interveniert worden war; trotz der von den Revisoren an der Abrechnung 1995 geübten Kritik, die an der darauffolgenden Abrechnung 1996 erneuert werden musste und die auch an der Versammlung 1997 zur Sprache gekommen war, war die Verwaltung wiederum nicht in der Lage, der Versammlung vom 10. März 1998 eine korrekte Abrechnung für das Jahr 1997 vorzulegen,
BGE 126 III 177 S. 181
obschon der Kläger und ein anderer Stockwerkeigentümer schon im Vorfeld der Versammlung Kritik an der Rechnungslegung geübt hatten. Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass die Abrechnungen der vergangenen Jahre gegen gesetzliche Bestimmungen verstiessen, weil trotz Vorhandenseins der nötigen Erfassungsgeräte keine verbrauchsabhängige Heiz- und Warmwasserkostenabrechnung erstellt wurde (vgl. Art. 4 Energienutzungsbeschluss [AS 1990 1018], aufgehoben am 31. Dezember 1998 [Art. 29 Energiegesetz, SR 730.0]). Wenn die Verwaltung trotz verschiedener Interventionen drei Jahre hintereinander nicht in der Lage war, eine korrekte Abrechnung vorzulegen, war sie entweder damit überfordert oder setzte sie sich einfach über die berechtigte Kritik hinweg. So oder anders ist aufgrund der geschilderten Umstände davon auszugehen, dass das Vertrauen in die Verwaltung nachhaltig gestört wurde. Daran ändert nichts, dass die Versammlung und mit ihr der Kläger die Abrechnung für das Jahr 1996 noch genehmigt hatten.
dd) Angesichts der besonderen Bedeutung der korrekten Regelung der finanziellen Angelegenheiten handelt es sich bei der wiederholt mangelhaften Rechnungslegung um einen wichtigen Grund im Sinn von
Art. 712r Abs. 2 ZGB
für eine gerichtliche Abberufung der Verwaltung. Dabei ist nun die Kritik insbesondere im Zusammenhang mit der Durchführung der Versammlung vom 10. März 1998 durchaus beachtlich. Wenn auch die unvollständige Traktandenliste (E. 2 b/aa), der Versuch, ohne vorgängige Diskussion über einen Antrag abstimmen zu lassen (E. 2 b/bb) oder die unrichtige Protokollierung (E. 2b/cc) für sich allein die Abberufung nicht rechtfertigten, so zeichnen gerade diese einzelnen Vorkommnisse das Bild einer Verwaltung, die bei verschiedensten Gelegenheiten immer wieder Mühe bekundete, ihren Funktionen so nachzukommen, wie es von ihr erwartet werden darf, insbesondere aber auch, sich der erforderlichen Neutralität zu befleissigen. Insgesamt ist das erforderliche Vertrauen in die Verwaltung zerstört worden, weshalb sich deren Abberufung rechtfertigt. | de |
bd0a6793-e038-4331-87fc-f3d5eb210227 | Sachverhalt
ab Seite 40
BGE 85 I 39 S. 40
A.-
Mit Vertrag vom 6. Dezember 1951 gewährte die Hypothekar- und Commerzbank AG Zürich im eigenen Namen, aber auf Rechnung von Dr. Arthur Wollner in Basel, der Firma Kostial in Leer (Deutschland) ein Darlehen von DM 100'000.--. Als Vermittler scheinen sich Rechtsanwalt Dr. Walter Hoepffner in Hamburg sowie drei deutsche Banken betätigt zu haben. Mit der Begründung, die ihr erteilten Auskünfte über die finanzielle Lage der Firma Kostial seien unrichtig gewesen, trat die Hypothekar- und Commerzbank AG am 13. November 1952 vom Darlehensvertrag zurück und erhob in Hamburg gegen Kostial, Hoepffner und die drei Banken Klage auf Rückzahlung des Darlehens bzw. Leistung von Schadenersatz. Anderseits beauftragte Wollner den Zürcher Rechtsanwalt Dr. W.. mit der Wahrung seiner Interessen und stellte ihm (auf vorgedrucktem Formular des Vereins Zürcherischer Rechtsanwälte) am 28. Oktober 1953 "in Sachen Hypothekar- und Commerzbank AG Zürich betreffend Forderung" eine Vollmacht aus "zu allen Rechtshandlungen eines Generalbevollmächtigten mit dem Rechte, Stellvertreter zu ernennen". Bevor Dr. W. etwas unternahm,
BGE 85 I 39 S. 41
geriet die Hypothekar- und Commerzbank AG am 2. Dezember 1953 in Konkurs. In der Folge scheint der von dieser Bank in Hamburg angehobene Prozess eingestellt oder die Klage zurückgezogen worden zu sein, während die damit geltend gemachten Ansprüche von der Konkursmasse auf Wollner übergingen. Wollner wollte auch Dr. J. Hoffmann, den Direktor der falliten Bank, für den erlittenen Schaden verantwortlich machen und erörterte bei Verhandlungen mit Hoffmann und Dr. W. auch die Frage, ob der von der Bank in Hamburg angehobene Prozess gegen Kostial und Mitbeteiligte von Wollner weiterzuführen bzw. wieder aufzunehmen sei.
Am 19. März 1956 reichte Dr. P. Barber, Rechtsanwalt in Hamburg, beim dortigen Landgericht im Namen Wollners gegen Kostial, Hoepffner und drei Banken Klage ein mit dem Begehren, die Beklagten gesamthaft zur Zahlung von DM 100'000.-- nebst Zinsen zu verurteilen, wobei er zum Nachweis seiner Vertretungsmacht die am 28. Oktober 1953 ausgestellte Vollmacht Wollners an Dr. W. und eine darauf beruhende Substitutionsvollmacht von Dr. W. vorlegte. Die Beklagten verlangten eine Sicherheitsleistung für ihre Prozesskosten, die vom Landgericht auf DM 50'000.-- angesetzt wurde. Da diese Kaution nicht geleistet wurde, erklärte das Landgericht Hamburg am 6. März 1957 die Klage für "zurückgenommen" und auferlegte dem Kläger Wollner die Verfahrenskosten, nachdem es durch Beschluss vom 13. Februar 1957 die vom Kläger dem Beklagten Hoepffner zu erstattenden Kosten auf DM 1'400.82 festgesetzt hatte.
B.-
Gestützt auf diese beiden in Rechtskraft erwachsenen Entscheide leitete Hoepffner am 4. Mai 1957 in Basel Betreibung gegen Wollner ein für Fr. 1466.65 und stellte nach erhobenem Rechtsvorschlag unter Berufung auf die Haager Zivilprozessübereinkunft von 1905 und auf das schweiz./deutsche Vollstreckungsabkommen von 1929 das Begehren um definitive Rechtsöffnung. Wollner wandte ein, diese Staatsverträge seien auf den Kostenentscheid
BGE 85 I 39 S. 42
nicht anwendbar; ferner bestritt er, Vollmacht zur Prozessführung in Hamburg erteilt zu haben.
Das Dreiergericht des Kantons Basel-Stadt wies das Rechtsöffnungsbegehren ab, da die Vollstreckung weder nach der Haager Zivilprozessübereinkunft noch nach dem Vollstreckungsabkommen möglich sei.
Hiegegen führte Hoepffner Beschwerde. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt nahm an, dass das Vollstreckungsabkommen anwendbar sei, und hiess die Beschwerde am 19. August 1957 dahin gut, dass es die Sache zu neuer Prüfung und Entscheidung an das Dreiergericht zurückwies und dabei ausführte: Sollte die Klage in Hamburg ohne Ermächtigung Wollners erhoben worden sein, so wäre die Rechtsöffnung zu verweigern, da Wollner dann gar nicht als Prozesspartei gelten könnte. Dass ein Zivilurteil nur inter partes Verpflichtungen erzeugen könne, sei ein fundamentaler Grundsatz unseres Zivilprozessrechts. Einem dagegen verstossenden Entscheid müsste daher die Vollstreckung in der Schweiz schon aus Gründen des ordre public (Art. 4 Abs. 1 des Vollstreckungsabkommens) die Vollstreckung verweigert werden.
Das Dreiergericht kam zum Schluss, die Klage in Hamburg sei in der Tat ohne Ermächtigung Wollners erhoben worden, und es wies daher das Rechtsöffnungsbegehren erneut ab. Hoepffner erhob hiegegen wiederum Beschwerde, wurde aber vom Appellationsgericht durch Urteil vom 23. September 1958 abgewiesen, im wesentlichen aus folgenden Gründen: Dr. Barber in Hamburg habe sich durch eine Substitutionsvollmacht legitimiert, die sich auf die am 28. Oktober 1953 ausgestellte Vollmacht Wollners an Rechtsanwalt Dr. W. bezogen habe. Es sei klar, dass diese "in Sachen Hypothekar- und Commerzbank AG in Zürich betr. Forderung" erteilte Vollmacht für den Inlandgebrauch bestimmt gewesen sei und nur zu Rechtshandlungen hinsichtlich einer Forderung Wollners gegen diese Bank berechtigt habe, wie denn eine Prozessvollmacht (und um eine solche habe es sich gehandelt) regelmässig den Namen des Gegners
BGE 85 I 39 S. 43
enthalte. Die Auslegung Hoepffners, die Vollmacht habe sich auf alle mit der Bank irgendwie zusammenhängenden Ansprüche bezogen, gehe viel zu weit und finde in den Akten keine Stütze. Eine Prozessvollmacht könne freilich auch formlos, insbesondere durch (stillschweigende) Genehmigung de Prozessführung erteilt werden, weshalb es gegen Treu und Glauben verstossen würde, wenn Wollner mit der Prozessführung in seinem Namen einverstanden gewesen wäre, deren Ergebnis aber wegen Fehlens einer Vollmachtsurkunde nicht gegen sich gelten lassen wollte. So verhalte es sich aber nicht. Aus der Korrespondenz ergebe sich vielmehr, dass Wollner nur unter der Bedingung, dass Dr. Hoffmann die Prozesskosten sicherstelle, mit der Prozessführung in Hamburg einverstanden gewesen wäre und die Unterzeichnung einer besonderen Prozessvollmacht - offenbar weil diese Bedingung nicht erfüllt wurde - unterlassen habe. Bei dieser Sachlage müsse das Vorliegen einer Vollmacht zur Prozessführung gegen Hoepffner verneint werden.
C.-
Gegen dieses ihm am 13. Oktober 1958 eröffnete Urteil hat Walter Hoepffner am 12. November 1958 staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er bezeichnet das Urteil als tatsachenwidrig und willkürrlich, weil sich aus den Akten ergebe, dass Wollner die Prozessführung in seinem Namen in Hamburg gekannt und gebilligt habe. Ausserdem verletze das Urteil das schweiz./deutsche Vollstreckungsabkommen. Die im Hamburger Prozess eingelegte Vollmacht habe nach dem dafür massgebenden deutschen Rechte genügt. Zudem wäre eine mangelhafte Vollmacht kein Grund zur Verweigerung der Vollstreckung des rechtskräftig gewordenen Entscheids, da der Vorbehalt des ordre public in Art. 4 Abs. 1 des Vollstreckungsabkommens sich nur auf den Inhalt der Entscheidung, nicht auf das Verfahren beziehe.
D.-
Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt und der Beschwerdegegner Arthur Wollner beantragen die Abweisung der Beschwerde.
BGE 85 I 39 S. 44
E.-
Am 13. Dezember 1958 reichte der Beschwerdeführer ein Rechtsgutachten ein, das von Prof. Dr. Hans Dölle, Direktor des Max Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, verfasst ist und zum Schluss kommt, dass der Kostenentscheid des Hamburger Landgerichts auf Grund des schweiz./deutschen Vollstreckungsabkommens in der Schweiz vollstreckbar sei. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerde macht eine Verletzung des schweiz./deutschen Vollstreckungsabkommens vom 2. November 1929 (nachfolgend kurz "Abkommen" genannt) geltend und bezeichnet das angefochtene Urteil überdies als willkürrlich. Dieser letzteren Rüge kommt indes keine selbständige Bedeutung zu. Das Bundesgericht überprüft die Anwendung staatsvertraglicher Bestimmungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht frei (
BGE 83 I 19
Erw. 1 mit Verweisungen,
BGE 84 I 33
Erw. 1 und 44 Erw. 1) und hat daher, soweit es für die Anwendung des Abkommens von Bedeutung ist, auch die Frage, ob Wollner ausdrücklich oder stillschweigend Vollmacht zur Prozessführung in Hamburg erteilt habe, auf Grund der Akten frei zu entscheiden. Neue Vorbringen sind vor Bundesgericht nicht ausgeschlossen (
BGE 83 I 20
Erw. 2,
BGE 84 I 34
Erw. 1). Anderseits fallen nur die in den Eingaben an das Bundesgericht und innert der Beschwerdefrist des
Art. 89 OG
erhobenen Einwendungen des Beschwerdeführers in Betracht; die in der Beschwerde enthaltene Verweisung auf kantonale Rechtsschriften ist daher unbeachtlich (
BGE 81 I 56
Erw. 1) und das erst am 12. Dezember 1958 zur Ergänzung der Beschwerdebegründung eingereichte Rechtsgutachten von Prof. Dölle ist nicht zu berücksichtigen (BIRCHMEIER, Handbuch des OG S. 387 N. I und dort angeführte Urteile).
2.
Die in Betreibung gesetzte Forderung, für welche definitive Rechtsöffnung verlangt wird, beruht auf Kostenentscheiden
BGE 85 I 39 S. 45
des Landgerichts Hamburg vom 13. Februar und 6. März 1957. Es steht fest, dass diese Entscheide nach dem dafür massgebenden deutschen Recht rechtskräftig und vollstreckbar sind. Ferner hat das Appelationsgericht schon im Urteil vom 19. August 1957 angenommen und der Beschwerdegegner mit Recht nicht mehr bestritten, dass die Vollstreckung nach dem Abkommen auch für Kostenentscheide wie die hier vorliegenden verlangt werden kann. Streitig ist dagegen, ob Wollner ausdrücklich oder stillschweigend Vollmacht zur Prozessführung erteilt habe, was im angefochtenen Entscheid verneint wird, sowie, ob im Falle mangelnder Vollmacht den Kostenentscheiden die Anerkennung in der Schweiz zu versagen sei, was der angefochtene Entscheid annimmt, und zwar, wie nach den Ausführungen des Appellationsgerichts im Urteil vom 19. August 1957 zu schliessen ist, wegen Verstosses gegen die schweizerische öffentliche Ordnung (Art. 4 Abs. 1 des Abkommens).
3.
Die Substitutionsvollmacht, auf Grund deren im Namen Wollners in Hamburg am 19. März 1956 Klage erhoben worden ist, bezog sich auf eine Prozessvollmacht, die er am 28. Oktober 1953 an Rechtsanwalt Dr. W. in Zürich "in Sachen Hypothekar- und Commerzbank AG Zürich betreffend Forderung" erteilt hatte. Das Appellationsgericht hat angenommen, dass Wollner damit nur zum Vorgehen in der Schweiz gegen diese Bank, nicht zur Prozessführung in Hamburg gegen andere Personen ermächtigt habe. Diese Auslegung der Vollmacht erscheint nach schweizerischem wie nach deutschem Recht als zutreffend. Wenn zu verlangen ist, dass der Gegenstand der Prozessvollmacht sich in sachlicher und persönlicher Beziehung aus der Urkunde deutlich ergebe (LEUCH, N. 1. zu Art. 84 bern. ZPO), so heisst das gleichzeitig, dass der Vertreter nur zum Vorgehen gegen die in der Vollmacht genannten Personen ermächtigt ist. Auch nach deutschem Recht wird der Umfang der Prozessvollmacht durch die Beziehung auf einen bestimmten Rechtsstreit, d.h. auf
BGE 85 I 39 S. 46
ein Verfahren zwischen bestimmten Personen über einen bestimmten Streitgegenstand, begrenzt und bedarf es daher insbesondere dann einer neuen Vollmacht, wenn der Prozess gegen eine andere als die in der Vollmacht genannte Person angehoben werden soll (STEIN-JONAS-SCHÖNKE, Komm. zur DZPO, 17./18. Auflage, Bem. II 1 zu § 81). Dass die streitige Vollmacht, wie in der Beschwerde behauptet wird, nach deutschem Recht genügt habe, folgt nicht etwa daraus, dass das Landgericht Hamburg sie nicht beanstandet hat. Vor Landgericht besteht Anwaltszwang (§ 78 DZPO), und in diesem Falle wird die Vollmacht nicht von Amtes wegen, sondern nur auf Antrag der Gegenpartei geprüft (§ 88 DZPO). Ein solcher Antrag ist aber im vorliegenden Falle nicht gestellt worden.
Trotz Fehlens einer genügenden schriftlichen Vollmacht müsste Wollner die Prozessführung in seinem Namen freilich gegen sich gelten lassen, wenn er mit ihr einverstanden gewesen wäre. Der Beschwerdeführer hat jedoch in der staatsrechtlichen Beschwerde nichts vorgebracht, was auf ein solches, und sei es auch nur stillschweigendes, Einverständnis schliessen liesse. Aus der (vom Beschwerdegegner vorgelegten) Korrespondenz Wollners mit Dr. W. in Zürich ergibt sich dagegen klar, dass Wollner seine Zustimmung zur Prozessführung in Hamburg von der Übernahme und Sicherstellung der Prozesskosten durch Dr. Hoffmann abhängig gemacht und, offenbar wegen Nichterfüllung dieser Bedingung, drei ihm am 11. und 20. Januar 1956 zur Unterzeichnung zugestellte Prozessvollmachten an Dr. Barber in Hamburg nicht abgesandt, sondern zurückbehalten hat. Der Einwand des Beschwerdeführers, die Einreichung der schriftlich begründeten Klage in Hamburg sei ohne Rücksprache des Anwalts mit Wollner undenkbar, ist schon deshalb nicht schlüssig, weil es sich einfach um die Erneuerung der bereits 1953 durch die Hypothekar- und Commerzbank AG erhobenen Klage handelte.
Ist demnach davon auszugehen, dass die im Namen
BGE 85 I 39 S. 47
Wollners eingereichte Klage gegen Kostial, Hoepffner und Mitbeteiligte ohne Vollmacht Wollners erhoben worden ist, so fragt sich weiter, ob deswegen die Vollstreckung der gegen Wollner ergangenen Kostenentscheide in der Schweiz auf Grund von Art. 4 Abs. 1 des Abkommens zu verweigern ist.
4.
Der Beschwerdeführer bestreitet dies, weil der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, wie aus seiner Umschreibung in Art. 4 Abs. 1 des Abkommens hervorgehe, einschränkend auszulegen sei und sich nur auf den Inhalt der Entscheidung, nicht auf das Verfahren beziehe, also nur materiellrechtliche, nicht prozessrechtliche Mängel erfasse.
a) Das Bundesgericht hat die ordre public-Klausel, die in allen von der Schweiz abgeschlossenen Vollstreckungsabkommen enthalten ist, bisher nur auf den Inhalt der Entscheidung angewandt. Ob sie darüber hinaus auch angerufen werden könne bei Mängeln, die dem Verfahren vor dem ausländischen Gericht, gemessen an der inländischen Rechtsordnung, anhaften, wurde stets als fraglich bezeichnet und offen gelassen (
BGE 57 I 435
,
BGE 62 I 145
, 63 1 301,
BGE 72 I 275
,
BGE 84 I 46
Erw. 3). Es besteht indessen kein zureichender Grund, den Anwendungsbereich der Vorbehaltsklausel im Gebiete der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile auf materiellrechtliche Mängel zu beschränken, wenn ihr auch, wie das Bundesgericht in letzter Zeit wiederholt erklärt hat, in diesem Gebiete engere Grenzen gezogen sind als im Gebiete der direkten Gesetzesanwendung (
BGE 84 I 123
und dort angeführte Urteile). Der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung ist seinem Wesen nach ganz allgemeiner Natur und greift immer dann Platz, wenn das einheimische Rechtsgefühl durch die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils in unerträglicher Weise verletzt würde. Das kann auch dann der Fall sein, wenn die Entscheidung zwar inhaltlich nicht zu beanstanden ist, aber durch unlautere Machenschaften erschlichen worden ist
BGE 85 I 39 S. 48
(vgl.
BGE 74 II 56
Erw. 1; RIEZLER, Internat. ZPR S. 548, JELLINEK, Die zweiseitigen Verträge über Anerkennung ausländischer Zivilurteile S. 195 ff.), oder wenn das Verfahren, in dem sie zustandegekommen ist, nach inländischer Rechtsauffassung mangelhaft war. Die Bestimmungen kantonaler Zivilprozessordnungen, welche gegenüber der Vollstreckung ausländischer Zivilurteile den einheimischen ordre public vorbehalten, sowie die entsprechende Vorschrift in § 328 Ziff. 4 DZPO werden denn auch allgemein dahin verstanden, dass der Verstoss gegen den ordre public auch in der Missachtung fundamentaler Verfahrensgrundsätze liegen könne (GULDENER, Das internationale und interkantonale Zivilprozessrecht der Schweiz. S. 96 und 102; LEUCH N. 7 Seite 400 zu Art. 401 bern. ZPO, STRÄULI N. 2 a.E. zu § 377 zürch. ZPO; STEIN-JONAS-SCHÖNKE, Bem. VII 2 b zu § 328 DZPO). Es erscheint (trotz der in BBl 1927 S. 374 ohne Begründung vertretenen Auffassung des Bundesrates) als richtig, im gleichen Sinne auch den in den internationalen Vollstreckungsabkommen enthaltenen Vorbehalt des ordre public auszulegen und ihn auf Verfahrensmängel anzuwenden, sofern seine Umschreibung im betreffenden Staatsvertrag nicht eine Beschränkung auf den Inhalt der Entscheidung nahelegt.
b) Nach Art. 4 Abs. 1 des schweiz./deutschen Abkommens ist die Anerkennung eines im andern Staat ergangenen Urteils zu versagen, wenn "durch die Entscheidung ein Rechtsverhältnis zur Verwirklichung gelangen soll, dem im Gebiet des Staates, wo die Entscheidung geltend gemacht wird, aus Rücksichten der öffentlichen Ordnung oder der Sittlichkeit die Gültigkeit, Verfolgbarkeit oder Klagbarkeit versagt ist". Es ist zuzugeben, dass diese Umschreibung das materielle Rechtsverhältnis im Auge hat und dass sich daher die Auffassung vertreten lässt, Verfahrensmängel würden davon nicht erfasst. Diese wörtliche Auslegung wird jedoch in der Literatur (GULDENER a.a.O. S. 148, JELLINEK a.a.O. S. 191, KALLMANN,
BGE 85 I 39 S. 49
Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Zivilurteile S. 220 und 242) mit Recht als zu eng bezeichnet. Weder aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 noch daraus, dass Abs. 3 die ordnungswidrige Ladung als besondern Versagungsgrund herausgreift, folgt, dass andere Verfahrensmängel, etwa eine gänzliche Verweigerung des rechtlichen Gehörs, ausser Betracht fallen. Ob der Vorbehalt des ordre public seiner engen Fassung wegen nur auf bestimmte oder ganz schwerwiegende Verfahrensmängel anzuwenden ist, kann dahingestellt bleiben, da sich seine Anwendung jedenfalls im vorliegenden Falle rechtfertigt, wo der Mangel weniger im Verfahrhren selber als in dessen Ergebnis, in der Verurteilung eines am Verfahren nicht Beteiligten zur Bezahlung von Kosten liegt.
c) Zu dieser Verurteilung ist es offenbar deshalb gekommen, weil das Landgericht Hamburg, wie bereits in Erw. 3 ausgeführt wurde, nicht von Amtes wegen zu prüfen hatte und daher auch nicht geprüft hat, ob der Anwalt, der im Namen Wollners Klage erhob, hiezu bevollmächtigt war. Die Unterlassung dieser Prüfung ist aus dem Gesichtspunkt der schweizerischen öffentlichen Ordnung nicht zu beanstanden, bestimmen doch einzelne kantonale Zivilprozessordnungen sogar, dass die Rechtsanwälte als Inhaber einer allgemeinen Prozessvollmacht der Partei, für die sie handeln, gelten bzw. ohne Nachweis der Vollmacht für sie handeln können (St. Gallen Art. 118 Abs. 2, Solothurn Art. 5 Ziff. 1). Dagegen kann der Kostenentscheid, der infolge jener Unterlassung gegen Wollner ergangen ist, in der Schweiz nicht anerkannt werden. Es ist ein allgemeiner Grundsatz des schweizerischen Zivilprozessrechts, dass derjenige nicht verurteilt werden kann, der am Verfahren gar nicht beteiligt war, weil er weder je selber vorgeladen noch richtig vertreten war (inbezug auf die Vertretung: STAUFFER, Die Verträge der Schweiz mit Österreich und der Tschechoslowakei S. 49, BURCKHARDT Komm. der BV S. 576, JAEGER N. 19 a.E. zu
Art. 81 SchKG
, wo es als selbstverständlich bezeichnet wird, dass
BGE 85 I 39 S. 50
niemand ein Urteil gegen sich gelten zu lassen braucht, das von einem nicht legitimierten Vertreter erwirkt worden ist). InBGE 58 I 181ff. wurde (auf Grund von Art. 17 Ziff. 2 des Gerichtsstandsvertrags mit Frankreich) die Vollstreckung eines französischen Zivilurteils in der Schweiz abgelehnt, weil es gegenüber einem nicht gehörig vorgeladenen und durch einen nicht bevollmächtigten Anwalt vertretenen Beklagten erlassen worden war. Entsprechendes muss gelten für das Urteil gegenüber einem am Verfahren nicht beteiligten Kläger. Das Bundesgericht hat kürzlich in Anwendung von
Art. 61 BV
entschieden, dass ein in der Schweiz ergangenes Zivilurteil, das einem Kläger Kosten auferlegte, obwohl der Anwalt ohne Vollmacht Klage erhoben hatte, in einem andern Kanton nicht vollstreckt zu werden brauche (nicht veröffentl. Urteil vom 13. März 1957 i.S. Konkursmasse Brunold). Ebenso ist die Vollstreckung eines im Ausland ergangenen Urteils zu verweigern, durch das ein Kläger in einem ohne sein Wissen geführten Zivilprozess zur Bezahlung von Kosten verurteilt worden ist, da ein solcher Entscheid mit dem einheimischen Rechtsgefühl in unverträglichem Widerspruch steht.
Die Prozessführung durch einen vollmachtlosen Vertreter ohne Wissen und Willen der Partei stellt übrigens auch nach deutschem Recht einen schweren Mangel dar. Das ergibt sich daraus, dass die nicht vertretene Partei, auf deren Namen das Urteil ergangen ist, dieses auch noch nach Eintritt der Rechtskraft mit der Nichtigkeitsklage gemäss § 579 Ziff. 4 DZPO anfechten kann (STEIN-JONAS-SCHÖNKE Bem. IV zu § 88 und Bem. II 4 zu § 579 DZPO). Von diesem Rechtsmittel hat Wollner freilich keinen Gebrauch gemacht. Das steht jedoch der Anwendung von Art. 4 Abs. 1 des Abkommens nicht entgegen. Die Verweigerung der Vollstreckung eines ausländischen Urteils wegen Verstosses gegen den schweizerischen ordre public setzt nicht voraus, dass der Verurteilte im Ausland die gegen das Urteil zur Verfügung stehenden ordentlichen
BGE 85 I 39 S. 51
und ausserordentlichen Rechtsmittel ergriffen hat. Die in der Schweiz wohnhafte Partei, der gegenüber im Ausland ein gegen den schweizerischen ordre public verstossendes Urteil ergeht, darf dessen Vollstreckung in der Schweiz abwarten und den Mangel dann geltend machen. Insbesondere kann jemandem nicht zugemutet werden, im Ausland Rechtsmittel zu ergreifen gegen ein Urteil in einem Prozess, den dort ein Anwalt ohne Vollmacht und ohne Wissen und Willen des angeblich von ihm Vertretenen in dessen Namen geführt hat (vgl.
BGE 58 I 1901
etzter Absatz; anders ein Urteil des bern. Appellationshofs vom 12. Januar 1911, ZBJV 48 S. 123 und ihm folgend STAUFFER, a.a.O. S. 49, während KALLMANN a.a.O. S. 304 Anm. 38 für einen Fall wie den vorliegenden die Ergreifung der Nichtigkeitsklage nach § 579 Ziff. 4 DZPO lediglich empfiehlt, also offenbar nicht als unerlässlich erachtet). Vollends unzumutbar erscheint die Ergreifung von Rechtsmitteln im Ausland, wenn die ungenügende Vollmacht, auf Grund deren im Ausland Klage erhoben worden ist, nicht an einen ausländischen Anwalt erteilt worden ist, sondern in der Schweiz an einen schweizerischen Anwalt, wie es vorliegend der Fall ist. | de |
a766147f-5954-422b-b0b0-657dccd6deb5 | Sachverhalt
ab Seite 86
BGE 108 Ib 85 S. 86
Die Joseph Müller AG, Zürich, und Sigval Bergesen, wohnhaft in Stavanger (Norwegen), schlossen am 3. September 1969, 20. Oktober 1970 und 17. März 1971 je einen Chartervertrag. Die drei Verträge weisen je eine Schiedsklausel auf, die folgenden Wortlaut hat (beglaubigte Übersetzung aus dem Englischen):
"Das Schiedsverfahren findet in der Stadt New York (Staat) New York, statt; es unterliegt den Gesetzen des Staates New York; der mehrheitlich gefällte Schiedsspruch ist durch jedes zuständige Gericht vollstreckbar und für die Parteien in der ganzen Welt endgültig rechtskräftig und bindend."
Zwischen den Parteien entstand in der Folge Streit, worauf das Schiedsverfahren eingeleitet wurde. Das Schiedsgericht verurteilte die Joseph Müller AG am 14. Dezember 1978 zur Zahlung von total $ 61'406.09 zuzüglich 8% Zins bis zur Bezahlung der Forderung.
Mit Verfügung vom 7. November 1979 erklärte der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirks Zürich den Schiedsspruch für vollstreckbar und gewährte definitive Rechtsöffnung im Betrag von Fr. 106'846.60 nebst 8% Zins seit 30. Juni 1979. Auf Rekurs der Joseph Müller AG hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich (II. Zivilkammer) die erstinstanzliche Verfügung mit Beschluss vom 8. Dezember 1980.
Dagegen richtet sich die staatsrechtliche Beschwerde der Joseph Müller AG. Die Beschwerdeführerin beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und das Verfahren zur Abweisung des Begehrens und der Vollstreckbarerklärung an das Obergericht zurückzuweisen. Sie beruft sich auf eine Verletzung von Art. V Ziff. 1 lit. e des Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. Juni 1958 (SR 0.277.12; im folgenden New Yorker Übereinkommen). Die Verletzung dieses Staatsvertrages erblickt sie darin, dass das Obergericht zu Unrecht den Schiedsspruch als verbindlich betrachtet habe. Nach dem Recht des Staates New York müsse ein Schiedsspruch innerhalb eines Jahres von einem staatlichen Gericht bestätigt werden (sog. "confirmation of award"). Erst der durch die "confirmation" bekräftigte Schiedsspruch stelle ein verbindliches und vollstreckbares Urteil im Sinne des New Yorker Übereinkommens dar. Der Beschwerdegegner beantragt die Beschwerde abzuweisen. Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf Vernehmlassung.
BGE 108 Ib 85 S. 87 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Anerkennung und Vollstreckung eines in den USA gefällten Schiedsspruchs bestimmen sich nach dem New Yorker Übereinkommen, dem sowohl die USA als auch die Schweiz beigetreten sind (AS 1976, 618/9).
2.
a) Bei staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verletzung von Staatsverträgen braucht der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft zu sein (
Art. 86 Abs. 3 OG
;
BGE 105 Ib 39
mit Hinweis). Andere Rügen, die die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs voraussetzen, erhebt die Beschwerdeführerin nicht.
Das Bundesgericht prüft frei, ob der angefochtene Entscheid gegen Bestimmungen eines Staatsvertrages verstösst. Es beschränkt sich dabei nur auf die Prüfung der in der Beschwerde erhobenen Rügen (
BGE 101 Ia 524
E. 1 mit Hinweisen). Neue tatsächliche oder rechtliche Vorbringen sind zulässig (
BGE 105 Ib 40
E. 2).
b) Im Falle der Gutheissung der Beschwerde wird der angefochtene Entscheid aufgehoben. Es wird in diesem Fall Sache des Obergerichts sein, im Lichte der bundesgerichtlichen Erwägungen einen neuen Entscheid zu fällen. Weitere Anordnungen des Bundesgerichts sind nicht notwendig. Insofern daher die Beschwerdeführerin mehr als die Aufhebung des angefochtenen Entscheids verlangt, ist die Beschwerde unzulässig. Im übrigen ist auf die Beschwerde einzutreten.
3.
Art. V des New Yorker Übereinkommens nennt die Gründe, nach denen die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruches versagt werden kann. Auf Antrag der Partei, gegen die der Schiedsspruch geltend gemacht wird, hat dies zu geschehen, wenn die Partei der zuständigen Behörde des Landes, in dem um Anerkennung und Vollstreckung nachgesucht wird, den Beweis erbringt, unter anderem:
"dass die Bildung des Schiedsgerichts oder das schiedsrichterliche Verfahren der Vereinbarung der Parteien oder, mangels einer solchen Vereinbarung, dem Recht des Landes, in dem das schiedsrichterliche Verfahren stattfand, nicht entsprochen hat;" (Ziff. 1 lit. d) oder
"dass der Schiedsspruch für die Parteien noch nicht verbindlich geworden ist oder dass er von einer zuständigen Behörde des Landes, in dem oder nach dessen Recht er ergangen ist, aufgehoben oder in seinen Wirkungen einstweilen gehemmt worden ist." (Ziff. 1 lit. e)
BGE 108 Ib 85 S. 88
Der Sache nach geht es im vorliegenden Fall einzig darum, ob der Schiedsspruch vom 14. Dezember 1978 verbindlich geworden ist. Die Beschwerdeführerin hat zu beweisen, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist. Dazu gehört auch der Nachweis des zuständigen ausländischen Rechts, soweit dessen Verletzung geltend gemacht wird (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 13. Juli 1979 i.S. H. E. 3 in fine).
4.
a) Die Beschwerdeführerin hält den Schiedsspruch für unverbindlich, weil der Beschwerdegegner die nach § 7510 New York Civil Practice Law and Rules (im folgenden CPLR) erforderliche Bestätigung nicht verlangt habe. § 7510 CPLR hat folgenden Wortlaut:
"The court shall confirm an award upon application of a party made within one year after its delivery to him, unless the award is vacated or modified upon a ground specified in section 7511."
In § 7511 CPLR wird sodann das Rechtsmittelverfahren gegen Schiedssprüche geregelt. Insbesondere sind die Gründe für die Aufhebung (vacating) und Abänderung (modifying) geregelt. Aus welchen Gründen hingegen die "confirmation of award" verweigert werden kann, folgt nicht aus dem Gesetzestext.
Nach Auffassung des Obergerichts dient die "confirmation" der Feststellung der Vollstreckbarkeit (enforcement) des Schiedsspruches. Ziel des New Yorker Übereinkommens sei jedoch gewesen, das doppelte Exequaturverfahren zu vermeiden, wie es unter dem Geltungsbereich des Genfer Abkommens vom 26. September 1927 (SR 0.277.111) zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, aber in der Praxis notwendig war. Nach dem New Yorker Übereinkommen bedürfe es keiner gerichtlichen Vollstreckbarerklärung des Staates, unter dessen Recht das Schiedsverfahren durchgeführt wurde.
b) Ob ein Schiedsspruch für die Parteien verbindlich (französisch "obligatoire"; englisch "binding") geworden ist, richtet sich in erster Linie nach dem für das schiedsrichterliche Verfahren massgebenden Recht. Die Wahl des Verfahrensrechts kann im Rahmen der Parteiautonomie frei bestimmt werden (vgl. Art. V Ziff. 1 lit. d New Yorker Übereinkommen). Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass das Schiedsverfahren in erster Linie durch die von den Parteien selbst vereinbarte Ordnung und, beim Fehlen einer Parteivereinbarung, subsidiär durch das Recht des Staates, wo das Schiedsverfahren stattfindet, beherrscht wird (vgl.
BGE 108 Ib 85 S. 89
Botschaft des Bundesrats betreffend die Genehmigung des New Yorker Abkommens vom 18. September 1964, BBl 1964 II, 616). Der durch das New Yorker Übereinkommen aufgestellte Vorrang des Parteiwillens verschafft den Parteien die Möglichkeit, entweder eine eigene Verfahrensordnung aufzustellen oder ein bereits bestehendes, privates oder staatliches Verfahrensrecht zu wählen. Aus der Befugnis zur freien Gestaltung der Verfahrensordnung folgt ferner, dass durch Parteiabrede auch zwingende staatliche Verfahrensvorschriften unanwendbar erklärt und gegebenenfalls durch eigens getroffene Vorschriften ersetzt werden können (SCHLOSSER, Das Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, Bd. 1, S. 415 f.; FOUCHARD, L'arbitrage commercial international, Bd. 2, S. 335 f.; BERTHEAU, Das New Yorker Abkommen vom 10. Juni 1958..., Diss. Zürich 1965, S. 87). Die Parteiautonomie besteht jedoch nicht schrankenlos. Sie unterliegt insofern der staatlichen Kontrolle, als die Parteien in jedem Fall an die Grundsätze des ordre public des Vollstreckungsstaates gebunden sind (Art. V Ziff. 2 lit. b New Yorker Übereinkommen); ob bei der Wahl eines bestimmten nationalen Verfahrensrechts auch dessen ordre public beachtet werden muss, ist umstritten (ablehnend SCHLOSSER, a.a.O., S. 417; anders BERTHEAU a.a.O., S. 87/8). Diese Frage kann jedoch dahingestellt bleiben, da die Beschwerdeführerin sich nicht auf eine Verletzung des New Yorker ordre public beruft. Wenn ein Schiedsspruch nach dem massgebenden Verfahrensrecht keinem Rechtsmittel unterworfen ist, besteht unter dem Gesichtspunkt des schweizerischen ordre public kein Grund, die Vollstreckung im Inland zu verweigern. Weder das Genfer Abkommen (Art. 1 Abs. 2 lit. d) noch das New Yorker Übereinkommen, welches in diesem Punkte vom Genfer Abkommen nicht abwich (Art. V Ziff. 1 lit. e), setzen voraus, dass ein Schiedsspruch der Kontrolle durch ein staatliches Gericht unterworfen sein muss. Wie das Bundesgericht in
BGE 101 Ia 158
ausführte, wäre es nicht angängig, die Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs unter Berufung auf den einheimischen ordre public vom Bestehen bestimmter Rechtsmittelmöglichkeiten abhängig zu machen. Eine zwingende Rechtsmittelkontrolle des Schiedsspruchs als Voraussetzung der Vollstreckung wäre denn auch sachlich nicht angebracht. Es genügt, dass der Vollstreckungsbeklagte die in Art. V Ziff. 1 lit. a-g New Yorker Übereinkommen genannten Einwendungen vorbringen kann, soweit das Übereinkommen anwendbar ist.
BGE 108 Ib 85 S. 90
c) Die Parteiautonomie im Sinne von Art. V Ziff. 1 lit. d New Yorker Übereinkommen verschafft den Parteien die Möglichkeit, statt einer staatlichen eine vollkommen eigen gestaltete Verfahrensordnung aufzustellen. Weltweit gesehen existieren denn auch verschiedene Schiedsordnungen, die den Ablauf des schiedsrichterlichen Verfahrens umfassend regeln (Nachweise bei SCHLOSSER a.a.O., Bd. 2, S. 153-274). Dieser Grundsatz verschafft den Parteien auch die Möglichkeit, zwar grundsätzlich eine staatliche Verfahrensordnung als anwendbar zu erklären, diese jedoch im einzelnen durch besondere Abreden zu ergänzen oder zu ersetzen. Dies gilt insbesondere auch für die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Schiedsspruch unter den Parteien verbindlich wird (SCHLOSSER, a.a.O., Bd. 1, S. 623).
d) Im vorliegenden Fall vereinbarten die Parteien, dass das Schiedsverfahren den Gesetzen des Staates New York unterliegen sollte und der mehrheitlich gefällte Schiedsspruch durch jedes zuständige Gericht vollstreckbar und für die Parteien in der ganzen Welt endgültig rechtskräftig und bindend zu sein habe. Sie schlossen damit jeden Weiterzug des Schiedsspruchs aus. Dessen Verbindlichkeit trat somit nicht erst mit Ablauf der Rechtsmittelfrist von 90 Tagen gemäss § 7511 CPLR, bzw. der "confirmation of award" ein, sondern bereits mit der Fällung des Schiedsspruches. Diese Rechtsfolge sehen denn auch mehrere Schiedsordnungen privater und öffentlichrechtlicher Organisationen vor (z.B. Art. 29 der Vergleichs- und Schiedsordnung der internationalen Handelskammer; Rule 19 The Copenhagen Rules 1950). Dass der vorliegende Schiedsspruch durch ein New Yorker Gericht aufgehoben bzw. in seinen Wirkungen einstweilen gehemmt worden wäre, behauptet die Beschwerdeführerin nicht. Die Vereinbarung der Parteien hat deshalb zur Folge, dass der Schiedsspruch seit 14. Dezember 1978 im Sinne von Art. V Ziff. 1 lit. e des New Yorker Übereinkommens verbindlich geworden ist.
e) Die Beschwerdeführerin behauptet freilich, der Schiedsspruch sei ohne "confirmation of award" nach New Yorker Recht nicht verbindlich. Sie erklärt nicht, wie sie diese Behauptung mit der vorstehenden Schiedsklausel vereinbart und unter welchem Titel New Yorker Recht eingreifen sollte, kraft Parteivereinbarung oder als unabdingbares Recht des Staates, in dem der Schiedsspruch erging. Alle diese Fragen können jedoch offen bleiben. Nach Art. V Abs. 1 Einleitungssatz des New Yorker Übereinkommens hat der Beklagte die von ihm behauptete Unverbindlichkeit
BGE 108 Ib 85 S. 91
des Schiedsspruchs zu beweisen. Diesen Beweis hat die Beschwerdeführerin nicht geleistet. Das von ihr vorgelegte Gutachten nimmt keinen Bezug auf das New Yorker Übereinkommen, fasst den Begriff der Verbindlichkeit nach dessen Art. V Ziff. 1 lit. e nicht ins Auge und prüft nicht, wie die "confirmation of award" im Lichte des Übereinkommens zu qualifizieren ist. Selbst wenn der Schiedsspruch am Ort, wo er erging, nicht vollstreckbar erklärt wurde, kann die Verbindlichkeit gegeben sein. Das Erfordernis der Vollstreckbarerklärung am Ursprungsort des Schiedsspruchs würde dem Sinn des New Yorker Übereinkommens stracks zuwiderlaufen, welches das doppelte Exequatur vermeiden wollte (BERTHEAU, a.a.O., S. 91 ff., Botschaft, a.a.O., 617). Es genügt vielmehr für die Verbindlichkeit, dass der Schiedsspruch im Urteilsstaat einem Exequatur zugänglich ist (vgl. KLEIN, La convention de New York pour la reconnaissance de l'exécution des sentences arbitrales étrangères, SJZ 57 (1961) S. 248). Wenn der von der Beschwerdeführerin angerufene Gutachter, den "unconfirmed award" als "inchoate and unchallenged right to seek judgment thereon" und als "mere expectation" bezeichnet, handelt es sich dabei um eine Charakterisierung im Lichte des New Yorker Rechts, aber nicht im Lichte des Übereinkommens. Dass der Beschwerdegegner nach den Angaben des Beschwerdeführerin schliesslich in der Zwischenzeit das Verfahren zur Erlangung der "confirmation of award" einleitete, ändert unter dem Gesichtswinkel des New Yorker Übereinkommens an der Verbindlichkeit des Schiedsspruchs nichts. Die Beschwerde ist daher abzuweisen. | de |
563c47f5-9b62-416d-a7e4-19b06d549781 | Sachverhalt
ab Seite 586
BGE 134 III 586 S. 586
Die Parteien bilden als Nachkommen ihrer verstorbenen Eltern eine Erbengemeinschaft. Sie streiten sich seit Jahren über die Erbteilung. Prozessgegenstand ist die Zuweisung der landwirtschaftlichen
BGE 134 III 586 S. 587
Gewerbe "A." und "B.". In ihrem Testament vom 10. Juli 1996 wies die Mutter die Liegenschaft "B." ihrem Sohn X. zum Ertragswert zu.
Mit Eingabe vom 20. September 2001 beantragte X. vor der Kommission für bäuerliches Erbrecht des Amtes Hochdorf die Zuweisung der beiden landwirtschaftlichen Gewerbe an ihn. Sein Bruder R. widersetzte sich diesem Begehren und beantragte seinerseits die Zuweisung. Die Kommission betrachtete die Gewerbe "A." und "B." zusammen als einen rentablen Betrieb und wies sie beide mit Entscheid vom 18. Februar 2003 R. zum Ertragswert von Fr. 475'800.- zu.
Diesen Kommissionsentscheid fochten X. und Z. mit Klage vom 2. April 2003 beim Amtsgericht Hochdorf an. Mit Urteil vom 28. August 2006 wies das Amtsgericht die beiden Liegenschaften R. zum Ertragswert von Fr. 475'800.- zu. Weiter befand es das Testament der Mutter unter dem Gesichtspunkt von
Art. 519 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
i.V.m.
Art. 19 BGBB
für ungültig, da X. die Anforderungen an die Selbstbewirtschaftung nicht erfülle.
X. und Z. appellierten gegen dieses Urteil mit Eingabe vom 27. September 2006. Mit Urteil vom 7. Februar 2008 bestätigte das Obergericht des Kantons Luzern den Entscheid des Amtsgerichtes Hochdorf vom 28. August 2006.
Gegen den obergerichtlichen Entscheid führen X. (Beschwerdeführer 1) und Z. (Beschwerdeführerin 2) mit Eingabe vom 13. März 2008 Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht. Sie beantragen die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und die Zuweisung der landwirtschaftlichen Gewerbe "A." und "B." zum Ertragswert von Fr. 475'800.- an den Beschwerdeführer 1. Eventualiter beantragen sie die Rückweisung der Sache zur neuen Entscheidung und zur Vornahme weiterer Sachverhaltsabklärungen an die Vorinstanz.
R. (Beschwerdegegner 1), S. (Beschwerdegegner 2) und T. (Beschwerdegegnerin 3) sind in der Sache nicht zur Vernehmlassung eingeladen worden.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Gemäss
Art. 11 Abs. 1 BGBB
kann ein Erbe in der Erbteilung die Zuweisung eines landwirtschaftlichen Gewerbes verlangen, wenn er dieses selbst bewirtschaften will und dafür geeignet erscheint. Für die Selbstbewirtschaftung geeignet ist, wer die Fähigkeiten besitzt, die
BGE 134 III 586 S. 588
nach landesüblicher Vorstellung notwendig sind, um den landwirtschaftlichen Boden selber zu bearbeiten und ein landwirtschaftliches Gewerbe persönlich zu leiten (
Art. 9 Abs. 2 BGBB
).
3.1
3.1.1
Die kantonalen Vorinstanzen erkannten, dass beide Bewerber aufgrund des fortgeschrittenen Alters in absehbarer Zeit nicht mehr zur Selbstbewirtschaftung fähig sein werden. Sie berücksichtigten jedoch bei der Beurteilung der Eignung zur Selbstbewirtschaftung den Umstand, dass der Beschwerdegegner 1 im Unterschied zum Beschwerdeführer 1 einen Nachkommen hat, der für die spätere Übernahme der landwirtschaftlichen Gewerbe in Frage kommt, und wiesen diesem daher die landwirtschaftlichen Gewerbe zu. Dabei stützten sie sich auf die beiden Urteile
BGE 107 II 30
und
BGE 111 II 326
.
In
BGE 107 II 30
war zu entscheiden, an welche der beiden zweiundsechzig- und sechsundsechzigjährigen Töchter unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse ein landwirtschaftliches Gewerbe zugewiesen werden sollte. Das Bundesgericht wies das Gewerbe der sechsundsechzigjährigen Berufungsklägerin zu, da deren Sohn, ein Bauer, neben eigenem Land seit zehn Jahren den grössten Teil des in Frage stehenden Gewerbes als Pächter bewirtschaftete. Dabei hielt das Bundesgericht fest, dass die Nachkommenschaft ein wesentliches Kriterium für den Entscheid der Zuweisung darstelle, da die Erhaltung lebensfähiger landwirtschaftlicher Betriebe über Generationen hinweg einer der wesentlichen Zweckgedanken des bäuerlichen Erbrechts sei.
In
BGE 111 II 326
wurde ein landwirtschaftliches Gewerbe einem fünfundsiebzigjährigen Bewerber zugewiesen, obwohl dieser in absehbarer Zukunft nur noch leichtere Verrichtungen ausüben konnte und die Hauptlast der Arbeit sein damals sechsundvierzigjähriger Sohn zu tragen hatte, welcher beabsichtigte, das Gewerbe bis in eine ferne Zukunft weiterzubetreiben. Das Bundesgericht führte aus, dass diese Konstellation genüge, um die gemäss Art. 620 Abs. 1 aZGB für die Übernahme des Gewerbes verlangte Eignung des fünfundsiebzigjährigen Bewerbers zu bejahen.
3.1.2
Mit der Berücksichtigung dieser Rechtsprechung zu den alten - in Art. 620 ff. aZGB geregelten - Bestimmungen des bäuerlichen Erbrechts durch die Vorinstanzen und den Beschwerdeführer muss vorfrageweise geprüft werden, ob diese Praxis unter der Herrschaft des BGBB noch anwendbar ist.
BGE 134 III 586 S. 589
Aus der Gegenüberstellung der altrechtlichen Art. 620 ff. aZGB und der aktuellen Regelungen des BGBB wird ersichtlich, dass das BGBB mit Bezug auf die Voraussetzungen der Selbstbewirtschaftung bzw. die Kriterien der Eignung dazu keinen neuen Weg beschritten hat. Nach Art. 620 Abs. 1 aZGB hatte der Erbe zur Übernahme eines landwirtschaftlichen Gewerbes geeignet zu erscheinen; nach Art. 621 Abs. 1 aZGB entschieden bei mehreren Bewerbern der Ortsgebrauch und, wo ein solcher nicht bestand, die persönlichen Verhältnisse der Erben; nach Abs. 2 der genannten Bestimmung hatten Erben, die das Gewerbe selber betreiben wollten, in erster Linie Anspruch auf Zuweisung. Auch aus der Entstehungsgeschichte des BGBB geht hervor, dass für die Zuweisung zur Selbstbewirtschaftung unveränderte Voraussetzungen und Kriterien gelten sollen. In der Botschaft des Bundesrates vom 19. Oktober 1988 zum BGBB wird festgehalten, dass für die Umschreibung der Selbstbewirtschaftung wie auch der Eignung dazu von der bisherigen Praxis des Bundesgerichts auszugehen ist; unter anderem wird auf
BGE 107 II 30
verwiesen (BBl 1988 III 988). Ebenso wird in der Literatur auf diese Praxis abgestellt. So führen verschiedene Autoren die unter altem Recht ergangenen Entscheide
BGE 107 II 30
und
BGE 111 II 326
im Zusammenhang mit der Darstellung des BGBB an (vgl. PETER TUOR/BERNHARD SCHNYDER, in: Tuor/Schnyder/Schmid/Rumo-Jungo, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 12. Aufl., Zürich 2002, S. 692 und 700; BRUNO BEELER, Bäuerliches Erbrecht gemäss dem Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht [BGBB] vom 4. Oktober 1991, Zürich 1998, S. 109). BENNO STUDER hält explizit fest, dass die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Kriterien für die Beurteilung der Eignung zur Selbstbewirtschaftung auch unter dem neuen Recht herangezogen werden können, da der alt- und der neurechtliche Begriff der Eignung zur Selbstbewirtschaftung identisch seien (BENNO STUDER, Das bäuerliche Bodenrecht, Kommentar zum Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht vom 4. Oktober 1991, Brugg 1995, N. 21 zu
Art. 11 BGBB
). Unter Berücksichtigung dieser Umstände kann die Rechtsprechung zu Art. 620 ff. aZGB unter dem BGBB unverändert berücksichtigt werden (vgl. dazu auch Urteil 5A.17/2006 vom 21. Dezember 2006, E. 2.4.1).
3.1.3
In der Lehre wird die Auffassung, dass die Nachkommenschaft ein Kriterium für die Beurteilung der Eignung zur Selbstbewirtschaftung darstellen kann, weitgehend geteilt.
BGE 134 III 586 S. 590
Die beiden Entscheide
BGE 107 II 30
und
BGE 111 II 326
wurden von BERNHARD SCHNYDER kommentiert (Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1981, bzw. 1985, in: ZBJV 119/1983 S. 90 f. und ZBJV 123/1987 S. 124 f.). Seiner Ansicht nach sind die Entscheide zu begrüssen, sie würden jedoch auch zeigen, wie sehr die ratio legis eines Gesetzes zum Ergebnis führen könne, dass Ausnahmebestimmungen nicht restriktiv interpretiert werden müssen.
EDUARD HOFER hält fest, dass unter Berücksichtigung des Zwecks des Selbstbewirtschaftungsprinzips und der Wahrung der Kontinuität des Gewerbes Tätigkeiten anderer Familienmitglieder bei der Beurteilung der Eignung berücksichtigt werden sollen (EDUARD HOFER, Das bäuerliche Bodenrecht, Kommentar zum Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht vom 4. Oktober 1991, Brugg 1995, N. 36 zu
Art. 9 BGBB
). Diese Meinung stützt auch BRUNO BEELER. Er führt zur Eignung zur Selbstbewirtschaftung aus, dass eine ungenügende Ausbildung des Ansprechers durch die entsprechende Ausbildung eines Familiengenossen kompensiert werden könne. Weiter könne ein eigenes Manko des Bewerbers, wie fortgeschrittenes Alter oder fragliche körperliche Fähigkeiten, durch die Unterstützung jüngerer Familienmitglieder behoben werden (BRUNO BEELER, a.a.O., S. 109).
Anzumerken ist, dass auch in der Botschaft des Bundesrates zum BGBB festgehalten wird, dass die Fähigkeiten anderer Familienmitglieder, bspw. der Kinder, bei der Beurteilung der Eignung beizuziehen sind. Eine Umschreibung, welche nur die Fähigkeiten des Ehegatten berücksichtigt, sei zu eng (BBl 1988 III 988).
3.1.4
Nach dem Gesagten kann die Nachkommenschaft ein Kriterium für die Beurteilung der Eignung zur Selbstbewirtschaftung im Rahmen von Art. 11 Abs. 1 i.V.m.
Art. 9 Abs. 2 BGBB
darstellen. Dem Zweck des Selbstbewirtschafterprinzips - Festigung des Grundbesitzes des Bauern - wird dadurch Rechnung getragen.
Mit der Berücksichtigung des Umstands, dass der Beschwerdegegner 1 einen zur Übernahme geeigneten Sohn hat, haben die Vorinstanzen bei der Beurteilung der Eignung zur Selbstbewirtschaftung kein Bundesrecht verletzt. | de |
36fa85cc-64dc-42eb-97a8-1179bbb7234e | Sachverhalt
ab Seite 165
BGE 111 Ia 164 S. 165
Am 16. Juni 1983 legte der Gemeindevorstand Y. zuhanden der Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 eine Vorlage auf Revision des Zonenplanes und des kommunalen Baugesetzes vor. Vorgängig wurde der Zonenplanentwurf im Sinne von Art. 37 des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973 (KRG) aufgelegt, und es wurde den Interessierten Gelegenheit gegeben, Einsprache zu erheben. Die Zonenplanvorlage des Gemeindevorstandes enthielt mit Bezug auf das Grundstück von X. keine Änderungen gegenüber dem Zonenplan 1978. X. sah sich deshalb nicht veranlasst, Einsprache zu erheben. Anlässlich der Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 wurde jedoch aus dem Schoss der Versammlung der Antrag gestellt, das bisher der Zone W2, zweite Etappe, zugeteilte Gebiet im "Holäwäg" sei in die Landwirtschaftszone um- bzw. auszuzonen. Die Gemeindeversammlung entsprach diesem Antrag mit 40 gegen 20 Stimmen.
Gegen diesen Beschluss erhob nebst anderen X. Beschwerde bei der Regierung des Kantons Graubünden. Er machte unter anderem geltend, der Umzonungsbeschluss sei auf undemokratische und dem Sinn des Gesetzes widersprechende Art zustande gekommen. Die Regierung des Kantons Graubünden wies die Beschwerde am 21. Mai 1984 ab und genehmigte gleichzeitig den Zonenplan "Überlandquart" vom 24. Juni 1983.
Eine gegen diesen Entscheid von X. erhobene staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer macht in formeller Hinsicht in erster Linie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend. Er führt aus, es habe für ihn kein Anlass bestanden, sich im Rahmen
BGE 111 Ia 164 S. 166
des in
Art. 37 KRG
vorgesehenen Vernehmlassungsverfahrens zu äussern, da die Vorlage des Gemeindevorstandes für sein Grundstück keine Umzonung vorgesehen habe. Indem die Leitung der Gemeindeversammlung die definitive Abstimmung nach dem Umzonungsantrag nicht verschoben habe, um den durch die Planungsmassnahme allenfalls Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, seien die in Art. 4 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) und
Art. 37 KRG
garantierten Mitwirkungsrechte an der Planung nicht gewährleistet worden.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (
BGE 109 Ia 5
;
BGE 106 Ia 73
/74 E. 2, je mit Hinweisen). Die entsprechenden Rügen sind deshalb vorweg zu prüfen. Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben, deren Auslegung und Anwendung das Bundesgericht unter dem Gesichtswinkel der Willkür prüft. Wo sich dieser kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgenden Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten. Ob der unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgende Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ist, prüft das Bundesgericht frei (BGE
BGE 110 Ia 85
E. 3b mit Hinweisen).
b) Gemäss
Art. 37 KRG
ist für den Erlass und die Änderung von Zonenplänen unter Vorbehalt der Genehmigung durch die Regierung die Gemeinde zuständig. Der Gemeindevorstand hat die Stimmberechtigten vor der Abstimmung angemessen zu orientieren und den Interessierten zu ermöglichen, Wünsche und Anträge einzureichen. Orientierungs- und Eingabemöglichkeiten sind in geeigneter und ortsüblicher Weise bekanntzugeben. In Ausführung dieser Bestimmung verlangt Art. 7 des Baugesetzes der Gemeinde Y. von 1978/83, dass Erlass und Änderung von Zonenplänen während 30 Tagen öffentlich aufzulegen und Einsprachen innert dieser Frist einzureichen sind. Die Bestimmung besagt ausdrücklich, dass Zonenplanänderungen der Abstimmung in der Gemeindeversammlung unterliegen. Der Beschwerdeführer bestreitet zu Recht nicht, dass in dieser Versammlung grundsätzlich beliebige Änderungsanträge gegenüber der Vorlage der Gemeindeexekutive
BGE 111 Ia 164 S. 167
gestellt werden können. Auch behauptet er nicht, dass das Verfahren in der Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 abstimmungsrechtlich nicht in Ordnung gewesen sei.
Aus dem Wortlaut von
Art. 37 KRG
lassen sich keine Anhaltspunkte für das Vorgehen in Fällen finden, in denen der Antrag auf Umzonung einer Parzelle erstmals in der Gemeindeversammlung gestellt wird. Insbesondere fehlt jeder Hinweis darauf, dass unter diesen Voraussetzungen vor der definitiven Beschlussfassung durch die Versammlung eine nochmalige Planauflage mit Einspracherecht zu erfolgen hätte, wie dies der Beschwerdeführer verlangt. Klarerweise wird aber mit
Art. 37 KRG
bezweckt, im Planungsverfahren das rechtliche Gehör der betroffenen Grundeigentümer zu sichern. Deshalb kann nicht schlechthin ausgeschlossen werden, dass in gewissen Fällen die definitive Beschlussfassung in der Gemeindeversammlung auszusetzen ist, um die betroffenen Grundeigentümer vorgängig über die beabsichtigte Planänderung zu informieren und individuell anzuhören. Dieses Vorgehen würde sich jedenfalls dann aufdrängen, wenn es sich bei den Betroffenen um ausserhalb der Gemeinde wohnhafte Grundeigentümer handeln würde. Andernfalls wären diese Auswärtigen des Rechts, sich vor einer Planfestsetzung zu äussern, beraubt, da sie als Nichtstimmberechtigte weder an der Gemeindeversammlung mitwirken noch auf diese Einfluss nehmen könnten. Ob in diesen Fällen kantonales oder kommunales Recht eine Wiederholung des Auflageverfahrens erfordert oder ob das rechtliche Gehör der Betroffenen, zumindest wenn es sich nur um wenige Grundeigentümer handelt, durch ein anderes geeignetes Vorgehen gewährleistet werden kann, ist nicht zu entscheiden, da im hier zu beurteilenden Fall wesentlich andere Verhältnisse vorliegen. Der Beschwerdeführer ist nämlich in der Gemeinde Y. stimmberechtigt, hat an der fraglichen Gemeindeversammlung teilgenommen und sich unbestrittenermassen in einem Diskussionsvotum mit dem aus der Mitte der Versammlung gestellten Antrag auf Zuweisung seiner Liegenschaft zur Landwirtschaftszone auseinandergesetzt. Er konnte sich damit vor der beschlussfassenden Legislative äussern und hat von diesem Recht auch tatsächlich Gebrauch gemacht.
Der Beschwerdeführer wendet zwar ein, mangels Planauflage sei ihm die Möglichkeit genommen worden, "in aller Ruhe in einer schriftlichen Eingabe" zunächst dem Gemeindevorstand zuhanden der Versammlung die Gründe darzulegen, welche gegen die Auszonung seiner Parzelle sprächen. Die Regierung des Kantons
BGE 111 Ia 164 S. 168
Graubünden weist aber in ihrem Entscheid, gestützt auf die Vernehmlassung der Gemeinde Y., darauf hin, dass der betreffende Umzonungsantrag in der Gemeinde allgemein erwartet wurde, da die Unzufriedenheit über die seinerzeitige Einzonung des "Holäwäg" schon vor der Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 laut geworden sei. Dies konnte dem Beschwerdeführer bei den überschaubaren Verhältnissen einer kleineren Gemeinde wie Y. nicht entgangen sein, zumal er früher das Amt des Gemeindepräsidenten bekleidet hatte. Bei dieser Sachlage kann keine Rede davon sein, er habe sich "völlig unvorbereitet" mit dem Antrag in der Gemeindeversammlung auseinandersetzen müssen, wie dies X. ohne irgendwelche nähere Substantiierung erstmals vor Bundesgericht behauptet.
Aufgrund dieser Erwägungen erweist sich die Auffassung der Regierung des Kantons Graubünden, es habe unter dem Gesichtswinkel von
Art. 37 KRG
auf eine nochmalige Planauflage verzichtet werden können, als sachlich vertretbar.
c) Der Beschwerdeführer kann auch aus dem unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgenden minimalen bundesrechtlichen Gehörsanspruch nichts weiteres für sich herleiten. Dieser Anspruch umfasst nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung das Recht des betroffenen Grundeigentümers, bei einer Änderung des kommunalen Zonenplans individuell angehört zu werden, bevor über die Zuteilung seines Grundstücks definitiv entschieden wird (
BGE 107 Ia 273
ff. mit Hinweisen). Dieses Recht war X. in der Gemeindeversammlung aber gegeben, wie oben ausgeführt wurde.
d) X. versucht schliesslich, ein Recht auf Aussetzung der Abstimmung in der Gemeindeversammlung und Durchführung eines erneuten Planauflage- und Einspracheverfahrens aus den Bestimmungen von
Art. 4 Abs. 1 und 2 RPG
abzuleiten. Danach haben die mit Planungsaufgaben betrauten Behörden die Bevölkerung über Ziele und Ablauf der Planungen nach diesem Gesetz zu unterrichten; sie haben dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung bei Planungen in geeigneter Weise mitwirken kann. Es handelt sich dabei um Gesetzgebungsaufträge an die Kantone und allenfalls die Gemeinden. Das bundesrechtlich geforderte Minimum besteht u.a. darin, Vorschläge entgegenzunehmen, Planentwürfe zu allgemeiner Ansichtsäusserung freizugeben und in beiden Fällen Vorschläge und Einwände materiell zu beantworten. Damit stehen diese Bestimmungen in erster Linie im Dienste der Sachaufklärung und der Mitwirkung der Bevölkerung an der Planung als politischem
BGE 111 Ia 164 S. 169
Prozess. Sie bezwecken, den Planungsprozess den Anforderungen des demokratischen Rechtsstaates anzupassen. Ihre Bedeutung erhalten sie vor allem da, wo der individuelle Rechtsschutz die Beteiligungsrechte der Bevölkerung nicht zu gewährleisten vermag (vgl. EJPD/BRP, Erläuterungen zum Bundesgesetz über die Raumplanung, Bern 1981, Art. 4 N. 1-12 mit zahlreichen Hinweisen).
Zwar können einzelne Modalitäten des individuellen Rechtsschutzes wie das Auflagegebot für Nutzungspläne gemäss
Art. 33 Abs. 1 RPG
zugleich der Sachaufklärung der Bevölkerung im Sinne von
Art. 4 RPG
dienen (vgl. EJPD/BRP, a.a.O., Art. 33 Abs. 1 N. 6). Der Rechtsschutz selber wird aber bundesrechtlich durch die
Art. 33 und 34 RPG
und den unmittelbar aus
Art. 4 BV
folgenden Gehörsanspruch gewährleistet. Ein darüber hinausgehender Anspruch lässt sich aus
Art. 4 RPG
jedenfalls für den vorliegenden Fall nicht ableiten. Die Rüge der Verletzung dieser Bestimmung erweist sich demnach ebenfalls als unbegründet. | de |
2657a4cf-9547-4ccb-a051-3ec6c303df7f | Sachverhalt
ab Seite 582
BGE 131 III 581 S. 582
A.
Die Dr. O.K. Wack Chemie GmbH mit Sitz in Ingolstadt in Deutschland (Klägerin) entwickelte einen Komplettreiniger für Motorräder, den sie seit 1980 unter der Bezeichnung S100 in Deutschland vertrieb. Später dehnte sie ihr Angebot auf Produkte wie Korrosionsschutz-Mittel, Hochglanzpolitur, Kettenspray und dergleichen aus. Hinzu kamen weitere Absatzmärkte, wie die Schweiz, Österreich, die Niederlande, Grossbritannien, Australien und Südafrika.
Seit 1984 exportierte die Gesellschaft ihr Produkt S100 auch in die USA, wo die Brookside Import Specialities Inc. mit Sitz in Branford (Beklagte) den Vertrieb übernahm. Diese liess in der Folge das Zeichen S100 in den USA und Kanada mit Zustimmung der Klägerin auf ihren eigenen Namen als Marke eintragen.
Im Jahre 1992 beendeten die Parteien ihre Zusammenarbeit wegen schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten. Die Beklagte liess den Motorradreiniger fortan bei einem deutschen Konkurrenzunternehmen der Klägerin herstellen. Am 9. März 1992 wurde das Zeichen S100 vom US-Patent- und Markenamt als Marke der Beklagten für definitiv erklärt. Die Eintragung wurde am 17. Mai 2000 rechtskräftig.
Beide Parteien meldeten unabhängig voneinander im Oktober 1994 die Marke S100 in Deutschland an. Während die Marke der Beklagten gelöscht wurde, wurde die von der Klägerin hinterlegte Marke gemäss Entscheiden des Bundespatentgerichtes vom 12. Dezember 2000 und des Bundesgerichtshofes vom 30. Oktober 2003 definitiv eingetragen.
In der Schweiz wurde das Zeichen S100 am 11. Mai 1998 von der Beklagten mit Erfolg zur Eintragung als Marke angemeldet. Als die Klägerin später die gleiche Marke ebenfalls zur Eintragung anmeldete, erhob die Beklagte am 4. September 2002 gestützt auf ihre früher erfolgte Hinterlegung Widerspruch. Das Widerspruchsverfahren ist zur Zeit noch hängig.
BGE 131 III 581 S. 583
B.
Mit der am 7. August 2003 beim Handelsgericht des Kantons Bern eingereichten Klage stellte die Klägerin die Begehren, die Schweizer Marke der Beklagten nichtig zu erklären sowie dieser zu verbieten, die Bezeichnung S100 als Marke zu verwenden, und schliesslich die Beklagte zu verpflichten, das Urteil in zwei Zeitschriften zu publizieren.
Mit Urteil vom 16. November 2004 wies das Handelsgericht des Kantons Bern die Klage ab. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass sich die Klägerin nicht auf Markenschutz berufen könne, weil weder die Voraussetzungen von Art. 3 (ältere Marke der Klägerin) noch von
Art. 4 MSchG
(Agentenmarke der Beklagten) gegeben seien. Ebenfalls verneint wurde ein unlauteres Verhalten der Beklagten im Sinne von
Art. 2 und 3 lit. d UWG
.
C.
Die Klägerin hat gegen das Urteil des Handelsgerichts Berufung eingereicht, die vom Bundesgericht abgewiesen wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (
Art. 63 Abs. 2 OG
), dass die Zusammenarbeit zwischen den Parteien im Jahre 1984 ihren Anfang genommen hat, als die Klägerin begann, ihr Produkt S100 in die USA zu exportieren, und die Beklagte den Vertrieb in diesem Gebiet übernahm. Festgestellt ist sodann, dass die Beklagte das Zeichen S100 in den USA und Kanada als Marke auf ihren Namen eintragen liess und dass die Klägerin die Beklagte über die Zusammensetzung des Produktes S100 informierte. Festgestellt ist schliesslich, dass die von der Beklagten am 2. September 1986 für die USA angemeldete Marke am 9. März 1992 vom US-Patentamt für definitiv erklärt wurde und dass sowohl der District Court wie auch der United States Court of Appeals am 17. Mai 2000 bestätigt haben, dass die Beklagte die Marke kraft eigenen Rechts eingetragen hat.
In rechtlicher Hinsicht ist das Handelsgericht zum Ergebnis gekommen, dass der Schutzausschlussgrund von
Art. 4 MSchG
(SR 232.11) nicht gegeben sei. Es hält dazu fest, dass diese Bestimmung nur bei einem unmittelbaren und engen Zusammenhang insbesondere in zeitlicher und geographischer Hinsicht zwischen der Hinterlegung und dem Vertragsverhältnis zum Tragen kommen könne. Die Zusammenarbeit der Parteien habe indessen in erster Linie den
BGE 131 III 581 S. 584
amerikanischen Markt betroffen. Zudem habe die Markenhinterlegung rund sechs Jahre nach dem Ende der Zusammenarbeit stattgefunden. Schliesslich sei von den USA-Gerichten festgestellt worden, dass die Beklagte ihre Marke S100 kraft eigenen Rechts eingetragen habe.
2.2
Die Klägerin rügt, die Vorinstanz habe
Art. 4 MSchG
verletzt. Sie macht geltend, aus der für die USA rechtskräftig entschiedenen Tatsache der beklagtischen Inhaberschaft an der US-Marke S100 könne die Beklagte - entgegen der Meinung der Vorinstanz - aus Gründen des Territorialitätsprinzips nichts für die Situation in der Schweiz ableiten. Es könne nicht angehen, dass einem für die USA Nutzungsberechtigten trotz
Art. 4 MSchG
erlaubt werde, die Marke in Asien oder Europa registrieren zu lassen. Demgemäss setze
Art. 4 MSchG
keinen engen räumlichen Zusammenhang voraus. Die Bestimmung setze aber auch keinen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Zusammenarbeit zwischen berechtigtem und formellem Markeninhaber voraus. Auch nach der Beendigung dieser Zusammenarbeit, beispielsweise nach Wegfall der wohl meist für die Dauer der Zusammenarbeit erteilten Zustimmung, könne
Art. 4 MSchG
vom Markeninhaber angerufen werden.
2.3
Art. 4 MSchG
(Marginale: "Eintragung zugunsten Nutzungsberechtigter") hat den folgenden Wortlaut:
"Keinen Schutz geniessen ferner Marken, die ohne Zustimmung des Inhabers auf den Namen von Agenten, Vertretern oder anderen zum Gebrauch Ermächtigten eingetragen werden oder die nach Wegfall der Zustimmung im Register eingetragen bleiben."
Die Norm bezweckt den Schutz des Markeninhabers gegenüber einem Nutzungsberechtigten, der bloss zum Gebrauch der Marke ermächtigt ist. Solche Personen dürfen die Marke nur mit Zustimmung des besser Berechtigten auf ihren eigenen Namen eintragen und müssen, sobald die Zustimmung - beispielsweise wegen Beendigung der Zusammenarbeit - weggefallen ist, die Eintragung der Marke löschen lassen (Botschaft des Bundesrates vom 21. November 1990 zu einem Bundesgesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben, BBl 1991 I 1 ff., S. 22). Der Vertreter oder Agent soll sich nicht die Marke seines Geschäftsherrn eigenmächtig aneignen, wenn die Marke mit der vertraglichen Tätigkeit im Zusammenhang steht und vom Geschäftsherrn bereits früher in einem anderen Land gebraucht worden ist (WILLI, MSchG: Markenschutzgesetz, Zürich 2002, N. 2 zu
Art. 4 MSchG
). Die vom
BGE 131 III 581 S. 585
Gesetzgeber anvisierte besondere Konstellation setzt somit einen Vertrag voraus, der zwischen dem wirklichen und dem angemassten Inhaber der Marke bestanden hat oder noch besteht (LUCAS DAVID, Basler Kommentar, Markenschutzgesetz, Muster- und Modellgesetz, 2. Aufl., Basel 1999, N. 3 zu
Art. 4 MSchG
). Erforderlich ist ein Vertrag, der die Wahrung der geschäftlichen Interessen des Geschäftsherrn zum Inhalt hat und eine Ermächtigung zum Gebrauch einer fremden Marke (WILLI, a.a.O., N. 2, 6 und 7 zu
Art. 4 MSchG
).
Nach den Feststellungen der Vorinstanz betraf das im Jahre 1992 beendete Vertragsverhältnis der Parteien ausschliesslich die Tätigkeit der Beklagten im Gebiet der USA und Kanadas. Dass die Klägerin im Rahmen der vereinbarten Zusammenarbeit mit der Beklagten auch eine Ermächtigung für den Gebrauch des Zeichens S100 in der Schweiz erteilt hätte, ist dagegen im angefochtenen Entscheid nicht festgestellt. Daran ändert nichts, dass die Klägerin davon Kenntnis hatte, dass die Beklagte die S100-Produkte über das internationale Harley-Davidson-Netz auch in der Schweiz vertreiben liess. Denn selbst wenn diese Zeichenverwendung von der Klägerin geduldet worden wäre, hätte sie nicht auf einer vertraglichen Ermächtigung beruht. Die Vorinstanz hat somit die Anwendbarkeit von
Art. 4 MSchG
mangels einer vertraglichen Verpflichtung der Beklagten zur Wahrung der Interessen der Klägerin in der Schweiz im Ergebnis zu Recht verneint. Soweit die Vorinstanz mit einer anderen Begründung zum gleichen Ergebnis gelangt ist, braucht ihr Entscheid und die von der Klägerin dagegen erhobene Kritik vom Bundesgericht nicht überprüft zu werden. | de |
746c939f-798c-4184-aa57-7002f6375e7b | Die kantonale Instanz darf mit den von ihr angebrachten Gegenbemerkungen weder fehlende Urteilsgründe ersetzen noch vorhandene Erwägungen ihres Entscheides ergänzen (Erw. 1).
2.
Art. 64 Abs. 5 StGB
. Tätige Reue.
Aufrichtige Reue verlangt vom Täter ein Verhalten, das eine besondere Anstrengung darstellt und deutlich mit dem beurteilten Delikt in Zusammenhang steht, als durch dieses veranlasst erscheint und nicht bloss auf taktischen Gründen beruht (Erw. 2).
Sachverhalt
ab Seite 306
BGE 98 IV 305 S. 306
A.-
Am 19. Januar 1972 verurteilte das Kantonsgericht Schaffhausen X. wegen fortgesetzter und wiederholter Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und wegen Diebstahls im Betrag von DM 20.- zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von 50 Tagen.
X. focht dieses Urteil mit der Berufung an das Obergericht des Kantons Schaffhausen an, wobei er u.a. geltend machte, es sei als tätige Reue strafmildernd zu bewerten, dass er seit einem Jahr als Mitgleid der "Hydra" drogenfrei lebe und nun sein Dasein unter Verzicht auf erhebliche ökonomische Vorteile und finanziellen Erfolg als Berufsarbeiter in den Kampf gegen die Droge gestellt habe.
Am 2. Juni 1972 bestätigte das Obergericht den erstinstanzlichen Entscheid. Es verneinte dabei das Vorliegen tätiger Reue mit der Begründung, dass diese nach
Art. 22 Abs. 2 StGB
nur gegeben sei, wenn der Täter aus eigenem Antrieb zum Nichteintritt des Erfolgs beigetragen oder den Eintritt des Erfolgs verhindert habe. Letzteres bedeute aber, dass der Täter den Erfolg seiner deliktischen Tätigkeit verhindert haben müsse. Auf X. treffe das nicht zu. Den Schaden, den er bei seinen jungen Kollegen verursacht habe, indem er sie zum Drogenkonsum verleitete und möglicherweise in die Drogenabhängigkeit geführt habe, könne er an diesen Geschädigten nicht gutmachen. Von tätiger Reue könne deshalb nicht die Rede sein.
B.-
Mit Nichtigkeitsbeschwerde wirft X. dem Obergericht vor, es habe zu Unrecht unter Hinweis auf
Art. 22 Abs. 2 StGB
angenommen, tätige Reue liege nur vor, wenn jemand aus eigenem Antrieb zum Nichteintritt des Erfolgs beigetragen oder den Eintritt des Erfolgs verhindert habe; diese Auffassung sei zu eng und gehe aus vom unvollendeten Delikt (
Art. 22 StGB
); er habe jedoch die Anwendung von
Art. 64 StGB
verlangt; auch in der mündlichen Eröffnung habe der Präsident des Obergerichtes Gewicht darauf gelegt, dass der Beschwerdeführer
BGE 98 IV 305 S. 307
nicht aus eigenem Antrieb gehandelt habe; darauf komme jedoch nach
Art. 64 StGB
nichts an; im übrigen bekunde ein junger, schwer drogenabhängiger Mann, der sich aufraffe, ohne Drogen zu leben, und sich einer Organisation im Kampf gegen die verbotenen Drogen zur Verfügung stelle, tätige Reue.
Mit Eingabe vom 17. Oktober 1972 teilte das Obergericht dem Bundesgericht mit, dass bei der Urteilsredaktion ein Versehen unterlaufen sei, das es im Sinne einer Erläuterung folgendermassen richtigstellen wolle: Der Anwalt des Beschwerdeführers habe im kantonalen Verfahren den Strafmilderungsgrund der tätigen Reue nach
Art. 64 StGB
angerufen, und das Obergericht habe bei der Urteilsberatung geprüft, ob das Verhalten von X. nach Vollendung der Rauschgiftdelikte die Anwendung des Strafmilderungsgrundes der tätigen Reue zu rechtfertigen vermöge. Die Frage sei verneint worden, weil die vom Beschwerdeführer behauptete Drogenabstinenz als solche keine tätige Reue darstelle. Die ebenfalls geltend gemachte Mitarbeit im "Sozialpädagogischen Kollektiv der Hydra" habe es nach
Art. 64 StGB
ebenfalls nicht berücksichtigen können, da keinerlei konkrete Angaben über die Bekämpfung des Drogenkonsums vorgebracht und glaubhaft gemacht worden seien.
Am 25. Oktober 1972 ersuchte der Beschwerdeführer das Bundesgericht, auf die Eingabe des Obergerichtes vom 17.Oktober 1972 nicht einzutreten. Nach der Schaffhauser StPO bestehe keine Möglichkeit, ein Urteil zu erläutern. Der Brief sei im übrigen ausser durch den Obergerichtspräsidenten durch den Obergerichtsschreiber unterzeichnet worden, der jedoch an der Berufungsverhandlung, der Urteilsberatung und der mündlichen Urteilseröffnung nicht zugegen gewesen sei und deshalb auch nicht bestätigen könne, dass der ad hoc beigezogenen Urteilsredaktorin ein Redaktionsversehen unterlaufen sei. Zudem bestehe ein erheblicher Widerspruch zwischen der mündlichen Eröffnung und dem Schreiben vom 17. Oktober 1972.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen beantragt Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Zur Entscheidung der Frage, ob die in der Eingabe des Obergerichtes vom 17. Oktober 1972 enthaltenen Vorbringen bei der Urteilsfindung durch den Kassationshof berücksichtigt werden dürfen oder nicht, ist davon auszugehen, dass
Art. 274
BGE 98 IV 305 S. 308
BStP
der kantonalen Instanz das Recht einräumt, Gegenbemerkungen zur Beschwerde einzureichen. Wie jedoch das Bundesgericht schon bei früherer Gelegenheit entschieden hat, können durch diese Gegenbemerkungen weder fehlende Urteilsgründe ersetzt noch die vorhandenen Erwägungen ergänzt werden. Die Parteien müssen nach
Art. 272 Abs. 2 BStP
an Hand der ihnen mitgeteilten Begründung zum Entscheid Stellung nehmen können, um darnach gemäss
Art. 273 Abs. 1 BStP
ihren Antrag zu stellen und diesen zu begründen, d.h. anzugeben, welche Punkte des Entscheides angefochten werden und welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie verletzt seien (nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember 1958 i.S. Engeli). Was das Obergericht im vorliegenden Fall in seinen - übrigens nicht gleichzeitig mit der Beschwerde und ihrem Entscheid (
Art. 274 BStP
), sondern erst nachträglich - eingesandten Gegenbemerkungen ausführt, geht über den Rahmen blosser Erläuterungen der im Urteil enthaltenen Gründe hinaus. Die Vorinstanz macht geltend, sie sei in der Urteilsberatung zu einer Verneinung des Strafmilderungsgrundes gelangt, weil sie die von der Verteidigung behauptete Drogenabstinenz als solche schon nicht als tätige Reue gemäss
Art. 64 StGB
gewertet habe. Auch habe sie die Mitarbeit von X. im "Sozialpädagogischen Kollektiv der Hydra" nicht als tätige Reue anerkennen können, weil keine konkreten Angaben über die Bekämpfung des Drogenkonsums vorgebracht und glaubhaft gemacht worden seien. Hievon ist jedoch im angefochtenen Urteil, das eine ganz andere Begründung enthält, mit keinem Wort die Rede. Diese in der Eingabe des Obergerichtes vom 17. Oktober 1972 enthaltenen Vorbringen müssen deshalb unbeachtet bleiben. Anders kann es sich dagegen bezüglich der Behauptung verhalten, es sei bei der Zitierung einer Gesetzesbestimmung ein Versehen unterlaufen. Soweit es sich dabei um einen Hinweis auf einen offensichtlichen Verschrieb handelt, hat die Rechtsprechung ihn bis anhin berücksichtigt. Ob im vorliegenden Fall dem Vorbringen der Vorinstanz dieser Charakter zukommt, wird im Zusammenhang mit der Überprüfung der im angefochtenen Urteil enthaltenen Begründung zu entscheiden sein. Unter Vorbehalt der Annahme eines solchen Versehens wird daher der Kassationshof nach dem Gesagten aufgrund der Erwägungen zu entscheiden haben, die im angefochtenen Urteil selber enthalten sind.
2.
Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich, dass der
BGE 98 IV 305 S. 309
Beschwerdeführer im Verfahren vor Obergericht den Strafmilderungsgrund der aufrichtigen Reue geltend gemacht und sich dabei auf sein Verhalten nach der Tat berufen hat. Da er vom Obergericht nur wegen vollendeter Delikte verurteilt worden ist, können die Erwägungen der Vorinstanz, die sich mit jenen Vorbringen von X. befassen, an sich vernünftigerweise auch nur den Strafmilderungsgrund im Sinne des
Art. 64 Abs. 5 StGB
zum Gegenstand haben. Das gilt zweifellos für die Erwägung auf Seite 12 des Urteils, wo das Obergericht feststellt, der Beschwerdeführer habe zur Begründung seines Antrags "auf eine Reduktion der vom Kantonsgericht ausgesprochenen Strafe im Sinne einer Strafmilderung gemäss
Art. 22 StGB
" seine tätige Reue angeführt. Hier liegt in der Zitierung des
Art. 22 StGB
ein offensichtliches Versehen, das ohne weiteres berichtigt werden kann. Dagegen muss der auf Seite 13 des angefochtenen Urteils enthaltene Hinweis auf
Art. 22 Abs. 2 StGB
nicht notwendig als Versehen bewertet werden. Vielmehr könnte er nach dem Zusammenhang auch dahin verstanden werden, dass dieVorinstanz zur Auslegung von
Art. 64 Abs. 5 StGB
die Bestimmung des
Art. 22 Abs. 2 StGB
hatte heranziehen wollen. Wie es sich damit tatsächlich verhält, braucht indessen nicht entschieden zu werden, weil die Begründung der Vorinstanz in keinem Fall standhält. So gehen die rechtlichen Erwägungen in diesem Punkte an der Tatsache vorbei, dass
Art. 64 Abs. 5 StGB
anders als
Art. 22 Abs. 2 StGB
bloss von der Betätigung aufrichtiger Reue spricht, ohne ein Handeln aus eigenem Antrieb zu verlangen. Wohl hat der Kassationshof in
BGE 73 IV 160
Erw. 2 als Beispiel aufrichtiger Reue u.a. das Verhalten des Diebes erwähnt, der dem Bestohlenen die Sache "aus eigenem Antrieb" zurückbringt. Damit wollte jedoch nicht für alle Fälle der eigene, innere Antrieb des Handelns als zwingende Voraussetzung aufrichtiger Reue bezeichnet werden. In der Regel wird hierin zwar ein entscheidendes Merkmal reuigen Verhaltens zu erblicken sein. Je nach den Umständen des Falles kann indessen aufrichtige Reue auch der Täter bekunden, der von dritter Seite dazu veranlasst worden ist (nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes i.S. Schuppli vom 11. März 1970). Des weiteren verkennt der angefochtene Entscheid, dass
Art. 64 Abs. 5 StGB
von der Vollendung der Tat ausgeht und daher nicht die Verhinderung des Erfolgs der eigenen deliktischen Tätigkeit voraussetzt. Auch verlangt die genannte Bestimmung nicht, dass
BGE 98 IV 305 S. 310
aufrichtige Reue in jedem Fall durch Wiedergutmachung des gerade dem Geschädigten zugefügten Schadens bekundet werden müsse. Soweit das Gesetz die zumutbare Leistung von Schadenersatz erwähnt, geschieht dies im Sinne eines Beispiels. Dieses ist zwar als Hinweis darauf zu werten, dass im Regelfall der Täter seine aufrichtige Reue durch Wiedergutmachung des durch die strafbare Handlung angerichteten Schadens bekunden muss. Wo solches aber nicht möglich ist, bleibt nach Wortlaut und Sinn der Bestimmung auch für eine andere Art reuigen Verhaltens Raum, das nicht unmittelbar auf den Geschädigten Bezug haben muss. Voraussetzung ist bloss, dass es deutlich mit dem beurteilten Delikt in Zusammenhang steht, als durch dieses veranlasst erscheint und nicht bloss auf taktischen Gründen beruht; denn aufrichtige Reue verlangt vom Täter eine besondere Anstrengung, zu der er sich nicht nur vorübergehend und unter dem Druck eines drohenden oder hängigen Strafverfahrens herbeilässt (
BGE 96 IV 110
). Es ist deshalb denkbar, dass ein Motorfahrzeugführer, der in angetrunkenem Zustand einen Fussgänger, der keine näheren Angehörigen hatte, überfahren und getötet hat, seine Reue über die Tat dadurch bekundet, dass er sich nicht nur zur Abstinenz verpflichtet - was nach
Art. 64 Abs. 5 StGB
nicht genügen würde -, sondern überdies seine Kräfte unter Erbringung persönlicher Opfer für längere Zeit einer Organisation zur Verfügung stellt, die sich die Betreuung und Resozialisierung von Alkoholikern zur Aufgabe gemacht hat.
Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz aufrichtige Reue verneint, weil der Beschwerdeführer den Schaden, den er bei seinen jungen Kollegen verursacht habe, indem er sie zum Drogenkonsum verleitet und möglicherweise in die Drogenabhängigkeit geführt habe, an diesen Geschädigten nicht gutmachen könne. Diese Unmöglichkeit schliesst nach dem Gesagten die Bekundung aufrichtiger Reue nicht zum vorne herein aus. Die Vorinstanz durfte deshalb in ihrem Urteil über das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht hinweggehen, wonach dieser seit einem Jahr drogenfrei gelebt und unter Verzicht auf ein einträgliches Einkommen seine ganze Existenz als Mitglied der "Hydra" in den Kampfgegen die Droge gestellt habe. Denn ähnlich wie in dem zuvor erwähnten Beispiel des angetrunkenen Motorfahrzeugführers wird man auch im Fall eines drogensüchtigen Täters, der andere zum Drogenkonsum
BGE 98 IV 305 S. 311
veranlasst hat, als Betätigung aufrichtiger Reue gelten lassen m üssen, wenn er aus innerer Umkehr und nicht bloss aus taktischen Gründen sich während längerer Dauer von den Drogen abgewendet hat und ernsthaft am Kampf gegen den Drogenmissbrauch teilnimmt. Dabei genügt freilich nicht schon der Anschluss an irgend eine Organisation, die vorgibt, Drogensüchtige von ihrem Übel befreien und einer gesunden Lebensweise zuführen zu wollen. Ein solches Unternehmen muss das Vertrauen verdienen, das angegebene Ziel ernsthaft anzustreben. Entscheidend ist aber in jedem Fall das Verhalten des Täters selbst. Leistet er unter eigenen Opfern während längerer Zeit nützliche Arbeit in der Bekämpfung der Drogensucht und bekundet er damit seine Reue über die begangene Tat, dann steht der Annahme des Milderungsgrundes von
Art. 64 Abs. 5 StGB
nichts im Wege.
Da sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ergibt, wie es sich diesbezüglich im vorliegenden Fall verhalten hat, ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Frage der aufrichtigen Reue im Sinne der vorgenannten Erwägungen prüfe. Sollte sie dabei zum Ergebnis gelangen, dass der Beschwerdeführer durch sein Verhalten nach der Tat aufrichtige Reue bekundet hat, so wäre sie deswegen noch nicht ohne weiteres zur Herabsetzung der Strafe nach
Art. 65 StGB
verpflichtet. Denn
Art. 64 StGB
stellt es ins Ermessen des Sachrichters, ob er bei Vorliegen gewisser in dieser Bestimmung aufgezählter Voraussetzungen die Strafe mildern will (
BGE 97 IV 81
). | de |
3eb36367-0af4-4cd5-8fa7-4d942129cb60 | Sachverhalt
ab Seite 484
BGE 126 V 484 S. 484
A.-
Der 1928 geborene G. ist bei der Visana obligatorisch krankenversichert. Er ist bevormundet. Die Vormundschaft wird von der Einwohnergemeinde X im Kanton Solothurn geführt. Diese hat E. als Vormund ernannt.
G. hält sich seit 1979 als Pensionär im Heim Y im Kanton Bern auf und ist leicht pflegebedürftig. Bis Ende 1996 hat die Visana einen Pflegeheimbeitrag von 30 Franken pro Tag ausgerichtet, wie er im Kanton Bern für leichte Pflegebedürftigkeit gilt. Ab 1. Januar 1997 gestand sie ihm nur noch den Pflegeheimbeitrag des Kantons Solothurn für leichte Pflegebedürftigkeit von 11 Franken pro Tag zu.
Nach Interventionen des Vormunds des Versicherten erliess die Visana am 8. Juni 1998 eine Verfügung, wonach für den Aufenthalt von G., mit gesetzlichem Wohnsitz in X (Kanton Solothurn), im Heim Y (Kanton Bern), ab 1. Januar 1997 bis auf weiteres der Pflegeheimbeitrag des Kantons Solothurn entsprechend der jeweiligen Pflegebedarfsstufe erbracht werde. An diesem Standpunkt hielt die Krankenkasse mit Einspracheentscheid vom 17. Juli 1998 fest.
BGE 126 V 484 S. 485
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher der Vormund des Versicherten ab 1. Januar 1997 bis auf weiteres die Ausrichtung des Pflegeheimbeitrages des Kantons Bern entsprechend der jeweiligen Pflegebedarfsstufe beantragen liess, hat das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 21. Mai 1999 gutgeheissen.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Visana die Aufhebung des Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn.
Der Vormund des Versicherten und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig und zu prüfen ist, welche Leistungen die Visana dem Beschwerdegegner an den Aufenthalt im Heim Y zu entrichten hat. Unbestritten ist dabei die Einstufung in die Kategorie der leichten Pflegebedürftigkeit.
2.
Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt nach
Art. 24 KVG
die Kosten für die Leistungen gemäss den
Art. 25-31 KVG
nach Massgabe der in den
Art. 32-34 KVG
festgelegten Voraussetzungen. Die Leistungen umfassen u.a. Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen, die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durchgeführt werden von Ärzten oder Ärztinnen, Chiropraktoren oder Chiropraktorinnen und Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (
Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG
).
Nach
Art. 41 Abs. 1 KVG
können die Versicherten unter den zugelassenen Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind, frei wählen (Satz 1). Bei ambulanter Behandlung muss der Versicherer die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der am Wohn- oder Arbeitsort der versicherten Person oder in deren Umgebung gilt (Satz 2). Bei stationärer oder teilstationärer Behandlung muss der Versicherer die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton der versicherten Person gilt (Satz 3). Beanspruchen Versicherte aus medizinischen Gründen einen anderen Leistungserbringer, so richtet sich laut
Art. 41 Abs. 2 KVG
die Kostenübernahme nach dem Tarif, der für diesen Leistungserbringer gilt (Satz 1). Medizinische Gründe liegen bei einem Notfall vor oder wenn die erforderlichen Leistungen
BGE 126 V 484 S. 486
bei ambulanter Behandlung am Wohn- oder Arbeitsort der versicherten Person oder in deren Umgebung (Satz 2 lit. a), bei stationärer oder teilstationärer Behandlung im Wohnkanton oder in einem auf der Spitalliste des Wohnkantons aufgeführten ausserkantonalen Spital nicht angeboten werden (Satz 2 lit. b).
Bei Aufenthalt in einem Pflegeheim (
Art. 39 Abs. 3 KVG
) vergütet der Versicherer gemäss
Art. 50 KVG
die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause.
3.
Die Visana stellte sich in ihrer Verfügung vom 8. Juni 1998 und im Einspracheentscheid vom 17. Juli 1998 im Wesentlichen auf den Standpunkt, der Versicherer müsse bei stationärer oder teilstationärer Behandlung gemäss
Art. 41 Abs. 1 KVG
die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton der versicherten Person gelte. Bevormundete hätten ihren Wohnsitz laut
Art. 25 Abs. 2 ZGB
am Sitz der Vormundschaftsbehörde. Da sich der gesetzliche Wohnsitz des Beschwerdegegners demzufolge in X im Kanton Solothurn befinde, gelte der Aufenthalt im Heim Y im Kanton Bern als ausserkantonale Behandlung, was wiederum zur Folge habe, dass der Versicherer höchstens die Leistungen nach dem Tarif des Wohnkantons Solothurn erbringen müsse.
Das kantonale Gericht hat diese Ausführungen bestätigt, die gegen den Einspracheentscheid gerichtete Beschwerde jedoch mit der Begründung gutgeheissen, der Versicherte könne die erforderlichen Leistungen in einer Institution im Wohnkanton nicht beziehen und beanspruche aus medizinischen Gründen im Sinne von
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
einen andern Leistungserbringer. Dem 70-jährigen Mann sei nach rund 20-jährigem Aufenthalt im Heim Y ein Wohnwechsel sowohl aus medizinischer wie auch aus sozialer Sicht nicht zumutbar.
In ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde verneint die Krankenkasse das Vorliegen medizinischer Gründe gemäss
Art. 41 Abs. 2 KVG
.
4.
Was zunächst die Frage des Vorliegens medizinischer Gründe anbelangt, ist festzuhalten, dass
Art. 41 Abs. 2 KVG
abschliessend bestimmt, was darunter zu verstehen ist. Es sind dies einerseits der Notfall, d.h. die Lage, in welcher medizinische Hilfe unaufschiebbar und für die notwendige ambulante Behandlung eine Rückkehr in die Wohn- oder Arbeitsregion bzw. für die stationäre oder teilstationäre Behandlung in den Wohnkanton nicht möglich oder angemessen ist, und anderseits der Umstand, dass die erforderlichen Leistungen innerhalb der örtlichen Grenzen gar nicht angeboten werden (vgl. GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz 318).
BGE 126 V 484 S. 487
Die Vorinstanz hat sich bei der Gewährung des Tarifschutzes gemäss
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
auf das Attest des Ärztlichen Dienstes des Heims Y vom 13. Oktober 1998 gestützt, wonach es für den 70-jährigen Versicherten, der in der Vergangenheit psychisch labil gewesen sei, sehr belastend und hinsichtlich seines nun seit Jahren stabilen Gesundheitszustandes kontraproduktiv und gefährdend wäre, wenn er in ein anderes Heim verlegt werden müsste. Für solche in der Person liegenden Gründe haben die Krankenkassen indessen - wie dies die Beschwerdeführerin zu Recht ausführt - nicht einzustehen. Würden in
Art. 41 Abs. 2 KVG
als Voraussetzung nur medizinische Gründe genannt, wäre die Interpretation des kantonalen Gerichts, wonach es aus medizinischen Gründen für den Versicherten vorteilhafter wäre, im Heim Y zu bleiben, durchaus in Erwägung zu ziehen. Auf Grund der - wie erwähnt - abschliessenden Definition des Gesetzgebers in
Art. 41 Abs. 2 KVG
kann es jedoch nicht darauf ankommen, ob es für die versicherte Person medizinisch ganzheitlich gesehen besser wäre, im bisherigen Heim bleiben zu können. Vielmehr kommt es, nachdem eine Notfallsituation unbestrittenermassen auszuschliessen ist, darauf an, ob im Kanton Solothurn die erforderlichen Leistungen nicht angeboten werden. Vorliegend wird nun aber weder behauptet, noch sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass es im Kanton Solothurn keine Pflegeheime gäbe, welche die für den Versicherten erforderlichen Leistungen anbieten würden.
