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aae68b9a-13b9-451b-a212-e9cdb8f638f0 | Sachverhalt
ab Seite 328
BGE 113 V 327 S. 328
A.-
Die Firma D. AG betreibt laut Handelsregistereintrag das Speditions- und Transportgeschäft, führt Reisebüros und betätigt sich in weiteren Bereichen des Güter- und Reiseverkehrs. Die Gesellschaft kann sich an anderen Unternehmungen beteiligen. Vom schweizerischen Hauptsitz aus werden die zahlreichen Zweigniederlassungen in der Schweiz und im Ausland geführt und die Tochter- und Beteiligungsgesellschaften der D.-Gruppe betreut. Zum Bereich Schweiz Transporte gehören neben dem Hauptsitz 22 Zweigniederlassungen, und der Bereich Schweiz Reisen umfasst eine Reisebüroorganisation mit 27 Agenturen. Die übrigen Arbeitnehmer sind in den Landesgruppen Frankreich und Italien beschäftigt.
Vor dem Inkrafttreten des UVG am 1. Januar 1984 waren die Versicherungsverhältnisse zur Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) für jede Geschäftsstelle der D. AG mit separater Verfügung geregelt. Der obligatorischen Versicherung waren jeweils der Lagerhausbetrieb, die Umschlags- und Verladerarbeiten, der Camionnagedienst, Transporte und der Zolldeklarantendienst mit manueller und kaufmännischer Tätigkeit sowie die zugehörigen Büros unterstellt. Von der Unterstellung ausgenommen waren das Speditionsgeschäft mit Büros und die Reisebüroorganisation. Die bis Ende 1983 der SUVA unterstellten Betriebsteile der D. AG umfassten ca. 400 Arbeitnehmer mit einer Lohnsumme von rund 13 Millionen Franken, während die übrigen Arbeitnehmer mit einer Lohnsumme von rund 65 Millionen Franken nicht bei der SUVA versichert waren.
Mit Verfügung der Prämienabteilung der SUVA vom 29. März 1984 wurde gestützt auf die Betriebsbeschreibung vom 23. Januar 1984 die gesamte Unternehmung der D. AG rückwirkend auf den
BGE 113 V 327 S. 329
1. Januar 1984 ihrem Tätigkeitsbereich unterstellt. Die unterstellten Betriebsteile wurden wie folgt umschrieben:
Betriebsteil A: Lagerhausbetrieb, Camionnagedienst, Transporte, Zolldeklarantendienst mit manueller Tätigkeit, in der ganzen Schweiz.
Betriebsteil Z: Büros, Zolldeklarantendienst mit kaufmännischer Tätigkeit, Reisebüro, in der ganzen Schweiz.
Auf die hiegegen erhobene Einsprache hin erklärte sich die Direktion der SUVA mit Entscheid vom 13. September 1984 bereit, die Reisebüros von der Unterstellung auszunehmen und die angefochtene Verfügung entsprechend abzuändern; im übrigen wies sie die Einsprache ab.
B.-
Die Firma D. AG beschwerte sich gegen diesen Einspracheentscheid beim Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) und beantragte, dass der ganze Betrieb nicht der SUVA zu unterstellen sei. Die SUVA beantragte Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 16. Januar 1986 gut und hob den Einspracheentscheid sowie die Unterstellungsverfügung auf.
C.-
Die SUVA erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides.
Die D. AG lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gegen Entscheide des BSV nach
Art. 105 Abs. 2 UVG
über die Zuständigkeit eines Versicherers kann innert 30 Tagen beim Eidg. Versicherungsgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben werden (
Art. 110 Abs. 1 UVG
). Da der Unterstellungsentscheid weder von einer Rekurskommission noch von einem kantonalen Gericht als Vorinstanz erlassen worden ist und es zudem nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, richtet sich die Kognition nach Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 1 OG
. Demnach kann die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden, und das Eidg. Versicherungsgericht ist befugt, die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung frei zu überprüfen (
BGE 100 V 12
Erw. 1 mit Hinweis).
BGE 113 V 327 S. 330
2.
a) Gemäss den bis Ende 1983 in Kraft stehenden
Art. 60 ff. KUVG
waren nur gewisse Arbeitnehmer gegen Unfall obligatorisch versichert. Das Gesetz und die Verordnung I über die Unfallversicherung enthielten einen Katalog von Unternehmenszweigen, deren Arbeitnehmer erhöhten betrieblichen Gefahren ausgesetzt waren und deshalb gegen Unfall obligatorisch bei der SUVA versichert werden mussten. Für die übrigen Arbeitnehmer bestand kein bundesrechtliches Versicherungsobligatorium. Da die Privatversicherer die obligatorische Versicherung nicht durchführen durften, entschied das Unterstellungsrecht des KUVG nicht darüber, ob ein Arbeitnehmer durch die SUVA oder durch einen Privatversicherer versichert werde. Vielmehr ging es einzig um die Frage, welche Arbeitnehmer im Interesse der sozialen Sicherheit obligatorisch versichert seien. Nach diesem System versicherte die SUVA bis Ende 1983 rund zwei Drittel der Arbeitnehmer in der Schweiz.
b) Seit dem Inkrafttreten des UVG am 1. Januar 1984 sind grundsätzlich alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer obligatorisch gegen Unfall versichert. Die obligatorische Unfallversicherung wird jedoch nicht mehr durch die SUVA allein, sondern auch durch andere Unfallversicherer im Sinne von
Art. 68 UVG
durchgeführt. Der Zuständigkeitsbereich der SUVA wird durch Gesetz und Verordnung (
Art. 66 UVG
,
Art. 73-89 UVV
) zwingend und abschliessend umschrieben. Die übrigen, nicht der SUVA unterstellten Betriebe müssen ihre Arbeitnehmer durch Vertrag bei den in
Art. 59 Abs. 2 UVG
genannten andern Versicherern im Sinne von
Art. 68 UVG
versichern. Das Unterstellungsrecht hat somit nach UVG eine wesentlich andere Funktion als nach KUVG, indem es nun darüber entscheidet, ob die SUVA oder ein anderer Versicherungsträger die Versicherung durchführt. Das Unterstellungsrecht nach UVG hat damit nicht mehr eine soziale, sondern eine rein wirtschaftliche Funktion.
c) Der Gesetzgeber hat die Unterstellungskriterien des KUVG trotz dieses erheblichen Funktionswandels im neuen Recht ohne grosse Änderungen übernommen. Er verfolgte damit insbesondere ein wirtschaftliches Ziel: Der Bestand der bei der SUVA versicherten Arbeitnehmer hatte ungefähr gleich zu bleiben. Hingegen sollte die Durchführung der erweiterten Versicherung an die übrigen Versicherungsträger gehen. Immerhin war keine strikte Besitzstandswahrung beabsichtigt, sondern man wollte berechtigten Begehren auf Zuteilung bestimmter Berufs- oder
BGE 113 V 327 S. 331
Betriebsgruppen zur SUVA oder von dieser zur Privatversicherung Rechnung tragen. Sodann hat sich der Gesetzgeber deutlich vom Bestreben leiten lassen, den gesamten Betrieb einheitlich zu versichern (Grundsatz der Einheit der Versicherung; vgl. im übrigen Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976, BBl 1976 III 176 f. Ziff. 351; Bericht der Expertenkommission über die Revision der Unfallversicherung vom 14. September 1973, S. 121; Amtl.Bull. 1979 N 138).
d) Obwohl der Gesetzgeber die Unterstellungskriterien weitgehend unverändert übernommen hat, können die altrechtliche Verwaltungspraxis und Rechtsprechung angesichts der veränderten Funktion der Unterstellungskriterien im neuen Recht nicht unbesehen angewendet werden. Unter dem nunmehr massgebenden Aspekt der Aufteilung des Versicherungsgeschäfts zwischen der SUVA einerseits und den Versicherern gemäss
Art. 68 UVG
anderseits kommt dem Gebot der Rechtssicherheit und der administrativen Einfachheit erhöhtes Gewicht zu. Die Verwaltungspraxis und die Rechtsprechung haben im Rahmen von Gesetz und Verordnung sachgerechte und klare Kriterien für die Entscheidung der Unterstellungsfrage zu erarbeiten. Diese Kriterien müssen im Rahmen von
Art. 76 UVG
(Wechsel des Versicherers) möglichst dauerhafte Unterstellungen gewährleisten und verhindern, dass normale organisatorische Umdispositionen zu einer Neuzuteilung führen.
3.
a)
Art. 66 Abs. 1 UVG
enthält eine Aufzählung von Betrieben bzw. Betriebszweigen, deren Arbeitnehmer bei der SUVA obligatorisch versichert sind. Personen, für deren Versicherung nicht die SUVA zuständig ist, werden bei andern Unfallversicherern im Sinne von
Art. 68 UVG
angeschlossen. In
Art. 66 Abs. 2 1
. Halbsatz UVG wird der Bundesrat ermächtigt, die Betriebe im Sinne von
Art. 66 Abs. 1 UVG
näher zu bezeichnen. Er hat von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht und diese Gesetzesbestimmung in den
Art. 73 ff. UVV
konkretisiert.
b) Sodann wird der Bundesrat in
Art. 66 Abs. 2 2
. Halbsatz UVG u.a. beauftragt, namentlich den Tätigkeitsbereich der SUVA zu umschreiben für Arbeitnehmer:
a. von Hilfs- und Nebenbetrieben der unterstellten Betriebe;
b. von Betrieben, bei denen nur die Hilfs- und Nebenbetriebe unter Absatz 1 fallen;
c. von gemischten Betrieben.
BGE 113 V 327 S. 332
Der vom Bundesrat kraft dieser gesetzlichen Ermächtigung erlassene
Art. 88 UVV
mit dem Randtitel "Hilfs-, Neben- und gemischte Betriebe" lautet wie folgt:
Mit einem Betrieb nach Artikel 66 Absatz 1 des Gesetzes fallen auch
Hilfs- und Nebenbetriebe, die mit dem Hauptbetrieb in sachlichem
Zusammenhang stehen, in den Tätigkeitsbereich der SUVA. Fällt der
Hauptbetrieb nicht in den Tätigkeitsbereich der SUVA, so sind auch die
Arbeitnehmer der Hilfs- und Nebenbetriebe bei einem Versicherer nach
Artikel 68 des Gesetzes zu versichern (Abs. 1).
Als gemischter Betrieb gilt eine Mehrzahl von Betriebseinheiten
desselben Arbeitgebers, die untereinander in keinem sachlichen
Zusammenhang stehen. Von solchen Betrieben fallen diejenigen
Betriebseinheiten in den Tätigkeitsbereich der SUVA, welche die
Voraussetzungen von Artikel 66 Absatz 1 des Gesetzes erfüllen (Abs. 2).
c) Gemäss
Art. 88 Abs. 1 UVV
gilt für die in Haupt- und Neben- bzw. Hilfsbetriebe gegliederten Unternehmungen der Grundsatz der Attraktion (zum Begriff siehe SCHAETTI, Die Unterstellung der versicherungspflichtigen Unternehmen nach der schweizerischen obligatorischen Unfallgesetzgebung, Diss. Zürich 1941, S. 162). Alle Arbeitnehmer des Betriebs sollen einheitlich entweder bei der SUVA oder bei einem andern Versicherer im Sinne von
Art. 68 UVG
versichert sein. Für die Unterstellung entscheidend ist nur der Hauptbetrieb. Der Hilfs- bzw. Nebenbetrieb ist diesbezüglich nicht massgeblich, weil er dem Hauptbetrieb folgt.
Weist indessen ein Betrieb mehrere Betriebseinheiten auf, die untereinander in keinem sachlichen Zusammenhang stehen, so gilt der Grundsatz der Detraktion (vgl. auch hiezu SCHAETTI, a.a.O.). Die verschiedenen Betriebseinheiten desselben Arbeitgebers können gemäss
Art. 88 Abs. 2 UVV
verschiedenen Versicherungsträgern unterstellt sein.
4.
a) Der Begriff des Betriebs ist weder im Gesetz noch in der Verordnung näher umschrieben. In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Entscheid des BSV ist unter dem Begriff "Betrieb" im Sinne des Unfallversicherungsrechts die juristische Person, die Personengesellschaft oder die Einzelfirma usw. zu verstehen, die als Arbeitgeber auftritt. So gelten z.B. eine Zweigniederlassung (Filiale) oder sonst ein Betriebsteil nie als Betrieb im Sinne von
Art. 66 UVG
und damit nicht als Unterstellungsobjekt.
b) Diese Umschreibung des Betriebsbegriffs ergibt sich insbesondere aus Gründen der Praktikabilität. Es ist durch eine Konsultation des Handelsregisters in der Regel einfach, die verschiedenen
BGE 113 V 327 S. 333
"Betriebe" festzustellen. Dies macht die nähere Abklärung von Unternehmungszusammenschlüssen und von internen Betriebsstrukturen entbehrlich. Durch die erwähnte Anknüpfung wird der "Betrieb" dem "Arbeitgeber" gleichgesetzt, was dem Wortlaut von
Art. 88 Abs. 2 UVV
entspricht und im übrigen durchaus systemgerecht ist. Grundlage des Versicherungsverhältnisses ist ein Arbeitsvertrag zu einem Arbeitgeber (vgl.
Art. 1 und 3 UVG
), welchem bei der Durchführung der Versicherung gewisse Aufgaben obliegen (vgl. z.B. Art. 69, 91 Abs. 3 und 93 Abs. 1 UVG). Damit wird der Betrieb als Unterstellungsobjekt nach der rechtlichen Ausgestaltung des Wirtschaftssubjekts (d.h. der Unternehmung) definiert. Nicht mehr festgehalten wird somit an dem unter der Herrschaft des KUVG verwendeten Begriff des Betriebs als "organisatorisch-technische(r) Einheit, in welcher Arbeitnehmer beschäftigt sind" (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 50).
5.
a) Nach dem System von Gesetz und Verordnung ist unterstellungsrechtlich entscheidend, ob eine Unternehmung als ungegliederter oder als gegliederter Betrieb qualifiziert werden muss. Für die Unterstellung des ungegliederten Betriebs sind die
Art. 66 Abs. 1 und 2 1
. Halbsatz UVG in Verbindung mit
Art. 73-87 UVV
und für jene des gegliederten Betriebs zusätzlich
Art. 66 Abs. 2 2
. Halbsatz lit. a-c UVG in Verbindung mit
Art. 88 UVV
anwendbar.
Art. 66 Abs. 1 UVG
zählt die Betriebe, die in den Zuständigkeitsbereich der SUVA fallen, im allgemeinen aufgrund der Branchenzugehörigkeit und damit nach dem Tätigkeitsbereich oder mit andern Worten nach dem Betriebscharakter auf (zur Ausnahme des rein formalen Kriteriums des Gleisanschlusses gemäss
Art. 66 Abs. 1 lit. g UVG
in Verbindung mit
Art. 78 lit. b UVV
siehe Erw. 8). Folglich muss auch die Frage nach der Gliederung der Betriebe nach dem gleichen Kriterium entschieden werden.
b) Ein ungegliederter Betrieb im unterstellungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn sich die Unternehmung im wesentlichen auf einen einzigen, zusammenhängenden Tätigkeitsbereich beschränkt. Sie weist somit einen einheitlichen oder im Sinne der Botschaft (BBl 1976 III 209) vorwiegenden Betriebscharakter (z.B. als Bauunternehmung, als Handelsbetrieb oder als Treuhandgesellschaft) auf und führt im wesentlichen nur Arbeiten aus, die in den üblichen Tätigkeitsbereich eines Betriebes dieser Art fallen.
BGE 113 V 327 S. 334
Nicht entscheidend für die Gliederung im unterstellungsrechtlichen Sinne ist indessen die organisatorische Gliederung einer Unternehmung in - zentral oder dezentral geführte - Betriebsteile (vgl. dazu Erw. 7b), wenn die verschiedenen Teile dem gleichen Betriebszweck dienen und somit zu dessen üblichem Tätigkeitsbereich gehören. Auch die Diversifikation der Produkte oder Dienstleistungen macht eine Unternehmung nicht zum gegliederten Betrieb, sofern dies innerhalb des angestammten Tätigkeitsbereichs geschieht.
c) Ein gegliederter Betrieb liegt vor, wenn eine Unternehmung sich nicht auf einen einzigen, zusammenhängenden Tätigkeitsbereich beschränkt. Dies trifft zunächst dann zu, wenn bei einer Unternehmung zwei oder mehrere, klar unterscheidbare Schwerpunkte der Geschäftstätigkeit bestehen, die nicht in den gleichen Tätigkeitsbereich im oben umschriebenen Sinne fallen. Unter diesen Voraussetzungen fehlt es an der Einheitlichkeit des Betriebscharakters. Ein einheitlicher oder vorwiegender Betriebscharakter liegt aber auch dann nicht vor, wenn die Unternehmung neben dem eigentlichen Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit dauernd noch Arbeiten ausführt, die nicht zum normalen Tätigkeitsbereich eines Betriebs mit diesem Charakter (z.B. Bauunternehmung) gehören. Wesentlich ist, dass sich diese Arbeiten vom hauptsächlichen Tätigkeitsbereich der Unternehmung deutlich abheben.
Ist ein Betrieb im erwähnten Sinne gegliedert, so stellt sich die Frage, ob ein Haupt- oder ein Hilfs- bzw. Nebenbetrieb im Sinne von
Art. 88 Abs. 1 UVV
oder ein gemischter Betrieb mit mehreren Betriebseinheiten im Sinne von
Art. 88 Abs. 2 UVV
vorliegt.
6.
a) Ein gemischter Betrieb ist anzunehmen, wenn mehrere Betriebseinheiten desselben Arbeitgebers "untereinander in keinem sachlichen Zusammenhang stehen" (
Art. 88 Abs. 2 UVV
). Die französische und die italienische Fassung dieser Verordnungsbestimmung sprechen von "lien technique" und "legamo tecnico" und bringen damit besser zum Ausdruck, was mit dem Begriff des sachlichen Zusammenhangs gemeint ist. Es erscheint undenkbar, dass innerhalb ein und desselben Betriebes zwei oder mehrere Betriebseinheiten bestehen, die untereinander in überhaupt keinem sachlichen Zusammenhang stehen. Denn immerhin gehören sie der gleichen Unternehmung an, unterstehen der gleichen obersten Leitung und dienen den gleichen wirtschaftlichen Interessen. Der "sachliche Zusammenhang" ist somit im unterstellungsrechtlichen
BGE 113 V 327 S. 335
Sinne zu verstehen. Dabei ist zu beachten, dass verschiedene Betriebseinheiten je verschiedenen Versicherungsträgern unterstellt werden können und dass der zu definierende Begriff des gemischten Betriebes der einfachen und klaren Entscheidung der Unterstellungsfrage dient.
Für die Annahme einer Betriebseinheit gemäss
Art. 88 Abs. 2 UVV
ist daher - neben der unterstellungsrechtlichen Gliederung in verschiedene Tätigkeitsbereiche - zusätzlich vorauszusetzen, dass eine praktisch vollständige räumliche und personelle Verselbständigung der einzelnen Betriebsteile vorliegt. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob die Betriebsteile an einem oder an verschiedenen Orten geführt werden. Die Zweigniederlassungen (Filialen) gelten demnach in der Regel nicht als Betriebseinheiten im Sinne von
Art. 88 Abs. 2 UVV
, es sei denn, sie arbeiteten ausnahmsweise nicht im gleichen Tätigkeitsbereich und hätten insofern keinen sachlichen Zusammenhang untereinander (vgl. dazu wiederum Erw. 7b hernach).
b) Qualifiziert sich eine Unternehmung als gegliederter Betrieb, jedoch nicht als gemischter Betrieb nach
Art. 88 Abs. 2 UVV
, so stehen seine Teile zueinander im Verhältnis von Haupt- und Hilfs- bzw. Nebenbetrieb (
Art. 88 Abs. 1 UVV
). Dies ergibt sich aufgrund der in Gesetz und Verordnung verwendeten Begriffe. Der Hauptbetrieb ist jener Betriebsteil, der die Produktion oder Dienstleistung erbringt, die für die Unternehmung charakteristisch ist und daher den vorwiegenden Betriebscharakter bestimmt. Dies ist im Zweifelsfall der Betriebsteil mit dem grössten Anteil des Umsatzes oder - wenn jener nicht festgestellt werden kann - an der Lohnsumme.
c) Prof. Tschudi vertritt in einem zuhanden der Direktion der SUVA erstellten Gutachten vom 6. Mai 1985 die Auffassung, dass ein Hilfs- bzw. Nebenbetrieb nur ein unbedeutendes Anhängsel eines Hauptbetriebes sein könne, das in absoluten Zahlen klein sei (d.h. nicht über 5 Arbeitnehmer) und als selbständiger Betrieb wirtschaftlich kaum existenzfähig wäre. Eine solche Begriffsumschreibung würde bedeuten, dass alle grösseren Betriebsteile eines gegliederten Betriebes als Betriebseinheiten im Sinne von
Art. 88 Abs. 2 UVV
qualifiziert werden müssten. Eine solche Auslegung ist jedoch weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn dieser Bestimmung vereinbar und würde zu einer grossen, vom Gesetzgeber nicht gewollten Zersplitterung der Versicherungsträgerschaft führen.
BGE 113 V 327 S. 336
Die Unterscheidung innerhalb des Begriffspaares "Hilfs-/Nebenbetrieb" ist von untergeordneter Bedeutung, weil beide Betriebsteile unterstellungsrechtlich gleich behandelt werden. Als Hilfsbetrieb kann man einen Betriebsteil bezeichnen, der ausschliesslich der Unternehmung dient, während ein Nebenbetrieb seine Produkte oder Dienstleistungen auch Dritten anbietet.
7.
a) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei der Unterstellungsfrage zunächst geprüft werden muss, ob überhaupt ein "Betrieb" im Sinne des Unfallversicherungsrechts vorliegt. Wird dies bejaht, so ist zwischen ungegliederten und gegliederten Betrieben zu unterscheiden. Bei einem ungegliederten Betrieb erfolgt die Unterstellung direkt aufgrund des einheitlichen oder vorwiegenden Betriebscharakters. Bei einem gegliederten Betrieb ist dagegen vorerst zu prüfen, ob die Betriebsteile zueinander im Verhältnis von Haupt- und Hilfs- bzw. Nebenbetrieb stehen oder ob eine Mehrzahl von Betriebseinheiten ohne sachlichen Zusammenhang untereinander vorliegt (gemischte Betriebe). Im erstgenannten Fall erfolgt die Bestimmung des Hauptbetriebes; dieser wird grundsätzlich - unter Vorbehalt des in Erw. 8 zum rein formalen Kriterium "Gleisanschluss" Gesagten - je nach dessen Betriebscharakter der SUVA oder den andern Versicherern nach
Art. 68 UVG
zugewiesen. Der Hilfs- bzw. Nebenbetrieb spielt bei dieser Entscheidung keine Rolle. Er wird auch dann dem Versicherungsträger des Hauptbetriebes unterstellt, wenn er als solcher anders zu unterstellen wäre (Grundsatz der Attraktion). Liegt dagegen mangels relevanter Verflechtungen ein gemischter Betrieb vor, so ist die Unterstellung für jede Betriebseinheit gesondert zu prüfen. Die Unterstellung erfolgt nach dem vorwiegenden Betriebscharakter jeder Betriebseinheit, was zu verschiedenen Unterstellungen im gleichen Betrieb führen kann (Grundsatz der Detraktion).
b) Unterstellungsrechtliche Probleme können sich bei Betrieben mit dezentralisierten Betriebsteilen ergeben, welche räumlich getrennt geführt werden wie Zweigniederlassungen (Filialen), Zweigwerke, Agenturen, Geschäftsstellen usw. Dabei ist, wie in Erw. 6a gesagt, die räumliche Gliederung (wie die damit regelmässig verbundene personelle Verselbständigung) bezüglich der Frage, ob ein Betrieb im unterstellungsrechtlichen Sinne eine Gliederung aufweist, für sich allein ohne Bedeutung. Vielmehr muss - wie bei einem zentralisierten Betrieb - geprüft werden, ob sich die
BGE 113 V 327 S. 337
Unternehmung im wesentlichen auf einen einzigen, zusammenhängenden Tätigkeitsbereich beschränkt und ob dementsprechend ein einheitlicher oder vorwiegender Betriebscharakter besteht. Ist dies zu bejahen, so liegt - trotz der räumlichen Gliederung (und personellen Verselbständigung) - ein ungegliederter Betrieb vor. Ein dezentralisierter Betriebsteil kann demgegenüber ein unterstellungsrechtlich eigenes Schicksal haben, wenn auch bei einem zentral geführten Betrieb eine Gliederung anzunehmen wäre. Ist bei räumlich gegliederten (und personell verselbständigten) Unternehmungen eine solche unterstellungsrechtliche Gliederung erkennbar, weisen die dezentralisierten Betriebsteile häufig eine identische Gliederung auf; die Frage, was Hauptbetrieb und Hilfs- bzw. Nebenbetrieb ist (
Art. 88 Abs. 1 UVV
), entscheidet sich in diesem Fall für die ganze Unternehmung einheitlich. Ob allenfalls ausnahmsweise selbständige Betriebseinheiten (
Art. 88 Abs. 2 UVV
) vorliegen, beurteilt sich nach den hiefür in Erw. 6a dargelegten Kriterien.
8.
a) Im vorliegenden Fall sind Inhalt und Tragweite von
Art. 66 Abs. 1 lit. g UVG
umstritten. Diese Bestimmung lautet wie folgt:
"Bei der SUVA sind die Arbeitnehmer folgender Betriebe ...
obligatorisch versichert:
g. Verkehrs- und Transportbetriebe sowie Betriebe mit unmittelbarem
Anschluss an das Transportgewerbe."
Gestützt auf die Delegationsnorm von
Art. 66 Abs. 2 1
. Halbsatz UVG hat der Bundesrat in
Art. 78 lit. b UVV
bestimmt:
"Als Verkehrs- und Transportbetriebe sowie Betriebe mit unmittelbarem
Anschluss an das Transportgewerbe im Sinne von Artikel 66 Absatz 1
Buchstabe g des Gesetzes gelten:
b. Betriebe, die an ein Gleis einer konzessionierten Eisenbahn oder
an einen Schiffanlegeplatz angeschlossen sind und Güter direkt oder über
Gleisewagen oder Rohrleitungen ein- und ausladen."
Damit erfolgt die Zuweisung zum Tätigkeitsbereich der SUVA nicht - wie in den meisten übrigen Bestimmungen von
Art. 66 Abs. 1 UVG
- nach dem Betriebscharakter (z.B. Baugewerbe), sondern aufgrund eines rein formalen Kriteriums (Gleisanschluss).
b) Die SUVA folgert aus dem Wortlaut der zitierten Bestimmungen, dass jeder Betrieb in ihren Tätigkeitsbereich falle, sofern irgendein Betriebsteil - also auch ein Nebenbetrieb - über einen Gleisanschluss verfüge. Diese Auslegung vermag sich scheinbar auf den Wortlaut von
Art. 66 Abs. 1 lit. g UVG
und von
Art. 78
BGE 113 V 327 S. 338
lit. b UVV
zu stützen, wird doch in den beiden Bestimmungen der Begriff "Betrieb" und nicht jener des Hauptbetriebs oder der Betriebseinheit verwendet. Indessen ist zu beachten, dass das Gesetz in
Art. 66 Abs. 1 UVG
von ungegliederten Betrieben ausgeht - so auch bei den in lit. g genannten Betrieben, welche der Bundesrat nach
Art. 66 Abs. 2 1
. Halbsatz UVG in
Art. 78 UVV
näher bezeichnete. Gemäss
Art. 66 Abs. 2 2
. Halbsatz UVG ist es ja Aufgabe des Bundesrates, die Unterstellung der gegliederten Betriebe zu regeln, was er in
Art. 88 UVV
getan hat. Danach gelten die Hilfs- bzw. Nebenbetriebe unterstellungsrechtlich als unerheblich; nach dem Grundsatz der Attraktion ist somit bei der Unterstellungsfrage nie an den Hilfs- bzw. Nebenbetrieb anzuknüpfen. Im übrigen hat der Bundesrat in
Art. 88 Abs. 1 und 2 UVV
für die gegliederten Betriebe auf die Regelung von
Art. 66 Abs. 1 UVG
zurückverwiesen. Diese Rückverweisung kann jedoch nur den Sinn haben, dass der in
Art. 66 Abs. 1 UVG
verwendete Begriff "Betrieb" für die gegliederten Betriebe sinngemäss angewendet werden muss. In diesem Zusammenhang bedeutet er Hauptbetrieb (
Art. 88 Abs. 1 UVV
) oder Betriebseinheit (
Art. 88 Abs. 2 UVV
). Die von der SUVA vertretene wörtliche Auslegung würde für die gegliederten Betriebe zu einer mit Gesetz und Verordnung unvereinbaren Lösung führen. Damit wird der Anwendungsbereich von
Art. 66 Abs. 1 lit. g UVG
für die gegliederten Betriebe klar: Besitzt der Hauptbetrieb einen Gleisanschluss, so wird er zusammen mit dem Hilfs- bzw. Nebenbetrieb dem Zuständigkeitsbereich der SUVA zugewiesen. Auch eine Betriebseinheit untersteht - unabhängig vom vorwiegenden Betriebscharakter - dem Tätigkeitsbereich der SUVA, wenn sie direkt an ein Gleis angeschlossen ist. Verfügt indessen nur der Hilfs- bzw. Nebenbetrieb über einen Anschluss, so ist dieser Umstand unterstellungsrechtlich irrelevant.
c) Die SUVA vertritt den Eventualstandpunkt, als Betrieb mit unmittelbarem Anschluss an das Transportgewerbe im Sinne von
Art. 66 Abs. 1 lit. g UVG
sollten nur Unternehmungen betrachtet werden, die "ihrer gesamten wirtschaftlichen Betätigung nach sehr eng mit dem Verkehrs- und Transportgewerbe zusammenhängen". Eine solche Interpretation ist jedoch nach dem soeben Gesagten mit dem Sinn der vom Bundesrat in
Art. 78 UVV
konkretisierten Gesetzesbestimmung nicht vereinbar.
d) Die Ausführungen zur Unterstellung von Betrieben mit Gleisanschlüssen im Sinne von Erw. 8b gelten auch für
BGE 113 V 327 S. 339
dezentralisiert geführte Unternehmungen. Dabei spielt es unterstellungsrechtlich keine Rolle, an welchem Ort bzw. in welchem Betriebsteil der oder die Gleisanschlüsse bestehen. Die Erfüllung des formalen Kriteriums (Gleisanschluss) bezüglich eines unterstellungsrechtlich relevanten Anknüpfungspunktes (ungegliederter Betrieb; gegliederter Betrieb: Hauptbetrieb oder Betriebseinheit) genügt nach der Anordnung von Gesetz und Verordnung für die Unterstellung des gesamten Betriebes bzw. der betreffenden Betriebseinheit unter die SUVA.
Insbesondere liesse es sich nicht begründen, nur jene dezentralisierten Betriebsteile der SUVA zu unterstellen, die einen Gleisanschluss besitzen. Eine solche Unterstellung wäre nur unter der Voraussetzung möglich, dass die dezentralisierten Betriebsteile als Betriebe oder - unabhängig von den übrigen Erfordernissen - als Betriebseinheiten gemäss
Art. 88 Abs. 2 UVV
qualifiziert würden. Beides widerspräche indessen dem Sinn des Gesetzes. Überdies würde dadurch auch der Grundsatz der Einheit der Versicherung ausgehöhlt.
Ferner kann die Auffassung nicht begründet werden, ein Gleisanschluss sei unbeachtlich, wenn er lediglich mit Bezug auf eine Filiale oder mehrere Filialen bestehe. Dazu wäre erforderlich, dass die Filialen - ungeachtet der weiteren Voraussetzungen - immer als Hilfs- bzw. Nebenbetriebe qualifiziert würden. Eine solche Betrachtungsweise stände im Widerspruch zum System des Gesetzes und der Verordnung, weil die Zuweisung zu den Zuständigkeitsbereichen der SUVA und der andern Versicherer im Sinne von
Art. 68 UVG
grundsätzlich nach sachlichen und lediglich im Rahmen von
Art. 88 Abs. 2 UVV
auch nach einem räumlichen Kriterium erfolgt.
9.
Prof. Tschudi in seinem Gutachten und die SUVA in ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde weisen auf das Postulat der Unfallverhütung hin und halten eine Trennung des zuständigen Versicherers vom massgebenden Unfallverhütungsorgan nicht für wünschbar. Durch einen Vergleich zwischen
Art. 66 Abs. 1 UVG
und Art. 49 der Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (VUV), in welcher Bestimmung die von der SUVA zu beaufsichtigenden Betriebe aufgezählt sind, wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde dargelegt, dass "in einem sehr weitgehenden Bereich die SUVA da als Durchführungsorgan in der Arbeitssicherheit zuständig ist, wo sie auch als Versicherer tätig wird".
BGE 113 V 327 S. 340
Die SUVA war unter der Herrschaft des KUVG für Betriebe zuständig, in denen erhöhte Betriebsgefahren auftraten. Da die Zuständigkeitskriterien als solche unter neuem Recht nicht wesentlich geändert wurden und sich lediglich ihre Funktion gewandelt hat (vgl. Erw. 2b und c), trifft dies im wesentlichen auch heute noch zu. Dass zwischen
Art. 66 Abs. 1 UVG
und
Art. 49 VUV
gewisse Gemeinsamkeiten bestehen, ist nicht überraschend, denn die Zuständigkeit der SUVA richtet sich auch im Bereich der Unfallverhütung (
Art. 49 VUV
) nach dem Kriterium der Betriebsgefahren. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass eine Trennung des zuständigen Versicherers vom massgebenden Unfallverhütungsorgan nicht dem Sinn der genannten Bestimmungen entspreche. Hätte der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber gewollt, dass die SUVA als Unfallversicherer für die Betriebe zuständig sei, für die sie auch das massgebliche Unfallverhütungsorgan ist, so wäre in
Art. 49 VUV
auf
Art. 66 Abs. 1 UVG
verwiesen worden. Dies wurde jedoch nicht getan, was darauf hinweist, dass ein teilweises Auseinanderfallen zumindest in Kauf genommen wurde.
10.
Die Firma D. AG widmet sich dem Speditions- und Transportgeschäft und unterhält zudem eine Reisebüroorganisation. Als juristische Person ist sie ein Betrieb im Sinne des Unfallversicherungsrechts. Da sie sich nicht auf einen einzigen, zusammenhängenden Tätigkeitsbereich beschränkt, sondern zwei klar unterscheidbare Schwerpunkte der Geschäftstätigkeit in den Bereichen Spedition/Transport einerseits und Reisebüroorganisation anderseits bestehen, fehlt es an einem einheitlichen oder vorwiegenden Betriebscharakter. Die D. AG stellt somit unterstellungsrechtlich einen gegliederten Betrieb dar. Die beiden Betriebseinheiten Spedition/Transport und Reisebüroorganisation stehen untereinander in keinem sachlichen Zusammenhang im Sinne von
Art. 88 Abs. 2 UVV
, weil die verschiedenen Tätigkeitsbereiche auch räumlich und personell praktisch vollständig getrennt sind. Es liegt daher ein gemischter Betrieb vor. Bei der Betriebseinheit Spedition/Transport bildet die Spedition (d.h. die kaufmännische Organisation von Transporten) den Hauptbetrieb, welcher auch den grössten Anteil am Umsatz erzielt, während der Transport als Nebenbetrieb zu qualifizieren ist.
Gemäss
Art. 66 Abs. 1 UVG
sind die Spedition und die Reisebüroorganisation nicht der SUVA zu unterstellen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die D. AG über mehrere Gleisanschlüsse verfügt. Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat,
BGE 113 V 327 S. 341
dienen die Gleisanschlüsse nicht dem Hauptbetrieb (Spedition), sondern dem Nebenbetrieb (Transport). Gleisanschlüsse, die dem Nebenbetrieb dienen, sind aber unterstellungsrechtlich ohne Bedeutung. Der vorinstanzliche Entscheid erweist sich somit als richtig. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA ist demzufolge abzuweisen.
11.
(Kostenpunkt.) | de |
86e1af18-770e-4fe0-a894-37ebc715c054 | Sachverhalt
ab Seite 287
BGE 103 II 287 S. 287
A.-
Die F. Hoffmann-La Roche & Co. AG, Basel, ist Inhaberin verschiedener Schweizerpatente über Verfahren zur Herstellung der Wirkstoffe Diazepam und Nitrazepam, die sie
BGE 103 II 287 S. 288
zur Herstellung ihrer Präparate VALIUM und MOGADON verwendet. Die Dumex AG, Zug, Tochtergesellschaft der A/S Dumex, Kopenhagen (Dänemark), befasst sich mit Einfuhr und Vertrieb von pharmazeutischen, chemischen und kosmetischen Erzeugnissen. Im Jahre 1976 erhielt sie von der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel Vertriebsbewilligungen für schweizerische Apotheken für ein Psychopharmakum STESOLID, enthaltend Diazepam, sowie für ein Hypnotikum DUMOLID, enthaltend Nitrazepam.
B.-
Am 21. Dezember 1976 stellte die F. Hoffmann-La Roche & Co. AG beim Kantonsgerichtspräsidium Zug das Gesuch, es sei der Dumex AG, Zug, und der A/S Dumex, Kopenhagen, im Sinne einer vorsorglichen Massnahme gemäss
Art. 77 PatG
unter Androhung der Ungehorsamsfolgen von
Art. 292 StGB
zu verbieten, Diazepam und Nitrazepam sowie namentlich auch die diese Wirkstoffe enthaltenden Präparate STESOLID und DUMOLID einzuführen, herzustellen und zu vertreiben. In Bestätigung einer am 22. Dezember 1976 ergangenen superprovisorischen Verfügung gab der Kantonsgerichtspräsident am 29. März 1977 dem Begehren statt.
Gegen die Verfügung des Kantonsgerichtspräsidenten erhoben die Dumex AG und die A/S Dumex bei der Justizkommission des Kantons Zug Beschwerde, die jedoch am 21. Juni 1977 abgewiesen wurde.
C.-
Die Dumex AG und die A/S Dumex führen gegen den Entscheid der Justizkommission des Kantons Zug beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
. Sie beantragen die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, allenfalls nur hinsichtlich des Wirkstoffes Diazepam und namentlich des diesen Wirkstoff enthaltenden Präparates STESOLID. Die F. Hoffmann-La Roche & Co. AG trägt auf Abweisung der Beschwerde an. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde insoweit, als sie sich auf Nitrazepam und auf das mit diesem Wirkstoff hergestellte Präparat DUMOLID bezieht. In diesem Zusammenhang führen die Beschwerdeführerinnen aus, DUMOLID sei in der Schweiz weder auf dem Markt noch stehe es unmittelbar zum Vertrieb bereit, weshalb dieser Streitgegenstand von nur untergeordneter Bedeutung sei. Im übrigen
BGE 103 II 287 S. 289
verzichten sie unter Hinweis auf die Patentschriften auf weitere Ausführungen und anerkennen im Sinne ihres Eventualantrages den Entscheid der Justizkommission in diesem Punkte. Damit genügt die Beschwerde dem Erfordernis des
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
nicht, der bestimmt, dass sie eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten muss, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt seien.
2.
Art. 77 Abs. 1 PatG
bestimmt, dass unter anderem zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes und zur vorläufigen Vollstreckung streitiger Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche die zuständige Behörde vorsorgliche Massnahmen verfügt. Dabei hat der Antragsteller glaubhaft zu machen, dass ihm wegen einer gegen das PatG verstossenden Handlung der Gegenpartei ein nicht leicht ersetzbarer Nachteil droht, der nur durch eine vorsorgliche Massnahme abgewendet werden kann (
Art. 77 Abs. 2 PatG
).
Die Beschwerdegegnerin behauptet, die Beschwerdeführerinnen verletzten durch die Herstellung des Wirkstoffes Diazepam ihre entsprechenden Verfahrenspatente. Sie kann sich auf
Art. 67 Abs. 1 PatG
stützen, wonach dann, wenn sich eine Erfindung auf ein Verfahren zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses bezieht, bis zum Beweis des Gegenteils jedes Erzeugnis von gleicher Beschaffenheit als nach dem patentierten Verfahren hergestellt gilt. Unbestritten ist vorliegend, dass die Patente der Beschwerdegegnerin gültig sind und ein neues Erzeugnis betreffen sowie dass das in Frage stehende Erzeugnis der Beschwerdegegnerin gleich beschaffen ist, wie dasjenige der Beschwerdeführerinnen. Unangefochten ist auch die Feststellung, dass ein nicht leicht ersetzbarer Nachteil im Sinne von
Art. 77 Abs. 2 PatG
droht; soweit die Beschwerde auf diese Frage eingeht, wird jedenfalls nirgends erklärt, dass und weshalb diesbezüglich Willkür gegeben wäre. Kernfrage des vorliegenden Rechtsstreites ist indes, inwiefern die Beschwerdeführerinnen die nach
Art. 67 Abs. 1 PatG
gegen sie wirkende gesetzliche Vermutung zu entkräften vermochten. Zu Recht prüften die kantonalen Behörden diese Frage; entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen kann angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung in diesem Zusammenhang von einer willkürlichen Beweislastverteilung nicht die Rede sein.
BGE 103 II 287 S. 290
Da es in der vorliegenden Streitsache um vorsorgliche Massnahmen geht, hat der Antragsteller lediglich glaubhaft zu machen, dass die hiefür erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind. Anderseits kann aber auch vom Gesuchsgegner, der in einem solchen Verfahren die aus
Art. 67 Abs. 1 PatG
sich ergebende und gegen ihn wirkende Vermutung zu widerlegen hat, nicht mehr als ein Wahrscheinlichkeitsbeweis verlangt werden (BLUM/PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht, Band III, 2. Auflage, Bern 1975, S. 657 und 659/2; TROLLER, Immaterialgüterrecht, Band II, 2. Auflage, Basel und Stuttgart 1971, S. 1195). Es wäre rechtsungleich und würde damit gegen
Art. 4 BV
verstossen, vom Gesuchsgegner im Rahmen vorsorglicher Massnahmen den strikten Gegenbeweis zu verlangen. Dennoch kann er der Vermutung von
Art. 67 Abs. 1 PatG
nicht mit der blossen Behauptung entgehen, er stelle das fragliche Erzeugnis nach einem ungenannten andern Verfahren her, sondern er muss darlegen, nach welchem Verfahren das geschieht. Da aber die blosse Glaubhaftmachung genügt, darf im Verfahren über vorsorgliche Massnahmen nicht ein vollständiger Beweis über die Einzelheiten dieses Verfahrens, seine Tauglichkeit zum behaupteten Zweck und seine tatsächliche Verwendung bei der Herstellung des Erzeugnisses verlangt werden.
In der Vernehmlassung an den Kantonsgerichtspräsidenten vom 3. Januar 1977 machten die Beschwerdeführerinnen geltend, dass sie eigene Verfahren entwickelt hätten, um Diazepam herzustellen. Zum Beweise dafür beriefen sie sich auf entsprechende schweizerische Patentschriften, die sie ins Recht legten. Die Justizkommission führt aus, die Beschwerdeführerinnen hätten - indem sie gegenüber dem Kantonsgerichtspräsidenten vorbrachten, ihre eigenen Herstellungsverfahren umfassten eine Reihe von chemischen Vorgängen, die in einem summarischen Verfahren nicht geschildert werden könnten - ihr Verfahren nicht offengelegt. Schon diese Auffassung ist jedoch höchst fragwürdig, beriefen sich die Beschwerdeführerinnen doch gleichzeitig auf entsprechende Patentschriften. Zu Recht tritt die Justizkommission deshalb gleichwohl auf die geltend gemachten Beweismittel ein, erachtet diese aber ohne nähere Begründung als nicht genügend. Mittels Patentschriften, wie die Beschwerdeführerinnen sie ins Recht legten, kann indes ein Wahrscheinlichkeitsbeweis im
BGE 103 II 287 S. 291
dargelegten Sinne durchaus erbracht werden, da die in der Patentschrift enthaltene Beschreibung der Erfindung diese so darzulegen hat, dass der Fachmann sie ausführen kann (Art. 63 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 50 Abs. 1 PatG
). Indem die Justizkommission überhaupt nicht prüfte, inwiefern die Herstellungsverfahren der Beschwerdeführerinnen aus den bereits dem Kantonsgerichtspräsidenten vorgelegten Patentschriften ersichtlich seien, kann sie eine sachliche, ernsthafte Beweiswürdigung nicht mehr für sich in Anspruch nehmen; sie überging Entscheidendes und verfiel damit in Willkür (vgl.
BGE 100 Ia 127
/128).
Sollte sich die Justizkommission durch eine solche Untersuchung überfordert gefühlt haben, so hätte sie einen Sachverständigen zuziehen müssen, was sie nach dem angefochtenen Entscheid von Amtes wegen hätte tun können. Dass es vorliegend um eine vorsorgliche Massnahme geht, steht dem nicht entgegen, kann doch der Richter bei der Formulierung der Fragen an den Sachverständigen darauf Rücksicht nehmen, dass es nur um die Glaubhaftmachung einer bestimmten Behauptung geht (TROLLER, a.a.O., S. 1205 Anm. 155; BLUM/PEDRAZZINI, a.a.O., S. 659/3).
3.
Eine Prüfung der Patentschriften erübrigte sich freilich, wenn die Beschwerdeführerinnen nicht glaubhaft machen könnten, dass sie nach ihren eigenen Herstellungsverfahren produzieren. Vor dem Kantonsgerichtspräsidium Zug behaupteten sie, dass sie seit neun Jahren Diazepam ausschliesslich nach ihrem eigenen Verfahren herstellten, was die Beschwerdegegnerin genau wisse. Diese Behauptung wiederholten sie sinngemäss in ihrer Beschwerdeschrift an die Justizkommission. Zum Beweise dafür beriefen sie sich vor allem auf einen am 27. Juni 1967 vor Stadtgericht Kopenhagen zwischen der Beschwerdegegnerin und der Beschwerdeführerin 2 abgeschlossenen Vergleich, mit dem ein Verfahren vereinbart wurde, das sicherstellen soll, dass die Beschwerdeführerin 2 nach ihren eigenen Methoden Diazepam herstelle. Entsprechende Untersuchungsberichte wurden bereits vor erster Instanz ins Recht gelegt. Ebenso legten die Beschwerdeführerinnen dem Kantonsgerichtspräsidenten Kontrollformulare vor, die belegen sollen, dass das Diazepam, das in der Schweiz vertrieben werden sollte, ausschliesslich nach dem besonderen Verfahren der Beschwerdeführerin 2 hergestellt worden sei.
BGE 103 II 287 S. 292
Die Justizkommission äussert sich dazu nicht, sondern verweist auf die Erwägungen des Kantonsgerichtspräsidenten. Dieser führt vorerst aus, den von den Beschwerdeführerinnen eingelegten Sachverständigenberichten könne entnommen werden, dass ein grosser Teil des von der Beschwerdeführerin 2 verarbeiteten Diazepams nach Dänemark eingeführt worden sei, weshalb der von beiden Parteien bestellte Sachverständige den Produktionsvorgang gar nicht habe überprüfen können. Nach dem Vergleich von 1967 ergibt aber die Zusammensetzung des Enderzeugnisses darüber Aufschluss, nach welchem Verfahren dieses hergestellt wurde. Es muss deshalb genügen, dass der von den Parteien gemeinsam bestellte Sachverständige auch das eingeführte Diazepam untersuchen konnte, was er z.B. nach seinem Bericht vom 2. September 1976 wirklich tat. Unbehelflich ist auch der weitere Einwand des Kantonsgerichtspräsidenten, dass die Vereinbarung von 1967 jedenfalls höchstens den Schluss zulasse, das Patent Nr. 418'341 der Beschwerdegegnerin, welches in jenem Verfahren in Frage stand, sei nicht verletzt; über die andern vier für Diazepam geltend gemachten schweizerischen Patente sei damit noch nichts ausgesagt. Dergestalt werden aber die Anforderungen an eine blosse Glaubhaftmachung willkürlich überspannt. Der Kantonsgerichtspräsident und mit ihm die Justizkommission gehen ja ausdrücklich davon aus, dass die Beschwerdeführerinnen in Dänemark nach ihrem eigenen Verfahren Diazapam herstellen. Dieses Verfahren hat jedenfalls vor einem der Patente der Beschwerdegegnerin Bestand und wird von ihr laufend kontrolliert. Das vereinbarte Überwachungsverfahren lässt es jedoch als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass jene Herstellungsweise nur die Rechte der Beschwerdegegnerin aus einem einzigen Patent wahre, andere ihrer Patente aber verletze. Wenn die Beschwerdeführerinnen sich in der Folge auf eine Kette von Produktionsbelegen berufen, um darzutun, dass in der Schweiz nur Diazepam vertrieben werde, das vom gemeinsam bestellten Sachverständigen in Dänemark geprüft worden ist, hätten die kantonalen Behörden darauf eingehen müssen. Indem sie das unterliessen und auch die Patentschriften der Beschwerdeführerinnen nicht würdigten, ist ihr Vorgehen sachlich nicht vertretbar und damit willkürlich. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde, soweit sie Diazepam und auf diesem Wirkstoff beruhende Präparate betrifft.
BGE 103 II 287 S. 293
4.
Gestützt auf § 212 in Verbindung mit § 205 der zugerischen ZPO hat die Justizkommission neue Begehren, neue tatsächliche Einreden und Beweismittel im Beschwerdeverfahren als nicht zulässig erachtet. Die Beschwerdeführerinnen rügen eine willkürliche Handhabung dieses Novenverbotes. Dass die Justizkommission die dem Einzelrichter eingereichten Patentschriften auf ihren Inhalt hätte prüfen müssen, ist schon oben dargelegt worden, weshalb sich im Zusammenhang mit dem Novenverbot weitere Ausführungen dazu erübrigen. Die Beschwerdeführerinnen sind aber auch der Auffassung, sie hätten im Beschwerdeverfahren mit neuen Vorbringen zugelassen werden müssen, weil der Kantonsgerichtspräsident der Beschwerdegegnerin zwar das Recht zur Replik einräumte, sie selber aber nicht mehr duplizieren liess. In der Tat könnte darin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen, die im Beschwerdeverfahren zur Zulassung von Noven führen müsste. Zu Recht wird nicht vorgebracht, dass im summarischen Verfahren ein generelles Duplikrecht bestehe, das unbekümmert um neue Vorbringen der Replik bestünde. Zum letzteren stellt der angefochtene Entscheid fest, die Beschwerdeführerinnen hätten in ihrer Beschwerde an die Justizkommission zwar behauptet, dass in der Replikschrift der Beschwerdegegnerin "eine Unzahl von neuen Behauptungen aufgestellt" worden seien, welchen "unbedingt noch entgegnet werden" müsse; welches diese neuen Behauptungen gewesen seien, hätten sie aber nicht dargetan. Das widerlegen die Beschwerdeführerinnen vor Bundesgericht nicht. Wenn sie die vor der Justizkommission unterlassene Substantiierung vor Bundesgericht nachholen wollen, ist das bei einer Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
nicht zulässig (
BGE 102 Ia 246
E. 2,
BGE 101 Ia 28
E. 1).
5.
Sowohl im erst- als auch im zweitinstanzlichen Verfahren erklärten die Beschwerdeführerinnen sich bereit, unverzüglich eine Kaution zu leisten und zwar in einer vom Gericht zu bestimmenden Höhe. Beide kantonalen Instanzen haben dieses Angebot stillschweigend übergangen. Die Beschwerde rügt das nicht etwa als Verletzung des rechtlichen Gehörs, sondern bringt sinngemäss vor, die kantonalen Behörden hätten von der nach
Art. 79 Abs. 2 PatG
gebotenen Möglichkeit willkürlich keinen Gebrauch gemacht. Nach dieser Bestimmung kann von einer vorsorglichen Massnahme abgesehen
BGE 103 II 287 S. 294
werden, wenn der Gesuchsgegner angemessene Sicherheit leistet. Das setzt indessen schon nach dem Wortlaut voraus, dass die Sicherheit bereits geleistet und nicht bloss angeboten worden ist (
BGE 94 I 14
E. 10). Auch dann läge es im richterlichen Ermessen, die fragliche Massnahme aufzuheben oder nicht. Dabei ist zu beachten, dass eine solche Ersatzlösung nur selten die notwendige Gewähr für volle Wiedergutmachung des Schadens bietet, den die vorsorgliche Massnahme abzuwenden hat (vgl. TROLLER, a.a.O., S. 1209). Aus welchen Gründen es sich vorliegend anders verhalten soll, tut die Beschwerde nicht dar. Der den Beschwerdeführerinnen drohende Schaden allein vermag ein solches Vorgehen jedenfalls nicht zu rechtfertigen. | de |
33e6fc6f-221c-43e3-be89-7f02b766d743 | Sachverhalt
ab Seite 53
BGE 87 I 53 S. 53
A.-
Hans Roth ist Ingenieur von Beruf und Mitglied des Schweiz. Ingenieur- und Architekten-Vereins (SIA). Er wohnt in Münchenstein (BL) und betreibt in -Basel
BGE 87 I 53 S. 54
ein Spezialunternehmen für Abdichtungen im Hoch- und Tiefbau.
Josef Koller wohnt in St. Gallen. Im Jahre 1954 liess er dort ein Einfamilienhaus erstellen. Als sich das Flachdach des Terrassenvorbaus als nicht wasserdicht erwies, beauftragte er Roth mit der Erstellung einer Isolierung zum Preis von Fr. 3280.50 auf Grund einer Offerte vom 14. September 1955, worin Roth sich verpflichtete, während 10 Jahren jeden auftretenden Schaden zu beseitigen; ferner heisst es in der Offerte: "Zahlungsbedingungen SIA".
Im Jahre 1958 traten in den Zimmern unter der Terrasse Feuchtigkeitsschäden auf. Roth nahm gewisse Ausbesserungen vor, vermochte jedoch die Schäden nicht zu beheben und behauptete schliesslich, diese seien nicht auf Mängel seiner Isolierung, sondern auf andere Ursachen zurückzuführen. Darauf stellte Koller mit Eingabe vom 31. August 1959 beim Bezirksgerichtspräsidium St. Gallen gestützt auf
Art. 399 ff. ZPO
das Gesuch um Anordnung "einer vorsorglichen Expertise zur Feststellung des Tatbestandes, der Ursachen der Mängel und eventuell der zur Behebung dieser Mängel erforderlichen Vorkehrungen". Roth war mit der Durchführung einer solchen Expertise einverstanden und machte Vorschläge über die Person des Experten und die an ihn zu stellenden Fragen. Der vom Gericht ernannte Experte stellte verschiedene Mängel der von Roth erstellten Isolierung fest und empfahl, diese von einer Spezialfirma durch eine neue Isolierung ersetzen zu lassen. Koller folgte diesem Rat und verlangte von Roth Ersatz der Kosten der Erneuerungsarbeiten. Roth erklärte indessen, er anerkenne die Expertise nicht und lehne alle Ansprüche Kollers ab.
Am 23. März 1960 reichte Koller beim Vermittleramt St. Gallen eine Forderungsklage gegen Roth ein. Auf die Vorladung zum Vermittlungsvorstand hin teilte Roth dem Vermittleramt sowie Koller unter Berufung auf
Art. 59 BV
mit, dass er den St. Galler Richter nicht anerkenne
BGE 87 I 53 S. 55
und deshalb der Vorladung nicht Folge leisten werde. Der Vermittler lud Roth nochmals erfolglos vor und stellte hierauf den Leitschein aus. Gestützt auf diesen reichte Koller am 23. Mai 1960 beim Bezirksgericht St. Gallen Klage ein mit dem Begehren, Roth sei zur Bezahlung von Fr. 6375.55 nebst 5% Zins seit 23. März 1960 zu verurteilen.
Das Bezirksgericht St. Gallen stellte diese Klage am 25. Mai 1960 Roth zu und setzte ihm Frist zur Einreichung einer Antwort.
B.-
Am 24. Juni 1960 hat Hans Roth staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 59 BV
erhoben. Er ersucht um Aufhebung der Zustellungsverfügung des Bezirksgerichts St. Gallen vom 25. Mai 1960.
C.-
Das Bezirksgericht St. Gallen hat sich nicht vernehmen lassen. Der Beschwerdegegner Josef Koller beantragt Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Prozessuales).
2.
Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer aufrechtstehend ist, dass er im Kanton Baselland wohnt und dass die gegen ihn erhobene Klage eine persönliche Ansprache im Sinne von
Art. 59 BV
zum Gegenstand hat. Für diese braucht er sich daher nur dann in St. Gallen gerichtlich belangen zu lassen, wenn er ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten auf den Richter an seinem Wohnort verzichtet hat. Nach Auffassung des Beschwerdegegners ist die Berufung des Beschwerdeführers auf
Art. 59 BV
aus beiden Gründen ausgeschlossen.
3.
Die vom SIA aufgestellten, als "Normalien" bezeichneten "Allgemeinen Bedingungen für Bauarbeiten" bestimmen in Art. 33 unter dem Titel "Streitigkeiten: Sofern keine andere Vereinbarung (z.B. Schiedsgericht) getroffen wird, unterwerfen sich beide Parteien den ordentlichen Gerichten am Orte der Bauausführung". Auf Grund dieser Bestimmung müsste sich der Beschwerdeführer
BGE 87 I 53 S. 56
nur dann in St. Gallen belangen lassen, wenn sie zum Inhalt des zwischen den Parteien abgeschlossenen Werkvertrags gemacht worden wäre oder wenn der Beschwerdeführer durch den Beitritt zum SIA für Prozesse aus Bauarbeiten auf den Gerichtsstand von
Art. 59 BV
verzichtet hätte. Das ist jedoch nicht der Fall.
a) Der Werkvertrag zwischen den Parteien wurde auf Grund der schriftlichen Offerte des Beschwerdeführers vom 14. September 1955 offenbar mündlich abgeschlossen. Dass dabei über den Gerichtsstand gesprochen und eine Vereinbarung getroffen worden sei, behauptet der Beschwerdegegner nicht. Die Offerte des Beschwerdeführers aber verweist nur für die Zahlungsbedingungen auf die Normalien des SIA, was keinen Sinn gehabt hätte, wenn die gesamten Normalien Vertragsinhalt gewesen wären. Art. 33 derselben war daher nicht Inhalt des Werkvertrages zwischen den Parteien. Übrigens ist fraglich, ob ein in einem Werkvertrag enthaltener allgemeiner Hinweis auf die Normalien des SIA als gültiger Verzicht auf die Garantie des Wohnsitzrichters gelten könnte. Ein solcher Verzicht liegt in einer Vereinbarung nur, wenn diese unmissverständlich ist und darin der Wille, sich einem andern als dem Richter des Wohnortes zu unterwerfen, klar und deutlich zum Ausdruck kommt (
BGE 84 I 36
und dort angeführte frühere Urteile,
BGE 85 I 150
). Das trifft beim blossen Hinweis auf allgemeine Vertrags- und Geschäftsbedingungen eines bestimmten Berufszweiges nicht ohne weiteres zu, weshalb das Bundesgericht im nicht veröffentlichten Urteil vom 24. März 1948 i.S. Tobler angenommen hat, in der Ausführung einer die Klausel "Konditionen gemäss SIA-Bestimmungen" enthaltenden Bestellung von Baumaterial liege kein gültiger Verzicht auf die Garantie des
Art. 59 BV
.
b) Prorogationsverträge sind nur für die Vertragspartner und, sofern sie nicht rein persönlichen Charakter haben, für ihre Rechtsnachfolger verbindlich; Dritte können sich im allgemeinen nicht darauf berufen (BGE 22 S. 939
BGE 87 I 53 S. 57
Erw. 2, 33 I 749). Dagegen erscheint es als richtig, in analoger Anwendung von
Art. 112 Abs. 2 OR
auch Prorogationsklauseln zugunsten Dritter zuzulassen (BURCKHARDT, Komm. zur BV S. 562; HAAS, Die prorogatio fori S. 24/25). Und zwar kann ein solcher Gerichtsstand zugunsten Dritter nicht nur durch Vertrag festgelegt werden, sondern auch in den Statuten juristischer Personen. Dass eine Vertrags- oder Statutenbestimmung einen Gerichtsstand zugunsten Dritter begründe, kann jedoch nur angenommen werden, wenn sie dies ausdrücklich vorsieht oder sonst klar und unmissverständlich erkennen lässt (HAAS a.a.O. S. 24/25). Geht man hievon aus, so kann der Auffassung des Beschwerdegegners, der Beschwerdeführer sei als Mitglied des SIA nach dessen Statuten und Normalien verpflichtet, sich für Ansprüche aus Werkverträgen am Orte der Bauausführung belangen zu lassen, nicht beigepflichtet werden. Nach Art. 6 der Statuten haben die Mitglieder sich an die Grundsätze des Vereins zu halten und die vom Verein aufgestellten Normen zu befolgen. Dafür, dass diese Bestimmung Rechte Dritter gegenüber den Mitgliedern begründen soll, besteht nach dem Wortlaut kein Anhaltspunkt, während ihre Stellung im Abschnitt über die "Mitgliedschaft" gegen diese Auslegung spricht. Auf keinen Fall geht aus ihr klar und unmissverständlich hervor, dass damit dem Mitglied der Verzicht auf den verfassungsmässig gewährleisteten Gerichtsstand des Wohnortes auferlegt wird. Das gleiche gilt für die vom SIA aufgestellten "Allgemeinen Bedingungen für Bauarbeiten", die nach ihrer Bezeichnung als "Normalien" ein Vertragsmuster darstellen, also nur Vertragsinhalt werden, wenn und soweit die Vertragspartner darauf verweisen. Dazu kommt, dass ein so weitgehender Verzicht auf den Wohnsitzrichter, wie ihn der Beschwerdegegner behauptet, als unzulässige Beschränkung der persönlichen Freiheit im Sinne von
Art. 27 ZGB
betrachtet werden müsste. Auf die Berufung auf
Art. 59 BV
kann für künftige Rechtsstreitigkeiten nur insoweit
BGE 87 I 53 S. 58
verzichtet werden, als deren Natur und Bedeutung vorauszusehen sind (BURCKHARDT a.a.O. S. 560, HAAS a.a.O. S. 10/11, GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht 2. Aufl. S. 86 lit. b). Ein Berufstätiger kann daher nicht vertraglich oder durch Beitritt zu einem Berufsverband im voraus für die ganze Dauer seiner Berufstätigkeit und für alle daraus entspringenden Rechtsstreitigkeiten auf die Garantie aus
Art. 59 BV
verzichten.
4.
Auf den Schutz des
Art. 59 BV
kann auch durch vorbehaltlose Einlassung auf den Rechtsstreit verzichtet werden. Eine solche Einlassung erblickt der Beschwerdegegner darin, dass der Beschwerdeführer die Zuständigkeit des Bezirksgerichtspräsidenten von St. Gallen zur Anordnung der vorsorglichen Expertise nicht bestritten und inbezug auf diese materiell über die Sache verhandelt habe.
Die Frage, ob eine die Garantie des
Art. 59 BV
ausschliessende Einlassung vorliege, beurteilt sich unabhängig vom kantonalen Prozessrecht nach eidgenössischem Recht, d.h. nach der bundesgerichtlichen Praxis zu
Art. 59 BV
(
BGE 67 I 108
mit Zitaten,
BGE 68 I 163
). Nach dieser Praxis liegt eine solche Einlassung dann vor, wenn der Beklagte dem Gericht gegenüber unzweideutig den Willen bekundet hat, vorbehaltlos zur Hauptsache zu verhandeln (
BGE 46 I 248
,
BGE 52 I 134
,
BGE 57 I 23
,
BGE 67 I 108
,
BGE 68 I 162
; dass in den beiden letzten Urteilen nicht mehr von einer "unzweideutigen" Willenskundgebung die Rede ist, ist bedeutungslos und stellt keine Praxisänderung dar, da im ersten Falle eine solche Kundgebung offensichtlich vorlag, während sich im zweiten eine andere Frage stellte).
Daraus, dass nach der Praxis nur der Wille, zur Hauptsache zu verhandeln, beachtlich ist, folgt, dass jede Handlung oder Unterlassung des Beklagten vor der Erhebung der Klage unerheblich ist (BURCKHARDT a.a.O. S. 562, HAAS a.a.O. S. 51/52). Etwas anderes ist auch in den vom Beschwerdegegner angerufenen Urteilen
BGE 68 I 151
ff. und
BGE 69 I 85
ff. nicht gesagt. Das Bundesgericht
BGE 87 I 53 S. 59
hat daher von jeher angenommen, dass im Erscheinen und vorbehaltlosen Verhandeln vor dem Vermittler (Friedensrichter) kein Verzicht auf die Erhebung der Unzuständigkeitseinrede erblickt werden könne, weil es sich um ein blosses Aussöhnungsverfahren handelt (BGE 10 S. 42,
BGE 52 I 133
). Noch weniger als in der Einlassung auf das Sühneverfahren, dessen Durchführung nach kantonalem Prozessrecht meist Voraussetzung für die Anhebung des Hauptverfahrens ist, kann ein solcher Verzicht darin erblickt werden, dass der Beklagte sich auf die Durchführung einer vorsorglichen Expertise an einem andern Orte als an seinem Wohnsitz eingelassen hat. Die vorsorgliche Beweisaufnahme dient nicht wie das Sühneverfahren der Einleitung des Hauptverfahrens, sondern der "Sicherstellung gefährdeter Beweise" (vgl. das Marginale zu Art. 399 ff. st. gall. ZPO) und kann sich auch auf einen bloss möglichen Prozess, ja auf erst künftig entstehende Ansprüche beziehen (GULDENER a.a.O. S. 384 Ziff. 3 und Anm.11). Das Begehren um Anordnung einer vorsorglichen Expertise stellt keine Klage, sondern ein Gesuch um Beweisaufnahme dar (BGE 17 S. 314) und ist auch dann, wenn es sich auf einen späteren Forderungsprozess bezieht, keine "persönliche Ansprache" im Sinne von
Art. 59 BV
. Letzteres ist in
BGE 41 I 447
für die vorsorgliche Tatbestandsfeststellung gemäss
Art. 204 Abs. 2 OR
entschieden worden, muss aber auch für die in den kantonalen Zivilprozessordnungen vorgesehene Beweissicherung gelten. Ist aber das Begehren um vorsorgliche Beweisaufnahme keine persönliche Ansprache und kann der Gesuchsgegner die Zuständigkeit des damit angerufenen Richters nicht auf Grund von
Art. 59 BV
bestreiten, so kann in der Einlassung auf ein Beweissicherungsverfahren auch kein Verzicht auf die Garantie des
Art. 59 BV
für den späteren Forderungsprozess erblickt werden (vgl.
BGE 41 I 448
).
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass Art. 399 st. gall. ZPO für die Beweissicherung vor Anhängigmachung des Rechtsstreits nicht wie andere
BGE 87 I 53 S. 60
Prozessordnungen den Richter, in dessen Gerichtskreis sich das Beweisobjekt befindet oder der den Beweis am schnellsten erheben kann (vgl. die Zusammenstellung bei SCHLÄFLI, Die Sicherstellung gefährdeter Beweise S. 79 ff.), als zuständig erklärt, sondern - in wenig zweckmässiger Weise - den Richter, der "sich mit der Hauptsache befassen müsste". Die Frage, ob eine die Garantie des
Art. 59 BV
ausschliessende Einlassung vorliegt, beurteilt sich, wie bereits ausgeführt, unabhängig vom kantonalen Prozessrecht nach eidgenössischem Recht. Vom Gesichtspunkt dieses Rechts aus erscheint es aber nicht als angängig, die Einlassung auf ein vom späteren Hauptprozess völlig unabhängiges Vorverfahren wie das Beweissicherungsverfahren als Verzicht auf die Garantie von
Art. 59 BV
für den Hauptprozess aufzufassen. Selbst wenn der Beschwerdeführer die Zuständigkeitsbestimmung von Art. 399 st. gall. ZPO gekannt und nicht, wie er in der Replik behauptet, den st. gallischen Richter im Hinblick auf § 191 basellandsch. ZPO als zur Anordnung der vorsorglichen Expertise zuständig betrachtet haben sollte, könnte nicht angenommen werden, er habe damit den st. gallischen Gerichten gegenüber unzweideutig den Willen bekundet, sich ihnen auch in dem vom Beschwerdegegner in Aussicht genommenen späteren Forderungsprozess zu unterwerfen.
5.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Beschwerdeführer inbezug auf den vor Bezirksgericht St. Gallen gegen ihn angehobenen Forderungsprozess weder ausdrücklich noch durch schlüssiges Verhalten auf den Richter an seinem Wohnort verzichtet hat. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und die angefochtene Aufforderung zur Klagebeantwortung aufzuheben. | de |
09a1ece6-a6d4-4810-bd9a-a355ef98a6ba | Sachverhalt
ab Seite 178
BGE 119 II 177 S. 178
Am 19. August 1987 gewährte die M. Holding Anstalt in Vaduz A., B. und C. (Beklagte) je ein verzinsliches Darlehen, rückzahlbar in drei Raten per 30. Juni 1989, 30. Juni 1990 und 30. Juni 1991. Als Gerichtsstand für alle Streitigkeiten aus den Darlehensverträgen wurde Vaduz bestimmt und liechtensteinisches Recht anwendbar erklärt.
Mit schriftlicher Zessionserklärung vom 10. April 1990 trat die Darlehensgeberin die per 30. Juni 1990 fälligen Rückforderungen samt Zins für die Zeit vom 1. Juli 1989 bis 30. Juni 1990 an die X. AG (Klägerin) ab.
Am 23. Mai 1990 klagte die X. AG vor Bezirksgericht Oberrheintal gegen A., B. und C. auf Rückzahlung der noch ausstehenden Darlehensbeträge.
Dieses hiess mit Urteil vom 20. August/10. Dezember 1991 die Klage teilweise gut. Auf Berufung der Beklagten beschloss das Kantonsgericht St. Gallen am 8. Oktober 1992, auf die Klage nicht einzutreten, da ausschliesslicher Gerichtsstand Vaduz sei.