5.
a) Im Weitern ist zu prüfen, wie der Aufenthalt in einem Pflegeheim von
Art. 41 Abs. 1 KVG
erfasst wird. Krankenkasse, Vorinstanz und BSV gehen davon aus, dass diesbezüglich Satz 3 von
Art. 41 Abs. 1 KVG
zur Anwendung kommt, der die Kostenübernahme bei stationärer oder teilstationärer Behandlung regelt, dies obwohl in
Art. 50 KVG
bestimmt wird, dass beim Aufenthalt in einem Pflegeheim der Versicherer die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege vergütet.
b) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren
BGE 126 V 484 S. 488
Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben (
BGE 126 V 105
Erw. 3 mit Hinweisen).
c) Die Abgrenzung zwischen ambulanter Behandlung (
Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG
) einerseits und stationärer oder teilstationärer Behandlung (
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
) andererseits wie auch die Qualifizierung des langjährigen Aufenthalts in einem Pflegeheim als stationäre oder teilstationäre Behandlung erscheinen auf den ersten Blick im deutschsprachigen Gesetzestext klar. Diskrepanzen ergeben sich jedoch bei Hinzuziehen des französischen und italienischen Gesetzestextes, wo die Gegenüberstellung "traitement ambulatoire"/"traitement hospitalier ou semihospitalier" bzw. "cura ambulatoriale"/"cura ospedaliera o semiospedaliera" lautet und demzufolge die im deutschsprachigen Text mit "stationär oder teilstationär" bezeichnete Behandlung nur spitalbezogen ist. Betrachtet man damit zusammenhängende Gesetzesbestimmungen, zeigt sich, dass diese Unterscheidung mehrmals vorkommt. So differenziert auch
Art. 25 Abs. 2 KVG
nach "ambulant/sous forme ambulatoire/ ambulatorialmente", "stationär/en milieu hospitalier/in ospedale", "teilstationär/en milieu semi-hospitalier/parzialmente in ospedale" und "in einem Pflegeheim/dans un établissement médico-social/in una casa di cura". In
Art. 39 KVG
, welcher sich auf Spitäler und andere Einrichtungen bezieht, regelt sodann Abs. 1 den Aufenthalt in Anstalten oder deren Abteilungen, die der stationären Behandlung dienen (Spitäler), Abs. 2 die Behandlung in Anstalten, Einrichtungen oder deren Abteilungen, die der teilstationären Krankenpflege dienen, während sich Abs. 3 zu Anstalten, Einrichtungen oder deren Abteilungen äussert, die der Pflege und medizinischen Betreuung sowie der Rehabilitation von Langzeitpatienten und -patientinnen dienen (Pflegeheim). In der Botschaft des Bundesrates vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung (BBl 1992 I 93 ff., namentlich S. 166) wird zu letzterer Bestimmung erläutert, dass die Gesetzesvorlage eben zwischen drei Kategorien von Einrichtungen unterscheidet, nämlich Spitäler als Anstalten (oder Abteilungen davon) für die stationäre Behandlung, teilstationäre Institutionen und schliesslich Pflegeheime. Dieser Kontext zeigt, dass die Begriffe "stationäre oder teilstationäre Behandlung" in
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
dem Spital zuzuordnen sind, wie es im französischen und italienischen Gesetzestext zum Ausdruck kommt, während der deutschsprachige Text diesbezüglich missverständlich
BGE 126 V 484 S. 489
formuliert ist. Klar ist, dass ein zwanzigjähriger Aufenthalt in einem Pflegeheim im gewöhnlichen Sprachgebrauch als stationärer Aufenthalt bezeichnet wird, doch sind Pflegeheime in Bezug auf die Tarifierung - wie dies auch aus
Art. 50 KVG
hervorgeht - eben nicht wie Spitäler zu behandeln, sondern es werden an den dortigen Aufenthalt die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege erbracht. Dies entspricht auch dem Zweck der Regelung, sind doch die Hotelleriekosten (Unterkunft und Verpflegung) in einem Pflegeheim im Gegensatz zum Spital nicht von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen und dementsprechend nicht im Leistungsbereich gemäss Art. 7 der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) enthalten (vgl. EUGSTER, a.a.O., Rz 307; RKUV 1999 Nr. KV 86 S. 381). Aus dem Gesagten folgt, dass der vorliegende Aufenthalt in einem Pflegeheim nicht als stationäre oder teilstationäre Behandlung im Sinne von
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
, sondern als ambulante Behandlung im Sinne von
Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG
zu qualifizieren ist.
d) Bei der ambulanten Behandlung muss der Versicherer die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der am Wohn- oder Arbeitsort der versicherten Person oder in deren Umgebung gilt (
Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG
). Unter Wohnort ist gemäss Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts - wie bereits unter altem Recht - der Aufenthaltsort, nicht etwa der Wohnsitz, zu verstehen (
BGE 126 V 17
Erw. 3 mit Hinweisen auf Judikatur, Literatur und Materialien). Der Aufenthaltsort des Beschwerdegegners ist unbestrittenermassen die Ortschaft Z im Kanton Bern, lebt er doch seit rund 20 Jahren dort in einem Pflegeheim. Daran ändert nichts, dass er bevormundet ist, da dies nur einen Einfluss auf den Wohnsitz hat. Die Frage aber, ob in
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
unter "Wohnkanton" ("canton où réside l'assuré", "cantone di domicilio") der "Wohnsitzkanton" ("canton de domicile", "cantone di domicilio") zu verstehen ist, kann vorliegend offen gelassen werden.
e) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Kostenübernahme für den Aufenthalt des Beschwerdegegners im Pflegeheim nach der Regelung für ambulante Behandlung gemäss
Art. 41 Abs. 1 Satz 2 KVG
richtet, was zur Folge hat, dass die Krankenkasse auch ab 1. Januar 1997 bis auf weiteres die Pflegeheimbeiträge des Kantons Bern, wo sich der Versicherte aufhält, zu entrichten hat. Dementsprechend hat der Versicherte auch die Prämien des Kantons Bern zu bezahlen. | de |
2beb37cb-0e30-4125-a209-decdbc79b1c7 | Sachverhalt
ab Seite 561
BGE 99 Ia 561 S. 561
A.-
Die Ehe des Josef Sonderegger mit Heidi Sonderegger-Degen wurde im Jahre 1961 geschieden. Die beiden aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder Esther Sonderegger, geb. 1954, und Urs Sonderegger, geb. 1955, wurden der Mutter zugesprochen, welche im Jahre 1962 mit Johann Pfund eine neue Ehe einging. Mit Beschluss vom 9. Oktober 1968 gestattete die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. den beiden Kindern Esther und Urs Sonderegger, künftig den Familiennamen ihres
BGE 99 Ia 561 S. 562
Stiefvaters Pfund zu führen. Der leibliche Vater der Kinder, Josef Sonderegger, erhielt von dieser Namensänderung offenbar erst am 22. Mai 1973 Kenntnis. Eine staatsrechtliche Beschwerde, mit der er eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügte, wurde vom Bundesgericht am 19. Juli 1973 als gegenstandslos abgeschrieben, nachdem die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. am 5. Juli 1973 ihren Beschluss vom 9. Oktober 1968 aufgehoben und die Neudurchführung des Namensänderungsverfahrens angeordnet hatte.
B.-
Frau Heidi Pfund-Degen und ihr Ehemann Johann Pfund teilten der Standeskommission in der Folge mit, dass sie mit der Rückgängigmachung der Namensänderung nicht einverstanden seien, und stellten erneut das Gesuch, den Kindern Esther und Urs die Führung des Familiennamens Pfund zu bewilligen. Josef Sonderegger nahm hiezu am 8. August 1973 Stellung und beantragte Abweisung des Namensänderungsgesuches.
Mit Beschluss vom 16. August 1973 gestattete die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. den Kindern Esther und Urs erneut, den Familiennamen Pfund zu führen.
C.-
Gegen diesen Beschluss der Standeskommission richtet sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde, mit der Josef Sonderegger eine Verletzung von
Art. 4 BV
rügt. Sein Antrag lautet auf Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Zur Begründung wird geltend gemacht, gemäss
Art. 30 ZGB
könne eine Namensänderung nur bei Vorliegen wichtiger Gründe bewilligt werden. Dies sei dann der Fall, wenn das Interesse des Kindes am neuen Namen gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit und Dritter an der Beibehaltung des bisherigen Namens überwiege. Auch der leibliche Vater der Kinder habe ein schützenswertes Interesse daran, dass diese weiterhin seinen Namen trügen. Die kantonale Behörde habe dies im vorliegenden Fall völlig ausser acht gelassen. Die Tatsache, dass ein aus einer geschiedenen Ehe hervorgegangenes Kind bei einem Stiefvater aufwachse, bilde für sich allein noch keinen hinreichenden Grund, um die kraft Gesetzes im Namen liegende Verbindung zur Familie des leiblichen Vaters aufzuheben.
D.-
Die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. beantragt Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist
BGE 99 Ia 561 S. 563
der Vater eines minderjährigen Kindes, welches nach erfolgter Scheidung dem andern Elternteil zugesprochen wurde, legitimiert, den Entscheid der kantonalen Regierung, durch den dem Kind gestützt auf
Art. 30 ZGB
die Änderung des Familiennamens gestattet wird, wegen Verletzung von
Art. 4 BV
mit staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten. Er kann sich dabei nicht nur über eine Verletzung des rechtlichen Gehörs beschweren, sondern auch geltend machen, dass die (nach ordnungsgemässer Anhörung des Vaters) bewilligte Namensänderung in materieller Beziehung willkürlich sei (
BGE 97 I 621
f, E. 3, mit Hinweisen). Auf die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde ist daher einzutreten.
Der Anspruch des Vaters auf rechtliches Gehör ist im zu beurteilenden Falle nach Aufhebung des früheren Beschlusses der Standeskommission vom 9. Oktober 1968 gewahrt worden. Der Beschwerdeführer erhielt Gelegenheit, zu den Argumenten, die zur Begründung des Namensänderungsgesuches vorgebracht wurden, Stellung zu nehmen, und er hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. In dieser Richtung wird denn auch kein Einwand mehr erhoben. Der Beschwerdeführer macht vielmehr geltend, dass bei der neuerlichen Bewilligung der Namensänderung das Interesse des Vaters an der Beibehaltung des bisherigen Familiennamens der Kinder nicht hinreichend berücksichtigt worden sei.
2.
Nach
Art. 30 Abs. 1 ZGB
kann die Regierung des Heimatkantons bei Vorliegen wichtiger Gründe eine Namensänderung bewilligen. Die Vorschrift geht davon aus, dass grundsätzlich jedermann den ihm von Gesetzes wegen zustehenden Namen zu tragen hat. Nur wenn "wichtige Gründe" dies rechtfertigen, kann die Annahme eines andern Namens gestattet werden. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist eine Ermessensfrage, die von der Regierung des Heimatkantons "nach Recht und Billigkeit" zu beantworten ist (
Art. 4 ZGB
). Das Bundesgericht kann im Rahmen einer Willkürbeschwerde nur eingreifen, wenn die kantonale Behörde ihr Ermessen überschritten oder missbraucht hat, d.h. wenn ihr Entscheid auf einer unhaltbaren Würdigung der Umstände beruht oder wenn sie sich von Erwägungen hat leiten lassen, die offensichtlich keine oder doch keine massgebliche Rolle spielen dürfen (
BGE 98 Ia 451
E.2). Die Behörde hat beim Entscheid über das Namensänderungsgesuch sowohl die Interessen des Gesuchstellers als auch diejenigen betroffener Dritter sowie der Allgemeinheit zu berücksichtigen
BGE 99 Ia 561 S. 564
und abzuwägen. Gegen eine Änderung des Namens sprechen in der Regel die Interessen der Staatsverwaltung und des Verkehrs. In Fällen wie dem vorliegenden besitzt sodann auch der Vater ein schutzwürdiges Interesse daran, dass sein Kind den väterlichen Familiennamen beibehält (
BGE 76 II 342
), und die Behörde muss ihm im Verfahren nach
Art. 30 Abs. 1 ZGB
zumindest Gelegenheit geben, zum Namensänderungsbegehren Stellung zu nehmen, sofern das Kind noch unmündig ist (
BGE 97 I 622
f.). Das will jedoch nicht heissen, dass die Behörde eine Namensänderung des Kindes nur mit Einwilligung des Vaters gestatten dürfte; ebensowenig vermöchte übrigens die Zustimmung des Vaters die Behörde von der Pflicht zu entbinden, das Vorhandensein wichtiger Gründe nach Massgabe von Recht und Billigkeit zu prüfen.
3.
a) Die beiden Kinder des Beschwerdeführers leben seit der Scheidung ihrer Eltern im Jahre 1961 mit ihrer Mutter zusammen und sind bei deren Wiederverheiratung im Jahre 1962 in die neue Lebensgemeinschaft mit dem Stiefvater aufgenommen worden. Die Standeskommission nahm an, dass unter diesen Umständen die Namensänderung im Interesse der Kinder gerechtfertigt sei. Demgegenüber beruft sich der Beschwerdeführer auf das UrteilBGE 76 II 342f, in dem das Bundesgericht hiezu u.a. ausführte: "Der Umstand, dass das Kind bei der Scheidung der Mutter zugesprochen wurde - vielleicht nur, weil es noch sehr jung war oder weil der Vater keinen eigenen Haushalt mehr hatte -, und dass die Mutter sich wieder verheiratet und das Kind in ihre neue Familie aufgenommen hat, ist an sich noch kein hinreichender Grund, ihm den Namen des Vaters zu nehmen, dem es dadurch nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftlich entfremdet wird, ganz abgesehen von der durch den Namenswechsel entstehenden schiefen, die Öffentlichkeit täuschenden Situation."
Diese Überlegung hat sicher ihre Berechtigung. Anderseits ist aber doch zu beachten, dass Scheidungskindern nicht nur durch die Scheidung ihrer Eltern an sich, sondern auch infolge der damit verbundenen Nebenwirkungen sehr oft schwere Nachteile entstehen. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Schaden dort häufig noch grösser wird, wo durch die unterschiedlichen Familiennamen der Mutter und der ihr zugesprochenen Kinder ein weiteres Publikum ständig an die besondere familiäre Situation erinnert wird und oft auch entsprechend taktlos reagiert; durch
BGE 99 Ia 561 S. 565
die Unterschiedlichkeit der Namen wird es den Scheidungskindern erschwert, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Im ähnlich gelagerten Fall des unehelichen Kindes, welches bei Pflegeeltern Aufnahme gefunden hat, wurde die Wünschbarkeit und Zulässigkeit einer Anpassung an den Familiennamen der Pflegeeltern in der Praxis denn auch schon längst anerkannt (
BGE 96 I 429
,
BGE 70 I 220
mit Hinweisen). Auch bei ausserehelichen Kindern, die den Namen ihrer Pflegeeltern annehmen, entsteht damit eine die Öffentlichkeit täuschende Situation, was jedoch gegenüber dem vorrangigen Interesse solcher Kinder nicht ins Gewicht fallen darf. Es würde jedenfalls schwer halten, in derartigen Fällen dem entgegenstehenden Interesse der Öffentlichkeit oder Dritter an der unverfälschten Offenlegung der familiären Verhältnisse trotz aller damit verbundenen Konsequenzen (Diskriminierung, Taktlosigkeiten, Aussenseitertum) den Vorzug zu geben. Diese Überlegung trifft, allerdings in geringerem Ausmasse, auch auf Scheidungskinder zu. Sie sind ebenfalls nicht verantwortlich für ihre besondere Lage und haben Anspruch auf Schutz vor den sich daraus ergebenden Nachteilen. Die Standeskommission konnte jedenfalls ohne Willkür davon ausgehen, dass es für Scheidungskinder, die in die neugegründete Familiengemeinschaft ihrer Mutter und ihres Stiefvaters aufgenommen werden, sowohl in der Schule als auch später im Beruf und überhaupt im Kontakt mit ihrer Umgebung von erheblichem Nachteil ist, wenn sie nicht den gleichen Namen wie ihre jetzigen Eltern tragen, und dass daher ihr Interesse an einer Änderung des Familiennamens, je nach den Umständen des einzelnen Falles, das an sich ebenfalls schutzwürdige, entgegenstehende Interesse des leiblichen Vaters an der Beibehaltung des Namens überwiegen kann.
b) Im vorliegenden Fall weist die Standeskommission zu Recht darauf hin, dass den beiden Kindern, welche seit über zehn Jahren in der Familie ihres Stiefvaters leben, bereits im Jahre 1968 eine Namensänderung bewilligt worden ist, und dass sie seither den Familiennamen ihres Stiefvaters getragen haben. Auch wenn die im Jahre 1968 erteilte Bewilligung wegen eines Formmangels auf Begehren des Beschwerdeführers von der Standeskommission am 5. Juli 1973 aufgehoben worden ist, kann doch nicht leichthin darüber hinweggegangen werden, dass die beiden Kinder schon seit längerer Zeit den Familiennamen "Pfund" tragen und unter diesem Namen in ihrem
BGE 99 Ia 561 S. 566
Lebensbereich bekannt sind. Eine Abweisung des 1973 gestellten zweiten Namensänderungsgesuches wäre daher zumindest stossend und käme ihrerseits praktisch einer Namensänderung gleich. Diese Konsequenz liesse sich nur dann rechtfertigen, wenn der Beschwerdeführer als leiblicher Vater hieran ein ausserordentlich schwerwiegendes Interesse darzutun vermöchte. Dies ist nicht der Fall. Der Beschwerdeführer beruft sich lediglich in allgemeiner Weise auf die Funktion des Familiennamens nach schweizerischem Recht und macht geltend, dass er als Vater ein Recht darauf habe, dass seine Kinder seinen Familiennamen trügen. Er tut aber nicht dar, dass in seinem Fall die Änderung des Familiennamens seiner Kinder besonders unzumutbar wäre und welche konkreten Interessen er an einer Beibehaltung des Familiennamens hat. Er behauptet nicht, dass die Kinder in der Familie ihres Stiefvaters schlecht aufgehoben seien, oder dass die Ehe der Mutter und des Stiefvaters in ihrem Bestand gefährdet sei, und er bekundet auch keine Absicht, die Kinder über kurz oder lang zu sich zu nehmen oder mit ihnen künftig intensiver zu verkehren, als es bisher vielleicht der Fall war. Der vom Beschwerdeführer erwähnte Umstand, dass er für den Unterhalt seiner Kinder Alimente zu bezahlen hat, begründet noch kein besonders schutzwürdiges Interesse an der Beibehaltung des Familiennamens. Auch wenn die Kantonsregierung bei der Beurteilung des Gesuches um Namensänderung die dafür und dagegen sprechenden Gründe von Amtes wegen zu berücksichtigen hat, so darf doch vom Vater, der sich der Namensänderung widersetzt, verlangt werden, dass er in seiner Stellungnahme zum Gesuch alle ihm wichtig erscheinenden Gegengründe vorbringt; der blosse Hinweis auf die angebliche Rechtslage genügt nicht.
c) Als die Standeskommission am 16. August 1973 zum zweiten Mal über das Namensänderungsbegehren entschied, waren die beiden Kinder des Beschwerdeführers bereits rund 18 bzw. 19 Jahre alt. Da das Recht am Namen zu den Persönlichkeitsrechten gehört, fragt es sich, ob die Standeskommission, bevor sie das von der Mutter als gesetzlicher Vertreterin gestellte Gesuch bewilligte, sich nicht auch der Zustimmung der beiden bald volljährigen Kinder hätte vergewissern müssen (EGGER, N. 15 zu Art. 19 und N. 9 zu
Art. 30 ZGB
;
BGE 97 I 622
E. 4 a). Dies scheint unterlassen worden zu sein, offenbar in der Annahme, dass unter den gegebenen Umständen am Einverständnis
BGE 99 Ia 561 S. 567
der Kinder zum vornherein kein Zweifel bestehen könne. Der Beschwerdeführer erhebt in dieser Hinsicht keinen Einwand. Im übrigen hat er, wie aus den vorstehenden Erwägungen folgt, nicht dargetan, dass die Standeskommission das ihr im Rahmen von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
zustehende Ermessen überschritten oder missbraucht hätte, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist. | de |
8c09c3a1-6152-4bfe-9315-30ae66a62b69 | Sachverhalt
ab Seite 277
BGE 120 II 276 S. 277
Mit Entscheid vom 2. August 1991 wies das Justizdepartement des Kantons Luzern das Gesuch des in Arth SZ heimatberechtigten Martin Kaspar Reding vom 24. Dezember 1990, ihm zu gestatten, den Familiennamen "von Reding" zu führen, ab. Die von Martin Kaspar Reding hiergegen erhobene Verwaltungsbeschwerde wies der Regierungsrat am 22. Februar 1994 ebenfalls ab.
Unter Erneuerung des im kantonalen Verfahren gestellten Rechtsbegehrens hat Martin Kaspar Reding beim Bundesgericht Berufung eingereicht. Das Bundesgericht weist diese ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Gemäss
Art. 30 Abs. 1 ZGB
kann die Regierung des Wohnsitzkantons einer Person die Änderung des Namens bewilligen, wenn wichtige Gründe vorliegen. Dieser Tatbestand ist erfüllt, wenn das Interesse des Namensträgers an einem neuen Namen dasjenige der Verwaltung und der Allgemeinheit an der Unveränderlichkeit des einmal erworbenen und in die Register eingetragenen Namens sowie an eindeutiger Kennzeichnung und Unterscheidung des einzelnen überwiegt (
BGE 117 II 6
E. 3a S. 9 mit Hinweisen). Der Name soll dem Namensträger das Fortkommen ermöglichen und erleichtern, nicht erschweren; es sollen diesem aus seinem Namen nicht wirkliche Nachteile oder erhebliche Unannehmlichkeiten erwachsen (EGGER, N. 5 zu
Art. 30 ZGB
).
Zur Bewilligung einer Namensänderung können moralische, geistige oder seelische Gründe führen (vgl.
BGE 108 II 1
E. 5a S. 4 mit Hinweis). Ein die Änderung des Namens rechtfertigendes persönliches Interesse des Gesuchstellers kann hauptsächlich darin bestehen, nicht des Namens wegen dem Spott ausgesetzt zu sein. Eine Namensänderung fällt also etwa in Betracht, wenn der Name als lächerlich, hässlich oder anstössig erscheint (vgl.
BGE 108 II 247
E. 4c S. 250 mit Hinweisen auf die Literatur) oder immer wieder verstümmelt wird (vgl. PEDRAZZINI/OBERHOLZER, Grundriss des Personenrechts, 4. A., S. 192). Demgegenüber ist eine Namensänderung verweigert worden, die unter Hinweis auf das Interesse einer berühmten
BGE 120 II 276 S. 278
Familie (von Stockalper), das Aussterben zu verhindern, begründet worden war (
BGE 108 II 247
ff.; vgl. die kritische Würdigung dieses Entscheids bei PEDRAZZINI/OBERHOLZER, a.a.O.).
2.
a) Der Regierungsrat ist davon ausgegangen, dass im Zeitpunkt der Einführung des eidgenössischen Zivilstandsregisters der Familienname des Berufungsklägers in den massgebenden Kirchenbüchern ohne den Zusatz "von" geführt und somit korrekt übernommen worden sei. Aus der Tatsache, dass ein weit entfernter Vorfahre einmal in den Adelsstand erhoben worden sei, könne der Berufungskläger keinen Rechtsanspruch ableiten, sich "von Reding" zu nennen. Lehre und Rechtsprechung seien sich darüber einig, dass die Beifügung des Namenspartikels "von" auf dem Weg der Namensänderung gegen
Art. 4 BV
verstossen würde und deshalb unzulässig sei. Für eine Abwägung der privaten Interessen des Berufungsklägers und den öffentlichen Interessen bestehe damit kein Raum mehr.
b) Demgegenüber macht der Berufungskläger geltend, er habe aufgrund von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
einen Anspruch darauf, dass die von ihm vorgebrachten Gründe detailliert geprüft würden. Indem die Vorinstanz sich mit pauschalen Überlegungen begnügt habe, habe sie gegen Bundesrecht verstossen.
3.
a) Wie der Regierungsrat zutreffend bemerkt, lässt sich ein Namensänderungsgesuch der vorliegenden Art, bei dem es allein um den Zusatz "von" geht, nicht ohne weiteres mit den üblichen, meist aus familiären oder gesellschaftlichen Gründen eingereichten Begehren vergleichen. Die Verwendung des erwähnten Zusatzes hing in früheren Zeiten einerseits mit der Adelung zusammen. Die in den Adelsstand erhobene Person erhielt die Befugnis, ihrem Namen die Partikel "von" voranzustellen. Dieser kam so die Bedeutung eines Adelsprädikats zu, und sie wurde dazu verwendet, bei den Trägern des gleichen Namens adelige von nicht adeligen Geschlechtern auseinanderzuhalten (so etwa "Schwerin" und "von Schwerin", "Usedom" und "von Usedom"; dazu GIERKE, Verhandlungen des 25. Deutschen Juristentages, 3. Band, S. 52). Andererseits verwendeten bürgerliche Geschlechter bei ihrem Familiennamen den Zusatz "von", um die Herkunft von einem bestimmten Ort oder Hof zum Ausdruck zu bringen ("von Moos", "von Flüe"). Das "Von" konnte mithin sowohl Adelsbezeichnung als auch Bestandteil eines bürgerlichen Namens sein. In der Schweiz wurden beide Arten in Verbindung mit Familiennamen in die einschlägigen Rödel, Bücher und Register eingetragen.
BGE 120 II 276 S. 279
b) Bezeichnungen, die auf den Adel als Stand hinweisen, verstossen nach schweizerischer Rechtsauffassung gegen den in
Art. 4 BV
verankerten Gleichheitsgrundsatz (
BGE 102 Ib 245
E. 2 S. 247) und dürfen in die Zivilstandsregister, deren Bestimmung sie fremd sind, nicht eingetragen werden (vgl.
Art. 39 ZStV
[SR 211.112.1]). Soweit es sich bei der Partikel "von" um einen Adelstitel handelt, müsste sie folgerichtig aus den Registern verbannt werden, im Gegensatz zum bürgerlichen, Bestandteil des Namens bildenden "Von" (dazu WALTER GAUTSCHI, Die Rechtswirkungen der Eintragung in die Zivilstandsregister, Diss. Basel 1911, S. 155; HANS RUDOLF KOLLBRUNNER, Die Namensänderung nach
Art. 30 ZGB
, Diss. Bern 1933, S. 23; GÖTZ, Die Beurkundung des Personenstandes, in: Schweizerisches Privatrecht, II. Band, S. 400). Bei den alten Einträgen hätte sich jedoch nur mit unverhältnismässigem Aufwand ermitteln lassen, ob im einzelnen Fall ein adeliges oder ein bürgerliches "Von" vorliegt. In Anbetracht der grosszügigen altrechtlichen Praxis, Familiennamen mit dem Zusatz "von" in die einschlägigen Bücher und Register einzutragen, erschien es als sachgerecht, die Partikel generell in das Zivilstandsregister zu übernehmen, wobei sie einheitlich als Bestandteil des Namens betrachtet werden (vgl.
BGE 102 Ib 245
E. 2 S. 247; GROSSEN, Das Recht der Einzelpersonen, in: Schweizerisches Privatrecht, II. Band, S. 337; vgl. auch den in BBl 1910 I S. 301, Ziff. 7, veröffentlichten Standpunkt des Bundesrates).
c) Anders verhält es sich indessen da, wo auf dem Weg der Namensänderung die Partikel "von" dem Familiennamen neu beigefügt werden soll. Es geht in Anbetracht des in
Art. 4 BV
verankerten Gleichheitsgebotes und des für Adelstitel daraus abgeleiteten Eintragungsverbots nicht an, die erwähnte grosszügige Praxis bei der Übertragung der altrechtlichen Aufzeichnungen in das eidgenössische Zivilstandsregister auf diesen Fall auszudehnen und die - wie anscheinend hier - eindeutig auf einer Adelung beruhende Partikel "von" nachträglich einzutragen. Wie bereits erwähnt, wäre im übrigen eine Abklärung des Ursprungs eines solchen Zusatzes in der Regel mit einem unangemessenen Aufwand verbunden, und es könnte auch dann der Eindruck, es handle sich um ein Adelsprädikat, nicht ganz vermieden werden. Ein nachträgliches Hinzufügen der Partikel ist deshalb als generell unzulässig zu betrachten (vgl. auch BBl 1910 I a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass die bei der Beurteilung eines Begehrens um Namensänderung sonst erforderliche Gegenüberstellung der konkreten Interessen des Namensträgers und derjenigen
BGE 120 II 276 S. 280
der Verwaltung sowie der Allgemeinheit in einem Fall der vorliegenden Art von vornherein dahinfällt.
4.
Nach den Ausführungen des Regierungsrates hat der Berufungskläger selbst nicht in Abrede gestellt, dass seine Familie in den massgebenden alten Kirchenbüchern ohne den Zusatz "von" eingetragen war. In den von ihm ins Recht gelegten genealogischen Gutachten werde denn auch festgehalten, dass die in Arth SZ heimatberechtigten Redings in ihrer Mehrheit darauf verzichtet hätten, den ihnen zustehenden Adelstitel zu führen.
Die bis zur Einführung der neuen, von weltlichen Beamten zu führenden Register gültigen kirchlichen Rödel (Kirchen- und Pfarrbücher) waren beim Wechsel als massgebende Unterlagen anerkannt. Nach deren letzter Fassung bestimmte sich der in die neuen Register zu übertragende Name. Wie lange jene schon gegolten hatte und aus welchen Gründen eine ältere Schreibweise allenfalls geändert worden war, war unerheblich (dazu
BGE 81 II 249
E. 6 S. 256 f.). Das Vorbringen des Berufungsklägers, richtig sei einzig und allein der Name "von Reding", stösst damit ins Leere.
5.
Die beantragte Namensänderung ist nach dem Gesagten schon aus grundsätzlichen Überlegungen ausgeschlossen. Ob angesichts der vom Berufungskläger geltend gemachten persönlichen Interessen wichtige Gründe im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
dargetan wären, braucht unter diesen Umständen nicht erörtert zu werden. | de |
590cb78f-234a-431f-a455-bad56681a9b3 | Sachverhalt
ab Seite 177
BGE 109 II 177 S. 177
Am 12. Dezember 1979 wurde die Ehe von A. X. und B. Y. geschieden. Der aus der Ehe hervorgegangene Sohn C., geboren am 6. Februar 1978, wurde dabei unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt. Er lebt zusammen mit seiner Mutter bei deren Eltern. Seit dem Frühjahr 1982 besucht er den Kindergarten.
Mit Eingaben vom 30. April und 28. Mai 1982 stellte B. Y. das Gesuch, es sei ihrem Sohn zu bewilligen, statt den Namen "X." ihren Mädchenfamiliennamen "Y." zu führen.
BGE 109 II 177 S. 178
Das zuständige kantonale Departement und der Regierungsrat wiesen das Gesuch mit Verfügung vom 23. Juni 1982 bzw. mit Beschluss vom 27. Oktober 1982 ab.
Mit Berufung an das Bundesgericht verlangt C. X., es sei seinem Namensänderungsgesuch in Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides stattzugeben.
A. X. hat sich zu den Berufungsanträgen seines Sohnes nicht vernehmen lassen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 30 Abs. 1 ZGB
kann die Regierung des Wohnsitzkantons einer Person die Änderung des Namens bewilligen, wenn wichtige Gründe vorliegen. Dieser Tatbestand ist erfüllt, wenn das Interesse des Namensträgers an einem neuen Namen dasjenige der Verwaltung und der Allgemeinheit an der Unveränderlichkeit des einmal erworbenen und in die Register eingetragenen Namens sowie an eindeutiger Kennzeichnung und Unterscheidung des Einzelnen überwiegt. Der Kennzeichnungsfunktion des Namens kommt jedoch bei einem Kleinkind, dessen gesellschaftliche Kontakte sich im wesentlichen auf seine engsten Angehörigen beschränken, geringere Bedeutung zu als bei einem Erwachsenen, so dass die Namensänderung eher bewilligt werden kann (
BGE 105 II 243
f. E. 3, 249 E. 3).
2.
Der bundesrätliche Gesetzesentwurf vom 5. Juni 1974 betreffend die Änderung des Kindschaftsrechtes im Zivilgesetzbuch (BBl 1974 II S. 114 ff.) hatte auch eine neue Formulierung von
Art. 30 Abs. 2 ZGB
vorgesehen. Als "wichtige Gründe" sollten darin verschiedene Tatbestände ausdrücklich festgehalten werden, unter anderem auch der Fall, da der unmündige Gesuchsteller einen andern Familiennamen trägt als der Inhaber der elterlichen Gewalt (Ziff. 3). Wenn der Entwurf in dieser Form nicht Gesetzestext geworden ist, so nicht etwa deshalb, weil sich die eidgenössischen Räte mit seiner Zielsetzung nicht hätten einverstanden erklären können oder wollen. Vielmehr wurde in der für den Fall der Verweigerung einer Namensänderung neu beschlossenen Zulassung der Berufung an das Bundesgericht (
Art. 44 lit. a OG
) eine hinreichende Garantie dafür gesehen, dass sich die Rechtsprechung unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Umstände im Sinne des vom Bundesrat vorgeschlagenen
Art. 30 Abs. 2 ZGB
festlegen werde (vgl. Amtl.Bull. N 1975, S. 1790 f.).
BGE 109 II 177 S. 179
3.
Dass die Einheit zwischen dem Namen eines ehelichen Kindes geschiedener Eltern und demjenigen seiner Mutter, bei der es aufwächst, anzustreben ist, anerkennt auch die Vorinstanz. Sie ist jedoch der Ansicht, dieses Ziel sei in der Regel durch eine Änderung des mütterlichen Namens zu erreichen. Der andere Weg, dem Kind durch Namensänderung zu gestatten, den Mädchenfamiliennamen der Mutter zu führen, werde nur mit Zurückhaltung geöffnet, dann nämlich, wenn noch andere Kinder bei der Mutter lebten und deren Namen trügen oder wenn andere wichtige Umstände es erforderten, insbesondere wenn eine Anpassung der Namen von Mutter und Kind auf die übliche Weise nicht zu erreichen sei und angenommen werden könne, dass die Verhältnisse von Dauer seien. In der Regel werde eine Dauer von rund fünf Jahren verlangt. Diese Voraussetzung sei im Falle des Berufungsklägers nicht erfüllt, da die Scheidung seiner Eltern noch keine drei Jahre zurückliege.
4.
Der Berufungskläger lebt seit einigen Jahren zusammen mit seiner Mutter bei deren Eltern, den Eheleuten Y. Unter dem Namen "Y." besucht er den Kindergarten und ist er demnach in seiner Umgebung bekannt. Es besteht deshalb für ihn nicht nur das im erwähnten Gesetzesentwurf ausdrücklich anerkannte Interesse, gleich zu heissen wie seine Mutter, sondern auch das Bedürfnis, den Namen "Y." zu tragen. Darin ist ein wichtiger Grund im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
zu erblicken. Die Namensänderung darf dem Berufungskläger unter den gegebenen Umständen nicht mit dem Hinweis darauf verweigert werden, seine Mutter hätte das Gesuch stellen können, ihren ehelichen Namen weiterführen zu dürfen. B. Y. ist als im vorliegenden Verfahren nicht unmittelbar beteiligte Drittperson zu betrachten, deren Verhalten sich der Berufungskläger nicht anrechnen zu lassen hat. Es mag freilich als wünschbar erscheinen, dass die Einheit der Namen von geschiedener Mutter und Kind im allgemeinen dadurch hergestellt wird, dass die Mutter den ehelichen Namen auch nach der Scheidung weiterführt (in diesem Sinne denn auch Art. 149 Abs. 2 des bundesrätlichen Entwurfs vom 11. Juli 1979 betreffend die Änderung des Eherechts im Zivilgesetzbuch; BBl 1979 II S. 1244 f. und 1423). Hier hat B. Y. jedoch besondere Gründe vorgebracht, die einer Weiterführung des ehelichen Namens entgegenstehen.
Anhaltspunkte dafür, dass B. Y. in absehbarer Zeit wieder heiraten werde, bestehen nicht. Einer Gutheissung des Gesuches
BGE 109 II 177 S. 180
des Berufungsklägers steht also auch nicht etwa entgegen, dass die anzustrebende Namenseinheit schon bald erneut dahinfallen könnte. In dieser Hinsicht liegen die Dinge im übrigen nicht anders als im Fall, da der Mutter des Berufungsklägers bewilligt würde, den ehelichen Namen "X." weiterzuführen. | de |
c56cf6a7-d506-4845-8410-01241c4c931c | Sachverhalt
ab Seite 146
BGE 121 III 145 S. 146
A.-
S. R., geb. 1982, und A. R., geb. 1988, sind Kinder aus verschiedenen Verbindungen ihrer Mutter, C. R.. Während die Tochter, S. R., einer früheren Ehe ihrer Mutter entstammt, ist A. R. Sohn von K. S.. C. R. und K. S. leben seit 1985 in Lebensgemeinschaft. Beide Kinder wachsen in dieser Gemeinschaft auf. K. S. ist immer noch mit U. Sch. verheiratet. Aus dieser Ehe entspross eine Tochter namens F., geb. 1984, welche sich bei ihrer Mutter aufhält. Die Familien R./S. und S.-Sch. leben nahe beieinander und pflegen enge familiäre Beziehungen zueinander.
C. R. ersuchte nach der Geburt des Sohnes A. R. um Änderung seines Familiennamens R. in denjenigen des Vaters S. Dieses Begehren wurde jedoch mit Verfügung der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern vom 4. August 1989 abgewiesen. Diese Direktion wies auch eine Einsprache von C. R. gegen den Entscheid kostenfällig ab.
B.-
Mit Eingabe vom 26. Januar 1993 liessen S. R. und A. R., vertreten durch ihre Mutter als Inhaberin der elterlichen Gewalt, bei der Polizei- und Militärdirektion das Gesuch stellen, es sei ihnen zu gestatten, den Familiennamen S. zu tragen. Die Direktion und sodann, auf Beschwerde hin, der Regierungsrat des Kantons Bern wiesen beide Gesuche kostenfällig ab.
C.-
Gegen den Entscheid des Regierungsrates vom 2. November 1994 haben S. R. und A. R. beim Bundesgericht unter anderem Berufung eingereicht. Damit stellen sie den Antrag, es sei ihnen zu gestatten, den Namen S. zu führen.
Der Regierungsrat des Kantons Bern lässt Abweisung dieses Rechtsmittels beantragen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Nach
Art. 30 Abs. 1 ZGB
kann die Regierung des Wohnsitzkantons einer Person die Änderung des Namens bewilligen, wenn wichtige Gründe vorliegen.
BGE 121 III 145 S. 147
Bezüglich der Änderung des Familiennamens unmündiger Kinder hat das Bundesgericht sowohl unter dem alten, nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür überprüfbaren Recht, als auch unter der revidierten Gesetzesbestimmung, deren Verletzung nunmehr mit Berufung gerügt werden kann, eine relativ grosszügige Praxis zur Auslegung des wichtigen Grundes entwickelt. So hat es insbesondere eine Namensänderung gestattet, wenn das Kind bei einer Person mit anderem Namen aufwächst, die faktisch die Elternstelle versieht, die Übereinstimmung des Namens nicht oder nicht ohne weiteres durch Standesänderung herbeigeführt werden kann und die Namensänderung tatsächlich im Interesse dieses Kindes liegt. In diesem Sinne wurde eine Änderung des Namens regelmässig insbesondere für Kinder bewilligt, welche nach der Scheidung ihrer Eltern mit der Mutter zusammenleben, die ihren früheren Namen wieder angenommen hat (
BGE 109 II 177
E. 3 und 4 S. 179;
BGE 110 II 433
). Einer Namensänderung ist sodann in der Regel auch zugestimmt worden, wenn die Kinder mit Mutter und Stiefvater zusammenleben (
BGE 99 Ia 561
); in bezug auf diesen Fall hat das Bundesgericht indes - wenn auch in einem unveröffentlichten Entscheid - hervorgehoben, allein im allgemeinen Hinweis des Kindes, es entspreche seinem Wohl, in Namenseinheit mit seiner Mutter und dem Stiefvater zu leben, sei kein wichtiger Grund für die Änderung des Familiennamens zu erblicken (nicht veröffentlichter Entscheid i.S. M. vom 12. August 1993, E. 2c). Bis in die neuere Zeit hinein wurden überdies auch Änderungen des Namens gestattet für Kinder, die zusammen mit ihrer Mutter und deren Konkubinatspartner wohnen, sofern dieser der leibliche Vater der Kinder ist und das Konkubinatsverhältnis dauerhaft und stabil erscheint. Dabei liess sich das Bundesgericht vom Gedanken leiten, dass einem Kind nicht miteinander verheirateter Eltern gesellschaftliche Nachteile erwachsen, wenn aufgrund seines Namens seine aussereheliche Geburt erkennbar werde (
BGE 105 II 241
, 247;
BGE 107 II 289
,
BGE 119 II 307
E. 3c S. 309 mit Hinweisen). Dem Kind wurde daher regelmässig ein legitimes Interesse daran zugestanden, seinen Namen mit demjenigen seiner sozialen Familie in Einklang zu bringen (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts i.S. J. & T./T. vom 8. November 1990, E. 3c). In einem weiteren Entscheid hat das Bundesgericht schliesslich präzisiert, wichtige Gründe für eine Namensänderung eines ausserehelichen Kindes lägen nicht vor, wenn seine nicht verheirateten Eltern nicht zusammenleben (
BGE 117 II 6
).
BGE 121 III 145 S. 148
b) Die grosszügige Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Namensänderungspraxis im Konkubinat lebender Kinder ist von der Lehre teils begrüsst (BERNARD SCHNEIDER, Situation juridique des enfants de concubins, in: Zeitschrift für Vormundschaftswesen (ZVW) 36/1981, S. 131/132 und Anm. 23), grösstenteils aber kritisiert worden (GUINAND, L'évolution de la jurisprudence en matière de changement de nom, in: Zeitschrift für Zivilstandswesen (ZZW) 48/1980, S. 358-361; LIVER, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1979, in: ZBJV 117/1981, S. 67; DENISE MANGOLD, Familiennamensänderungen im Kanton Basel-Stadt unter Berücksichtigung von Fällen aus dem Bereiche des IPR, Diss. Basel 1981, S. 116; ANDREAS BRAUCHLI, Das Kindeswohl als Maxime des Rechts, Diss. ZH 1982, S. 89 ff.; STETTLER, Le nom, le droit de cité et le domicile de l'enfant à la suite de diverses réformes législatives, in: ZVW 42/1987, S. 85 f., HEGNAUER, N. 88 f. zu Art. 270; GEISER, Die neuere Namensänderungspraxis des schweizerischen Bundesgerichts, in: ZZW 61/1993, S. 379 und 382).
c) Mit Blick auf die zahlreichen Eineltern- oder Konkubinatsfamilien und die damit bzw. mit der Revision des Kindesrechts erfolgte gesellschaftliche Änderung in der Beurteilung ausserehelicher Kindesverhältnisse lässt sich nicht mehr damit argumentieren, die Übernahme des väterlichen Namens vermöge generell den sozialen Nachteilen zu begegnen, welche diese Kinder wegen des Namensunterschieds in Kauf zu nehmen hätten. Solche Nachteile müssten zudem ernsthafter Natur sein. Zudem lässt sich mit der Übernahme des väterlichen Namens durch das Kind die angestrebte Einheit des Familiennamens ohne Standesänderung ohnehin nicht erreichen. Angesichts des bereits seit einigen Jahren in der sozialen Umwelt eingetretenen Sinneswandels lässt sich somit allein in der Tatsache des stabilen Konkubinatsverhältnisses zwischen der Mutter als Inhaberin der elterlichen Gewalt und dem Konkubinatspartner als leiblichem Vater des in ihrer Hausgemeinschaft lebenden Kindes nicht mehr ein wichtiger Grund im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
erblicken. Vielmehr muss vom Kind verlangt werden, dass es in seinem Gesuch konkret aufzeigt, inwiefern ihm durch die von Gesetzes wegen vorgesehene Führung des Namens seiner Mutter (
Art. 270 Abs. 2 ZGB
) ernsthafte soziale Nachteile erwachsen, welche als wichtige Gründe für eine Namensänderung in Betracht gezogen werden können. | de |
384fa3c9-8a1b-4eef-af1a-691e0acfd50b | Sachverhalt
ab Seite 304
BGE 138 V 303 S. 304
A.
Die 1969 geborene F. war bis 30. Juni 2009 beim Kanton Schwyz angestellt und bei der Pensionskasse des Kantons Schwyz berufsvorsorgeversichert. Seit 1. Juli 2009 arbeitet sie zu 60 % bei der X. AG. Am 31. Juli 2009 wurde ihre Austrittsleistung in der Höhe von Fr. 100'528.95 an die Vorsorgeeinrichtung der neuen Arbeitgeberin, die Pensionskasse der Ascoop (Pensionskasse des Personals schweizerischer Transportunternehmungen), überwiesen.
Mit Wirkung auf den 31. Dezember 2009 kündigte die X. AG den Anschlussvertrag für ihr Personal mit der Pensionskasse der Ascoop. Seit 1. Januar 2010 ist sie für die Durchführung der beruflichen Vorsorge der Helvetia Sammelstiftung angeschlossen. Die Pensionskasse der Ascoop überwies der Helvetia Sammelstiftung eine wegen Unterdeckung reduzierte Austrittsleistung in der Höhe von Fr. 92'745.10. Aus einem Risikoschwankungsfonds wurde die Austrittsleistung um Fr. 3'493.10 aufgestockt, so dass per 1. Mai 2010 ein Guthaben von Fr. 96'238.20 bestand. F. und die Pensionskasse der Ascoop waren sich in der folgenden Korrespondenz uneinig über die Höhe der Austrittsleistung.
Am 13. Dezember 2010 verfügte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Liquidation der Pensionskasse der Ascoop.
B. | de |
2022ede0-2d4a-4983-ac9a-b5808759e456 | Sachverhalt
ab Seite 210
BGE 115 Ib 209 S. 210
Alois Giger ist Eigentümer eines landwirtschaftlichen Heimwesens in Altwies, Kaltbrunn/SG, mit einer Fläche von insgesamt rund 264 000 m2 (= 26,4 ha). Seit 1951 untersteht das Heimwesen dem Bundesgesetz über die Entschuldung landwirtschaftlicher Heimwesen vom 12. Dezember 1940 (Entschuldungsgesetz, LEG; SR 211.412.12). Die Unterstellung ist im Grundbuch angemerkt.
Am 10. Dezember 1987 beantragte Alois Giger dem Grundbuchamt Kaltbrunn, die Grundstücke Nrn. 884 (mit dem Haus Nr. 147) und 890 (mit dem Haus Nr. 150) aus der Unterstellung unter das Entschuldungsgesetz zu entlassen. Aufgrund der Stellungnahmen des Präsidenten der landwirtschaftlichen Schätzungskommission und des landwirtschaftlichen Betriebsberaters lehnte das Grundbuchamt das Gesuch ab, weil einerseits für einen Betrieb der vorliegenden Grösse neben einem Bauernhaus auch ein Stöckli notwendig sei und sich anderseits die Verhältnisse seit der Unterstellung nicht wesentlich geändert hätten.
Alois Giger erhob hiegegen Beschwerde an die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen. Nach einem Augenschein hiess die Verwaltungsrekurskommission die Beschwerde teilweise gut, indem sie das Grundstück Nr. 884 mit dem Wohnhaus Nr. 147 aus der Unterstellung unter das Entschuldungsgesetz entliess.
Alois Giger führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, das Grundstück Nr. 890 mit dem Wohnhaus Nr. 150 sei ebenfalls aus der Unterstellung unter das Entschuldungsgesetz zu entlassen und der in diesem Punkt gegenteilige Entscheid der Verwaltungsrekurskommission insoweit aufzuheben;
BGE 115 Ib 209 S. 211
eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Im Kanton St. Gallen ist das Grundbuchamt erstinstanzliche Unterstellungsbehörde (Art. 1 Abs. 1 der kantonalen Vollzugsverordnung über die Verhütung der Überschuldung landwirtschaftlicher Liegenschaften vom 10. Januar 1947 [Vollzugsverordnung; sGS 611.51]). Gegen seine Verfügungen ist die Rekursmöglichkeit an die kantonale Verwaltungsrekurskommission gegeben (Art. 2 der erwähnten Vollzugsverordnung in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 LEG). Angefochten ist ein Beschwerdeentscheid der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen.
Obwohl nach Art. 3 Abs. 1 LEG die kantonale Rekursinstanz endgültig entscheidet, hat das Bundesgericht in
BGE 107 Ib 286
ff. die Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Entscheide der kantonalen Rekursbehörden nach Art. 3 Abs. 1 LEG (betreffend Unterstellung) und Art. 7 Abs. 1 LEG (betreffend Schätzung) bejaht, und zwar gestützt auf die 1968 revidierten Bestimmungen der
Art. 97 ff. OG
(
BGE 107 Ib 287
E. 1a). Daran ist festzuhalten; ebenso daran, dass der kantonale Rekursentscheid über die neu einzuführende, aufrechtzuerhaltende oder aufzuhebende Unterstellung einer Liegenschaft unter das Entschuldungsgesetz auf Bundesrecht beruht (
BGE 107 Ib 288
E. 1b).
Sind somit die sachliche und funktionelle Zuständigkeit des Bundesgerichts wie auch die übrigen Prozessvoraussetzungen, insbesondere die Legitimation im Sinne von
Art. 103 lit. a OG
(
BGE 114 V 96
E. 2b, mit Hinweisen), gegeben, ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten.
2.
a) In rechtlicher Hinsicht hat die Verwaltungsrekurskommission die Sache unter dem Gesichtspunkt von
Art. 1 Abs. 2 der Verordnung über die Entschuldung landwirtschaftlicher Heimwesen vom 16. November 1945 (Verhüt-Verordnung; SR 211.412.120)
geprüft. Auch der Beschwerdeführer geht von dieser Betrachtungsweise aus.
b) Nach Art. 1 Abs. 2 Verhüt-Verordnung ist landwirtschaftliche Liegenschaft jede Bodenfläche,
- die durch Bewirtschaftung und Ausnützung der natürlichen Kräfte des Bodens den ihr eigenen Wert erhält,
BGE 115 Ib 209 S. 212
- oder zu einem Betrieb gehört, der in der Hauptsache der Gewinnung und Verwertung organischer Stoffe des Bodens dient.
Nach Abs. 3 gelten als landwirtschaftliche Liegenschaften namentlich Grundstücke, die dem Acker-, Wiesen-, Wein-, Mais-, Tabak-, Obst-, Feldgemüse- und Saatgutbau oder der Alpwirtschaft dienen.
Nach Auffassung von OTTO K. KAUFMANN (Das neue ländliche Bodenrecht der Schweiz, 1946), liegt in Anlehnung an die Definition in Art. 1 Verhüt-Verordnung ein landwirtschaftliches Grundstück vor, wenn drei Voraussetzungen gegeben sind:
- landwirtschaftliche Bewirtschaftung;
- Bewertung im freien Grundstückverkehr ausschliesslich nach Massgabe des jährlichen Bodenertrages;
- Zugehörigkeit zu einem landwirtschaftlichen Betrieb.
Sei keine dieser drei Voraussetzungen gegeben, so handle es sich nicht um ein landwirtschaftliches Grundstück. Schwierigkeiten würden sich ergeben, wenn nur einzelne von den drei Elementen vorliegen (KAUFMANN, a.a.O., S. 97). Die Vorschriften des Entschuldungsgesetzes würden nach der angeführten Definition auf alle Grundstücke Anwendung finden, die zu einem landwirtschaftlichen Betrieb gehören oder bei denen die beiden andern Elemente (landwirtschaftliche Benutzung und Bewertung nach dem Bodenertrag) gegeben seien (KAUFMANN, a.a.O., S. 99). Die Zugehörigkeit zu einem landwirtschaftlichen Betrieb als den landwirtschaftlichen Charakter des Grundstücks begründendes Moment wird zum Teil auch in der weiteren Literatur zutreffend als selbständiges Charakterisierungselement einer landwirtschaftlichen Liegenschaft hervorgehoben (FRANZ BÄCHTIGER, Der Begriff des landwirtschaftlichen Heimwesens und der landwirtschaftlichen Liegenschaft, in: Das neue landwirtschaftliche Bodenrecht der Schweiz, Referate des 76. schweizerischen Verwaltungskurses an der Handels-Hochschule St. Gallen, 1954, S. 19).
Nicht entscheidend, weil in Art. 1 Abs. 2 und 3 Verhüt-Verordnung nicht erwähnt, ist hingegen, ob die Liegenschaft in einer landwirtschaftlichen Gegend liegt (vgl. BLAISE KNAPP, Les immeubles affectés à l'agriculture et leur assujettissement à la loi fédérale sur le désendettement de domaines agricoles, 2. Aufl., Neuchâtel 1943, S. 19 ff., allerdings vor Erscheinen der Verhüt-Verordnung).
3.
a) Im Streit liegt die Entlassung des Grundstücks Nr. 890 mit dem Haus Nr. 150 aus der LEG-Unterstellung. Gemäss Feststellung der Vorinstanz, welche einen Augenschein durchgeführt
BGE 115 Ib 209 S. 213
hat, besteht diese Liegenschaft aus 1863 m2 Gebäudegrundfläche, Hofraum und Wiese. Weil das Wohnhaus Nr. 150 unbestrittenerweise seit langem an einen Nichtlandwirt vermietet ist und weil die Grundstücksfläche mit 1863 m2, wovon erst noch nur ein Teil für Hofraum und Wiese verbleibt, im Vergleich zur gesamten Fläche des Anwesens von rund 26,4 ha verschwindend klein ist, kann weder gesagt werden, das Grundstück Nr. 890 diene der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung, noch erhalte es dadurch bzw. durch die Ausnützung seiner natürlichen Kräfte den ihm eigenen Wert. Das ist zwischen Vorinstanz und Beschwerdeführer unbestritten. Fraglich ist einzig, ob das Grundstück Nr. 890 im Sinne der weiteren Voraussetzung von Art. 1 Abs. 2 Verhüt-Verordnung zu einem landwirtschaftlichen Betrieb gehört.
b) Vorinstanz wie Beschwerdeführer gehen nicht von einer zivilrechtlichen Zugehörigkeit aus (die vorliegend offensichtlich zu bejahen wäre), sondern von einer wirtschaftlichen Zugehörigkeit, indem ihre Auseinandersetzung zur Hauptsache dahin geht, ob das Wohnhaus Nr. 150 zur Deckung des Wohnraumbedarfs des landwirtschaftlichen Heimwesens erforderlich ist. Ferner nehmen Verwaltungsrekurskommission und Beschwerdeführer übereinstimmend an, bei der Ermittlung des objektiven Wohnraumbedarfs sei nicht von der gegenwärtigen, auf die Sömmerung von Vieh beschränkten Bewirtschaftung auszugehen; vielmehr sei zu fragen, welchen Wohnraum das landwirtschaftliche Heimwesen insgesamt erfordern würde, wenn darauf eine Familie voll erwerbstätig wäre.
Anders als im Bereich von
Art. 19 des Bundesgesetzes über die Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes vom 12. Juni 1951 (Erhaltungsgesetz, EGG; SR 211.412.11)
, wo die bloss wirtschaftliche Zugehörigkeit nicht genügt (
BGE 82 I 264
ff. E. 1), hängt die Zugehörigkeit einer Liegenschaft im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Verhüt-Verordnung davon ab, ob das konkrete einzelne Grundstück einem bäuerlichen Betrieb dient (KAUFMANN, a.a.O., S. 102). Ob der Betrieb, dem ein Grundstück als Bestandteil zuzurechnen ist, eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz darstellt, ist allerdings für die Unterstellungsfrage nicht ausschlaggebend. Insoweit ist gegen die vorinstanzliche Beurteilung nichts einzuwenden. Fraglich ist aber, ob die Vorinstanz zu Recht die wirtschaftlich zudienende Funktion des Grundstücks Nr. 890 mit dem Wohnhaus Nr. 150 für den landwirtschaftlichen Betrieb des Beschwerdeführers nicht im Lichte der gegenwärtigen aktuellen Verhältnisse, sondern vielmehr aufgrund hypothetischer Annahmen
BGE 115 Ib 209 S. 214
geprüft hat, wie es sich verhielte, wenn der Beschwerdeführer (oder sonst ein Eigentümer) das Anwesen als Familienbetrieb voll bewirtschaftete. Dies trifft ja unbestrittenerweise seit langem nicht mehr zu, indem der Beschwerdeführer nicht einmal mehr nebenberuflich sein Anwesen bewirtschaftet, sondern lediglich noch Vieh aus dem Unterland zur Sömmerung entgegennimmt.
Für diese Auffassung lässt sich dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Verhüt-Verordnung nichts entnehmen. Die Doktrin anerkennt als Aufhebungsgrund gemäss Art. 4 Abs. 1 LEG insbesondere wirtschaftliche Änderungen, welche die früher ermittelte Qualität als landwirtschaftliches Heimwesen/landwirtschaftliche Liegenschaft dahinfallen lassen (ALFONS AUF DER MAUR, Der Schutz der Gläubigerrechte nach dem Bundesgesetz über die Entschuldung landwirtschaftlicher Heimwesen, Diss. Freiburg 1949, S. 37; HEINRICH OECHSLIN, Die Entschuldung landwirtschaftlicher Heimwesen nach dem Bundesgesetz vom 12. Dezember 1940, Diss. Freiburg 1944, S. 69; vgl. auch BBl 1936 II 234 Ziff. 4, wo ferner festgehalten wird, landwirtschaftliche Liegenschaften könnten im Laufe der Jahre zu Baugrundstücken werden, sei es durch Abtrennung von einzelnen Parzellen, sei es durch Einbezug in Baugebiet). Hingegen sind die vorinstanzlichen Erwägungen im Ergebnis begründet, wenn der Stellenwert des Entschuldungsgesetzes im gesamten Gefüge des bäuerlichen Bodenrechts beachtet wird; denn dieses ist insgesamt eindeutig auf eine Erhaltung lebensfähiger bäuerlicher Betriebe ausgerichtet (vgl. etwa Art. 75 Abs. 3 LEG). So wie im Bereich des Erhaltungsgesetzes die objektive landwirtschaftliche Nutzungseignung, und nicht die tatsächliche Nutzung das massgebliche Kriterium bildet (
BGE 113 II 444
E. 2) und es auf zumutbare Anstrengungen und Dispositionen ankommt (
BGE 113 II 445
E. 3,
BGE 109 Ib 93
), ist die Zugehörigkeit einer Liegenschaft zu einem landwirtschaftlichen Betrieb im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Verhüt- Verordnung ebenfalls nach objektiven Kriterien, nötigenfalls mit Hilfe hypothetischer Annahmen zu beurteilen (so zutreffend ZBGR 63/1982 S. 170 E. 1c, mit zahlreichen Hinweisen); denn sonst hätte es der Grundeigentümer in der Hand, durch eine nicht schutzwürdige Einschränkung der bäuerlichen Bewirtschaftung ein landwirtschaftliches Grundstück dem Entschuldungsgesetz zu entziehen. Somit können als erhebliche, d.h. eine Aufhebung begründende, wirtschaftliche Änderungen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 LEG nur solche neuen Verhältnisse verstanden werden, die - unabhängig von Dispositionen des Eigentümers - den
BGE 115 Ib 209 S. 215
landwirtschaftlichen Charakter eines Grundstückes dahinfallen lassen, etwa dadurch, dass die Liegenschaft als Bauland eingezont und erschliessbar wird (ZBGR 45/1964 S. 38).
c) Ist aber im vorliegenden Fall der Wohnraumbedarf für das landwirtschaftliche Anwesen des Beschwerdeführers so zu ermitteln, wie wenn eine Familie dort wohnen und den Betrieb bewirtschaften würde, so lässt sich die Beurteilung der Verwaltungsrekurskommission nicht beanstanden. Sämtliche Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde widerlegen die Feststellung der Vorinstanz nicht, dass das Wohnhaus Nr. 150 "sich von der Lage, dem Zustand und dem verfügbaren Wohnraum her am besten als Wohnhaus eines Betriebsinhabers" eignet. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, dass die Vorinstanz aufgrund des Augenscheines zur Überzeugung gelangte, das Haus Nr. 158, das eine umgebaute Scheune ist, vermöge zwar als Stöckli im Sinne der kantonalen Baugesetzgebung, nicht aber als Familienwohnung für einen Betriebsleiter zu genügen. Dass schliesslich für ein Heimwesen der vorliegenden beträchtlichen Grösse, wenn es durch eine Familie voll bewirtschaftet würde, ein Wohnhaus und ein Stöckli erforderlich wären, lässt sich ebenfalls nicht mit Grund in Abrede stellen. Dem Umstand, dass seit der Unterstellung unter das Entschuldungsgesetz im Jahre 1951 zusätzlicher Wohnraum geschaffen wurde, wie der Beschwerdeführer einwendet, hat die Rekurskommission mit der Entlassung des Grundstücks Nr. 884 mit dem Wohnhaus Nr. 147 bereits genügend Rechnung getragen. Darüber hinaus liegen insgesamt keine wesentlich veränderten Verhältnisse im Sinne von Art. 4 Abs. 1 LEG vor, weshalb dem Begehren um Entlassung des Grundstücks Nr. 890 mit dem Wohnhaus Nr. 150 nicht stattgegeben werden kann. | de |
43db7ade-860b-4c0c-951e-98768d6cfd42 | Sachverhalt
ab Seite 5
BGE 82 II 4 S. 5
Aus dem Tatbestand:
A.-
Der am 4. März 1951 gestorbene Landwirt Gottfried Born-Graf hinterliess ein landwirtschaftliches Heimwesen in Rengershäusern-Thunstetten, das ein Wohnhaus mit Scheune, verschiedene Nebengebäude sowie ca. 7 1/2 ha Kulturland und Wald umfasste. Sein jüngster Sohn Hans, geb. 1902, der 11 Jahre als Knecht bei ihm gearbeitet und das Heimwesen seit dem Jahre 1929 als Pächter bewirtschaftet hatte, erhob gegenüber seinen Miterben (seiner Stiefmutter und seinen sieben Geschwistern) Anspruch darauf, dass dieses ihm gemäss
Art. 620 ZGB
zum Ertragswert ungeteilt zugewiesen werde. Die Miterben widersetzten sich diesem Begehren. Die Klagen, mit denen er im Frühjahr 1952 seine Geschwister einerseits und seine Stiefmutter anderseits getrennt ins Recht fasste, wurden vom Amtsgericht Aarwangen am 26. März 1954 wegen mangelnder Passivlegitimation abgewiesen.
B.-
Während dieses ersten Prozesses, am 25. Mai 1953, brannte das Bauernhaus ab. Die Brandruinen stehen heute noch unverändert, weil die Parteien sich über einen Wiederaufbau nicht einigen konnten. Der Kläger führt den Betrieb weiter, obwohl vom abgebrannten Haus nur noch der Schweinestall benützbar ist. Er wohnt in einem benachbarten kleineren Hause, das er persönlich besitzt. Hier und in einem baufälligen alten Hause, das in der Nähe steht und ebenfalls ihm gehört, hat er auch die Pferde, das Rindvieh und einen Teil des Inventars untergebracht. Daneben benützt er Lagerräume in fremden Häusern.
C.-
Mit der vorliegenden Klage, die er am 10. November 1954 gegen seine acht Miterben einleitete, stellte Hans Born das Rechtsbegehren, es sei ihm das in der Erbschaft befindliche landwirtschaftliche Heimwesen einschliesslich des Anspruchs an die Brandversicherungsanstalt des Kantons Bern aus dem Brande vom 25. Mai 1953 ungeteilt zum
BGE 82 II 4 S. 6
Ertragswert auf Anrechnung an seinen Erbteil zuzuweisen.
Die Beklagten beantragten Abweisung der Klage und stellten eventuell verschiedene Widerklagebegehren, die sich namentlich auf die Feststellung des Anrechnungswertes und auf ein angeblich vorhandenes Nebengewerbe bezogen.
Das Amtsgericht von Aarwangen wies mit Urteil vom 1. Juli 1955 die Klage ab, weil das Nachlassgrundstück, nachdem das Bauernhaus abgebrannt sei, nicht mehr ein landwirtschaftliches Gewerbe im Sinne von
Art. 620 ZGB | de |
08f14d74-ab01-4146-b10c-517d69186e36 | Sachverhalt
ab Seite 416
BGE 133 V 416 S. 416
A.
Der 1955 geborene Dr. med. S., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, war bis Ende 2003 bei der Assura Kranken- und Unfallversicherung obligatorisch für Krankenpflege versichert. Im Zusammenhang mit einem gemeldeten Zeckenbiss aus dem Jahre 1999 erbrachte der Unfallversicherer (Zürich Versicherungs-Gesellschaft) zunächst die gesetzlichen
BGE 133 V 416 S. 417
Versicherungsleistungen, lehnte aber mit Verfügung vom 8. Januar 2003 und Einspracheentscheid vom 7. März 2006 den Anspruch auf Leistungen ab. Das zu dieser Frage eingeleitete Rechtsmittelverfahren ist letztinstanzlich noch beim Bundesgericht hängig (U 585/06).
Die Assura anerkannte am 3. April 2003 im Grundsatz ihre Vorleistungspflicht für die Behandlung der angeblich durch den Zeckenbiss übertragenen Lyme-Borreliose, verweigerte aber gewisse Leistungen, worauf das damalige Eidg. Versicherungsgericht (heute Bundesgericht) in teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Urteil vom 27. Januar 2005 die sich nach Massgabe des KVG richtende Vorleistungspflicht der Assura bestätigte.
S. ersuchte die Assura am 15. Dezember 2005 um Rückerstattung der Kosten für in der Zeit vom 6. Dezember 2001 bis 17. Januar 2002 und vom 5. November bis 16. Dezember 2002 von ihm an sich selbst vorgenommene Borreliose-Behandlungen im Gesamtbetrag von Fr. 22'532.60. Mit Verfügung vom 14. März 2006 lehnte die Assura die Vergütung der beiden Rechnungen ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 5. Mai 2006 fest.
B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 18. Januar 2007 ab.
C.
S. lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei im Rahmen der Vorleistungspflicht sein Anspruch von Fr. 22'532.60 für die Selbstbehandlungen zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung anzuerkennen.
Die Assura und das Bundesamt für Gesundheit schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Die Beschwerde wird abgewiesen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Streitig ist, ob sich die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenversicherung auch auf die Selbstbehandlung eines Arztes erstreckt. Diese dem Bundesgericht erstmals vorgelegte Rechtsfrage ist von grundsätzlicher Bedeutung, weshalb über sie nach
Art. 20 Abs. 2 BGG
in Fünferbesetzung zu entscheiden ist.
2.
2.1
Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer
BGE 133 V 416 S. 418
Krankheit und ihrer Folgen dienen (
Art. 25 Abs. 1 KVG
). Haben Versicherer und Leistungserbringer nichts anderes vereinbart, so schulden gemäss
Art. 42 Abs. 1 KVG
die Versicherten den Leistungserbringern die Vergütung der Leistung, wobei sie gegenüber dem Versicherer einen Anspruch auf Rückerstattung (im Sinne der Erstattung oder Vergütung) haben (System des Tiers garant). Versicherer können nach Abs. 2 dieses Artikels vereinbaren, dass der Versicherer die Vergütung schuldet (System des Tiers payant). Ein Anspruch auf Erstattung des Honorars eines freipraktizierenden Leistungserbringers durch den Versicherer besteht jedoch in der Regel nur, wenn eine solche Honorarforderung nach den zivilrechtlichen Voraussetzungen gegeben ist (
BGE 125 V 430
E. 3a S. 432 und 435 E. 3a), wobei deren Erfüllung im letztgenannten Fall des Eltern-Kind-Verhältnisses offenbleiben kann.
2.2
Gestützt auf die in E. 2.1 dargelegte Rechtsprechung hat das kantonale Gericht zu Recht geprüft, ob dem Leistungserbringer, der identisch mit dem Beschwerdeführer ist, ein Honoraranspruch gegenüber sich selbst entstanden ist. Die Vorinstanz verneint dies im Wesentlichen auf den Überlegungen basierend, dass das Vertragsverhältnis zwischen Arzt und Patient unter die Bestimmungen über den Auftrag (
Art. 394 ff. OR
) fällt und dass niemand mit sich selbst einen Vertrag schliessen kann. Diese Auffassung wird von der Doktrin (siehe GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], 2. Aufl., Basel 2006, Rz. 951 und Fn. 1483) und dem Bundesamt für Gesundheit geteilt.
3.
3.1
Den vorinstanzlichen Erwägungen ist beizupflichten: Das vom Gesetzgeber gewählte System des Tiers garant (vgl.
Art. 42 Abs. 1 KVG
) beruht auf einem personalen Dreiecksverhältnis zwischen Versicherer (Krankenkasse), Versichertem (Patient) und Leistungserbringer (z.B. Arzt). Gleiches gilt ohne Weiteres auch für das System des Tiers payant. Sind nun aber - wie hier - Patient und Arzt identisch, schuldet Ersterer sich selbst mangels eines zivilrechtlichen Vertragsverhältnisses offensichtlich keine Vergütung für die an seiner eigenen Person vorgenommenen ärztlichen Behandlungen.
3.2
Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringen lässt, dringt nicht durch:
BGE 133 V 416 S. 419
3.2.1
Er macht geltend, er könne wegen des Versicherungsobligatoriums nicht wählen, ob er eine Krankenversicherung abschliessen oder sich selbst behandeln wolle und habe daher Anspruch auf die volle Übernahme der Kosten für Pflichtleistungen. Dass er - wie jede versicherte Person - grundsätzlich Anspruch auf die Leistungen nach KVG hat, ändert nach dem Gesagten indessen nichts daran, dass die entsprechenden Voraussetzungen jeweils erfüllt sein müssen. Wenn behandelter Patient und behandelnder Arzt die gleichen Personen sind, fehlt es an einer krankenversicherungsrechtlich vergütungsfähigen Honorarforderung, weshalb eine Leistungspflicht des Versicherers entfällt. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bietet das KVG keinen Raum, den Ausnahmefall der ärztlichen Selbstbehandlung, wie von ihm verlangt, zu regeln, liegt doch diesfalls das nach dem vom Gesetzgeber gewählten System verlangte rückforderbare Substrat nicht vor.
3.2.2
Aus der nicht Gegenstand des Verfahrens bildenden Übernahme der Medikamentenkosten durch die Beschwerdegegnerin kann der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten ableiten. Ob, wie EUGSTER, a.a.O., in Rz. 951 an sich folgerichtig postuliert, von einem Arzt sich selbst verordnete Arzneimittel nicht Pflichtleistungen sein können, kann offenbleiben, ist doch unbestritten, dass der Beschwerdeführer sich diese nicht selbst verordnet hat. Vielmehr wurden sie ihm von einer anderen ihn behandelnden Ärztin verschrieben.
3.2.3
Aus der Rechtsprechung, wonach sich die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung auch auf die ärztliche Behandlung durch den Ehepartner der versicherten Person (
BGE 125 V 430
) und durch einen Elternteil des versicherten Kindes (
BGE 125 V 435
) erstreckt, ergibt sich ebenfalls nichts zu Gunsten des Beschwerdeführers, lag doch jenen Konstellationen keine personelle Identität zu Grunde.
3.2.4
Dass der Beschwerdeführer bei einer anderen Ärztin in Behandlung steht, die ihm die Medikamente und die Behandlung verordnet hat, ändert nichts daran, dass es im Wesentlichen um eine nicht kassenpflichtige Selbstbehandlung geht.
3.2.5
Inwiefern schliesslich die Selbstbehandlung wirtschaftlicher sein soll, ist nicht nachvollziehbar, hat doch der Beschwerdeführer (als Leistungserbringer) den üblichen Ansatz nach Tarif in Rechnung gestellt.
BGE 133 V 416 S. 420
4.
Die KV-rechtliche Vergütung ärztlicher Selbstbehandlung ist auch wegen der Gefahr des Missbrauchs zu verneinen (vgl. zur Ungültigkeit des Selbstkontrahierens bei Interessenkollisionen im Zivilrecht: GUHL/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl., Zürich 2000, S. 157 N. 15 zu § 18 mit Hinweisen auf die Praxis). Eine solche hatte das damalige Eidg. Versicherungsgericht zwar bereits in den in E. 3.2.3 erwähnten Konstellationen geortet. Es hielt aber fest, dass es dem Krankenversicherer unbenommen bleibt, die Kontrollmöglichkeiten in solchen Fällen zu intensivieren. In jenen Fällen waren Arzt und Patient wohl familiär sehr eng miteinander verbunden, jedoch verschiedene natürliche Personen. Den an seiner eigenen Person tätig werdenden Arzt als Leistungserbringer der gesetzlichen Krankenversicherung zuzulassen, würde indessen zu einer Vermischung der Rollen der versicherten Person und des Leistungserbringers führen, was auch unter dem Gesichtswinkel einer jederzeit möglichen und unkontrollierbaren Missbrauchsgefahr abzulehnen ist. | de |
8b566f9c-9bdc-4e38-937d-a101b7342203 | Sachverhalt
ab Seite 409
BGE 81 II 408 S. 409
Am 29. April 1955 hat das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft die am 17. März 1949 geschlossene, kinderlos gebliebene Ehe der Parteien auf Klage des Ehemanns gemäss
Art. 142 ZGB
geschieden und den Ehemann in Anwendung von
Art. 152 ZGB
zur Leistung eines Unterhaltsbeitrags von monatlich Fr. 80.- für die Dauer von vier Jahren verpflichtet mit der Begründung, die Ehe der Parteien sei ausschliesslich aus objektiven Gründen zerrüttet. Der Beklagten könne ihr unverträgliches Verhalten wegen ihres Schwachsinns nicht zum Verschulden angerechnet werden. Auch ihre Bedürftigkeit sei grundsätzlich zu bejahen. Sie verdiene gegenwärtig in einer Fabrik einen Stundenlohn von 70 Rappen, was für ihren Lebensunterhalt nicht ausreiche. Wegen ihrer sehr beschränkten Fähigkeiten sei nicht anzunehmen, dass sie bald einen höhern Verdienst werde erzielen können. Dem Kläger, der monatlich Fr. 470.-- verdiene, sei es möglich, ihr einen Unterhaltsbeitrag von Fr. 80.- zu leisten. Seine Beitragspflicht sei indessen auf vier Jahre zu beschränken, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Beklagte, wenn sie nicht geheiratet hätte, finanziell nicht besser stünde. Es könne "nicht Sache des Klägers sein, zeitlebens für sie aufzukommen, weil sie infolge ihres Schwachsinns nicht fähig ist, ihren vollen Lebensunterhalt selber zu bestreiten". Die zeitliche Beschränkung der Rente sei gemäss
Art. 152 ZGB
möglich, "weil nach dieser Bestimmung bei Vorliegen der Voraussetzungen die Unterhaltsbeiträge lediglich zugesprochen werden können, nicht müssen". Auch dürfe erwartet werden, dass bis zum Ablauf der Übergangsrente in ländlichen Verhältnissen für die Beklagte mit Hilfe ihrer
BGE 81 II 408 S. 410
Verwandten ein ihren Unterhalt sichernder Arbeitsplatz gefunden werden könne.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, der Unterhaltsbeitrag sei ihr ohne zeitliche Begrenzung zuzusprechen. Der Kläger beantragt, auf die Berufung sei nicht einzutreten; eventuell sei sie abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Kläger ist der Meinung, auf die Berufung sei nicht einzutreten, weil der kantonale Richter seinen Entscheid über den streitigen Rentenanspruch auf Grund des ihm durch
Art. 152 ZGB
eingeräumten Ermessens gefällt habe, sodass dieser Entscheid überhaupt nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht beruhen könne. Der kantonale Richter ist jedoch auch dort, wo das Bundesrecht ihn auf sein Ermessen verweist, nicht schlechthin frei, sondern an die Vorschrift von
Art. 4 ZGB
gebunden, wonach er seine Entscheidung in solchen Fällen "nach Recht und Billigkeit" zu treffen hat. Die Missachtung dieser Vorschrift stellt eine Bundesrechtsverletzung dar. Der angefochtene Entscheid unterliegt daher der Berufung.
2.
Art. 152 ZGB
ermächtigt den Richter, einem schuldlosen Ehegatten, der durch die Scheidung in grosse Bedürftigkeit gerät, einen Unterhaltsbeitrag zuzusprechen, auch wenn der andere Ehegatte an der Scheidung nicht schuld ist. Recht und Billigkeit gebieten, dass der Richter von dieser Befugnis Gebrauch macht, d.h. einem solchen Gatten (die Leistungsfähigkeit des andern vorausgesetzt) für die voraussichtliche Dauer der Bedürftigkeit einen Unterhaltsbeitrag zuspricht, wenn nicht besondere Gründe es als angebracht erscheinen lassen, einen solchen Beitrag überhaupt nicht oder doch nicht für die ganze Dauer der Bedürftigkeit zu gewähren. Ein derartiger Grund kann darin liegen, dass aus Ursachen, die dem bedürftigen Gatten zwar nicht zum Verschulden gereichen, aber doch
BGE 81 II 408 S. 411
in seiner Person liegen, eine richtige eheliche Gemeinschaft nie zustandegekommen ist. Das ist im wesentlichen der Sinn des Entscheides BGE 67 II Nr. 2. Zwar wurde dort zunächst damit argumentiert, dass die Geisteskrankheit, welche die Erwerbsfähigkeit der damaligen Beklagten beeinträchtigte, schon vor Abschluss der Ehe bestanden habe und dass daher eine allfällige Bedürftigkeit der Beklagten nicht "durch die Scheidung" (bezw. Ungültigerklärung) der Ehe verursacht worden sei. Auch eine Frau, die von jeher nur vermindert erwerbsfähig war und deshalb ihren Lebensunterhalt nicht (voll) zu verdienen vermag, gerät jedoch, wenn sie nicht über sonstige Mittel verfügt, bei Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Ungültigerklärung infolge dieses Ereignisses in Bedürftigkeit, weil sie damit eben den ehelichen Unterhaltsanspruch verliert. Man kann daher nicht wohl sagen, dass in einem solchen Falle die in Frage stehende gesetzliche Voraussetzung des Anspruchs auf einen Unterhaltsbeitrag nicht gegeben sei. Das Bundesgericht hat sich im erwähnten Urteil denn auch nicht mit diesem Argument begnügt, sondern hervorgehoben, dass die Geisteskrankheit der Beklagten, die schon bei Abschluss der Ehe in gleicher Schwere bestanden hatte, eine wirkliche Ehegemeinschaft von Anfang an verunmöglicht habe, und seine Entscheidung schliesslich mit der Erwägung begründet: "Zur Gründung einer ehelichen Gemeinschaft trug die Beklagte so wenig bei, dass es nicht zu rechtfertigen ist, den Ehemann zu Unterhaltsleistungen auf Grund von
Art. 152 ZGB
heranzuziehen und dadurch zu seinem Nachteil die Familie der Beklagten und das zuständige Gemeinwesen von der Unterstützungspflicht zu entlasten." Dass die Beitragspflicht immer dann zu verneinen sei, wenn das geistige Ungenügen des bedürftigen Gatten das Entstehen einer wahren Ehegemeinschaft verhinderte, ist damit nicht gesagt, sondern es kommt hier so sehr auf die konkreten Umstände des einzelnen Falles an, dass sich starre Regeln nicht aufstellen lassen.
BGE 81 II 408 S. 412
Im vorliegenden Falle kann dahingestellt bleiben, ob mit hinreichender Sicherheit erwartet werden dürfe, dass die Beklagte nach Ablauf der Zeit, für welche ihr ein Unterhaltsbeitrag zugesprochen wurde, in der Lage sein werde, ihren vollen Lebensunterhalt zu verdienen; denn der angefochtene Entscheid wäre auch dann gerechtfertigt, wenn man diese Frage verneinen wollte. Der die Erwerbsfähigkeit der Beklagten beeinträchtigende Schwachsinn ist nicht erst im Verlauf einer vorerst normal verlaufenen Ehe eingetreten, sondern bestand nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz schon bei Abschluss der Ehe in einem Masse, dass fragwürdig ist, ob die Beklagte die zur Eheschliessung erforderliche Urteilsfähigkeit besass. Die Vorinstanz erklärt, eine eheliche Gemeinschaft, die über das rein äusserliche Zusammenleben hinaus gegangen wäre, habe zwischen den Parteien "überhaupt nie" bestanden. Der vorliegende Tatbestand zeigt also Ähnlichkeit mit dem in BGE 67 II Nr. 2 beurteilten Falle. Dort beeinträchtigte aber die schon bei der Eheschliessung bestehende geistige Störung der Beklagten die ehelichen Beziehungen in noch stärkerem Masse als im vorliegenden Falle, und ausserdem standen hier neben dem Schwachsinn der Beklagten auch die eigenen geistigen Mängel des Klägers der Begründung einer wahren Ehegemeinschaft im Wege. Der heutigen Beklagten jeglichen Unterhaltsbeitrag zu verweigern, hätte unter diesen Umständen ihr gegenüber eine unbillige Härte bedeutet. Dagegen erscheint eine zeitliche Beschränkung der Beitragspflicht des Klägers als gerechtfertigt. Mit der Begrenzung auf vier Jahre hat die Vorinstanz von dem ihr zustehenden Ermessen nicht in bundesrechtswidriger Weise Gebrauch gemacht. | de |
25e18c69-f262-4ce7-b3ea-25f53cc5b252 | Sachverhalt
ab Seite 41
BGE 100 III 41 S. 41
Am 11. März 1974 betrieb die Firma Trapani Rosa S.p.A., Cologno Monzese, die Firma Kellenberger AG, Thun, für den Betrag von Fr. 24363.-- nebst Zins zu 6% seit 31. Dezember 1973. Die Gläubigerin stützte ihre Forderung auf einen von der Firma Kellenberger AG akzeptierten Wechsel in der Höhe des in Betreibung gesetzten Betrages. Die Firma Kellenberger AG erhob Rechtsvorschlag.
BGE 100 III 41 S. 42
Am 19. Juni 1974 leitete die Firma Trapani Rosa S.p.A. gegen die Firma Kellenberger AG für die gleiche Forderung Wechselbetreibung ein. Die Firma Kellenberger AG reichte gegen die zweite Betreibung bei der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen für den Kanton Bern Beschwerde ein. Sie beantragte, es sei. der Zahlungsbefehl in der Wechselbetreibung aufzuheben. Zur Begründung machte sie im wesentlichen geltend, die Wechselbetreibung sei unzulässig, weil die ordentliche Betreibung auf Konkurs vorher nicht zurückgezogen worden sei.
Gleichzeitig suchte sie beim Richter um Bewilligung des Rechtsvorschlages nach.
Gegen das die Beschwerde abweisende Urteil der Aufsichtsbehörde hat die Firma Kellenberger AG beim Bundesgericht Rekurs eingereicht. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
Das Bundesgericht hatte sich bisher verschiedentlich darüber auszusprechen, ob es zulässig sei, für die gleiche Forderung zwei oder mehr Betreibungen einzuleiten. Dabei entschied es, dass der Schuldner sich einem neuen Zahlungsbefehl für eine bereits in Betreibung gesetzte Forderung durch Rechtsvorschlag (
BGE 88 III 66
mit Hinweisen) und bei feststehender und unbestrittener Identität der Forderungen auch mit Beschwerde widersetzen könne (
BGE 88 III 66
und
BGE 69 III 72
). Auf diese Weise ist es möglich zu verhindern, dass ein Gläubiger für dieselbe Forderung zur gleichen Zeit mehrmals auf das schuldnerische Vermögen greifen kann. Eine nähere Prüfung der bisher beurteilten Fälle (
BGE 88 III 66
,
BGE 69 III 71
/72,
BGE 67 III 114
/115,
BGE 39 I 471
,
BGE 26 I 514
ff. sowie Entscheid des Bundesrates i.S. Dubois vom 30. Dezember 1895, publ. in Archiv für Schuldbetreibung und Konkurs, 1896, S. 354) lässt indessen erkennen, dass eine weitere Betreibung für die nämliche Forderung jeweils nur dann nicht zugelassen wird, wenn der Gläubiger im früheren Betreibungsverfahren das Fortsetzungsbegehren bereits gestellt hat oder zu stellen berechtigt ist. Nur in diesen Fallen entsteht denn auch ernsthaft die Gefahr der mehrmaligen Vollstreckung in das schuldnerische Vermögen. Ist die frühere Betreibung aber
BGE 100 III 41 S. 43
durch Rechtsvorschlag gehemmt oder wegen Verzichts des Gläubigers hinfällig geworden, so besteht kein Anlass, den Gläubiger daran zu hindern, für die gleiche Forderung eine neue Betreibung einzuleiten.
Stehen dem Gläubiger von Gesetzes wegen zwei verschiedene Betreibungsarten zur Verfügung, so muss es ihm unter den erwähnten Voraussetzungen nicht bloss gestattet sein, eine neue Betreibung anzuheben, sondern es muss ihm auch freistehen, die andere Betreibungsart zu wählen, da das Wahlrecht durch die frühere Wahl nicht konsumiert wird (vgl. hiezu
BGE 67 III 114
/115 und
BGE 39 I 471
).
Dem Schuldner entsteht im übrigen kein Nachteil, wenn dem Gläubiger die Möglichkeit zugestanden wird, für die nämliche Forderung mehrere Betreibungen anzuheben. Das Gesetz schützt nämlich den Betriebenen, der seine Schuld bezahlt hat, davor, den in Betreibung gesetzten Betrag nochmals bezahlen zu müssen, indem es ihm die Möglichkeit gibt, die Forderung mit Rechtsvorschlag zu bestreiten oder gemäss
Art. 85 SchKG
die Aufhebung der Betreibung zu verlangen. Hat er dagegen die Schuld noch nicht bezahlt und ist ein Betreibungsverfahren bereits bis zu jenem Stadium fortgeführt, in welchem der Gläubiger das Fortsetzungsbegehren stellen kann, so kann er sich einem neuen Zahlungsbefehl für dieselbe Forderung durch Rechtsvorschlag und bei feststehender und unbestrittener Identität der Forderungen auch mit Beschwerde widersetzen.
Im vorliegenden Fall stand es der Gläubigerin somit frei, die Wechselbetreibung einzuleiten, nachdem die Schuldnerin die ordentliche Betreibung durch Rechtsvorschlag gehemmt hatte. | de |
1c7fb756-d8d1-43b1-a62b-a42d7458e529 | Sachverhalt
ab Seite 427
BGE 135 II 426 S. 427
A.
X. und Y., eigenen Angaben zufolge Cousins mit iranischer Staatsangehörigkeit, stellten beide am 30. Dezember 2004 in der Schweiz ein erstes Asylgesuch. Das Bundesamt für Migration (BFM) lehnte beide Gesuche am 19. Januar 2005 ab, die dagegen eingereichten Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht je mit Urteilen vom 24. August 2007 ab.
Am 21. Dezember 2007 liessen sowohl X. als auch Y. durch ihren Rechtsanwalt je ein zweites Asylgesuch einreichen, auf welche das BFM mit Verfügung vom 9. Februar 2009 (Y.) bzw. vom 12. Februar 2009 (X.) nicht eintrat. Mit Eingabe vom 17. Februar 2009 (Y.) bzw. vom 20. Februar 2009 (X.) erhoben beide Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht. Dieses hiess die Beschwerde von Y. mit Urteil D-1009/2009 vom 25. Februar 2009 gut und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Demgegenüber wies es die Beschwerde von X. mit Urteil D-1159/2009 vom 2. März 2009 ab. Beide Fälle wurden in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters (
Art. 111 lit. e AsylG
) behandelt, im Verfahren D-1009/2009 weil die Beschwerde "offensichtlich begründet" sei, im Fall D-1159/2009 weil die Beschwerde "offensichtlich unbegründet" sei.
B.
Am 14. April 2009 liess X. beim Bundesgericht Aufsichtsanzeige einreichen. Er macht im Wesentlichen geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe das Gleichbehandlungsgebot verletzt, und beantragt
BGE 135 II 426 S. 428
die Aufhebung des Urteils vom 2. März 2009. Das Bundesverwaltungsgericht schliesst auf Nichteintreten.
Das Bundesgericht gibt der Aufsichtsbeschwerde keine Folge, soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Beim vorliegenden Verfahren handelt es sich um eine Aufsichtsanzeige im Sinne von Art. 1 Abs. 2 des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110), Art. 3 lit. f des Aufsichtsreglements des Bundesgerichts (AufRBGer; SR 173.110.132) und Art. 3 Abs. 1 des Verwaltungsgerichtsgesetzes (VGG; SR 173.32) i.V.m. Art. 71 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021). Das Verfahren wird von Amtes wegen behördenintern durchgeführt und begründet keinen Anspruch auf Parteirechte (
Art. 71 Abs. 2 VwVG
;
Art. 9 Abs. 2 AufRBGer
).
Die Aufsicht des Bundesgerichts über das Bundesstraf- und das Bundesverwaltungsgericht ist administrativer Art; die Rechtsprechung ist von der Aufsicht ausgenommen (
Art. 2 Abs. 2 AufRBGer
, Art. 3 Abs. 1 des Strafgerichtsgesetzes [SGG; SR 173.71],
Art. 3 Abs. 1 VGG
). Aufsichtsanzeigen, welche sich in rein appellatorischer Kritik am beanstandeten Urteil erschöpfen, ist daher keine Folge zu geben. Der Aufsicht unterstehen hingegen alle Bereiche der Geschäftsführung, insbesondere die Gerichtsleitung, die Organisation, die Fallerledigung sowie das Personal- und Finanzwesen (
Art. 2 Abs. 1 AufRBGer
).
2.
In der Anzeige wird geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe die beiden Verfahren in völlig unterschiedlicher Weise behandelt, insbesondere die Frage des rechtlichen Gehörs genau entgegengesetzt beurteilt. Dies obwohl in sämtlichen wesentlichen Punkten ein nahezu identischer Sachverhalt vorgelegen habe.
Das Bundesverwaltungsgericht beantragt, auf die Aufsichtsanzeige nicht einzutreten, da sie sich in appellatorischer Kritik am von ihm gefällten Urteil D-1159/2009 erschöpfe.
3.
Den angezeigten Fällen lagen weitgehend identische Sachverhalte zweier Cousins zu Grunde. Das Bundesverwaltungsgericht wies die beiden Beschwerden zwei unterschiedlich besetzten Spruchkörpern in verschiedenen Kammern der Abteilung IV zu. Diese beantworteten die sich in beiden Fällen gleich stellende Frage, ob bei mit
BGE 135 II 426 S. 429
exilpolitischen Tätigkeiten (subjektiven Nachfluchtgründen) begründeten zweiten Asylgesuchen eine persönliche Anhörung stattfinden muss, unterschiedlich: Während das Urteil D-1009/2009 vom 25. Februar 2009, Ziff. 5.4, auf die Rechtsprechung der ehemaligen Asylrekurskommission verweist, "welcher sich das Bundesverwaltungsgericht anschliesst", geht das andere - eine Woche später gefällte Urteil - auf diese Rechtsprechung nicht ein und beantwortet die Frage genau umgekehrt (Urteil D-1159/2009 vom 2. März 2009 S. 7 f.).
Das Bundesverwaltungsgericht räumt in seiner Stellungnahme vom 12. August 2009 ein, die genannte Frage sei auch in mehreren weiteren Verfahren unterschiedlich behandelt und beantwortet worden.
4.
4.1
In seiner Rolle als Aufsichtsinstanz ist es dem Bundesgericht verwehrt, einen Einzelfall auf seine inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen. Insoweit sich die vorliegende Aufsichtsbeschwerde ausschliesslich auf das Verfahren D-1159/2009 bezieht und an diesem Kritik äussert, fällt sie in den Bereich der Rechtsprechung und somit nicht in die aufsichtsrechtliche Kompetenz des Bundesgerichts.
4.2
Vorliegend stellt sich indessen die über den Einzelfall hinausgehende Frage, ob die uneinheitliche Behandlung der beiden Verfahren eine unzulängliche Organisation oder Durchführung der Koordination der Rechtsprechung am Bundesverwaltungsgericht offenbart. Diese Frage fällt in die aufsichtsrechtliche Kompetenz des Bundesgerichts. Zwar liegt die Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Grenzbereich zwischen Rechtsprechung und administrativer Aufsicht. Inwieweit die Einheitlichkeit der Rechtsprechung Prüfungsgegenstand der Aufsichtsbeschwerde ans Bundesgericht sein kann, kann vorliegend indessen offenbleiben (generell bejahend HEINRICH KOLLER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 89 zu
Art. 1 BGG
; zustimmend unter gewissen Voraussetzungen auch PAUL TSCHÜMPERLIN, Die Aufsicht des Bundesgerichts, SJZ 105/2009 Nr. 10 S. 233 ff., N. III. B.1 und IV. B). In den der Aufsicht des Bundesgerichts unterstehenden Bereich der Organisation und Geschäftsführung fällt nämlich jedenfalls die Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht vorliegend die Rechtsprechung entsprechend seinem Geschäftsreglement (Art. 14 Abs. 2 lit. b des Geschäftsreglements für das Bundesverwaltungsgericht vom 17. April 2008 [VGR; SR 173.320.1]) durchgeführt und zweckmässig organisiert hat.
In seiner Stellungnahme vom 12. August 2009 führt das Bundesverwaltungsgericht dazu aus, es habe bereits vor Kenntnisnahme der
BGE 135 II 426 S. 430
vorliegenden Aufsichtsbeschwerde beim Bundesgericht erkannt, dass in der genannten Frage ein Koordinationsproblem bestehen könnte. Es habe daher unverzüglich Massnahmen zur Eruierung des allfälligen Koordinationsbedarfs getroffen und die zu koordinierenden Fragen mittels eines am 30. Juni 2009 von den beiden betroffenen Abteilungen verabschiedeten Arbeitspapiers gelöst. Zu beachten sei allerdings, dass die entsprechenden Fälle stets aufgrund der individuellen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen seien.
Aus den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts geht somit hervor, dass es die Frage mittels des
Art. 14 Abs. 2 lit. b VGR
entsprechenden Koordinationsverfahrens in der Zwischenzeit ausführlich behandelt und offenbar einer Lösung zugeführt hat, soweit dies möglich ist. Das Aufsichtsverfahren ist insoweit gegenstandsos geworden. Ob in den beiden vorliegend angezeigten Fällen im Übrigen eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt war, ist eine Ermessensfrage, welche das Bundesgericht in seiner Rolle als Aufsichtsbehörde nicht zu überprüfen hat. | de |
668b1d98-9fdd-4bda-b062-42ca6c4d4d51 | SR 651.11 1 Verordnung über die internationale Amtshilfe in Steuersachen (Steueramtshilfeverordnung, StAhiV) vom 23. November 2016 (Stand am 1. Januar 2017) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf die Artikel 6 Absatz 2bis, 18 Absatz 3 und 22a Absatz 1 des Steueramtshilfegesetzes vom 28. September 20121 (StAhiG), verordnet: 1. Abschnitt: Gegenstand Art. 1 Diese Verordnung regelt den Vollzug der internationalen Amtshilfe in Steuersachen beim Informationsaustausch auf Ersuchen sowie beim spontanen Informationsaus- tausch. 2. Abschnitt: Informationsaustausch auf Ersuchen Art. 2 Gruppenersuchen 1 Gruppenersuchen nach Artikel 3 Buchstabe c StAhiG sind zulässig für Informatio- nen über Sachverhalte, welche die Zeit seit dem 1. Februar 2013 betreffen. 2 Vorbehalten sind die abweichenden Bestimmungen des im Einzelfall anwendbaren Abkommens. Art. 3 Inhalt eines Gruppenersuchens 1 Ein Gruppenersuchen muss folgende Angaben enthalten: a. eine detaillierte Umschreibung der Gruppe und der dem Ersuchen zugrunde liegenden Tatsachen und Umstände; b. eine Beschreibung der verlangten Informationen sowie Angaben zur Form, in der der ersuchende Staat diese Informationen zu erhalten wünscht; c. den Steuerzweck, für den die Informationen verlangt werden; d. die Gründe zur Annahme, dass die verlangten Informationen sich im ersuch- ten Staat oder im Besitz oder unter der Kontrolle einer Informationsinha- AS 2016 4877 1 SR 651.1 651.11 Steueramtshilfe 2 651.11 berin oder eines Informationsinhabers befinden, die oder der im ersuchten Staat ansässig ist; e. soweit bekannt, den Namen und die Adresse der mutmasslichen Informa- tionsinhaberin oder des mutmasslichen Informationsinhabers; f. eine Erläuterung des anwendbaren Rechts; g. eine klare und auf Tatsachen gestützte Begründung der Annahme, dass die Steuerpflichtigen der Gruppe, über welche die Informationen verlangt wer- den, das anwendbare Recht nicht eingehalten haben; h. eine Darlegung, dass die verlangten Informationen helfen würden, die Rechtskonformität der Steuerpflichtigen der Gruppe zu bestimmen; i. sofern die Informationsinhaberin oder der Informationsinhaber oder eine andere Drittpartei aktiv zum nicht rechtskonformen Verhalten der Steuer- pflichtigen der Gruppe beigetragen hat, eine Darlegung dieses Beitrages; j. die Erklärung, dass das Ersuchen den gesetzlichen und reglementarischen Vorgaben sowie der Verwaltungspraxis des ersuchenden Staates entspricht, sodass die ersuchende Behörde diese Informationen, wenn sie sich in ihrer Zuständigkeit befinden würden, in Anwendung ihres Rechts oder im ordentlichen Rahmen ihrer Verwaltungspraxis erhalten könnte; k. die Erklärung, dass der ersuchende Staat die nach seinem innerstaatlichen Steuerverfahren üblichen Auskunftsquellen ausgeschöpft hat. 2 Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so teilt die Eidgenössische Steuerverwal- tung (ESTV) dies der ersuchenden Behörde schriftlich mit und gibt ihr Gelegenheit, ihr Ersuchen schriftlich zu ergänzen. Art. 4 Kosten 1 Kosten von ausserordentlichem Umfang liegen insbesondere vor, wenn sie auf Ersuchen zurückzuführen sind, die einen überdurchschnittlichen Aufwand verur- sacht haben, besonders schwierig zu bearbeiten oder dringlich waren. 2 Die Kosten setzen sich zusammen aus: a. den direkten Personalkosten; b. den direkten Arbeitsplatzkosten; c. einem Zuschlag von 20 Prozent auf den direkten Personalkosten zur Deckung der Gemeinkosten; d. den direkten Material- und Betriebskosten; e. den Auslagen. 3 Die Auslagen setzen sich zusammen aus: a. den Reise- und Transportkosten; b. den Kosten für beigezogene Dritte. Steueramtshilfeverordnung 3 651.11 4 Soweit diese Verordnung keine besondere Regelung enthält, gelten die Bestim- mungen der Allgemeinen Gebührenverordnung vom 8. September 20042. 3. Abschnitt: Spontaner Informationsaustausch Art. 5 Ausnahmen für Bagatellfälle 1 Vom spontanen Informationsaustausch können Bagatellfälle ausgenommen wer- den. 2 Als Bagatellfälle gelten insbesondere Fälle, in denen die steuerlich relevanten Beträge und die potenziellen Steuererträge des Empfängerstaates in einem offen- sichtlichen Missverhältnis zum Aufwand für den spontanen Informationsaustausch stehen. Art. 6 Zusammenarbeit der Behörden Das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF), die ESTV und die kan- tonalen Steuerverwaltungen arbeiten zusammen, um einen schweizweit einheitlichen spontanen Informationsaustausch zu gewährleisten. Art. 7 Organisationseinheiten für den spontanen Informationsaustausch 1 Die ESTV und die kantonalen Steuerverwaltungen bezeichnen die für den sponta- nen Informationsaustausch zuständigen Organisationseinheiten. 2 Die Organisationseinheiten stellen die Verbindung mit der für den Informations- austausch in Steuersachen zuständigen Abteilung der ESTV (zuständige Abteilung der ESTV) sowie die Durchführung des spontanen Informationsaustauschs in ihrer Steuerverwaltung sicher. Art. 8 Steuervorbescheid: Definition Als Steuervorbescheid gilt eine Auskunft, Bestätigung oder Zusicherung einer Steuerverwaltung: a. die diese einer steuerpflichtigen Person gegeben hat; b. die die steuerlichen Folgen eines von der steuerpflichtigen Person dargeleg- ten Sachverhalts betrifft; und c. auf die sich die steuerpflichtige Person berufen kann. Art. 9 Steuervorbescheid: Verpflichtung zum spontanen Informationsaustausch 1 Ein spontaner Informationsaustausch ist durchzuführen, sofern ein Steuervorbe- scheid: 2 SR 172.041.1 Steueramtshilfe 4 651.11 a. Sachverhalte nach Artikel 28 Absätze 2–4 des Bundesgesetzes vom 14. De- zember 19903 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden betrifft, eine Steuerermässigung für Erträge aus Immaterial- gütern oder vergleichbaren Rechten oder eine internationale Steuerausschei- dung von Prinzipalgesellschaften zum Gegenstand hat; b. mit grenzüberschreitendem Bezug Verrechnungspreise zwischen naheste- henden Personen oder eine Verrechnungspreismethodik zum Gegenstand hat, die die zuständige Schweizer Behörde ohne Beizug der zuständigen Behörden anderer Staaten festgelegt hat; c. mit grenzüberschreitendem Bezug eine Reduktion des in der Schweiz steu- erbaren Gewinns ermöglicht, die in der Jahresrechnung und der Konzern- rechnung nicht ersichtlich ist; d. feststellt, dass in der Schweiz oder im Ausland eine Betriebsstätte besteht oder nicht besteht oder welche Gewinne einer Betriebsstätte zugewiesen werden; oder e. einen Sachverhalt zum Gegenstand hat, der die Ausgestaltung grenz- überschreitender Finanzierungsflüsse oder Einkünfte über schweizerische Rechtsträger an nahestehende Personen in anderen Staaten betrifft. 2 Als einander nahestehend gelten Personen, wenn eine Person zu mindestens 25 Prozent an der anderen beteiligt ist oder wenn eine dritte Person je zu mindestens 25 Prozent an beiden Personen beteiligt ist. Als an einer Person beteiligt gilt, wer direkt oder indirekt über einen entsprechenden Anteil der Stimmrechte oder des Grund- oder Gesellschaftskapitals dieser Person verfügt. 3 Die Verpflichtung zum spontanen Informationsaustausch besteht unabhängig davon, ob der dem Steuervorbescheid zugrunde gelegte Sachverhalt sich verwirk- licht hat. Art. 10 Steuervorbescheid: Empfängerstaaten 1 Erfüllt ein Steuervorbescheid mindestens eine der Voraussetzungen nach Artikel 9 Absatz 1, so ist ein spontaner Informationsaustausch mit den zuständigen Behörden der Sitzstaaten der direkt kontrollierenden Gesellschaft und der Konzernobergesell- schaft durchzuführen. 2 Der spontane Informationsaustausch ist zudem in den folgenden Fällen mit den nachfolgenden Staaten durchzuführen: a. sofern ein Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a vorliegt: mit den Sitzstaaten von nahestehenden Personen, mit welchen die steuer- pflichtige Person Transaktionen durchführt, die zu einer Besteuerung gemäss dem Steuervorbescheid führen oder die bei der steuerpflichtigen Person zu Einkünften vonseiten nahestehender Personen führen, die gemäss dem Steuervorbescheid besteuert werden; 3 SR 642.14 Steueramtshilfeverordnung 5 651.11 b. sofern ein Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b oder c vorliegt: mit den Sitzstaaten von nahestehenden Personen, mit welchen die steuerpflichtige Person Transaktionen durchführt, deren Steuerfolgen Gegenstand des Steuervorbescheids sind; c. sofern ein Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe d vorliegt: mit dem Staat, in dem sich die ausländische Betriebsstätte befindet, oder mit dem Sitzstaat der Person, die in der Schweiz eine Betriebsstätte hat; d. sofern ein Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe e vorliegt: mit den Sitzstaaten von nahestehenden Personen, die direkt oder indirekt Zahlungen an die steuerpflichtige Person vornehmen, sowie mit dem Sitz- staat der an diesen Zahlungen endgültig berechtigten Person. 3 Ist ein an einer Transaktion oder Zahlung nach Absatz 2 Buchstabe a, b oder d beteiligter Rechtsträger eine Betriebsstätte einer in einem anderen Staat ansässigen Person, so ist der spontane Informationsaustausch jeweils sowohl mit dem Staat, in dem sich die Betriebsstätte befindet, als auch mit dem Sitzstaat der Person durch- zuführen, die über die Betriebsstätte verfügt. 4 Die zuständige Abteilung der ESTV kann die Übermittlung auf diejenigen Staaten beschränken, die sich zum Standard der OECD betreffend den spontanen Informati- onsaustausch über Steuervorbescheide bekennen. Art. 11 An die zuständige Abteilung der ESTV zu übermittelnde Informationen 1 Liegt ein Steuervorbescheid vor, so sind der zuständigen Abteilung der ESTV folgende Informationen zu übermitteln: a. eine Kopie des Steuervorbescheids; b. das Datum, an dem der Steuervorbescheid erteilt worden ist; c. Angaben zur Identifikation der steuerpflichtigen Person, einschliesslich deren Adresse; d. die Steueridentifikationsnummer der steuerpflichtigen Person sowie der Name der Unternehmensgruppe, der sie angehört; e. die Steuerjahre, für die der Steuervorbescheid gilt; f. die Voraussetzungen nach Artikel 9 Absatz 1, die der Steuervorbescheid erfüllt; g. eine kurze Zusammenfassung des Inhalts des Steuervorbescheids, falls mög- lich in französischer oder englischer Sprache, andernfalls in deutscher oder italienischer Sprache; h. Angaben zum Sitz der direkt kontrollierenden Gesellschaft und der Kon- zernobergesellschaft, einschliesslich deren Adresse; i. sofern es sich um einen Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buch- stabe a handelt: Angaben zu nahestehenden Personen oder Betriebsstätten, mit welchen die steuerpflichtige Person Transaktionen durchführt, die zu Steueramtshilfe 6 651.11 einer Besteuerung gemäss dem Steuervorbescheid führen oder die bei der steuerpflichtigen Person zu Einkünften vonseiten nahestehender Personen oder Betriebsstätten führen, die gemäss dem Steuervorbescheid besteuert werden, einschliesslich deren Name und Adresse; j. sofern es sich um einen Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buch- stabe b oder c handelt: Angaben zu nahestehenden Personen oder Betriebs- stätten, mit welchen die steuerpflichtige Person Transaktionen durchführt, die Gegenstand des Steuervorbescheids sind, einschliesslich deren Name und Adresse; k. sofern es sich um einen Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buch- stabe d handelt: Angaben zur ausländischen Betriebsstätte oder zur ausländi- schen Person, deren Tätigkeit in der Schweiz eine Betriebsstätte begründet, einschliesslich deren Name und Adresse; l. sofern es sich um einen Steuervorbescheid nach Artikel 9 Absatz 1 Buch- stabe e handelt: Angaben zu nahestehenden Personen oder Betriebsstätten, die direkt oder indirekt Zahlungen an die steuerpflichtige Person vornehmen, sowie zu der an diesen Zahlungen endgültig berechtigten Person, ein- schliesslich deren Name und Adresse; m. eine Liste der Empfängerstaaten nach Artikel 10; n. weitere Informationen, die für die zuständige Abteilung der ESTV notwen- dig sein könnten, um zu beurteilen, ob die Informationen spontan auszutau- schen sind. 2 Sofern vorhanden, sind der zuständigen Abteilung der ESTV zudem folgende Informationen zu übermitteln: a. die Referenznummer des Steuervorbescheids; b. die Steueridentifikationsnummer der direkt kontrollierenden Gesellschaft und der Konzernobergesellschaft; c. in den Fällen nach Absatz 1 Buchstaben i–l: die Steueridentifikationsnum- mern der betreffenden Personen oder Betriebsstätten. 3 Der zuständigen Abteilung der ESTV können zudem folgende Informationen übermittelt werden: a. Angaben zur hauptsächlichen Geschäftstätigkeit der steuerpflichtigen Per- son; b. Angaben zum Transaktionsvolumen, zum Umsatz und zum Gewinn der steuerpflichtigen Person. 4 In den übrigen Fällen von spontanem Informationsaustausch gestützt auf das im Einzelfall anwendbare Abkommen sind der zuständigen Abteilung der ESTV fol- gende Informationen zu übermitteln: a. die für die Übermittlung an den Empfängerstaat vorgesehenen Informatio- nen; Steueramtshilfeverordnung 7 651.11 b. eine kurze Zusammenfassung des Sachverhalts, falls möglich in französi- scher oder englischer Sprache, andernfalls in deutscher oder italienischer Sprache, und die Gründe, weshalb diese Informationen spontan auszutau- schen sind; c. eine Liste der Staaten, für welche die Informationen voraussichtlich von Interesse sind; d. weitere Informationen, die für die zuständige Abteilung der ESTV notwen- dig sein könnten, um zu beurteilen, ob die Informationen spontan auszu- tauschen sind. Art. 12 Fristen Die Organisationseinheiten für den spontanen Informationsaustausch stellen der zuständigen Abteilung der ESTV die zu übermittelnden Informationen fortlaufend, spätestens aber innerhalb folgender Fristen zu: a. bei Vorliegen eines Steuervorbescheids: 60 Tage nach Erteilung des Steuer- vorbescheids; b. in den übrigen Fällen: 60 Tage nach rechtskräftiger Veranlagung des Sach- verhalts. Art. 13 Übermittlung an Empfängerstaaten 1 Liegt ein Steuervorbescheid vor, so übermittelt die zuständige Abteilung der ESTV die nach Artikel 11 Absätze 1 Buchstaben b–l, 2 und 3 erhaltenen Informationen innerhalb von drei Monaten nach deren Erhalt an die Empfängerstaaten. Diese Frist verlängert sich, sofern Gründe nach den Artikeln 22b–22d StAhiG dies erfordern. 2 In den übrigen Fällen übermittelt die zuständige Abteilung der ESTV die nach Artikel 11 Absatz 4 Buchstaben a und b erhaltenen Informationen an die Empfän- gerstaaten. Art. 14 Falsche oder nicht relevante Informationen 1 Erweisen sich an die zuständige Abteilung der ESTV übermittelte Informationen nachträglich als falsch oder als für die Veranlagung der steuerpflichtigen Person nicht relevant, so informiert die betreffende Steuerverwaltung die zuständige Abtei- lung der ESTV umgehend darüber und übermittelt ihr die entsprechend berichtigten Informationen. 2 Die zuständige Abteilung der ESTV übermittelt die berichtigten Informationen an die betroffenen Empfängerstaaten. Steueramtshilfe 8 651.11 4. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 15 Aufhebung eines anderen Erlasses Die Steueramtshilfeverordnung vom 20. August 20144 wird aufgehoben. Art. 16 Übergangsbestimmungen 1 Die Bestimmungen über den spontanen Informationsaustausch gelten auch für Steuervorbescheide, die zwischen dem 1. Januar 2010 und dem Inkrafttreten dieser Verordnung erteilt worden sind und sich auf Steuerjahre beziehen, für die die staats- vertragliche Norm anwendbar ist, welche die Schweiz zum spontanen Informations- austausch verpflichtet. 2 Liegt ein solcher Steuervorbescheid vor, so übermittelt die betreffende Steuerver- waltung der zuständigen Abteilung der ESTV alle bei ihr vorhandenen Informatio- nen nach Artikel 11 Absätze 1–3 laufend innerhalb von neun Monaten nach Beginn der Anwendbarkeit der staatsvertraglichen Norm, welche die Schweiz zum sponta- nen Informationsaustausch verpflichtet. Sofern einer Steuerverwaltung nicht alle Informationen nach Artikel 11 Absätze 1 und 2 vorliegen, übermittelt sie die bei ihr vorhandenen Informationen und informiert die zuständige Abteilung der ESTV hierüber. 3 Die zuständige Abteilung der ESTV übermittelt den Empfängerstaaten diese Informationen innerhalb von zwölf Monaten nach Beginn der Anwendbarkeit der staatsvertraglichen Norm, welche die Schweiz zum spontanen Informationsaus- tausch verpflichtet. Diese Frist verlängert sich, sofern Gründe nach den Artikeln 22b–22d StAhiG dies erfordern. 4 Für Steuervorbescheide, die nach Inkrafttreten dieser Verordnung, aber vor dem Beginn der Anwendbarkeit der staatsvertraglichen Norm, welche die Schweiz zum spontanen Informationsaustausch verpflichtet, erteilt wurden, beginnt die Frist nach Artikel 12 Buchstabe a am Tag der Anwendbarkeit dieser staatsvertraglichen Norm. Für die Frist in den übrigen Fällen nach Artikel 12 Buchstabe b gilt dieser Absatz sinngemäss. Art. 17 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2017 in Kraft. 4 [AS 2014 2753, 2015 4939] | de |
a2e2fb3b-719e-4251-aa72-188541440b2c | Erwägungen
ab Seite 398
BGE 117 IV 398 S. 398
Aus den Erwägungen:
2.
a) Obwohl im vorliegenden Fall im Jahre 1986 eine Massnahme gemäss
Art. 44 StGB
(Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen) ausgesprochen worden war, erstattete die Justizdirektion 1990 Bericht und Antrag gemäss
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB
. Diese Bestimmung bezieht sich auf Massnahmen an
BGE 117 IV 398 S. 399
geistig Abnormen. Es stellt sich zunächst die Frage, ob diese analoge Anwendung richtig war.
b) aa) Die herrschende Lehre und die kantonale Rechtsprechung nehmen an, dass die Abs. 2 und 3 des
Art. 43 Ziff. 3 StGB
, die bei Misserfolg der ambulanten Behandlung eines geistig Abnormen eingreifen und es dem Richter erlauben, nachträglich die Anstaltseinweisung oder eine andere sichernde Massnahme anzuordnen, bei Erfolglosigkeit der ambulanten Massnahme gegenüber einem Trunk- oder Rauschgiftsüchtigen sinngemäss anwendbar sind (vgl. URSULA FRAUENFELDER, Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als strafrechtliche Massnahme nach
Art. 43 und 44 StGB
, Diss. Zürich 1978, S. 171 f.; REHBERG, Fragen bei der Anordnung und Aufhebung sichernder Massnahmen nach StGB Art. 42-44, ZStR 93/1977, S. 198 f.; SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Band, 4. Aufl., S. 171 f.; ferner SJZ 81/1985, S. 269 Nr. 50, und ZBJV 113/1977 S. 276 f.). Demgegenüber lehnt STRATENWERTH (Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil II,
§ 12 N 48
und 49) beim Scheitern einer ambulanten Behandlung nach
Art. 44 StGB
zwar eine analoge Anwendung von
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB
nicht ab, will indessen nur den nachträglichen Vollzug der aufgeschobenen Strafe in Betracht ziehen, da für die Einweisung in eine Anstalt oder die Anordnung einer anderen sichernden Massnahme die gesetzliche Grundlage fehle.
bb) Die ambulante Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen ist in Art. 44 Ziff. 1 Satz 2 (i.V.m. Ziff. 6) StGB vorgesehen. Nach Satz 3 dieser Bestimmung ist
Art. 43 Ziff. 2 StGB
entsprechend anwendbar. Weitere Bestimmungen über die ambulante Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen enthält
Art. 44 StGB
in den weiteren Ziffern, die den Vollzug und die Beendigung der Massnahme betreffen, nicht; diese Behandlungsart findet dort keine Erwähnung mehr. Hingegen wird die Ziff. 3 von
Art. 45 StGB
, die von der nicht bestandenen Probezeit bei einer bedingten oder probeweisen Entlassung aus einer Massnahme handelt, in deren Abs. 7 als sinngemäss anwendbar erklärt, wenn eine ambulante Behandlung unter Aufschub der Strafe gemäss
Art. 43 und 44 StGB
angeordnet wurde.
Die Verweisung auf
Art. 43 Ziff. 2 StGB
bedeutet, dass bei einer ambulanten Massnahme nach
Art. 44 StGB
der Vollzug der Strafe gleich wie bei einer solchen nach
Art. 43 StGB
aufgeschoben werden kann, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen.
BGE 117 IV 398 S. 400
Der Richter kann in diesem Falle entsprechend
Art. 41 Ziff. 2 StGB
Weisungen erteilen und wenn nötig eine Schutzaufsicht anordnen. Geht es um die Beendigung einer ambulanten Behandlung eines Trunk- oder Rauschgiftsüchtigen und um die damit zusammenhängenden nachträglichen richterlichen Entscheidungen, so müssen dafür folgerichtig auch die entsprechenden weiteren Bestimmungen von
Art. 43 StGB
Anwendung finden, nachdem
Art. 44 StGB
diese Fragen in den Einzelheiten nicht selber regelt, sondern in Ziff. 1 auf
Art. 43 Ziff. 2 StGB
verweist. Die Regelung von
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB
, die für eine nach dieser Bestimmung angeordnete ambulante Behandlung in bezug auf den Abbruch der Massnahme wegen deren Unzweckmässigkeit oder Gefährlichkeit für Dritte und die damit im Zusammenhang stehenden nachträglichen richterlichen Entscheidungen gilt, ist daher grundsätzlich auch für die ambulante Behandlung nach
Art. 44 StGB
heranzuziehen.
Dass dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht und nicht von einem qualifizierten Schweigen auszugehen ist, wenn in Art. 44 Ziff. 1 nur auf Ziff. 2 und nicht auch auf Ziff. 3 von
Art. 43 StGB
verwiesen wird, ergibt sich aus folgendem: Während die Botschaft des Bundesrates zur entsprechenden Revision des schweizerischen Strafgesetzbuches (BBl 1965 I S. 577) die ambulante Behandlung der Trunk- und Rauschgiftsucht im Rahmen des bedingten Strafvollzuges nach
Art. 41 StGB
mit einer entsprechenden Weisung als möglich ansah, wurde in der ständerätlichen Kommission (Protokoll der 4. Sitzung vom 11.-13. Mai 1966, S. 162) beantragt, "analog zum Art. 43" die Möglichkeit der ambulanten Behandlung vorzusehen. Dies führte in der Folge zur Ergänzung von
Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
mit den heutigen Sätzen 2 und 3. Mit einer analogen Regelung wie in
Art. 43 StGB
war offenkundig nicht nur die Anwendung dieser Bestimmung bei der Anordnung einer ambulanten Massnahme, sondern auch bei deren Abbruch sowie den damit zusammenhängenden nachträglichen richterlichen Entscheidungen gemeint.
Die Verweisung auf die für die Anordnung der ambulanten Massnahme anwendbare Gesetzesbestimmung genügt somit, um zu schliessen, damit finde auch die für deren Abbruch und die damit im Zusammenhang stehenden Fragen geltende Regelung Anwendung. Die gleiche Gesetzestechnik verwendet der Gesetzgeber denn auch beispielsweise in Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 mit dem Hinweis auf
Art. 41 Ziff. 2 StGB
. Ist diese zweite Bestimmung die
BGE 117 IV 398 S. 401
Grundlage für die Erteilung von Weisungen, so ist folgerichtig
Art. 41 Ziff. 3 StGB
sinngemäss anzuwenden, wenn es um die Folgen einer Missachtung der Weisungen geht (vgl.
BGE 109 IV 11
E. 2b).
cc) Ob durch diese sinngemässe Anwendung von
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB
auf Trunk- und Rauschgiftsüchtige auch eine genügende gesetzliche Grundlage dafür gegeben ist, beim Scheitern einer ambulanten Behandlung eines Trunk- oder Rauschgiftsüchtigen die nachträgliche Einweisung in eine Anstalt oder eine andere sichernde Massnahme anzuordnen - was STRATENWERTH verneint (s. oben E. 2/b/aa) -, kann im vorliegenden Fall offenbleiben. Eine solche Einweisung oder Anordnung stand nicht zur Diskussion und wurde denn auch nicht verfügt. Was die Frage des nachträglichen Vollzugs der aufgeschobenen Freiheitsstrafen und einer neuen, gleichartigen ambulanten Massnahme betrifft, gingen die kantonalen Behörden jedenfalls zu Recht von einer analogen Anwendung der erwähnten Bestimmungen von
Art. 43 StGB
aus. | de |
0a9729ef-1a41-4598-8fdb-c27a886b30b2 | Sachverhalt
ab Seite 2
BGE 131 III 1 S. 2
Im Ehescheidungsverfahren zwischen Y. (Kläger) und Z. (Beklagte) fällte das Obergericht (I. Zivilkammer) des Kantons Zürich am 29. November 2002 - teilweise unter Hinweis auf seine Begründung im Entscheid vom 18. Juni 2001 (den das kantonale Kassationsgericht in der Folge aufgehoben hatte) - das folgende Berufungsurteil:
"1. Der Kläger wird verpflichtet, der Beklagten als Entschädigung im Sinne von
Art. 124 ZGB
folgende Leistungen zu erbringen:
a) Fr. 1'000.- pro Monat, zahlbar monatlich und im Voraus mit Wirkung ab 3. März 2000 bis und mit Februar 2004 an die berufliche Vorsorgeeinrichtung der Beklagten (...).
b) Fr. 1'000.- pro Monat ab 1. März 2004, zahlbar monatlich und im Voraus an die Beklagte. | de |
0bea1208-f7a8-459f-931c-4c0bea1eb8b3 | Sachverhalt
ab Seite 347
BGE 132 V 347 S. 347
A.
Die Eheleute S. und C. schlossen am 1. Juni 1995 mit der Pensionskasse V. einen Vertrag über die Gewährung eines Darlehens von Fr. 260'000.- zur Finanzierung des Eigenheims im Alleineigentum des S., wobei das Altersguthaben des Letzteren verpfändet wurde. Im Frühjahr 1999 trennten sich die Eheleute S. und C. und schlossen im Juni 1999 eine (offenbar gerichtlich genehmigte) Trennungsvereinbarung ab. Im August 2000 strengte C. die Scheidung an. Zuvor war bei der Pensionskasse ein am 10. Juli 2000 datierter "Antrag auf Auszahlung eines Vorbezuges" eingegangen, mit welchem verlangt wurde, den Betrag von Fr. 100'000.- aus der zweiten Säule dem Hypothekarkonto gutzuschreiben und in diesem Umfang die Darlehensschuld zu amortisieren; der Antrag trug die Unterschriften "S." sowie "C.". Die Pensionskasse kam dem Begehren nach und verwendete den Vorbezug als anteilmässige Rückzahlung der Hypothekarschuld.
Mit Urteil des zuständigen Strafrichters vom 17. März 2003 wurde S. des Betruges und der Urkundenfälschung schuldig gesprochen, da er die Unterschrift seiner Ehefrau auf dem "Antrag auf Auszahlung eines Vorbezuges" gefälscht habe. In der Folge forderte C. die Pensionskasse auf festzustellen, dass der Vorbezug
BGE 132 V 347 S. 348
"zufolge fehlender Zustimmung ungültig erfolgt" sei und somit im Rahmen des Ehescheidungsverfahrens die Möglichkeit bestehe "das gesamte während der Ehedauer aufgebaute Guthaben teilen zu lassen." Die Pensionskasse antwortete darauf, für diese Feststellungen sei das Sozialversicherungsgericht zuständig, woran sie in einem erneuten Briefwechsel festhielt.
B.
Am 11. November 2003 liess C. gegen die Pensionskasse Klage einreichen mit folgenden materiellen Rechtsbegehren:
"1. Es sei festzustellen, dass der per 1. Januar 2001 erfolgte Vorbezug von CHF 100'000.-, welchen die Beklagte gestützt auf den Antrag von Herrn S. vom 10. Juli 2000 per 1. Januar 2001 zulasten dessen Altersguthabens gewährt hat, und die entsprechende Gutschrift auf dem Hypothekardarlehen zu Unrecht erfolgt und ungültig ist.
2. Ferner sei festzustellen, dass das Scheidungsgericht bestimmen könne, dass ein Teil der unter Hinzurechnung des unzulässigen Vorbezuges sich ergebenden Austrittsleistung an die Vorsorgeeinrichtung der Klägerin zu übertragen sei."
Mit Entscheid vom 2. Februar 2004 trat das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn auf die Klage nicht ein.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache an das kantonale Gericht zur materiellen Beurteilung zurückzuweisen.
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. C. sowie die Pensionskasse verzichten auf einen Antrag, während sich S. nicht vernehmen lässt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Die Vorinstanz ist mangels Rechtsschutzinteresses nicht auf die Feststellungsklage der Ehefrau des Versicherten eingetreten: Das Eidgenössische Versicherungsgericht habe ein Interesse im Falle der Barauszahlung des Vorsorgeguthabens zwar bejaht, jedoch liege hier der davon zu unterscheidende Fall eines Vorbezuges für Wohneigentum vor. In der Folge sei das Kapital immer noch der Vorsorge verhaftet und bei einer Scheidung zu teilen. Der Vorbezug könne hier leicht rückgängig gemacht werden, indem die Darlehenssumme wieder erhöht und der entsprechende Betrag dem Vorsorgekonto gutgeschrieben werde. Einem möglicherweise verlustbringenden Verkauf des Hauses könne mittels
BGE 132 V 347 S. 349
vorsorglicher Massnahmen gemäss
Art. 137 und 178 ZGB
vorgebeugt werden, während der Zinsausfall infolge des ungerechtfertigten Vorbezuges im Rahmen der zukünftigen Durchführung der Teilung der Austrittsleistung vom Sozialversicherungsgericht berücksichtigt werde.
Das Beschwerde führende BSV ist demgegenüber der Ansicht, durch die notwendige Zustimmung des Ehegatten für einen Vorbezug habe dieser die entsprechenden Konsequenzen im Fall einer Scheidung in Kauf zu nehmen und deshalb ein Interesse an der Feststellung der Ungültigkeit des Vorbezuges mangels Zustimmung. Weiter habe die Praxis im Fall der Barauszahlung ein Rechtsschutzinteresse des Ehegatten an der Feststellung der Ungültigkeit bejaht, was in den Fällen des Vorbezuges für Wohneigentum analog gelten müsse. Somit habe der Ehegatte hier ein Interesse an der Feststellung der Unrechtmässigkeit des Vorbezuges vor dem Scheidungsurteil, was in einem besonderen Verfahren festzustellen sei.
3.2
Nach
Art. 30c Abs. 5 BVG
ist ein Vorbezug von Mitteln der zweiten Säule für den Erwerb von Wohneigentum bei Verheirateten nur zulässig, wenn der Ehegatte schriftlich zustimmt. Kann der Versicherte diese Zustimmung nicht einholen oder wird sie ihm verweigert, so kann er das Gericht anrufen. Hier hat das kantonale Gericht für das Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlich festgestellt (
Art. 105 Abs. 2 OG
), dass der Versicherte die Unterschrift seiner Ehefrau gefälscht hat und damit deren Zustimmung zum Vorbezug nicht vorliegt.
Im Fall der Barauszahlung der Austrittsleistung, welche ebenfalls der schriftlichen Zustimmung des Ehegatten des Anspruchsberechtigten bedarf (
Art. 5 Abs. 2 FZG
), hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in
BGE 128 V 41
das schutzwürdige Interesse an der Feststellung der Gültigkeit der Barauszahlung im Hinblick auf den Scheidungsprozess bejaht. Zur Begründung führte es an, der Gültigkeit der Auszahlung komme im Scheidungsverfahren entscheidende Bedeutung für einen allfälligen Anspruch auf eine Austrittsleistung nach
Art. 122 ZGB
zu. Denn vom Anspruch nach
Art. 122 ZGB
könnten grundsätzlich Kapitalien nicht erfasst werden, die vor der Scheidung bar ausbezahlt worden seien und nicht mehr der Vorsorge zur Verfügung stünden. In solchen Fällen könne dem Ehegatten des Vorsorgenehmers ausschliesslich über
Art. 124 ZGB
eine angemessene Entschädigung für die entgangene
BGE 132 V 347 S. 350
Beteiligung an der nicht mehr vorhandenen Austrittsleistung des Vorsorgenehmers verschafft werden. Die für die Anwendung der
Art. 122 ff. ZGB
bedeutsame Vorfrage, ob eine in Nachachtung von
Art. 5 Abs. 2 FZG
gültige Barauszahlung vorliege, könne an und für sich auch das Scheidungsgericht vorfrageweise prüfen. In diesem Zusammenhang sei jedoch zu berücksichtigen, dass die beteiligte Vorsorgeeinrichtung im Scheidungsverfahren nicht Partei und die Auffassung des Scheidungsgerichts über die Gültigkeit der Barauszahlung für sie nicht verbindlich sei. Einer solchen Verbindlichkeit komme indessen erhebliche Tragweite zu, da die Vorsorgeeinrichtung bei nicht richtiger Erfüllung damit rechnen müsse, ein zweites Mal zu leisten. Damit ein den Teilungsschlüssel nach
Art. 122 ZGB
festsetzendes Urteil des Scheidungsgerichts gegenüber der Vorsorgeeinrichtung auch vollstreckt werden könne, habe der begünstigte Ehegatte ein rechtlich erhebliches Interesse daran, dass das Sozialversicherungsgericht vor Erlass des Scheidungsurteils eine allfällige Ungültigkeit der Barauszahlung infolge fehlender Zustimmung nach
Art. 5 Abs. 2 FZG
auch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung verbindlich feststelle (
BGE 128 V 48
Erw. 3b mit Hinweisen).
3.3
Diese Überlegungen treffen entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch für die Beurteilung der Folgen eines unzulässigen Vorbezugs für Wohneigentum zu. Zwar bleibt im Rahmen eines solchen Vorbezuges der Versicherungsschutz insofern bestehen, als die eigene Wohnung resp. das eigene Haus einen Teil der Altersvorsorge bildet, der vorbezogene Betrag nach einer Veräusserung des Wohneigentums zurückzubezahlen ist (
Art. 30d Abs. 1 BVG
) und der Vorsorgezweck zudem gewissen Sicherungsmassnahmen (
Art. 30e BVG
) unterliegt. Überdies gilt nach ausdrücklicher Gesetzesvorschrift des
Art. 30c Abs. 6 BVG
der Vorbezug als Freizügigkeitsleistung und ist bei einer Scheidung zwischen den Ehegatten zu teilen. Mit diesen Sicherungsmitteln kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass das
BGE 132 V 347 S. 351
mit Hilfe des Vorbezugs erworbene Wohneigentum an Wert verliert. Darin liegt das Risiko, das mit dem Vorbezug verbunden ist. Das Gesetz nimmt diesen potenziellen Verlust auf dem Vorsorgevermögen in Kauf, indem es die Rückzahlungspflicht bei Veräusserung auf den Erlös beschränkt; als Erlös gilt der Verkaufspreis abzüglich der hypothekarisch gesicherten Schulden und der dem Verkäufer vom Gesetz auferlegten Abgaben (
Art. 30d Abs. 5 BVG
). Wird mithin das mit Hilfe des Vorbezugs erworbene Wohneigentum ohne Erlös verkauft, so besteht auch keine Rückzahlungspflicht an die Vorsorgeeinrichtung mehr. Der vorbezogene Betrag ist damit - vom Gesetzgeber in Kauf genommen - für die Vorsorge verloren. Nach der Grundidee, die dem Vorsorgeausgleich zugrunde liegt, gibt es insoweit auch nichts mehr zu teilen. Daraus folgt, dass ein Vorbezug für Wohneigentum nur insoweit nach den Regeln von
Art. 22 FZG
zu teilen ist, als noch eine Rückzahlungsverpflichtung im Sinne von
Art. 30d BVG
besteht, d.h. im Falle einer Veräusserung maximal im Umfang des Erlöses (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom heutigen Tage in Sachen F., B 8/06). Neben diesem Aspekt hat die Gültigkeit eines Vorbezugs für Wohneigentum des Weitern ebenfalls entscheidende Bedeutung für die Frage, wie in güterrechtlicher, unterhaltsrechtlicher und vorsorgerechtlicher Hinsicht der Vorbezug zu behandeln ist. Je nachdem, ob der Vorbezug ungültig ist und ob der Einrichtung der beruflichen Vorsorge pflichtwidriges Verhalten mit entsprechender Ersatzpflicht vorgeworfen werden kann (vgl. dazu
BGE 130 V 103
; SZS 2004 S. 461 und 464), hat der Ausgleich des Vorbezugs im Scheidungsverfahren unter dem Titel Güterrecht,
Art. 124 ZGB
, oder nach
Art. 122 ZGB
/22ff. FZG zu erfolgen (vgl. dazu auch BAUMANN/LAUTERBURG, in: INGEBORG SCHWENZER [Hrsg.], FamKommentar Scheidung, 2. Aufl., Bern 2005, N 44-46 zu
Art. 124 ZGB
). Schliesslich ist auch zu berücksichtigen, dass das Sozialversicherungsgericht einzig vorsorgerechtliche Streitigkeiten zu beurteilen hat und die Einrichtungen der beruflichen Vorsorge nicht Partei des Scheidungsverfahrens sind. Unter diesen Umständen hat der begünstigte Ehegatte wie bei der Barauszahlung auch im Zusammenhang mit dem Vorbezug angesichts der vielschichtigen Rechtsfragen ein rechtlich erhebliches Interesse daran, dass das Sozialversicherungsgericht vor Erlass des Scheidungsurteils eine allfällige Ungültigkeit des Vorbezugs infolge fehlender Zustimmung nach
Art. 5 Abs. 2 FZG
auch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung verbindlich feststellt. Ein solches Urteil würde im vorliegenden Fall die Frage für den Scheidungsprozess und für die Pensionskasse verbindlich beantworten, ob überhaupt ein rechtsgültiger Vorbezug erfolgt ist und in welcher Höhe ein Darlehen gegenüber der Pensionskasse besteht.
3.4
Aus diesen Gründen ist beim Vorbezug von Kapital der zweiten Säule für den Erwerb von Wohneigentum ebenfalls ein
BGE 132 V 347 S. 352
Interesse des Ehegatten des Versicherten zu bejahen, in einem separaten Verfahren festzustellen, dass der Vorbezug unrechtmässig erfolgt ist, und die vorsorgerechtliche Ausgangslage für den Scheidungsprozess vorweg klären zu lassen. Das kantonale Gericht ist deshalb zu Unrecht auf die Feststellungsklage der Ehefrau des Versicherten nicht eingetreten. | de |
30aedae2-328a-4fd0-b5ed-f6bf73866a66 | Sachverhalt
ab Seite 473
BGE 123 III 473 S. 473
A.-
Die Stratton Industrie Holding AG mit Sitz in Waltenschwil wurde am 20. März 1987 gegründet und am 9. April 1987 in das Handelsregister des Kantons Aargau eingetragen. Nachdem es zwischen den zwei die Gesellschaft beherrschenden Aktionären zu Auseinandersetzungen gekommen war, beschloss die Generalversammlung am 21. Oktober 1992 die Auflösung und anschliessende Liquidation der Gesellschaft und ernannte zwei Liquidatoren. Am 18. November 1992 erfolgte die Eintragung der Auflösung im Handelsregister. Am 1. Dezember 1992 wurde der Eintrag im Schweizerischen Handelsamtsblatt publiziert.
In der Folge schied der eine der Aktionäre aus der Gesellschaft aus, indem er seine Aktien dem andern übertrug, der damit zum Alleinaktionär wurde. Darauf beschloss die Generalversammlung am 6. Juli 1994 einstimmig, den Auflösungsbeschluss zu widerrufen und die statutarische Geschäftstätigkeit ohne den Firmazusatz "in Liq." weiterzuführen. Zudem wurde vom Rücktritt der Liquidatoren Kenntnis genommen. Der Beschluss wurde öffentlich beurkundet.
B.-
Am 8. Juli 1994 meldete die Gesellschaft den Widerruf des Auflösungsbeschlusses vom 21. Oktober 1992 und die Löschung der beiden Liquidatoren beim Handelsregisteramt des Kantons Aargau
BGE 123 III 473 S. 474
zur Eintragung in das Register an. Der Anmeldung wurden Unterlagen beigelegt, aus denen hervorging, dass sich auf den Schuldenruf eine einzige Gläubigerin, die Involvo AG, gemeldet und diese ihre Zustimmung zum Widerruf des Auflösungsbeschlusses gegeben hatte. Beigelegt wurde zudem eine mit der Prüfungsbestätigung der Revisionsstelle versehene Erklärung der Liquidatoren, dass ausser dem Schuldenruf keine Liquidationshandlungen durchgeführt worden seien.
Am 2. August 1994 verfügte das Handelsregisteramt des Kantons Aargau, die Anmeldung zur Eintragung des Widerrufsbeschlusses im Handelsregister sowie die Löschung der beiden Liquidatoren werde abgewiesen. Die von der Gesellschaft dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Departement des Innern des Kantons Aargau mit Verfügung vom 27. April 1995 abgewiesen.
C.-
Die Stratton Industrie Holding AG in Liquidation hat Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Sie beantragt dem Bundesgericht, die Verfügung des Handelsregisteramtes des Kantons Aargau vom 2. August 1994 und die Verfügung des Departementes des Innern des Kantons Aargau vom 27. April 1995 seien vollumfänglich aufzuheben; das Handelsregisteramt sei anzuweisen, den Generalversammlungsbeschluss vom 6. Juli 1994 betreffend den Widerruf des Auflösungsbeschlusses vom 21. Oktober 1992 und betreffend Weiterführung der Firma ohne den Zusatz "in Liquidation" sowie die Löschung der beiden Liquidatoren im Handelsregister einzutragen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt die Verfügung des Departements des Innern auf und weist die Streitsache zu neuer Entscheidung an dieses zurück. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann lediglich die Verfügung des Departements des Innern des Kantons Aargau angefochten werden (
Art. 5 HRegV
[SR 221.411],
Art. 98 lit. g OG
). Unbeachtlich ist deshalb der Antrag der Beschwerdeführerin, es sei auch die Verfügung des Handelsregisteramtes des Kantons Aargau aufzuheben.
2.
In der Verfügung des Departements des Innern wurde die Befugnis der Generalversammlung, den Auflösungsbeschluss zu widerrufen, mit der Begründung verneint, das Obligationenrecht schliesse die Möglichkeit eines Widerrufs aus. Das Departement
BGE 123 III 473 S. 475
stützte sich dabei auf einen im Jahre 1965 ergangenen Bundesgerichtsentscheid (
BGE 91 I 438
ff.).
Dieser Entscheid, der eine Genossenschaft betraf, wurde wie folgt begründet: Das Bundesgericht wies zunächst auf eine vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1936 über die Revision der Titel 24-33 des OR (1. Juli 1937) vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement sowie dem Bundesrat vertretene Auffassung hin, wonach der Auflösungsbeschluss der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft diese als Erwerbsgesellschaft auflöse und sie nur zum Zwecke der Liquidation bestehen bleibe; demgemäss habe die Generalversammlung nur noch beschränkte Befugnisse; sie könne keine Beschlüsse mehr fassen, die nicht die Durchführung der Liquidation beträfen, insbesondere nicht deren Aufhebung beschliessen (E. 3 S. 441). Das Bundesgericht befasste sich sodann mit der Entstehungsgeschichte von
Art. 739 OR
und hielt fest, aus den Materialien ergebe sich keine eindeutige Stellungnahme des Gesetzgebers zur Frage der Zulässigkeit des Widerrufs (E. 3 S. 442 und E. 5c). Es wies im weitern auf einen in der amtlichen Sammlung nicht veröffentlichten Bundesgerichtsentscheid vom 14. September 1938 hin, in dem ausgeführt worden war, angesichts des klaren Wortlauts des Gesetzes, der den Niederschlag schon früher anerkannter Grundsätze bilde, könne kein Zweifel darüber bestehen, dass ein Beschluss auf Widerruf der Liquidation und Fortsetzung der Gesellschaft nicht zulässig sei (E. 3 S. 442). Das Bundesgericht zitierte anschliessend die einschlägige schweizerische Lehre und hielt fest, die Meinungen der Autoren seien geteilt (E. 3 S. 443). Zudem ergebe auch der Vergleich mit den Regelungen bzw. der Literatur und Praxis der Nachbarländer Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien kein einheitliches Bild (E. 3 S. 443 f. und E. 5d S. 447). Es verwarf sodann die in der Lehre vertretene Meinung (W. VON STEIGER, Zürcher Kommentar, N. 29 zu
Art. 820 OR
), wonach sich
Art. 739 Abs. 2 OR
nur mit den Befugnissen der Gesellschaftsorgane im Hinblick auf die Liquidation befasse und keine genügende Grundlage zur Lösung des Problems der Rückgründung bilde, und hielt an der im unveröffentlichten Bundesgerichtsentscheid vom 14. September 1938 geäusserten Meinung fest, dass die Gesellschaftsorgane nach dem klaren Wortlaut von Art. 738/739 OR nicht befugt seien, den einmal gefassten Auflösungsbeschluss zu widerrufen (E. 5b). Das Bundesgericht räumte schliesslich ein, dass es Fälle geben möge, wo der Widerruf des Auflösungsbeschlusses die Interessen der Öffentlichkeit nicht
BGE 123 III 473 S. 476
gefährde, was aber nicht genüge, um eine vom eindeutigen Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung zu rechtfertigen (E. 5d S. 448).
3.
Die auf die damalige schweizerische Lehre bezügliche Feststellung in
BGE 91 I 438
ff., dass die Meinungen geteilt seien, das heisst keine überwiegende Lehrmeinung bestehe, trifft für die nach 1965 erschienenen Publikationen nicht mehr zu. Der damals von W. VON STEIGER vertretenen Auffassung (von diesem bestätigt in ZBJV 103/1967, S. 122 f.), dass ein Widerruf des Auflösungsbeschlusses grundsätzlich zulässig sein müsse, hat sich nach 1965 die Mehrheit der Autoren angeschlossen. Zu erwähnen sind von GREYERZ (Schweizerisches Privatrecht, Bd. VIII/2, S. 279), BÜRGI (Zürcher Kommentar, N. 20 zu Art. 736), ROBERT HEBERLEIN (Die Kompetenzausscheidung bei der Aktiengesellschaft in Liquidation unter Mitberücksichtigung der Kollektivgesellschaft nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1969, S. 12 ff.), LUTZ MELLINGER (Die Fusion von Aktiengesellschaften im schweizerischen und deutschen Recht, Diss. Zürich 1971, S. 24 ff.), PETER STAEHELIN (Die Rückgründung aufgelöster Gesellschaften oder Genossenschaften, BJM 1973, S. 217 ff.), BÖCKLI (Schweizer Aktienrecht, 2. Auflage, S. 1027 Rz. 1955d), FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL (Schweizerisches Aktienrecht, § 55 N. 189 ff.; anders FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ, Einführung in das schweizerische Aktienrecht, 3. Auflage 1983, § 41 N. 9) und WALTER STOFFEL (SJK, Ersatzkarte 403, Die Aktiengesellschaft, XV, Auflösung, Liquidation und Überschuldung, S. 3 Fn. 6). Soweit sie sich zur Frage äussern, sind aber alle zitierten Autoren der Auffassung, dass der Widerruf im fortgeschrittenen Liquidationsstadium nicht mehr zuzulassen sei, wobei die Mehrheit von ihnen die Grenze übereinstimmend mit den Regelungen des deutschen und österreichischen Rechts im Zeitpunkt setzt, wo noch nicht mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens begonnen worden ist. In diesem Zusammenhang ist im übrigen anzumerken, dass sich neben den vom Bundesgericht in
BGE 91 I 438
ff. zitierten noch andere Autoren vor 1965 für die grundsätzliche Zulässigkeit des Widerrufs ausgesprochen haben (nämlich R. GOLDSCHMIDT, Grundfragen des neuen schweizerischen Aktienrechts, St. Gallen 1937, S. 60 ff.; FRITZ FUNK (Kommentar des Obligationenrechts, 2. Band, "Das Recht der Gesellschaften", 1951, N. 1 zu
Art. 736 OR
; WALTER R. SCHLUEP, Die wohlerworbenen Rechte des Aktionärs und ihr Schutz nach schweizerischem Recht, Diss. St. Gallen 1955, S. 74; CHARLES METZLER, Die Auflösungsgründe im Bereich der Aktiengesellschaft, Diss. Bern 1952, S. 5 f.). Der Kritik an
BGE 91 I 438
ff.
BGE 123 III 473 S. 477
nicht angeschlossen haben sich ROBERT PATRY (Précis de droit suisse des sociétés, vol. II, La société anonyme, les sociétés mixtes, 1977, S. 267), GUHL/KUMMER/DRUEY (Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Auflage, S. 696) und STÄUBLI (in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht II, N. 6 zu
Art. 736 OR
).
Der Umstand, dass
BGE 91 I 438
ff. in der Lehre überwiegend kritisiert wird, deutet auf eine gegenüber der damals getroffenen Lösung gewandelte Rechtsauffassung, auf eine andere Wertung der auf dem Spiel stehenden Interessen hin, was Anlass für eine Praxisänderung bilden kann (
BGE 107 V 79
E. 5a mit Hinweisen; MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 512 f. zu
Art. 1 ZGB
). Das wird durch die Stellungnahme des Eidgenössischen Amtes für das Handelsregister bestätigt, welches dem Bundesgericht eine Überprüfung seiner Praxis nahelegt und darauf hinweist, dass einer anderen Lösung keine öffentlichen oder rechtlich geschützten Interessen Dritter zwingend entgegenstünden. Es ist deshalb zu prüfen, ob an der mit
BGE 91 I 438
ff. vorgenommenen Auslegung von
Art. 739 Abs. 2 OR
festgehalten werden kann.
4.
Art. 739 Abs. 2 OR
, der im Rahmen der Aktienrechtsrevision von 1992 unverändert blieb (vgl. Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991: AS 1992 733 ff., 777), bestimmt:
"Die Befugnisse der Organe der Gesellschaft werden mit dem Eintritt der Liquidation auf die Handlungen beschränkt, die für die Durchführung der Liquidation erforderlich sind, ihrer Natur nach jedoch nicht von den Liquidatoren vorgenommen werden können."
Nach dem Wortlaut, auf den bei der Auslegung in erster Linie abzustellen ist (
BGE 116 II 525
E. 2a;
BGE 114 II 404
E. 3), werden die Befugnisse der Gesellschaftsorgane mit dem Eintritt der Liquidation in zweifacher Hinsicht beschränkt. Einerseits dürfen sie nur noch Handlungen vornehmen, die für die Durchführung der Liquidation erforderlich sind; andererseits sind sie dazu nur insoweit befugt, als die Handlungen nicht ihrer Natur nach von den Liquidatoren vorgenommen werden können. Diese doppelte Beschränkung der Befugnisse der Gesellschaftsorgane wurde in
BGE 91 I 438
ff. in den Vordergrund gestellt. Dem Wortlaut kann indes mit dem Hinweis auf die "Natur" der Handlungen und damit auf die Gesetzessystematik auch eine positive Aussage über das Zusammenwirken von Organen und Liquidatoren sowie deren gegenseitige Kompetenzen entnommen werden. Und zwar im Sinne der Aussage, dass die Liquidatoren nicht über alle zur Durchführung der Liquidation erforderlichen
BGE 123 III 473 S. 478
Kompetenzen verfügen, sondern der Mitwirkung der Gesellschaftsorgane bedürfen, deren Fortbestand vorausgesetzt wird. Die Organe bleiben zuständig für Handlungen, die "nicht ihrer Natur nach von den Liquidatoren vorgenommen werden können" (frz. Wortlaut: "... et qui, de par leur nature, ne sont point du ressort des liquidateurs"; ital.: "... e che per la loro natura non possono essere eseguiti dei liquidatori"). Damit wird Bezug genommen auf die organisatorische Struktur der Gesellschaft und auf jene Aktivitäten der Gesellschaftsorgane, welche der Aufrechterhaltung der gesellschaftsrechtlichen Organisation dienen. Insoweit sieht das Gesetz keine besondere Kompetenzordnung für das Liquidationsstadium vor.
a) Die Generalversammlung bleibt auch im Liquidationsstadium oberstes Organ der Gesellschaft, das nach wie vor den Willen der Aktionäre zum Ausdruck bringt (BÜRGI/NORDMANN, Zürcher Kommentar, N. 9 zu
Art. 739 OR
; STÄUBLI, a.a.O., N. 5 zu
Art. 739 OR
). Der Generalversammlung obliegen weiterhin Wahl und Abberufung von Verwaltung und Revisionsstelle (
Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2,
Art. 705 OR
). Sie ist zur Abnahme der jährlichen Zwischenbilanz (
Art. 743 Abs. 5 OR
) und der Schlussbilanz verpflichtet, welche Grundlage für die Verteilung des Gesellschaftsvermögens bildet. Die Generalversammlung ist sodann zuständig zur Erteilung der Décharge an Verwaltung und Liquidatoren (BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 23 zu
Art. 739 OR
). Die Stellung der Generalversammlung als oberstes Gesellschaftsorgan manifestiert sich schliesslich in ihrer Kompetenz, den Liquidatoren die freihändige Verwertung zu verbieten (
Art. 743 Abs. 4 OR
) und selbst im Liquidationsstadium Statutenänderungen zu beschliessen, sofern sie mit der Liquidationstätigkeit vereinbar sind (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 66).
Auch die Revisionsstelle behält während der Liquidation ihre Aufgaben (BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 34 zu
Art. 739 OR
). Ihre Pflichten bleiben weitgehend die gleichen wie vor dem Auflösungsbeschluss. So hat sie die Bilanzen - Liquidationseröffnungsbilanz (
Art. 742 Abs. 1 OR
), Zwischenbilanz und Schlussbilanz - zu prüfen und darüber Bericht zu erstatten (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 76). Nach
Art. 729b Abs. 2 OR
hat sie sodann bei offensichtlicher Überschuldung der Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, wenn der Verwaltungsrat die Anzeige unterlässt. Dieser Pflicht dürfte sie auch bei der aufgelösten Gesellschaft unterstellt sein, und zwar nicht nur, falls die Liquidation in den Händen
BGE 123 III 473 S. 479
des Verwaltungsrates liegt, sondern auch dann, wenn die Liquidation durch besondere Liquidatoren besorgt wird und diese die Überschuldung nicht anzeigen. Die subsidiäre Anzeigepflicht der Revisionsstelle ist bei der - nicht selten aus wirtschaftlichen Gründen - aufgelösten Gesellschaft nicht weniger von Bedeutung als bei der unaufgelösten, werbenden Gesellschaft (Revisionshandbuch der Schweiz 1992/TREUHAND KAMMER, bearb. von Pius Bachmann, Roger Bron et al., Bd. I, S. 493 f.; a.M.: STÄUBLI, a.a.O., N. 14 zu
Art. 743 OR
).
b) Wesentliche Auswirkungen hat die Gesetzesvorschrift von
Art. 739 Abs. 2 OR
, die sich an die "Organe der Gesellschaft" schlechthin richtet und ihnen nach dem Wortlaut gleiche Befugnisbeschränkungen auferlegt, auf die Stellung des Verwaltungsrats. Hier zeigt sich indes deutlich, dass die Bestimmung zu wenig differenziert gefasst und deshalb mehrdeutig ist. Wird die Liquidation durch den Verwaltungsrat besorgt, ist die Befugnisbeschränkung zugunsten der Liquidatoren zwar gegenstandslos. Wird die Liquidation dagegen eigens hiefür bestimmten oder gewählten Liquidatoren übertragen, ist der Verwaltungsrat von den Befugnisbeschränkungen ungleich mehr betroffen als die Generalversammlung und die Revisionsstelle (vgl. dazu FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 72 ff.; BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 33 zu
Art. 739 OR
; F. VON STEIGER, Rechtsfragen betr. die Aktiengesellschaft in Liq., in: Die Schweizerische Aktiengesellschaft, 1949/50 Bd. 22, S. 40 ff.). Obliegt dem Verwaltungsrat in der unaufgelösten Gesellschaft die Führung der Geschäfte bzw. die Beaufsichtigung der Geschäftsführung (
Art. 716, 716a und 716b OR
), liegt nach der Auflösung die in der Liquidationstätigkeit bestehende Hauptaktivität der Gesellschaft in den Händen der Liquidatoren (
Art. 742-745 OR
). Diese und nicht der Verwaltungsrat haben im Falle der Überschuldung den Richter zu benachrichtigen (
Art. 743 Abs. 2 OR
). Kann der Verwaltungsrat für die unsorgfältige Führung der Geschäfte der unaufgelösten Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden, sind es nach der Auflösung der Gesellschaft die Liquidatoren (
Art. 754 Abs. 1 OR
). Die Bestimmung von
Art. 739 Abs. 2 OR
ist in ihrer Funktion als Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltungsrat und Liquidatoren, hinter der auch eine Verantwortungsabgrenzung steht, zweifellos zwingender Natur. Die im Vergleich zu Generalversammlung und Revisionsstelle ungleich stärkeren Auswirkungen der Liquidation auf die Kompetenzen des nicht liquidierenden Verwaltungsrates ändern aber nichts am Prinzip, dass der
BGE 123 III 473 S. 480
Auflösungsbeschluss und der anschliessende Eintritt der Gesellschaft in das Liquidationsstadium ihre Grundstruktur nicht verändert. Sie behält ihre juristische Persönlichkeit (
Art. 739 Abs. 1 OR
), ist mit der unaufgelösten Gesellschaft identisch (
BGE 91 I 438
E. 4) und behält ihre gesetzlichen Organe. Die Befugnisse der Organe bleiben - abgesehen vom Sonderfall des nicht liquidierenden Verwaltungsrates - grundsätzlich erhalten und werden lediglich an die neue Aufgabe angepasst. Das gilt angesichts der oben dargelegten fortbestehenden Kompetenzen für die Generalversammlung und die Revisionsstelle generell. Damit wird für diese Organe bestätigt, worauf bereits der Wortlaut von
Art. 739 Abs. 2 OR
hindeutet, dass mit ihren "Handlungen", die "ihrer Natur nach nicht von den Liquidatoren vorgenommen werden können", wesensmässig andere Handlungen gemeint sind als solche, die zur eigentlichen "Durchführung der Liquidation" gehören und von den Liquidatoren besorgt werden. Die Kernfrage, ob die Generalversammlung auf den Auflösungsbeschluss zurückkommen und die Liquidationstätigkeit ausser Kraft setzen kann, lässt sich somit aufgrund des Wortlautes und der Gesetzessystematik nicht eindeutig beantworten. Die Bedeutung der Vorschrift ist deshalb unter Heranziehung weiterer Auslegungselemente zu finden; ihre Tragweite muss mittels Auslegung nach dem Zweck, nach den dem Gesetz zugrundeliegenden Wertungen bestimmt werden (
BGE 114 V 220
E. 3a;
BGE 110 Ib 1
E. 2c/cc S. 8; 121 III E. 1d/aa S. 225).
5.
Die bisherige Auslegung hat zum Zwischenergebnis geführt, dass eine lockerere Zweckbindung der Handlungen der Gesellschaftsorgane an das Liquidationserfordernis besteht, als es der Wortlaut von
Art. 739 Abs. 2 OR
vermuten lässt. Das gilt namentlich für die Generalversammlung. Ob indes die Bestimmung von
Art. 739 Abs. 2 OR
bloss der Kompetenzabgrenzung zwischen den Liquidatoren und der Generalversammlung dient, diese an den Liquidationszweck grundsätzlich nicht gebunden ist und jederzeit, also auch noch im fortgeschrittenen Liquidationsstadium den Widerruf der Auflösung beschliessen kann, muss die Auslegung nach teleologischen Gesichtspunkten beantworten.
a) Die Aktionäre, die aus wirtschaftlichen Gründen oder als Folge von gesellschaftsinternen Spannungen die Auflösung beschlossen haben, sind in erster Linie an einem optimalen Liquidationserlös interessiert. Sie können zur Förderung dieses Zieles auf die Gestaltung des Liquidationsverfahrens einwirken, indem sie Liquidatoren wählen, aber auch die gewählten Liquidatoren nötigenfalls abberufen
BGE 123 III 473 S. 481
(
Art. 741 Abs. 1 OR
), und sie entscheiden nach
Art. 743 Abs. 4 OR
darüber, ob die Liquidatoren Aktiven freihändig verkaufen dürfen. Es kann aber auch in ihrem Interesse liegen und sinnvoll sein, dass der Betrieb im Liquidationsstadium so lange weitergeführt wird, bis sich für das Unternehmen ein Käufer findet und dadurch ein optimaler Erlös erzielt wird (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 106 und § 57 N. 30 zu
Art. 739 OR
). Bei veränderten Verhältnissen, zum Beispiel nach dem Wegfall der wirtschaftlichen oder gesellschaftsinternen Gründe, welche die Generalversammlung zum Auflösungsbeschluss veranlasst haben, können die Aktionäre aber auch daran interessiert sein, auf den Auflösungsbeschluss zurückzukommen und den Zustand vor der Auflösung der Gesellschaft wiederherzustellen. In der Lehre wird zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen mit der Änderung des Gesellschaftszwecks vergleichbaren Vorgang handelt, weil die Gesellschaft von ihrem beschränkten Liquidationszweck zum Zweck der aktiven Tätigkeit zurückkehrt (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 55 N. 194). Ein solcher Beschluss fällt aber in die alleinige Kompetenz der Generalversammlung. Ihr steht das unübertragbare Recht zu, die Änderung des Gesellschaftszwecks zu beschliessen (
Art. 698 Abs. 2 Ziff. 1,
Art. 704 Abs. 1 Ziff. 1 OR
). Dieses Recht gründet in der Stellung der Generalversammlung als oberstes Organ der Aktiengesellschaft (
Art. 698 Abs. 1 OR
) und ist letztlich Ausfluss des Prinzips der Körperschaftsautonomie, eines Fundamentes des Gesellschaftsrechts (W. VON STEIGER, ZBJV 103/1967 S. 123).
Die Interessenlage der Beteiligten an dieser Zustandsveränderung ist vergleichbar mit jener beim Widerruf des über eine Gesellschaft eröffneten Konkurses. In der Lehre wird denn auch darauf hingewiesen, dass in Analogie zur Möglichkeit des Konkurswiderrufs nach
Art. 195 SchKG
und
Art. 939 Abs. 2 OR
auf die grundsätzliche Befugnis der Generalversammlung geschlossen werden müsse, den Auflösungs- bzw. Liquidationsbeschluss zu widerrufen (BÖCKLI, a.a.O., S. 1027 Rz. 1955d; BÜRGI, a.a.O., N. 20 zu
Art. 736 OR
). Die Analogie lässt sich allerdings nur dem Grundsatz nach rechtfertigen und fällt insoweit ausser Betracht, als nach
Art. 195 Abs. 2 SchKG
der Widerruf des Konkurses bis zum Schluss des Verfahrens möglich ist. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage je nach dem Liquidationsstadium kann diese Regelung nicht auf die Liquidation einer Aktiengesellschaft übertragen werden (vgl. dazu unten E. 5b und c). Im übrigen besteht dafür auch kein praktisches Bedürfnis,
BGE 123 III 473 S. 482
da ein Widerruf nur solange angestrebt werden dürfte, als der Fortbestand der Gesellschaft für die Beteiligten noch von Interesse ist, was in der Regel nicht mehr zutrifft, wenn sich die Liquidation in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.
b) Die gesetzliche Ausgestaltung des Liquidationsverfahrens ist weitgehend vom Gesichtspunkt geprägt, die Interessen der Gesellschaftsgläubiger zu sichern. Vornehmlich oder ausschliesslich dem Gläubigerschutz dienen die Vorschriften über die Verpflichtungen zur Bilanzerrichtung (
Art. 742 Abs. 1 OR
) und zum Schuldenruf (
Art. 742 Abs. 2 OR
), über die Verwertung der Aktiven und Erfüllung der Gesellschaftsverbindlichkeiten (
Art. 743 Abs. 1 OR
), über die gerichtliche Sicherstellung (
Art. 744 OR
) und insbesondere über die Verteilung des Gesellschaftsvermögens unter die Aktionäre (
Art. 745 OR
). Das Gesellschaftsvermögen darf erst dann an die Aktionäre verteilt werden, wenn alle Gläubiger befriedigt oder sichergestellt sind. Darin liegt der Ersatz für den durch die Liquidation bzw. die Vermögensverteilung bewirkten Wegfall der Garantien für die Erhaltung des Haftungssubstrates der unaufgelösten Gesellschaft. Dieses kann den Gläubigern durch die werbende Gesellschaft insofern nicht entzogen werden, als ihr Rückzahlungen des Grundkapitals an die Aktionäre nach
Art. 680 Abs. 2 OR
verboten sind. Tritt die Gesellschaft in Liquidation, fällt dieses Verbot dahin. An seine Stelle tritt die Verpflichtung zur Ersatzsicherheit für die Gläubiger. Diese Sicherheit kann die Gesellschaft nur solange stellen, als sich noch über das unverteilte Vermögen verfügt. Nach dessen Verteilung an die Aktionäre darf sie nicht mehr unternehmerisch tätig sein (PETER STAEHELIN, a.a.O., S. 221).
Aus dieser Regelung ergibt sich eine unterschiedliche Interessenlage der Gesellschaftsgläubiger, je nachdem ihre Forderungen bereits im Zeitpunkt des Auflösungsbeschlusses bestanden oder erst nach dem Widerruf begründet wurden. Im ersten Fall ist der Gläubigerschutz im Liquidationsverfahren gewährleistet. Ein nach Beginn der Vermögensverteilung erfolgender Widerruf berührt die Interessen dieser Gläubiger nicht, da sie in diesem Stadium von der Gesellschaft befriedigt oder ihre Forderungen sichergestellt worden sein müssen. Eine Gefährdung ihrer Interessen ist deshalb bei gesetzmässigem Verlauf des Liquidationsverfahrens ausgeschlossen (ROBERT HEBERLEIN, a.a.O., S. 16). Anders verhält es sich dagegen im zweiten Fall (vgl. dazu PETER STAEHELIN, a.a.O., S. 223, und GOLDSCHMIDT, a.a.O., S. 61 f.). Wer nach dem Widerruf des Auflösungsbeschlusses Gläubiger der Gesellschaft wird, kann sich nur an noch
BGE 123 III 473 S. 483
vorhandenes Haftungssubstrat halten. Er wird daher ein vitales Interesse daran haben, dass das Gesellschaftsvermögen in der dem Widerruf vorangegangenen Liquidationsphase nicht verteilt wurde. Mit einer Verteilung in dieser Zwischenphase entstände eine Lücke im Gläubigerschutz, der entweder auf dem Haftungssubstrat der unaufgelösten Gesellschaft oder auf der Verpflichtung zur Ersatzsicherheit in der aufgelösten Gesellschaft beruht. Weil der Gesetzgeber einen lückenlosen Gläubigerschutz vorgesehen hat und dieser nur gewährleistet ist, wenn die Liquidation nach der Vermögensverteilung abgeschlossen wird, würde ein nach begonnener Vermögensverteilung gefasster Widerrufsbeschluss auf eine Umgehung der Bestimmungen über den Gläubigerschutz hinauslaufen. Zudem könnte auf diese Weise das Verbot der Kapitalrückzahlung an die Aktionäre umgangen werden (vgl. für das deutsche Recht HÜFFER, in: GESSLER/HEFERMEHL/ECKARDT/KROPFF, Aktiengesetz, Band V, N. 21 zu § 274). Die einem solchen Beschluss zugrunde liegenden Interessen der Aktionäre brechen sich in diesem Liquidationsstadium an den gesetzlich geschützten Gläubigerinteressen. Wenn die Liquidation so weit fortgeschritten ist, kann das Liquidationsverfahren nicht mehr durch Generalversammlungsbeschluss widerrufen, sondern muss es abgeschlossen werden.
c) Demnach führt die Auslegung von
Art. 739 Abs. 2 OR
nach Wortlaut, Systematik und teleologischen Gesichtspunkten zum Ergebnis, dass der Widerruf des Auflösungsbeschlusses durch die Generalversammlung so lange zulässig ist, als noch nicht mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens begonnen worden ist. Diese Lösung stimmt überein mit der heute überwiegend von der Lehre vertretenen Meinung, lässt sich mit der Entstehungsgeschichte von
Art. 739 Abs. 2 OR
vereinbaren (vgl. oben E. 2;
BGE 91 I 438
E. 3 S. 442) und lehnt sich an die gesetzlichen Regelungen Deutschlands (§ 274 Abs. 1 des Aktiengesetzes von 1965) und Österreichs (§ 215 Abs. 1 des Aktiengesetzes von 1965) an. Keine Bedenken bestehen schliesslich unter dem im bereits zitierten Bundesgerichtsentscheid vom 14. September 1938 (abgedruckt in: Die Schweizerische Aktiengesellschaft 1938/39, S. 69) hervorgehobenen fiskalischen Aspekt, dass durch die Zulassung des Widerrufs Steuerumgehungen mittels Verwertung von sogenannten Aktienmänteln ermöglicht würden. Zum einen wird das Problem heute vom Steuerrecht selbst gelöst (vgl. Art. 5 Abs. 2 lit. b des Bundesgesetzes über die Stempelabgaben; SR 641.10; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 55 N. 192). Zum andern steht die hier befürwortete Lösung nicht
BGE 123 III 473 S. 484
im Widerspruch zur Widerrechtlichkeit des Mantelkaufs. Unter einem Aktienmantel wird eine wirtschaftlich vollständig liquidierte und von den Beteiligten aufgegebene, juristisch aber noch nicht aufgelöste Gesellschaft verstanden (
BGE 55 I 134
ff.;
64 II 361
E. 1; Bundesgerichtsentscheid vom 4. September 1989 E. 1b, abgedruckt in: SJ 1990 S. 108). In diesem Stadium ist indes ein Widerruf des Auflösungsbeschlusses nicht mehr zulässig. Vorausgesetzt wird vielmehr, dass die Gesellschaft über ihr unverteiltes Gesellschaftsvermögen verfügt und ein Interesse an der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit besteht, es sich somit nicht um einen blossen Aktienmantel handeln kann.
6.
Im vorliegenden Fall hat die Generalversammlung den Widerruf in einem Zeitpunkt beschlossen, als abgesehen vom Schuldenruf noch keine Liquidationshandlungen durchgeführt worden waren. Der Beschluss ist insoweit nach der mit diesem Entscheid geänderten Praxis des Bundesgerichts rechtmässig erfolgt.
Der öffentlich beurkundete und zum Eintrag in das Handelsregister angemeldete Beschluss (dazu FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 55 N. 198) wurde sodann einstimmig gefasst, weshalb die Frage nach dem allenfalls erforderlichen Quorum nicht beantwortet werden muss. Einer - im vorliegenden Fall tatsächlich erfolgten - Zustimmung der Gesellschaftsgläubiger bedurfte der Beschluss im übrigen nicht, weil er deren Interesse an der Sicherung ihrer Forderungen nicht berührt. Die sinngemässe Anwendung von
Art. 195 Abs. 1 Ziff. 2 SchKG
rechtfertigt sich wegen der Verschiedenheit der Verhältnisse beim Widerruf des Konkurses nicht. Unerlässlich ist dagegen, dass die Gesellschaft den Nachweis erbringt, dass im Zeitpunkt des Widerrufsbeschlusses noch nicht mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens begonnen wurde. Von welchem Organ und auf welche Art der Nachweis gegenüber dem Handelsregisterführer zu leisten ist, muss mangels einer Gesetzesvorschrift durch richterliche Rechtsschöpfung geregelt werden (
Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB
). Da die Liquidationstätigkeit und insbesondere auch die Vermögensverteilung in den Verantwortungsbereich der Liquidatoren fällt (
Art. 742-745 OR
), erscheint es sachgerecht, dass sie oder der nach
Art. 740 Abs. 1 OR
mit der Liquidation betraute Verwaltungsrat eine entsprechende schriftliche Bestätigung abgeben. Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt, wurde doch dem Handelsregisterführer eine schriftliche Erklärung der Liquidatoren eingereicht, wonach ausser dem Schuldenruf keine Liquidationshandlungen durchgeführt worden seien. | de |
dfb93bc2-aa36-4585-ba90-bb95c11bd64b | Erwägungen
ab Seite 434
BGE 140 III 433 S. 434
Aus den Erwägungen:
3.
Nach
Art. 269 OR
sind Mietzinse u.a. missbräuchlich, wenn damit ein übersetzter Ertrag aus der Mietsache erzielt wird. Dagegen sind Mietzinse in der Regel insbesondere dann nicht missbräuchlich, wenn sie im Rahmen der orts- oder quartierüblichen Mietzinse liegen (
Art. 269a lit. a OR
) oder durch Kostensteigerungen oder Mehrleistungen des Vermieters begründet sind (
Art. 269a lit. b OR
).
Die kantonalen Instanzen stellten fest, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der wertvermehrenden Investitionen im Zusammenhang mit der umfassenden Überholung der Liegenschaft an und für sich zu einem monatlichen Mietzinsaufschlag von Fr. 2.45 pro Monat und Quadratmeter vermieteter Wohnungsfläche berechtigt wäre. Die Beschwerdegegner wendeten dagegen ein, die Beschwerdeführerin erwirtschafte bei einer entsprechenden Erhöhung der Nettomietzinse aus den Liegenschaften einen übersetzten Ertrag. Die Beschwerdeführerin hielt dem wiederum entgegen, dass hier eine Altliegenschaft vorliege, bei der die Zulässigkeit des erzielten Ertrags nicht mit einer Nettorenditenberechnung, sondern durch einen Vergleich mit orts- und quartierüblichen Mietzinsen zu bestimmen sei.
Unbestritten ist vorliegend, dass sowohl Mieter als auch Vermieter gegenüber einem auf einen relativen Grund gestützten Mietzinsanpassungsbegehren (wie hier auf Erhöhung wegen wertvermehrender Aufwendungen) ohne Weiteres einredeweise einen absoluten Anpassungsgrund vorbringen können (
BGE 121 III 163
; WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 18 f. zu
Art. 269 OR
).
3.1
Auch wenn sich ein Vermieter für eine Mietzinsanpassung auf das Kriterium der orts- oder quartierüblichen Mietzinse (
Art. 269a lit. a OR
) beruft, kann der Mieter in der Regel den Nachweis des übersetzten Ertrags (
Art. 269 OR
) erbringen, mithin die Vermutung nach
Art. 269a lit. a OR
widerlegen (
BGE 124 III 310
; Urteile 4A_276/2011 vom 11. Oktober 2011 E. 5.2.1 und 5.2.3; 4A_669/2010
BGE 140 III 433 S. 435
vom 28. April 2011 E. 4.1; je mit Hinweisen). Bei Grundstücken, die vor mehreren Jahrzehnten gebaut oder erworben worden sind, steht allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Mietzinsanpassung an die Orts- oder Quartierüblichkeit im Vordergrund. Denn bei solchen Liegenschaften fehlen oft die Belege zur Feststellung des investierten Eigenkapitals im Hinblick auf die Nettorenditeberechnung oder sie führen zu wirtschaftlich unrealistischen Ergebnissen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten langjährige Eigentümer von Altbauten durch die Missbrauchsgesetzgebung gegenüber Neuerwerbern nicht benachteiligt und daher eine gewisse Angleichung von Alt- und Neuzinsen ermöglicht werden (
BGE 124 III 310
E. 2b in fine;
BGE 122 III 257
E. 4a/bb S. 261; Urteile 4A_276/2011 vom 11. Oktober 2011 E. 5.2.3 und 5.5; 4A_669/2010 vom 28. April 2011 E. 4.1; 4C.176/2003 vom 13. Januar 2004 E. 3.3; vgl. auch den unter altem Recht ergangenen
BGE 112 II 149
E. 3d S. 155).
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht und unter Verletzung von Art. 269 f. OR zur Auffassung gelangt, dass es sich bei den streitbetroffenen Liegenschaften nicht um Altbauten, sondern um Neubauten handle und damit bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Mietzinse auf das Kriterium der Kostenmiete bzw. auf die Nettorendite und nicht auf die orts- und quartierüblichen Mietzinse abzustellen sei. Die Zulässigkeit des erzielten Mietertrages dürfe vorliegend nicht anhand einer Berechnung der Nettorendite ermittelt werden, sondern ausschliesslich durch einen Vergleich der Mieterträge mit orts- und quartierüblichen Mietzinsen.
Die Beschwerdegegner bestreiten, dass es sich hier um Altliegenschaften handle. Um den nach Gesetz und Rechtspraxis anerkannten Vorrang der Kostenmiete gegenüber der Marktmiete zu gewährleisten und einer opportunistischen Vermischung von Marktmiete und Kostenmiete zu begegnen, sei eine enge Auslegung des Begriffs des Altbaus erforderlich.
3.1.1
Wie die Vorinstanz zutreffend festhielt, äusserte sich das Bundesgericht bisher nicht explizit dazu, wie alt eine Liegenschaft mindestens sein muss, um als Altliegenschaft (immeuble ancien) zu gelten. Das Bundesgericht legte sich insoweit nicht zahlenmässig fest, sondern hielt bloss fest, es müsse sich um Liegenschaften handeln, die "vor mehreren Jahrzehnten gebaut oder erworben worden sind" ("immeubles construits ou acquis il y a quelques décennies") (vgl. die in der vorstehenden E. 3.1 zitierten Urteile; ferner die Urteile
BGE 140 III 433 S. 436
4C.285/2005 vom 18. Januar 2006 E. 2.4; 4C.236/2004 vom 12. November 2004 E. 3.2, in: Droit du bail 2005 S. 36 f. Nr. 17; 4C.323/2001 vom 9. April 2002 E. 3a in fine, in: SJ 2002 I S. 434). Wie die Vorinstanz richtig ausführte, qualifizierte das Bundesgericht Liegenschaften in drei beurteilten Fällen als Altliegenschaften, in denen das Baujahr der Liegenschaft vor 1900 lag und der Erwerb 37 Jahre zurück lag (Urteile 4A_669/2010 vom 28. April 2011 E. 4.2) bzw. das Grundstück vor über 100 Jahren erworben und 40 Jahre vor der strittigen Mietzinserhöhung überbaut (Urteil 4C.176/2003 vom 13. Januar 2004 E. 3.3) bzw. die Liegenschaft 42 Jahre vor der Mietzinserhöhung erworben wurde (Urteil 4C.323/2001 vom 9. April 2002 E. 3a, SJ 2002 I S. 434 ff., wo auf
BGE 122 III 257
E. 4 hingewiesen wurde, nach dem bei einer vor mehr als vierzig Jahren erworbenen Liegenschaft die Berufung auf die Quartier- und Ortsüblichkeit zuzulassen sei; vgl. immerhin auch der unter altem Recht ergangene
BGE 112 II 149
E. 3, wo das Bundesgericht bereits bei einer im Zeitpunkt der Mietzinserhöhung erst 23-jährigen Liegenschaft von einer Altbaute ausging [kritisch dazu: HEINRICH, in: Vertragsverhältnisse, 2. Aufl. 2012, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, N. 4 zu 269-269a OR]). Sodann wies die Vorinstanz auf das Urteil 4A_505/2010 vom 20. Januar 2011 E. 6.3 hin, wo das Bundesgericht festhielt, dass nicht nur ältere Liegenschaften einer umfassenden Überholung im Sinne von
Art. 14 der Verordnung vom 9. Mai 1990 über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen (VMWG; SR 221.213.11)
zugänglich seien und eine solche auch bei einer 23 Jahre alten Liegenschaft nicht ausgeschlossen sei. Daraus könne geschlossen werden, dass eine erst 23-jährige Liegenschaft nicht als Altbaute gelten könne. Gestützt darauf und auf verschiedene Literaturstellen, auf die einzugehen sich hier erübrigt, kam die Vorinstanz zum Schluss, dass Bauten, die weniger als dreissig Jahre alt seien, mit Sicherheit nicht unter den Begriff der Altbauten fielen, so dass bei den vorliegend streitbetroffenen Häusern, die 26- bzw. 27-jährig seien, nicht von Altbauten gesprochen werden könne.
3.1.2
Es genügt hier festzuhalten, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzte, indem sie die vorliegenden, 26- bzw. 27-jährigen Liegenschaften bei der Sanierung nicht als Altliegenschaften qualifizierte. Es kann in einem solchen Fall nicht von einer "vor mehreren Jahrzehnten" gebauten oder erworbenen Liegenschaft im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis gesprochen werden.
BGE 140 III 433 S. 437
Die Beschwerdeführerin zeigt überdies nicht auf, dass hier eine Nettorenditeberechnung aufgrund der Investitionsbelege zu einem wirtschaftlich nicht realistischen Ergebnis und damit zu einer Benachteiligung von ihr als langjähriger Eigentümerin der streitbetroffenen Liegenschaften führen müsste, wie sie der Gesetzgeber vermeiden wollte. Dazu müsste sie darlegen, dass die Investitionsbelege
insgesamt
, d.h. auch unter Einbezug der Belege über die ursprünglichen Anlagekosten, keinen sachgerechten Bezug zur Realität mehr haben und deren Berücksichtigung zu unrealistischen zulässigen Mieterträgen führte (
BGE 122 III 257
E. 4a/bb). Dies tut sie indessen nicht, sondern sie begnügt sich damit zu monieren, die Vorinstanz sei hinsichtlich der zulässigen Mietzinse für die einzelnen Wohnungen zu einem unrealistischen Ergebnis gekommen, indem ihre Berechnungen dazu führten, dass bei unbestrittenen umfassenden Investitionen (zur umfassenden Überholung der Liegenschaften im Jahre 2009) von Fr. 5'425'682.- bei 11 von 16 Mietern eine Mietzinsreduktion und nur bei fünf Mietern eine Erhöhung erfolge. Überdies trifft ihre Behauptung nicht zu, dass bei 11 Mietern eine Mietzinsreduktion erfolge, sondern die Vorinstanz verweigerte insoweit aufgrund der Einrede des übersetzten Ertrages lediglich eine Erhöhung der Mietzinse.
Die Beschwerdeführerin hält weiter dafür, sie werde als langjährige Eigentümerin offensichtlich gegenüber Eigentümern benachteiligt, die eine Liegenschaft erst kürzlich erworben hätten, weil sie nicht mehr in der Lage sei, die für die korrekte Berechnung der Nettorendite erforderlichen detaillierten Unterlagen beizubringen. Die Feststellung der Vorinstanz, wonach die Anlagekosten belegt seien, sei offensichtlich falsch und es sei festzustellen, dass die Anlagekosten aufgrund des Alters der Liegenschaft nicht lückenlos belegt werden könnten.
Die Beschwerdeführerin unterlässt es aufzuzeigen, weshalb die von ihr gerügte Feststellung der Vorinstanz entscheiderheblich sein soll. Dies ist denn auch nicht ersichtlich, weshalb auf die Rüge der offensichtlich unrichtigen Feststellung nicht eingetreten werden kann. Ob die Belege im vorliegenden Fall tatsächlich nicht beigebracht werden können, wie die Beschwerdeführerin behauptet, und ob die Anlagekosten tatsächlich belegt sind, ist nicht dafür entscheidend, ob von einer Altliegenschaft auszugehen ist. Dass wegen Schwierigkeiten zur Beibringung von Investitionsbelegen von einer
BGE 140 III 433 S. 438
Altliegenschaft ausgegangen werden kann, ist erforderlich, dass es aufgrund des Alters oder der Geschichte einer Liegenschaft abstrakt gesehen wahrscheinlich ist, dass die Belege nicht mehr greifbar sind. Solches hat das Bundesgericht beispielsweise in einem Fall angenommen, in dem eine Liegenschaft vor fast einem Jahrhundert durch Schenkung erworben wurde und der Wert der Liegenschaft im Schenkungszeitpunkt ebenso unbekannt war wie der Preis, zu dem der Schenker die Liegenschaft gekauft hatte (Urteil 4C.285/2005 vom 18. Januar 2006 E. 2.6). Von einem solchen Fall ist man bei den vorliegenden, vor 26 bzw. 27 Jahren erstellten und professionell verwalteten Liegenschaften weit entfernt. Der Beschwerdeführerin kann nicht gefolgt werden, wenn sie dafür hält, es sei notorisch, dass nach einer solchen Zeitdauer Belege einer Investition nicht mehr lückenlos beschafft werden können. In den Jahren 1982 und 1983, als die Liegenschaften gebaut wurden, war bekannt, dass die Nettoertragsberechnung, und damit die dazu erforderlichen Belege für die Mietzinsfestsetzung von Bedeutung sind (vgl. dazu z.B.
BGE 106 II 356
). Es ist demzufolge zu erwarten, dass diese wichtigen Belege im Rahmen einer professionellen Liegenschaftenverwaltung sorgfältig aufbewahrt werden und nicht bereits nach 26 oder 27 Jahren verschwunden sind. Es ist unbehelflich, wenn die Beschwerdeführerin dagegen einwendet, die gesetzliche Aufbewahrungsfrist für Unterlagen sei längstens abgelaufen.
Die Vorinstanz hat nach dem Ausgeführten kein Bundesrecht verletzt, indem sie die streitbetroffenen Liegenschaften nicht als Altliegenschaften qualifizierte, bei der die Mietzinsbestimmung nach der Orts- und Quartierüblichkeit im Vordergrund stünde, und die Einrede der Mieter zuliess, der erzielte Mietertrag sei übersetzt.
(...)
3.5
Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinstanz gehe bei der Verzinsung der ausserordentlichen Unterhaltskosten im Rahmen des werterhaltenden Teils der Investitionen für die Heizungserneuerung, die Fassadensanierung und die Renovation im Jahr 2009 zu Unrecht von einem gemittelten Zinssatz von 1,75 % für den gesamthaft anzurechnenden Betrag von Fr. 3'594'633.60 aus. Die Anwendung eines gemittelten Zinssatzes sei aufgrund der Systematik der Berechnung der Nettorendite nicht korrekt und verstosse gegen die
Art. 269 und 269a OR
. Richtigerweise seien die ausserordentlichen Unterhaltskosten jährlich mit 5 % auf dem noch nicht
BGE 140 III 433 S. 439
amortisierten Restbetrag zu verzinsen und in die Unterhaltsrechnung einzustellen.
3.5.1
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind von den Mietzinseinnahmen als Unterhaltskosten die Aufwendungen in Abzug zu bringen, die dem Vermieter für die Instandhaltung des Mietobjekts zum vorausgesetzten Gebrauch entstehen. Um die Zufälligkeiten anfallender Unterhaltsarbeiten auszugleichen, ist auf die durchschnittlichen Aufwendungen der letzten fünf - eventuell mindestens drei - Jahre abzustellen (
BGE 117 II 77
E. 3c/bb S. 85; Urteil 4C.293/2000 vom 24. Januar 2001 E. 1b mit Hinweisen). Ausserordentlich hohe Unterhaltskosten sind auf die Lebensdauer der damit finanzierten Einrichtungen zu verteilen. Die entsprechenden Teilbeträge können jährlich bis zur vollständigen Amortisation in die Unterhaltsrechnung eingestellt werden und sind mit 5 % auf dem jeweils noch nicht amortisierten Restbetrag zu verzinsen (Urteil 4C.293/2000 vom 24. Januar 2001 E. 1b, in: MietRecht aktuell [MRA] 2001 S. 116 ff., u.a. mit Hinweis auf Urteil 4C.107/1995 vom 26. Juli 1995 E. 4).
Die Vorinstanz kam zum Schluss, das Bundesgericht sei in den beiden Entscheiden vom 24. Januar 2001 und vom 26. Juli 1995 in Bezug auf ausserordentliche Unterhaltskosten von einem Zinssatz von 5 % ausgegangen, ohne eine Begründung dafür zu liefern. Aus den beiden Urteilen könne nicht abgeleitet werden, dass es sich beim Zinssatz von 5 % um den allgemein gültigen Durchschnittszinssatz handle. Die Anwendung eines allgemein gültigen Durchschnittszinssatzes von 5 % erscheine zur Verzinsung des für ausserordentliche Investitionen verwendeten Kapitals nicht sachgerecht, da der Vermieter das dafür notwendige Kapital gewöhnlich mittels einer Hypothek beschaffe. Selbst wenn der Vermieter das Kapital mit Eigenmitteln finanzieren sollte, erscheine ein Zinssatz von 5 % zu hoch. Es sei zudem nicht ersichtlich, weshalb für die Verzinsung von ausserordentlichen Investitionen andere Grundsätze gelten sollten als für die Verzinsung des wertvermehrenden Anteils. Aus diesen Gründen folgte die Vorinstanz der Auffassung von LACHAT/BRUTSCHIN (in: Das Mietrecht für die Praxis, Lachat und andere [Hrsg.], 8. Aufl. 2009, S. 375 Ziff. 19/4.8), nach welcher der Referenzzinssatz (derzeit 3 %), erhöht um ein halbes Prozent, zur Verzinsung der ausserordentlichen Unterhaltskosten anzuwenden sei. Ein Verzicht auf die Verzinsung - wie von den Beschwerdegegnern gefordert - wäre demgegenüber nicht sachgerecht. Analog der Verzinsung des
BGE 140 III 433 S. 440
wertvermehrenden Anteils von Sanierungen sei bei den ausserordentlichen Unterhaltskosten (hier unbestrittenermassen Fr. 3'594'633.60) ein gemittelter Zinssatz anzuwenden, der vorliegend 1,75 % betrage.
3.5.2
Was die Höhe des Zinssatzes angeht, trifft es zu, dass das Bundesgericht in seinen Urteilen 4C.107/1995 vom 26. Juli 1995 E. 4 (Übersetzung in: mp 1996 S. 140 f.) und 4C.293/2000 vom 24. Januar 2001 E. 1b nicht näher begründete, weshalb es für die Verzinsung der ausserordentlichen Unterhaltskosten einen Zinssatz von 5 % anwendete. Dies lässt sich damit erklären, dass die Höhe des Zinssatzes in den beiden betreffenden Bundesgerichtsverfahren nicht umstritten war. Das Bundesgericht verwies dazu im ersten Urteil bloss auf die Lehrmeinung von LACHAT/MICHELI (Le nouveau droit du bail, 2. Aufl. 1992, S. 229 Ziff. 3.3.3 und S. 213 Ziff. 2.8.4), in seinem zweiten Urteil auf LACHAT/STOLL/BRUNNER (Mietrecht für die Praxis, 4. Aufl. 1999, S. 293 [recte S. 301] Ziff. 6.5) sowie auf CORBOZ (Le loyer abusif au sens de l'AMSL, BR 1992 S. 32), der sich an der zitierten Stelle allerdings nicht zur Höhe des Zinssatzes äusserte. Da das Bundesgericht keine eingehenden Erwägungen zur Frage anstellte, wie hoch der Zinssatz zu bemessen sei, kann entgegen der Auffassung von BÄTTIG (Die Überwälzung der Kosten von umfassenden Überholungen auf den Mietzins, MRA 1-2/2009 S. 1 ff., S. 16 f.) aus dem Entscheid vom 24. Januar 2001 nicht abgeleitet werden, dass es sich beim "vom Bundesgericht gewählten" Satz von 5 % in Anbetracht der Tatsache, dass der massgebliche Zinssatz im fraglichen Zeitpunkt (Dezember 1997) bei 4,25 % lag, um einen gewollt festgelegten, allgemein gültigen Durchschnittssatz handelt und nicht um einen vom jeweiligen Hypothekar- bzw. Referenzzinssatz abhängigen Wert.
Gestützt auf die beiden Urteile des Bundesgerichts sprechen sich auch weitere Autoren ohne nähere Begründung für einen Zinssatz von 5 % aus (RAYMOND BISANG UND ANDERE, Das schweizerische Mietrecht, Kommentar, 3. Aufl. 2008, N. 30 zu
Art. 269 OR
, N. 82 zu
Art. 269a OR
; HIGI, Zürcher Kommentar, 4. Aufl. 1998, N. 95 zu
Art. 269 OR
und N. 244 zu
Art. 269a OR
; POLIVKA, Berechnung der Nettorendite, MRA 4/2001 S. 121; BOHNET, in: Droit du bail à loyer, Bohnet und andere [Hrsg.], 2010, N. 67 zu
Art. 269 OR
; HEINRICH, a.a.O., N. 13 zu
Art. 269-269a OR
). Neuerdings vertreten nun aber LACHAT/STOLL/BRUNNER (Mietrecht für die Praxis, 6. Aufl. 2005, N. 19/4.8 S. 331 und N. 19./5.2 S. 337 ff. und N. 18/6.5 S. 302) und LACHAT/
BGE 140 III 433 S. 441
BRUTSCHIN (a.a.O., N. 19/4.8 und N. 19/5.2.1) die Auffassung, es sei nur dann von einem Zinssatz von 5 % auszugehen, wenn der Referenzzinssatz 4,5 % beträgt, d.h. sie gehen von einem variablen Zinssatz aus, der sich aus dem Referenzzinssatz, erhöht um ein halbes Prozent, errechnet. Für eine entsprechende Bestimmung des Zinssatzes spricht sich auch WEBER aus (a.a.O., N. 11a zu
Art. 269 OR
; s. auch der Hinweis auf die betreffende Literaturstelle bei BOHNET, a.a.O., N. 67 zu
Art. 269 OR
).
Nachdem LACHAT und Mitautoren, auf die allein sich das Bundesgericht in seinen Urteilen vom 26. Juli 1995 und vom 24. Januar 2001 ohne weitere Erwägungen gestützt hat, ihre Meinung geändert haben, rechtfertigt sich ohne weiteres eine Überprüfung der betreffenden Rechtsprechung. Es ist dabei der Vorinstanz beizupflichten, dass kein Grund dafür ersichtlich ist, das für ausserordentliche Unterhaltsaufwendungen eingesetzte Kapital anders zu verzinsen als das für den wertvermehrenden Teil von Renovationen eingesetzte, mithin zum als angemessen beurteilten Zinssatz, der 0,5 % über dem Referenzzinssatz für Hypotheken im Zeitpunkt der Mitteilung der Mietzinserhöhung liegt (vgl. dazu
BGE 118 II 415
E. 3c/aa; Urteil 4A_470/2009 vom 18. Februar 2010 E. 6; je mit Hinweisen; CORBOZ, a.a.O., S. 32). Ein fixer Zinssatz von 5 % würde dagegen der Entwicklung der Kapitalmarktverhältnisse nicht Rechnung tragen und könnte je nach Marktsituation zu einer ungerechtfertigten Schlechter- oder Besserstellung einer Mietvertragspartei führen.
Die Vorinstanz verletzte damit kein Bundesrecht, indem sie eine Verzinsung der Kosten für den werterhaltenden Teil der Gebäudesanierungen bloss zu einem Satz gewährte, der ein halbes Prozent über dem Referenzzinssatz für Hypotheken zum Zeitpunkt der Mietzinserhöhung liegt. Dem Risiko, das der Vermieter mit solchen Investitionen eingeht und das nach Meinung der Beschwerdeführerin einen Zinssatz von 5 % rechtfertigt, trägt die Rechtsprechung mit der Erhöhung des Referenzzinssatzes um ein halbes Prozent Rechnung (vgl. WEBER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 269 OR
; LACHAT/BRUTSCHIN, a.a.O., N. 18/5.1 S. 337).
3.5.3
Die Vorinstanz erwog, es sei bei den ausserordentlichen Unterhaltskosten analog der Verzinsung des wertvermehrenden Anteils ein gemittelter Zinssatz anzuwenden.
3.5.3.1
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin hat die Vorinstanz mit dieser kurzen Erwägung ihrer aus dem
BGE 140 III 433 S. 442
verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör folgenden Pflicht, ihren Entscheid zu begründen, Genüge getan (vgl. dazu
BGE 138 I 232
E. 5.1;
BGE 136 I 184
E. 2.2.1 S. 188; vgl. auch
BGE 139 V 496
E. 5.1 S. 503 f.). Sie erwähnte mit hinreichender Deutlichkeit, weshalb sie die Anwendung eines gemittelten Zinssatzes befürwortete, nämlich in Analogie zur Praxis betreffend Verzinsung von wertvermehrenden Investitionen. Der Beschwerdeführerin war danach eine sachgerechte Anfechtung des Entscheides möglich und ihre betreffende Gehörsrüge ist unbegründet.
3.5.3.2
Die Beschwerdeführerin stösst sich daran, dass die Vorinstanz eine Verzinsung zu einem gemittelten Zinssatz von 1,75 % (die Hälfte des um ein halbes Prozent erhöhten Referenzzinssatzes von 3 %) gewährte, anstelle einer Verzinsung von 5 % (bzw. nach dem in vorstehender Erwägung 3.5.2 Ausgeführten: von 3,5 %) auf dem jeweils noch nicht amortisierten Restbetrag, wie im erwähnten Urteil 4C.293/2000 vom 24. Januar 2001 E. 1b festgehalten wurde.
Hierzu gilt Ähnliches wie betreffend der Höhe des Zinssatzes. Das Bundesgericht entschied erstmals im Urteil 4C.107/1995 vom 26. Juli 1995 E. 4a, es sei eine Verzinsung zu 5 % auf dem jeweils nicht amortisierten Betrag zu gewähren. Es stützte sich dabei ohne eingehende Begründung auf die Lehrmeinung von LACHAT/MICHELI (a.a.O., S. 213 Rz. 8.4), in der eine Verzinsung "calculé sur la part non encore amortie" befürwortet wurde. Im angerufenen Urteil vom 24. Januar 2001 verwies das Bundesgericht ohne weitere Begründung auf diesen Entscheid und auf LACHAT/STOLL/BRUNNER (a.a.O., S. 301 f. Rz. 6.5), die von einem Zins "für den noch nicht amortisierten Anteil" der ausserordentlichen Unterhaltskosten sprachen (in diesem Sinn unter Berufung auf die Urteile vom 26. Juli 1995 und vom 24. Januar 2001 auch: RAYMOND BISANG UND ANDERE, a.a.O., N. 82 zu
Art. 269a OR
und BOHNET, a.a.O., N. 67 zu
Art. 269 OR
). CORBOZ (a.a.O., S. 32), den das Bundesgericht an der betreffenden Urteilsstelle weiter zitierte, äusserte sich nicht zu dieser Frage.
LACHAT und seine Mitautoren änderten seit dem Urteil vom 24. Januar 2001 auch in diesem Punkt ihre Meinung und vertreten heute die Auffassung, um der Amortisierung des investierten Kapitals Rechnung zu tragen, habe die Verzinsung während der ganzen Amortisationsdauer entweder zum vollen Zinssatz für die Hälfte des investierten Kapitals oder zum halben Zinssatz für das ganze investierte Kapital zu erfolgen (LACHAT/BRUTSCHIN, a.a.O., S. 375
BGE 140 III 433 S. 443
Rz. 19/4.8, S. 383 Rz. 19/5.2.1; LACHAT/STOLL/BRUNNER, a.a.O., S. 331 Rz. 4.8; so auch WEBER, a.a.O., N. 11a zu
Art. 269 OR
, der von einer Verzinsung zu durchschnittlich 2,5 % [auf einem vollen Satz von 5 %] spricht, sowie HIGI, a.a.O., N. 245 zu
Art. 269a OR
[s. immerhin auch N. 95 zu
Art. 269 OR
, wo von einer Verzinsung auf dem nicht amortisierten Teil der ausserordentlichen Unterhaltskosten die Rede ist]; BÄTTIG, a.a.O., S. 16). Dies entspricht dem Verzinsungsmodus, den die Rechtsprechung für wertvermehrende Investitionen anwendet (vgl.
BGE 118 II 415
E. 3c/aa). Dabei fällt auf, dass das Bundesgericht in
BGE 118 II 415
auch insoweit von der Verzinsung (rémunération) des nicht amortisierten Restbetrags ("montant de l'investissement non amorti") spricht und damit die Verzinsung zum halben Satz meint. Die Verwendung der gleichen Terminologie im Urteil vom 26. Juli 1995 deutet darauf hin, dass das Bundesgericht schon im damaligen Entscheid für die nicht wertvermehrenden, ausserordentlichen Unterhaltskosten keine andere Verzinsungslösung statuieren wollte, als für die wertvermehrenden Investitionen.
Die entsprechende Methode erscheint denn auch als sachgerecht und einzig praktikabel. Bei diesem Vorgehen resultiert anfänglich eine zu niedrige Verzinsung des investierten Kapitals, die aber durch die höhere Verzinsung in der zweiten Hälfte der Amortisationsdauer aufgefangen wird (RAYMOND BISANG UND ANDERE, a.a.O., N. 74 zu
Art. 269a OR
). Mit einer entsprechenden Festsetzung des Mietzinses am massgebenden Stichtag wird dem für dieses Jahr und alle Folgejahre bis zur vollständigen Amortisation eingesetzten Kapital, das zu verzinsen ist, Rechnung getragen, auch wenn eine Investition bzw. das für ausserordentliche Unterhaltskosten "bevorschusste" Kapital bloss ein einziges Mal für eine Mietzinserhöhung herangezogen werden kann, wie die Beschwerdeführerin geltend macht. Dagegen würde eine Festlegung des Mietzinses im Zeitpunkt der Beendigung der Renovation unter Berücksichtigung einer Verzinsung des vollen, für ausserordentliche Unterhaltsaufwendungen investierten Kapitals zum vollen Satz infolge der allmählichen Amortisation des investierten Kapitals in den Folgejahren zu einem zunehmend übersetzten Mietzins bzw. einer zunehmenden Nettorendite führen. Darauf könnten sich die Mieter mangels Änderung von relativen Kostenfaktoren nicht als Angriffsmittel berufen, um eine Herabsetzung des Mietzinses zu verlangen, sondern nur einredeweise, falls sie sich gegen eine allfällige weitere Mietzinserhöhung des Vermieters zur Wehr setzen können (vgl. dazu
BGE 121 III 163
E. 2d; WEBER, a.a.O., N. 16 und 18 zu
Art. 269 OR
mit zahlreichen
BGE 140 III 433 S. 444
Hinweisen). Es wäre denn auch nicht praktikabel, den Mietzins jedes Jahr erneut unter Berücksichtigung der noch nicht amortisierten und zu verzinsenden Restbeträge zu errechnen, wie die Beschwerdeführerin sinngemäss postuliert.
Die Vorinstanz verletzte demnach
Art. 269 und 269a OR
nicht, indem sie die Verzinsung des für ausserordentlichen Unterhalt aufgewendeten Kapitals bloss zu einem gemittelten Satz zuliess. | de |
adc64806-1d25-4bb6-a25b-1c66ded95897 | Sachverhalt
ab Seite 496
BGE 138 V 495 S. 496
A.
S. stellte am 29. November 2006 bei der Pensionskasse SBB (kurz: PK SBB), bei welcher er seit dem 1. Juni 1990 berufsvorsorgeversichert ist, den Antrag auf Vorbezug von Fr. 130'000.- für die Finanzierung einer Eigentumswohnung in H. (Grundbuchblatt Y.). Am 14. Dezember 2006 zahlte die PK SBB der Verkäuferin und Empfängerin des Vorbezugs, der X. AG, den Betrag von Fr. 130'000.- aus. Nachdem der Kaufvertrag vom 30. November 2006 (noch) nicht beim Grundbuch zur Eintragung angemeldet worden war, konnte das zuständige Kreisgrundbuchamt dem Antrag der PK SBB, auf dem Grundbuchblatt Y. eine Veräusserungsbeschränkung nach
Art. 30e Abs. 2 BVG
anzumerken, keine Folge leisten. Am 16. April 2007 kam es zur Aufhebung und Rückabwicklung des Kaufvertrags vom 30. November 2006. S. und die X. AG vereinbarten, dass die geleistete Anzahlung von Fr. 130'000.- an die PK SBB zurückzuerstatten sei bzw. zur Sicherstellung eines weiteren Kaufvertrags zwischen den Vertragsparteien diene. Eine Rückzahlung erfolgte nicht. Am 21. Mai 2008 wurde über die X. AG der Konkurs eröffnet, aus welchem für S. ein Verlustschein in der Höhe von Fr. 124'245.70 resultierte.
B.
Am 16. Juni 2011 (Eingang) reichte S. beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Klage gegen die PK SBB ein mit dem Antrag, diese sei zu verpflichten, auf sein Vorsorgekonto Fr. 124'245.70 nebst 5 % Zins seit 14. Dezember 2006 einzubezahlen. Die PK SBB beantragte die Abweisung der Klage.
Mit Entscheid vom 14. September 2011 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Klage ab und auferlegte dem Kläger Verfahrenskosten sowie eine Parteientschädigung zugunsten der anwaltlich vertretenen Vorsorgeeinrichtung.
C. | de |
035b120b-a6d8-4c0c-91db-9ef9ad7152c6 | Sachverhalt
ab Seite 360
BGE 144 III 360 S. 360
A.
A.a
B. wurde mit den am Singapore International Arbitration Centre (SIAC) gefällten Schiedssprüchen vom 31. Mai 2002 und 10. Juli 2002 verpflichtet, A. Schadenersatz in der Höhe von SGD 12'156'950.- nebst Zins zu 6 % ab dem Tag des Schiedsspruchs, SGD 916'479.-, SGD 203'086.-, 6 % Zins auf dem Betrag von SGD 1'119'565.- sowie alle Verfahrens- und Parteikosten des Beschwerdeführers zu bezahlen.
A.b
A. leitete für die Forderungen gestützt auf die Schiedsurteile mit Zahlungsbefehl des Betreibungsamtes Zug vom 5. September 2002 die Betreibung Nr. x ein. Nach Beseitigung des Rechtsvorschlages (durch den Rechtsöffnungsentscheid des Kantonsgerichts Zug vom 20. Februar 2003) wurde die Betreibung fortgesetzt.
A.c
Die Betreibung Nr. x führte zum Verlustschein Nr. z vom 31. Dezember 2010 infolge Pfändung nach
Art. 149 SchKG
. Ausgewiesen wurde damit ein Verlust von Fr. 16'695'999.20.
B.
B.a
A. leitete mit Zahlungsbefehl Nr. y vom 23. Mai 2016 (Betreibungsamt Zug) gegen B. die Betreibung für den Betrag von Fr. 16'695'999.20 ein. Der Betreibungsschuldner erhob Rechtsvorschlag.
BGE 144 III 360 S. 361
B.b
Am 8. Juli 2016 gelangte A. an das Kantonsgericht Zug und verlangte in der Betreibung Nr. y die definitive Rechtsöffnung für den in Betreibung gesetzten Betrag sowie für Betreibungskosten von Fr. 413.30. Eventualiter sei die provisorische Rechtsöffnung zu erteilen. Er stützte das Gesuch auf den Verlustschein vom 31. Dezember 2010 sowie die beiden SIAC-Schiedsurteile aus dem Jahre 2002. Mit Entscheid vom 19. Dezember 2016 wies das Kantonsgericht Zug (Einzelrichter) das Gesuch um Rechtsöffnung ab.
B.c
Gegen den Rechtsöffnungsentscheid erhob A. Beschwerde, welche das Obergericht des Kantons Zug mit Urteil vom 28. März 2017 abwies.
C.
Mit Eingabe vom 15. Mai 2017 hat A. Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Der Beschwerdeführer beantragt, es sei der obergerichtliche Entscheid aufzuheben. In der Sache verlangt er, in der gegen B. (Beschwerdegegner) geführten Betreibung Nr. y des Betreibungsamtes Zug für den Betrag von Fr. 16'695'999.20 sowie Betreibungskosten (Fr. 413.30) die definitive Rechtsöffnung zu erteilen. Eventualiter sei die provisorische Rechtsöffnung zu erteilen.