Das Bundesgericht weist eine Berufung der Klägerin ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Klägerin rügt eine Verletzung von
Art. 5 und
Art. 196 IPRG
. Die Vorinstanz weiche zu Unrecht vom Grundsatz der Nichtrückwirkung gemäss
Art. 196 Abs. 1 IPRG
und
Art. 1 SchlT ZGB
ab und gehe fälschlicherweise von einem auf Dauer angelegten Rechtsvorgang im Sinn von
Art. 196 Abs. 2 IPRG
aus. Sie übersehe dabei, dass es vorliegend nur um die Auslegung eines vor Inkrafttreten des IPRG abgeschlossenen Vertrags gehe, auf welchen das neue Recht keine Anwendung finde. Ebenso sei
Art. 5 Abs. 1 Satz 3 IPRG
nicht anwendbar.
a)
Art. 196 IPRG
enthält in Abs. 1 ein grundsätzliches Verbot der Rückwirkung des neuen Kollisionsrechts auf Sachverhalte und
BGE 119 II 177 S. 179
Rechtsvorgänge, die noch unter altem Recht entstanden und abgeschlossen sind. Demgegenüber unterstellt Abs. 2 neuem Recht jene Sachverhalte und Rechtsvorgänge, die zwar vor seinem Inkrafttreten entstanden, jedoch auf Dauer angelegt sind. Wie das Bundesgericht in
BGE 118 II 350
E. 2c ausführt, gibt diese Bestimmung insofern Probleme auf, als sie die Meinung aufkommen lassen könnte, es habe bei Dauerschuldverhältnissen ausnahmslos eine Aufspaltung der Anknüpfung für die Zeit vor dem Inkrafttreten des IPRG und diejenige nach ihm stattzufinden. Wie es sich damit verhält, braucht vorliegend nur in bezug auf die Gerichtsstandsvereinbarung geprüft zu werden.
b) Das Bundesgericht hatte sich bis anhin zur Frage des anwendbaren Rechts hinsichtlich einer Gerichtsstandsvereinbarung, die vor dem 1. Januar 1989 abgeschlossen wurde, aber erst nach diesem Datum zum Tragen kommt, noch nie zu äussern. Die gleiche Problematik stellt sich indessen auch bei Schiedsabreden. Dazu wird mehrheitlich anerkannt, dass die Übergangsbestimmungen von
Art. 196 ff. IPRG
- unter Beizug des bestehenden bundesrechtlichen Übergangsrechts zur Auslegung der unklar formulierten IPRG-Übergangsbestimmungen (
BGE 115 II 101
) - auch auf das 12. Kapitel des IPRG über die Internationale Schiedsgerichtsbarkeit (
Art. 176 ff. IPRG
) Anwendung finden (vgl. etwa BUCHER, Die neue internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, S. 33 N. 66; KNOEPFLER/SCHWEIZER, Précis de droit international privé suisse, S. 245 N. 800 ff.).
Nach WENGER (Welchem Recht unterstehen die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des IPR-Gesetzes hängigen Schiedsverfahren? ASA 6/1988, S. 309 ff., 310) gehören Schiedsabreden, die vor dem Inkrafttreten des IPRG abgeschlossen worden sind, im Sinn von
Art. 196 Abs. 2 IPRG
zu den vor Inkrafttreten dieses Gesetzes entstandenen, aber auf Dauer angelegten Sachverhalten resp. Rechtsvorgängen. die Entstehung und Wirkung solcher Vereinbarungen richten sich bis zum Inkrafttreten des IPRG nach bisherigem, danach jedoch nach neuem Recht (
Art. 196 Abs. 2 IPRG
; in diesem Sinn auch BUCHER, a.a.O., S. 34 N. 68 und 70; BLESSING, Intertemporales Recht zum 12. Kapitel IPRG, ASA 6/1988, S. 320 ff., 324, 339; POUDRET, Arbitrage international - Droit transitoire, ASA 6/1988, S. 304 f.; ROSSEL, Le champ d'application dans le temps des règles sur l'arbitrage international contenues dans le chapitre 12 de la loi fédérale sur le droit international privé, ASA 6/1988, S. 292 ff., 301; SCHNYDER, Das neue IPR-Gesetz, 2. Aufl. 1990, S. 151 f.). Dieser Ansicht ist zuzustimmen;
BGE 119 II 177 S. 180
sie steht auch nicht in Widerspruch zum übrigen Übergangsrecht. Insbesondere scheint es sachgerecht, die Gültigkeit von Schiedsabreden von deren Wirkungen zu trennen, wenn die Abrede vor dem 1. Januar 1989 abgeschlossen worden ist, aber erst nach diesem Datum zur konkreten Anwendung gelangt. Die gleichen Grundsätze hat das Bundesgericht auch in
BGE 115 II 390
ff. angewendet.
Was für die Schiedsabrede übergangsrechtlich gilt, hat folglich auch für die Gerichtsstandsvereinbarung zu gelten. Demnach richtet sich die Frage der Gültigkeit einer Vereinbarung (etwa Konsens, Willensmängel und persönliche Voraussetzungen zum Abschluss einer gültigen Gerichtsstandsvereinbarung; dazu HANS REISER, Gerichtsstandsvereinbarungen nach dem IPR-Gesetz, Diss. Zürich 1989, S. 66 ff.) nach altem Recht, das heisst dem Recht im Zeitpunkt der Vereinbarung. Die Folgewirkungen dieses Singulärereignisses unterstehen dem neuen Recht, soweit sie sich nach dem 1. Januar 1989 verwirklicht haben. Zu diesen Wirkungen gehört auch die Frage nach dem Inhalt der Gerichtsstandsvereinbarung, insbesondere jene, ob der vereinbarte Gerichtsstand ausschliesslich sei oder nicht.
c) Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ist die Gerichtsstandsvereinbarung in Ziff. 6 Abs. 1 der Darlehensverträge vom 19. August 1987 gültig zustande gekommen. Danach haben die Parteien vereinbart, Gerichtsstand für alle Streitigkeiten aus diesen Verträgen sei Vaduz.
Das Kantonsgericht wendet nun zu Recht das neue IPRG an. Wesentlich ist, dass die Wirkungen der 1987 abgeschlossenen Vereinbarung erst nach dem 1. Januar 1989 eingetreten sind: Die Klage wurde im Mai 1990 vor dem derogierten Gericht anhängig gemacht, was die Beklagten veranlasste, die Unzuständigkeitseinrede zu erheben. Dass die Gerichtsstandsvereinbarung ungültig sei, wird von den Parteien nicht geltend gemacht. Entgegen der Auffassung der Klägerin beurteilt sich die Gerichtsstandsvereinbarung kollisionsrechtlich unabhängig vom Darlehensvertrag und steht nicht im Zusammenhang mit der übrigen Vertragsauslegung. Vorliegend traten deren Wirkungen erst 1990 mit der Klageeinleitung ein, weshalb neues Recht massgebend ist.
d) Nach
Art. 5 Abs. 1 Satz 3 IPRG
ist das vereinbarte Gericht ausschliesslich zuständig, sofern aus der Gerichtsstandsvereinbarung nichts anderes hervorgeht. Eine Prorogation ist aber nur insoweit zulässig, als sie einer Partei einen Gerichtsstand des schweizerischen Rechts nicht missbräuchlich entzieht (
Art. 5 Abs. 2 IPRG
; HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht,
BGE 119 II 177 S. 181
2. Aufl. 1990, S. 128 N. 233; SCHNYDER, a.a.O., S. 24 Ziff. 4; KNOEPFLER/SCHWEIZER, a.a.O., S. 198 N. 612 und 614; REISER, a.a.O., S. 111 ff.). Nach herrschender Ansicht regelt
Art. 5 Abs. 1 IPRG
neben der Prorogation eines schweizerischen Gerichts auch die Derogation, das heisst die Vereinbarung der Unzuständigkeit eines international zuständigen schweizerischen Gerichts (HABSCHEID, a.a.O., S. 128 N. 233; VON OVERBECK, Les élections de for selon la loi fédérale sur le droit international privé du 18 décembre 1987, FS Max Keller, Zürich 1989, S. 616). Anderer Ansicht ist REISER (a.a.O., S. 25); danach statuiere
Art. 5 Abs. 1 IPRG
einzig die Prorogation, wogegen die Derogation sich aus
Art. 1 Abs. 1 und 2 IPRG
e contrario ergebe. Dass
Art. 5 Abs. 1 IPRG
ebenfalls die Derogation erfasst, ergibt sich implizite auch aus der Botschaft zum neuen IPRG. Artikel 5 sei hinsichtlich der Vereinbarung einer ausländischen Behörde insoweit von Bedeutung, als das allenfalls (fälschlicherweise) angerufene schweizerische Gericht seine Zuständigkeit gestützt auf diese Bestimmung ablehnen könne (Botschaft zum IPR-Gesetz vom 10. November 1982, BBl 1983 I 263ff., 301). Dass neben dem prorogierten Gericht subsidiär auch die Zuständigkeit des natürlichen Richters des Beklagten gegeben sein soll, sei ausdrücklich zu vereinbaren (BBl 1983 I 301). Indem der Gesetzgeber das vereinbarte Gericht als ausschliesslich zuständig bezeichnet, wendet er sich gegen die altrechtliche Praxis, wonach in Zweifelsfällen der ordentliche Gerichtsstand am Wohnsitz des Beklagten nicht ausgeschlossen war (
BGE 89 I 69
; dazu auch GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 105 Anm. 100; VON OVERBECK, a.a.O., S. 612, 619; vgl. auch GABRIELLE KAUFMANN-KOHLER, La clause d'élection de for dans les contrats internationaux, Diss. Basel 1979, S. 105 f., 110 f.). Die Unsicherheit über den massgeblichen Gerichtsstand bei einer Gerichtsstandsvereinbarung wurde damit beseitigt, ebenso jene über die Zulässigkeit der Prorogation eines Gerichtsstands. Diese beurteilte sich unter dem Regime des alten Rechts nach kantonalem Recht, selbst dann, wenn ein dispositiver Gerichtsstand des Bundesrechts wegbedungen wurde oder Streitverhältnisse einen internationalen Bezug aufwiesen (
BGE 116 II 625
mit weiteren Hinweisen; VON OVERBECK, a.a.O., S. 611).
Wird nun das derogierte Gericht angerufen und unter Berufung auf die Prorogation die Unzuständigkeitseinrede erhoben, so hat dieses nach seinem eigenen Recht darüber zu entscheiden, ob die Derogation zulässig gewesen und wirksam erfolgt ist (WALDER, Einführung in das Internationale Zivilprozessrecht der Schweiz, § 5
BGE 119 II 177 S. 182
N. 24; GULDENER, a.a.O., S. 96). Bei fehlender Zuständigkeit darf auf die Sache nicht eingetreten werden (SCHWANDER, Einführung in das internationale Privatrecht, 2. Aufl. 1990, S. 316 Rz. 676).
e) Nach dem Gesagten betrachtet das Kantonsgericht die Gerichtsstandsvereinbarung zu Recht als ausschliesslich im Sinn von
Art. 5 Abs. 1 Satz 3 IPRG
. die Vereinbarung entspricht der üblichen Formulierung und enthält keinen Vorbehalt zugunsten eines subsidiären Gerichtsstands am Wohnsitz des Beklagten. Es geht unter dem Regime des IPRG nicht an anzunehmen, im Fall einer gültigen Gerichtsstandsvereinbarung könne die Klage gleichwohl am ordentlichen Gerichtsstand erhoben werden. Die Rüge der Klägerin ist daher unbegründet.
Die Voraussetzungen, unter denen eine ausländische Behörde die Prorogation annimmt, richten sich nach der betreffenden lex fori (BBl 1983 I 301). Ob die Gerichtsstandsvereinbarung nach liechtensteinischem Recht gültig ist und dessen Formerfordernissen entspricht, ist vom Bundesgericht in einem Berufungsverfahren über vermögensrechtliche Streitigkeiten nicht zu prüfen (
Art. 43 Abs. 1 und
Art. 43a Abs. 2 OG
). Die Klägerin macht auch nicht geltend, der angefochtene Entscheid wende nicht ausländisches Recht an, wie es das internationale Privatrecht vorschreibe (
Art. 43a Abs. 1 lit. a OG
). | de |
a6a8308d-ba5a-48d5-ad15-87191a08ada7 | Sachverhalt
ab Seite 134
BGE 128 II 133 S. 134
A.-
S., wohnhaft im Kanton Aargau, fuhr am 21. November 1997, um 09.45 Uhr mit seinem Personenwagen Mercedes-Benz S 600, in D-Hartheim, auf der A5 von Basel in Richtung Karlsruhe mit einer Geschwindigkeit von 198 km/h (nach Abzug der Toleranz). Damit überschritt er die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 78 km/h. Er hat den Tatbestand der Geschwindigkeitsüberschreitung anerkannt.
B.-
Mit Bussgeldbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Zentrale Bussgeldstelle Bretten, vom 19. Januar 1998 wurde S. zu einer Busse von DM 500.- verurteilt. Ausserdem wurde er mit vier Punkten im Verkehrszentralregister des Kraftfahrtbundesamtes in Flensburg eingetragen. Auf den Entzug des Führerausweises (Fahrverbot nach deutschem Recht) verzichtete die Behörde ausdrücklich. Der Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
Wegen des Vorfalls vom 21. November 1997 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau dem Lenker am 9. Juli 1998 den Führerausweis für alle Kategorien von Motorfahrzeugen für die Dauer von vier Monaten.
Das Departement des Innern des Kantons Aargau wies eine gegen den Führerausweisentzug gerichtete Beschwerde am 13. Dezember 1999 ab.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 4. Kammer, hiess am 13. März 2001 eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde von S.
BGE 128 II 133 S. 135
teilweise gut und entzog ihm den Führerausweis gestützt auf
Art. 16 Abs. 3 und
Art. 17 SVG
(SR 741.01) für die Dauer von drei Monaten.
C.-
S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid vom 13. März 2001 sei aufzuheben. Es sei von einer Massnahme abzusehen; eventuell sei eine Verwarnung, subeventuell ein Führerausweisentzug von zwei Wochen und subsubeventuell ein Führerausweisentzug von einem Monat auszusprechen. Ferner sei eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, zu welcher der Beschwerdeführer einzuladen sei.
D.-
Das Verwaltungsgericht verzichtet unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesamt für Strassen beantragt sinngemäss Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Auf Ersuchen des Bundesgerichtes erstattete es überdies einen Amtsbericht zur Frage der Auswirkungen des Europäischen Übereinkommens über den Entzug der Fahrerlaubnis auf das schweizerische Recht.
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Im kantonalen Verfahren hat der Beschwerdeführer geltend gemacht, es sei zu berücksichtigen, dass er bereits in Deutschland bestraft worden sei, weshalb eine weitere Bestrafung für dasselbe Vergehen nach dem Grundsatz "ne bis in idem" verboten sei. Zudem sei er in Deutschland mit einer Administrativmassnahme, nämlich mit vier Strafpunkten im zentralen Verkehrsregister in Flensburg, belegt worden. Andererseits habe die deutsche Behörde von einem Führerausweisentzug ausdrücklich abgesehen. Der Führerausweisentzug in der Schweiz stelle somit eine zusätzliche, drakonische Massnahme dar.
b) aa) Nach ständiger und langjähriger Rechtsprechung des Bundesgerichts verletzt die im schweizerischen Recht vorgesehene Zweispurigkeit der Verfahren nach Strassenverkehrsdelikten den Grundsatz "ne bis in idem" nicht (letztmals
BGE 125 II 402
E. 1). Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat diese Regelung als mit der EMRK (SR 0.101) konform bestätigt (vgl. den Entscheid des Gerichtshofes Nr. 31982/96 i.S. T. c. Schweiz, publ. in: VPB 64/2000 Nr. 152 S. 1391 f.). Während der Strafrichter über die strafrechtlichen Sanktionen Busse und Haftstrafe befindet, entscheidet die zuständige Administrativbehörde über die Administrativmassnahmen der Verwarnung und des Führerausweisentzuges. Obwohl der Führerausweisentzug eine gewisse Strafähnlichkeit aufweist, handelt es sich bei
BGE 128 II 133 S. 136
dieser Sanktion wesentlich um eine im Verwaltungsverfahren ausgesprochene Massnahme, welche primär die Erziehung des Fehlbaren, nicht dessen Bestrafung bezweckt. Es kann deshalb nicht davon die Rede sein, der Betroffene werde, wenn er für ein Verkehrsdelikt strafrechtlich belangt worden ist, mit dem Führerausweisentzug ein zweites Mal für dasselbe Verhalten bestraft.
bb) Nicht anwendbar ist der Grundsatz "ne bis in idem" auf den Umstand, dass gegebenenfalls vom Tatortstaat und von der zuständigen schweizerischen Behörde für ein Verkehrsdelikt im Ausland eine Administrativmassnahme ausgesprochen wird. Dieser Grundsatz bezieht sich allein auf die strafrechtliche Verfolgung von Delikten. Allerdings müssen die auf Grund der bestehenden Doppelspurigkeit ausgesprochenen Sanktionen in ihrer Gesamtheit schuldangemessen sein und dürfen nicht zu einer verkappten Doppelbestrafung führen (
BGE 123 II 464
E. 2).
4.
a) Formell beruht die Rechtsprechung, wonach die schweizerische Behörde eine Administrativmassnahme zu prüfen und gegebenenfalls zu verfügen hat, wenn eine Administrativmassnahme vom Tatortstaat verhängt worden ist, auf
Art. 16 Abs. 2 und Abs. 3 SVG
sowie auf Art. 30 Abs. 2 und Abs. 4 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51). In materieller Hinsicht liegt der Regelung von
Art. 30 Abs. 4 VZV
folgender Gedanke zu Grunde:
Begeht eine Person mit schweizerischem Wohnsitz im Ausland ein Strassenverkehrsdelikt, so kann der Tatortstaat eine Administrativmassnahme allein mit Wirkung für das eigene Staatsgebiet erlassen, Führerausweisentzüge sind nur möglich in Bezug auf die Fahrberechtigung im Tatortstaat; der schweizerische Fahrausweis kann als solcher vom Tatortstaat nicht entzogen werden. Das bedeutet, dass die Massnahme, welche primär der Erziehung des Fehlbaren dienen sollte, bei Personen, die nicht regelmässig im Tatortstaat mit ihrem Fahrzeug unterwegs sind, nur eine sehr begrenzte Wirkung zu entfalten vermag. Aus diesem Grund hat die zuständige schweizerische Behörde gemäss
Art. 30 Abs. 4 VZV
und ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung im Falle eines Ausweisentzugs durch einen Drittstaat und bezogen auf die Fahrberechtigung in diesem Drittstaat zu prüfen, ob diese Massnahme auch mit Wirkung für die Schweiz zu verfügen und deshalb, den ausländischen Entscheid ergänzend, der schweizerische Fahrausweis zu entziehen sei. Vom Ausland angeordnete Administrativmassnahmen können und
BGE 128 II 133 S. 137
sollen in der Regel also nach Massgabe des schweizerischen Rechts mit Wirkung für den schweizerischen Führerausweis übersetzt und nachvollzogen werden. An dieser Praxis ist festzuhalten (vgl. auch
BGE 123 II 464
E. 2d mit Hinweis auf
BGE 123 II 97
E. 2c).
b) Im Entscheid
BGE 123 II 464
ist das Bundesgericht in Konkretisierung der genannten Rechtsprechung in Bezug auf diesen Punkt jedoch einen Schritt weiter gegangen und hat in einem Fall, in dem der Tatortstaat von einem Führerausweisentzug abgesehen hatte, den Entzug des schweizerischen Führerausweises für die gesetzliche Minimaldauer von einem Monat als rechtmässig erachtet. Neben der grundsätzlichen Erwägung zu
Art. 34 Abs. 4 VZV
, welcher nur die bereits etablierte Praxis zum Führerausweisentzug für den Regelfall aufnehme, liess sich das Bundesgericht vor allem vom Gedanken leiten, dass sich die nationalen gesetzlich vorgesehenen Sanktionen bei Strassenverkehrsdelikten erheblich unterscheiden und die Übertragung ins schweizerische Recht und mit Geltung für die Schweiz deshalb nicht einfach sei. Fallbezogen erachtete es deshalb den Entzug des schweizerischen Führerausweises für die gesetzliche Minimalfrist von einem Monat im Hinblick auf die von der deutschen Behörde verfügte Eintragung von drei Strafpunkten im Verkehrszentralregister als angemessen.
c) In der Folge dieses Entscheides sind die zuständigen schweizerischen Behörden dazu übergegangen, bei Strassenverkehrsdelikten im Ausland den Fahrzeugführern mit Wohnsitz in der Schweiz den Führerausweis routinemässig zu entziehen, wenn er nach schweizerischer Gerichtspraxis für das nämliche Delikt im Inland entzogen worden wäre. Der Ausgang des Administrativverfahrens im Tatortstaat war dabei nicht mehr von Belang. So konnte es geschehen, dass die schweizerische Behörde einen Geschwindigkeitsexzess auf einer deutschen Autobahn als grobe Verkehrsregelverletzung qualifizierte - weshalb der Führerausweis zu entziehen war -, obwohl die deutsche Behörde in demselben Verhalten lediglich eine Ordnungswidrigkeit zu erkennen vermochte.
d) Würde diese Praxis allein unter dem Gesichtspunkt der Strafähnlichkeit eines Führerausweisentzuges betrachtet, müsste sie als bedenklich erscheinen, zumal wenn in der Schweiz der Führerausweis entzogen wird, obwohl der Tatortstaat diese Massnahme selbst explizit geprüft, aber verworfen hat: Die Schweiz würde so ein Verhalten sanktionieren, das vom Tatortstaat bereits abschliessend milder sanktioniert worden ist.
BGE 128 II 133 S. 138
Mit ein wesentlicher Grund dafür, dass das Bundesgericht auf die im Entscheid
BGE 123 II 464
begründete Praxis zurückkommt, liegt jedoch darin, dass innerhalb der Europäischen Union die Umsetzung von Führerausweisentzügen durch den Wohnsitzstaat des fehlbaren Lenkers vertraglich geregelt wurde und der Bundesrat ausserdem am 21. November 2001 bekannt gegeben hat, das nationale Führerausweisrecht mit dem europäischen harmonisieren zu wollen (vgl. Übereinkommen der EU über den Entzug der Fahrerlaubnis vom 17. Juni 1998, publ. in Amtsblatt Nr. C 216 vom 10. Juli 1998, S. 2-12; Begleitschreiben des Vorstehers UVEK vom 21. November 2001 zur Vernehmlassung zur Teilrevision des Strassenverkehrsrechtes). Das europäische Übereinkommen statuiert folgende Grundregel: Die durch europäische Drittstaaten als Tatortstaaten verfügten Führerausweisentzüge können und sollen durch den Wohnsitzstaat übernommen oder gerichtlich nachvollzogen werden, der Wohnsitzstaat darf jedoch mit der von ihm verfügten Massnahme nicht über das Sanktionsmass hinausgehen, das vom Tatortstaat festgesetzt worden ist.
Die schweizerische Verwaltungs- und Gerichtspraxis, wonach bei Strassenverkehrsdelikten im Ausland der schweizerische Führerausweis entzogen werden kann, auch wenn der Tatortstaat von dieser Massnahme abgesehen hat, ist im europäischen Umfeld singulär. Aus den genannten Gründen kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der schweizerische Nachvollzug einer vom Ausland verfügten Massnahme durch die Art der ausländischen Massnahme begrenzt wird: Der schweizerische Führerausweis darf deshalb nur noch entzogen werden, wenn auch der Tatortstaat die Fahrberechtigung für sein Staatsgebiet entzogen hat, eine Verwarnung darf nur noch ausgesprochen werden, wenn auch der Tatortstaat eine der schweizerischen Verwarnung entsprechende Massnahme verfügt hat. Dazu bleibt anzumerken, was folgt:
e) Die nationalen Systeme gesetzlich vorgesehener Administrativmassnahmen unterscheiden sich teilweise erheblich. Gewisse Länder kennen Verkehrszentralregister, in welchen nach Geschwindigkeitsexzessen oder anderen Strassenverkehrsdelikten Strafpunkte eingetragen oder Bonuspunkte abgezogen werden. Die Schweiz kennt als leichteste Administrativmassnahme nur die Verwarnung. Die zuständigen schweizerischen Behörden haben deshalb nach pflichtgemässem Ermessen zu prüfen, ob nach einem Auslanddelikt, für das der Tatortstaat eine dem schweizerischen Rechtssystem fremde Administrativmassnahme verfügt hat, in der
BGE 128 II 133 S. 139
Schweiz eine Verwarnung auszusprechen ist. Voraussetzung für eine allfällige Verwarnung ist dabei lediglich, dass der Tatortstaat überhaupt eine Administrativmassnahme angeordnet hat; nicht erforderlich ist hingegen, dass die ausländische Administrativmassnahme nach schweizerischem Recht bereits eine Verwarnung darstellt.
Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer mit seinem Verhalten die deutschen Behörden veranlasst, vier Strafpunkte im Verkehrszentralregister einzutragen. Er ist deshalb nach schweizerischem Recht zu verwarnen.
f) Die Einschränkung des Führerausweisentzuges nach Auslanddelikten betrifft nur den Warnungsentzug. Stellt eine Person mit Wohnsitz in der Schweiz mit ihrem Verkehrsverhalten im Ausland ihre Fahreignung in Frage, steht es den schweizerischen Behörden nach wie vor frei, einen Sicherungsentzug des Führerausweises zu prüfen und gegebenenfalls anzuordnen (vgl. dazu auch Art. 5 des europäischen Übereinkommens über den Entzug der Fahrerlaubnis).
5.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Verletzt eine Person mit Schweizer Wohnsitz Verkehrsregeln im Ausland, so kann die zuständige inländische Administrativbehörde einen Warnungsentzug des Führerausweises nur aussprechen, wenn die Fahrberechtigung auch vom Tatortstaat entzogen wird. Diese Einschränkung gilt nicht für den Sicherungsentzug des Führerausweises. Erlässt der Tatortstaat neben der strafrechtlichen Sanktion eine andere Administrativmassnahme als den Entzug des Führerausweises (Verwarnung, Strafpunkte in einem Verkehrsregister o.ä.), so prüft die zuständige inländische Behörde mit pflichtgemässem Ermessen, ob eine Verwarnung auszusprechen ist. | de |
5be05810-b2b9-4202-99cc-3b2a6c3c5e6b | Sachverhalt
ab Seite 225
BGE 146 III 225 S. 225
A.
A.a
Merck KGaA (Klägerin 1, Beschwerdeführerin 1) ist eine deutsche Gesellschaft mit Sitz in Darmstadt, Deutschland. Sie ist für das operative Geschäft der klägerischen Merck-Gruppe zuständig und betreibt dieses unter der Bezeichnung "Merck" unter anderem auch in der Schweiz. Sie beliefert den Markt über ihre Tochtergesellschaften.
BGE 146 III 225 S. 226
Merck (Schweiz) AG (Klägerin 2, Beschwerdeführerin 2) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Zug. Sie ist eine Tochtergesellschaft der Klägerin 1 und bezweckt unter anderem den Vertrieb von Pharmazeutika sowie Diagnostika.
Die Klägerin 1 verfügt in der Schweiz über verschiedene im Markenregister eingetragenen Marken mit "Merck" als Bestandteil oder in Alleinstellung, unter anderem für medizinische, chemische und verwandte Produkte.
A.b
Bei Merck & Co. Inc. (Beklagte 1, Beschwerdegegnerin 1) handelt es sich um eine an der New York Stock Exchange (NYSE) kotierte US-Gesellschaft mit Sitz in Kenilworth im Bundesstaat New Jersey. Sie bezweckt diverse Aktivitäten von der Entwicklung bis zur Vermarktung, insbesondere von pharmazeutischen Produkten. Das operative Geschäft und ihre Aussendarstellung im Internet hat sie an ihre US-amerikanische Tochtergesellschaft Merck Sharp & Dohme Corp. (Beklagte 2, Beschwerdegegnerin 2) delegiert.
Als Tochtergesellschaft der Beklagten 2 bezweckt die MSD Merck Sharp & Dohme AG, Zug, (Beklagte 3, Beschwerdegegnerin 3) unter anderem die Produktion, den Kauf und den Verkauf von pharmazeutischen Spezialitäten und Stoffen jeglicher Art auf dem human- und tiermedizinischen Gebiet sowie von Chemikalien jeglicher Art. Zwei weitere Konzerngesellschaften mit Sitz in der Schweiz (Beklagte 4 und 5, Beschwerdegegnerinnen 4 und 5) sind unter anderem für die Entwicklung neuer Medikamente sowie den Produktvertrieb und die Durchführung diagnostischer Untersuchungen verantwortlich.
Den Beklagten stehen in den USA und in Kanada verschiedene Kennzeichenrechte an "Merck" zu.
A.c
Die Vorgeschichte der Streitigkeit reicht weit zurück. Beide Seiten haben ihren Ursprung in derselben Familienunternehmung. Die 1668 in Darmstadt, Deutschland, gegründete Vorgängerin der Klägerin 1 expandierte Ende des 19. Jahrhunderts in die USA und gründete dort 1890 als US-Zweigniederlassung die Beklagte 2, die damals Merck & Co. hiess. Während des Ersten Weltkriegs beschloss die US-Regierung den Trading with the Enemy Act, auf dessen Grundlage die Familie Merck 1918 ihrer Anteile an der Beklagen 2 enteignet wurde. 1919 erwarb der inzwischen US-Staatsbürger gewordene George W. Merck die Anteile von der US-Regierung zurück.
Seit Ende des Ersten Weltkriegs existieren zwei unabhängige Pharmakonzerne, die beide in den Firmenbezeichnungen ihrer Gesellschaften das Zeichen "Merck" führen.
BGE 146 III 225 S. 227
A.d
Die Beklagten verfügen neben "merck.com" unter anderem über verschiedene weitere Internetpräsenzen mit den Bestandteilen "merck" und ".com", die alle in der Schweiz abrufbar sind.
Die Klägerinnen sahen in den Internet- und Social Media-Präsenzen der Beklagten Kennzeichenverletzungen und verlangten die Einschränkung der Internetseiten in der Schweiz mittels Geotargeting. Die Beklagten machten im Wesentlichen geltend, dass der Inhalt der entsprechenden Internet- und Social Media-Präsenzen gar nicht erst eine Kennzeichennutzung in der Schweiz darstelle.
B.
Mit Eingabe vom 6. April 2016 erhoben die Klägerinnen beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage und beantragten, den Beklagten sei unter anderem zu verbieten, über die Domain "merck.com" und weitere mit dem Bestandteil "merck" gekennzeichnete Unterseiten sowie Social Media-Präsenzen Inhalte für Anfragen zugänglich zu machen, die durch Personen in der Schweiz erfolgen. Zudem sei den Beklagten unter anderem zu verbieten, auf von ihnen betriebenen Internetpräsenzen, die Personen in der Schweiz zugänglich gemacht werden, "Merck" und ähnliche Zeichen zur Kennzeichnung ihrer Unternehmen oder zur Anpreisung ihrer Produkte zu verwenden.
Die Beklagten widersetzten sich der Klage.
Mit Urteil vom 27. Mai 2019 wies das Handelsgericht des Kantons Zürich die Klage grösstenteils ab, soweit es darauf eintrat. Es erwog insbesondere, die Internetpräsenz "merck.com" der Beklagten richte sich nicht bestimmungsgemäss an Schweizer Nutzer, weshalb das beantragte Verbot bereits mangels genügenden Bezugs zur Schweiz abzuweisen sei. Auch die weiteren im Rechtsbegehren aufgeführten Domainnamen seien in der Schweiz nicht bestimmungsgemäss abrufbar. Gleiches gelte für die Social Media-Kanäle.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragen die Klägerinnen dem Bundesgericht, es sei das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Mai 2019 - soweit dieses die Klage abwies - aufzuheben und es seien ihre Klagebegehren im Wesentlichen gutzuheissen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück.
(Zusammenfassung) Erwägungen
BGE 146 III 225 S. 228
Aus den Erwägungen:
3.
Die Beschwerdeführerinnen stellen sich in erster Linie auf den Standpunkt, die blosse Abrufbarkeit einer Webseite oder Social Media-Präsenz in der Schweiz sei entgegen dem angefochtenen Entscheid ausreichend, um einen Kennzeichengebrauch in der Schweiz zu begründen.
3.1
Die Vorinstanz erwog, sämtliche von den Beschwerdeführerinnen angerufenen Rechtsbehelfe (gestützt auf Marken-, Firmen-, Namens- und Lauterkeitsrecht) setzten einen Kennzeichengebrauch in der Schweiz voraus. Es rechtfertige sich folglich eine gesamtheitliche Betrachtungsweise. Da es sich beim Internet um ein weltweites Medium handle, auf das von der ganzen Welt zugegriffen werden könne, sei mit der herrschenden Lehre die blosse Abrufbarkeit einer Internetseite nicht als genügender Bezug zur Schweiz anzuerkennen, sondern es seien weitere Anhaltspunkte zu fordern. Nach dem Kriterium der
bestimmungsgemässen
Abrufbarkeit sei massgebend, ob die Seite aufgrund objektiver Anhaltspunkte auf das betreffende Land ausgerichtet sei. Die subjektive Sichtweise sei dann zu beachten, wenn sie objektiv auf der Seite oder einem Pop-Up-Fenster festgehalten werde. Werde eine Internetseite unter einer schweizerischen Top-Level-Domain (TLD) betrieben, d.h. mit dem Bestandteil ".ch", sei grundsätzlich ohne Weiteres von einer bestimmungsgemässen Abrufbarkeit in der Schweiz auszugehen, indiziere doch bereits das Landeskürzel einen schweizerischen Bezug. Handle es sich demgegenüber um eine TLD mit der Endung ".com", so sei entscheidend, ob sich die Internetseite in objektiver Hinsicht an Nutzer in der Schweiz richte.
3.2
Die Beschwerdeführerinnen bringen vor, in zwei im angefochtenen Entscheid aufgeführten Entscheiden zum Lauterkeits- und Namensrecht (Urteile 4A_92/2011 vom 9. Juni 2011 E. 2; 4A_741/2011 vom 11. April 2012 E. 2, nicht publ. in:
BGE 138 III 337
, aber in: Pra 2012 131 937) gehe das Bundesgericht in Bezug auf Internetsachverhalte davon aus, dass ein Ereignis dann in der Schweiz stattfinde, wenn potenzielle Kunden mit Wohnsitz in der Schweiz auf die beanstandete Website zugreifen könnten. Vorliegend sei unbestritten, dass potenzielle Kunden mit Wohnsitz in der Schweiz auf sämtliche streitgegenständlichen Internet-Präsenzen zugreifen könnten. Im Lichte dieser Rechtsprechung sei die Verneinung einer namens-
BGE 146 III 225 S. 229
und lauterkeitsrechtlichen Handlung auf Grundlage des erstellten Sachverhalts klar bundesrechtswidrig.
In einem kürzlich ergangenen Entscheid (Urteil 4A_590/2018 vom 25. März 2019 E. 4) habe das Bundesgericht zudem die Verletzung schweizerischer Firmenrechte durch die Verwendung einer ".com"-Adresse mit der Begründung bejaht, dass derartige Websites in der Schweiz abgerufen werden könnten und sich auch an das Schweizer Publikum richteten. Gleiches müsse auch unter markenrechtlichen Gesichtspunkten gelten, seien doch in diesem Punkt keine wesentlichen Unterschiede zwischen Firmenrecht und Markenrecht ersichtlich.
Es sei vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung heutzutage in jeder Hinsicht sachlich gerechtfertigt, bereits bei Abrufbarkeit einer Internetpräsenz von einer Kennzeichennutzung in der Schweiz auszugehen. Anders als noch zu Beginn des Internetzeitalters Ende des letzten Jahrtausends seien Geoblocking-Massnahmen heute alltäglich und zumindest Weltkonzernen wie den Beschwerdegegnerinnen ohne Weiteres zumutbar. Die früheren Diskussionen um die bestimmungsgemässe Abrufbarkeit seien vor dem Hintergrund des damals noch globalen Charakters des Internets zu sehen. Vor diesem Hintergrund verletze die Vorinstanz Bundesrecht, indem sie für die Annahme eines Kennzeichengebrauchs in der Schweiz eine bestimmungsgemässe Abrufbarkeit in der Schweiz verlange. Sie verneine damit zu Unrecht das Vorliegen eines Gebrauchs in der Schweiz bzw. eines sich in der Schweiz auswirkenden Gebrauchs, der Voraussetzung einer tatbestandsmässigen Handlung im Sinne von
Art. 13 MSchG
(SR 232.11),
Art. 956 Abs. 2 OR
,
Art. 29 Abs. 2 ZGB
und
Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG
(SR 241) sei. Dies gelte für sämtliche Rechtsbegehren, welche die Vorinstanz mit der Begründung abweise, die jeweiligen Präsenzen seien in der Schweiz nicht bestimmungsgemäss abrufbar.
3.3
Zwischen den Parteien ist strittig, ob die Beschwerdegegnerinnen mit ihren Internetpräsenzen schweizerisches materielles Kennzeichenrecht verletzen. Die Behauptungen der Beschwerdeführerinnen beschränken sich auf Verletzungen in der Schweiz, weshalb die Vorinstanz zutreffend prüfte, ob eine Kennzeichenverletzung in der Schweiz vorliegt.
3.3.1
Entgegen dem, was die Beschwerdeführerinnen anzunehmen scheinen, besteht zur konkret zu beurteilenden Frage keine gefestigte
BGE 146 III 225 S. 230
Rechtsprechung. Die von ihnen ins Feld geführten Urteile betreffen anders gelagerte Sachverhalte und Rechtsfragen, weshalb sie nicht unmittelbar einschlägig sind. Die Beschwerdeführerinnen anerkennen an anderer Stelle selber, dass die vorliegend relevante Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Das Bundesgericht hatte bisher nicht zu entscheiden, welche Voraussetzungen nach dem materiellen Recht bei der Verwendung von Kennzeichen im Internet in territorialer Hinsicht erfüllt sein müssen, damit eine Verletzung eines in der Schweiz geschützten Kennzeichens vorliegt. Während Informationen im Internet grundsätzlich weltweit verfügbar sind und grenzenlos fliessen, sind Immaterialgüterrechte territorial begrenzt, indem sie sich auf das Gebiet des Staates beschränken, der den betreffenden Schutz gewährt (TORSTEN BETTINGER, in: Handbuch des Domainrechts, Bettinger [Hrsg.], 2. Aufl., Köln/München 2017, Teil 4 Rz. 10; vgl. zum Territorialitätsprinzip etwa EUGEN MARBACH, Markenrecht, in: SIWR Bd. III/1, 2. Aufl. 2009, S. 10 Rz. 31 ff.; LUCAS DAVID, in: Basler Kommentar, Markenschutzgesetz, 3. Aufl. 2017, N. 2 Vor
Art. 1-46a MSchG
; THOUVENIN/NOTH, in: Markenschutzgesetz [MSchG], Noth/Bühler/Thouvenin [Hrsg.], 2. Aufl. 2017, Einleitung N. 88; CONRADIN MENN, Internet und Markenschutz, 2003, S. 20). Aufgrund der territorialen Beschränkung der Schutzrechte wird für die Bejahung einer Rechtsverletzung auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes eine "räumliche Beziehung" zur Schweiz vorausgesetzt (
BGE 113 II 73
E. 2a S. 75;
BGE 105 II 49
E. 1a S. 52).
Da Internetseiten grundsätzlich weltweit abruf- und wahrnehmbar sind, kann theoretisch überall eine Rechtsverletzung eintreten. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen liegt in der blossen Abrufbarkeit einer Internetseite jedoch noch kein rechtlich relevanter Gebrauch eines Kennzeichens in einem bestimmten Staat (GALLUS JOLLER, in: Handbuch des Domainrechts, Bettinger [Hrsg.], 2. Aufl. 2017, Köln 2017, Teil 2 Rz. CH 254; MARBACH, a.a.O., S. 11 Rz. 36). Würde bereits die blosse Wahrnehmbarkeit der Zeichennutzung im Internet in anderen Schutzterritorien als kennzeichenverletzende Benutzungshandlung betrachtet, hätte dies ohne Weiteres zeichenrechtliche Verbotsansprüche in diesen Rechtsordnungen zur Folge, obwohl sich das beanstandete (ausländische) Verhalten in den entsprechenden Gebieten womöglich gar nicht auswirkt. Die Konsequenz, dass jeder Verwender von Zeichen im Internet zur Vermeidung von Kennzeichenkollisionen zur Beachtung der jeweiligen Kennzeichenrechte in sämtlichen Staaten der Welt gezwungen wäre, wird allgemein als
BGE 146 III 225 S. 231
unzumutbar erachtet (BETTINGER, a.a.O., Teil 4 Rz. 5 f.; ALEXANDER PEUKERT, The Coexistence of Trade Mark Laws and Rights on the Internet, and the Impact of Geolocation Technologies, in: International Review of Intellectual Property and Competition Law [IIC] 2016/47 S. 75). Werden Kennzeichen im Internet verwendet, droht die Kollision nationaler Rechte: Während der Zeicheninhaber im Inland verhindern möchte, dass der Inhaber eines ausländischen verwechslungsfähigen Zeichens auch Verkehrskreise im Inland anspricht, muss er gleichzeitig befürchten, dass der eigene Internetauftritt im anderen Land verboten wird (JOSEF DREXL, Internationales Immaterialgüterrecht, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 12, Internationales Privatrecht II, 7. Aufl. 2018, IntImmGR N. 350).
Es ist daher zu Recht allgemein anerkannt, dass die blosse technische Möglichkeit, ein Zeichen im Internet abzurufen, nicht ausreicht, um als zeichenrechtlich relevante Benutzungshandlung im betreffenden Gebiet angesehen zu werden; vielmehr bedarf es zusätzlich einer qualifizierten Beziehung der Zeichennutzung zu einem bestimmten Gebiet, um eine virtuelle Nutzung einem Schutzland zuzuordnen und vom Geltungsbereich eines territorial beschränkten Schutzrechts erfasst zu werden (JOLLER, a.a.O., Teil 2 Rz. CH 254 ff.; MONDINI/ZOLLINGER-LÖW/BURI, Domain-Namen, in: Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, SIWR Bd. III/2, 3. Aufl. 2019, Rz. 717 S. 201; MARBACH, a.a.O., S. 11 f. Rz. 36 f.; BETTINGER, a.a.O., Teil 4 Rz. 6; FRANZ HACKER, in: Markengesetz, Ströbele/Hacker/Thiering [Hrsg.], 12. Aufl. 2018, § 14 Rz. 69; MENN, a.a.O., S. 49, 171). Es ist demnach erforderlich, die Reichweite der (territorial begrenzten) nationalen Schutzrechte im Internet genauer abzugrenzen (DREXL, a.a.O., IntImmGR N. 350).
3.3.2
Die Frage, wann ein hinreichender räumlicher Bezug vorliegt, stellt sich aufgrund der globalen Natur des Internets für jede Rechtsordnung. Aus diesem Grund haben die Weltorganisation für geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organisation, WIPO) und der Pariser Verband (Paris Union for the Protection of Industrial Property) im Jahre 2001 zum Schutz des geistigen Eigentums in einer gemeinsamen Empfehlung Kriterien für die Beurteilung des hinreichenden Inlandbezugs entwickelt (Joint Recommendation Concerning Provisions on the Protection of Marks, and Other Industrial Property Rights in Signs, on the Internet; nachfolgend: Joint Recommendation).
BGE 146 III 225 S. 232
Diese sind zwar nicht formell rechtsverbindlich, angesichts der grenzüberschreitenden Problematik ist jedoch ein international abgestimmter Lösungsansatz geboten, weshalb sie als Auslegungshilfe zu berücksichtigen sind (vgl. JOLLER, a.a.O., Teil 2 Rz. CH 258).
Artikel 2 der Joint Recommendation geht vom Grundsatz aus, dass die Benutzung eines Kennzeichens im Internet nur dann eine Benutzung im Schutzland darstellt, wenn sie in diesem Staat eine wirtschaftliche Auswirkung ("commercial effect") hat. Artikel 3 Abs. 1 enthält eine - nicht abschliessende - Auflistung von Umständen, die bei der Beurteilung eines hinreichenden wirtschaftlichen Bezugs zum betreffenden Gebiet zu berücksichtigen sind (vgl. etwa auch JOLLER, a.a.O., Teil 2 Rz. CH 257):
- (a) Umstände, die auf eine bereits bestehende geschäftliche Tätigkeit oder zumindest entsprechende Vorbereitungshandlungen des Zeichenverwenders im betreffenden Land hinweisen;
- (b) Ausmass und Charakter der geschäftlichen Tätigkeit des Zeichenverwenders im betreffenden Schutzland, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist, ob
(i) der Zeichenverwender tatsächlich Kunden im betreffenden Land beliefert oder ob andere Geschäftsbeziehungen bestehen;
(ii) im Zusammenhang mit der Verwendung des Zeichens im Internet darauf hingewiesen wird, dass der Zeichenverwender keine Lieferung der Produkte an Kunden im betreffenden Land liefert und dieser Absicht auch gefolgt wird;
(iii) Wartungs- und andere Nebenleistungen angeboten werden;
(iv) der Zeichenverwender weitere geschäftliche Tätigkeiten im Schutzland ausübt, die mit der Verwendung des Zeichens im Zusammenhang stehen, aber nicht über das Internet ausgeübt werden;
- (c) Verbindung eines Produktangebots im Internet mit dem betreffenden Staat, namentlich ob die Produkte in diesem Staat angeboten werden dürfen (i) und ob die Preise in der offiziellen Währung des Staats angegeben werden (ii).
- (d) Verbindung zwischen der Art des Zeichengebrauchs und dem betreffenden Staat, wie etwa ob
(i) das Zeichen im Zusammenhang mit interaktiven Kontaktmöglichkeiten verwendet wird, die Internetnutzern im betreffenden Land zugänglich sind;
(ii) Adresse, Telefonnummer oder andere Kontaktdaten im betreffenden Staat angegeben werden;
(iii) das Zeichen im Zusammenhang mit einem länderspezifischen Domainnamen (Country Code Domain) verwendet wird;
BGE 146 III 225 S. 233
(iv) der mit der Verwendung des Zeichens zusammenhängende Text in einer Sprache abgefasst ist, die im betreffenden Land vorwiegend verwendet wird;
(v) die betreffende Internetseite tatsächlich von Internetnutzern des betreffenden Landes besucht worden ist.
- (e) Verhältnis zwischen der Verwendung des Zeichens im Internet mit einem dafür bestehenden Kennzeichenrecht, namentlich ob der Gebrauch von diesem Recht erfasst wird (i) oder ob in unzulässiger Weise vom Goodwill eines fremden Kennzeichens profitiert bzw. dessen Unterscheidungskraft oder Ruf beeinträchtigt wird (ii).
Die erwähnten Faktoren können für die zur Diskussion stehende grenzüberschreitende Problematik der Zeichenverwendung im Internet als Hilfsmittel dienen. Massgebend für die Beurteilung eines hinreichenden wirtschaftlichen Bezugs zur Schweiz bleibt stets eine Gesamtwürdigung der konkreten Umstände (vgl. auch Artikel 3 Abs. 2 der Joint Recommendation). Dabei sind die Auswirkungen der Kennzeichenbenutzung auf die inländischen wirtschaftlichen Interessen des Rechtsinhabers zu berücksichtigen, wobei auch in Betracht fällt, ob und inwieweit der in Anspruch genommene einen Einfluss auf eine solche Beeinträchtigung hat (HACKER, a.a.O., § 14 Rz. 70 mit Hinweis auf die deutsche Rechtsprechung: Urteile des Bundesgerichtshofs [BGH] vom 9. November 2017 I, ZR 134/16, Rz. 37 mit Hinweisen und vom 8. März 2012 I ZR 75/10, Rz. 36). Zur Beurteilung, ob die Verwendung eines Zeichens im Internet einen hinreichenden wirtschaftlichen Bezug zur Schweiz aufweist, bedarf es in erster Linie einer Abwägung der Interessen des Nutzers des Kennzeichens und jener des Inhabers des inländischen Schutzrechts (MONDINI/ZOLLINGER-LÖW/BURI, a.a.O., Rz. 718 S. 202; BETTINGER, a.a.O., Teil 2 Rz. DE 1331; HACKER, a.a.O., § 14 Rz. 70).
3.3.3
Die Beschwerdeführerinnen weisen in diesem Zusammenhang auf die inzwischen bestehende Möglichkeit von sog. Geoblocking- bzw. Geotargeting-Massnahmen hin. Mit derartigen technischen Vorkehrungen wird anhand der IP-Adresse eines Internetnutzers und durch die Nutzung von Geo-IP-Datenbanken, die für eine Vielzahl von IP-Adressen Angaben über den geographischen Standort des Internetnutzers enthalten, der Standort eines Computers bestimmt und entschieden, ob der Inhalt freigegeben oder blockiert wird (BETTINGER, a.a.O., Teil 2 Rz. DE 1335). Inwiefern angesichts der Möglichkeit von Geoblocking-Massnahmen, mit denen der Inhaber einer Website die Abrufbarkeit in bestimmten Ländern ausschliesst, nicht
BGE 146 III 225 S. 234
mehr von einem grundsätzlich globalen Charakter des Internets auszugehen wäre, vermögen die Beschwerdeführerinnen mit ihren Ausführungen nicht aufzuzeigen. Ohne besondere Vorkehrungen sind Internetseiten nach wie vor weltweit abrufbar und es besteht - wie die Beschwerdegegnerinnen zutreffend einwenden - ein erhebliches Interesse der Internetnutzer an einem umfassenden Zugang zu den angebotenen Informationen; dieser soll nicht unbesehen und ohne erkennbare Auswirkung im jeweiligen Territorium - gleichsam präventiv - unterbunden werden. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Ansicht führt die Machbarkeit derartiger technischer Beschränkungen, die aus Sicht der Internetnutzer unerwünscht sind, jedenfalls nicht dazu, dass bereits bei der blossen Abrufbarkeit einer Internetpräsenz ohne Weiteres von einer Kennzeichennutzung in der Schweiz auszugehen wäre. Die Beschwerdeführerinnen weisen jedoch zu Recht darauf hin, dass die Joint Recommendation - wie im Übrigen auch zahlreiche Publikationen und Entscheide zum Ort des Kennzeichengebrauchs im Internet - aus einer Zeit stammen, in der jede im Internet vorgenommene Kennzeichennutzung
notwendigerweise
global war und territorial nicht aufgespalten werden konnte (vgl. BETTINGER, a.a.O., Teil 4 Rz. 5, 29). Entsprechend beruht die Joint Recommendation auf der Annahme einer notwendigerweise globalen Verfügbarkeit, ohne die Möglichkeit geographischer Beschränkungen im Internet mittels technischer Vorkehrungen in Betracht zu ziehen (vgl. etwa Absatz 3 der Präambel: "Recognizing that a sign used on the Internet is simultaneously and immediately accessible irrespective of territorial location" sowie Bemerkungen zu Art. 9 [Rz. 9.01]: "Because of the necessarily global nature of the Internet such use might be considered as infringing a right under the law ofa Member State in which the right of the user is not recognized [Hervorhebung hinzugefügt]."). Mit der notwendigerweise globalen Abrufbarkeit von Internetseiten ging einher, dass ein wegen der Verletzung eines inländischen Kennzeichenrechts ausgesprochenes Verbot ebenfalls zwangsläufig global wirkte, mithin auch ausserhalb des territorialen Schutzbereichs des Kennzeichens (BETTINGER, a.a.O., Teil 4 Rz. 11; vgl. auch Bemerkungen zu Art. 9 [Rz. 15.01]:"[...] Aninjunction to cease every use of a sign on the Internet would go far beyond the territory for which the infringed right in that sign has effect. It would have an effect which is as global as the Internet and could, therefore, also be called a 'global injunction'.").
BGE 146 III 225 S. 235
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seither im Bereich des Internets ein technologischer Wandel stattgefunden hat und mittlerweile sog. Geoblocking- bzw. Geotargeting-Massnahmen, mit denen Internetnutzern in verschiedenen geographischen Gebieten unterschiedliche Inhalte zur Verfügung gestellt werden, weit verbreitet sind (PEUKERT, a.a.O., S. 72 f.; BETTINGER, a.a.O., Teil 2 Rz. DE 1335 Fn. 2177, wonach es sich bei der Geolokalisation mittlerweile um eine von einer Vielzahl von IT-Dienstleistern angebotene Standardtechnik handelt, die auch von kleinen und mittelständischen Unternehmen eingesetzt werden kann; vgl. auch das Urteil des Bundesgerichts 4C.229/2003 vom 20. Januar 2004 E. 5 a.E., nicht publ. in:
BGE 130 III 267
ff., wo bereits auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, gezielt Internet-Nutzern aus einem bestimmten Land den Zugang zu einer Website zu verweigern). Solche Massnahmen sind mittlerweile derart gebräuchlich, dass etwa die Europäische Union gesetzliche Vorkehrungen getroffen hat, um gegen ungerechtfertigtes Geoblocking vorzugehen, das etwa im Bereich des Online-Handels zu einer Fragmentierung des Binnenmarkts führen kann (Verordnung [EU] 2018/302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Februar 2018 über Massnahmen gegen ungerechtfertigtes Geoblocking und andere Formen der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Ortes der Niederlassung des Kunden innerhalb des Binnenmarkts und zur Änderung der Verordnungen [EG] Nr. 2006/2004 und [EU] 2017/2394 sowie der Richtlinie 2009/22/EG, ABI. LI 60/1 vom 2. März 2018).
Die Möglichkeit, den Abruf von Internetseiten territorial zu beschränken, kann auch bei der Beurteilung der Voraussetzung des hinreichenden wirtschaftlichen Inlandbezugs ("commercial effect") nicht unbeachtet bleiben. Insbesondere erscheint damit die - ursprünglich unausweichliche - Diskrepanz zwischen der globalen Verfügbarkeit von Internetseiten und territorial beschränkten Kennzeichenrechten in einem anderen Licht. Entgegen der in der Beschwerdeantwort vertretenen Ansicht geht es dabei nicht um die Tatfrage, ob die zu beurteilende Internetpräsenz im Schutzland überhaupt abgerufen werden kann, zumal ein Eingriff in nationale Schutzrechte durch Verwendung des Internets aufgrund des Territorialitätsprinzips selbstredend die Abrufbarkeit der beanstandeten Internetpräsenz in diesem Gebiet voraussetzt. Vielmehr geht es um die Rechtsfrage des hinreichenden wirtschaftlichen Inlandbezugs als Voraussetzung einer allfälligen Kennzeichenverletzung über das Internet im Hinblick auf
BGE 146 III 225 S. 236
einen wertenden Ausgleich zwischen global verfügbarem Internet und territorial beschränkten Schutzrechten. Die technische Möglichkeit einer geographischen Einschränkung der Abrufbarkeit von Inhalten erweitert nicht nur den Kreis denkbarer Sanktionen bei festgestellten Verletzungen, sondern es ist ihr bereits bei der gebotenen Interessenabwägung im Rahmen der Feststellung des "commercial effect" Rechnung zu tragen (dazu BETTINGER, a.a.O., Teil 2 Rz. DE 1334 ff.; vgl. auch JOLLER, a.a.O., Teil 2 Rz. CH 260; PEUKERT, a.a.O., S. 73, wonach die Verfügbarkeit entsprechender technischer Vorkehrungen normative Implikationen hat). Daran vermögen auch die von den Beschwerdegegnerinnen erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände nichts zu ändern, die sich nicht auf die Voraussetzung des hinreichenden Bezugs zur Schweiz beziehen, sondern gegen allfällige konkrete Verbotsfolgen richten.
3.3.4
Die Vorinstanz hat demnach die blosse Abrufbarkeit einer Internetpräsenz in der Schweiz zu Recht als nicht ausreichend erachtet, sondern hat unter Bezugnahme auf die Joint Recommendation geprüft, ob ein Kennzeichengebrauch in der Schweiz vorliegt. Mit den Beschwerdeführerinnen ist jedoch die zwischenzeitlich erfolgte technische Entwicklung im Bereich des Internets in die Interessenabwägung mit einzubeziehen und sind die Kriterien der Joint Recommendation für einen hinreichenden wirtschaftlichen Bezug zur Schweiz ("commercial effect") entsprechend weit auszulegen. | de |
e6a55268-a73c-4f65-92fe-c56d8455b214 | Sachverhalt
ab Seite 195
BGE 146 III 194 S. 195
Mit Klage vom 28. Mai 2018 leitete A. (Klägerin, Beschwerdegegnerin) ein Verfahren gegen die C. AG (Beklagte, Beschwerdeführerin) beim Handelsgericht des Kantons Zürich ein. Sie beantragte die Aushändigung von Namenaktien beziehungsweise eines Zertifikats über das Eigentum an Namenaktien der C. AG.
Nach Durchführung einer Vergleichsverhandlung, anlässlich welcher keine Einigung erzielt wurde, reichten die Parteien Replik und Duplik sowie (die Klägerin) eine weitere Stellungnahme ein. Mit Eingabe vom 31. Januar 2020 teilte die C. AG mit, dass sie die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung verlange. Am 20. Februar 2020 wurden die Parteien zur Hauptverhandlung vom 7. April 2020 vorgeladen.
Mit Schreiben vom 24. März 2020 gab die Vizepräsidentin des Handelsgerichts bekannt, dass die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz stattfinden werde. Sie hielt die "Vertreter und Parteien, die an der Hauptverhandlung von ihrem jeweiligen Standort aus teilnehmen", an, auf deren Mobiltelefonen die "Gratisapp 'ZOOM Cloud Meetings'" zu installieren, sich zu registrieren und dem Handelsgericht bis am 31. März 2020 schriftlich die Mobiltelefonnummern mitzuteilen. Sollte - so die Vizepräsidentin weiter - diese Mitteilung unterbleiben, werde "bezüglich der Hauptverhandlung" von Säumnis ausgegangen. Einige Tage vor der Verhandlung werde das Handelsgericht mit den beteiligten Anwälten einen kurzen Test beziehungsweise eine Instruktion durchführen. Allfällige Plädoyernotizen
BGE 146 III 194 S. 196
seien zu Beginn der Verhandlung per E-Mail an den zuständigen Gerichtsschreiber, an den Instruktionsrichter sowie an die Gegenpartei zu senden. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, nachträglich noch auf die Durchführung der Hauptverhandlung zu verzichten.
Am 30. März 2020 ersuchte die C. AG um Absage und Verschiebung der Hauptverhandlung vom 7. April 2020. Sie erklärte, mit der Durchführung der mündlichen Hauptverhandlung via Videokonferenz nicht einverstanden zu sein. Dieses Gesuch wurde mit Verfügung vom 1. April 2020 abgewiesen. Mit Eingabe vom 6. April 2020 legte die C. AG ihren Standpunkt nochmals dar und ersuchte um "Vorladung zu einer gesetzeskonformen Durchführung der mündlichen Hauptverhandlung".
Am 7. April 2020 fand die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz statt. Die C. AG (beziehungsweise deren Vertretung) blieb unentschuldigt fern beziehungsweise nahm an der Videokonferenz nicht teil.
Mit Urteil vom 7. April 2020 hiess das Handelsgericht die Klage vollumfänglich gut.
Dagegen erhob die C. AG Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Die Prozessleitung obliegt dem Gericht (vgl.
Art. 124 Abs. 1 Satz 1 ZPO
). Wohl ist die Art der Verfahrensleitung in vielen Punkten richterliche Ermessenssache (siehe
BGE 140 III 159
E. 4.2 S. 162). Dabei steht aber ausser Frage, dass die rechtlichen Vorgaben und insbesondere die prozessualen Formen einzuhalten sind. Letztere sind unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten (vgl.
BGE 142 I 10
E. 2.4.2 S. 11;
BGE 134 II 244
E. 2.4.2 S. 248; siehe auch Urteil 5A_253/2013 vom 12. August 2013 E. 3.2).
Das hier streitige Verfahren vor dem Handelsgericht richtet sich nach den Vorgaben der Zivilprozessordnung, an die sich die Verfahrensleitung halten musste. Danach besteht ein Anspruch auf rechtskonforme Abhaltung der Hauptverhandlung, soweit die Parteien nicht
BGE 146 III 194 S. 197
gemeinsam auf eine solche verzichten (
Art. 233 ZPO
;
BGE 140 III 450
E. 3.2 f.; Urteil 4A_479/2015 vom 2. Februar 2016 E. 5.2 mit Hinweis). Vorliegend hat die Beschwerdeführerin die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung verlangt.
Folglich ist zu prüfen, ob die Vizepräsidentin des Handelsgerichts aufgrund der Zivilprozessordnung befugt war, verbindlich und auch ohne das Einverständnis beider Parteien anzuordnen, dass die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz mittels "ZOOM Cloud Meetings" durchgeführt werde.
3.2
Die Zivilprozessordnung regelt die Hauptverhandlung in den Art. 228 ff. Bestandteil dieser Verfahrensphase sind - nach dem "Beginn der Hauptverhandlung" (vgl.
Art. 229 Abs. 2 ZPO
) - grundsätzlich die ersten Parteivorträge (
Art. 228 ZPO
), die Beweisabnahme (
Art. 231 ZPO
) und die Schlussvorträge (
Art. 232 ZPO
). Dabei setzt das Gesetz die physische Anwesenheit der vorgeladenen Personen und der Gerichtsmitglieder am gleichen Ort als selbstverständlich voraus (siehe auch BOHNET/MARIOT, La vidéoconférence et le projet de révision du CPC, SZZP 2020 S. 185;
dieselben
, COVID-19 et oralité en procédure civile, Justice - Justiz - Giustizia 2020/2 Rz. 20 f.; BEAT BRÄNDLI, Prozessökonomie im schweizerischen Recht, 2013, S. 199 Rz. 430; anders FRANÇOISE BASTONS BULLETTI, Crise du Covid-19 et évolution des audiences en procédure civile, Justice - Justiz - Giustizia 2020/2 Rz. 10; DANIEL KETTIGER, Gerichtsverhandlungen, Anhörungen und Einvernahmen mittels Videokonferenz, Jusletter 4. Mai 2020 Rz. 8). Dies ergibt sich etwa aus den Bestimmungen, welche das
Erscheinen
an der Hauptverhandlung und daran geknüpfte Säumnisfolgen regeln (siehe etwa Art. 133 lit. d, Art. 134 f.,
Art. 147 Abs. 1 ZPO
; in den anderen Amtssprachen: la "comparution", la "comparizione"). Zuweilen wird ein
persönliches Erscheinen
gefordert und eine Dispensation namentlich wegen Alter sowie Krankheit erlaubt (siehe
Art. 273 Abs. 2 und
Art. 278 ZPO
; vgl. ferner
Art. 68 Abs. 4 ZPO
). Gemäss
Art. 231 ZPO
nimmt das Gericht anlässlich der Hauptverhandlung die Beweise ab, so beispielsweise das Zeugnis. Dabei kann das Gericht den Parteien gestatten, Zeugen ohne Vorladung
mitzubringen
(
Art. 170 Abs. 2 ZPO
; "amener des témoins", "presentarsi con testimoni").
Art. 170 Abs. 3 ZPO
ermöglicht die Befragung am Aufenthaltsort des Zeugen, womit gleichzeitig gesagt ist, dass die Befragung im Grundsatz und ohne eine solche Anordnung am Ort der Hauptverhandlung - prinzipiell im Gerichtsaal, jedenfalls in physischer Anwesenheit der
BGE 146 III 194 S. 198
Verfahrensbeteiligten - stattfindet (vgl. LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2016, S. 262 Rz. 9.87; SVEN RÜETSCHI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. II, 2012, N. 11 zu
Art. 170 ZPO
; siehe sodann auch
Art. 171 und
Art. 174 ZPO
). Der Gegenstand des Augenscheins ist einzureichen, wenn er ohne Nachteil vor Gericht
gebracht
werden kann (
Art. 181 Abs. 3 ZPO
). Nach
Art. 239 Abs. 1 lit. a ZPO
kann das Gericht seinen Entscheid ohne schriftliche Begründung in der Hauptverhandlung durch
Übergabe | de |
0c1c363b-9289-436f-941b-0005cb06327f | Sachverhalt
ab Seite 200
BGE 125 IV 199 S. 200
Das Kantonsgericht St. Gallen verurteilte P. am 5. März 1998 wegen Freiheitsberaubung und Entführung, gemeinsamer grausamer Vergewaltigung und sexueller Nötigung sowie Widerhandlung gegen die Verordnung über den Erwerb und das Tragen von Schusswaffen durch jugoslawische Angehörige zu sechzehn Jahren Zuchthaus; gleichzeitig verwies es ihn für die Dauer von fünfzehn Jahren des Landes.
Das Kassationsgericht des Kantons St. Gallen wies am 16. Dezember 1998 eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten ab, soweit es darauf eintrat.
P. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt sinngemäss, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Vorinstanz verurteilte den Beschwerdeführer nicht nur wegen grausamer Tatbegehung (
Art. 189 Abs. 3,
Art. 190 Abs. 3 StGB
), sondern erhöhte die Strafe überdies in Anwendung von
Art. 200 StGB
wegen gemeinsamer Tatbegehung. Die Täter hätten das Opfer in der Night-Bar gemeinsam eingeschüchtert und in
BGE 125 IV 199 S. 201
Todesangst versetzt. Gemeinsam hätten sie es in die Wohnung eines Bekannten verschleppt und genötigt, dort zu verbleiben. Unter dem Druck dieses gemeinschaftlich ausgeübten Zwanges habe das Opfer auf jeden Widerstand verzichtet. Im Ergebnis sei demnach auch die Nötigung zu den sexuellen Handlungen gemeinsam ausgeführt, mithin gemeinsam der Widerstand des Opfers gebrochen und es gefügig gemacht worden. Während den einzelnen Übergriffen hätten sich die übrigen Angeklagten in der gleichen kleinen Wohnung, und zwar im Wohnzimmer nebenan befunden. Dass das Schlafzimmer und das Wohnzimmer durch eine Mauer getrennt gewesen seien, ändere unter diesen Umständen nichts daran, dass während der sexuellen Übergriffe fortwährend der Eindruck kollektiver Bedrohung bestanden habe. Zudem hätten die übrigen Angeklagten im Wohnzimmer gleichsam abrufbereit gewartet, bis sie sich am Opfer vergehen konnten. Damit aber wögen die Angriffe der Angeklagten auf die sexuelle Integrität des Opfers schwerer als die Tat eines Einzelnen.
Der Beschwerdeführer macht unter Hinweis auf die herrschende Lehre geltend, die Qualifikation des
Art. 200 StGB
setze die Anwesenheit des Täters bei der Tat voraus. Diese Voraussetzung sei hier nicht erfüllt. Die Vornahme der sexuellen Handlungen sei je einzeln erfolgt. Als der Beschwerdeführer mit dem Opfer sexuell verkehrte, habe er sich mit diesem allein in einem Zimmer befunden.
b) Wird eine strafbare Handlung gegen die sexuelle Integrität (
Art. 187 ff. StGB
) gemeinsam von mehreren Personen ausgeführt, so kann der Richter die Strafe erhöhen, darf jedoch das höchste Mass der angedrohten Strafe nicht um mehr als die Hälfte überschreiten. Dabei ist er an das gesetzliche Höchstmass der Strafart gebunden (
Art. 200 StGB
).
Wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht, wird in der Lehre für die Anwendung des
Art. 200 StGB
zusätzlich gefordert, dass die Mittäter - auch wenn sie sich an der sexuellen Handlung als solcher nicht beteiligen - bei der Tat selbst anwesend sein müssen (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Auflage, S. 163 N. 18; JENNY, Kommentar zum schweizerischen Strafgesetzbuch, Art. 200 N. 3; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Auflage, Art. 200 N. 2). In der Folge ist zu prüfen, ob diese Einschränkung im Sinne des Gesetzes ist und ob bejahendenfalls die Anwesenheit der Mittäter im Wohnzimmer, als der Beschwerdeführer das Opfer im Nebenzimmer sexuell missbrauchte, den Tatbestand der gemeinsamen Begehung erfüllt.
BGE 125 IV 199 S. 202
Der Tatbestand der gemeinsamen Begehung (
Art. 200 StGB
) ist dem Tatbestandsmerkmal der Bandenmässigkeit nachempfunden, wobei jedoch der Wille inskünftiger Verübung von Delikten nicht gegeben sein muss (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1095f.). Das Auftreten als Bande wird besonders pönalisiert, weil der Zusammenschluss die Täter psychisch und physisch stärkt und eine Umkehr gegenseitig erschwert, was sie besonders gefährlich macht (
BGE 78 IV 227
E. 2; TRECHSEL, a.a.O., Art. 139 N. 16).
Art. 200 StGB
wurde vor allem im Hinblick auf gemeinsame Vergewaltigungen geschaffen (Botschaft, a.a.O., 1095) und ist zugeschnitten auf Fälle sogenannter Gruppen- oder Kettenvergewaltigungen, die aufgrund ihrer besonderen Belastung für das Opfer und der erhöhten Gefährlichkeit des Angriffs besonders gravierend sein können (Peter Hangartner, Selbstbestimmung im Sexualbereich - Art. 188 bis 193 StGB, Diss. St. Gallen 1997, S. 178 mit Hinweisen). Eine Gruppenvergewaltigung ist gegeben, wenn mehrere Täter das Opfer gleichzeitig sexuell missbrauchen; in dieser Konstellation sind alle Täter unmittelbar anwesend. Anders verhält es sich bei einer Kettenvergewaltigung: Hier ist es denkbar, dass jeweils nur ein Täter beim erzwungenen Geschlechtsverkehr unmittelbar anwesend ist und sich die anderen Täter nicht notwendig im gleichen Zimmer befinden wie das Opfer. Aber auch eine Kettenvergewaltigung stellt eine besondere Belastung für das Opfer dar, und die Absprache der Täter untereinander führt auch zu einer erhöhten Gefährlichkeit des Angriffs. In solchen Fällen ist deshalb
Art. 200 StGB
ebenfalls anzuwenden, jedenfalls dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, die anderen Beteiligten in der gleichen Wohnung quasi "abrufbereit" anwesend sind.
c) Nach den verbindlichen Feststellungen versetzten die vier Täter das Opfer bereits bei der Entführung insbesondere auch durch massive psychische Drohungen in Todesangst. Sie verschleppten die Frau in eine kleine Wohnung und missbrauchten sie dort sexuell der Reihe nach und zum Teil mehrmals. Während sich die Täter in einem Zimmer mit Matratze einzeln an der Frau sexuell vergingen, schauten die anderen Täter "abrufbereit" im angrenzenden Wohnzimmer fern. Zwischen den sexuellen Übergriffen musste sich die Frau im Badezimmer waschen und als sie z.B. einmal von dort ins Wohnzimmer zurückkam und bat, sie doch nach Hause zu fahren, da sie Kinder im Kindergarten habe, setzte ihr einer der vier mit den Worten "was willst du?" ein Messer an den Hals.