Mit Verfügung vom 2. Juni 2017 wurde auf das Gesuch des Beschwerdeführers hin der Beschwerde (hinsichtlich die Pflicht zur Bezahlung der Parteientschädigung) die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Verfügung vom 19. Januar 2018 wurde das Gesuch des Beschwerdegegners auf Sicherstellung einer allfälligen Parteientschädigung gutgeheissen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur Beschwerde gibt das Gesuch um Rechtsöffnung, mit welchem der Gläubiger ausländische Schiedsurteile als Vollstreckungstitel und den Verlustschein aus einer vorangegangenen Betreibung vorgelegt hat; das Gesuch wurde abgewiesen, weil der Schuldner sich auf die Verjährung nach ausländischem Recht berufen hatte. Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht im Wesentlichen eine Verletzung der Regeln über die Wirkung des Verlustscheines sowie über die Rechtsöffnung vor.
3.1
Ausländische Schiedssprüche kommen als Vollstreckungstitel im Sinne von
Art. 80 Abs. 1 SchKG
in Betracht; sie sind anzuerkennen
BGE 144 III 360 S. 362
und vollstreckbar zu erklären, wenn keine Ablehnungsgründe gemäss dem einschlägigen New Yorker Übereinkommen vom 10. Juni 1958 (SR 0.277.12) bestehen (
Art. 194 IPRG
[SR 291]). Gegen die vom Beschwerdeführer vorgelegten SIAC-Schiedssprüche vom 31. Mai 2002 und 10. Juli 2002 liegen unstrittig keine Verweigerungsgründe gemäss dem New Yorker Übereinkommen vor (vgl. STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs [nachfolgend: Basler Kommentar], Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 93 ff. zu
Art. 80 SchKG
). Die SIAC-Schiedssprüche sind anerkenn- und vollstreckbar und stellen definitive Vollstreckungstitel im Sinne von
Art. 80 Abs. 1 SchKG
dar.
3.2
Mit Bezug auf die definitive Rechtsöffnung gestützt auf ein Schiedsurteil sowie auf den Pfändungsverlustschein gelten für die Verjährung folgende Regeln, die im Grundsatz unbestritten sind.
3.2.1
Der Schuldner kann auch gegen ausländische Entscheide, welche gemäss Staatsverträgen oder dem IPRG vollstreckbar sind, gemäss
Art. 81 Abs. 3 SchKG
u.a. die Einrede der nachträglichen Verjährung (
Art. 81 Abs. 1 SchKG
) erheben (
BGE 98 Ia 527
E. 5;
BGE 105 Ib 37
E. 4c; KREN KOSTKIEWICZ, SchKG Kommentar, 19. Aufl. 2016, N. 24 und 25 zu
Art. 81 SchKG
).
3.2.2
Jeder Gläubiger, der bereits an der Pfändung teilgenommen hat, erhält für den ungedeckten Betrag seiner Forderung einen Verlustschein (
Art. 149 Abs. 1 SchKG
). Der Verlustschein gilt als Schuldanerkennung im Sinne von
Art. 82 SchKG
und kann vom Gläubiger zur provisorischen Rechtsöffnung vorgelegt werden (
Art. 149 Abs. 2 SchKG
). Ist für eine in einem Urteil festgestellte Forderung ein Verlustschein ausgestellt worden, so kann sich der Gläubiger neben dem Verlustschein auf den ursprünglichen Schuldtitel stützen und die definitive Rechtsöffnung verlangen (Urteil 5P.434/2005 vom 21. März 2006 E. 2.2, 2.3; u.a. GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, Bd. II, 2000, N. 53 zu
Art. 149 SchKG
; HUBER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl. 2010, N. 41 zu
Art. 149 SchKG
).
3.2.3
Für die im Verlustschein verurkundete Forderung hat der Schuldner persönlich - anders als ein allfälliger Mitverpflichteter - keine Zinsen zu zahlen (
Art. 149 Abs. 4 SchKG
). Die Verlustforderung war bis zur Revision des SchKG von 1994/1997 gegenüber dem Schuldner unverjährbar. Gemäss
Art. 149a Abs. 1 SchKG
verjährt
BGE 144 III 360 S. 363
sie nunmehr gegenüber dem Schuldner 20 Jahre nach Ausstellung des Verlustscheines, und gegenüber seinen Erben bereits ein Jahr nach Eröffnung des Erbganges (vgl. STOFFEL/CHABLOZ, Voies d'exécution, 3. Aufl. 2016, § 5 Rz. 207). Gleiche Rechtswirkungen hat auch der Konkursverlustschein (
Art. 265 Abs. 2 SchKG
).
3.3
Nach Auffassung des Obergerichts hat die Verjährungsregelung gemäss
Art. 149a Abs. 1 SchKG
allgemein keine Bedeutung, wenn auf die im Verlustschein verurkundete Forderung nicht schweizerisches Recht anwendbar ist. Demgegenüber erblickt der Beschwerdeführer in der Bestimmung eine zwingende Norm des Zwangsvollstreckungsrechts. Er wendet sich nicht gegen die Auffassung der Vorinstanz, dass die ordentliche Verjährungsfrist der Betreibungsforderungen, die zum Verlustschein führten, sich nach dem Recht von Singapur richtet und abgelaufen wäre. Er besteht indes auf der Verjährungsfrist für die im Verlustschein verurkundeten Forderungen und macht geltend, dass die Verjährungsbestimmung von
Art. 149a Abs. 1 SchKG
Teil der
lex fori
sei, welche der
lex causae
vorgehe, und die Anwendung der Verjährungsfristen des materiellen - privaten oder öffentlichen, in- oder ausländischen - Rechts ausschliesse.
3.4
Die Vorinstanz hat mit Hinweis auf
Art. 30a SchKG
festgehalten, dass das IPRG, soweit es spezielle Regeln für internationale Sachverhalte aufstellt, dem SchKG als
lex specialis
vorgeht.
3.4.1
Zu Recht hat das Obergericht ausgeführt, dass insoweit, als im Rahmen einer Betreibung materielles Recht anzuwenden ist, das IPRG bestimmt, welches Recht Anwendung findet, wobei die Unterscheidung zwischen Betreibungs- und Privatrecht nach schweizerischem Recht erfolgt (mit Hinweis auf STAEHELIN, Das internationale Betreibungsrecht, BlSchK 2015 S. 137). Es hat gefolgert, dass - auch nach Anerkennung eines ausländischen Urteils - die Frage, ob Verjährung vorliege, sich nach dem gemäss IPRG anwendbaren Recht, insbesondere
Art. 148 IPRG
bestimmt (mit Hinweis auf VOCK, in: Kurzkommentar SchKG, 2. Aufl. 2014, N. 10 zu
Art. 81 SchKG
; STAEHELIN, Basler Kommentar, a.a.O., N. 30 zu
Art. 81 SchKG
). Für die Verjährung der Urteilswirkungen sei das Recht des Urteilsstaates massgebend (mit Hinweis auf KELLER/GIRSBERGER, in: Zürcher Kommentar zum IPRG, 2. Aufl. 2014, N. 18 zu
Art. 148 IPRG
).
3.4.2
Die Vorinstanz hat den Schluss gezogen, dass auch die Verjährung der Verlustforderung (
Art. 149 SchKG
), d.h. die nach der
BGE 144 III 360 S. 364
Pfändung in der Schweiz zu Verlust gekommene Forderung gemäss IPRG vom Recht des Urteilsstaates geregelt sei. Der im Urteil zitierten Lehre lässt sich allerdings nicht entnehmen, dass die Verjährung der nach SchKG zwangsvollstreckten Forderung vom Vorrang des IPRG erfasst und die Verjährungsbestimmung des SchKG unwirksam sein soll. Dass zwangsvollstreckungsrechtliche Regeln auf die materielle Schuldverpflichtung des Schuldners einwirken und vorgehen, selbst wenn die Forderung sich nach ausländischem Recht richtet, ist nicht ungewöhnlich (vgl.
Art. 208 SchKG
, Fälligkeit bei Konkurseröffnung; Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 4. März 2008 E. 3.3, BlSchK 2010 S. 166; ferner GILLIÉRON, a.a.O., Bd. III, 2001, N. 19 zu
Art. 208 SchKG
).
3.4.3
Wenn es um die Anwendung von
Art. 30a SchKG
geht, ist zu beachten, dass die internationalen Sachverhalte in Zusammenhang mit dem Zwangsvollstreckungsrecht ganz unterschiedliche Struktur und Intensität des Auslandbezugs aufweisen, so dass die Frage des Vorrangs des IPRG vor dem SchKG bezogen auf den Sinn jeder einzelnen Bestimmung und bezogen auf jede Fallkonstellation separat zu prüfen ist (SCHWANDER, in: Kurzkommentar SchKG, 2. Aufl. 2014, N. 22 zu
Art. 30a SchKG
). Darauf ist im Folgenden einzugehen.
3.5
Das Zwangsvollstreckungsrecht trifft in
Art. 149a Abs. 1 SchKG
eine Regelung über die Verjährung. Ob ein relevanter Auslandbezug vorliegt, wenn die ursprüngliche Forderung nach ausländischem Recht verjährt, und deshalb das IPRG vorgeht, richtet sich nach Sinn und Zweck des Verlustscheines bzw. seiner Wirkungen und dem Zusammenhang mit dem Zwangsvollstreckungsrecht.
3.5.1
Der Verlustschein gemäss
Art. 149 SchKG
ist die amtliche Bestätigung, dass in der Zwangsvollstreckung - der Betreibung auf Pfändung - gegen den Schuldner keine oder ungenügende Deckung der in Betreibung gesetzten Forderung erzielt werden konnte (
BGE 116 III 66
E. 4a;
26 II 479
E. 3). Er hat zunächst betreibungsrechtliche Wirkungen, welche dem Gläubiger das weitere Vorgehen gegenüber dem Schuldner erleichtern (vgl.
Art. 149 Abs. 2 und 3 SchKG
betreffend Arrestgrund, Anfechtungsklage, Betreibungsfortsetzung, Schuldanerkennung). Die Ausstellung des Verlustscheines schafft keinen neuen Schuldgrund: Die ursprüngliche Forderung bleibt bestehen, d.h. der Verlustschein bewirkt keine Novation (
BGE 137 II 17
E. 2.5;
BGE 98 Ia 353
E. 2;
BGE 81 III 20
E. 2a). Allerdings entfaltet der
BGE 144 III 360 S. 365
Verlustschein mit der - erwähnten - besonderen Verjährbarkeit und Unverzinslichkeit der Verlustforderung bestimmte Wirkungen, die dem materiellen Recht zugeordnet werden (u.a. STOFFEL/CHABLOZ, a.a.O., § 31 Rz. 207 f.).
3.5.2
Mit Bezug auf die Verjährung im Besonderen ist anerkannt, dass die in
Art. 149a Abs. 1 SchKG
vorgesehene Frist den materiellen Inhalt der in Betreibung gesetzten Forderung ändert (
BGE 26 II 479
E. 3) und für die Zwangsvollstreckung von Forderungen nach SchKG die darin vorgesehene Verjährungsbestimmung zur Anwendung gelangt (
BGE 137 II 17
E. 2.7). Die Rechtsprechung hat geklärt, dass nicht nur bei privatrechtlichen Forderungen, sondern auch bei öffentlichrechtlichen Forderungen die darauf anwendbaren ordentlichen Verjährungsfristen zurücktreten müssen (
BGE 137 II 17
E. 2.7), was in der Lehre bestätigt wird (zuletzt DUC, Actes de défaut de biens [...], JdT 2018 S. 92 mit Hinweisen). Grund dafür ist, dass es sich bei Forderungen, für welche ein Verlustschein ausgestellt wird, um eine besondere Art von Forderung handelt (
BGE 137 II 17
E. 2.7).
3.5.3
Die besondere Art der Verlustforderung liegt darin, dass das Zwangsvollstreckungsrecht die weitere Schuldexekution nach ungenügender Zwangsvollstreckung seit jeher mit zwei Privilegien ausstattet, die in einem engen Zusammenhang stehen (FAVRE, De l'acte de défaut de biens, ZSR 1931 S. 79, 83). Daran hat die SchKG-Revision nichts geändert (Botschaft vom 8. Mai 1991 über die Änderung des SchKG, BBl 1991 III 1, 103 Ziff. 203.24). Die Privilegien nützen teils dem Schuldner persönlich und seiner Familie, teils den Gläubigern (AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 9. Aufl. 2013, § 31 Rz. 22 ff.). Die ausserordentlich lange Verjährungsfrist soll dem Gläubiger Kosten ersparen, bloss um die Verjährung für eine bereits zwangsvollstreckte Forderung gegenüber einem ohnehin mittellosen Schuldner zu unterbrechen (FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 1984, § 33 Rz. 3, S. 466). Gegenstück der ausserordentlich langen Verjährungsfrist ist die Unverzinslichkeit der Verlustforderung gegenüber dem Schuldner (JEANDIN, Actes de défaut de biens [...], SJ 1997 S. 271, 273): Die Zinsenlast soll ihm zur Wiedererlangung der ökonomischen Existenz nicht im Wege stehen (FAVRE, a.a.O.; bereits im Bericht der ständerätlichen Kommission vom 13. November 1886, BBl 1886 III 877, 896).
BGE 144 III 360 S. 366
3.5.4
Sinn und Zweck der Bestimmung machen deutlich, dass das Institut der (heutigen) ausserordentlich langen Frist der Verjährung einer Verlustforderung so eng mit der weiteren Zwangsvollstreckung verbunden ist, dass es nicht aus dem ganzen Komplex der Nachforderung aus einer verlustreichen Pfändungsbetreibung herausgelöst werden kann (vgl. HERRMANN, Die weitere Schuldexekution nach ungenügender Zwangsvollstreckung, 1947, S. 18). Die Verjährung nach
Art. 149a Abs. 1 SchKG
- d.h. die 20-jährige Verjährungsfrist gegenüber dem Schuldner zu dessen Lebzeiten - wirkt in erster Linie im Dienst des Zwangsvollstreckungsrechts, genauso wie die damit verbundene Unverzinslichkeit der Verlustforderung, weshalb gegen die Regelung im Schuldbetreibungsrecht nichts einzuwenden ist (AFFOLTER, Der Verlustschein in der Pfändung auf Betreibung, 1978, S. 84). Sollen die beiden Privilegien dem Schuldner und dem Gläubiger in der Zwangsvollstreckung in der Schweiz zugutekommen, ist ihre Anwendung unabhängig davon gerechtfertigt, ob auf die Forderung ausländisches oder schweizerisches Recht anwendbar ist. Ein Grund, weshalb die Verlustforderung anders behandelt werden soll, nur weil darauf nicht schweizerisches Privat- oder öffentliches Recht, sondern ausländisches Recht anwendbar ist, lässt sich nicht erblicken. Als Massnahme der Spezialexekution, deren Wirkung auf den Staat ihrer Durchführung beschränkt ist (vgl. SCHWANDER, a.a.O., N. 27 zu
Art. 30a SchKG
), beansprucht der Verlustschein einzig Geltung im Inland (vgl. AFFOLTER, a.a.O., S. 120). So wenig wie es bei einer öffentlichrechtlichen Forderung einen Grund gibt, die Anwendbarkeit von
Art. 149a Abs. 1 SchKG
in der Nachforderung zu versagen, so wenig steht ihr der Umstand entgegen, dass auf die im Verlustschein verurkundete Forderung nicht schweizerisches, sondern ausländisches Privatrecht anwendbar ist.
3.5.5
Nach dem Dargelegten lässt sich die Nichtanwendung der Verjährungsfrist von
Art. 149a Abs. 1 SchKG
nicht mit dem Vorrang des IPRG gemäss
Art. 30a SchKG
begründen. Die Vorinstanz hat die Frage der Verjährung (
Art. 81 Abs. 1 SchKG
) der Forderung, für welche der Beschwerdeführer im Rahmen der Rechtsöffnung einen Verlustschein vorgelegt hat, zu Unrecht nicht nach
Art. 149a Abs. 1 SchKG
beurteilt. Die ordentliche Verjährungsfrist der am 5. September 2002 in Betreibung gesetzten Forderungen, welche im Verlustschein vom 31. Dezember 2010 verurkundet sind, wurde durch die 20-jährige Verjährungsfrist ersetzt, welche mit Ausstellung des
BGE 144 III 360 S. 367
Verlustscheines begonnen hat. Die Rüge einer Verletzung von Bundesrecht ist begründet und die Beschwerde ist gutzuheissen.
3.6
Der Beschwerdeführer verlangt in der Sache (als Hauptbegehren) die definitive Rechtsöffnung. Der Beschwerdegegner äussert sich nicht weiter zum reformatorischen Antrag. Anhaltspunkte dafür, dass weitere Einwendungen erhoben wären, bestehen nicht. Die Streitsache kann daher als spruchreif betrachtet werden.
3.6.1
Der Beschwerdeführer hat sein Rechtsöffnungsgesuch auf den Verlustschein vom 31. Dezember 2010 sowie die beiden SIAC-Schiedsurteile aus dem Jahre 2002 gestützt. Er hat sich damit auf die ursprünglichen Schuldtitel als definitive Rechtsöffnungstitel gestützt (E. 3.2.2) und mit der Vorlage des Verlustscheines die besondere Verjährbarkeit der Forderungen belegt (u.a. ABBET, in: La mainlevée de l'opposition, Abbet/Veuillet [Hrsg.], 2017, N. 30 zu
Art. 81 SchKG
). Die definitive Rechtsöffnung kann antragsgemäss gewährt werden.
3.6.2
Für die Betreibungskosten, für welche der Beschwerdeführer ebenfalls die Rechtsöffnung verlangt, ist die Beseitigung des Rechtsvorschlages überflüssig, weil gemäss
Art. 68 Abs. 2 SchKG
von den Zahlungen des Schuldners die Kosten vorab erhoben werden können (Urteil 5A_455/2012 vom 5. Dezember 2012 E. 3; STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Ergänzungsband [...], 2017, ad N. 67/a zu
Art. 84 SchKG
). Insoweit fehlt ein schutzwürdiges Interesse zur Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Entscheides (
Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG
). | de |
e2902d00-3939-4c58-b0cc-d2e1efe13950 | Sachverhalt
ab Seite 53
BGE 108 Ib 53 S. 53
Hans Grossen ist Eigentümer eines 1760 m2 grossen Grundstücks im Weiler Unterbach, Gemeinde Meiringen. Die ausserhalb der Bauzone gelegene Parzelle ist mit einem älteren Bauernhaus überbaut, das einen Wohn- und einen Ökonomieteil mit Stall umfasst.
Im Jahre 1979 begann Hans Grossen ohne Bewilligung einen Teil des Ökonomietrakts abzubrechen und durch einen Anbau zu ersetzen, der die bisherigen Gebäudemasse teilweise überschreitet. Er beabsichtigt, im Erdgeschoss eine Garage sowie eine Zweizimmerwohnung und im Obergeschoss ein Einzimmerstudio einzurichten. Auf Verlangen der Behörden stellte er ein nachträgliches Baugesuch, das vom zuständigen Regierungsstatthalter und auf Beschwerde hin vom Regierungsrat des Kantons Bern abgewiesen wurde. Das darauf angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Bern erachtete die Voraussetzungen für eine Ausnahmebewilligung als nicht erfüllt und wies die Beschwerde mit Urteil vom 15. Juni 1981 ab.
BGE 108 Ib 53 S. 54
Gegen diesen Entscheid führt Hans Grossen Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Erteilung der nachgesuchten Ausnahmebewilligung. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Art. 24 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) überlässt es dem kantonalen Recht, die Erneuerung, die teilweise Änderung und den Wiederaufbau von Bauten und Anlagen zu gestatten, sofern dies mit den wichtigen Anliegen der Raumplanung vereinbar ist. Der Kanton Bern hat von dieser Ermächtigung in Form von Art. 3 Abs. 2 lit. b der regierungsrätlichen Verordnung zur vorläufigen Einführung des Bundesgesetzes über die Raumplanung im Kanton Bern vom 19. Dezember 1979 (EV RPG) Gebrauch gemacht. Diese Bestimmung lautet:
"2 Ausnahmen von den Nutzungsvorschriften der Landwirtschaftszone
können bewilligt werden für
a) ...;
b) die Erneuerung, die teilweise Änderung oder den Wiederaufbau von Bauten und Anlagen, wenn das mit den wichtigen Anliegen der Raumplanung vereinbar ist."
Diese kantonale Ausführungsvorschrift wiederholt im wesentlichen die Aussage von
Art. 24 Abs. 2 RPG
.
b) Ob ein Bauvorhaben unter
Art. 24 Abs. 2 RPG
fällt, beurteilt sich ausschliesslich nach dieser Vorschrift. Bei der Erneuerung, dem Wiederaufbau und der teilweisen Änderung handelt es sich um bundesrechtliche Begriffe. Das kantonale Recht kann nur bestimmen, ob und allenfalls inwieweit bauliche Massnahmen innerhalb des bundesrechtlich begrenzten Rahmens im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 RPG
bewilligt werden dürfen (
BGE 107 Ib 241
/242 E. 2b aa). Mit dieser Regelung will es das Bundesrecht den Kantonen ermöglichen, ihren Verhältnissen Rechnung zu tragen (Botschaft des Bundesrates zu einem Bundesgesetz über die Raumplanung vom 27. Februar 1978, BBl 1978 I 1028).
c) Beim Bauprojekt des Beschwerdeführers handelt es sich offensichtlich weder um eine blosse Erneuerung noch um einen Wiederaufbau. Es kann sich somit nur noch fragen, ob es als teilweise Änderung aufzufassen sei.
BGE 108 Ib 53 S. 55
Da das bernische Recht die Aussage von
Art. 24 Abs. 2 RPG
nahezu wörtlich übernommen hat, setzte sich das Verwaltungsgericht mit dem bundesrechtlichen Begriff der teilweisen Änderung auseinander. Es gelangte dabei zu einer Auslegung, die gegenüber jener des Bundesgerichts (
BGE 107 Ib 241
/242 E. 2b aa) restriktiver ist. Seine Auslegungsformel lautet:
"- Wird eine in der Landwirtschaftszone gelegene Liegenschaft einheitlich aber zonenfremd genutzt, so gilt eine Erweiterung des Gebäudes im Regelfall solange als teilweise Änderung, als sich der Ausbau ungefähr im Rahmen eines Viertels des bisherigen Bauvolumens hält und keine neue Nutzungseinheit geschaffen wird;
- dient ein in der Landwirtschaftszone gelegenes Gebäude dagegen mehreren zonenfremden Nutzungen, so kann solange von einer teilweisen Änderung gesprochen werden, als keine neue Nutzungsart oder Nutzungseinheit hinzukommt und das Gebäudevolumen in der Regel nicht verändert wird. Unter einer Nutzungseinheit sind die zur fraglichen Nutzung bestimmten Räume zu verstehen, die über einen eigenen Zugang verfügen sowie hinsichtlich Ver- und Entsorgung (Wasser, Elektrizität, WC, Bad, Küche usw.) autonom sind."
Das Bundesrecht steht einer solchen Schematisierung nicht entgegen, wenn sie in Anwendung des kantonalen Rechts von der hiefür zuständigen kantonalen Instanz geschaffen wird. Sie dient dem Interesse der rechtsanwendenden Behörden, über Ausnahmegesuche rasch und klar entscheiden zu können. Das kantonale Recht kann den bundesrechtlich begrenzten Rahmen zulässiger Baumassnahmen enger festlegen oder sogar auf eine Regelung gemäss
Art. 24 Abs. 2 RPG
überhaupt verzichten.
Angesichts der nahezu wörtlichen Übernahme von
Art. 24 Abs. 2 RPG
durch das bernische Recht ist jedoch festzuhalten, dass das Bundesgericht keinen Anlass hat, von seiner durch unbestimmte Kriterien gekennzeichneten Auslegung des bundesrechtlichen Begriffs der teilweisen Änderung abzuweichen, wie er für die Begrenzung des kantonalen Ergänzungsrechts massgebend ist. Das gilt auch hinsichtlich des vom Verwaltungsgericht kritisierten Begriffs der Identität der Baute. Freilich hat das Bundesgericht diesen Begriff nicht im Sinne der völligen Übereinstimmung verstanden, sondern in seiner Bedeutung der Wesensgleichheit. Doch auch den so verstandenen Identitätsbegriff lehnt das Verwaltungsgericht ab, weil die Gefahr einer "weitgehend konturlosen und den Keim der Willkür in sich tragenden Billigkeitsinterpretation" bestehe. Diese Gefahr ist in der Tat nicht zu verkennen; sie darf aber nicht überbewertet werden. Immerhin lässt das Rechtsmittel der
BGE 108 Ib 53 S. 56
Behördenbeschwerde (
Art. 34 Abs. 2 RPG
;
Art. 103 lit. b OG
) erwarten, dass Ausnahmegesuche trotz verhältnismässig unbestimmter Kriterien sachgerecht beurteilt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es den bernischen Behörden nicht verwehrt ist, die mit dem Wortlaut des
Art. 24 Abs. 2 RPG
nahezu übereinstimmende Norm des kantonalen Rechts -
Art. 3 Abs. 2 lit. b EV
RPG - so auszulegen, wie es das Verwaltungsgericht im angefochtenen Entscheid getan hat, doch wird das Bundesgericht
Art. 24 Abs. 2 RPG
weiterhin weniger starr interpretieren.
d) Der angefochtene Entscheid hält sich indessen in dem Rahmen, den
Art. 24 Abs. 2 RPG
- in der Auslegung des Bundesgerichts - für das kantonale Recht festlegt. Das Bauvorhaben des Beschwerdeführers kann klarerweise nicht mehr als bloss geringfügige Erweiterung beziehungsweise Zweckänderung bezeichnet werden. Der Bau der beiden neuen Wohnungen vergrössert nicht nur das Gebäudevolumen, sondern bewirkt nahezu eine Verdoppelung des bisherigen Wohnanteils der Liegenschaft. Sodann ist das Gebäude nach dem Um- und Erweiterungsbau der ursprünglichen Baute nicht mehr wesensgleich. Ein Bauernhaus wird zu einem reinen Wohnhaus umgestaltet; der verbleibende Rest des Ökonomieteils nimmt kaum mehr einen Viertel des Gebäudevolumens ein. Von einer Wahrung der Identität des Bauwerks kann keine Rede sein. Das Bauvorhaben stellt somit keine bloss teilweise Änderung dar und fällt demnach nicht unter
Art. 24 Abs. 2 RPG
; es ist vielmehr wie ein Neubau nach
Art. 24 Abs. 1 RPG
zu beurteilen.
Unter diesen Umständen kann die Frage offen bleiben, ob das Bauvorhaben mit den wichtigen Anliegen der Raumplanung vereinbar sei (
Art. 24 Abs. 2 RPG
). | de |
bfc54613-2f6f-4193-817f-6df158496794 | Sachverhalt
ab Seite 267
BGE 114 V 266 S. 267
A.-
Annelies T. ist bei der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia u.a. für Krankenpflege versichert. Anfangs 1986 begab sie sich wegen akuter Zuckerkrankheit in die Behandlung des Dr. T., Spezialarzt für Stoffwechselkrankheiten und Professor für Diabetologie an der Universität Bern. Dieser verordnete ihr Insulinbehandlung und wies sie zur ausführlichen Diät-/Diabetesberatung der Ernährungsberatung des Lindenhofspitals zu. Dieses stellte ihr am 6. August 1986 Rechnung in der Höhe von Fr. 114.70.
Mit Verfügung vom 10. Dezember 1986 weigerte sich die Kasse, an die Diät-/Diabetesberatung Leistungen zu erbringen, weil diese durch Schwestern oder sogenannte Diätassistentinnen erfolge, die keine medizinischen Hilfspersonen im Sinne des Gesetzes seien. Zudem könnten solche Beratungen auch nicht als Krankheitsbehandlung gelten.
B.-
Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde der Annelies T. wurde am 12. Mai 1987 vom Versicherungsgericht des Kantons Bern abgewiesen mit der Begründung: Da die Ernährungsberaterin in keinem Anstellungsverhältnis zu Prof. T. stehe und von diesem auch nicht beaufsichtigt werde, sei sie keine unselbständige medizinische Hilfsperson, deren Tätigkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG der ärztlichen Behandlung des Prof. T. zugerechnet werden könnte. Und weil die Ernährungsberaterin nicht in der bundesrätlichen Verordnung VI betreffend die Zulassung von medizinischen Hilfspersonen zur Betätigung für die Krankenversicherung aufgeführt sei und im vorliegenden Fall zudem ihren Beruf nicht auf eigene Rechnung, sondern im Dienste des Lindenhofspitals ausübe, gehöre sie auch nicht zu den in
BGE 114 V 266 S. 268
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG erwähnten selbständigen medizinischen Hilfspersonen, deren Tätigkeit grundsätzlich ebenfalls zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören.
C.-
Annelies T. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Kasse sei zu verpflichten, die Kosten der Diät-/ Diabetesberatung gemäss Rechnung vom 6. August 1986 zu übernehmen.
Die Kasse beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Zur Begründung wird im wesentlichen vorgebracht: Selbst wenn die Diabetesberatung als wissenschaftlich anerkannte Heilanwendung gelten würde, wäre die Leistungspflicht der Kasse trotzdem zu verneinen, weil die Diätassistentinnen die in der bereits erwähnten Verordnung VI aufgestellten Anforderungen für die Zulassung als selbständige medizinische Hilfspersonen nicht erfüllten. Als unselbständige Hilfspersonen könnten die Diätberaterinnen des Lindenhofspitals deshalb nicht behandelt werden, weil sie ihre Tätigkeit nicht unter der direkten Kontrolle des Prof. T. ausübten und dieser nicht in persönlichen Kontakt zum Patienten trete.
In seiner ersten Vernehmlassung vom 14. Oktober 1987 zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das Bundesamt für Sozialversicherung darauf hingewiesen, dass die Diabetikerberatung nach der an der Sitzung vom 27. August 1987 der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine Leistungen der Krankenversicherung vertretenen Auffassung als Teil der ärztlichen Diabetesbehandlung zu betrachten sei, wobei die Wissenschaftlichkeit als gegeben vorausgesetzt werde. Bezüglich der Frage, ob die Ernährungsberaterinnen selbständige medizinische Hilfspersonen seien bzw. ob im vorliegenden Fall von einer der ärztlichen Tätigkeit zuzurechnenden Hilfsfunktion unselbständiger medizinischer Hilfspersonen gesprochen werden könne, teilte das Bundesamt jedoch die Auffassung des kantonalen Richters mit dem Ergebnis, dass es die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragte.
Nach Abschluss des ersten Schriftenwechsels hat Prof. T. dem Eidg. Versicherungsgericht ein Schreiben des Bundesamtes an die Schweizerische Diabetesgesellschaft vom 22. Oktober 1986 unterbreitet. Gestützt darauf gab das Gericht dem Bundesamt erneut Gelegenheit, sich zum Problem der Anerkennung der Diabetikerberatung als Pflichtleistung der Krankenkassen zu äussern. Auf seine Stellungnahme vom 23. März 1988, mit welcher das Bundesamt
BGE 114 V 266 S. 269 auf seinen ursprünglich gestellten Abweisungsantrag verzichtet, wird in den rechtlichen Erwägungen zurückzukommen sein.
Die Kasse weist mit Schreiben vom 20. April 1988 darauf hin, dass die Eidgenössische Fachkommission am 27. August 1987 den Krankenkassen lediglich empfohlen habe, für die Diabetikerinstruktion Leistungen zu erbringen. Diese sei nach wie vor keine gesetzliche Pflichtleistung, weshalb sie an ihrem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde festhalte.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG
haben die Leistungen der Krankenkassen bei ambulanter Behandlung mindestens die ärztliche Behandlung (lit. a) und die von einem Arzt angeordneten, durch medizinische Hilfspersonen vorgenommenen, wissenschaftlich anerkannten Heilanwendungen (lit. b) zu umfassen. Die zur gesetzlichen Pflichtleistung gehörende ärztliche Behandlung umfasst gemäss Art. 21 Abs. 1 Vo III über die Krankenversicherung betreffend die Leistungen der vom Bund anerkannten Krankenkassen die vom Arzt vorgenommenen, wissenschaftlich anerkannten diagnostischen und therapeutischen Massnahmen. Ist eine therapeutische oder diagnostische Massnahme wissenschaftlich umstritten, so entscheidet das Eidgenössische Departement des Innern nach Anhören der vom Bundesrat bestellten Fachkommission (Art. 26 Vo III), ob sie als Pflichtleistung zu übernehmen ist (Art. 21 Abs. 2 Vo III).
In ihrem ersten leistungsverweigernden Schreiben an die Beschwerdeführerin vom 9. September 1986 berief sich die Kasse darauf, dass es sich bei der Diät-/Diabetesberatung nicht um eine wissenschaftlich anerkannte Heilmethode handle, eine Begründung, die sie im Entscheid vom 6. November 1986 und in der Verfügung vom 10. Dezember 1986 nicht mehr aufrechterhielt. Hingegen scheint sie in ihrer Antwort auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneut darauf zurückzukommen, wenn sie ausführt: "Auch wenn man vom Vorliegen einer wissenschaftlich anerkannten Heilanwendung ausgehen müsste", erfülle die Ernährungsberaterin die in der Verordnung VI vorgesehenen Anforderungen nicht. Der kantonale Richter seinerseits hat die Frage, ob es sich um eine wissenschaftlich anerkannte Heilmethode handle, offengelassen.
BGE 114 V 266 S. 270
In der bundesamtlichen Vernehmlassung vom 14. Oktober 1987 wird dargelegt, dass die Beratung und Instruktion der Diabetiker nicht als eine selbständige Heilbehandlungsmethode, sondern als Teil der ärztlichen Diabetesbehandlung zu betrachten sei. Die Wissenschaftlichkeit werde von der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine Leistungen der Krankenversicherung als gegeben vorausgesetzt. Das Bundesamt verweist auf das Protokoll der Sitzung der Fachkommission vom 27. August 1987, aus dem mit aller Deutlichkeit hervorgeht, dass die Kommission die Diabetikerberatung als unerlässlichen Bestandteil der Diabetestherapie betrachtet, deren Wissenschaftlichkeit von keiner Seite bestritten wird. Diese Beratung, die fraglos auch zweckmässig und wirtschaftlich ist, gehört daher zu den Pflichtleistungen der Krankenkasse.
2.
Eine andere Frage ist es, ob die Kasse im vorliegenden Fall trotzdem die Übernahme der Diät-/Diabetesberatung verweigern durfte mit der Begründung, die Diabetesberaterin des Lindenhofspitals verrichte ihre Tätigkeit nicht unter direkter ärztlicher Aufsicht. Die Kasse beruft sich auf die Rechtsprechung zu Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG, wonach unter den Begriff der hier als Pflichtleistung aufgeführten ärztlichen Behandlung nur Massnahmen fallen würden, die unter direkter Kontrolle des Arztes durch das beim Arzt angestellte unselbständige medizinische Hilfspersonal vorgenommen werden und bei deren Durchführung der Arzt in persönlichen Kontakt zum Patienten trete. Die Aufsichtstätigkeit des Prof. T. entspreche diesen Anforderungen nicht.
a) Nach der Rechtsprechung fallen unter den Begriff der ärztlichen Behandlung gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG in gewissen Grenzen auch solche Massnahmen, die durch das beim Arzt angestellte unselbständige medizinische Hilfspersonal vorgenommen werden. Voraussetzung ist allerdings - wie die Kasse zutreffend bemerkt -, dass diese Massnahmen unter der direkten Kontrolle des Arztes verrichtet werden und dass dieser bei der Durchführung in persönlichen Kontakt zum Patienten tritt. Das Eidg. Versicherungsgericht hat aber auch darauf hingewiesen, dass diese persönliche Kontaktaufnahme im Zusammenhang mit der Aufsichtspflicht des Arztes zu prüfen ist. Dieser hat die therapeutischen Verrichtungen seiner Hilfsperson zu beaufsichtigen, weil die Gewähr bestehen soll, dass er nötigenfalls unverzüglich eingreifen oder auf eine angeordnete Massnahme zurückkommen kann. Das Gericht hat aber ausdrücklich entschieden, vom Arzt könne vernünftigerweise
BGE 114 V 266 S. 271
nicht als Regel verlangt werden, dass er den Ablauf der übertragenen Therapie in jedem Fall mit eigenen Augen dauernd überwache und unmittelbar mitverfolge. Der Arzt habe nach medizinischen und berufsethischen Gesichtspunkten zu entscheiden, wie intensiv Überwachung und Kontrolle gestaltet werden müssen (
BGE 110 V 191
,
BGE 107 V 52
und
BGE 100 V 4
Erw. 2a).
b) Der Versicherte kann nach
Art. 15 Abs. 1 KUVG
unter den an seinem Aufenthaltsort oder in dessen Umgebung praktizierenden Ärzten frei wählen, und gemäss
Art. 19bis Abs. 1 KUVG
steht ihm auch die Wahl unter den inländischen Heilanstalten frei. Nach der Rechtsprechung hat dieses gesetzlich verankerte Prinzip der freien Arzt- und Spitalwahl sinngemäss auch für die Wahl des Ambulatoriums einer Heilanstalt seine Gültigkeit (RKUV 1985 Nr. K 620 S. 78). Dem Bundesamt ist darin beizupflichten, dass das Recht auf freie Arztwahl auch dann zu gelten hat, wenn der vom Versicherten gewählte Vertragsarzt durch einen Belegarztvertrag mit einer Heilanstalt verbunden ist und damit allenfalls einen Teil seiner ambulanten Behandlung unter seiner eigenen Aufsicht oder unter derjenigen eines verantwortlichen Spitalarztes durch das am Spital angestellte unselbständige medizinische Hilfspersonal ausführen lässt. Die gegenteilige Auffassung der Kasse würde zu einer unzulässigen Beschränkung des gesetzlich und durch die Praxis garantierten Rechts auf freie Wahl des Arztes und des Ambulatoriums führen.
c) Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass der auf Diabetologie spezialisierte Prof. T. als Belegarzt mit dem Lindenhofspital verbunden und überdies für alle Diabetesbelange in dieser Heilanstalt verantwortlich ist. Wie das Bundesamt mit Recht bemerkt, liegt es auf der Hand, dass er unter diesen Umständen keine eigene Diabetesberaterin in seiner Privatpraxis beschäftigt. Es wäre willkürlich, die Beschwerdeführerin deswegen krankenversicherungsrechtlich anders zu behandeln als die Patientin eines Spezialarztes, dem keine entsprechende Spitalinfrastruktur zur Verfügung steht.
Unerheblich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass das Lindenhofspital der Beschwerdeführerin für die Diät-/Diabetesberatung direkt Rechnung gestellt hat, denn es gibt - wie das Bundesamt bemerkt - verschiedene Belegärzte, die für ihre Behandlung im Lindenhofspital durch dieses direkt Rechnung stellen lassen und dies gerade auch deshalb, weil sie die Möglichkeit haben, die dortige Infrastruktur zu benützen.
BGE 114 V 266 S. 272
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Diät-/Diabetesberatung der Beschwerdeführerin im Lindenhofspital der ärztlichen Behandlung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG zuzurechnen ist, an welche die Kasse ihre gesetzlichen und statutarischen Leistungen zu erbringen hat. | de |
4fe8d784-0aca-46da-bbf3-4a00b1f21cb7 | Sachverhalt
ab Seite 315
BGE 127 V 315 S. 315
A.-
S., geb. 1936, war vom 1. Januar 1982 bis 30. September 1986 bei der Stadt Zürich angestellt und bei der Versicherungskasse der Stadt Zürich (nachfolgend: Versicherungskasse) vorsorgeversichert.
BGE 127 V 315 S. 316
Ihren Antrag (vom 2. Mai 1987) auf Barauszahlung der bei Austritt aus der Vorsorgeeinrichtung (am 30. September 1986) fällig gewordenen Freizügigkeitsleistung im Betrag von 19'495 Franken, begründet mit der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, lehnte die Versicherungskasse ab, nachdem die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau sich (am 8. April 1987) geweigert hatte, die Versicherte als Selbstständigerwerbende zu erfassen. Auf die Aufforderung der Versicherungskasse (vom 14. Mai 1987) hin, den bereits am 4. Dezember 1986 zugestellten Antrag um Eröffnung einer "POOL-Freizügigkeitspolice" vollständig ausgefüllt und unterzeichnet zu retournieren, reagierte die Versicherte in der Folge nicht. Ihr erst im Jahre 1998, mit Blick auf das Erreichen des AHV-Alters, erneut gestelltes Rechtsbegehren um Auszahlung des Betrages von 19'495 Franken lehnte die Versicherungskasse, zuletzt mit Einspracheentscheid des Präsidiums des Kassenausschusses vom 27. Mai 1999, ab, weil der Anspruch verjährt sei.
B.-
Die von S. eingereichte Klage mit dem sinngemässen Antrag auf Zahlung von 19'495 Franken, zuzüglich Verzugszinsen, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 1. Dezember 2000).
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S. das im kantonalen Verfahren gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Die Stadt Zürich, vertreten durch die Versicherungskasse, und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) äussern sich zur Sache, ohne einen Antrag zu stellen.
D.-
Im Rahmen des Instruktionsverfahrens wurden die kasseninternen Rechtsgrundlagen beigezogen (Statuten der Versicherungskasse für die Arbeitnehmer der Stadt Zürich gemäss Gemeinderatsbeschluss vom 24. Oktober 1984, in Kraft vom 1. Januar 1985 bis 31. Dezember 1994, nachfolgend: Statuten 84; Statuten der Versicherungskasse der Stadt Zürich gemäss Gemeinderatsbeschluss vom 22. Dezember 1993, in Kraft seit 1. Januar 1995, nachfolgend: Statuten 95; dazu ergangene Vollziehungsverordnung gemäss Stadtratsbeschluss vom 16. November 1994, nachfolgend: Vollziehungsverordnung). Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Es steht fest und ist, grundsätzlich wie masslich, zu Recht unbestritten, dass die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 27 Statuten 84 einen am 30. September 1986 - Datum des
BGE 127 V 315 S. 317
Dienstaustrittes und der damit einhergehenden Auflösung des Vorsorgeverhältnisses - fälligen Anspruch auf eine Freizügigkeitsleistung im Betrag von 19'495 Franken erwarb. Strittig ist einzig die Begründetheit der von der Beschwerdegegnerin erhobenen Einrede der Verjährung.
2.
a) Nach Art. 12 Abs. 3 Statuten 84 verjähren die Ansprüche auf einmalige Kassenleistungen und Beiträge in zehn Jahren. Da Art. 3 Statuten 84 die Begriffe Freizügigkeitsleistung, Kassenleistung und Versicherungsleistungen differenziert und als Kassenleistung "irgendeine Leistung der Versicherungskasse auf Grund der Statuten" definiert, fällt der Freizügigkeitsleistungsanspruch eindeutig unter die zehnjährige Verjährungsregelung des Art. 12 Abs. 3 Statuten 84. Die Statuten 95 haben an dieser Verjährungsregelung nichts geändert, indem Art. 12 Abs. 3 Statuten 95 die "Ansprüche auf einmalige Kassenleistungen oder Beiträge (...) in zehn Jahren" verjähren lässt. Dabei gilt es zu beachten, dass Art. 3 Statuten 95 die Kassenleistungen als "Leistungen der Pensionskasse im Versicherungsfall oder beim Austritt von Versicherten" umschreibt, sodass der Anspruch auf Freizügigkeitsleistung der materiell unveränderten zehnjährigen Verjährungsfrist nach Art. 12 Abs. 3 Statuten 95 unterliegt.
b) Indem die Beschwerdeführerin, unbestrittenerweise, die im Lichte der Statuten ab 1. Oktober 1986 laufende Verjährungsfrist nie unterbrach, war die statutarische zehnjährige Verjährungsfrist am 1. Oktober 1996 - zehn Jahre nach Eintritt der Fälligkeit und damit Fristbeginn - abgelaufen, als die Beschwerdeführerin sich 1998 erneut an die Versicherungskasse wandte. Der Anspruch auf die Freizügigkeitsleistung (zuzüglich Zinsen) ist daher - nach Massgabe der Statuten 84 und 95 - verjährt. Zu prüfen bleibt, ob die statutarische Verjährungsregelung übergeordnetem Recht widerspricht, sodass - bejahendenfalls - der statutarischen Fristenregelung die Anwendung zu versagen wäre. Wird die Frage verneint, bleibt es bei der statutarischen Verjährungsordnung und ihrer Massgeblichkeit in diesem Fall.
3.
a) Gemäss
Art. 41 Abs. 1 BVG
, in Kraft seit 1. Januar 1985, verjähren Forderungen auf periodische Beiträge und Leistungen nach fünf, andere nach zehn Jahren (Satz 1). Die Art. 129-142 des Obligationenrechts sind anwendbar (Satz 2). Als letzte Bestimmung im Ersten Titel des Zweiten Teils des Gesetzes handelt es sich bei
Art. 41 Abs. 1 BVG
um eine Mindestvorschrift (
Art. 6 BVG
). Als BVG-Minimalvorschrift kommt sie folglich zur Anwendung für
BGE 127 V 315 S. 318
Ansprüche im Bereich der obligatorischen beruflichen Vorsorge (
Art. 7 ff. BVG
,
Art. 27 BVG
in Verbindung mit dem Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 17. Dezember 1993, in Kraft seit 1. Januar 1995 [Freizügigkeitsgesetz, FZG]). Im weitergehenden Vorsorgebereich, welcher, wie bei der hier am Recht stehenden Kasse, im Wesentlichen die überobligatorische Vorsorge umfasst (Versicherung der Bruttobesoldung, abzüglich des Koordinationsbetrages; vgl. Art. 4 Abs. 3 Statuten 84, Art. 16 f. Statuten 95), sind die Vorsorgeeinrichtungen frei, eine von
Art. 41 Abs. 1 BVG
abweichende Verjährungsregelung vorzusehen (
Art. 49 BVG
).
b) Nach der Rechtsprechung ist
Art. 41 BVG
im Beitragsbereich (SZS 1994 S. 388; Urteil H. vom 9. August 2001, B 26/99) ebenso anwendbar wie bei Versicherungsleistungen, also bei den Leistungen, die im Versicherungsfall (Alter, Invalidität, Hinterlassensein) fällig werden (
BGE 117 V 329
und nicht veröffentlichtes Urteil F. vom 4. August 2000, B 9/99, sowie Urteil B. vom 5. Juni 2001, B 6/01, alle betreffend Invalidenrente; nicht veröffentlichtes Urteil N. vom 14. Dezember 1994, B 16/94, betreffend Invalidenrente aus vorobligatorischer Vorsorge). Freizügigkeitsleistungen sind indes keine Leistungen in diesem versicherungsrechtlichen und -technischen Sinn; vielmehr stellen sie die erworbene Finanzierungsgrundlage für allfällig künftig entstehende Versicherungsleistungen dar. Nicht der Verjährung nach
Art. 41 BVG
unterliegt die Verpflichtung zum rückwirkenden Anschluss eines Arbeitgebers an eine Vorsorgeeinrichtung nach
Art. 11 BVG
(SZS 1998 S. 381). Ob Freizügigkeitsleistungen nach Massgabe von
Art. 41 BVG
verjähren, war, soweit ersichtlich, durch das Eidg. Versicherungsgericht, noch nie zu beurteilen.
c) Gemäss MARKUS MOSER, Die Zweite Säule und ihre Tragfähigkeit, Diss. Basel 1992, S. 272 ff., wird der Freizügigkeitsanspruch mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig, weshalb an diesem Tag grundsätzlich auch die Verjährung beginnen würde. Doch stünden der Annahme eines solchen vorzeitigen Verlustes der Klagbarkeit die Vorschriften über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes (vgl. Erw. 4 hienach) entgegen, welche die Vorsorgeeinrichtung verpflichten, immer dann, wenn eine Überweisung des Guthabens an eine neue Vorsorgeeinrichtung nicht möglich ist, eine zu Gunsten des Zügers lautende Freizügigkeitspolice oder ein Freizügigkeitskonto einzurichten (a.a.O., S. 276), dies insbesondere auch dann, wenn, trotz aller Bemühungen seitens der Stiftungsorgane,
BGE 127 V 315 S. 319
keine Instruktionen über die konkrete Verwendung des Freizügigkeitsguthabens erhältlich zu machen sind (a.a.O., S. 277 oben). Folglich, so MOSER weiter, unterliege der Freizügigkeitsanspruch keiner eigenen Verjährung; Freizügigkeitsleistungen, welche mangels Bezeichnung nicht einer Zahlstelle überwiesen werden könnten, dürften somit auch nach Ablauf von zehn Jahren seit ihrer Fälligkeit nicht den freien Stiftungsmitteln zugewiesen werden (a.a.O., S. 277). Nach einlässlicher Prüfung der Rechtslage kommt MOSER auch für den Bereich der weitergehenden Vorsorge zum gleichen Ergebnis, dass der Anspruch auf Erbringung einer Freizügigkeitsleistung keiner eigenen Verjährung unterliegt (a.a.O., S. 284). HERMANN WALSER, Weitergehende berufliche Vorsorge, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht (SBVR), Soziale Sicherheit, Rz 201 f., äussert sich nicht zur Sache. Entsprechendes gilt für JÜRG BRÜHWILER, Obligatorische berufliche Vorsorge, in: SBVR, Rz 92 ff.).
d) Mit der Botschaft zur Revision des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG), 1. BVG-Revision, vom 1. März 2000 (BBl 2000 2637 ff.) schlägt der Bundesrat eine Revision von
Art. 41 BVG
vor. Danach sollen die Leistungsansprüche nicht verjähren, sofern die Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalles die Vorsorgeeinrichtung nicht verlassen haben (Abs. 1). Der bisherige Abs. 1 wird unverändert zum Abs. 2. Mit diesem Vorschlag soll die von der Rechtsprechung bejahte (vgl. Erw. 3b) Verjährbarkeit des Grundleistungsanspruches beseitigt werden, dies aber nur für Versicherte, welche bei Eintritt des Versicherungsfalles ihre Vorsorgeeinrichtung noch nicht verlassen haben. Aufschlussreich für die hier zur Beurteilung anstehende Thematik ist an den erläuternden Ausführungen, dass der Bundesrat die Freizügigkeitsleistungen bei dieser Gesetzesrevision nicht erwähnt, sondern nur das Rentenstammrecht der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenrente; der "Austritt aus einer Vorsorgeeinrichtung" richte "sich nach
Art. 2 Abs. 1 FZG
" (BBl 2000 2694).
4.
a) aa) Bereits die
Art. 27 ff. BVG
in der ursprünglichen Gesetzesfassung vom 25. Juli 1982, in Kraft seit 1. Januar 1985 bis 31. Dezember 1994, waren darauf ausgerichtet, dem vor Eintritt eines Versicherungsfalles aus der Vorsorgeeinrichtung austretenden Versicherten die Erhaltung des Vorsorgeschutzes, beschränkt auf das BVG, zu gewährleisten (vgl. alt
Art. 27 Abs. 1 BVG
). Diesem Ziel diente alt
Art. 29 BVG
, welcher die Übertragung der
BGE 127 V 315 S. 320
Freizügigkeitsleistung regelte, sei es durch Überweisung (Gutschrift an die neue Vorsorgeeinrichtung [Abs. 1]), sei es durch Belassung bei der bisherigen Vorsorgeeinrichtung gestützt auf das Reglement und mit Zustimmung des neuen Arbeitgebers (Abs. 2), sei es, wenn keine dieser beiden Möglichkeiten bestand, "durch eine Freizügigkeitspolice oder in anderer gleichwertiger Form" (Abs. 3), wobei der Bundesrat damit betraut wurde, die Errichtung, den Inhalt und die Rechtswirkungen der Freizügigkeitspolicen und anderer Formen der Erhaltung des Vorsorgeschutzes zu regeln (Abs. 4).
bb) Diesen Rechtsetzungsauftrag gemäss alt
Art. 29 Abs. 4 BVG
erfüllte der Bundesrat durch den Erlass der Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit vom 12. November 1986, welche auf den 1. Januar 1987 in Kraft trat (AS 1986 2008 ff.). Diese Verordnung stipulierte im Zusammenhang mit den in Art. 2 näher umschriebenen Formen der Erhaltung des Vorsorgeschutzes (Freizügigkeitspolice, Freizügigkeitskonto) die Informations- und Mitwirkungspflichten von Arbeitgeber, Vorsorgeeinrichtung und Versicherten (Art. 13). Danach hatte der Versicherte, nach Hinweis durch die Vorsorgeeinrichtung auf alle gesetzlich und reglementarisch vorgesehenen Möglichkeiten der Erhaltung des Vorsorgeschutzes (Art. 13 Abs. 2), der Vorsorgeeinrichtung bekanntzugeben, an welche neue Vorsorgeeinrichtung die Freizügigkeitsleistung zu überweisen sei; entfiel diese Möglichkeit und konnte die Freizügigkeitsleistung auch nicht bar ausbezahlt werden, hatte der Versicherte der Vorsorgeeinrichtung bekanntzugeben, in welcher Form der Vorsorgeschutz zu erhalten ist (Art. 13 Abs. 3). Hatte der Versicherte innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt der Mitteilung der Vorsorgeeinrichtung keine Angaben nach Abs. 3 gemacht, so entschied diese nach Gesetz und auf Grund ihres Reglementes, in welcher Form der Vorsorgeschutz zu erhalten ist (Art. 13 Abs. 4).
cc) Die Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit galt auch für die weitergehende berufliche Vorsorge, wie aus
Art. 331c Abs. 1 OR
(in der bis 31. Dezember 1994 gültig gewesenen Fassung [AS 1983 823]) hervorgeht. Danach hatte die Personalfürsorgeeinrichtung ihre, der Forderung des Arbeitnehmers entsprechende Schuldpflicht in der Weise zu erfüllen, dass sie zu dessen Gunsten eine Forderung auf künftige Vorsorgeleistungen gegen die Personalfürsorgeeinrichtung eines anderen Arbeitgebers, gegen eine der Versicherungsaufsicht unterstellte Unternehmung oder, unter voller Wahrung des
BGE 127 V 315 S. 321
Vorsorgeschutzes, gegen eine Bank oder Sparkasse begründet, welche die vom Bundesrat festgesetzten Bedingungen erfüllt. Die Entwicklung der rechtlichen Grundlagen präsentiert sich daher ab 1. Januar 1985 für die weitergehende berufliche Vorsorge gleich wie im Obligatoriumsbereich: Auf Stufe des formellen Gesetzes (BVG, OR) stand in beiden Bereichen die Pflicht der Vorsorgeeinrichtung zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes festgeschrieben, wobei aber die Modalitäten dieser Erfüllung jeweils erst durch die auf den 1. Januar 1987 in Kraft getretene Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit geregelt wurden. Erst in dieser Verordnung findet sich, wie dargetan (Erw. 4a/bb in fine), die ausdrückliche Vorschrift, dass der Vorsorgeschutz selbst dann zu erhalten ist, wenn der Versicherte in Verletzung seiner Mitwirkungspflicht die erforderlichen Angaben nicht macht (Art. 13 Abs. 4 in fine). Diese Bestimmung machte den Vorsorgeeinrichtungen somit die Erhaltung des Vorsorgeschutzes in allen Fällen zur Pflicht; nur die Form, in welcher das geschehen sollte, war verordnungsgemäss von Gesetz und Reglement abhängig.
b) aa) Mit dem Inkrafttreten des FZG auf den 1. Januar 1995, welches für die obligatorische und die weitergehende Vorsorge gilt (
Art. 1 Abs. 2 FZG
), wurden die bisherigen Freizügigkeitsregelungen abgelöst (vgl.
Art. 27 BVG
in der seit 1. Januar 1995 geltenden Fassung) und durch einheitliche Vorschriften im FZG ersetzt (
Art. 3 und 4 FZG
; Verordnung über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [Freizügigkeitsverordnung, FZV] vom 3. Oktober 1994, in Kraft seit 1. Januar 1995). Danach haben Versicherte, die nicht in eine neue Vorsorgeeinrichtung eintreten, ihrer Vorsorgeeinrichtung mitzuteilen, in welcher zulässigen Form sie den Vorsorgeschutz erhalten wollen (
Art. 4 Abs. 1 FZG
). Bleibt diese Mitteilung aus, so hat die Vorsorgeeinrichtung spätestens zwei Jahre nach dem Freizügigkeitsfall die Austrittsleistung samt Verzugszins der Auffangeinrichtung (
Art. 60 BVG
) zu überweisen (
Art. 4 Abs. 2 FZG
). Der Vorsorgeschutz wird nach wie vor durch eine Freizügigkeitspolice oder durch ein Freizügigkeitskonto erhalten (
Art. 10 Abs. 1 FZV
). Die Informationspflichten gelten weiterhin (
Art. 8 FZG
,
Art. 1 und 2 FZV
).
bb) Durch Änderung vom 18. Dezember 1998, in Kraft seit 1. Mai 1999 (AS 1999 1384, 1387), wurde dem FZG mit den Art. 24a-24f ein Abschnitt 6a eingefügt über die Meldepflichten und die Zentralstelle 2. Säule. Nach
Art. 24a FZG
melden
BGE 127 V 315 S. 322
Vorsorgeeinrichtungen und Einrichtungen, welche Freizügigkeitskonten oder -policen führen, der Zentralstelle 2. Säule die Ansprüche von Personen im Rentenalter im Sinne von
Art. 13 Abs. 1 BVG
, die noch nicht geltend gemacht worden sind (vergessene Guthaben). Die Zentralstelle 2. Säule ist die Verbindungsstelle zwischen den Vorsorgeeinrichtungen, den Einrichtungen, welche Freizügigkeitskonten oder -policen führen, und den Versicherten (
Art. 24d Abs. 1 BVG
). Das Gesetz enthält Vorschriften über die Meldepflicht, insbesondere deren Umfang (
Art. 24b und 24c FZG
). Nach der Übergangsbestimmung der Änderung vom 18. Dezember 1998 gelten die Art. 24a (vergessene Guthaben) und 24b (Meldepflicht der Einrichtungen) FZG sinngemäss für Vorsorgeeinrichtungen, die Vorsorge- oder Freizügigkeitsguthaben führen, welche aus der Zeit vor dem Inkrafttreten dieser Änderung des Freizügigkeitsgesetzes stammen. In der Botschaft betreffend die Änderung des Freizügigkeitsgesetzes vom 21. September 1998 (BBl 1998 5569 ff.) hat sich der Bundesrat zur Verjährungsproblematik geäussert:
"Eine ebenso schwierige Frage betrifft die Verjährung. Sie ist in zwei verschiedenen Gesetzen geregelt, je nachdem, ob es sich um eine Kasse handelt, welche die berufliche Minimalvorsorge oder das Überobligatorium durchführt. Im ersten Fall ist sie in
Art. 41 BVG
geregelt, im zweiten Fall hingegen in den
Art. 127 und 128 OR
. Diese Bestimmungen widersprechen sich zwar nicht, präzisieren aber auch nicht, von welchem Moment an die Verjährung im Bereich der beruflichen Vorsorge zu berechnen ist. Die diesbezügliche Rechtsprechung des EVG hat nicht erlaubt, ein präzises Konzept zur Anwendung der Verjährung herauszuschälen." (BBl 1998 5575 f.; in einer Fussnote findet sich der Hinweis auf
BGE 115 V 228
,
BGE 117 V 329
und 117 V 337.)
(...)
"Ausserdem verweist
Art. 41 BVG
auf die Anwendung der Artikel 129-142 OR. Diese Bestimmungen betreffen den Mechanismus für die Anwendung der Verjährung. Danach kann der Versicherte, der Anspruch auf eine BVG-Leistung, d.h. auf eine Rente oder die Ausrichtung eines Freizügigkeitsguthabens hat, seinen Anspruch bis zehn Jahre nach dessen Fälligkeit geltend machen (es handelt sich eigentlich um eine Verwirkung)."
(...)
"In der weitergehenden Vorsorge beträgt die Verjährungsfrist für die Renten zehn Jahre, wobei die Fälligkeit des Anspruches vom im Reglement festgelegten Alter abhängt. Bei der Freizügigkeitsleistung wird die Leistung frühestens fünf Jahre, bevor der oder die Versicherte das Rücktrittsalter gemäss
Art. 13 Abs. 1 BVG
erreicht, fällig (Art. 16 Abs. 1 der Freizügigkeitsverordnung vom 3. Oktober 1994, FZV, SR 831.425). Wenn der oder die Versicherte die Schweiz jedoch verlässt, wird die Leistung
BGE 127 V 315 S. 323
sofort fällig, und wenn die Versicherten sie nicht vor Ablauf von zehn Jahren geltend machen, wird vermutet, dass sie ihres Anspruchs verlustig gegangen sind." (BBl 1998 5576)
Zu den Übergangsbestimmungen führte der Bundesrat aus:
"Mit der Schaffung dieses Verfahrens, und um zahlreiche noch hängige und künftige Anfragen zu beantworten, müssen die Vorsorgeeinrichtungen, die noch nicht beanspruchte Freizügigkeits- oder Vorsorgeguthaben besitzen, verpflichtet werden, die Zentralstelle 2. Säule zu benachrichtigen, damit diese die Anspruchsberechtigten suchen kann. Diese Übergangsbestimmung erlaubt nicht nur die Regelung bestimmter hängiger Fälle, sondern gibt der Zentralstelle überdies die Möglichkeit, über diejenigen Daten zu verfügen, die Konten betreffen, welche zurzeit zwar noch nicht, aber vielleicht bereits in naher Zukunft beansprucht werden könnten, was ihr die Suche enorm erleichtern würde." (BBl 1998 5589)
5.
a) Das kantonale Gericht geht davon aus, dass die Freizügigkeitsleistung sowohl im obligatorischen wie im weitergehenden Berufsvorsorgebereich von einer zehnjährigen Verjährungsfrist bedroht ist. Es hat die auf den 1. Januar 1987 in Kraft getretene Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit im Hinblick darauf, dass der Freizügigkeitsfall hier am 30. September 1986 eingetreten ist, nicht unmittelbar angewendet, jedoch sinngemäss. Dies unter Berufung auf ZAK 1988 S. 48 Erw. 4a, wonach es sich nicht rechtfertige, für die Beurteilung von Freizügigkeitsfällen wie dem vorliegenden - die sich seit dem Inkrafttreten des BVG, aber vor 1987 ereignet haben - eine abweichende Ordnung zu treffen. Im Lichte der dargelegten Vorschriften über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes (Erw. 4) ist die Vorinstanz zum Ergebnis gelangt, dass die Beschwerdegegnerin verpflichtet gewesen wäre, "von sich aus die nötigen Schritte zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes zu unternehmen, d.h. ein Freizügigkeitskonto oder eine Freizügigkeitspolice zu Gunsten der Klägerin zu errichten". Bei gesetzeskonformem Handeln der Kasse hätte der Anspruch nicht verjähren können. Deswegen prüfte das kantonale Gericht die Frage einer Schadenersatzpflicht aus unerlaubter Handlung (
Art. 41 OR
) oder ungerechtfertigter Bereicherung (
Art. 62 ff. OR
), gelangte aber für beide Haftungsgründe zum Ergebnis, dass diese ebenfalls - da einer absoluten Verjährungsfrist von zehn Jahren unterliegend - verjährt seien, wobei das kantonale Gericht für den Beginn dieser Fristenläufe ebenfalls vom 30. September 1986 ausging. Die Verjährung des materiellen Freizügigkeitsanspruches sowie allfälliger Schadenersatzansprüche führte das Gericht zur Abweisung der Klage.
BGE 127 V 315 S. 324
b) Der Standpunkt der nunmehr anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin lässt sich dahin gehend zusammenfassen, dass die Beschwerdegegnerin die oberwähnten (Erw. 4), im Verlaufe der Zeit und noch vor Verjährungseintritt erlassenen Bestimmungen über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes hätte beachten müssen. Da sie dies nicht getan habe, sei die Einrede der Verjährung als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren.
c) Die Beschwerdegegnerin bezeichnet ihre im bisherigen Verfahren eingenommene Haltung als formell mit den jeweils massgeblichen Gesetzes- und Verordnungsnormen in Einklang stehend. Sie räumt indes ein, es sei fraglich, ob mit dem Rückwirkungsverbot der beiden Erlasse (gemeint sind die Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit und FZG) "die Beurteilung der vorliegenden Konstellation gänzlich abgedeckt" sei, "zumal durch aArt. 331c OR und aArt. 29 BVG eine erhöhte Pflicht zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes bereits bei Austrittsdatum der Klägerin bestand". Nachfolgend legt die Beschwerdegegnerin dar, inwiefern sich daraus in Bezug auf die "Anberaumung des haftpflichtrechtlichen Unterlassungstatbestandes eine bedeutsame Wirkung" ergebe. Bei Eintritt der Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit "und damit der Verweisungsnorm von Art. 74 Abs. 3 VKS (Statuten 84) hinsichtlich der bis zum 31. Dezember 1994 erfolgten Austritte" sei die Freizügigkeitsleistung noch nicht verjährt "und zumindest eine gewisse Sensibilisierungswirkung der genannten Erlasse hinsichtlich der verschärften Pflicht der Versicherungseinrichtungen zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes (...) zu erwarten gewesen. Ob sich daraus eine rechtliche Pflicht für die Beklagte ableiten lässt, sei dahingestellt, muss aber infolge der zweifelsfreien Anwendung von aArt. 331c OR sowie aArt. 29 BVG auch nicht weiterverfolgt werden". Auf Grund der unbestreitbaren direkten Anwendung dieser Bestimmungen und ihrer Bedeutung für die Erhaltung des Vorsorgeanspruches ergebe sich, "dass der Freizügigkeitsanspruch als solcher infolge der den Vorsorgeeinrichtungen auferlegten Pflicht zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes keiner eigenen Verjährung unterliegt. Freizügigkeitsleistungen, welche mangels Bezeichnung einer Zahlstelle nicht überwiesen werden konnten, dürfen auch nach Ablauf von zehn Jahren seit ihrer Fälligkeit nicht den freien Stiftungsmitteln bzw. in casu dem Pensionskassenvermögen zugewiesen werden (Verweis auf MOSER, a.a.O., S. 277 und 284)". Sei somit von einer Widerrechtlichkeit auszugehen, sei "nicht
BGE 127 V 315 S. 325
nachvollziehbar, weshalb der Zeitpunkt der widerrechtlichen Unterlassung im Rahmen der haftpflichtrechtlichen Prüfung auf das Austrittsdatum der Klägerin beschränkt wird. Vielmehr stellt sich - allein auf Grund von aArt. 331c OR und aArt. 29 BVG oder auch zusätzlich flankierend im Lichte der während der Verjährungsfrist in Kraft gesetzten Erlasse - die Frage, ob nicht eine fortgesetzte Unterlassung bis zum Ablauf der Verjährungsfrist anzunehmen wäre". Diese Überlegungen führen die Beschwerdegegnerin zum Ergebnis, dass sich im Extremfall eine 20-jährige Aktenaufbewahrungspflicht ergebe (zehn Jahre ab Austrittsdatum zuzüglich nochmals zehn Jahre aus haftpflichtrechtlichem Anspruch).
d) Das BSV verweist zunächst auf die Tragweite und die Vorgeschichte der mit der erwähnten Änderung des Freizügigkeitsgesetzes eingeführten Zentralstelle 2. Säule (vgl. Erw. 4b/bb) und hält fest, dass es "in der Natur der Dinge (liege), dass sich viele Arbeitnehmer, insbesondere ausländische Arbeitnehmer, erst genauer ihrer obligatorischen Altersvorsorge annehmen, wenn sie das Rentenalter erreicht haben und sich erinnern, dass sie neben der Alters- und Hinterlassenenversicherung auch einen Anspruch auf Altersleistungen der beruflichen Vorsorge haben". Angesichts dieses Dilemmas käme dem Amt sehr gelegen, wenn über die rechtliche Tragweite in diesen Fragen durch das Bundesgericht entschieden würde. In den nachfolgenden Ausführungen schliesst sich das BSV im Wesentlichen der bereits dargelegten Auffassung von MOSER (vgl. Erw. 3c) an. Die vorinstanzliche Rechtsauffassung, dass ein Versicherter zehn Jahre nach seinem Austritt keine Leistungsansprüche mehr geltend machen könne und die weitere Aufbewahrung der Unterlagen daher entfalle, sei im Hinblick auf die Invalidenleistungen (und demzufolge auch zum Teil für die Hinterbliebenenleistungen) offensichtlich irrig. Bestehe nämlich während der Versicherungszeit eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 20%, die sich erst später, nach dem Austritt zu einer rentenberechtigenden Invalidität verschlimmere, ohne dass dabei der zeitliche und kausale Zusammenhang unterbrochen werde, so beginne die Verjährungsfrist für die Invalidenleistungen erst mit dem Eintritt der Invalidität. Die Vorsorgeeinrichtung habe auf alle Fälle die Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Mittel zweckgemäss im Falle eines Vorsorgefalles für die Vorsorgeleistungen der Versicherten verwendet werden könnten, eine Pflicht, die nach Auffassung des Amtes "erst zehn Jahre nach Erreichen des Rentenalters der Versicherten" verjährt.
BGE 127 V 315 S. 326
6.
a) Die dargelegten Vorschriften über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes, welche seit 1. Januar 1985 galten und auch für den vorliegend strittigen Freizügigkeitsfall (1. Oktober 1986) zur Anwendung gelangen, schliessen eine Verjährung des Freizügigkeitsleistungsanspruchs nach
Art. 41 Abs. 1 BVG
aus, solange die Pflicht zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes besteht. Die Freizügigkeitsleistung bezweckt, abgesehen von den Barauszahlungstatbeständen, die Finanzierung künftiger gesetzlicher Versicherungsleistungen (vgl. Erw. 3b hievor). Eine Verjährung des Anspruchs auf Freizügigkeits- oder Austrittsleistung trotz gesetzlicher Pflicht zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes kommt nicht in Frage, weil dadurch die finanzielle Grundlage für künftige Versicherungsleistungen entfallen würde.
b) Wollte man dieser - aus der Systematik des Gesetzes und dem Normzweck gewonnenen - Auslegung mit Hinweis auf den Wortlaut entgegnen, Leistung im Sinne von
Art. 41 Abs. 1 BVG
umfasse nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auch die Freizügigkeitsleistung (und nicht nur die Leistung im Versicherungsfall), dränge der Standpunkt der Beschwerdeführerin dennoch durch. Es steht nämlich fest, dass die Vorsorgeeinrichtungen mit Wirkung ab 1. Januar 1987 in jedem Fall eine Freizügigkeitspolice oder ein Freizügigkeitskonto zu errichten hatten, insbesondere auch dann, wenn die versicherte Person - aus welchen Gründen auch immer - ihre Mitwirkungspflichten nicht wahrnahm (Art. 13 Abs. 4 in fine der Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit). Dieser Pflicht konnte sich die Vorsorgeeinrichtung ab 1. Januar 1987 im Falle der Beschwerdeführerin nicht mit dem Hinweis entschlagen, diese sei ja schon am 30. September 1986 aus der Versicherungskasse ausgetreten. Denn die Erledigung des Freizügigkeitsfalles vom 1. Oktober 1986 war bei Inkrafttreten der Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit am 1. Januar 1987 noch hängig. Die 1987 gewechselte Korrespondenz beweist dies: Die sich damals mit Blick auf das Inkrafttreten der Verordnung über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit noch verschärft stellende Frage nach der gesetzlich gebotenen Erhaltung des Vorsorgeschutzes harrte der Beantwortung und war von der in Art. 13 Abs. 4 in fine der Verordnung neu und ausdrücklich eingeführten Pflicht, den Vorsorgeschutz auch im Falle fehlender Mitwirkung des austretenden Versicherten zu erhalten, normativ erfasst. Im Lichte der durch Art. 13 Abs. 4 in fine der Verordnung mit Wirkung ab 1. Januar 1987
BGE 127 V 315 S. 327
stipulierten und auf den Fall der Beschwerdegegnerin anwendbaren Vorsorgeerhaltungspflicht drängt sich der Schluss erst recht auf, dass der Anspruch auf Freizügigkeitsleistungen nicht verjährt, solange die Pflicht zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes besteht.
7.
Damit hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf die Freizügigkeitsleistung, zuzüglich Verzugszinsen seit Eintritt der Fälligkeit am 1. Oktober 1986, und zwar jeweils zu dem Satz, den die Vollziehungsverordnung vorschrieb (vgl. Art. 18 Abs. 2 Vollziehungsverordnung: seit 1. Januar 2000 4,25%;
BGE 117 V 349
).
8.
(Gerichtskosten und Parteientschädigung) | de |
30dd9cd3-ab4c-4446-9059-6eeda0c1419f | Erwägungen
ab Seite 136
BGE 105 V 136 S. 136
Aus den Erwägungen:
Am 5. November 1973 wurde dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft durch die Eidgenössische Polizeiabteilung entzogen. Aus einem Schreiben der Rumänischen Botschaft in der Schweiz an den Beschwerdeführer ist ferner ersichtlich, dass dieser auf die rumänische Staatsangehörigkeit verzichtet hat und dass dieser Verzicht durch Präsidialdekret vom 8. August 1977 genehmigt worden ist. Der Beschwerdeführer ist daher jedenfalls bis zum 8. August 1977 als rumänischer Staatsangehöriger ohne Flüchtlingsstatut zu behandeln. Es kann offen bleiben, ob er nach diesem Zeitpunkt für die Belange der Sozialversicherung als Staatenloser gelten muss, nachdem er freiwillig auf die rumänische Staatsangehörigkeit
BGE 105 V 136 S. 137
verzichtet hat. Denn sowohl als rumänischer Staatsangehöriger wie auch als Staatenloser kann er Leistungen der Invalidenversicherung nur beanspruchen, wenn er bei Eintritt der Invalidität versichert war (
Art. 6 Abs. 1 IVG
und
Art. 3bis FlüB
). Gemäss
Art. 4 Abs. 2 IVG
gilt die Invalidität als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat.
Unter der - hypothetischen - Annahme, zwischen dem 26. April 1974 und dem massgebenden Zeitpunkt (Erlass der streitigen Kassenverfügung am 24. November 1977) sei ein Versicherungsfall eingetreten, ist zunächst zu prüfen, ob der Beschwerdeführer in diesem Zeitraum im Sinne von
Art. 6 Abs. 1 IVG
versichert war.
a) Nicht das Schweizerbürgerrecht besitzende natürliche Personen sind versichert, wenn sie in der Schweiz ihren zivilrechtlichen Wohnsitz haben oder hier eine Erwerbstätigkeit ausüben (
Art. 1 Abs. 1 lit. a und b AHVG
in Verbindung mit
Art. 1 IVG
). Da der Beschwerdeführer nicht erwerbstätig ist, wäre er also nur versichert, wenn er seinen Wohnsitz in der Schweiz hätte (
Art. 23 Abs. 1 ZGB
).
Am 26. April 1974 kehrte der Beschwerdeführer aus Grossbritannien in die Schweiz zurück. Mit Wirkung ab 9. Mai 1974 verhängte aber die Polizeiabteilung über ihn für unbestimmte Zeit die Einreisesperre im Sinne von
Art. 13 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG)
. Der Pflicht zur Ausreise kam der Beschwerdeführer nicht nach. Vielmehr hielt er sich von Anfang Mai 1974 hinweg bis Dezember 1975 in Genf auf, wo er eine Wohnung hatte. In ihrer Verfügung vom 28. November 1975 stellte die Polizeiabteilung fest, dass er zur Zeit keine Möglichkeit habe, die Schweiz legal zu verlassen, weshalb sie ihn und seine Tochter internierte. Eine solche Massnahme wird gemäss
Art. 14 Abs. 2 ANAG
dann angeordnet, wenn der Ausländer der Pflicht zur Ausreise nicht nachkommt und er auch nicht ausgeschafft werden kann. Trotz der Einreisesperre und trotz der Internierung händigte die Polizeiabteilung dem Beschwerdeführer am 19. Dezember 1975 einen zunächst auf ein Jahr befristeten, später bis Ende 1977 verlängerten Identitätsausweis für schriftenlose Ausländer aus. Damit erhielt der Beschwerdeführer die Möglichkeit, die Schweiz zu verlassen und wieder in die Schweiz zurückzukehren. Auch wenn er schon im Mai 1974 die
BGE 105 V 136 S. 138
Absicht gehabt haben sollte, dauernd in der Schweiz zu verbleiben, so stand doch die öffentlich-rechtliche Massnahme der Einreisesperre der Verwirklichung dieser Absicht auf unbestimmte Zeit direkt entgegen. Dieses Hindernis, einen Wohnsitz zu begründen, fiel erst dahin, als der Beschwerdeführer am 28. November 1975 mit dem Argument interniert wurde, er habe keine Möglichkeit, die Schweiz legal zu verlassen. Solange das öffentliche Recht die Verwirklichung der Absicht dauernden Verbleibens in der Schweiz langfristig verbietet, ist diese Absicht jedenfalls für die Belange der Sozialversicherung unbeachtlich (
BGE 99 V 209
und dort zitierte Urteile).
Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer mindestens bis zum 27. November 1975 in der Schweiz keinen Wohnsitz begründet hat.
b) Am 28. November 1975 wurde die Internierung ohne genaue Befristung angeordnet. Die Massnahme stützte sich unter anderem auf
Art. 27 ANAG
, wonach die Internierung unter gewissen Voraussetzungen länger als zwei Jahre dauern darf. Mit der Aushändigung des Identitätsausweises am 19. Dezember 1975 erhielt der Beschwerdeführer die Möglichkeit, die Schweiz wieder zu verlassen bzw. dahin zurückzukehren. Ein öffentlich-rechtliches Hindernis, welches die Verwirklichung der Absicht dauernden Verbleibs verunmöglicht hätte, bestand seither somit nicht mehr. Nach den glaubwürdigen Erklärungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hielt sich der Beschwerdeführer von Ende 1975 bis Ende 1977 während insgesamt 201 Tagen in London auf, wobei die jeweilige Aufenthaltsdauer im Ausland zwischen einem Tag und 29 Tagen schwankte. Im Jahre 1978 begab er sich erstmals im Mai nach London; bis Ende August 1978 hatte er dort insgesamt 62 Tage verbracht. Im übrigen wohnte er in Genf, wo seine Tochter die Schule besucht. Einem Schreiben des Einbürgerungsbüros des Kantons Genf an den Beschwerdeführer vom 3. Februar 1977 ist zu entnehmen, dass dieser sich damals nach der Einbürgerungsmöglichkeit erkundigt hatte.
Unter diesen Umständen muss angenommen werden, dass der Beschwerdeführer vom 28. November 1975 hinweg die Voraussetzungen zur Begründung eines Wohnsitzes in der Schweiz und insbesondere in Genf erfüllte, und zwar ungeachtet seines fremdenpolizeilichen Statuts (vgl. Berner Kommentar Rz 38 zu
Art. 23 ZGB
).
BGE 105 V 136 S. 139
c) Aus dem soeben Gesagten folgt, dass der Beschwerdeführer erst seit dem 28. November 1975 wieder versichert ist und damit die versicherungsmässige Voraussetzung des
Art. 6 Abs. 1 IVG
erfüllt. | de |
abeedbc9-676f-4bb7-8067-bc4ed10c7972 | 784.401 1 / 58 Radio- und Fernsehverordnung (RTVV) vom 9. März 2007 (Stand am 1. Januar 2023) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf das Bundesgesetz vom 24. März 20061 über Radio und Fernsehen (RTVG), verordnet: 1. Titel: Geltungsbereich Art. 1 Angebote von geringer publizistischer Tragweite (Art. 1 Abs. 2 RTVG) 1 Angebote von geringer publizistischer Tragweite sind Angebote, die von weniger als 1000 Geräten gleichzeitig in einer dem Stand der Technik entsprechenden Qualität empfangen werden können. 2 Angebote von geringer publizistischer Tragweite sind zudem Angebote, welche: a. sich auf die redaktionell unbearbeitete, entgeltliche oder unentgeltliche Wie- dergabe insbesondere folgender Daten beschränken: 1. Zeitangaben und Umweltmessdaten, 2. stehende oder bewegte Wetter- und Meteo-Bilder, 3. Notfallnummern, 4. Hinweise auf Dienstleistungen oder Veranstaltungen der öffentlichen Verwaltung, 5. Fahrzeiten der öffentlichen Verkehrsmittel; und b.2 darüber hinaus weder Sponsoring noch Werbung enthalten mit Ausnahme von Werbung für eigene Produkte und Dienstleistungen. AS 2007 787 1 SR 784.40 2 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 13. Okt. 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 5219). 784.401 Fernmeldeverkehr 2 / 58 784.401 2. Titel: Veranstaltung von Programmen 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen 1. Abschnitt: Meldepflicht Art. 2 Meldepflicht (Art. 3 Bst. a RTVG) 1 Meldepflichtige Veranstalter haben dem Bundesamt für Kommunikation (BAKOM)3 insbesondere folgende Angaben zu liefern: a. Name des Programms sowie Grundzüge des Programminhalts; b. Name der redaktionell verantwortlichen Person; c. Wohnsitz bzw. Sitz des Veranstalters; d. Angaben, die dem Publikum eine rasche und unkomplizierte Kontaktauf- nahme mit dem Veranstalter ermöglichen, insbesondere die E-Mail-Adresse und die Webadresse; e. Art und Gebiet der technischen Verbreitung; f. Identität und Kapital- bzw. Stimmrechtsanteile von Aktionären und anderen Teilhabern, welche mindestens einen Drittel des Kapitals oder der Stimm- rechte besitzen, sowie deren Beteiligungen von mindestens einem Drittel an anderen Unternehmen im Medienbereich; g. Identität der Mitglieder des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung; h. Beteiligungen des Veranstalters an anderen Unternehmen von mindestens ei- nem Drittel des Kapitals oder der Stimmrechte sowie Beteiligungen dieser Unternehmen von mindestens einem Drittel an anderen Unternehmen im Me- dienbereich; i. programmliche Zusammenarbeit mit Dritten; j. Personalbestand; k.4 Zeitpunkt der Aufnahme der Programmveranstaltung. 2 Für die Veranstaltung eines Programms von einer Dauer von höchstens 30 Tagen beschränkt sich die Meldepflicht auf die Angaben nach Absatz 1 Buchstaben a–e. 3 Das BAKOM kann die gemeldeten Angaben veröffentlichen. 4 Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunika- tion (UVEK)5 regelt, welche Änderungen von meldepflichtigen Sachverhalten dem BAKOM innert welcher Frist gemeldet werden müssen. 3 Ausdruck gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 4 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Aug. 2012 (AS 2012 3667). 5 Ausdruck gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. Radio- und Fernsehverordnung 3 / 58 784.401 Art. 3 Korrespondenzadresse (Art. 3 Bst. a RTVG) Meldepflichtige Veranstalter müssen eine Korrespondenzadresse in der Schweiz be- zeichnen, an welche insbesondere Mitteilungen, Vorladungen und Verfügungen rechtsgültig zugestellt werden können. 2. Abschnitt: Inhaltliche Grundsätze Art. 4 Jugendschutz (Art. 5 RTVG) 1 Veranstalter von frei empfangbaren Fernsehprogrammen haben jugendgefährdende Sendungen akustisch anzukündigen oder während ihrer gesamten Sendedauer mit op- tischen Mitteln zu kennzeichnen. 2 Veranstalter von Abonnementsfernsehen müssen es ihren Abonnenten und Abon- nentinnen durch geeignete technische Vorkehrungen ermöglichen, Minderjährige am Zugang zu jugendgefährdenden Inhalten zu hindern. Art. 5 Mindestanteile europäischer Werke und unabhängiger Produktionen (Art. 7 Abs. 1 RTVG) 1 Veranstalter von nationalen und sprachregionalen Fernsehprogrammen sorgen im Rahmen des praktisch Durchführbaren und mit angemessenen Mitteln dafür, dass: a. mindestens 50 Prozent der massgebenden Sendezeit schweizerischen oder an- dern europäischen Werken vorbehalten bleiben; b. in ihren Programmen mindestens 10 Prozent der massgebenden Sendezeit o- der mindestens 10 Prozent der Programmkosten schweizerischen oder andern europäischen Werken vorbehalten bleiben, die von veranstalterunabhängigen Produzenten hergestellt worden sind. Dabei ist ein angemessener Teil Werken vorzubehalten, die nicht älter als fünf Jahre sind. 2 Nicht zur massgebenden Sendezeit im Sinne von Absatz 1 zählen Nachrichten, Be- richte über Sportereignisse, Spielshows, Werbung und Bildschirmtext. 3 Die Veranstalter berichten dem BAKOM im Jahresbericht, inwieweit diese Anteile erreicht oder gegenüber dem Vorjahr Fortschritte erzielt wurden, aus welchen Grün- den dies nicht der Fall ist und welche Massnahmen zur Erreichung dieser Anteile bzw. zur Erzielung von Fortschritten getroffen wurden oder vorgesehen sind. 4 Genügen die Informationen oder die getroffenen Massnahmen zur Erreichung der verlangten Anteile nicht, so ergreift die Aufsichtsbehörde Massnahmen nach Arti- kel 89 Absatz 1 RTVG. Fernmeldeverkehr 4 / 58 784.401 Art. 6 Pflicht zur Förderung des Schweizer Films (Art. 7 Abs. 2 RTVG) 1 Die Pflicht zur Förderung von Schweizer Filmen und von zwischen der Schweiz und dem Ausland koproduzierten Filmen gilt für alle sprachregionalen und nationalen Fernsehveranstalter, auf die folgende Kriterien zutreffen: a. In ihren schweizerischen Programmen oder ausländischen Mantelprogram- men werden Spiel-, Dokumentar- oder Animationsfilme ausgestrahlt. b.6 Ihr jährlicher Betriebsaufwand beträgt mehr als 1 Million Franken. c. Sie strahlen kein Programm mit geringer Sendetätigkeit aus.7 2 Die Veranstalter nach Absatz 1 berichten in ihrem Jahresbericht über die geleistete Filmförderung. Das BAKOM verfügt nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Kul- tur die Höhe einer allfälligen Filmförderungsabgabe. Dabei werden sämtliche im Be- richtsjahr geleisteten Ausgaben für den Ankauf, die Produktion oder die Koproduk- tion von schweizerischen Spiel-, Dokumentar- oder Animationsfilmen angerechnet. 3 Die Verwendung der Filmförderungsabgabe richtet sich nach Artikel 15 Absatz 2 und 3 des Filmgesetzes vom 14. Dezember 20018. Art. 79 Behindertengerechte Aufbereitung von Fernsehsendungen auf den Kanälen der SRG (Art. 7 Abs. 3 und 24 Abs. 3 RTVG) 1 Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) untertitelt ihre Beiträge pro Sprachregion im folgenden Umfang: a. im Fernsehprogramm: drei Viertel der gesamten Sendezeit der redaktionellen Sendungen; b. im Internet: zwei Drittel der Angebote, die nur im Internet angeboten werden. 2 Sie sorgt dafür, dass ein grösstmöglicher Anteil der Sendungen, die in den ersten Fernsehprogrammen zwischen 18 und 22.30 Uhr ausgestrahlt werden, für Sehbehin- derte zugänglich ist. 3 Sie kann die Anteile nach den Absätzen 1 und 2 durch einen schrittweisen Ausbau erreichen. 4 Mindestens eine Informationssendung der SRG muss täglich in jeder Amtssprache in Gebärdensprache aufbereitet sein. 5 Fernsehprogramme, die nach Artikel 25 Absatz 4 RTVG in Zusammenarbeit zwi- schen der SRG und anderen Veranstaltern angeboten werden, müssen mindestens zu einem Drittel untertitelt sein. 6 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 7 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 8 SR 443.1 9 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, in Kraft seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). Radio- und Fernsehverordnung 5 / 58 784.401 6 Das Angebot für Sinnesbehinderte, der Umfang der weiteren von der SRG zu er- bringenden Leistungen sowie der Zeitplan für die Umsetzung werden in einer Verein- barung zwischen der SRG und den betroffenen Behindertenverbänden festgelegt. Kommt keine Vereinbarung zustande oder wird die bestehende Vereinbarung ersatz- los aufgehoben, so legt das UVEK die von der SRG zu erbringenden Leistungen fest. 7 Das BAKOM prüft mindestens alle drei Jahre die Möglichkeit einer Erhöhung des Anteils an behindertengerecht aufbereiteten Fernsehsendungen. Erscheint die gel- tende Regelung als nicht mehr angemessen, so beantragt das UVEK dem Bundesrat deren Änderung. Art. 8 Behindertengerechte Aufbereitung durch andere Fernsehveranstalter (Art. 7 Abs. 3 und 4 RTVG)10 1 Fernsehveranstalter mit nationalem oder sprachregionalem Programmangebot, die ihr Programm nicht in Zusammenarbeit mit der SRG ausstrahlen, müssen den Hör- oder den Sehbehinderten zur Hauptsendezeit wöchentlich mindestens eine behinder- tengerecht aufbereitete Sendung anbieten. 2 Das BAKOM befreit die Fernsehveranstalter von der Pflicht zur behindertengerech- ten Aufbereitung, wenn ihr jährlicher Betriebsaufwand weniger als 1 Million Franken beträgt, wenn ihr Programm für die behindertengerechte Aufbereitung nicht geeignet ist oder wenn sie ein Programm mit geringer Sendetätigkeit ausstrahlen.11 3 Regionale Fernsehveranstalter mit Konzession müssen spätestens die Zweitaus- strahlung ihrer Hauptinformationssendung und die weiteren Wiederholungen unterti- teln. Bei Veranstaltern mit Hauptinformationssendungen in zwei Sprachen gilt dies für beide Sprachen.12 4 Das BAKOM legt den Höchstbetrag der Entschädigung aufgrund der zur Verfügung stehenden Mittel und der voraussichtlichen Höhe des anrechenbaren Aufwandes, der sich aus der Erfüllung der Verpflichtung nach Absatz 3 ergibt, für jeden Veranstalter im Voraus fest. Die definitive Abrechnung erfolgt, sobald der Veranstalter die Schlussabrechnung einreicht.13 Art. 914 Verbreitungspflichten 1 Die SRG sowie sämtliche Veranstalter mit einer Konzession gestützt auf Artikel 38 Absatz 1 Buchstabe a oder 43 Absatz 1 Buchstabe a RTVG müssen folgende Infor- mationen verbreiten: a. dringliche polizeiliche Bekanntmachungen; 10 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 11 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2010 (AS 2010 965). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 12 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 13 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 14 Fassung gemäss Art. 23 Abs. 2 der Alarmierungsverordnung vom 18. Aug. 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 5179). Fernmeldeverkehr 6 / 58 784.401 b. die folgenden Bekanntmachungen im Sinne der Bevölkerungsschutzverord- nung vom 11. November 202015:16 1. behördliche Alarmierungen mit den dazugehörenden Verhaltensanwei- sungen sowie die Aufhebung des Alarms und die Lockerung oder Auf- hebung der Verhaltensanweisungen, 2. behördliche Warnungen vor Naturgefahren und Erdbebenmeldungen der Stufen 4 und 5 sowie entsprechende Entwarnungen, 3. Berichtigungen bei Fehlalarm, 4. Hinweise auf Sirenentests; c.17 ein öffentliches Aufgebot zum Aktivdienst im Sinne von Artikel 3 der Ver- ordnung vom 22. November 201718 über die Mobilmachung zu bestimmten Assistenz- und Aktivdiensten. 2 Die Verbreitung erfolgt auf Anordnung: a. der zuständigen kantonalen Stelle: bei Ereignissen, für deren Bewältigung die Kantone zuständig sind; b.19 der zuständigen Stelle des Bundes, namentlich des Kommandos Operationen, der Bundeskanzlei oder der Nationalen Alarmzentrale (NAZ): bei Ereignis- sen, für deren Bewältigung der Bund zuständig ist; c. der gemäss AV für Warnungen und Erdbebenmeldungen zuständigen Fach- stellen des Bundes: bei Naturgefahren. 3 Die anordnende Stelle sorgt dafür, dass die Veranstalter rechtzeitig und vollständig informiert werden. 4 Die Verbreitung erfolgt: a. im Versorgungsgebiet, das von der Gefahr betroffen sein könnte; b. kostenlos und unter Angabe der Quelle; c. unverzüglich; bei behördlichen Warnungen vor Naturgefahren und bei Erdbe- benmeldungen erfolgt sie bei nächster Gelegenheit oder so schnell als mög- lich; bei Sirenentests erfolgt sie mehrmals vor deren Durchführung; d. grundsätzlich unverändert; Gewitterwarnungen dürfen redaktionell angepasst werden, sofern der Inhalt unverändert bleibt; e.20 bei einem öffentlichen Aufgebot zu einem Aktivdienst in den darauffolgenden 24 Stunden regelmässig. 15 SR 520.12 16 Fassung gemäss Anhang 3 Ziff. II 7 der Bevölkerungsschutzverordnung vom 11. Nov. 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 5087). 17 Eingefügt durch Art. 16 der V vom 22. Nov. 2017 über die Mobilmachung zu bestimmten Assistenz- und Aktivdiensten, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 7525). 18 SR 519.2 19 Fassung gemäss Art. 16 der V vom 22. Nov. 2017 über die Mobilmachung zu bestimmten Assistenz- und Aktivdiensten, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 7525). 20 Eingefügt durch Art. 16 der V vom 22. Nov. 2017 über die Mobilmachung zu bestimmten Assistenz- und Aktivdiensten, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 7525). Radio- und Fernsehverordnung 7 / 58 784.401 5 Das UVEK regelt die Einzelheiten der Verbreitung. Art. 10 Information in Krisensituationen (Art. 8 Abs. 4 RTVG) 1 Ist in einer Krisensituation der direkte Zugang zu den behördlichen Informations- quellen des Bundes aufgrund technischer oder räumlicher Gegebenheiten nicht mehr für alle Veranstalter im gleichen Umfang möglich, so haben die ersten Radiopro- gramme der SRG Vorrang. 2 Die Bundeskanzlei gewährleistet, dass die nicht zugelassenen Programmveranstalter unverzüglich und unentgeltlich Zugang zum entsprechenden elektronischen Rohma- terial der SRG erhalten. 3. Abschnitt: Werbung und Sponsoring Art. 11 Begriffe (Art. 10 Abs. 3 und Art. 2 Bst. k und o RTVG) 1 Nicht als Werbung gelten namentlich: a. Hinweise auf das Programm, in welchem sie ausgestrahlt werden; b.21 Hinweise auf Sendungen in anderen Programmen des gleichen Unternehmens ohne werbenden Charakter; c. ohne Gegenleistung ausgestrahlte Hinweise auf Begleitmaterialien, die inhalt- lich in direktem Zusammenhang mit der Sendung stehen, in welcher sie aus- gestrahlt werden; d. kurze Spendenaufrufe für gemeinnützige Organisationen, sofern eine Gegen- leistung an den Veranstalter höchstens die Produktionskosten deckt. 2 Schleichwerbung ist die Darstellung werbenden Charakters von Waren, Dienstleis- tungen oder Ideen in redaktionellen Sendungen, insbesondere gegen Entgelt. 3 Nicht als Sponsoring einer Sendung gilt deren Koproduktion durch natürliche und juristische Personen, die im Radio- oder Fernsehbereich oder in der Produktion audi- ovisueller Werke tätig sind. Art. 12 Erkennbarkeit der Werbung (Art. 9 RTVG) 1 Werbung muss vom redaktionellen Programmteil durch ein besonderes akustisches beziehungsweise optisches Erkennungssignal getrennt sein. Im Fernsehen ist dabei der Begriff «Werbung» zu verwenden. 21 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Fernmeldeverkehr 8 / 58 784.401 1bis Wird im Fernsehen ein Werbespot bis 10 Sekunden Länge nach Artikel 18 Ab- satz 1 einzeln ausgestrahlt, so kann ausnahmsweise auf ein Erkennungssignal verzich- tet werden, wenn der Werbespot durchgehend und deutlich erkennbar mit dem Begriff «Werbung» gekennzeichnet ist.22 2 In sich geschlossene Werbesendungen im Fernsehen, die länger als 60 Sekunden dauern, müssen durchgehend und deutlich erkennbar mit dem Begriff «Werbung» ge- kennzeichnet sein.23 3 In sich geschlossene Werbesendungen am Radio, die nicht eindeutig als solche er- kennbar sind, dürfen nicht länger als 60 Sekunden dauern. 4 In der Werbung lokaler oder regionaler Radioveranstalter, deren Versorgungsgebiet weniger als 150 000 Einwohner und Einwohnerinnen ab 15 Jahren umfasst, dürfen Programmmitarbeitende mitwirken, wenn sie keine Nachrichtensendungen oder Sen- dungen zum politischen Zeitgeschehen moderieren. Dasselbe gilt für lokale oder re- gionale Fernsehveranstalter, deren Versorgungsgebiet weniger als 250 000 Einwoh- ner und Einwohnerinnen ab 15 Jahren umfasst. Art. 13 Werbung auf geteiltem Bildschirm (Art. 9 Abs. 1 und 11 Abs. 1 RTVG) 1 Werbung darf während der Ausstrahlung des redaktionellen Programms auf einem Teil des Bildschirms eingefügt werden, sofern: a. die Fläche, die der Werbung dient, eine Einheit bildet, an den Bildschirmrand grenzt, den redaktionellen Inhalt optisch nicht trennt und nicht mehr als einen Drittel der Bildschirmfläche bedeckt; b. die Werbung durch klar sichtbare Grenzen und eine unterschiedliche optische Ausgestaltung vom redaktionellen Programm getrennt ist und dauernd durch den deutlich lesbaren Schriftzug «Werbung» gekennzeichnet wird; c. die Werbung sich auf eine optische Darstellung beschränkt. 2 Unzulässig ist die Werbung auf geteiltem Bildschirm in Nachrichtensendungen und Sendungen zum politischen Zeitgeschehen, in Kindersendungen sowie während der Übertragung von Gottesdiensten. 3 Die Werbung auf geteiltem Bildschirm wird der Werbezeit im Sinne von Artikel 19 angerechnet. Art. 14 Interaktive Werbung (Art. 9 Abs. 1 RTVG) 1 Hat das Publikum durch Aktivierung eines am Bildschirm eingeblendeten Signets die Möglichkeit, aus dem Programm in ein interaktives Werbeumfeld zu wechseln, so sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen: 22 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 23 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Radio- und Fernsehverordnung 9 / 58 784.401 a. Nach der Aktivierung muss das Publikum darauf hingewiesen werden, dass es das Fernsehprogramm verlässt und in ein kommerzielles Umfeld gelangt. b. Im Anschluss an den Hinweis nach Buchstabe a muss das Publikum den Ein- tritt in das kommerzielle Umfeld bestätigen. c. Die der Bestätigung unmittelbar folgende Oberfläche darf keine Werbung für Produkte oder Dienstleistungen enthalten, für welche nach Artikel 10 Ab- sätze 1 und 2 RTVG ein Werbeverbot besteht. 2 Wird das Signet, das in das interaktive Werbeumfeld führt, im redaktionellen Teil des Programms eingeblendet, so gelten für das eingeblendete Signet die Bestimmun- gen von Artikel 13. Art. 15 Virtuelle Werbung (Art. 9 Abs. 1 RTVG) 1 Virtuelle Werbung ist die Veränderung des zu verbreitenden Signals, indem am Ort der Aufnahme bestehende Werbeflächen durch andere ersetzt werden. 2 Virtuelle Werbung ist unter folgenden Bedingungen zulässig: a. Die zu ersetzende Werbefläche steht in Zusammenhang mit einem von Dritten organisierten öffentlichen Ereignis. b. Ersetzt wird eine am Ort der Aufnahme bestehende unbewegliche Werbeflä- che, die von Dritten eigens für dieses Ereignis aufgestellt wurde. c. Die auf dem Bildschirm sichtbare Werbung darf nur dann bewegte Bilder ver- wenden, wenn die ersetzte Werbefläche bereits bewegte Bilder enthielt. d. Am Anfang und am Ende der betreffenden Sendung muss darauf hingewiesen werden, dass die Sendung virtuelle Werbung enthält. 3 Unzulässig ist die virtuelle Werbung in Nachrichtensendungen und Sendungen zum politischen Zeitgeschehen, in Kindersendungen sowie während der Übertragung von Gottesdiensten. 4 Die Artikel 9 und 11 RTVG sind nicht anwendbar. Art. 16 Werbung für alkoholische Getränke (Art. 10 Abs. 1 Bst. b und c RTVG) 1 Die Ausgestaltung der Werbung für alkoholische Getränke hat folgende Regeln zu beachten: a. Werbung für alkoholische Getränke darf sich nicht eigens an Minderjährige richten. b. Niemand, der das Aussehen eines Minderjährigen hat, darf mit dem Konsum alkoholischer Getränke in Zusammenhang gebracht werden. c. Der Konsum von alkoholischen Getränken darf nicht mit körperlicher Leis- tung oder mit dem Lenken von Fahrzeugen in Verbindung gebracht werden. Fernmeldeverkehr 10 / 58 784.401 d. Alkoholischen Getränken darf keine therapeutische, anregende oder beruhi- gende Eigenschaft zugesprochen werden und sie dürfen nicht als Mittel zur Lösung persönlicher Probleme dargestellt werden. e. Werbung für alkoholische Getränke darf nicht zum unmässigen Konsum von Alkohol ermutigen oder Abstinenz oder Mässigung in einem negativen Licht erscheinen lassen. f. Der Alkoholgehalt darf nicht betont werden. 2 Vor, während und nach Sendungen, die sich an Kinder oder Jugendliche richten, darf keine Werbung für alkoholische Getränke ausgestrahlt werden. 3 Verkaufsangebote für alkoholische Getränke sind unzulässig. 4 In Programmen, die einem Werbeverbot für alkoholische Getränke unterliegen, darf Werbung für ein alkoholfreies Produkt keine Werbewirkung für alkoholhaltige Ge- tränke erzeugen. Namentlich müssen sich Handlung, Aussagen zum Produkt und zum Hersteller, Gestaltungselemente, Hintergründe und Personen von jenen unterschei- den, welche in der werblichen Kommunikation für alkoholhaltige Getränke desselben Herstellers verwendet werden. Das beworbene Produkt muss im Handel erhältlich sein. Art. 17 Politische Werbung (Art. 10 Abs. 1 Bst. d RTVG) 1 Als politische Partei gilt eine an Volkswahlen teilnehmende Gruppierung. 2 Als politische Ämter gelten Ämter, die in Volkswahlen vergeben werden. 3 Das Werbeverbot für Themen, welche Gegenstand einer Volksabstimmung sind, gilt ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Abstimmungstermins durch die zuständige Behörde. Art. 1824 Einfügung der Werbung (Art. 11 Abs. 1 und 13 Abs. 2 RTVG) 1 Werbespots dürfen zwischen Sendungen und bei der Übertragung von Sportveran- staltungen einzeln gesendet werden. 2 Folgende Sendungen dürfen für jeden programmierten Zeitraum von mindestens 30 Minuten einmal mit Werbung unterbrochen werden: a. Kinospielfilme; b. Fernsehfilme, unter Vorbehalt von Serien, Reihen und Dokumentarfilmen; c. Nachrichtensendungen und Sendungen zum politischen Zeitgeschehen. 3 Kindersendungen und Übertragungen von Gottesdiensten dürfen nicht mit Werbung unterbrochen werden. 24 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Radio- und Fernsehverordnung 11 / 58 784.401 4 Für alle anderen Sendungen, insbesondere für Serien, Reihen und Dokumentarfilme, gelten keine Einschränkungen. 5 Bei der Übertragung von Anlässen, die Pausen enthalten, ist zusätzlich zu Absatz 2 das Einfügen von Werbung in den Pausen erlaubt. 6 In Sendungen, die aus eigenständigen Teilen bestehen, ist das Einfügen von Wer- bung nur zwischen diesen Teilen zulässig. 7 Für nicht konzessionierte Radioprogramme sowie für nicht konzessionierte Fernseh- programme, die nicht im Ausland empfangen werden können, gelten keine Einschrän- kungen bei der Einfügung der Werbung mit Ausnahme der Einschränkung nach Ab- satz 3. Art. 1925 Dauer der Werbung (Art. 11 Abs. 2 RTVG) 1 Werbespots dürfen höchstens zwölf Minuten innerhalb einer natürlichen vollen Stunde beanspruchen.26 2 Für nicht konzessionierte Radioprogramme sowie für nicht konzessionierte Fernseh- programme, die nicht im Ausland empfangen werden können, gelten keine Einschrän- kungen bezüglich der Werbedauer. Art. 2027 Sponsornennung (Art. 12 Abs. 2 und 3 sowie 13 Abs. 4 RTVG) 1 Gesponserte Sendungen sind als solche zu kennzeichnen. Dazu können insbesondere der Name, das Firmenemblem oder ein anderes Symbol, Produkte und Dienstleistun- gen des Sponsors verwendet werden. 2 Jede Sponsornennung muss einen eindeutigen Bezug zwischen Sponsor und Sen- dung herstellen. 3 Die Sponsornennung darf nicht unmittelbar zum Abschluss von Rechtsgeschäften über Waren oder Dienstleistungen anregen, insbesondere nicht durch verkaufsför- dernde Hinweise auf diese Waren oder Dienstleistungen. 4 Während der Ausstrahlung einer Fernsehsendung darf in knapper Form an das Spon- soringverhältnis erinnert werden (Insert). Pro zehn Minuten Sendezeit ist ein Insert pro Sponsor zulässig. In Kindersendungen sind Inserts unzulässig. 25 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 26 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 27 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Fernmeldeverkehr 12 / 58 784.401 Art. 2128 Produkteplatzierung (Art. 9 Abs. 1, 12 Abs. 3 und 13 Abs. 4 RTVG) 1 Waren und Dienstleistungen, die ein Sponsor zur Verfügung stellt, dürfen in die Sendung integriert werden (Produkteplatzierung). Die Produkteplatzierung unterliegt den Bestimmungen über das Sponsoring, soweit dieser Artikel keine abweichenden Regelungen aufstellt. 2 Produkteplatzierungen sind nicht zulässig in Kindersendungen, Dokumentarfilmen und religiösen Sendungen, ausser der Sponsor stellt lediglich Waren oder Dienstleis- tungen von untergeordnetem Wert insbesondere als Produktionshilfen oder Preise kostenlos zur Verfügung und leistet kein zusätzliches Entgelt. 3 Auf Produkteplatzierungen muss am Anfang und am Ende der Sendung sowie nach jeder Werbeunterbrechung eindeutig hingewiesen werden. Für Produkteplatzierun- gen, Produktionshilfen und Preise von untergeordnetem Wert bis 5000 Franken ge- nügt ein einmaliger Hinweis. 4 Von der Kennzeichnungspflicht nach Absatz 3 ausgenommen sind Kinospiel-, Fern- seh- und Dokumentarfilme, die: a. nicht vom Veranstalter selbst oder von einem Unternehmen, das dieser be- herrscht, produziert oder in Auftrag gegeben wurden; b. vom Veranstalter an unabhängige Filmschaffende in Auftrag gegeben und von ihm zu weniger als 40 Prozent mitfinanziert wurden (Koproduktionen). Art. 22 Zusätzliche Werbe- und Sponsoringbeschränkungen in den Programmen der SRG (Art. 14 Abs. 1 und 3 RTVG) 1 In den Fernsehprogrammen der SRG dürfen folgende Sendungen mit Werbung un- terbrochen werden: a. Nachrichtensendungen sowie Sendungen zum politischen Zeitgeschehen: für jeden programmierten Zeitraum von mindestens 90 Minuten einmal; b. andere Sendungen: 1. zwischen 18 und 23 Uhr: für jeden programmierten Zeitraum von min- destens 90 Minuten einmal, 2. während des übrigen Tages: für jeden programmierten Zeitraum von mindestens 30 Minuten einmal.29 1bis Nicht mit Werbung unterbrochen werden dürfen Kindersendungen und Übertra- gungen von Gottesdiensten.30 28 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 29 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 13. Okt. 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 5219). 30 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 13. Okt. 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 5219). Radio- und Fernsehverordnung 13 / 58 784.401 2 In den Fernsehprogrammen der SRG dürfen: a.31 Werbespots und länger dauernde Werbeformen zusammen höchstens 15 Pro- zent der täglichen Sendezeit betragen; b. zwischen 18 und 23 Uhr Werbespots und länger dauernde Werbeformen zu- sammen höchstens 12 Minuten innerhalb einer natürlichen vollen Stunde be- tragen; c. während des übrigen Tages Werbespots höchstens 12 Minuten innerhalb einer natürlichen vollen Stunde betragen. 3 Werbung auf geteiltem Bildschirm und virtuelle Werbung sind unzulässig, ausser bei der Übertragung von Sportveranstaltungen. 4 Die Ausstrahlung von Verkaufssendungen ist unzulässig. 5 Die SRG darf in ihren Radioprogrammen Eigenwerbung ausstrahlen, sofern diese überwiegend der Publikumsbindung dient. 6 Hinweise auf Anlässe, für welche die SRG eine Medienpartnerschaft eingegangen ist, können als Eigenwerbung ausgestrahlt werden, sofern sie überwiegend der Publi- kumsbindung dienen und die Medienpartnerschaft nicht zum Zwecke der Finanzie- rung des Programms abgeschlossen wurde. Eine Medienpartnerschaft liegt vor, wenn zwischen dem Programmveranstalter und dem Organisator eines öffentlichen Anlas- ses eine Zusammenarbeit besteht, wobei der Programmveranstalter sich verpflichtet, auf den Anlass im Programm hinzuweisen und dafür mit Vorteilen vor Ort und ähnli- chen Leistungen entschädigt wird. 7 Sponsornennungen in den Radioprogrammen der SRG dürfen nur Elemente enthal- ten, die der Identifizierung des Sponsors dienen.32 Art. 23 Werbung und Sponsoring im übrigen publizistischen Angebot der SRG (Art. 14 Abs. 3 RTVG) Im übrigen publizistischen Angebot der SRG, das neben den Radio- und Fernsehpro- grammen zur Erfüllung des Programmauftrags notwendig ist und aus der Abgabe für Radio und Fernsehen finanziert wird (Art. 25 Abs. 3 Bst. b RTVG), sind Werbung und Sponsoring unzulässig, mit folgenden Ausnahmen:33 a. Im Programm ausgestrahlte gesponserte Sendungen, die zum Abruf bereitge- halten werden, müssen mit der dazugehörigen Sponsornennung angeboten werden. b. Sendungen, die zum Abruf bereitgehalten werden und Werbung auf geteiltem Bildschirm oder virtuelle Werbung enthalten, dürfen unverändert angeboten werden. 31 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 13. Okt. 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 5219). 32 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 33 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Fernmeldeverkehr 14 / 58 784.401 c. Im Teletextdienst sind Werbung und Sponsoring zugelassen. Es gelten sinn- gemäss die für die Programme der SRG anwendbaren Werbe- und Sponso- ringbestimmungen des RTVG und dieser Verordnung; Einzelheiten werden in der Konzession geregelt. d. In der Konzession können weitere Ausnahmen vorgesehen werden für Ange- bote, die in Zusammenarbeit mit nicht gewinnorientierten Dritten entstehen, sowie bezüglich Eigenwerbung. 4. Abschnitt: Pflichten bei der Programmveranstaltung Art. 24 Meldepflicht bei Änderungen von Beteiligungen am Veranstalter (Art. 16 RTVG) 1 Meldepflichtig ist jeder Übergang von Aktien-, Stamm- oder Genossenschaftskapi- tal oder von Stimmrechten eines konzessionierten Veranstalters im Umfang von min- destens 5 Prozent bzw. eines nicht konzessionierten Veranstalters im Umfang von mindestens einem Drittel. 2 Meldepflichtig ist ausserdem jeder Übergang, durch den sich die wirtschaftliche Be- herrschung des Veranstalters ändert. 3 Die Meldung hat innert eines Monats zu erfolgen. 4 Ausgenommen von der Meldepflicht sind nicht konzessionierte Veranstalter mit ei- nem jährlichen Betriebsaufwand von höchstens 1 Million Franken.34 Art. 25 Meldepflicht bei namhaften Beteiligungen des Veranstalters an anderen Unternehmen (Art. 16 RTVG) 1 Die Beteiligung an einem anderen Unternehmen ist meldepflichtig, wenn ein kon- zessionierter Veranstalter mindestens 20 Prozent bzw. ein nicht konzessionierter Ver- anstalter mindestens einen Drittel des Aktien-, Stamm- oder Genossenschaftskapitals oder der Stimmrechte eines Unternehmens besitzt. 2 Zu melden sind auch alle Veränderungen der nach Absatz 1 meldepflichtigen Betei- ligungen. 3 Die Meldung hat innert eines Monats zu erfolgen. 4 Ausgenommen von der Meldepflicht sind nicht konzessionierte Veranstalter mit ei- nem jährlichen Betriebsaufwand von höchstens 1 Million Franken.35 34 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 35 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). Radio- und Fernsehverordnung 15 / 58 784.401 Art. 26 Auskunftspflicht (Art. 17 Abs. 2 Bst. a RTVG) Der Auskunftspflicht nach Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a RTVG unterliegen auch juristische und natürliche Personen, die im Radio- und Fernsehmarkt oder in einem verwandten Markt tätig sind, und: a. von denen ein konzessionierter Veranstalter mindestens 20 Prozent bzw. ein nicht konzessionierter Veranstalter mindestens einen Drittel des Aktien-, Stamm- oder Genossenschaftskapitals oder der Stimmrechte besitzt; b. die mindestens 20 Prozent des Aktien-, Stamm- oder Genossenschaftskapitals oder der Stimmrechte eines konzessionierten Veranstalters bzw. mindestens einen Drittel eines nicht konzessionierten Veranstalters besitzen. Art. 27 Jahresbericht und Jahresrechnung von Veranstaltern (Art. 18 RTVG) 1 Einen Jahresbericht einzureichen haben alle konzessionierten Veranstalter sowie an- dere Veranstalter, deren jährlicher Betriebsaufwand mehr als 1 Millionen Franken be- trägt.36 2 Der Jahresbericht eines konzessionierten Veranstalters muss namentlich folgende Angaben enthalten: a. den Namen und den Wohnsitz bzw. Sitz des Veranstalters; b. die Identität der Mitglieder des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung; c. die Identität und die Kapital- bzw. Stimmrechtsanteile der Aktionäre und an- derer Teilhaber, welche mindestens 5 Prozent des Kapitals bzw. der Stimm- rechte des Veranstalters besitzen, sowie deren Beteiligungen von mindestens 20 Prozent an anderen Unternehmen im Medienbereich; d. die Beteiligungen des Veranstalters an anderen Unternehmen von mindestens 20 Prozent des Kapitals bzw. der Stimmrechte sowie die Beteiligungen dieser Unternehmen von mindestens 20 Prozent an anderen Unternehmen im Medi- enbereich; e. die Erfüllung der Anforderungen nach Artikel 7 RTVG sowie der gesetzlichen und konzessionsrechtlichen Pflichten und Auflagen, namentlich die Erfüllung des Leistungsauftrags; f. den Programminhalt; g. den Personalbestand; h.37 die Aus- und Weiterbildung der Programmschaffenden; i. die Art und das Gebiet der Verbreitung; 36 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 37 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). Fernmeldeverkehr 16 / 58 784.401 j.38 … k.39 den Gesamtaufwand sowie die Teilaufwände in den Bereichen Personal, Pro- gramm, Verbreitung und Verwaltung; l. den Gesamtertrag sowie die Teilerträge in den Bereichen Werbung und Spon- soring. 3 Der Jahresbericht eines nicht konzessionierten Veranstalters muss namentlich fol- gende Angaben enthalten: a.40 die Angaben nach Absatz 2 Buchstaben a, b, f, g und i; b. die Identität und die Kapital- bzw. Stimmrechtsanteile der Aktionäre und an- derer Teilhaber, welche mindestens einen Drittel des Kapitals bzw. der Stimmrechte des Veranstalters besitzen, sowie deren Beteiligungen von min- destens einem Drittel an anderen Unternehmen im Medienbereich; c. die Beteiligungen des Veranstalters an anderen Unternehmen von mindestens einem Drittel des Kapitals bzw. der Stimmrechte sowie die Beteiligungen die- ser Unternehmen von mindestens einem Drittel an anderen Unternehmen im Medienbereich; d. die Erfüllung der Anforderungen nach Artikel 7 RTVG sowie der gesetzlichen Pflichten und Auflagen; e.41 den Gesamtaufwand und den Gesamtertrag. 4 Das BAKOM kann jene Angaben aus den Jahresberichten veröffentlichen, welche in den Absätzen 2 und 3 ausdrücklich erwähnt sind. 5 Alle konzessionierten Veranstalter haben eine Jahresrechnung, bestehend aus Er- folgsrechnung, Bilanz und Anhang, sowie den Bericht der Revisionsstelle einzurei- chen. Das UVEK kann Vorschriften für die Rechnungslegung sowie für die getrennte Buchführung nach Artikel 41 Absatz 2 RTVG erlassen.42 6 Die Erfolgsrechnung und die Bilanz sind nach besonderem Kontenplan zu erstel- len.43 7 Jahresbericht und Jahresrechnung müssen bis Ende April des Folgejahres beim BAKOM eingereicht werden. 38 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, mit Wirkung seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 39 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 40 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 41 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 42 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Aug. 2012 (AS 2012 3667). 43 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Aug. 2012 (AS 2012 3667). Radio- und Fernsehverordnung 17 / 58 784.401 Art. 28 Aufzeichnungspflicht (Art. 20 RTVG) 1 Veranstalter mit einem unmoderierten Musikprogramm ohne Werbung und Sponso- ring sind von der Aufzeichnungspflicht befreit. Das Programm muss mittels Sende- listen rekonstruierbar sein. 2 Die Veranstalter nach Absatz 1 sind verpflichtet, auf Verlangen der Aufsichtsbe- hörde die ausgestrahlten Musiktitel zu beschaffen und herauszugeben. 3 Die Aufzeichnungs- und Aufbewahrungsfrist für Beiträge im übrigen publizisti- schen Angebot der SRG beträgt: a. für im Programm ausgestrahlte Sendungen, die zum Abruf bereitgehalten wer- den: vier Monate ab der Ausstrahlung im Programm; b. für Beiträge im selben Wahl- oder Abstimmungsdossier (Art. 92 Abs. 4 RTVG): vier Monate ab der Publikation, längstens aber zwei Monate nach dem Wahl- oder Abstimmungstag; c. für die übrigen von der Redaktion gestalteten Beiträge: zwei Monate ab der Publikation.44 4 Der Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht nach Absatz 3 unterliegen Beiträge, die unverändert mindestens 24 Stunden publiziert waren.45 5. Abschnitt: Rundfunkstatistik Art. 29 Organisation (Art. 19 RTVG) Das BAKOM stellt die Erhebung und Bearbeitung der Daten und die weiteren statis- tischen Arbeiten sicher, die für die Erstellung der Statistik nach Artikel 19 Absatz 1 RTVG (Rundfunkstatistik) erforderlich sind. Es koordiniert die Arbeiten in Anwen- dung der Verordnung vom 30. Juni 199346 über die Organisation der Bundesstatistik mit dem Bundesamt für Statistik und arbeitet mit diesem zusammen. Art. 30 Beschaffung der Daten (Art. 19 RTVG) 1 Für die Erstellung der Rundfunkstatistik verwendet das BAKOM die durch den Vollzug der Radio- und Fernsehgesetzgebung erlangten Daten, insbesondere die An- gaben im Rahmen der Meldepflicht und in den Jahresberichten nach Artikel 27 Ab- sätze 2 und 3. 2 Das BAKOM kann: 44 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 45 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 46 SR 431.011 Fernmeldeverkehr 18 / 58 784.401 a. bei den Veranstaltern schweizerischer Programme weitere für die Rundfunk- statistik erforderliche Daten erheben; b. die von anderen Behörden und Organisationen durch den Vollzug von Bun- desrecht erlangten Daten heranziehen. 3 Die Veranstalter stellen dem BAKOM die zur Erstellung der Rundfunkstatistik er- forderlichen Informationen in der gewünschten Form unentgeltlich zur Verfügung. Art. 31 Verwendung der Daten (Art. 19 RTVG) 1 Die ausschliesslich zu Statistikzwecken beschafften Daten dürfen nicht zu anderen Zwecken verwendet werden, es sei denn, es bestehe eine gesetzliche Grundlage oder der betroffene Veranstalter habe seine schriftliche Einwilligung gegeben. 2 Um den Datenschutz und das Statistikgeheimnis zu wahren, trifft das BAKOM die notwendigen technischen und organisatorischen Massnahmen gegen die missbräuch- liche Bearbeitung der von ihm verwendeten Daten. 3 Das BAKOM kann die Daten nach Absatz 1 für statistische und wissenschaftliche Arbeiten weitergeben, sofern gewährleistet ist, dass die Empfänger den Datenschutz einhalten. Art. 32 Veröffentlichung statistischer Ergebnisse (Art. 19 RTVG) 1 Das BAKOM publiziert die statistischen Ergebnisse, die von öffentlichem Interesse sind. Es kann sie durch ein Abrufverfahren zugänglich machen. 2 Die Ergebnisse nach Absatz 1 müssen eine Form aufweisen, welche jede Identifi- zierung einer natürlichen oder juristischen Person ausschliesst, es sei denn, die bear- beiteten Daten seien vom BAKOM oder von der betroffenen Person selbst der Öffent- lichkeit zugänglich gemacht worden oder die Person stimme der Veröffentlichung zu. 3 Die Verwendung oder die Reproduktion von statistischen Ergebnissen nach Ab- satz 1 ist unter Quellenangabe gestattet. Das BAKOM kann Ausnahmen vorsehen. 6. Abschnitt: Erhaltung von Programmen Art. 3347 Archive der SRG (Art. 21 RTVG) 1 Die SRG sorgt für eine dauerhafte Erhaltung ihrer Sendungen. 2 Sie macht ihre Sendungsarchive der Öffentlichkeit in geeigneter Form zum Eigen- gebrauch und zur wissenschaftlichen Nutzung zugänglich, unter Respektierung von Rechten Dritter. 47 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Radio- und Fernsehverordnung 19 / 58 784.401 3 Bei den Aufgaben nach den Absätzen 1 und 2 arbeitet die SRG mit Fachinstitutionen im Bereich des audiovisuellen Erbes zusammen, um sicherzustellen, dass die Archi- vierung nach fachlich anerkannten Standards vorgenommen wird und der Zugang nach solchen Standards gewährt wird. 4 Der Aufwand der SRG wird beim Bedarf nach Artikel 68a Absatz 1 Buchstabe a RTVG berücksichtigt. Art. 33a48 Archive von anderen schweizerischen Programmveranstaltern (Art. 21 RTVG) 1 Das BAKOM kann Projekte im Bereich der dauerhaften Erhaltung von Sendungen anderer schweizerischer Programmveranstalter unterstützen. 2 Sendungen, welche mit Unterstützung des BAKOM dauerhaft erhalten wurden, sind der Öffentlichkeit in geeigneter Form zur privaten und wissenschaftlichen Nutzung zugänglich zu machen, unter Respektierung von Rechten Dritter. 7. Abschnitt: Konzessionsabgabe Art. 34 Erhebung der Konzessionsabgabe (Art. 15 und 22 RTVG) 1 Als Bruttoeinnahmen aus Werbung und Sponsoring gelten alle Erträge, welche im Programm eines konzessionierten Veranstalters von diesem selbst oder von Dritten mit Werbung und Sponsoring erzielt werden. 2 Die Konzessionsabgabe beträgt pro Kalenderjahr 0,5 Prozent der 500 000 Franken übersteigenden Bruttoeinnahmen. Ist die Abgabe lediglich für einen Teil des Jahres geschuldet, so wird der Freibetrag verhältnismässig gekürzt. 3 Die Konzessionsabgabe wird auf Grund der im vorangegangenen Kalenderjahr er- zielten Bruttoeinnahmen erhoben. 4 In den ersten beiden Betriebsjahren des Veranstalters bemisst sich die Konzessions- abgabe nach den im Voranschlag budgetierten Bruttoeinnahmen. Erweist sich der Be- trag der Abgabe nach Prüfung der tatsächlich in diesen Jahren erzielten Bruttoeinnah- men als zu hoch oder zu niedrig, so wird eine Rückvergütung oder ein Nachbezug verfügt. 5 Erlischt die Konzession, so wird die Konzessionsabgabe für das Jahr der Einstellung des Sendebetriebs und das vorangegangene Kalenderjahr auf Grund der in diesen Jah- ren erzielten Bruttoeinnahmen erhoben. Erweist sich der bis zur Einstellung des Sen- debetriebs erhobene Betrag als zu hoch oder zu niedrig, so wird eine Rückvergütung oder ein Nachbezug verfügt. 48 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Fernmeldeverkehr 20 / 58 784.401 6 Das BAKOM überprüft die gemeldeten Bruttoeinnahmen und erlässt die Abgabe- verfügung. Mit der Überprüfung kann das BAKOM aussenstehende Sachverständige betrauen. 2. Kapitel: Leistungsvereinbarung über das Auslandangebot der SRG49 (Art. 28 Abs. 1 RTVG) Art. 35 Die Vereinbarung zwischen dem Bundesrat und der SRG über das publizistische An- gebot für das Ausland wird in Form einer Leistungsvereinbarung für jeweils vier Jahre abgeschlossen. 3. Kapitel: Andere Veranstalter mit Leistungsauftrag Art. 36 Komplementäre nicht gewinnorientierte Radioprogramme (Art. 38 Abs. 1 Bst. b RTVG) 1 Ein komplementäres nicht gewinnorientiertes Radioprogramm muss sich thema- tisch, kulturell und musikalisch von anderen konzessionierten Radioprogrammen un- terscheiden, die im fraglichen Versorgungsgebiet zu empfangen sind. Insbesondere muss ein solches Programm die sprachlichen und kulturellen Minderheiten im Ver- sorgungsgebiet berücksichtigen. 2 In einem solchen Radioprogramm ist die Ausstrahlung von Werbung nicht zulässig, mit Ausnahme von Eigenwerbung, die überwiegend der Publikumsbindung dient, ein- schliesslich Hinweisen auf Medienpartnerschaften im Sinne von Artikel 22 Ab- satz 6.50 Art. 3751 Art. 3852 Versorgungsgebiete (Art. 39 Abs. 1 RTVG) Die Anzahl und die Ausdehnung der Versorgungsgebiete, in denen Konzessionen er- teilt werden, sowie die Verbreitungsart sind festgelegt: a. in Anhang 1 für Radioveranstalter; b. in Anhang 2 für Fernsehveranstalter. 49 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Aug. 2012 (AS 2012 3667). 50 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. Sept. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 526). 51 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, mit Wirkung seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 52 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Juli 2007, in Kraft seit 1. Aug. 2007 (AS 2007 3555). Radio- und Fernsehverordnung 21 / 58 784.401 Art. 3953 Festlegung des Abgabenanteils (Art. 40 RTVG) 1 Der jährliche Abgabenanteil entspricht: a. bei Veranstaltern von komplementären nicht gewinnorientierten Radiopro- grammen: höchstens 80 Prozent ihres Betriebsaufwands; b. bei Radio- und Fernsehveranstaltern, die ihren Leistungsauftrag aufgrund der Besonderheiten des Versorgungsgebiets nur mit einem besonders hohen Auf- wand erfüllen können: höchstens 80 Prozent ihres Betriebsaufwands; c. bei den übrigen Radio- und Fernsehveranstaltern: höchstens 70 Prozent ihres Betriebsaufwands. 2 Der Höchstwert wird in der Konzession festgehalten. 3 Das UVEK überprüft die Abgabenanteile der Veranstalter in der Regel nach fünf Jahren und legt sie gegebenenfalls neu fest. Art. 4054 Verwaltung der Abgabenanteile durch den Bund (Art. 68a und 109a RTVG) 1 Die Saldi der vom Bund eingenommenen Abgabenanteile nach den Artikeln 68a und 109a Absätze 1 und 2 RTVG werden in der Bilanz des Bundes ausgewiesen.55 2 Das BAKOM veröffentlicht den Ertrag und die Verwendung der Abgabenanteile nach Absatz 1. 3 Nicht verwendeter Ertrag wird bei der nächsten Festlegung der Höhe der Abgabeta- rife berücksichtigt.56 Art. 41 Pflichten des Konzessionärs (Art. 41 Abs. 1 RTVG) 1 Programmveranstalter mit einer Konzession mit Abgabenanteil57 müssen erstellen: a. eine Geschäftsordnung, aus der die Aufgabenverteilung und die Verantwort- lichkeiten hervorgehen; b. ein Redaktionsstatut; und c. ein Leitbild, welches die Vorkehrungen zur Erfüllung des Leistungsauftrags beschreibt. 53 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. April 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 1461). 54 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 55 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, in Kraft seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). 56 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, in Kraft seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). 57 Ausdruck gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. Fernmeldeverkehr 22 / 58 784.401 2 Das UVEK kann in der Konzession weitere Pflichten festlegen, die der Wahrung der Meinungs- und Angebotsvielfalt, dem Schutz der redaktionellen Unabhängigkeit oder der Sicherstellung der Erfüllung des Leistungsauftrags dienen. Namentlich kann es die Einrichtung einer beratenden Programmkommission oder in Gebieten mit nur ei- nem Veranstalter mit Abgabenanteil eine repräsentative Trägerschaft verlangen. 3 Das UVEK kann in der Konzession die Ausstrahlung bestimmter Sendungsarten un- tersagen, welche der Erfüllung des Leistungsauftrages zuwiderlaufen. Art. 42 Programmproduktion des Konzessionärs (Art. 44 Abs. 1 Bst. a RTVG) Das während der Hauptsendezeit ausgestrahlte Programm eines Veranstalters mit Leistungsauftrag muss in der Regel überwiegend im Versorgungsgebiet produziert werden. Art. 43 Konzessionierungsverfahren (Art. 45 Abs. 1 RTVG) 1 Das BAKOM führt die Ausschreibungsverfahren durch. 2 Die öffentliche Ausschreibung einer Konzession muss mindestens enthalten: a. Ausdehnung des Versorgungsgebiets und Art der Verbreitung; b. Umschreibung des Leistungsauftrags; c. bei Konzessionen nach Artikel 38 RTVG: Höhe des jährlichen Abgabenan- teils sowie dessen Höchstanteil an den Betriebskosten des Veranstalters; d. Dauer der Konzession; e. Zuschlagskriterien. 3 Der Bewerber muss alle für die Prüfung der Bewerbung erforderlichen Angaben einreichen. Ist die Bewerbung unvollständig oder mit mangelhaften Angaben verse- hen, so kann das BAKOM nach Gewährung einer Nachfrist auf eine Behandlung der Bewerbung verzichten. 4 Das BAKOM leitet alle für die Beurteilung der Bewerbung erheblichen Unterlagen an die interessierten Kreise weiter. Der Bewerber kann ein überwiegendes privates Interesse geltend machen und verlangen, dass bestimmte Angaben von der Weiterlei- tung ausgenommen werden. Im Anschluss an das Verfahren erhält der Bewerber Ge- legenheit, zu den Äusserungen der interessierten Kreise Stellung zu nehmen. 5 Treten zwischen Veröffentlichung der Ausschreibung und Konzessionserteilung ausserordentliche Veränderungen ein, so kann die Konzessionsbehörde das Verfahren anpassen, sistieren oder abbrechen. Radio- und Fernsehverordnung 23 / 58 784.401 Art. 4458 Konzessionen für Programme von kurzer Dauer (Art. 45 Abs. 2 RTVG) 1 Das BAKOM kann Konzessionen für die Veranstaltung von lokalen oder regionalen Programmen von kurzer Dauer erteilen, die drahtlos-terrestrisch verbreitet werden. Ein Programm darf an höchstens 30 Tagen innerhalb eines Zeitraums von höchstens 60 Tagen verbreitet werden. 2 Ein Veranstalter erhält pro Kalenderjahr höchstens eine solche Konzession. 3 Konzessionen für Programme von kurzer Dauer werden ohne Ausschreibung auf Gesuch hin erteilt, wenn voraussichtlich nicht mehr Veranstalter interessiert sind, als Frequenzen verfügbar sind. 4 Solche Konzessionen können namentlich erteilt werden aus Anlass eines bedeuten- den Ereignisses im Versorgungsgebiet, zur Unterstützung der Unterrichts- und Aus- bildungstätigkeit oder im Rahmen der Jugendarbeit. 4. Kapitel:59 Leistungsvereinbarung mit einer Nachrichtenagentur von nationaler Bedeutung (Art. 68a Abs. 1 Bst. b RTVG) Art. 44a 1 Das UVEK kann mit einer Nachrichtenagentur von nationaler Bedeutung auf Ge- such hin eine Leistungsvereinbarung zur Sicherstellung von regionaler Berichterstat- tung sowie zuverlässigen Basisdienstleistungen für alle Sprachregionen abschliessen. 2 Der Bund kann sich an den ungedeckten Kosten der förderberechtigten Dienstleis- tungen mit höchstens vier Millionen Franken pro Jahr beteiligen.60 3 Die Unterstützung kann gewährt werden, wenn die Agentur eine nach Sparten ge- gliederte Rechnung führt und diese Rechnung den Nachweis der ungedeckten Kosten der förderberechtigten Sparten ermöglicht. 4 Sie wird aus dem Ertrag der Abgabe für Radio und Fernsehen finanziert. 5 Die Leistungsvereinbarung wird jeweils für eine Dauer von höchstens zwei Jahren abgeschlossen. 6 Die Bestimmungen des Subventionsgesetzes vom 5. Oktober 199061 sind anwend- bar. 58 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 59 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, in Kraft seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). 60 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. April 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 1461). 61 SR 616.1 Fernmeldeverkehr 24 / 58 784.401 3. Titel: Übertragung und Aufbereitung von Programmen 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 45 Ausreichende Qualität der Verbreitung (Art. 55 Abs. 1 und 59 Abs. 3 RTVG) 1 Zugangsberechtigte Programme und verbreitungspflichtige gekoppelte Dienste nach Artikel 46 dieser Verordnung müssen zeitverzugslos, unverändert und vollständig verbreitet werden. 2 Das UVEK regelt die technischen Anforderungen an eine ausreichende Qualität der Verbreitung von zugangsberechtigten Programmen und von verbreitungspflichtigen gekoppelten Diensten über drahtlos-terrestrische Netze (Art. 55 Abs. 1 RTVG) und über Leitungen (Art. 59 Abs. 3 RTVG). Es berücksichtigt dabei internationale Nor- men und Empfehlungen. Je nach Art des Programms und der Verbreitung kann es unterschiedliche Qualitätsstufen vorsehen. Art. 46 Verbreitungspflicht für gekoppelte Dienste (Art. 55 Abs. 3, 59 Abs. 6 und 60 Abs. 4 RTVG) 1 Verbreitet eine Fernmeldedienstanbieterin ein zugangsberechtigtes Programm, so sind damit auch die folgenden vom Veranstalter angebotenen gekoppelten Dienste zu verbreiten: a. schmalbandige Datenübertragung in Schrift und Bild; b. mehrere Tonkanäle; c. Steuersignal für die analoge oder digitale Aufnahmemöglichkeit; d.62 Dienste für Sinnesbehinderte im Sinne der Artikel 7 Absätze 3 und 4 und 24 Absatz 3 RTVG; e. programmbegleitende Zusatzinformationen für Radio; f. Dolby Digital; g. Informationen für den elektronischen Programmführer. 2 Verbreitet eine Fernmeldedienstanbieterin ein nicht zugangsberechtigtes Programm, so sind auch die damit gekoppelten Dienste für Sinnesbehinderte im Sinne der Arti- kel 7 Absatz 3 und 24 Absatz 3 RTVG zu verbreiten. 3 Das UVEK kann technische Vorschriften erlassen und für bestimmte Technologien Ausnahmen von der Verbreitungspflicht für gekoppelte Dienste vorsehen. 62 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Radio- und Fernsehverordnung 25 / 58 784.401 2. Kapitel: Drahtlos-terrestrische Programmverbreitung 1. Abschnitt: Nutzung von Funkfrequenzen Art. 47 Nutzung von Funkfrequenzen für die Verbreitung von Radio- und Fernsehprogrammen (Art. 54 Abs. 4 RTVG und Art. 24 Abs. 1bis FMG) 1 Der Bundesrat erlässt Richtlinien für die Nutzung von Funkfrequenzen, welche nach dem nationalen Frequenzzuweisungsplan (Art. 25 Fernmeldegesetz vom 30. April 199763) ganz oder teilweise für die Verbreitung von Radio- und Fernsehprogrammen vorgesehen sind, und für die Erteilung von Funkkonzessionen für solche Frequenzen. 2 Vor dem Erlass der Richtlinien werden die Eidgenössische Kommunikationskom- mission und die interessierten Kreise angehört. 3 Funkkonzessionen für die Nutzung von Frequenzen nach Absatz 1 dürfen erst öf- fentlich ausgeschrieben bzw. erteilt werden, wenn das UVEK gestützt auf die Richt- linien nach Absatz 1 die Einzelheiten der konkreten Frequenznutzung festgelegt hat. Art. 48 Kostenorientierte Entschädigung der Verbreitung (Art. 55 Abs. 2 RTVG) 1 Als anrechenbare Kosten für die Berechnung der kostenorientierten Entschädigung nach Artikel 55 Absatz 2 RTVG gelten die Kosten der Fernmeldedienstanbieterin, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Verbreitung des betreffenden Pro- gramms stehen (relevante Kosten). Diese umfassen: a. die Zusatzkosten der vom Veranstalter in Anspruch genommenen Teile der Anlage; und b. einen verhältnismässigen Anteil an den gemeinsamen Kosten und den Ge- meinkosten. 2 Die Festlegung der Kosten nach Absatz 1 muss nach folgenden Grundsätzen gesche- hen: a. Die Kosten entsprechen den Aufwendungen und Investitionen einer effizien- ten Anbieterin. b. Die Anlagen werden an Hand von Buchwerten bewertet. c. Die Abschreibungsdauer trägt der wirtschaftlichen Lebensdauer der Anlagen Rechnung. d. Die für die Berechnung verwendeten Daten müssen transparent sein und aus zuverlässigen Quellen stammen. e. Die Verzinsung des eingesetzten Kapitals erfolgt nach branchenüblichen An- sätzen. 3 Verbreitet eine Fernmeldedienstanbieterin zugangsberechtigte Programme, so trennt sie diese Tätigkeit buchhalterisch von allfälligen anderen Tätigkeiten und stellt den 63 SR 784.10 Fernmeldeverkehr 26 / 58 784.401 Aufwand für die Programmverbreitung den Veranstaltern getrennt in Rechnung. Die Fernmeldedienstanbieterin führt die Rechnungslegung nach den anerkannten Grunds- ätzen der besten Praxis. 2. Abschnitt: Unterstützung der Verbreitung von Radioprogrammen (Art. 57 RTVG) Art. 49 1 Ein Beitrag nach Artikel 57 Absatz 1 RTVG wird an Veranstalter von Radiopro- grammen mit einem Abgabenanteil ausgerichtet, deren jährlicher Betriebsaufwand für die Verbreitung des Programms und die Zuführung des Sendesignals, gemessen an den versorgten Personen, ausserordentlich hoch ist. 2 Das UVEK legt fest, ab welchem Aufwand je versorgte Person ein Veranstalter An- recht auf einen Beitrag hat und welche Leistungen als Aufwand anrechenbar sind. 3 Der verfügbare Kredit wird im Verhältnis zum Aufwand je versorgte Person auf die beitragsberechtigten Veranstalter aufgeteilt. Grundlage für die Berechnung bildet der Betriebsaufwand für die Verbreitung und die Signalzuführung des Vorjahrs.64 3bis Ein Beitrag darf höchstens ein Viertel dieses Betriebsaufwands ausmachen. Wird aufgrund dieser Einschränkung nicht der ganze Kredit ausgeschöpft, so wird die ver- bleibende Summe nach dem Grundsatz von Absatz 3 auf diejenigen beitragsberech- tigten Veranstalter aufgeteilt, deren Betriebsaufwand noch nicht zu einem Viertel ge- deckt ist.65 4 Steht einem Veranstalter ein Beitrag zu, so legt das BAKOM diesen jährlich in einer Verfügung fest. Liefert der Veranstalter die erforderlichen Angaben im Rahmen der jährlichen Berichterstattung nicht fristgemäss (Art. 27 Abs. 7) oder nicht vollständig, so dass die Angaben bei der Berechnung der Beiträge nach Absatz 3 nicht berücksich- tigt werden können, so hat der Veranstalter für das betreffende Jahr kein Anrecht auf einen Beitrag. 5 In den ersten beiden Betriebsjahren eines Veranstalters bildet dessen budgetierter Aufwand für das Beitragsjahr, hochgerechnet auf ein ganzes Jahr, die Berechnungs- grundlage. Erweist sich ein ausbezahlter Beitrag auf Grund des tatsächlichen Auf- wands als zu hoch oder zu niedrig, so wird eine Rückvergütung oder ein im Rahmen der verfügbaren Kredite liegender Nachbezug verfügt. 64 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 65 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Radio- und Fernsehverordnung 27 / 58 784.401 3. Abschnitt: Investitionsbeiträge für neue Technologien Art. 5066 Förderungswürdige Verbreitungstechnologien (Art. 58 RTVG) 1 Das BAKOM kann Beiträge an die Einführung von «Terrestrial Digital Audio Broadcasting (T-DAB)» ausrichten. 2 Das UVEK legt vorgängig fest, ab wann ausreichende anderweitige Finanzierungs- möglichkeiten vorhanden sind. Dabei berücksichtigt es insbesondere die Verfügbar- keit von Empfangsgeräten und deren Nutzung. 3 Beiträge für eine bestimmte Verbreitungsart können einem Veranstalter während höchstens zehn Jahren ausgerichtet werden. Art. 5167 Art und Bemessung der Förderleistungen (Art. 58 RTVG) 1 Beiträge an die Einführung neuer Verbreitungstechnologien werden nur auf Gesuch hin ausgerichtet. 2 Sie werden nur an schweizerische Programmveranstalter ausgerichtet. 3 Die Förderleistung beträgt höchstens 80 Prozent der Kosten für die Verbreitung des Programms. Anrechenbar sind nur Verbreitungskosten, die im Verhältnis zum Nutzen angemessen sind. 4 Reichen die verfügbaren Mittel des BAKOM nicht aus, um allen Gesuchen zu ent- sprechen, die die Voraussetzungen erfüllen, so werden alle Beiträge im betreffenden Jahr im gleichen Verhältnis gekürzt. Das UVEK kann eine Prioritätenordnung festle- gen. 5 Das Subventionsgesetz vom 5. Oktober 199068 ist anwendbar. 3. Kapitel: Verbreitung über Leitungen Art. 52 Programme ausländischer Veranstalter (Art. 59 Abs. 2 RTVG) 1 Als ausländische Programme, die nach Artikel 59 Absatz 2 RTVG über Leitungen zu verbreiten sind, kommen Programme in Betracht, die in einer schweizerischen Lan- dessprache ausgestrahlt werden und einen besonderen Beitrag zur Erfüllung des ver- fassungsrechtlichen Leistungsauftrages namentlich dadurch erbringen, dass sie: a. im Rahmen aufwändiger redaktioneller Formate vertieft über gesellschaftli- che, politische, wirtschaftliche oder kulturelle Phänomene berichten; 66 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 67 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 68 SR 616.1 Fernmeldeverkehr 28 / 58 784.401 b. künstlerischen Filmproduktionen breiten Raum gewähren; c. besondere redaktionelle Beiträge zur Bildung des Publikums liefern; d. besondere redaktionelle Beiträge für jugendliche, alte oder sinnesbehinderte Menschen ausstrahlen; oder e. regelmässig schweizerische Beiträge ausstrahlen oder sich regelmässig mit schweizerischen Themen befassen. 2 Die ausländischen Programme nach Absatz 1 sowie das Gebiet, in welchem sie über Leitungen verbreitet werden müssen, sind im Anhang aufgeführt. Art. 53 Höchstzahl der zugangsberechtigten Programme (Art. 59 Abs. 3 und 60 Abs. 2 RTVG) Die Höchstzahl der nach den Artikeln 59 und 60 RTVG in einem bestimmten Gebiet unentgeltlich über Leitungen zu verbreitenden Programme beträgt: a. für die analoge Verbreitung von Radioprogrammen: 25; b. für die digitale Verbreitung von Radioprogrammen: 50; c.69 … d. für die digitale Verbreitung von Fernsehprogrammen: 30. Art. 54 Zur Verbreitung verpflichtete Fernmeldedienstanbieterinnen (Art. 59 Abs. 4 RTVG) 1 Zur Verbreitung verpflichtet sind programmverbreitende Fernmeldedienstanbiete- rinnen, die mindestens 100 Haushalte erreichen. 1bis Das UVEK kann die Pflicht zur analogen Verbreitung der Fernsehprogramme nach den Artikeln 59 und 60 RTVG aufheben, sofern diese digital verbreitet und von einer überwiegenden Mehrheit des Publikums digital empfangen werden. Es kann dies für alle oder für bestimmte Programme sowie für das ganze Land oder für bestimmte Gebiete tun.70 2 …71 3 …72 69 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, mit Wirkung seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 70 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Aug. 2012 (AS 2012 3667). 71 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, mit Wirkung seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 72 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2010 (AS 2010 965). Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, mit Wirkung seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). Radio- und Fernsehverordnung 29 / 58 784.401 Art. 5573 4. Kapitel: Aufbereitung Art. 56 Offene Schnittstellen und technische Ausgestaltung (Art. 64 RTVG) 1 Verwendet die Fernmeldedienstanbieterin ein anderes Verfahren zur Aufbereitung als der Veranstalter, so sind die Programme und die daran gekoppelten Dienste so auszustrahlen, dass das Publikum sie in einer den Anforderungen von Artikel 45 ent- sprechenden Qualität nutzen kann. 2 Bestehen internationale Standards für Vorrichtungen oder Dienste, die der Aufbe- reitung von Programmen dienen oder bezüglich offener Schnittstellen, kann das UVEK diese Standards für verbindlich erklären, soweit dies für die Sicherung der Meinungsvielfalt erforderlich ist. 3 Die Fernmeldedienstanbieterin hat dem Veranstalter die Verwaltung seiner Kunden- beziehungen zu ermöglichen. Fernmeldedienstanbieterinnen und Veranstalter regeln die technische und die kommerzielle Umsetzung der Verwaltung der Kundenbezie- hungen vertraglich. Das UVEK kann technische und administrative Anforderungen erlassen. 4 Die Fernmeldedienstanbieterin darf Daten, die sie im Zusammenhang mit der Um- setzung von Absatz 3 erhalten hat, nicht zu anderen Zwecken verwenden und insbe- sondere nicht an andere Geschäftseinheiten, Tochtergesellschaften, Partnerunterneh- men und Dritte weitergeben. 73 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, mit Wirkung seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). Fernmeldeverkehr 30 / 58 784.401 4. Titel:74 Abgabe für Radio und Fernsehen 1. Kapitel: Haushaltabgabe Art. 5775 Höhe der Abgabe (Art. 68a RTVG) Die Abgabe je Haushalt beträgt pro Jahr: Franken a. für einen Privathaushalt 335.– b. für einen Kollektivhaushalt 670.– Art. 58 Erhebung der Abgabe (Art. 69 RTVG) 1 Die Erhebungsstelle erhebt die Haushaltabgabe für eine Abgabeperiode von jeweils einem Jahr. Sie legt den Beginn der Abgabeperiode gestaffelt fest. 2 Jede abgabepflichtige Person kann für den Haushalt, dem sie angehört, Dreimonats- rechnungen verlangen. 3 Die Erhebungsstelle stellt die Rechnung jeweils im ersten Monat der Rechnungspe- riode zu. 4 Für die Rechnungsstellung stützt sich die Erhebungsstelle auf die Haushaltbildung, welche der Erhebungsstelle zu Beginn des ersten Monats der Abgabeperiode nach Artikel 67 Absatz 3 mitgeteilt wurde. Art. 59 Fälligkeit, Nachforderung, Rückerstattung und Verjährung (Art. 69 Abs. 3 RTVG) 1 Die Abgabe wird 60 Tage nach Stellung einer Jahresrechnung und 30 Tage nach Stellung einer Dreimonatsrechnung fällig. 2 Hat die Erhebungsstelle die Abgabe nicht in Rechnung gestellt oder erweist sich die Rechnung als unrichtig, so fordert sie den betreffenden Betrag nach oder erstattet ihn zurück. 3 Die Verjährungsfrist für die Abgabe beginnt mit der Fälligkeit der Abgabe und be- trägt fünf Jahre. Art. 60 Gebühren für Dreimonatsrechnungen, Mahnung und Betreibung (Art. 68 RTVG) 1 Die Erhebungsstelle kann folgende Gebühren in Rechnung stellen: 74 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 75 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. April 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 1461). Radio- und Fernsehverordnung 31 / 58 784.401 Franken a. für jede Dreimonatsrechnung einen Zuschlag für die Rechnungsstel- lung in Papierform 2.– b. für eine Mahnung 5.– c. für eine zu Recht angehobene Betreibung 20.– 2 Die Erhebungsstelle informiert die Haushalte mit jeder Rechnungsstellung über diese Gebühren. Art. 61 Befreiung von der Abgabepflicht (Art. 69b RTVG) 1 Die Erhebungsstelle überprüft mindestens alle drei Jahre, ob die Voraussetzung für die Befreiung eines Privathaushalts von der Abgabepflicht nach Artikel 69b Absatz 1 Buchstabe a RTVG noch gegeben ist. Ist die Voraussetzung nicht mehr gegeben, so erhebt die Erhebungsstelle die Abgabe ab dem Folgemonat nach dem Wegfall. 2 Die Mitglieder eines Haushaltes sind verpflichtet, der Erhebungsstelle umgehend zu melden, dass die Voraussetzung für die Befreiung des Haushalts von der Abgabe- pflicht nach Artikel 69b Absatz 1 Buchstabe a RTVG nicht mehr gegeben ist. 3 Von der Abgabepflicht befreit sind: a. das diplomatische Personal, die konsularischen Beamten, das Verwaltungs- und technische Personal sowie das Dienstpersonal der diplomatischen Missi- onen, der ständigen Missionen oder anderer Vertretungen bei zwischenstaat- lichen Organisationen und der durch Berufs-Konsularbeamte geführten kon- sularischen Posten, wenn sie im Besitz einer Legitimationskarte des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sind (Legitimationskarten Typ B, C, D, E, K rot, K blau oder K violett) und die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht besitzen; b. die Mitglieder der hohen Direktion (Legitimationskarte Typ B) und hohe Be- amtinnen und Beamte (Legitimationskarte Typ C) der institutionellen Be- günstigten, die mit dem Bundesrat ein Sitzabkommen abgeschlossen haben, wenn sie den Diplomatenstatus geniessen, im Besitz einer Legitimationskarte des EDA sind und die schweizerische Staatsbürgerschaft nicht besitzen; c. die zur Begleitung einer Person nach Buchstabe a oder b berechtigten Perso- nen mit gleichem Status wie die begleitete Person, wenn sie die schweizeri- sche Staatsbürgerschaft nicht besitzen. 4 Von der Abgabe befreit sind taubblinde Personen, sofern ihrem Privathaushalt keine abgabepflichtige Person angehört. Die Absätze 1 und 2 gelten sinngemäss. Art. 62 Vertrag mit der Erhebungsstelle (Art. 69d Abs. 1 RTVG) 1 Für die Übertragung der Erhebung der Haushaltabgabe auf eine Stelle ausserhalb der Bundesverwaltung ist das UVEK zuständig. Fernmeldeverkehr 32 / 58 784.401 2 Wird eine solche Stelle eingesetzt, so führt diese die offizielle Bezeichnung «Schweizerische Erhebungsstelle für die Radio- und Fernsehabgabe». 3 Das UVEK und die Erhebungsstelle regeln die Einzelheiten des Leistungsauftrages und die Entschädigung der Erhebungsstelle in einem Vertrag. Art. 63 Rechnungslegung und Revision (Art. 69d Abs. 2 RTVG) 1 Die Erhebungsstelle führt ihre Bücher und legt Rechnung nach einem der anerkann- ten Standards zur Rechnungslegung gemäss Artikel 962a des Obligationenrechts (OR)76 und der Verordnung vom 21. November 201277 über die anerkannten Stan- dards zur Rechnungslegung. 2 Die Erhebungsstelle ist zu einer ordentlichen Revision verpflichtet. 3 Sie erstellt einen Geschäftsbericht nach Artikel 958 Absatz 2 OR. Die zusätzlichen Anforderungen nach Artikel 961 OR sind anwendbar. 4 Artikel 961d Absatz 1 OR ist für die Erhebungsstelle nicht anwendbar. Art. 64 Berichterstattung und Aufsicht (Art. 69d Abs. 2 RTVG) 1 Die Erhebungsstelle stellt dem BAKOM jeweils innert 30 Tagen nach Ablauf des ersten, zweiten und dritten Quartals einen Zwischenbericht und nach dem vierten Quartal einen Tätigkeitsbericht zu, die mindestens folgende Angaben enthalten: a. Anzahl der abgabepflichtigen Privat- und Kollektivhaushalte; b. Beträge der in Rechnung gestellten und einkassierten Abgaben; c. Anzahl der Rechnungen, Mahnungen, Betreibungen und Verfügungen; d. Befreiungen von der Abgabe aufgrund von Artikel 69b und 109c RTVG sowie von Artikel 61 Absatz 4; e. Anzahl der beschäftigten Personen der Erhebungsstelle. 2 Die Erhebungsstelle reicht dem BAKOM den Geschäftsbericht, den umfassenden Revisionsbericht der Revisionsstelle (Artikel 728b Absatz 1 OR78) und die Abrech- nung über die Abgabe spätestens Ende April des Folgejahres ein. 3 Das BAKOM genehmigt die jährliche Abrechnung über die Abgabe. 4 Die Erhebungsstelle hat dem BAKOM unentgeltlich Einsicht in alle Akten zu ge- währen, die das Amt im Rahmen seiner Aufsichtstätigkeit benötigt. Dazu gehören insbesondere die Buchführung und die Rechnungslegung nach Artikel 63. 5 Das BAKOM kann bei der Erhebungsstelle vor Ort Nachprüfungen vornehmen, und es kann externe Sachverständige mit der Finanzprüfung beauftragen. 76 SR 220 77 SR 221.432 78 SR 220 Radio- und Fernsehverordnung 33 / 58 784.401 Art. 65 Veröffentlichung von Jahresrechnung, Revisionsbericht und Tätigkeitsbericht (Art. 69e Abs. 4 RTVG) Die Erhebungsstelle veröffentlicht bis spätestens Ende April des Folgejahres die Jah- resrechnung (Art. 958 Abs. 2 OR79), den Revisionsbericht (Art. 728b Abs. 2 OR) so- wie den Tätigkeitsbericht mit den Angaben nach Artikel 64 Absatz 1. Art. 66 Überweisung der Abgabe (Art. 69e RTVG) Die Erhebungsstelle überweist die Erträge an die ihr vom BAKOM mitgeteilten Be- rechtigten. Art. 67 Bezug der Daten zu Haushalten (Art. 69g RTVG) 1 Die Kantone und Gemeinden liefern der Erhebungsstelle: a. die Daten nach Artikel 6 Buchstaben a-h, j, o-s und u des Registerharmonisie- rungsgesetzes vom 23. Juni 200680 (RHG); b. andere Daten nach Artikel 7 RHG, welche für die Identifizierung der abgabe- pflichtigen Personen und die Rechnungsstellung erforderlich sind. 2 Die Lieferung erfolgt in strukturierter und standardisierter Form über die Informatik- und Kommunikationsplattform des Bundes. Das BAKOM legt in einer Weisung die spezifischen Datenmerkmale gemäss dem amtlichen Katalog (Art. 4 Abs. 4 RHG) fest und bezeichnet die anwendbaren Standards für die Datenlieferungen und für die Be- reinigung von mangelhaften Datenlieferungen. 3 Jeder Kanton sorgt dafür, dass die Daten zu den Haushalten aller in seinem Kantons- gebiet registrierten Personen zentral oder durch die Gemeinden an die Erhebungsstelle geliefert werden. 4 Die Daten sind der Erhebungsstelle monatlich innerhalb der ersten drei Werktage des Monats zu liefern. Jede Lieferung umfasst die Einträge, die seit der vorangegan- genen Lieferung geändert wurden. Einmal pro Jahr muss der Kanton beziehungsweise die Gemeinde zu einem vom BAKOM bestimmten Zeitpunkt den vollen Datenbe- stand liefern. Art. 67a Bezug von Daten aus Ordipro (Art. 69g RTVG) 1 Das EDA stellt der Erhebungsstelle die folgenden Angaben aus dem Informations- system Ordipro zu jenen Personen zur Verfügung, die nach Artikel 69b Absatz 1 Buchstabe b RTVG von der Abgabe befreit werden: a. Name und Vorname; b. Wohnadresse; 79 SR 220 80 SR 431.02 Fernmeldeverkehr 34 / 58 784.401 c. Geburtsdatum; d. Legitimationskartendaten; e.81 AHV-Nummer. 2 Die Daten sind der Erhebungsstelle monatlich innerhalb der ersten drei Werktage des Monats über die Informatik- und Kommunikationsplattform des Bundes zu lie- fern. Jede Lieferung umfasst den vollen Datenbestand zu jedem Datenmerkmal. Das BAKOM bezeichnet in einer Weisung die anwendbaren Standards für die Datenliefe- rungen und für die Bereinigung von mangelhaften Datenlieferungen. 2. Kapitel: Unternehmensabgabe Art. 67b82 Höhe der Abgabe (Art. 68a Abs. 1 und Art. 70 RTVG) 1 Der jährliche Mindestumsatz für die Abgabepflicht eines Unternehmens beträgt 500 000 Franken. 2 Die jährliche Abgabe eines Unternehmens beträgt je Umsatzstufe pro Jahr: Umsatz in Franken Abgabe in Franken a. Stufe 1 500 000 bis 749 999 160 b. Stufe 2 750 000 bis 1 199 999 235 c. Stufe 3 1 200 000 bis 1 699 999 325 d. Stufe 4 1 700 000 bis 2 499 999 460 e. Stufe 5 2 500 000 bis 3 599 999 645 f. Stufe 6 3 600 000 bis 5 099 999 905 g. Stufe 7 5 100 000 bis 7 299 999 1 270 h. Stufe 8 7 300 000 bis 10 399 999 1 785 i. Stufe 9 10 400 000 bis 14 999 999 2 505 j. Stufe 10 15 000 000 bis 22 999 999 3 315 k. Stufe 11 23 000 000 bis 32 999 999 4 935 l. Stufe 12 33 000 000 bis 49 999 999 6 925 m. Stufe 13 50 000 000 bis 89 999 999 9 725 n. Stufe 14 90 000 000 bis 179 999 999 13 665 o. Stufe 15 180 000 000 bis 399 999 999 19 170 81 Fassung gemäss Anhang Ziff. II 26 der V vom 17. Nov. 2021, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 800). 82 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 18. Okt. 2017, in Kraft seit 1. Nov. 2017 (AS 2017 5519). Radio- und Fernsehverordnung 35 / 58 784.401 Umsatz in Franken Abgabe in Franken p. Stufe 16 400 000 000 bis 699 999 999 26 915 q. Stufe 17 700 000 000 bis 999 999 999 37 790 r. Stufe 18 1 000 000 000 und mehr 49 925.83 Art. 67c Unternehmensabgabegruppen (Art. 70 RTVG) 1 Als Unternehmen im Sinne von Artikel 70 Absatz 2 RTVG gelten auch Unterneh- men, die sich ausschliesslich für die Entrichtung der Unternehmensabgabe zusam- menschliessen (Unternehmensabgabegruppen). Die Unternehmensabgabegruppe muss aus mindestens 30 Unternehmen bestehen. 2 Für die Ermittlung des Gesamtumsatzes einer Unternehmensabgabegruppe werden sämtliche Umsätze der Gruppenmitglieder zusammengerechnet. 3 Die Unternehmensabgabegruppe ist an Stelle ihrer Mitglieder abgabepflichtig. Für die Mithaftung der Gruppenmitglieder gelten die Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe c des Mehrwertsteuergesetzes vom 12. Juni 200984 (MWSTG) und 22 der Mehrwertsteu- erverordnung vom 27. November 200985 (MWSTV). 4 Die Bildung, Veränderungen im Bestand, die Auflösung und die Vertretung von Un- ternehmensabgabegruppen richten sich sinngemäss nach dem Artikel 13 MWSTG so- wie nach den Artikeln 15–17, 18 Absätze 1, 2 und 3 Buchstabe a, 19 und 20 Absätze 1 und 2 MWSTV. Gesuche um die Bildung einer Gruppe und um den Eintritt in eine Gruppe sowie Meldungen über den Austritt aus einer Gruppe und die Auflösung einer Gruppe sind der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) spätestens 15 Tage nach Beginn eines Kalenderjahres schriftlich mitzuteilen. Verspätete Mitteilungen werden erst im Folgejahr wirksam.86 5 Die Aufnahme in eine Unternehmensabgabegruppe setzt voraus, dass das Unterneh- men die ESTV schriftlich vom Steuergeheimnis gegenüber der Vertretung der Gruppe entbindet, soweit dies für die Erhebung und den Bezug der Abgabe dienlich ist. Art. 67d Zusammenschlüsse autonomer Dienststellen von Gemeinwesen (Art. 70 RTVG) 1 Als Unternehmen im Sinne von Artikel 70 Absatz 2 RTVG gilt auch der Zusam- menschluss mehrwertsteuerpflichtiger autonomer Dienststellen eines Gemeinwesens. 83 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. April 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 1461). 84 SR 641.20 85 SR 641.201 86 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, in Kraft seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). Fernmeldeverkehr 36 / 58 784.401 2 Für die Zusammenschlüsse gelten Artikel 12 Absätze 1 und 2 MWSTG87 sowie Ar- tikel 12 Absatz 1 MWSTV88. Artikel 67c Absätze 2, 4 und 5 sind sinngemäss anwend- bar. 3 Die Abgabepflicht obliegt dem Gemeinwesen, welchem die zusammengeschlosse- nen Dienststellen angehören. Art. 67e Rechnungsstellung (Art. 70a RTVG) 1 Die ESTV versendet monatlich elektronische Jahresrechnungen an abgabepflichtige Unternehmen, erstmals im Februar und letztmals im Oktober eines Jahres. 2 Sobald der ESTV alle Informationen vorliegen, die ihr die Einstufung eines Unter- nehmens in eine Tarifkategorie ermöglichen, stellt sie dem Unternehmen den Gesamt- betrag der Abgabe mit dem nächsten Rechnungsversand elektronisch in Rechnung. 3 Hat die ESTV die Abgabe nicht in Rechnung gestellt oder erweist sich die Rechnung als unrichtig, so fordert sie den betreffenden Betrag nach oder erstattet ihn zurück. Art. 67f89 Rückerstattung Unternehmen mit weniger als einer Million Franken Umsatz wird die Abgabe auf Ge- such hin zurückerstattet, sofern sie im Geschäftsjahr, für welches die Abgabe erhoben wurde: a. einen Gewinn erzielten, der weniger als das Zehnfache der Abgabe beträgt; oder b. einen Verlust auswiesen. Art. 67g90 Überweisung der Abgabe (Art. 70a RTVG) 1 Die ESTV überweist den Nettoertrag aus der Erhebung der Unternehmensabgabe monatlich an das BAKOM oder stellt diesem bei einem Aufwandüberschuss Rech- nung. 2 Der Nettoertrag umfasst die im Rechnungsjahr in Rechnung gestellten Abgaben und Verzugszinsen und berücksichtigt ausserdem: a. die Debitorenverluste; b. die Betriebskosten der ESTV für die Erhebung der Abgabe; c. die Rückerstattungen nach Artikel 67f. 87 SR 641.20 88 SR 641.201 89 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. April 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 1461). 90 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, in Kraft seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). Radio- und Fernsehverordnung 37 / 58 784.401 Art. 67h Verzugszins (Art. 70b Abs. 1 RTVG) Verzugszinsen werden von der ESTV ab einem Zinsbetrag von 100 Franken in Rech- nung gestellt. Dies gilt nicht, wenn die Forderung im Rahmen des Zwangsvollstre- ckungsverfahrens geltend gemacht wird. Die Rechnung wird elektronisch gestellt. Art. 67i Berichterstattung durch die ESTV (Art. 70c Abs. 2 RTVG) Die ESTV veröffentlicht spätestens Ende April des Folgejahres mindestens Angaben zu: a. der Anzahl abgabepflichtiger Unternehmen, nach Tarifkategorie; b. den in Rechnung gestellten, einkassierten und sistierten Forderungen, nach Tarifkategorie; c.91 … d. den Debitorenverlusten; e. den in Rechnung gestellten Verzugszinsen; f. den Ermessenseinschätzungen, nach Tarifkategorie; g. den Mahnungen und Betreibungen; h. den Betriebskosten der ESTV für die Erhebung der Abgabe; i. der Anzahl der Zusammenschlüsse (Art. 67c und 67d) und der Rückerstattun- gen (Art. 67f). 3. Kapitel: Veröffentlichung von Kennzahlen zur Abgabe Art. 67j 1 Das BAKOM publiziert jährlich: a. für die Haushalt- und für die Unternehmensabgabe sowie konsolidiert für beide: 1. die Gesamteinnahmen der Abgabe, 2. die Erhebungskosten; b. die Verwendung der Einnahmen nach Verwendungszweck. 2 Die Erhebungsstelle und die ESTV liefern dem BAKOM die nötigen Angaben. 91 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 29. Aug. 2018, mit Wirkung seit 1. Okt. 2018 (AS 2018 3209). Fernmeldeverkehr 38 / 58 784.401 5. Titel: Schutz der Vielfalt und Förderung der Programmqualität 1. Kapitel: Zugang zu öffentlichen Ereignissen Art. 68 Umfang des Kurzberichterstattungsrechts bei öffentlichen Ereignissen (Art. 72 Abs. 1 und 2 RTVG) 1 Das Recht auf Kurzberichterstattung über ein öffentliches Ereignis in der Schweiz umfasst einen Beitrag von höchstens drei Minuten. Die Dauer der Kurzberichterstat- tung muss dem Ereignis angepasst sein. 2 Erstreckt sich ein öffentliches Ereignis über höchstens einen Tag und besteht es aus mehreren Teilen, so bezieht sich der Anspruch auf Kurzberichterstattung nicht auf jeden Teil des Ereignisses, sondern auf seine Gesamtheit. Erstreckt sich ein öffentli- ches Ereignis über mehr als 24 Stunden, so besteht Anspruch auf eine tägliche Kurz- berichterstattung. 3 Der Kurzbericht darf erst nach Beendigung des öffentlichen Ereignisses oder des in sich abgeschlossenen Teils des Ereignisses ausgestrahlt werden. Art. 6992 Direkter Zugang zu öffentlichen Ereignissen (Art. 72 Abs. 3 Bst. a RTVG) 1 Drittveranstalter, die das Recht auf direkten Zugang zu einem öffentlichen Ereignis geltend machen, haben sich rechtzeitig anzumelden: a. bei geplanten Ereignissen: mindestens 10 Tage vor Ereignisbeginn; b. bei kurzfristig angesetzten Ereignissen und bei Ereignissen, für die sich das besondere Interesse des Drittveranstalters aufgrund besonderer Umstände erst kurzfristig ergibt: zum frühestmöglichen Zeitpunkt. 2 Der Organisator des öffentlichen Ereignisses und der über Erstverwertungs- oder Exklusivrechte verfügende Programmveranstalter entscheiden frühestmöglich und bei Ereignissen nach Absatz 1 Buchstabe a mindestens 5 Tage vor Ereignisbeginn über den Zugang. 3 Falls nicht bereits vertragliche Abmachungen bestehen, wird jenen Drittveranstal- tern Vorrang eingeräumt, die eine möglichst umfassende Versorgung in der Schweiz gewährleisten oder die beispielsweise aufgrund ihres Leistungsauftrags oder eines en- gen Bezugs des Ereignisses zu ihrem Verbreitungsgebiet ein besonderes Interesse an der Berichterstattung über das Ereignis nachweisen. 4 Wird der Zugang verweigert, so kann der Drittveranstalter dem BAKOM Massnah- men nach Artikel 72 Absatz 4 RTVG beantragen. Er hat dieses Gesuch unverzüglich nach der Verweigerung des Zugangs zu stellen. 5 Der direkte Zugang von Drittveranstaltern muss so ausgeübt werden, dass die Durchführung des Ereignisses und die Ausübung der Exklusiv- und Erstverwertungs- rechte möglichst nicht beeinträchtigt werden. 92 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Radio- und Fernsehverordnung 39 / 58 784.401 Art. 70 Signallieferung für die Kurzberichterstattung (Art. 72 Abs. 3 Bst. b RTVG) 1 Der Organisator des öffentlichen Ereignisses und der über Erstverwertungs- oder Exklusivrechte verfügende Programmveranstalter stellen dem interessierten Drittver- anstalter das Signal auf Anfrage hin unverzüglich zur Anfertigung eines Kurzberich- tes zur Verfügung. Die Anfrage hat mindestens 48 Stunden vor dem Ereignis zu er- folgen. 2 Der Drittveranstalter hat die für den Zugang zum Signal entstehenden Kosten abzu- gelten. Diese beinhalten den technischen und personellen Aufwand sowie eine Ent- schädigung für zusätzliche Kosten, die mit der Einräumung des Rechts auf Kurzbe- richterstattung verbunden sind. Art. 71 Freier Zugang zu Ereignissen von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung (Art. 73 Abs. 1 RTVG) 1 Der freie Zugang zu einem Ereignis von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung ist gewährleistet, wenn in jeder Sprachregion jeweils mindestens 80 Prozent der Haus- halte die Übertragung ohne zusätzliche Ausgaben empfangen können. 2 Ereignisse von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung sind dem Publikum in der Regel zeitgleich in Teil- oder Gesamtberichterstattung zugänglich zu machen. Eine zeitversetzte Teil- oder Gesamtberichterstattung ist ausreichend, falls dies im öffent- lichen Interesse liegt. 3 Kann ein Veranstalter, der zur Übertragung des Ereignisses einen Exklusivvertrag abgeschlossen hat, den freien Zugang nicht garantieren, so hat er das Übertragungs- signal einem oder mehreren andern Programmveranstaltern zu angemessenen Bedin- gungen zu überlassen. 2. Kapitel: Förderung von Aus- und Weiterbildung sowie Medienforschung Art. 72 Aus- und Weiterbildung von Programmschaffenden (Art. 76 RTVG) Das BAKOM fördert die Aus- und Weiterbildung von Programmschaffenden in erster Linie durch mehrjährige Leistungsvereinbarungen mit Institutionen, welche kontinu- ierlich ein bedeutendes Aus- und Weiterbildungsangebot im Bereich des Informa- tionsjournalismus für Radio und Fernsehen führen. Art. 73 Medienforschung (Art. 77 RTVG) 1 Für die Unterstützung von Forschungsprojekten im Bereich von Radio und Fernse- hen ist in der Regel mindestens die Hälfte des Ertrags aus der Konzessionsabgabe zu verwenden. Fernmeldeverkehr 40 / 58 784.401 2 Unterstützt werden namentlich wissenschaftliche Forschungsprojekte, deren Ergeb- nisse Hinweise auf programmliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Entwicklungen bei Radio und Fernsehen liefern und es damit der Verwaltung und der Branche ermöglichen, auf diese Entwicklungen zu reagieren. 3 Das BAKOM entscheidet über die Vergabe der Beiträge an Forschungsprojekte. Die Beiträge werden in der Regel auf Grund einer öffentlichen Ausschreibung vergeben; das BAKOM kann Schwerpunktthemen vorgeben sowie den Höchstanteil eines Bei- trags an den anrechenbaren Kosten eines Forschungsprojekts festlegen. 3. Kapitel: Stiftung für Nutzungsforschung (Art. 78–81 RTVG) Art. 74 1 Die Stiftung für Nutzungsforschung (Stiftung) sowie die von ihr beherrschten Un- ternehmen müssen dem UVEK bis Ende April des Folgejahres einen Jahresbericht sowie die Jahresrechnung einreichen. Das Reglement der Stiftung legt Inhalt und Dar- stellung der Berichterstattung fest. Die Stiftung und von ihr beherrschte Unternehmen unterliegen der Auskunftspflicht nach Artikel 17 Absatz 1 RTVG. 2 Die von der Stiftung nach Artikel 79 Absatz 1 RTVG jährlich zu veröffentlichenden wichtigsten Ergebnisse umfassen mindestens: a. die Möglichkeiten zum Empfang von Radio- und Fernsehprogrammen und den Gebrauch dieser Möglichkeiten durch die in der Schweiz wohnhafte Be- völkerung; b. die Nutzung der konzessionierten und anderer Radio- und Fernsehpro- gramme, die in der Schweiz zu empfangen sind. Die Nutzungsdaten sind aus- zudrücken in Reichweite, Nutzungsdauer und Marktanteil. Die Aufschlüsse- lung der Nutzungsdaten nach Wochentagen, Programmgruppen sowie soziodemografischen Merkmalen muss nach Sprachregionen erfolgen. Die Daten der konzessionierten Radio- und Fernsehprogramme sind für deren Versorgungsräume auszuweisen. 3 Das UVEK regelt die Einzelheiten. 4 Das Reglement der Stiftung muss festlegen, welche Daten: a. nach Artikel 78 Absatz 2 RTVG als hinreichend für Programmveranstalter und wissenschaftliche Forschung betrachtet werden; b. nach Artikel 79 Absatz 2 RTVG als grundlegende Nutzungsdaten gelten und zu kostendeckenden Preisen abgegeben werden müssen. Radio- und Fernsehverordnung 41 / 58 784.401 6. Titel: Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen Art. 75 Zusammensetzung (Art. 82 RTVG) Bei der Wahl der unabhängigen Beschwerdeinstanz sorgt der Bundesrat für eine ange- messene Vertretung beider Geschlechter und der verschiedenen Sprachregionen. Art. 76 Wahl und Beaufsichtigung der Ombudsstellen (Art. 83 Abs. 1 Bst. b und 91 RTVG) Das Geschäftsreglement der Beschwerdeinstanz (Art. 85 Abs. 2 RTVG) regelt die Einzelheiten der Wahl und Geschäftstätigkeit der drei Ombudsstellen und die Auf- sicht über sie. Art. 77 Verfahrenskosten der Ombudsstellen (Art. 93 Abs. 5 RTVG) 1 Die Ombudsstellen finanzieren sich durch die Rechnungsstellung nach Artikel 93 Absatz 5 RTVG. 2 Sie stellen den betroffenen Programmveranstaltern die Verfahrenskosten nach Zeit- aufwand in Rechnung. 3 Es gilt ein Stundenansatz von 230 Franken.93 7. Titel: Verwaltungsgebühren Art. 78 Grundsatz (Art. 100 RTVG) 1 Die nach Artikel 100 RTVG erhobene Verwaltungsgebühr bemisst sich nach Zeit- aufwand. 2 Es gilt ein Stundenansatz von 210 Franken.94 3 Für die Festlegung der Konzessionsabgabe wird eine Verwaltungsgebühr erhoben, wenn der Programmveranstalter durch sein Verhalten ausserordentlichen Aufwand verursacht. 4 Für die Erfassung der Angaben eines meldepflichtigen Veranstalters und der Ände- rungen der meldepflichtigen Sachverhalte nach Artikel 2 erhebt das BAKOM eine Verwaltungsgebühr, wenn der Veranstalter durch sein Verhalten einen Aufwand ver- ursacht, der die blosse Erfassung übersteigt. 93 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 5. Nov. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 3849). 94 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 4. Nov. 2009, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5855). Fernmeldeverkehr 42 / 58 784.401 5 Für die Bearbeitung von Anfragen wird eine Verwaltungsgebühr erhoben, wenn die Anfrage einen ausserordentlichen Aufwand verursacht. Das BAKOM unterrichtet die gebührenpflichtige Person vorgängig über die voraussichtliche Gebühr. Art. 79 Reduktion der Verwaltungsgebühr (Art. 100 RTVG) 1 Für die Erteilung, Änderung oder Aufhebung einer Konzession für die Veranstaltung eines Radio- oder Fernsehprogramms gilt ein reduzierter Stundensatz von 84 Fran- ken.95 2 Die Verwaltungsgebühr nach Absatz 1 kann weiter reduziert und diejenige für die übrigen gebührenpflichtigen Tätigkeiten reduziert werden für: a. Programmveranstalter, welchen eine Konzession für die Ausstrahlung eines werbefreien Programms erteilt wurde; b. Programmveranstalter, die nachweisen, dass sie einen Betriebsertrag von we- niger als 1 Million Franken haben. Als Betriebsertrag gelten die Einnahmen, die mit der Betriebstätigkeit zusammenhängen, insbesondere Werbe- und Sponsoringeinnahmen sowie Beiträge und Subventionen. Art. 80 Anwendbarkeit der Allgemeinen Gebührenverordnung (Art. 100 RTVG) Im Übrigen gelten die Bestimmungen der Allgemeinen Gebührenverordnung vom 8. September 200496. 8. Titel: Schlussbestimmungen 1. Kapitel: Vollzug und Aufhebung bisherigen Rechts97 Art. 80a98 Vollzug (Art. 103 und 104 Abs. 2 RTVG)99 1 Das UVEK erlässt die administrativen und technischen Vorschriften. 2 Das BAKOM kann internationale Vereinbarungen technischen oder administrativen Inhalts abschliessen, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen.100 95 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 4. Nov. 2009, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5855). 96 SR 172.041.1 97 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 98 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). 99 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 100 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Radio- und Fernsehverordnung 43 / 58 784.401 3 Das BAKOM kann den Bund in internationalen Gremien vertreten.101 Art. 81 Aufhebung bisherigen Rechts Die Radio- und Fernsehverordnung vom 6. Oktober 1997102 wird aufgehoben. 2. Kapitel:103 Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 25. Mai 2016 1. Abschnitt: Verwendung des Überschusses aus den Gebührenanteilen Art. 82 Zur Verfügung stehender Betrag (Art. 109a RTVG) 1 Für die Verwendungszwecke nach Artikel 109a Absätze 1 und 2 RTVG stehen 45 Millionen Franken zur Verfügung. 2 Das BAKOM legt die Beträge fest, die für die verschiedenen Zwecke nach Arti- kel 84 und 85 zur Verfügung stehen. Art. 83 Verwendung für die Aus- und Weiterbildung (Art. 109a Abs. 1 Bst. a RTVG) 1 Das BAKOM unterstützt auf Gesuch hin die Aus- und Weiterbildung von Mitarbei- tenden von Veranstaltern mit Abgabenanteil. Unterstützt werden Aus- und Weiterbil- dungen im Bereich der journalistischen Fertigkeiten und Kompetenzen, des Redakti- onsmanagements, der Qualitätssicherung sowie im technischen und finanztechnischen Bereich, sofern sie der Erfüllung des Leistungsauftrags dienen. 2 Unterstützt werden insbesondere: a. Mitarbeitende, die professionelle Angebote externer Aus- und Weiterbil- dungsinstitutionen sowie journalismus- und mediennaher Institutionen und Organisationen nutzen; b. Veranstalter, die ihren Mitarbeitenden in Zusammenarbeit mit externen Fach- personen von Aus- und Weiterbildungsinstitutionen sowie von journalismus- und mediennahen Institutionen und Organisationen eine spezifische interne Aus- bzw. Weiterbildung ermöglichen; c. komplementäre nicht gewinnorientierte Radioveranstalter, die kontinuierlich mehrere Praktikantinnen und Praktikanten gleichzeitig ausbilden und dafür entsprechende Fachpersonen angestellt haben; 101 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). 102 [AS 1997 2903; 1999 1845; 2001 1680; 2002 1915 Art. 20, 3482; 2003 4789; 2004 4531; 2006 959, 4395] 103 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Mai 2016, in Kraft seit 1. Juli 2016 (AS 2016 2151). Fernmeldeverkehr 44 / 58 784.401 d. spezifische Aus- und Weiterbildungsangebote von Aus und Weiterbildungs- institutionen sowie von journalismus- und mediennahen Institutionen und Or- ganisationen, die auf die konkreten Bedürfnisse von lokalen und regionalen Veranstaltern mit Abgabenanteil ausgerichtet sind; e. die Organisation von Weiterbildungstagungen in erster Linie im Bereich neuer Medien, welche sich an die Mitarbeitenden der Veranstalter mit Abga- benanteil richten. 3 Anrechenbar sind insbesondere, soweit sie nicht durch andere Leistungen der öffent- lichen Hand gedeckt sind: a. Kurskosten für Angebote nach Absatz 2 Buchstabe a; b. Kosten für externe Fachpersonen nach Absatz 2 Buchstabe b; c. Kosten für Fachpersonen nach Absatz 2 Buchstabe c; d Kosten für die Planung und Durchführung von Ausbildungs- sowie Tagungs- angeboten inklusive die Erarbeitung entsprechender Schulungsdokumentatio- nen nach Absatz 2 Buchstaben d und e. 4 Die Unterstützung beträgt höchstens 80 Prozent der anrechenbaren Kosten. 5 Das BAKOM legt den zur Verfügung stehenden Betrag periodisch fest und überprüft die Wirksamkeit der verwendeten Mittel. Art. 84 Verwendung für die Förderung neuer Verbreitungstechnologien (Art. 109a Abs. 1 Bst. b RTVG) 1 Die Förderleistung zugunsten von Veranstaltern mit Abgabenanteil beträgt höchs- tens 80 Prozent: a. der Entschädigung, die der Veranstalter für die T-DAB-Verbreitung seines Programms leistet; b. der Investitionen, die für die Aufbereitung für neue Verbreitungstechnologien notwendig sind. 2 Das UVEK bezeichnet die anrechenbaren Aufwendungen nach Absatz 1 Buch- stabe b. 3 Es gelten die Bestimmungen nach Artikel 50 und 51, soweit dieser Artikel keine abweichenden Regeln vorsieht. Art. 85 Verwendung für digitale Fernsehproduktionsverfahren (Art. 109a Abs. 1 Bst. b RTVG) 1 Die Förderleistung zugunsten von Fernsehveranstaltern mit Abgabenanteil beträgt höchstens 80 Prozent ihrer anrechenbaren Aufwendungen. 2 Das UVEK bestimmt die förderungswürdigen Fernsehproduktionsverfahren. 3 Es gelten die Bestimmungen nach Artikel 50 und 51, soweit dieser Artikel keine abweichenden Regeln vorsieht. Radio- und Fernsehverordnung 45 / 58 784.401 2. Abschnitt: Ablösung der Empfangsgebühr durch die Abgabe für Radio und Fernsehen Art. 86 Zeitpunkt der Ablösung (Art. 109b Abs. 2 RTVG) 1 Die Ablösung der Empfangsgebühr durch die Radio- und Fernsehabgabe (System- wechsel) erfolgt auf den 1. Januar 2019.104 2 Bis zum Systemwechsel erhebt die Schweizerische Erhebungsstelle für Radio- und Fernsehempfangsgebühren (bisherige Gebührenerhebungsstelle) die Empfangsge- bühr nach bisherigem Recht (Art. 58–70 und 101 Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen [RTVG 2006]105 sowie bisherige Art. 57–67106). 3 Die Abgabe für Radio und Fernsehen wird ab dem Systemwechsel erhoben. Art. 87 Letzte Rechnungsstellung der Empfangsgebühr nach bisherigem System (Art. 109b Abs. 4 RTVG) 1 Die Empfangsgebühr wird bis zum Systemwechsel erhoben. 2 Die bisherige Gebührenerhebungsstelle stellt in den letzten 12 Monaten vor dem Systemwechsel die Gebühr für die jeweils verbleibende Zeit gemäss der bisherigen Staffelung (Artikel 60a Absatz 2107) in Rechnung. 3 Für Rechnungsstellung und Fälligkeit gilt: a. Die Rechnungen der ersten Monatsstaffel werden am Anfang des Monats ge- stellt und innert 30 Tagen fällig; b. Die Rechnungen der letzten drei Monatsstaffeln werden alle am Ende des Vormonats des drittletzten Monats gestellt und Ende des drittletzten Monats fällig; c. Die Rechnungen der übrigen Monatsstaffeln werden am Ende des Vormonats gestellt und Ende des Monats fällig. Art. 88 Erste Rechnungsstellung der Haushaltabgabe 1 Im ersten Jahr der Erhebung wird die gestaffelte Rechnungsstellung für die Haus- haltabgabe nach Artikel 58 Absatz 1 aufgebaut. Die Erhebungsstelle legt verkürzte Abgabeperioden zwischen einem und elf Monaten fest. 2 Sämtliche Rechnungen nach Absatz 1 werden im ersten Monat der Abgabeperiode gestellt und werden innert 30 Tagen fällig. 104 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 18. Okt. 2017, in Kraft seit 1. Nov. 2017 (AS 2017 5519). 105 AS 2007 737 106 AS 2007 787 6657; 2010 5219; 2014 3849 107 AS 2010 5219 Fernmeldeverkehr 46 / 58 784.401 3 Ein Teil der Haushalte erhält bereits eine Rechnung über 12 Monate. Die Fälligkeit richtet sich nach Artikel 59 Absatz 1. Art. 89 Datenlieferung der Gemeinden und Kantone (Art. 69g RTVG) 1 Die Gemeinden und Kantone beginnen die monatlichen Datenlieferungen an die Er- hebungsstelle nach Artikel 67 spätestens 18 Monate nach Inkrafttreten dieser Bestim- mung. Die erste Lieferung muss den vollen Datenbestand zu allen Merkmalen umfas- sen. 2 Die Erhebungsstelle bestätigt der datenliefernden Behörde, dass die Datenlieferung nach den gesetzlichen Vorgaben und technisch einwandfrei erfolgt ist, oder rügt die aufgetretenen Mängel. 3 Ein Beitrag nach Artikel 69g Absatz 4 RTVG beträgt einmalig höchstens: a. 2000 Franken an eine Gemeinde; b. 25 000 Franken an einen Kanton. 4 Voraussetzungen für einen Beitrag nach Absatz 3 sind: a. ein Gesuch des Kantons bzw. der Gemeinde an die Erhebungsstelle; b. der Beleg über die effektiven, spezifischen Investitionskosten; c. das Vorliegen einer Bestätigung der Erhebungsstelle nach Absatz 2. 5 Ohne Beleg nach Absatz 4 Buchstabe b wird ein Pauschalbetrag ausgerichtet. Dieser beträgt je Gemeinde 500 Franken und je Kanton 5000 Franken. Art. 90 Datenlieferung des EDA (Art. 69g RTVG) Das EDA stellt der Erhebungsstelle die zur Erhebung der Abgabe notwendigen Daten nach Artikel 67a spätestens 18 Monate nach Inkrafttreten dieser Bestimmung zur Ver- fügung. Art. 91 Datenübergabe zur Befreiung von der Abgabepflicht (Art. 69b und 109b RTVG) 1 Die bisherige Gebührenerhebungsstelle stellt der neuen Erhebungsstelle spätestens 18 Monate nach Inkrafttreten dieser Bestimmung die nachfolgenden Daten zu gebüh- renbefreiten Personen (bisheriger Art. 64108) zur Verfügung, soweit die Daten vor- handen sind: a. Name und Vorname; b. Wohnadresse; c. Geburtsdatum; d. Korrespondenzsprache; 108 AS 2007 787, 6657 Radio- und Fernsehverordnung 47 / 58 784.401 e. Name und Vorname der Personen, die im selben Privathaushalt wohnen wie die gebührenbefreite Person. 2 Die Einzelheiten richten sich nach dem bisherigen Artikel 66 Absatz 3109. Art. 92 Abschluss des Empfangsgebührensystems (Art. 109b RTVG) 1 Ab dem Systemwechsel gelten für Sachverhalte, die sich bis zum Systemwechsel ereignet haben, einschliesslich der Zuständigkeiten, weiterhin die Artikel 68–70 und 101 Absatz 1 RTVG 2006110 sowie die bisherigen Artikel 57–67111 dieser Verord- nung, soweit dieser Artikel keine abweichenden Regelungen vorsieht. 2 Nach dem Systemwechsel kann das UVEK die bisherige Gebührenerhebungsstelle oder eine andere externe Stelle für einen begrenzten Zeitraum für die Erhebung der Empfangsgebühren und die damit verbundenen Aufgaben beauftragen. 3 Die im Zeitpunkt des Systemwechsels offenen Forderungen des Bundes gegenüber gebührenpflichtigen Personen und Betrieben sind weiterhin geschuldet. 4 Nach Beendigung der Tätigkeit der bisherigen Gebührenerhebungsstelle bezie- hungsweise einer anderen externen Stelle nach Absatz 2 übernimmt das BAKOM sämtliche Aufgaben in Bezug auf die Erhebung der Empfangsgebühren. Der Rechts- weg richtet sich abweichend von Artikel 69 Absatz 5 RTVG 2006 nach den allgemei- nen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege, sofern das BAKOM Verfügungen erlässt. 5 Nach Beendigung der Tätigkeit der bisherigen Gebührenerhebungsstelle übernimmt die neue Erhebungsstelle die Verlustscheine für ausstehende Empfangsgebühren. 6 Die Verjährungsfrist für die Empfangsgebühren richtet sich weiterhin nach dem bis- herigen Artikel 61 Absatz 3112. 7 Der Aufwand der externen Stellen und des BAKOM nach den Absätzen 2 und 4 wird aus dem Ertrag der Empfangsgebühren gedeckt. Reicht dieser Ertrag nicht aus, wird der Aufwand aus dem Ertrag der Abgabe gedeckt. 8 Soweit der Ertrag der Empfangsgebühren die Entschädigungszahlungen nach Ab- satz 7 übertrifft, fliesst er der SRG zu. Art. 93 Einführung der Unternehmensabgabe (Art 109b Abs. 5 RTVG) 1 Fällt der Systemwechsel in die erste Hälfte eines Kalenderjahrs, so erfolgt die Ein- stufung in die Tarifkategorien gestützt auf den Gesamtumsatz der im Vorvorjahr be- endeten Steuerperiode der Mehrwertsteuer. 2 Im ersten Jahr stellt die ESTV die Abgabe sämtlichen abgabepflichtigen Unterneh- men, zu deren Einstufung in eine Tarifkategorie die nötigen Informationen vorliegen, 109 AS 2007 787 110 AS 2007 737 111 AS 2007 787 6657; 2010 5219; 2014 3849 112 AS 2007 787 Fernmeldeverkehr 48 / 58 784.401 im ersten Monat nach dem Systemwechsel elektronisch in Rechnung. Den übrigen Unternehmen stellt die ESTV elektronisch Rechnung, sobald die entsprechenden In- formationen vorliegen. 3. Abschnitt: Privathaushalte ohne Empfangsmöglichkeit Art. 94 Gesuch um Befreiung von der Abgabepflicht (Art 109c Abs. 1 RTVG) 1 Ein Gesuch um Befreiung von der Abgabe kann nach Erhalt der Rechnung jederzeit schriftlich bei der Erhebungsstelle gestellt werden. 2 Jede Person, die auf der Abgaberechnung aufgeführt ist, kann ein Gesuch stellen. Dieses gilt für alle Mitglieder des betreffenden Haushalts. 3 Die Erhebungsstelle stellt ein Gesuchsformular zur Verfügung. Das Gesuch kann nur auf diesem Formular gestellt werden. Das BAKOM gibt den Inhalt des Formulars vor. 4 Wird das Gesuch innert 30 Tagen ab Rechnungsdatum der Jahresrechnung bzw. der ersten Dreimonatsrechnung einer Abgabeperiode gestellt, so erfolgt die Befreiung bei Gutheissung des Gesuchs rückwirkend ab Beginn der betreffenden Abgabeperiode bis zu deren Ablauf. Wird das Gesuch später eingereicht, so erfolgt die Befreiung ab dem Folgemonat bis zum Ablauf der betreffenden Abgabeperiode. Die Erhebungsstelle stellt den volljährigen Personen des Haushaltes eine schriftliche Bestätigung zu. 5 Für die Behandlung des Gesuchs wird keine Gebühr erhoben. 6 Die Erhebungsstelle informiert das BAKOM über die von der Abgabe befreiten Haushalte und deren Mitglieder. 7 Wird ein Haushalt aufgelöst, so erlischt die Befreiung seiner bisherigen Mitglieder von der Abgabepflicht. Art. 95 Zum Empfang geeignete Geräte (Art. 109c Abs. 2 RTVG) Zum Empfang von Radio- oder Fernsehprogrammen geeignete Geräte sind: a. Geräte, die zum Programmempfang bestimmt sind oder ausschliesslich zum Empfang bestimmte Bestandteile enthalten; b. multifunktionale Geräte, falls diese hinsichtlich Vielfalt des empfangbaren Programmangebots und Empfangsqualität den Geräten nach Buchstabe a gleichwertig sind. Art. 96 Meldung einer Empfangsmöglichkeit (Art. 109c Abs. 4 RTVG) 1 Die Empfangsmöglichkeit nach Artikel 109c Absatz 4 RTVG ist der Erhebungs- stelle schriftlich zu melden. 2 Jedes volljährige Mitglied des Privathaushalts ist für die Meldung verantwortlich. Radio- und Fernsehverordnung 49 / 58 784.401 3 Die Abgabepflicht beginnt am ersten Tag des Monats, der dem Beginn des Bereit- stellens oder des Betriebs des Empfangsgerätes folgt. 4 Die Erhebungsstelle informiert das BAKOM über die neu abgabepflichtigen Haus- halte und deren Mitglieder. 2a. Kapitel:113 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 25. Oktober 2017 (Art. 45 Abs. 1bis RTVG) Art. 96a 1 Sofern die Voraussetzungen nach Artikel 44 RTVG erfüllt sind, werden bisherige Konzessionen mit Leistungsauftrag (Art. 38 und 43 RTVG) auf Gesuch des Veran- stalters bis 31. Dezember 2024 verlängert. 2 Das UVEK kann die bisherigen Konzessionen auf den Zeitpunkt, in dem die ur- sprüngliche Konzession geendet hätte, entschädigungslos abändern oder die Verlän- gerung verweigern, sofern dies aufgrund von veränderten tatsächlichen oder rechtli- chen Verhältnissen erforderlich ist. 2b. Kapitel:114 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 16. September 2022 Art. 96b Für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens bestehenden Konzessionen nach den Artikeln 38 und 43 RTVG gelten bis zum 31. Dezember 2024 die bisherigen Fassungen der Anhänge 1 und 2115. 3. Kapitel: Inkrafttreten (Art. 114 Abs. 2 RTVG) Art. 97116 Diese Verordnung tritt am 1. April 2007 in Kraft. 113 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. Okt. 2017, in Kraft seit 1. Dez. 2017 (AS 2017 5931). 114 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Sept. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 526). 115 AS 2007 3555; 2012 3667; 2014 3849; 2016 2151; 2017 5931 116 Ursprünglich: Art. 83 Fernmeldeverkehr 50 / 58 784.401 Anhang 1117 (Art. 38 Bst. a) Verbreitungsart und Versorgungsgebiete für die drahtlos terrestrische Verbreitung von Radioprogrammen mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil 1 Begriffe In diesem Anhang bedeuten: a. DAB+: Digital Audio Broadcasting plus (VHF-Band III, Kanäle 5–12, 174–230 MHz); b. PI95: Zielwert für den Empfang innerhalb von Gebäuden (portable indoor) mit einer Ortswahrscheinlichkeit von 95 Prozent am Wohnort von mindestens 98 Prozent der Bevölkerung; c. MO99: Zielwert für den Empfang mit einem mobilen Gerät ausserhalb von Gebäuden (mobile outdoor) mit einer Ortswahrscheinlichkeit von 99 Prozent für mindestens 98 Prozent des National- und Kantonsstrassennetzes; d. Agglomeration: Definition gemäss Bundesamt für Statistik (BFS), «Agglo- merationen 2012»; e. Agglomerationshauptkern: Ansammlung von Hauptkerngemeinden innerhalb eines Raums mit städtischem Charakter nach der Publikation des BFS «Raum mit städtischem Charakter der Schweiz 2012». 2 Verbreitungstechnologie und Zuständigkeiten 2.1 Die drahtlos-terrestrische Verbreitung der Radioprogramme erfolgt im DAB+-Standard nach dem nationalen Frequenzzuweisungsplan.118 2.2 Die Konzessionsbehörde teilt die DAB+-Frequenzen nach Artikel 22 Absatz 2 Buchstabe a des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997119 zu. 2.3 Die Konzessionsbehörde legt in der DAB+-Funkkonzession die technischen Parameter und die Übertragungskapazitäten fest. 2.4 Die Funkkonzessionärin ist berechtigt, das Frequenzspektrum nach den tech- nischen und betrieblichen Merkmalen zu nutzen, wie sie im funktechnischen Netzbeschrieb nach Artikel 18 der Verordnung vom 18. November 2020120 über die Nutzung des Funkfrequenzspektrums festgelegt sind. 117 Eingefügt durch Ziff. II Abs. 1 der V vom 4. Juli 2007 (AS 2007 3555). Fassung gemäss Ziff. II der V vom 16. Sept. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 526). 118 Der Nationale Frequenzzuweisungsplan kann beim Bundesamt für Kommunikation kostenlos abgerufen werden unter www.bakom.admin.ch > Frequenzen und Antennen > Nationaler Frequenzzuweisungsplan. 119 SR 784.10 120 SR 784.102.1 http://www.bakom.admin.ch/ Radio- und Fernsehverordnung 51 / 58 784.401 2.5 Der funktechnische Netzbeschrieb wird von der Konzessionsbehörde erteilt. Ist die Eidgenössische Kommunikationskommission die Konzessionsbe- hörde, so kann sie diese Aufgabe an das BAKOM delegieren. 3 Verbreitungspflichten für Funkkonzessionärinnen 3.1 Allgemeine Pflichten der Funkkonzessionärin 3.1.1 Die Funkkonzessionärin ist verpflichtet, den von der Konzessionsbehörde bestimmten Veranstaltern nach Ziffer 4 ein Zugangsrecht zu gewähren. 3.1.2 Sie verbreitet das Signal nach Massgabe der Veranstalterkonzession in aus- reichender Qualität. 3.2 Pflichten der SRG 3.2.1 Die SRG verbreitet in erster Linie eigene Radioprogramme nach der SRG- Konzession121 sowie zugangsberechtigte Drittprogramme nach Ziffer 4. Sie kann Drittprogramme ohne Zugangsrechte verbreiten, wenn die Bedürfnisse für eigene und zugangsberechtigte Radioprogramme abgedeckt sind. 3.2.2 Die SRG stellt in Absprache mit den zuständigen Behörden das Frequenz- spektrum auch für Datendienste zur Verfügung, die dem Schutz der Bevölke- rung dienen und nicht kommerziell sind, z. B. den Sirenenalarm. Diese Nut- zung setzt die Bewilligung des BAKOM voraus und darf die Verbreitung von Radioprogrammen nach Ziffer 3.2.1 nicht beeinträchtigen. 3.2.3 Die SRG muss für die Verbreitung der Programme nach der SRG-Konzession ein Empfangsziel von PI95 für mindestens 99 Prozent der Bevölkerung in den sprachregionalen, regionalen und lokalen Gebieten gewährleisten. 3.2.4 Sie muss für die Verbreitung der Programme ein Empfangsziel von MO99 für mindestens 99 Prozent des National- und Kantonsstrassennetzes gewährleis- ten. 3.3 Verbreitungspflichten für Lokalradios 3.3.1 Konzessionierte Veranstalter nach Ziffer 4 müssen eine Funkkonzessionärin mit der Verbreitung ihres Programms beauftragen. Ist die Abdeckung eines Versorgungsgebiets für eine Funkkonzessionärin unverhältnismässig, so kann die Konzessionsbehörde die SRG dazu verpflichten, privaten Veranstaltern nach Ziffer 4 auf ihren Netzen ein Zugangsrecht zu gewähren. 3.3.2 Die Konzessionsbehörde erteilt die Funkkonzessionen so, dass jedes der unter Ziffer 4 genannten Versorgungsgebiete von einem DAB+-Verbreitungsgebiet 121 Der Text der SRG-Konzession ist abrufbar unter: www.bakom.admin.ch > Elektronische Medien > Infos über Programmveranstalter > SRG SSR > Konzessionierung. http://www.bakom.admin.ch/ Fernmeldeverkehr 52 / 58 784.401 abgedeckt ist. Diese Verbreitungsgebiete müssen in ihrer Ausdehnung min- destens deckungsgleich sein mit einem oder mehreren Versorgungsgebieten nach Ziffer 4. 3.3.3 Die Konzessionsbehörde bestimmt, welche Veranstalter im betreffenden Ver- breitungsgebiet nach Ziffer 4 ein Zugangsrecht erhalten. Vereinbarungen, die eine darüber hinausreichende Verbreitung vorsehen, sind zulässig. 3.3.4 Die Funkkonzessionärin hat für die Versorgungsgebiete nach Ziffer 4 einen Versorgungsgrad von mindestens 97 Prozent der Bevölkerung sicherzustel- len. Sie muss die Versorgung aller Ortschaften mit über 200 Einwohnerinnen und Einwohnern in der Versorgungsqualität PI95 gewährleisten. Entlang des National- und Kantonsstrassennetzes muss sie die Versorgungsqualität MO99 gewährleisten. 3.3.5 Die Funkkonzessionärin legt der Konzessionsbehörde ein Reglement vor, das die Rechte und Pflichten bei der Vergabe von Programmplätzen sowie die Priorisierung der zugangsberechtige Veranstalter regelt. Die Bestimmungen sind genehmigungspflichtig. 4 Versorgungsgebiete für Lokalradios 4.1 Kommerzielle Lokalradios Je eine Konzession für die Veranstaltung eines kommerziellen lokalen Radiopro- gramms mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil mit Verbreitung über DAB+ wird für die folgenden Versorgungsgebiete erteilt: Region Versorgungsgebiet a. Chablais Kanton Wallis: Bezirke Monthey und Saint- Maurice Kanton Waadt: Bezirke Aigle und Riviera-Pays d’Enhaut b. Unterwallis Kanton Wallis: Bezirke Saint-Maurice, Martinach, Entremont, Ering, Gundis, Sitten und Siders c. Oberwallis Kanton Wallis: Bezirke Leuk, Visp, Raron, Brig, Goms, Siders und Sitten d. Neuenburg Kanton Neuenburg e. Jura Kanton Jura f. Biel/Bienne – Berner Jura Kanton Bern: Verwaltungskreise Biel/Bienne und Berner Jura Auflage: Das Programm wird in französischer Sprache verbreitet. g. Biel/Bienne – Seeland Kanton Bern: Verwaltungsregion Seeland Kanton Solothurn: Agglomeration Grenchen Auflage: Das Programm wird in deutscher Sprache verbreitet. Radio- und Fernsehverordnung 53 / 58 784.401 Region Versorgungsgebiet h. Freiburg/Fribourg Kanton Freiburg Kanton Waadt: Bezirk Broye-Vully Auflage: Der Veranstalter wird mit der Konzession verpflich- tet, ein deutschsprachiges Programm für den deutschsprachigen Teil des Versorgungsgebiets sowie ein französischsprachiges Programm für den französischsprachigen Teil des Versorgungsgebiets zu veranstalten. i. Berner Oberland Kanton Bern: Verwaltungsregion Oberland j. Emmental-Oberaargau Kanton Bern: Verwaltungsregion Emmental-Ober- aargau und Verwaltungskreis Bern-Mittelland öst- lich bzw. nördlich der Autobahnen A6 und A1 k. Zentralschweiz Kanton Luzern Kanton Nidwalden Kanton Obwalden Kanton Schwyz Kanton Uri Kanton Zug Kanton Glarus l. Schaffhausen Kanton Schaffhausen Kanton Zürich: Bezirk Andelfingen und Bezirk Bülach nördlich des Rheins Kanton Thurgau: nordwestlicher Teil des Bezirks Frauenfeld bis Wagenhausen m. Südostschweiz – Glarus Kanton Graubünden Kanton Glarus Kanton St. Gallen: Wahlkreise Sarganserland und Werdenberg Auflage: Der Veranstalter wird mit der Konzession ver- pflichtet, einen bestimmten Mindestanteil von Sendungen in rätoromanischer und italienischer Sprache zu verbreiten. n. Sopraceneri Kanton Tessin Kanton Graubünden: Bezirk Moesa Auflage: Der Veranstalter wird mit der Konzession ver- pflichtet, in seinem Programm den publizistischen Schwerpunkt im Sopraceneri zu setzen. o. Sottoceneri Kanton Tessin Auflage: Der Veranstalter wird mit der Konzession verpflich- tet, in seinem Programm den publizistischen Schwerpunkt im Sottoceneri zu setzen. Fernmeldeverkehr 54 / 58 784.401 4.2 Komplementäre nicht gewinnorientierte Lokalradios Je eine Konzession für die Veranstaltung eines komplementären nicht gewinnorien- tierten Radioprogramms mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil und Verbreitung über DAB+ wird in den folgenden Versorgungsgebieten erteilt: Region Versorgungsgebiet a. Genf Kanton Genf Kanton Waadt: Bezirk Nyon b. Bern Kanton Bern: Verwaltungsregion Bern-Mittelland c. Aargau-Mitte Kanton Aargau: Bezirke Zofingen, Olten, Gösgen, Aarau, Brugg, Agglomerationen Lenzburg und Baden-Brugg d. Basel Kantone Basel-Stadt und Basel-Land: Agglome- ration Basel e. Luzern Kanton Luzern: Agglomeration Luzern Kanton Schwyz: Bezirk Küssnacht Kanton Obwalden: Gemeinden Alpnach und Sarnen f. Zürich Kanton Zürich: Agglomerationshauptkern Zürich, Bezirke Dielsdorf und Bülach je ohne die Gemein- den nördlich der Linie Embrach-Dielsdorf g. Winterthur Kanton Zürich: Bezirke Winterthur und Pfäffikon h. Schaffhausen Kanton Schaffhausen: Agglomeration Schaffhausen i. St. Gallen Kanton St. Gallen: Agglomerationshauptkern St. Gallen j. Lugano Kanton Tessin: Agglomeration Lugano Radio- und Fernsehverordnung 55 / 58 784.401 Anhang 2122 (Art. 38 Bst. b) Verbreitungsart und Versorgungsgebiete für Regionalfernsehveranstalter mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil 1 Verbreitungsart Die Verbreitung der regionalen Fernsehprogramme mit Leistungsauftrag und Abga- benanteil erfolgt über Leitungen nach Artikel 59 Absatz 1 Buchstabe b RTVG. 2 Versorgungsgebiete Je eine Konzession für die Veranstaltung eines regionalen Fernsehprogramms mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil wird für die folgenden Versorgungsgebiete erteilt: Region Versorgungsgebiet a. Genf Kanton Genf Kanton Waadt: Bezirk Nyon b. Waadt – Freiburg Kanton Waadt Kanton Freiburg Kanton Wallis: Bezirk Monthey c. Wallis Kanton Wallis Kanton Waadt: Bezirk Aigle Auflagen: Der Veranstalter wird mit der Konzession verpflichtet, je für den deutsch- und den franzö- sischsprachigen Teil des Versorgungsgebiets Infor- mationsleistungen zu verbreiten. Die Programme sind im entsprechenden Teilgebiet zu produzieren. d. Arc Jurassien Kanton Neuenburg Kanton Jura Kanton Waadt: Agglomeration Yverdon-les-Bains und Bezirk Jura-Nord vaudois nördlich der A9 e. Bern Kanton Bern, ohne Verwaltungsregion Berner Jura Kanton Freiburg: Bezirke See und Sense f. Biel/Bienne Kanton Bern: Verwaltungsregionen Seeland und Berner Jura Kanton Solothurn: Agglomeration Grenchen Kanton Freiburg: Bezirk See 122 Eingefügt durch Ziff. II Abs. 1 der V vom 4. Juli 2007 (AS 2007 3555). Fassung gemäss Ziff. II der V vom 16. Sept. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 526). Fernmeldeverkehr 56 / 58 784.401 Region Versorgungsgebiet Auflage: Der Veranstalter wird mit der Konzession verpflichtet, je für den deutsch- und den franzö- sischsprachigen Teil des Versorgungsgebiets Informationsleistungen zu verbreiten. g. Basel Kanton Basel-Stadt Kanton Basel-Land Kanton Solothurn: Bezirke Thierstein und Dorneck Kanton Aargau: Bezirke Rheinfelden und Laufen- burg h. Aargau – Solothurn Kanton Aargau Kanton Solothurn Kanton Bern: Verwaltungskreis Oberaargau i. Zentralschweiz Kanton Luzern Kanton Zug Kanton Obwalden Kanton Nidwalden Kanton Uri Kanton Schwyz j. Zürich – Nordostschweiz Kanton Zürich Kanton Schaffhausen Kanton Thurgau k. Ostschweiz Kanton St. Gallen Kanton Appenzell I. Rh. Kanton Appenzell A. Rh. Kanton Thurgau l. Südostschweiz – Glarus Kanton Graubünden Kanton Glarus Kanton St. Gallen: Wahlkreise Sargans und Werdenberg Auflage: Der Veranstalter wird mit der Konzession verpflichtet, einen bestimmten Mindestanteil von Sendungen in rätoromanischer und italienischer Sprache zu verbreiten. m. Tessin Kanton Tessin Kanton Graubünden: Bezirk Moesa Radio- und Fernsehverordnung 57 / 58 784.401 Anhang 3123 (Art. 52 Abs. 2) Liste der über Leitungen zu verbreitenden ausländischen Programme In der gesamten Schweiz: – ARTE (digital: ganzes Programm; analog ab 19 Uhr) – 3Sat – TV5 – ARD – ORF 1 – France 2 – Rai Uno In der Sprache der jeweiligen Sprachregion: – Euronews 123 Fassung gemäss Ziff. II der V vom 12. März 2010, in Kraft seit 1. April 2010 (AS 2010 965). Fernmeldeverkehr 58 / 58 784.401 1. Titel: Geltungsbereich Art. 1 Angebote von geringer publizistischer Tragweite 2. Titel: Veranstaltung von Programmen 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen 1. Abschnitt: Meldepflicht Art. 2 Meldepflicht Art. 3 Korrespondenzadresse 2. Abschnitt: Inhaltliche Grundsätze Art. 4 Jugendschutz Art. 5 Mindestanteile europäischer Werke und unabhängiger Produktionen Art. 6 Pflicht zur Förderung des Schweizer Films Art. 7 Behindertengerechte Aufbereitung von Fernsehsendungen auf den Kanälen der SRG Art. 8 Behindertengerechte Aufbereitung durch andere Fernsehveranstalter Art. 9 Verbreitungspflichten Art. 10 Information in Krisensituationen 3. Abschnitt: Werbung und Sponsoring Art. 11 Begriffe Art. 12 Erkennbarkeit der Werbung Art. 13 Werbung auf geteiltem Bildschirm Art. 14 Interaktive Werbung Art. 15 Virtuelle Werbung Art. 16 Werbung für alkoholische Getränke Art. 17 Politische Werbung Art. 18 Einfügung der Werbung Art. 19 Dauer der Werbung Art. 20 Sponsornennung Art. 21 Produkteplatzierung Art. 22 Zusätzliche Werbe- und Sponsoringbeschränkungen in den Programmen der SRG Art. 23 Werbung und Sponsoring im übrigen publizistischen Angebot der SRG 4. Abschnitt: Pflichten bei der Programmveranstaltung Art. 24 Meldepflicht bei Änderungen von Beteiligungen am Veranstalter Art. 25 Meldepflicht bei namhaften Beteiligungen des Veranstalters an anderen Unternehmen Art. 26 Auskunftspflicht Art. 27 Jahresbericht und Jahresrechnung von Veranstaltern Art. 28 Aufzeichnungspflicht 5. Abschnitt: Rundfunkstatistik Art. 29 Organisation Art. 30 Beschaffung der Daten Art. 31 Verwendung der Daten Art. 32 Veröffentlichung statistischer Ergebnisse 6. Abschnitt: Erhaltung von Programmen Art. 33 Archive der SRG Art. 33a Archive von anderen schweizerischen Programmveranstaltern 7. Abschnitt: Konzessionsabgabe Art. 34 Erhebung der Konzessionsabgabe 2. Kapitel: Leistungsvereinbarung über das Auslandangebot der SRG Art. 35 3. Kapitel: Andere Veranstalter mit Leistungsauftrag Art. 36 Komplementäre nicht gewinnorientierte Radioprogramme Art. 37 Art. 38 Versorgungsgebiete Art. 39 Festlegung des Abgabenanteils Art. 40 Verwaltung der Abgabenanteile durch den Bund Art. 41 Pflichten des Konzessionärs Art. 42 Programmproduktion des Konzessionärs Art. 43 Konzessionierungsverfahren Art. 44 Konzessionen für Programme von kurzer Dauer 4. Kapitel: Leistungsvereinbarung mit einer Nachrichtenagentur von nationaler Bedeutung Art. 44a 3. Titel: Übertragung und Aufbereitung von Programmen 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 45 Ausreichende Qualität der Verbreitung Art. 46 Verbreitungspflicht für gekoppelte Dienste 2. Kapitel: Drahtlos-terrestrische Programmverbreitung 1. Abschnitt: Nutzung von Funkfrequenzen Art. 47 Nutzung von Funkfrequenzen für die Verbreitung von Radio- und Fernsehprogrammen Art. 48 Kostenorientierte Entschädigung der Verbreitung 2. Abschnitt: Unterstützung der Verbreitung von Radioprogrammen Art. 49 3. Abschnitt: Investitionsbeiträge für neue Technologien Art. 50 Förderungswürdige Verbreitungstechnologien Art. 51 Art und Bemessung der Förderleistungen 3. Kapitel: Verbreitung über Leitungen Art. 52 Programme ausländischer Veranstalter Art. 53 Höchstzahl der zugangsberechtigten Programme Art. 54 Zur Verbreitung verpflichtete Fernmeldedienstanbieterinnen Art. 55 4. Kapitel: Aufbereitung Art. 56 Offene Schnittstellen und technische Ausgestaltung 4. Titel: Abgabe für Radio und Fernsehen 1. Kapitel: Haushaltabgabe Art. 57 Höhe der Abgabe Art. 58 Erhebung der Abgabe Art. 59 Fälligkeit, Nachforderung, Rückerstattung und Verjährung Art. 60 Gebühren für Dreimonatsrechnungen, Mahnung und Betreibung Art. 61 Befreiung von der Abgabepflicht Art. 62 Vertrag mit der Erhebungsstelle Art. 63 Rechnungslegung und Revision Art. 64 Berichterstattung und Aufsicht Art. 65 Veröffentlichung von Jahresrechnung, Revisionsbericht und Tätigkeitsbericht Art. 66 Überweisung der Abgabe Art. 67 Bezug der Daten zu Haushalten Art. 67a Bezug von Daten aus Ordipro 2. Kapitel: Unternehmensabgabe Art. 67b Höhe der Abgabe Art. 67c Unternehmensabgabegruppen Art. 67d Zusammenschlüsse autonomer Dienststellen von Gemeinwesen Art. 67e Rechnungsstellung Art. 67f Rückerstattung Art. 67g Überweisung der Abgabe Art. 67h Verzugszins Art. 67i Berichterstattung durch die ESTV 3. Kapitel: Veröffentlichung von Kennzahlen zur Abgabe Art. 67j 5. Titel: Schutz der Vielfalt und Förderung der Programmqualität 1. Kapitel: Zugang zu öffentlichen Ereignissen Art. 68 Umfang des Kurzberichterstattungsrechts bei öffentlichen Ereignissen Art. 69 Direkter Zugang zu öffentlichen Ereignissen Art. 70 Signallieferung für die Kurzberichterstattung Art. 71 Freier Zugang zu Ereignissen von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung 2. Kapitel: Förderung von Aus- und Weiterbildung sowie Medienforschung Art. 72 Aus- und Weiterbildung von Programmschaffenden Art. 73 Medienforschung 3. Kapitel: Stiftung für Nutzungsforschung Art. 74 6. Titel: Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen Art. 75 Zusammensetzung Art. 76 Wahl und Beaufsichtigung der Ombudsstellen Art. 77 Verfahrenskosten der Ombudsstellen 7. Titel: Verwaltungsgebühren Art. 78 Grundsatz Art. 79 Reduktion der Verwaltungsgebühr Art. 80 Anwendbarkeit der Allgemeinen Gebührenverordnung 8. Titel: Schlussbestimmungen 1. Kapitel: Vollzug und Aufhebung bisherigen Rechts Art. 80a Vollzug Art. 81 Aufhebung bisherigen Rechts 2. Kapitel: Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 25. Mai 2016 1. Abschnitt: Verwendung des Überschusses aus den Gebührenanteilen Art. 82 Zur Verfügung stehender Betrag Art. 83 Verwendung für die Aus- und Weiterbildung Art. 84 Verwendung für die Förderung neuer Verbreitungstechnologien Art. 85 Verwendung für digitale Fernsehproduktionsverfahren 2. Abschnitt: Ablösung der Empfangsgebühr durch die Abgabe für Radio und Fernsehen Art. 86 Zeitpunkt der Ablösung Art. 87 Letzte Rechnungsstellung der Empfangsgebühr nach bisherigem System Art. 88 Erste Rechnungsstellung der Haushaltabgabe Art. 89 Datenlieferung der Gemeinden und Kantone Art. 90 Datenlieferung des EDA Art. 91 Datenübergabe zur Befreiung von der Abgabepflicht Art. 92 Abschluss des Empfangsgebührensystems Art. 93 Einführung der Unternehmensabgabe 3. Abschnitt: Privathaushalte ohne Empfangsmöglichkeit Art. 94 Gesuch um Befreiung von der Abgabepflicht Art. 95 Zum Empfang geeignete Geräte Art. 96 Meldung einer Empfangsmöglichkeit 2a. Kapitel: Übergangsbestimmung zur Änderung vom 25. Oktober 2017 Art. 96a 2b. Kapitel: Übergangsbestimmung zur Änderung vom 16. September 2022 3. Kapitel: Inkrafttreten Art. 97 Anhang 1 Verbreitungsart und Versorgungsgebiete für die drahtlos terrestrische Verbreitung von Radioprogrammen mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil 1 Begriffe 2 Verbreitungstechnologie und Zuständigkeiten 3 Verbreitungspflichten für Funkkonzessionärinnen 3.1 Allgemeine Pflichten der Funkkonzessionärin 3.2 Pflichten der SRG 3.3 Verbreitungspflichten für Lokalradios 4 Versorgungsgebiete für Lokalradios 4.1 Kommerzielle Lokalradios 4.2 Komplementäre nicht gewinnorientierte Lokalradios Anhang 2 Verbreitungsart und Versorgungsgebiete für Regionalfernsehveranstalter mit Leistungsauftrag und Abgabenanteil 1 Verbreitungsart 2 Versorgungsgebiete Anhang 3 Liste der über Leitungen zu verbreitenden ausländischen Programme | de |
cfb4fa72-260b-4006-9199-00360d43280b | Sachverhalt
ab Seite 224
BGE 134 II 223 S. 224
Die Sat.1 (Schweiz) AG strahlt die Überraschungsshow "Celebrations" aus. In deren "Billboard" (Sponsorhinweis) vom 11. und 25. November 2005 wurde darauf hingewiesen, dass die Sendung vom "neuen SEAT Toledo präsentiert" werde, und das Signet "SEAT auto emoción" eingeblendet. Am 5. September 2006 stellte das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) fest, dass die Sat.1 (Schweiz) AG damit gegen die rundfunkrechtlichen Werbe- und Sponsoringbestimmungen verstossen habe: Der Zusatz "neu" stelle aufgrund seines anpreisenden Charakters praxisgemäss eine im Sponsorhinweis
BGE 134 II 223 S. 225
unzulässige werbliche Aussage dar; dasselbe gelte für den Slogan "auto emoción". Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diesen Entscheid auf Beschwerde hin am 30. Oktober 2007. Das Bundesgericht weist die von der Sat.1 (Schweiz) AG hiergegen eingereichte Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Umstritten ist die Rechtsfrage, welche Informationen ein Sponsor-Billboard enthalten kann; ob und allenfalls welche Werbewirkungen damit verbunden sein dürfen. Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass imageprägende Aussagen zulässig seien und der Sponsor so auftreten könne, wie er dies in der Öffentlichkeit regelmässig tue und er dem Publikum bekannt sei. Dies erlaube, die Transparenz zugunsten des Zuschauers zu erhöhen. Die radio- und fernsehrechtlichen Bestimmungen über das Sponsoring müssten so ausgelegt werden, dass sie den wirtschaftlichen Realitäten und den Bedürfnissen der unternehmensbezogenen Kommunikation entsprächen. Die "unverhältnismässig strenge Praxis" des BAKOM und der Vorinstanz führe zu einer erheblichen Benachteiligung von Schweizer TV-Produktionen gegenüber den in der EU hergestellten Sendungen. Der Zusatz "auto emoción" sei ein nicht produktebezogener, imageprägender Slogan/Claim ohne direkten Sinngehalt und deshalb nicht mit den vom BAKOM bereits beurteilten Slogans vergleichbar; diese hätten sich jeweils direkt auf bestimmte Produkte bezogen ("Pepsi - Ask for More", "Citroën Xsara - einer dem man vertraut", "Mit Eurocard der Zeit voraus" usw.). Was sich markenrechtlich hinsichtlich der Werbewirkung bei Slogans und Claims als zulässig erweise, könne rundfunkrechtlich nicht verboten sein. Mit dem markenrechtlich geschützten Slogan bzw. Claim "auto emoción" werde die Unternehmens- und nicht eine Produktmarke von SEAT ("Seat Toledo", "Seat Alhambra" usw.) in den Vordergrund gerückt. Das Gesetz verbiete "Aussagen werbenden Charakters über Waren und Dienstleistungen"; nur produktebezogene Werbeaussagen, nicht werbende Identifikationselemente seien deshalb von der Sponsornennung ausgeschlossen. Wenn ein Sponsor in seinem gesamten Auftritt am Markt jeweils seinen Firmennamen mit einem Slogan/Claim verbinde, so stehe dieser für das Publikum unweigerlich identifizierend für das Unternehmen als solches. Das Rechtsverständnis der Vorinstanzen beschränke die Wirtschaftsfreiheit ohne öffentliches Interesse in unverhältnismässiger
BGE 134 II 223 S. 226
Weise; zudem trage es der EU-Fernsehrichtlinie keine Rechnung, welche nur "spezifisch verkaufsfördernde Hinweise" auf Erzeugnisse oder Dienstleistungen als unzulässig bezeichne. Dementsprechend seien nach deutschem Recht denn auch "imageprägende" Slogans wie etwa "Gut, besser, Paulaner" zulässig, obwohl diese - im Gegensatz zu "auto emoción" - inhaltlich konkret interpretierbare Aussagen enthielten ("Paulaner ist das beste Bier").