BGE 125 IV 199 S. 203
Die Vorinstanz verweist zu Recht darauf, dass das Opfer unter dem Druck des gemeinschaftlich ausgeübten Zwanges auf jeden weiteren Widerstand verzichtete, und dass der Umstand der räumlichen Abtrennung zwischen dem Wohnzimmer und dem Zimmer, wo die sexuellen Misshandlungen stattfanden, an der fortwährenden kollektiven Bedrohung nichts änderten und dass das gleichsam abrufbereite Warten der anderen Täter im Wohnzimmer, um sich am Opfer zu vergehen, für es zusätzlich erniedrigend gewesen sei. Wenn die Vorinstanz unter diesen Umständen
Art. 200 StGB
zur Anwendung brachte, hat sie kein Bundesrecht verletzt (vgl. E. 2b). Zutreffend hat sie eine enge Auslegung des Begriffs der Anwesenheit der Mittäter verworfen und dabei vielmehr beurteilt, welche Wirkung von der Präsenz der Mittäter in der Wohnung ausging. Damit erweist sich die Beschwerde in diesem Punkt als unbegründet.
4.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von
Art. 63 StGB
.
Nachdem der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde kein Erfolg beschieden war und die Vorinstanz zu Recht den Strafgrund der gemeinsamen Begehung bejahte, sind die meisten Einwände des Beschwerdeführers unbeachtlich. Dass er einer Bande angehörte, die als illegale Schleuser und Schlepper tätig war und zudem bei jugoslawischen Gastwirten in Berlin Geld erpresste, hat die Vorinstanz verbindlich festgestellt; dass er deswegen nicht verurteilt wurde, hat sie ausdrücklich erwähnt und damit berücksichtigt. Folglich ist aber auch die Unschuldsvermutung nicht verletzt. In diesem Zusammenhang ist vielmehr entscheidend, dass der Beschwerdeführer bereits wegen schwerer räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Körperverletzung zu 4 1/2 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die ausgefällte Freiheitsstrafe von sechzehn Jahren erscheine für die vorliegenden Delikte geradezu als drakonisch. Die Vorinstanz bewege sich hier im Rahmen des Strafmasses für eher schwere Tötungsdelikte. Indessen sei als Massstab doch grundsätzlich die Praxis bei anderen Sexualdelikten heranzuziehen. Inwiefern die Vorinstanz bei der Strafzumessung von nicht wesentlichen Beurteilungsmerkmalen ausgegangen wäre oder sie falsch gewichtet hätte, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf. Die ausgesprochene Strafe ist zwar für Sexualdelikte sehr hoch, doch handelt es sich auch um ein ausserordentlich schweres Sexualdelikt, verbunden mit zusätzlich mehreren erschwerenden Elementen. So führt die Vorinstanz unter
BGE 125 IV 199 S. 204
anderem aus, "abgesehen davon, dass (der Beschwerdeführer) dem Opfer keine schweren Körperverletzungen zufügte, lässt sich ein qualvollerer und demütigenderer sexueller Missbrauch kaum vorstellen." Angesichts der wesentlichen Beurteilungsmerkmale liegt die ausgesprochene Strafe im Rahmen des vorinstanzlichen Ermessens. Im Übrigen ist der Beschwerdeführer darauf hinzuweisen, dass das Opfer eine Vergewaltigung gleichsam als psychischen Tod erlebt. So hält die Vorinstanz gestützt auf einen Arztbericht vom Februar 1998 fest, dass das Opfer trotz intensiver Psychotherapie und Betreuung durch die Familienberatungsstelle nur sehr langsam Fortschritte erziele, nach wie vor an Krisen mit plötzlich auftretenden Ängsten bis hin zu Panikattacken und auch Suizidalität leide.
Der Hinweis des Beschwerdeführers auf ein Urteil des Obergerichts Zürich geht fehl. In jenem Fall lagen offenbar weder stundenlange Kettenvergewaltigung vor, noch Drohung mit einer Waffe, noch grausame sexuelle Nötigung usw., weshalb der erwähnte Fall mit demjenigen des Beschwerdeführers nicht vergleichbar ist.
Insgesamt hat die Vorinstanz somit bei der Strafzumessung kein Bundesrecht verletzt.
6.
Schliesslich beanstandet der Beschwerdeführer die Zusprechung einer Genugtuungssumme von Fr. 75'000.-- an das Opfer als eine Verletzung von Bundesrecht (
Art. 47 OR
); dabei verweist er auf den Ausgang des kantonalen Kassationsverfahrens und die Ausführungen zum Verschulden bei der Strafzumessung. Zudem sei die zugesprochene Genugtuungssumme "exorbitant" hoch, und es gehe nicht an, die (bestrittenen) "Begangenschaften eher bei den Tötungsdelikten einzuordnen."
Die Vorinstanz berücksichtigte bei der Bemessung der Genugtuung, dass das Verschulden der vier Haupttäter äusserst schwer wiege, was sich auch in den langen Freiheitsstrafen ausdrücke. Das Opfer sei gegen seinen Willen in eine ihm unbekannte Wohnung entführt worden, wo es den Tätern schutzlos ausgeliefert gewesen sei. Es sei während Stunden festgehalten, mehrfach vergewaltigt und sexuell genötigt, (insbesondere auch vom Beschwerdeführer) schwer gedemütigt und immer wieder mit dem Tode bedroht worden. Die verbrecherischen Taten hätten nicht nur verheerende Auswirkungen auf seine berufliche Tätigkeit, welche es nicht mehr auszuüben vermöge, sondern auch auf die Freizeit und das Familienleben, insbesondere die Partnerbeziehung. Die Gutachten sprächen ebenfalls eine deutliche Sprache: Das Opfer
BGE 125 IV 199 S. 205
leide an posttraumatischen Belastungsstörungen. Dabei handle es sich um eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung, die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde. Es könne sich nicht mehr konzentrieren, sei nur noch vermindert leistungsfähig, spalte seine Emotionalität ab, habe ständige Panikattacken und massivste Berührungsängste und verfalle immer wieder in Depressionen. Zum bisherigen Therapieverlauf werde festgehalten, dass Fortschritte nur sehr langsam erzielt würden. Das Opfer leide nach wie vor an Krisen mit plötzlich auftretenden Ängsten und Suizidalität. Aufgrund der bis zum Ereignis vorhandenen gesunden Persönlichkeitsstruktur und auch der grundsätzlich positiven Lebenseinstellung räume der Therapeut dem Opfer mittelfristig eine günstige Chance ein, sich mit ärztlicher Behandlung und Psychotherapie von den traumatisierenden Erlebnissen befreien zu können.
Wenn die Vorinstanz erwägt, dass der Anspruch auf eine hohe Genugtuung kaum in Frage gestellt würde, wenn das Opfer körperlich statt seelisch in diesem Ausmass "verstümmelt" worden wäre, einen Vergleich mit Genugtuungssummen zieht, die bei schweren Körperverletzungen oder Tötungsdelikten zugesprochen werden, und im vorliegenden Fall eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 75'000.- als angemessen erachtet, so verletzt sie kein Bundesrecht. | de |
883b712c-ffb2-46a7-879b-544a84598bdb | Sachverhalt
ab Seite 495
BGE 147 I 494 S. 495
A.
†D. F. verursachte am 28. September 2014, um ca. 21 Uhr, am Steuer eines Personenwagens einen Selbstunfall. Er äusserte danach gegenüber seiner von ihm zur Unfallstelle gerufenen Mutter, S. F., und den mit der Aufnahme des Unfalls befassten Polizeibeamten Suizidabsichten. B. und D., Polizeibeamte des Verkehrszugs Urdorf, brachten ihn nach positiv ausgefallenen Atemalkoholtests (1,25 und 1,40 Promille) zur Blutentnahme ins Spital Limmattal. Nach Hinweisen auf einen vorgängigen Medikamentenkonsum wurde auch eine Urinprobe genommen. Gegenüber dem die Blutentnahme durchführenden Arzt äusserte †D. F. erneut Suizidabsichten. Um ca. 23.05 Uhr bestellte B. über die Verkehrsleitzentrale einen Notarzt auf den Verkehrsstützpunkt Urdorf zur Prüfung einer fürsorgerischen Unterbringung. Nachdem die zur Unterstützung angeforderte Polizeipatrouille, bestehend aus A. und E., beim Spital Limmattal eingetroffen war, überführten B. und D., gefolgt vom Wagen von A. und E. sowie von demjenigen von S. F., †D. F. auf den Verkehrsstützpunkt Urdorf, wo sie um ca. 23.15 Uhr eintrafen. Anschliessend brachten die vier Beamten den Widerstand leistenden †D. F. in eine Abstandszelle. B. und D. beendeten ihren Dienst und verliessen die Wache. Um 00.07 Uhr meldete sich †D. F. über die Gegensprechanlage bei C., dem auf der Wache Dienst tuenden, ranghöchsten Polizeibeamten vor Ort. Kurz darauf verliessen A. und E. die Wache, um andere dienstliche Aufgaben wahrzunehmen. Der allein auf dem Stützpunkt zurückbleibende C. begab sich zwischen 00.20 und 00.30 Uhr zur Abstandszelle, wo er †D. F. Selbstgespräche führen hörte. Um 00.35 Uhr traf der Notarzt auf dem Stützpunkt ein. Nach einer kurzen Besprechung mit C. führte er ein rund 10-minütiges Gespräch mit S. F. C. beorderte A. und E. sowie eine weitere Patrouille zum Stützpunkt. Um 01.05 Uhr begab er sich zur Abstandszelle und fand †D. F. frei hängend in der Zelle, den Hals im Schritt seiner Jeans, deren Hosenbeine an einem Lüftungsgitter in der Zellendecke befestigt waren. Der Notarzt stellte den Tod fest. In der Folge erstattete S. F. gegen die fünf mit dem Vorfall befassten Polizeibeamten Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung. Am 15. Dezember 2014 überwies die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis die Akten ans Obergericht des Kantons Zürich, um über die Ermächtigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen die
BGE 147 I 494 S. 496
fünf angezeigten Beamten zu entscheiden. Sie beantragte, die Ermächtigung nicht zu erteilen, da kein deliktsrelevanter Tatverdacht vorliege. Mit Beschluss vom 30. April 2015 erteilte das Obergericht der Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis die Ermächtigung nicht.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragte S. F., diesen Beschluss des Obergerichts aufzuheben und die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die fünf angezeigten Beamten zu ermächtigen. Eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Anweisung, die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die fünf Beamten zu ermächtigen. Mit Urteil 1C_306/2015 vom 14. Oktober 2015 wies das Bundesgericht diese Beschwerde ab.
B.
Am 22. April 2016 reichte S. F. aufgrund dieses Urteils des Bundesgerichts vom 14. Oktober 2015 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Individualbeschwerde nach
Art. 34 EMRK
wegen Verletzung von
Art. 2 EMRK
gegen die Schweiz ein (Verfahren 23405/16).
Mit einstimmig gefasstem Urteil vom 30. Juni 2020 trat der EGMR auf die Beschwerde ein und stellte eine Verletzung von
Art. 2 EMRK
in seiner inhaltlichen wie in seiner verfahrensrechtlichen Tragweite fest. S. F. wurden 5'796.- Euro als Schadenersatz, 50'000.- Euro als Genugtuung und 22'307.- Euro als Kosten- und Auslagenersatz zugesprochen. Eine darüber hinausgehende Genugtuung lehnte der Gerichtshof ab.
C.
Mit Eingabe vom 25. September 2020 ersucht S. F. das Bundesgericht, sein Urteil 1C_306/2015 vom 14. Oktober 2015 in Revision zu ziehen. Sie beantragt, vorfrageweise festzustellen, dass ein Ermächtigungsverfahren im Sinne von
Art. 7 Abs. 2 StPO
in Verbindung mit § 148 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 10. Mai 2010 über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess (GOG/ZH; LS 211.1) Art. 2 Ziff. 2 bzw.
Art. 3 EMRK
verletzt. Die jeweiligen Kantone mit Ermächtigungsverfahren seien zu verpflichten, trotz entsprechenden Bestimmungen in ihren kantonalen Erlassen, Strafverfahren in jedem Falle einzuleiten und gegebenenfalls einen ausserkantonalen Sonderstaatsanwalt einzusetzen, soweit es sich um Todes- oder Körperverletzungsfälle handelt, die sich während staatlicher Obhut ereignen. Sie stellt den Hauptantrag, das Urteil des Bundesgerichts 1C_306/2015 vom 14. Oktober 2015
BGE 147 I 494 S. 497
revisionsweise aufzuheben, die Ermächtigung zur Eröffnung einer Strafuntersuchung zu erteilen und den Kanton Zürich anzuweisen, einen ausserkantonalen Staatsanwalt mit der Strafuntersuchung zu betrauen. (...)
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Gegenstand dieses Verfahrens ist die Frage, ob das Urteil des Bundesgerichts 1C_306/2015 vom 14. Oktober 2015 zu revidieren ist. Die Gesuchstellerin beruft sich auf den Revisionsgrund gemäss
Art. 122 BGG
.
1.1
Das Revisionsgesuch ist beim Bundesgericht innert 90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des EGMR nach
Art. 44 EMRK
endgültig geworden ist (
Art. 124 Abs. 1 lit. c BGG
). Das die Gesuchstellerin betreffende Urteil vom 30. Juni 2020 wurde nicht an die Grosse Kammer überwiesen, weshalb es nach dreimonatiger Frist am 30. September 2020 um Mitternacht endgültig geworden ist (Art. 42 in Verbindung mit
Art. 44 Ziff. 2 lit. b EMRK
). Mit der Einreichung des Revisionsgesuchs am 25. September 2020 ist die 90-tägige Frist gewahrt.
1.2
Das Revisionsverfahren vor Bundesgericht verläuft in mehreren Schritten. Zunächst prüft das Bundesgericht die Zulässigkeit des Revisionsgesuchs. Für Fragen, die nicht in Kapitel 7 des Bundesgerichtsgesetzes betreffend die Revision behandelt werden, sind die allgemeinen Bestimmungen dieses Gesetzes anwendbar. Erachtet das Bundesgericht das Revisionsgesuch als zulässig, tritt es auf das Verfahren ein und prüft, ob die Begründung des Gesuchs zutrifft. Wenn dies der Fall ist, fällt das Bundesgericht, normalerweise in einem einzigen Urteil, nacheinander zwei verschiedene Entscheide. Im ersten hebt es das Urteil auf, das Gegenstand des Revisionsgesuchs ist, und im zweiten befindet es über die Beschwerde, mit der es sich zuvor befasst hatte (vgl.
Art. 128 Abs. 1 BGG
; zum Ganzen:
BGE 144 I 214
E. 1.2 mit Hinweisen, in: Pra 2019 Nr. 29 S. 312). Sind die Voraussetzungen von
Art. 122 BGG
erfüllt, ist das vorherige Verfahren wieder aufzunehmen. Die Wiederaufnahme wirkt in dem Sinne ex tunc, als das Bundesgericht und die Verfahrensbeteiligten in jenen Zustand versetzt werden, in welchem sie sich vor der damaligen Urteilsfällung befunden hatten (
BGE 144 I 214
E. 1.2 mit Hinweisen).
BGE 147 I 494 S. 498
1.3 | de |
9b0ae405-6c7d-449e-a722-18f121a89049 | Sachverhalt
ab Seite 234
BGE 147 V 234 S. 234
A.
Der am 1. September 1961 geborene A. meldete sich erstmals im Mai 2011 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die Kantonale IV-Stelle Wallis (nachfolgend: IV-Stelle) wies das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 17. August 2012 ab, weil die Arbeitsunfähigkeit von A. vor allem durch sein Abhängigkeitsverhalten begründet sei, womit keine Invalidität im Sinne des Gesetzes vorliege. Auf eine weitere Anmeldung vom 3. August 2016 trat die IV-Stelle mit der Begründung nicht ein, A. habe mittels der zugestellten medizinischen Berichte keine Verschlechterung des Gesundheitszustands glaubhaft gemacht. Zu demselben Ergebnis kam die Verwaltung nach erfolgter Neuanmeldung vom 9. Januar 2019.
BGE 147 V 234 S. 235
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Wallis mit Urteil vom 14. Januar 2020 ab.
C.
A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei das Urteil des Kantonsgerichts Wallis vom 14. Januar 2020 aufzuheben und die IV-Stelle anzuweisen, auf sein Leistungsbegehren vom 9. Januar 2019 einzutreten und ein strukturiertes Beweisverfahren durchzuführen. In verfahrensmässiger Hinsicht ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig ist, ob die Vorinstanz zu Recht das Nichteintreten auf die Neuanmeldung des Beschwerdeführers vom 9. Januar 2019 bestätigt hat.
2.1
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die bei einer Neuanmeldung analog zur Revision anwendbaren Regeln (
Art. 17 Abs. 1 ATSG
;
Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV
[SR 831.201];
BGE 134 V 131
E. 3;
BGE 133 V 108
E. 5;
BGE 130 V 71
;
BGE 117 V 198
E. 3a) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Ausführungen zur Beurteilung der verbliebenen Arbeitsfähigkeit im Rahmen eines strukturierten Beweisverfahrens anhand der sogenannten Standardindikatoren bei psychischen Erkrankungen (
BGE 141 V 281
;
BGE 143 V 409
und 418). Darauf wird verwiesen.
2.2
Zu ergänzen bzw. zu wiederholen ist, dass das Bundesgericht mit
BGE 145 V 215
vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Ausdehnung des strukturierten Beweisverfahrens gemäss
BGE 141 V 281
auf sämtliche psychischen Störungen (
BGE 143 V 409
und 418) und nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin die bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen (
BGE 124 V 265
E. 3c;
BGE 99 V 28
E. 2; Urteile 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 3.2.1 und 9C_ 620/2017
BGE 147 V 234 S. 236
vom 10. April 2018 E. 2.2), fallen gelassen hat (E. 5.3.3). Es hat entschieden, dass fortan - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln sei, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirke. Dabei könne und müsse im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden (E. 6.3). Diesem komme nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen - wie auch bei anderen psychischen Störungen - oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung sowie psychosozialen und soziokulturellen Faktoren vorliege. Letztere seien auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen würden. Weiter wird im Urteil festgehalten, dass auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms die Schadenminderungspflicht (
Art. 7 IVG
) zur Anwendung komme, so dass von der versicherten Person etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden könne (
Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG
). Komme sie den ihr auferlegten Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhalte sie willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, sei nach
Art. 7b Abs. 1 IVG
i.V.m.
Art. 21 Abs. 4 ATSG
eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich (E. 5.3.1).
Diese neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht erledigten Fälle anzuwenden (vgl. Urteil 8C_259/2019 vom 14. Oktober 2019 E. 5.1 mit Hinweis).
3.
Das kantonale Gericht schloss, der Beschwerdeführer habe im relevanten Vergleichszeitraum seit der Verfügung vom 17. August 2012 keine wesentliche Veränderung seines Gesundheitszustands glaubhaft gemacht. Die neue Rechtsprechung gemäss
BGE 145 V 215
, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome grundsätzlich einem strukturierten Beweisverfahren nach
BGE 141 V 281
zu unterziehen seien, sei zwar auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht rechtskräftig erledigten Fälle anzuwenden, bilde aber per se weder unter dem Titel der Wiedererwägung (
Art. 53 Abs. 2 ATSG
) noch unter jenem der Anpassung an eine geänderte Gerichtspraxis (
BGE 135 V 201
) einen Grund für das Zurückkommen auf rechtskräftig entschiedene Fälle.
(...)
BGE 147 V 234 S. 237
5.
In materieller Hinsicht macht der Beschwerdeführer vor Bundesgericht nicht mehr geltend, er habe eine wesentliche Veränderung des Gesundheitszustands glaubhaft gemacht. Weiterungen dazu erübrigen sich. Letztinstanzlich rügt er einzig, die Nichtanwendung der Praxis gemäss
BGE 145 V 215
sei nicht vertretbar, weil er so in unzulässiger Weise von IV-Leistungen ausgeschlossen werde; dies verletze das Gleichheitsgebot (
Art. 8 Abs. 1 BV
). Die neue Praxis wirke sich zweifellos zu Gunsten jener Versicherten aus, welche wegen einer Suchterkrankung Invalidenversicherungsleistungen beantragten. So seien diese nicht mehr von vornherein von der Überprüfung ausgeschlossen, sondern es sei in jedem Fall ein strukturiertes Beweisverfahren durchzuführen. Die neue Rechtsprechung sei gemäss dem Urteil 8C_259/2019 vom 14. Oktober 2019 auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht erledigten Fälle und folglich auch auf den seinen anzuwenden. Durch die Anwendung der alten Praxis werde er in unzulässiger Weise diskriminiert (
Art. 8 Abs. 2 BV
).
5.1
Offensichtlich nicht stichhaltig ist die unter Hinweis auf das Urteil 8C_259/2019 vom 14. Oktober 2019 vorgebrachte Rüge, die Rechtsprechung gemäss
BGE 145 V 215
sei schon deshalb auf den vorliegenden Fall anzuwenden, weil dieser im Zeitpunkt der Praxisänderung per 11. Juli 2019 noch nicht erledigt gewesen sei; nicht näher einzugehen ist auch auf die in diesem Zusammenhang gerügte Verletzung des Diskriminierungsverbots. Das Bundesgericht hatte im Urteil 8C_259/2019 die Frage zu beantworten (und bejaht), ob die neue Praxis gemäss
BGE 145 V 215
- nachdem dort zuvor auf die Neuanmeldung eingetreten worden war - im Rahmen der materiellen Prüfung zur Anwendung gelangt. Im vorliegenden Fall trat die IV-Stelle indessen in Ermangelung einer glaubhaft gemachten wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustands nicht auf die Neuanmeldung ein. Wie von der IV-Stelle vernehmlassend zu Recht geltend gemacht, geht es hier somit nicht darum, ob die neue Praxis im Rahmen einer noch nicht erledigten materiellen Prüfung zu berücksichtigen ist, sondern um die vorgelagerte und im folgenden zu prüfende Frage, ob sie einen Neuanmeldungs- bzw. Revisionsgrund schafft.
5.2
Eine geänderte Gerichts- oder Verwaltungspraxis bildet im Prinzip keinen Anlass, in eine laufende, auf einer formell rechtskräftigen Verfügung beruhende Dauerleistung einzugreifen. Sie kann aber ausnahmsweise zur Abänderung einer rechtskräftigen Verfügung
BGE 147 V 234 S. 238
(mit Wirkung für die Zukunft) führen, wenn die neue Praxis in einem solchen Masse allgemeine Verbreitung erfährt, dass ihre Nichtbefolgung als Verstoss gegen das Gleichheitsgebot erschiene, insbesondere wenn die alte Praxis nur in Bezug auf eine einzige versicherte Person oder eine geringe Zahl von Versicherten beibehalten würde. Ein solches Vorgehen drängt sich namentlich dann auf, wenn das Festhalten an der ursprünglichen Verfügung aus Sicht der neuen Rechtspraxis schlechterdings nicht mehr vertretbar ist und diese eine so allgemeine Verbreitung findet, dass ihre Nichtbeachtung in einem einzelnen Fall als dessen stossende Privilegierung (oder Diskriminierung) und als Verletzung des Gleichbehandlungsgebots erscheint (
BGE 135 V 201
E. 6.1.1 mit Hinweisen). Die Rechtsprechung durchbricht den Grundsatz, wonach eine Praxisänderung keine Änderung formell rechtskräftiger Verfügungen über eine Dauerleistung rechtfertigt, kaum je in Bezug auf Anpassungen zu Ungunsten der Versicherten. Wo eine derartige Herabsetzung vorgenommen wurde, betonte das Bundesgericht, es handle sich - angesichts des der früheren Praxis zugrunde liegenden sachfremden Kriteriums - um eine Ausnahmesituation, welche eine besondere Lösung erfordere. Zu Gunsten der Versicherten liess das Gericht demgegenüber in einzelnen Fällen eine Anpassung unter weniger strengen Voraussetzungen zu. Letztlich hat eine wertende Abwägung der betroffenen Interessen zu erfolgen (
BGE 141 V 585
E. 5.2;
BGE 135 V 201
E. 6.1.2 f.; je mit Hinweisen).
5.3
Sowohl die frühere Suchtrechtsprechung (vgl. dazu
BGE 145 V 215
E. 4.3) wie auch die frühere Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbaren psychosomatischen Leiden (vgl.
BGE 130 V 352
E. 2.2.3) gründeten auf der Fiktion bzw. auf der Vermutung, die Sucht bzw. das psychosomatische Leiden und seine Folgen seien mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar. In Bezug auf die mit
BGE 141 V 281
geänderte Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen und äquivalenten Beschwerdebildern verneinte das Bundesgericht einen Neuanmeldungs- oder einen Revisionsgrund (
BGE 141 V 585
E. 5.2 und 5.3). Wie die IV-Stelle zu Recht geltend macht, ist die vorliegende Sachlage grundsätzlich vergleichbar mit der
BGE 141 V 585
zugrunde gelegenen. Immerhin unterscheiden sich die Konstellationen aber wie folgt: Das Bundesgericht verneinte einen Neuanmeldungs- bzw. einen Revisionsgrund in
BGE 141 V 585
unter anderem mit der Begründung, ein Leistungsanspruch habe auch nach
BGE 147 V 234 S. 239
alter Rechtsprechung sowohl bejaht (wenn auch nur ausnahmsweise bei Vorliegen gewisser Morbiditätskriterien; vgl.
BGE 130 V 352
E. 2.2.3) wie auch verneint werden können. Mit
BGE 141 V 281
habe bloss das Beweisverfahren geändert, ohne dass die Aussicht auf Rentenleistungen a priori gestiegen sei (
BGE 141 V 585
E. 5.3). Wie der Beschwerdeführer richtig einwendet, schafft die Praxisänderung von
BGE 145 V 215
demgegenüber überhaupt erst die Möglichkeit, aufgrund eines reinen Suchtgeschehens in den Genuss von Rentenleistungen der Invalidenversicherung zu gelangen. Dies war nach früherer Suchtrechtsprechung zum vornherein ausgeschlossen.
Ob und inwiefern sich diese Praxisänderung letztlich zu Gunsten der Versicherten auswirkt, braucht hier nicht geklärt zu werden (vgl. dazu auch SVR 2020 IV Nr. 33 S. 115, 8C_541/2019 E. 5.1). Unabhängig davon kann der Beschwerdeführer aus dem blossen Verweis auf eine allfällige Besserstellung durch die neue Praxis nichts zu seinen Gunsten ableiten. Der dargelegte Grundsatz, dass eine Praxisänderung kein Zurückkommen auf rechtskräftig entschiedene Fälle rechtfertigt, gilt sowohl für Anpassungen zu Gunsten wie zu Lasten der Versicherten. Im Rahmen einer wertenden Abwägung der betroffenen Interessen kann freilich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass einzelne Gesichtspunkte wie das erweckte Vertrauen bei einer Praxisänderung zu Gunsten einer versicherten Person keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ein Abweichen vom Grundsatz (keine Anpassung wegen einer Änderung der Rechtsprechung) lässt sich damit aber nicht begründen.
5.4
Nach dem in E. 5.2 Dargelegten genügt nicht jede - bei einer Praxisänderung gerade in der Natur der Sache liegende - Ungleichbehandlung, um vom Grundsatz der Nichtanpassung einer rechtskräftigen Verfügung an eine geänderte Rechtspraxis abzuweichen. Dies lässt der Beschwerdeführer ausser Acht, wenn er eine ausnahmsweise Anpassung einzig mit dem Hinweis verlangt, er werde durch die Nichtanwendung der Praxis gemäss
BGE 145 V 215
von IV-Leistungen ausgeschlossen. Selbst wenn diese neue Praxis - wie regelmässig bei einer bundesgerichtlichen Praxisänderung im Bereich des Sozialversicherungsrechts - allgemeine Verbreitung erfährt, genügt dies noch nicht. Liesse man die allgemeine Verbreitung genügen, würde die Anwendung einer neuen bundesgerichtlichen Praxis auf laufende, rechtskräftig festgelegte Dauerleistungen gerade zur Regel. Diese Konsequenz wäre sachlich nicht gerechtfertigt und entspräche nicht der bisherigen Judikatur, welche durchwegs den
BGE 147 V 234 S. 240
Ausnahmecharakter einer derartigen Anpassung betont hat. Um eine solche zu begründen, müssen deshalb zusätzlich zur allgemeinen Verbreitung der neuen Praxis qualifizierende Elemente treten, welche deren Nichtanwendung auf laufende Leistungen unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit als stossend erscheinen liessen (vgl.
BGE 135 V 201
E. 6.4):
5.4.1
Dass die frühere Praxis des Bundesgerichts nur noch auf einige wenige Personen Anwendung findet, so dass diese in stossender Weise diskriminiert würden, macht der Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend. Es ist denn auch notorisch, dass in der Schweiz eine Vielzahl an Suchterkrankten leben (allein die Zahl der an einer Substitutionstherapie teilnehmenden Opioidabhängigen belief sich im Jahr 2019 auf über 16'000 Personen; vgl. dazu die im Rahmen des nationalen Dokumentationssystems act-info realisierte Nationale Statistik der Substitutionsbehandlungen mit Opioid-Agonisten - Ergebnisse 2019 unter
www.substitution.ch/de/publikationen.html
). Für sämtliche Suchterkrankten galt seinerzeit die Rechtsprechung, dass primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen. Wie die IV-Stelle zu Recht betont, ist von dieser erst kürzlich (im Juli 2019) abgelösten Praxis nach wie vor eine Vielzahl von versicherten Personen auch in teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Verfahren betroffen (vgl. zur Entwicklung der Suchtrechtsprechung:
BGE 145 V 215
E. 4.1 f.).
5.4.2
Entgegen den Einwänden in der Beschwerde ist das Festhalten an der ursprünglichen Verfügung vom 17. August 2012 aus der Sicht der neuen Rechtsprechung auch nicht schlechterdings nicht vertretbar. So beruhte die abgelöste Suchtrechtsprechung wohl auf einer Fiktion der willentlichen Vermeid- bzw. Überwindbarkeit der Sucht (
BGE 145 V 215
E. 4.3). Diese Fiktion befreite die Verwaltung aber auch damals nicht davon, im Rahmen der Untersuchungsmaxime von Amtes wegen eine angemessene Sachverhaltsabklärung vorzunehmen und gestützt auf die Ergebnisse materiell über die Sache zu befinden. Dass dies im vorliegenden Fall unterlassen worden wäre, macht der Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend. Die mit
BGE 145 V 215
geänderte Rechtsprechung führt auch nicht ohne Weiteres zu einem Leistungsanspruch bei Vorliegen eines primären Abhängigkeitssyndroms bzw. einer Substanzkonsumstörung. Vielmehr ist fortan - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu
BGE 147 V 234 S. 241
ermitteln, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirkt. Dabei kann (und könnte auch im Falle des Beschwerdeführers) eine anspruchserhebliche Arbeitsunfähigkeit (weiterhin) verneint werden. Im Ergebnis verhält es sich damit nicht anders als in SVR 2020 IV Nr. 33 S. 115, 8C_541/2019 E. 5.1 betreffend leichte bis mittelgradige depressive Störungen. Auch solche galten nach mittlerweile aufgegebener Rechtsprechung grundsätzlich als nicht invalidisierend, weil im Allgemeinen therapeutisch gut angehbar (
BGE 143 V 409
E. 4.1 mit Hinweisen). Diesbezüglich verneinte das Bundesgericht mit Blick auf die mit
BGE 143 V 409
und 418 geänderte Rechtsprechung Umstände, welche eine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtanpassung eines formell rechtskräftigen Verwaltungsentscheids an eine geänderte Rechtspraxis rechtfertigten. Betroffene Interessen, welche im Rahmen einer Interessenabwägung für den vorliegenden Fall den gegenteiligen Schluss rechtfertigten, vermag der Beschwerdeführer nicht zu nennen und sind auch nicht ersichtlich.
5.5
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtanpassung eines formell rechtskräftigen Verwaltungsentscheids an eine geänderte Rechtsprechung ist schliesslich auch mit Blick auf die grundsätzlich geringe Zeitbeständigkeit des nach früherer Rechtspraxis formell rechtskräftig beurteilten Gesundheitszustands nicht angezeigt. Denn sowohl in Bezug auf die Befunde als auch hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit ist der Eintritt von Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Laufe der Zeit naturgemäss wahrscheinlich und im Rahmen eines (weiteren) Neuanmeldungsgesuchs vergleichsweise einfach glaubhaft zu machen (vgl. SVR 2020 IV Nr. 33 S. 115, 8C_541/2019 E. 5.3 mit Hinweisen). Dies etwa im Gegensatz zu der Sachlage in
BGE 121 V 157
, wo - bei Vorliegen einer "krassen Ungleichbehandlung" - eine Revision auf absehbare Zeit hinaus nicht gegeben war (vgl. dortige E. 4c).
6.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Rechtsprechung gemäss
BGE 145 V 215
(wie schon jene von
BGE 141 V 281
und jene von
BGE 143 V 409
und 418) keinen hinreichenden Anlass bildet, um vom Grundsatz der Nichtanpassung eines formell rechtskräftigen Verwaltungsentscheides an eine geänderte Rechtspraxis abzuweichen und auf die Neuanmeldung vom 9. Januar 2019 einzutreten. | de |
a0e3597f-6ff0-4a8a-a47f-eaad2b33062c | Sachverhalt
ab Seite 355
BGE 145 II 354 S. 355
A.
Am 22. April 2016 reichten A.D., B.D. und C.D. (nachfolgend: die Bauherrschaft) bei der Gemeinde Vals Baugesuche zur Erstellung von zwei Ferienhäusern (...) im Gebiet Leis ein. Dagegen erhob der Verein Helvetia Nostra am 13. Mai 2016 Einsprache und beantragte die Ablehnung respektive Rückweisung der Baugesuche sowie die Überprüfung und allenfalls Anpassung der Ortsplanung bzw. der Bauzonengrösse der Gemeinde Vals.
Die Bauherrschaft machte mit Eingabe vom 31. Oktober 2016 geltend, das Projekt sei die erste Etappe für die Realisierung des Ferienresorts "X. Resort", und reichten dafür einen Bewirtschaftungsvertrag vom 28. Oktober 2016 ein.
B.
Der Gemeindevorstand Vals wies die Einsprache ab und erteilte die Baubewilligung für die zwei Ferienhäuser, u.a. unter folgenden Bedingungen und Auflagen:
1.1 Die Ferienhäuser werden als touristisch bewirtschaftete Wohnungen nach
Art. 7 Abs. 2 lit. b ZWG
(Wohnungen im Rahmen eines strukturierten Beherbergungsbetriebs) bewilligt.
1.2 Der Bewirtschaftungsvertrag vom 28. Oktober 2016 ist folgendermassen zu modifizieren und von der E. AG sowie von den Eigentümern der Häuser Leis 2 und Leis 3 zu unterzeichnen:
a) Die Entstehung des X. Resorts darf nicht davon abhängen, dass auch die geplante Überbauung (...) (Leis 1) zur Beherbergung von konventionellen Hotelgästen zur Verfügung gestellt wird (Ziff. 1 des Bewirtschaftungsvertrags). Gleichzeitig soll es aber möglich sein, dass sich zu einem späteren Zeitpunkt allenfalls weitere, noch zu erstellende Gästeappartements dem X. Resort anschliessen.
b) Der Bewirtschaftungsvertrag ist mit einer Mindestlaufzeit von 15 Jahren mit Verlängerungsmöglichkeit auszugestalten. Im Falle einer vorzeitigen Kündigung wäre eine gleichwertige Ersatzvereinbarung nachzuweisen.
BGE 145 II 354 S. 356
c) Die Hochsaison ist in Ziff. 11 des Bewirtschaftungsvertrags auf Mitte Dezember bis Mitte März festzulegen.
d) Ziff. 11 des Bewirtschaftungsvertrags ist insofern zu ergänzen, als die Eigenbelegung während der Nebensaison entsprechend den normalen Buchungsmodalitäten für Fremdgäste zu erfolgen hat.
e) In Ziff. 7 des Bewirtschaftungsvertrags ist eine maximal zulässige Mietdauer von 90 Tagen vorzusehen.
1.3 Vor Baubeginn hat die Bauherrschaft dem Gemeinderat den im Sinne der vorstehenden Auflagen modifizierten Bewirtschaftungsvertrag zur Genehmigung zu unterbreiten. | de |
2312eabb-0745-4d4c-b35f-cf0476362ba7 | Sachverhalt
ab Seite 512
BGE 112 II 512 S. 512
A.-
Die Ferrowohlen AG ist seit 1976 mit der Von Moos Stahl AG, Monteforno Acciaierie e Laminatori SA und Von Roll AG durch einen sogenannten Poolvertrag verbunden, der für Bereiche des schweizerischen Stahlmarktes eine gemeinsame Absatz- und Preispolitik vorsieht. Die Ferrowohlen AG wirft ihren Partnern vor, durch eigenmächtige, den Grundsatz der Einstimmigkeit verletzende Preisfestsetzung gegen den Poolvertrag verstossen zu haben.
B.-
Am 29. Oktober 1984 klagte die Ferrowohlen AG beim im Poolvertrag vorgesehenen Schiedsgericht gegen die drei Partnerfirmen
BGE 112 II 512 S. 513
auf Zahlung einer Konventionalstrafe von je einer Million Franken nebst Zins. Die Beklagten bestritten aufgrund von
Art. 15 KG
die Zuständigkeit des Schiedsgerichts, das die Unzuständigkeitseinrede jedoch mit Beschluss vom 21. Februar 1985 verwarf. Ein Rekurs der Beklagten wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am 23. Juli 1985 abgewiesen, ebenso eine Nichtigkeitsbeschwerde vom Kassationsgericht am 17. März 1986, soweit auf sie eingetreten werden konnte.
C.-
Die Beklagten haben gegen den Entscheid des Obergerichts Berufung an das Bundesgericht eingereicht und beantragen, den angefochtenen Entscheid und den Beschluss des Schiedsgerichts aufzuheben und dessen Unzuständigkeit festzustellen. Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung.
Nach dem Entscheid des Kassationsgerichts haben die Beklagten sowohl diesen als auch den Entscheid des Obergerichts mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 und 58 BV
angefochten. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Mit der Berufung machen die Beklagten geltend, die Vorinstanz habe in Verletzung von
Art. 15 KG
die Gültigkeit der Schiedsabrede angenommen und deshalb zu Unrecht die Zuständigkeit des ordentlichen Richters verneint. Nach der genannten Bestimmung ist eine Schiedsgerichtsvereinbarung nichtig, wenn sie künftige Streitigkeiten über die Entstehung, Gültigkeit oder Beendigung von Kartellverpflichtungen oder eine Massregelung nach
Art. 15 KG
betrifft und nicht jedem Beteiligten das Recht gibt, im Einzelfall beim ordentlichen Richter zu klagen oder binnen 30 Tagen seit Zustellung der Klage die Entscheidung des ordentlichen Richters zu verlangen. Der Schiedsvertrag der Parteien sieht diese Möglichkeit nicht vor, doch haben die Beklagten von ihr bereits Gebrauch gemacht und den ordentlichen Richter angerufen.
Die Beklagten gehen stillschweigend davon aus, dass der Rekursentscheid des Obergerichts mit Berufung an das Bundesgericht angefochten werden kann; die Klägerin anerkennt das ausdrücklich unter Hinweis auf
Art. 49 OG
.
a) Wenn
Art. 15 KG
die Nichtigkeit der Schiedsklausel vorsieht, liegt darin sinngemäss eine bundesrechtliche Vorschrift über die sachliche Zuständigkeit des ordentlichen Richters oder des
BGE 112 II 512 S. 514
Schiedsgerichts (JOLIDON, Commentaire du Concordat suisse sur l'arbitrage, N. 42 zu Art. 8 Konkordat, S. 187; N. 51 und N. 52 lit. a zu Art. 4 Konkordat, S. 127 f.). Die Missachtung einer bundesrechtlichen Zuständigkeitsnorm kann beim Bundesgericht mit Berufung angefochten werden (
Art. 43 und 49 OG
); wie die Berufung gegen einen Endentscheid (
Art. 48 OG
) setzt dabei auch diejenige gegen einen Zwischenentscheid (
Art. 49 und 50 OG
) eine berufungsfähige Streitsache im Sinne von Art. 44 bis 47 OG voraus (
BGE 85 II 281
Nr. 43,
BGE 84 II 464
f.; WURZBURGER, Les conditions objectives du recours en réforme au Tribunal fédéral, Diss. Lausanne 1964, S. 213 Ziff. 292).
Ob ein kantonaler Rechtsmittelentscheid über ein Schiedsgerichtsurteil mit Berufung angefochten werden kann, ist teils kontrovers. Das Bundesgericht hat in zwei neueren publizierten Urteilen kantonale Rechtsmittelentscheide, mit denen die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts bejaht worden ist, aufgrund von
Art. 49 OG
überprüft; es ist jedoch in beiden Fällen nicht auf die Berufung eingetreten, weil keine Verletzung von Bundesrecht in Frage stand, mithin nicht untersucht zu werden brauchte, ob es auch sonst an der Berufungsfähigkeit fehlte (
BGE 103 II 75
ff.,
BGE 101 II 168
ff.). In der Literatur ist teils auf die Problematik dieses Vorgehens hingewiesen und eine nähere Prüfung als wünschbar bezeichnet worden (WIGET in STRÄULI/MESSMER, N. 3 zu
§ 241 ZPO
/ZH; HINDERLING, Ausgewählte Schriften, Nachtrag S. 330). Dazu besteht nunmehr Anlass.
b) Eine direkte Anfechtung von Schiedsgerichtsurteilen durch Berufung an das Bundesgericht war stets ausgeschlossen (
BGE 34 II 803
oben mit Hinweisen). Auch gegenüber der Anfechtbarkeit von Entscheiden einer staatlichen Rechtsmittelinstanz über Schiedsgerichtsurteile zeigte sich die frühere Rechtsprechung ablehnend. In älteren Entscheiden nahm das Bundesgericht an, mit der Schiedsgerichtsvereinbarung werde auf die Berufung an das Bundesgericht verzichtet; es sei nur schwer einzusehen, wie der nämliche Streit nacheinander von privaten Schiedsgerichten und staatlichen Gerichten behandelt werden könnte (
BGE 65 II 37
f.,
BGE 64 II 230
f.). Immerhin wurde in diesen Entscheiden die Anfechtung beim Bundesgericht für Fälle ausgeschlossen, in denen der Weiterzug an ein kantonales Gericht entweder auf Parteivereinbarung beruhte oder nach kantonalem Recht nur fakultativ vorgesehen war; für den Fall einer vom Gesetz vorgesehenen Weiterziehungsmöglichkeit mittels eines eigentlichen kantonalen Rechtsmittels
BGE 112 II 512 S. 515
wurde in noch älteren Urteilen eine abweichende Beurteilung vorbehalten (
BGE 34 II 803
unten, 26 II 431 E. 1).
Im Anschluss an die Rechtsprechung, wie sie in
BGE 64 II 230
und
BGE 65 II 37
f. zum Ausdruck kommt, nimmt offenbar eine herrschende Lehre an, eine Berufung entfalle auch dann, wenn nach kantonalem Recht ein staatliches Gericht als Rechtsmittelinstanz entschieden habe (BIRCHMEIER, N. 2 lit. d zu
Art. 43 OG
, S. 76; WIGET in STRÄULI/MESSMER, N. 6 zu
§ 255 ZPO
/ZH; POUDRET/WURZBURGER, Code de procédure civile vaudois et Concordat sur l'arbitrage, 2. Aufl. 1980, N. 8 zu Art. 36 Konkordat, S. 403). Im übrigen beschränkt sich die neuere Literatur darauf, teils eine Berufung gegen den Schiedsspruch selbst auszuschliessen (GULDENER, Zivilprozessrecht, S. 615 Anmerkung 113; VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, S. 307 N. 79; ebenso schon WEISS, Die Berufung an das Bundesgericht in Zivilsachen, S. 29 Ziff. 1 lit. b, sowie LEUCH, N. 1 zu
Art. 393 ZPO
/BE, S. 375), teils nur die Anfechtung des Rechtsmittelentscheids mit staatsrechtlicher Beschwerde zu erwähnen (WALDER-BOHNER, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1983, S. 511 Anmerkung 46; WALDER-BOHNER in Das schweizerische Konkordat über die Schiedsgerichtsbarkeit, S. 27 Ziff. 59; RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, S. 332 oben; WENGER in Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz (1979), S. 73 Ziff. 10) oder die Möglichkeit, den kantonalen Rechtsmittelentscheid weiterzuziehen, auszuklammern (JOLIDON, N. I1 Vorbem. vor Art. 36-43 Konkordat, S. 496). Ein Teil der älteren Literatur befürwortet freilich die Berufungsfähigkeit solcher Rechtsmittelentscheide (SACHS, Die Voraussetzungen für die Berufung an das Bundesgericht gegen Entscheide nach
Art. 48-50 OG
, Diss. Bern 1951, S. 42) und sodann wird auf den Widerspruch hingewiesen, dass gegen solche Rechtsmittelentscheide die staatsrechtliche Beschwerde zugelassen sei (WURZBURGER, a.a.O. S. 176 Ziff. 242 und Anmerkung 39).
c) Die Gründe, die ganz allgemein für die Zulassung privater Schiedsgerichte angeführt werden können, stehen auch einer umfassenden Überprüfung ihrer Urteile durch ordentliche staatliche Rechtsmittelinstanzen entgegen. Das steht auch für die Berufung an das Bundesgericht ausser Frage, soweit diese sich gegen Sachentscheide von Schiedsgerichten und anschliessende kantonale Rechtsmittelentscheide richtet. Dann kann es sich aber auch für Zuständigkeitsentscheide nicht anders verhalten, mögen sie als Endentscheid (
Art. 48 OG
) oder Zwischenentscheid (
Art. 49 OG
)
BGE 112 II 512 S. 516
ergehen (vgl. vorstehende E. 1a), selbst wenn eine Verletzung von Bundesrecht behauptet wird.
d) Ist auf die Berufung nicht einzutreten, muss geprüft werden, ob diese als zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verletzung einer bundesrechtlichen Vorschrift über die sachliche Zuständigkeit (
Art. 68 Abs. 1 lit. b OG
) umzudeuten (
BGE 95 II 294
E. 2,
BGE 93 II 217
E. 3) und als solche zulässig sei. Die Überlegungen, die zum Ausschluss der Berufung führen, gelten jedoch auch für die Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht. Dass vereinzelt in der Literatur das Gegenteil verfochten wird, beruht auf der nach dem Gesagten unzutreffenden Annahme, es sei auch eine Berufung möglich (THOUVENIN, Die bundesrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde in Zivilsachen, Diss. Zürich 1978, S. 113 f. und 158 Anmerkung 390 mit Hinweisen auf Sachs und Wurzburger; ebenso schon zur früheren zivilrechtlichen Beschwerde GIESKER-ZELLER, Die zivilrechtliche Beschwerde an das schweizerische Bundesgericht, S. 181).
e) Als Rechtsmittel gegen Entscheide kantonaler Instanzen über einen Zuständigkeits- oder Sachentscheid eines Schiedsgerichts fällt demnach einzig noch die staatsrechtliche Beschwerde in Betracht. Für diese Lösung sprechen nicht zuletzt praktische Gründe. Sie stellt klar, dass im Schiedsgerichtsverfahren das Bundesgericht ausschliesslich auf diesem Weg angerufen werden kann, und sie vermeidet unnötige Sonderregelungen für Zuständigkeitsstreitigkeiten. Freilich bleibt nach Massgabe der
Art. 48 und 49 OG
die Berufung (allenfalls die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss
Art. 68 lit. b OG
) möglich, wenn im Prozess vor einem staatlichen Gericht bundesrechtliche Zuständigkeitsregeln wie der hier angerufene
Art. 15 KG
streitig sind. Das liegt aber in der grundlegenden Verschiedenheit der Verfahren begründet und führt konkret auch nicht zu Unzukömmlichkeiten, weil dem Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde hin ebenfalls eine freie Rechtsprüfung zukommt (vgl. nachstehend E. 2a).
2.
Die Beklagten haben jedoch im Anschluss an den Entscheid des Obergerichts keine staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie haben das zwar im Anschluss an den Entscheid des Kassationsgerichts nachgeholt, doch erweist sich das als unstatthaft, wie dem Entscheid über diese Beschwerde zu entnehmen ist. Das schliesst indes nicht aus, dass gegebenenfalls die vorliegende Berufung als staatsrechtliche Beschwerde behandelt werden könnte.
BGE 112 II 512 S. 517
Nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn die Formen und Fristen des Beschwerdeverfahrens gewahrt sind (
BGE 96 I 390
E. 1 mit Hinweisen). Den inhaltlichen Anforderungen an eine Beschwerdeschrift genügt die Berufung, wird doch eine Verletzung der bundesrechtlichen Zuständigkeitsvorschrift von
Art. 15 KG
und damit der Beschwerdegrund von
Art. 84 Abs. 1 lit. d OG
geltend gemacht. Insoweit brauchten die Beklagten den kantonalen Instanzenzug nicht auszuschöpfen (
Art. 86 Abs. 3 OG
). Auch wenn man den Fristenstillstand berücksichtigt, erweist sich die Eingabe jedoch als verspätet, weil der Entscheid des Obergerichts am 7. August 1985 zugestellt, die Berufung am 16. September beim Obergericht erklärt und erst am 24. September an das Bundesgericht weitergeleitet worden ist (
BGE 103 Ia 53
). Unter den gegebenen Umständen kann jedoch über diesen Mangel hinweggesehen werden, wären doch offensichtlich die Voraussetzungen einer Wiederherstellung (
Art. 35 OG
) erfüllt, da die Beklagten aufgrund der publizierten Bundesgerichtsurteile von 1975 und 1977 die Berufung als zulässig betrachten durften.
a) Ob das Obergericht
Art. 15 KG
zutreffend ausgelegt hat, prüft das Bundesgericht auch im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde frei. Obwohl es sich nicht um eine Konkordatsbeschwerde nach
Art. 84 Abs. 1 lit. b OG
handelt, weil der Kanton Zürich erst mit Wirkung ab 1. Juli 1986 dem Schiedsgerichtskonkordat beigetreten ist und die in diesem Zeitpunkt hängigen Schiedsgerichtsverfahren noch nach dem bisherigen kantonalen Recht behandelt werden (Übergangsbestimmung Art. III in Zürcher Gesetze, Bd. 49 S. 386), ist das Bundesgericht als Beschwerdeinstanz auch bei bloss sinngemässen Zuständigkeitsvorschriften (
BGE 97 I 56
) im Rahmen von
Art. 84 Abs. 1 lit. d OG
nicht auf Willkürprüfung beschränkt (KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, S. 201; ebenso bei Anwendung von
Art. 58 BV
:
BGE 110 Ia 107
E. 1 mit Hinweis).
b) Nach Ansicht des Obergerichts ist streitig, ob die Kartellvereinbarung, die bei der Preisfestsetzung ein gemeinsames Vorgehen verlangt, Einstimmigkeit voraussetzt; das sei eine blosse Frage der Auslegung des Poolvertrags, die, wie auch immer sie entschieden werde, erst im Hauptprozess massgeblich sei und nur einen allenfalls ergänzender Auslegung zugänglichen Teilaspekt darstelle. Ob ein Mehrheitsbeschluss gegen den Poolvertrag verstosse und die Beklagten diesen verletzt hätten, sei eine Streitigkeit aus und nicht um den Vertrag und werde daher nicht von Art. 15 Abs. 1 erfasst.
BGE 112 II 512 S. 518
Die schiedsgerichtliche Zuständigkeit sei daher eine ausschliessliche.
Die Beklagten rügen das zutreffend als bundesrechtswidrig. Zwar fällt der Streit darüber, ob eine bestimmte Kartellverpflichtung verletzt worden ist, nicht unter den Vorbehalt von
Art. 15 Abs. 1 KG
. Ist aber der Bestand einer Kartellverpflichtung streitig, vorliegend das Erfordernis einer Preispolitik nach einstimmig zu fassenden Beschlüssen, so fällt das unter den Vorbehalt, den das Kartellgesetz für die Entstehung einer Kartellverpflichtung anbringt. Welche Verpflichtung mit dem Kartellvertrag begründet worden ist, lässt sich nicht losgelöst von seiner Auslegung beantworten. Gleich verhält es sich mit der eventuell ebenfalls bestrittenen Gültigkeit einer solchen Verpflichtung. Das Obergericht hat daher
Art. 15 Abs. 1 KG
verletzt, indem es die Bestimmung nicht auf den vorliegenden Auslegungsstreit angewandt hat.
c) Für die Beklagten folgt aus
Art. 15 Abs. 1 KG
, dass die Schiedsvereinbarung als Ganzes nichtig sei, weil sie den vom Gesetz verlangten Vorbehalt nicht enthalte. Nach Auffassung des Obergerichts erfordert der Normzweck keine solche absolute Nichtigkeit; die Schiedsklausel sei vielmehr im zulässigen Umfang aufrechtzuerhalten. Das braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. Die Beklagten haben den ordentlichen Prozess bereits eingeleitet. In diesem wird zu beurteilen sein, welches der Inhalt der Kartellverpflichtung ist (Frage der Entstehung), aber auch, ob sich die Schiedsabrede wegen Nichtbeachtung von
Art. 15 Abs. 1 KG
insgesamt als ungültig erweise (Frage der Gültigkeit). Sollte der ordentliche Richter zum Schluss gelangen, die Schiedsabrede sei gültig und der Poolvertrag im Sinne der Klägerin dahin auszulegen, dass er die Einstimmigkeit voraussetze, wäre es dann Sache des Schiedsgerichts, über die Verletzung der damit festgestellten Vertragspflicht und die Konventionalstrafen zu entscheiden (HINDERLING in SJZ 75 (1979) S. 324 f.).
Weil das Obergericht die Zuständigkeitsvorschrift des
Art. 15 Abs. 1 KG
missachtet hat, ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der Rekursentscheid des Obergerichts aufzuheben. Da die Klägerin infolge einer für sie unerwarteten Umdeutung der Berufung unterliegt, sind Kostenfolgen unangemessen.
BGE 112 II 512 S. 519 | de |
8b87c21f-8cf7-4ab9-bcd4-e170346e5e10 | Sachverhalt
ab Seite 303
BGE 113 Ib 303 S. 303
Die Gemeinde Richterswil bewilligte E. im Jahre 1968, auf seinem Grundstück, das sich nach dem kommunalen Zonenplan ausserhalb der Bauzonen und nach dem kantonalen Nutzungsplan
BGE 113 Ib 303 S. 304
in der Landwirtschaftszone befindet, einen Schweinestall zu bauen. Im Einverständnis mit E. wurde der Schweinezucht- und Mastbetrieb durch Verfügung des Bundesamtes für Landwirtschaft vom 22. Oktober 1980 gestützt auf Art. 9 ff. der Verordnung über die Höchstbestände in der Fleisch- und Eierproduktion vom 10. Dezember 1979 im Sinne einer landwirtschaftlichen Lenkungsmassnahme stillgelegt (heute gilt die entsprechende Verordnung vom 26. August 1981, SR 916.344). Er erhielt hierfür eine Entschädigung von Fr. 113'760.--, die dem Zeitwert des Stalls abzüglich 20% des Gebäudewertes entsprach. Dieser Abzug von Fr. 20'640.-- wurde vorgenommen, weil das Gebäude ohne Inneneinrichtungen weiterverwendet werden könne.
Nach der Stillegung seines Zucht- und Mastbetriebes wandelte E. das Stallgebäude in Lagerräume mit zwei Büros um und vermietete diese an zwei Handelsbetriebe für Dentalgegenstände bzw. Geschenkartikel. Er ersuchte nachträglich um eine Bewilligung des Umbaus. Der Gemeinderat Richterswil verweigerte am 16. Januar 1984 die Bewilligung für den Umbau des Stalls in Büros und Lagerräume, stellte jedoch eine Bewilligung für die Nutzung des Schweinestalles als Lagerräume unter gewissen Bedingungen im Sinne eines Vorentscheides in Aussicht. Gegen diesen Entscheid erhoben sowohl E. als auch verschiedene Nachbarn Rekurs. Die Baurekurskommission II wies mit Entscheid vom 4. Februar 1986 den Rekurs von E. ab und hob in Gutheissung des Rekurses der Nachbarn die vom Gemeinderat in Aussicht gestellte Bewilligung für die Nutzung als Lagerräume auf. Sowohl das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich als auch das Bundesgericht bestätigten auf Beschwerde von E. hin den Entscheid der Baurekurskommission. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer macht in erster Linie sinngemäss geltend, es sei gar keine Ausnahmebewilligung gemäss Art. 24 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) notwendig. Das eidgenössische Landwirtschaftsgesetz, auf das sich die Verordnung über die Höchstbestände in der Fleisch- und Eierproduktion stütze, gehe als Grundlage der Stillegungsverfügung dem eidgenössischen Raumplanungsgesetz vor. Es sei schon mit dieser landwirtschaftlichen Lenkungsmassnahme über die zonengerechte Nutzung der Stallbaute entschieden worden.
BGE 113 Ib 303 S. 305
b) Zwischen dem Landwirtschaftsgesetz und dem Raumplanungsgesetz besteht entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keinerlei Hierarchie. Beide Erlasse stehen als Bundesgesetze auf derselben Stufe. Mit der Stillegung des Schweinezucht- und Mastbetriebes des Beschwerdeführers wurde nicht zugleich über die zonengerechte Nutzung des Stallgebäudes entschieden. Die sogenannte Stillegungsverfügung ist ihrem Wesen nach eine reine Beitragsverfügung, weil für die freiwillige Stillegung eines Betriebes mit einem Überbestand von Tieren unter bestimmten Auflagen (Nutzungsverbot für die Haltung bestimmter Tiere, Anmerkung im Grundbuch, Entfernung von Stalleinrichtungen) Subventionen ausgerichtet werden. Es wurde somit lediglich über die Höhe des Beitrages und die damit verbundenen Auflagen und Bedingungen entschieden, nicht aber darüber, ob die Nutzung des Gebäudes künftighin zonengemäss sei oder nicht.
c) Das Verwaltungsgericht ging deshalb zutreffend davon aus, dass die innere Umgestaltung des Gebäudes zu gewerblichen Lagerräumen im Sinne von
Art. 22 Abs. 2 lit. a RPG
nicht als zonengemäss betrachtet werden kann und dass deshalb die vorgenommene Zweckänderung einer Ausnahmebewilligung gemäss
Art. 24 RPG
bedarf.
3.
a) Das Verwaltungsgericht hat zu Recht erwogen, dass für die zu beurteilende Umgestaltung des Schweinestalles mangels Standortgebundenheit nur eine Ausnahmebewilligung gestützt auf
Art. 24 Abs. 2 RPG
in Frage kommt. Danach kann das kantonale Recht gestatten, Bauten und Anlagen zu erneuern, teilweise zu ändern oder wieder aufzubauen, wenn dies mit den wichtigen Anliegen der Raumplanung vereinbar ist. Der Kanton Zürich hat hievon im bundesrechtlich zugelassenen Umfang Gebrauch gemacht (§ 2 Abs. 2 der Einführungsverordnung zum RPG vom 19. Dezember 1979/22. Dezember 1982; seit 1. Januar 1985 in
§ 357 Abs. 3 PBG
). Erneuerung, teilweise Änderung und Wiederaufbau sind bundesrechtliche Begriffe. Sie stellen die Grenze für Bewilligungen nach
Art. 24 Abs. 2 RPG
dar (
BGE 112 Ib 95
/96 mit Hinweisen).
b) Die Umwandlung des Stallgebäudes in gewerbliche Lagerräume ist weder eine Erneuerung noch ein Wiederaufbau im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 RPG
. Zu prüfen bleibt, ob es sich um eine teilweise Änderung handelt.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann eine Änderung im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 RPG
sowohl in einer Vergrösserung
BGE 113 Ib 303 S. 306
oder inneren Umgestaltung als auch in einer Zweckänderung bestehen. Sie ist als teilweise zu betrachten, soweit die Wesensgleichheit einer Baute gewahrt wird und keine wesentlich neuen Auswirkungen auf die Nutzungsordnung, Erschliessung und Umwelt geschaffen werden (
BGE 112 Ib 97
E. 3;
BGE 110 Ib 265
E. 3, je mit Hinweisen).
Das Bundesgericht hat im Falle der Umwandlung einer bestehenden Fuhrhalterei in einen Autospenglereibetrieb eine Zweckänderung angenommen, die nicht mehr unter den Begriff der "teilweisen Änderung" fällt (BGE vom 25. November 1981, in: Informationshefte Raumplanung S. 26). Desgleichen hat es die Umwandlung eines "Hangar agricole" in ein "Atelier de mécanique" als völlige Zweckänderung bezeichnet, so dass das Bauvorhaben unter
Art. 24 Abs. 1 RPG
falle (nicht publ. BGE vom 3. Februar 1982 i.S. Baudet). Von Wesensgleichheit einer Baute kann nur gesprochen werden, wenn die Zweckänderung nicht zu einer völlig neuen wirtschaftlichen Zweckbestimmung führt, sondern zu einer Nutzung, "die von der ursprünglichen Nutzungsart nicht grundlegend abweicht" (
BGE 108 Ib 53
ff., nicht publ. E. 2a). Keine solche völlig neue Zweckbestimmung sah das Bundesgericht in der Umwandlung eines Lagerplatzes für Baumaterialien in einen Lagerplatz für Altmaterialien (
BGE 112 Ib 270
E. 5). Diese Beispiele zeigen, dass die Umwandlung eines landwirtschaftlichen Betriebes in ein gewerblich genutztes Lager ohne Zweifel eine vollständige Zweckänderung bedeutet. Selbst wenn man den zum grössten Teil bodenunabhängigen Schweinezucht- und Mastbetrieb des Beschwerdeführers als Gewerbebetrieb qualifizieren wollte, würde dessen Umwandlung in ein Lagergebäude nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts den Rahmen der teilweisen Änderung im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 RPG
sprengen. Die Nutzung des Stallgebäudes als Lager für Handelsfirmen weicht von der ursprünglichen Nutzung grundlegend ab. Die Wesensgleichheit des Stalles ist dadurch nicht mehr gewahrt. Das Verwaltungsgericht hat deshalb zu Recht verneint, dass die Umwandlung des Stallgebäudes gestützt auf
Art. 24 Abs. 2 RPG
bewilligt werden könne. | de |
2df12cb6-5a01-4b05-852f-8fa73d889cdc | Sachverhalt
ab Seite 130
BGE 113 II 130 S. 130
A.-
Am 2. April 1966 verkaufte Johann Lichtensteiger seinem Sohn Hans sein aus mehreren Parzellen bestehendes landwirtschaftliches Gewerbe in Niederhelfenschwil zum Preise von Fr. 160'000.--. Das Inventar, das sich aus Vieh und landwirtschaftlichen Gerätschaften zusammensetzte, wurde für Fr. 59'000.-- mitveräussert. Unklar ist, ob im Kaufpreis von Fr. 160'000.-- auch das Inventar eingeschlossen war oder ob dieser Betrag sich nur auf das Gewerbe ohne Inventar bezog.
Im September 1973 starb Johann Lichtensteiger und hinterliess als Erben seine Ehefrau und vier Kinder, nämlich Hans Lichtensteiger, Werner Lichtensteiger, Adelheid Rosenast-Lichtensteiger und Marianne Schmidhauser-Lichtensteiger.
Mit Kaufvertrag vom 21. August 1980 verkaufte Hans Lichtensteiger von der von seinem Vater erworbenen Liegenschaft die Parzelle Nr. 613 mit dem bäuerlichen Wohnhaus und zwei Scheunen Clemens Scherrer zum Preise von Fr. 250'000.--. Im Kaufvertrag wurde festgehalten, dass ein Miterben-Gewinnanspruch bis zum 5. Mai 1991 im Grundbuch vorgemerkt sei.
BGE 113 II 130 S. 131
B.-
Marianne Schmidhauser-Lichtensteiger erhob am 9. April 1984 gegen Clemens Scherrer beim Bezirksgericht Wil Klage auf Ausrichtung eines Gewinnanteils im Sinne von
Art. 619 ZGB
. Sie machte geltend, dass die veräusserte Parzelle im Jahre 1966 einen Ertragswert von Fr. 43'400.-- aufgewiesen habe, so dass der Gewinnanteil der Erben Fr. 206'600.-- und die ihr zustehenden 3/16 davon Fr. 38'737.-- betragen würden. Hievon seien 28% oder Fr. 10'846.-- wegen der 14jährigen Dauer des Besitzes von Hans Lichtensteiger in Abzug zu bringen, so dass sich ihr Gewinnanteil auf Fr. 27'891.-- belaufe.
Das Bezirksgericht wies die Klage mit Urteil vom 29. November 1984 ab mit der Begründung, es sei nicht dargetan, dass Hans Lichtensteiger die Liegenschaft von seinem Vater zu einem unter dem Verkehrswert liegenden Preis übernommen habe, so dass ein Gewinnanspruch entfalle.
Gegen das bezirksgerichtliche Urteil gelangte die Klägerin mit einer Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen. Dieses wies die Berufung am 6. November 1985 ab. Es vertrat die Auffassung, dass der Anspruch auf Gewinnbeteiligung im Sinne von
Art. 619 ZGB
auf einem Gesamthandsverhältnis beruhe, weshalb die Klägerin zur selbständigen Geltendmachung ihres Anteils am Gewinn nicht berechtigt sei.
C.-
Die Klägerin führt beim Bundesgericht Berufung mit den Anträgen, das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 6. November 1985 sei aufzuheben und der Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin Fr. 38'737.-- zu bezahlen, vermindert um die durch das Gericht festzulegenden abzugsberechtigten Aufwendungen des Hans Lichtensteiger auf der Liegenschaft Parzelle Nr. 613 in Niederhelfenschwil und den 28%igen Abzug aufgrund der 14jährigen Zeitdauer, in welcher Hans Lichtensteiger die Parzelle besass, nebst Zins zu 5% seit der Veräusserung der Liegenschaft durch Hans Lichtensteiger an den Beklagten am 23. September 1980, eventuell 5% seit dem 24. November 1983.
Der Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Hat ein Erbe ein landwirtschaftliches Grundstück nicht zum Verkehrswert, sondern zu einem niedrigeren Übernahmepreis zugeteilt erhalten, so sind die Miterben gemäss
Art. 619 Abs. 1 ZGB
BGE 113 II 130 S. 132
berechtigt, bei der Veräusserung oder Enteignung des Grundstücks oder eines Teils desselben in den folgenden 25 Jahren ihren Anteil am Gewinn zu beanspruchen. Der Erwerber haftet mit dem Veräusserer solidarisch für die Ausrichtung des Gewinnanteils, wenn der Gewinnanspruch auf Anmeldung eines Berechtigten im Grundbuch vorgemerkt ist (
Art. 619quinquies ZGB
). Die Vorschriften über den Gewinnanspruch nach
Art. 619 ff. ZGB
finden auch Anwendung, wenn ein Verkäufer ein Grundstück zu seinen Lebzeiten auf einen Erben übertragen hat und dieses weiterveräussert oder enteignet wird (
Art. 218quinquies OR
).
Im vorliegenden Fall ist umstritten, ob die Klägerin berechtigt sei, ihren Anteil am Gewinn beim Verkauf der Parzelle Nr. 613 in Niederhelfenschwil selbständig geltend zu machen, oder ob der Gewinnanspruch den Mitgliedern der Erbengemeinschaft zur gesamten Hand zustehe.
a) Entsprechend dem vom Parlament letztlich beschlossenen Wortlaut von
Art. 619 ZGB
, wie er vor der Revision von 1965 in Geltung stand, waren die Miterben berechtigt, den Gewinnanteil zu beanspruchen. Von der herrschenden Lehre wurde gestützt auf diesen Gesetzeswortlaut die Fortdauer einer Gemeinschaft zur gesamten Hand unter den Miterben angenommen, deren Gegenstand nur noch der bedingte Anspruch auf Gewinnbeteiligung bildete. Dies hatte zur Folge, dass der spätere Gewinnüberschuss an die Gesamtheit der Miterben zu bezahlen war (ESCHER und TUOR/PICENONI, je N. 19 zu
Art. 619 ZGB
; dies im Gegensatz zu Piotet in ZSR 1960 I S. 407 f. Anm. 30). Auch die Rechtsprechung schien sich der herrschenden Lehre anzuschliessen, wenn in
BGE 87 II 80
darauf hingewiesen wurde, dass sich das Gewinnanteilsrecht als Teilungsanspruch mit Bezug auf einen Rest der Erbschaft auffassen lasse.
b) Anlässlich der Revision der Bestimmungen von
Art. 619 ff. ZGB
im Jahre 1965 wurde der Frage, wer den Gewinnanspruch geltend machen könne, ob nur die Gesamtheit der Miterben oder der einzelne Erbe, keine besondere Bedeutung beigemessen. Immerhin hielt der Bundesrat in seiner Botschaft unter Hinweis auf HOMBERGER, N. 69 zu
Art. 959 ZGB
, fest, durch die Vormerkung im Grundbuch erwachse dem Käufer des Grundstücks die Pflicht, den Kaufpreis statt an den Verkäufer allein an alle Erben zu gesamter Hand zu bezahlen (BBl 1963 I 1005).
Soweit sich die Lehre seit der Revision im Jahre 1965 mit der strittigen Frage befasst hat, ist sie weiterhin gespalten, indessen
BGE 113 II 130 S. 133
tritt nunmehr die überwiegende Lehre für einen Individualanspruch ein. Nach PIOTET, Erbrecht, in Schweiz. Privatrecht, Bd. IV/2, S. 973, ist - anders als noch in ZSR I 1960, 407 dargelegt - davon auszugehen, dass der Gewinnanspruch in
Art. 619 ZGB
in der Fassung vor 1965 eine mit einer allfälligen Nutzniessung belastete Gesamtforderung der Erben sei. Die neue Fassung 1965 von
Art. 619 ZGB
habe nun die Formulierung, die zu dieser Annahme berechtigte, wiederaufgenommen ("sind die Miterben berechtigt, [...] ihren Anteil am Gewinn zu beanspruchen"). Die Miterben seien somit berechtigt, die Ausrichtung des Gewinnanteils zu verlangen. Diese erfolge nach der französischen Fassung von
Art. 619quinquies ZGB
an alle Miterben. Darin erblickt Piotet ein ernsthaftes Indiz für eine Gesamtforderung, was durch die zitierte Stelle aus der Botschaft des Bundesrates (BBl 1963 I 1005) bestätigt werde.