3.
Diese Ausführungen sind aus der Sicht der Beschwerdeführerin verständlich, lassen die von der Vorinstanz geschützte Praxis des BAKOM indessen nicht als bundesrechtswidrig erscheinen:
3.1
Als Sponsoring gilt die Beteiligung einer natürlichen oder juristischen Person an der direkten oder indirekten Finanzierung einer Sendung mit dem Ziel, den eigenen Namen, die eigene Marke oder das Erscheinungsbild zu fördern (Art. 16 Abs. 1 der Radio- und Fernsehverordnung vom 6. Oktober 1997 [RTVV 1997; AS 1997 S. 2908];
Art. 2 lit. o des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen [RTVG 2006; SR 784.40]
). Nach Art. 19 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1991 über Radio und Fernsehen (RTVG 1991; AS 1991 S. 601 ff.) darf in gesponserten Sendungen "nicht zum Abschluss von Rechtsgeschäften über Waren oder Dienstleistungen der Sponsoren oder von Dritten angeregt werden; insbesondere dürfen keine gezielten Aussagen werbenden Charakters über diese Waren oder Dienstleistungen gemacht werden" (vgl. Art. 12 Abs. 3 RTVG 2006). Die Sponsoren sind am Anfang und am Schluss jeder Sendung zu nennen (Art. 19 Abs. 2 RTVG 1991 bzw. Art. 12 Abs. 2 RTVG 2006); dabei muss ein "eindeutiger Bezug zwischen Sponsor und Sendung" geschaffen werden (Art. 20 Abs. 1 der Radio- und Fernsehverordnung vom 9. März 2007 [RTVV 2007; SR 784.401]). Der Hinweis auf den Sponsor soll ausschliesslich Elemente enthalten, die seiner Identifizierung dienen, indessen "keine Aussagen werbenden Charakters" (Art. 20 Abs. 2 RTVV 2007). Die Werbung muss - als Grundprinzip des Radio- und Fernsehrechts - vom redaktionellen Teil des Programms deutlich getrennt und als solche eindeutig erkennbar sein (Art. 18 Abs. 1 RTVG 1991 bzw. Art. 9 Abs. 1 RTVG 2006; MARC LAUKEMANN, Fernsehwerbung im Programm, Frankfurt a.M. 2002, S. 198 ff.). Als Werbung gilt nicht nur die Förderung des Abschlusses von Rechtsgeschäften über Waren oder Dienstleistungen gegen Bezahlung oder eine ähnliche Gegenleistung, sondern generell jede öffentliche Äusserung im Programm, welche die Unterstützung einer Sache oder Idee oder "die
BGE 134 II 223 S. 227
Erzielung einer anderen vom Werbetreibenden (...) selbst gewünschten Wirkung" zum Zweck hat (vgl. Art. 11 Abs. 1 RTVV 1997 [AS 1997 S. 2907] bzw. Art. 2 lit. k RTVG 2006).
3.2
Das Sponsoring dient dem langfristigen Imagegewinn und ist nicht auf den kurzfristigen Abschluss von Rechtsgeschäften ausgerichtet. Im Gegensatz zur Werbung, bei der gegen Entgelt Sendezeit zur eigenen Gestaltung durch den Kunden im Rahmen der rundfunkrechtlichen Werbebestimmungen zur Verfügung gestellt wird, bezieht sich das Sponsoring immer auf einen Teil des redaktionellen Programms, das in der Verantwortung des Veranstalters verbleibt (
BGE 126 II 7
E. 5a S. 15; ROLF H. WEBER, Rechtliche Grundlagen für Werbung und Sponsoring, in: SMI 1993 S. 213 ff., dort S. 219 ff.). Der Gesetzgeber ermöglichte das Sponsoring 1991 in der Vorstellung, "dass oft kulturell bedeutende und finanziell aufwendige Produktionen (z.B. Übertragungen von Konzerten und Opern, Dokumentationen und Dokumentarfilme) auf diese Weise ermöglicht und erleichtert" werden könnten (BBl
BGE 1987 III 723
). Das Publikum habe jedoch ein Recht darauf zu erfahren, "ob eine Sendung gesponsert wurde und von wem" (BBl
BGE 1987 III 735
). Die Sponsornennung solle diesbezüglich Transparenz schaffen; dabei gelte es, eine Vermischung von Werbung und Sponsoring bzw. eine damit mögliche Umgehung der Werbevorschriften (Trennungsgebot, Werbezeitbeschränkung usw.) zu verhindern. Die für den Sponsor zu erzielende Wirkung habe sich - als Einbruch in das Trennungsgebot von Werbung und redaktionellem Teil des Programms - auf den mit der Nennung im Zusammenhang mit der gesponserten Sendung verbundenen Imagetransfer als solchen zu beschränken (vgl. MARC FURRER, Der Unterschied zwischen Sponsoring und Werbung in Radio und Fernsehen, in: Medialex 1998 S. 179 ff.).
3.3
3.3.1
Der Aufsichtspraxis und den Sponsoring-Richtlinien des BAKOM vom Juni 1999/April 2007 liegt ein klassisch-konservatives Verständnis des Sponsorings zugrunde (zur Rechtsnatur der Richtlinien:
BGE 126 II 7
E. 5b/cc S. 17). Danach gelten Hinweise - unabhängig von einem allfälligen markenrechtlichen Schutz - als unzulässig, die über die Erkennbarkeit des Sponsors bzw. jene seiner Aktivitäten hinausgehen: Neben der Namensnennung kann auf ein Produkt oder auf eine Dienstleistung verwiesen werden, falls diese beim Publikum bekannter sind als die Firma oder die Marke selber ("Beiersdorf/Nivea"; Ziff. 15 der
BGE 134 II 223 S. 228
Sponsoring-Richtlinien); zudem darf jeweils ein frei wählbares Adresselement (Geschäftsadresse, Telefonnummer oder Internetadresse; Ziff. 23 der Sponsoring-Richtlinien) oder eine neutrale Umschreibung des Haupttätigkeitsbereichs (zum Beispiel "Confiserie Weibel" statt "Firma Weibel") der Sponsornennung beigefügt werden (Ziff. 16 der Sponsoring-Richtlinien), wenn dies ausschliesslich der Identifizierung des Sponsors und der Transparenz dient (SIGMUND PUGATSCH, Werberecht für die Praxis, 3. Aufl., Zürich 2007, S. 174). Wertende Aussagen und Slogans zum Sponsor selber oder zu dessen Produkten oder Dienstleistungen sind indessen untersagt (vgl. auch: NOBEL/WEBER, Medienrecht, Bern 2007, S. 445 N. 144; FRANZ ZELLER, Öffentliches Medienrecht, Bern 2004, S. 273; PUGATSCH, a.a.O., S. 174; BRUNO GLAUS, Medien-, Marketing- und Werberecht, Rapperswil 2004, S. 54 f.; Ziff. 21 der Sponsoring-Richtlinien). Als solche gelten Imagewerbungen, die über die Assoziation von Sponsor und Sendung hinausgehen (vgl. die Zusammenfassung der Praxis im Entscheid des UVEK 519.1-315 vom 20. März 2006 betreffend "Pepsi - Ask For More" und in den Verfügungen des BAKOM vom 14. Juli 2006 betreffend "Rimuss -
die
alkoholfreie Alternative", E. 2.2.2, vom 21. Juli 2003 betreffend "Le Petit Larousse, le dictionnaire qui a le dernier mot !" und "Le Matin. Vite lu, bien vu", E. 1 und E. 3, sowie vom 24. Juni 2003 betreffend "UBS/Allinghi", E. 2).
3.3.2
An diesem Sponsoring-Verständnis hat der Gesetzgeber im Rahmen des RTVG 2006 - in Kenntnis des neuen medialen Umfelds - festgehalten (vgl. NOBEL/WEBER, a.a.O., S. 444 ff.): Bei der kommerziellen Finanzierung (Werbung, Verkaufsangebote, Sponsoring) von Radio und Fernsehen gehe es - so der Bundesrat in seiner Botschaft - darum, "im Interesse der unverfälschten Meinungsbildung des Publikums redaktionelle Programminhalte von Werbebotschaften erkennbar zu trennen und bei einer Drittfinanzierung von Sendungen Transparenz über die Finanzflüsse und das damit verbundene Beeinflussungspotential herzustellen"; es sei im Interesse der unverfälschten Meinungsbildung "zwingend", dass die Bestimmungen über die Trennung von redaktionellen und kommerziellen Inhalten durch die Kennzeichnung von kommerziellen Botschaften nicht umgangen würden (BBl 2003 S. 1622 f.; ZÖLCH/ZULAUF, Kommunikationsrecht für die Praxis, Bern 2007, S. 156 f.). Auch wenn sich das Sponsoring in den letzten zehn Jahren erheblich gewandelt habe und immer stärker versucht werde,
BGE 134 II 223 S. 229
Werbebotschaften möglichst nahe bei redaktionellen Programmteilen mit hoher Publikumsaufmerksamkeit zu platzieren, müsse am Verbot werbender Aussagen festgehalten werden. Der Missbrauch von Sponsornennungen zu Werbezwecken führe zu einer Aushöhlung der Werberegelungen zum Nachteil jener Veranstalter, die sich an die Werbevorschriften hielten. Sogenannt "gestaltete" Sponsorhinweise seien zwar zulässig, dürften aber nicht werbend wirken (BBl 2003 S. 1624 f.). Der Sponsorhinweis sei Teil der redaktionellen Sendung; er könne im Rahmen der "
Praxis nach geltendem Recht
" mit kurzen Zusatzbotschaften - etwa über das Tätigkeitsgebiet des Sponsors - angereichert werden; nicht erlaubt seien jedoch Aussagen werbenden Charakters (BBl 2003 S. 1680). Diese Ausführungen blieben in den parlamentarischen Beratungen unbestritten, auch wenn der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit, im Rahmen "gewisser Kriterien" Sponsorhinweise gestalten zu dürfen, aus Gründen der Verständlichkeit gestrichen wurde (vgl. AB 2004 N 66 f., AB 2005 S 63 f. [Votum Kommissionssprecher Escher], AB 2005 N 116 - jeweils zu Art. 14 Abs. 3 des bundesrätlichen Entwurfs).
3.4
Vor diesem Hintergrund rechtfertigt es sich nicht, im vorliegenden Zusammenhang auf eine rein
geltungszeitliche
Auslegung abzustellen, wie dies die Beschwerdeführerin wünscht (zu den verschiedenen Auslegungsmethoden:
BGE 131 II 710
E. 4.1 mit Hinweisen):
3.4.1
Die Definition der Werbung in Art. 11 Abs. 1 RTVV 1997[AS1997 S. 2907] bzw. Art. 2 lit. k RTVG 2006, welche dem Begriffdes unzulässigen "werbenden" Charakters bei der Sponsornennung zugrunde liegt (Art. 20 Abs. 2 RTVV 2007), ist weit formuliert. Sie schliesst neben der kommerziellen auch die ideelle Werbung ein und unterscheidet sich dadurch von der EU-Richtlinie 89/552/EWG vom 3. Oktober 1989 über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl. L 298 vom 17. Oktober 1989 S. 23; Fassung vom 30. Juni 1997, im Folgenden: EU-Fernsehrichtlinie). Diese erfasst - im Gegensatz zum Europäischen Übereinkommen vom 5. Mai 1989 über das grenzüberschreitende Fernsehen (
Art. 2 lit. f EÜGF
[SR 0.784.405]) -ausschliesslich die kommerzielle Werbung (vgl. Art. 1 lit. c EU-Fernsehrichtlinie). Die Aufforderung zum Abschluss eines Rechtsgeschäfts ist für den Werbebegriff nach Art. 2 lit. k RTVG 2006 bzw.
Art. 2 lit. f EÜGF
nicht erforderlich; es genügt, wenn mit der entgeltlichen öffentlichen Äusserung im Programm
irgendeine
vom Betroffenen gewünschte Wirkung angestrebt wird (BBl 2003 S. 1665).
BGE 134 II 223 S. 230
Hierunter fallen auch entgeltliche Äusserungen, die nicht direkt einen Geschäftsabschluss bezwecken (so HÖFLING/MÖWES/PECHSTEIN, Europäisches Medienrecht, München 1991, S. 115).
3.4.2
Bei der Bezeichnung "SEAT auto emoción" handelt es sich um eine mit einem Slogan bzw. Claim ("auto emoción") eingetragene Marke der Firma SEAT SA (
S
ociedad
E
spañola de
A
utomóviles de
T
urismo S.A.). Umstritten ist nicht die Verwendung des Firmennamens, sondern die Zulässigkeit des ergänzenden Claims "auto emoción". Diesem kommt - wie die Vorinstanzen zu Recht festgestellt haben - eine werbende Wirkung im Sinne von Art. 19 Abs. 3 RTVG 1991 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 RTVV 1997 (bzw. heute Art. 20 Abs. 2 RTVV 2007) zu: Als Slogan gilt ein kurzer, prägnanter Werbetext für eine Produkt- oder Unternehmensmarke; als Claim wird ein schlagwortartiger Werbespruch bezeichnet, der als Bindeglied von wirtschaftlichen Kommunikationsmassnahmen in anregender Form den Kernaspekt einer Werbeaussage kennzeichnen und Stimmungen und Wertgefüge bestimmter Zielgruppen treffen soll; vielfach werden Slogan und Claim synonym verwendet (vgl. ULRICH GÖRG, Claims, Claiming als Wertschöpfungsinstrument der Markenführung, Offenbach 2005, S. 9 f.; BERND M. SAMLAND, Unverwechselbar - Name, Claim und Marke, München 2006, S. 114 ff.). Ein Claim hat somit definitionsgemäss immer etwas Verkaufsförderndes und dies unabhängig davon, ob er sich langfristig auf eine Unternehmens- bzw. eine Produktemarke bezieht oder kurzfristig eine Kampagne unterstützen will. Psychologisch betrachtet sind Claims Schlüsselreize, die emotive und kognitive Assoziationen aktivieren; im Idealfall schaffen sie es, in wenigen Worten zu beschreiben, wofür eine Marke steht und deren Mission, Positionierung, Nutzen und Werte zu kommunizieren (GÖRG, a.a.O., S. 19). "Auto emoción" verkörpert in diesem Sinn eine Palette von schnittigen, sportlichen und formgereiften Automodellen, für die SEAT nach seiner Markenstrategie stehen will. Der Claim suggeriert, dass der Kontakt mit SEAT-Fahrzeugen mit positiven Emotionen verbunden ist, was die akustische Umsetzung des Claims mit einer flüsternden, sinnlichen Frauenstimme und die sportliche Darstellung eines konkreten (dunklen) Fahrzeugmodells im "Billboard" unterstreichen (vgl. HAUKE WAGNER, Möglichkeiten der Werbespots im Fernsehen und im Internet, Gelnhausen 2002, S. 44 f.). SEAT hält in seinen Unterlagen zum Begriff "auto emoción" denn unter anderem auch fest: "Based in Spain and active in over 70
BGE 134 II 223 S. 231
countries, SEAT is dedicated to producing cars that excel in design and radiate sporty character. Something we sum up as 'SEAT auto emoción'". Der Claim bildet somit einen Teil der Werbe- und Marketingstrategie der Firma SEAT, welche ein dem Zielpublikum angepasstes Umfeld für den Verkauf ihrer Produkte schaffen will. Diese Wirkung geht über den Imagetransfer hinaus, der allein mit der Nennung als Sponsorin einer bestimmten Sendung verbunden ist. Es handelt sich um eine zusätzliche, von SEAT zu Geschäftszwecken (Marktpositionierung) bzw. zur allgemeinen Förderung ihrer Markenstrategie ("Brand Strategy") angestrebte unzulässige Wirkung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 RTVV 2007. Die Angabe des Claims ist für die Erkennbarkeit des Sponsoringverhältnisses und dessen Transparenz nicht nötig. Mit dem Firmennamen SEAT wird dem Zuschauer hinreichend klar, wer als Sponsor auftritt; durch das Zeigen eines der Modelle kann das Tätigkeitsgebiet der Beschwerdeführerin wertneutral bezeichnet werden, ohne dass es hierzu noch einer optischen und akustischen Darstellung des Markenclaims bedürfte.
3.4.3
In dieser (untergeordneten) Werbebeschränkung liegt kein unzulässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit (vgl.
BGE 127 II 91
E. 4): Das Verbot von Aussagen mit werbendem Charakter in der Sponsornennung stützt sich auf eine klare gesetzliche Grundlage. Es dient im öffentlichen Interesse dem Schutz der redaktionellen Freiheit der Veranstalter und der Information des Medienkonsumenten über die Finanzierungsverhältnisse, wobei der Zuschauer nicht unterschwellig und gegen seinen Willen mit Markenkommunikation konfrontiert werden soll (vgl. GABRIELE SIEGERT et al., Die Zukunft der Fernsehwerbung - Produktion, Verbreitung und Rezeption von programmintegrierten Werbeformen in der Schweiz, Bern 2007, S. 20). Dabei spielt keine Rolle, dass mit dem Hinweis "auto emoción" nicht unmittelbar ein konkretes Produkt oder eine konkrete Dienstleistung (Absatzwerbung), sondern - über einen Slogan, Claim oder anderen Zusatz - die Markenpositionierung des Produzenten gefördert wird (Imagewerbung). Hierzu steht die Spotwerbung offen, die (auch) in der Nähe einer gesponserten Sendung platziert werden darf (Ziff. 20 der Sponsoring-Richtlinien), womit - unter Einhaltung des Trennungsgebots - im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung markenbezogene werbliche Aussagen rundfunkrechtlich möglich bleiben. Das RTVG 2006 lässt neu die Produkteplatzierung als besondere Form des Sponsorings zu (Art. 9 Abs. 1,
BGE 134 II 223 S. 232
12 Abs. 3 und 13 Abs. 4 RTVG 2006 i.V.m. Art. 21 RTVV 2007), wenn damit keine die Integration in den normalen Handlungsablauf sprengenden Aussagen werbenden Charakters verbunden sind. Unter gewissen Voraussetzungen ist auch Werbung in "Splitscreen"-Technik möglich (Art. 13 RTVV 2007; vgl. aber noch
BGE 133 II 136
E. 2.2.2 S. 140) und stehen jetzt auch die "virtuelle" (Art. 15 RTVV 2007) und die "interaktive" Werbung (Art. 14 RTVV 2007) offen. Die Werbewirtschaft und die Veranstalter verfügen damit über hinreichende Sonderwerbeformen (auch programmintegrierter bzw. hybrider Natur), um trotz der "Akzeptanzkrise der Werbung" die Aufmerksamkeit des Publikums ausserhalb der klassischen Spotwerbung gewinnen zu können. Es ist deshalb nicht unverhältnismässig, imageprägende werbliche Aussagen beim Sponsoring auszuschliessen.
3.4.4
Soweit die Beschwerdeführerin einwendet, dass der Claim markenrechtlich geschützt sei und deshalb keine werbende Wirkung haben könne, verkennt sie die unterschiedlichen Zwecke der beiden Regelungen: Die Marke ist ein Zeichen, das geeignet ist, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von solchen anderer Unternehmen abzugrenzen (
Art. 1 MSchG
[SR 232.11]). Vom Markenschutz ausgeschlossen sind unter anderem Zeichen, die Gemeingut bilden (etwa solche von beschreibendem Charakter), es sei denn, sie hätten sich als Marke für die Waren oder Dienstleistungen durchgesetzt, für die sie beansprucht werden (
Art. 2 lit. a MSchG
). Als beschreibende Angaben gelten sachliche Hinweise bezüglich der Waren oder Dienstleistungen; diese werden von den betroffenen Verkehrskreisen nicht als individualisierende Hinweise auf eine bestimmte betriebliche Herkunft verstanden (fehlende Unterscheidungskraft) und sollen für jedermann zum Gebrauch freigehalten werden (Freihaltebedürfnis). Slogans und Claims sind markenrechtlich deshalb unzulässig, wenn sie reklamehafte Anpreisungen oder Wörter bzw. Phrasen, die in der Werbung häufig verwendet werden, und einfache Aufforderungen oder allgemein verbreitete Redewendungen enthalten. Sie sind indessen schutzfähig, falls ihr beschreibender Charakter nur unter Aufwendung von Gedankenarbeit erkennbar ist bzw. sie ein unterscheidungskräftiges Element enthalten (vgl. die Richtlinien des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum in Markensachen vom 1. Januar 2007, S. 71 f.). Der markenrechtlich geschützte Claim dient damit wie die Marke allgemein der Kennzeichnung (Individualisierung) der eigenen
BGE 134 II 223 S. 233
Leistung und deren Unterscheidung von anderen Wettbewerbsangeboten. Der zulässige Inhalt der Sponsornennung wird seinerseits zum Schutz des rundfunkrechtlichen Trennungs- und Transparenzgebots abschliessend in der Radio- und Fernsehgesetzgebung umschrieben. Deren Bestimmungen gehen den markenrechtlichen Grundsätzen, welche privaten wirtschaftlichen Zwecken dienen, als spezialgesetzliche Regelung vor. Auch die markenrechtliche Beurteilung einer Firma erfolgt unabhängig von der firmenrechtlichen, da sich die Voraussetzungen für die Eintragung in das Markenregister von jenen der Firma in das Handelsregister unterscheiden (vgl. die Richtlinien in Markensachen des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum vom 1. Januar 2007, S. 72, Ziff. 4.4.5; IVAN CHERPILLOD, Le droit suisse des marques, Lausanne 2007, S. 53 f.).
4.
Es ist einzuräumen, dass sich die derzeitige aufsichtsrechtliche Praxis bezüglich werbender Aussagen beim Sponsoring als streng erweist - dies insbesondere mit Blick auf die im europäischen Fernsehraum festzustellenden Entwicklungen (vgl. zur spezifisch heiklen Situation des rundfunkrechtlichen Werbemarkts in der Schweiz: SIEGERT et al., a.a.O., S. 54 ff.) und die Tatsache, dass die Verwendung markenrechtlich geschützter Claims und Slogans heute einer weitverbreiteten Praxis entspricht:
4.1
Die seit dem 18. Dezember 2007 in Kraft stehende Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 11. Dezember 2007 lockert die Fernseh-Werberegeln in wesentlichen Punkten (audiovisuelle kommerzielle Kommunikation, grosszügigere Regelung der Werbedauer, Produkteplatzierung, Unterbrecherwerbung usw.). Gesponserte Sendungen dürfen bloss nicht "unmittelbar zu Kauf, Miete oder Pacht von Waren oder Dienstleistungen anregen, insbesondere nicht durch spezielle verkaufsfördernde Hinweise auf diese Waren oder Dienstleistungen" (Art. 3f Ziff. 1 lit. b EU-Fernsehrichtlinie). Die Zuschauer müssen eindeutig auf das Bestehen einer Sponsoring-Vereinbarung hingewiesen werden, wozu die gesponserten Sendungen - "beispielsweise durch den Namen, das Firmenemblem und/oder ein anderes Symbol des Sponsors, etwa einen Hinweis auf seine Produkte oder Dienstleistungen oder ein entsprechendes unterscheidungskräftiges Zeichen" - in "angemessener" Weise "zum Beginn, während und/oder zum Ende der Sendung" zu kennzeichnen sind (Art. 3f Ziff. 1 lit. c EU-Fernsehrichtlinie). Damit sind gewisse imagebezogene Slogans, Claims oder Hinweise als Logo oder Markenbestandteil - entgegen der Praxis in der Schweiz - im europäischen Ausland zugelassen.
BGE 134 II 223 S. 234
4.2
Die im Hinblick hierauf allenfalls erforderlichen Korrekturen des schweizerischen Radio- und Fernsehrechts können jedoch nicht - wie die Beschwerdeführerin dies mit ihrer Beschwerde bezweckt - über die Rechtsprechung erfolgen, nachdem der Gesetzgeber die bisherigen Vorgaben erst vor kurzem ausdrücklich bestätigt hat. Der Bundesrat hielt in seiner Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen vom 18. Dezember 2002 fest, dass strengere Regeln als die europäischen sich in jenen Bereichen, in denen konkurrierende ausländische Veranstalter im Verhältnis zu den schweizerischen nach dem Recht ihres Sendestaats lediglich das EÜGF-Minimum beachten müssten, "potenziell wettbewerbsverzerrend" auswirken könnten (BBl 2003 S. 1596 f.; SIEGERT et al., a.a.O., S. 47). Die Liberalisierung in der EU-Fernsehrichtlinie dürfte künftig nicht ohne Auswirkungen auf das EÜGF bleiben. Der Bundesrat hat für diesen Fall in Aussicht gestellt, dass eine weitere Liberalisierung der schweizerischen Werbeordnung ins Auge gefasst werden müsste, wobei er die nötige Gesetzesänderung "zusammen mit der Botschaft für die parlamentarische Genehmigung des revidierten EÜGF beantragen" werde (BBl 2003 S. 1624). Die Bestimmungen über die Werbung und das Sponsoring bilden in der Schweiz einen wesentlichen Teil der Finanzierung des rundfunkrechtlichen Mediensystems als Ganzes und können deshalb nicht auf dem Weg der Auslegung punktuell neuen Bedürfnissen geöffnet werden, ohne dass das Gleichgewicht des Systems als solches und die vom Gesetzgeber vorgenommene Interessenabwägung in Frage gestellt würden (
BGE 127 II 79
E. 4a/cc S. 84). Wie das Bundesgericht bereits im Zusammenhang mit der Unterbrecherwerbung festgehalten hat, besteht weder verfassungs- noch völkerrechtlich ein Anspruch darauf, senderechtlich gleich behandelt zu werden wie die ausländische Konkurrenz aufgrund der für sie geltenden Regeln (
BGE 127 II 79
E. 4b/bb S. 85).
5.
5.1
Zusammengefasst ergibt sich, dass Art. 19 Abs. 3 RTVG 1991 bzw. Art. 12 Abs. 3 RTVG 2006 und Art. 20 Abs. 2 RTVV 2007 - nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte sowie ihrem Sinn und Zweck - die bisherigen Grundsätze zum Sponsoring weiterführen. In diesem Rahmen hat ein Claim als "Aussage werbenden Charakters" zu gelten, weshalb er ohne Verletzung von Bundesrecht als Sponsorhinweis rundfunkrechtlich untersagt werden darf. Die noch auszuhandelnde Revision des EÜGF steht einer
BGE 134 II 223 S. 235
richterlichen Anpassung an die neusten Entwicklungen des EU-Rechts auf dem Weg der Auslegung entgegen. Wieweit die Werbe- und Sponsoringbestimmungen künftig gelockert werden sollen, ist eine politische Frage und als solche nicht durch das Bundesgericht, sondern durch den Gesetzgeber zu prüfen, wie der Bundesrat dies in der Botschaft zum neuen Radio- und Fernsehgesetz im Falle einer Lockerung der europäischen Werbebestimmungen in Aussicht gestellt hat. Die Beschwerde ist demnach abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. | de |
078b54d4-e7e5-4f5c-b20c-de4b9a79776b | Sachverhalt
ab Seite 47
BGE 125 I 46 S. 47
A. ist Geschäftsführer des Dancings B. im Kanton Luzern. Das Amtsstatthalteramt Sursee eröffnete gegen A. im Mai 1995 eine Strafuntersuchung wegen Verdachts der Förderung der Prostitution und weiterer Delikte. In diesem Strafverfahren wurden in der Zeit vom 16. Juni 1995 bis 27. Oktober 1995 vier Telefonanschlüsse im Dancing B. abgehört. Gestützt auf sog. Zufallsfunde aus diesen Überwachungen wurde im September 1995 gegen Rechtsanwalt X. ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei und im Oktober 1995 ein solches wegen mehrfacher Anstiftung zu falschem Zeugnis eröffnet. X. ist der Schwager von A. und war vom 30. Mai 1995 bis 21. Juni 1995 dessen Verteidiger in der hängigen Strafsache.
Das Amtsstatthalteramt Sursee unterbreitete der Kriminal- und Anklagekommission (im folgenden abgekürzt: KAK) des Obergerichts des Kantons Luzern im August 1997 zwölf Protokolle über Gespräche aus den erwähnten Telefonüberwachungen und ersuchte sie, die Protokolle im Strafverfahren gegen X. zur Verwendung zuzulassen. Die KAK entsprach diesem Gesuch mit Entscheid vom 16. Juni 1998.
X. reichte dagegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 und
Art. 36 Abs. 4 BV
sowie von
Art. 8 EMRK
ein.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Mit dem angefochtenen Entscheid hat die KAK zwölf Abhörprotokolle der im Strafverfahren gegen A. überwachten Telefonanschlüsse zur Verwendung im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer zugelassen. Dieser macht geltend, der Entscheid verletze das Telefongeheimnis gemäss
Art. 36 Abs. 4 BV
und
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
sowie das Willkürverbot nach
Art. 4 BV
.
a)
Art. 36 Abs. 4 BV
und
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
garantieren das Telefongeheimnis. Sie schützen damit die persönliche Geheimsphäre der am Telefonverkehr beteiligten Personen. Die Verfassungsgarantie
BGE 125 I 46 S. 48
kann eingeschränkt werden, sofern die Einschränkung auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist. In ähnlicher Weise kann nach
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
in das durch die EMRK gewährleistete Telefongeheimnis eingegriffen werden, wenn dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (
BGE 122 I 182
E. 3a;
BGE 120 Ia 314
E. 2a).
b) Die Überwachung des Telefonverkehrs ist im Kanton Luzern in den §§ 117 ff. des Gesetzes über die Strafprozessordnung (StPO) geregelt.
§ 117 StPO
umschreibt die Voraussetzungen der Telefonabhörung wie folgt:
"Der Amtsstatthalter und der Staatsanwalt können den Post-, Telefon- und Telegrafenverkehr des Angeschuldigten überwachen und Sendungen beschlagnahmen lassen sowie technische Überwachungsgeräte einsetzen, wenn
1. ein Verbrechen oder ein Vergehen, dessen Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigt, oder eine mit Hilfe des Telefons begangene Straftat verfolgt wird und
2. der Angeschuldigte der Tat dringend verdächtigt ist und wenn
3. die Untersuchung ohne die Überwachung wesentlich erschwert würde oder
andere Untersuchungshandlungen erfolglos geblieben sind. Sind die Voraussetzungen beim Angeschuldigten erfüllt, so können Dritte überwacht werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden muss, dass sie für ihn bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben. Ausgenommen sind Personen, die gemäss § 93 das Zeugnis verweigern dürfen.
Der Telefonanschluss Dritter kann stets überwacht werden, wenn der Verdacht begründet ist, dass der Angeschuldigte ihn benutzt."
Hinsichtlich der Verwendung der Ergebnisse der Überwachung legt
§ 117sexies Abs. 1 StPO
Folgendes fest:
"Soweit die Ergebnisse für die Untersuchung nicht notwendig sind oder aus dem Verkehr mit Personen herrühren, denen gemäss § 93 das Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, dürfen sie im Verfahren nicht verwendet werden. Briefe, Sendungen und Telegramme dieser Art sind, sobald es die Untersuchung erlaubt, den Adressaten zuzustellen. Allfällig erstellte Kopien sowie Aufzeichnungen über Telefongespräche und über andere Überwachungsmassnahmen sind unter Verschluss zu halten und nach Abschluss des Verfahrens zu vernichten, sofern im Einstellungsbeschluss oder im Urteil nichts anderes verfügt wird."
BGE 125 I 46 S. 49
c) Da die Telefonüberwachung einen schweren Eingriff in das Telefongeheimnis darstellt, prüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei (
BGE 122 I 182
E. 5). Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht grundsätzlich nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (vgl.
BGE 123 I 268
E. 2d).
5.
Deckt eine Telefonüberwachung Beweise für allfällige Straftaten eines Dritten auf, so liegt ein sog. Zufallsfund vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dürfen Zufallsfunde aus rechtmässigen Telefonüberwachungen grundsätzlich verwertet und im Strafverfahren gegen den mit abgehörten Gesprächspartner als Beweismittel verwendet werden, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen zur Telefonüberwachung des Gesprächspartners aufgrund einer nachträglichen Prüfung ebenfalls erfüllt sind (
BGE 122 I 182
E. 3b und 4c;
BGE 120 Ia 314
E. 2c). Die hier in Frage stehenden Abhörprotokolle enthalten Aufzeichnungen über Gespräche aus den rechtmässigen Telefonüberwachungen im Strafverfahren gegen A. Der Beschwerdeführer war Gesprächspartner von C., der Benützerin der abgehörten Telefonanschlüsse. Durch die Überwachungsmassnahme geriet er - zufällig - in Verdacht, Straftaten begangen zu haben. Die KAK hatte im angefochtenen Entscheid darüber zu befinden, ob die Abhörprotokolle im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer als Beweismittel verwendet werden dürften. Sie hat entsprechend der erwähnten Rechtsprechung des Bundesgerichts geprüft, ob der durch die Zufallsfunde in Verdacht geratene Beschwerdeführer selber einer Telefonüberwachung hätte unterworfen werden können. Die KAK gelangte zum Schluss, die in
§ 117 Abs. 1 Ziff. 1-3 StPO
genannten Voraussetzungen für eine Telefonüberwachung wären in Bezug auf den Beschwerdeführer erfüllt gewesen. Sie verwarf sodann den Einwand des Beschwerdeführers, sein Berufsgeheimnis als Anwalt schütze ihn gemäss
§ 117sexies StPO
vor der Verwendung der Abhörprotokolle über Gespräche, an denen er in seiner Funktion als Anwalt beteiligt gewesen sei.
6.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe die abgehörten Gespräche als Anwalt geführt, und nach der Luzerner StPO dürften Überwachungsergebnisse aus dem Verkehr mit Berufsgeheimnisträgern unter keinen Umständen in einem Strafverfahren als Beweismittel verwendet werden. Er ist der Meinung, die KAK hätte deshalb gar nicht prüfen müssen, ob er selber nach
§ 117 Abs. 1
BGE 125 I 46 S. 50
Ziff. 1-3 StPO
einer Telefonüberwachung hätte unterworfen werden können.
Es kann offen bleiben, ob die Gespräche, die der Beschwerdeführer führte und die abgehört wurden, überhaupt eine Verbindung mit seiner Anwaltstätigkeit hatten und unter das Anwaltsgeheimnis fallen. Nach
§ 117sexies Abs. 1 StPO
dürfen Überwachungsergebnisse, die aus dem Verkehr mit Personen herrühren, denen gemäss
§ 93 StPO
das Zeugnisverweigerungsrecht aufgrund des Berufsgeheimnisses zusteht, "im Verfahren" nicht verwendet werden. Damit ist das Strafverfahren gemeint, in welchem die Überwachungsmassnahme vorgenommen wurde. Wo z.B. aus dem Verkehr des Überwachten mit seinem Anwalt, seinem Arzt oder einem Geistlichen Aufzeichnungen über Gespräche ergehen, sind - im Verfahren gegen den überwachten Angeschuldigten - die daraus gewonnenen Erkenntnisse unverwertbar. Das hier massgebende Vertrauensverhältnis verdient Vorrang und muss unangetastet bleiben (ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3. Auflage, 1997, S. 301, Rz. 29 zu § 71). Die Vorschrift von
§ 117sexies Abs. 1 StPO
besagt hingegen nicht, dass eine Telefonüberwachung allgemein dann unzulässig wäre, wenn ein Strafverfahren gegen einen Anwalt selber durchgeführt wird. Er ist nicht in dem Sinn gegenüber anderen Beschuldigten privilegiert, dass er von jeder Telefonüberwachung ausgenommen wäre. Die auf dem Berufsgeheimnis beruhende Einschränkung der Verwendung von Abhörprotokollen entfällt, wenn die zur Zeugnisverweigerung berechtigte Person selbst einer überwachungswürdigen Straftat verdächtigt wird (NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, Bern 1994, S. 394). Dort, wo der Berufsgeheimnisträger selbst Angeschuldigter ist, geht das Interesse an der Strafverfolgung der Wahrung des Berufsgeheimnisses vor. So kann sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts eine Person, die ein Berufsgeheimnis zu wahren hat, in einem gegen sie hängigen Strafverfahren der Beschlagnahme von in ihrem Besitz befindlichen Akten nicht unter Berufung auf ihre Geheimhaltungspflicht widersetzen (
BGE 106 IV 413
E. 7c;
BGE 102 IV 210
E. 4a;
BGE 101 Ia 10
E. 5a). Für seine eigenen Verfehlungen kann niemand ein Privileg aufgrund eines Berufsgeheimnisses beanspruchen (
BGE 106 IV 413
E. 7c mit Hinweisen). Die KAK hat im angefochtenen Entscheid mit Recht auf diesen Grundsatz hingewiesen und betont, es sei nicht der Sinn des Berufsgeheimnisses, dessen Träger vor einer Strafverfolgung zu schützen. Ferner hat sie zutreffend erwogen, aus dem Urteil des
BGE 125 I 46 S. 51
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 25. März 1998 i.S. Kopp gegen die Schweiz (Rec. 1998-II S. 524 ff.) lasse sich entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht ableiten, dass ein Anwalt grundsätzlich nicht abgehört werden dürfe und somit auch Zufallsfunde aus der Telefonüberwachung anderer nicht verwendet werden dürften. Das genannte Urteil kann für den vorliegenden Fall nicht herangezogen werden. Es ging in der vom EGMR zu beurteilenden Angelegenheit nicht um die hier zur Diskussion stehende Frage, ob Zufallsfunde aus rechtmässigen Telefonüberwachungen im Strafverfahren gegen den mit abgehörten Gesprächspartner als Beweismittel verwendet werden dürfen. Rechtsanwalt Kopp war nicht Angeschuldigter in einem Strafverfahren. Er wurde im Rahmen eines gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens als Drittperson nach
Art. 66 Abs. 1bis BStP
überwacht, und es stellte sich die Frage der hinreichenden gesetzlichen Grundlage und der richterlichen Kontrolle, wenn sämtliche Telefonanschlüsse eines Berufsgeheimnisträgers abgehört werden, welcher im Verfahren Drittperson ist, d.h. nicht selber einer Straftat verdächtigt wird.
Nach dem Gesagten bezieht sich die Vorschrift von
§ 117sexies Abs. 1 StPO
im vorliegenden Fall auf das gegen A. geführte Strafverfahren, in welchem die Telefonüberwachung vorgenommen wurde. Die KAK ging mit Recht davon aus, die aus dieser Überwachung stammenden Abhörprotokolle könnten im Verfahren gegen den von der Massnahme mit erfassten Beschwerdeführer verwendet werden, sofern die in
§ 117 Abs. 1 Ziff. 1-3 StPO
genannten Voraussetzungen für eine Telefonüberwachung in Bezug auf den Beschwerdeführer ebenfalls erfüllt gewesen wären.
7.
Der Beschwerdeführer rügt, die KAK habe zu Unrecht angenommen, er selber hätte gemäss
§ 117 Abs. 1 Ziff. 1-3 StPO
einer Telefonüberwachung unterworfen werden können.
a) § 117 Abs. l Ziff. 1 StPO erlaubt eine Überwachung nur, wenn ein Verbrechen oder Vergehen verfolgt wird, dessen Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigt. Dem Beschwerdeführer wird mehrfache Anstiftung zu falschem Zeugnis vorgeworfen. Er soll D. und E. (beide Kellner im Dancing B.) angestiftet haben, als Zeugen im Strafverfahren gegen A. falsche Aussagen zu machen. Ausserdem wird dem Beschwerdeführer Geldwäscherei im Sinne von
Art. 305bis Ziff. 1 StGB
zur Last gelegt. Er soll vereitelt haben, dass Bargeld im Umfang von Fr. 650'000.--, das aus den A. zur Last gelegten Delikten herrühren soll, von der Untersuchungsbehörde eingezogen werden konnte. Anstiftung zu falschem Zeugnis stellt
BGE 125 I 46 S. 52
ein Verbrechen dar (Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 307 Abs.1 StGB
). Bei der Geldwäscherei nach
Art. 305bis Ziff. 1 StGB
handelt es sich um ein Vergehen. Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, diese Delikte würden für sich allein betrachtet nicht die vom Gesetz verlangte Schwere aufweisen, um den Eingriff in das verfassungsmässige Recht gemäss
Art. 36 Abs. 4 BV
zu rechtfertigen. Er wirft der KAK vor, sie habe in willkürlicher Weise die Schwere der ihm zur Last gelegten Straftaten deshalb bejaht, weil sie diese in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den A. vorgeworfenen Verbrechen und Vergehen gebracht habe.
Das Bundesgericht hat im Urteil
BGE 117 Ia 10
E. 4d S. 13 beiläufig bemerkt, am Merkmal der Schwere der Tat dürfte es bei einer Falschaussage (eines Zeugen) fehlen; es hat indes die Frage offen gelassen. In der Lehre wird mit Grund erklärt, bei falschem Zeugnis könnten Überwachungsmassnahmen nicht von vornherein ausgeschlossen werden, denn das Delikt könne z.B. in einem Mordprozess so schwer wiegen, dass eine Überwachung gerechtfertigt erscheine (HAUSER/SCHWERI, a.a.O., S. 296, Rz. 7 zu § 71; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 2. Auflage, Zürich 1993, S. 228, N. 763). Allgemein hängt es bei Verfehlungen, die für sich allein weniger schwer erscheinen, von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, ob Überwachungsmassnahmen angeordnet werden dürfen (HAUSER/SCHWERI, a.a.O.).
Die KAK führte im angefochtenen Entscheid aus, die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikte stünden im Zusammenhang mit den inkriminierten Vorgängen um das Dancing B. Es gehe im Wesentlichen um den Vorwurf, das Ergebnis der Strafuntersuchung gegen A., den Wirt des Dancings, beeinflusst und der Untersuchungsbehörde Bargeld im Umfang von Fr. 650'000.-- aus möglicherweise deliktischer Herkunft entzogen zu haben. A. würden zahlreiche Verbrechen und Vergehen vorgeworfen, wie gewerbsmässiger Betrug, Gehilfenschaft zu Menschenhandel (-sistiert bis zum rechtskräftigen Entscheid der Zürcher Behörden gegen Inhaber und Mitarbeiter der Agentur G.), mehrfache Förderung der Prostitution, mehrfache Urkundenfälschung und mehrfache Geldwäscherei. Die Staatsanwaltschaft habe gegen A. beim Kriminalgericht eine Zuchthausstrafe von vier Jahren und eine Busse von Fr. 100'000.-- beantragt. Die KAK hielt fest, der Beschwerdeführer habe mit der verdachtsweisen Beeinflussung der Zeugen zu verhindern versucht, dass die "schweren Delikte der Betreiber des Dancings B. aufgedeckt würden".
BGE 125 I 46 S. 53
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird eingewendet, diese Feststellung enthalte gravierende Vorverurteilungen und verletze die Unschuldsvermutung gemäss
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
. Die Rügen sind unbegründet. Die KAK hat in Bezug auf die den Beschwerdeführer betreffenden Handlungen ausdrücklich das Wort "verdachtsweise" verwendet. Was die dem Betreiber des Dancings zur Last gelegten Delikte angeht, so hat sie mit der gewählten Formulierung keinen strafrechtlichen Schuldvorwurf erhoben, sondern lediglich zum Ausdruck bringen wollen, dass es in der Strafuntersuchung gegen A. um die Abklärung schwerer Delikte gegangen sei.
Gegen A. wurde, wie sich aus dem Gesuch des Amtsstatthalters vom 16. Juni 1995 betreffend Genehmigung der Telefonüberwachung ergibt, eine Strafuntersuchung geführt wegen Menschenhandels, Förderung der Prostitution und Ausnützung einer Notlage; ausserdem bestand der Verdacht, dass diese schwerwiegenden Delikte gegen die sexuelle Integrität im Rahmen einer kriminellen Organisation begangen worden seien. A. ist übrigens im Juni 1998 erstinstanzlich zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Die Annahme der KAK, der Beschwerdeführer habe mit der ihm vorgeworfenen Anstiftung zu falschem Zeugnis gewisse Vorgänge im Dancing B. vertuschen wollen, ist nicht unhaltbar. Die beiden Kellner, die er zu falschen Zeugenaussagen angestiftet haben soll, wurden zu Vorgängen befragt, die sich in diesem Lokal abgespielt haben sollen, und konnten mit ihren Aussagen den Angeschuldigten A. erheblich belasten. Wenn aber mit einer Anstiftung zu falschem Zeugnis in einer Strafuntersuchung wegen schwerer Delikte die Beweislage zugunsten des Angeschuldigten beeinflusst werden soll, kann angenommen werden, die in Frage stehende Anstiftung wiege genügend schwer, um eine Überwachungsmassnahme anzuordnen. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass der Beschwerdeführer noch Geldwäscherei in einem nicht geringen Umfang betrieben haben soll. Wird einerseits berücksichtigt, dass die Delikte, welche Gegenstand des gegen den Beschwerdeführer eingeleiteten Strafverfahrens bilden - mehrfache Anstiftung zu falschem Zeugnis und Geldwäscherei - an sich gravierende Straftaten sind, und wird anderseits in Rechnung gestellt, dass die angebliche Anstiftung zu falschem Zeugnis im Rahmen eines anderen Strafverfahrens erfolgte, das klarerweise schwere Straftaten zum Gegenstand hat, so konnte die KAK ohne Verfassungs- oder Konventionsverletzung annehmen, im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wäre im Hinblick auf die Schwere der Taten eine Telefonüberwachung zulässig gewesen. | de |
e97a8411-4421-414a-a721-943b4460ceb6 | Sachverhalt
ab Seite 260
BGE 133 I 259 S. 260
Gegen das vom Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt am 18. Januar 2006 beschlossene neue Notariatsgesetz (nNotG) reichten die Notare Dr. Beat Schultheiss und Dr. Peter Eulau am 15. März 2006 gemeinsam staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht ein; sie verlangten die Aufhebung verschiedener Bestimmungen des Erlasses (§ 7 Abs. 2, § 8 Abs. 1 und 2, § 10, § 26 Satz 2 und § 56 Abs. 2). Der Kanton Basel-Stadt beantragte zwar die Abweisung der Beschwerde, formulierte aber in einem Eventualbegehren eine sprachlich präzisierte Version des Aufhebungsantrags der Beschwerdeführer. Letztere schlossen sich im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels diesem Eventualbegehren des Kantons an.
Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Obschon der materielle Begriff der öffentlichen Beurkundung dem Bundesrecht angehört, liegt die Kompetenz zu deren gesetzlichen Regelung grundsätzlich bei den Kantonen. Diesen wird durch
Art. 55 SchlT ZGB
die Aufgabe übertragen, zu bestimmen, wer auf dem Kantonsgebiet zur Errichtung öffentlicher Urkunden befugt und wie dabei vorzugehen ist. Neben Zuständigkeit und Form des Verfahrens sind insbesondere die Voraussetzungen für die Tätigkeit als Urkundsperson, die Aufgaben und Berufspflichten der Urkundspersonen sowie das Gebühren- und Aufsichtswesen zu regeln (
BGE 131 II 639
E. 6.1 S. 645; vgl. auch LOUIS CARLEN, Notariatsrecht der Schweiz, Zürich 1976, S. 35; CHRISTIAN BRÜCKNER, Schweizerisches Beurkundungsrecht, Zürich 1993, S. 3 f. N. 5; PETER RUF, Notariatsrecht, Langenthal 1995, S. 34 N. 130 und S. 37 N. 140).
2.2
Diese Normierungsfreiheit der Kantone wird immerhin in zweierlei Hinsicht beschränkt, einerseits durch die bundesrechtlichen Mindestanforderungen, die sich aus dem materiellrechtlichen Zweck des Instituts ergeben (
BGE 106 II 146
E. 1 S. 147; zu deren Umfang vgl. RUF, a.a.O., S. 46 ff. N. 162-164), und andererseits durch die punktuellen Regelungen, welche die Beurkundungsgeschäfte im Gesetzesrecht des Bundes erfahren (vgl. hierzu HANS MARTI, Notariatsprozess, Bern 1989, S. 35 f.). Keinerlei Einschränkung durch das Bundesrecht erfährt die kantonale Gesetzgebungskompetenz jedoch bezüglich der Zulassung der Notare zur
BGE 133 I 259 S. 261
Berufsausübung. In der Ausgestaltung der entsprechenden Regelung sind die Kantone deshalb weitgehend frei (
BGE 131 II 639
E. 7.3 S. 646 f.), zumal die Notare aufgrund der ihnen verliehenen Beurkundungsbefugnis Träger einer hoheitlichen Funktion sind und sich - weil sie an der Staatsgewalt teilhaben - nicht auf die Wirtschaftsfreiheit gemäss
Art. 27 BV
berufen können (
BGE 131 II 639
E. 6.1 S. 645;
BGE 128 I 280
E. 3 S. 281 f.; vgl. auch CARLEN, a.a.O., S. 37; BRÜCKNER, a.a.O., S. 152 N. 481 und S. 153 N. 485 ff.; RUF, a.a.O., S. 74 f. N. 251). Dementsprechend behalten verschiedene Kantone das Beurkundungswesen Beamten vor, indem sie dieses durch die Schaffung des Amtsnotariats gänzlich dem wirtschaftlichen Wettbewerb entziehen. Andere haben Höchst- oder Mindestgrenzen für die Zahl der (freien) Notare festgelegt, wodurch sie lenkend auf die Anzahl der praktizierenden Urkundspersonen Einfluss nehmen (vgl. CARLEN, a.a.O., S. 36 ff.).
2.3
Das neue Notariatsgesetz des Kantons Basel-Stadt kennt das freie Notariat: Die Notare sind auf dem Kantonsgebiet für die Beurkundung aller Geschäfte und Tatsachen zuständig, welche von Gesetzes wegen oder nach dem Willen der Parteien in Form einer öffentlichen Urkunde festzuhalten sind (§ 2 nNotG). Zur Erlangung des beruflichen Fähigkeitsausweises haben die Bewerber eine Prüfung zu bestehen (§ 3 ff. nNotG), während die Erteilung der Beurkundungsbefugnis anschliessend von zusätzlichen persönlichen Voraussetzungen abhängig ist (vgl. § 7 nNotG). Insbesondere wird die "berufliche Selbständigkeit" des Notars verlangt, wobei § 7 Abs. 2 nNotG näher regelt, was unter diesem Begriff zu verstehen ist.
3.
3.1
Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde richtet sich unter anderem gegen diese Umschreibung der beruflichen Selbständigkeit, nämlich gegen die vorgesehene Unvereinbarkeit von Beurkundungsbefugnis und Organstellung bei einer Immobiliengesellschaft. Der Gesetzestext von § 7 Abs. 2 nNotG lautet wie folgt:
"Als beruflich selbständig gilt, wer als selbständigerwerbende Notarin oder als selbständigerwerbender Notar tätig oder bei einer Notarin oder einem Notar angestellt ist. Die Anstellung bei anderen Unternehmungen ist mit der Beurkundungsbefugnis unvereinbar, desgleichen die Ausübung von Handels- und Vermittlungstätigkeiten im Liegenschaftsbereich und die Ausübung von Organfunktionen oder die anderweitige Kontrolle von Unternehmungen, deren Zweck oder Haupttätigkeit der Handel mit Liegenschaften ist. Die Justizkommission kann Ausnahmen bewilligen für Anstellungsverhältnisse, die aufgrund ihres geringen
BGE 133 I 259 S. 262
zeitlichen Umfangs und der Art der Beanspruchung die notarielle Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen können."
Nachdem die Beschwerdeführer ihren Antrag entsprechend dem Eventualbegehren des Justizdepartements des Kantons Basel-Stadt präzisiert haben, wird vorliegend die Streichung des letzten Teils des zweiten Satzes von § 7 Abs. 2 nNotG verlangt ("... und die Ausübung von Organfunktionen oder die anderweitige Kontrolle von Unternehmungen, deren Zweck oder Haupttätigkeit der Handel mit Liegenschaften ist"). Zur Begründung tragen die Beschwerdeführer vor, die Ausstandsvorschriften des neuen Notariatsgesetzes (vgl. § 23 ff.) seien ausreichend, um Interessenkollisionen bei den Notaren auszuschliessen. Es sei deshalb überflüssig, gesetzlich eine generelle Unvereinbarkeit der Beurkundungsbefugnis mit der Organstellung bei einer Immobiliengesellschaft vorzusehen. Für die streitige Regelung fehle jeglicher sachliche Grund, weshalb sie gegen das Willkürverbot von
Art. 9 BV
(vgl.
BGE 127 I 60
E. 5a S. 70) verstosse.
3.2
Das Justizdepartement führt demgegenüber aus, die Rechtsuchenden seien nicht frei in ihrem Entschluss, die Dienstleistungen einer Urkundsperson in Anspruch zu nehmen. Im Rahmen der beurkundungspflichtigen Rechtsgeschäfte bestehe ein staatlicher Zwang, dem Notar Geheimnisse anzuvertrauen. Deshalb müsse verhindert werden, dass dieser privaten Nutzen aus den anvertrauten Informationen ziehen könne. Das gelte besonders für das Marktgeschehen im Bereich des Immobilienhandels, so dass die streitige Bestimmung sachlich gerechtfertig sei.
3.3
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer erscheint die Unvereinbarkeitsbestimmung ohne weiteres als haltbar: Gemäss Lehre und Rechtsprechung ist die Unabhängigkeit und Neutralität des freiberuflich tätigen Notars von herausragender Bedeutung. Mit Blick hierauf hat das Bundesgericht eine Regelung des Kantons Genf für verfassungsmässig erklärt, welche den dortigen Notaren (fast) alle Formen von Nebenerwerbstätigkeiten verbietet (Urteil 2P.62/1989 vom 10. November 1989, publ. in: SJ 1990 S. 97). Es hat diesbezüglich erwogen, jegliche Beteiligung am Wirtschaftsleben führe zu einer gewissen Gefährdung der Unabhängigkeit des Notars. Es sei deshalb Sache des kantonalen Gesetzgebers, abzuwägen, in welchem Ausmass er Nebenbeschäftigungen seiner Notare gestatten oder deren Neutralität absichern wolle (vgl. auch Urteil 2P.151/1995 vom 12. Dezember 1996, publ. in: RDAT 1997
BGE 133 I 259 S. 263
II N. 10 S. 14, E. 3c; Urteil 2P.226/2006 vom 8. Dezember 2006, E. 4.2). Abgesehen von den unselbständigen Nebenerwerbstätigkeiten hat der Kanton Basel-Stadt seinen Urkundspersonen im Wesentlichen bloss die Beteiligung am Liegenschaftenhandel untersagt, so dass es sich bei § 7 Abs. 2 nNotG keinesfalls um eine restriktive Bestimmung handelt: Der (gewerbsmässige) Liegenschaftenhandel wird gemeinhin als mit dem Ansehen des Notariatsberufs unvereinbar betrachtet (vgl. RUF, a.a.O., S. 123 N. 448; BRÜCKNER, a.a.O., S. 982 N. 3482; CARLEN, a.a.O., S. 64). Dies scheinen auch die Beschwerdeführer nicht zu verkennen, zumal sie gegen die in § 7 Abs. 2 nNotG vorgesehene Unvereinbarkeit von Beurkundungsbefugnis und "Handels- und Vermittlungstätigkeiten im Liegenschaftsbereich" nichts einzuwenden haben. Dabei übersehen sie aber, dass sich eine Beteiligung am Liegenschaftenhandel als Organ einer Immobiliengesellschaft letztlich nicht von einer selbständigen Betätigung des Notars als Liegenschaftenhändler unterscheidet. Nach dem Gesagten kann hier jedenfalls zum Vornherein nicht von einer unsachlichen und willkürlichen Beschränkung der beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten der Basler Notare die Rede sein. Mithin kann offenbleiben, ob auch eine Regelung denkbar wäre, gemäss welcher der Notar die Erstellung der Urkunde immer nur dann einem Berufskollegen zu überlassen hätte, wenn er sich als Organ einer Immobiliengesellschaft bezüglich des konkreten Geschäfts tatsächlich in einem Interessenkonflikt befinden würde.
3.4
Nichts zugunsten der Beschwerdeführer lässt sich schliesslich aus dem Umstand ableiten, dass ein Rechtsanwalt, welcher die Interessen von Immobiliengesellschaften vertritt, dabei teilweise die gleichen Geheimnisse erfahren kann wie der Notar anlässlich einer Verurkundung von Rechtsgeschäften. Zum einen ist die Stellung des Rechtsanwalts - auch wenn dieser eine gewisse Mitverantwortung für das korrekte Funktionieren des Rechtsstaats trägt (vgl.
BGE 130 II 270
E. 3.2.2 S. 277) und besonderen (bundesrechtlichen) Berufsregeln untersteht (vgl.
Art. 12 des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte [BGFA; SR 935.61]
) - nicht mit jener eines Notars zu vergleichen, welcher an der Staatsgewalt als solcher teilhat. Zum anderen untersagt § 7 Abs. 2 nNotG dem Notar nur die aktive (eigennützige) Teilnahme am Liegenschaftenhandel, so dass er, gleich wie ein Rechtsanwalt, Beratungsmandate von Immobiliengesellschaften grundsätzlich annehmen darf. Schliesslich versteht sich
BGE 133 I 259 S. 264
von selbst, dass jene Notare, welche gleichzeitig als Rechtsanwalt tätig sind, ohne weiteres auch als solche gehalten sind, die einschlägigen Unvereinbarkeitsbestimmungen des Notariatsrechts zu respektieren.
4.
Das neue Notariatsgesetz sieht - der bisherigen (auf keiner gesetzlichen Grundlage beruhenden) kantonalen Praxis entsprechend - ein Höchstalter für Notare vor, ab dessen Erreichen der Regierungsrat die Beurkundungsbefugnis nicht mehr verlängert; gemäss § 8 Abs. 1 nNotG liegt diese Altersgrenze bei 75 Jahren (anstatt wie bis anhin bei 80 Jahren). Die Beschwerdeführer rügen insoweit eine Verletzung des Willkürverbots (
Art. 9 BV
) und verlangen die teilweise Aufhebung sowohl der Absätze 1 und 2 von § 8 als auch von § 10 nNotG.
4.1
§ 8 nNotG hat folgenden Wortlaut:
"
1
Das Gesuch um Verleihung der Beurkundungsbefugnis ist an die Justizkommission zuhanden des Regierungsrates zu stellen. Der Regierungsrat verleiht die Beurkundungsbefugnis auf Antrag der Justizkommission in der Regel auf die Dauer von sechs Jahren und erneuert sie vor Ablauf der Amtszeit ohne weiteres, längstens jedoch bis zum Erreichen des 75. Altersjahrs der Notarin oder des Notars. Ist die Ablehnung des Gesuchs oder die Nichterneuerung der Amtsdauer aus einem anderen Grund als demjenigen der Altersgrenze beabsichtigt, so ist die Notarin oder der Notar anzuhören.
2
Die Ablehnung des Gesuchs sowie die Nichterneuerung der Amtsdauer aus einem anderen Grund als demjenigen der Altersgrenze unterliegt dem Rekurs an das Verwaltungsgericht.
3
(...)"
Nachdem die Beschwerdeführer ihren Antrag entsprechend dem Eventualbegehren des Justizdepartements des Kantons Basel-Stadt präzisiert haben, wird zum einen in § 8 Abs. 1 die Streichung des letzten Teils von Satz 2 ("... längstens jedoch bis zum Erreichen des 75. Altersjahrs der Notarin oder des Notars") verlangt. Zum anderen wird - sowohl in Satz 3 von § 8 Abs. 1 als auch in § 8 Abs. 2 - die Streichung des Passus "... aus einem anderen Grund als demjenigen der Altersgrenze ..." beantragt.
Während § 8 die Verleihung der Beurkundungsbefugnis regelt, betrifft § 10 nNotG deren Erlöschen:
"Die Beurkundungsbefugnis erlischt durch schriftliche Verzichtserklärung, Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze, Tod, Nichterneuerung der Amtsdauer, Konkurseröffnung, Ausstellung von Verlustscheinen und Entzug."
BGE 133 I 259 S. 265
Entsprechend dem Eventualbegehren des Justizdepartements des Kantons Basel-Stadt wird insoweit die Löschung der Worte "Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze" beantragt.
4.2
Vor einiger Zeit hatte das Bundesgericht eine ähnliche Regelung zu überprüfen, mit welcher der Kanton Neuenburg für seine (freien) Notare die Altersgrenze von 70 Jahren einführte (
BGE 124 I 297
). Das Bundesgericht erwog, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Menschen nähmen im Alter ab, so dass für jeden Notar der Zeitpunkt komme, ab dem er gesundheitsbedingt nicht mehr Gewähr für eine tadellose Ausübung der ihm übertragenen Funktion bieten könne. Obschon sich dieser Moment durch eine periodische Überprüfung des körperlichen und geistigen Gesundheitszustands für jeden betagten Notar individuell bestimmen liesse, erachtete das Bundesgericht die Einführung einer einheitlichen Altersgrenze für alle praktizierenden Notare als zulässig. Es entschied weiter, die vom Kanton Neuenburg gewählte Altersgrenze von 70 Jahren lasse den Notaren genügend Zeit, ihren Ruhestand finanziell abzusichern. Auch mit Blick auf das Pensionierungsalter von Schweizer Beamten und Magistraten, welches gemeinhin im Bereich von 65 bis maximal 70 Jahren liegt, erwies sich die Altersgrenze als mit dem Rechtsgleichheitsgebot und dem Willkürverbot vereinbar (E. 4c/d S. 301 ff.). An dieser Rechtsprechung ist vorliegend ohne Einschränkungen festzuhalten, weshalb die - mit 75 Jahren höhere - Altersgrenze für basel-städtische Notare verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
4.3
Im Übrigen gehen die Vorbringen der Beschwerdeführer ohnehin an der Sache vorbei: Eine Regelung verstösst nur dann gegen das Willkürverbot, wenn sie sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen lässt oder sinn- und zwecklos ist (
BGE 129 I 1
E. 3 S. 3). Deshalb ist unerheblich, ob - angesichts einer relativ geringen Anzahl von älteren in der Stadt Basel praktizierenden Notaren - die Entwicklung von deren beruflichen Fähigkeiten mit mehr oder weniger Aufwand individuell überwacht werden könnte. Selbst wenn feststehen würde, dass ein derartiges System zu einer besseren Verwirklichung jener Ziele führen würde, welche mit der streitigen Altersgrenze verfolgt werden, wäre die Verfassungswidrigkeit der Altersgrenze damit noch nicht dargetan, zumal Letztere nach dem Gesagten weder sinn- noch zwecklos ist. Geradezu abwegig erscheint weiter der Vorschlag, der Staat könnte und müsste betagten Notaren die Beurkundungsbefugnis erst dann
BGE 133 I 259 S. 266
entziehen, wenn diese nachweislich mangelhafte Urkunden hergestellt hätten. Ein entsprechendes Zuwarten des Kantons, bis sich seine Notare derart gravierende Fehler leisten, dass auf ihre Berufsunfähigkeit geschlossen werden muss, würde zu inakzeptablen Risiken für das Publikum und für die Rechtssicherheit führen (vgl.
BGE 124 I 297
E. 4c S. 301); ob allenfalls die Berufshaftpflichtversicherung des betroffenen Notars für verursachte Schäden einzustehen hätte, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.
4.4
Schliesslich ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, soweit im vorliegenden Zusammenhang auch eine Verletzung von
Art. 27 BV
gerügt wird (vgl. E. 2.2): Zwar stehen Rechtsanwälte anders als Urkundspersonen im Genuss der Wirtschaftsfreiheit (vgl. etwa
BGE 132 I 201
E. 7.1 S. 205); die Beschwerdeführer können sich jedoch auch als Advokaten nicht auf dieses Freiheitsrecht berufen, wenn sie daraus mittelbar etwas für ihre Tätigkeit als Notare des Kantons Basel-Stadt ableiten wollen.
5.
Für letztwillige Verfügungen, welche unter anderem in die Form einer öffentlichen Urkunde gekleidet werden können (
Art. 498 ZGB
), hat der Bundesgesetzgeber materielle Bestimmungen über die Art und Weise der Verurkundung erlassen. Verlangt wird insbesondere die Mitwirkung zweier Zeugen (
Art. 499 ZGB
), welche gewissen persönlichen Voraussetzungen zu genügen haben: Gemäss
Art. 503 ZGB
müssen sie handlungsfähig sein sowie lesen und schreiben können; nicht als Zeugen zugelassen sind neben dem überlebenden Ehegatten auch die Geschwister des Erblassers und dessen Verwandte in gerader Linie sowie die Ehegatten der Genannten.
5.1
Angefochten ist vorliegend § 26 nNotG, welcher die bundesrechtliche Zeugenregelung für den Kanton Basel-Stadt wie folgt konkretisiert:
"Zeuginnen und Zeugen der Beurkundung müssen die Anforderungen von
Art. 503 ZGB
erfüllen und dürfen der Notarin oder dem Notar nicht im Sinne von § 25 Abs. 1 nahestehen. Sie dürfen nicht Mitarbeitende des gleichen Büros sein."
Die Beschwerdeführer beantragen die Aufhebung von Satz 2 dieser Bestimmung. Zur Begründung führen sie aus, die bundesrechtliche Regelung zur Unabhängigkeit der Zeugen sei abschliessender Natur, weshalb der in § 26 Satz 2 nNotG vorgesehene Ausschluss von Zeugen, welche im gleichen Büro wie der beurkundende Notar tätig seien, den Vorrang des Bundesrechts (
Art. 49 BV
) verletze. Die
BGE 133 I 259 S. 267
Beschwerdeführer machen weiter geltend, die fragliche Regelung verletze sowohl das Willkürverbot (
Art. 9 BV
) als auch das Rechtsgleichheitsgebot (
Art. 8 BV
). Weil diese letzteren Verfassungsrügen den gesetzlichen Begründungsanforderungen von
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
(vgl.
BGE 110 Ia 1
E. 2 S. 3 f.;
BGE 119 Ia 197
E. 1d S. 201) offensichtlich nicht zu genügen vermögen, ist auf diese Vorbringen jedoch nicht weiter einzugehen.
5.2
Die Einhaltung jener Formvorschriften, welche das Bundesrecht für öffentlich beurkundete letztwillige Verfügungen statuiert, stellt ein Gültigkeitserfordernis dar (PETER TUOR, in: Berner Kommentar, N. 4 ff. vor
Art. 498 ZGB
; ARNOLD ESCHER, in: Zürcher Kommentar, N. 5 vor
Art. 498 ZGB
; PETER BREITSCHMID, in: Basler Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Zivilgesetzbuch II, 2. Aufl., Basel/Genf/München 2003, N. 8 zu
Art. 498 ZGB
), so dass ein Formverstoss grundsätzlich zur Ungültigkeit des betroffenen Testaments führt. Den Beschwerdeführern ist insoweit zuzustimmen, als diese Regelung des Bundeszivilrechts abschliessender Natur ist (BREITSCHMID, a.a.O., N. 16 zu
Art. 503 ZGB
; vgl. auch RUF, a.a.O., S. 348 N. 1321 und S. 202 N. 739), weshalb der kantonale Gesetzgeber keine zusätzlichen Gültigkeitsvorschriften erlassen kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es den Kantonen untersagt wäre, im Rahmen ihrer Kompetenz zur Regelung der öffentlichen Beurkundung (vgl. E. 2) weitere Ausschliessungsgründe für Zeugen vorzusehen. Solche zusätzlichen kantonalen "Unfähigkeitsgründe" stellen gegebenenfalls blosse Ordnungsvorschriften dar (TUOR, a.a.O., N. 2 zu
Art. 503 ZGB
; ESCHER, a.a.O., N. 2 zu Art. 503 und N. 7 vor
Art. 498 ZGB
), deren Missachtung lediglich von disziplinarrechtlicher Bedeutung ist und die Gültigkeit der Urkunde nicht zu beeinträchtigen vermag. Um eine derartige dem autonomen kantonalen Beurkundungsrecht zugehörige Ordnungsvorschrift handelt es sich beim hier streitigen § 26 Satz 2 nNotG. Diese Bestimmung soll als Unabhängigkeitsregel im Verhältnis zwischen Notar und Zeugen dazu beitragen, dass Letztere die ihnen gemäss einem Teil der Lehre zukommende Kontrollfunktion besser wahrnehmen können (vgl. hierzu BRÜCKNER, a.a.O., S. 131 f. N. 391 ff.; anderer Meinung sind die Berner Autoren, welche die Zeugen als blosse Hilfspersonen des Notars betrachten, die keiner Unabhängigkeit bedürfen: vgl. RUF, a.a.O., S. 348 f. N. 1321 ff.; DANIEL SANTSCHI, Die Ausstandspflicht des Notars, Langenthal 1992, S. 57 f. N. 167 ff.; vgl. auch MARTI, a.a.O., S. 70 f.). Dementsprechend gehen weder der
BGE 133 I 259 S. 268
Kanton Basel-Stadt (vgl. § 55 nNotG) noch das Eidgenössische Polizei- und Justizdepartement (vgl. dessen Genehmigungsverfügung vom 11. Mai 2006) davon aus, dass ein Verstoss gegen § 26 Satz 2 nNotG bei der betroffenen Urkunde zu einem Mangel führen würde. Es liegt daher - ungeachtet der hinsichtlich der formellen Gültigkeitserfordernisse abschliessenden Natur der Regelung des Bundeszivilrechts - kein Verstoss gegen den Vorrang des Bundesrechts vor.
6.
6.1
Die Notare des Kantons Basel-Stadt sind gehalten, die von ihnen hergestellten Urkunden zu registrieren und aufzubewahren. Ihre entsprechenden Pflichten werden durch § 56 nNotG folgendermassen geregelt:
"
1
Die Notarin oder der Notar registriert alle Beurkundungen chronologisch und bewahrt von jeder Urkunde samt ihren Beilagen eine vollständige Kopie, auf Begehren der Klientschaft das Original, in der Urkundensammlung dauerhaft auf. § 54 Abs. 2 bleibt vorbehalten.
2
Die Register und Urkundensammlungen stehen im Eigentum des Kantons. Sie sind bei Erlöschen der Beurkundungsbefugnis an das Notariatsarchiv abzuliefern, sofern nicht gemäss § 11 Abs. 4 vorgegangen wird.
3
Der Regierungsrat ordnet das Nähere auf dem Verordnungswege."
Nachdem die Beschwerdeführer ihren Antrag entsprechend dem Eventualbegehren des Justizdepartements des Kantons Basel-Stadt präzisiert haben, wird vorliegend die Streichung des zweiten Teils des ersten Satzes von § 56 Abs. 2 nNotG ("... stehen im Eigentum des Kantons") verlangt. Zur Begründung dieses Antrags bringen die Beschwerdeführer vor, gemäss der abschliessenden Regelung des Bundeszivilrechts stünden die Urkunden im Eigentum des Notars, welcher die für ihre Herstellung notwendigen Materialien kaufe und anschliessend den Text verfasse; für eine "anderslautende kantonale Regelung", welche das Eigentum an Registern und Urkundensammlungen dem Kanton zuspreche, verbleibe kein Raum. Der Notar sei zudem als "Hüter der ihm anvertrauten Informationen" auf den Schutz angewiesen, welcher ihm die Stellung als Eigentümer der Urkundensammlung verleihe. Sinngemäss machen die Beschwerdeführer damit eine Verletzung des Vorrangs des Bundesrechts (
Art. 49 BV
) geltend.
6.2
Die streitbetroffenen Register und Urkundensammlungen werden zu ausschliesslich öffentlichen Zwecken erstellt und sind deshalb als öffentliche Sachen zu qualifizieren. Bei diesen Gegebenheiten ist der Kanton, welcher ohnehin zur Regelung der öffentlichen
BGE 133 I 259 S. 269
Beurkundung berufen ist (vgl. E. 2), auch kompetent, die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse an den Registern und Urkundensammlungen zu bestimmen. Namentlich kann er festlegen, inwieweit auf Letztere überhaupt Zivilrecht zur Anwendung kommen soll und - wenn dieses Geltung erlangt - wem das Eigentum an der öffentlichen Sache zustehen soll. Deshalb ist unbehelflich, wenn sich die Beschwerdeführer im vorliegenden Zusammenhang auf die Eigentumsregelung des Zivilgesetzbuchs berufen. Im Übrigen anerkennen die Beschwerdeführer neben der Aufbewahrungspflicht gemäss § 56 Abs. 1 nNotG ausdrücklich auch die in § 56 Abs. 2 Satz 2 nNotG statuierte Verpflichtung der Notare, bei Erlöschen der Beurkundungsbefugnis Register und Urkundensammlung dem Staat abzuliefern. Sie wenden sich einzig gegen die Regelung, wonach nicht der Notar selber, sondern der Kanton Eigentümer der von Ersterem verwahrten Urkunden ist. Dabei scheinen sie zu verkennen, dass die tatsächlichen Befugnisse des Notars in der vorliegenden Konstellation gar nicht von den Eigentumsverhältnissen abhängen. Selbst wenn der Notar - wie die Beschwerdeführer annehmen - zivilrechtlicher Eigentümer der Urkundensammlung wäre, würde er über keine der üblichen (materiellen) Befugnisse eines Eigentümers verfügen, zumal er die Urkunden sicher verwahren muss und weder verändern noch veräussern, verbrauchen oder vernichten darf. Seine tatsächliche Rechtsstellung unterscheidet sich insoweit nicht von jener eines blossen Besitzers. Ferner kommen dem Notar als Besitzer gegenüber Dritten grundsätzlich die gleichen Abwehrrechte zu wie einem Eigentümer (vgl.
Art. 926 ff. ZGB
). | de |
4cdd9721-1100-4420-8018-4e5f50c324d4 | Sachverhalt
ab Seite 124
BGE 125 V 123 S. 124
A.-
Die 1949 geborene E. war seit Januar 1993 Inhaberin der Einzelfirma P. und betrieb damit unter Mithilfe ihres Ehemannes Handel mit Waren aller Art. Am 29. Juli 1994 erklärte das Bezirksgericht X E. als zum Getrenntleben berechtigt, womit auch die Mitarbeit ihres Gatten wegfiel. Am 19. Oktober 1995 meldete sie sich zur Arbeitsvermittlung an und erhob ab 1. Juli 1995 Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Mit Verfügung vom 23. Mai 1996 verneinte das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Abteilung Arbeitslosenversicherung (KIGA; nunmehr: Amt für Wirtschaft und Arbeit [nachfolgend: kantonales Amt]), Zürich, einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, da sie innert der massgeblichen Rahmenfrist nicht während mindestens sechs Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt habe und die Voraussetzungen für die Befreiung von der Beitragspflicht nicht erfülle.
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 15. Mai 1998 ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt E., es sei ihr in Aufhebung des angefochtenen Entscheids ab Oktober 1994 Arbeitslosenentschädigung zuzusprechen.
Sowohl das kantonale Amt als auch das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit verzichten auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin innert der Rahmenfrist für die Beitragszeit vom 19. Oktober 1993 bis 18. Oktober 1995 nicht während mindestens sechs Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat und deshalb die Beitragszeit im Sinne von
Art. 13 Abs. 1 AVIG
nicht erfüllt. Vorinstanz und Verwaltung haben weiter die Erfüllung des Befreiungstatbestands "Trennung der Ehe" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
verneint.
a) Die Bestimmung von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
ist in erster Linie für jene Fälle vorgesehen, in denen plötzlich die Person, welche durch
BGE 125 V 123 S. 125
Geldzahlungen an den Unterhalt der Familie beiträgt, oder die Erwerbsquelle aus- oder weggefallen ist (GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, Bd. I, N. 34 zu Art. 14; NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 199). Es handelt sich bei dieser Versichertengruppe um Personen, die nicht eigentlich auf die Aufnahme, Wiederaufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit vorbereitet sind und aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in verhältnismässig kurzer Zeit neu disponieren müssen (NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 200). Nach der Rechtsprechung ist eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit nach
Art. 14 Abs. 2 AVIG
nur möglich, wenn zwischen dem geltend gemachten Grund und der Notwendigkeit der Aufnahme oder Erweiterung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit ein Kausalzusammenhang gegeben ist (
BGE 121 V 344
Erw. 5c/bb,
BGE 119 V 55
Erw. 3b). Kein solcher Zusammenhang liegt vor, wenn die versicherte Person bereits vor Eintritt des Grundes eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollte (
BGE 121 V 344
Erw. 5c/cc; ARV 1987 Nr. 5 S. 70 Erw. 2d).
b) Aus den Akten ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin infolge des Konkurses der Firma ihres Ehemannes bereits im Januar 1993 gezwungen war, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, wobei sie sich für eine selbstständige Tätigkeit entschieden hatte. Die Notwendigkeit, einer einträglichen Beschäftigung nachzugehen, bestand damit lange vor der Trennung der Ehe, die erst am 29. Juli 1994 gerichtlich ausgesprochen wurde. Die Beschwerdeführerin macht nun geltend, die Einkommenseinbusse sei entstanden, weil ihr Ehemann seit der Trennung nicht mehr in der Firma mithalf. Ob nebst dem trennungsbedingten Wegfall der Person, welche durch Geldzahlungen an den Familienunterhalt beitrug, oder der Erwerbsquelle (vgl. Erw. 2a) auch der Ausfall des ehelichen Unterhalts in Form der gestützt auf
Art. 163 Abs. 2 ZGB
vereinbarten Mithilfe des Ehemannes im Beruf oder Gewerbe des anderen den angerufenen Befreiungstatbestand erfüllt (worauf sich die Beschwerdeführerin sinngemäss beruft), kann indessen offen bleiben, da die Regelung über die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit im vorliegenden Fall ohnehin nicht in Betracht kommen kann.
c) Das Institut der Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit ist letztlich Ausfluss des Verfassungsauftrags, wonach die Arbeitslosenversicherung für - grundsätzlich alle - Arbeitnehmer obligatorisch sein soll (
Art. 34novies Abs. 2 Satz 1 BV
; GERHARDS, a.a.O., N. 5 zu Art. 14). Die Beschwerdeführerin will nicht wieder oder erstmals ins
BGE 125 V 123 S. 126
Erwerbsleben eintreten, sondern von einer - nicht versicherten - selbstständigen Erwerbstätigkeit (
Art. 2 Abs. 1 lit. a AVIG
e contrario) in eine unselbstständige wechseln. Bei Aufgabe der selbstständigen Erwerbstätigkeit besteht kein Versicherungsschutz, es sei denn aus einer früheren Arbeitnehmertätigkeit werde die Beitragszeit in der Rahmenfrist noch erfüllt (NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 39). Die Arbeitnehmereigenschaft, welche Grundvoraussetzung dafür ist, dass eine Person Versicherungsschutz geniesst, kann nicht dadurch hergestellt werden, dass im Nachhinein eine Person für diejenige Zeit, während welcher eine selbstständige Tätigkeit ausgeübt wurde, als von der Erfüllung der Beitragszeit befreit erklärt wird. Die Befreiungstatbestände können die fehlende Versicherteneigenschaft nicht schaffen. Sie übernehmen vielmehr die Funktion der Beitragszeit als Anspruchsvoraussetzung (vgl. NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 194). Die fehlende Versicherteneigenschaft infolge Ausübung einer ganztägigen selbstständigen Tätigkeit in der Zeit vor Anrufung eines Befreiungsgrundes nach
Art. 14 AVIG
schliesst nach dem Gesagten im vorliegenden Fall die Berufung auf diese Ausnahmeregelung aus (vgl. auch nicht publizierte Erw. 6d des Urteils
BGE 124 V 400
). Die veränderten Umstände nach der Trennung - worauf die Beschwerdeführerin mit Nachdruck hinweist - sind demnach für den Ausgang dieses Verfahrens ohne Belang.
d) Aus dem Wortlaut von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
geht, anders als aus Abs. 1 und auch aus dem seit 1. Januar 1996 in Kraft stehenden
Art. 13 Abs. 2bis AVIG
(und der diesbezüglichen Rechtsprechung), nicht hervor, dass die anspruchstellende Person (hier: im Hinblick auf den ehelichen Unterhalt) an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit überhaupt verhindert gewesen sein muss. Vom Wortlaut noch gedeckt wären Fälle, in denen die Person eine schlecht rentierende selbstständige Erwerbstätigkeit ausübte, wenn sie durch einen der Befreiungsgründe gezwungen ist, eine im Rahmen des Üblichen entlöhnte unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Nach dem unzweideutigen Willen des Gesetzgebers sollen aber nur die wegen den in
Art. 14 Abs. 2 AVIG
erwähnten Gründen zur Aufnahme, Wiederaufnahme oder Ausdehnung einer Erwerbstätigkeit gezwungenen Personen von der Erfüllung der Beitragszeit befreit sein (vgl. Botschaft des Bundesrates zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 2. Juli 1980, BBl 1980 III 544 und 564 f.; siehe auch SVR 1997 ALV Nr. 100 S. 307 Erw. 4b/bb; NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 200; GERHARDS, a.a.O., N. 4 und 33 zu Art. 14). Nicht in den Genuss der
BGE 125 V 123 S. 127
Beitragsbefreiung kann daher eine Person gelangen, die bereits einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit nachging und von einer selbstständigen zu einer unselbstständigen Tätigkeit wechseln will; sie nimmt weder eine solche erstmals oder wieder auf, noch dehnt sie diese aus. Nachdem die Beschwerdeführerin vollzeitlich selbstständigerwerbend war, stellt sich die Frage der Beitragsbefreiung für eine Teil-Arbeitslosigkeit nicht. | de |
e0011d5c-d48f-48ca-8293-f31326137cd1 | Sachverhalt
ab Seite 106
BGE 110 Ia 106 S. 106
Durch beurkundeten Vertrag vom 21. Mai 1981 erwarb Frau K. das Stockwerkeigentum an einer Wohnung. Unter den Anmerkungen wurde auf das Reglement der Stockwerkeigentümer-Gemeinschaft hingewiesen. § 54 des Reglements sieht für die Entscheidung
BGE 110 Ia 106 S. 107
von Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten, die zwischen Stockwerkeigentümern aus der Gemeinschaftsordnung entstehen können, ein Schiedsgericht vor.
Am 2. März 1983 erhob Frau K. beim Gerichtspräsidenten von Seftigen gegen die Stockwerkeigentümer F., S. und M. Klage hinsichtlich der Benützung des Ziergartens vor ihren Wohnungsfenstern. Die beklagten Stockwerkeigentümer bestritten unter Berufung auf die Schiedsklausel die Zuständigkeit des ordentlichen Richters.
Der Gerichtspräsident trat am 6. September 1983 auf die Klage gegen alle Stockwerkeigentümer ausser gegen M. mangels Zuständigkeit nicht ein. Der Appellationshof des Kantons Bern verwarf am 13. Dezember 1983 die Appellation von Frau K. und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.
Frau K. hat staatsrechtliche Beschwerde erhoben und beantragt, den Entscheid des Appellationshofs wegen Verletzung von
Art. 4 und 58 BV
sowie Art. 75 der Staatsverfassung des Kantons Bern aufzuheben. Die Beschwerdegegner haben auf eine Vernehmlassung verzichtet, jedoch auf die ihrer Ansicht nach zutreffenden Erwägungen in den kantonalen Entscheidungen verwiesen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beschwerdeführerin behauptet eine Verletzung von Art. 6 des Konkordats über die Schiedsgerichtsbarkeit. Danach bedarf die Schiedsabrede der Schriftform (Abs. 1), doch kann sie sich auch aus der schriftlichen Erklärung des Beitritts zu einer juristischen Person ergeben, sofern diese Erklärung ausdrücklich auf die in den Statuten oder in einem sich darauf stützenden Reglement enthaltene Schiedsklausel Bezug nimmt. Gerügt wird eine Missachtung der Garantie des verfassungsmässigen Richters im Sinne von
Art. 58 BV
beziehungsweise
Art. 75 KV/BE
sowie ein Verstoss gegen
Art. 4 BV
. Das Bundesgericht prüft frei, ob
Art. 58 Abs. 1 BV
verletzt ist. Soll der Verstoss gegen die Garantie des verfassungsmässigen Richters lediglich in der unrichtigen Anwendung kantonaler Vorschriften über die Organisation und Besetzung des Gerichts hiezu liegen, so prüft das Bundesgericht die Handhabung des kantonalen Rechts nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (
BGE 105 Ia 174
E. 2b mit Verweisung). Anders wiederum, wenn - wie hier - im Zusammenhang mit
Art. 58 Abs. 1 BV
BGE 110 Ia 106 S. 108
eine Verletzung des Konkordats über die Schiedsgerichtsbarkeit geltend gemacht wird: Darüber steht dem Bundesgericht freie Überprüfungsbefugnis zu (
BGE 107 Ia 158
E. 2a mit Hinweisen).
2.
Der Appellationshof leitet die Bindung der Beschwerdeführerin an die Schiedsklausel des Reglements der Stockwerkeigentümer-Gemeinschaft aus
Art. 649a ZGB
ab. Diese Bestimmung gehe als lex specialis dem Art. 6 des Konkordats vor, wobei es sich gleich verhalte wie bei einer statutarischen Schiedsabrede. Der Erwerber von Stockwerkeigentum müsse sich bewusst sein, dass er in eine Gemeinschaft eintrete und damit Rechte und Pflichten übernehme; er habe sich darüber zu erkundigen und könne sich nicht auf Unkenntnis berufen. Die Beschwerdeführerin verhalte sich zudem missbräuchlich, wenn sie selbst sich im Prozess auf das Reglement berufe, das darin vorgesehene Schiedsgericht aber ablehne.
3.
Die Beschwerdeführerin geht zutreffend davon aus, dass sie keine schriftliche Schiedsabrede gemäss Art. 6 Abs. 1 des Konkordats unterzeichnet hat. Zu Recht nimmt auch der Appellationshof nicht an, dass die Unterzeichnung des Kaufvertrages mit dem Hinweis auf das Reglement der Stockwerkeigentümer-Gemeinschaft diesen Anforderungen genüge, denn es fehlt eine Unterschrift seitens der Gemeinschaft oder der beklagten Stockwerkeigentümer (dazu RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, S. 52).
4.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 des Konkordats, weil der Kaufvertrag zwar auf das Reglement, nicht aber auf die Schiedsklausel hinweist. Sie macht geltend, die Gültigkeit einer Schiedsklausel beurteile sich nach kantonalem Recht;
Art. 649a ZGB
finde als materiellrechtliche Norm darauf keine Anwendung und könne daher nicht lex specialis zu Art. 6 Abs. 2 des Konkordats sein.
a) Es trifft zu, dass der Schiedsvertrag als Prozessvertrag vom kantonalen Prozessrecht beherrscht wird (
BGE 103 II 76
E. 1 mit Hinweis; RÜEDE/HADENFELDT, S. 53). Das schliesst indes nicht aus, dass der Bundesgesetzgeber mit
Art. 649a ZGB
ins kantonale Verfahrensrecht eingreift, wie dies der Appellationshof annimmt. Weil die Norm indes dem materiellen Zivilrecht angehört, ist ein solcher Eingriff immerhin nicht zu vermuten.
b) Die Bedeutung von
Art. 649a ZGB
ist eindeutig und an sich unbestritten. Mit dem Erwerb von Stockwerkeigentum werden
BGE 110 Ia 106 S. 109
von Gesetzes wegen, auch ohne Anmerkung in Kaufvertrag und Grundbuch, die bestehende Nutzungs- und Verwaltungsordnung sowie früher gefasste Beschlüsse und ergangene richterliche Anordnungen für den Erwerber verbindlich. Das gilt in erster Linie für das Reglement der Gemeinschaft, und zwar unabhängig davon, ob der Erwerber dessen Existenz und Inhalt kennt. Der Appellationshof übersieht jedoch, dass dies keineswegs voraussetzungslos für den gesamten Inhalt des Reglements zutreffen muss. Soweit sich einzelne Bestimmungen als unverbindlich erweisen, handelt die Beschwerdeführerin keineswegs widersprüchlich und missbräuchlich, wenn sie sich im übrigen auf das unstreitig gültige Reglement stützt.
c) Die Bestimmung des
Art. 649a ZGB
gilt nur im Bereich der Nutzungs- und Verwaltungsordnung und nicht im gesamten Bereich der Beziehungen unter den Miteigentümern (MEIER-HAYOZ, N. 18 zu
Art. 649a ZGB
). Nach dem angefochtenen Urteil erfüllt das Schiedsgericht in einem weiteren Sinn eine Verwaltungsfunktion. Der Appellationshof kann sich dafür auf FRIEDRICH (Das Stockwerkeigentum, N. 4 zu § 58) stützen. Ob seine Ansicht richtig ist, erscheint fraglich, braucht indes nicht entschieden zu werden.
d) Die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer besitzt beschränkte Rechts- und Handlungsfähigkeit (
Art. 712l ZGB
). Im Hinblick auf neu eintretende Mitglieder wurde jedoch die Regelung von
Art. 649a ZGB
stark an die Verhältnisse bei juristischen Personen angenähert (Botschaft vom 7. Dezember 1962, in BBl 1962 II S. 1495 f.; FRIEDRICH, in ZGBR 45/1964 S. 350); die Lösung entspricht dem, was für juristische Personen gilt (LIVER, in Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1 S. 70; MEIER-HAYOZ, N. 12 zu
Art. 649a ZGB
). Daraus folgt, dass der Bundesgesetzgeber die Rechtsnachfolge in der Stockwerkeigentümer-Gemeinschaft keineswegs weitergehend als bei eigentlichen juristischen Personen erleichtern wollte.
e) Art. 6 Abs. 2 des Konkordats verlangt für die Gültigkeit einer statutarischen Schiedsabrede nebst der schriftlichen Beitrittserklärung eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Schiedsabrede. Die Zweckmässigkeit einer solchen Vorschrift ist umstritten (vgl. STRÄULI/MESSMER/WIGET, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., N. 18 zu § 238; ferner HINDERLING, Probleme der privaten Schiedsgerichtsbarkeit, in Ausgewählte Schriften, S. 322). Die Erschwerung ist indes zum Schutz vor übereilter Bindung bewusst in Kauf genommen worden und
BGE 110 Ia 106 S. 110
entspricht offensichtlich dem Willen des Konkordats (PANCHAUD, Concordat suisse sur l'arbitrage, S. 40; LANZ, Das Konkordat über die Schiedsgerichtsbarkeit vom 27. März 1969, Diss. Zürich 1971, S. 21; JOLIDON, Commentaire du Concordat suisse sur l'arbitrage, S. 173). Der eigentlichen Schriftlichkeit (Art. 6 Abs. 1 des Konkordats) gegenüber enthält Absatz 2 immer noch eine Erleichterung.
f) Bundesrecht schreibt den Kantonen nicht vor, ob und unter welchen Voraussetzungen sie Schiedsklauseln in den Statuten von Körperschaften für nachträglich eintretende Mitglieder gelten lassen müssen. Die Ordnung, wie sie in Art. 6 Abs. 2 des Konkordats für juristische Personen getroffen ist, erweckt denn auch bundesrechtlich keine Bedenken. Mit
Art. 649a ZGB
wollte der Gesetzgeber sich wie erwähnt der Ordnung juristischer Personen annähern, keineswegs aber so weit in kantonales Prozessrecht eingreifen, dass bei der Rechtsnachfolge in Stockwerkeigentümer-Gemeinschaften Art. 6 Abs. 2 des Konkordats unanwendbar sein soll. Freilich erklärt FRIEDRICH (Das Stockwerkeigentum, N. 4 zu § 58), auf den der Appellationshof sich beruft, der Grundsatz von
Art. 649a ZGB
gelte auch für eine in der Gemeinschaftsordnung enthaltene Schiedsabrede, selbst wenn der Einzelrechtsnachfolger sich ihr nicht ausdrücklich unterzogen habe. Der Verfasser behält jedoch seinerseits zutreffend hinsichtlich der Verbindlichkeit solcher Abreden die einschlägigen kantonalen Prozessnormen vor (N. 2). Indem der Appellationshof die Beschwerdeführerin an das Schiedsgericht verwiesen hat, obwohl die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 2 des Konkordats nicht gegeben sind, hat er ihren Anspruch auf den verfassungsmässigen Richter verletzt. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen. | de |
62305833-a688-4dc7-b634-c8687dd907ca | Sachverhalt
ab Seite 358
BGE 131 V 358 S. 358
A.
Mit Verfügung vom 8. Dezember 2003 und Einspracheentscheid vom 9. Januar 2004 lehnte es die Helsana Versicherungen AG ab, ihrem Versicherten B. auf den gemäss Verfügung vom 11. November 2003 für die Zeit ab 1. März 1992 bis 31. Januar 1999 zugesprochenen Taggeldern und den seit 1. Februar 1999 aufgelaufenen Rentenbetreffnissen, welche alle am 14. November 2003 zur Auszahlung gelangten, die geltend gemachten und mit Fr. 16'963.75 bezifferten Verzugszinsen zu gewähren.
B. Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Entscheid vom 19. Mai 2004 gut, indem es den angefochtenen Einspracheentscheid aufhob und die Helsana anwies, über den dem Beschwerdeführer zustehenden Verzugszins im Sinne der Erwägungen, d.h. nach Erstellung einer Verzugszinsberechnung, neu zu verfügen.
C.
Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um Aufhebung des kantonalen Entscheids und Bestätigung ihres Einspracheentscheids vom 9. Januar 2004. (...)
B. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, soweit darauf einzutreten ist. Das Bundesamt für Gesundheit trägt ebenfalls auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.
Erwägungen
BGE 131 V 358 S. 359
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Nach
Art. 26 Abs. 1 ATSG
sind für fällige Beitragsforderungen und Beitragsrückerstattungsansprüche Verzugs- und Vergütungszinsen zu leisten (Satz 1); der Bundesrat kann für geringe Beträge und kurzfristige Ausstände Ausnahmen vorsehen (Satz 2). Sofern die versicherte Person ihrer Mitwirkungspflicht vollumgänglich nachgekommen ist, werden die Sozialversicherungen laut Abs. 2 derselben Bestimmung für ihre Leistungen nach Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate nach dessen Geltendmachung verzugszinspflichtig.
1.2
Nach der bis zum In-Kraft-Treten des ATSG geltenden Rechtsprechung wurden im Bereich der Sozialversicherung grundsätzlich keine Verzugszinsen geschuldet, sofern sie nicht ausdrücklich gesetzlich vorgesehen waren. Nur ausnahmsweise hat das Eidgenössische Versicherungsgericht Verzugszinsen zugesprochen, wenn "besondere Umstände" vorlagen. Solche Umstände erachtete das Gericht als gegeben bei widerrechtlichen oder trölerischen Machenschaften der Verwaltungsorgane. Die Verzugszinspflicht setzte im Übrigen neben der Rechtswidrigkeit auch ein schuldhaftes Verhalten der Verwaltung voraus. Dabei hat es das Gericht abgelehnt, die Verzugszinspflicht generell für bestimmte Gruppen von Fällen (etwa gerichtlich festgestellte Rechtsverzögerungen) zu bejahen. Wegleitend dafür war die Überlegung, dass die Auferlegung von Verzugszinsen im Sozialversicherungsrecht nur ausnahmsweise und in Einzelfällen gerechtfertigt ist, bei denen das Rechtsempfinden in besonderer Weise berührt wird (vgl.
BGE 130 V 334
Erw. 6.1,
BGE 127 V 446
Erw. 4,
BGE 119 V 81
Erw. 3a, je mit Hinweisen).
1.3
Art. 82 Abs. 1 ATSG
sieht unter anderem vor, dass materielle Bestimmungen dieses Gesetzes auf die bei seinem In-Kraft-Treten laufenden Leistungen und festgesetzten Forderungen nicht anwendbar sind (Satz 1). Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in
BGE 130 V 329
erkannt hat, kann aus dieser Bestimmung nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass für die Anwendbarkeit materieller Bestimmungen des neuen Gesetzes bezüglich im Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens (1. Januar 2003) noch nicht
BGE 131 V 358 S. 360
festgesetzter Leistungen der Verfügungszeitpunkt massgebend ist; abgesehen von den in Abs. 1 Satz 2 der Übergangsbestimmung spezifisch normierten Tatbeständen hat man sich nach den übergangsrechtlichen Grundsätzen zu richten, welche für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen die Rechtssätze anwendbar erklären, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten (
BGE 130 V 332
f. Erw. 2.2 und 2.3).
2.
Der rechtlich massgebende Sachverhalt, von welchem ein allfälliger Anspruch auf Verzugszinsen auf den am 14. November 2003 ausbezahlten Taggeld- und Renten-Nachzahlungen abhängt, hat sich teilweise vor und teilweise nach dem In-Kraft-Treten des ATSG verwirklicht. Für den Zeitraum bis 31. Dezember 2002 erfolgt die Prüfung der materiellen Anspruchsvoraussetzungen daher nach den in Erw. 1.2 hievor dargelegten Grundsätzen (vgl. dazu insbesondere
BGE 119 V 81
Erw. 3a). Für die Zeit danach (ab 1. Januar bis 14. November 2003) stützt sich die Beurteilung hingegen auf die Bestimmung von
Art. 26 Abs. 2 ATSG
(vgl.
BGE 130 V 334
Erw. 6 Ingress).
2.1
Was die Zeit bis 31. Dezember 2002 anbelangt, war die Beschwerde führende Versicherungsgesellschaft zunächst der Ansicht, dem Versicherten keine Leistungen zu schulden, was schliesslich sogar zur gerichtlichen Beurteilung gelangte. Obschon das damalige Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft (heute: Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht) mit Entscheid vom 19. August 1998 und anschliessend das Eidgenössische Versicherungsgericht - letztinstanzlich - mit Urteil vom 18. Mai 2001 (U 107/99) die Betrachtungsweise des Unfallversicherers verwarfen und zum Schluss gelangten, dass dem Versicherten ein Anspruch auf Taggeld- und Rentenleistungen zustehe, kann nicht gesagt werden, dass die Auffassung des Versicherers nicht vertretbar und die durchgeführten Gerichtsverfahren daher für ihn von vornherein aussichtslos gewesen wären, sodass das Beharren auf seinem Standpunkt als trölerisches oder gar widerrechtliches Verhalten qualifiziert werden müsste. Nach Erlass des letztinstanzlichen Urteils am 18. Mai 2001 dauerte es auch nicht unangemessen lange, bis die noch notwendigen Abklärungen durchgeführt und die geschuldeten Leistungen ermittelt worden waren und schliesslich am 11. November 2003 darüber auch verfügt wurde. Nach der bis 31. Dezember 2002 massgebend gewesenen Rechtsprechung (Erw. 1.2 hievor) waren die Voraussetzungen
BGE 131 V 358 S. 361
für die Zusprechung von Verzugszinsen demnach nicht erfüllt.
2.2
Zutreffend ist die vorinstanzliche Feststellung, dass ab 1. Januar 2003 auf Grund des auf diesen Zeitpunkt in Kraft gesetzten
Art. 26 Abs. 2 ATSG
Verzugszinsen geschuldet sind. Entgegen der Argumentation der Beschwerde führenden Versicherungsgesellschaft beginnen diese nicht erst nach Ablauf von 24 Monaten seit dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 zu laufen. Vielmehr ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass die Verzugszinspflicht ab 1. Januar 2003 für alle Leistungen gilt, sofern die Voraussetzungen gemäss
Art. 26 Abs. 2 ATSG
erfüllt sind.
Art. 26 Abs. 2 ATSG
knüpft für die Bestimmung des Beginns des Verzugszinsanspruchs an den Zeitpunkt der Entstehung des Leistungsanspruchs an (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, N 18 zu Art. 26). Damit wollte der Gesetzgeber erreichen, dass Versicherte während der teils sehr langen Dauer, welche mitunter für die Abklärung des Leistungsanspruchs benötigt wird und unter Umständen bis zu dessen rechtskräftigen Festsetzung in einem oder mehreren gerichtlichen Verfahren verstreicht, zumindest in Form eines Verzugszinses - nach Ablauf von 24 Monaten - einen gewissen Schadensausgleich erhalten (BBl 1991 II 258, 1999 4579 f.; vgl. dazu KIESER, a.a.O., N 1, 16 und 19 zu Art. 26). Auch sollte damit der gegenüber der früheren Gerichtspraxis verschiedentlich geäusserten Kritik begegnet werden (BBl 1999 4579; vgl. KIESER, a.a.O., N 4 f. zu Art. 26).
Entsprechend der mit
Art. 26 Abs. 2 ATSG
verfolgten Zielsetzung sind Verzugszinsen demnach ab 1. Januar 2003 auf sämtlichen Leistungen geschuldet, auf welche am 1. Januar 2003 bereits seit mindestens 24 Monaten ein Anspruch besteht (vgl. KIESER, a.a.O., N 19 f. zu Art. 26). Es betrifft dies im vorliegenden Fall einerseits sämtliche Taggelder (abzüglich allfälliger Akontozahlungen) sowie andererseits die für die Zeit bis 31. Dezember 2000 geschuldeten Rentenbetreffnisse. Da der Versicherte seit 1999 Anspruch auf eine monatlich im Voraus zahlbare Invalidenrente hat, sind auch die jeweiligen Rentenbetreffnisse für die Zeit nach dem 31. Dezember 2000 ab dem Zeitpunkt zu verzinsen, in welchem die seit Anspruchsbeginn verstrichene Zeitspanne 24 Monate erreicht hat (vgl. Kieser, a.a.O., N 20 zu Art. 26). Eine Rückwirkung des Gesetzes - wie von der Beschwerdeführerin befürchtet - ist damit nicht verbunden, wird eine solche doch bereits dadurch ausgeschlossen,
BGE 131 V 358 S. 362
dass für die Zeit vor dem 1. Januar 2003 kein Verzugszins geschuldet ist (KIESER, a.a.O., N 26 zu Art. 26; vgl. auch Satz 2 von Rz 10512 der vom Bundesamt für Sozialversicherung herausgegebenen Wegleitung über die Renten [RWL, in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung]). | de |
56d76423-8c3e-4a5e-b457-7747f4b223f1 | Sachverhalt
ab Seite 113
BGE 113 III 113 S. 113
In der gegen ihn hängigen Betreibung auf Pfandverwertung reichte X. durch Eingabe vom 15. Mai 1987 bei der zuständigen unteren kantonalen Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen (Gerichtspräsidium Z.) Beschwerde ein mit den Rechtsbegehren:
"- Die auf den 20.05.1987 angesetzte Versteigerung sei abzusetzen.
- Es sei eine Lastenbereinigung vorzunehmen, das Lastenverzeichnis
entsprechend zu ändern und nachher wieder zur Einsprache aufzulegen.
- Es seien die Steigerungsbedingungen abzuändern und erneut aufzulegen,
insbesondere sei das Ergebnis der anbegehrten neuen Schätzung dabei zu
berücksichtigen.
- Es sei dieser Beschwerde aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen."
BGE 113 III 113 S. 114
X. kündigte ausserdem an, dass er noch innerhalb der Beschwerdefrist, die am 23. Mai 1987 ende, eine Ergänzung der Rechtsschrift einreichen werde.
Die untere Aufsichtsbehörde entschied am 19. Mai 1987, dass der Antrag auf Absetzung der Steigerung abgewiesen und dass auf die übrigen Anträge nicht eingetreten werde. Der Entscheid wurde X. am 20. Mai 1987 zugestellt, und gleichentags wurde - wie angekündigt - die Steigerung durchgeführt.
Am 26. Mai 1987 traf bei der unteren Aufsichtsbehörde die in Aussicht gestellte (vom 23. Mai 1987 datierte) Ergänzung der Beschwerdeschrift vom 15. Mai 1987 ein. X. erneuerte darin die in jener Beschwerde gestellten Anträge. Angesichts der inzwischen vollzogenen Verwertung des Pfandgegenstandes stellte er ferner neu den Antrag, der Steigerungszuschlag sei aufzuheben.
Die Eingabe vom 23. Mai 1987 wurde von der oberen kantonalen Aufsichtsbehörde (Obergericht) als Beschwerde gegen den Entscheid der unteren Aufsichtsbehörde vom 19. Mai 1987 behandelt; am 2. Juli 1987 erkannte jene, dass die Beschwerde abgewiesen werde, soweit auf sie einzutreten und sie nicht gegenstandslos sei.
Gegen diesen Entscheid hat X. an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts rekurriert mit den Anträgen, die Entscheide der beiden kantonalen Aufsichtsbehörden (vom 19. Mai und 2. Juli 1987) seien aufzuheben und die Sache sei alsdann zu neuer Beurteilung an die untere Aufsichtsbehörde zurückzuweisen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Rekurrent beanstandet hauptsächlich, dass seine bei der unteren Aufsichtsbehörde eingereichte, ausdrücklich als Ergänzung der Beschwerde vom 15. Mai 1987 bezeichnete Rechtsschrift vom 23. Mai 1987 vom Obergericht als Beschwerde gegen den Entscheid des Gerichtspräsidiums Z. vom 19. Mai 1987 behandelt wurde; es sei ihm dadurch in einer die
Art. 17 ff. SchKG
verletzenden Weise der Instanzenzug verkürzt worden.
Weshalb sie die (an das Gerichtspräsidium Z. gerichtete) Eingabe des Rekurrenten vom 23. Mai 1987 als Beschwerde gegen den Entscheid der unteren Aufsichtsbehörde vom 19. Mai 1987 behandelt hat, legt die Vorinstanz nicht dar. In der Sache selbst führt sie aus, die untere Aufsichtsbehörde sei zu Recht auf die bereits in der Beschwerde vom 15. Mai 1987 gestellten Anträge betreffend
BGE 113 III 113 S. 115
Lastenbereinigung bzw. Änderung des Lastenverzeichnisses und der Steigerungsbedingungen nicht eingetreten, so dass die Eingabe vom 23. Mai 1987 in diesem Punkt unbegründet sei. Das vom Rekurrenten ebenfalls erneuerte Begehren um Absetzung der auf den 20. Mai 1987 anberaumten Versteigerung erklärte sie unter Hinweis auf die inzwischen durchgeführte Verwertung als gegenstandslos. Sodann hielt die Vorinstanz fest, dass das vom Rekurrenten angesichts der veränderten Situation neu gestellte Begehren um Aufhebung des Steigerungszuschlags nicht Gegenstand des (mit dem Entscheid vom 19. Mai 1987 abgeschlossenen) Verfahrens vor der unteren Aufsichtsbehörde gebildet habe und dass deshalb darauf nicht einzutreten sei. Sie hat allerdings erwogen, ob sie die Eingabe zur Beurteilung dieses Antrags an die untere Aufsichtsbehörde zu überweisen habe, gelangte jedoch zur Ansicht, es könne davon abgesehen werden, weil das Begehren (aus den von ihr näher dargelegten Gründen) offensichtlich unbegründet sei. Ob die Vorinstanz auf das Begehren um Aufhebung des Steigerungszuschlags nicht eingetreten ist, oder ob sie dieses letztlich doch materiell behandelt und abgewiesen hat, ist nicht klar. Diese Unklarheit ist indessen ohne Belang, da das Vorgehen der Vorinstanz in beiden Fällen gegen Bundesrecht verstiess:
Art. 13 SchKG
bestimmt, dass die Kantone zur Überwachung der Betreibungs- und Konkursämter eine Aufsichtsbehörde zu bezeichnen haben (Abs. 1) und dass sie überdies für einen oder mehrere Kreise untere Aufsichtsbehörden bestellen können (Abs. 2). Das Bundesrecht schreibt den Kantonen somit nicht zwingend ein zweistufiges Beschwerdeverfahren vor. Soweit in einem Kanton - wie hier - zwei Instanzen vorgesehen sind, ist jedoch der Instanzenzug von Bundesrechts wegen einzuhalten. Das ergibt sich aus den
Art. 17 und 18 SchKG
, wonach bei der "Aufsichtsbehörde" Beschwerde geführt (Art. 17 Abs. 1) und deren Entscheid binnen zehn Tagen an die "kantonale Aufsichtsbehörde" weitergezogen werden kann (Art. 18 Abs. 1). Ausserdem schreibt
Art. 75 Abs. 2 OG
vor, dass eine Beschwerde, die bei einer dem Grade nach unzuständigen kantonalen Aufsichtsbehörde eingereicht worden ist, von Amtes wegen an die zuständige Aufsichtsbehörde weiterzuleiten ist (wobei der Zeitpunkt der Einreichung bei der unzuständigen Instanz als Zeitpunkt der Beschwerdeführung gilt). Eine direkte Anrufung der oberen kantonalen Aufsichtsbehörde ist demnach nicht zulässig (JAEGER, N. 5 zu
Art. 18 SchKG
). Dass die Vorinstanz von einer Überweisung absah, ist
BGE 113 III 113 S. 116
um so stossender, als der Rekurrent die Eingabe bei der richtigen Instanz ... eingereicht hatte.
In Gutheissung des Rekurses ist der angefochtene Entscheid demnach aufzuheben, und die Vorinstanz ist anzuweisen, die Eingabe vom 23. Mai 1987 zur Beurteilung an das Gerichtspräsidium Z. zu überweisen... | de |
26fa97b2-8059-4a8d-93e4-4437e6232685 | Sachverhalt
ab Seite 57
BGE 119 V 56 S. 57
A.-
Peter R. war seit dem 1. Oktober 1989 als Berater bei der Firma P. AG tätig. Am 8. März 1991 wurde über das Unternehmen der Konkurs eröffnet, was dem Arbeitnehmer am 11. März 1991 telefonisch mitgeteilt und tags darauf schriftlich bestätigt wurde. Am 12. März 1991 meldete sich Peter R. beim Arbeitsamt als arbeitslos und besuchte in der Folge die Stempelkontrolle. Die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich richtete ihm für die Zeit vom 1. Februar bis 8. März 1991 Insolvenzentschädigung und ab 12. März 1991 Arbeitslosenentschädigung aus. Mit Verfügung vom 8. Juli 1991 lehnte sie es ab, dem Versicherten auch für die Zeit vom 9. bis 11. März 1991 Arbeitslosen- oder Insolvenzentschädigung auszurichten.
B.-
Peter R. beschwerte sich gegen diese Verfügung mit dem Antrag, es sei ihm für die Zeit vom 9. bis 11. März 1991 Insolvenzentschädigung zuzusprechen.
Die Rekurskommission für die Arbeitslosenversicherung des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid vom 31. Oktober 1991 ab, soweit der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die fragliche Zeit verneint worden war, und stellte fest, dass die Verfügung vom 8. Juli 1991 bezüglich des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung unangefochten geblieben und damit in Rechtskraft erwachsen sei.
C.-
Peter R. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Rechtsbegehren, in Aufhebung von Ziff. 1 des angefochtenen Entscheids sei ihm für die Zeit vom 9. bis 11. März 1991 eine Insolvenzentschädigung im Betrag von Fr. 895.80, abzüglich die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge, zuzusprechen; eventuell sei die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich anzuweisen, in diesem Sinne neu zu verfügen.
Während die Arbeitslosenkasse auf eine Vernehmlassung verzichtet, äussert sich das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) zur Sache, ohne jedoch einen Antrag zu stellen. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Kassenverfügung vom 8. Juli 1991 ist unangefochten geblieben, soweit damit die Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung für die Zeit vom 9. bis 11. März 1991 abgelehnt worden ist. Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren bildet daher lediglich, ob der Beschwerdeführer für diesen Zeitraum Anspruch auf
BGE 119 V 56 S. 58
Insolvenzentschädigung hat (
BGE 112 V 99
E. 1a,
BGE 110 V 51
E. 3c mit Hinweisen).
2.
a) Nach
Art. 51 AVIG
in der hier anwendbaren, bis Ende 1991 gültig gewesenen Fassung gemäss Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 haben beitragspflichtige Arbeitnehmer von Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegen oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, Anspruch auf Insolvenzentschädigung, wenn gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen in diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen (lit. a) oder wenn sie gegen ihren Arbeitgeber für Lohnforderungen das Pfändungsbegehren gestellt haben (lit. b).
Gemäss
Art. 52 Abs. 1 AVIG
in dem bis Ende 1991 gültig gewesenen Wortlaut deckt die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren, für jeden Monat jedoch nur bis zu dem für die Beitragsbemessung (
Art. 3 AVIG
) massgebenden Höchstbetrag
Art. 75 AVIV
bestimmte unter dem Titel "Stichtag für die Berechnung der Entschädigung", dass die drei Monate, für die allfällige Lohnforderungen zu decken sind, vom Tag der Konkurseröffnung oder des Pfändungsbegehrens an zurückgerechnet werden.
b) In
BGE 114 V 56
hat das Eidg. Versicherungsgericht
Art. 75 AVIV
als gesetzwidrig erklärt und festgestellt, dass dem Schutzgedanken der gesetzlichen Anspruchsregelung lediglich eine Auslegung gerecht werde, welche die drei Monate des
Art. 52 Abs. 1 AVIG
als Lohnmonate verstehe, mit der Folge, dass die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren decke.
Mit Teilrevision des AVIG vom 5. Oktober 1990, in Kraft seit 1. Januar 1992, wurde
Art. 51 AVIG
dahingehend ergänzt, dass Anspruch auf Insolvenzentschädigung auch dann besteht, wenn der Konkurs nur deswegen nicht eröffnet wird, weil sich infolge offensichtlicher Überschuldung des Arbeitgebers kein Gläubiger bereit findet, die Kosten vorzuschiessen (lit. b; die bisherige lit. b wurde zu lit. c).
Art. 52 Abs. 1 AVIG
wurde insofern geändert, als die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen deckt für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses. Schliesslich wurde
Art. 75 AVIV
mit Verordnungsnovelle vom 28. August 1991, in Kraft getreten am 1. Januar 1992, ersatzlos aufgehoben.
3.
Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Lohnanspruch des Beschwerdeführers, welcher bis 11. März 1991 für die P. AG
BGE 119 V 56 S. 59
tätig war, durch Insolvenzentschädigung abzugelten ist (vgl.
BGE 111 V 270
E. 1b,
BGE 110 V 33
E. 2). Streitig und im folgenden zu prüfen ist, ob sich der Anspruch auf Insolvenzentschädigung über den Zeitpunkt der Konkurseröffnung hinaus bis zu deren Kenntnisnahme durch den Arbeitnehmer erstreckt.
a) Die Vorinstanz hat den Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die fragliche Zeit vom 9. bis 11. März 1991 im wesentlichen mit der Begründung verneint, dass
Art. 52 Abs. 1 AVIG
, wonach die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren deckt, den Anspruchsumfang eindeutig festlege. Der Sinn der Insolvenzentschädigung bestehe darin, den Arbeitnehmer nicht in wirtschaftliche Not geraten zu lassen; es sei aber nicht Aufgabe der Insolvenzentschädigung, gleichsam an die Stelle des Arbeitgebers zu treten und dessen gesamte Lohnschulden zu übernehmen oder zu bevorschussen. Da eine Konkurseröffnung in der Regel nicht unvermittelt auf ein Unternehmen zukomme, hätte dem Beschwerdeführer wohl auch das Instrument der Sicherstellung oder der fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses wegen Lohngefährdung gemäss
Art. 337a OR
zur Verfügung gestanden. Der Beschwerdeführer habe aber ausdrücklich festgehalten, dass er für die Zeit vom 8. bis 12. (recte: 11.) März 1991 keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, sondern nur einen solchen auf Insolvenzentschädigung erhebe.
b) Der Beschwerdeführer stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, als auslösendes Moment für die Insolvenzentschädigung habe nicht der Augenblick des richterlichen Konkurserkenntnisses, sondern derjenige der Mitteilung an den Arbeitnehmer zu gelten. Einerseits sei es der Sinn der gesetzlichen Regelung, einen nahtlosen Übergang von der Insolvenzentschädigung zur Arbeitslosenentschädigung zu gewährleisten, sofern dem Versicherten keinerlei Versäumnisse zur Last gelegt werden könnten. Anderseits sei denkbar, dass eine Auslegung der Bestimmung in dem von der Vorinstanz vertretenen Sinn für den Arbeitnehmer schwerwiegende Folgen haben könne. So könne der Umstand, dass die Mitteilung über die Konkurseröffnung während der Betreibungsferien nicht erfolgen dürfe, für den Arbeitnehmer zu einem erheblichen Ausfall führen, sofern der Entscheid über die Konkurseröffnung aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gleichentags mitgeteilt werden könne. Wenn der Arbeitnehmer - wie hier - über die finanzielle Lage seines Arbeitgebers keinen Überblick habe, habe er auch keine Veranlassung, rechtzeitig Lohnsicherungsmassnahmen im Sinne von
Art. 337a OR
BGE 119 V 56 S. 60
zu beantragen. Auch sei es dem Arbeitnehmer ohne zuverlässige Kenntnis der Konkurseröffnung aufgrund seiner Treuepflicht dem Arbeitgeber gegenüber verwehrt, sich bei der zuständigen Amtsstelle als arbeitslos zu melden, um damit bereits in einem früheren Zeitpunkt entsprechende Versicherungsleistungen auszulösen.
Art. 75 AVIV
sei mithin so auszulegen, dass mit dem Begriff "Konkurseröffnung" der Zeitpunkt der Mitteilung des Konkurses an die Parteien als massgebend zu bezeichnen sei.
4.
a) Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass der Wortlaut von
Art. 52 Abs. 1 AVIG
in der Fassung vom 25. Juni 1982, wonach die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren deckt, hinsichtlich der vorliegenden Streitfrage klar ist. Wie das Eidg. Versicherungsgericht in
BGE 114 V 58
E. 3b festgestellt hat, lässt die Bestimmung zwar insofern unterschiedliche Auslegungen zu, als es sich bei der Schutzfrist von drei Monaten um Kalendermonate, die vom Datum der Konkurseröffnung oder des Pfändungsbegehrens an zurückzurechnen sind, oder um Lohnmonate handeln kann. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Insolvenzentschädigung nur Lohnforderungen für die Zeit vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren deckt (vgl.
BGE 114 V 59
E. 3d). Nach
Art. 175 SchKG
gilt der Konkurs aber von dem Zeitpunkt an als eröffnet, in welchem das richterliche Konkurserkenntnis ergeht. Massgebend für den Anspruch auf Insolvenzentschädigung ist daher das Datum des Konkurserkenntnisses und nicht der Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Konkurseröffnung durch den Arbeitnehmer. Anhaltspunkte dafür, dass der Wortlaut des Gesetzes in diesem Punkt nicht dem Willen des Gesetzgebers entspräche, ergeben sich weder aus der Botschaft des Bundesrates vom 2. Juli 1980 (BBl 1980 III 489 ff.) noch aus den parlamentarischen Beratungen (Amtl.Bull. N 1981 601 ff., S 1982 120 ff.). Ebensowenig kann gesagt werden, dass der Wortlaut der Bestimmung Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung zuwiderliefe.
Dass der Gesetzgeber mit der Insolvenzentschädigung lediglich Lohnansprüche des Arbeitnehmers für die Zeit vor der Konkurseröffnung oder des Pfändungsbegehrens decken wollte, ergibt sich auch unter gesetzessystematischen Gesichtspunkten. Im Hinblick darauf, dass das Gesetz in
Art. 51 AVIG
den Grundsatz (persönliche und sachliche Anspruchsvoraussetzungen) und in
Art. 52 AVIG
einen Teilaspekt (Umfang des Entschädigungsanspruchs) regelt, hat sich die Auslegung von
Art. 52 AVIG
im Rahmen von
Art. 51 AVIG
BGE 119 V 56 S. 61
zu halten. Bei der Auslegung von
Art. 52 AVIG
ist daher zu beachten, dass nach
Art. 51 lit. a AVIG
Anspruch auf Insolvenzentschädigung besteht, wenn der Konkurs eröffnet wird und dem Arbeitnehmer in diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen. Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber klargestellt, dass ausschliesslich im Zeitpunkt der Konkurseröffnung bestehende Lohnforderungen Anspruch auf Insolvenzentschädigung geben. Es ist somit davon auszugehen, dass Lohnforderungen für geleistete Arbeit nach der Konkurseröffnung keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung begründen. Dementsprechend bestimmt sich auch der Umfang der Insolvenzentschädigung gemäss
Art. 52 AVIG
.
b) Nichts anderes ergibt sich aus der (vorliegend nicht anwendbaren) Neufassung von
Art. 52 Abs. 1 AVIG
vom 5. Oktober 1990, in Kraft seit 1. Januar 1992, wonach die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen "für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses deckt". Die Änderung ist vom Bundesrat während der Vorberatung der AVIG-Revision in den parlamentarischen Kommissionen vorgeschlagen und von den eidgenössischen Räten unverändert angenommen worden (Amtl.Bull. 1990 S. 77, N 1450). Im Sinne von
BGE 114 V 56
ff. sollte damit dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Konkurseröffnung (oder das Pfändungsbegehren) häufig erst nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses erfolgt und sich aus Gründen verzögern kann, auf die der Versicherte keinen Einfluss hat. Dagegen ergeben sich weder aus dem genannten Urteil noch aus den Gesetzesmaterialien Hinweise dafür, dass der Anspruch auf Insolvenzentschädigung über den Zeitpunkt der Konkurseröffnung oder der Einreichung des Pfändungsbegehrens hinaus erstreckt werden sollte. Hiezu hätte es nach dem Gesagten einer Änderung auch von
Art. 51 AVIG
bedurft, wonach die Insolvenzentschädigung lediglich Ansprüche aus Arbeitsvertrag vor Eröffnung des Konkurses oder Einreichung des Pfändungsbegehrens deckt. Mangels einer solchen Änderung muss es bei der Feststellung bleiben, dass Lohnforderungen für die Zeit nach Eröffnung des Konkurses oder der Einreichung des Pfändungsbegehrens keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung zu begründen vermögen.
c) Was in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht wird, vermag zu keinem andern Ergebnis zu führen. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers kennt die gesetzliche Regelung keinen Grundsatz, wonach zwischen Insolvenzentschädigung und Arbeitslosenentschädigung ein nahtloser Übergang zu bestehen hat. Die Insolvenzentschädigung gewährleistet keine volle Rückversicherung
BGE 119 V 56 S. 62
für die Lohnforderungen des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber (Bericht des BIGA zur Neukonzeption der Arbeitslosenversicherung vom 18. Oktober 1979, S. 21) und ist insbesondere auch in zeitlicher Hinsicht begrenzt (vgl. Gerhards, Kommentar zum AVIG, Bd. I, Vorbemerkungen zu
Art. 51-58, N 21
f. und 25). Die streitige Entschädigungslücke zwischen Konkurseröffnung und Kenntnisnahme der Konkurseröffnung durch den Beschwerdeführer ergibt sich aus der gesetzlichen Regelung und stellt keine vom Richter auszufüllende Gesetzeslücke dar (vgl.
BGE 108 V 72
E. 2c,
BGE 107 V 196
E. 2b mit Hinweisen). Es liegt allenfalls eine rechts- oder sozialpolitische Lücke vor, welche der Richter im allgemeinen jedoch hinzunehmen hat (
BGE 111 Ib 229
E. 2a,
BGE 105 V 213
oben, mit Hinweis).
Im übrigen räumt der Beschwerdeführer selber ein, dass die Folgen der gesetzlichen Regelung für den Versicherten nicht so schwerwiegend sind, wie dies im Rahmen des in
BGE 114 V 56
beurteilten Sachverhalts der Fall sein kann. Auch geht der Arbeitnehmer für eine allfällige Deckungslücke nicht zum vornherein leer aus. Zwar hat er mangels Kenntnis der finanziellen Lage des Arbeitgebers unter Umständen keine Veranlassung, rechtzeitig Lohnsicherungsmassnahmen im Sinne von
Art. 337a OR
zu beantragen. Er kann seine durch den Anspruch auf Insolvenzentschädigung nicht gedeckten Lohnforderungen jedoch beim Konkursamt anmelden (vgl. ARV 1990 Nr. 8 S. 54 E. 3), wie es der Beschwerdeführer für das Gehalt für Februar und März (bis 11. März) 1991 sowie für den Kündigungslohn denn auch getan hat. Zudem beendet die Eröffnung des Konkurses über den Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nicht in jedem Fall. Wird der Betrieb auf Beschluss der Konkursverwaltung fortgeführt, so werden die neuen Lohnforderungen Masseschulden (
Art. 211 Abs. 2 SchKG
). Schliesst die Konkursverwaltung - zumindest vorläufig - den Betrieb, spricht sie eine vorsorgliche Kündigung aus, worauf Annahmeverzug eintritt und Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis nach
Art. 219 Abs. 4 SchKG
behandelt werden (REHBINDER, Schweizerisches Arbeitsrecht, 10. Aufl., S. 107 f.). Dabei geniesst die Lohnforderung des Arbeitnehmers das Konkursprivileg der ersten Klasse gemäss lit. a dieser Bestimmung allerdings nur für die Zeit bis zur Konkurseröffnung (BRÜGGER, SchKG, Schweizerische Gerichtspraxis 1946-1984, S. 729, N 13 zu
Art. 219 SchKG
). Wie bei den übrigen materiell- und formellrechtlichen Wirkungen der Konkurseröffnung wird auch im Rahmen dieser Bestimmung auf das Datum des Konkurserkenntnisses und nicht auf den Zeitpunkt
BGE 119 V 56 S. 63
der Kenntnisnahme durch den Arbeitgeber abgestellt (vgl. Amonn, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 10. Aufl., S. 294,
§ 36 N 46
). | de |
3dae3ff5-c67c-4e4a-af51-0ec44e65c8f3 | Sachverhalt
ab Seite 550
BGE 117 II 550 S. 550
A.-
Am 13. Mai 1983 verkaufte die X. Immobilien AG mit öffentlich beurkundetem Vertrag H. und P. S. ein in Hünenberg (ZG) gelegenes Einfamilienhaus zum Preis von Fr. 625'000.--. Unter Ziff. II/2 des Kaufvertrages wurde u.a. vereinbart: "Betreffend Gewährleistung und Garantieabnahme gelten die Bestimmungen des SIA und im übrigen diejenigen des Obligationenrechts."
In den Jahren 1984 und 1985 zeigten die Käufer der Verkäuferin verschiedene Mängel an und forderten sie auf, diese zu beheben. Da die X. Immobilien AG den Aufforderungen zur Nachbesserung nicht nachkam, machten sie Minderung geltend.
B.-
Am 18. Mai 1987 klagten H. und P. S. beim Kantonsgericht des Kantons Zug auf Zahlung von Fr. 34'275.35 als Minderwert
BGE 117 II 550 S. 551
nebst 5% Zins seit 8. September 1986. Mit Urteil vom 17. Januar 1990 schützte das Kantonsgericht die Klage im Umfang von Fr. 19'219.40 nebst 5% Zins seit 18. Mai 1987, umfassend Nachbesserungskosten von Fr. 16'850.--, Bauteuerungskosten von Fr. 1'169.40 sowie Fr. 1'200.-- für die Umtriebe der Kläger im Zusammenhang mit der Mängelsanierung (Koordinationskosten).
Eine von der X. Immobilien AG eingereichte Berufung hiess das Obergericht des Kantons Zug am 21. Mai 1991 lediglich im Kostenpunkt gut.
C.-
Die von der X. Immobilien AG erhobene eidgenössische Berufung heisst das Bundesgericht teilweise gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Die Beklagte macht schliesslich geltend, für die Berechnung des Minderwertes sei allein der Zeitpunkt des Gefahrübergangs massgebend und die Vorinstanz habe zu Unrecht den Klägern unter dem Titel Minderwert einen Bauteuerungssatz von 6,9% auf den veranschlagten Verbesserungskosten zugesprochen. Das Obergericht könne sich nicht auf
BGE 111 II 162
ff. berufen, da im Gegensatz zum dort beurteilten Fall den Klägern keine Sanierungskosten angefallen seien. Demgegenüber führen die Kläger in ihrer Berufungsantwort aus, es sei im heutigen Zeitpunkt bestritten, ob Kosten entstanden seien; abgesehen davon sei dieser Umstand unerheblich.
a) Das Kantonsgericht hatte den Klägern für die am 1. April 1988 vom Experten errechneten Verbesserungskosten von Fr. 16'850.-- noch Bauteuerungskosten von 6,9%, basierend auf dem Zürcher Baukostenindex, bis 1. Oktober 1989 zugesprochen. Das Obergericht hat diesen Anspruch von Fr. 1'169.40 gebilligt mit der Begründung, der Minderwert umfasse zwangsläufig auch die seit dem Gefahrübergang bis zur Mängelbehebung eingetretene Teuerung, denn zu ersetzen seien die tatsächlichen Kosten der Mängelbehebung und nicht der Betrag, den die Mängelbehebung erfordert hätte, wenn sie im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgenommen worden wäre. Der Einbezug der Teuerung in den Minderwert rechtfertige sich vorliegend umso mehr, als die Kläger nach der Gewährleistungsregelung des Kaufvertrages ihren Minderungsanspruch erst hätten geltend machen können, nachdem ihre Aufforderung an die Beklagte, diese möge ihren Nachbesserungsanspruch
BGE 117 II 550 S. 552
gegen die Bauunternehmer durchsetzen, erfolglos geblieben sei.
b) In
BGE 111 II 162
, auf den sich die Vorinstanz stützt, war u.a. wie auch vorliegend streitig, ob der Minderwert den Kosten für die Sanierung des Mangels entspreche. Hier ist darüber hinaus zu entscheiden, ob Kosten der Bauteuerung vom Minderungsanspruch umfasst werden.
aa) Unhaltbar ist der Einwand der Beklagten, es seien den Klägern keine Sanierungskosten und somit kein wirtschaftlicher Nachteil entstanden, weil sie die Mängel noch nicht hätten beseitigen lassen. Mit der Minderungsklage nach
Art. 205 Abs. 1 OR
soll durch die verhältnismässige Herabsetzung des Preises das gestörte Gleichgewicht der Leistungen wiederhergestellt werden (
BGE 85 II 193
; CAVIN, SPR VII/1, S. 103). Dieser Ausgleich kann durch eine Herabsetzung des Preises oder Rückforderung des zuviel bezahlten Preises erreicht werden. Ob der Käufer sich mit der nicht ganz einwandfreien Sache zufriedengibt oder mit dem zurückerhaltenen Betrag die vorhandenen Mängel dennoch beheben lässt, steht in seinem Belieben. Selbstverständlich geht es aber auch bei der Gutheissung eines Minderungsanspruchs um den Ausgleich eines wirtschaftlichen Nachteils.
bb) Die Auffassung des Obergerichts und der Beklagten, dass für die Berechnung des Minderwerts der Zeitpunkt des Gefahrübergangs massgebend sei, ist richtig (
BGE 45 II 661
; GIGER,
Art. 205 OR
, N 27, S. 511). Nach SIA-Norm 118, der sich die Parteien unterworfen haben, ist dies der Zeitpunkt, an dem die Abnahme des Werkes durch Vollendungsanzeige oder Ingebrauchnahme des Werkes eingeleitet wird (GAUCH, SIA-Norm 118, Vorbemerkungen zu Art. 169-171, S. 82 lit. d mit Hinweis auf Art. 158 der Norm sowie auf
BGE 115 II 459
und 113 II 267; PEDRAZZINI, SPR VII/1, S. 518). Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanzen wurde am 11. Mai 1983 eine gemeinsame Prüfung des Hauses vorgenommen. Zwei Tage später wurde der Kaufvertrag abgeschlossen; der Antritt der Liegenschaft mit Nutzen und Schaden erfolgte am 15. Mai 1983. Dieses Datum, welches mit dem Bezug des Hauses übereinstimmt, ist nach den SIA-Normen der für die Bestimmung des Minderungsanspruchs massgebliche Zeitpunkt.
cc) Die kantonalen Gerichte haben den Klägern Bauteuerungskosten vom 1. April 1988 bis 1. Oktober 1989 zugesprochen. In
BGE 45 II 661
lehnte das Bundesgericht einen für sechs Jahre seit
BGE 117 II 550 S. 553
der Übernahme eines Hotels geltend gemachten Teuerungszuschlag von 60% ab, weil für den Verkäufer keine Nachbesserungspflicht bestanden habe und diesen die Tatsache, dass der Käufer wegen des Streites über das Bestehen eines Preisminderungsanspruchs die Verbesserung hinausgeschoben habe, nicht berühren könne (S. 662). Heute ist nicht anders zu entscheiden. Teuerungskosten haben somit nichts mit der Bestimmung des Preisminderungsanspruchs zu tun - es sei denn, die Parteien hätten einen Teuerungsausgleich vereinbart (GAUCH, Werkvertrag, Rz. 1156) -, sondern mit der Konkretisierung des Nachbesserungsanspruchs. Nur dann, wenn die Kläger auf der Nachbesserung beharrt hätten, ginge eine zwischenzeitlich eingetretene Teuerung zu Lasten des Unternehmers (GAUCH, SIA-Norm 118, N 7 zu Art. 170, S. 101). Der Vorwurf der Beklagten, die Vorinstanz habe die Rechtsfolgen der Minderung mit denjenigen der Nachbesserung vermischt, trifft somit zu. Anders entscheiden hiesse, dass die seit der Fälligkeit einer Forderung eingetretene Teuerung in jedem Falle zu berücksichtigen wäre.
Es bleibt zu prüfen, ob die Teuerungskosten als Schadenersatz nach den allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts geltend gemacht werden können. Das Bundesgericht hat es in
BGE 100 II 32
abgelehnt, dass sich der Besteller eines mangelhaften Werkes alternativ auf die Rechtsbehelfe des
Art. 368 OR
(Wandelung, Minderung, Nachbesserung und Ersatz des Mangelfolgeschadens) und die allgemeine Schadenersatzklage des
Art. 97 OR
berufen kann. Gemäss Art. 171 Abs. 1 der SIA-Norm 118 hat der Bauherr kein Recht, Schadenersatz gemäss
Art. 97 ff. OR
anstelle der Mängelrechte nach Art. 169 geltend zu machen. Diese Regelung, der sich die Parteien unterworfen haben, steht im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu
Art. 368 OR
(
BGE 100 II 32
f.; GAUCH, SIA-Norm 118, N 9 zu Art. 171, S. 105; GAUCH, Werkvertrag, Rz. 1689 ff., S. 444). Es ist dem Besteller nach Art. 171 Abs. 1 SIA-Norm 118 aber nicht verwehrt, neben und ausser den Rechten nach Art. 169 SIA-Norm 118 Schadenersatz nach Massgabe der
Art. 368 und 97 ff. OR
zu verlangen. Darunter fällt etwa der Ersatz des Mangelfolgeschadens, der dem Bauherrn trotz tadelloser Nachbesserung, trotz Minderung oder Rücktritt verbleibt (GAUCH, SIA-Norm 118, N 2 zu Art. 171, S. 102). Teuerungskosten sind aber bei geltend gemachter Minderung weder ein Mangelfolgeschaden noch ein "anderer Schaden" (zu diesem Begriff vgl. GAUCH, SIA-Norm 118, N 2 lit. b zu
BGE 117 II 550 S. 554
Art. 171, S. 103, mit Beispielen), für den der Unternehmer bei gegebenen Voraussetzungen einzustehen hat.
c) Die Berufung erweist sich somit in diesem Punkt als begründet, und die Streitsache ist zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht hat zu ermitteln, welchen Betrag die Behebung der von den Klägern geltend gemachten Mängel am 15. Mai 1983 ausmacht. Dabei hat es zu beachten, dass in den von den beiden Experten W. und K. per 1. April 1988 ermittelten Mängelbehebungskosten von Fr. 16'850.-- die seit dem 15. Mai 1983 eingetretene Teuerung enthalten ist.
Der vom Obergericht ermittelte Betrag ist zu verzinsen. Die Zinspflicht beginnt gemäss
BGE 116 II 315
E. 7 im Zeitpunkt des Empfanges der rückzuerstattenden Vergütung. | de |
30af02de-4708-42e1-bcd4-121392a436db | Sachverhalt
ab Seite 109
BGE 97 II 108 S. 109
A.-
Der Verband "Archimedes" der Absolventen und Studierenden Schweizerischer Abendtechniken errichtete im Jahre 1930 zusammen mit der Lehrergenossenschaft Juventus, deren Rechtsnachfolgerin die Institut Juventus AG ist, eine Unterstützungskasse. Diese wurde am 20. November 1948 als Verein gemäss
Art. 60 ff. ZGB
neu gegründet. Am 9. Juni 1954 wurde ihr Name in Hilfskasse der Studierenden des Abend-Technikums Zürich abgeändert. Das Abend-Technikum Zürich wird von der Institut Juventus AG geführt.
Nach Art. 4 ihrer Statuten ist die Mitgliedschaft bei der Hilfskasse für alle regulär am Abend-Technikum Zürich Studierenden obligatorisch. Die Hilfskasse bezweckt laut Art. 2 der Statuten die Unterstützung von Studierenden des Abend-Technikums Zürich, die aus irgendwelchen Gründen eine finanzielle Hilfe zur Fortsetzung oder zum Abschluss ihres Studiums benötigen. Als Unterstützungsbeiträge kommen, sofern es die Mittel der Kasse erlauben, einmalige Beiträge an Veranstaltungen wie Vorträge, Exkursionen, ferner Erweiterungen von Laboratoriumseinrichtungen etc., die den Ausbildungszwecken der Studierenden des Abend-Technikums dienen, in Frage (Art. 3 der Statuten). Die Mittel der Hilfskasse bestehen aus den Semesterbeiträgen der Kassenmitglieder, einem Beitrag des Abend-Technikums Zürich in der gleichen Höhe wie die von den Mitgliedern einbezahlte Beitragssumme je Semester und dem Erlös aus Kapital, Veranstaltungen und Schenkungen sowie dem Gründungsfonds in der Höhe von Fr. 1000.-- (Art. 7 der Statuten). Die auf diese Weise geäufneten Mittel belaufen sich heute auf rund Fr. 100 000.--.
Die Hilfskasse besitzt die üblichen Vereinsorgane, namentlich
BGE 97 II 108 S. 110
die Generalversammlung der Mitglieder und den Vorstand (Art. 8 der Statuten). Der Generalversammlung obliegen insbesondere die Abnahme des Jahresberichtes und der Jahresrechnung, die Änderung der Statuten, die Wahlen sowie die Genehmigung der unter Art. 3 der Statuten fallenden Kassenleistungen, welche den Betrag von Fr. 500.-- übersteigen (Art. 11 und 24 der Statuten).
B.-
Die Statuten des Vereins Hilfskasse wurden bereits am 10. Juli 1948 von einer ausserordentlichen Generalversammlung des Verbandes Archimedes und am 20. November 1948 auch von der Schulleitung des Abend-Technikums Zürich genehmigt. Die Schulleitung und der Verband Archimedes, beide Nichtmitglieder des Vereins Hilfskasse, liessen sich in dessen Statuten als Gründerparteien bestimmte Befugnisse einräumen. So sind sie berechtigt, im fünfköpfigen Vorstand der Hilfskasse je zwei Vertreter und einen Ersatzmann zu stellen (Art. 13 der Statuten). Das Geschäftsreglement des Vorstandes der Hilfskasse unterliegt ebenfalls der Genehmigung durch die beiden Gründerparteien, d.h. die Schulleitung und den Verband Archimedes (Art. 15 der Statuten). Laut Art. 12 der Statuten treten die Beschlüsse der Generalversammlung der Hilfskasse erst in Kraft, wenn innerhalb eines Monats, nach erfolgter schriftlicher Mitteilung an die Gründerparteien, von denselben kein Einspruch erhoben wird. Der Verein Hilfskasse kann auch nur mit Zustimmung der beiden Gründerparteien aufgelöst werden (Art. 25 der Statuten). Die Liquidation der Kasse erfolgt erst fünf Jahre nach dem Auflösungsbeschluss. Dabei wird das Vermögen der Kasse auf beide Gründerparteien zur weiteren Verwendung im Sinne dieser Kasse hälftig geteilt (Art. 28 der Statuten).
C.-
Der Verband Archimedes und die Institut Juventus AG schlossen am 8. März 1967 eine Vereinbarung über die Auflösung des Vereins Hilfskasse und beabsichtigten, ihren Auflösungsantrag den Kassenmitgliedern im Wintersemester 1968/69 zur Genehmigung zu unterbreiten.
Die 35. ordentliche Generalversammlung der Hilfskasse vom 24. August 1967 beschloss zunächst die Erteilung eines Kredites von Fr. 12 500.--, um dem Abend-Technikum Zürich gemäss seinem Antrag ein Laborgerät zu schenken. Auf Antrag eines Studierenden wurde dann aber dieser Kredit auf Fr. 25 000.-- erhöht. Der Mehrbetrag sollte für den Ankauf noch unbestimmter
BGE 97 II 108 S. 111
Laboreinrichtungen verwendet werden. Das Begehren des Verbandes Archimedes, die Schenkung erst anlässlich der Liquidation der Hilfskasse zu vollziehen, wurde abgelehnt. Im Protokoll der Generalversammlung vom 24. August 1967 wurde festgehalten, dass die gefassten Beschlüsse gemäss Art. 12 der Statuten den beiden Gründerparteien schriftlich bekannt gegeben werden müssen. Der Vorstand des Verbandes Archimedes erhielt diese Mitteilung am 12. September 1967. Der Verband hatte aber bereits mit einer Zuschrift vom 6. September 1967 gegen die Beschlüsse der Generalversammlung Einsprache erhoben. Am 14. September 1967 bestätigte er diese Einsprache gegenüber der Hilfskasse.
Trotz dieser Einsprache beschloss der Vorstand des Vereins Hilfskasse am 23. November 1967, den Betrag von Fr. 12 500.-- für die Anschaffung einer Fernsehanlage und eines Sigmatic-Baukastens auszulegen und bezüglich des Restbetrages von Fr. 12 500.-- den Rektor des Abend-Technikums Zürich zu beauftragen, an der nächsten Vorstandssitzung einen Vorschlag betreffend den Ankauf von Laboreinrichtungen zu unterbreiten. In seiner 37. ordentlichen Generalversammlung vom 11. September 1968 beschloss der Verein Hilfskasse seine Auflösung.
D.-
Mit vorsorglicher Verfügung vom 11. Januar 1968 verbot der Einzelrichter im summarischen Verfahren der Hilfskasse die ganze oder teilweise Auszahlung der in der Generalversammlung vom 24. August 1967 beschlossenen Beiträge von insgesamt Fr. 25 000.-- und setzte dem Verband Archimedes Frist zur Klage. Dieser erhob rechtzeitig Klage mit dem Begehren, dem beklagten Verein Hilfskasse sei unter Strafandrohung zu untersagen, der Institut Juventus AG bzw. der Laboratoriumsstiftung Abend-Technikum Zürich die vom Vorstand des Beklagten am 23. November 1967 beschlossene Auszahlung von Fr. 12 500.-- zu machen.
Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage mit Urteil vom 11. Juni 1970 ab. Eine hiegegen erhobene Berufung wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am 23. Oktober 1970 abgewiesen. Zur Begründung führte das Obergericht im wesentlichen aus, beim Beklagten handle es sich um einen selbständigen Verein, der nicht einem umfassenderen Verein eingegliedert sei. Die beiden Gründerparteien, die indessen den Verein nicht allein gegründet hätten, seien nicht Vereinsmitglieder, sondern Dritte geblieben. Wenn ihnen in Art. 12 der Statuten ein Einspracherecht
BGE 97 II 108 S. 112
gegenüber allen Beschlüssen der Generalversammlung der Mitglieder eingeräumt werde, so gehe dies weit über den Schutz, den selbst die Mitglieder des Vereins nach
Art. 75 ZGB
geniessen, hinaus und widerspreche dem Grundsatz der Vereinsautonomie. Die Statuten könnten nicht einerseits die Vereinsversammlung als oberstes Organ bezeichnen und ihr anderseits die Selbstbestimmung auf dem Umweg über ein Einspracherecht Dritter nehmen. Art. 12 der Statuten der Hilfskasse sei daher nichtig.
E.-
Auf eine vom Verband Archimedes erhobene kantonalrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde ist das Kassationsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 8. Februar 1971 nicht eingetreten.
F.-
Der Verband Archimedes führt Berufung an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des Urteils des Obergerichts und erneuert sein bereits vor den kantonalen Instanzen gestelltes Begehren.
G.-
Der Beklagte beantragt Abweisung der Berufung. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Mit der Klage wird die Untersagung der Auszahlung eines Betrages von Fr. 12'500.-- verlangt. Es ist somit eine vermögensrechtliche Streitigkeit im Sinne von
Art. 46 OG
gegeben, wobei sich das Rechtsbegehren ausdrücklich auf eine bestimmte Geldsumme bezieht, was für die Bestimmung des Streitwertes massgebend ist (
Art. 36 Abs. 1 OG
). Da ein einziger vermögensrechtlicher Anspruch eingeklagt ist, stellt der Betrag von Fr. 12'500.-- das im Rechtsstreit stehende Vermögensinteresse dar (vgl. analogBGE 78 II 183lit. b). Die Frage der Gültigkeit statutarischer Bestimmungen, insbesondere von Art. 12 der Statuten des Beklagten, bildet lediglich ein Motiv für den Entscheid über das Rechtsbegehren. Die Klage ist auch nicht auf die Anfechtung von Beschlüssen der Generalversammlung gerichtet, bei denen das Gesamtinteresse des beklagten Vereins massgebend wäre (vgl. hiezu das unveröffentlichte Urteil des Bundesgerichts vom 5. Februar 1960 i.S. R. c. R., Erw. 1). Bei einem Streitwert von Fr. 12'500.-- ist die Berufung gemäss
Art. 46 OG
zulässig.
2.
Unbestritten ist, dass die beklagte Hilfskasse sich in aller Form rechtens als Verein nach
Art. 60 ff. ZGB
konstituiert hat, die erforderliche Organisation und entsprechende Organe
BGE 97 II 108 S. 113
(
Art. 64 ff. ZGB
) besitzt und gemäss
Art. 60 ZGB
Rechtspersönlichkeit erlangt hat. An dieser Rechtslage ändert auch die Tatsache nichts, dass Dritte, nämlich der klagende Verband Archimedes und die Schulleitung des Abend-Technikums Zürich, die Vereinsstatuten ebenfalls genehmigten und dem Vorstand angehören, was mangels eines statutarischen Verbotes zulässig ist (
BGE 73 II 1
ff.).
Als rechtmässig gegründeter juristischer Person kommt dem Beklagten die Vereinsautonomie zu (vgl.
BGE 73 II 2
oben; EGGER, Kommentar, N. 3 zu
Art. 63 ZGB
). Ihrem wesentlichen Gehalt nach besteht die Vereinsautonomie in der Macht, gemäss Gesetz zur Regelung der Verhältnisse des Vereins und seiner Betätigung Normen zu schaffen. Die Festlegung der Satzungen oder der Vereinsstatuten gehört zu den wichtigsten Erscheinungsformen der Autonomie auf dem Gebiete des Privatrechts (KLANG/PISKO, Kommentar zum ABGB, 2. Aufl., Bd. I/1, Vorbemerkungen zu §§ 2-13, S. 57 ff. Ziff. IV).
Ebenso anerkannt wie dieses Recht statutarischer Regelung ist aber auch, dass diese Regelung nur im Rahmen der gesetzlichen Grenzen verbindlich erfolgen kann (KLANG/PISKO, a.a.O.). Wie dieses Recht zum Erlass von Satzungen theoretisch begründet wird, ob mit gesetzlicher Verleihung, dem Selbstbestimmungsrecht oder der Vertragsfreiheit, kann offen bleiben. In jedem Falle können die Satzungen nur innerhalb des gesetzlichen Rahmens begründet werden, wie das in
Art. 63 Abs. 2 ZGB
auch zum Ausdruck kommt. Vorbehalten bleiben somit auch gegenüber den Satzungen oder Vereinsstatuten zwingendes Recht und die guten Sitten (EGGER, N. 3 und 4 zu
Art. 63 ZGB
; RGR-Komm. zum BGB, 11. Aufl., Anm. 3 zu § 25, 1. Satz). Statutarische Bestimmungen, welche diese Schranken überschreiten, können daher keinen Bestand haben.
3.
Die Vereinsautonomie hat zur Folge, dass der Verein ein bedeutendes Mass an Selbständigkeit und Unabhängigkeit besitzt. Das Recht, seine Angelegenheiten selbst zu verwalten, wird als für den Bestand des Vereins wesentlich betrachtet (RGR-Komm. zum BGB, 11. Aufl., Anm. 6 zu § 25). Die Autonomie bedingt daher auch, dass die freie Willensbildung grundsätzlich gewährleistet sein muss. Es hätte keinen Sinn, dem Verein die Freiheit der innern Gestaltung (EGGER, N. 3 zu
Art. 63 ZGB
) zuzugestehen, gleichzeitig aber grundlegende Beschränkungen der freien Willensbildung zuzulassen. Das ganze Vereinsrecht
BGE 97 II 108 S. 114
ist auf die Gewährleistung grundsätzlich selbständiger Willensbildung angelegt: so die Bestimmungen über die Vereinsversammlung als oberstes Organ des Vereins (
Art. 64 ZGB
), das Stimmrecht der Mitglieder und den Entscheid der Mehrheit (Majoritätsherrschaft,
Art. 67 Abs. 1 und 2 ZGB
), die Regelung der Beschlussfassung (
Art. 66-68 ZGB
). Daraus ist zu schliessen, dass der Verein seiner Selbständigkeit nicht soll beraubt werden können (HEINI, Schweizerisches Privatrecht, Bd. II, S. 522).
Der Kläger macht nun geltend, Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts von Vereinen seien sehr häufig, vor allem im Verhältnis von Ober- und Unterverbänden und im Verhältnis zu öffentlichen Körperschaften. Der vorliegende Fall sei mit diesen Erscheinungen nicht identisch, aber nahe verwandt; denn der beklagte Verein diene der Verfolgung eines Zweckes, welcher den Gründerparteien und dem Beklagten gemeinsam sei.
Gewiss sind Bindungen, auch statutarische, des Vereins zulässig. Indessen gestattet die Freiheit der Vereinsgründung und seiner inneren Ausgestaltung nicht irgendwelche Bindungen. Selbst EGGER, auf den sich der Kläger beruft, betont, dass die allgemeinen Anforderungen der Rechtsordnung auch gegenüber rechtsgeschäftlichen Bindungen vorbehalten bleiben (N. 17 in fine zu Art. 53 und N. 3 zu
Art. 63 ZGB
). Der beklagte Verein hat aber, wie ein Vergleich von Art. 2 und 3 mit Art. 11 d und 12 der Statuten ergibt, die Verfolgung seines Zweckes vollständig in das Belieben der beiden Gründerparteien gestellt. Die Verbindlichkeit sämtlicher Beschlüsse der Generalversammlung wird in Art. 12 zum vorneherein und ohne Einschränkung von der Zustimmung Dritter abhängig gemacht, während dies Sache der Generalversammlung als oberstem Vereinsorgan wäre (vgl. hiezuBGE 67 I 346). Durch diese statutarische Regelung wird die entscheidende, gesetzlich gewährleistete Funktion der Mitglieder in der Betätigung des Vereins praktisch zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt. Hieran ändert die Behauptung, der klagende Verband Archimedes verfolge ähnliche Zwecke wie der Verein Hilfskasse, nichts. Sie ist übrigens zum grössten Teil unrichtig, wie ein Vergleich der Statuten des Verbandes Archimedes und der Hilfskasse zeigt. Art. 12 der Statuten der Hilfskasse besagt bedeutend mehr als die Einräumung blosser Gründervorteile, ohne dass auf die weiteren statutarischen Bindungen des Beklagten an die Gründerparteien eingegangen zu werden braucht. Die Wirksamkeit von Art. 12 der Statuten
BGE 97 II 108 S. 115
würde die Bevormundung des beklagten Vereins, den Verzicht auf die Freiheit der Entscheidung und damit die Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts bedeuten. Der Standpunkt des Klägers, es bestehe kein Bedürfnis danach, sachlich begründete Selbstbeschränkungen zu verbieten und die Vereinsautonomie in dieser Weise in Fesseln zu legen, erscheint in diesem Zusammenhang geradezu als abwegig. Eine solche Abhängigkeit von Dritten bedeutet eine unzulässige Knebelung des Vereins und damit einen Verstoss gegen die guten Sitten (RGR-Komm. zum BGB, a.a.O.). Art. 12 der Statuten der Hilfskasse ist demnach nichtig und das Vetorecht des Klägers unbeachtlich.
4.
Der Kläger beruft sich demgegenüber auf den Umstand, dass die Generalversammlung des beklagten Vereins am 24. August 1967 ausdrücklich beschlossen hat, das Einspracherecht der Gründerparteien gegenüber der vorgesehenen Leistung an das Abend-Technikum vorzubehalten und Art. 12 der Statuten zu beachten. Er will daraus ableiten, dass der fragliche Beschluss der Generalversammlung ein bedingter und daher nie rechtswirksam geworden sei. Die Frage der Rechtsgültigkeit von Art. 12 der Statuten stelle sich deshalb im vorliegenden Prozess gar nicht. Die Ausführungen der Vorinstanz, mit welchen dieser Standpunkt zurückgewiesen werde, seien bundesrechtswidrig; denn sie würden gegen
Art. 151 OR
verstossen. Die Klage sei schon aus diesem Grunde gutzuheissen. Ein bedingungsloser Beschluss sei auch später nicht gefasst worden und wäre im Liquidationsstadium, in welches der beklagte Verein eingetreten sei, auch nicht mehr zulässig.
Auch diese Berufungsbegründung geht fehl. Wie bereits dargelegt, ist die Festlegung eines uneingeschränkten Vetorechtes eines Dritten gegenüber Generalversammlungsbeschlüssen in den Vereinssatzungen als Verstoss gegen die guten Sitten nichtig (vgl.
Art. 20 Abs. 1 OR
). Diese Nichtigkeit wirkt ex tunc; sie ist daher absolut und total (BECKER, Kommentar, N. 8 ff., insbesondere N. 9 und 10 zu
Art. 20 OR
). Da der streitigen Statutenbestimmung unter diesen Umständen jegliche Wirkung versagt werden muss, kann sie auch keinen Einfluss auf die Rechtsgültigkeit des fraglichen Generalversammlungsbeschlusses vom 24. August 1967 ausüben, wie der Kläger glaubt. Seine Annahme beruht auf einem Trugschluss (vgl. dazu KLANG/PISKO, a.a.O., S. 61, Text vor N. 81). Sie ist auch noch aus einem weiteren Grunde abzulehnen. Kennzeichen der Bedingung,
BGE 97 II 108 S. 116
namentlich auch einer vorbehaltenen Genehmigung, ist die Schaffung eines Schwebezustandes (BECKER, N. 2 und 3 zu den Vorbemerkungen zu
Art. 151-157 OR
). Angesichts der Nichtigkeit von Art. 12 der Statuten kann aber gar kein Schwebeverhältnis entstehen. Unter diesen Umständen braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob ein bedingter Generalversammlungsbeschluss nicht auch im Hinblick auf
Art. 157 OR
unwirksam wäre. Ebenso entfällt die Rüge des Klägers, die Ausführung des Generalversammlungsbeschlusses vom 24. August 1967 sei nicht mehr möglich, weil die Hilfskasse in das Liquidationsstadium eingetreten sei, bevor die angebliche Bedingung sich erfüllt habe.
Aus dem Ausgeführten ergibt sich, dass die kantonalen Instanzen das Begehren des Klägers mit Recht abgewiesen haben. | de |
c109579d-15bb-4c4a-868b-9345aa893260 | Sachverhalt
ab Seite 339
BGE 102 II 339 S. 339
A.-
Garageinhaber X., Mitglied der WIR-Wirtschaftsring-Genossenschaft, musste von Autokäufern häufig sogenannte "WIR-Checks" entgegennehmen. Mit Hilfe von Y., ebenfalls WIR-Genossenschafter, konnte er vom November 1973
BGE 102 II 339 S. 340
bis September 1974 wiederholt grössere Posten mit einem Einschlag in Bargeld umwandeln. Dabei übernahm Y. jeweils von X. unterzeichnete und datierte WIR-Buchungsaufträge ohne Angabe eines Empfängers in der entsprechenden Rubrik. Dafür erteilte Y. entsprechende Gutschriften. Er blieb für die Gutschrift vom 4. Juni 1974 Fr. 19'456.-- schuldig und bezahlte auch Fr. 47'241.--, die das letzte (fünfte) und ohne Gutschrift abgewickelte Geschäft betrafen, nicht. Diese Säumnis hing damit zusammen, dass die Gesellschaft Z. über welche Y. jeweils die WIR-Checks abgesetzt hatte, nach dem Tode ihres wirtschaftlichen Inhabers in Konkurs geriet.
B.-
X. klagte gegen Y. auf Zahlung der ausstehenden Fr. 66'697.-- nebst Zins. Der Appellationshof des Kantons Bern wies die Klage am 2. Dezember 1975 ab. Das Bundesgericht hiess sie auf Berufung des Klägers gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Handel mit WIR-Guthaben verstösst gegen den Zweckgedanken der WIR-Genossenschaft, die den Warenaustausch unter den Genossenschaftern fördern will (vgl.
BGE 95 II 178
). Die Kontobedingungen der Genossenschaft untersagen daher den Mitgliedern, WIR-Guthaben zu kaufen oder zu verkaufen und Blanko-Buchungsaufträge (ohne Namen des Empfängers) auszustellen ("Verbot des WIR-Handels"). Die Vorinstanz prüfte und verneinte die Frage nach der Nichtigkeit des Vertrages, weil der Beklagte die WIR-Guthaben nicht erworben, sondern bloss vermittelt habe, so dass für ihn die Verletzung der genossenschaftlichen Treuepflicht nicht Grundlage der Parteivereinbarung gewesen sei.
Ob der Beklagte als Käufer oder, wie die Vorinstanz annimmt, bloss als Beauftragter handelte, ändert nichts daran, dass er sich am verbotenen WIR-Handel beteiligte und gegen die genossenschaftliche Treuepflicht verstiess. Nach der Rechtsprechung und Lehre ist indessen eine Vereinbarung, die gegen vertragliche Rechte Dritter verstösst, nicht schlechthin rechts- oder sittenwidrig. Es müssen noch weitere Umstände hinzukommen, welche die Pflichtverletzung als besonders anstössig erscheinen lassen (vgl.
BGE 74 II 166
,
BGE 34 II 686
,
BGE 26 II 142
; VON TUHR/SIEGWART, OR I, S. 236 und 240; BECKER, N. 50 zu
Art. 19 OR
). Solche Umstände können nicht schon
BGE 102 II 339 S. 341
darin gesehen werden, dass die Parteien über WIR-Buchungsaufträge in Verletzung der genossenschaftlichen Kontobedingungen verfügt haben.
3.
Die Vorinstanz ist der Auffassung, die Vereinbarung der Parteien könne nicht als Kauf verstanden werden, da der Verkäufer dem Käufer das Eigentum am Kaufgegenstand zu verschaffen habe (
Art. 184 Abs. 1 OR
). Das sei bei "WIR-Checks" nicht möglich, da es sich nicht um Wertpapiere, sondern um blosse Buchungsaufträge handle.
Unmöglichkeit nach
Art. 20 OR
ist nur anzunehmen, wenn sie von Anfang an bestanden hat; die versprochene Leistung muss aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen überhaupt nicht erbracht werden können (
BGE 95 II 554
,
BGE 96 II 21
). Davon kann hier nicht die Rede sein. Es ist bekannt, dass mit sogenannten "WIR-Checks" in beträchtlichem Ausmass Handel getrieben wird (
BGE 95 II 178
). Im vorliegenden Fall haben die Parteien denn auch die WIR-Geschäfte bis Ende Juli 1974 reibungslos abgewickelt. Die Vorinstanz verkennt, dass nicht nur körperliche Sachen Gegenstand eines Kaufvertrages sein können, wie man aus der Pflicht des Verkäufers zur Eigentumsverschaffung ableiten könnte (GUHL/MERZ/KUMMER, OR, S. 295). Es können auch Rechte verkauft werden, namentlich Forderungen (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 3 zu
Art. 184 OR
), auch wenn sie, wie das für WIR-Buchungsaufträge zutrifft (
BGE 95 II 181
), nicht in einem Wertpapier verkörpert sind. Der blanko unterzeichnete WIR-Buchungsauftrag bietet dem Erwerber die Aussicht, nach Bezeichnung des Empfängers auf dem Papier, die Umbuchung durch die WIR-Zentrale zu erwirken und damit den entsprechenden Gegenwert in Waren zu erhalten. Diese Möglichkeit verschaffte der Kläger dem Beklagten mit der Übergabe der Blanko-Buchungsaufträge. Es kommt daher für die rechtliche Beurteilung nichts darauf an, dass der Kläger wusste, der Beklagte werde die Buchungsaufträge weitergeben. Freilich war dieses Vorgehen für den Beklagten mit Risiken verbunden, sei es dass er keinen Endabnehmer finden konnte, sei es dass die WIR-Zentrale die Umbuchung verweigerte. Das hindert aber die Annahme eines Kaufs nicht (vgl. LAUTNER, Der "WIR"-Verrechnungsverkehr, Diss. Zürich 1964, S. 189; OTT, Das WIR-Geld, SJZ 54 [1958], S. 148).
Der Kläger hat Anspruch auf den Kaufpreis, wenn er seinerseits
BGE 102 II 339 S. 342
erfüllt hat. Das trifft hier zu. Er hatte dem Beklagten mindestens die freie Verfügung über die Blanko-Buchungsaufträge einzuräumen. Fragen kann sich, ob er auch dafür zu sorgen hatte, dass eine Umbuchung auf bestimmte WIR-Konten zustande komme. So wird die Auffassung vertreten, die Abtretung von WIR-Guthaben geschehe zahlungshalber und es fehle an der Erfüllung, wenn der Empfänger die Buchungsaufträge erfolglos zur Umbuchung vorweist (OTT, a.a.O., S. 147/48). Diese Meinung kann hier bestanden haben, stellte doch der Beklagte dem Kläger schriftliche Schuldanerkennungen erst aus, wenn die Buchungsaufträge nach den Mitteilungen der Z. über die Konten verschiedener Empfänger abgewickelt waren. Damit übereinstimmend behauptete der Kläger im kantonalen Verfahren, alle dem Beklagten übergebenen Buchungsaufträge seien seinem Konto belastet worden. Dass es sich auch beim fünften Geschäft so verhielt, geht aus dem Schreiben des Klägers vom 12. September 1974 an den Beklagten hervor, welches die Empfänger der Buchungsaufträge bereits nannte. Es dürfte daher ein Versehen sein, wenn der Kläger in der Berufungsschrift ausführt, er habe zwar jeweils nachträglich von der WIR-Genossenschaft die Umbuchungen erfahren, wisse aber nicht, wer die letzten WIR-Guthaben erworben habe. Aus den erwähnten Belastungen ergibt sich auch, dass die vom Beklagten im kantonalen Verfahren erwähnte Sperre des klägerischen WIR-Kontos erst später wirksam geworden sein kann. Selbst wenn man also mit OTT (a.a.O. S. 147/48) annehmen wollte, die Umbuchung der abgetretenen WIR-Guthaben gehöre zur Erfüllungspflicht des Verkäufers, wäre hier diese Voraussetzung (im Unterschied zu dem in
BGE 95 II 177
beurteilten Tatbestand) erfüllt. | de |
d242e0dd-920b-405d-b740-58459750de93 | Sachverhalt
ab Seite 657
BGE 130 III 657 S. 657
A.
Mit Verfügung vom 15. Januar 2004 erteilte der Rechtsöffnungsrichter beim Kantonsgerichtspräsidium Zug in der gegen die Z. AG laufenden Betreibung Nr. x (Betreibungsamt Zug) definitive Rechtsöffnung. Die Z. AG erhob gegen den Rechtsöffnungsentscheid am 29. Januar 2004 Beschwerde nach
§ 208 ZPO
/ZG bei der Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug. Am 25. Februar 2004 drohte das Betreibungsamt Zug nach Eingang des Fortsetzungsbegehrens der Z. AG den Konkurs an (Konkursandrohung vom 20. Januar 2004). Am 27. Februar 2004 verfügte der Vorsitzende der Justizkommission des Obergerichts (gemäss
§ 209 Abs. 1 ZPO
/ZG), dass der Beschwerde gegen den Rechtsöffnungsentscheid aufschiebende Wirkung zukomme. Mit Urteil vom 15. April
BGE 130 III 657 S. 658
2004 wies die Justizkommission des Obergerichts die Beschwerde gegen den Rechtsöffnungsentscheid ab. Der Beschwerdeentscheid wurde im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde (ohne Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung) erfolglos angefochten (Urteil 5P.181/2004 des Bundesgerichts vom 4. August 2004).
B.
Gegen die Konkursandrohung des Betreibungsamtes vom 25. Februar 2004 erhob die Z. AG Beschwerde nach
Art. 17 SchKG
und verlangte die Aufhebung der Konkursandrohung. Zur Begründung brachte sie vor, die nachträglich angeordnete aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels gegen den Rechtsöffnungsentscheid verlange die Rückgängigmachung der Konkursandrohung. Mit Urteil vom 16. April 2004 wies das Obergericht des Kantons Zug, Justizkommission, als Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs die Beschwerde ab.
C.
Die Z. AG hat das Urteil der kantonalen Aufsichtsbehörde mit Beschwerdeschrift vom 30. April 2004 (rechtzeitig) an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts weitergezogen und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie der Konkursandrohung. Weiter verlangt sie aufschiebende Wirkung.
Die Betreibungsgläubigerin als Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Betreibungsamt hat keine Stellungnahme eingereicht. Die Aufsichtsbehörde hat anlässlich der Aktenüberweisung auf Gegenbemerkungen (
Art. 80 OG
) verzichtet und schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Mit Präsidialverfügung vom 7. Mai 2004 ist der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt worden.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Konkursandrohung kann trotz Hängigkeit eines Rechtsmittels gegen den Rechtsöffnungsentscheid erlassen werden, wenn diesem Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung zukommt (
BGE 101 III 40
E. 2 S. 41; bestätigt in
BGE 126 III 479
E. 2a und b S. 480 f.). Nach dem angefochtenen Urteil wurde in der hängigen Betreibung mit Verfügung vom 15. Januar 2004 Rechtsöffnung erteilt. Dem von der Beschwerdeführerin gegen den Rechtsöffnungsentscheid ergriffenen Rechtsmittel (Beschwerde nach
§ 208 ZPO
/ZG) kommt von
BGE 130 III 657 S. 659
Gesetzes wegen keine aufschiebene Wirkung zu (
§ 209 Abs. 1 ZPO
/ZG). Das Betreibungsamt drohte in der Folge am 25. Februar 2004 der Beschwerdeführerin den Konkurs an. Der Rechtsöffnungsentscheid war im Zeitpunkt der Stellung des Fortsetzungsbegehrens und am Tag der Zustellung der Konkursandrohung unbestrittenermassen rechtskräftig, so dass das Betreibungsamt dem Fortsetzungsbegehren Folge leisten und den Konkurs androhen durfte. Bleibt zu prüfen, ob die im kantonalen Beschwerdeverfahren gegen den Rechtsöffnungsentscheid am 27. Februar 2004 richterlich angeordnete aufschiebende Wirkung an der Wirksamkeit der früher zugestellten Konkursandrohung etwas zu ändern vermag.
2.2
Die aufschiebende Wirkung, die im Laufe des Verfahrens im Rahmen der Anfechtung einer definitiven Rechtsöffnung angeordnet wird, bedeutet, dass der Rechtsvorschlag als nicht beseitigt gilt und die Betreibung vorerst nicht fortgesetzt werden kann (
BGE 101 III 40
E. 2 S. 41;
BGE 126 III 479
E. 2a und b S. 480 f.; STAEHELIN, Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, N. 85 u. 88 zu
Art. 84 SchKG
; ferner von Salis, Probleme des Suspensiveffektes von Rechtsmitteln im Zivilprozess- und Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Diss. Zürich 1980, S. 158 f.).
2.2.1
Einem kantonalen Rechtsmittel, dem die aufschiebende Wirkung durch den Richter gewährt worden ist, kommt diese Wirkung ex tunc zu (
BGE 127 III 569
E. 4a und b S. 571), d.h. die aufschiebende Wirkung wird auf den Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Rechtsöffnungsentscheides - hier auf den 15. Januar 2004 - zurückbezogen. Wenn die Rechtsmittelinstanz dem ausserordentlichen Rechtsmittel aufschiebende Wirkung zuerkennt, wird die Rechtskraft in gleicher Weise wie ein ordentliches Rechtsmittel gehemmt (
BGE 127 III 569
E. 4a S. 571, mit Hinweis auf GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 392). Im vorliegenden Fall ist demnach der Rechtsvorschlag in der fraglichen Betreibung erst am 15. April 2004 (mit dem zweitinstanzlichen Urteil) rechtskräftig beseitigt worden.
2.2.2
Was für die zwischenzeitlich - vor richterlicher Anordnung der aufschiebenden Wirkung - gültig erfolgte Konkursandrohung gilt, ergibt sich aus dem Sinn des Suspensiveffektes, die Wirkungen eines Entscheides nicht eintreten zu lassen, wenn dieser im Rechtsmittelverfahren wieder aufgehoben zu werden droht. Dem Betriebenen soll aus der allfälligen Unwirksamkeit der Rechtsöffnung kein Nachteil erwachsen. Würde das Rechtsmittel gegen den
BGE 130 III 657 S. 660
Rechtsöffnungsentscheid gutgeheissen, hätte die Konkursandrohung - als Fortsetzung einer Betreibung trotz Rechtsvorschlag - keine Wirkung (
Art. 22 SchKG
;
BGE 109 III 53
E. 2b S. 55;
BGE 85 III 14
S. 17 f.; COMETTA, Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, N. 12 zu
Art. 22 SchKG
). Das bedeutet für die bereits gültig erlassene Konkursandrohung, dass sie in ihren Wirkungen gehemmt wird, solange dem Rechtsmittel gegen den Rechtsöffnungsentscheid durch richterliche Verfügung aufschiebende Wirkung zuerkannt wird. Im Übrigen wird auch in
BGE 101 III 40
E. 2 S. 41 festgehalten, dass ein gegen den Rechtsöffnungsentscheid erhobenes Rechtsmittel, dem aufschiebende Wirkung (in jenem konkreten Fall zu Unrecht) zuerkannt und diese wieder aufgehoben worden ist, der gültig erlassenen Konkursandrohung nicht im Wege stehe.
2.2.3
Da die Konkursandrohung bei vorliegender Sachlage in ihren Wirkungen suspendiert wurde, ist eine Rückgängigmachung (dazu differenzierend VON CASTELBERG, Zur aufschiebenden Wirkung bei der Zürcher Kassationsbeschwerde, in: Festschrift für Hans Ulrich Walder, Zürich 1994, S. 291 ff.) bzw. Neuzustellung der von der Beschwerdegegnerin gültig erwirkten Konkursandrohung nicht gerechtfertigt. Die Beschwerdeführerin geht demnach fehl, wenn sie meint, allein schon die aufschiebende Wirkung, nicht erst eine Gutheissung des Rechtsmittels gegen den Rechtsöffnungsentscheid habe zur Folge, dass die gültig erlassene Konkursandrohung definitiv unwirksam und aufzuheben sei. Erweist sich das Rechtsmittel - wie hier - als erfolglos, so bleibt der angefochtene Rechtsöffnungsentscheid bestehen, entfällt die dem Rechtsmittel verliehene aufschiebende Wirkung und wird die Rechtsöffnung rechtskräftig, mit der Folge, dass auch der Aufschub der Wirksamkeit der Konkursandrohung wegfällt. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, wenn die Aufsichtsbehörde zum Ergebnis gelangt ist, die angefochtene Konkursandrohung sei nicht aufzuheben, sondern infolge der nachträglich angeordneten aufschiebenden Wirkung im Beschwerdeverfahren gegen den Rechtsöffnungsentscheid lediglich bis zum abweisenden Entscheid vom 15. April 2004 unwirksam gewesen.
2.2.4
Da der Beschwerde gemäss
Art. 19 SchKG
aufschiebende Wirkung (
Art. 36 SchKG
) zuerkannt worden ist, bleibt anzufügen, dass die angefochtene Konkursandrohung erst mit Ausfällung des vorliegenden Urteils wirksam wird (vgl. GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, N. 22 und 24 zu
Art. 36 SchKG
). | de |
21dc9fcc-9e94-423d-84f1-6f4fecad7dda | Erwägungen
ab Seite 271
BGE 117 V 271 S. 271
Aus den Erwägungen:
2.
b) Zu prüfen ist, ob das streitige Hilfsmittel - ein Levo-Rollstuhl - gestützt auf Ziff. 13.02* HVI-Anhang abgegeben werden kann. Gemäss dieser Bestimmung übernimmt die Invalidenversicherung der Behinderung individuell angepasste Sitz-,
BGE 117 V 271 S. 272
Liege- und Stehvorrichtungen, soweit sie für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder die funktionelle Angewöhnung notwendig sind (
Art. 2 Abs. 2 HVI
).
aa) Dass die Beschwerdeführerin den Levo-Rollstuhl nicht zur Schulung, zur Ausbildung oder zur funktionellen Angewöhnung benötigt, steht fest und bedarf keiner weiteren Ausführungen.
Unbestritten ist auch, dass der Levo-Rollstuhl nicht der Ausübung einer Erwerbstätigkeit dient. Eine solche ist nach der Verwaltungspraxis nur anzunehmen, wenn der Versicherte ohne Anrechnung von Soziallohn und Renten aus seiner Tätigkeit ein jährliches Einkommen erzielt, das dem Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige gemäss
Art. 10 Abs. 1 AHVG
entspricht oder höher ist (Rz. 1006 der Wegleitung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung [WHMI]). Die Beschwerdeführerin arbeitet zwar im Betrieb des Ehemannes mit, jedoch nurmehr in sehr begrenztem Umfang und ohne hiefür einen Lohn zu beziehen. Zudem führt der Levo-Rollstuhl in diesem Bereich unbestrittenermassen zu keiner wesentlichen Verbesserung der Arbeitsfähigkeit. Fraglich bleibt daher lediglich, ob er für die Tätigkeit der Beschwerdeführerin im Aufgabenbereich notwendig ist.
bb) Verwaltung und Vorinstanz haben den Leistungsanspruch mit der Begründung verneint, eine Tätigkeit im Aufgabenbereich im Sinne von
Art. 21 Abs. 1 IVG
und
Art. 2 Abs. 2 HVI
sei nur anzunehmen bei Versicherten, die den Haushalt im wesentlichen selbständig besorgten. Diese Voraussetzung sei bei der Beschwerdeführerin nicht gegeben, da sie grösstenteils auf die Hilfe der Familienangehörigen oder fremder Personen angewiesen sei, woran auch der streitige Rollstuhl nichts ändere. Nach den Angaben des behandelnden Arztes, Dr. med. S., lasse sich die praktisch vollständige Arbeitsunfähigkeit als Hausfrau mit dem Rollstuhl auf 75 bis 80% reduzieren, wogegen die Arbeitsunfähigkeit im Bürobereich unverändert bei 80% liege. Die von der Invalidenversicherung anlässlich der Abklärung an Ort und Stelle vom 3. Mai 1988 festgestellte Arbeitsfähigkeit im Haushalt von 10% könne demnach auf höchstens 25% gesteigert werden, was zur Folge hätte, dass - bei einer Gewichtung von 50% Haushalt- und 50% Büroarbeiten - eine Verminderung der Invalidität von 80 auf 72,5%, somit eine Verbesserung von nicht einmal 10% eintreten würde.
BGE 117 V 271 S. 273
Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Anspruch auf Hilfsmittel gemäss
Art. 21 Abs. 1 IVG
und
Art. 2 Abs. 2 HVI
keine Verbesserung des Invaliditätsgrades voraussetzt und auch der Bezug einer ganzen Invalidenrente den Anspruch auf Hilfsmittel nicht ausschliesst (
BGE 115 V 200
Erw. 5c, 108 V 213 Erw. 1d). Nicht gefolgt werden kann der Vorinstanz auch insofern, als sie den Anspruch verneint, weil die Versicherte den Haushalt nicht überwiegend selbständig besorge. Sie stützt sich dabei auf die Verwaltungspraxis, wonach eine Tätigkeit im Aufgabenbereich nur angenommen werden kann, wenn die Versicherte den Haushalt im wesentlichen selbständig besorgt, wogegen die Selbstsorge ohne Führung eines eigenen Haushaltes oder gelegentliche Verrichtungen oder Handreichungen im Haushalt nicht als Tätigkeit im Aufgabenbereich betrachtet werden können (Rz. 1007 der genannten Wegleitung). Mit dieser Praxis wird der Hilfsmittelanspruch praktisch auf Versicherte beschränkt, die im Haushalt noch mindestens zu 50% arbeitsfähig sind. Damit werden an den Anspruch auf Hilfsmittel im Aufgabenbereich höhere Anforderungen gestellt als bei erwerbstätigen Versicherten, wo die Erzielung eines jährlichen Erwerbseinkommens entsprechend dem Mindestbeitrag nach
Art. 10 Abs. 1 AHVG
genügt. Dies bedeutet aber eine Schlechterstellung der im gesetzlich anerkannten Aufgabenbereich tätigen Versicherten gegenüber den Erwerbstätigen, die weder vor
Art. 21 Abs. 1 IVG
noch vor
Art. 4 Abs. 2 BV
standhält (vgl. BGE
BGE 116 V 322
). Im nicht veröffentlichten Urteil M. vom 21. September 1990 hat das Eidg. Versicherungsgericht zu Rz. 13.07.1* (betreffend Treppenlifte) in der bis Ende 1988 gültig gewesenen Fassung der Wegleitung festgestellt, dass im Rahmen des gesetzlichen Eingliederungsziels nicht erforderlich ist, dass die Versicherte den Haushalt überwiegend selbständig führt; vielmehr genügt eine bloss beachtliche Tätigkeit im Aufgabenbereich. Diese Feststellung fand zwar im Wortlaut der bis zu diesem Zeitpunkt gültig gewesenen Ziff. 13.07* HVI-Anhang (wonach die Invalidenversicherung periodische Beiträge an Hebebühnen, Treppenlifts und Rampen ausrichtete, sofern damit eine beachtliche Tätigkeit im Aufgabenbereich ermöglicht wurde) eine besondere Stütze. Im Hinblick auf die Gleichstellung der im Aufgabenbereich tätigen mit den erwerbstätigen Versicherten, bei denen ein Mindesteinkommen für den Anspruch auf die im Anhang zur HVI mit * bezeichneten Hilfsmittel genügt, hat dies indessen auch für andere Hilfsmittel im Aufgabenbereich zu gelten. Der Anspruch auf solche
BGE 117 V 271 S. 274
Hilfsmittel setzt mithin voraus, dass der Versicherte in beachtlichem Umfang im Aufgabenbereich tätig ist. Was noch als beachtlich zu gelten hat, bestimmt sich dabei aufgrund des konkreten Aufgabenbereichs unter Berücksichtigung der durch das Hilfsmittel möglichen Verbesserung des Leistungsvermögens.
cc) Aus dem Bericht des kantonalen IV-Sekretariates vom 14. Juli 1988 über die Abklärung an Ort und Stelle vom 3. Mai 1988 geht hervor, dass die Beschwerdeführerin bei der Haushaltführung erheblich beeinträchtigt ist, zahlreiche Arbeiten nicht mehr ausführen kann und in verschiedenen Belangen auf die Mithilfe der Familienangehörigen angewiesen ist. Anderseits ist es ihr möglich, einfachere Mahlzeiten zuzubereiten, das Geschirr abzuwaschen (bzw. den Geschirrspülautomaten zu bedienen), leichtere Reinigungsarbeiten (Abstauben im Sitzen) und das Bügeln von kleineren Sachen sowie gelegentlich Näh-, Strick- und Flickarbeiten vorzunehmen. Die entsprechende Arbeitsfähigkeit wird von der Verwaltung auf 10% geschätzt. Der Levo-Rollstuhl erleichtert der Beschwerdeführerin die Tätigkeit im Haushalt dadurch, dass sie nicht nur in bestimmtem Umfang die Sitzhöhe ändern, sondern - ohne den Fahrstuhl zu verlassen - auch aufstehen kann. Die Verwaltung erachtet die hieraus sich ergebende Verbesserung der Leistungsfähigkeit als gering. Die Beschwerdeführerin weist demgegenüber glaubhaft darauf hin, dass sie dank der Aufrichtehilfe und der Höhenverstellbarkeit des Rollstuhls viele Arbeiten sitzend, halb oder ganz stehend verrichten kann, die ihr ohne das Hilfsmittel nicht mehr möglich wären. Im Abklärungsbericht des IV-Sekretariates wird darauf hingewiesen, dass der Rollstuhl der Versicherten den Zugang zu den Kästen, Tablaren und Regalen der Küche und den Schränken in den Zimmern ermöglicht, so dass sie u.a. selbständig Geschirr und Wäsche hervornehmen und wieder versorgen kann. Diese Verrichtungen bilden eine unerlässliche Voraussetzung für die Ausübung verschiedener Haushalttätigkeiten und sind daher für die Leistungsfähigkeit der Versicherten im Haushalt von erheblicher Bedeutung. Der behandelnde Arzt, welcher die Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdeführerin im Haushalt ohne Hilfsmittel auf nahezu 100% schätzt, erachtet eine Steigerung der Leistungsfähigkeit um 10 bis 15% als möglich. Wird aufgrund der Abklärungsergebnisse der Invalidenversicherung davon ausgegangen, dass ohne Hilfsmittel eine Arbeitsfähigkeit im Haushalt von 10% besteht, so resultiert eine Leistungsfähigkeit von gegen 25%, was für eine Versicherte, die ohne das Hilfsmittel
BGE 117 V 271 S. 275
praktisch keine Haushaltarbeiten mehr ausführen könnte, als beachtlich zu gelten hat. Im übrigen ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin die verbleibende Leistungsfähigkeit im Haushalt nur mit einem Hilfsmittel der beantragten Art zu verwerten vermag, weshalb dieses als notwendig und geeignet zur Erreichung des angestrebten Eingliederungszwecks zu betrachten ist. | de |
e899b31e-2b53-4a83-88ec-cb1a63cb643a | Sachverhalt
ab Seite 2
BGE 131 V 1 S. 2
A.