GASSER (Le droit des cohéritiers à une part de gain, thèse Lausanne 1967, S. 76 ff.; Quelques questions controversées en matière de participation des héritiers au gain, ZBGR 53 (1972), S. 65 ff., insbes. S. 69), BECK (Das gesetzliche Gewinnanteilsrecht der Miterben, Diss. Zürich 1967, S. 123) und ESCHER (Ergänzungslieferung zum landwirtschaftlichen Erbrecht, N. 13 zu
Art. 619 ZGB
und N. 7 zu
Art. 619quinquies ZGB
) sind demgegenüber der Ansicht, dass jeder Erbe selbständig seinen Anteil am Gewinn beanspruchen könne. Gasser und Beck betrachten zudem den Fortbestand der Erbengemeinschaft mit dem einzigen Zweck, einen allfälligen Gewinnanspruch der Miterben zu realisieren, als sinnwidrig.
3.
Aus diesen Darlegungen ergibt sich, dass die Lehrmeinungen, welche sich nach der Revision von 1965 gegen die Annahme einer Gesamthandsforderung der Miterben aussprechen, überwiegen. Dabei wird mit Recht darauf hingewiesen, dass als Grundlage einer Forderung zur gesamten Hand eine Gemeinschaft der Berechtigten nachzuweisen wäre. Die einzige Gemeinschaft, die aber im Zusammenhang mit
Art. 619 ZGB
in Frage kommen kann, ist die Erbengemeinschaft. Indessen entsteht der Anspruch der Miterben auf einen Gewinnanteil erst, wenn das fragliche Grundstück aus der Erbmasse ausgeschieden und auf den Übernehmer übertragen wird, was bei der Erbteilung der Fall ist. Bei der Teilung wird jedoch die Erbengemeinschaft aufgelöst. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Erbengemeinschaft einzig mit dem Zweck, den Miterben einen Anspruch zu sichern, der gar nicht Bestandteil der
BGE 113 II 130 S. 134
Erbschaft bildete, fortgeführt werden sollte (GASSER, Le droit des cohéritiers à une part de gain, S. 76). Die Erbengemeinschaft wurde vom Gesetzgeber als Gesamthandsverhältnis ausgestaltet, um die Miterben gegen unzulässige und schädigende Eingriffe eines andern Miterben zu schützen (ESCHER, N. 13 zu
Art. 602 ZGB
). Verlangt aber einer der Miterben selbständig seinen gesetzlichen Anteil am Gewinn, so werden die Interessen der andern Miterben dadurch in keiner Weise verletzt; es steht ihnen vielmehr frei, dasselbe zu tun. Die Annahme einer fortgesetzten Erbengemeinschaft hätte zudem widersprüchliche Konsequenzen, indem nämlich gegenüber dem Übernehmer des Grundstücks jeder einzelne Erbe auf dem Wege der Teilungsklage seinen Anteil verlangen könnte, während dem Dritterwerber gegenüber nur die Erbengemeinschaft als solche auftreten könnte (ESCHER, Ergänzungslieferung, N. 7 zu
Art. 619quinquies ZGB
). Im übrigen weist ESCHER, a.a.O., mit Recht darauf hin, dass nach
Art. 619 Abs. 1 ZGB
die Miterben ihren Anteil am Gewinn geltend machen können, der Erbengemeinschaft jedoch kein Anteil zustehen würde. Auch aus
Art. 619quinquies ZGB
, wonach die Anmeldung des Gewinnanteilsrechts im Grundbuch durch einen einzelnen Erben allen Miterben zugute kommt, kann nicht auf eine Gesamthandsforderung geschlossen werden. Wenn der Anspruch nur der Erbengemeinschaft, nicht aber dem einzelnen Miterben zustehen würde, so wäre damit unvereinbar, dass die Anmeldung eines einzelnen Erben auch für die andern Miterben ohne deren Zustimmung wirksam wäre (GASSER, a.a.O., S. 76). In diesem Zusammenhang ist auch die Rechtsprechung zu beachten, wonach ein pflichtteilsgeschützter Erbe, der von der Erbschaft ausgeschlossen und somit nicht wirklicher Erbe wird, dennoch die Vormerkung des Gewinnanteilsrechts verlangen kann, das ihm durch die Vereinbarung mit dem Eigentümer gewährt worden ist (
BGE 104 II 85
).
Entgegen der Meinung der Vorinstanz, welche sich vor allem auf PIOTET, a.a.O., S. 973, und die Botschaft des Bundesrates, BBl 1963 I 1005, stützte, ist unter Berücksichtigung der angeführten Argumente ein Gesamthandsverhältnis der Miterben im Sinne einer fortgesetzten Erbengemeinschaft im Hinblick auf
Art. 619 ff. ZGB
zu verneinen. Es kann somit jeder einzelne Erbe selbständig seinen Anteil am Gewinn gemäss
Art. 619 Abs. 1 ZGB
geltend machen.
4.
Im vorliegenden Fall wird der Gewinnanteilsanspruch der Miterben nicht unmittelbar durch
Art. 619 ZGB
begründet, da
BGE 113 II 130 S. 135
der Eigentümer des landwirtschaftlichen Grundstücks, der Vater der Klägerin, dieses noch zu seinen Lebzeiten einem seiner Söhne verkauft hat. Der Gewinnanspruch richtet sich daher nach
Art. 218quinquies OR
. Nach der heute geltenden Fassung dieser Bestimmung, die am 15. Februar 1973 in Kraft trat, besitzt der Veräusserer, solange er lebt, bei der Weiterveräusserung des Grundstücks einen Gewinnanspruch. Ist er im Zeitpunkt der Veräusserung gestorben, so geht das Recht von Gesetzes wegen auf seine Erben über, die den Gewinnanteil nach den Vorschriften von
Art. 619 ff. ZGB
geltend machen können. Im geltenden Recht ist somit der Übergang des Anspruchs vom Veräusserer auf seine Erben gesichert.
Johann Lichtensteiger hat indessen sein landwirtschaftliches Gewerbe bereits im Jahre 1966 seinem Sohn verkauft, so dass auf dieses Rechtsgeschäft die frühere Fassung von
Art. 218quinquies OR
, die seit dem 19. März 1965 in Kraft stand, zur Anwendung gelangt (
BGE 94 II 245
; ESCHER, Ergänzungslieferung, S. 16 N. 12). Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung war nicht klar, wer Träger des Anspruchs am Gewinn sei, ob der Veräusserer oder seine Erben, sofern das Grundstück noch zu Lebzeiten des Verkäufers weiter veräussert wurde. In der Lehre wurde eher ein Gewinnbeteiligungsrecht der Erben angenommen (ESCHER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 218quinquies OR
; BECK, a.a.O., S. 134; GASSER, a.a.O., S. 79). Das hätte zur Folge, dass das Gewinnbeteiligungsrecht der Miterben von Gesetzes wegen entstehen würde, ohne dass der Anspruch zunächst in den Nachlass des ursprünglich berechtigten Veräusserers und damit in die Erbengemeinschaft fallen würde. Wäre jedoch anders zu entscheiden, dass primär der Veräusserer gewinnberechtigt wäre, dieser aber die Weiterveräusserung nicht mehr erlebt, so müsste auch dann ein Gewinnbeteiligungsrecht der Erben, wie es in der nachfolgenden, am 15. Februar 1973 in Kraft getretenen Regelung ausdrücklich vorgesehen wurde, bejaht werden. Das bedeutet aber, dass der Anspruch ebenfalls von Gesetzes wegen unter entsprechender Anwendung von
Art. 619 ff. ZGB
auf die Miterben übergeht. Gestützt auf
Art. 619 Abs. 1 ZGB
kann nach dem oben Dargelegten jeder Miterbe selbständig seinen Anteil am Gewinn verlangen. Das gilt somit auch für die Klägerin, die von der Vorinstanz zu Unrecht als nicht legitimiert betrachtet wurde, ein selbständiges Rechtsbegehren zu stellen. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zur
BGE 113 II 130 S. 136
materiellen Prüfung des Begehrens der Klägerin und zu neuer Entscheidung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. | de |
230a78e7-027b-4b02-948a-82bfb79c07ef | Sachverhalt
ab Seite 162
BGE 103 IV 162 S. 162
A.-
S. schickte am 2. Februar 1976 dem Geliebten seiner Frau, J., einen eingeschriebenen Brief folgenden Inhalts:
"Hausverbot
Ich verbiete hiermit Herrn J. ab sofort das auf meinen Namen im Grundbuch eingetragene Grundstück und das sich darauf befindliche Haus in O. zu betreten.
Bei Zuwiderhandlung werde ich Strafanzeige einreichen."
S. traf am 2. April 1976 abends, als er überraschend aus dem Militärdienst zurückkehrte, J. zusammen mit seiner Ehefrau in seinem Hause an. Er erstattete Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs. J. machte geltend, er habe sich auf Einladung
BGE 103 IV 162 S. 163
der Ehefrau S. bei ihr aufgehalten, was diese als zutreffend bestätigte.
B.-
Das Bezirksgericht Bremgarten erklärte J. des Hausfriedensbruchs schuldig und auferlegte ihm Fr. 120.-- Busse.
Eine Berufung des J. wies das Obergericht des Kantons Aargau am 16. März 1977 ab.
C.-
J. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Freisprechung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Des Hausfriedensbruchs gemäss
Art. 186 StGB
macht sich insbesondere schuldig, wer gegen den Willen des Berechtigten in ein Haus unrechtmässig eindringt.
Art. 186 StGB
schützt das Hausrecht, nämlich die Befugnis, über das Haus ungestört zu herrschen und in ihm den eigenen Willen frei zu betätigen. Träger dieses Rechts ist derjenige, dem die Verfügungsgewalt über das Haus zusteht, gleichgültig, ob sie auf einem dinglichen oder obligatorischen oder auf einem öffentlichrechtlichen Verhältnis beruht (
BGE 90 IV 76
).
Es unterliegt keinem Zweifel, dass sowohl der Ehemann wie die Ehefrau gegenüber einem Störer das Hausrecht ausüben können, gleichgültig, wer Eigentümer oder Mieter ist. Jedes von ihnen könnte z.B. gegenüber einem aufsässigen Vertreter oder lästigen Nachbarn ein Hausverbot erlassen und bei dessen Verletzung gültig Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs stellen.
2.
Das Hausrecht garantiert die Unverletzlichkeit des eigenen Heims, nicht wie in der Beschwerde behauptet den Anspruch darauf, nicht mit einem bestimmten Dritten konfrontiert zu werden. Der Hauseigentümer, der jedem Bettler und Hausierer durch Anschlag an der Tür seines Wohnblocks das Betreten verbietet, wohnt möglicherweise in einer andern Stadt und begibt sich nur alle paar Jahre in sein Haus; das Hausverbot gilt gleichwohl, bei Übertretung kann - auch durch den abwesenden Eigentümer - Strafantrag gestellt werden.
Abwegig ist die These des Beschwerdeführers, ein an sich gültiges Hausverbot des Ehemannes gegen einen Ehestörer entfalte nur Wirkung für die Zeit, wo normalerweise der Ehemann zuhause sei, nicht aber bei dessen längerer Abwesenheit.
BGE 103 IV 162 S. 164
Das Gegenteil ist richtig: Für die Zeit des Aufenthalts zuhause bedürfte es nicht eines schriftlichen Hausverbots, hier könnte der Hausherr selbst zum Rechten sehen. Um sich dagegen zu schützen, dass während längerer Abwesenheit des Hausherrn der unerwünschte Hausfreund sich im Heim niederlässt, war das Hausverbot das zweckmässige Mittel; bei dessen Übertretung konnte der Hausherr auch dann Strafantrag stellen, wenn er sie gar nicht persönlich feststellte, sondern z.B. durch Nachbarn informiert wurde.
3.
Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob ein Ehegatte gegen den Willen des andern einer Drittperson wirksam das Haus verbieten kann und ob dieser durch eigene Einladung das vom Ehegatten erlassene Hausverbot unwirksam machen kann.
a) Wie Vorinstanz und Beschwerdeführer mit Recht feststellen, sind die sachen- und obligationenrechtlichen Verhältnisse nicht entscheidend. Das Hausrecht steht wie erwähnt an sich beiden Ehegatten zu, gleichgültig, wer von ihnen Eigentümer bzw. Mieter der Räume ist.
b) Nach geltendem Recht ist der Mann das Haupt der Gemeinschaft (
Art. 160 Abs. 1 ZGB
). Er vertritt sie nach aussen (
Art. 162 Abs. 1 ZGB
). Stehen Rechte Mann und Frau gleichermassen zu, so entscheidet im Streitfall der Wille des Mannes (so ausdrücklich für die Ausübung der elterlichen Gewalt
Art. 274 Abs. 2 ZGB
). Bei Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine Drittperson das eheliche Heim aufsuchen darf oder ihm fernbleiben muss, kommt es auf die Willensäusserung des Mannes an.
Diese heute noch geltende Ordnung wird sich mit dem neuen Eherecht ändern, das die Gleichberechtigung der Ehegatten bringt. Wie dannzumal über ein streitiges Hausverbot zu entscheiden ist, kann hier offen bleiben.
c) Alle Rechte gelten nur unter Vorbehalt des Missbrauchs (
Art. 2 ZGB
;
BGE 94 I 520
E. 4a). Erlässt ein Ehemann ohne schutzwürdiges Interesse gegenüber einem Dritten ein Hausverbot und beeinträchtigt er dadurch eine angemessene persönliche Beziehung des andern Ehegatten, so kann dieser die Hilfe des Eheschutzrichters anrufen.
Der Beschwerdeführer (und die Ehefrau des Beschwerdegegners) behauptet nicht, S. habe das Hausverbot ohne triftigen Grund erlassen. Zwischen dessen Ehefrau und dem Beschwerdeführer
BGE 103 IV 162 S. 165
bestand ein ehebrecherisches Verhältnis. Dass die Ehefrau bei dieser Sachlage sich nicht beim Eheschutzrichter über das Hausverbot gegenüber dem Beschwerdeführer beklagte, ist verständlich.
d) Man könnte sich fragen, ob ein Hausverbot und eine Bestrafung wegen Hausfriedensbruchs die geeigneten Mittel zur Verteidigung der verletzten Rechte eines Ehegatten sind, oder ob hiefür einzig die Rechtsbehelfe des Ehe- und des Scheidungsrechts eingesetzt werden dürfen. Es bedeutet indessen nicht einen übermässigen Eingriff in die höchstpersönlichen Rechte eines Ehegatten auf freie Gestaltung seiner Beziehungen zu Dritten, wenn ihm durch Strafdrohung gegenüber dem Dritten verunmöglicht wird, mit diesem im ehelichen Heim in ehewidrigen Kontakt zu treten. Was im gemeinsamen Haus geschieht, ist nicht ausschliesslich die höchstpersönliche Angelegenheit jedes Ehegatten, sondern berührt auch den anderen, solange die eheliche Gemeinschaft nicht aufgehoben ist. | de |
74f2f27b-4f17-4126-8c55-6ecf8c681450 | Sachverhalt
ab Seite 387
BGE 116 Ib 386 S. 387
A.-
Am 26. Mai 1983 ersuchten die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), Kreis III, den Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10, ein Enteignungsverfahren für das Teilprojekt 7 (Stettbach) der Zürcher S-Bahn einzuleiten. Zugleich stellten sie vorsorglich ein Begehren um vorzeitige Besitzeinweisung. In ihrer Eingabe wiesen die SBB darauf hin, dass das Bauvorhaben dringlich sei und die Bauarbeiten bereits im Juni/Juli 1983 aufgenommen werden sollten. Da eine Besitzeinweisung auf diesen Zeitpunkt im Rahmen des erst noch anzuhebenden Enteignungsverfahrens ausgeschlossen sei, werde versucht werden, "auf freiwilliger Basis mit den betroffenen Grundeigentümern und Pächtern eine vorzeitige Besitzerteilung zu erreichen". Im übrigen gaben die SBB dem Schätzungskommissions-Präsidenten bekannt, dass die Aussteckung bereits vorgenommen und den Grundeigentümern mit Schreiben vom 21. April 1983 angezeigt worden sei.
Mit Verfügung vom 8. Juni 1983 ordnete der stellvertretende Präsident der Schätzungskommission die öffentliche Auflage der Pläne in den Gemeinden Zürich und Dübendorf an, die vom 24. Juni bis 25. Juli 1983 dauerte. Die persönlichen Anzeigen wurden den betroffenen Grundeigentümern am 24. Juni 1983 zugestellt. Zu diesen zählen auch die Stadt Zürich als Eigentümerin der in der Gemeinde Dübendorf liegenden landwirtschaftlich genutzten Parzellen Nrn. 2759-2765 und 3577 (Plan Nrn. 18-24, 16) sowie die Erben G. als Eigentümer des ebenfalls zum Gemeindebann Dübendorf gehörenden Grundstücks Nr. 10573 (Plan Nr. 8).
B.-
Bereits vor der Einleitung des Enteignungsverfahrens waren die SBB mit Schreiben vom 30. März 1983 an den Stadtrat von Zürich gelangt und hatten diesen darauf hingewiesen, dass der Bahnbau im Bereich Stettbach schon im Juni in Angriff genommen werden sollte, eine vorzeitige Besitzeinweisung durch den Schätzungskommissions-Präsidenten aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht möglich sei. Die SBB ersuchten deshalb den Stadtrat, ihnen die Inanspruchnahme der für die Bauarbeiten benötigten Grundstücke
BGE 116 Ib 386 S. 388
ab Juni 1983 (teils Juni 1984 oder 1985) zu bewilligen. Um diesem Wunsch zu entsprechen, wandte sich die Liegenschaftenverwaltung der Stadt an ihre Pächter und veranlasste am 25. April 1983 R., folgende Vereinbarung zu unterzeichnen:
"Pachtland-Entlassung
Durch den Bau der Zürcher S-Bahn, Station Stettbach/Dübendorf, werden
verschiedene Pachtgrundstücke ganz oder teilweise für dieses Bauvorhaben
beansprucht.
Demzufolge werden im gegenseitigen Einvernehmen aus dem Pachtvertrag
Zsb.-Nr. 16 820.1 auf den 30. September 1983 entlassen: Kat.-Nrn.
2759-2765 und 3577 total 37 283 m2; eine Neuverpachtung ist nicht möglich.
Der Pachtzins reduziert sich ab 1. Oktober 1983 auf Fr. 5'524.-- und ist
wie bisher in vierteljährlichen Raten zu bezahlen.
Allfällige Kulturausfall-Entschädigungen sind bei der SBB geltend zu
machen."
Im Besitze dieser Erklärung legten die SBB R. eine bereits ausformulierte und von ihnen unterzeichnete Vereinbarung über die vorzeitige Rückgabe bzw. Übergabe des Pachtlandes vor. In dieser wird festgehalten, dass das Pachtverhältnis über die fraglichen Grundstücke am 30. September 1983 erlösche (Art. 2) und der Pächter auf Wunsch der SBB eine Teilfläche von ca. 119 Aren auf den 1. Juli 1983 sowie das Grundstück Nr. 3577 sofort zurückgebe (Art. 3), während die SBB den Pächter für den Ernteausfall entschädige (Art. 3 Abs. 2 und Art. 4). R., der damals keinen Anwalt zur Seite hatte, unterschrieb die Vereinbarung am 7. Juni 1983. Der Chef der Verwaltungsabteilung des Kreises III der SBB und der Liegenschaftenverwalter der Stadt Zürich, deren Genehmigung in der Vereinbarung vorbehalten worden war, unterzeichneten diese am 17. Juni bzw. 20. Juli 1983. Ebenfalls am 20. Juli 1983 erklärte sich die Stadt mit der vorzeitigen Inbesitznahme ihrer Grundstücke durch die SBB einverstanden, grösstenteils rückwirkend auf den 1. Juli 1983.
C.-
Während der Eingabefrist verlangte die Stadt Zürich, dass die vorgesehene vorübergehende Beanspruchung eines Teils ihrer Parzellen auf die ganzen Parzellenflächen ausgedehnt werde, da auf Wunsch der SBB die Pachtverträge über die ganzen Grundstücke auf den 30. September bzw. 31. Oktober 1983 aufgelöst worden seien. Die Erben G. stellten mit Eingabe vom 22. Juli 1983 ein Entschädigungsbegehren in Höhe von Fr. 300'000.-- für die mehrjährige Beanspruchung der Parzelle Nr. 10573, unter dem Vorbehalt, diese Forderung nach Konsultation eines Fachmannes noch
BGE 116 Ib 386 S. 389
zu berichtigen. Der Pächter R. meldete am 25. Juli 1983 Entschädigungsforderungen für den "Entzug von Pachtland während der Bauzeit" an, wobei er als betroffene Grundstücke die Parzellen Nrn. 12556, 5122, 9605 und 2683 (ohne Bezeichnung der Eigentümer) nannte, während die von R. ebenfalls gepachteten Grundstücke der Stadt Zürich und der Erben G. unerwähnt blieben.
An der Einigungsverhandlung vom 21. September 1983 reduzierten die Erben G., die mit dem Pächter R. und einem gemeinsamen Rechtsanwalt erschienen waren, gestützt auf eine landwirtschaftliche Expertise ihr Entschädigungsbegehren für die vorübergehende Inanspruchnahme auf Fr. 4'700.-- pro Hektare und Jahr. Die SBB erklärten sich bereit, diese Forderung zu prüfen.
An der Schätzungsverhandlung vom 26. Juni 1985 machte die Stadt Zürich geltend, dass dem Pächter R. eine Erwerbsausfall-Entschädigung für die Zeit bis zum ordentlichen Kündigungstermin zuerkannt werden müsse und sich die Enteignerinnen nicht in gutem Glauben auf die "Pachtland-Entlassung" berufen könnten, die einzig im Hinblick auf den Bahnbau vereinbart worden sei. Auch R. selbst, der am Tag zuvor zur Einigungsverhandlung geladen war, hatte eine Erwerbsausfall-Entschädigung über den Zeitpunkt der vorzeitigen Pachtauflösung hinaus verlangt, da diese nicht als gültige Kündigung der Pachtverträge betrachtet werden könne. Die SBB beriefen sich indessen auf diese Vertragsauflösung, die dem Entschädigungsanspruch des Pächters ein Ende gesetzt habe. Im übrigen anerkannten sie die vom landwirtschaftlichen Experten vorgeschlagenen Ansätze zur Ermittlung des Erwerbsausfalls, nämlich Fr. 47.-- pro Are und Jahr bis Ende 1983, Fr. 53.50 pro Are für 1984 und Fr. 55.50 pro Are für 1985.
Hinsichtlich der Grundstücke der Stadt Zürich wies R. in einer Eingabe vom 10. Juli 1985 nochmals darauf hin, dass ihm eine Erwerbsausfall-Entschädigung bis 31. Oktober 1985 zustehe, da die Pachtverträge frühestens auf diesen Zeitpunkt hätten gekündigt werden können. Die SBB hielten in ihrer Stellungnahme vom 7. August 1985 an ihrer Auffassung fest, wonach R. der "Pachtland-Entlassung" freiwillig zugestimmt habe und daher das Pachtverhältnis gültig auf den 30. September 1983 aufgelöst worden sei. Dagegen machten die Enteignerinnen weder in dieser Eingabe noch in anderen Rechtsschriften geltend, dass die Entschädigungsansprüche von R. wegen verspäteter Anmeldung verwirkt sein könnten.
BGE 116 Ib 386 S. 390
D.-
Mit Entscheid vom 26. Oktober 1985 sprach die Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10, R. für die vorzeitige Aufhebung des Pachtvertrages über die Parzellen Nrn. 12656, 5122, 9605 und 2683 eine Entschädigung von insgesamt Fr. 6'911.50 sowie 5% Zins ab 1. Oktober 1983 zu. Die weitergehenden Forderungen des Pächters - also auch die Forderungen für die Grundstücke der Erben G. und der Stadt Zürich - wurden abgewiesen. Die Schätzungskommission hielt hiezu fest, dass die fraglichen Entschädigungsansprüche verspätet angemeldet worden und die Voraussetzungen für eine Schätzung der enteigneten Rechte ohne Anmeldung gemäss Art. 38 des Enteignungsgesetzes nicht gegeben seien.
E.-
R. hat gegen den Entscheid der Schätzungskommission Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben und Antrag auf Ausrichtung folgender zusätzlicher Entschädigungen gestellt:
"1. Fr. 3'030.-- nebst 5% Zins seit 1. Oktober 1983 für einen Teil von
Kat. Nr. 10573 (Ent. Nr. 8);
2. Fr. 3'745.-- nebst 5% Zins seit 1. Oktober 1984
sowie Fr. 20'692.-- nebst 5% Zins seit 1. Oktober 1985 für 70 Aren bzw.
372.83 Aren von Kat. Nr. 2759-2765 und 3577 (total 37 283 m2). "
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Schätzungskommission hat im angefochtenen Entscheid festgehalten, dass der Pächter R. seine Entschädigungsansprüche für die vorübergehende Enteignung der Grundstücke der Erben G. und der Stadt Zürich nicht innert der in
Art. 30, 36 und 37 EntG
vorgesehenen Frist geltend gemacht habe und die Voraussetzungen für eine nachträgliche Forderungsanmeldung gemäss
Art. 41 Abs. 1 lit. a oder b EntG
nicht erfüllt seien. Eine Schätzung der enteigneten Rechte ohne Anmeldung (
Art. 38 EntG
) falle ebenfalls nicht in Betracht. Die Entschädigungsansprüche des Pächters für die betreffenden Grundstücke seien daher verwirkt.
Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist diese Betrachtungsweise der Schätzungskommission allzu formalistisch, widerspricht dem Geist des Enteignungsgesetzes und verstösst angesichts der tatsächlichen Vorkommnisse gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Ob dem so sei, ist in näherer Betrachtung der enteignungsrechtlichen Regeln über die Geltendmachung der Entschädigungsforderungen und die Säumnisfolgen zu untersuchen.
BGE 116 Ib 386 S. 391
3.
a) Die Frist, während der die enteigneten Grundeigentümer ihre Schadenersatzforderungen, die Begehren um Ausdehnung der Enteignung und die Gesuche um Realersatz anmelden können (
Art. 36 lit. a-c EntG
), ist eine Verwirkungsfrist (
BGE 113 Ib 38
E. 3,
BGE 105 Ib 9
,
BGE 100 Ib 202
ff.; für die Einsprachen vgl.
BGE 111 Ib 284
E. 3a,
BGE 104 Ib 341
f. E. 3a). Entschädigungsforderungen, welche nicht binnen der Auflagefrist (
Art. 31 Abs. 1 und 3 EntG
) oder - bei verspäteter Zustellung der persönlichen Anzeige - innert der verlängerten Eingabefrist (
Art. 31 Abs. 2 EntG
) erhoben werden, gelten daher grundsätzlich als verwirkt, soweit nicht einer der in
Art. 41 Abs. 1 EntG
genannten Gründe für die nachträgliche Geltendmachung von Forderungen gegeben und die weitere Verwirkungsfrist von
Art. 41 Abs. 2 EntG
eingehalten worden ist. Wird das abgekürzte Verfahren durchgeführt (
Art. 33 EntG
), kann allerdings die Verwirkung einzig jenen Enteigneten entgegengehalten werden, die durch eine persönliche Anzeige zur Anmeldung ihrer Begehren aufgefordert und auf die Rechtsfolgen für den Unterlassungsfall hingewiesen worden sind (Art. 34 Abs. 1 lit. e und f): Die Säumnis kann nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur dann eine derart schwere Folge wie die Verwirkung der Entschädigungsansprüche haben, wenn der Enteignete ausdrücklich auf diese aufmerksam gemacht worden ist (
BGE 111 Ib 284
E. 3a,
BGE 106 Ib 235
, je mit Hinweisen auf weitere Urteile).
b) Auch die Mieter und Pächter, deren persönliche Rechte Gegenstand der Enteignung bilden können (
Art. 5 Abs. 1 EntG
), sind zur Anmeldung ihrer Forderungen innert der Auflagefrist verpflichtet (
Art. 37 EntG
). Sofern die obligatorischen Rechte im Grundbuch vorgemerkt sind, ist den Berechtigten gleich wie den Grundeigentümern die persönliche Anzeige zuzustellen und läuft für diese allenfalls die verlängerte Frist gemäss
Art. 31 Abs. 2 EntG
. Sind die Miet- und Pachtverträge dagegen nicht im Grundbuch verzeichnet, so haben die Vermieter und Verpächter ihren Mietern und Pächtern sofort nach Empfang der Anzeige von der Enteignung Mitteilung zu machen (
Art. 32,
Art. 34 Abs. 1 lit. g EntG
). Gegenüber Mietern und Pächtern ist somit der Enteigner von der Pflicht zur direkten Benachrichtigung befreit, da ihm weder zugemutet werden kann, die einzelnen Berechtigten an den enteigneten Grundstücken ausfindig zu machen, noch er in der Lage wäre abzuklären, ob durch die Expropriation überhaupt in die Miet- und Pachtverträge eingegriffen wird. Der Grundeigentümer, dem in diesem Fall die gesetzliche Anzeigepflicht obliegt,
BGE 116 Ib 386 S. 392
handelt nicht als Vertreter des Mieters oder Pächters, sondern als Hilfsperson des Enteigners. Ersetzt demnach die Mitteilung des Eigentümers an den Mieter oder Pächter die persönliche Anzeige des Enteigners, so läuft - wie das Bundesgericht in
BGE 100 Ib 296
für das abgekürzte Verfahren festgehalten hat - die Eingabefrist für den Mieter oder Pächter erst vom Empfang dieser Mitteilung an. Ob dies auch für das normale Verfahren gelte, in welchem durch die öffentliche Bekanntmachung auf die
Art. 38-41 EntG
und die Verwirkungsfolge hingewiesen wird, braucht hier nicht geprüft zu werden.
c) Die Frage, welches die Folgen der Verwirkung seien und ob diese nach unbenütztem Ablauf der Verwirkungsfrist stets einträten, ist in der Lehre und Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet worden:
aa) Nach herrschender Doktrin auf dem Gebiet des Privatrechtes geht eine Forderung durch Verwirkung vollständig und endgültig unter. Der Richter beachtet die Verwirkung von Amtes wegen, der Gläubiger braucht sie nicht anzurufen und kann auch nicht darauf verzichten (VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, 3. A. 1974, S. 161 f.; GUHL/MERZ/KUMMER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 7. A. 1980, S. 276 ff.; GAUCH/SCHLUEP/JÄGGI, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 2. A. 1981, N 2136; PIERRE ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, S. 537). KARL SPIRO vertritt indessen die Ansicht, dass die Verwirkung nicht notwendigerweise mit einem völligen Rechtsverlust verbunden sei. In bestimmten Fällen begründe sie lediglich eine Einrede, auf die verzichtet werden könne; es treffe daher nicht zu, dass die Verwirkung stets von Amtes wegen zu berücksichtigen sei (Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. II, §§ 422-426 S. 1127 ff.). EUGEN BUCHER hält ebenfalls abweichend von der herrschenden Meinung fest, dass das positive Recht keine generelle Verwirkungsregelung, sondern - im Gegensatz zu den allgemeinen Verjährungsvorschriften - nur einzelne Verwirkungstatbestände kenne, auf die oft verjährungsrechtliche Regeln anzuwenden seien, welche allerdings dem Einzelfall angepasst werden müssten (Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. A. 1988, § 25 II; s. a. RAYMOND JEANPRÊTRE, Bemerkung zu
BGE 113 II 118
, JdT 1988 I S. 151).
bb) Auch im öffentlichen Recht erlischt gemäss der Lehre die Forderung, wenn die zur ihrer Erhaltung nötige Handlung innert
BGE 116 Ib 386 S. 393
der Verwirkungsfrist nicht vorgenommen wird. Die Verwirkungsfrist kann weder gehemmt, noch unterbrochen oder wiederhergestellt werden. Die Verwirkung führt zu völligem Untergang des Rechts, ohne dass eine Naturalobligation bestehen bliebe (GRISEL, Traité de droit administratif, S. 662 f. und dort angeführte Entscheide).
Einigen dieser Grundsätze ist allerdings in der Rechtsprechung keine absolute Bedeutung zugemessen worden. So ist im Sozialversicherungsrecht eingeräumt worden, in bestimmten Fällen, wenn die gesetzliche Ordnung als lückenhaft betrachtet werden dürfe, könne auch eine Verwirkungsfrist wiederhergestellt werden (
BGE 102 V 114
ff. E. 2). Weiter hat das Bundesgericht in einem Veranwortlichkeitsprozess davon abgesehen, der Verwirkung Rechnung zu tragen, weil sich die Eidgenossenschaft als Beklagte ohne irgendwelchen Vorbehalt auf die Sache eingelassen hatte (
BGE 106 Ib 364
E. 3a). In Enteignungssachen ist festgehalten worden, dass die in
Art. 40 EntG
vorgesehene Verwirkung für Begehren um Schutzvorrichtungen gemäss
Art. 7 Abs. 3 EntG
nicht eintrete, wenn sich die Notwendigkeit von Schutzmassnahmen erst nach der Inbetriebnahme des Werkes zeige; die dannzumal eingereichten Gesuche seien den Regeln über die nachträgliche Entschädigungsanmeldung (Art. 41 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 lit. b EntG) zu unterstellen. In einem neueren Entscheid ist die Frage offengeblieben, ob der Pächter des enteigneten Grundstücks seine Forderung rechtzeitig geltend gemacht habe, weil der Enteigner ausdrücklich darauf verzichtet hatte, sich auf die Verwirkung zu berufen (nicht publ. Entscheid vom 29. März 1990 i.S. Savoldelli E. 1b). Schliesslich hat das Bundesgericht, sei es in Enteignungssachen, sei es auf anderen Gebieten, stets betont, dass die Verwirkung dann nicht von Amtes wegen beachtet werden dürfe, wenn die entsprechende Einrede als rechtsmissbräuchlich bzw. unvereinbar mit dem Gebot von Treu und Glauben erschiene (
BGE 106 Ib 235
E. 2b,
BGE 113 Ib 38
E. 3 und dort zitierte Urteile; vgl. auch GUHL/MERZ/KUMMER, a.a.O., S. 278 mit Hinweisen auf weitere Entscheide).
Diesen Urteilen ist zu entnehmen, dass beim Entscheid über die Verwirkungsfolge wohl von den allgemeinen Prinzipien auszugehen ist, daneben aber berücksichtigt werden muss, welchen Zweck der Gesetzgeber im fraglichen Rechtsgebiet mit dem Institut verfolgen wollte, und schliesslich den im konkreten Fall gegebenen Umständen Rechnung getragen werden soll.
BGE 116 Ib 386 S. 394
d) Was den Zweck der in den
Art. 36, 37 und 41 EntG
vorgesehenen Verwirkung anbelangt, so soll sie den Enteigner vor nachträglichen Entschädigungsforderungen schützen, welche er nicht erwarten musste und die sich auf die Kosten des Werkes auswirken bzw. für den Verzicht auf die Enteignung ausschlaggebend sein könnten (vgl.
Art. 14 Abs. 1 EntG
). Dieser Schutz wird dem Enteigner allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen und innerhalb gewisser Schranken gewährt: Zum einen ist die Verwirkung der Entschädigungsansprüche nur möglich, wenn vom Enteigner gewisse Formen eingehalten worden sind. Zum anderen muss ausgeschlossen werden, dass der Enteigner aus jeder Unachtsamkeit des Enteigneten Nutzen ziehen und sich seiner Pflicht zur Abgeltung der durch die Enteignung verursachten voraussehbaren Schäden entschlagen kann. Hiezu im einzelnen noch folgendes
aa) Wie bereits dargelegt (oben lit. a), gehört zu den formellen Voraussetzungen der Verwirkung insbesondere, dass der Enteigner den Enteigneten die persönliche Anzeige zukommen lässt, und zwar nicht nur den "aus dem Grundbuch oder den öffentlichen Büchern ersichtlichen", sondern auch den "ihm sonst bekannten Entschädigungsberechtigten" (
Art. 31 Abs. 1 EntG
). Wird die Zustellung der persönlichen Anzeige unterlassen, so läuft für jene, die nach
Art. 31 Abs. 1 EntG
ein Anrecht auf sie hätten, die Verwirkungsfrist nicht. Die gegenteilige Meinung von HEINZ HESS (HESS/WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, N 12 und 15 zu
Art. 31 EntG
) kann, wie sich aus
Art. 31 Abs. 2 EntG
ergibt, nicht richtig sein. Das Bundesgericht hat denn auch im zitierten
BGE 100 Ib 200
ff. lediglich ausgeführt, dass im Falle öffentlicher Planauflage und Bekanntmachung die Verwirkungsandrohung von
Art. 41 EntG
für alle Betroffenen gelte (also auch für diejenigen, die nach
Art. 31 Abs. 1 EntG
keinen Anspruch auf eine persönliche Anzeige haben); dagegen hat es sich mit der Frage des Fristenlaufes für die persönlich zu Benachrichtigenden nicht auseinandergesetzt.
bb) Eingeschränkt wird die Verwirkung der enteignungsrechtlichen Entschädigungsansprüche vor allem durch die Bestimmungen von
Art. 38 und
Art. 72 Abs. 2 EntG
.
Art. 38 EntG
verpflichtet die Schätzungskommission, die enteigneten Rechte auch ohne Anmeldung zu schätzen, soweit sie sich aus der Grunderwerbstabelle ergeben oder offenkundig sind; der Enteigner kann daher hinsichtlich der Rechte, die ihm bekannt sein müssen, keinen Vorteil aus der Säumnis der Enteigneten ziehen.
Art. 72 Abs. 2 EntG
bestimmt, dass die Schätzungskommission bei der Festsetzung
BGE 116 Ib 386 S. 395
der Höhe der Entschädigung nicht an die Anträge der Parteien gebunden ist. Die Anmeldung nur ungenügender Forderungen schadet somit dem Enteigneten nicht und bewahrt auch die nicht geltend gemachten Teilansprüche vor der Verwirkung. Daran ändert
Art. 36 lit. a EntG
nichts, da diese Bestimmung, nach welcher die Entschädigungsbegehren im einzelnen zu beziffern sind, als reine Ordnungsvorschrift zu betrachten ist (
BGE 102 Ib 280
E. 1b und dort zitierte Urteile).
4.
Aus der geschilderten gesetzlichen Ordnung und den in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen ergibt sich für den vorliegenden Fall folgendes:
a) Die Schätzungskommission hält im angefochtenen Entscheid zu Recht fest, dass die Entschädigungsforderungen von R. nicht zu den offenkundigen Rechten im Sinne von
Art. 38 EntG
zählen könnten, die auch ohne Anmeldung zu schätzen sind und dadurch der Verwirkung entgehen. Der Umstand, dass der Enteigner zufällig von der Existenz von Miet- oder Pachtverträgen weiss und die berechtigten Personen sowie den Vertragsinhalt kennt, macht diese Rechtsverhältnisse noch nicht "offenkundig". Soweit das Wissen des Enteigners um solche Vertragsverhältnisse für die Verwirkung der Entschädigungsansprüche von Bedeutung sein kann, wirkt es sich nicht im Rahmen von
Art. 38 EntG
aus.
b) Was das Entschädigungsbegehren für die Parzelle Nr. 10573 der Erben G. betrifft, so hat der Beschwerdeführer nie behauptet, dass ihm die Grundeigentümer keine oder verspätete Mitteilung von der Enteignung gemacht und dadurch eine rechtzeitige Forderungsanmeldung seinerseits verunmöglicht hätten. Hingegen macht er geltend, seine Forderung sei in jener der Erben G. enthalten gewesen, hätten doch diese für die Inanspruchnahme ihres Grundstücks während fünf Jahren ein Entschädigungsbegehren in Höhe von Fr. 300'000.-- gestellt und habe dieser Betrag auch die dem Pächter zustehende Erwerbsausfall-Vergütung umfasst. Dieser Meinung ist jedoch nicht zu folgen. Zwar verbietet es das Gesetz dem Pächter und Verpächter nicht, eine gemeinsame, die Entschädigungsbegehren beider Seiten enthaltende Eingabe einzureichen; in einer solchen muss jedoch der Pächter als entschädigungsberechtigter Enteigneter klar bezeichnet werden. Nun wird aber in der Rechtsschrift der Erben G. vom 22. Juli 1983 weder der Name des Pächters genannt, noch von dessen Begehren gesprochen und von einem Pachtverhältnis überhaupt nichts erwähnt. Der Enteignungsrichter hatte deshalb keinen Anlass, in dieser
BGE 116 Ib 386 S. 396
Eingabe auch eine Forderungsanmeldung des Pächters zu erblicken, und ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Entschädigungsansprüche des Beschwerdeführers hinsichtlich des Grundstücks Nr. 10573 erstmals an der Einigungsverhandlung vom 21. September 1983, das heisst erst nach Ablauf der Eingabefrist gemäss
Art. 36 und 37 EntG
geltend gemacht worden seien.
c) Vom Pachtverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und der Stadt Zürich erhielten die SBB bereits vor der Eröffnung des Enteignungsverfahrens nähere Kenntnis. Es fragt sich, ob unter solchen Umständen der Enteigner nicht auch dem Pächter als einem ihm "sonst bekannten Entschädigungsberechtigten" (
Art. 31 Abs. 1 EntG
) eine persönliche Anzeige zustellen müsste. Wäre dies zu bejahen, so hätte hier für den Beschwerdeführer, der keine Anzeige erhielt, die Verwirkungsfrist gar nicht zu laufen begonnen. Indessen erlauben die Bestimmungen von
Art. 31 und 32 EntG
eine solche Auslegung wohl nicht. Vielmehr ist, wie bereits erwähnt (E. 3b),
Art. 32 EntG
als Spezialvorschrift zu
Art. 31 EntG
zu betrachten, die den Enteigner der Pflicht zur persönlichen Benachrichtigung von Mietern und Pächtern, deren Verträge im Grundbuch nicht verzeichnet sind, enthebt, unabhängig davon, ob ihm die Vertragsverhältnisse bekannt seien oder nicht.
d) Die SBB haben sich vor der Schätzungskommission nicht auf die Verwirkung der Entschädigungsforderungen des Beschwerdeführers berufen, sondern verlangt, dass dessen Begehren aus materiellrechtlichen Gründen abgewiesen würden. Daraus ergibt sich jedoch nichts zugunsten des Beschwerdeführers, es sei denn, man wolle die in
BGE 106 Ib 364
angestellte Erwägung (nach welcher die Verwirkung nicht zu beachten ist, wenn sich das Gemeinwesen auf Verantwortlichkeitsklage hin vorbehaltlos auf die Sache einlässt) in Enteignungssachen übernehmen, obschon sich die Lehre zu diesem Urteil eher reserviert geäussert hat (GYGI, Die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtes im Jahre 1980, ZBJV 118/1982 S. 300, GRISEL, a.a.O., S. 663). Ein solcher Schritt liesse sich aber nicht rechtfertigen: Er würde zum Wegfall eines wichtigen Unterscheidungsmerkmals von Verjährung und Verwirkung führen und wäre auch mit dem Wortlaut von
Art. 41 Abs. 2 EntG
nicht zu vereinbaren ("Die Entschädigungsforderungen gelten als verwirkt...", "Les demandes d'indemnité sont réputées irrecevables par forclusion...", "Sono da considerare come perente le pretese d'indennità..."); ausserdem hätte er zur Folge,
BGE 116 Ib 386 S. 397
dass der Präsident der Schätzungskommission vor seinem Entscheid über die Zulässigkeit einer nachträglichen Forderungseingabe jedesmal den Enteigner anhören müsste (vgl. Art. 19 der Verordnung für die eidgenössischen Schätzungskommissionen vom 24. April 1972, SR 711.1).
Anders wäre die Sache wohl, wenn die SBB ausdrücklich erklärt hätten, sich nicht auf die Verwirkung berufen zu wollen. Es ist nicht einzusehen, weshalb es dem Enteigner untersagt sein sollte, auf den Schutz der Verwirkung zu verzichten, der allein seinen Interessen dient. Ein solches Verbot könnte ihm unter Umständen sogar schaden, so etwa bei nachträglichen Gesuchen um Ausdehnung der Enteignung oder um Realersatz oder wenn gütliche Vereinbarungen auf dem Spiele stehen. Die Frage braucht hier aber nicht abschliessend beantwortet zu werden, da die SBB keine Verzichtserklärung abgegeben haben.
e) Somit muss es für die Forderung des Beschwerdeführers betreffend die Parzelle G. dabei bleiben, dass sie ohne irgendein Zutun der Enteignerinnen verspätet angemeldet worden und deshalb verwirkt ist.
Etwas anderes gilt dagegen für die Entschädigungsansprüche, die sich auf die Grundstücke der Stadt Zürich beziehen:
Wie der Sachverhaltsdarstellung zu entnehmen ist, haben sich die SBB schon kurz vor Eröffnung des Enteignungsverfahrens an die Stadt Zürich als Grundeigentümerin gewandt, um diese zur Zustimmung zu einer früheren Besitzergreifung, als sie im Enteignungsverfahren möglich gewesen wäre, zu bewegen. Die Stadt Zürich hat hierauf mit Rücksicht auf das öffentliche Interesse am geplanten Werk den Pächter R. von der Notwendigkeit der "Pachtland-Entlassung" überzeugt und nach Unterzeichnung der entsprechenden Vereinbarung am 25. April 1983 die SBB davon unterrichtet. Die SBB, in deren Interesse die Stadt Zürich damals handelte, müssen sich demnach entgegenhalten lassen, dass der Beschwerdeführer - was sich auch aus dem Text der Vereinbarung ergibt - nur unter dem Druck und zugunsten des bevorstehenden Bahnbaues in die Änderung des Pachtvertrages eingewilligt hat. Zu Recht hat daher die Schätzungskommission festgestellt, nach den Regeln von Treu und Glauben könne nicht angenommen werden, der Pächter habe mit der Anerkennung der vorzeitigen Pachtauflösung ebenfalls auf seine Rechte gegenüber den Enteignerinnen verzichtet. Dies wird heute von den SBB auch nicht mehr behauptet.
BGE 116 Ib 386 S. 398
Für die Frage der Verwirkung ist von wesentlicher Bedeutung, dass die SBB, nachdem sie in den Besitz der "Pachtland-Entlassung" gelangt waren, sich selbst an den Pächter gewandt und ihn, der damals noch nicht von einem Anwalt vertreten war, zur Unterzeichnung der bereits vorbereiteten Vereinbarung über die Freigabe der Grundstücke auf den 1. Juli und über die Ernteausfall-Entschädigung für 1983 veranlasst haben. Diese Vereinbarung, die vom Beschwerdeführer am 7. Juni 1983 unterschrieben worden ist, hat ihre Gültigkeit erst mit der ausdrücklich vorbehaltenen Genehmigung durch die zuständige Stelle der Stadt Zürich erlangt, die am 20. Juli 1983 erfolgte. Die Vereinbarung ist somit erst nach Einleitung des Enteignungsverfahrens, nämlich während der Eingabefrist, geschlossen worden und stellt, zusammen mit den vorbereitenden Papieren, einen Enteignungsvertrag dar, der dem öffentlichen und nicht dem privaten Recht untersteht (
BGE 116 Ib 244
,
BGE 114 Ib 147
ff. E. 3b). Mit diesem Vertrag, der übrigens dem Präsidenten der Schätzungskommission mitzuteilen war (
Art. 54 Abs. 1 EntG
), ist der Beschwerdeführer als Pächter gleich den in der Grunderwerbstabelle aufgeführten Grundeigentümern in das Verfahren und damit in den Kreis der Enteigneten einbezogen worden. Unter diesen Umständen durfte er davon absehen, in seiner Forderungseingabe nochmals zu erwähnen, dass er auch Grundstücke der Stadt Zürich pachte, eine Tatsache, die den SBB bestens bekannt war. Selbst wenn aber davon auszugehen wäre, der Beschwerdeführer sei an sich gehalten gewesen, in seiner Eingabe auch diese Parzellen aufzuführen, so dürfte ihm ohne weiteres zugute gehalten werden, dass er angesichts des Vorgehens der SBB annehmen durfte, er sei von dieser Verpflichtung befreit.
Mit gutem Grund ist daher die Einrede der Verwirkung unterblieben. Sie hätte als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden müssen, da von Rechtsmissbrauch nicht nur dann zu sprechen ist, wenn der Schuldner arglistig handelt, in der Absicht, die Gegenpartei von der rechtzeitigen Anmeldung ihrer Ansprüche abzuhalten, sondern auch, wenn er ohne Arglist durch sein Verhalten das Vertrauen erweckt hat, dass die Geltendmachung der Ansprüche nicht nötig sei, und er sich trotz seines früheren Verhaltens auf die Verwirkung beruft (
BGE 83 II 98
f., 49 II 322).
Es ergibt sich, dass die Schätzungskommission in bezug auf die Forderungen des Beschwerdeführers für die Grundstücke der Stadt Zürich zu Unrecht von deren Verwirkung ausgegangen ist
BGE 116 Ib 386 S. 399
und ihm auch für diese Parzellen eine Entschädigung zuerkannt werden muss.
5.
Zu prüfen bleibt die Frage nach der Höhe der dem Beschwerdeführer zusätzlich zuzusprechenden Vergütung. Diese Frage kann ebenfalls vom Bundesgericht beantwortet werden, da die Elemente der Schadensberechnung bekannt und von keiner Seite angefochten worden sind.
Nach den Angaben des Beschwerdeführers, die in den Akten ihre Bestätigung finden und von den Enteignerinnen nicht bestritten werden, hätte der von R. und der Stadt Zürich am 28. November 1966 eingegangene Pachtvertrag frühestens auf den 31. Oktober 1985 aufgelöst werden können und hat der Pächter durch den Bahnbau im Jahre 1984 70 Aren und im Jahre 1985 372.83 Aren bewirtschaftbaren Boden eingebüsst. Der landwirtschaftliche Ertrag ist von der Schätzungskommission gestützt auf den von allen anerkannten Expertenbericht für 1984 auf Fr. 53.50 pro Are und für 1985 auf Fr. 55.50 pro Are festgesetzt worden. Von diesen Beträgen ist - was in der Beschwerde übersehen worden ist - der der Grundeigentümerin geschuldete Pachtzins abzuziehen, der sich nach den Akten auf jährlich Fr. 10.-- pro Are beläuft. Der Erwerbsausfall berechnet sich somit wie folgt:
für das Jahr 1984
70 Aren à Fr. 53.50 Fr. 3'745.--
Pachtzins - Fr. 700.-- Fr. 3'045.--
-------------
für das Jahr 1985
372.83
Aren à Fr. 55.50 Fr. 20'692.--
Pachtzins - Fr. 3'728.-- Fr. 16'964.--
------------- -------------
insgesamt Fr. 20'009.--
=============
Der Teilbetrag von Fr. 3'045.-- ist ab 1. November 1984 und der Gesamtbetrag von Fr. 20'009.-- ab 1. November 1985 zu den vom Bundesgericht festgelegten Ansätzen zu verzinsen. | de |
7428d62f-ed77-4adb-a503-75e057c6cc95 | Sachverhalt
ab Seite 1
BGE 92 IV 1 S. 1
A.-
X. ist verheiratet und wegen Unzucht mit Kindern mehrfach vorbestraft. Im Jahre 1964 unterhielt er mit der am 4. Januar 1948 geborenen Beatrice R. ein Liebesverhältnis. Als es deswegen am 2. November zwischen Mutter und Tochter zu einer heftigen Auseinandersetzung kam, liess sich Beatrice R. von X. überreden, mit ihm ins Ausland zu verreisen. Sie fuhren über Deutschland nach Frankreich, wo sie sich bis Ende 1964 versteckt hielten.
B.-
Auf Antrag der Frau R., der Mutter von Beatrice, erklärte das Obergericht des Kantons Zürich X. am 5. November 1965 der Entziehung einer Unmündigen im Sinne von
Art. 220 StGB
schuldig und verurteilte ihn wegen dieser sowie anderer Straftaten zu drei Monaten Gefängnis.
C.-
Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, ihn von der Anklage, sich nach
Art. 220 StGB
strafbar gemacht zu haben, freizusprechen; eventuell sei die Sache zur Ergänzung des Sachverhaltes an die Vorinstanz zurückzuweisen.
BGE 92 IV 1 S. 2 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Der Beschwerdeführer macht geltend, mangels eines rechtsgenügenden Strafantrages könne er nicht nach
Art. 220 StGB
bestraft werden. Er hält dafür, dass der Strafantrag, um gültig zu sein, nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Vater der Beatrice R. hätte unterzeichnet werden müssen; jedenfalls hätte die Mutter nicht ohne Zustimmung des Vaters handeln dürfen. Dass dieser dem Antrag zugestimmt habe, sei aber nicht erwiesen.
a) Als Verletzter im Sinne von
Art. 28 StGB
kommt nach ständiger Rechtsprechung nur der Träger des unmittelbar angegriffenen Rechtsgutes in Betracht; wer durch die strafbare Handlung bloss mittelbar (z.B. als Angehöriger oder Gläubiger) betroffen worden ist, gilt nicht als verletzt und ist folglich auch nicht antragsberechtigt (
BGE 86 IV 82
,
BGE 87 IV 106
).
Art. 220 StGB
will im Unterschied zu
Art. 185 StGB
nicht die Freiheit der unmündigen Person, sondern vor allem die Ausübung der Rechte und Pflichten schützen, die dem Inhaber der elterlichen Gewalt über den Unmündigen zustehen (vgl. HAFTER, Bes. Teil S. 443). Der Schutz kommt freilich stets auch dem Minderjährigen zugute, da die elterliche Gewalt ihren Sinn und Zweck im Wohle des Kindes hat. Ob die unmündige Person deshalb als durch die Tat verletzt anzusehen sei, wenn sie den Eltern entzogen oder vorenthalten wird, kann dahingestellt bleiben. Denn verletzt sind auf jeden Fall die Eltern selber, hat die Tat für sie doch zur Folge, dass sie ihre Befugnisse dem Kinde gegenüber nicht mehr ausüben können. Wenn sie die Bestrafung des Täters verlangen, handeln sie daher als unmittelbar betroffene Gewalthaber aus eigenem, nicht abgeleitetem Rechte.
Art. 28 StGB
dient, zumal in Verbindung mit
Art. 220 StGB
, nicht nur dem Schutze materieller Interessen, bei deren Verletzung übrigens unabhängig vom Strafverfahren Schadenersatz verlangt werden kann, sondern auch und in erster Linie dem Schutze ideeller Werte. Zu diesen gehört auch das Interesse der Eltern, in der Ausübung ihrer Befugnisse über das Kind nicht gestört zu werden (vgl.
BGE 87 IV 110
Nr. 24).
Besitzen die Eltern aber in Fällen, wie hier, ein eigenes und selbständiges Antragsrecht, so lässt sich nicht sagen, Frau R. habe bloss in Vertretung ihrer Tochter gehandelt, wie der Beschwerdeführer anzunehmen scheint. Auch kommt nichts
BGE 92 IV 1 S. 3
darauf an, ob ihr Vorgehen den Interessen der Tochter entsprochen habe.
Art. 28 StGB
macht das Antragsrecht nicht davon abhängig, dass das Wohl des geschädigten oder mitbetroffenen Kindes die Strafverfolgung gegen den Täter nahe lege. Voraussetzung ist bloss, dass der Antragsteller durch die Tat verletzt worden ist. Das aber traf hier zu. Wieso Frau R. einzig deshalb, weil ihre Tochter als Zeugin beizuziehen war, von der Strafverfolgung hätte Umgang nehmen sollen, ist übrigens nicht zu ersehen. Das Strafverfahren dürfte für die nahezu siebzehnjährige Beatrice R., wie sich bereits bei ihrer ersten Einvernahme zeigte, eher heilsam gewesen sein und ihr den Bruch mit X. erleichtert haben.
b) Durch das Verhalten des Beschwerdeführers wurde zwar auch der Vater der Beatrice in seinen Elternrechten verletzt. Fragen kann sich deshalb nur noch, ob Frau R. unbekümmert darum, dass ihr Mann für die Verfolgung des Täters kein Interesse zeigte, für sich allein Strafantrag stellen konnte und, wenn ja, ob sie hiezu der Zustimmung des Mannes bedurfte.
Es kommt nicht selten vor, dass ein und dieselbe Straftat mehrere Personen trifft. Ist sie nur auf Antrag strafbar, so kann nach
Art. 28 Abs. 1 StGB
jeder, der durch die Tat verletzt worden ist, die Bestrafung des Täters verlangen. Das Antragsrecht steht dem einzelnen Verletzten selbst dann zu, wenn ein anderer sich der Tat und ihren Folgen gegenüber gleichgültig verhält. Daran ändert auch
Art. 30 StGB
nichts. Der Grundsatz der Unteilbarkeit des Strafantrages bezieht sich nur auf Personen, die als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen an der Verwirklichung des Straftatbestandes beteiligt sind (
BGE 81 IV 274
Erw. 2); auf eine Mehrheit von Verletzten findet er keine Anwendung.
Das gilt auch bei Vergehen gegen die elterliche Gewalt im Sinne von
Art. 220 StGB
. Gewiss haben die Eltern gemäss
Art. 274 ZGB
die Gewalt während der Ehe gemeinsam auszuüben, und ist die Ehefrau in der praktischen Ausübung insofern beschränkt, als sie im Einvernehmen mit dem Ehemann zu handeln und bei Uneinigkeit seinen Willen als entscheidend anzuerkennen hat (
BGE 67 II 11
/12). Am Recht der Ehefrau, selbständig Strafantrag zu stellen, ändert dies jedoch nichts. Inhalt und Umfang der elterlichen Gewalt ergeben sich aus den
Art. 275-282 ZGB
. Die Gewalt umfasst die Fürsorge für die Person und das Vermögen der Kinder sowie deren Vertretung
BGE 92 IV 1 S. 4
in persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten (Komm. EGGER, N. 4 zu
Art. 273 ZGB
). Sie ausüben, heisst demgemäss, Entscheidungen und Massnahmen im Sinne der angeführten Bestimmungen treffen. Die Befugnis der Ehefrau, aus eigenem Rechte gegen einen Täter, der ihr ein Kind entzogen hat, Strafantrag zu stellen, gehört offensichtlich nicht zu den in
Art. 275-282 ZGB
umschriebenen Rechten, unterliegt folglich weder der Zustimmung noch dem Entscheidungsrecht des Ehemannes. Es lässt sich denn auch nicht sagen, die Ehefrau übe die elterliche Gewalt aus, wenn sie wegen Verletzung in dieser Gewalt die Bestrafung des Täters verlangt. Das Antragsrecht ist ein höchstpersönliches Recht, das jeder der beiden Ehegatten ausüben kann, ohne dass es der Zustimmung des andern bedürfte. Dass der Vater der Beatrice sich mit der Verletzung in der elterlichen Gewalt abfand oder es jedenfalls nicht für notwendig hielt, die Bestrafung des Beschwerdeführers zu verlangen, hinderte die Mutter nicht, von dem ihr gemäss
Art. 28 Abs. 1 StGB
zustehenden Recht Gebrauch zu machen. Die Vorinstanz ist deshalb mit Recht davon ausgegangen, der Strafantrag der Frau R. sei gültig. | de |
8be0f714-9310-4801-a17b-0bd866c13e68 | Sachverhalt
ab Seite 67
BGE 95 IV 67 S. 67
A.-
Elisabeth R.-H. war früher mit Alfred M. verheiratet; der Ehe waren fünf Kinder entsprossen: Irene (geb. 1955). Silvia (1957), Lucia (1958), Alfred (1961) und Brigitte (1963). Am 27. September 1966 verliess sie die eheliche Wohnung in R. ohne Wissen ihres Gatten und nahm die drei Kinder Silvia, Alfred und Brigitte mit; die anderen zwei Kinder liess sie beim Ehemann zurück. Sie schloss sich samt den Kindern ihrem Bekannten Albert R. an und flog mit ihm am gleichen Tag nach Montreal. Die Reise und den Unterhalt in Kanada zahlte R. Am 23. Oktober 1966 verliessen R. und Frau M. mit den Kindern Kanada und trafen am 2. Dezember 1966 in G. ein, wo Frau M. mit den Kindern bei ihren Eltern Unterkunft fand.
Alfred M. erstattete noch am Fluchttag Anzeige bei der Polizei; tags darauf, als er erfuhr, dass R. für sich, Frau M. und die Kinder Flugkarten nach Montreal gelöst hatte, reichte er förmlich Strafklage gegen seine Ehefrau ein.
Am 24. Januar 1968 wurde die Ehe M.-H. geschieden und eine Scheidungskonvention genehmigt, wonach die Kinder Silvia, Alfred und Brigitte der Frau, Irene und Lucia dem Manne zugeteilt wurden. Hierauf heirateten Elisabeth H. und Albert R.
B.-
Am 18. April 1967 verurteilte das Bezirksgericht der March Frau M. wegen Vorenthaltens von Unmündigen und Albert R. wegen Gehilfenschaft dazu zu je 1 Monat Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug.
Das Kantonsgericht des Kantons Schwyz bestätigte dieses Urteil am 20. Juni 1967.
C.-
Gegen das kantonsgerichtliche Urteil führen beide
BGE 95 IV 67 S. 68
Verurteilten Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freispruch eventuell Herabsetzung der Strafen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz beantragt Abweisung der Beschwerden. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Nach
Art. 220 StGB
wird, auf Antrag, mit Gefängnis oder Busse bestraft, wer eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt entzieht oder vorenthält.
In
BGE 91 IV 136
und 228 hat der Kassationshof entschieden, dass sich nach Art. 220 auch der Ehegatte schuldig machen kann, dem die Kinder während der richterlich bewilligten Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes bzw. während des Scheidungsverfahrens nicht zugeteilt sind.
Nicht anders verhält es sich, wenn wie hier der Elternteil, der dem andern Kinder entzieht oder vorenthält, im ungeschmälerten Besitz der elterlichen Gewalt steht. Während der Ehe haben Vater und Mutter die elterlichen Rechte in gemeinsamen Einvernehmen auszuüben, jedenfalls in bezug auf die wichtigeren Angelegenheiten. Jedes Elternteil hat das Recht, bei diesen mitzuwirken; die elterliche Gewalt darf nicht von einem Elternteil für sich allein beansprucht werden (Art. 274 Abs. 1 ZBG, EGGER N 3, HEGNAUER N 7).
Frau R. hat nicht nur eigenmächtig ohne Anhörung ihres Mannes einen Entscheid von grosser Tragweite getroffen. Sie hat, indem sie die drei Kinder nach Kanada verbrachte, ihrem Mann verunmöglicht, seine elterlichen Rechte auszuüben (vgl.
BGE 80 IV 70
,
BGE 92 IV 2
). Da sie dies, wie die Vorinstanz verbindlich feststellt (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277 bis Abs. 1 BStP), mit Wissen und Willen getan hat, hat sie sich des Entziehens von Unmündigen schuldig gemacht. | de |
6e4c41f4-21b6-4a4b-bd2b-bc3f8722314e | Sachverhalt
ab Seite 104
BGE 115 III 103 S. 104
A.-
a) Am 10. Oktober 1980 anerkannte Roland H. die Vaterschaft gegenüber Manuela S. und verpflichtete sich zur Bezahlung von Alimenten. Diese wurden mit Beschluss des Bezirksgerichts Dornbirn auf den 1. Oktober 1986 neu auf monatlich ÖS 2'300.-- festgesetzt.
b) Der inzwischen verheiratete Roland H. kam seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber seiner Tochter nicht nach. Er wurde deshalb vom Bezirksgericht A. mit Urteil vom 2. November 1988 wegen fortgesetzter Vernachlässigung von Unterstützungspflichten zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Zudem stellte das Betreibungsamt St. Gallen am 15. Februar 1989 auf Betreibung hin einen Verlustschein für ausstehende Alimente im Betrag von Fr. 2'471.-- aus.
B.-
a) Manuela S. leitete für die Unterhaltsbeiträge vom Oktober 1987 bis Januar 1989 eine neue Betreibung ein. Am 9. März 1989 stellte das Betreibungsamt St. Gallen in der Betreibung Nr. 89/1218 einen Verlustschein über Fr. 4'557.-- aus. Über den Pfändungserfolg wurde ausgeführt, Roland H. sei zur Zeit ohne Arbeitsstelle und Verdienst, er beziehe auch kein Arbeitslosengeld. Für die Unterhaltskosten komme seine Ehefrau auf. Eine Lohn- oder Verdienstpfändung sei in diesem Fall nicht möglich. Pfändbare Aktiven seien keine vorhanden.
b) Manuela S. erhob beim Bezirkspräsidium St. Gallen Beschwerde und beantragte, es sei das Existenzminimum des Ehepaares H.-H. zu ermitteln und eine Einkommenspfändung vorzunehmen.
BGE 115 III 103 S. 105
Roland H. verdiene mit Gelegenheitsarbeit Fr. 300.-- bis Fr. 500.-- im Monat und überdies sei er Hausmann, weshalb seine Ehefrau ihm einen angemessenen Beitrag zu leisten habe, damit er seinen Unterhaltspflichten nachkommen könne. Das Bezirkspräsidium wies die Beschwerde ab.
Die Alimentengläubigerin zog diesen Entscheid an die obere kantonale Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs des Kantons St. Gallen weiter, welche mit Entscheid vom 3. Juli 1989 die Beschwerde abwies.
C.-
Mit Rekurs vom 14. Juli 1989 gelangt Manuela S. an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts. Sinngemäss verlangt sie die Aufhebung des Verlustscheins und beantragt, es sei das Existenzminimum des Ehepaars H.-H. durch das Betreibungsamt zu ermitteln, es seien die tatsächlichen Einkommensverhältnisse des Schuldners zu berücksichtigen und die Ehefrau des Schuldners habe diesem einen angemessenen Beitrag im Sinne von
Art. 163 und 164 ZGB
auszurichten.
Vernehmlassungen sind keine eingegangen. Erwägungen
Auszug aus den Erwägungen:
2.
Die Pfändung des angeblichen eherechtlichen Guthabens des Schuldners gegenüber seiner Ehefrau als bestrittene Forderung setzt voraus, dass es sich um einen Anspruch handelt, der grundsätzlich der Pfändung zugänglich ist und auf den für die in Betreibung gesetzte Forderung gegriffen werden kann. Diese Voraussetzungen sind für Art. 163 und 164 getrennt zu prüfen.
3.
a) Ob ein Anspruch nach
Art. 163 ZGB
bei gemeinsamem Haushalt überhaupt pfändbar ist, wird in der Lehre nicht einheitlich beurteilt (Pfändbarkeit grundsätzlich ausschliessend: ISAAK MEIER, Die Stellung des Gläubigers im neuen Eherecht, SJZ 85 (1989), S. 243; grundsätzlich zulassend: HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Kommentar zum neuen Eherecht, Bern 1989, N. 66 zu
Art. 163 ZGB
). Das Bundesgericht musste zu dieser Frage bis jetzt nicht Stellung nehmen, hat aber in
BGE 114 III 87
E. 5 nebenbei durchblicken lassen, die Pfändbarkeit der Ansprüche nach
Art. 163 ZGB
grundsätzlich in gleicher Weise zulassen zu wollen, wie jene nach
Art. 164 ZGB
. Von der Zweckbestimmung der Unterhaltsansprüche unter Ehegatten her kann somit im vorliegenden Fall zum vornherein nur insoweit eine Pfändung der Forderung nach
Art. 163 ZGB
in Frage kommen, als Roland H.
BGE 115 III 103 S. 106
gegenüber seiner Frau ein Anspruch zusteht, der die Tilgung seiner Unterhaltsschuld gegenüber dem nicht gemeinsamen Kind bezweckt.
b) Aus der Beistandspflicht unter Ehegatten (
Art. 159 ZGB
) und aus
Art. 278 Abs. 2 ZGB
ergibt sich, dass ein Ehegatte den anderen bei der Erfüllung seiner gesetzlichen, Dritte betreffenden Unterhaltspflichten insoweit zu unterstützen hat, als ihm dies zumutbar ist. Dieser Beistand besteht in erster Linie darin, dass der eine Ehegatte mehr an den ehelichen Unterhalt leistet, damit der andere vermehrt sein Einkommen für seine Unterhaltspflichten einsetzen kann. Der Ehegatte kann aber auch verpflichtet sein, dem anderen gewisse Geldmittel zur Erfüllung seiner Unterhaltspflicht zur Verfügung zu stellen (vgl. HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 41 zu
Art. 159 ZGB
). Aufgrund der Beschränkung des Richters in
Art. 172 Abs. 3 ZGB
auf die im Gesetz vorgesehenen Massnahmen ergibt sich aber, dass diese Verpflichtung nur insoweit erzwingbar und demnach pfändbar ist, als sie vom ehelichen Unterhalt gemäss
Art. 163 und 164 ZGB
erfasst wird (HAUSEEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 47 zu
Art. 159 ZGB
).
4.
Wieweit die Unterhaltskosten der Kinder nur eines Ehegatten im ehelichen Unterhalt eingeschlossen sind, ist in der Lehre umstritten. HEGNAUER (Grundriss des Eherechts, Bern 1987, S. 155) rechnet nur die Unterhaltskosten jener nichtgemeinsamen Kinder zum ehelichen Unterhalt, welche im gemeinsamen Haushalt wohnen. HAUSHEER/REUSSER/GEISER (a.a.O., N. 17 zu Art. 163) zählen nur jene Kosten darunter, welche den gemeinsamen Haushalt betreffen, und DESCHENAUX/STEINAUER (Le nouveau droit matrimonial, Bern 1987, S. 54) beziehen die ganzen Unterhaltskosten eines nichtgemeinsamen Kindes, für die nach
Art. 278 Abs. 2 ZGB
eine Beistandspflicht besteht, in den ehelichen Unterhalt ein. Durchwegs wird aber die Meinung abgelehnt, der eheliche Unterhalt könne auch jene Unterhaltspflichten eines Ehegatten gegenüber nichtgemeinsamen Kindern umfassen, für die er die Beistandspflicht seines Partners nicht beanspruchen kann und die weder im gemeinsamen Haushalt leben noch diesen betreffen.
5.
Was Roland H. betrifft, kann er nicht verlangen, dass seine Frau für den Unterhalt seines Kindes aufkomme. Eine entsprechende Beistandspflicht der Ehefrau besteht nur, soweit ihr das zuzumuten ist und es dem Ehemann nicht möglich ist, selber seiner Verpflichtung nachzukommen (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 27 zu
Art. 159 ZGB
). Wie die Verurteilung wegen
BGE 115 III 103 S. 107
Vernachlässigung der Unterstützungspflichten zeigt, wäre aber Roland H. bei gutem Willen sehr wohl in der Lage, selber für ein Einkommen zu sorgen, das es ihm erlaubte, für den Unterhalt seines Kindes aufzukommen. Er kann deshalb offensichtlich die Beistandspflicht seiner Ehefrau dafür nicht beanspruchen.
Für die in Betreibung gesetzte Forderung ist somit ein pfändbarer Anspruch des Schuldners aus
Art. 163 ZGB
nicht gegeben. Daher war es richtig, den von der Gläubigerin behaupteten Anspruch auch nicht als bestrittene Forderung zu pfänden. Der Rekurs erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.
6.
Das Bundesgericht hat in
BGE 114 III 82
festgehalten, dass der Anspruch aus
Art. 164 ZGB
als solcher nicht pfändbar ist. Demgegenüber sind die einzelnen Leistungen nicht grundsätzlich den Gläubigern des anspruchsberechtigten Ehegatten entzogen (ebenso ISAAK MEIER, SJZ 85 (1989), S. 242; HEGNAUER, Grundriss des Eherechts, Bern 1987, S. 162; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 37 zu
Art. 164 ZGB
; a. M. SCHWAGER, Der ausserordentliche Güterstand/Die Betreibung von Ehegatten/Der Schutz der Gläubiger gemäss
Art. 193 ZGB
, in: Hangartner (Hrsg.), Das neue Eherecht, VSIV Bd. 26, St. Gallen 1987, S. 247). Zu beachten bleibt allerdings, dass diese Beträge zweckgebunden sind und die Pfändung deshalb nicht möglich ist, wenn durch sie der Zweck vereitelt wird. Deshalb ist es namentlich nicht zulässig, Forderungen nach
Art. 164 ZGB
für voreheliche Schulden zu pfänden (
BGE 114 III 87
f.; a. M. ISAAK MEIER, SJZ 85 (1989), S. 242 und wohl auch HEGNAUER, Grundriss des Eherechts, Rz. 16.47, die dem besonderen Zweck von Art. 164 im Rahmen des ehelichen Unterhaltes und der persönlichen Bedürfnisse des Ehegatten zu wenig Rechnung tragen, im Ergebnis vielmehr von einer allgemeinen vermögensrechtlichen Umverteilung unter Ehegatten ausgehen).
Art. 164 ZGB
bezweckt, dem haushaltführenden, kinderbetreuenden oder im Beruf oder Gewerbe des anderen mitarbeitenden Ehegatten die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse im gleichen erweiterten Rahmen des ehelichen Unterhaltes zu ermöglichen wie seinem Ehepartner (
BGE 114 III 81
). Die Unterhaltspflicht gegenüber einem nichtgemeinsamen Kind stellt aber kein persönliches Bedürfnis im Sinne dieser Bestimmung dar. Es handelt sich vielmehr um eine gesetzliche Pflicht. Eine Pfändung der auf
Art. 164 ZGB
gründenden Leistungen für eine Unterhaltsschuld würde den Anspruch seinem Zweck entfremden und ist
BGE 115 III 103 S. 108
deshalb nicht zulässig. Mit Recht hat somit das Betreibungsamt keine Forderung nach
Art. 164 ZGB
gepfändet.
Ist eine Pfändung des Anspruchs nach
Art. 164 ZGB
für die in Betreibung gesetzte Forderung vom Zweck her nicht zulässig, erübrigt es sich zu prüfen, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten einen entsprechenden Anspruch überhaupt zulassen.
7.
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass der Betreibungsbeamte zu Recht davon ausgegangen ist, der Schuldner habe kein Erwerbseinkommen und es bestehe keine für die in Betreibung gesetzte Schuld pfändbare eherechtliche Unterhaltsforderung gegenüber der Ehefrau des Schuldners. Eine Aufteilung des Notbedarfs der Ehegatten H.-H. ist unter diesen nicht notwendig. Somit stellt sich - entgegen der Auffassung der Rekurrentin - die Frage gar nicht, ob ihre Unterhaltsforderung beim Schuldner als Teil des Notbedarfes zu berücksichtigen sei.
Nicht weiter zu prüfen bleibt daher auch, ob die Betrachtungsweise der Rekurrentin zutrifft, wonach die Alimente, soweit sie für den Notbedarf des Gläubigers erforderlich sind, zum ehelichen Notbedarf gezählt werden, Obgleich nur der eine Ehegatte Alimentenschuldner ist (so ISAAK MEIER, Neues Eherecht und Schuldbetreibungsrecht, Zürich 1987, S. 118). Es sei immerhin vermerkt, dass diese Betrachtungsweise dazu führen dürfte, dass die nicht privilegierten Gläubiger beider Ehegatten hinter den Alimentengläubiger nur eines Partners zurückzutreten hätten. Die Alimentenschuld des einen Ehegatten würde den Notbedarf und damit den nach
Art. 93 SchKG
unpfändbaren Teil des Einkommens des anderen Ehegatten erhöhen. Das dürfte sich aber in dem Umfange nicht rechtfertigen, wie die Alimentenschuld des einen Ehegatten gemäss den Ausführungen unter Erwägung 4 nicht zum ehelichen Unterhalt gehört. Solange das Einkommen eines Ehegatten ausreicht, den Notbedarf vollständig zu decken, dürfte es diesfalls vielmehr als angemessen erscheinen, die Alimentenschuld zwar nicht zum gemeinsamen Notbedarf zu rechnen, dafür aber das für die Aufteilung massgebliche Einkommen des Pflichtigen um diesen Betrag zu vermindern. | de |
2bdcf0fb-0e77-4729-9853-05464ab117f4 | Erwägungen
ab Seite 165
BGE 103 IV 165 S. 165
Aus den Erwägungen:
... In Übereinstimmung mit dem Strafgericht hat die Vorinstanz die Widerstandsunfähigkeit darin gesehen, dass die auf einem Untersuchungsstuhl liegenden Patientinnen wegen ihrer Lage (gegenüber Kopflage erhöhte Beckenlage) keinen Einblick
BGE 103 IV 165 S. 166
in die Handlungen des Beschwerdeführers nehmen konnten und wegen des besonderen Vertrauensverhältnisses nicht damit rechneten, dass der Beschwerdeführer sich an ihnen vergehen könnte; sie seien durch die Unzuchtshandlungen überrascht worden, bevor sie nur an Widerstand hätten denken können.
Die Willensbetätigung der Frauen war demnach beeinträchtigt, weil sie wegen ihrer Lage auf dem Untersuchungsstuhl nicht sehen konnten, was mit ihnen geschah. Und in der Tat hängt eine willensmässige Reaktion von einer vorgängig durch die Sinne vermittelten äusseren Wahrnehmung ab. Fiel aber in casu das Sehen weg, so verblieb den Frauen als anderweitige Wahrnehmung das körperliche Empfinden im Bereich des Geschlechtsteils. Das aber bedeutete in diesem Fall nichts anderes, als dass sie erst reagieren konnten, als der Täter bereits im Begriff war, sie zu missbrauchen. Sie waren somit wegen ihrer besonderen Körperlage ausserstande, einen solchen Angriff auf ihre geschlechtliche Ehre zum vornherein abzuwehren. Dass sie, als sie sich schliesslich Rechenschaft darüber gaben, dass die Handlungen des Beschwerdeführers über das hinausgingen, was die Untersuchung erforderte, die physische Möglichkeit gehabt hätten, sich zu wehren, ändert am Gesagten nichts, denn abgesehen davon, dass eine bloss vorübergehende Widerstandsunfähigkeit genügt, hatte der Täter in diesem Zeitpunkt die vorbestandene Wehrlosigkeit der Frauen bereits ausgenützt. Dann aber vermag ihn auch der Umstand nicht zu entlasten, dass die Frauen sich nach jenem Zeitpunkt nicht wehrten. Das könnte in casu umsoweniger der Fall sein, als die fraglichen Patientinnen nach dem angefochtenen Urteil wegen des Vertrauensverhältnisses zum Arzt mit solchen Handlungen nicht rechneten, von diesen völlig überrascht wurden und sich schämten (Frau X.), bzw. einen eigentlichen Schock erlitten (Frau Y.) und deswegen zu einer Abwehr unfähig waren. | de |
3a15a0a1-0318-4081-baf6-aa37fc85ead5 | Die Vorinstanz darf mit den von ihr angebrachten Gegenbemerkungen weder fehlende Urteilsgründe ersetzen noch vorhandene Erwägungen ihres Entscheides ergänzen (E. 2a).
2.
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
.
Wird ein Verwaltungsstrafverfahren eingestellt, ist die auf eine Schuldvermutung gestützte Kostenauflage mit
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
unvereinbar (E. 2b).
Sachverhalt
ab Seite 86
BGE 109 Ia 85 S. 86
A.-
Die Kreistelefondirektion (KTD) Luzern eröffnete am 26. Januar 1983 gegen H. eine verwaltungsstrafrechtliche Untersuchung wegen Verdachts der Widerhandlung gegen
Art. 42 TVG
(SR 784.10). Mit Verfügung vom 1. Juni 1983 stellte sie das Verfahren mangels Beweises einer strafbaren Handlung ein, überband H. aber die Verfahrenskosten im Betrag von Fr. 59.--, weil er die Untersuchung schuldhaft verursacht habe.
B.-
Mit Eingabe vom 6. Juni 1983 führt H. gegen den Kostenentscheid der KTD Luzern bei der Anklagekammer des Bundesgerichts Beschwerde mit dem Antrag, die angefochtene Verfügung sei im Kostenpunkt aufzuheben und es sei ihm eine vom Bundesgericht zu bemessende "Kostenentschädigung" zuzusprechen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 95 Abs. 2 VStrR
können dem Beschuldigten, wenn das Verfahren eingestellt wurde, Kosten ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn er die Untersuchung schuldhaft verursacht oder das Verfahren mutwillig wesentlich erschwert oder verlängert hat.
a) Eine mutwillige Erschwerung oder Verlängerung des Verfahrens wurde in der angefochtenen Verfügung nicht zur Last gelegt. Erst in der Vernehmlassung enthaltene Gründe, mit denen eine unnötige Erschwerung bzw. Verlängerung des Verfahrens nachträglich darzutun versucht wird, sind unbeachtlich. Nach
Art. 70 Abs. 2 VStrR
sind Einstellungsverfügungen, die aufgrund einer
BGE 109 Ia 85 S. 87
gegen einen Strafbescheid gerichteten Einsprache ergehen, zu begründen. Das muss auch für Sistierungsverfügungen nach
Art. 62 Abs. 2 VStrR
jedenfalls insoweit gelten, als darin der Beschuldigte mit Kosten beschwert wird. Der Betroffene, der nach
Art. 96 Abs. 1 VStrR
befugt ist, das Kostenerkenntnis mit der Beschwerde anzufechten, muss anhand der ihm mitgeteilten Begründung zum Entscheid Stellung nehmen können, um darnach gemäss
Art. 28 Abs. 3 VStrR
seinen Antrag zu formulieren und diesen zu begründen. Es kann deshalb der entscheidenden Behörde oder Amtsstelle nicht zugestanden werden, mit ihren Gegenbemerkungen zur Beschwerde fehlende Erwägungen zu ersetzen oder vorhandene in wesentlichen Punkten zu ergänzen (nicht veröffentlichter Entscheid der Anklagekammer vom 28.4.1981 i.S. St. c. Bundesamt für Zivilluftfahrt; s. auch
BGE 98 IV 308
).
b) Aus dem Umstand, dass eine Widerhandlung des Beschwerdeführers gegen
Art. 42 TVG
- auch wenn sie nicht hinreichend bewiesen werden konnte - "aufgrund der vorhandenen Tatsachen und Indizien... wahrscheinlich" sei, scheint die KTD Luzern zu schliessen, H. habe die Untersuchung schuldhaft verursacht. Sollte dem so sein, dann hätte die Vorinstanz mit der Kostenauflage ein auf eine Schuldvermutung gestütztes und von der vorgenannten Strafbestimmung erfasstes Verhalten geahndet, was nach der neuesten Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte mit
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
unvereinbar ist. Wie dieser Gerichtshof am 25. März 1983 i.S. Minelli (6/1981/ 45/73 S. 15) entschieden hat, liegt ein Verstoss gegen die im genannten Artikel verankerte Unschuldsvermutung vor, wenn ohne vorgängigen gesetzmässigen Nachweis der Schuld ("sans établissement légal préalable de la culpabilité") und namentlich ohne dass der Beschuldigte Gelegenheit zur Verteidigung hatte, ein Entscheid ergeht, der den Eindruck vermittelt, der Betroffene sei schuldig. Dafür genügt, dass die Erwägungen nahelegen, der Richter halte diesen für schuldig ("il suffit d'une motivation donnant à penser que le juge considère l'intéressé comme coupable"); einer formellen Feststellung der Schuld ("constat formel") bedarf es nicht.
Im vorliegenden Fall ist kein Schuldspruch in der gesetzlich vorgeschriebenen Form eines Strafbescheids (
Art. 64 VStrR
) oder einer Strafverfügung (
Art. 70 VStrR
) ergangen, wurde doch das Verfahren mangels Beweises einer strafbaren Handlung eingestellt. Bei der im vorgenannten Sinne verstandenen Begründung des angefochtenen Kostenentscheides läge jedoch der Gedanken nahe,
BGE 109 Ia 85 S. 88
die KTD Luzern habe den Beschwerdeführer dennoch für schuldig erachtet und ihm deswegen die Verfahrenskosten auferlegt. Das aber wäre nach dem Gesagten unzulässig. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass H. zum Vorwurf der Widerhandlung gegen
Art. 42 TVG
einvernommen wurde und er im Untersuchungsverfahren jederzeit die Vornahme bestimmter Untersuchungshandlungen zu seiner Verteidigung hätte beantragen können (
Art. 37 VStrR
); wenn nämlich der Europäische Gerichtshof im angeführten Entscheid neben dem gesetzlichen Nachweis der Schuld auch die Verteidigungsmöglichkeit erwähnte, so geschah das nicht im Sinne einer die Tragweite der Unschuldsvermutung einschränkenden kumulativen Voraussetzung, sondern bloss um darzutun, dass ein mit
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
vereinbarer Schuldspruch ohne vorgängige Möglichkeit der Verteidigung nicht denkbar ist (s. auch
Art. 6 Ziff. 3 EMRK
).
c) Sollte jedoch die Kostenauflage nicht auf der genannten Schuldvermutung beruhen, wäre sie mangels Begründung aufzuheben. | de |
557a81d5-42ba-4c0f-945b-00cf9903f0ca | Sachverhalt
ab Seite 397
BGE 87 I 397 S. 397
Aus dem Tatbestand:
Die Imperial Chemical Industries Ltd, London (ICI), reichte am 3. September 1957 beim Eidgen. Amt für geistiges
BGE 87 I 397 S. 398
Eigentum ein Patentgesuch ein für "Neue Farbstoffe und Verfahren zum Färben mit denselben". Darin wurde der Schutz für ein Verfahren beansprucht, bei dem durch Umsetzen eines Trihalogenpyrimidins ein Dihalogenpyrimidyl als reaktionsfähiger Bestandteil gewonnen wird. Während des Patenterteilungsverfahrens, am 9. Dezember 1960, änderte die Patentanmelderin den ursprünglichen Patentanspruch dahin, dass sie die Ausdrücke "Dihalogen-" bezw. "Trihalogenverbindungen" durch "Polyhalogenverbindungen" ersetzte, weil sich ergeben habe, dass nach dem erfindungsgemässen Verfahren auch Farbstoffe hergestellt werden könnten, welche Trihalogenpyrimidyl enthalten, das aus Tetrahalogenpyrimidin gewonnen werde. Das Amt liess diese Änderung des Patentanspruchs ohne Verschiebung des Anmeldungsdatums zu. Das Patent wurde unter Nr. 352 759 am 15. März 1961 erteilt und am 28. April 1961 veröffentlicht.
Die Beschwerdeführerin Sandoz AG, eine Konkurrentin der ICI, hatte mit dieser im Jahre 1959 Verhandlungen über die Patentlage auf dem Gebiete der Pyrimidin-Farbstoffe geführt und dabei Kenntnis von der ursprünglichen Fassung der Erfindungsbeschreibung im Patentgesuch der ICI erhalten. Sie konnte daher nach Erscheinen der Patentschrift Nr. 352 759 feststellen, dass der Patentanspruch im oben genannten Sinne erweitert und dass diese Erweiterung vom Amt ohne Verschiebung des Anmeldungsdatums zugelassen worden war. Die Sandoz A.-G. hatte selbst am 28. Mai 1958 ein Patentgesuch eingereicht, das die Herstellung von Reaktivfarbstoffen durch Umsetzen von Tetrahalogenpyrimidinen zum Gegenstand hat. Sie erachtete sich durch das der ICI mit dem ursprünglichen Anmeldungsdatum erteilte Patent in ihren Rechten verletzt, da nach ihrer Meinung das Amt auf Grund von
Art. 58 Abs. 2 PatG
verpflichtet gewesen wäre, das Anmeldungsdatum auf jenen Tag zu verschieben, an welchem die sachliche Erweiterung des Patentanspruchs erfolgt war. Dieses Datum vermochte die Beschwerdeführerin
BGE 87 I 397 S. 399
jedoch nicht in Erfahrung zu bringen, da ihr Gesuch um dessen Bekanntgabe vom Amt gestützt auf Art. 59 der VVO I zum PatG abgelehnt wurde.
Am 29. Mai 1961, innert 30 Tagen seit der Veröffentlichung des Patents Nr. 352 759 der ICI, reichte die Sandoz A.-G. Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein, mit der sie beantragte, beim genannten Patent sei als Anmeldungsdatum statt des 3. September 1957 das Datum anzugeben, an welchem die ICI die Änderung des Patentanspruchs vorgenommen hatte. Zur Begründung brachte sie vor, die vorgenommene Änderung führe zu einer wesentlichen Erweiterung des Geltungsbereiches der Erfindung, da damit ein umfassenderer Oberbegriff eingeführt werde, was auf die Beanspruchung einer neuen Erfindung hinauslaufe. Diese Erweiterung wäre nach
Art. 58 Abs. 2 PatG
nur bei entsprechender Verschiebung des Anmeldungsdatums zulässig gewesen, da die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen keine Anhaltspunkte für die vorgenommene Änderung des Patentanspruchs enthalten hätten.
Das Amt beantragte Abweisung der Beschwerde. Es erklärte, gemäss seiner ständigen Praxis sei die Ersetzung spezifizierter Angaben durch Oberbegriffe ohne Verschiebung des Anmeldungsdatums zulässig; denn die unter den Oberbegriff fallende Spezifikation stelle einen Anhaltspunkt im Sinne des
Art. 58 Abs. 2 PatG
dar, da die den Oberbegriff definierenden Merkmale notwendigerweise auch bei der Spezifikation vorhanden und somit durch diese offenbart seien: was aber offenbart sei, erfülle zweifellos das Erfordernis von "Anhaltspunkten".
Die ICI beantragte in ihrer Vernehmlassung Nichteintreten auf die Beschwerde, weil die vorliegende Streitigkeit auf dem Wege der Patentnichtigkeitsklage ausgetragen werden müsse. Eventuell beantragte sie Abweisung der Beschwerde, da die ursprüngliche Fassung des Patentgesuchs Anhaltspunkte für die nachträgliche Änderung enthalten habe und daher das ursprüngliche Anmeldungsdatum beibehalten werden könne. Subeventuell stellte sie
BGE 87 I 397 S. 400
den Antrag, die Sache sei mit bestimmten Weisungen an das Amt zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde dahin gut, dass als Anmeldungsdatum des Patents Nr. 352 759 der 9. Dezember 1960 einzutragen sei. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
In prozessualer Hinsicht ist vorerst von Amtes wegen die Frage der Beschwerdelegitimation der Sandoz A.-G. einerseits und der ICI anderseits zu prüfen.
a) Zur Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nach
Art. 103 Abs. 1 OG
berechtigt, "wer in dem angefochtenen Entscheid als Partei beteiligt war oder durch ihn in seinen Rechten verletzt worden ist". Die erste Voraussetzung trifft auf die Sandoz A.-G. nicht zu; sie war nicht Partei des Patenterteilungsverfahrens, das sich ausschliesslich zwischen dem Amt und der Anmelderin ICI abspielte. Dagegen ist die andere Voraussetzung, nämlich die Verletzung der Beschwerdeführerin in ihren Rechten, gegeben. Der Streit geht um den für den Erfindungsschutz massgebenden Zeitpunkt der Patentanmeldung. Ist für das Streitpatent der ICI das ursprüngliche Anmeldungsdatum des 3. September 1957 gültig, so kommt ihm die Priorität zu vor dem am 28. Mai 1958 angemeldeten Patent der Beschwerdeführerin. Gilt dagegen für das Patent der ICI als Anmeldedatum der 9. Dezember 1960, an welchem die Änderung des Patentanspruches vorgenommen wurde, so geniesst die Patentanmeldung der Beschwerdeführerin die Priorität. Sofern es materiell unrichtig war, trotz der vorgenommenen Änderung des Patentanspruches das ursprüngliche Anmeldedatum zu belassen, wurde daher die Beschwerdeführerin in ihren subjektiven Rechten dadurch verletzt, dass das Amt das ursprüngliche Datum als massgebend erklärte und eintrug. Diese Möglichkeit einer Verletzung der Sandoz A.-G. in ihren subjektiven Rechten genügt aber für sich allein, um ihr die Beschwerdelegitimation im Sinne des
Art. 103
BGE 87 I 397 S. 401
Abs. 1 OG
zu verschaffen (
BGE 75 I 382
; GEERING, in Schweiz. Jur. Kartothek, Nr. 891 S. 4 f; BIRCHMEIER, OG S. 433 f.; BLUM/PEDRAZZINI, Schweiz. Patentrecht, Bd. III, Anm. 14 zu
Art. 59 PatG
.).
b) Anderseits muss der ICI zweifellos die Passivlegitimation, d.h. die Stellung einer Beschwerdebeklagten, eingeräumt werden. Gemäss
Art. 93 OG
, auf den
Art. 107 OG
verweist, wird die Beschwerde sowohl der Behörde, von welcher der Entscheid ausgegangen ist (hier das Amt), als auch "der Gegenpartei und allfällig weiteren Beteiligten" zur Vernehmlassung mitgeteilt. Da die ICI im vorinstanzlichen Verfahren, d.h. im Patenterteilungsverfahren als Partei beteiligt war, ist sie als Gegenpartei im Sinne des
Art. 93 OG
zu betrachten. Andernfalls wäre sie zum mindesten als "weitere Beteiligte" anzusehen; denn auf Grund des Entscheides des Amtes steht ihr ein Prioritätsrecht zu, dessen sie bei Gutheissung der Beschwerde verlustig ginge. Damit würde in ihre Rechte eingegriffen, was selbstverständlich nicht geschehen darf, ohne dass sie angehört wird.
2.
Ebenfalls von Amtes wegen ist sodann zu prüfen, ob der vorliegende Streit überhaupt im Wege der Verwaltungsgerichtsbeschwerde entschieden werden kann oder ob die Sandoz A.-G. zur Geltendmachung ihrer Ansprüche nicht vielmehr auf den Weg der Nichtigkeitsklage beim ordentlichen Richter zu verweisen sei.
a) Bei der Entscheidung dieser Frage ist davon auszugehen, dass sich der Streit um das massgebende Anmeldungsdatum dreht; insbesondere ist umstritten, ob es richtig gewesen sei, dass das Amt als Datum der Patentanmeldung im Patentregister und auf der veröffentlichten Patentschrift den 3. September 1957 verurkundete. Die Eintragung des Anmeldedatums (und gegebenenfalls des Prioritätslandes und -datums) im Patenregister gemäss
Art. 60 Abs. 1 PatG
stellt aber (gleich wie die übrigen in dieser Bestimmung genannten Eintragungen) grundsätzlich eine blosse Registrierungshandlung des Amtes
BGE 87 I 397 S. 402
dar, die, wenn sie fehlerhaft ist, durch die Aufsichts- oder Beschwerdeinstanz korrigiert werden kann. Nun hat das Amt allerdings bei der Feststellung des Anmeldedatums auch gewisse Entscheidungen materieller Natur zu treffen, insbesondere wenn es sich, wie hier, fragt, ob ein ursprüngliches Anmeldedatum mit Rücksicht auf vorgenommene Änderungen des Patentanspruchs verschoben werden müsse. Diese Entscheidung hat praktisch weittragende Auswirkungen auf die Prioritätsverhältnisse und damit auf den Bestand oder den Wegfall von Rechten der einen oder der andern Partei. Massgebend ist aber, dass mit der Festlegung des Anmeldedatums kein formeller rechtsgestaltender Entscheid über die Rechte von Privatpersonen getroffen wird, der dem ordentlichen Richter vorbehalten bleiben müsste. Die allfälligen Auswirkungen des Entscheides über das Anmeldedatum, mögen sie auch praktisch von grosser Tragweite sein, ändern am Charakter des Entscheids als blosser Verwaltungshandlung nichts. Dies rechtfertigt es, den Streit über das richtige Anmeldedatum im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren zum Austrag bringen zu lassen. (Vergl. hiezu: WEIDLICH/BLUM, Kommentar zum aPatG, Art. 28 Anm. 1; BLUM/PEDRAZZINI PatG Bd. III, Art. 59 Anm. 13, die für Streitigkeiten über die Feststellung des Anmeldedatums ebenfalls den Beschwerdeweg als anwendbar erklären.)
b) Die Beschwerdebeklagte vertritt demgegenüber die Auffassung, der Streit zwischen dem Patentinhaber und Dritten über das Anmeldedatum sei nicht im Beschwerdeverfahren zu entscheiden, sondern unterstehe der Beurteilung durch den ordentlichen Richter; sie beantragt demgemäss, die Beschwerde sei "als unzulässig abzuweisen", d.h. es sei auf sie nicht einzutreten. Ebenso äussert das Amt Zweifel darüber, ob Dritte sich zur Bestreitung eines von ihm angenommenen Anmeldedatums der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bedienen können. Die zur Stützung dieser Ansicht vorgetragenen Argumente halten jedoch der Prüfung nicht stand.
BGE 87 I 397 S. 403
Sowohl die Beschwerdebeklagte als auch das Amt weisen darauf hin, dass
Art. 59 PatG
, dessen Abs. 6 Entscheide des Amtes in Patentsachen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterstellt, im Abschnitt über das Prüfungsverfahren steht, zu dem die in
Art. 58 Abs. 2 PatG
geordnete Verschiebung des Anmeldedatums nicht gehöre. Daraus kann jedoch nicht der Schluss auf Unzulässigkeit des Beschwerdeverfahrens gezogen werden. Denn einerseits stellt
Art. 59 Abs. 6 PatG
lediglich einen Hinweis auf das OG dar, das in Art. 99 Ziff. I lit. a als Gegenstand der Verwaltungsgerichtsbeschwerde allgemein "Entscheidungen des Amtes in Patentsachen" bezeichnet; zu diesen gehört aber der vorliegende Entscheid unzweifelhaft. Anderseits erklärt
Art. 59 PatG
, der sich nach der Systematik des Gesetzes wohl nur auf das Prüfungsverfahren bezieht, in Abs. 6 ebenfalls in allgemeiner Weise, gegen Entscheide des Amtes "in Patentsachen, insbesondere gegen die Zurückweisung von Patentgesuchen, sei nur die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht" nach Massgabe des OG zulässig. Damit ist die Frage nach dem anwendbaren Rechtsweg durch das Gesetz selbst eindeutig zugunsten des Beschwerdeverfahrens und gegen den Weg des Zivilprozesses beantwortet.
Der Einwand,
Art. 59 PatG
stehe unter dem Titel "Prüfungsverfahren", zu dem die Patenterteilung nicht gehöre, ist aber auch noch aus folgender Überlegung abzulehnen: Nach Art. 59 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 49 Abs. 3 PatG
erfolgt eine (durch Beschwerde anfechtbare) Zurückweisung des Patentgesuches unter anderm auch, wenn die Anmeldungsgebühr gemäss
Art. 41 PatG
nicht bezahlt wird, also offenbar vor Aufnahme des eigentlichen Prüfungsverfahrens. Daraus erhellt, dass der systematischen Einordnung des
Art. 59 Abs. 6 PatG
nicht jene Bedeutung zukommt, die ihr die Beschwerdebeklagte und das Amt beilegen wollen. Zu beachten ist ferner, dass nach
Art. 59 Abs. 6 PatG
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde "insbesondere die Zurückweisung des Patentgesuches"
BGE 87 I 397 S. 404
unterliegt. Diese hat gemäss
Art. 59 Abs. 2 PatG
aber zu erfolgen, wenn das Gesuch den in
Art. 9 und 49-55 PatG
enthaltenen Vorschriften nicht entspricht. Die erwähnten Bestimmungen verleihen dem Amt und damit der Beschwerdeinstanz eine Entscheidungsbefugnis von erheblicher Tragweite; eine solche darf ihm daher auch bezüglich der Entscheidung über das massgebliche Anmeldedatum zugebilligt werden.
Zu Unrecht glaubt die Beschwerdebeklagte schliesslich, sich für ihren Standpunkt aufBGE 62 I 165ff. berufen zu können. Im genannten Falle richtete sich die Beschwerde gegen die Weigerung des eidgen. Justiz- und Polizeidepartementes, auf Antrag eines Konkurrenten eines Markeninhabers die Löschung einer eingetragenen Marke anzuordnen. Das Bundesgericht erklärte die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als unzulässig, weil auf privaten Interessen beruhende Löschungsansprüche nicht mit Beschwerde, sondern mit der Löschungsklage geltend zu machen seien; denn diese sei der Rechtsbehelf, der Dritten zur Verfügung stehe, um eine in ihre private Rechtssphäre eingreifende Marke anzufechten. Das gilt an sich allerdings sinngemäss auch für das Patentrecht, d.h., die Löschung eines eingetragenen Patentes kann nicht mittels eines dahingehenden Begehrens beim Amt, sondern nur durch Zivilklage gemäss
Art. 26, 29 und 38 PatG
betrieben werden. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber nicht um ein Begehren auf Löschung eines Patentes, sondern lediglich um die Berichtigung des vom Amt angenommenen Anmeldedatums. AusBGE 62 I 165ff. lässt sich daher für den vorliegenden Fall nichts ableiten.
3.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist sodann - wiederum von Amtes wegen - auch noch die Rechtzeitigkeit der eingereichten Beschwerde zu prüfen.
Nach
Art. 107 OG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde "innert 30 Tagen vom Eingang der schriftlichen Ausfertigung des Entscheides an" einzureichen. Der vorliegende Fall weist nun die Besonderheit auf, dass der
BGE 87 I 397 S. 405
angefochtene "Entscheid" des Amtes, d.h. die Zulassung der Änderung des ursprünglichen Patentanspruches ohne Verschiebung des Anmeldedatums, der Beschwerdeführerin nicht mitgeteilt worden ist, da sie ja am Patenterteilungsverfahren nicht als Partei beteiligt war. Sie konnte (im Gegensatz zu den sonstigen Fällen, in denen ein im angefochtenen Entscheid nicht als Partei beteiligter Dritter gemäss
Art. 103 OG
zur Beschwerde legitimiert ist) von dem in Frage stehenden Entscheid wegen der dem Amt nach Art. 59 Abs. 2 VVO I zum PatG obliegenden Geheimhaltungspflicht überhaupt keine Kenntnis erlangen. Da somit ein "Eingang der schriftlichen Ausfertigung des Entscheides" für die Beschwerdeführerin ausser Betracht fällt, nimmt sie mit Recht das Datum der am 28. April 1961 erfolgten Veröffentlichung des Patentes als frühesten denkbaren Beginn der Beschwerdefrist von 30 Tagen in Anspruch. Dass sie von der Differenz zwischen dem ursprünglichen und dem abgeänderten Patentanspruch schon vor der Veröffentlichung der Patentschrift Kenntnis erlangt hätte, behaupten weder die Beschwerdebeklagte noch das Amt, und es kann den Akten auch kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden. Die Beschwerdefrist von 30 Tagen seit dem 28. April 1961 aber hat die Beschwerdeführerin eingehalten.
4.
Als letzter prozessualer Punkt ist schliesslich der von der Beschwerdebeklagten gestellte subeventuelle Antrag zu prüfen, die Sache sei an das Amt zurückzuweisen und dieses zu verhalten, das Patent zu annullieren und das Patentanmeldungsverfahren in der Weise fortzuführen, dass ihr Gelegenheit geboten werde, die Patentierung gemäss der ursprünglichen Anmeldung zu beantragen und zu erhalten.
Dieser Antrag ist unzulässig. Ein einmal erteiltes Patent kann nur durch den ordentlichen Richter "annulliert", d.h. nichtig erklärt werden. Dem Amt fehlt die Befugnis hiezu, und folglich kann auch die Beschwerdeinstanz es nicht dazu "verhalten".
BGE 87 I 397 S. 406
Dieser subeventuelle Antrag entspringt der Besorgnis der Beschwerdebeklagten, durch die Zugrundelegung des späteren Anmeldungsdatums für ihr Patent erwüchse der Beschwerdeführerin der Vorteil, "dass ihre Patentanmeldung, die später war als die ursprüngliche Anmeldung der Beschwerdegegnerin 2, zu einem Patent führen würde, das ein früheres Datum trägt als dasjenige der Beschwerdegegnerin 2"; diese würde so um den Anspruch auf das Patent für die früher angemeldete Erfindung gebracht, was höchst ungerecht wäre. Inwieweit diese Befürchtungen der Beschwerdebeklagten sachlich begründet sind und auf welchem Wege sie zu dem von ihr angestrebten Ergebnis gelangen könnte, dass sie wenigstens im Umfang ihres ursprünglichen Patentanspruchs von dessen Anmeldungsdatum an geschützt wäre, ist jedoch im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden. Auf jeden Fall ist der mit dem subeventuellen Antrag von der Beschwerdebeklagten vorgeschlagene Weg nicht gangbar. ..
6.
In der Sache selbst ist davon auszugehen, dass der ursprünglich in der Patentanmeldung vorgesehene und der endgültig in das Patent aufgenommene Patentanspruch im Wortlaut voneinander abweichen. Es fragt sich nun, ob der ursprüngliche oder der abgeänderte Wortlaut für die Bestimmung des für die Prioritätsfrage entscheidenden Anmeldedatums massgebend sein soll. Die Entscheidung ist aus
Art. 58 Abs. 2 PatG
zu gewinnen; dieser lautet:
"Enthält weder die ursprüngliche Beschreibung noch ein anderes, dem Amt gleichzeitig eingereichtes Schriftstück Anhaltspunkte für diese Änderungen (scil. des Patentanspruchs oder der Unteransprüche), so gilt als Anmeldungsdatum des Patentgesuches der Zeitpunkt, in welchem die Änderungen oder Anhaltspunkte dafür dem Amt für geistiges Eigentum zu diesem Patentgesuch schriftlich mitgeteilt worden sind; das ursprüngliche Anmeldungsdatum verliert in diesem Falle jede gesetzliche Wirkung."
a) Diese Bestimmung ist im Zusammenhang mit dem übrigen Gesetzesinhalt auszulegen. Danach ist Erfindungsschutz nur zugunsten einer patentierten Erfindung gegeben, also eigentlich erst vom Momente der Patenterteilung
BGE 87 I 397 S. 407
(oder der Veröffentlichung des Patentes) an. Weil aber das Patenterteilungsverfahren immer eine gewisse Zeit (häufig mehrere Jahre) in Anspruch nimmt, muss der Patentbewerber gegen die Gefahr geschützt werden, in der Zwischenzeit dadurch um seine Rechte zu kommen, dass ein anderer die gleiche Erfindung macht und praktisch anwendet. Darum ist der Grundsatz der Priorität der Anmeldung aufgestellt worden. Wer seine Erfindung zur Patentierung angemeldet hat, soll gesichert sein, dass ihm nicht nachher ein anderer bezüglich der gleichen Erfindung den Rang ablaufen kann; seine Erfindung geniesst bereits einen provisorischen Schutz. Darauf beruht die entscheidende Bedeutung des Anmeldungsdatums. Auch dieser einstweilen provisorische Schutz muss sich aber, gleich wie der nachher durch das erteilte Patent verbriefte, auf einen ganz bestimmten, genau umschriebenen Patentgegenstand beziehen, weil ohne solchen ein Schutz überhaupt nicht denkbar ist. Der Patentgegenstand wird im erteilten Patent durch den Patentanspruch umschrieben; was in diesem nicht enthalten ist, insbesondere was über den darin festgelegten Umkreis hinausgeht, ist nicht geschützt. Nun muss freilich ein Patentanspruch nicht schon mit der Patentanmeldung formuliert werden, sondern erst spätestens vor der Erteilung des Patentes, zwecks Aufnahme in die Patentschrift. Irgendeine anderweitige Umschreibung des Patentgegenstandes ist jedoch schon für die Anmeldung unerlässlich; denn das Amt muss doch wissen, wofür das Patent verlangt wird, und die durch die Anmeldung garantierte Priorität muss sich notwendigerweise auf einen bestimmt umschriebenen Patentgegenstand beziehen. Der Umstand, dass nicht schon mit der Patentanmeldung ein formell redigierter Patentanspruch mit Hauptanspruch und Unteransprüchen vorgelegt werden muss, hat seinen Grund offenbar darin, dass die Formulierung eines den gesetzlichen Ansprüchen genügenden Patentanspruchs meistens erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Dem Patentbewerber, namentlich wenn
BGE 87 I 397 S. 408
er zunächst ohne Patentanwalt auftritt, soll daher die Gelegenheit belassen werden, noch während des Erteilungsverfahrens sich die schwierigen technischen, rechtlichen und sprachlichen Fragen, die mit der Formulierung eines in jeder Hinsicht haltbaren Patentanspruchs verbunden sind, reiflich zu überlegen. Dieser Fall braucht indessen hier nicht näher erörtert zu werden; denn die Patentbewerberin hat ja von Anfang an, mit der Patentanmeldung, einen formulierten Patentanspruch vorgelegt, betreffend ein Verfahren mit einer Dihalogenverbindung unter Umsetzung eines Trihalogenpyrimidins. Diese Umschreibung war für den Schutzbereich des verlangten Patents einmal massgebend; darüber hinaus kam ein Erfindungsschutz zunächst nicht in Frage. Nun lässt zwar das Gesetz eine Änderung des erst angemeldeten Patentanspruches bis zur Patenterteilung zu; da durch eine solche aber die Umschreibung des Patentgegenstandes, dem durch die erfolgte Anmeldung die Priorität gegenüber andern Bewerbern garantiert ist, geändert wird, erhebt sich notwendigerweise die Frage, ob diese Garantie mit Wirkung seit dem Datum der ersten Anmeldung auch für den nunmehr abgeänderten Patentgegenstand, bezw. für den von diesem erfassten Bereich gilt. Hier greift nun
Art. 58 Abs. 2 PatG
ein; nach diesem bleibt das ursprüngliche Anmeldungsdatum nur dann für den Prioritätsschutz auch der abgeänderten Fassung weiter massgebend, wenn schon die ursprüngliche Beschreibung oder sonst ein dem Amt gleichzeitig eingereichtes Schriftstück (hier also der Patentanspruch in seiner ersten Formulierung) Anhaltspunkte für diese Aenderungen enthielten. Wo dies nicht der Fall ist, gilt künftig als Anmeldungsdatum der Zeitpunkt, in dem die Änderungen dem Amte mitgeteilt wurden, während das ursprüngliche Anmeldungsdatum jede gesetzliche Wirkung verliert, insbesondere also auch die prioritätsbegründende. Denn es handelt sich dann eben um ein neues Patentgesuch. Der Begriff "Anhaltspunkte" lässt sich, da er verschwommen ist, nicht allgemeingültig
BGE 87 I 397 S. 409
umschreiben. Die Frage, ob solche Anhaltspunkte vorlagen, muss von Fall zu Fall auf Grund der konkreten Verhältnisse beantwortet werden. Zu beachten ist dabei aber, dass ohne Datumsverschiebung nur Änderungen zulässig sein können, durch welche die in den ursprünglichen Unterlagen offenbarte Erfindung nicht ihrem Wesen nach gewandelt und über die dort offenbarten Grenzen hinaus erweitert wird. Sobald dies der Fall ist, kann die Änderung nur mit entsprechender Datumsverschiebung zugelassen werden, da dann in Wirklichkeit der Schutz einer neuen Erfindung beansprucht wird (BLUM/PEDRAZZINI, Patentrecht Bd. III S. 336, Anm. 4 zu Art. 58; für das deutsche Recht: REIMER, Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz, 2. Aufl. S. 727, § 26 Anm. 37).
b) Die im vorliegenden Fall zu entscheidende Frage geht dahin, ob der von der ICI angemeldete Patentanspruch in seiner ursprünglichen Formulierung bereits Anhaltspunkte für den am 9. Dezember 1960 vorgenommenen Übergang von den Dihalogen- bezw. Trihalogenverbindungen zu den Polyhalogenverbindungen enthalten habe. Das ist entgegen der Meinung des Amtes und der Beschwerdebeklagten zu verneinen. Von Polyhalogenverbindungen steht in der ersten Formulierung des Patentanspruchs nichts. Das Verfahren mit solchen fiel daher nicht in den damals beanspruchten Schutzbereich und konnte darum auch nicht eines Prioritätsschutzes teilhaftig werden.
Das Amt vertritt nun die Auffassung, der ursprüngliche Anspruch habe Anhaltspunkte für die vorgenommene Änderung enthalten, weil es sich bei dem abgeänderten Ausdruck "Polyhalogenverbindungen" um den Oberbegriff zu den ursprünglich genannten Trihalogen- bezw. Dihalogenverbindungen handle. Im Unterbegriff seien aber gemäss ständiger Praxis des Amtes stets Anhaltspunkte für einen Oberbegriff enthalten.
Es mag sein, dass diese Auffassung des Amtes in gewissen Fällen zutrifft. Dagegen kann sie nicht im Sinne einer
BGE 87 I 397 S. 410
allgemein gültigen Regel schematisch angewendet werden; der in Frage stehende Oberbegriff und die Unterbegriffe bedürfen vielmehr in jedem einzelnen Fall der Prüfung darauf hin, ob durch die Einführung des Oberbegriffs der Gegenstand der Erfindung erweitert werde oder nicht.
Sofern im vorliegenden Fall gemäss der Darstellung des Amtes die Begriffe "Dihalogenverbindungen" und "Trihalogenverbindungen" unter den Oberbegriff "Polyhalogenverbindungen" fallen sollten, trifft dies unzweifelhaft auch zu auf die Tetrahalogenverbindungen, von denen das von der Beschwerdeführerin zum Patent angemeldete Verfahren ausgeht. Der Oberbegriff "Polyhalogenverbindungen" umfasst also mehr Unterbegriffe, als im ursprünglichen Patentanspruch enthalten waren, der lediglich von den Dihalogen- bezw. Trihalogenverbindungen spricht. Der umfassende Oberbegriff erschöpft sich somit nicht in den in der ursprünglichen Fassung des Patentanspruchs enthaltenen Unterbegriffen; er kann daher nicht einfach an deren Stelle treten; denn damit fände unzweifelhaft eine Erweiterung des Schutzgebietes gegenüber der ersten Formulierung statt. Eine solche ist aber ohne Verschiebung des Anmeldedatums nicht zulässig.
Das Amt hat danach zu Unrecht dem Patent Nr. 352 759 das Anmeldungsdatum des 3. September 1957 zu Grunde gelegt; sein in diesem Punkt getroffener Entscheid ist daher aufzuheben. Massgeblich ist nach
Art. 58 Abs. 2 PatG
das Datum der Änderung, d.h. der 9. Dezember 1960. Dies kann gemäss
Art. 109 Abs. 2 OG
durch die Beschwerdeinstanz selbst so entschieden werden. | de |
4900e11a-f5f0-40f6-99de-359463abdb64 | Sachverhalt
ab Seite 494
BGE 113 II 493 S. 494
A.-
Das landwirtschaftliche Heimwesen "Koster-Karlonis", Bezirk Appenzell, im Halte von 6 ha 30 a und 47 m2 stand ursprünglich im Gesamteigentum der Brüder Franz Josef und Emil Manser. Nach dem Tode von Emil Manser im Jahre 1965 konnten sich die Erben über die Zuteilung des in die Erbmasse gefallenen Gesamteigentumsanteils nicht einigen. Das Begehren des überlebenden Bruders Franz Josef Manser um ungeteilte Zuweisung im Sinne von
Art. 620 ff. ZGB
lehnte die Standeskommission von Appenzell Innerrhoden mit Entscheid vom 14. Oktober 1968 mit der Begründung ab, die Bestimmungen des OR über die Auseinandersetzung bei Auflösung einer einfachen Gesellschaft würden denjenigen des bäuerlichen Erbrechts vorgehen. In der Folge erklärten sich die Erben jedoch damit einverstanden, den Gesamteigentumsanteil des verstorbenen Emil Manser von der Erbteilung auszunehmen. Gemäss dem Erbteilungsvertrag vom 24. Februar 1969 sollte die Versteigerung der Liegenschaft unterbleiben, damit sie vom überlebenden Franz Josef Manser bis zu seinem Tode bewirtschaftet und im Sinne von
Art. 745 ff. ZGB
genutzt werden könne.
BGE 113 II 493 S. 495
Am 4. Oktober 1984 verstarb auch Franz Josef Manser. Seine Erben sind mit denjenigen von Emil Manser identisch.
B.-
Am 6. März 1985 stellte Marie Koller-Dörig, eine Nichte von Franz Josef Manser, bei der Standeskommission von Appenzell Innerrhoden das Gesuch, die Liegenschaft "Koster-Karlonis" sei ihr gemäss
Art. 620 ff. ZGB
ungeteilt zum Ertragswert zuzuweisen. Am 8. März 1985 reichte Albert Silvester Manser, der jüngste Bruder von Franz Josef Manser, ein gleichlautendes Begehren ein. Die Miterben erhoben gegen die Zuweisungsbegehren Einsprache.
Die Vermittlungsversuche scheiterten. Die Parteien einigten sich schliesslich darauf, aus prozessökonomischen Gründen vor der Standeskommission zunächst die Frage abklären zu lassen, ob das bäuerliche Erbrecht im vorliegenden Fall überhaupt angewendet werden könne.
Mit Entscheid vom 10. März 1987 verneinte die Standeskommission die Anwendbarkeit des bäuerlichen Erbrechts und wies dementsprechend die Begehren von Marie Koller-Dörig und Albert Silvester Manser um ungeteilte Zuweisung der Liegenschaft zum Ertragswert ab.
C.-
Gegen diesen Entscheid haben die Ansprecher in getrennten Rechtsschriften je Berufung an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben sowie das bäuerliche Erbrecht und damit die Integralzuweisung für die Liegenschaft "Koster-Karlonis" für anwendbar zu erklären. Albert Silvester Manser verlangt zudem die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, welche ihm die Liegenschaft ungeteilt zum Ertragswert zuweisen solle. Marie Koller-Dörig beantragt die Zuweisung der Liegenschaft an sich, eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, welche ihr die Liegenschaft zuweisen solle.
Die übrigen Erben haben sich nicht vernehmen lassen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Liegenschaft Koster-Karlonis stand ursprünglich im Gesamteigentum der Brüder Franz Josef und Emil Manser. Die Vorinstanz hat hierzu festgehalten, die Brüder hätten eine einfache Gesellschaft gebildet. Diese Feststellung stützt sich auf den öffentlich beurkundeten Kaufvertrag vom 6. November 1937, wonach die Käufer "zu diesem Zwecke gemäss dem 23. Titel (Art. 530/551) des OR eine einfache Gesellschaft bilden". Im angefochtenen Urteil findet sich keine Feststellung darüber, dass der wirkliche
BGE 113 II 493 S. 496
Wille der Käufer hievon abgewichen wäre. Angesichts des klaren Wortlautes der Abrede ist daher die Auffassung der Vorinstanz in keiner Weise zu beanstanden (vgl.
BGE 96 II 334
ff.).
b) Beim Tode von Emil Manser im Jahre 1965 änderte sich die Rechtszuständigkeit an der Liegenschaft. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz bestand keine Abrede, die Gesellschaft nach dem Tode eines Gesellschafters weiterzuführen. Ebensowenig sei zwischen dem überlebenden Gesellschafter und den übrigen Erben die Fortführung beschlossen oder stillschweigend in diesem Sinne gehandelt worden. Es ist daher davon auszugehen, dass die einfache Gesellschaft mit dem Tode von Emil Manser im Jahre 1965 gemäss
Art. 545 Ziff. 2 OR
aufgelöst worden ist.
Eine Liquidation des Gesellschaftsvermögens unterblieb in der Folge indessen ebenso wie eine diesbezügliche Erbteilung. Nachdem die Vorinstanz mit rechtskräftigem Urteil vom 14. Oktober 1968 die Integralzuweisung der Liegenschaft zum Ertragswert an Franz Josef Manser abgelehnt hatte, erklärten sich die Erben im Erbteilungsvertrag vom 24. Februar 1969 vielmehr damit einverstanden, dass die Versteigerung der Liegenschaft Koster-Karlonis unterbleibe und Franz Josef Manser die Liegenschaft bis zu seinem Ableben bewirtschaften und nutzen könne. Rechtlich zerfiel die Liegenschaft somit in den Gesamteigentumsanteil von Franz Josef Manser und denjenigen der Erbengemeinschaft, an dem Franz Josef Manser wiederum als Erbe beteiligt war. Die Annahme, die beiden Gesamteigentumsanteile seien zu einer rechtlichen Einheit verschmolzen, entbehrt angesichts der unterschiedlichen Rechtszuständigkeit an den beiden Gesamteigentumsanteilen jeder Grundlage.
3.
Zu prüfen bleibt, ob ein Erbe aufgrund des bäuerlichen Erbrechts die ungeteilte Zuweisung der Liegenschaft zum Ertragswert verlangen kann, wenn ein landwirtschaftliches Heimwesen wie hier zwei verschiedenen Erbmassen angehört.
a) Bisher ist vom Bundesgericht die Anwendung des bäuerlichen Erbrechts grundsätzlich abgelehnt worden, wenn sich das streitige Heimwesen nicht im Alleineigentum des Erblassers befunden hat (
BGE 96 II 328
f.;
BGE 83 II 515
f.,
BGE 76 II 23
f.). Zur Begründung ist angeführt worden, das ZGB kenne keinen gemeinschaftlichen Erbgang und keine gemeinsame Erbteilung beim Tode mehrerer Personen, sondern nur eine Nachfolge in bezug auf Einzelpersonen. Es könne daher kein Erbe dazu gezwungen werden, in eine Teilung einzuwilligen, bei der die von verschiedenen Erbschaften
BGE 113 II 493 S. 497
herrührenden Güter nicht als verschiedene Erbmassen behandelt würden.
Art. 620 ZGB
könne nicht dazu dienen, eine rechtliche Einheit zu bewirken, die vor dem Erbgang nicht bestanden habe. In einem solchen Fall sei schon vor dem Erbgang eine Mehrheit von Berechtigten vorhanden, die eine Aufhebung der bisherigen Bewirtschaftungseinheit erwirken könnten. Die Rechte des Erblassers reichten also vor seinem Tode nicht aus, die Einheit des Betriebes zu gewährleisten. Demzufolge liege die Gefahr der Zerstückelung nicht in der Teilung der Erbschaft als solcher begründet, weshalb die ratio des
Art. 620 Abs. 1 ZGB
entfalle.
b) Die überwiegende Lehre hält diese Rechtsprechung für das geltende Recht dem Grundsatz nach für zutreffend (ohne Einschränkung: TUOR/PICENONI, Berner Kommentar, N 8 f. und 15 zu
Art. 620 ZGB
). ESCHER (Zürcher Kommentar, N 25 zu
Art. 620 ZGB
) weist darauf hin, dass die Situation in jedem Fall unbefriedigend sei, wie auch vorgegangen werde. Verweigere man die ungeteilte Übernahme eines Heimwesens mangels rechtlicher Einheit, so werde eine bisher bestehende wirtschaftliche Einheit vielleicht für immer zerstört. Gestatte man sie, so verstosse man gegen die unausgesprochene, aber selbstverständliche gesetzliche Voraussetzung, wonach das Gewerbe für einen ungeteilten Übergang aus dem in Frage stehenden Nachlass stammen müsse. Obwohl eine ungeteilte Zuweisung in solchen Fällen theoretisch nur schwer zu begründen sei (ESCHER, a.a.O.), fordern verschiedene Autoren wenigstens für bestimmte Fälle eine Ausnahme. Sterbe einer von zwei gemeinschaftlichen Eigentümern und befinde sich der andere unter seinen Erben, so sei dieser sonst schlechter gestellt, als wenn das Gewerbe im Alleineigentum des Erblassers gestanden hätte und er demzufolge nur Erbe und nicht zusätzlich Eigentümer wäre; denn als blosser Erbe könnte er ohne weiteres das Zuweisungsbegehren stellen. Diese Situation könne vor allem unter Geschwistern oder Ehegatten eintreten, denen das fragliche Gewerbe gemeinsam gehört habe (ESCHER, a.a.O., N 25 f.; NEUKOMM/CZETTLER, Das bäuerliche Erbrecht, 5. Aufl., S. 95-100; PIOTET, Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/II, S. 1034-1036; STEIGER, Zur Frage des Anwendungsbereiches und der Geltungskraft des bäuerlichen Erbrechts sowie der allgemeinen Voraussetzungen der Integralzuweisung eines landwirtschaftlichen Gewerbes, Diss. Bern 1966, S. 21 ff., insbesondere 27 f.; STUDER, Die Integralzuweisung landwirtschaftlicher Gewerbe nach der Revision des bäuerlichen Zivilrechts von 1972, 2. Aufl., S. 124 f.). In diesen Fällen
BGE 113 II 493 S. 498
entspreche die ungeteilte Zuweisung dem Sinn und Geist des bäuerlichen Erbrechts besser.
Das Bundesgericht hat freilich in
BGE 45 II 632
E. 2 auch in einem solchen Fall die ungeteilte Zuweisung abgelehnt und darauf hingewiesen, dass sich der angestrebte Erfolg nur erreichen lasse, wenn der Eigentumsanteil des Erblassers dem überlebenden Gesamteigentümer und Miterben zugewiesen werde. Die Zuweisung an einen der übrigen Miterben sei hierzu ungeeignet, da diese den überlebenden Gesamteigentümer nicht zwingen könnten, seinen Anteil abzutreten. Es bestehe daher die Gefahr, dass diesem ein Vorrecht gegenüber den anderen Miterben gegeben werden müsse. Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten sei, ist hier indessen nicht zu entscheiden, da gar kein Fall eines überlebenden Gesamt- oder Miteigentümers zu beurteilen ist, der zugleich Erbe ist. Im vorliegenden Fall sind vielmehr beide Gesamteigentümer verstorben. Die beiden Ansprecher sind blosse Miterben, wenn auch mit Bezug auf beide Nachlässe der ursprünglichen Gesamteigentümer.
c) In
BGE 75 II 199
ff. E. 2 liess das Bundesgericht die Anwendung des bäuerlichen Erbrechts zu, obwohl sich das landwirtschaftliche Heimwesen an sich in zwei Erbmassen befunden hatte. In jenem Fall wurde die Erbengemeinschaft nach dem Tode des ersten Ehegatten nicht aufgelöst, und nach dem Tode des zweiten erachtete es das Bundesgericht als zulässig, dass das bisher in der Erbengemeinschaft verbliebene Gewerbe einem Erben des erstverstorbenen oder einem Erben des zweitverstorbenen Ehegatten zugewiesen werde. Jener Fall gleicht dem vorliegenden somit insofern, als eine erste Erbengemeinschaft vorerst nicht aufgelöst worden ist und über die Integralzuweisung erst nach dem Tode eines Erben zu befinden ist. Daraus kann jedoch nichts für den vorliegenden Fall abgeleitet werden. Im Unterschied zu hier befand sich das landwirtschaftliche Heimwesen nämlich im Alleineigentum des Erstversterbenden, weshalb das Heimwesen als solches in den ersten Nachlass fiel. Die Besonderheit jenes Falles liegt somit einzig darin, dass das bäuerliche Erbrecht nach dem Tode eines Miterben weiterhin und auch in bezug auf Erbeserben für anwendbar erklärt worden ist, die nach dem Tode eines Miterben dessen Platz in einer fortgesetzten Erbengemeinschaft einnehmen. Im vorliegenden Fall besassen der Erst- und der Zweitversterbende zu Lebzeiten hingegen je einen Gesamteigentumsanteil am betreffenden Heimwesen, so dass beim Tode des ersten nicht das ganze Heimwesen in seinen Nachlass fiel, sondern nur der betreffende
BGE 113 II 493 S. 499
Gesamteigentumsanteil. Nach dem Tode des zweiten Gesamteigentümers ist es daher nicht möglich, in bezug auf das Heimwesen durch den Eintritt von Erbeserben in die Erbengemeinschaft die Rechtszuständigkeit einer einzigen Erbengemeinschaft zu begründen. Das Eigentum am Heimwesen ist und bleibt vielmehr auf zwei Nachlässe verteilt. Dass die Erben in beiden Fällen - nach dem Vorversterben anderer - zufälligerweise identisch sind, vermag daran nichts zu ändern.
d) NEUKOMM/CZETTLER (a.a.O., S. 99 f.) treten nun allerdings auch in einem solchen Fall dafür ein, das bäuerliche Erbrecht anzuwenden. Die erwähnte strenge Auslegung könne dem Willen des Gesetzgebers nicht entsprechen. Im Sinne der höheren Zielsetzung von
Art. 620 ZGB
sei die Betriebseinheit aufrechtzuerhalten. Durch die Revision des
Art. 620 Abs. 2 ZGB
im Jahre 1972 sei zudem eine neue Lage entstanden.
Der revidierte
Art. 620 Abs. 2 ZGB
bestimmt in der Tat, dass zur Beurteilung, ob eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz gegeben sei, Anteile an Liegenschaften und für längere Dauer mitbewirtschaftete Liegenschaften berücksichtigt werden können. Diese Gesetzesvorschrift erlaubt somit, bei der Beurteilung der ausreichenden landwirtschaftlichen Existenz als einer der objektiven Voraussetzungen der Integralzuweisung auch Anteile an Liegenschaften mitzuberücksichtigen, die vom Erblasser oder vom Übernehmer (
BGE 104 II 257
;
BGE 107 II 321
) während längerer Zeit mitbewirtschaftet worden sind. Dies hilft den Ansprechern im vorliegenden Fall jedoch nicht weiter, da die Frage, ob das Gewerbe eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz gewährleiste, überhaupt nicht bestritten ist.
Vorliegend geht es einzig um das Problem, dass die Integralzuweisung nach bisheriger Rechtsprechung zum vornherein ausgeschlossen ist, wenn sich in der Erbmasse nicht ein landwirtschaftliches Gewerbe als solches befindet, sondern nur ein Eigentumsanteil. Dieser Umstand war der vorberatenden Kommission für die Revision des bäuerlichen Erbrechts bekannt, die denn auch eine entsprechende Änderung von
Art. 620 Abs. 1 ZGB
vorschlug. Auf Vorschlag des EJPD sollte diese Problematik indessen nicht durch einen besonderen Satz in Absatz 1, sondern in Absatz 2 geregelt werden. Dieser Wille kommt nun aber in der jetzigen Fassung von
Art. 620 Abs. 2 ZGB
in keiner Weise zum Ausdruck. Das Problem der rechtlichen Einheit des Heimwesens wird hier, wie bereits erwähnt, nur am Rande im Zusammenhang mit der ausreichenden
BGE 113 II 493 S. 500
landwirtschaftlichen Existenz berührt (vgl. hierzu STUDER, a.a.O., S. 120-125). Angesichts der mangelnden gesetzlichen Grundlage fehlt es aber an der Handhabe, dem bäuerlichen Erbrecht entsprechend seinem agrarpolitischen Zweck gegenüber dem allgemeinen Erbrecht, das allen Erben einen Anspruch auf Gleichbehandlung gibt, den Vorrang zu geben.
e) Ob eine gesetzliche Lücke anzunehmen ist, die durch die Rechtsprechung im Sinne einer Erweiterung des Anwendungsbereichs des bäuerlichen Erbrechts gefüllt werden kann, wie es von LIVER ins Auge gefasst worden ist (Rechtsgutachten vom 5./8. April 1974, zitiert bei STUDER (a.a.O., S. 121-123), ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden (verneinend: STUDER, a.a.O., S. 125). Denn selbst wenn eine solche Lücke angenommen würde, könnte das bäuerliche Erbrecht hier nicht angewendet werden. Im ersten der beiden Erbfälle steht nämlich noch die Liquidation der einfachen Gesellschaft an. Eine solche Liquidation schliesst eine sachenrechtliche Liquidation aus (
BGE 93 II 391
f.) und kann auch bei einer erbrechtlichen Auseinandersetzung nicht ausser acht gelassen werden. Es würde hier somit nicht genügen, zuzulassen, dass mit Hilfe des bäuerlichen Erbrechts die wirtschaftliche Einheit eines Heimwesens in eine rechtliche Einheit übergeführt werden kann, wenn sich Eigentumsanteile des fraglichen Heimwesens in verschiedenen Erbmassen mit identischen Erben befinden. Eine Integralzuweisung wäre vielmehr nur dann möglich, wenn auch die Liquidation der einfachen Gesellschaft nach den Grundsätzen des bäuerlichen Erbrechts erfolgen könnte. Dies ist indessen ausgeschlossen. | de |
73352a70-5dea-47ca-8453-048fd9d825a9 | Sachverhalt
ab Seite 157
BGE 130 IV 156 S. 157
Das schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic erliess am 10. Juni 2004 im Verwaltungsstrafverfahren gegen X. und Unbekannt wegen Verdachts auf Widerhandlung gegen die Heilmittelgesetzgebung den Befehl, die Räumlichkeiten der Y. AG in Z. zu durchsuchen und "papiers et autres documents, en particulier de la comptabilité dès 2002 (
Art. 50 VStrR
)" zu beschlagnahmen. Die Hausdurchsuchung wurde gleichentags durchgeführt. Dabei wurden verschiedene Arzneimittel, Papiere und Datenträger beschlagnahmt. Die Y. AG sowie deren Verwaltungsratspräsident, X., erhoben am 14. Juni 2004 gemeinsam Beschwerde nach
Art. 26 ff. VStrR
bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (im Folgenden kurz: Beschwerdekammer) in Bellinzona. Sie beantragten u.a., die Beschlagnahme aufzuheben und die beschlagnahmten Dokumente, Gegenstände und Informationen bis zur Aufhebung der Beschlagnahmeverfügung zu versiegeln. Der Präsident der Beschwerdekammer hiess das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung teilweise gut, soweit er darauf eintrat. Er ordnete die provisorische Versiegelung der beschlagnahmten Papiere und Datenträger bis zum Entscheid über die hängige Beschwerde an.
Mit Beschwerde gemäss
Art. 33 Abs. 3 lit. a SGG
und
Art. 214 ff. BStP
beantragt die Swissmedic, diesen Präsidialentscheid aufzuheben, soweit er die provisorische Versiegelung der beschlagnahmten Papiere und Datenträger anordne. Erwägungen
Erwägungen:
1.
Gegenstand des vor der Beschwerdekammer hängigen Beschwerdeverfahrens ist eine Zwangsmassnahme, die der Direktor der Swissmedic im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens gegen die Beschwerdeführer angeordnet hatte und gegen die diese
BGE 130 IV 156 S. 158
sich nach
Art. 26 VStrR
(SR 313.0) mit Beschwerde bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zur Wehr setzten. Im hier angefochtenen Entscheid ordnete der Kammerpräsident auf ein Gesuch der Beschwerdeführer um Gewährung der aufschiebenden Wirkung in Anwendung von
Art. 218 BStP
die provisorische Versiegelung der beschlagnahmten Papiere und Datenträger bis zum Entscheid über die hängige Beschwerde an.
Anwendbares Verfahrensrecht im Beschwerdeverfahren vor der Beschwerdekammer ist, entgegen der Auffassung von deren Präsidenten, allerdings dasjenige der
Art. 26 ff. VStrR
und nicht der
Art. 214 ff. BStP
(Art. 28 Abs. 1 lit. d und Art. 30 des Strafgerichtsgesetzes vom 4. Oktober 2002 [SGG; SR 173.71] i.V.m. Art. 90 Abs. 1 des Heilmittelgesetzes vom 15. Dezember 2000 [HMG; SR 812.21]). Dies ist hier indessen nicht weiter von Belang, da
Art. 218 BStP
mit
Art. 28 Abs. 5 VStrR
insofern übereinstimmt, als auch der Beschwerde nach
Art. 26 VStrR
aufschiebende Wirkung nur zukommt, soweit ihr eine solche durch vorsorgliche Verfügung der Beschwerdeinstanz oder ihres Präsidenten verliehen wird.
1.1
Nach
Art. 33 Abs. 3 lit. a SGG
sind "Entscheide der Beschwerdekammer über Zwangsmassnahmen" beim Bundesgericht mit Beschwerde anfechtbar; das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Art. 214-216, 218 und 219 BStP. Gemäss
Art. 214 BStP
sind vorab die Parteien beschwerdebefugt.
Art. 34 BStP
räumt der Bundesanwaltschaft im Bundesstrafverfahren ausdrücklich Parteistellung ein. Im VStrR fehlt eine gleiche Bestimmung zu Gunsten der zuständigen Strafverfolgungsbehörde. Der Sache nach muss jedoch der Strafverfolgungsbehörde in beiden Verfahren in gleicher Weise Parteistellung zukommen. Die Swissmedic oder eine andere im Verwaltungsstrafverfahren zuständige Strafverfolgungsbehörde ist daher in gleicher Weise wie die Bundesanwaltschaft im Sinne von
Art. 214 BStP
als Partei berechtigt, Beschwerde gegen Entscheide der Beschwerdekammer zu führen, und zwar auch dann, wenn sich die Beschwerde gegen eine von dieser selber erlassenen Verfügung richtet (vgl.
BGE 130 I 234
E. 3 und
BGE 130 IV 154
E. 1.2 S. 155).
1.2
Die Beschwerde setzt nach dem Wortlaut von
Art. 33 Abs. 3 lit. a SGG
voraus, dass die Beschwerdekammer über eine Zwangsmassnahme entschieden hat.
BGE 130 IV 156 S. 159
1.2.1
Die hier zu beurteilende Beschwerde richtet sich nicht gegen einen Entscheid der Beschwerdekammer, sondern gegen einen solchen des Kammerpräsidenten und damit grundsätzlich nicht gegen ein taugliches Anfechtungsobjekt.
1.2.2
Die hier angefochtene provisorische Versiegelung der beschlagnahmten Dokumente und Datenträger betrifft den Bestand der Beschlagnahme nicht und ist damit offensichtlich kein Entscheid über eine Zwangsmassnahme im Sinne von
Art. 33 Abs. 3 lit. a SGG
.
1.2.3
Richtet sich die Beschwerde somit weder gegen einen Entscheid der Beschwerdekammer, noch gegen einen Entscheid über eine Zwangsmassnahme, ist darauf nicht einzutreten.
Fraglich könnte einzig sein, ob nicht Rechtsschutz gewährt und die Beschwerde ans Bundesgericht nach
Art. 33 Abs. 3 lit. a SGG
dann zugelassen werden müsste, wenn der Präsident der Beschwerdekammer eine Zwangsmassnahme aufheben oder eine solche neu anordnen würde. Darüber braucht hier indessen nicht entschieden zu werden.
2.
Für die Verfahrenskosten gilt nach dem Verweis in
Art. 33 Abs. 3 lit. a SGG
Art. 219 BStP
, dessen Abs. 3 die grundsätzliche Kostenlosigkeit des Beschwerdeverfahrens statuierte. Diese Bestimmung wurde im Entlastungsprogramm für den Bundeshaushalt 03 aufgehoben, unter gleichzeitiger Ergänzung von
Art. 245 BStP
mit "im gerichtlichen Verfahren" (BBl 2003 S. 5763; AS 2004 S. 1638; in Kraft seit dem 1. April 2004, AS 2004 S. 1647), womit für die gerichtlichen Verfahrenskosten der generelle Verweis von
Art. 245 BStP
auf die
Art. 146-161 OG
zur Anwendung kommt.
Demzufolge sind keine Kosten zu erheben (
Art. 156 Abs. 2 OG
). Hingegen hat die Beschwerdeführerin den Beschwerdegegnern für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (
Art. 159 OG
). | de |
623868f7-39e9-45e1-bd22-ca6b9584588e | Sachverhalt
ab Seite 21
BGE 98 Ib 21 S. 21
A.-
A. betreibt ein Bildhaueratelier. Er ist im Handelsregister eingetragen. Er hat der Eidg. Steuerverwaltung (EStV) für die Jahre 1968 und 1969 folgende Umsätze gemeldet:
1968: 1969
Fr.: Fr.
Grabmale: 25'610.--: 26'971.50
Plastiken für öffentliche Plätze: 48'631.--: 64'992.40
"freie" Plastiken und Bilder: -: 10'350.--
74'241.--: 102'313.90
Gestützt auf diese Angaben hat die EStV entschieden, dass A. seit dem 1. Januar 1969 als Grossist (Hersteller) im Sinne von
Art. 9 Abs. 1 lit. b WUStB
steuerpflichtig sei. Sie hat ihren Befund durch Einspracheentscheid vom 6. Juli 1971 bestätigt.
B.-
Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt A., dieser Entscheid sei aufzuheben. Er bestreitet, dass er der Warenumsatzsteuerpflicht unterliege. Zur Begründung macht
BGE 98 Ib 21 S. 22
er geltend, er stelle nicht Waren, sondern Kunstwerke her, und er übe seine Tätigkeit auch nicht gewerbsmässig aus. Seines Wissens sei bis heute kein anderer Bildhauer der Warenumsatzsteuerpflicht unterstellt worden.
Die EStV schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 8 Abs. 1 lit. a WUStB
ist steuerpflichtig, wer als Grossist im Inland Waren liefert. Als Grossist gilt u.a. der Hersteller, der jährlich für mehr als 35'000 Franken solche Lieferungen ausführt (Art. 9 Abs. 1 lit. b). Massgebend ist der Umsatz im letzten der Steuerperiode vorangegangenen Kalenderjahr (Art. 9 Abs. 2). Als Hersteller gilt, wer gewerbsmässig Waren oder Bauwerke herstellt (Art. 10 Abs. 2). Als Ware gilt u.a., was Gegenstand eines Fahrniskaufes sein kann (Art. 17). Wer eine von ihm hergestellte Ware einem Käufer oder Besteller abgibt, führt damit eine Lieferung aus (Art. 15). Der Warenlieferung ist die Ausführung baugewerblicher Arbeiten für fremde Rechnung gleichgestellt (Art. 15 Abs. 2 in der Fassung, die bis Ende 1971 in Kraft war; s. nun Art. 15bis und Art. 18bis).