Mit Verfügungen vom 23. April 2003 sprach die Schweizerische Ausgleichskasse dem 1936 geborenen, in Deutschland wohnhaften S. eine Altersrente von monatlich Fr. 189.- vom 1. August 2001 bis 31. Mai 2002, Fr. 243.- vom 1. Juni bis 31. Dezember 2002 und Fr. 249.- ab 1. Januar 2003 zu. Die Verwaltung wies darauf hin, die von ihm und seiner früheren Ehefrau I. während der Kalenderjahre der gemeinsamen Ehe erzielten Einkommen seien geteilt und beiden Ehegatten je zur Hälfte angerechnet worden. Mit Einspracheentscheid vom 2. Juni 2003 bestätigte die Ausgleichskasse die Rentenverfügung.
B.
Die von S. hiegegen erhobene Beschwerde wies die Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen mit Entscheid vom 21. Januar 2004 ab.
C.
S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, die Altersrente sei neu (ohne Einkommenssplitting) zu berechnen.
Die Schweizerische Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Rekurskommission hat die letztinstanzlich erneut vorgetragenen Einwendungen gegen die Berechnung der Altersrente ab 1. August 2001 im Wesentlichen mit der Begründung als nicht stichhaltig bezeichnet, die Teilung und gegenseitige je hälftige Anrechnung der während der Kalenderjahre der gemeinsamen Ehe erzielten Einkommen geschiedener Ehegatten (
Art. 29
quinquies
Abs. 3
BGE 131 V 1 S. 3
und 4 AHVG
) sei zwingender Natur. Das ist im Sinne des Nachstehenden richtig.
1.1
Die Vorschriften über die Berechnung der Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung sind abgesehen vom hier nicht interessierenden
Art. 52f Abs. 2
bis
AHVV
(Anrechnung von Erziehungsgutschriften bei geschiedenen oder unverheirateten Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht) einer Vereinbarung grundsätzlich nicht zugänglich. Es handelt sich hiebei um zwingendes Recht. Die Regelung der Nebenfolgen einer Scheidung ist somit für die Rentenberechnung ohne Bedeutung. Der gegenseitige Verzicht der Ehegatten auf nacheheliche Unterhaltsleistungen und auf Leistungen im Hinblick auf die Altersvorsorge im Rahmen der 2. Säule (vgl.
Art. 122 ff. ZGB
), soweit scheidungsrechtlich zulässig (SJ 2002 I S. 540 Erw. 4b), hat daher nicht zur Folge, dass bei Eintritt des Versicherungsfalles (Alter oder Tod) die Renten ohne Einkommenssplitting zu berechnen wären. Das muss umso mehr gelten, als die Rechtsfolgen eines solchen Verzichts in der Regel nicht oder zumindest kaum je in ihrer ganzen Tragweite absehbar sind. An AHV-Berechnungsvorschriften derogierende Scheidungsvereinbarungen wären mithin noch strengere Anforderungen zu stellen als bei einem Verzicht auf Versicherungsleistungen im Bereich der AHV und IV (vgl. dazu
BGE 129 V 1
). In diesem Urteil erachtete das Eidgenössische Versicherungsgericht den Verzicht einer Ehefrau auf die ihr seit 1. Dezember 1997 ausgerichtete Teilrente zu Gunsten einer Vollrente des Ehemannes samt Zusatzrente ab 1. Februar 2000 als unzulässig.
Das soeben Gesagte, insbesondere die Ordnung gemäss
Art. 29
quinquies
Abs. 3 und 4 AHVG
über das Einkommenssplitting, gilt vorbehältlich anders lautender Staatsverträge auch für nicht in der Schweiz getroffene und nicht schweizerischem Recht unterliegende Scheidungsvereinbarungen. Ebenfalls kommt es nicht auf Wohnsitz und Staatszugehörigkeit der anspruchsberechtigten Person an. Die am 19. Juni 1981 notariell beglaubigte Vereinbarung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner damaligen Ehefrau über den gegenseitigen Verzicht auf die Durchführung des Versorgungsausgleichs gemäss §§ 1587 f. BGB hat somit für die Berechnung der schweizerischen Altersrente keine Bedeutung.
1.2
Im Weitern sehen weder das Abkommen vom 25. Februar 1964 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über soziale Sicherheit noch das am
BGE 131 V 1 S. 4
1. Juni 2002 in Kraft getretene Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) vor, dass in die Berechnung der Altersrente auch die in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten einzubeziehen sind (vgl.
BGE 130 V 51
). Die als Folge des FZA geänderte Ermittlung der Rentenskala bei laufenden Teilrenten für die Zeit ab 1. Juni 2002 ist im Übrigen berücksichtigt worden. Die neue Berechnungsweise hat zu einer höheren anwendbaren Rentenskala (9) und damit zu einer Erhöhung der Altersrente von Fr. 189.- auf Fr. 243.- geführt (vgl. zum Ganzen Kreisschreiben zur Einführung der linearen Rentenskala bei laufenden Renten [KSLRS] gültig ab 1. Juni 2002;
BGE 130 V 55
Erw. 5.4). | de |
130a10f8-2e50-472d-b2d6-5fd3e3dfafd6 | erwähnten Gründen entsprechenden Sachverhaltes ändert. Die Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Tod wird den in
Art. 25 Abs. 1 AHVV
geregelten Tatbeständen gleichgestellt.
Sachverhalt
ab Seite 423
BGE 126 V 421 S. 423
A.-
Der am 3. April 1935 geborene R. trat am 1. Januar 1996 vorzeitig in den Ruhestand, weshalb er sich am 6. Februar 1996 bei der Ausgleichskasse Basel-Landschaft als Nichterwerbstätiger anmeldete und seine Beitragspflicht erfüllte. Mit Schreiben vom 25. Februar 1998 teilte er der Kasse mit, dass seine Ehefrau A. am 2. Februar 1998 verstorben sei. Am 13. März 1998 erliess die Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes zwei Verfügungen über die von R. und A. im Jahre 1998 geschuldeten Beiträge. In der ersten eröffnete sie R., dass er für seine verstorbene Ehefrau Beiträge in der Höhe von Fr. 925.80 für die Monate Januar und Februar 1998 (zuzüglich Verwaltungskosten) zu leisten habe. In der zweiten wurde seine Beitragsschuld für das gesamte Jahr 1998, aufgeteilt in die Monate Januar und Februar (Fr. 1'279.20) einerseits sowie März bis Dezember (8'416 Franken) andererseits, auf Fr. 9'695.20 (zuzüglich Verwaltungskosten) festgesetzt. Mit Schreiben vom 23. März 1998 machte R. die Kasse darauf aufmerksam, dass seine Beitragsschuld für die Monate Januar und Februar (Fr. 1'279.20) gemäss den Verfügungen höher sei als diejenige seiner verstorbenen Ehefrau (Fr. 925.80), was gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstosse. Nach einer Überprüfung der Beitragsermittlung erliess die Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes am 3. April 1998 eine neue Verfügung, mit welcher sie von R. für das (ganze) Jahr 1998 den Maximalbeitrag von 10'100 Franken (zuzüglich Verwaltungskosten) forderte.
B.-
R. erhob hiegegen Beschwerde, wobei er sinngemäss beantragte, es seien die Beiträge für die Zeit während der Ehe (Januar und Februar 1998) auf der Grundlage der Hälfte des ehelichen Vermögens und des Renteneinkommens zu erheben und es sei erst ab März 1998 als Berechnungsgrundlage sein individuelles Vermögen und Renteneinkommen heranzuziehen. Mit Entscheid vom 28. Juli 1999 hiess das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft die Beschwerde gut.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) das Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
R. beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes schliesst sich den in der Beschwerdeschrift des BSV enthaltenen Ausführungen an und verzichtet auf eine eigene Stellungnahme.
BGE 126 V 421 S. 424 Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Im Rahmen des vorliegenden Streites um die von R. im Jahre 1998 geschuldeten Beiträge stellt sich die Frage, wie die Beiträge nichterwerbstätiger Versicherter im Kalenderjahr, in welchem die Ehe aufgelöst wird, zu bemessen sind.
Während nach Auffassung der Ausgleichskasse und des Beschwerde führenden BSV das individuelle massgebende Vermögen im ganzen Kalenderjahr der Scheidung oder Verwitwung die Berechnungsgrundlage bildet, halten es Beschwerdegegner und Vorinstanz für richtig, erst ab dem der Auflösung der Ehe folgenden Monat vom individuellen Vermögen und Renteneinkommen und für die vorangehende Zeit von der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens auszugehen.
2.
(Eingeschränkte Kognition; vgl.
BGE 126 V 149
Erw. 3)
3.
a) Gemäss dem - durch die 10. AHV-Revision unverändert gelassenen -
Art. 10 Abs. 1 AHVG
bezahlen Nichterwerbstätige je nach ihren sozialen Verhältnissen einen AHV-Beitrag von 324 - 8'400 Franken im Jahr. Gestützt auf Abs. 3 erlässt der Bundesrat nähere Vorschriften über die Bemessung der Beiträge. Im diesbezüglich unveränderten
Art. 28 Abs. 1 AHVV
bestimmte der Bundesrat, dass sich die Beiträge der Nichterwerbstätigen, für die nicht der jährliche Mindestbeitrag vorgesehen ist (
Art. 10 Abs. 2 AHVG
), auf Grund ihres Vermögens und Renteneinkommens bemessen. Auf 1. Januar 1997 wurde neu Abs. 4 in
Art. 28 AHVV
mit folgendem Wortlaut eingefügt: "Ist eine verheiratete Person als Nichterwerbstätige beitragspflichtig, so bemessen sich ihre Beiträge auf Grund der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens."
Das Eidg. Versicherungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass die Beitragsbemessung auf Grund des Renteneinkommens gemäss
Art. 28 AHVV
gesetzmässig ist (
BGE 105 V 243
Erw. 2; ZAK 1984 S. 484; vgl. auch AHI 1994 S. 169 Erw. 4a). In
BGE 125 V 221
hat es diese Rechtsprechung bestätigt und die hälftige Anrechnung des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens gemäss
Art. 28 Abs. 4 AHVV
als gesetz- und verfassungsmässig erklärt.
b)
Art. 29 AHVV
sieht vor, dass der Jahresbeitrag in der Regel für eine Beitragsperiode von zwei Jahren (Abs. 1) auf Grund des durchschnittlichen Renteneinkommens einer ebenfalls zweijährigen (das zweite und dritte der Beitragsperiode vorangehende Jahr umfassenden) Berechnungsperiode und auf Grund des Vermögens festzusetzen ist, wobei der Stichtag für die Vermögensbestimmung in
BGE 126 V 421 S. 425
der Regel der 1. Januar des Jahres vor der Beitragsperiode ist (Abs. 2). Gemäss
Art. 29 Abs. 3 AHVV
(in der ab 1. Januar 1997 geltenden Fassung) ermitteln die kantonalen Steuerbehörden das für die Beitragsberechnung Nichterwerbstätiger massgebende Vermögen auf Grund der betreffenden rechtskräftigen kantonalen Veranlagung, wobei sie die interkantonalen Repartitionswerte berücksichtigen. Für die Beitragsfestsetzung nach den Absätzen 1-3 gelten die
Art. 22-27 AHVV
sinngemäss (
Art. 29 Abs. 4 AHVV
).
4.
a) Die Ausgleichskasse stützte sich in ihrer Verfügung vom 3. April 1998, wie sich der im kantonalen Verfahren eingereichten Vernehmlassung entnehmen lässt, auf Rz 2064 (Satz 3) und 2069.1 (Satz 4) der vom BSV herausgegebenen Wegleitung über die Beiträge der Selbstständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen in der AHV, IV und EO (WSN) in der seit 1. Januar 1997 gültigen Fassung. Diese schreiben ihr (in für sie verbindlicher Weise) vor, im Kalenderjahr der Heirat, Scheidung oder Verwitwung für die Bemessung der als Nichterwerbstätiger geschuldeten Beiträge auf das individuelle Vermögen und Renteneinkommen abzustellen.
b) Die Vorinstanz hat im Wesentlichen erwogen, wie die Beiträge von verheirateten Nichterwerbstätigen für diejenigen Jahre festzusetzen seien, in welchen die Ehe geschlossen oder durch Scheidung oder Verwitwung aufgelöst werde, sei nicht durch eine gesetzliche Bestimmung, sondern einzig durch die WSN geregelt. Die
Art. 28 und 29 AHVV
unterschieden zwischen verheirateten und unverheirateten Versicherten und sähen für die Dauer der Ehe eine je hälftige Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen vor. Dass die Tatsache des Bestandes einer Ehe im Jahr ihrer Auflösung durch Tod eines Ehegatten für die Berechnung irrelevant sei, lasse sich weder Gesetz noch Verordnung entnehmen. Auch die in der Literatur zu findende Begründung, die Weisung des BSV rechtfertige sich unter Hinweis auf die Regelung des Einkommenssplitting nach
Art. 29quinquies AHVG
in Verbindung mit
Art. 50b AHVV
, wonach für die Jahre des Eheschlusses und der Auflösung der Ehe keine Teilung des Vermögens vorgenommen werde, sei mangels ausreichenden Zusammenhanges der geregelten Materie unbeachtlich. In Anwendung der relevanten Bestimmungen seien deshalb die Beiträge des Versicherten für die Monate Januar und Februar 1998 gemäss
Art. 28 Abs. 4 AHVV
auf Grund der Hälfte des ehelichen Vermögens und anrechenbaren Renteneinkommens, von März bis Dezember auf Grund des gesamten Vermögens und Renteneinkommens zu berechnen.
BGE 126 V 421 S. 426
c) Das Beschwerde führende BSV vertritt, wie die Ausgleichskasse, die Auffassung, dass die Eheleute in den Jahren der Zivilstandsänderung individuell zu betrachten seien. Die Bestimmung des
Art. 28 Abs. 4 AHVV
sei (wie jene des
Art. 3 Abs. 3 AHVG
) nur auf diejenigen Nichterwerbstätigen anwendbar, welche das ganze Kalenderjahr verheiratet seien. Dem Ausschluss der Beitragsbemessung nach
Art. 28 Abs. 4 AHVV
für die Kalenderjahre der Eheschliessung und -auflösung liege der Gedanke zu Grunde, dass die zivilrechtliche Beistandspflicht nur während der Ehe bestehe. Wenn und solange diese nicht in Anspruch genommen werden könne, solle die "arme" Ehefrau nicht Beiträge nach den sozialen Verhältnissen des "reichen" Ehemannes bezahlen müssen und umgekehrt. Ausserdem würden nach
Art. 29quinquies Abs. 3 AHVG
in Verbindung mit
Art. 50b Abs. 3 AHVV
nur ganze Kalenderjahre gesplittet. In Bezug auf das Renteneinkommen gebiete sich das erwähnte Resultat noch aus einem anderen Grund: Alimente könnten bei der sie empfangenden Person nur dann als Renteneinkommen angerechnet werden, wenn diese getrennt von der Person behandelt werde, welche jene ausrichtet. Für die Bemessung des individuellen Vermögens seien im Kalenderjahr der Heirat die allgemeinen Regeln massgebend (vgl. Rz 2080 WSN), während bei Auflösung der Ehe auf das Datum der Scheidung oder der Verwitwung abzustellen sei. Das in Anschlag zu nehmende Renteneinkommen sei das der beitragspflichtigen Person im Kalenderjahr der Scheidung oder Verwitwung tatsächlich zufliessende. Diese Regelung sei denn auch in die WSN (Rz 2043, 2064, 2069.1 und 2084.1) aufgenommen worden.
d) Nach Auffassung des Beschwerdegegners hat die Weisung des BSV an Willkür grenzende Ergebnisse zur Folge. In seiner Stellungnahme legt er dar, dass seine Veranlagung als Witwer für das ganze Jahr 1998 (Beitragsschuld: 10'100 Franken) - nach Stornierung des während der Dauer der Ehe geschuldeten Beitrages von Fr. 925.80 - zu einer Nachbelastung von Fr. 757.55 (10'100 Franken, abzüglich Fr. 925.80, abzüglich Fr. 8'416.65) führe, für welche es keinen plausiblen Grund gebe. Mit dem Tod seiner Frau sei die Ehe erloschen und er könne als Witwer nicht noch einmal für etwas beitragspflichtig werden, wofür er bereits als Verheirateter belangt worden sei. Zu noch stossenderen Resultaten würde das Berechnungsmodell führen, wenn seine Ehefrau bei gleicher Berechnungsbasis im November gestorben wäre (Nachbelastung von Fr. 4'166.25) oder wenn eine verheiratete Person bei maximaler
BGE 126 V 421 S. 427
Beitragspflicht beider Partner im Februar (keine Nachbelastung) oder bei einer Ehepaarbeitragssumme von 4'800 Franken im November sterbe (Nachbelastung von fast 50%).
5.
a) Verwaltungsweisungen sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Es soll sie bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Es weicht anderseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (
BGE 125 V 379
Erw. 1c,
BGE 123 V 72
Erw. 4a,
BGE 122 V 253
Erw. 3d, 363 Erw. 3c, je mit Hinweisen). Als blosse Auslegungshilfe bieten Verwaltungsweisungen keine Grundlage, um zusätzliche einschränkende materiellrechtliche Anspruchserfordernisse aufzustellen (
BGE 109 V 169
Erw. 3b).
b) Die WSN sieht in Rz 2064 Satz 3 (vgl. auch 2084.1) und 2069.1 Satz 4 vor, dass bei verheirateten Versicherten im Kalenderjahr der Heirat, Scheidung oder Verwitwung das individuelle Vermögen und Renteneinkommen die Grundlage für die Beitragsbemessung bildet, d.h. mit anderen Worten, dass die Beiträge von verheirateten Nichterwerbstätigen im ganzen Jahr der Eheschliessung und -auflösung - d.h. auch in den ersten und letzten Monaten der Ehe - nach den für unverheiratete Nichterwerbstätige geltenden Regeln (vgl.
Art. 28 Abs. 1 AHVV
) zu erheben sind. Wegen der damit statuierten Nichtanwendbarkeit der für verheiratete Nichterwerbstätige geltenden Regeln auf die ersten und letzten Ehemonate stehen die erwähnten Randziffern der WSN mit
Art. 28 Abs. 4 AHVV
, gemäss welcher Bestimmung sich die Beiträge von verheirateten, als Nichterwerbstätige beitragspflichtigen Personen auf Grund der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens bemessen, nicht im Einklang.
Soweit das Beschwerde führende Bundesamt geltend macht, dass der in der WSN verankerten Regelung der Gedanke zu Grunde liege, dass die zivilrechtliche Beitragspflicht nur während der Ehe bestehe und die "arme" Ehefrau nicht Beiträge nach den sozialen Verhältnissen des "reichen" Ehemannes bezahlen müsse (und umgekehrt), ist darauf hinzuweisen, dass die auf
Art. 28 Abs. 4 AHVV
abgestützte Lösung der Vorinstanz diesem Gedanken konsequent Rechnung trägt, indem sobald und solange die eheliche Beistandspflicht (
Art. 159 Abs. 3 ZGB
) zum Tragen kommt - nämlich während der ganzen Ehedauer - die Beiträge auf der Grundlage der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens erhoben werden.
BGE 126 V 421 S. 428
Nicht zu überzeugen vermag im Weitern auch das vom BSV angeführte Argument der Berücksichtigung von Alimenten im Scheidungsfalle. Denn tritt die Beitragspflicht auf Grund des individuellen Vermögens und Renteneinkommens ein, sobald die Ehe (rechtskräftig) geschieden ist, unterliegen die darin festgesetzten Unterhaltszahlungen von diesem Zeitpunkt an als Renteneinkommen der Beitragspflicht. Mit der vorliegenden Frage in keinem Zusammenhang steht schliesslich der Hinweis des BSV auf das im Rahmen der Leistungsberechnung massgebende Splitting gemäss
Art. 29quinquies Abs. 3 AHVV
in Verbindung mit
Art. 50b Abs. 3 AHVG
, weshalb auch daraus nichts abgeleitet werden kann.
c) Sind die erwähnten Randziffern der WSN, auf welche das Beschwerde führende Bundesamt und die Ausgleichskasse sich abstützen, insoweit verordnungswidrig, als sie im ganzen Jahr der Verwitwung (wie auch der hier nicht näher interessierenden Heirat oder Scheidung) eine Beitragspflicht auf Grund des individuellen Vermögens und Renteneinkommens vorsehen, ist ihnen die Anwendung im vorliegenden Fall zu versagen.
6.
a) Die Beiträge des Beschwerdegegners sind demnach für die Monate Januar und Februar 1998 nach den für verheiratete Nichterwerbstätige geltenden Regeln zu bemessen, d.h. auf Grund der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens (
Art. 28 Abs. 4 AHVV
), wovon die Vorinstanz zutreffend ausgegangen ist. Zu prüfen bleibt die Bemessungsgrundlage für die in der Zeit nach der Verwitwung (ab März 1998) geschuldeten Beiträge.
b) Gemäss Art. 25 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 29 Abs. 4 AHVV
kann bei Nichterwerbstätigen, deren Vermögenslage oder Renteneinkommen zufolge eines den in der erstgenannten Bestimmung erwähnten Gründen entsprechenden Sachverhaltes ändert, die Festsetzung der Beiträge im ausserordentlichen Verfahren erfolgen. Nach der Verwaltungspraxis kommt indessen die ausserordentliche Beitragsfestsetzung bei Nichterwerbstätigen nur in Frage, wenn aus der Vermögens- oder Einkommensveränderung ein um mindestens 25% verminderter oder erhöhter Beitrag resultiert (Art. 25 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 29 Abs. 4 AHVV
; Rz 2091 WSN;
BGE 105 V 117
; nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 20. März 1998). Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese Praxis ausdrücklich als nicht gesetzeswidrig erklärt und daher nicht beanstandet (
BGE 105 V 119
).
c) Die Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Tod stellt bei Nichterwerbstätigen eine den in
Art. 25 Abs. 1 AHVV
für Selbstständigerwerbende erwähnten Tatbeständen gleichzustellende
BGE 126 V 421 S. 429
Grundlagenänderung dar, welche die Anwendung des ausserordentlichen Verfahrens rechtfertigt. Die Ausgleichskasse wird daher zu prüfen haben, welche Beitragsschuld resultiert bei einer Bemessung auf der Grundlage des Renteneinkommens und des Vermögens, das dem Beschwerdegegner nach dem Tod seiner Ehefrau - nach Durchführung der erb- und güterrechtlichen Auseinandersetzung - zusteht, welcher Wert sich auf Grund der vorliegenden Akten nicht in zuverlässiger Weise ermitteln lässt. Beträgt die Differenz zur Beitragshöhe vor der Verwitwung mindestens 25%, sind die Beiträge des Beschwerdegegners im ausserordentlichen Verfahren neu festzusetzen. Andernfalls bleibt für die von der Vorinstanz sinngemäss für richtig befundene Anwendung des ausserordentlichen Verfahrens kein Raum. | de |
0b2757cb-18cc-48d6-972a-924f2ba79f39 | Sachverhalt
ab Seite 154
BGE 133 V 153 S. 154
A.
Die Firma H. AG vereinbarte am 2. Oktober 1996 mit den Arbeitnehmervertretungen der Werke X. und Y. einen Sozialplan für die Vermeidung oder Milderung von menschlichen und wirtschaftlichen Härten bei Abbau- oder Umstrukturierungsmassnahmen. Der
BGE 133 V 153 S. 155
Sozialplan wurde periodisch, letztmals am 10. März 1999, verlängert und am 20. November 2001 sowie 14. Juni 2002 ergänzt. Der Sozialplan ist anwendbar auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem festen, unbefristeten Anstellungsverhältnis, deren Arbeitsvertrag infolge wirtschaftlicher oder struktureller Anpassungen vom Arbeitgeber gekündigt wird oder die im Zusammenhang mit solchen Massnahmen in ein anderes Werk innerhalb des Unternehmens versetzt werden (Ziff. 4). Er ist - nach gleicher Ziffer - nicht anwendbar auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die freiwillig kündigen sowie aus weiteren Gründen (Kündigung wegen ungenügenden Leistungen, Nichtannahme einer anderen zumutbaren Stelle innerhalb des gleichen Werks, disziplinarische Auflösung oder fristlose Kündigung).
Art. 11 des Sozialplanes regelt die vorzeitigen Pensionierungen. Gemäss Ergänzungen vom 1. Mai 2001 und 1. Mai 2002 können Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Falle notwendiger Abbau- oder Umstrukturierungsmassnahmen frühestens 24 Monate vor Erreichen des ordentlichen AHV-Alters, in Ausnahmefällen ab erfülltem 60. Altersjahr, von der Firma vorzeitig pensioniert werden. Die vorzeitig Pensionierten erhalten nebst den reglementarischen Leistungen der PVK (Altersrente und Überbrückungsrente) von der Firma folgende Zusatzleistungen: eine AHV-Überbrückungsrente bis längstens zum Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters in der Höhe der mutmasslichen AHV-Altersrente und eine Einkaufssumme des Deckungskapitals der durch die vorzeitige Pensionierung resultierenden Leistungskürzungen der PK und EK.
Diese Zusatzleistungen wurden bei der Arbeitgeberkontrolle als beitragspflichtiges Einkommen erfasst, womit die H. AG nicht einverstanden war. Mit Nachtragsverfügung vom 28. Januar 2005 verpflichtete die Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie die Firma H. AG gestützt auf den Kontrollbericht der Revisionsstelle der Ausgleichskasse vom 5. November 2004 zur Bezahlung von paritätischen AHV/IV/EO- sowie ALV-Beiträgen für die Jahre 2001 bis 2003 in der Höhe von Fr. 244'726.10 sowie Verzugszinsen von Fr. 23'962.40. Diese wurden auf Vorsorgeleistungen in Form von AHV-Überbrückungsrenten und Einkaufssummen ins Deckungskapital der Pensionskasse berechnet, welche die Arbeitgeberin gemäss Sozialplan zugunsten verschiedener vorzeitig in den Ruhestand getretener Arbeitnehmer ausgerichtet hatte. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Ausgleichskasse mit Entscheid vom
BGE 133 V 153 S. 156
11. März 2005 ab mit der Begründung, bei den fraglichen Leistungen handle es sich um solche des Arbeitgebers bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die massgebenden Lohn darstellten, und nicht um Leistungen im Rahmen einer Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers, die ausnahmsweise beitragsbefreit seien.
B.
Mit Entscheid vom 23. November 2005 hiess das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden die von der Firma H. AG eingereichte Beschwerde in dem Sinne gut, dass es die Sache in Aufhebung des Einspracheentscheides zur Neubeurteilung an die Ausgleichskasse zurückwies; die Ausgleichskasse habe von den gemäss Sozialplan für vorzeitige Pensionierungen erbrachten Vorsorgeleistungen lediglich den im Einzelfall acht Monatslöhne übersteigenden Betrag als massgebenden Lohn anzurechnen und darauf Beiträge und Verzugszinsen zu erheben.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
Die Ausgleichskasse äussert sich, ohne einen Antrag zu stellen, während die Firma H. AG auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen lässt.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Nach
Art. 5 Abs. 1 und
Art. 14 Abs. 1 AHVG
werden vom Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit, dem massgebenden Lohn, Beiträge erhoben. Als massgebender Lohn gemäss
Art. 5 Abs. 2 AHVG
gilt jedes Entgelt für in unselbstständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete Arbeit. Zum massgebenden Lohn gehören begrifflich sämtliche Bezüge der Arbeitnehmerin und des Arbeitnehmers, die wirtschaftlich mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängen, gleichgültig, ob dieses Verhältnis fortbesteht oder gelöst worden ist und ob die Leistungen geschuldet werden oder freiwillig erfolgen. Als beitragspflichtiges Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit gilt somit nicht nur unmittelbares Entgelt für geleistete Arbeit, sondern grundsätzlich jede Entschädigung oder Zuwendung, die sonst wie aus dem Arbeitsverhältnis bezogen wird, soweit sie nicht kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift von der Beitragspflicht ausgenommen ist.
BGE 133 V 153 S. 157
Grundsätzlich unterliegen nur Einkünfte, die tatsächlich geflossen sind, der Beitragspflicht (
BGE 131 V 444
E. 1.1 S. 446;
BGE 128 V 176
E. 3c S. 180;
BGE 126 V 221
E. 4a S. 222;
BGE 124 V 100
E. 2 S. 101, je mit Hinweisen).
Bestandteil des massgebenden Lohnes sind nach Art. 7 lit. q AHVV auch Leistungen des Arbeitgebers bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, soweit sie nicht im Sinne von
Art. 8ter AHVV
davon ausgenommen sind.
3.2
Nach
Art. 5 Abs. 4 AHVG
kann der Bundesrat Sozialleistungen sowie anlässlich besonderer Ereignisse erfolgende Zuwendungen eines Arbeitgebers an seine Arbeitnehmer vom Einbezug in den massgebenden Lohn ausnehmen. Der Bundesrat hat von dieser Delegationsbefugnis Gebrauch gemacht und am 18. September 2000 mit Inkrafttreten am 1. Januar 2001
Art. 8ter AHVV
mit dem Titel "Sozialleistungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses" erlassen, der wie folgt lautet:
1
Nicht zum massgebenden Lohn gehören die nachfolgenden Leistungen, soweit sie acht Monatslöhne nicht übersteigen:
a. Abgangsentschädigungen für langjährige Dienstverhältnisse nach Art. 339b des Obligationenrechts (OR) nach Abzug der Ersatzleistungen nach Artikel 339d OR;
b. Abfindungen des Arbeitgebers an jene Arbeitnehmer, die nicht in der obligatorischen beruflichen Vorsorge versichert waren;
c. Leistungen im Rahmen einer Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers;
d. Entschädigungen bei Entlassungen im Falle von Betriebsschliessung oder Betriebszusammenlegung.
2
Als Lohn gilt der während des letzten ganzen Kalenderjahres erzielte Lohn.
3
Renten werden nach den Tabellen des Bundesamtes in Kapital umgerechnet.
(...)
8.
8.1
Art. 8
ter
Abs. 1 lit. c AHVV
nimmt Leistungen im Rahmen einer Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers von der Beitragspflicht aus, soweit sie acht Monatslöhne nicht übersteigen. Weitere Einschränkungen lässt der Wortlaut dieser Verordnungsbestimmung nicht erkennen. Der in
Art. 8
ter
Abs. 1 lit. c AHVV
verwendete Begriff "Vorruhestandsregelung" ist im schweizerischen Recht
BGE 133 V 153 S. 158
nicht definiert. Die vom BSV gewünschte Auslegung dieser Bestimmung in dem Sinne, dass nur Leistungen bei freiwilligem vorzeitigem Rücktritt der Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben beitragsbefreit sind, findet somit im Wortlaut keine Stütze, was auch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingeräumt wird.
8.2
Was die ratio legis betrifft, beruft sich das BSV auf seine Ausführungen zu den Änderungen der AHVV auf den 1. Januar 2001 (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts P 51/98 vom 2. Juni 2000, publ. in: AHI 2000 S. 252, insbesondere S. 255). Diesbezüglich ist ihm jedoch entgegenzuhalten, dass solchen Erläuterungen nicht die Bedeutung einer authentischen Interpretation des Verordnungsgebers zukommt, sondern dass sie nur die eigene Rechtsauffassung des Bundesamtes wiedergeben (
BGE 113 V 161
E. 3d S. 164 mit Hinweis). Erst recht kann nicht auf den vom BSV behaupteten entstehungsgeschichtlichen Hintergrund von
Art. 8ter Abs. 1 lit. c AHVV
abgestellt werden, wonach Frühpensionierungen mit Blick auf die damalige schlechte Wirtschaftslage gefördert werden sollten, um der Zunahme der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Denn in den bundesamtlichen Erörterungen finden sich keine entsprechenden konjunkturpolitischen Absichtserklärungen. Abgesehen davon erscheint es fraglich, ob ein solches Ziel nicht auch mit der Beitragsprivilegierung von Leistungen des Arbeitgebers im Falle erzwungener vorzeitiger Rücktritte erreicht werden könnte, dem Kriterium der Freiwilligkeit somit nur untergeordnete Bedeutung zukäme.
8.3
In Rz. 2102 der Wegleitung über den massgebenden Lohn (WML) in der AHV, IV und EO, gültig ab 1. Januar 2001, hat das BSV den Begriff Vorruhestandsregelungen in dem von ihm erläuterten Sinn umschrieben. Es handelt sich um "Regelungen des Arbeitgebers, die den freiwilligen Abgang des Arbeitnehmers vor dem ordentlichen Rentenalter fördern. Voraussetzungen sind, dass sie für die ganze Belegschaft oder klar bestimmbare Teile der Belegschaft gelten und die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch auf die Leistungen haben. Die Austretenden müssen mindestens das 55. Altersjahr vollendet haben und dürfen in keine andere gleichgestellte Stellung wechseln. Nicht als Vorruhestandsregelungen gelten individuell getroffene Massnahmen." Nach Rz. 2103 WML schliesslich müssen die Leistungen die Zeit vom Austritt bis zum ordentlichen Rentenalter lückenlos und vollständig abdecken. In
BGE 133 V 153 S. 159
den folgenden Jahren erfuhr die WML in diesen Punkten keine Änderung.
Die zitierte Wegleitung enthält offensichtlich zahlreiche Einschränkungen für die Beitragsbefreiung von Leistungen des Arbeitgebers, die in
Art. 8
ter
Abs. 1 lit. c AHVV
nicht enthalten sind, was nach der Rechtsprechung nicht zulässig ist. Rz. 2102 und 2103 WML sind daher verordnungswidrig, soweit sie für die Beitragsbefreiung von Leistungen im Rahmen einer Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers im Vergleich zu
Art. 8
ter
Abs. 1 lit. c AHVV
zusätzliche einschränkende Erfordernisse aufstellen.
8.4
Das BSV hält schliesslich dafür, dass die Regelung für Sozialpläne in
Art. 8
ter
Abs. 1 lit. d AHVV
getroffen worden sei. Nach dieser Bestimmung gehören Entschädigungen bei Entlassungen im Falle von Betriebsschliessung oder Betriebszusammenlegung nicht zum massgebenden Lohn, soweit sie acht Monatslöhne nicht übersteigen. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist
Art. 335f OR
, welcher den Arbeitgeber verpflichtet, bei beabsichtigter Massenentlassung die Arbeitnehmer-Vertretung oder falls es keine solche gibt, die Arbeitnehmer zu konsultieren. Ziel der Konsultation ist es, durch eine Einigung mit den Arbeitnehmern eine Kündigung zu vermeiden oder deren Folgen zu mildern. Die Ergebnisse dieser Konsultationen werden in der Regel in einem Dokument niedergelegt, welches in der Praxis seit langem als "Sozialplan" bezeichnet wird (MATTHIAS RICKENBACH, Die Nachwirkungen des Arbeitsverhältnisses, Diss. Zürich 2000, S. 102 f.). Es ist nicht einzusehen, weshalb Entschädigungen, die im Falle einer Betriebsschliessung oder -zusammenlegung ausgerichtet werden, bis zu einer bestimmten Höhe nicht der Beitragspflicht unterliegen sollen, Zahlungen bei erzwungenem vorzeitigem Rücktritt des Arbeitnehmers im Falle von Restrukturierungen, wie teilweisen Verlagerungen oder Auslagerungen der Produktion, hingegen schon. Der Auffassung des Bundesamtes kann umso weniger beigepflichtet werden, als Sozialpläne nicht nur bei Betriebsschliessungen und -zusammenlegungen, sondern ebenso bei sogenannten Restrukturierungen vereinbart werden (RICKENBACH, a.a.O., S. 101 und 104). Die Betrachtungsweise des BSV, einzig
Art. 8
ter
Abs. 1 lit. d AHVV
sei auf Sozialpläne anwendbar, ist deshalb verfehlt.
Eine beitragsrechtliche Privilegierung von Zahlungen an Arbeitnehmer, deren Stelle von einem Tatbestand nach
Art. 8
ter
Abs. 1
BGE 133 V 153 S. 160
lit. d AHVV
betroffen, d.h. infolge Betriebsschliessung/-zusammenlegung im Rahmen eines Sozialplans aufgehoben wird, im Vergleich zu Leistungen an Arbeitnehmer, deren Stelle aufgrund betrieblicher Restrukturierungsmassnahmen und ebenfalls im Rahmen eines Sozialplans wegfällt, findet in Gesetz und Verordnung keine Stütze und entbehrt einer sachlichen Grundlage. Das BSV begründet denn auch die von ihm befürwortete unterschiedliche Behandlung dieser beiden Arten von Betroffenen und der diesen erbrachten finanziellen Leistungen des Arbeitgebers in beitragsrechtlicher Hinsicht lediglich damit, dass der Begriff der Betriebsumstrukturierung kaum einzugrenzen sei. Namentlich bei Arbeitgebern mit sehr wenigen Angestellten liesse sich eine behauptete Restrukturierung kaum feststellen. Diese Einwendungen sind nicht stichhaltig. Allfällige Durchführungsprobleme der Verwaltung bilden keinen hinreichenden Grund für eine unterschiedliche Behandlung der erwähnten gleich gelagerten Tatbestände. | de |
e6a0f4ba-8c75-40c9-96ee-b7baecd91434 | Sachverhalt
ab Seite 170
BGE 140 III 170 S. 170
A.
Die B. AG (Bestellerin, Beklagte, Beschwerdegegnerin) plante ab 2009 ein neues Zentrallager an ihrem Sitz in U., Österreich. Im Hinblick darauf schloss sie mit der A. GmbH (Unternehmerin, Klägerin, Beschwerdeführerin; Sitz in V., Deutschland) Werkverträge ab. Darin verpflichtete sich die Unternehmerin zur Herstellung und Montage von Regalanlagen nach den Vorgaben der Bestellerin.
(...)
In § 15.4 der Verkaufs-, Liefer- und Zahlungsbedingungen befindet sich eine Erfüllungsortsklausel mit folgendem Wortlaut:
"Bestimmt unsere Auftragsbestätigung nichts anderes, ist Erfüllungsort für den Leistungsgegenstand und für alle Zahlungen, andere
BGE 140 III 170 S. 171
Geldansprüche und empfangenen Wechsel unser jeweiliger Geschäftssitz, zurzeit W., Schweiz."
(...)
B.
Am 26. Juni 2012 reichte die Unternehmerin beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage ein und beantragte, die Bestellerin sei zur Zahlung von EUR 667'603.30 nebst Zins zu verurteilen. Es handelt sich dabei um angeblich ausstehende Beträge für ausgeführte Arbeiten. Mit Eingabe vom 22. Oktober 2012 erhob die Bestellerin die Einrede der Unzuständigkeit.
Mit Beschluss vom 11. Januar 2013 wies das Handelsgericht des Kantons Zürich die Unzuständigkeitseinrede der Bestellerin ab.
Mit Urteil 4A_86/2013 vom 1. Juli 2013 hiess das Bundesgericht die dagegen eingelegte Beschwerde teilweise gut, hob den Beschluss des Handelsgerichts vom 11. Januar 2013 auf und wies die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
Mit Beschluss vom 13. September 2013 trat das Handelsgericht mangels Zuständigkeit auf die Klage nicht ein.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Unternehmerin dem Bundesgericht, es sei der Beschluss des Handelsgerichts vom 13. September 2013 aufzuheben und die Zuständigkeit des Handelsgerichts Zürich festzustellen; eventualiter sei die Sache zur Beurteilung der Frage des Vorliegens einer gerichtsstandsbegründenden Erfüllungsortsvereinbarung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Bestellerin beantragt in ihrer Vernehmlassung Abweisung der Beschwerde. Die Vorinstanz hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Die Beschwerdeführerin reichte Replik ein.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz vor, diese habe zu Unrecht die Gültigkeit der Erfüllungsortsvereinbarung gemäss § 15.4 der AGB verneint. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sei nicht nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 11. April 1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf (CISG; SR 0.221.211.1), sondern nach OR zu prüfen, ob die AGB der Beschwerdeführerin Vertragsinhalt geworden sind. Nach OR seien die AGB gültig in die Verträge einbezogen worden, womit eine gültige Leistungsortsvereinbarung vorliege. Entgegen der Auffassung der
BGE 140 III 170 S. 172
Vorinstanz seien die Zürcher Gerichte damit gemäss Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ (SR 0.275.12) für die vorliegende Streitigkeit örtlich zuständig.
2.1
Zwischen den Parteien ist unbestritten, dass keine gültige Gerichtsstandsvereinbarung i.S. von
Art. 23 LugÜ
vorliegt. Es ist daher im Folgenden nur zu prüfen, ob sich aus § 15.4 AGB eine gerichtsstandsrelevante Erfüllungsortsvereinbarung ableiten lässt.
2.2
2.2.1
Die Bestimmungen über "Besondere Zuständigkeiten" nach
Art. 5-7 LugÜ
regeln, in welchen Fällen eine Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Vertragsstaat vor den Gerichten eines anderen Vertragsstaats verklagt werden kann. Art. 5 Nr. 1 lit. b i.V.m. Art. 5 Nr. 1 lit. a LugÜ bestimmt, dass für (sämtliche) Klagen aus Fahrniskauf- und Dienstleistungsverträgen die Gerichte am Ort in einem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat zuständig sind, an dem gemäss Vertrag die Waren geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen bzw. die Dienstleistungen erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen. Zuständig sind also die Gerichte am
Leistungsort der charakteristischen Vertragsleistung
(
BGE 140 III 115
E. 3).
2.2.2
Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ steht unter dem Vorbehalt einer abweichenden, gerichtsstandsrelevanten Parteivereinbarung über den Leistungsort ("sofern nichts anderes vereinbart worden ist"; dazu statt aller ALEXANDER R. MARKUS, Tendenzen beim materiellrechtlichen Vertragserfüllungsort im internationalen Zivilverfahrensrecht, 2009, S. 161 ff.). Erfüllungsortsvereinbarungen sind freilich nur dann gerichtsstandsrelevant, wenn sie einen Bezug zur Vertragswirklichkeit haben, d.h. die Leistung auch tatsächlich an dem vereinbarten Ort stattfindet. Rein prozessual ausgerichtete, abstrakte Erfüllungsortsvereinbarungen haben keine zuständigkeitsbegründende Wirkung. Eine solche abstrakte Vereinbarung kann etwa vorliegen, wenn die Parteien eines Kaufvertrags die Lieferung der Ware durch die Verkäuferin am Ort des Käufers vereinbaren, jedoch gleichzeitig im Vertrag den Sitz der Verkäuferin als den formellen "Erfüllungsort" festhalten (MARKUS, a.a.O., S. 171). Bei solchen Vereinbarungen handelt es sich um verkappte Gerichtsstandsvereinbarungen, die den Anforderungen (insbesondere Formvorschriften) nach
Art. 23 LugÜ
unterstehen (vgl. Urteil des EuGH vom 20. Februar 1997 C-106/95
Mainschiffahrts-Genossenschaft
, Slg. 1997 I-911 ff.; BGE 122 III
BGE 140 III 170 S. 173
249 E. 3b/aa S. 251; dazu - sowie zur Massgeblichkeit dieser Rechtsprechung auch unter dem revidierten LugÜ - statt aller ANDREA BONOMI, in: Commentaire romand, Loi sur le droit international privé, Convention de Lugano, 2011, N. 70 zu
Art. 5 LugÜ
).
2.2.3
In der Lehre wird sodann mit überzeugender Begründung vertreten, dass im Rahmen von Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ nur ein gewählter Leistungsort der
charakteristischen Verpflichtung
zuständigkeitsbegründende Wirkung entfalten kann (MARKUS, a.a.O., S. 173). Denn im Gegensatz zum vereinbarten Gerichtsstand nach
Art. 23 LugÜ
gehört der Gerichtsstand des Erfüllungsorts zu den objektiven Gerichtsständen. Diese folgen einer eigenen ratio, nämlich der Herstellung von Sach- und Beweisnähe des Verfahrens am (tatsächlichen) Erbringungsort der charakteristischen Leistung (MARKUS, a.a.O., S. 172, mit Hinweis auf das Leiturteil des EuGH vom 3. Mai 2007 C-386/05
Color Drack
, Slg. 2007 I-3699). Damit verträgt sich nicht, wenn der Gerichtsstand für die nicht charakteristische Leistung (also in aller Regel der Geldzahlung) vom tatsächlichen Erbringungsort der charakteristischen Leistung abgespalten werden könnte, indem ein abweichender Zahlungsort vereinbart wird. Denn sonst würde die durch Art. 5 Nr. 1 LugÜ angestrebte Wahrung der Sach- und Beweisnähe gerade aufgegeben (MARKUS, a.a.O., S. 173). Erfüllungsortsvereinbarungen sind daher nur dann gerichtsstandsrelevant i.S. von Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ, wenn durch sie der Leistungsort für alle vertraglichen Pflichten einheitlich bestimmt wird (so auch STEFAN LEIBLE, in: Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht EuZPR/EuIPR, Bearbeitung 2011 Brüssel I-VO/LugÜbk 2007, Rauscher [Hrsg.], München 2011, N. 57a zu Art. 5 Brüssel I-VO;
ders.
, Warenversteigerungen im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts (IPRrax) 2005 S. 428; JAULT-SESEKE/WELLER, in: Brüssel I-Verordnung, Kommentar zur VO [EG] 44/2001 und zum Übereinkommen von Lugano, Simons/Hausmann [Hrsg.], München 2012, N. 59in fine zu Art. 5 Brüssel I-VO; RAINER HÜSSTEGE, in: ZPO Kommentar, Thomas/Putzo [Hrsg.], 34. Aufl., München 2013, N. 5 zu Art. 5 EuGVVO;im Ergebnis wohl auch PAUL OBERHAMMER, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ], Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 64 ff. zu
Art. 5 LugÜ
; WALTER/DOMEJ, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, 5. Aufl. 2012, S. 226 sowie DIETER LEIPOLD, Internationale Zuständigkeit am Erfüllungsort, in: Gedächtnisschrift für Alexander Lüderitz, Schack [Hrsg.], München 2000, S. 449; a.M. -
BGE 140 III 170 S. 174
d.h. für vollumfängliche Parteiautonomie und damit die Möglichkeit der Abspaltung des Zahlungsgerichtsstands durch abweichende Vereinbarung des Zahlungsorts - DOMENICO ACOCELLA, in: Lugano- Übereinkommen [LugÜ] zum internationalen Zivilverfahrensrecht,Anton K. Schnyder [Hrsg.], 2011, N. 153 zu Art. 5 Nr. 1 bis 3 LugÜ; KROPHOLLER/VON HEIN, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, N. 51 zu Art. 5 EuGVO).
2.3
Aus den Feststellungen im angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin die der Beschwerdegegnerin geschuldeten Regale nach eigenen Angaben in Deutschland produziert hatte. Zwischen den Parteien ist sodann unbestritten, dass die Regale in der Folge nach Österreich geliefert und dort montiert wurden. Nach Angaben der Beschwerdeführerin sei einzig die Rechnungsstellung aus der Schweiz erfolgt.
Daraus folgt, dass der
tatsächliche
Erfüllungsort der
charakteristischen Vertragsleistung
, also die Herstellung und Montage der Regale, jedenfalls nicht in der Schweiz liegt. Wenn daher § 15.4 der AGB bestimmt, dass der "Erfüllungsort für den Leistungsgegenstand und für alle Zahlungen, andere Geldansprüche und empfangenen Wechsel" am jeweiligen Geschäftssitz der Beschwerdeführerin, also "zurzeit W." sei, so entspricht dies für die charakteristische Vertragsleistung nicht dem tatsächlichen Erfüllungsort. In Bezug auf die charakteristische Vertragsleistung handelt es sich mithin um eine abstrakte Erfüllungsortsvereinbarung, die keine zuständigkeitsbegründende Wirkung nach Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ entfaltet (oben E. 2.2.2). In Bezug auf die Zahlungsansprüche ist die Erfüllungsortsvereinbarung sodann zuständigkeitsrechtlich ebenfalls unbeachtlich, da damit der Zahlungsgerichtsstand von demjenigen der charakteristischen Leistung in unzulässiger Weise abgespalten würde (oben E. 2.2.3).
Abgesehen von der Unzulässigkeit einer solchen Abspaltung scheint eine Aufteilung der Erfüllungsortsgerichtsstände sodann ohnehin nicht von § 15.4 der AGB gedeckt, sieht diese Bestimmung doch gerade einen einheitlichen Erfüllungsort sowohl für den "Leistungsgegenstand" (d.h. die Herstellung und Montage der Regale) als auch "alle Zahlungen" vor. Wenn also die Erfüllungsortsvereinbarung für die charakteristische Leistung vorliegend mangels Bezug zur Vertragsrealität zuständigkeitsrechtlich unbeachtlich ist, muss dies auch in Bezug auf die Geldleistung gelten, da eine Abspaltung nicht vom Parteiwillen gedeckt ist. Damit wäre § 15.4 der AGB für die
BGE 140 III 170 S. 175
Geldleistung zuständigkeitsrechtlich auch dann unbeachtlich, wenn man jener Lehrmeinung folgen möchte, welche eine separate, zuständigkeitsbegründende Erfüllungsortsvereinbarung lediglich in Bezug auf die Geldleistung für zulässig erachtet.
2.4
Die Vorinstanz ist somit zu Recht zum Schluss gelangt, dass für die vorliegende Streitigkeit kein Gerichtsstand in Zürich gestützt auf Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ begründet wurde. Ob § 15.4 der AGB überhaupt Vertragsbestandteil geworden ist bzw. nach welchem Recht diese Frage zu beurteilen ist, kann offenbleiben. | de |
fb8c89de-c220-4f14-a8cb-f1cfd49ab9e5 | Sachverhalt
ab Seite 342
BGE 134 III 341 S. 342
A.
A.a
X. (vormals Y.) ist seit 1976 Eigentümerin des Grundstücks Kat.-Nr. x, GBBl. y, mit dem Haus B. in Zürich. Zu Lasten dieser Liegenschaft und zu Gunsten der Stadt Zürich ist seit dem 24. November 1909 folgende als "Quartierservitut" bezeichnete Dienstbarkeit im Grundbuch eingetragen:
"Es dürfen keine Fabriken angelegt und keine geräuschvollen, die Luft verunreinigenden, unsittlichen oder feuersgefährlichen Gewerbe betrieben werden. Ebenso ist die Anlage von Werkplätzen für Steinhauer, Zimmerleute etc. und die Ausübung von Droschken- und Fuhrhaltereigeschäften nicht gestattet."
A.b
Durch eine Mieterin wird seit dem 8. September 1995 im ersten und seit etwa Mitte 1999 auch im zweiten Obergeschoss des Hauses B. unter dem Namen "D." ein Sexsalon betrieben. Das von der Salon-Inhaberin erst nachträglich eingereichte Gesuch um Erteilung der baurechtlichen Bewilligung der Nutzungsänderung wurde von der Bausektion der Stadt Zürich am 19. Juli 2000 abgewiesen. Die anschliessenden verwaltungsrechtlichen Rechtsmittelverfahren führten am 5. Mai 2003 zu einem Urteil der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts (1P.771/2001 und 1P.773/2001), worin die von Y. (X.) und der Mieterin erhobenen staatsrechtlichen Beschwerden teilweise gutgeheissen wurden. Mit Entscheid vom 18. Februar 2004 stellte die Bausektion der Stadt Zürich in der Folge fest, dass das Bordell im ersten Obergeschoss zulässig und nur im zweiten Obergeschoss aufzuheben sei.
B.
Mit Eingabe vom 12. August 2004 reichte die Stadt Zürich beim Bezirksgericht Zürich gegen X. Klage ein und beantragte, der Beklagten unter Androhung von Ordnungsbusse oder Bestrafung wegen Ungehorsams gemäss
Art. 292 StGB
zu verbieten, in der Liegenschaft B. sexgewerbliche Dienstleistungen anzubieten oder zu dulden.
Die Beklagte schloss auf Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem Rechtsbegehren, es sei festzustellen, dass die zu Gunsten der Klägerin und zu Lasten ihres Grundstücks im Grundbuch eingetragene Personaldienstbarkeit "Quartierbestimmungen betr.
BGE 134 III 341 S. 343
Gewerbebeschränkungen z.G. Stadt Zürich" für die Klägerin alles Interesse verloren habe, und das zuständige Grundbuchamt sei anzuweisen, den entsprechenden Eintrag zu löschen; allenfalls sei festzustellen, dass das Verbot, ein unsittliches Gewerbe zu betreiben, ungerechtfertigt sei, und das Grundbuchamt anzuweisen, die eingetragene Dienstbarkeit entsprechend abzuändern.
Das Bezirksgericht hiess die Klage am 18. Januar 2006 gut und wies die Widerklage ab.
In Abweisung einer Berufung der Beklagten bestätigte das Obergericht (II. Zivilkammer) des Kantons Zürich diesen Entscheid mit Urteil vom 22. Dezember 2006.
C.
Mit Eingabe vom 15. Februar 2007 hat die Beklagte eidgenössische Berufung erhoben und beantragt, die Klage abzuweisen und die Widerklage gutzuheissen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Beklagte beanstandet sowohl die Gutheissung der Klage als auch die Abweisung der Widerklage. Aus verschiedenen Gründen zieht sie die Rechtsbeständigkeit der in Frage stehenden Dienstbarkeit in Zweifel, so dass die Berufung vorab hinsichtlich der auf deren Löschung bzw. Abänderung gerichteten Widerklage zu prüfen ist.
2.1
Mit dem Hinweis, Gemeindeservituten seien heute widerrechtlich im Sinne von
Art. 20 OR
, hält die Beklagte die strittige Dienstbarkeit für nichtig. Ihre Auffassung begründet sie im Wesentlichen damit, die Quartierservitut habe dazu gedient, Anlagen und Gewerbe, von denen übermässige Einwirkungen ausgingen, zu untersagen. Es sei der Klägerin bei deren Errichtung mithin einerseits um Immissionsschutz gegangen, doch habe sie andererseits auch nutzungsplanerische Interessen verfolgt. Vor dem Erlass des kantonalen Gesetzes über die Raumplanung und das öffentliche Baurecht (Planungs- und Baugesetz vom 7. September 1975 [PBG/ZH; LS 700.1]) und der entsprechenden kommunalen Ausführungsgesetzgebung seien auf diese Weise eine Vielfalt von Gemeindeservituten errichtet worden. Heute fänden sich öffentlichrechtliche Vorschriften, die wie die strittige Quartierservitut positiv auf eine geordnete Bodennutzung hinlenken wollten, in diesen Erlassen. So halte Art. 24c Abs. 3 der Bauordnung der Stadt Zürich (BZO) beispielsweise fest, dass in
BGE 134 III 341 S. 344
Quartiererhaltungszonen mit einem Wohnanteil von mindestens 50 % sexgewerbliche Salons oder vergleichbare Einrichtungen nicht mehr zulässig seien. Derartige Bestimmungen gehörten zu den Vorschriften über die Grundstücknutzungen und seien mitsamt den kommunalen Ausführungsbestimmungen zwingendes, nicht abänderbares Recht. Spätestens seit den 1960er-Jahren seien Fragen der strittigen Art abschliessend im öffentlichen Recht geregelt und einer privatrechtlichen Regelung nicht mehr zugänglich. Klar verankert sei dieser Grundsatz in
§ 218 Abs. 2 PBG
/ZH, wonach Bauvorschriften im Sinne dieses Gesetzes einer für die Baubehörden verbindlichen privatrechtlichen Regelung nur zugänglich seien, wo es ausdrücklich vorgesehen sei.
2.2
Im Gegensatz zu anderen Fällen mit ähnlichen Nutzungsfragen (vgl. etwa 5C.81/1999 vom 1. Juli 1999, publ. in: Pra 88/1999 Nr. 189 und ZBGR 82/2001 S. 56 ff.) geht es hier nicht um einen Rechtsstreit unter Privaten. Als Gemeinwesen verfolgt die Klägerin mit der auf der privatrechtlichen Dienstbarkeit beruhenden Klage auch nicht private Zwecke. Sie tritt nicht privatrechtlich, als Eigentümerin eines Nachbargrundstücks auf. Vielmehr geht es ihr um öffentliche Interessen.
Servituten, die im Dienste des öffentlichen Bau- und Planungsrechts stehen, sind seit jeher als zulässig betrachtet worden (vgl.
BGE 78 II 21
E. 4 S. 26 f. bezüglich einer zu Gunsten des Kantons Zürich errichteten Dienstbarkeit auf Unterlassung des Betreibens einer Gastwirtschaft; PETER LIVER, Zürcher Kommentar, Die Grunddienstbarkeiten, Einleitung N. 100 ff. und N. 114 zu
Art. 730 ZGB
). Von Bedeutung waren solche Dienstbarkeiten beispielsweise auch immer wieder im Rahmen von Enteignungen (vgl. Art. 5 und 91 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Enteignung [EntG; SR 711];
BGE 116 Ib 241
E. 3a S. 245;
BGE 99 Ia 364
E. 4b S. 368 f.; LIVER, a.a.O., N. 102 a.E. zu
Art. 730 ZGB
; HANS MICHAEL RIEMER, Die beschränkten dinglichen Rechte, 2. Aufl., Bern 2000, § 11 N. 10).
Aufgrund der Entwicklung des öffentlichen Bau- und Planungsrechts in neuerer Zeit mögen privatrechtliche Dienstbarkeiten als Instrumente auf diesem Gebiet an Bedeutung verloren haben. Für den vorliegenden Fall ist jedoch immerhin auf den in
§ 218 Abs. 2 PBG
/ZH nach wie vor ausdrücklich festgehaltenen Vorbehalt zu Gunsten privatrechtlicher Regelungen wie auch auf die Anwendungsfälle etwa bei Quartierplänen (
§
§ 139 und 140 PBG
/ZH) sowie bei Grenzbereinigungen (
§ 180 PBG
/ZH) hinzuweisen. Es kann unter diesen
BGE 134 III 341 S. 345
Umständen nicht gesagt werden, ältere Dienstbarkeiten der in Frage stehenden Art seien widerrechtlich bzw. seien ohne weiteres unzulässig geworden. Die Einführungs- und Schlussbestimmungen des kantonalen Planungs- und Baugesetzes sehen namentlich nicht etwa eine Pflicht des berechtigten Gemeinwesens zur Ablösung solcher Dienstbarkeiten vor (vgl. die
§
§ 342 ff. PBG
/ZH). Das Bundesgericht hat zudem schon wiederholt geäussert, dass beispielsweise ein Gestaltungsplan oder öffentlichrechtliche Bauvorschriften nicht von sich aus bestehende Dienstbarkeiten ausser Kraft zu setzen vermöchten (vgl.
BGE 91 II 339
E. 4a S. 342;
107 II 331
E. 5a S. 341; Urteil 5C.213/2002 vom 7. Februar 2003, E. 3.2, publ. in: ZBGR 85/2004 S. 95 f.). Dass den angeführten Entscheiden Dienstbarkeiten unter Privaten zugrunde gelegen hatten, ist aus der hier massgebenden Sicht ohne Belang. Von einer Nichtigkeit der strittigen Dienstbarkeit aus den von der Beklagten angeführten Gründen kann nach dem Gesagten keine Rede sein.
3.
Die Beklagte bringt sodann vor, die Klägerin habe im Sinne von
Art. 736 Abs. 1 ZGB
seit Jahrzehnten alles Interesse an der uralten Gemeindeservitut verloren, so dass ihr ein Anspruch auf deren Löschung zustehe.
3.1
Den geltend gemachten Interessenverlust glaubt sie vorab mit dem Inkrafttreten des modernen öffentlichen Bau-, Raumplanungs- und Umweltrechts begründen zu können, das einer Anrufung der Servitut keinen Raum mehr lasse. Wie das Obergericht hervorhebt und die Beklagte übrigens selbst nicht verschweigt, sind nach dem geltenden öffentlichen (städtischen) Baurecht (Art. 24c Abs. 3 BZO) in Gebieten, wo ein Wohnanteil von mindestens 50 % vorgeschrieben ist, sexgewerbliche Salons oder vergleichbare Einrichtungen nicht zulässig. Nach den von der Beklagten nicht beanstandeten Feststellungen der Vorinstanz liegt ihr Grundstück in der Quartiererhaltungszone QII mit einem Wohnanteil von 50 %. Dem Inhalt und dem Umfang der Dienstbarkeit nach ist das klägerische Interesse an deren Ausübung unter den angeführten Umständen keineswegs untergegangen: Was öffentlichrechtlich verboten ist, kann aus der Sicht des Privatrechts nicht inhaltlich überholt sein bzw. unzeitgemäss geworden sein (vgl.
BGE 130 III 554
E. 2 S. 556).
Soweit die Beklagte (in formeller Hinsicht) geltend macht, die privatrechtliche Dienstbarkeit sei überflüssig, weil das öffentliche Baurecht eine entsprechende Bestimmung enthalte, verdient ihr Standpunkt keinen Rechtsschutz (
Art. 2 Abs. 2 ZGB
): Es geht nicht an,
BGE 134 III 341 S. 346
unter Hinweis auf das öffentlichrechtliche Verbot, das heute für den Betrieb eines Etablissements der in Frage stehenden Art gilt, die rückwirkende Aufhebung des seit 1909 ununterbrochen bestehenden privatrechtlichen Verbots gleichen Inhalts zu verlangen, um die (Rechts-)Lücke ausnützen zu können, wie sie sich nach den Feststellungen im bundesgerichtlichen Urteil vom 5. Mai 2003 ergab, als der Salon im ersten Obergeschoss der beklagtischen Liegenschaft eingerichtet wurde. Unbehelflich ist das Vorbringen der Beklagten, die verwaltungsrechtlichen Instanzen hätten rechtskräftig festgestellt, dass die Nutzung des ersten Obergeschosses als Erotiksalon Bestandesgarantie geniesse: Da gemäss Art. 24c Abs. 3 BZO im Quartier, wo das beklagtische Grundstück liegt, sexgewerbliche Salons nicht zulässig sind, steht die Dienstbarkeit nicht im Widerspruch zum öffentlichen Recht. Dass die genannte Regelung erst nach dem Einrichten des Sexsalons in der beklagtischen Liegenschaft in Kraft trat und jener deshalb nicht darunterfiel, kann nicht zur Folge haben, dass - aufgrund einer Bestandesgarantie - das Betreiben des strittigen Etablissements schlechthin zulässig wäre und der Zivilrichter von einer entsprechenden Tatsache auszugehen hätte. Die Nichtanwendung der einschlägigen öffentlichrechtlichen Nutzungsbeschränkungen auf den umstrittenen Betrieb bedeutet nicht, dass damit auch privatrechtliche Nutzungsbeschränkungen ausser Kraft gesetzt worden wären. Vielmehr ist der Rechtszustand massgebend, wie er ohne die Nutzungsbeschränkung durch die städtische Bauordnung bestand und weiterhin besteht, wozu auch das strittige Gemeindeservitut und das darin sinngemäss enthaltene Verbot des Betriebs sexgewerblicher Einrichtungen gehören. Aus dieser Sicht hat die Klägerin an der Dienstbarkeit nach wie vor ein Interesse.
3.2
Die Beklagte ist ferner der Ansicht, die Klägerin habe das Interesse an der Ausübung der Dienstbarkeit ebenfalls deshalb verloren, weil dem von der Vorinstanz festgehaltenen Sinn und Zweck, den "C.-Platz" als gehobenes Wohnquartier zu schützen, insofern keine Bedeutung mehr zukomme, als der durch den Strassenverkehr in der fraglichen Zone verursachte Lärm heute sehr gross sei und der "C.-Platz" sich zu einem hektischen Verkehrsknotenpunkt und zu einem lebhaften Gewerbezentrum entwickelt habe. Der Hinweis auf die eingetretene Änderung des Quartiercharakters ist unbehelflich. Er ändert nichts daran, dass nach den öffentlichrechtlichen Bestimmungen der Wohnanteil im fraglichen Gebiet eine sexgewerbliche Nutzung ausschliesst. Von einem Verlust des Interesses am zivilrechtlichen Verbot kann auch aus dieser Sicht keine Rede sein.
BGE 134 III 341 S. 347
4.
4.1
Des Weiteren bringt die Beklagte vor, das Verbot ein "unsittliches" Gewerbe zu betreiben, sei als Inhalt einer Dienstbarkeit nicht zulässig. Einer Dienstbarkeit mit einem derart vagen Moralbegriff hätte wegen mangelnder Bestimmtheit von Anfang an die Eintragung in das Grundbuch verweigert werden müssen. Das im Grundbuch eingetragene Recht und die eingetragene Last müssten ihrem Inhalt nach für Dritte klar erkennbar sein, was hier nicht zutreffe.
4.2
Soweit die von der Beklagten angesprochene Frage sich überhaupt nach Bundesrecht beurteilt und damit hier zu prüfen ist (dazu nicht publ. E. 6.2), ist darauf hinzuweisen, dass beispielsweise das Bezirksgericht Zürich eine gleichlautende Formulierung als hinreichend bestimmt betrachtet hat (Urteil vom 17. Januar 1936, publ. in: ZBGR 17/1936 S. 265 ff. und SJZ 33/1936-37 Nr. 23 S. 123 f.; offenbar zustimmend LIVER, a.a.O., N. 97 und 193 zu
Art. 730 ZGB
; a.M. HEINZ REY, Berner Kommentar, N. 91 zu
Art. 730 ZGB
). Auch wenn heutzutage wohl eine andere Umschreibung gewählt würde, ist der in jenem Entscheid vertretenen Auffassung beizupflichten. Es besteht in der Tat ein genügender Bestimmtheitsgrad. Ein gewisser Auslegungsspielraum liegt in der Natur von Dienstbarkeiten der in Frage stehenden Art. So kann angesichts der Vielfalt heutiger Bewirtungsformen etwa auch der Begriff "Gastwirtschaftsbetrieb" (vgl.
BGE 87 I 311
ff.) oder der Begriff "lärmendes, gesundheitswidriges oder ekelerregendes Gewerbe" (vgl.
BGE 88 II 145
ff.) auslegungsbedürftig sein. Der in der beklagtischen Liegenschaft eingerichtete Betrieb lässt sich auf jeden Fall nach wie vor unter den in der strittigen Dienstbarkeit gewählten Begriff "unsittliches Gewerbe" subsumieren. | de |
b67e94fe-0fc6-4b30-bce8-1553728b40f2 | Sachverhalt
ab Seite 91
BGE 118 IV 91 S. 91
A.-
Der türkische Staatsangehörige M. und seine Begleiterin B., deutsche Staatsangehörige, wurden am 23. August 1991 kontrolliert, nachdem bei der Kantonspolizei Aargau in Laufenburg/AG eine Meldung eingegangen war, dass in einem Personenwagen mit deutschen Kontrollschildern in Schwaderloch/AG jemand schlafe. Mit Hilfe eines Drogenhundes konnten in der Nähe des Fahrzeuges vergraben etwa ein halbes Gramm Heroin und Fr. 3'730.-- Bargeld aufgefunden werden. M. und B. wurden durch die Kantonspolizei Aargau angehalten und gestützt auf einen Haftbefehl des Bezirksamtmanns Laufenburg gleichentags in Haft genommen. Die Kantonspolizei Aargau eröffnete gegen die beiden Verhafteten ein polizeiliches
BGE 118 IV 91 S. 92
Ermittlungsverfahren wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz; M. wird zudem das Führen eines Personenwagens ohne Führerausweis und unter Drogeneinfluss zur Last gelegt.
Während M. jegliche strafbare Handlung leugnete, erklärte die stark drogenabhängige B., M. habe auf dem Platzspitz in Zürich während etwa drei Monaten regelmässig ein paar Male pro Woche je ca. 30 Gramm Heroin oder Kokain gehandelt; kurz vor dem Eingreifen der Polizei habe er ihr das aus dem Drogenverkauf jenen Tages stammende Geld zum Wegwerfen übergeben; M. habe in Zürich Heroin oder Kokain gehandelt und ihr auch zum Konsum davon abgegeben.
Gestützt auf eine Verfügung des Bezirksamtes Laufenburg vom 29. Oktober 1991, welcher der Schlussbericht der Kantonspolizei Aargau vom 22. Oktober 1991 zugrunde liegt, ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau am 1. November 1991 die Bezirksanwaltschaft Zürich um eine Stellungnahme zur Gerichtsstandsfrage.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich lehnte eine Übernahme des Verfahrens am 11. November 1991 ab. Auch der nachfolgende Meinungsaustausch zwischen den beteiligten Staatsanwaltschaften führte zu keiner Einigung.
Die strafbaren Handlungen von B., gegen welche bereits in Deutschland ein Verfahren unter anderem wegen Betäubungsmitteldelikten hängig ist, und die kurz nach ihrer Festnahme wieder nach Deutschland ausreisen konnte, bilden nicht Gegenstand des Gerichtsstandsverfahrens.
B.-
Mit Gesuch vom 20. Dezember 1991 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau der Anklagekammer des Bundesgerichts, es seien die Behörden des Kantons Zürich zur Verfolgung und Beurteilung von M. berechtigt und verpflichtet zu erklären.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt sinngemäss, das Gesuch abzuweisen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Für die Bestimmung des Gerichtsstandes nach
Art. 346 ff. StGB
ist folgende Unterscheidung zu treffen:
a) Eine strafbare Handlung im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit liegt dann vor, wenn das gesamte, auf einem einheitlichen Willensakt (einheitliches Ziel, einmaliger Entschluss) beruhende (NOLL/TRECHSEL, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I, S. 232; vgl.
BGE 118 IV 91 S. 93
auch SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. I, S. 131 f.) Tätigwerden des Täters kraft eines engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs der Einzelakte bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv noch als ein einheitliches, zusammengehörendes Geschehen erscheint (vgl.
BGE 98 IV 106
; STRATENWERTH, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I,
§ 19 N 11
; NOLL/TRECHSEL, a.a.O., S. 232; hierzu sind auch das zusammengesetzte Delikt sowie andere Fälle unechter Gesetzeskonkurrenz zu zählen), indem in diesen Fällen durch mehrere Einzelhandlungen ein einheitlicher "Deliktserfolg" herbeigeführt wird (vgl. SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, StGB Kommentar, 23. Auflage, Vorbem. §§ 52 ff. N 17). Wird dem Beschuldigten eine solche strafbare Handlungseinheit vorgeworfen - die durchaus an mehreren Orten ausgeführt worden sein kann -, bestimmt sich der Gerichtsstand nach
Art. 346 StGB
.
b) Werden dem Beschuldigten dagegen mehrere strafbare Handlungen im Sinne mehrerer natürlicher Handlungseinheiten (natürliche Handlungsmehrheit) zur Last gelegt, so findet
Art. 350 StGB
Anwendung.
c) Mehrere an sich selbständige strafbare Handlungen im Sinne einer natürlichen Handlungsmehrheit (von denen eigentlich jede einen bestimmten Tatbestand erfüllen würde) werden mitunter durch ihre gesetzliche Umschreibung im Tatbestand (gewerbsmässiges Delikt, bandenmässiges Delikt, Dauerdelikt) oder durch Lehre/Rechtsprechung (fortgesetztes Delikt) zu einer rechtlichen (
BGE 108 IV 143
E. 1) oder juristischen (NOLL/TRECHSEL, a.a.O., S. 232) Handlungseinheit verschmolzen (HAFTER, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil, S. 348 spricht von "Verbrechenseinheit"); diese juristische Handlungseinheit wird auch als Kollektivdelikt bezeichnet (vgl.
BGE 77 IV 9
E. 3: Gewerbsmässigkeit; SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, N 84; HAUSER/REHBERG, Strafrecht I, S. 195; STRATENWERTH, a.a.O.,
§ 19 N 20
; SCHULTZ, a.a.O., S. 230; SCHWANDER, Das Schweiz. StGB, Nr. 327; SCHMID, recht 1991, 134). Gekennzeichnet ist die so umschriebene rechtliche Einheit objektiv durch gleichartige Handlungen, die gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sind und in einem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen (
BGE 102 IV 78
; vgl. auch
BGE 116 IV 125
), und subjektiv durch einen alle Handlungen umfassenden Entschluss (vgl.
BGE 116 IV 125
) bzw. Gesamtvorsatz (
BGE 102 IV 78
).
Der Gerichtsstand bestimmt sich in diesem Fall ebenfalls nach
Art. 346 StGB
(vgl.
BGE 112 IV 63
E. 1, mit Hinweis;
BGE 91 IV 170
;
BGE 86 IV 63
, mit Hinweisen).
BGE 118 IV 91 S. 94
d) Mitunter werden unter bestimmten Voraussetzungen auch weitere an sich selbständige Delikte, die nicht Teil eines Kollektivdelikts im dargelegten Sinn bilden, zu diesem in einen Kollektivzusammenhang gestellt. Dies ist etwa der Fall, wenn gewerbsmässige und einzelne nicht gewerbsmässige (versuchte oder vollendete) strafbare Handlungen zusammentreffen (vgl.
BGE 105 IV 158
E. 2): Vom Kollektivdelikt werden die einzelnen nichtgewerbsmässigen Handlungen indessen nur dann umfasst, wenn diese als Teilhandlungen des Gewerbes erscheinen, das heisst zu den gewerbsmässig verübten Handlungen zumindest in einem äusseren Zusammenhang - zeitlich und nach Art ihres Gegenstandes - stehen (vgl.
BGE 108 IV 144
, mit Hinweisen). Ein solcher Kollektivzusammenhang (in der deutschen Lehre auch als "durchlaufende Handlungseinheit oder Idealkonkurrenz durch Klammerwirkung bezeichnet: SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, a.a.O., Vorbem. §§ 52 ff. N 20) bewirkt, dass alle dem Täter unter diesem Titel zur Last gelegten gleichartigen Delikte auch gleich zu behandeln sind und als mit derselben Strafe bedroht zu gelten haben (vgl.
BGE 105 IV 159
).
Da in diesem Fall keine juristische Handlungseinheit im oben dargelegten Sinn gegeben ist, bestimmt sich der Gerichtsstand nach
Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
(vgl.
BGE 105 IV 159
).
5.
a) Die vorstehend dargelegten Voraussetzungen für die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit sind im vorliegenden Fall bezüglich der allfälligen Abgabe des halben Gramms Heroin im Kanton Aargau nicht erfüllt; denn es kann nicht gesagt werden, diese bilde mit dem Verkauf in Zürich bei natürlicher Betrachtung eine auf einem einheitlichen Willensakt beruhende Einheit im Sinne eines zusammenhängenden Geschehens. In bezug auf den Beschuldigten ist vielmehr grundsätzlich von einer Handlungsmehrheit auszugehen.
b) Die hier in Frage stehenden strafbaren Handlungen des Verkaufs im Kanton Zürich und der Abgabe im Kanton Aargau können entgegen der Auffassung der Gesuchsgegnerin auch nicht als juristische Handlungseinheit im Sinne eines fortgesetzten Deliktes betrachtet werden. Dazu fehlt es an dem dazu erforderlichen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden Handlungen, die auch nicht als gleichartig bezeichnet werden können. Es kommt hinzu, dass den Akten keine Anhaltspunkte für einen beide Tatbestandsvarianten umfassenden Gesamtvorsatz entnommen werden können.
c) Bezüglich der Abgabe von Heroin im Kanton Aargau und dem Drogenverkauf in Zürich fehlt es auch an einem Kollektivzusammenhang,
BGE 118 IV 91 S. 95
da die Abgabe von Heroin im Kanton Aargau in zeitlicher Hinsicht zwar nur kurze Zeit später geschah, nach Art des Delikts aber klarerweise keinen äusseren Zusammenhang im Sinne einer eigentlichen Teilhandlung des Verkaufs aufweist.
d) Da im vorliegenden Fall somit von einer Handlungsmehrheit auszugehen ist, bestimmt sich der Gerichtsstand nach
Art. 350 StGB
.
6.
Es ist somit zu prüfen, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt wurde.
a) Das Bundesgericht hat in Präzisierung der Rechtsprechung in
BGE 114 IV 167
entschieden, es sei nicht zulässig, die Annahme eines schweren Falles im Sinne von
Art. 19 Ziff. 2 BetmG
bei wiederholter Tatbegehung grundsätzlich auszuschliessen, wenn keine der einzelnen Widerhandlungen sich auf eine Menge beziehe, die die Gesundheit vieler Menschen gefährden könne; denn wenn schon eine (einzelne oder fortgesetzte) Widerhandlung einen schweren Fall darstelle, sofern die gehandelte Menge von Betäubungsmitteln die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen könne, dann müssten unter derselben Voraussetzung auch mehrere Widerhandlungen einen schweren Fall bilden können; nach dem Sinn des Gesetzes sollten jene Taten als schwere Fälle gewertet werden, die objektiv und subjektiv schwer wiegen; ein schwerer Fall liege somit bei wiederholter Tatbegehung vor, sofern der Täter durch seine wiederholten Handlungen insgesamt eine Betäubungsmittelmenge umsetze, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen könne (E. 2b).
b) Es fragt sich somit, ob im vorliegenden Fall die unentgeltliche Abgabe des halben Gramms Heroin im Kanton Aargau im Lichte dieser Rechtsprechung ebenfalls als Teil eines insgesamt schweren Falles zu betrachten sei. Es erscheint zunächst fraglich, ob diese Rechtsprechung auch auf Fälle anzuwenden ist, in welchen - wie hier - einzelne Widerhandlungen als solche bereits schwere Fälle im Sinne von
Art. 19 Ziff. 2 BetmG
darstellen, da diesfalls kein Bedürfnis besteht, mittels Zusammenfassung der in Verkehr gebrachten Teilmengen einen ohne dieses Zusammenfassen nicht erfüllten (gesetzlich nicht vorgesehenen) schweren Fall sui generis (vgl.
BGE 114 IV 168
) zu konstruieren. Von einer wiederholten Widerhandlung kann zudem nur die Rede sein, wenn mehrere gleichartige Delikte vorliegen (vgl. HAFTER, a.a.O., S. 373). Als in diesem Sinne wiederholt (erneut, mehrmals) begangen könnten im vorliegenden Fall nur die zum eigentlichen Betäubungsmittelhandel (vgl. auch
BGE 114 IV 167
E. 2b, wo es lediglich um die gehandelten
BGE 118 IV 91 S. 96
bzw. transportierten Mengen ging) gehörenden Handlungskomplexe bezeichnet werden, die offensichtlich auf das Erzielen eines Gewinns ausgerichtet waren; die unentgeltliche Abgabe einer geringen Menge Heroins (an eine bereits Süchtige) unterscheidet sich jedoch klar von den zum eigentlichen Handel gehörenden Aktivitäten und könnte daher kaum ebenfalls als schwerer Fall bezeichnet werden. Die Frage braucht im vorliegenden Fall indessen nicht entschieden zu werden, da im Kanton Zürich auch das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit des Beschuldigten liegt. | de |
296204ae-fd6e-41f6-b369-e09800318216 | Sachverhalt
ab Seite 22
BGE 101 V 22 S. 22
A.-
Mit Verfügungen vom 14. bzw. 15. Februar 1973 hat das Bundesamt für Sozialversicherung die in Basel domizilierten Firmen Eugen Spitteler, Robert Blum, Fjord AG, Bruno Wagner, Hostettler Transport, Georges Kinzel, Hans-Ulrich Huggel, Phoebus-Verlag GmbH, Max Sutter-Schüeli und
BGE 101 V 22 S. 23
Transexchange AG, die bis anhin der Ausgleichskasse Basel-Stadt angeschlossen waren und im Herbst 1971 von der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes als Mitglieder angefordert wurden, auf den 1. Januar 1973 der letztgenannten Kasse unterstellt. Die von der Ausgleichskasse Basel-Stadt gegen diese Verfügungen erhobenen Beschwerden sind vom Eidgenössischen Departement des Innern am 19. Dezember 1973 abgewiesen worden.
B.-
Die Ausgleichskasse Basel-Stadt führt gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Verfügungen des Bundesamtes für Sozialversicherung bzw. diejenige des Eidgenössischen Departements des Innern seien aufzuheben, und es sei festzustellen, dass die erwähnten 10 Firmen weiterhin Mitglieder der Beschwerdeführerin seien. Eventuell sei der Mitgliedschaftswechsel nicht vor dem 1. Januar 1975 zuzulassen ...
Die Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes lässt beantragen, es sei auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten, weil die Ausgleichskassen zum Weiterzug von Kompetenzentscheiden des Bundesamtes nicht legitimiert seien. Eventuell sei die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen ...
Das Bundesamt stellt den Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
I.
I.1.
Zunächst stellt sich die Frage, ob es sich bei den Verfügungen des Bundesamtes über die Kassenzugehörigkeit überhaupt um beschwerdeweise anfechtbare Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG handelt. Nach dieser Bestimmung gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und zum Gegenstand haben: Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten, Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten sowie Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten oder Nichteintreten auf solche Begehren.
BGE 101 V 22 S. 24
a) Auf der untersten Verwaltungsstufe haben sich notwendigerweise und von Amtes wegen die Ausgleichskassen mit der Frage der Kassenzugehörigkeit der Arbeitgeber zu befassen (vgl. SOMMERHALDER, Die Rechtsstellung des Arbeitgebers in der AHV, S. 28 ff.). Der Bundesrat hat aber den Entscheiden der Ausgleichskassen über die Kassenzugehörigkeit von allem Anfang an nicht den Charakter von weiterziehbaren Verfügungen im Sinne des
Art. 84 Abs. 1 AHVG
zuerkannt, sondern in
Art. 127 AHVV
bestimmt, dass über Streitigkeiten betreffend die Kassenzugehörigkeit das Bundesamt befindet und dass dessen Entscheid von den "beteiligten Ausgleichskassen" sowie vom "Betroffenen" angerufen werden kann. Diese Regelung ist von der Gerichtspraxis unter dem seinerzeit geltenden Verfahrensrecht, d.h. unter der Herrschaft des Bundesbeschlusses vom 28. März 1917 betreffend die Organisation und das Verfahren des Eidgenössischen Versicherungsgerichts sanktioniert worden (vgl. SOMMERHALDER S. 38 f.). Noch in seinem Urteil vom 30. August 1966 i.S. Stoffel (ZAK 1966 S. 612) hat das Eidg. Versicherungsgericht erklärt, es sei Sache des Bundesamtes und nicht der ordentlichen Gerichtsbehörden im Sinne des
Art. 84 Abs. 2 AHVG
, Streitigkeiten über die Kassenzugehörigkeit zu beurteilen.
Wenn auf Grund der seitherigen Entwicklung des Verfahrensrechts (Inkrafttreten des revidierten OG und des VwG) angenommen werden müsste, bei den Entscheiden der Ausgleichskasse über die Kassenzugehörigkeit handle es sich um eigentliche Verfügungen, so ergäbe sich der ordentliche Rechtsweg der Beschwerde an die kantonalen Rekursbehörden mit der Wirkung, dass
Art. 127 AHVV
als gesetzwidrig erklärt werden müsste. Am 13. November 1972 hat indessen das Gesamtgericht entschieden, dass das Bundesamt zuständig ist, durch eine Weisung verwaltungsintern verbindlich über die Kassenzugehörigkeit zu entscheiden, wenn zwischen verschiedenen Ausgleichskassen eine entsprechende Streitigkeit entsteht, bevor eine materielle Verfügung ergeht. Der Grund liegt darin, dass die Ausgleichskassen einander grundsätzlich gleichgestellt sind und daher keine Ausgleichskasse einer andern gegenüber autoritativ feststellen kann, ein Arbeitgeber oder Selbständigerwerbender gehöre ihr und nicht der andern Ausgleichskasse an (vgl. SOMMERHALDER S. 41 f.). Insoweit also eine Ausgleichskasse notwendigerweise direkt oder indirekt
BGE 101 V 22 S. 25
eine Mitgliedschaft bejaht oder verneint, kann in der betreffenden, für die - positiv oder negativ - konkurrierende Ausgleichskasse nicht verbindlichen Feststellung auch keine Verfügung im Sinne der Legaldefinition von Art. 5 VwG erblickt werden.
b) Hingegen handelt es sich bei dem in Anwendung von
Art. 127 AHVV
erlassenen Entscheid des Bundesamtes über die Kassenzugehörigkeit um eine Verfügung im Sinne von Art. 5 VwG.
Insoweit die Kassenzugehörigkeit lediglich unter dem Gesichtspunkt der materiellen Funktionen der Ausgleichskassen (insbesondere auf dem Gebiet Beiträge und Renten) betrachtet wird, kann allerdings kaum von einem "Recht" bzw. einer "Pflicht" der Ausgleichskasse zur Aufnahme eines bestimmten Arbeitgebers bzw. Selbständigerwerbenden im Sinne von Art. 5 VwG gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich um eine - öffentlich-rechtliche - Kompetenz jeder einzelnen Ausgleichskasse, die gesetzmässig ihr zugehörigen Mitglieder voll zu erfassen, wobei das Interesse der betreffenden Ausgleichskasse hieran völlig unerheblich ist, weil die Kompetenz von Amtes wegen ausgeübt werden muss. Eher liesse sich im Sinne von Art. 5 VwG ein "Recht" der Kassenmitglieder auf Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kasse bzw. eine "Pflicht" dazu annehmen, denn der Adressat von Verwaltungsakten hat im Prinzip Anspruch darauf und allenfalls auch ein schützenswertes Interesse daran, von dem für ihn zuständigen Verwaltungsorgan behandelt zu werden.
Es erübrigt sich indessen, auf diesen Fragenkomplex näher einzugehen, weil die Kassenzugehörigkeit jedenfalls im Lichte der organisatorischen Normen des AHVG im Sinne von Art. 5 VwG als "Recht" bzw. "Pflicht" sowohl der Ausgleichskasse selber als auch der Kassenmitglieder zu betrachten ist, worüber das Bundesamt durch Feststellungsverfügung zu entscheiden hat. Die kantonalen und Verbands-Ausgleichskassen geniessen eine sehr weitgehende organisatorische Selbständigkeit, insbesondere auch bezüglich ihrer internen verwaltungstechnischen Organisation und der Verwaltungskosten. Zu deren Deckung dürfen sie innerhalb eines bestimmten Rahmens zweckgebundene Beiträge erheben und aus deren Zuschüssen ein eigenes - zweckgebundenes - Vermögen äufnen. Mit diesen organisatorischen Problemen steht die
BGE 101 V 22 S. 26
Frage der Kassenzugehörigkeit in unmittelbarem Zusammenhang: hohe Beitragssummen bedeuten hohe Verwaltungskostenbeiträge. Die Art der Mitglieder ist entscheidend dafür, ob die Kasse mehr oder weniger rationell geführt werden kann, d.h. dass bei optimaler Verwendung von Personal und Einrichtungen die Verwaltungskosten niedrig gehalten werden können. Die Kassenmitglieder ihrerseits haben ein gleichgerichtetes Interesse an der Tiefhaltung der Verwaltungskosten, allenfalls auch am Verkehr mit einer Kasse, die mit ihren spezifischen Problemen besonders vertraut ist und eine optimale verwaltungsmässige Abwicklung gewährleistet. Ausserdem kann die Kassenzugehörigkeit für den Beitragspflichtigen rechtlich bestimmend sein für seine Zugehörigkeit zu den allfälligen besondern Einrichtungen der betreffenden Ausgleichskasse, welche diese neben der AHV führt (vgl.
Art. 63 Abs. 4 AHVG
). Für die Verbandsausgleichskassen sodann ist die Wahrung eines Mindestbestandes von Mitgliedern geradezu Voraussetzung für ihre Existenz (vgl. Art. 53 Abs. 1 lit. a und 60 Abs. 2 AHVG).
Bei dieser Interessenlage rechtfertigt es sich, die Entscheide des Bundesamtes über die Kassenzugehörigkeit im Hinblick sowohl auf die Ausgleichskasse selber als auch auf ihre Mitglieder als Anordnungen über Rechte und Pflichten gemäss Art. 5 VwG, somit als Verfügungen im Sinne der zitierten Bestimmung zu betrachten.
I.2.
Eng verbunden mit der Frage des Verfügungscharakters ist jene nach der Aktivlegitimation der Ausgleichskasse zur Beschwerdeführung gegen Entscheide des Bundesamtes über die Kassenzugehörigkeit. Das Departement des Innern hat die Aktivlegitimation der Ausgleichskasse mit zutreffender Begründung bejaht, der folgendes beizufügen ist:
Sowohl die kantonalen als auch die Verbandsausgleichskassen stehen organisatorisch, also in dem hier massgeblichen Bereich, ausserhalb der Bundesverwaltungshierarchie (abgesehen von den Aufsichts- und Eingriffsrechten des Bundes nach
Art. 72 Abs. 2 und 3 AHVG
, welche sich auf das zur Gewährleistung der Durchführung der AHV unerlässlich Notwendige beschränken). Organisatorische Träger der Ausgleichskassen sind die Kantone bzw. die Gründerverbände, und selbst diesen gegenüber sind die Ausgleichskassen organisatorisch weitgehend verselbständigt (vgl. SAXER, Die AHV-Ausgleichskassen
BGE 101 V 22 S. 27
als neue Organisationsform der schweizerischen Sozialversicherung, S. 212 f.; WINZELER, Die Haftung der Organe und der Kassenträger in der AHV, S. 54 f.; SCHMIDT, Organisation und rechtliche Stellung der kantonalen AHV-Ausgleichskassen, S. 57 f.). Diese Stellung ausserhalb der Bundesverwaltung, die organisatorische und insbesondere finanzielle Selbständigkeit der Ausgleichskassen, die in direktem Zusammenhang mit der Kassenmitgliedschaft steht, und das demzufolge selbständige und schützenswerte Interesse an der Kassenmitgliedschaft rechtfertigen es, die Aktivlegitimation der Ausgleichskasse zur Beschwerdeführung im Sinne von Art. 48 lit. a VwG (bzw.
Art. 103 lit. a OG
und 86 AHVG) zu bejahen.
I.3.
Da es sich nach dem Gesagten beim Entscheid des Bundesamtes um eine anfechtbare Verfügung handelt und die Ausgleichskasse Basel-Stadt zu deren Anfechtung legitimiert ist, bestand die Möglichkeit, die Verfügungen vom 14. bzw. 15. Februar 1973 beschwerdeweise an das Eidgenössische Departement des Innern weiterzuziehen und danach den Departementsentscheid vom 19. Dezember 1973 auf dem Wege der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzufechten (Art. 47 Abs. 1 lit. c VwG und
Art. 98 lit. b OG
).
Aus diesen Erwägungen ergibt sich ohne weiteres, dass das Hauptbegehren der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes auf Nichteintreten wegen Fehlens der Aktivlegitimation der Ausgleichskasse Basel-Stadt unbegründet ist.
Der Grundsatz, dass Verwaltungsbehörden kein wohlerworbenes Recht auf ihren Zuständigkeitsbereich besitzen und dass sie demnach Kompetenzentscheide ihrer Aufsichtsbehörden hinzunehmen hätten, lässt sich auf den vorliegenden Fall wegen der erwähnten organisatorischen Selbständigkeit der Ausgleichskassen und ihrer Stellung ausserhalb der Bundesverwaltung nicht anwenden.
Dass die Ausgleichskassen als solche an niedrigen Verwaltungskosten nicht interessiert seien, sondern nur die Gesamtheit ihrer Mitglieder, kann nicht gesagt werden. Wenn eine Verwaltungseinheit derart verselbständigt ist, wie dies bei den kantonalen und den Verbandsausgleichskassen der Fall ist, die sogar eigenes - wenn selbstverständlich auch zweckgebundenes - Verwaltungsvermögen bilden können, so muss auch ein selbständiges und schutzwürdiges Interesse an der Höhe der
BGE 101 V 22 S. 28
Verwaltungskostenbeiträge anerkannt werden. Hieran ändert nichts, dass unter Berücksichtigung des Aufgabenbereichs und der Struktur der Ausgleichskasse zur Vermeidung von übermässigen Differenzen bei den Verwaltungskostenansätzen Zuschüsse ausgerichtet werden können, was vor allem bei den kantonalen Ausgleichskassen der Fall ist; denn mit diesen Zuschüssen werden die Differenzen nicht voll ausgeglichen. Die weitgehende Selbständigkeit der Ausgleichskassen den Trägern gegenüber lässt auch den Eventualstandpunkt der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes nicht zu, dass eventuell nur die Kassenträger zur Beschwerde legitimiert wären.
II.
II.1.
Die Vorinstanz hat die geltenden allgemeinen Grundsätze über die Kompetenzabgrenzung zwischen den Ausgleichskassen bezüglich der Kassenzugehörigkeit richtig dargestellt:
Den Verbandsausgleichskassen werden alle Arbeitgeber und Selbständigerwerbenden angeschlossen, die einem Gründerverband angehören (
Art. 64 Abs. 1 AHVG
). Den beiden Ausgleichskassen des Bundes gehören das Personal der Bundesverwaltung und der Bundesanstalten sowie die freiwillig versicherten Auslandschweizer und die übrigen im Ausland wohnenden Versicherten an (
Art. 62 AHVG
). Den kantonalen Ausgleichskassen sind alle übrigen Personen angeschlossen (
Art. 64 Abs. 2 AHVG
); diese erfüllen insoweit die Funktion von Auffangkassen.
Verbandsausgleichskassen können gegründet werden entweder von Arbeitgeberverbänden oder aber als sogenannte paritätische Ausgleichskassen, bei deren Verwaltung nebst den Arbeitgeberverbänden auch Arbeitnehmerverbände mitwirken (
Art. 53 und 54 AHVG
). Das Besondere dabei ist, dass die Kassengründung im freien Belieben der Gründerverbände steht und bewilligt werden muss, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Die kantonalen Ausgleichskassen und die Ausgleichskassen des Bundes dagegen sind auf Grund zwingender Bestimmungen von den Kantonen bzw. vom Bund zu errichten.
Im Rahmen dieser allgemeinen Ordnung stützt sich die Beschwerdeführerin im wesentlichen auf die folgenden beiden
BGE 101 V 22 S. 29
Argumente zur Beibehaltung der durch das Bundesamt und das Departement der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes zugewiesenen Arbeitgeber:
a) Der Begriff der Verbandszugehörigkeit dürfe nicht im bisher praktizierten weiten Sinn aufgefasst werden, und
b) die Anforderung der fraglichen Arbeitgeber durch die Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes sei unter den gegebenen Umständen rechtsmissbräuchlich.
II.2.
Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, dass es einem Missbrauch des Verbandsbegriffs und einem Verstoss gegen Treu und Glauben gleichkomme, wenn der Verbandsbegriff in der bisher praktizierten Weise ad absurdum geführt würde. Zur Begründung ihrer These führt sie das Beispiel der betroffenen Arbeitgeberfirma Huggel an, die lediglich indirekt, d.h. als Mitglied der Ortsgruppe Basel des Bundes Schweizer Architekten, diese ihrerseits Kollektivmitglied des Basler Volkswirtschaftsbundes, ebenfalls als Verbandsangehörige gilt und vom Bundesamt der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes zugewiesen worden ist. Die Firma soll sich dieser Zugehörigkeit nicht einmal bewusst gewesen sein; auch sei nicht mehr bekannt, wann und aus welchem Grund der Beitritt der erwähnten Ortsgruppe zum Basler Volkswirtschaftsbund erfolgt sei; der Kollektivmitgliederbeitrag betrage nur Fr. 50.-- pro Jahr, was bei den mehr als 50 Mitgliedern der Ortsgruppe, darunter solche von europäischem Ruf mit mehreren 100 Arbeitnehmern, weniger als einen Franken pro Jahr und Mitglied ausmache. Die Beschwerdeführerin knüpft damit an ihre schon im vorinstanzlichen Verfahren vorgetragene Argumentation an, die Mitgliedschaft bei einem Gründerverband oder einem ihrer Unterverbände sollte für die Kassenzugehörigkeit nur entscheidend sein, wenn der Beitragspflichtige sich seiner Mitgliedschaft bewusst sei und ein verbandsmässiges oder berufliches Interesse und eine Gemeinsamkeit in der Zielsetzung des Gründerverbandes bestehe. Die Beschwerdeführerin verlangt im Grunde genommen eine qualifizierte Mitgliedschaft, die ihrerseits nach subjektiven Kriterien definiert wird. Dafür fehlt jedoch, wie schon die Vorinstanz richtig bemerkt, die rechtliche Grundlage: abgesehen davon wäre diese Lösung kaum praktikabel. Daran vermag das von der Beschwerdeführerin angeführte Beispiel der Firma Huggel nichts zu ändern. Jedenfalls lässt sich mit diesem Beispiel
BGE 101 V 22 S. 30
weder ein Missbrauch des Verbandsbegriffs und noch weniger ein Verstoss gegen Treu und Glauben dartun.
II.3.
Das Hauptargument der Beschwerdeführerin geht dahin, der geforderte Anschluss der fraglichen 10 Arbeitgeber an die Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes verstosse unter den gegebenen besonderen Umständen gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
Die Kassenzugehörigkeit beruht auf der gesetzlichen Regelung des Kompetenzbereiches der Ausgleichskassen und ist daher der freien Vereinbarung zwischen diesen Kassen entzogen. Jede Ausgleichskasse hat von Amtes wegen zu prüfen, welche Personen zu ihrem Mitgliederbestand gehören, und den kantonalen Ausgleichskassen obliegt überdies die Kontrolle über die Erfassung aller Beitragspflichtigen (Ausnahmen im Sinne eines Wahlrechtes der Beitragspflichtigen selbst sind in
Art. 64 Abs. 1 AHVG
und
Art. 120 AHVV
ausdrücklich vorgesehen und durch das Organisationssystem bzw. politisch bedingt). Hat sich eine Kasse selbst während langer Zeit bewusst oder unbewusst nicht an die gesetzliche Ordnung gehalten, so wird weder ein gewohnheitsrechtlicher noch ein wohlerworbener Anspruch der Ausgleichskasse oder des Beitragspflichtigen auf eine gesetzwidrige Kassenzugehörigkeit geschaffen, sondern es ist im Prinzip der Fehler zu beheben, sobald er entdeckt wird (selbstverständlich im Rahmen der konkreten Bestimmungen über den Kassenwechsel). Ob in extremen Fällen die Berichtigung einer gesetzwidrigen Kassenzugehörigkeit gänzlich oder doch zeitweilig nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unterbleiben kann, braucht heute nicht geprüft zu werden. Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für die Anrufung des Vertrauensschutzes allein schon deshalb nicht erfüllt, weil kein schutzwürdiges Interesse an der Erhaltung des gesetzwidrigen Zustandes besteht, das den Vorrang vor dem Interesse an der Herstellung des gesetzmässigen Zustandes verdienen würde. Dies gilt sowohl in bezug auf die Beschwerdeführerin selber als auch in bezug auf die betroffenen Arbeitnehmer. Für die Ausgleichskasse bedeutet der Wegfall der 10 Mitglieder weder eine ins Gewicht fallende Einbusse an Verwaltungskostenbeiträgen noch einen bedeutenden organisatorischen Nachteil wegen daraus entstehender Überkapazität von Personal und Einrichtungen. Sollten sich für die betroffenen Arbeitgeber aus dem Kassenwechsel
BGE 101 V 22 S. 31
künftig höhere Verwaltungskostenbeiträge ergeben, so entsteht für sie dadurch keine Benachteiligung, sondern es würde nur eine ungerechtfertigte Vorzugsstellung beendet. Das wohl vorwiegend emotionelle Element, lieber mit der bisherigen und vertrauten kantonalen Ausgleichskasse als mit der den Betroffenen noch unbekannten Verbandsausgleichskasse verkehren zu wollen, fällt zum vorneherein als unerheblich ausser Betracht ... | de |