2.
Der Beschwerdeführer macht in erster Linie geltend, er stelle nicht Waren, sondern Kunstwerke her. Der Wert des vom bildenden Künstler geschaffenen Werkes liege nicht "im Grundelement oder im Stoff", sondern "in der künstlerischen, geistigen Gestaltung", durch die etwas Einmaliges erzeugt werde. Es ist jedoch klar, dass auch solche Erzeugnisse Gegenstand eines Fahrniskaufes und damit Waren im Sinne des
Art. 17 WUStB
sein können. Das Werk, das der Bildhauer oder der Kunstmaler aus Rohmaterial (Steinen usw.) schafft, ist das Produkt einer Herstellung (
Art. 10 Abs. 2 Satz 2 WUStB
). Die Herstellung besteht eben in der "künstlerischen, geistigen Gestaltung", von welcher der Beschwerdeführer spricht. Ist das so hergestellte Kunstwerk eine bewegliche Sache und kann es daher Objekt eines Fahrniskaufes sein, so gilt es nach der Regel des
Art. 17 WUStB
als Ware. Die in dieser Bestimmung aufgezählten Ausnahmen (bestimmungsgemäss verwendete Wertpapiere, Banknoten usw.) kommen im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Die Werke der bildenden Kunst sind auch nicht in der Freiliste aufgeführt, die in
Art. 14 Abs. 1 lit. b WUStB
aufgestellt ist. Eine Ordnung, welche die Lieferung
BGE 98 Ib 21 S. 23
solcher Werke allgemein von der Umsatzsteuer ausnähme, wäre übrigens praktisch kaum durchführbar, da die Unterscheidung zwischen Kunstwerken und anderen Erzeugnissen unsicher ist und die ständige Mitwirkung von Sachverständigen erfordern würde.
Wenn der Beschwerdeführer von ihm hergestellte bewegliche oder unbewegliche Erzeugnisse (Grabsteine, Plastiken für öffentliche Gebäude oder Plätze usw.) einem Käufer oder Besteller abgibt, führt er somit "Warenlieferungen" im Sinne des WUStB aus. Alle seine Werke können Gegenstand solcher Lieferungen sein. Wenn sie samt und sonders als Kunstwerke zu betrachten sind, so ist dies nach dem Warenumsatzsteuerbeschluss gleichgültig.
3.
Steuerpflichtiger Grossist kann der Hersteller nur werden, wenn er sich "gewerbsmässig" betätigt, einen "Geschäftsbetrieb" führt (
Art. 10 Abs. 2 WUStB
). Als gewerbsmässig ist eine selbständige und nachhaltige, auf Erzielung von Einnahmen gerichtete Tätigkeit anzusehen (WELLAUER, Warenumsatzsteuer, 1959, N. 86 ff.; vgl.
Art. 52 Abs. 3 HRegV
).
Der Beschwerdeführer bestreitet, dass er eine solche Tätigkeit ausübe. Er führt aus, bei seiner Arbeit stehe nicht die Erzielung eines kalkulierbaren Ertrages im Mittelpunkt. Der Preis eines Kunstwerkes richte sich nach der Qualität des künstlerischen Ausdrucks. Der Staat gewähre den Künstlern, vor allem den Anfängern, finanzielle Beihilfe, womit er nicht die Wirtschaft, sondern die Kultur fördere. Wenn ein Künstler schliesslich Erfolg habe, werde er dadurch nicht zum "gewerbsmässigen Kunstproduzenten". Ob er auf Bestellung oder aus freiem Willen arbeite, sei nicht massgebend. "So wie sich jeder Bürger ein Kunstwerk schaffen lassen kann - die grossen Werke früherer Meister sind meistens auch auf Bestellung entstanden -, drängt es oft den Kunstschaffenden zu einem Werk, mit dem er seine geistige Ansicht, seine Überzeugung oder sein Gegenwarts- oder Zukunftsverständnis zum Ausdruck bringen will." Dieses Schaffen habe mit gewerbsmässiger Warenherstellung nichts zu tun.
Offenkundig ist, dass der Beschwerdeführer selbständig und dauernd als Bildhauer arbeitet. Es lässt sich aber auch nicht mit Grund bestreiten, dass seine Tätigkeit auf Erzielung von Einnahmen gerichtet ist. Zwar wird zutreffen, dass ein Bildhauer oder Kunstmaler bei seiner Arbeit in der Regel nicht in
BGE 98 Ib 21 S. 24
erster Linie an den finanziellen Erfolg denkt. Übt er seine Kunst selbständig und dauernd aus und will er damit den Lebensunterhalt bestreiten oder wesentlich dazu beitragen, so muss aber doch auch ihm daran gelegen sein, für seine Werke zahlende Abnehmer - Besteller oder Käufer - zu finden. Gelingt ihm das, so nimmt er als Lieferer von ihm hergestellter Waren oder Bauwerke am Wirtschaftsleben teil. So verhält es sich hier. Der Beschwerdeführer räumt denn auch ein, dass er sich mit seinem Schaffen eine Existenz aufgebaut hat. Unter den gegebenen Umständen muss angenommen werden, dass er im Sinne des Warenumsatzsteuerbeschlusses gewerbsmässig tätig ist (vgl. den einen Kirchenmaler betreffenden Entscheid der EStV vom 3. März 1950, ASA Bd. 19 S. 41 f.).
Nach den Berechnungen der EStV, die sich auf Angaben des Beschwerdeführers stützen und von ihm nicht bestritten werden, steht fest, dass seine für die Bestimmung der subjektiven Steuerpflicht massgebenden Umsätze in jedem der beiden Jahre 1968 und 1969 den Betrag von 35'000 Franken überstiegen haben. Daher ist nicht zu beanstanden, dass der Beschwerdeführer nach
Art. 9 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 WUStB
mit Wirkung ab 1. Januar 1969 steuerpflichtig erklärt worden ist. Er bleibt steuerpflichtig, solange die massgebenden Umsätze über den genannten Betrag hinausgehen.
4.
Der Beschwerdeführer wendet schliesslich ein, ausser ihm sei kein anderer Bildhauer der Warenumsatzsteuerpflicht unterstellt worden; der angefochtene Entscheid verletze daher das Gebot der Rechtsgleichheit.
Demgegenüber stellt die EStV in der Vernehmlassung zur Beschwerde fest, dass Mitte 1971 bei ihr 231 "Inhaber von Grabstein- und Bildhauerbetrieben" als Grossisten eingetragen waren. "Von diesen" - sagt sie - "bezeichnen sich 105 als Grabsteingeschäfte, Grabmalkunst u.ä., 90 als Bildhauer oder Bildhauereien und bei 36 ist die Geschäftsbezeichnung eine Kombination beider Begriffe; reine Steinhauer-, Steinmetz- oder Kunststeingeschäfte sind in diesen Zahlen nicht enthalten... Zwar ist einzuräumen, dass es eine Reihe von Bildhauern geben wird, welche sich, obwohl eintragungspflichtig, noch nicht als Grossisten angemeldet haben (
Art. 30 Abs. 1 WUStB
) und von der EStV auch noch nicht als solche ermittelt worden sind. Eine Dunkelziffer nicht eingetragener Grossisten kommt in den meisten Branchen vor."
BGE 98 Ib 21 S. 25
- 25 - Mit diesen Feststellungen ist aber die Rüge der Verletzung des
Art. 4 BV
nicht erledigt. Es fragt sich noch, ob sie deshalb begründet sei, weil die EStV in ihrer bisherigen Praxis angenommen hat, dass der "frei schaffende" bildende Künstler, "welcher Kunstwerke ausschliesslich um ihrer selbst willen herstellt", nicht als Grossist steuerpflichtig werden könne.
Die EStV meint, der Beschwerdeführer könne sich nicht auf diese Praxis berufen, da er sich nicht "ausschliesslich" dem "freien Schaffen" widme, sondern ausserdem Grabsteine produziere. Sein Grabsteingeschäft sei ein Gewerbebetrieb, in welchem er Grabsteine gewerbsmässig herstelle. Die bildhauerischen Werke, die er im übrigen als "freier" Künstler "um ihrer selbst willen" schaffe, seien aber Waren gleicher Gattung wie Grabsteine; könnten doch Erzeugnisse der Bildhauerkunst, mit oder ohne Figuren, in vielen Fällen ebensogut eine Grabstätte wie einen öffentlichen Platz, eine Parkanlage oder ein Bauwerk schmücken. Daher seien alle vom Beschwerdeführer geschaffenen Erzeugnisse als gewerbsmässig hergestellt zu betrachten; denn Zweck seines Geschäftsbetriebs sei die Herstellung für fremde Rechnung und die Veräusserung "solcher" Produkte (Art. 10 Abs. 2, letzter Satz WUStB). Die EStV nimmt deshalb an, der Beschwerdeführer müsse sich seinen gesamten Umsatz anrechnen lassen, nicht nur den auf das Grabsteingeschäft entfallenden Teil - der in den Jahren 1968 und 1969 den Betrag von Fr. 35'000 nicht erreicht hat.
Die erwähnte Praxis der EStV beruht auf der Überlegung, dass als gewerbsmässiger Hersteller im Sinne des
Art. 10 Abs. 2 WUStB
nach dem Zweck der Warenumsatzsteuer, die als Wirtschaftsverkehrssteuer ausgestaltet sei, nur "der im eigentlichen Wirtschaftsleben tätige gewerbliche oder industrielle Hersteller" angesehen werden könne. Der Meinung der EStV, ein sich auf das "freie Schaffen" beschränkender bildender Künstler könne nicht ein solcher Hersteller sein, kann jedoch nicht zugestimmt werden. Ist er selbständig und nachhaltig tätig und will er mit seinem Schaffen Einnahmen erzielen, so nimmt eben auch er, als gewerbsmässig Handelnder, am "eigentlichen Wirtschaftsleben" teil. Es kann nicht darauf ankommen, ob ein Bildhauer nur Werke herstellt und absetzt, welche die EStV als Erzeugnisse "freien Schaffens" betrachtet, oder ob er - ausserdem oder ausschliesslich - das Grabsteingeschäft betreibt, das die EStV nicht zum "freien Schaffen" rechnet.
BGE 98 Ib 21 S. 26
Wie die EStV selbst sagt, gehören ja alle vom Bildhauer hergestellten Werke - Grabsteine und andere - zur gleichen Gattung. Nach der einleuchtenden Darstellung des Beschwerdeführers kommt es vielfach vor, dass ein Bildhauer am Anfang seines selbständigen Wirkens, zur Sicherung seiner Existenz, regelmässig Grabsteine herstellt, dagegen später, nachdem er sich durchgesetzt hat, nicht mehr oder nur noch gelegentlich. Gerade der Beschwerdeführer hat nach seinen Angaben eine solche Entwicklung durchgemacht. Die bisherige Praxis der EStV könnte dazu führen, dass ein Bildhauer in seinen Anfängen, als Hersteller von Grabsteinen, der Warenumsatzsteuerpflicht unterstellt wäre, später aber, als erfolgreicher "Freischaffender" mit nicht geringerem oder sogar höherem Umsatz, nicht mehr. Das kann nicht der Sinn der gesetzlichen Ordnung sein. Die Bildhauer, welche sich mit dem Grabsteingeschäft befassen, und diejenigen, welche im Sinne der Ausführungen der EStV "ausschliesslich frei schaffen", müssen bezüglich der Warenumsatzsteuerpflicht gleich behandelt werden.
Würde die EStV an ihrer bisherigen Praxis festhalten, also die "ausschliesslich frei schaffenden" selbständigen Bildhauer weiterhin nicht als gewerbsmässig tätige Hersteller betrachten, so wäre daher die Unterstellung des Beschwerdeführers unter die Steuerpflicht mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit nicht vereinbar (vgl.
BGE 90 I 167
, 226/7). Die EStV äussert indessen selber Zweifel an der Gesetzmässigkeit jener Praxis. Sie erklärt denn auch nicht, dass sie daran festhalten wolle. Sie wird die Praxis ändern müssen. Die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge der rechtsungleichen Behandlung dringt deshalb nicht durch. | de |
521c91bd-bb71-4748-9133-773128b037a8 | Sachverhalt
ab Seite 277
BGE 140 V 277 S. 277
A.
A.a
Die 1914 geborene A. ist bei der CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG (nachfolgend: Concordia) obligatorisch krankenpflegeversichert. Während eines Aufenthalts in den USA musste sie vom 26. bis 27. Februar 2012 im Spital B. stationär behandelt werden, wofür ihr der Betrag von USD 16'320.65 zuzüglich Arztkosten von USD 1'136.- und Medikamentenkosten von USD 132.87 in Rechnung gestellt wurde. Hievon übernahm die
BGE 140 V 277 S. 278
Concordia den doppelten Betrag der Kosten, die in der Schweiz vergütet würden (
Art. 36 Abs. 4 KVV
[SR 832.102]), ausmachend Fr. 3'312.- plus Medikamentenkosten von Fr. 122.80 (Schreiben vom 2. Mai 2012).
A.b
Ein Gesuch der A. um anteilsmässige Übernahme der Kosten lehnte die Dienststelle Gesundheit des Kantons Luzern mit Entscheid vom 1. Februar 2013 ab mit der Begründung, eine Mitfinanzierungspflicht des Kantons bei Hospitalisationen im Ausland sei gesetzlich nicht vorgesehen.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 21. Januar 2014 ab.
C.
A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei der Kanton Luzern zu verpflichten, den Betrag von Fr. 3'312.- nebst 5 % Verzugszins seit 10. Mai 2012 für die notfallmässige Behandlung im Spital B. in den USA vom 26. bis 27. Februar 2012 zu übernehmen und der Beschwerdeführerin auszuzahlen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Im Streit steht die Frage, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf anteilsmässige Vergütung der durch die stationäre Behandlung in den USA entstandenen Kosten zu Lasten des Wohnkantons hat.
Die seit 1. Januar 2009 geltende Fassung von
Art. 41 Abs. 3 KVG
lautet wie folgt: Beansprucht die versicherte Person bei einer stationären Behandlung aus medizinischen Gründen ein nicht auf der Spitalliste des Wohnkantons aufgeführtes Spital, so übernehmen der Versicherer und der Wohnkanton die Vergütung anteilsmässig nach Artikel 49a. Mit Ausnahme des Notfalls ist dafür eine Bewilligung des Wohnkantons notwendig.
3.
Die Vorinstanz erwog, gemäss Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (Urteil K 91/04 vom 15. November 2004, in: RKUV 2005 S. 35) beziehe sich aArt. 41 Abs. 3 KVG (in der bis 31. Dezember 2008 gültig gewesenen Fassung) auf das Verhältnis zwischen inner- und ausserkantonalen Spitälern in der Schweiz. Eine analoge Anwendung auf ein internationales Verhältnis falle ausser Betracht. Im Rahmen der KVG-Revision von 2007 sei in
Art. 41 Abs. 3 KVG
auf eine Unterscheidung zwischen öffentlichen und
BGE 140 V 277 S. 279
öffentlich subventionierten Spitälern auf der einen Seite und nicht subventionierten Privatspitälern auf der anderen Seite verzichtet worden. Ziel dieser Änderung sei die Gleichstellung zwischen öffentlichen und privaten Spitälern. Indes habe
Art. 41 Abs. 3 KVG
, was das Territorialitätsprinzip betreffe, keine Änderung erfahren. Folglich könne die Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts zu aArt. 41 Abs. 3 KVG weiterhin Geltung beanspruchen. Soweit sich die Beschwerdeführerin auf
Art. 36 KVV
berufe, übersehe sie, dass diese Bestimmung die Leistungspflicht der Krankenversicherer betreffe, nicht aber die Wohnsitzkantone zur Zahlung von Auslandsbehandlungen verpflichte. Die Kostenübernahme von Auslandsbehandlungen richte sich damit abschliessend nach
Art. 34 Abs. 2 KVG
i.V.m.
Art. 36 KVV
. Schliesslich verbiete sich aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung die Annahme einer richterlich zu schliessenden Gesetzeslücke.
4.
4.1
Die Beschwerdeführerin rügt eine Bundesrechtsverletzung dergestalt, dass unter der Herrschaft der neuen, ab 1. Januar 2012 geltenden Spitalfinanzierung nicht an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten werden könne. Auch wenn der Wortlaut des neuen
Art. 41 Abs. 3 KVG
die Auslandsbehandlung nicht explizit erwähne, gehe aus den Materialien zum revidierten KVG klar hervor, dass mit der neuen Spitalfinanzierung generell und ausnahmslos die anteilsmässige Finanzierung (dual-fixe Abgeltung) der Leistungen der stationären Behandlungen durch Wohnkanton und Krankenversicherer eingeführt werden sollte.
Art. 41 Abs. 3 KVG
müsse unter Berücksichtigung dieser neuen Zielsetzung ausgelegt werden.
4.2
Gesetzgeberische Absicht des bis Ende 2008 in Kraft gestandenen aArt. 41 Abs. 3 KVG war es, einen gewissen Lastenausgleich zwischen Kantonen mit unterschiedlichen Spitalversorgungsgraden sowie eine verstärkte Koordination zwischen den Kantonen im Bereich der Spitalplanung zu erzielen (
BGE 133 V 123
E. 3.2 S. 126; erwähntes Urteil K 91/04 E. 3.1; je mit Hinweisen). Der klare Wortlaut des aArt. 41 Abs. 3 machte deutlich, dass sich die Norm lediglich auf medizinisch begründete, ausserhalb des Wohnkantons durchgeführte Behandlungen in der Schweiz bezog. Mit Teilrevision vom 21. Dezember 2007 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; AS 2008 2049), in Kraft getreten am 1. Januar 2009 (AS 2008 2057), begründete der Bundesgesetzgeber ein neues System der Spitalfinanzierung, welches durch die Kantone bis Ende
BGE 140 V 277 S. 280
2011 umzusetzen war (Abs. 1 der Übergangsbestimmungen [AS 2008 2056]; vgl. auch BERNHARD RÜTSCHE, Neue Spitalfinanzierung und Spitalplanung, 2011, S. 5). Dass sich mit dieser Revision an der Zielsetzung von
Art. 41 Abs. 3 KVG
etwas geändert haben sollte, ist nicht ersichtlich. Vielmehr wird diese mit der neuen Spitalfinanzierung bekräftigt (
BGE 138 II 398
E. 2.3.1-2.3.3 S. 406 f.). In der Botschaft vom 15. September 2004 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Spitalfinanzierung) wird denn auch ausgeführt, es sei klarzustellen, dass der Wohnkanton nicht nur innerhalb, sondern auch ausserhalb des Kantons, unabhängig von der Aufführung eines Spitals auf seiner eigenen Liste, den nach Art. 49 (KVG) geschuldeten Anteil zu übernehmen habe, wenn aufgrund medizinischer Notwendigkeit ein ausserhalb seiner eigenen Liste zugelassener Leistungserbringer aufgesucht werden müsse (BBl 2004 5551, 5577 Ziff. 3 zu
Art. 41 Abs. 3 KVG
; vgl. auch BBl 2001 741 ff. betreffend die - vom Parlament abgelehnte - Teilrevision des KVG; vgl. Hinweis in
BGE 138 II 398
E. 2.3.1 S. 406). Die Formulierungen "ausserhalb des Kantons" bzw. "ein ausserhalb seiner eigenen Liste zugelassener Leistungserbringer" machen deutlich, dass die Regelung - nach wie vor - nur ausserkantonale Leistungserbringer (und nicht Leistungserbringer ausserhalb der Schweiz) beschlägt. Insbesondere erhellt dies daraus, dass von einem "zugelassenen Leistungserbringer" die Rede ist, womit der Gesetzgeber Bezug nimmt auf die auf der Spitalliste des Wohn- oder Standortkantons aufgeführten Spitäler (
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
; BBl 2004 5576 Ziff. 3 zu
Art. 41 Abs. 1 KVG
; vgl. auch GEBHARD EUGSTER, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], 2010, N. 8 zu
Art. 41 KVG
i.f. S. 283; RÜTSCHE, a.a.O., S. 59 Rz. 124). Zu keinem anderen Ergebnis führen die von der Beschwerdeführerin zitierten Stellen in den Materialien (BBl 2004 5564 Ziff. 1.5, 5569 Ziff. 2.3), welche - ebenso wie die übrigen Teile der Botschaft - nirgends einen Hinweis enthalten auf stationäre Behandlungen im Ausland. Auch der Einwand, der Gesetzgeber habe ausnahmslos (und damit auch für Auslandsleistungen) eine anteilsmässige Finanzierung der stationären Behandlungen beabsichtigt, geht fehl. Diese Annahme trifft bereits für stationäre Behandlungen in der Schweiz nicht zu (BBl 2004 5576 Ziff. 3). Soweit sich die Beschwerdeführerin auf die Empfehlungen zum Verfahren betreffend die Beiträge der Kantone bei ausserkantonalen Spitalbehandlungen nach
Art. 41 Abs. 3 KVG
der Schweizerischen Konferenz der kantonalen
BGE 140 V 277 S. 281
Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) vom 2. September 2011 (abrufbar unter
http://www.gdk-cds.ch
) beruft, kann sie daraus ebenfalls nichts zu ihren Gunsten ableiten. Abgesehen davon, dass die Empfehlungen für das Gericht nicht verbindlich sind, bezieht sich die von der Beschwerdeführerin zitierte Empfehlung 1 Ziff. 1.4 ausschliesslich auf Behandlungen in Spitälern der Schweiz.
Nach dem hievor Ausgeführten regelt Art. 41 Abs. 3 (i.V.m. Art. 49a) KVG auch in der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung allein stationäre Behandlungen in der Schweiz. Die für Auslandsbehandlungen einschlägige Norm (
Art. 34 Abs. 2 KVG
), welche durch die neue Spitalfinanzierung keine Änderung erfahren hat, sieht eine Leistungspflicht ausschliesslich für die Krankenversicherer vor (erwähntes Urteil K 91/04 E. 4).
4.3
Wie bereits im kantonalen Verfahren macht die Beschwerdeführerin geltend, es sei von einer echten Gesetzeslücke auszugehen, welche richterlicher Schliessung bedürfe. Mit der Vorinstanz verbietet sich jedoch der Schluss auf eine echte Lücke, da sich die Antwort auf die vorliegende Rechtsfrage direkt aus dem Gesetz ergibt und zwar in dem Sinne, dass der Kanton keinen anteilsmässigen Beitrag für die Auslandsbehandlung zu erbringen hat (
Art. 34 Abs. 2 KVG
e contrario). | de |
416a4f3d-c948-4d1d-95b7-8b81ee3f2965 | Sachverhalt
ab Seite 26
BGE 98 V 26 S. 26
A.-
Die Stauffer AG hatte über die Bezüge der bei ihr seit Oktober 1958 als Propagandistin, bzw. Vertreterin beschäftigten G. sozialversicherungsrechtlich nicht abgerechnet, weil sie annahm, G. sei als Selbständigerwerbende der Ausgleichskasse angeschlossen. Am 30. Dezember 1970 erliess die Ausgleichskasse
BGE 98 V 26 S. 27
für die Beitragsjahre 1965-1969 eine Nachzahlungsverfügung im Betrage von Fr. 2790.95, welche in Rechtskraft erwachsen ist, sowie eine Schadenersatzverfügung, lautend auf eine Forderung von Fr. 2580.75 für verjährte paritätische Beiträge zuzüglich Verwaltungskosten für die Jahre 1960 bis 1964. Auf Einsprache der Stauffer AG machte die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung klageweise geltend..
B.-
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies mit Entscheid vom 12. Mai 1971 die Klage ab, weil der beklagten Firma keine grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften im Sinne von
Art. 52 AHVG
zur Last gelegt werden könne.
C.-
Gegen diesen Entscheid hat das Bundesamt für Sozialversicherung rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben mit dem Rechtsbegehren, die Stauffer AG sei zu verhalten, fürdieJahre 1960 bis 1964 Schadenersatz in einer gerichtlich festzusetzenden Höhe zu leisten.
Die Stauffer AG beantragt, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Gemäss
Art. 128 OG
beurteilt das Eidg. Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von
Art. 97 und 98 lit. b-h OG
auf dem Gebiete der Sozialversicherung. Hinsichtlich des Begriffes der mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbaren Verfügungen verweist
Art. 97 OG
auf Art. 5 VwG. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (und im übrigen noch weitere, nach dem Verfügungsgegenstand näher umschriebene Voraussetzungen erfüllen).
Der vorinstanzliche Entscheid entspricht dem Verfügungsbegriff des Art. 5 VwG. Er fällt unter
Art. 98 lit. g OG
und ist der Verwaltungsgerichtsbeschwerde durch keine Ausschlussbestimmung entzogen. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin der Schadenersatzanspruch für entgangene Sozialversicherungsbeiträge öffentlich-rechtlicher Natur. Auch der Umstand, dass das vorinstanzliche Verfahren im Sinne der "ursprünglichen Verwaltungsgerichtsbarkeit" (GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 9 f.) ausgestaltet ist (
Art. 81 und 82 AHVV
), ändert nichts.
BGE 98 V 26 S. 28
Das Eidg. Versicherungsgericht hat daher auf die vom Bundesamt für Sozialversicherung erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 103 lit. b OG
und
Art. 202 AHVV
)...
4.
Werden Beiträge nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, für welche sie geschuldet sind, durch Verfügung geltend gemacht, so können sie nicht mehr eingefordert oder entrichtet werden (
Art. 16 Abs. 1 AHVG
).
Weil im vorliegenden Fall die für die Jahre 1960 bis 1964 von der Beschwerdegegnerin nicht bezahlten paritätischen Beiträge verwirkt sind (EVGE 1955 S. 194, 1956 S. 180 Erw. 3), ist der AHV ein Schaden entstanden, wie sich aus den in EVGE 1961 S. 229 ff. dargelegten Grundsätzen ergibt. Ein Schaden liegt danach immer dann vor, wenn der AHV paritätische Beiträge, auf die sie einen gesetzlichen Anspruch hatte, vorenthalten worden sind. Ob und welche Leistungen sie später dem Versicherten zu gewähren hat, für den die Beiträge nicht geleistet wurden, ist für die Frage des Schadeneintrittes bedeutungslos. Bei Nichtbezahlung von paritätischen Beiträgen ist daher der Schaden dem Betrag gleichzusetzen, den der Arbeitgeber nach Gesetz hätte bezahlen müssen.
5.
Gemäss
Art. 52 AHVG
hat der Arbeitgeber den Schaden, den er durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften verschuldet, der Ausgleichskasse zu ersetzen.
In derLiteraturwirddie Auffassung vertreten, der Arbeitgeber sei ein Organ des Bundes (SOMMERHALDER, Die Rechtsstellung des Arbeitgebers in der AHV, Diss. Zürich 1958, S. 49 ff.; WINZELER, Die Haftung der Organe und der Kassenträger in der AHV, Diss. Zürich 1952, S. 24). Nach WINZELER handelt der Arbeitgeber im Beitragsbezugs- und Abrechnungsverfahren jedoch nur hinsichtlich der Arbeitnehmerbeiträge als Organ; demnach wäre seine Haftung nach
Art. 52 AHVG
auf diesen Bereich beschränkt. Insoweit es um die vom Arbeitgeber als Sozialpartnerdes Arbeitnehmers geschuldeten Arbeitgeber- und Verwaltungskostenbeiträge gehe, befinde sich der Arbeitgeber in der Stellung eines gewöhnlichen Beitragspflichtigen. Daraus folge, dass verwirkte Arbeitgeber- und Verwaltungskostenbeiträge nicht auf dem Umweg über
Art. 52 AHVG
in Form von Schadenersatzforderungen geltend gemacht werden könnten (WINZELER, a.a.O. S. 69 Anm. 27). In EVGE 1956 S. 179 erklärte das Gericht demgegenüber,
BGE 98 V 26 S. 29
dem Arbeitgeber komme in seinen Beziehungen zum Arbeitnehmer keine Organ- oder organähnliche Stellung zu, welches im übrigen auch immer die verwaltungsmässigen Aufgaben des Arbeitgebers sein mögen, die diesem unbestrittenermassen obliegen. Diese Auffassung bestätigte das Eidg. Versicherungsgericht auch im Urteil i.S. Pré-de-Vers vom 21. März 1957 (ZAK 1957 S. 448), wo es die Organstellung des Arbeitgebers verneinte, dagegen ausführte, der Arbeitgeber handle bei der Entrichtung paritätischer Beiträge als vom Gesetz bezeichneter Substitut. In
BGE 96 V 124
bemerkte das Gericht ohne nähere Begründung, in der AHV komme den Arbeitgebern nebst ihrer Eigenschaft als Beitragspflichtige (
Art. 12 AHVG
) auch Organfunktion hinsichtlich Beitragsbezug und Rentenauszahlung zu (
Art. 51 AHVG
).
In Präzisierung dieser Rechtsprechung ist hinsichtlich der rechtlichen Stellung des Arbeitgebers im Beitragsbezugs- und Abrechnungsverfahren folgendes festzuhalten: Die Abrechnungspflicht des Arbeitgebers gegenüber der Ausgleichskasse über die paritätischen Beiträge lässt sich zwar theoretisch unterteilen in eine Organpflicht bezüglich der Arbeitnehmerbeiträge einerseits und in eine persönliche Pflicht bezüglich der Arbeitgeberbeiträge zuzüglich Verwaltungskostenbeiträge anderseits. Indessen ist sowohl der Bezug der Arbeitnehmerbeiträge durch den Arbeitgeber als auch dessen Pflicht, über diese Beiträge zusammen mit dem Arbeitgeberbeitrag der Ausgleichskasse gegenüber abzurechnen, als Einheit aufzufassen. Es rechtfertigt sich daher, den Begriff des Organs nicht in überspitzter Form anzuwenden. Die Beitragsbezugs- und Abrechnungspflicht des Arbeitgebers in ihrer Gesamtheit ist vielmehr eine gesetzlich vorgeschriebene öffentlich-rechtliche Aufgabe. Deren Unterlassung bedeutet eine Missachtung von Vorschriften gemäss
Art. 52 AHVG
und zieht die Schadensdeckung in vollem Umfange nach sich (EVGE 1961 S. 230 Erw. 2). Wie es sich verhält, wenn ein Arbeitgeber zwar den Arbeitnehmerbeitrag abgezogen und mit der Ausgleichskasse über die paritätischen Beiträge abgerechnet, diese aber vor Ablauf der Verwirkungsfrist nicht bezahlt hat, kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben.
6.
Der Arbeitgeber hat indessen den verursachten Schaden gemäss
Art. 52 AHVG
nur zu ersetzen, wenn er ihn durch "absichtliche oder grobfahrlässige" Missachtung von Vorschriften verschuldet hat. Dafür, dass die Beschwerdegegnerin den Vorschriften
BGE 98 V 26 S. 30
über die Abrechnungspflicht absichtlich nicht nachgekommen sei, fehlen Anhaltspunkte; es kann sich einzig fragen, ob sie diese Vorschriften grobfahrlässig verletzt hat.
Grobe Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn ein Arbeitgeber das ausser acht lässt, was jedem verständigen Menschen in gleicher Lage und unter gleichen Umständen als beachtlich hätte einleuchten müssen (EVGE 1957 S. 219, 1961 S. 232).
Im Schrifttum wird zu Recht die Auffassung vertreten, dass diese im Hinblick auf die Praktikabilität und Rechtssicherheit erforderliche Objektivierung des Fahrlässigkeitsbegriffes nicht starr zu handhaben ist; dies schon mit Rücksicht darauf, dass den Arbeitgebern in der AHV verwaltungsrechtliche Aufgaben von Gesetzeswegen alseine unausweichliche Folge ihrer sozialen Stellung und ohne Berücksichtigung ihrer persönlichen Fähigkeiten und ohne Entgelt auferlegt werden (WINZELER, a.a.O., S. 68). Das Mass der zu verlangenden Sorgfalt ist daher abzustufen entsprechend der Sorgfaltspflicht, die in den kaufmännischen Belangen jener Arbeitgeberkategorie, welcher der betreffende Arbeitgeber angehört, üblicherweise erwartet werden kann und muss.
In diesem Sinne hat die Beschwerdegegnerin die Vorschriften über die Abrechnungspflicht grobfahrlässig verletzt. Eine Aktiengesellschaft gehört in Anbetracht der ihr eigenen rechtlichen Struktur zu jener Arbeitgeberkategorie, an deren Sorgfaltspflicht grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen sind. Es hätte der Beschwerdegegnerin bei der gegebenen Sachlage ernstlich als zweifelhaft erscheinen müssen, ob die Tätigkeit von G. wirklich als selbständige Erwerbstätigkeit bewertet werden dürfe. Wenn siees nicht für nötig erachtete, sich über die Abrechnungspflicht zu vergewissern und die Frage zu prüfen, ob die angeblich von G. selbständig vorgenommene Abrechnung zulässig sei, so liegt hierin eine grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften... | de |
5954f95a-a3ac-4936-9d94-b2f9e2496660 | Sachverhalt
ab Seite 318
BGE 113 Ib 318 S. 318
B. und R. sind Eigentümerinnen der Seeparzelle Nr. 3682 in der Gemeinde Küsnacht. Die Parzelle wurde aufgrund kantonaler Landanlagekonzessionen geschaffen. Eine erste Konzession für eine Uferaufschüttung im Ausmass von 116 m2 wurde im Jahre 1894 erteilt, eine zweite für eine Aufschüttung im Umfange von 547 m2 im Jahre 1929. Die Konzession vom 20. April 1894 enthielt den üblichen Vorbehalt, dass für die Ausführung allfälliger Bauten auf der Landanlage die Bewilligung der Direktion der öffentlichen Arbeiten (heute Baudirektion) einzuholen sei. Der zweiten Konzession
BGE 113 Ib 318 S. 319
liegt ein Abtretungsvertrag vom 11. April 1929 zugrunde, den der Kantonsingenieur als Vertreter der Baudirektion des Kantons Zürich mit dem früheren Liegenschaftseigentümer abschloss. Danach trat dieser eine Fläche von 180 m2 Gartenland ab, wofür er im Tausch 16 m2 Land erhielt; die Mehrfläche wurde gemäss Angabe im Vertrag unentgeltlich abgetreten. Die Abtretung war jedoch mit der Bedingung verbunden, dass die Konzession für eine Landanlage im Ausmass von ca. 530 m2 zugesichert wurde. Die Landanlage (Ufermauer und Auffüllung) war durch die Baubehörde bis zum Sommer 1929 auf Rechnung des Abtreters auszuführen. Im Hinblick auf eine allfällige Überbauung des aufgeschütteten Grundstücks wurde folgende Vertragsbestimmung beigefügt:
"Dem Abtreter wird die Bewilligung zur Erstellung eines einstöckigen
Gartenpavillons mit Küche und zwei bis drei Wohnräumen sowie eines Boots-
und Badhauses auf der Landanlage zugesichert. Die bezüglichen Pläne sind
der Baudirektion zur Genehmigung vorzulegen."
Im Jahre 1930 erstellte der damalige Eigentümer auf der Landanlage ein Badehaus. Hingegen zog er das Bewilligungsgesuch für ein Sommerhaus zurück, da dieses Vorhaben den Strassenabstand nicht wahrte. Mit Verfügung vom 18. August 1932 bestätigte die Baudirektion die Bewilligungszusicherung für einen einstöckigen Gartenpavillon mit Küche und zwei bis drei Wohnräumen sowie für ein Bootshaus und ermächtigte gleichzeitig das Grundbuchamt Küsnacht zu einer entsprechenden Anmerkung im Grundbuch.
Gemäss Bauordnung und Zonenplan der Gemeinde Küsnacht von 1958 war die Seeparzelle Nr. 3682 der Landhauszone längs des Seeufers zugewiesen. Mit Zonenplanänderung vom 1. April 1974 wurde die Parzelle in die Freihaltezone umgeteilt. Der entsprechende Beschluss wurde am 11. September 1976 rechtskräftig. B. und R. liessen am 28. April 1982 das Begehren um Entschädigung wegen materieller Enteignung nach § 183bis des Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch (EG ZGB) stellen. Die Gemeinde Küsnacht verneinte eine materielle Enteignung, anerbot jedoch den Eigentümerinnen mit Schreiben vom 24. Dezember 1982, die Liegenschaft zu kaufen. Da sie eine Veräusserung ablehnten, ersuchte die Gemeinde am 12. August 1983 das Statthalteramt Meilen um Anordnung des Schätzungsverfahrens.
Mit Entscheid vom 10. Juli/20. November 1984 verpflichtete die Schätzungskommission II des Kantons Zürich die Gemeinde Küsnacht, den Eigentümerinnen eine Entschädigung zu bezahlen. Die Gemeinde Küsnacht erhob gegen den Entscheid der Schätzungskommission
BGE 113 Ib 318 S. 320
Einsprache und vertrat in dem hierauf eingeleiteten Klageverfahren vor Verwaltungsgericht erfolglos die Meinung, die Zuweisung des Seegrundstückes Nr. 3682 zur Freihaltezone habe keine materielle Enteignung bewirkt.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 17. Oktober 1986 gelangt die Gemeinde Küsnacht gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 20. August 1986 an das Bundesgericht. Sie bestreitet primär, dass eine materielle Enteignung vorliegt, und beanstandet eventualiter die von den Vorinstanzen ermittelte Höhe der Entschädigung. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in bezug auf die Entschädigungshöhe gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Zur Beurteilung der Frage, ob die Einweisung der Seeparzelle in die Freihaltezone enteignungsähnlich wirkt, sind die Vorinstanzen von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur materiellen Enteignung ausgegangen. Eine solche ist zu bejahen, wenn einem Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch seiner Sache untersagt oder besonders schwer eingeschränkt wird, weil ihm eine wesentliche aus dem Eigentum fliessende Befugnis entzogen wird. Trifft dies nicht zu, so bejaht die bundesgerichtliche Rechtsprechung die Entschädigungspflicht auch dann, wenn ein einziger oder einzelne Eigentümer so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der Allgemeinheit als unzumutbar erschiene und es mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn hiefür keine Enschädigung geleistet würde. In beiden Fällen ist die Möglichkeit einer zukünftigen besseren Nutzung der Sache indessen nur zu berücksichtigen, wenn im massgebenden Zeitpunkt anzunehmen war, sie lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verwirklichen (
BGE 112 Ib 389
E. 3 mit Verweisungen).
Die Vorinstanzen haben einen schweren Eingriff in die Eigentümerbefugnisse angenommen, weil den Beschwerdegegnerinnen mit der Auszonung ihrer Seeparzelle aus der Landhauszone und der Einweisung in die Freihaltezone die gegebene und jederzeit zu realisierende Möglichkeit der Überbauung genommen worden sei. Die Gemeinde bestreitet dies. Es ist daher als erstes zu prüfen, ob ihre Einwendungen begründet sind.
a) Zunächst macht die Beschwerdeführerin geltend, die in der Landanlagekonzession von 1929 erteilte Zusicherung einer Bewilligung
BGE 113 Ib 318 S. 321
für die Erstellung eines einstöckigen Gartenpavillons mit Küche und zwei bis drei Wohnräumen sowie eines Boots- und Badhauses sei nicht mit der "Baukonzession" gleichzusetzen. Die ausdrücklich vorbehaltene Genehmigung der Baupläne durch die Baudirektion bedeute, dass die Bewilligungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Genehmigung erfüllt sein müssten.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Die Konzession von 1929 enthielt im Gegensatz zur Konzession von 1894 nicht den Vorbehalt, wie er vom Bundesgericht bei einer Landanlage in Männedorf zu beurteilen war, dass für die Ausführung allfälliger Bauten auf der Landanlage die Bewilligung der Baudirektion einzuholen sei (
BGE 102 Ia 122
ff.). Ein solcher Vorbehalt hat zur Folge, dass mit der Konzession nur das Recht zur Schaffung einer Landanlage eingeräumt wird, nicht jedoch auch die Befugnis, auf dem geschaffenen Seeuferland zu bauen (
BGE 102 Ia 124
ff. E. 2a-f).
Die Konzession im Jahre 1929 für eine Landanlage im Ausmass von ca. 530 m2 wurde im Zusammenhang mit einer Landabtretung zur Verbreiterung der Seestrasse erteilt. Die Kosten der Anlage gingen zu Lasten des Abtreters. Es wurde ihm jedoch "die Bewilligung zur Erstellung eines einstöckigen Gartenpavillons mit Küche und zwei bis drei Wohnräumen sowie eines Boots- und Badhauses auf der Landanlage zugesichert". Diese Zusicherung kann nach dem für deren Auslegung massgebenden Vertrauensprinzip nicht anders als definitive Zustimmung zur Ausführung eines entsprechenden Vorhabens aufgefasst werden. Wenn beigefügt wurde, dass die Pläne der Baudirektion zur Genehmigung vorzulegen sind, so dient dies der üblichen Kontrolle der Einhaltung der Konzessionsbestimmungen, kann jedoch nach dem für die Parteien nach Treu und Glauben massgebenden Verständnis nicht so verstanden werden, dass die eine Partei die Zusicherung der Bewilligung für die Erstellung eines Baues zurücknehmen darf; andernfalls wäre die Zusicherung wertlos gewesen.
Auch der Zeitablauf ändert hieran nichts; die Zusicherung wurde unbefristet erteilt und ausserdem mit der Verfügung der Baudirektion vom 18. August 1932 bestätigt. Es wäre, wie das Verwaltungsgericht darlegt, nicht angegangen, dass die Baudirektion im Jahre 1976 im Zusammenhang mit der Genehmigung der Auszonung und der Zuweisung zur Freihaltezone die Zusicherung hätte entschädigungslos widerrufen dürfen. Diese ist entgegen der Auffassung des Bundesamtes für Raumplanung nicht nur ein behördliches
BGE 113 Ib 318 S. 322
"Bauangebot". Damit wurde vielmehr die Baulandqualität der 1929 geschaffenen Landanlage anerkannt. Die kommunale Zonenordnung von 1958 bestätigte diese Anerkennung. Erst die Zonenplanänderung vom 1. April 1974 entzog der Landanlage die Baulandqualität.
b) Aufgrund der in der Konzession von 1929 gemachten unbefristeten Zusicherung der Bauberechtigung im umschriebenen Ausmass wurde die Rechtsstellung des Konzessionärs derjenigen von Eigentümern gewöhnlichen Baulandes angenähert, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat. Sein Recht ist nicht nur durch die einschlägigen Bauvorschriften, sondern in erster Linie durch die Konzessionsbestimmung beschränkt. Er darf nicht mehr bauen, als ihm zugesichert wurde. Der Zeitpunkt der Ausführung steht ihm hingegen aufgrund der getroffenen Abmachung frei.
§ 76 Abs. 1 des kantonalen Wassergesetzes vom 15. Dezember 1901, wonach bei Erteilung einer Bewilligung für eine Landanlage eine Frist für die Ausführung anzusetzen und das Erlöschen der Konzession anzudrohen ist, wenn die Frist nicht eingehalten wird, spricht keineswegs dafür, dass die Bauberechtigung bei langjähriger Nichtausübung dahinfällt. Im Gegenteil, wenn die Parteien diese Konsequenz gewollt hätten, so hätten sie entsprechend der für die Landanlage geltenden Regelung eine Frist für die Bauausführung ansetzen müssen. Weil sie dies nicht getan haben, kann keineswegs aus der langjährigen Nichtausübung des Rechtes gefolgert werden, der Eigentümer des geschaffenen Landes habe stillschweigend darauf verzichtet, von der ihm unbefristet eingeräumten Bauberechtigung Gebrauch zu machen.
Die Landanlage von ca. 530 m2 ist somit wegen der besonderen Ausgestaltung des Abtretungsvertrages von 1929 Bauland gleichzustellen.
c) Schliesslich ist die Beschwerdeführerin der Meinung, von einer enteignungsähnlichen Wirkung der Freihaltezone könne deshalb nicht die Rede sein, weil der Rechtsvorgänger der Beschwerdeführerinnen im massgebenden Zeitpunkt (1976) keine Überbauungsabsicht gehabt habe. Die Wahrscheinlichkeit der Realisierung einer besseren Nutzung in naher Zukunft sei nicht nur nach objektiven Voraussetzungen zu prüfen, sondern sie müsse auch in subjektiver Hinsicht gegeben sein.
aa) Diese Auffassung verkennt die bundesgerichtliche Rechtsprechung. Wenn in
BGE 105 Ia 339
E. 4b gesagt wird, von einer
BGE 113 Ib 318 S. 323
enteignungsähnlichen Wirkung der Nichteinzonung einer nicht im Bereich eines generellen Kanalisationsprojektes gelegenen Parzelle könne von vornherein dann keine Rede sein, wenn am massgebenden Stichtag "ein Grundstück nicht hätte überbaut werden können oder - wenn dies möglich gewesen wäre - nicht überbaut worden wäre, weil der Eigentümer keine Überbauungsabsichten hatte", so bezieht sich diese Wendung, wie aus dem Entscheid klar hervorgeht, auf den Fall der Rechtsänderung durch das eidgenössische Gewässerschutzgesetz vom 8. Oktober 1971. Mit diesem Gesetz wurde bekanntlich die Bewilligung von Bauten auf die Bauzonen beziehungsweise den durch das generelle Kanalisationsprojekt abgegrenzten Bereich beschränkt (Art. 19 f. des Gewässerschutzgesetzes;
Art. 15 der Allgemeinen Gewässerschutzverordnung, je in der bis Ende 1979 geltenden Fassung). Das Bundesgericht erwog aufgrund der verfassungsrechtlich gebotenen Nutzungsordnung (
Art. 22quater BV
)
, dass diese Regelung den Inhalt des Eigentums grundsätzlich entschädigungslos festlege. Vorbehalten blieben Ausnahmefälle, in denen der Einbezug eines Grundstückes in eine Bauzone geboten gewesen wäre, und der Eigentümer deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft mit einer Überbauung rechnen konnte. Wo kein solcher Ausnahmefall vorlag, war mit Inkrafttreten des Gewässerschutzgesetzes eine zuvor in zahlreichen Kantonen bei Erfüllung der baupolizeilichen Anforderungen auf allen Grundstücken gegebene Bauberechtigung dahingefallen, ohne dass hiefür Entschädigung geschuldet worden wäre.
Die genannte Umschreibung knüpfte im übrigen an die Rechtsprechung über die Konsequenzen mehrerer sich folgenden Eigentumsbeschränkungen an. Wird eine enteignungsähnliche Beschränkung von einer ohne Entschädigung hinzunehmenden Beschränkung überlagert oder abgelöst, so ist eine Entschädigung für die erste Beschränkung nur geschuldet, wenn es dem Eigentümer möglich gewesen wäre, das Grundstück bis zum Inkrafttreten der zweiten Beschränkung der besseren Nutzung zuzuführen und wenn er hievon auch Gebrauch gemacht hätte (
BGE 105 Ia 340
E. 4b;
BGE 103 Ib 218
E. 3, je mit Verweisungen). Mit diesen Erwägungen werden keine wesensfremden subjektiven Gesichtspunkte in die Beurteilung der Entschädigungsfrage eingeflochten. Es wird vielmehr - wie das Bundesgericht bereits im Entscheid vom 22. September 1982 i.S. Gemeinde Aesch, Luzern, in: ZBl 84/1983 S. 80, E. 3b, verdeutlicht hat - aus
BGE 113 Ib 318 S. 324
der Anwendung des neuen Rechts die Konsequenz gezogen, dass nicht ausgeschöpfte bisherige Nutzungsmöglichkeiten nicht mehr realisiert werden können.
Liegen Bauzonen im Sinne des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes vor oder geht es um weitgehend überbautes Gebiet gemäss
Art. 36 Abs. 3 RPG
, so ist nach objektiven Massstäben zu prüfen, ob die Schaffung einer Freihaltezone oder eine sonstige weitgehende Beschränkung der bisher gegebenen Bauberechtigung wie eine Enteignung wirkt. Soweit das Bundesgericht auch in diesen Fällen auf fehlende Bauabsichten des Eigentümers hinwies, wollte es die primär objektiven Kriterien bekräftigen und nicht eine enteignungsähnliche Wirkung nur wegen fehlender Überbauungsabsicht verneinen (
BGE 106 Ia 382
).
Freilich ist anzuerkennen, dass aus den nicht immer wörtlich gleich lautenden Wendungen, welche den Entzug einer voraussehbaren künftigen Nutzung betreffen, zum Teil gefolgert werden könnte, die Wahrscheinlichkeit einer solchen Nutzung müsse sich aus einer ernsthaften Bauabsicht ergeben. Wenn der leading case Barret (
BGE 91 I 329
in E. 3 auf S. 339) die zu berücksichtigenden künftigen Grundstücksnutzungen wie folgt umschreibt: "Seules méritent protection celles qui, au regard des circonstances, apparaissent comme très probables dans un proche avenir", so könnte diese Wendung, wie das Verwaltungsgericht darlegt, so verstanden werden, dass die Wahrscheinlichkeit der möglichen besseren Nutzung auch aus subjektiver Sicht des Eigentümers gegeben sein müsse. Die weiteren Ausführungen des Entscheides, mit welchen die nach objektiven Kriterien gegebene Schwere des Eingriffs als erste Voraussetzung der Entschädigungspflicht betont wird, zeigen jedoch, dass allein wegen Fehlens einer Bauabsicht eine enteignungsgleiche Wirkung nicht zu verneinen ist.
Auch der neuere Entscheid i.S. Commune de Commugny ist nicht so zu verstehen, dass im Falle der Auszonung einer Parzelle aus einer den Grundsätzen des Raumplanungsgesetzes entsprechenden Bauzone und der Einweisung in die Schutzzone für Rebbau eine Entschädigung nur geschuldet wäre, wenn der Eigentümer in naher Zukunft seine Bauabsicht zu realisieren beabsichtigt. Entscheidend ist vielmehr, ob eine Überbauung hätte realisiert werden können oder ob ein Baubegehren wegen ungenügender Erschliessung und daher mangels Baureife der Parzelle hätte abgewiesen werden müssen und diese rechtlichen Hindernisse nicht innert naher Zukunft hätten beseitigt werden können (
BGE 112 Ib 105
,
BGE 113 Ib 318 S. 325
insbesondere 113 f. E. 4a und b). Der Entscheid hält übrigens ausdrücklich fest, dass die subjektiven Gründe, die den Eigentümer zu einem Aufschub seines Bauvorhabens genötigt hatten, an sich nicht entscheidend seien (E. 4c, S. 115). Die angeführten objektiven Faktoren waren primär wesentlich zur Beurteilung der Frage der enteignungsgleichen Wirkung (E. 3). Wenn in E. 4 beigefügt wurde, ausserdem sei auch der subjektive Bauwille des Eigentümers zu berücksichtigen, um die Wahrscheinlichkeit einer Nutzung der Parzelle als Bauland zu bejahen (S. 115), so ist gegenüber dieser wohl zu allgemein gemachten Aussage klarzustellen, dass im Falle der Auszonung einer baureifen Parzelle lediglich aus dem Fehlen einer Bauabsicht nicht eine enteignungsgleiche Wirkung ausgeschlossen werden könnte. Vielmehr müssten weitere Faktoren - etwa das Fehlen der Nachfrage mangels einer baulichen Entwicklung - dazu kommen, um eine enteignungsgleiche Wirkung zu verneinen. Die im Falle Commugny bejahte Bauabsicht bestätigte die aus objektiven Faktoren gegebene enteignungsgleiche Wirkung der Auszonung der Parzelle und deren Einzonung in eine Schutzzone.
bb) Im Regelfall können daher, wie dies auch in der Literatur gefordert wird, subjektive Kriterien allein nicht entscheidend sein, um eine nach objektiven Massstäben gegebene enteignungsgleiche Wirkung auszuschliessen (GEORG MÜLLER, Kommentar zur Bundesverfassung, 1987, Ziff. 54, S. 27 zu
Art. 22ter BV
; ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, 1984, II S. 773). Wenn nach LEO SCHÜRMANN, Bau- und Planungsrecht, 2. Aufl., S. 234, auch die Überbauungsabsichten des Betroffenen wesentlich sind, so bezieht sich dieser Hinweis in erster Linie auf den vorne dargelegten Fall der Anwendung des Gewässerschutzgesetzes, dem die erstmalige Schaffung eines Nutzungsplanes im Sinne der
Art. 14 ff. RPG
gleichzusetzen ist (
BGE 112 Ib 398
E. 5 mit Verweisungen). Dies ergibt sich aus dem Hinweis auf den angeführten Entscheid vom 22. September 1982 (Aesch, in: ZBl 84/1983 S. 80 E. 3b). Im Falle der Nichteinzonung, die grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen ist, kann eine Überbauungsabsicht, namentlich wenn sie bereits im Einvernehmen mit dem Gemeinwesen zu Aufwendungen für Erschliessungsmassnahmen geführt hat, darauf hinweisen, dass der Eigentümer im Sinne der vom Bundesgericht vorbehaltenen Ausnahmen mit einer Einzonung und damit der Realisierbarkeit seiner Absicht in naher Zukunft rechnen konnte (
BGE 105 Ia 338
E. 3d).
BGE 113 Ib 318 S. 326
d) Im vorliegenden Fall anerkennt die Beschwerdeführerin, dass die Seeparzelle der Beschwerdegegnerinnen am Stichtag erschlossen war und in weitgehend überbautem Gebiet lag. Bei dieser Sachlage erfüllt die Auszonung der Parzelle aus der Landhauszone und ihre Einweisung in die Freihaltezone nach objektiven Kriterien den Tatbestand der materiellen Enteignung, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat. Es hat damit keineswegs in unzulässiger Weise an seine frühere Rechtsprechung betreffend Zerstörung eines gefestigten Marktwertes angeknüpft, sondern vielmehr den Grundsatz der vollen Entschädigung im Enteignungsfalle angewandt.
Dass die Eigentümer keine Überbauungsabsichten hatten, ändert hieran nichts. Wer eingezontes baureifes Land besitzt, ist nur dann zu einer Überbauung innert Frist verpflichtet, wenn das geltende Recht eine eindeutige gesetzliche Grundlage hiefür enthält, wie dies zum Beispiel im Falle von Parzellarordnungsmassnahmen oder Sanierungen überbauter Gebiete vorkommt (Art. 9 des eidgenössischen Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes, WEG, SR 843; Bern, Dekret über die Umlegung von Baugebiet vom 12. Februar 1985, Art. 45; Zürich, Planungs- und Baugesetz vom 7. September 1975, § 201; Basel-Stadt, Gesetz über Bodenordnungsmassnahmen vom 20. November 1969, § 20). Von solchen Fällen abgesehen, besteht im geltenden Recht keine allgemeine Baupflicht. Man kann daher einem Eigentümer nicht verwehren, Bauland unüberbaut zu behalten und entsprechend seinem Belieben erst zu einem späteren Zeitpunkt der Überbauung zuzuführen. Freilich befreit ihn dies nicht davon, die auf Bauland entfallenden Lasten, wie etwa Erschliessungsbeiträge (
Art. 6 WEG
), zu tragen. Doch hat auch eine langjährige Nichtausübung der Bauberechtigung nicht zur Folge, dass baureifes Land, das einer dem Raumplanungsgesetz entsprechenden Bauzone zugewiesen ist, entschädigungslos in eine Freihaltezone eingewiesen werden darf. | de |
2d5407a6-c45a-4502-a1f3-0755b4d7dc94 | Sachverhalt
ab Seite 21
BGE 109 Ib 20 S. 21
Johann Zwieb erwarb im Jahre 1972 im Gebiet Murissen in Flims am Rande des überbauten Gebietes mehrere auf rund 1140-1170 m Höhe gelegene Hanggrundstücke in der Absicht, sie mit Ferienhäusern zu überbauen. Sein zur Parzelle Nr. 658 vereinigter Grundbesitz liegt sowohl gemäss dem früheren als auch nach dem geltenden Zonenplan der Gemeinde in der Bauzone A für 1- und 2-Familienhäuser. Laut einem von der Baugesellschaft Els' Larischs, der Zwieb als Grundeigentümer angehörte, am 7. August 1972 eingereichten Baugesuch für acht Ferienhäuser hätte die Erschliessung seiner Grundstücke über die bestehende Strasse, die bis zur Nachbarparzelle Nr. 609 führt, erfolgen sollen.
Bereits am 23. Mai 1972 hatte die Baugesellschaft Els'Larischs der Gemeinde in einem Gesuch um Vorentscheid mitgeteilt, sie beabsichtige, Zwiebs Parzellen zu überbauen. Die Baubehörde der Gemeinde Flims antwortete hierauf, dass im Gebiet Murissen keine Baugesuche behandelt werden könnten, bevor die Quartierplanung mit den dazugehörigen Erschliessungsplänen für Strasse, Wasser, Kanalisation, Energieversorgung und Telefonzuleitung vorhanden sei. Die Ausarbeitung des Quartiererschliessungsplanes sei nur in Verbindung mit einer umfassenden Landumlegung möglich. Für die Durchführung des Planungs- und Umlegungsverfahrens müsse zudem die Revision des Baugesetzes abgeschlossen werden. Sollte ein Baugesuch eingereicht werden, so sehe sich der Gemeinderat gezwungen, im Quartier Murissen eine Bausperre zu erlassen. Als die Baugesellschaft Els'Larischs das erwähnte Baugesuch einreichte, ordnete der Gemeinderat am 24. August 1972 eine Bausperre an, die in der Folge wiederholt verlängert wurde, gemäss den Akten letztmals bis 30. Juni 1982. Sowohl die Ortsplanungsrevision als auch die Ausarbeitung eines Gefahrenzonenplanes, der das Gebiet Murissen berührt, zogen sich aus verschiedenen Gründen in die Länge.
Am 13. April 1981 meldete Zwieb bei der örtlich zuständigen Enteignungskommission eine Entschädigungsforderung aus materieller Enteignung an. Er machte zufolge der Bausperre einen Zinsverlust in der Höhe von Fr. 476'510.45 und unter dem Titel Baukostenteuerung eine Forderung von Fr. 83'222.--, total somit Fr. 559'732.45, geltend. Da die Gemeinde Flims die betreffende Forderung für unbegründet hielt, gelangte die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zum Entscheid über die Frage nach der grundsätzlichen Begründetheit der angemeldeten Forderung. Das Verwaltungsgericht wies die Klage am 16. Dezember 1981 ab.
BGE 109 Ib 20 S. 22
Die von Zwieb gegen diesen Entscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde weist das Bundesgericht ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
a) Die in Frage stehende Bausperre wurde von der Gemeinde Flims gestützt auf Art. 5 des früheren kantonalen Bau- und Planungsgesetzes vom 26. April 1964 und Art. 8 des Gemeindebaugesetzes vom 17. März 1968 angeordnet sowie nach Inkrafttreten des geltenden Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden (KRG) vom 20. Mai 1973 gestützt auf dessen Art. 54 mehrmals verlängert. Eine solche Bausperre stellt selbst während ihrer Dauer kein vorbehaltloses Bauverbot dar. Bauten sind vielmehr nur dann unzulässig, wenn sie die Planung erschweren oder wenn sie den vorgesehenen neuen Vorschriften widersprechen (Art. 5 Abs. 1 Bau- und Planungsgesetz vom 26. April 1964; Art. 8 Abs. 2 des Gemeindebaugesetzes vom 17. März 1968; Art. 54 Abs. 3 KRG; Art. 14 Abs. 3 des Gemeindebaugesetzes vom 27. März 1977), eine Regelung, die sich mit
Art. 27 Abs. 1 RPG
betreffend Planungszonen deckt.
Eine derart sachlich und zeitlich begrenzte Eigentumsbeschränkung geht von vornherein wesentlich weniger weit als ein Bauverbot. Sie entzieht dem Eigentümer eine aus dem Eigentum fliessende Befugnis nicht endgültig, sondern schränkt deren Ausübung lediglich zeitlich ein. Eine solche vorübergehende Beschränkung zieht in der Regel keine Entschädigungspflicht nach sich (
BGE 99 Ia 487
;
BGE 93 I 343
f.;
BGE 89 I 463
). Dem Eigentümer wird bloss zugemutet, mit einer Überbauung seiner Liegenschaft, welche die Anpassung oder Ausarbeitung eines Nutzungsplanes oder neuer Nutzungsvorschriften erschweren könnte, bis zur Rechtskraft der Rechtsänderung zuzuwarten. Diese Rücksichtnahme ist von ihm um so mehr zu erwarten, als er nicht damit rechnen kann, die für sein Grundstück gegebene baurechtliche Lage erfahre keine Änderung (
BGE 107 Ia 36
mit Hinweisen).
Ausnahmsweise kann jedoch auch die lange Dauer eines Bauverbotes einen Eigentümer besonders schwer treffen, so etwa wenn auf baureifem Land ein bewilligungsfähiges Bauvorhaben während längerer Zeit zurückgestellt werden muss. Dabei lässt sich der bundesgerichtlichen Rechtsprechung keine feste zeitliche Begrenzung entnehmen, bei deren Überschreitung eine materielle Enteignung angenommen werden müsste. Massgebend sind vielmehr die
BGE 109 Ib 20 S. 23
Umstände des Einzelfalles. In der Regel wird ein auf fünf Jahre befristetes Bauverbot, wie es sich gemäss ausdrücklicher bundesgesetzlicher Regelung aus den Projektierungszonen für Nationalstrassen (
Art. 17 Abs. 1 NSG
) oder aus Planungszonen gemäss
Art. 27 RPG
ergeben kann, keine Entschädigungspflicht auslösen. Doch bleibt auch in diesen Fällen die Prüfung des Einzelfalles vorbehalten (
Art. 18 NSG
;
Art. 5 Abs. 2 RPG
, EJPD/BRP, Erläuterungen RPG, N. 14c zu Art. 27, S. 323). Ein zehn Jahre dauerndes Bauverbot auf baureifem Land kann hingegen enteignungsähnlich wirken, allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Sonderopfers (
BGE 69 I 239
und 242). Auch in der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass im allgemeinen auf fünf bis zehn Jahre befristete Bauverbote entschädigungslos zu dulden seien (GYGI, Gutachten vom 7. März 1974, in VPB 1974 Nr. 78, S. 56; LUDWIG MEYER, Die materielle Enteignung im neuen bernischen Baugesetz, in ZBJV 108/1972, S. 221).
b) Der Beschwerdeführer beruft sich auf diese Rechtsprechung, indem er geltend macht, die Bausperre bestehe nun bereits während mehr als zehn Jahren. Doch übersieht er die Grundvoraussetzung jeder materiellen Enteignung. Von einer enteignungsähnlichen Wirkung des Entzuges oder der Beeinträchtigung einer zukünftigen besseren Nutzung der Sache kann nur dann die Rede sein, wenn im massgebenden Zeitpunkt anzunehmen war, die bessere Nutzung lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verwirklichen (
BGE 107 Ib 223
mit Hinweisen). Für ein am Rande des überbauten Gebietes gelegenes Areal, das Teil eines grösseren Gebietes bildet, für welches kein rechtsverbindlicher Erschliessungsplan vorliegt und dessen Parzellen für eine Überbauung nicht geordnet sind, trifft dies nicht zu.
c) Der Beschwerdeführer verkennt, dass die Gemeinde schon aufgrund des früheren kantonalen Bau- und Planungsgesetzes vom 26. April 1964 befugt war, im Interesse der geordneten baulichen Entwicklung und der zweckmässigen Nutzung des Bodens Bebauungs- und Nutzungspläne zu erlassen und darin die Erschliessung mit Bau- und Niveaulinien sowie die Bezeichnung der Hauptstränge der öffentlichen Leitungen festzulegen. Die Gemeinde Flims hat hievon in ihrem Baugesetz vom 17. März 1968 Gebrauch gemacht. In dessen Art. 6 hat sie angeordnet, dass zur Sicherung einer zweckmässigen Erschliessung und Überbauung Quartierpläne angelegt werden können und dass die Erteilung von Baubewilligungen bis zur Genehmigung eines Quartierplanes verweigert werden
BGE 109 Ib 20 S. 24
kann. Die Gemeindebehörde hat daher mit Recht dem vom Beschwerdeführer beauftragten Architekten am 21. Juni 1972 mitgeteilt, eine Überbauung des Gebietes Murissen setze eine Quartierplanung mit den dazugehörigen Erschliessungsplänen sowie eine umfassende Landumlegung voraus.
Das am 20. Mai 1973 in Kraft getretene Raumplanungsgesetz für den Kanton Graubünden verpflichtet sodann die Gemeinden, zur Sicherstellung der geordneten Besiedlung Erschliessungspläne zu erlassen. Diese gehören gemäss Art. 18 KRG zu den Mindestanforderungen der baulichen Grundordnung. Auch ermächtigt das Gesetz die Gemeinden zur Quartierplanung und zur Baulandumlegung, wobei diese von Amtes wegen angeordnet werden kann. Aufgrund von Art. 1 der Verordnung über die Durchführung und Finanzierung der Erschliessung und das Verfahren bei Gesamtumlegungen (Erschliessungs- und Gesamtumlegungsverordnung, EGVO) sind die Gemeinden schliesslich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihr Gebiet entsprechend der Grundordnung rechtzeitig erschlossen und zweckmässig genutzt werden kann.
Allein diese bereits dem früheren Bau- und Planungsrecht des Kantons und der Gemeinde zugrunde liegende und im geltenden kantonalen Recht verdeutlichte und verpflichtend ausgestaltete Ordnung entspricht dem Gebot, eine zweckmässige Nutzung des Bodens und eine geordnete Besiedlung des Landes sicherzustellen (
Art. 22quater BV
). Innerhalb der Bauzonen dient hiezu die Erschliessung, die als öffentliche Aufgabe grundsätzlich dem Gemeinwesen obliegt, wobei das kantonale Recht vorsehen kann, dass die Grundeigentümer ihr Land nach den vom Gemeinwesen genehmigten Plänen selber erschliessen (
Art. 19 Abs. 2 und 3 RPG
; Art. 1, 3 ff. und 8 ff. EGVO). Nur das Gemeinwesen als Planungsträger ist in der Lage, die Erschliessungsanlagen untereinander sowie auf die gegenwärtige Situation und die zukünftige Entwicklung des Baugebietes abzustimmen (PETER CLAVADETSCHER, Erschliessungspflicht und Erschliessungsanspruch in der Bauzone insbesondere nach bündnerischem Recht, Diss. Bern 1982, S. 93). Die vorschriftsgemässe Erschliessung und in Verbindung damit allenfalls Landumlegungen bilden Voraussetzung für die Überbaubarkeit des Bodens (SCHÜRMANN, Bau- und Planungsrecht, S. 75).
Hieraus ergibt sich, dass der Eigentümer eines am Rande des überbauten Gebietes gelegenen Grundstückes den Zeitablauf, der erforderlich ist, um die zur Sicherstellung der geordneten Besiedlung nötige Erschliessung und Parzellarordnung entsprechend den
BGE 109 Ib 20 S. 25
gesetzlichen Anforderungen herbeizuführen, grundsätzlich in Kauf nehmen muss, ohne vom Gemeinwesen Entschädigung fordern zu können. Doch ist zu beachten, dass dieses zur zeitgerechten Erschliessung der Bauzonen verpflichtet ist, und zwar sowohl gemäss bündnerischem als auch nach eidgenössischem Recht. Zeitgerecht heisst dabei, dass die auf den Bedarf von fünfzehn Jahren auszurichtenden Bauzonen innerhalb dieses Zeitraumes in angemessenen Etappen zu erschliessen sind, sofern sich die Entwicklung nicht ändert und entgegen der Erwartung der Bedarf geringer ist (EJPD/BRP, Erläuterungen RPG, N. 22 zu Art. 19, S. 249; Art. 5 Abs. 1 des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes vom 4. Oktober 1974).
d) Im vorliegenden Fall musste der Beschwerdeführer aufgrund der für seinen Grundbesitz geltenden rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten bereits im Jahre 1972 mit der kompetenzgemässen Anordnung der in der kantonalen und kommunalen Baugesetzgebung vorgesehenen Planungsmassnahmen rechnen. Er konnte nicht erwarten, dass seine am Rande überbauten Gebietes gelegene Parzelle in dem noch nicht ordnungsgemäss erschlossenen Hanggelände von Murissen vor der Bereinigung des Gefahrenzonenplanes, des Zonenplanes und der Festlegung der Erschliessung durch die Gemeinde sowie vor der Durchführung einer Landumlegung überbaut werden könne.
Der Einwand des Beschwerdeführers, auf seinem Grundbesitz wäre eine Überbauung möglich gewesen, da er nicht in der Gefahrenzone liege und da er für sich allein erschliessbar wäre, ist nicht stichhaltig. Eine der Ortsplanung entsprechende Erschliessungsplanung und ein Quartierplanverfahren mit Baulandumlegung bezwecken, ein grösseres Gebiet einer rationellen baulichen Nutzung zuzuführen. Auch Parzellen, auf denen eine Überbauung möglich wäre, dürfen in das Verfahren einbezogen werden, um dessen Zweck, die Erschliessung und Grundstückseinteilung des ganzen Gebiets zweckmässig zu lösen, zu erreichen (ZIMMERLIN, Kommentar zum aargauischen Baugesetz, N. 2 zu § 172; PETER LUDWIG, Die Baulanderschliessung nach bernischem Recht, BVR 1982, S. 413 f.; HANSRUDOLF STEINER, Die Baulandumlegung dargestellt nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1968, S. 41 f.).
Im übrigen kann der Behauptung des Beschwerdeführers, seine Grundstücke seien baureif gewesen, jedenfalls für die von ihm geplante Überbauung nicht zugestimmt werden. Die im
BGE 109 Ib 20 S. 26
Situationsplan des Baubegehrens vom 7. August 1972 eingezeichnete Möglichkeit, das Hanggelände über die zum Nachbargrundstück führende Zufahrtsstrasse zu erschliessen, sieht die Inanspruchnahme der Parzellen Nrn. 609 und 656 vor. Rechtskräftige Bau- und Niveaulinien, welche diese Inanspruchnahme sichern würden, fehlen indes. Dass die entsprechende Zufahrt privatrechtlich gesichert wäre, macht der Beschwerdeführer nicht geltend. Überdies vermöchte eine privatrechtliche Regelung der vom kantonalen Raumplanungsgesetz und dem Gemeindebaugesetz geforderten einwandfreien Erschliessung gemäss den von der Gemeinde festzusetzenden Plänen nicht zu genügen, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat. Hiezu zählt auch die Ableitung der Abwässer und deren Reinigung gemäss den Anforderungen des am 1. Juli 1972 in Kraft getretenen eidgenössischen Gewässerschutzgesetzes. Das eingereichte, klarerweise ungenügende Baugesuch vom 7. August 1972 enthielt hiezu keine Angaben. Beim Baubeschrieb wurde die Rubrik "Kanalisation" nicht ausgefüllt. Das Projekt hätte wohl auch deshalb nicht verwirklicht werden können. Der Grundbesitz des Beschwerdeführers unterlag den üblichen Beschränkungen, die sich aus der Planung und Durchführung der vorschriftsgemässen Erschliessung und Baulandumlegung ergeben und die grundsätzlich entschädigungslos zu dulden sind (ZIMMERLIN, a.a.O., N. 6 zu § 212, S. 607). Dass die Gemeinde ihre Pflichten vernachlässigt hätte, macht der Beschwerdeführer mit Recht nicht geltend. | de |
8367126c-4666-43f0-8ad4-0e396f01d65c | Sachverhalt
ab Seite 103
BGE 103 II 102 S. 103
A.-
Durch Vereinbarung vom 9. März 1973 räumte Max Neuhäusler gegen eine prozentuale Umsatzbeteiligung dem Felix Kind das ausschliessliche Recht ein, in der von ihm betriebenen Gaststätte in Rorschach eine Musikbox, einen Flipperkasten, ein Tischfussballspiel und einen Geldspielautomaten aufzustellen. Die Vereinbarung sollte fünf Jahre gelten.
Mit Schreiben vom 29. November 1974 kündigte Neuhäusler den Vertrag auf den 30. November des gleichen Jahres, weil Kind entgegen übernommener Verpflichtungen Betriebsstörungen in Apparaten nicht innert 24 Stunden beheben und sein Kundendienst angeblich auch sonst sehr zu wünschen übrig liess. Er fügte bei, dass sämtliche Apparate spätestens bis 31. Dezember 1974 zu entfernen seien.
Kind liess in einem Schreiben seines Anwaltes vom 14. Januar 1975 die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestreiten. Zugleich forderte er Neuhäusler auf, die Apparate innert zwei Tagen wieder in Betrieb zu nehmen und die Erklärung abzugeben, den Vertrag künftig einzuhalten, ansonst er für die restliche Dauer von 39 Monaten rund Fr. 50'000.-- Schadenersatz zahlen müsste. Da Neuhäusler der Aufforderung nicht nachkam, holte Kind die Apparate später ab.
B.-
Im März 1975 klagte Kind gegen Neuhäusler auf Zahlung von Fr. 45'000.-- nebst 5% Zins ab 4. Februar 1975.
Das Bezirksgericht Rorschach und auf Appellation hin am
BGE 103 II 102 S. 104
23. September 1976 auch das Kantonsgericht St. Gallen wiesen die Klage ab.
Das Kantonsgericht führt insbesondere aus, die Frist zur nachträglichen Erfüllung gemäss
Art. 107 Abs. 1 OR
setze voraus, dass der Schuldner sich in Verzug befinde. Diese Wirkung sei hier erst zwei Tage nach dem Empfang des Mahnschreibens vom 14. Januar 1975 eingetreten. Auch liege kein besonderer Fall gemäss
Art. 108 Ziff. 1 OR
vor, wo die Nachfrist sich erübrige. Der Kläger habe den Beklagten daher nicht mahnen und ihm gleichzeitig eine Nachfrist ansetzen, sondern seinem Schreiben nur die Wirkung einer Mahnung geben können. Indem er dann die Apparate abholte, habe er der Auflösung des Vertrages durch den Beklagten zugestimmt.
C.-
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Er beantragt, es aufzuheben und die Klage gutzuheissen oder die Sache zur neuen Beurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die Entscheide der kantonalen Gerichte und beantragt, die Berufung abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Kläger wirft dem Kantonsgericht vor, es nehme zu Unrecht an, die in seinem Schreiben vom 14. Januar 1975 enthaltene Frist zur nachträglichen Erfüllung sei wirkungslos geblieben; die Annahme der Vorinstanz verletze Bundesrecht, insbesondere Art. 102 Abs. 1 und 107 Abs. 1 OR.
Das Kantonsgericht wertet die Vereinbarung der Parteien vom 9. März 1973 zutreffend als Vertrag eigener Art, der den allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechtes untersteht. Es anerkennt sodann, dass der Kläger den Beklagten am 14. Januar 1975 nicht bloss gemahnt, sondern ihm gleichzeitig eine Nachfrist zur Erfüllung des Vertrages angesetzt hat. Das Kantonsgericht hält das Vorgehen der Klägerin mit Bezug auf die Frist aber für unwirksam, weil diese erst angesetzt werden könne, wenn der Schuldner sich in Verzug befinde, der hier zwei Tage nach dem Empfang des Mahnschreibens eingetreten sei.
a) Diese Auffassung ist schon im Ausgangspunkt richtigzustellen. Gewiss bedingt die Ansetzung einer Nachfrist gemäss
BGE 103 II 102 S. 105
Art. 107 Abs. 1 OR
in der Regel, dass die Leistung fällig ist und der Schuldner sich in Verzug befindet. Das hindert den Gläubiger jedoch nicht daran, die Fristansetzung mit der Mahnung zu verbinden. Das versteht sich schon deshalb, weil auch in der Fristansetzung eine Mahnung liegt und der Gläubiger den Schuldner im einen wie im andern Fall zur Erfüllung anhalten will, also den gleichen Zweck verfolgt. Die beiden Rechtsbehelfe können nicht bloss zeitlich zusammenfallen, sondern der Fälligkeit sogar vorausgehen, wenn deren Termin bereits feststeht (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 13 zu
Art. 107 OR
; VON TUHR/ESCHER, OR II S. 137 und 149; GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 228).
Dass der Schuldner durch die Mahnung in Verzug gesetzt wird, und bei Geldforderungen nachher Verzugszins schuldet, sind vom Willen des Gläubigers unabhängige Rechtsfolgen;, sie brauchen vom Gläubiger weder gewollt zu sein noch sich aus seiner Erklärung zu ergeben. Die Mahnung bedarf auch keiner Befristung; sie wird mit ihrem Eintreffen beim Schuldner wirksam, wenn die Leistung bereits fällig ist (VON TUHR/ESCHER, a.a.O. S. 136 und 138). Diese Voraussetzung war hier erfüllt. Gemäss dem Mahnschreiben des Klägers hatte der Beklagte die Erfüllung des Vertrages seit dem 1. Januar 1975 unterbrochen. Seine Verpflichtung, die Apparate während der Öffnungszeiten der Gaststätte dauernd eingeschaltet zu lassen, blieb aber fällig. Die Vorinstanz nimmt denn auch selber an, der Kläger habe den Beklagten mit seiner Aufforderung vom 14. Januar 1975, die Apparate als Einnahmequelle wieder in Betrieb zu setzen, wirksam gemahnt.
Fehl geht das Kantonsgericht dagegen mit der weiteren Erwägung, durch die Mahnung sei der Beklagte erst zwei Tage nach Erhalt des Schreibens in Verzug gesetzt worden. Dafür ist weder dem Wortlaut, noch dem Sinn und Zweck des Schreibens etwas zu entnehmen. Insbesondere ist nicht zu ersehen, welches Interesse oder welchen Anlass der Kläger gehabt haben könnte, die Vertragserfüllung durch den Schuldner selber noch weiter zu verzögern. Er forderte den Beklagten übrigens nicht auf, die Apparate erst nach Ablauf, sondern "innert zwei Tagen" wieder in Betrieb zu nehmen. Sein Schreiben kann nach Treu und Glauben nur dahin verstanden werden, dass er den Schuldner mahnen und ihm gleichzeitig für die gewünschte Vertragserfüllung eine äusserste Nachfrist
BGE 103 II 102 S. 106
von zwei Tagen einräumen wollte. Die Mahnung wurde daher schon wirksam, als der Beklagte sie erhielt.
b) Die Ansetzung der Nachfrist gemäss
Art. 107 Abs. 1 OR
hat für sich allein keine Wirkung. Sie ist bloss Voraussetzung dafür, dass der Gläubiger nach fruchtlosem Ablauf der Frist zwischen den in
Art. 107 Abs. 2 OR
aufgezählten Möglichkeiten wählen darf. Dazu gehört auch, dass er selbst nachher noch auf der Erfüllung des Vertrages beharren und dem Schuldner neuerdings eine Nachfrist im Sinne von
Art. 107 Abs. 1 OR
ansetzen kann. Das gilt sogar für Fälle gemäss
Art. 108 OR
, da der Gläubiger diesfalls wohl berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, von der Ansetzung einer Nachfrist abzusehen (
BGE 76 II 303
E. 1 mit Zitaten).
Anders verhält es sich, wenn die Fristansetzung - was zulässig ist (
BGE 86 II 235
Nr. 37, 50 II 19, 44 II 174 mit Hinweisen) - mit der Erklärung verbunden wird, der Gläubiger werde auf die Erfüllung des Vertrages verzichten und Schadenersatz verlangen, falls der Schuldner die Frist nicht einhalten sollte. Eine solche Erklärung lag hier vor. Der Kläger liess in seinem Mahnschreiben vom 14. Januar 1975 beifügen, dass der Beklagte für die restliche Vertragsdauer Schadenersatz zu leisten habe, wenn er sich weigere, die Apparate innert zwei Tagen wieder in Betrieb zu nehmen. Das konnte nur heissen, dass der Kläger nach fruchtlosem Ablauf der Frist auf die Erfüllung des Vertrages verzichte und Ersatz des Vertragsinteresses verlangen werde.
Fragen kann sich bloss, ob die dem Beklagten angesetzte Frist von zwei Tagen als angemessen im Sinne von
Art. 107 Abs. 1 OR
gelten darf. Das entscheidet sich nicht allgemein, sondern hängt von den Umständen des einzelnen Falles, namentlich von der Art der Leistung und dem Interesse des Gläubigers an der baldigen Erfüllung ab. Je grösser dieses Interesse und je leichter die Leistung zu erbringen ist, um so kürzer darf die Frist bemessen sein, und umgekehrt (VON TUHR/ESCHER, a.a.O. S. 149; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 14 zu
Art. 107 OR
). Danach ist hier die Angemessenheit der Frist ohne weiteres zu bejahen, ging es doch einzig darum, die aufgestellten Apparate wieder einzuschalten. Ist die angesetzte Frist aber nicht zu beanstanden, so hat der Kläger nach deren unbenütztem Ablauf auf die weitere Erfüllung des Vertrages im Sinne von
Art. 107 Abs. 2 OR
verzichtet. Das ergibt sich
BGE 103 II 102 S. 107
aus dem Wortlaut und Zweck seines Schreibens vom 14. Januar 1975, wonach er vom Beklagten für den Fall der Nichterfüllung Schadenersatz verlangen wollte.
2.
Das Kantonsgericht übergeht die vom Bezirksgericht aufgeworfene Frage, ob die vorzeitige Kündigung des Vertrages durch den Beklagten am 29. November 1974 als vom Kläger genehmigt zu betrachten sei, weil dieser längere Zeit geschwiegen habe. Das ist zu verneinen. Der Kläger hat vor dem 14. Januar 1975, wenn nicht mündlich oder schriftlich so jedenfalls in der Weise reagiert, dass er dem Verlangen des Beklagten, die Apparate bis spätestens 31. Dezember 1974 zu entfernen, nicht entsprochen hat; er hat sie erst nach dem fruchtlosen Ablauf der Nachfrist abgeholt. Sein Verhalten kam einer Weigerung gleich, weshalb der Beklagte aus seinem Schweigen nicht in guten Treuen schliessen durfte, die Gegenpartei habe sich mit der Kündigung abgefunden; er durfte dies um so weniger tun, als ihm auch die Unzulässigkeit des eigenen Vorgehens nicht entgehen konnte. Hat er aber den Vertrag gebrochen, so ist er grundsätzlich Schadenersatzpflicht.
Das Urteil des Kantonsgerichts, das die Haftung des Beklagten zu Unrecht verneint hat, ist daher gestützt auf
Art. 64 Abs. 1 OG
aufzuheben und die Sache zur Ermittlung und Berechnung des Schadens an die Vorinstanz zurückzuweisen. | de |
2760f8f8-4a9a-4d83-838d-f1f647ba8631 | Sachverhalt
ab Seite 201
BGE 118 IV 200 S. 201
A.-
W. verkaufte unter anderem einem Dritten Tonopan als Heroin und vermittelte verschiedenen Personen Heroin und Kokain zur Finanzierung seines Eigenkonsums. Das Strafamtsgericht von Bern verurteilte ihn am 19. Oktober 1989 wegen Betrugs, wiederholter und fortgesetzter Widerhandlung gegen
Art. 19a BetmG
sowie weiterer Delikte zu vier Monaten Gefängnis.
B.-
Auf Appellation des Bezirksprokurators des Mittellandes, vom Generalprokurator des Kantons Bern darauf beschränkt, W. sei nicht in Anwendung von Art. 19a, sondern von
Art. 19 Ziff. 2 BetmG
schuldig zu sprechen und entsprechend höher zu bestrafen, verurteilte das Obergericht des Kantons Bern W. am 23. Februar 1990 wegen Betrugs, wiederholter und fortgesetzter Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1 und 2 und
Art. 19a BetmG
sowie weiterer Delikte zu 13 Monaten Gefängnis.
C.-
W. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei hinsichtlich des Schuldspruches wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie der Strafzumessung aufzuheben und die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Weisung, die Drogendelikte unter den privilegierten Tatbestand des
Art. 19a BetmG
zu subsumieren.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz stellt fest, dass der Beschwerdeführer in der Zeit von April bis Juli 1988 36 Gramm und von April bis Juli 1989 27 Gramm, insgesamt also 63 Gramm Heroin und von August 1988 bis Juni 1989 10 Gramm Kokain zum Zwecke des Eigenkonsums vermittelt hat. Er habe aufgrund einer zumindest konkludenten
BGE 118 IV 200 S. 202
Vereinbarung mit den Dealern jeweils für die Vermittlung von drei Lappen-Briefchen als Vermittlerlohn ein Lappen-Briefchen erhalten; er habe jeweils die Dealer angefragt und für verschiedene Personen vermittelt; er habe Kaufinteressenten zum Dealer gebracht; wenn mehr gekauft wurde, habe er auch eine grössere Provision erhalten.
2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Tätigkeit sei nicht als "vermitteln" im Sinne von
Art. 19 Ziff. 1 Abs. 4 BetmG
, sondern als straflose (weil nicht "öffentliche" im Sinne von Abs. 8) Bekanntgabe von Gelegenheiten zum Drogenerwerb zu qualifizieren.
Dieser Einwand ist unbegründet. Wer, wie der Beschwerdeführer, den Kontakt zwischen Dealer und Kaufinteressenten herstellt, der erfüllt den Tatbestand der Vermittlung. In diesem Verhalten liegt mehr als das blosse Auffordern zum Betäubungsmittelkonsum oder die Bekanntgabe der Gelegenheit zum Erwerb von Betäubungsmitteln. Auch die vom Beschwerdeführer getroffene Vereinbarung betreffend seinen Provisionsanteil ist nicht typisch für das Aufforderungsdelikt gemäss Abs. 8, sondern ist ein weiteres Indiz für das Vermitteln im Sinne von Abs. 4. Im übrigen liegt in der Tätigkeit des Beschwerdeführers zumindest eine Teilnahme am In-Verkehr-Bringen von Betäubungsmitteln, was als weiteres Argument dafür spricht, sein Verhalten unter Abs. 4 zu subsumieren.
3.
a) Die vorsätzliche Vermittlung von Betäubungsmitteln ist nach
Art. 19 Ziff. 1 BetmG
mit Gefängnis oder Busse zu bestrafen, in schweren Fällen mit Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter einem Jahr, womit eine Busse bis zu einer Million Franken verbunden werden kann. Demgegenüber sieht der privilegierte Tatbestand von
Art. 19a Ziff. 1 BetmG
eine Strafdrohung von Haft oder Busse bis Fr. 5'000.-- vor für die vorsätzliche Konsumation von Betäubungsmitteln sowie für die Begehung einer Widerhandlung im Sinne von Art. 19 "zum eigenen Konsum".
Die Vorinstanz will den privilegierten Tatbestand nur auf solche Beschaffungshandlungen anwenden, die ausschliesslich dem eigenen Konsum dienen, nicht aber auf die Vermittlung von Drogenkäufern an Dealer. Nach Ansicht des Beschwerdeführers sind demgegenüber alle in
Art. 19 BetmG
aufgezählten Handlungen, also auch der Drogenverkauf und die Drogenvermittlung, ausschliesslich nach
Art. 19a BetmG
zu ahnden, sofern sie den eigenen Konsum ermöglichen sollen.
b) Das Bundesgericht hat angenommen, nur ausschliesslich für den Eigenkonsum bestimmte Vorbereitungshandlungen würden
BGE 118 IV 200 S. 203
unter den privilegierten Tatbestand fallen (
BGE 108 IV 196
; vgl. bereits BGE
BGE 102 IV 196
f.). Die Anwendung des privilegierten Tatbestandes kommt deshalb nicht in Betracht, sobald die Verstösse gegen
Art. 19 BetmG
zum Konsum von Dritten führen müssen oder einen solchen Konsum neben dem Eigenverbrauch gestatten sollen.
c) Massgebende Richtlinie bei der Auslegung des privilegierten Tatbestandes ist in der Lehre und Rechtsprechung die Gefährdung Dritter. Dementsprechend wird überwiegend hervorgehoben, dass
Art. 19a Ziff. 1 BetmG
blosse Beschaffungshandlungen, diese aber umfassend privilegiere, während Weitergabehandlungen nach
Art. 19 BetmG
zu bestrafen seien. Danach seien nur jene Widerhandlungen im Sinne von
Art. 19 BetmG
, die mit eigenem Konsum überhaupt vereinbar sind (Herstellen, Ausziehen, Umwandeln, Verarbeiten, Lagern, Ein-, Aus-, Durchführen, Befördern, Besitzen, Aufbewahren, Kaufen, Erlangen) als blosse Übertretungen anzusehen (vgl. GÜNTER HEINE, in JÜRGEN MEYER (Hrsg.): Betäubungsmittelstrafrecht in Westeuropa, Freiburg i.Br. 1987 S. 580 f. mit Hinweisen).
Allerdings ist nicht zu übersehen, dass diese Auffassung zu Konsequenzen führt, die der Gesetzgeber von 1975 offenbar nicht vorausgesehen hat (vgl. HEINE, a.a.O., S. 581; GUIDO JENNY, Strafrecht in der Drogenpolitik: Eine kritische Bilanz, in: BÖKER/NELLES (Hrsg.): Drogenpolitik wohin? Bern 1991, S. 171): Bei Drogenabhängigen, die ihren Konsum auch durch Drogenhandel finanzieren, was bei einem Grossteil der Betroffenen der Fall sein dürfte, kann der privilegierte Tatbestand kaum angewendet werden. Hinzu kommt, dass je länger ein Drogenabhängiger seinen Konsum aus dem Drogenhandel finanziert und je grösser dementsprechend die Menge der in Verkehr gebrachten Betäubungsmittel ist, desto eher der qualifizierte Tatbestand (Art. 19 Ziff. 2) anzuwenden ist, jedenfalls dann, wenn man der Auslegung von Ziff. 2 die Summe der insgesamt gehandelten Menge zugrunde legt, weshalb die restriktive Auslegung des privilegierten Tatbestandes auch kritisiert wird (vgl. ALBRECHT, Die strafrechtliche Beurteilung von Drogenkonsumenten, BJM 1983 S. 217 ff.).
d) Der Kritik ist insoweit beizupflichten, als die strikte Beschränkung des privilegierten Tatbestandes auf ausschliesslich für den Eigenkonsum bestimmte Vorbereitungshandlungen es praktisch verunmöglicht, den privilegierten Tatbestand auf den süchtigen Konsumenten anzuwenden, dem es einzig um die Beschaffung des für ihn selbst benötigten Stoffes geht, der jedoch aufgrund der Realitäten
BGE 118 IV 200 S. 204
praktisch gezwungen ist, weitergehende Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz vorzunehmen. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass bei einer Anwendung des privilegierten Tatbestandes auf sämtliche Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, die mit dem Endziel des Eigenkonsums erfolgen, der Kleinhandel in einem Ausmass privilegiert würde, das mit der ratio von
Art. 19 ff. StGB
nicht zu vereinbaren ist.
Grundsätzlich schaffen auch alle Widerhandlungen gegen
Art. 19 BetmG
, die allein zum Zwecke des Eigenkonsums begangen werden, eine abstrakte Gefahr für die geistige und körperliche Integrität und Gesundheit der Bevölkerung. Würde bereits diese eine Privilegierung nach
Art. 19a BetmG
ausschliessen, bliebe kein Raum für die Anwendung dieser Bestimmung. Der Umstand, dass Handlungen zum ausschliesslichen Zwecke des Eigenkonsums aber nicht die gleich hohe Gefährdung für Dritte bedeuten, rechtfertigt deren Privilegierung durch den Gesetzgeber. Wie der Eigenverbrauch der Drogen deren Weitergabe ausschliesst, schliesst aber auch umgekehrt die Weitergabe den Eigenverbrauch aus. Jenem, der - sei es auch nur zur Befriedigung des eigenen Bedarfs - Handel treibt, d.h. Drogen verkauft oder vermittelt und somit Dritten bzw. potentiellen Konsumenten zugänglich macht (vgl.
BGE 117 IV 60
/1 E. 2a), kann der privilegierte Tatbestand von
Art. 19a BetmG
nicht zugute kommen. Das gleiche muss gelten, wenn durch Widerhandlungen gegen
Art. 19 BetmG
zum Zwecke des eigenen Konsums eine entsprechende konkrete - und damit eindeutig eine grössere als die in
Art. 19 BetmG
gesetzlich vermutete - Gefahr des Zugänglichwerdens von Drogen für Dritte (z.B. durch entsprechendes Lagern) geschaffen wird.
Überdies hat der Richter, wie das Bundesgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung verschiedentlich festgestellt hat, bei der Auslegung von Straftatbeständen auch der angedrohten Sanktion Rechnung zu tragen (
BGE 116 IV 315
E. aa). Wer in einem Ausmass wie der Beschwerdeführer sich auf Provisionsbasis an der Weiterverteilung von harten Drogen beteiligt hat, hat Leben und Gesundheit seiner Mitmenschen in einem Ausmass gefährdet, das mit der Übertretungsstrafdrohung von
Art. 19a Ziff. 1 BetmG
nicht abgegolten ist.
Zusammenfassend ergibt sich somit, dass
Art. 19a BetmG
nur jene Beschaffungshandlungen erfasst, die ausschliesslich dem eigenen Drogenkonsum dienen, und dass ein Drogenkonsument nach
Art. 19 BetmG
zu bestrafen ist, sofern und soweit seine Beschaffungshandlungen
BGE 118 IV 200 S. 205
für den Eigenkonsum tatsächlich auch zum Drogenkonsum Dritter führen oder im Sinne einer konkreten Gefahr dazu führen können. Ob davon eine Ausnahme zu machen ist, wenn die Weitergabe an Dritte nur ein unbedeutendes Nebendelikt darstellt, kann offenbleiben, da die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Handlungen offensichtlich mehr als ein blosses Nebendelikt sind.
e) Dem Beschwerdeführer kann darin beigepflichtet werden, dass dem drogenabhängigen Konsumenten nach heutiger Anschauung therapeutische und fürsorgerische Alternativen angeboten werden sollen (vgl. dazu ALBRECHT, BJM 1983 S. 222 unten). Er übersieht aber, dass dies mit der rechtlichen Qualifikation der Tat nichts zu tun hat. Auch wenn der Drogenkonsument nach
Art. 19 BetmG
verurteilt wird, hat der Richter die Möglichkeit, den Strafvollzug aufzuschieben und eine ambulante oder stationäre Massnahme anzuordnen (
Art. 44 Ziff. 1 StGB
), womit dem Resozialisierungsgedanken Rechnung getragen ist. Diese Möglichkeit stand im übrigen dem Beschwerdeführer offen, doch war er nicht bereit, eine Massnahme anzutreten. Den Akten ist sodann zu entnehmen, dass er von Dezember 1988 bis April 1989 schon einmal in einer Methadonbehandlung stand, die nach dem Arztbericht indessen "gänzlich erfolglos" verlief und abgebrochen werden musste, weil er während der Behandlung Kokain zu sich nahm und sich den ärztlichen Kontrollen entzog. Nach dem Arztbericht vom 26. Juli 1989 kann nur eine Internierung den Beschwerdeführer zum Entzug bringen. Der Beschwerdeführer hat also von den ihm gebotenen therapeutischen und fürsorgerischen Massnahmen zuerst keinen nützlichen und im vorliegenden Verfahren überhaupt keinen Gebrauch gemacht, so dass er sich nicht darüber beklagen kann, dass ihm keine derartigen Möglichkeiten geboten worden seien.
f) Die Widerhandlung gegen
Art. 19 Ziff. 1 Abs. 1-6 BetmG
ist als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet (
BGE 117 IV 60
E. 2). Unter diesem Gesichtspunkt sind die weiteren Einwände des Beschwerdeführers unbehelflich. So kommt es für die Anwendung dieses Tatbestandes nicht darauf an, ob durch die Tathandlung, hier das Vermitteln, neue Abnehmerkreise von (noch) nicht süchtigen Personen erschlossen werden oder ob die vermittelten Abnehmer bereits Süchtige sind. Ebensowenig kann eine Rolle spielen, ob der Täter die Betäubungsmittel nur einem Abnehmer, ganz wenigen oder vielen Personen geliefert habe (dazu
BGE 111 IV 31
). Unerheblich für die Subsumtion ist sodann auch, ob der Täter die für den eigenen Konsum benötigten Drogen durch
BGE 118 IV 200 S. 206
Verkauf oder Vermittlung erwirtschaftet. Das gleiche gilt schliesslich für das vom Beschwerdeführer angeführte Argument, dass die von ihm vermittelten Interessenten auch ohne seine Vermittlertätigkeit die von ihnen gewünschten Drogen erworben hätten, und dass umgekehrt die Dealer ihren Stoff auch ohne seine Tätigkeit abgesetzt hätten. | de |
4e9cc305-fc88-439d-8f08-318673f70ab7 | Sachverhalt
ab Seite 520
BGE 81 II 520 S. 520
A.-
Mit Vertrag vom 22. Mai 1948 vereinbarten B. und T. K. Wagner "gemeinsam mit ... neuzeitlichen technischen Hilfsmitteln für den Haushalt Handel zu treiben". Der Geschäftsbetrieb sollte der von Wagner im Handelsregister einzutragenden Einzelfirma "Vestalina Haushaltneuheiten T. K. Wagner, Zürich", obliegen. B. gewährte der Vestalina als Betriebskapital ein zu 5% verzinsliches Darlehen von Fr. 30'000.-- durch Eröffnung eines Kontokorrents bei einer Bank, über den ihm das alleinige Verfügungsrecht vorbehalten wurde. Wagner hatte den Verkauf zu organisieren. B. sollte den Geldverkehr besorgen und die Buchhaltung überwachen. Am Reingewinn sowie (gemäss einer späteren Vereinbarung vom 26. November 1949) auch am Verlust sollten die beiden Vertragspartner je hälftig beteiligt sein.
Am 26. August 1949 gewährte die Theodora SA,
BGE 81 II 520 S. 521
Tanger, vertreten durch C., der Vestalina ein Darlehen von Fr. 60'000.--. Die Laufzeit des Darlehens wurde auf 6 Monate festgesetzt; der Zins zum Satz von 5% pro Jahr war zum voraus zahlbar. Im Schlussabsatz des Vertrages wurde unter dem Titel "Garantie" vereinbart:
"En plus de M. T. K. Wagner, Zurich, les soussignés Mlle M. et M. B. se portent garants des obligations découlant, pour la Maison Vestalina, du présent contrat."
Dieser Vertrag wurde auf der Seite der Darlehensschuldnerin wie folgt unterzeichnet:
"Vestalina T. K. Wagner,
Nouveautés de ménage,
Zurich
Wagner
M. ....
B. ...."
Bei Frl. M. handelte es sich um eine Angestellte der Vestalina, der in der Folge Einzelprokura für die Firma erteilt wurde.
Mit einer auf der Vertragsurkunde angebrachten Quittung bestätigten die Vestalina den Empfang der Darlehenssumme und die Theorora SA die Bezahlung des Zinsbetrages von Fr. 1500.--. Diese Quittung wurde auf Seiten der Darlehensnehmerin wie folgt unterzeichnet:
"Vestalina et garants:
Wagner
M. ....
B. ...."
Gemäss einem ebenfalls am 26. August 1949 zwischen C. und der Vestalina abgeschlossenen "Accord confidentiel" wurde "en complément strictement privé" zum Darlehensvertrag vereinbart, dass die Vestalina an C. den Betrag von Fr. 2500.-- bezahle "en contrepartie des services rendus, ainsi que pour tenir compte des conditions particulières des contractants, montant comprenant un complément d'intérêt et couvrant tous les frais, courtages, différences de cours, commissions, etc., inhérents au prêt consenti". Diese Zusatzvereinbarung wurde auf
BGE 81 II 520 S. 522
Seiten der Vestalina ebenfalls unterzeichnet durch Wagner, M. und B.
Drei weitere Darlehensverträge über Fr. 50'000.--, Fr. 20'000.-- und Fr. 50'000.-- wurden zwischen der Theodora SA und der Vestalina am 13. September 1949, 5. Mai 1950 und 1. Februar 1951 abgeschlossen. Die Bestimmungen über Laufzeit, Zins und Garantie entsprachen genau denjenigen des Vertrages vom 26. August 1949, und die Verträge und Quittungen wurden auf Seiten der Vestalina in gleicher Weise wie bei jenem unterzeichnet. Zu jedem dieser drei weiteren Darlehensverträge wurde sodann auch ein entsprechender Zusatzvertrag zwischen C. und der Vestalina abgeschlossen. Die darin vorgesehenen, in festen Frankenbeträgen ausgedrückten Leistungen der Vestalina an C. machten jeweils auf ein Jahr umgerechnet 0% der Darlehenssumme aus.
Die vier Darlehensverträge wurden in der Folge wiederholt verlängert, wobei jeweils gleichzeitig entsprechende Zusatzvereinbarungen zwischen C. und der Vestalina getroffen wurden. Alle diese Verlängerungs- und Zusatzvereinbarungen wurden auf Seiten der Vestalina von Wagner, M. und B. unterzeichnet.
Am 26. September 1952 fiel die Firma Vestalina T. K. Wagner in Konkurs. In diesem kam die Theodora SA mit ihrer Darlehensforderung sowie einer Zinsforderung von Fr. 8364.20 zur Verlust.
B.-
Mit Klage vom 24. September 1953 forderte die Theodora SA von B. die Bezahlung von Fr. 188'586.30 nebst 14% Zins von Fr. 180'000.-- ab 1. Oktober 1952. Zur Begründung machte sie im Wesentlichen geltend, bei der Firma Vestalina habe es sich um eine einfache Gesellschaft gehandelt, deren Teilhaber B. gewesen sei; als solcher hafte er gemäss
Art. 544 Abs. 3 OR
solidarisch neben Wagner für die von der Vestalina aufgenommenen Darlehen.
Der Beklagte bestritt seine Zahlungspflicht, da er gegenüber der Klägerin nicht als Gesellschafter der Vestalina
BGE 81 II 520 S. 523
aufgetreten sei. Die von ihm eingegangene Garantieverpflichtung stelle vielmehr höchstens eine Bürgschaft dar, die jedoch wegen Nichteinhaltung der gesetzlichen Formvorschriften ungültig sei.
C.-
Das Bezirksgericht Zürich und das Obergericht Zürich verpflichteten den Beklagten in Gutheissung der Klage zur Bezahlung von Fr. 188'586.30 nebst 14% Zins von Fr. 180'000.-- seit 1. Oktober 1952.
Das Bezirksgericht nahm an, der Beklagte hafte als Teilhaber der zwischen ihm und Wagner bestehenden einfachen Gesellschaft für die Darlehensforderung der Klägerin gegenüber der Vestalina.
Das Obergericht nahm zu dieser Frage nicht Stellung. Es erblickte in der Unterzeichnung des Darlehensvertrages mit der darin enthaltenen Garantieklausel durch den Beklagten einen auf Begründung einer Solidarschuld neben Wagner gerichteten Schuldbeitritt des Beklagten.
D.-
Gegen das Urteil des Obergerichts Zürich, II. Zivilkammer, vom 8. März 1955 erklärte der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht mit den folgenden Begehren:
1. Abweisung der Klage;
2. Eventuell Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Ergänzung des Beweisverfahrens;
3. Subeventuell Schutz der Klage nur für die Hälfte der eingeklagten Forderung und Abweisung der Zinsforderung der Klägerin ab 1. Oktober 1952, soweit diese 5% übersteigt.
Die Klägerin beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
2.
Das erstinstanzliche Urteil hat die Haftung des Beklagten in seiner Eigenschaft als einfacher Gesellschafter bejaht. Der Beklagte erblickt hierin eine unrichtige Anwendung des Bundeszivilrechts.
BGE 81 II 520 S. 524
Angesichts des Vertrages vom 22. Mai 1948 steht ausser Zweifel, dass der Beklagte und Wagner sich zu einer einfachen Gesellschaft zusammengeschlossen haben, und zwar zu einer stillen Gesellschaft, in welcher der Beklagte die Rolle des stillen Teilhabers innehatte. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz wusste C., der beim Abschluss der streitigen Darlehensverträge als Stellvertreter der Klägerin handelte, um diese stille Beteiligung in allen Einzelheiten. Er wusste insbesondere auch, dass der Beklagte nach aussen auf keinen Fall als Gesellschafter erscheinen oder beteiligt sein wollte, weil es ihm als Prokurist der Firma S. untersagt war, ein eigenes Geschäft zu betreiben oder sich an einem Geschäft zu beteiligen. Bei dieser Sachlage können C. und die durch ihn vertretene Klägerin nicht geltend machen, dass der Beklagte Dritten gegenüber und insbesondere ihnen gegenüber in Tat und Wahrheit als Gesellschafter aufgetreten sei und schon aus diesem Grunde für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft hafte. Diese Annahme verbietet sich, weil C. eben wusste, wie das Verhältnis zwischen Wagner und dem Beklagten rechtlich gestaltet und gemeint war. Er war sich dessen bewusst, dass er es mit der Einzelfirma Wagners zu tun habe, an der - lediglich im Innenverhältnis - der Beklagte als stiller Teilhaber und gewisse andere Leute als Geldgeber beteiligt waren. Es war ihm somit bekannt, dass der Beklagte nach aussen nicht als Gesellschafter auftreten wollte, dass der Gesellschaftsvertrag zwischen dem Beklagten und Wagner ein "Geheimvertrag" war, wie er in der Einvernahme vor 1. Instanz selber erklärte. Unter diesen Umständen konnte er daher in guten Treuen aus der Teilnahme des Beklagten an den Verhandlungen über die Gewährung des Darlehens und aus der Mitunterzeichnung der Darlehensverträge nicht den Schluss auf das Vorliegen eines offenen Gesellschaftsverhältnisses zwischen dem Beklagten und Wagner ziehen, den ein nichteingeweihter gutgläubiger Dritter allenfalls hätte ziehen dürfen. Denn weiss der Dritte mit Bestimmtheit
BGE 81 II 520 S. 525
um das Vorliegen einer stillen Gesellschaft und wer stiller Teilhaber ist, und ist ihm überdies bekannt, dass bei dem in Frage stehenden Geschäft der stille Teilhaber nicht aus seiner Rolle treten will, so kann dieser grundsätzlich nicht als Gesellschafter behandelt und als solcher haftbar gemacht werden.
Es ist deshalb unrichtig, wenn im Urteil der 1. Instanz gesagt wird, der Beklagte sei bereit gewesen, bei den streitigen Darlehensgeschäften als Gesellschafter mitzuwirken und habe eine Solidarhaftung dadurch anerkannt, dass er zusammen mit Wagner die Darlehensverpflichtungen als Gesellschafter einging. Eine Haftung des Beklagten aus Gesellschaftsrecht ist vielmehr zu verneinen.
3.
Das Obergericht hat in der Unterzeichnung der Darlehensverträge durch den Beklagten einen Schuldbeitritt erblickt. Der Beklagte wendet sich in der Berufung gegen diese Auffassung und hält daran fest, dass er höchstenfalls eine ungültige Bürgschaftserklärung unterzeichnet habe.
a) Bei der Abgrenzung zwischen Bürgschaft und Schuldübernahme ist an Hand der gesamten Umstände der beim Vertragsschluss massgebende wirtschaftliche und rechtliche Zweck zu ermitteln. Alsdann ist darauf abzustellen, welches der beiden Geschäfte diesem Zwecke besser gerecht wird. Kann weder aus dem Wortlaut, noch aus dem Zweck und den gesamten Umständen ein sicherer Schluss gezogen werden, so ist, vorab zur Verwirklichung des vom Bürgschaftsrecht angestrebten Schutzes des Verpflichteten, eher für Bürgschaft zu entscheiden (
BGE 66 II 28
f.).
(b) Ausführungen darüber, dass aus dem Wortlaut der Verpflichtung nichts für die Auffassung des Beklagten zu gewinnen ist, wonach er höchstenfalls eine Bürgschaftserklärung unterzeichnet habe.)
c) Da der Wortlaut keinen sicheren Schluss auf die Art der gewollten und erklärten Garantie gestattet, ist die Rechtsnatur der Verpflichtung des Beklagten auf
BGE 81 II 520 S. 526
Grund des Zweckes des Geschäftes zu bestimmen. Welche Umstände in dieser Hinsicht gegeben sind, hat der kantonale Richter verbindlich festgestellt; welche rechtliche Bedeutung diesen Umständen zukommt, ist vom Bundesgericht frei zu überprüfen. ..
d) Bei der Ermittlung des wirtschaftlichen und rechtlichen Zwecks des Geschäftes, der für die Rechtsnatur der übernommenen "Garantie" massgebend ist, fallen vorab zwei durch die Vorinstanz verbindlich festgestellte Tatsachen in Betracht: Einmal der Umstand, dass der Beklagte dem Vertreter der Klägerin, C., bekannt war, der Firmainhaber Wagner dagegen nicht; überdies wussten sowohl C. wie der Beklagte, dass Wagner nicht über eigene Mittel verfügte und auch keine solchen in das Geschäft gesteckt hatte. Hieraus hat die Vorinstanz geschlossen, die Klägerin habe eine von der Schuld Wagners unabhängige Verpfiichtung des Beklagten gewollt. Im weiteren steht fest, dass der Beklagte seine Garantieverpflichtung nicht wegen irgendwelcher persönlicher Beziehungen zu Wagner, C. oder der Klägerin einging, sondern um der Vestalina willen, an der er infolge seiner Gewinn- und Verlustbeteiligung interessiert war. Er hoffte, dass die Vestalina sich dank den ihr von der Klägerin zur Verfügung gestellten Geldmitteln weiterentwickle; er war also nach seiner eigenen Aussage in der persönlichen Befragung an der Gewährung des Darlehens interessiert.
Aus diesen für das Bundesgericht festgestellten Tatsachen hat die Vorinstanz in rechtlicher Hinsicht gefolgert, es sei nicht Bürgschaft, sondern Solidarschuld gewollt gewesen.
Das eigene und unmittelbare Interesse des Eintretenden an der Erfüllung der Verpflichtung gestattet nun zwar für sich allein nicht schon den Schluss auf Solidarschuld und gegen Bürgschaft. Ein solches Interesse ist für das Vorliegen eines Schuldbeitritts oder einer sonstigen Form der selbständigen Solidarverpflichtung weder erforderlich, noch kann es allein massgebend sein (
BGE 42 II 264
); denn
BGE 81 II 520 S. 527
irgend ein eigenes Interesse des Eintretenden wirtschaftlicher oder persönlicher Art ist bei allen Erscheinungsformen der Mitverpflichtung, und damit auch bei der Bürgschaft, in der Regel vorhanden. Immerhin bildet ein ausgeprägt im Vordergrund stehendes Interesse dieser Art ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer selbständigen Verpflichtung. Im vorliegenden Falle wird sein Gewicht noch dadurch erhöht, dass der Beklagte stiller Gesellschafter Wagners war und dass der Vertreter der Klägerin hierüber gemäss verbindlicher Feststellung der Vorinstanz von Anfang an Bescheid wusste. Bei dieser Sachlage musste es beiden Parteien als geradezu selbstverständlich erscheinen, dass der Beklagte rechtlich gleichwertig wie ein Gesellschafter, also solidarisch, einzustehen habe. Mit Rücksicht auf diese Besonderheit des vorliegenden Falles geht der Hinweis der Berufungsschrift auf die Rechtsprechung (
BGE 37 II 183
,
BGE 39 II 774
,
BGE 66 II 28
) fehl; denn alle die genannten Fälle, in denen zu Gunsten der Bürgschaft entschieden wurde, weisen dieses besondere und in die Augen springende Tatbestandsmerkmal gerade nicht auf.
Angesichts der gegebenen Umstände erheischten der rechtliche wie der wirtschaftliche Zweck des in Frage stehenden Sicherungsgeschäftes eine vollwertige, von der Verpflichtung Wagners unabhängige Art der Sicherung seitens des Beklagten. Eine Bürgschaft wäre diesem Zweck aber nicht gerecht geworden und ist daher auszuschliessen. ..
f) Scheidet nach den gesamten Umständen somit Bürgschaft mit Sicherheit aus, so kann sich der Beklagte nicht auf die eingangs erwähnte Regel berufen, dass dort, wo weder der Wortlaut noch die Umstände einen sicheren Schluss auf die Rechtsnatur der Verpflichtung gestatten, eher Bürgschaft anzunehmen ist, um nicht den vom Gesetz angestrebten Schutzzweck zu vereiteln.
4.
Ist nach dem Gesagten die Verpflichtung des Beklagten keine Bürgschaft, so kann sie nur Garantievertrag oder Solidarschuld sein, letzteres entweder als
BGE 81 II 520 S. 528
gleichzeitig mit der Verpflichtung Wagners begründete Solidarverpflichtung oder als unmittelbar hernach erfolgter Schuldbeitritt. Der Wortlaut der Verpflichtungserklärung ist mit dem einen oder andern vereinbar.
Die Vorinstanzen haben das Vorliegen eines Garantievertrages abgelehnt, weil der Beklagte einen solchen nicht behauptet habe. Darauf kommt indessen nichts an, weil der Richter das Recht von Amtes wegen anzuwenden hat. Aus dem gleichen Grunde geht auch die Auffassung des Beklagten fehl, eine Solidarschuld falle ausser Betracht, weil die Klägerin nach den Ausführungen ihres Vertreters vor Obergericht in der Unterzeichnung der streitigen Klausel durch den Beklagten nie einen Schuldbeitritt erblickt habe.
Ob Garantievertrag oder Solidarschuld anzunehmen sei, kann offen gelassen werden, da das Ergebnis dasselbe ist, nämlich eine selbständige Verpflichtung des Beklagten auf Befriedigung der Klägerin für ihre Darlehensforderung gegenüber Wagner.
Aus Wortlaut, Sinn und Zweck seiner Verpflichtung folgt sodann, dass er für die ganze Schuld haftet, nicht nur für die Hälfte, wie er zu Unrecht in der Berufung erneut geltend macht. ..
5.
a) Die Vorinstanzen haben der Klägerin 14% Zins der Darlehenssumme von Fr. 180'000.-- ab 1. Oktober 1952 zugesprochen mit der Begründung, der Beklagte habe vor der 1. Instanz diesen Zinssatz anerkannt, so dass er als unbestritten zu betrachten sei.
Mit der Berufung bestreitet der Beklagte, eine Rechtspflicht zur Bezahlung von 14% Zins anerkannt zu haben und beantragt Abweisung der Zinsforderung, soweit diese 5% ab 1. Oktober 1952 übersteigt.
b) Die Klägerin vertritt den Standpunkt, die Feststellung der Vorinstanz, dass der Beklagte die Zinsforderung anerkannt habe, sei für das Bundesgericht verbindlich, weshalb eine Überprüfung des Urteils in diesem Punkte ausgeschlossen sei.
BGE 81 II 520 S. 529
Diese Auffassung ist unrichtig. Vom Bundesgericht nicht überprüfbar, weil vom kantonalen Prozessrecht beherrscht, ist wohl die Auslegung von Prozesserklärungen der Parteien, deren Wirkungen sich ausschliesslich oder vorwiegend auf das Gebiet des Prozessrechts beschränken. So ist das Bundesgericht gebunden durch die Feststellung des kantonalen Richters, dass eine im Prozess von einer Partei abgegebene Erklärung als Anerkennung einer gegnerischen Tatsachenbehauptung aufzufassen sei oder den Verzicht auf ein bestimmtes Beweismittel in sich schliesse. Solche Erklärungen stellen blosse Prozesshandlungen dar, die unmittelbar überhaupt keine zivilrechtliche Wirkung erzeugen. Für das Bundesgericht verbindlich ist sodann auch die Schlussfolgerung des kantonalen Richters, ein eingeklagter Anspruch sei als anerkannt zu betrachten, weil es an einer rechtzeitigen, in den vom Prozessrecht vorgeschriebenen Formen erfolgten Bestreitung des Beklagten fehle. Denn auch in einem solchen Falle beruht die Feststellung des aus dem Verhalten der Partei gefolgerten Willens in erster Linie, also vorwiegend, auf der Anwendung prozessualer Vorschriften; die privatrechtliche Wirkung des Anerkenntnisses ist lediglich die Folge eines fehlerhaften prozessualen Verhaltens der Partei.
Wo dagegen die Vorinstanz, wie im vorliegenden Falle, die Anerkennung einer privatrechtlichen Schuldpflicht auf Grund blosser Auslegung einer im Laufe des Prozesses vom Beklagten abgegebenen Erklärung angenommen hat, ohne sich dabei auf eine Vorschrift des kantonalen Prozessrechts zu stützen, hat das Bundesgericht freie Hand bei der Prüfung der Frage, ob in der Erklärung des Beklagten wirklich eine privatrechtliche Schuldanerkennung liege. Denn obwohl diese Erklärung, weil sie im Laufe des Prozesses abgegeben wurde, in die äussere Form einer Prozesshandlung gekleidet ist, hat man es dabei doch mit einer materiellrechtlichen Willenserklärung zu tun, deren Tragweite vom Bundesgericht in gleicher Weise überprüfbar ist wie bei einer ausserhalb eines Prozesses abgegebenen
BGE 81 II 520 S. 530
Erklärung dieser Art. Die rechtliche Natur einer solchen kann sich nicht dadurch ändern, dass sie zufällig im Rahmen eines Prozesses erfolgt ist. Sie bleibt privatrechtliche Willenserklärung und ist insoweit von den Grundsätzen des Privatrechts beherrscht (vgl. hiezu Weiss, Berufung, S. 231 Nr. 17; Guldener, Das schweizerische Zivilprozessrecht I S. 172 f.).
Mit dieser Auffassung steht auch die Rechtsprechung im Einklang. So wurde schon imBGE 32 II 704entschieden, die Annahme des kantonalen Richters, der Beklagte habe anerkannt, dass seine sämtlichen vom Kläger nicht bestrittenen Forderungen durch Verrechnung mit der Forderung des Klägers getilgt seien, beruhe nicht auf der Anwendung von Grundsätzen des Prozessrechts, sondern auf der Auslegung der Erklärungen und Behauptungen des Beklagten nach allgemeinen, materiellrechtlichen Auslegungsregeln. Von dieser Betrachtungsweise wollte auch der EntscheidBGE 69 II 371trotz seiner nicht ganz eindeutigen Formulierung nicht abweichen; denn dort wurde die Nichtüberprüfbarkeit einer von der Vorinstanz vorgenommenen Auslegung einer im Prozess abgegebenen Parteierklärung damit begründet, dass es sich dabei um ein prozessuales Anerkenntnis ohne zivilrechtliche Wirkungen handle. Daraus erhellt, dass das Gericht anders entschieden hätte, wenn es der Auffassung gewesen wäre, es liege ein prozessuales Anerkenntnis vor, das auch zivilrechtliche Wirkungen entfalte. Ob es sich im erwähnten Falle wirklich um ein Anerkenntnis ohne zivilrechtliche Wirkungen gehandelt habe, ist für die hier allein interessierende Frage der Überprüfbarkeit prozessualer Erklärungen belanglos und kann dahingestellt bleiben.
c) Nach dem Gesagten ist somit das Bundesgericht zur Prüfung der Frage befugt, ob der Beklagte für den Fall der grundsätzlichen Gutheissung der Klage den geforderten Zinssatz von 14% anerkannt habe, wie die Vorinstanz angenommen hat.
Die Äusserung des Beklagten, die von den Vorinstanzen
BGE 81 II 520 S. 531
als Anerkennung aufgefasst worden ist, lautet folgendermassen:
"Richtig ist, dass auf den Fr. 180'000.-- bis zum Konkursausbruch Fr. 8586.30 an Zinsen ausstehend waren. Der Zinsfuss von 14% stimmt auch, das geht aus den Verträgen hervor."
Diese Erklärung gab der Beklagte im folgenden Zusammenhang ab: Wagner hatte als Zeuge ausgesagt, er sei bei den Darlehensverhandlungen nicht dabei gewesen und kenne keinerlei Einzelheiten, ja nicht einmal den Gesamtdarlehensbetrag; er wisse, das C. Geld in die Firma gegeben habe, ob es Fr. 180'000.-- gewesen seien, könne er nicht mehr sagen. Hier warf der Beklagte ein, es sei richtig, dass C. Fr. 180'000.-- gegeben habe; das Kapital sei nicht zurückbezahlt worden, nur die Zinsen. Dazu bemerkte der Vertreter der Klägerin, es seien auch noch rund Fr. 8000.-- Zinsen ausstehend. Im Anschluss hieran erfolgte dann die oben erwähnte Erklärung des Beklagten.
Angesichts der Umstände, unter denen der Beklagte seine Erklärung abgab, kann nun keine Rede davon sein, dass er damit eine Schuldpflicht zur Bezahlung von 14% Zinsen anerkannt habe, die er in der Klageantwort ausdrücklich in Abrede gestellt hatte, soweit die Zinsforderung 5% übersteigt, unter Angabe der Gründe, aus denen er dies tat. Was er anerkannte, war lediglich die Tatsache, dass sich aus den Verträgen (nämlich den Darlehens- und den zusätzlichen Geheimverträgen) eine Gesamtentschädigung von 14% ergebe. Diese Anerkennung hatte deshalb ihren guten Sinn, weil nur in den Darlehensverträgen ein Zinssatz von 5% ausdrücklich genannt war, während in den Zusatzverträgen die von der Vestalina an C. zu leistende Entschädigung in festen Frankenbeträgen ausgedrückt wurde. Angesichts dieses Sachverhaltes bedeutete die Erklärung des Beklagten offensichtlich nichts weiter als dass die Umrechnung dieser festen Beträge zusammen mit dem in den Darlehensverträgen festgesetzten Zins von 5% eine Gesamtentschädigung von 14% ausmache.
d) Hat danach der Beklagte entgegen der Meinung der
BGE 81 II 520 S. 532
Vorinstanz einen Zinssatz von 14% nicht anerkannt, so ist weiter zu prüfen, ob ein den anerkannten Satz von 5% übersteigender Zinsbetrag geschuldet sei. Diese Frage ist zu verneinen. Im Gegensatz zu den Darlehensverträgen war in den Geheimverträgen, wie erwähnt, nicht die Bezahlung eines Zinses zu einem bestimmten Satz vereinbart, sondern es wurde die Leistung eines festen Frankenbetrages versprochen, der zum voraus zu bezahlen war. Diese Leistung nach Geheimvertrag stellte in Wirklichkeit keinen Zins dar, sondern sie war, wenn nicht geradezu Schmiergeld, eine Art Kommission, die für die Vermittlung des Darlehens an C. persönlich zu bezahlen war. Was zur Begründung dieser Leistung im Geheimvertrag sonst noch angeführt ist, diente offensichtlich zur Tarnung der wahren Natur des Geschäftes. Damit steht auch im Einklang, dass diese Geheimentschädigung nicht der Darlehensgeberin Theodora SA versprochen und geschuldet wurde, sondern dem C. persönlich. Das wird bestätigt durch die Art der Unterzeichnung der Verträge: Die Darlehensverträge und ihre Verlängerungen sind stets unterzeichnet: "Theodora SA, Tanger, sig. C."; die Zusatzverträge dagegen unterschrieb C. immer im eigenen Namen. Es bestanden also zwei Gruppen von Verträgen, nämlich die Darlehensverträge zwischen der Gruppe Wagner und der Theodora SA einerseits und die geheimen Zusatzverträge zwischen der Gruppe Wagner und C. anderseits.
Die Verlängerung der Darlehensverträge mit der Theodora SA bewirkte jeweils eine Verlängerung der Darlehensdauer mit der entsprechenden Zinspflicht zu 5%, nicht aber auch eine Erneuerung des Anspruches auf die "Vermittlungsgebühr" gemäss den Verträgen mit C. persönlich. Hiefür bedurfte es jeweils des Abschlusses eines besonderen Vertrages. Die Erneuerung eines Anspruchs dieser Art verstand sich weder aus der Natur des Geschäftes, noch - im Gegensatz zum Darlehenszins - von Gesetzes wegen. Auch lässt sich nicht etwa sagen, diese Mäklergebühr sei ihrem Wesen nach einem Zins gleich zu
BGE 81 II 520 S. 533
behandeln, wie dies für vereinbarte periodische Bankprovisionen (
Art. 104 OR
) zulässig ist. Dies verbietet sich hier schon deshalb, weil diese angebliche Mäklergebühr gar nicht dem Gläubiger des Darlehens, sondern C. persönlich, also einem Dritten, versprochen und geschuldet war.
Derartige Gebühren können nun aber mangels entsprechender neuer Abmachungen zwischen der Gruppe Wagner und C. für die Zeit seit der Eröffnung des Konkurses über Wagner (Ende September 1952) nicht mehr gefordert werden. Die Darlehen der Klägerin, wie auch die Geheimverträge mit C. waren beim Ausbruch des Konkurses über Wagner ausnahmslos abgelaufen. Also hatte C. für die Zeit nach der Konkurseröffnung auch keine "Mäklergebühr" mehr zu fordern und konnte eine solche auch nicht mehr an die Klägerin abtreten. Denn ist ein Darlehen mangels Verlängerung infolge Ablaufs der Vertragsdauer rückzahlbar, so ist zwar bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Rückzahlung der vereinbarte Zins geschuldet, dagegen hat ein Dritter, wie z.B. ein Mäkler, keinen Anspruch mehr auf eine "Verlängerungsprovision", wenn die Parteien auf die Verlängerung des Vertrages verzichten.
Die Vorinstanz hat somit der Klägerin für die Zeit ab 1. Oktober 1952 zu Unrecht 14% "Zins", d.h. Entgelt für das Darlehen, zugesprochen. Die Klägerin hat vielmehr nur 5% Zins zu beanspruchen. Das Urteil der Vorinstanz ist daher in diesem Punkte zu ändern. | de |
54102153-dd4a-4d33-a1bf-9383ac8c6077 | Sachverhalt
ab Seite 291
BGE 93 II 290 S. 291
A.-
Die Firma U. Brunschwyler's Söhne, später Alfred Brunschwyler, war Eigentümerin der Wasserversorgungsanlage Saurenhorn (Gemeinde Schüpfen BE). Dazu gehörten als Grundstücke ins Grundbuch aufgenommene selbständige und dauernde Rechte an Quellen am Nordhang des Frienisbergwaldes, die Reservoire Ziegelried und Bärenried sowie ein ausgedehntes Leitungsnetz mit den entsprechenden Einrichtungen, wie Brunnenstuben, Messgeräten und dergleichen. Die Wasserbezüger, die sich auf ein rund 96 km2 grosses Gebiet verteilen, das zahlreiche Ortschaften (z.B. Schüpfen, Grossaffoltern, Iffwil, Moosseedorf) und Weiler umfasst, zerfielen in drei Gruppen, nämlich die sogenannten Wasserkäufer, die sogenannten Wassermieter und die Gemeinden, die Wasserbezugsrechte für Hydranten erworben hatten. Da die Bezugsrechte an 587 Wasserkäufer und für 265 Hydranten gegen eine einmalige Entschädigung (z.B. von Fr. 400.-- bis Fr. 700.-- je Minutenliter hinsichtlich der Wasserkäufer) abgegeben worden waren, konnten laufende Einnahmen nur von 204 Wassermietern erzielt werden.
B.-
Die Bezugsrechte der Wasserkäufer beruhen auf schriftlichen Verträgen, deren vorgedruckte Texte zwar nicht völlig übereinstimmen, sich aber sachlich decken. Danach errichteten die Eigentümer der Wasserversorgungsanlage seit 1912 zulasten ihrer Quellenrechtsgrundstücke und zugunsten der Wasserkäufer ein Wasserbezugsrecht für eine bestimmte Anzahl Minutenliter Hochdruckwasser. Dieses Recht umfasste "die dingliche Berechtigung, das genannte Quantum Wasser an der hienach bezeichneten Stelle der Hauptleitung zu entnehmen und beliebig zu verwenden". Es ist vererblich und übertragbar. In den weiteren Vertragsbestimmungen wird wörtlich (oder sinngemäss gleich) ausgeführt: "Die Firma Alfred Brunschwyler hat das Saurenhornwasser nach den Regeln moderner Technik gefasst und gesammelt. Das hievor bezeichnete Wasserquantum, welches Gegenstand dieses Vertrages ist, wird durch die mehrerwähnte Leitung nach dem Dorfe ... geleitet und dem Berechtigten daselbst ab der Hauptleitung zur Verfügung gestellt." Ferner wurde vereinbart, dass der Unterhalt der Wasserversorgung, soweit es die Quellenfassungen, Brunnstuben, das Reservoir und die Hauptleitung anbetrifft, Sache der Firma sei. Der Wasserverkäufer hatte nur die Zweigleitung von der Hauptleitung zur Ausflusstelle zu bauen und zu unterhalten. Die Firma verpflichtete sich, Reparaturen sogleich vorzunehmen. Beim
BGE 93 II 290 S. 292
Versiegen der Quellen infolge höherer Gewalt konnten die Wasserkäufer keine Entschädigung beanspruchen.
Die Wasserbezugsrechte der Wasserkäufer wurden im Grundbuch als Dienstbarkeitslasten auf den Quellenrechtsgrundstücken der Firma, insbesondere auf dem Kollektivgrundstückblatt Nr. 2469 des Grundbuchs von Schüpfen, eingetragen. Einzelne Wasserkäufer liessen später das ihnen persönlich zustehende Dienstbarkeitsrecht auf ihre Grundstücke übertragen.
C.-
Bei Fortsetzung des privaten Betriebs war eine befriedigende Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet. Daher schlossen sich in den vierziger Jahren beteiligte Gemeinden zu einem Gemeindeverband zusammen, um die Wasserversorgungsanlage Saurenhorn zu übernehmen und zu betreiben. Am 12. November 1947 erteilte der Grosse Rat des Kantons Bern diesem Gemeindeverband das Recht, die Wasserversorgung Saurenhorn von der Rechtsnachfolgerin der Firma Alfred Brunschwyler (Kollektivgesellschaft Alfred Brunschwylers Erben in Liquidation) mit allen Rechten und Pflichten zwangsweise zu erwerben.
Mit Urteil vom 6. Dezember 1949 setzte der Gerichtspräsident von Aarberg die Entschädigung, die der Gemeindeverband der Enteigneten zu entrichten hatte, auf Fr. 75 000.-- fest. Auf Appellation der Enteigneten stellte die I. Zivilkammer des Appellationshofs fest, dass der enteigneten Wasserversorgungsanlage mit Rücksicht auf die damit verbundenen Lasten kein positiver Verkehrswert zukomme. Da der Enteigner das erstinstanzliche Urteil durch Anschlussappellation nur im Kostenpunkte angefochten hatte, bestätigte das Obergericht hinsichtlich der Entschädigung das angefochtene Urteil (Entscheid vom 26. September 1951).
D.-
Seit 1952 verzichteten 580 Wasserkäufer auf ihr privates Wasserbezugsrecht gegen eine Abfindung von Fr. 200.-- für den Minutenliter. Da sich sieben Wasserkäufer weigerten, einer solchen Lösung zuzustimmen, liess sich der Gemeindeverband vom Grossen Rat am 15. September 1958 das Recht erteilen, diese Wasserbezugsrechte zwangsweise zu erwerben. Im Enteignungsverfahren nahm der Gerichtspräsident von Fraubrunnen mit Entscheid vom 26. August 1961 davon Kenntnis, dass der Enteigner darauf verzichtete, von den Enteigneten beim Abschluss eines Wasserbezugsvertrags eine Anschlussgebühr zu erheben. Die den Enteigneten zustehende Entschädigung setzte er aufinsgesamt Fr. 49 154.-- fest. Auf Appellation des Gemeindeverbandes
BGE 93 II 290 S. 293
bestätigte die II. Zivilkammer des Appellationshofs am 9. November 1961 dieses Urteil.
In der Folge verzichtete der Gemeindeverband auf die Enteignung, da er nicht gewillt war, die gerichtlich festgestellte Entschädigung zu bezahlen.
E.-
Am 28. Dezember 1965 klagte der Gemeindeverband Wasserversorgung Saurenhorn gegen die restlichen Wasserkäufer. Der Kläger verlangte, es seien die auf der Parzelle Grundbuchblatt Nr. 2469 des Grundbuches von Schüpfen als Dienstbarkeit eingetragenen Wasserbezugsrechte gerichtlich zulöschen; ferner sei gerichtlich festzustellen, dass der Kläger nicht verpflichtet sei, den Beklagten unentgeltlich bestimmte Wassermengen zu liefern. Eventuell sei gerichtlich festzustellen, dass eine allfällig bestehende vertragliche Wasserlieferungspflicht des Klägers an die Beklagten auf den 1. März 1966 kündbar sei.
Zur Begründung machte der Kläger im wesentlichen geltend, der Zweck der Wasserbezugsverträge bestehe nicht in einem Recht zur Wasserentnahme, also in einer blossen Duldungspflicht des Belasteten, sondern in seiner Verpflichtung zur Wasserlieferung. Diese Verpflichtung könne nicht Gegenstand einer Dienstbarkeit, sondern nur einer Grundlast sein. Eine solche bestehe jedoch nicht, da die Verträge seinerzeit nicht öffentlich beurkundet worden seien (
Art. 783 Abs. 3 ZGB
). Demzufolge sei die Dienstbarkeit gemäss Art. 975 ZBG im Grundbuch zu löschen. Eine bloss obligatorische Verpflichtung zur Wasserlieferung sei bei der Enteignung nicht auf den Kläger übergegangen. Wollte man dies jedoch annehmen, so wäre eine solche auf unbestimmte Zeit eingegangene Verpflichtung mit
Art. 27 ZGB
nicht vereinbar. Es müsse deshalb möglich sein, die Verträge zu kündigen. Der Kläger habe die Kündigung mit Schreiben vom 12. August 1965 auf den 1. März 1966 vorgenommen.
Die Beklagten wendeten ein, die Dienstbarkeiten seien formgültig errichtet worden. Eine Verpflichtung zur Vornahme von Handlungen sei in den Verträgen, wenn überhaupt, nur als Nebenbestimmung enthalten. Die Einrede der Formungültigkeit könnte zudem - selbst wenn es sich um eine Grundlast handeln sollte - nicht durchschlagen, weil für die Gesamtrechtsnachfolger Ersitzung eingetreten sei und die Einzelnachfolger in ihrem gutgläubigen Erwerb gemäss
Art. 973 ZGB
zu schützen seien.
F.-
Der Appellationshof des Kantons Bern, I. Zivilkammer,
BGE 93 II 290 S. 294
wies die Klage am 15. Juni 1966 ab, zur Hauptsache aus folgenden Gründen: Die Beklagten seien dinglich berechtigt, der Hauptleitung ein bestimmtes Quantum Wasser an einer bestimmten Stelle zu entnehmen. Die Hauptleitung habe bei Abschluss der Verträge schon bestanden und sei Zugehör des Werkes, von dem sie ausgehe. Somit habe das dingliche Recht, die Leitung zu benutzen, durch Belastung der Quellenrechtsgrundstücke begründet werden können. Hauptsache sei das Vorhandensein von Wasser auf diesen Grundstücken. Die Inhaberin der verselbständigten Quellenrechte sei durch die einzelnen Wasserbezugsrechte in der Ausübung ihres Eigentumsrechtes am Wasser beschränkt, wie das bei Dienstbarkeiten der Fall sei. Die Wasserbezugsberechtigten könnten ferner beanspruchen, dass die ihnen zustehende Wassermenge in die Hauptleitung eingeleitet werde, damit sie sie an der bezeichneten Stelle beziehen können. Sie seien demzufolge auch befugt, die bestehenden Anlagen mitzubenützen; der Kläger habe dies zu dulden. Die Unterhaltspflicht des Klägers sei gegenüber dem Recht der Wasserbezugsberechtigten aufeine bestimmte Wassermenge und auf Mitbenützung vorhandener umfangreicher Anlagen nur nebensächlicher Natur. Es handle sich demzufolge um Dienstbarkeitsverträge, die formrichtig abgeschlossen und im Grundbuch eingetragen worden seien. Der Kläger sei deshalb nach wie vor verpflichtet, den Beklagten die Wasserentnahme in vertraglich vereinbartem Umfang zu gestatten.
G.-
Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung des Klägers mit den Anträgen, es sei aufzuheben und die Klagebegehren zuzusprechen.
H.-
Die Beklagten beantragen die Abweisung der Berufung. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
... (Bestimmung des Streitwertes).
2.
Der Kläger betreibt, wie seine Rechtsvorgänger, eine Wasserversorgung. Darunter versteht man die Belieferung von Abnehmern mit Brauch- und Trinkwasser. Es handelt sich demzufolge um eine Tätigkeit, welche umfasst: Das Auffinden und Sammeln geeigneten Wassers (Quellen, Grundwasserläufe, Oberflächenwasser, Wasser aus Seen) und dessen Zuführung an die Verbraucher mittelst eines Leitungsnetzes. Das bedingt weiter den Unterhalt der Anlagen und die Behebung von Schäden. Entsprechend gestaltet sich das Rechtsverhältnis zwischen dem
BGE 93 II 290 S. 295
Inhaber der Wasserversorgung und den Verbrauchern, sei es öffentlichrechtlicher oder privatrechtlicher Art: Der Inhaber der Wasserversorgung ist zur Lieferung der vereinbarten Wassermenge verpflichtet und hat dafür zu sorgen, dass er dieser Pflicht ununterbrochen nachkommen kann. Der Verbraucher hat diese Leistung in Geld abzugelten, meistens in der Form von Anschlussgebühren und eines regelmässig zu entrichtenden Wasserzinses. Eine Verdinglichung dieser Rechtsbeziehungen liesse sich dadurch herbeiführen, dass die Lieferungspflicht des Inhabers der Wasserversorgung zum Gegenstand einer Grundlast gemacht würde. Die Errichtung einer Dienstbarkeit hingegen erscheint nach dem in
Art. 730 Abs. 1 ZGB
enthaltenen Grundsatz "Servitus in faciendo consistere nequit" als ausgeschlossen.
Im vorliegenden Fall sind die Rechtsvorgänger des Klägers anders vorgegangen. Sie haben im Korrelat ihrer Wasserlieferungspflicht, nämlich im entsprechenden Wasserbezugsrecht der Wasserkäufer, eine ihnen obliegende Duldungspflicht gesehen und diese durch eine Dienstbarkeit verdinglicht. So heisst es in einem der Verträge wörtlich:
"Die Firma J. Brunschwyler's Söhne vorgenannt, ... errichtet hiermit auf ihre hievor beschriebenen selbständigen und dauernden Quellenrechte ein Wasserbezugsrecht zugunsten des ... für ... Minutenliter Hochdruckwasser.
Dieses Wasserbezugsrecht umfasst die dingliche Berechtigung, das festgesetzte Quantum Wasser an der hiernach bezeichneten Stelle der Hauptleitung zu entnehmen und beliebig zu verwenden.
Dieses Wasserrecht ist veräusserlich und vererblich. Die Wassermenge, welcher obige ... Minutenliter entnommen werden, wird mittels der hievor erwähnten Leitung nach dem Dorfe ... geleitet, woselbst die Zuleitung und Verwendung durch den Bezugsberechtigten stattfindet."
Die Beklagten sind der Auffassung, damit hätten die damaligen Parteien die richtige Form ihrer Rechtsbeziehungen gewählt, und verweisen aufBGE 51 II 499Erw. 2. In jenem Fall hatte die Bürgergemeinde Selzach Bewohnern des Känelmooses gestattet, Wasser aus ungefassten Quellen in dem ihr gehörenden Fuchsenwald zur Speisung von Brunnen zu entnehmen. Die Berechtigten mussten das Wasser selber fassen, eine Brunnenstube erstellen und die Leitungen bis zu ihren Häusern bauen. Es handelte sich also um ein Quellenfassungs- und Fortleitungsrecht, das Gegenstand eines Dienstbarkeitsvertrages hätte bilden können (vgl.
Art. 780 Abs. 1 ZGB
); denn die Pflichten der Bürgergemeinde
BGE 93 II 290 S. 296
erschöpften sich im Dulden der Quellenbenützung. Anders verhält es sich im vorliegenden Fall. Hauptgegenstand des Vertrages bildete die Pflicht des Inhabers der Wasserversorgung, die vereinbarte Wassermenge bis zum Anschlusspunkt, der sich in der Nähe des Verbrauchsortes befand, zu liefern. Das geht nicht nur aus dem Errichtungsvertrag hervor, der ausdrücklich sagt, das Wasser werde nach dem Dorfe X geleitet, sondern auch aus Ziff. 2 der weiteren Vertragsbestimmungen, die im gewählten Vertragsbeispiel lauten:
"Die Firma J. Brunschwyler's Söhne hat das ihr kraft der hievor bezeichneten Rechte zustehende Wasser nach den Regeln moderner Technik gefasst und gesammelt. Das hievor bezeichnete Wasserquantum, welches Gegenstand des begründeten Bezugsrechtes ist, wird durch die mehrfach erwähnte Leitung nach dem Dorfe Moosseedorf geleitet und dem Berechtigten daselbst westlich von Gebäude Nr. 61 zur Verfügung gestellt."
Demnach ist nicht nur wesentlich - "Hauptsache", wie die Vorinstanz meint -, dass Wasser auf den Quellengrundstücken vorhanden ist, sondern auch, dass dieses Wasser den Berechtigten zugeführt wird. Freilich sind die Leitungen gemäss
Art. 676 Abs. 1 ZGB
Zugehör des Werkes, von dem sie ausgehen, und stehen demzufolge im Eigentum des Werkeigentümers. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, die Befugnis der Abnehmer, die Hauptleitung an bestimmten Punkten anzubohren, um ihr Wasser zu entnehmen, schliesse ein Recht an der Quelle in sich; denn die Leitungen sind dazu bestimmt, das gesammelte Wasser den Verbrauchern zuzuführen. Hörte die Zufuhr des Wassers auf, so könnte das Recht der Wasserentnahme weder ausgeübt noch mit den Rechtsschutzansprüchen, die das Dienstbarkeitsrecht zur Verfügung stellt, erzwungen werden. Es müsste vielmehr auf die Erbringung einer Leistung, nämlich der Wasserlieferung, geklagt werden. Das wäre ein Anspruch, der sich nicht aus Dienstbarkeitsrecht ableiten liesse.
Dieser Betrachtungsweise kann nicht entgegengehalten werden, die Wasserversorgungsanlagen seien beim Abschluss der Verträge mit den Wasserkäufern schon vorhanden gewesen; denn sie sind erstellt worden, um den Bewohnern eines bestimmten Gebiets Wasser zu liefern. Ob der ganze Erguss der Quellen dazu verwendet wurde oder ob ein nicht absetzbarer Überschuss blieb, ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos.
3.
Die Beklagten machen geltend, mit ihrer Ansicht, man
BGE 93 II 290 S. 297
habe ein Wasserbezugsrecht als Dienstbarkeit begründen wollen, stehe es im Einklang, dass als Verpflichtung der Klägerschaft zu einem Tun "praktisch und rechtlich" nur der Unterhalt der Wasserversorgungsanlage eine Rolle spiele. Es sei zulässig, die Unterhaltspflicht vertraglich anders als in
Art. 741 ZGB
zu ordnen und sie dem Belasteten zu überbinden. Hier liege ein Anwendungsfall des
Art. 730 Abs. 2 ZGB
vor. Die Unterhaltspflicht sei nebensächlicher Natur und habe deshalb mit der Dienstbarkeit verbunden werden können.
Dem kann nicht zugestimmt werden. Wohl kann der Unterhalt von Vorrichtungen, die zur Ausübung der Dienstbarkeit gehören, vertraglich dem Belasteten zugewiesen werden. Fraglich ist aber schon, ob die Unterhaltspflicht für eine ausgedehnte Wasserversorgungsanlage im Verhältnis zur Verpflichtung aus der Dienstbarkeit nur eine Nebensache sei (vgl. dazu LIVER, N. 202 ff., insbesondere N. 206 zu
Art. 730 ZGB
; PFISTER, Der Inhalt der Dienstbarkeit, in ZSR n. F. 52 S. 362). Die Frage braucht hier nicht geprüft zu werden, weil die Unterhaltspflicht nur einen Teil der vom Inhaber der Wasserversorgungsanlage zu erbringenden Leistung bildet. Seine Pflicht, den Wasserkäufern eine bestimmte Wassermenge aus den ihm gehörenden Quellen zu liefern, umfasst auch die Pflicht zu einem sachgemässen Unterhalt der Leitungen, damit der Zufluss gesichert ist. Damit ist auch gesagt, dass im vorliegenden Fall nicht eine - im Verhältnis zur Duldungspflicht - nebensächliche Pflicht zur Vornahme einer Handlung vorliegt, sondern im Rahmen der gesamten Leistungspflichten eine der Hauptlasten. Deshalb kommt es hier auch nicht darauf an, ob eine formrichtig begründete und im Grundbuch eingetragene Dienstbarkeit schon deswegen nicht entstanden sein kann, weil damit über den von
Art. 730 Abs. 2 ZGB
gezogenen Rahmen hinaus eine Verpflichtung zur Vornahme von Handlungen verbunden ist (so LEEMANN, N. 40 zu
Art. 730 ZGB
). Diese Frage wäre an sich mit LIVER (N. 211 zu
Art. 730 ZGB
) zu verneinen, wenn die Dienstbarkeit für sich allein, auch ohne eine damit verbundene Leistungspflicht des Belasteten, bestehen kann. Ferner ist denkbar, dass eine Dienstbarkeit in Verbindung mit einer bloss obligatorischen Leistungspflicht jedenfalls ihre Bedeutung solange behält, als die Leistungspflicht besteht. Fällt letztere dahin, verliert dann freilich die Dienstbarkeit alles Interesse und der Belastete kann gemäss
Art. 736 ZGB
ihre Löschung verlangen.
BGE 93 II 290 S. 298
In diesem Sinne bezeichnet LIVER auch den Wert des Anschlussrechtes an eine Wasserversorgung als erheblich (N. 211 zu
Art. 730 ZGB
). Die Beklagten berufen sich ausserdem auf das ihnen am 3. Juni 1952 von diesem Autor erstattete Gutachten. Allein, hier handelt es sich nicht um ein Dienstbarkeits- und ein Leistungsverhältnis, die einander gegenüberstehen und die sogar unabhängig voneinander bestehen könnten. Es verhält sich vielmehr so, dass nur ein einziges Rechtsverhältnis vorliegt: Der Wasserlieferungspflicht des Klägers entspricht das Wasserbezugsrecht der Beklagten. In den Verträgen aus den Jahren 1912 bis 1926 wurde nun ein Teil der einheitlichen Obligation, die Pflicht des Wasserlieferanten, dem Wasserkäufer die Entnahme der vereinbarten Wassermenge aus der Hauptleitung zu gestatten, verdinglicht. Diese Duldungspflicht bzw. der ihr entsprechende Anspruch des Wasserkäufers ist jedoch bloss eine Folge der umschriebenen Obligation. Selbständige Bedeutung kommt ihr nicht zu. Sie kann deshalb nicht Gegenstand einer Dienstbarkeit sein. Diese Auffassung wird nun auch von Prof. LIVER vertreten (Gutachten vom 11. August 1958 an den Gemeindeverband Vennersmühle-Wasserversorgung).
4.
Die Beklagten berufen sich demgegenüber auf ihren guten Glauben mit dem Hinweis, nachBGE 51 II 499sei die richtige Form zur Begründung einer Dienstbarkeit gewählt worden. Dies habe auch der Ansicht der Grundbuchbehörden entsprochen, welche die Eintragung zugelassen haben. Dieses Vorgehen in zweifelhaften Fällen entspreche der Praxis des Bundesgerichts, namentlich
BGE 86 II 252
Erw. 5.
Indessen können sich die Beklagten nicht aufBGE 51 II 499berufen (Erw. 2). Gleiches gilt von
BGE 86 II 252
, der einen andern Sachverhalt behandelt. Für die Einzelnachfolger der Wasserkäufer fällt lediglich der gutgläubige Erwerb nach
Art. 973 ZGB
in Betracht. Der Schutz desjenigen, der sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und gestützt darauf ein dingliches Recht erworben hat, kann jedoch nicht beansprucht werden, wenn es sich um nicht eintragungsfähige Rechte handelt. Einträge, die solche Rechte betreffen, sind gesetzwidrig und demzufolge nichtig (vgl. HOMBERGER, N. 4 zu
Art. 973 ZGB
; JENNY, Der öffentliche Glaube des Grundbuchs, S. 75/76 und S. 152; SCHATZMANN, Eintragungsfähigkeit der dinglichen Rechte und Prüfungspflicht des Grundbuchverwalters, S. 105).
BGE 93 II 290 S. 299
Aus den gleichen Gründen können sich die ursprünglichen Wasserkäufer und ihre Gesamtrechtsnachfolger auch nicht auf Ersitzung nach
Art. 731 Abs. 3 ZGB
berufen.
5.
...
6.
Dem Gesagten zufolge konnte ein Wasserbezugsrecht der Wasserkäufer nicht als Dienstbarkeit gültig begründet werden. Der trotzdem erfolgte Grundbucheintrag ist gemäss
Art. 974 Abs. 2 ZGB
ungerechtfertigt und deshalb auf Begehren des Belasteten gemäss
Art. 975 Abs. 1 ZGB
zu löschen.
Es bleibt die Frage zu prüfen, ob die Wasserlieferungspflicht des Klägers zwar nicht als Dienstbarkeit, aber entweder als Grundlast oder als bloss obligatorische Verpflichtung weiterhin bestehen könne.
a) Gemäss
Art. 783 Abs. 3 ZGB
bedarf der Vertrag zur Errichtung einer Grundlast der öffentlichen Beurkundung (LEEMANN, Komm. N. 8 zu
Art. 783 ZGB
). Da diesem Formerfordernis nicht nachgelebt worden ist, kommt eine Konversion der Dienstbarkeit in eine Grundlast nicht in Frage.
b) Demzufolge ist die Wasserlieferungspflicht des Klägers nur obligatorischer Natur. Dieser wendet dagegen ein, obligatorische Verpflichtungen seien durch die Enteignung nicht auf ihn übergegangen. Die Enteignung habe sich nur auf Grundstücke oder dingliche Rechte an solchen beziehen können. Das ist jedoch eine Frage des damals angewandten kantonalen Enteignungsrechtes. Die Vorinstanz hat sie - entgegen der Behauptung der Beklagten - nicht geprüft; denn sie ging davon aus, dass ein dingliches Recht vorliege, das nicht Gegenstand der Enteignung gewesen und deshalb auf den Enteigner übergegangen sei. Zur Frage, wie es sich in diesem Punkte verhielte, wenn kein dingliches Recht bestünde, hat sie nicht Stellung genommen. Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob diese Frage gemäss
Art. 65 OG
vom Bundesgericht beurteilt werden könnte oder ob die Sache deswegen an die Vorinstanz zurückgewiesen werden müsste. Das Expropriationsdekret des Grossen Rates vom 12. November 1947 bewilligte dem Kläger, die Wasserversorgungsanlage "mit allen darauf haftenden Rechten und Pflichten zwangsweise zu erwerben." Im Verfahren über die Festsetzung der Enteignungsentschädigung gingen beide Instanzen ebenfalls davon aus, der Kläger habe die Verpflichtungen gegenüber den Wasserkäufern übernommen. Der Kläger teilte diesen Standpunkt. Nicht nur bezahlte er den 580 Wasserkäufern,
BGE 93 II 290 S. 300
mit denen er sich einigen konnte, eine Abfindungssumme für den Verzicht auf ihre Rechte, sondern er leitete gegen die sieben Beklagten, die sich widersetzten, das Enteignungsverfahren ein. Nach Treu und Glauben kann er sich heute nicht darauf berufen, er habe die Wasserlieferungspflicht nicht übernommen.
7.
Es ist somit davon auszugehen, dass der Kläger nicht dinglich, aber vertraglich zur Wasserlieferung an die Wasserkäufer verpflichtet ist. Da es sich um ein Dauerschuldverhältnis handelt, das seit vierzig und mehr Jahren besteht, stellt sich die Frage nach der Auflösung.
Im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass obligatorische Verträge nicht auf "ewige" Zeiten abgeschlossen und aufrecht erhalten werden können (vgl. MERZ, N. 246 und 332 zu
Art. 2 ZGB
; OSER/SCHÖNENBERGER, Vorbem. zu Art. 1 bis 67 OR, N. 20; BECKER, Vorbem. zu
Art. 114-142 OR
, N. 9; VON TUHR/SIEGWART, S. 610, Fussnote 51). Die gegenteilige Annahme führte zu einer mit
Art. 27 ZGB
unvereinbaren Beschränkung der persönlichen Freiheit. Fraglich mag nach den Umständen des einzelnen Falles sein, für welche Höchstdauer eine Bindung eingegangen werden kann. Das hängt namentlich von der Intensität der dadurch bewirkten Beschränkung des Verpflichteten ab. Hindert sie die gesamte Betätigung im wirtschaftlichen Bereich, wird die Bindung nur für kurze Zeit rechtmässig erfolgen dürfen (
BGE 62 II 35
E. 5; vgl. auchBGE 62 II 102). Handelt es sich dagegen um einen weniger grossen Eingriff, ist ein weiterer Masstab anzulegen. So hat das Bundesgericht einen für den Vermieter auf die Dauer der Berufsausübung unkündbaren Mietvertrag als zulässig erklärt (
BGE 56 II 190
ff.), weil er bloss den Verzicht auf die Verfügung über eine bestimmte Sache während einer absehbaren Dauer mit sich bringe. Anders ist es zu halten mit Verpflichtungen zu zeitlich unbegrenztem positivem Verhalten, zu wiederkehrenden Leistungen oder Bezügen (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER, N. 43 zu
Art. 20 OR
). Das Bundesgericht hat einen sog. Bierlieferungsvertrag mit einer Geltungsdauer von 15 Jahren noch als zulässig erklärt, namentlich weil damit Darlehen der Lieferantin verbunden waren, ohne welche der Abnehmer die Wirtschaft nicht hätte erwerben können (
BGE 40 II 233
ff.). Jedenfalls wäre aber eine diese 15 Jahre erheblich übersteigende Bezugspflicht nicht verbindlich (vgl. auch WÜTHRICH, Der Bierlieferungsvertrag nach schweizerischem Recht, S. 30 ff.). Obschon es sich im vorliegenden
BGE 93 II 290 S. 301
Fall nicht um eine Bezugspflicht, sondern um eine unbeschränkte Lieferungspflicht handelt, stellt sich die Frage nicht grundsätzlich anders. Dies namentlich deswegen nicht, weil die Wasserkäufer als Entgelt einen einmaligen Betrag von Fr. 400.-- bis Fr. 700.-- entrichtet und seit vierzig und mehr Jahren Wasser bezogen haben, dessen Wert bedeutend höher sein dürfte. Die Wasserlieferungspflicht wäre nicht einmal unbeschränkt, wenn sie durch eine Grundlast begründet worden wäre. Eine solche hätte vom Schuldner gemäss
Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
nach dreissigjährigem Bestand abgelöst werden können. Die Annahme, eine inhaltlich einer Grundlast entsprechende obligatorische Verpflichtung könne auf eine wesentlich längere Zeitspanne aufrecht erhalten werden, ist damit nicht zu vereinbaren (vgl. dazu LIVER, Einleitung N. 144).
8.
Die Auflösung von Dauerverträgen kann durch Kündigung erfolgen (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER, Vorbem. zu Art. 114-142, N. 6; GIERKE, Dauernde Schuldverhältnisse, in Jherings Jahrbücher 64 S. 386; GSCHNITZER, Die Kündigung nach deutschem und österreichischem Recht, in Jherings Jahrbücher 76 S. 327). Auf diese Möglichkeit hat sich der Kläger berufen und den Wasserlieferungsvertrag am 12. August 1965 auf den 1. März 1966 gekündigt. Auf diesen Zeitpunkt ist demzufolge seine Pflicht zur Wasserlieferung erloschen. In diesem Sinne sind das Rechtsbegehren Nr. 2 und das Eventualrechtsbegehren Nr. 3 in Verbindung mit der Berufungsbegründung aufzufassen. | de |
4c2eee19-f6bd-4b39-a694-42452f84d11f | Sachverhalt
ab Seite 197
BGE 124 III 196 S. 197
A.-
Die Abgeordnetenversammlung des Gemeindeverbandes X.-Wasserversorgung beschloss am 27. November 1990: "Alle bestehenden Wasserbezugsrechte werden aufgehoben und entschädigungslos gekündigt. Alle entsprechenden Grundbucheinträge sind auf Kosten des Gemeindeverbands zu löschen. Die Wasserkäufer schulden dem Gemeindeverband für alle Wasserbezüge die volle Tarifgebühr ab 1. Juli 1991." Durch Schreiben vom 8. Februar 1991 teilte die X.-Wasserversorgung sämtlichen Inhabern eines Wasserbezugsrechts mit, gestützt auf diesen Beschluss werde "das bestehende Wasserbezugsrecht auf den 30. Juni 1991 entschädigungslos gekündigt".
B.-
Der Appellationshof des Kantons Bern erkannte am 5. November 1996 auf Klage der X.-Wasserversorgung, die auf Grundbuchblatt Nr. ... von Y. eingetragenen Wasserbezugsrechte zugunsten von A. auf 10 min/l (als Eigentümer der Liegenschaft Z. Grundbuchblatt Nr. xxx) und B. auf 4 min/l (als Eigentümer der Liegenschaft Z. Grundbuchblatt Nr. yyy) würden gelöscht; ferner wurden die Grundbuchverwalter von D. und E. angewiesen, die Löschung vorzunehmen. Sodann wurde festgestellt, dass die vertragliche Wasserlieferungspflicht auf den 31. März 1992 entschädigungslos aufgehoben sei.
C.-
A. und B. haben Berufung eingelegt mit dem Antrag, das Urteil des Appellationshofes aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die X.-Wasserversorgung schliesst auf Abweisung der Berufung und begehrt mit Anschlussberufung, gerichtlich festzustellen, dass eine allfällig bestehende vertragliche Wasserlieferungspflicht auf den 30. Juni 1991 entschädigungslos aufgehoben sei.
In ihrer Antwort auf die Anschlussberufung halten A. und B. an den gestellten Berufungsbegehren fest. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Der Appellationshof ging davon aus, die Beklagten hätten das im Grundbuch eingetragene "Wasserbezugsrecht" als Grundlast ersessen. Er erachtete diese Grundlasten durch das Schreiben der Klägerin vom 8. Februar 1991 als abgelöst, wegen der Jahresfrist
BGE 124 III 196 S. 198
des
Art. 788 Abs. 2 ZGB
allerdings erst auf den 31. März 1992. Die Beklagten erblicken darin eine Verletzung von
Art. 18 und 1 OR
sowie
Art. 788 ZGB
.
b) Die Klägerin hat den Beklagten am 8. Februar 1991 mitgeteilt, gestützt auf den Beschluss der Abgeordnetenversammlung vom 27. November 1990 werde "das bestehende Wasserbezugsrecht auf den 30. Juni 1991 entschädigungslos gekündigt". In der Begründung ist darauf verwiesen worden, dass solche Wasserrechte nach zwei bundesgerichtlichen Urteilen keine Dienstbarkeiten sein könnten, und sie daher zu Unrecht im Grundbuch eingetragen seien; es handle sich um obligationenrechtliche Verhältnisse, sogenannte Sukzessivlieferungsverträge, welche nach 30jährigem Bestand entschädigungslos gekündigt werden könnten.
Der Appellationshof stellt keinen für die Beklagten aus jenem Schreiben erkennbaren wirklichen Willen der Klägerin fest. Für dessen Auslegung ist daher das Vertrauensprinzip massgeblich (
BGE 123 III 16
E. 4b mit Hinweisen). Nach den gesamten Umständen durften und mussten die Beklagten die Erklärung, "das bestehende Wasserbezugsrecht" werde "auf den 30. Juni 1991 entschädigungslos gekündigt", in guten Treuen dahin verstehen (
BGE 121 III 118
E. 4b/aa S. 123 mit Hinweisen), es werde ein obligatorisches Rechtsverhältnis, eine schuldrechtliche Verpflichtung aufgekündigt. Nebst den bereits angeführten Gründen wurde weiter ausgeführt, damit klare Rechtsverhältnisse bestünden, müssten die Dienstbarkeiten gelöscht werden; zu gegebener Zeit würden die Inhaber eines Wasserbezugsrechts das Löschungsbegehren mit Löschungsbewilligung erhalten. Sodann wurde in der Mitteilung erwähnt, der Beschluss der Abgeordnetenversammlung, alle bestehenden Wasserbezugsrechte würden aufgehoben und entschädigungslos gekündigt, sei nach gründlicher wirtschaftlicher und rechtlicher Prüfung gefasst worden. Nichts liess erkennen, dass damit eine Grundlast abgelöst werden sollte, zudem noch ohne jegliche Entschädigung und ausserhalb der dafür vorgesehenen gesetzlichen Frist (
Art. 788 und 789 ZGB
). Die Klägerin selber hat denn auch auf jener Grundlage geklagt und die Löschung der als Dienstbarkeit eingetragenen Wasserbezugsrechte im Grundbuch sowie die Feststellung verlangt, dass allfällig bestehende vertragliche Wasserlieferungspflichten auf den 30. Juni 1991 entschädigungslos aufgehoben seien.
2.
a) Die Klägerin wendet in der Berufungsantwort allerdings ein, die Wasserbezugsrechte der Beklagten könnten nur eine Grundlast
BGE 124 III 196 S. 199
darstellen, da nach der Rechtsprechung die Verpflichtung zur Wasserlieferung an einem bestimmten Punkt einer Fassungsleitung nicht Gegenstand einer Dienstbarkeit bilden könne. Der Eintrag der Wasserbezugsrechte im Grundbuch als Dienstbarkeit sei daher nichtig und nicht bloss ungerechtfertigt im Sinne von 974 Abs. 2 ZGB; die ordentliche Ersitzung sei deshalb wegen Fehlens dieser Grundvoraussetzung unmöglich. Ferner wendet die Klägerin ein, die für die Errichtung einer Grundlast erforderliche Form der öffentlichen Beurkundung sei nicht erfüllt, so dass eine Verpflichtung rein obligatorischer und persönlicher Natur vorliege, die nicht ersessen werden könne; auch eine Konversion in eine Grundlast sei nicht möglich und die Frage der Ersitzung einer solchen zudem kontrovers.
b) Der Appellationshof stellt in tatsächlicher Hinsicht einzig fest, auf den Grundbuchblättern der Beklagten sei unter der Rubrik Dienstbarkeiten und Grundlasten "R, Wasserbezugsrecht ..." eingetragen, nicht jedoch, diese Wasserbezugsrechte seien als Dienstbarkeiten eingetragen; daran ändert nichts, dass die Berechtigten auf Anfrage des Grundbuchverwalters sich 1919 bzw. 1920 damit einverstanden erklärt haben, dass ihre Wasserbezugsrechte als "Grunddienstbarkeit zugunsten und zulasten" der betreffenden Grundstücke eingetragen werden. Soweit die Argumentation der Klägerin auf der unzutreffenden Annahme gründet, die Bezugsrechte seien als Dienstbarkeit eingetragen, erweist sie sich daher als von vornherein haltlos. Als belanglos erscheint sodann, ob für die Begründung der Wasserbezugsrechte als Grundlast die dafür erforderliche Form der öffentlichen Beurkundung erfüllt worden ist (vgl. dazu
BGE 93 II 290
E. 6a S. 299), nachdem sie nach Feststellung des Appellationshofes unter der Rubrik "Dienstbarkeiten und Grundlasten" im Grundbuch eingetragen sind. Schliesslich anerkennt selbst die Klägerin, dass die Wasserbezugsrechte Gegenstand einer Grundlast bilden können; und das Vorhandensein der dafür nötigen Voraussetzungen ist nicht umstritten. Es bleibt letztlich nur zu prüfen, ob die Wasserbezugsrechte, die wegen Formmangels zu Unrecht im Grundbuch eingetragen sind, gemäss
Art. 661 ZGB
ersessen werden konnten, wie der Appellationshof dafürhält.
Ob die ordentliche Ersitzung einer Grundlast möglich ist, war vom Bundesgericht bis jetzt nicht zu beurteilen (offengelassen hinsichtlich der ausserordentlichen Ersitzung in
BGE 99 II 28
E. 4 S. 34 am Ende). Gemäss
Art. 783 Abs. 3 ZGB
gelten für Erwerb und Eintragung der Grundlast wie auch der Grunddienstbarkeit (
Art. 731 Abs. 2 ZGB
), wo es nicht anders geordnet ist, die Bestimmungen über das
BGE 124 III 196 S. 200
Grundeigentum. Dem Gesetz ist keinerlei Einschränkung zu entnehmen, wonach die Ersitzung der Grundlast ausgeschlossen oder anders als bei der Grunddienstbarkeit, wo die Zulässigkeit der Ersitzung jedoch ausdrücklich erwähnt wird (
Art. 731 Abs. 3 ZGB
), beschränkt wäre; sie ist nach dem klaren Wortlaut jener Bestimmung demnach möglich (LEEMANN, Berner Kommentar, N. 2 zu
Art. 783 ZGB
). Logischerweise sollte sie zwar wie beim Grundpfand ausgeschlossen sein; denn das dingliche Recht kann nicht in Besitz genommen und als Nebenrecht der Forderung ohne diese nicht erworben werden. In Wirklichkeit besteht nur der Besitz einer Dienstbarkeit in der Ausübung eines dinglichen Rechts, während es sich für die Grundlast als Verpflichtung zu einer positiven Leistung lediglich um deren Erbringung durch den Schuldner handeln kann; diese "Ausübung des Rechts" besteht genauso, wenn durch Grundpfandverschreibung oder Schuldbrief sichergestellte Annuitäten oder Zinsen bezahlt werden (PIOTET, SPR V/1, S. 658/II und 649; WIELAND, Zürcher Kommentar, N. 2 zu
Art. 783 ZGB
; LIVER, ZBJV 111 S. 75).
Art. 919 Abs. 2 ZGB
stellt indessen die tatsächliche Ausübung des Rechts nicht bloss bei der Grunddienstbarkeit, sondern ausdrücklich ebenso bei der Grundlast dem Sachbesitz gleich. Dadurch ist, was sich als logischer Schluss aufdrängte, vom Gesetz selber entkräftet und unmissverständlich bekräftigt, dass entgegen Wieland (l.c.) die Möglichkeit der Ersitzung einer Grundlast, wie sie sich aus
Art. 783 Abs. 3 ZGB
ergibt, der Absicht des Gesetzgebers entspricht; dessen Wortlaut gibt den Sinn der Bestimmung demnach zutreffend wieder. Die Mehrzahl der Autoren bejaht denn auch die Ersitzungsmöglichkeit (LEEMANN, a.a.O.; MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 4 zu
Art. 661 ZGB
; HAAB/SIMONIUS, Zürcher Kommentar, N. 3 zu
Art. 661, 662, 663 ZGB
; REY, Berner Kommentar, N. 153 zu
Art. 731 ZGB
; PIOTET, SPR V/1, S. 649; TUOR/SCHNYDER/SCHMID, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 11. Aufl. Zürich 1995, S. 806/IV; SIMONIUS/SUTTER, Schweizerisches Immobiliarsachenrecht, Bd. II, § 11 Rz. 27, S. 299; STEINAUER, Les droits réels, Bd. III, Rz. 2594a, S. 83; LAIM, Grundstrukturen der ausserordentlichen Ersitzung nach Schweizerischem Zivilgesetzbuch, Diss. Zürich 1993, S. 83 ff.; PFISTER, Die Ersitzung nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1931, S. 43 und 95; LIVER, Zürcher Kommentar, N. 25 zu
Art. 730 ZGB
und N. 94 zu
Art. 731 ZGB
für die ordentliche Ersitzung; gegenteiliger Auffassung: WIELAND, l.c. sowie CURTI-FORRER, Zürcher Kommentar, 1911, N. 7 zu
Art. 783 ZGB
).
BGE 124 III 196 S. 201
Konnte der Appellationshof ohne Bundesrecht zu verletzen davon ausgehen, die Wasserbezugsrechte der Beklagten seien als Grundlast ersessen, hält anderseits aber der Schluss, sie seien als Grundlast abgelöst worden (E. 1 vorne), vor Bundesrecht nicht stand, so ist die Berufung gutzuheissen und die Anschlussberufung abzuweisen, mit welcher geltend gemacht worden ist, als Verpflichtung bloss obligatorischer Natur seien die Wasserbezugsrechte auf den 30. Juni 1991 entschädigungslos gekündigt worden. Bestehen diese als Grundlast fort, so ist die Klage abzuweisen. | de |
0bdc0c60-2a7c-42d9-a20b-44bb93bfa532 | Sachverhalt
ab Seite 512
BGE 140 III 512 S. 512
A.
A.a
Die Bank X. AG, mit Sitz in Zürich, ist Drittschuldnerin im Arrest- und Pfändungsverfahren, welches von der Banca A. S.p.A. bzw. der Rechtsnachfolgerin Bank Y., mit Sitz in Italien, gegen Z., mit Wohnsitz in Italien, eingeleitet wurde.
A.b
Das Betreibungsamt Zürich 1 verarrestierte gestützt auf den Arrestbefehl Nr. a des Bezirksgerichts Zürich vom 18. Februar 2008 (mit dem Arrestgrund
Art. 271 Abs. 1 Ziff. 4 SchKG
; "Ausländerarrest") Guthaben auf näher bezeichneten Konten etc. lautend auf Z. sowie auf (zwei bestimmte) panamaische Gesellschaften "bei der
BGE 140 III 512 S. 513
Bank X. AG am Hauptsitz und/oder bei ihrer Zweigniederlassung in Singapur" (Arrestvollzug vom 22. Februar 2008). (...)
A.c
Am 22. Dezember 2011 vollzog das Betreibungsamt in der Arrestprosequierungsbetreibung Nr. b die Pfändung Nr. c. (...) Am 26. November 2012 erliess (es) die Pfändungsurkunde. Als Pfändungsgegenstand bezeichnete es die bestrittene Forderung des Betreibungsschuldners "gegenüber der Bank X. AG herrührend aus sich allfällig in Singapur befindlichen Vermögenswerten des Schuldners". Gleichentags zeigte es der Bank die Pfändung an.
A.d
Gegen die Pfändungsurkunde erhob die Bank X. AG als Drittschuldnerin am 17. Dezember 2012 betreibungsrechtliche Beschwerde. Sie beantragte, den Arrest, die Betreibung sowie die Pfändungsurkunde aufzuheben; eventuell sei die Pfändungsurkunde nichtig zu erklären. Das Bezirksgericht Zürich als untere kantonale Aufsichtsbehörde über die Betreibungsämter trat mit Entscheid vom 13. März 2013 auf die Beschwerde nicht ein. Es verneinte die Beschwerdelegitimation der Bank und kam nach Prüfung der Zuständigkeit des Betreibungsamtes zum Schluss, dass kein Grund zum Eingreifen von Amtes wegen bestehe.
B.
Die Bank X. AG gelangte an das Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, als obere kantonale Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs, welches die Beschwerde mit Urteil vom 16. September 2013 abwies, soweit darauf eingetreten wurde.
C.
Mit Eingabe vom 30. September 2013 hat die Bank X. AG Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Die Beschwerdeführerin beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, als oberer kantonaler Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs vom 16. September 2013 aufzuheben und den Arrest, die Betreibung sowie die Pfändung und Pfändungsurkunde nichtig zu erklären.
Die Betreibungsgläubigerin Bank Y. (Beschwerdegegnerin) beantragt das Nichteintreten auf die Beschwerde; eventuell sei sie abzuweisen, subeventuell sei die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Der Betreibungsschuldner Z. (Beschwerdegegner) hat sich nicht vernehmen lassen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug)
BGE 140 III 512 S. 514 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt die Pfändung von Forderungen des Betreibungsschuldners aus Geschäftsbeziehungen mit der Zweigniederlassung in Singapur, welche die Beschwerdeführerin als in der Schweiz domizilierte Bank betreibt. Die Vorinstanz hat die Pfändung bestätigt. Die Beschwerdeführerin beruft sich im Wesentlichen auf die Kritik sowie die Zweifel, welche die Vorinstanz an der Rechtsprechung (
BGE 128 III 473
) geäussert hat, sowie auf den Minderheitsantrag einer Oberrichterin. Im Wesentlichen kritisiert die Beschwerdeführerin, dass die Vorinstanz die örtliche Zuständigkeit des Betreibungsamtes zur Pfändung zwar in Frage gestellt habe, die Pfändung mit Hinweis auf den Grundsatz von Treu und Glauben in der Rechtsanwendung dennoch nicht aufgehoben habe. Sie wirft der Vorinstanz vor, einen widersprüchlichen Entscheid gefällt und Bundes(verfassungs)recht verletzt zu haben.
3.1
Nach der Rechtsprechung ist die Beschwerdeführerin als Drittschuldnerin durch den Vollzug eines gegenüber dem Betreibungsschuldner verfügten Arrestes bzw. den damit verbundenen Massnahmen (wie die Anzeige der Forderungspfändung) in ihren schutzwürdigen (zumindest tatsächlichen) Interessen hinreichend berührt und zur Beschwerde gemäss
Art. 17 SchKG
legitimiert; das Gleiche gilt (mit Blick auf
Art. 275 SchKG
) im Rahmen des Vollzugs der Pfändung (Urteile 5A_36/2008 vom 5. August 2008 E. 3; 7B.28/2001 vom 14. Februar 2001 E. 1; vgl.
BGE 80 III 122
E. 2 S. 124). Streitpunkt ist die örtliche Zuständigkeit des Betreibungsamtes. Zu Recht hat die Vorinstanz angenommen, dass die Pfändung von im Ausland gelegenen Vermögenswerten bzw. die deshalb von einem örtlich unzuständigen Betreibungsamt vollzogene Pfändung nicht bloss anfechtbar, sondern nichtig im Sinne von
Art. 22 SchKG
ist (vgl.
BGE 41 III 291
E. 1 S. 292;
55 III 165
S. 166; AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 9. Aufl. 2013, § 22 Rz. 24). Zu prüfen ist, ob die obere Aufsichtsbehörde bei der vorliegenden Pfändung hätte eingreifen müssen, weil ein Verstoss über die Regeln der Belegenheit von Forderungen bzw. die Zuständigkeit des Betreibungsamtes zur Pfändung vorliegt.
3.2
Rechte und Forderungen, die durch Wertpapiere verkörpert sind, sind dort belegen, wo sich diese physisch befinden (
BGE 116 III 107
E. 5b S. 109). Forderungen, die nicht in einem Wertpapier verkörpert sind, sind am Wohnsitz des Gläubigers
BGE 140 III 512 S. 515
(Vollstreckungsschuldners) belegen. Wohnt der Vollstreckungsschuldner im Ausland, der Drittschuldner aber in der Schweiz, so gilt die Forderung als am Wohnsitz des Drittschuldners in der Schweiz belegen und ist dort zu verarrestieren bzw. pfänden (
BGE 31 I 198
E. 3 S. 200; zuletzt
BGE 137 III 625
E. 3.1 S. 627; vgl. STAEHELIN, Die internationale Zuständigkeit der Schweiz im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, AJP 1995 S. 265; GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, Bd. I, 1999, N. 20 zu
Art. 89 SchKG
). Damit sollen - wegen der Mehrfachbelegenheit von Forderungen, wie sie wegen der unterschiedlichen staatlichen Regelungen vorliegen - negative Zuständigkeitskonflikte vermieden werden (
BGE 137 III 625
E. 3.4 S. 628).
Weiter hat das Bundesgericht entschieden, dass die Forderung eines im Ausland wohnhaften Vollstreckungsschuldners auch dann am schweizerischen Wohnsitz des Drittschuldners belegen und dort zu verarrestieren bzw. pfänden ist, wenn sie zum Geschäftsbetrieb einer ausländischen Zweigniederlassung dieses Drittschuldners gehört (
BGE 128 III 473
E. 3.1 am Ende, E. 3.2 S. 475, mit Hinweis auf die Lehre; Urteil 7B.28/2001 vom 14. Februar 2001 E. 3). Dabei wird die Belegenheit beim schweizerischen Drittschuldner nicht auf Fälle beschränkt, in welchen dieser in die Kundenbeziehung zur ausländischen Zweigniederlassung "involviert" ist (
BGE 128 III 473
E. 3.1 am Ende, E. 3.2 S. 475, mit Hinweis auf Urteil 7B.28/2001 vom 14. Februar 2001; PEDROTTI, Chi ha paura della competenza?, Bollettino dell'Ordine degli avvocati del Cantone Ticino Nr. 34/November 2007 S. 22; a.M. u.a. OCHSNER, La poursuite contre le débiteur à l'étranger, JdT 2014 II S. 30).
3.3
Die Rechtsprechung (
BGE 128 III 473
), wonach die Forderung aus dem Geschäftsverkehr mit einer ausländischen Zweigniederlassung eines inländischen Drittschuldners - z.B. einer Bank - vollstreckungsrechtlich in der Schweiz zu lokalisieren ist, wird in der Lehre zum Teil bestätigt (u.a. PEDROTTI, a.a.O., S. 22/23; REISER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl. 2010, N. 55 zu
Art. 275 SchKG
; GASSER, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts [...], ZBJV 2003 S. 464), zum Teil auch abgelehnt (u.a. ZONDLER, Schweizer Arrest auf Vermögenswerten im Ausland?, AJP 2005 S. 573 ff., 578; JEANDIN/LOMBARDINI, Le séquestre en Suisse d'avoirs bancaires à l'étranger: fiction ou réalité?, AJP 2006 S. 974 ff.; JEANNERET/DE BOTH, Séquestre international, for du séquestre en matière bancaire et séquestre de biens détenus par
BGE 140 III 512 S. 516
des tiers, SJ 2006 II S. 181 ff.). Nach der Kritik wird in diesen Fällen (Zweigniederlassung im Ausland) die Verarrestierung verneint und z.T. (entgegen der Praxis; vgl. OCHSNER, a.a.O., mit Hinw.) analog auch die Verarrestierung von Forderungen gegenüber einem ausländischen Hauptsitz am Ort der Niederlassung in der Schweiz verneint (MEIER-DIETERLE, in: SchKG, 2. Aufl. 2014, N. 9 zu
Art. 272 SchKG
).
3.4
In der kantonalen Praxis wird die erwähnte Rechtsprechung (
BGE 128 III 473
) nach eingehender Auseinandersetzung mit der Kritik befolgt (Tessin: Urteil 15.2006.88 der Camera di esecuzione e fallimenti del Tribunale d'appello als Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs vom 15. Juni 2007 E. 3 und 4, in:
www.sentenze.ti.ch
; Zug: Urteil des Obergerichts vom 6. Dezember 2012 E. 3.2, in: Gerichts- und Verwaltungspraxis des Kantons Zug [GVP- ZG] 2012 S. 166). Das Bundesgericht hat im Jahre 2012 auf die Kritik Bezug genommen und die erwähnte Rechtsprechung als massgebend erachtet (Urteil 5A_262/2010 vom 31. Mai 2012 E. 8.2.2)
3.5
Die Vorbringen der Beschwerdeführerin geben - wie sich aus dem Folgenden ergibt - keinen Anlass zur Änderung der Rechtsprechung.
3.5.1
Die zwangsvollstreckungsrechtliche "Belegenheit" einer Forderung ist reine Fiktion (
BGE 31 I 198
E. 3 am Ende S. 200;
63 III 44
S. 45). Da die Zuständigkeit zur Forderungspfändung international nicht einheitlich geregelt ist, kann es zu Kompetenzkonflikten kommen, was zu Nachteilen des Drittschuldners führen kann und seit langem Thema in Rechtsprechung und Lehre ist (z.B. AUDÉTAT, Die internationale Forderungspfändung nach schweizerischem Recht, 2007, S. 109 ff., mit Hinw.). Zu Recht hat die Vorinstanz festgehalten, dass auch die Belegenheit von Forderungen aus dem Geschäftsverkehr mit einer ausländischen Zweigniederlassung "in der Literatur kontrovers diskutiert wird". Entgegen der Meinung der Vorinstanz könnte eine koordinierte Betrachtungsweise sogar eher zur Belegenheit beim Drittschuldner im Sinne von Art. 2 lit. g EuInsVO (ABl. L 160 vom 30. Juni 2006 S. 1 ff.) führen (so MARCHAND, Précis de droit des poursuites, 2. Aufl. 2013, S. 252) und damit die Belegenheit bei der kontoführenden Zweigniederlassung ausschliessen (MÄSCH, in: Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Rauscher [Hrsg.], 2010, N. 9 zu Art. 2 EuInsVO). Unabhängig von dieser Diskussion steht jedenfalls fest, dass für die Forderung, welche aus dem Geschäftsverkehr mit einer ausländischen
BGE 140 III 512 S. 517
Zweigniederlassung eines inländischen Drittschuldners stammt, eine körperliche Beschlagnahme weder erforderlich noch möglich ist, sondern die Belegenheit gesetzlich zu fingieren - und in der Schweiz fingierbar - ist, weshalb ein Territorialitätsproblem verneint werden kann (LEMBO, Le séquestre des comptes des succursales requis au siège de la banque [...], AJP 2003 S. 805).
3.5.2
In der Praxis wird zu Recht abgelehnt, dass die ausländische Zweigniederlassung einer in der Schweiz domizilierten Bank zwangsvollstreckungsrechtlich gleich wie eine (rechtlich selbständige) Tochtergesellschaft behandelt wird (vgl. Zug: Urteil des Obergerichts vom 6. Dezember 2012 E. 3.4, in: GVP-ZG 2012 S. 166/167); das Gegenteil wird auch von der Vorinstanz als "zu weit gehend" und "nicht ohne weiteres nachvollziehbar" bezeichnet. Der Argumentation der Beschwerdeführerin, dass eine Forderung, die aus dem Geschäftsverkehr mit der ausländischen Zweigniederlassung stammt, überhaupt nichts mit der Schweiz zu tun habe, ist nicht haltbar, denn mit dem Domizil des Drittschuldners weist sie einen hinreichenden Bezug zum Inland auf (vgl. GEIMER, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3211). Dass die Forderung aus dem Geschäftsverkehr mit einer ausländischen Zweigniederlassung herrührt, rechtfertigt noch nicht, den Drittschuldner mit Wohnsitz bzw. Sitz in der Schweiz, zu welchem die Zweigniederlassung rechtlich gehört, von der zwangsvollstreckungsrechtlichen Souveränität der Schweiz auszunehmen (vgl. allgemein GILLIÉRON, Le droit international suisse de l'exécution forcée des créances [...], Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht [SJIR] 1988 S. 87).
3.5.3
Die praktische Verwertbarkeit der gepfändeten Forderung stösst nicht auf Hindernisse, welche die Pfändung als nichtig erscheinen lassen könnten: Dem Drittschuldner mit Domizil in der Schweiz kann angezeigt werden, dass er dem alten Gläubiger nicht mehr befreiend zahlen kann (
Art. 99 SchKG
; vgl. Urteil 7B.28/2001 vom 14. Februar 2001 E. 3); ebenso kann dem schweizerischen Drittschuldner befohlen werden, das Betreibungsamt zum Forderungseinzug (vgl.
Art. 100 SchKG
) und den Ersteigerer der Forderung als neuen Gläubiger anzuerkennen und an diesen zu leisten, oder sich nach
Art. 131 SchKG
gefallen zu lassen, dass eine bestrittene Forderung gegen ihn geltend gemacht wird (vgl. Urteil 15.2006.88 der Camera di esecuzione e fallimenti [Tessin], a.a.O., E. 3.4). Dass die Gültigkeit der Pfändung nicht vom Vorliegen der Anzeige gemäss
Art. 99 SchKG
abhängt, steht nach der Rechtsprechung fest
BGE 140 III 512 S. 518
(
BGE 115 III 109
E. 2a S. 110); daran ändert auch nichts, dass die Forderung als strittige gepfändet wurde (
BGE 109 III 11
E. 2 S. 13).
3.5.4
Die Beschwerdeführerin gibt (wie die Vorinstanz) zu bedenken, dass es mit der erwähnten Rechtsprechung (
BGE 128 III 473
) zu einer zusätzlichen Zwangsvollstreckungsmöglichkeit und "unweigerlich zu Vollstreckungskollisionen" komme, insbesondere weil die Zwangsvollstreckung auch am Ort der Zweigniederlassung im Ausland möglich sei. Richtig ist, dass es zu Nachteilen für den Drittschuldner kommen kann (E. 3.5.1), wenn die inländische Pfändung im Ausland nicht anerkannt wird. Er läuft allenfalls Gefahr, doppelt bezahlen zu müssen: im Vollstreckungsstaat dem Vollstreckungsgläubiger, in einem anderen Staat seinem bisherigen Gläubiger (vgl. STAEHELIN, a.a.O., S. 265). Die Nachteile, die sich für den Drittschuldner ergeben, treten jedoch typischerweise für die Beteiligten auf, falls in internationalen Verhältnissen die Zuständigkeitsregeln divergieren und die Anerkennung einer Entscheidung versagt bleibt. Das Gesetz knüpft die Vollstreckungszuständigkeit indessen nicht an die Anerkennung der inländischen Vollstreckungsakte im Ausland an. Das Argument der Vorinstanz, es sei zu berücksichtigen, dass im Land der Zweigniederlassung (nach dortigem Recht) ebenfalls eine Zuständigkeit bestehe, läuft auf eine Beschränkung der schweizerischen Vollstreckungszuständigkeit (am Domizil des Drittschuldners) hinaus. Die Beschränkung der eigenen Zuständigkeit im Falle der ausländischen Zweigniederlassung insbesondere für den Arrestgrund gemäss
Art. 271 Abs. 1 Ziff. 4 SchKG
("Ausländerarrest") würde eine zusätzliche Voraussetzung einführen, was zu Lasten des Vollstreckungsgläubigers geht und wofür eine genügende gesetzliche Grundlage fehlt. Im Übrigen ist der Blick der Vorinstanz auf den im ausländischen Staat ansässigen Schuldner (Bankkunden), der mit der dortigen Zweigniederlassung eine Bankbeziehung unterhält und sich nicht mit der Extraterritorialität der Forderung aus einer dortigen Zwangsvollstreckung retten könne, zu eng: Es lässt sich dem entgegenhalten, dass derjenige in der Schweiz belangbar sein soll, der - wie der in Italien domizilierte Beschwerdegegner - seine Bankkonten durch eine Bank mit Sitz in der Schweiz, wenn auch von einer Zweigniederlassung im Ausland, führen lässt (vgl.
BGE 102 III 94
E. 5c S. 107). Schliesslich ist im vorliegenden Verfahren nicht zu klären, ob es möglich sei, den Drittgläubiger im Inland vom Zwang zur Doppelzahlung zu befreien, wenn er alles in seiner Macht Stehende getan hat, um dem Pfändungsrecht des
BGE 140 III 512 S. 519
Vollstreckungsgläubigers auch im Ausland Geltung zu verschaffen (so GEIMER, a.a.O., Rz. 3268).
3.5.5
Es ist wohl zutreffend, dass das Bankenrecht in den verschiedenen Staaten stark reguliert und eine zentralisierte Kontenführung über die Landesgrenze hinweg nicht ohne weiteres zulässig ist. Ein fehlender Zugriff des schweizerischen Hauptsitzes auf das Kundensystem der Zweigniederlassung bedeutet indessen nicht, dass diese über den Arrest bzw. die Pfändung nicht informiert werden könne, wie die Vorinstanz bereits zutreffend festgehalten hat; etwas anderes sei auch nicht behauptet worden. Einer Bank stehen im Falle des Arrestes bzw. der Pfändung regelmässig Angaben bezüglich Konten bei einer bestimmten ausländischen Zweigniederlassung zur Verfügung. Auch im konkreten Fall hat die Beschwerdegegnerin bereits Arrest auf genau bezeichneten Konten "bei der Bank X. AG am Hauptsitz und/oder bei ihrer Zweigniederlassung in Singapur" verlangt und erhalten (Sachverhalt, Bst. A.b). Die Angaben werden vom Arrestgläubiger dem Arrestrichter regelmässig durch Bankkorrespondenzen bekannt gegeben, andernfalls wohl ein (verpönter) Sucharrest vorliegt (vgl. MARCHAND, a.a.O.; LEMBO, a.a.O., S. 806). Weiter hat die Vorinstanz erörtert, ob die Beschwerdeführerin als Drittschuldnerin über die allgemeine Problematik hinaus zur Doppelzahlung gefährdet ist. Der Schlüssel zur Klärung des Doppelzahlungsrisikos liege in der Gestaltung der Rechtsbeziehung der Zweigniederlassung in Singapur mit ihren Kunden. Die Beschwerdeführerin habe hierzu lediglich pauschale Behauptungen aufgestellt und es unterlassen, die AGB der Kundenbeziehung in Singapur einzureichen. Auf diese Tatsachenfeststellung (
Art. 105 Abs. 1 BGG
) geht die Beschwerdeführerin nicht ein. Es ist nachvollziehbar, wenn die Vorinstanz gefolgert hat, die AGB seien so ausgestaltet, dass die Auskunft gegenüber dem Hauptsitz nicht ausgeschlossen sei und kein unmittelbares Doppelzahlungsrisiko bestehe. Angefügt werden kann, dass nach der Lehre zum Recht von Singapur mit Einverständnis des Kontoinhabers an sich geschützte Einzelheiten über das Konto offenbart werden können (vgl. FRIEDMANN, Bank Secrecy in Singapore, Jusletter 5. Oktober 2009 Rz. 6). Auf diese Möglichkeit hat die Vorinstanz hingewiesen und festgehalten, dass die von der Beschwerdeführerin eingereichte "Legal opinion" sich dazu nicht äussere. Dass die Überlegung zum ausländischen Recht unhaltbar sei, wird nicht dargetan. Es besteht kein Anlass, das Vorgehen einer Zweigniederlassung zu erörtern, welche im Zusammenhang mit einem schweizerischen Arrest vor Auszahlung eines Guthabens
BGE 140 III 512 S. 520
Rücksprache mit den zuständigen bankinternen Stellen in der Schweiz nimmt (vgl. Urteil des High Court von Singapur vom 29. März 2010, [2010] SGHC 96, in:
www.singaporelaw.sg
).
3.6
Wenn die Vorinstanz zum Ergebnis gelangt ist, es bestehe kein Hindernis zur Pfändung, erscheint dies mit den Regeln über die zwangsvollstreckungsrechtliche Zuständigkeit der Schweiz vereinbar. Soweit die Beschwerdeführerin der Vorinstanz die falsche Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben vorwirft, kritisiert sie vergeblich die teilweise unzutreffende - vom Bundesgericht ohnehin ersetzbare (
Art. 106 Abs. 1 BGG
;
BGE 133 III 545
E. 2.2 S. 550) - Begründung des angefochtenen Entscheides. | de |
44f3128b-342b-48b2-899c-14b38cdb7390 | Sachverhalt
ab Seite 119
BGE 107 III 118 S. 119
A.-
Auf Begehren der Bundesrepublik Deutschland belegte der Amtsgerichtspräsident III von Luzern-Land am 11. August 1978 das Grundstück Nr. 1 054 GB Weggis für eine Forderung von Fr. 300'000.-- nebst Zins gegen den in Saarbrücken wohnhaften H. S. mit Arrest. Das Grundstück wurde von A. S., der Ehefrau des Arrestschuldners, gestützt auf einen Kaufvertrag vom 10. Mai 1978 und die gleichentags erfolgte Grundbuchanmeldung zu Eigentum angesprochen. Der Arrestgläubigerin wurde deshalb eine Frist von 10 Tagen zur Einreichung der Widerspruchsklage nach
Art. 109 SchKG
angesetzt. Eine Beschwerde gegen diese Fristansetzung wurde von der Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Luzern als oberer kantonaler Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs am 16. Oktober 1978 zweit- und letztinstanzlich abgewiesen.
In der Zwischenzeit hatte die Gläubigerin den Arrest durch Einleitung der Betreibung gegen den Schuldner rechtzeitig prosequiert. Am 18. November 1978 vollzog das Betreibungsamt die Pfändung des mit Arrest belegten Grundstücks und setzte der Gläubigerin erneut Frist zur Einreichung der Widerspruchsklage an. Hierauf erhob die Gläubigerin am 21. November 1978 beim Landgericht Saarbrücken gegen A. S. Anfechtungsklage mit dem Antrag, diese sei zu verurteilen, die Zwangsvollstreckung in ihr Grundstück für die Forderung gegen ihren Ehemann zu dulden. Das Gericht hiess die Klage am 13. Juni 1980 in Anwendung schweizerischen Rechts gestützt auf
Art. 288 SchKG
gut und erklärte das Urteil gegen eine Sicherheitsleistung im Betrag von DM 400'000.-- als vorläufig vollstreckbar. Gestützt auf dieses Urteil stellte die Gläubigerin am 16. Oktober 1980 beim Betreibungsamt das Verwertungsbegehren.
B.-
Gegen die Mitteilung des Verwertungsbegehrens beschwerten sich A. und H. S. beim Amtsgerichtspräsidenten III von Luzern-Land als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde im Schuldbetreibungs- und Konkurswesen. Mit Entscheid vom 25. Mai hiess dieser die Beschwerde gut und hob die Anordnungen des Betreibungsamtes betreffend die Verwertung des gepfändeten
BGE 107 III 118 S. 120
Grundstücks auf. Die Gläubigerin zog diesen Entscheid an die Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Luzern als obere kantonale Aufsichtsbehörde weiter, welche ihn jedoch am 21. August 1981 bestätigte.
C.-
Gegen den Entscheid des Obergerichts rekurrierte die Bundesrepublik Deutschland an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts. Sie beantragt, das Betreibungsamt Weggis sei anzuweisen, dem Verwertungsbegehren gegen eine Sicherheitsleistung von DM 400'000.-- stattzugeben. Ferner ersucht sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Die Rekurrentin bestreitet nicht, dass sie innert der Frist von 10 Tagen, die ihr mit der Zustellung der Arresturkunde angesetzt wurde und die mit der Zustellung des obergerichtlichen Beschwerdeentscheids vom 16. Oktober 1978 zu laufen begann, keine Widerspruchsklage im Sinne von
Art. 109 SchKG
eingeleitet hat und dass die Klage beim Landgericht Saarbrücken erst nach Ablauf dieser Frist, nämlich am 21. November 1978, erhoben worden ist. Mit dem unbenutzten Ablauf der Klagefrist hatte der Drittanspruch aber als anerkannt zu gelten (
Art. 109 Satz 2 SchKG
). Damit wurde der Arrest gegenstandslos, wodurch auch der Arrestprosequierungsbetreibung die Grundlage entzogen wurde. Dass das Betreibungsamt in der Folge dennoch zur Pfändung schritt und erneut Frist zur Widerspruchsklage ansetzte, vermochte daran nichts mehr zu ändern. Schon aus diesem Grund ist der Rekurs abzuweisen.
2.
Abgesehen davon hätte die Klage vor dem Landgericht Saarbrücken, selbst wenn sie rechtzeitig erhoben worden wäre, nicht die Wirkung einer Widerspruchsklage im Sinne von
Art. 109 SchKG
haben können. Im Widerspruchsverfahren zwischen dem betreibenden Gläubiger und dem Dritten, der das Eigentum an einem gepfändeten oder mit Arrest belegten Gegenstand beansprucht, wird einzig darüber entschieden, ob der betreffende Gegenstand in der laufenden Betreibung zugunsten des Gläubigers verwertet werden dürfe oder ob er aus der Pfändung bzw. dem Arrestbeschlag zu entlassen sei (
BGE 99 III 14
E. 1 mit Hinweisen). Dementsprechend bildet der Widerspruchsprozess lediglich ein Zwischenverfahren in einer bestimmten Betreibung, auf
BGE 107 III 118 S. 121
welche sich seine Rechtskraftwirkung beschränkt (
BGE 86 III 142
/143). Diese enge Verknüpfung mit dem Zwangsvollstreckungsverfahren hat zur Folge, dass zur Beurteilung einer Widerspruchsklage nur der schweizerische Richter zuständig sei kann. Eine Zwangsvollstreckung in inländisches Vermögen kann nur von den schweizerischen Behörden vollzogen werden. Es ist daher ausgeschlossen, dass der schweizerische Betreibungsbeamte von einem ausländischen Richter Weisungen darüber entgegenzunehmen hätte, ob ein in der Schweiz liegendes Vermögensstück, das von einem Dritten zu Eigentum beansprucht wird, in einer bestimmten Betreibung zugunsten des betreibenden Gläubigers verwertet werden dürfe (
BGE 57 III 16
; Entscheid des bernischen Appellationshofes in ZBJV 41/1905 S. 426/427; JAEGER, N. 5 E. zu
Art. 107 SchKG
, S. 348). Mit einer im Ausland erhobenen Widerspruchsklage kann deshalb auch die Frist des
Art. 109 SchKG
nicht gewahrt werden.
3.
Die Rekurrentin macht freilich geltend, sie habe vor dem Landgericht Saarbrücken gar keinen Widerspruchsprozess, sondern einen Anfechtungsprozess durchgeführt. Das Landgericht habe die Klage gutgeheissen und verbindlich erklärt, dass das fragliche Grundstück zum Verwertungssubstrat des Schuldners gehöre. Damit stehe aber gleichzeitig fest, dass der Arrest zur Recht bestehe. Dem Verwertungsbegehren müsse daher stattgegeben werden.
In das laufende Arrest- bzw. Betreibungsverfahren vermochte der deutsche Richter nach dem Gesagten indessen nicht einzugreifen. Nur durch einen Widerspruchsprozess vor dem schweizerischen Richter hätte die von der Ehefrau des Arrestschuldners erhobene Eigentumsansprache beseitigt werden können. Dabei hätte die Widerspruchsklage durchaus auch damit begründet werden können, der Erwerb des Grundstücks durch die Ansprecherin sei im Sinne von
Art. 285 ff. SchKG
anfechtbar, sofern die Rekurrentin gemäss
Art. 285 Abs. 2 Ziff. 1 SchKG
zur Erhebung der Anfechtungsklage legitimiert gewesen wäre (
BGE 103 III 104
; vgl. auch
BGE 96 III 117
; FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl., Bd. II, S. 287; JAEGER, N. 2 zu
Art. 285 SchKG
).
Damit ist nicht gesagt, dass der in Deutschland durchgeführte Anfechtungsprozess für die Schweiz zum vornherein unbeachtlich ist. Ausgeschlossen ist nur seine Berücksichtigung im laufenden Vollstreckungsverfahren. Über die Vollstreckbarkeit des Urteils des Landgerichts Saarbrücken ist im übrigen nicht im vorliegenden
BGE 107 III 118 S. 122
Verfahren zu befinden. Wenn die Rekurrentin dieses Urteil in der Schweiz vollstrecken lassen will, hat sie vorerst bei der zuständigen Behörde das Exequatur zu erwirken (
§ 325 ZPO
/LU; Art. 6 des Abkommens zwischen der Schweiz und Deutschland über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheiden und Schiedssprüchen vom 2. November 1929). Erst wenn feststeht, dass das Urteil in der Schweiz vollstreckbar ist, kann das Grundstück zugunsten der Rekurrentin verwertet werden. Die Möglichkeit, dass das Exequatur erteilt werden könnte, ändert jedoch nichts am Hinfall des Arrests.
4.
Der Rekurs erweist sich somit als unbegründet.
Mit dem sofortigen Entscheid in der Sache wird das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung hinfällig. | de |
2a168aaf-768f-461d-800b-7c84e42be0ad | Sachverhalt
ab Seite 440
BGE 127 III 440 S. 440
A. ist Eigentümer des Grundstücks Nr. 164. Dieses grenzt nördlich an das Grundstück Nr. 162, welches im Miteigentum der Genossenschaft B. und sechs weiteren Miteigentümern steht. Entlang der Westgrenze beider Grundstücke verläuft die Strasse Q. Die damaligen Eigentümer der Grundstücke vereinbarten mit Dienstbarkeitsverträgen vom 6. Oktober 1938 ein unbeschränktes Fuss-
BGE 127 III 440 S. 441
und Fahrwegrecht zugunsten von Grundstück Nr. 164 und zulasten von Grundstück Nr. 162 (als Verbindung zwischen der Strasse Q. und dem Hofraum auf Grundstück Nr. 164) sowie ein oberirdisches Näherbaurecht bis auf 2 m an die Grenze zugunsten von Grundstück Nr. 162 und zulasten von Grundstück Nr. 164. Die Grundbucheinträge erfolgten am gleichen Tag. Am 7./10. Dezember 1990 schlossen die damaligen Eigentümer derselben Grundstücke - bei Grundstück Nr. 164 war dies die H. AG - einen Dienstbarkeitsvertrag, der am 10. Dezember 1990 im Grundbuch eingetragen wurde. Inhalt dieses Dienstbarkeitsvertrages war u.a., dass beide Grundeigentümer berechtigt seien, bis an die (gemeinsame) Grundstücksgrenze zu bauen, was in der Folge bezüglich des Grundstückes Nr. 162 getan wurde. Am 8. Juli 1997 erwarb A. das Grundstück Nr. 164.
Mit Einreichung der Weisung am 14. Dezember 1998 erhob A. beim Bezirksgericht Arbon Klage gegen die Genossenschaft B. und sechs weitere derzeitige Miteigentümer des Grundstückes Nr. 162. Er beantragte, es sei festzustellen, dass das Fuss- und Fahrwegrecht zur Strasse Q. gemäss Dienstbarkeitsvertrag und -eintrag von 1938 bestehe, und es seien die Beklagten zu verpflichten, ihm dieses Recht innert angemessener Frist wieder zur uneingeschränkten Ausnützung bereitzustellen; eventuell sei ihm Schadenersatz zuzusprechen. Die Genossenschaft B. und sechs weitere Miteigentümer erhoben Widerklage mit dem Antrag, das Grundbuchamt sei anzuweisen, die beiden Dienstbarkeiten (Fuss- und Fahrwegrecht, Näherbaurecht) gemäss den Dienstbarkeitsverträgen vom 6. Oktober 1938 zu löschen. Mit Urteil vom 5. März 1999 wies das Bezirksgericht Arbon die Klage von A. ab und hiess die Widerklage der Genossenschaft B. und sechs weiteren Miteigentümern gut. Das Obergericht des Kantons Thurgau wies mit Urteil vom 30. November 1999 die Berufung von A. ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil.
Das Bundesgericht weist die von A. erhobene Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Das Obergericht hat im Wesentlichen festgehalten, dass einerseits der das Grenzbaurecht einräumende Dienstbarkeitsvertrag von 1990 und die nachfolgende Realisierung des Grenzbaurechts durch den Eigentümer des Grundstückes Nr. 162, der sich die damalige Eigentümerin des Grundstückes Nr. 164 nicht widersetzt habe, einen beidseitigen stillschweigenden Verzicht auf die Dienstbarkeiten
BGE 127 III 440 S. 442
von 1938 (Fuss- und Fahrwegrecht, Näherbaurecht) bzw. deren materiellen Untergang beinhalte. Anderseits habe der Kläger bezüglich des Weiterbestehens dieser Dienstbarkeiten trotz des nach wie vor bestehenden Grundbucheintrages nicht gutgläubig sein dürfen.
b) Der Kläger verneint einen Verzicht auf die Dienstbarkeiten von 1938. Zur Begründung bringt er im Wesentlichen vor, ein solcher Verzicht sei nie bewiesen worden; vielmehr spreche der Brief vom 18. März 1992 der damaligen Eigentümerin des Grundstückes Nr. 164 (H. AG) gegen einen Verzicht. Zudem sei eine Baueinsprache gegenüber dem Bauprojekt auf Grundstück Nr. 162 deswegen nicht erfolgt, weil die damalige Eigentümerin des Grundstücks Nr. 164 in Konkursliquidation gestanden habe. Hinsichtlich seines guten Glaubens beruft sich der Kläger auf den Grundbucheintrag und die gesetzliche Vermutung des guten Glaubens.
2.
a) Von den gesetzlichen Gründen für den Untergang von Dienstbarkeiten (
Art. 734-736 ZGB
) steht im konkreten Fall keiner in Frage. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die Aufzählung dieser Gründe nicht abschliessend ist und insbesondere auch ein - ausdrücklicher oder stillschweigender - Verzicht auf eine Dienstbarkeit, unter Einschluss von entsprechend eindeutigem konkludentem Verhalten, zum Untergang führt (Urteil des Bundesgerichts vom 19. November 1997 i.S. Z. [5C.177/1997], E. 3a, publiziert in: ZBGR 80/1999 S. 125 f.; LIVER, Zürcher Kommentar, N. 197 ff. zu
Art. 734 ZGB
; RIEMER, Die beschränkten dinglichen Rechte, 2. Aufl. 2000, § 11 Rz. 30). Darunter fällt beispielsweise auch die "Gestattung der Verbauung eines Wegrechts" (LIVER, a.a.O., N. 107 a.E. zu
Art. 734 ZGB
), was a fortiori gelten muss, wenn dieses Gestatten in Gestalt eines förmlichen Dienstbarkeitsvertrages erfolgt.
b) Ein Verzicht im dargelegten Sinn ist vorliegend klarerweise zu bejahen. Nach den Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz wurde mit dem Dienstbarkeitsvertrag von 1990 den jeweiligen Eigentümern der Grundstücke Nrn. 164 und 162 das Recht eingeräumt, gegenseitig an die Grenze zu bauen; in der Folge wurde auf Grundstück Nr. 162 das Geschäftshaus "I." bis an die gemeinsame Grundstücksgrenze hin erstellt. Indem der damalige Eigentümer des Grundstückes Nr. 164 im Jahre 1990 dem damaligen Eigentümer des Grundstückes Nr. 162 gestattete, gestützt auf das Grenz- bzw. Näherbaurecht an die gemeinsame Grundstücksgrenze zu bauen, verzichtete er implizit - aber dennoch offensichtlich - auf sein
BGE 127 III 440 S. 443
Fuss- und Fahrwegrecht von 1938 über das Grundstück Nr. 162, da dessen Ausübung mit der Dienstbarkeit von 1990 rechtlich und mit der Realisierung des Grenz- und Näherbaurechts auch faktisch absolut unvereinbar war. Auf das Verhalten des damaligen Eigentümers des Grundstücks Nr. 164 gegenüber der Ausübung (Realisierung) dieses Grenz- und Näherbaurechts kommt es unter diesen Umständen nicht einmal mehr entscheidend an. Der Kläger wendet sich mit seinem Hinweis auf das Schreiben vom 18. März 1992 - da die Beweiswürdigung im Berufungsverfahren nicht überprüfbar ist (
BGE 122 III 219
E. 3c S. 223) - ohnehin vergeblich gegen die verbindliche Feststellung des Obergerichts (
Art. 63 Abs. 2 OG
), der damalige Eigentümer des Grundstücks Nr. 164 habe sich der Ausübung (Realisierung) des Grenz- und Näherbaurechts auf Grundstück Nr. 162 nicht widersetzt. Im Übrigen kann der Kläger daraus, dass die Untätigkeit des damaligen Eigentümers des Grundstückes Nr. 164 konkursbedingt war, nichts zu seinen Gunsten ableiten, da er sich heute dessen Verhalten auf jeden Fall anrechnen lassen muss.
c) Was den guten Glauben des Klägers in den Grundbucheintrag (
Art. 973 Abs. 1 ZGB
) betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass dieser Schutz nicht absolut ist; vielmehr darf sich auch im Zusammenhang mit dem Grundbuch derjenige nicht auf seinen guten Glauben berufen, welcher bei der Aufmerksamkeit, wie sie nach den Umständen von ihm verlangt werden darf, nicht gutgläubig sein konnte (
Art. 3 Abs. 2 ZGB
; betreffend das Grundbuch im Besonderen vgl.
BGE 109 II 102
E. 2 S. 104;
BGE 82 II 103
E. 5 S. 112; DESCHENAUX, Das Grundbuch, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/3 II, S. 788 u. 792 f.). Ein solcher Fall liegt hier vor: Aus dem blossen Vergleich der Dienstbarkeitseinträge von 1938 und 1990, jedenfalls in Verbindung mit den betreffenden, Bestandteile des Grundbuches (
Art. 942 Abs. 2 ZGB
) bildenden Dienstbarkeitsverträgen, sowie erst recht aufgrund der zwischen den Jahren 1990 und 1997 (Erwerb des Grundstückes Nr. 164 durch den Kläger) erfolgten Erstellung der Baute auf Grundstück Nr. 162 bis an die gemeinsame Grundstücksgrenze, musste sich für den Kläger ohne weiteres die implizite rechtliche Beseitigung des Fuss- und Fahrwegrechts von 1938 ergeben. | de |
24aca779-6e2b-4fe9-9e74-990efbaa28bb | Sachverhalt
ab Seite 383
BGE 138 III 382 S. 383
A.
A.a
X. verlangte am 8. Dezember 2010 gestützt auf
Art. 271 Abs. 1 Ziff. 4 SchKG
die Arrestierung von Vermögenswerten der S. Holding Establishment, mit Sitz in Liechtenstein, bei der Bank T. AG, mit Sitz in Zürich, bis zur Deckung der Arrestforderung von (umgerechnet) Fr. 5'502'101.22 nebst Zinsen. Mit Verfügung vom 9. Dezember 2010 hiess die Arrestrichterin am Bezirksgericht Zürich das Begehren teilweise gut und erliess einen Arrestbefehl. Als Forderungsurkunde wurde das Urteil des Court of Chancery of the State of Delaware/USA vom 12. August 2010 aufgeführt. Als Arrestgegenstände wurden sämtliche Konten und Vermögenswerte der Arrestschuldnerin bei der betreffenden Bank, inbegriffen das Konto IBAN CH y bezeichnet.
A.b
Am 10. Dezember 2010 vollzog das Betreibungsamt Zürich 1 den Arrestbefehl. Gegen den Arrestbefehl erhob Z. Einsprache und beanspruchte das Eigentum am erwähnten Bankkonto. Mit Verfügung vom 15. März 2011 hiess der Einzelrichter am Bezirksgericht die Arresteinsprache gut und hob den Arrestbefehl bezüglich des Bankkontos auf. Im Übrigen blieb der Arrestbefehl bestehen.
A.c
Gegen den Entscheid über die Arresteinsprache erhob X. Beschwerde. Mit Urteil vom 11. August 2011 wies das Obergericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab und bestätigte den Arresteinspracheentscheid vom 15. März 2011. (...)
B.
Am 14. September 2011 gelangte X. an das Obergericht. Er verlangte die Revision des obergerichtlichen Urteils vom 11. August 2011 und die Durchführung eines neuen Verfahrens. In der Sache sei der Arresteinspracheentscheid aufzuheben und der Arrestbefehl zu bestätigen. Mit Urteil vom 19. Dezember 2011 wies das Obergericht das Revisionsbegehren ab.
C.
Am 20. Januar 2012 hat X. Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Der Beschwerdeführer beantragt, das Urteil des Obergerichts vom 19. Dezember 2011 aufzuheben und das Revisionsgesuch vom 14. September 2011 sowie die betreffenden Anträge in der Sache gutzuheissen. Eventuell sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug)
BGE 138 III 382 S. 384 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt das Urteil des Obergerichts, mit welchem die Revision (
Art. 328 ff. ZPO
[SR 272]) des Beschwerdeentscheides über die Arresteinsprache (
Art. 278 Abs. 3 SchKG
i.V.m.
Art. 319 ff. ZPO
) abgelehnt wurde. Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, es habe den Tatsachen und Beweismitteln, mit welchen die Revision begründet werde, zu Unrecht (durch Verletzung des Gehörsanspruchs und willkürliche Beweiswürdigung) die Erheblichkeit abgesprochen.
3.1
Unstrittig ist, dass der Beschwerdeführer die Revision des obergerichtlichen Urteils vom 11. August 2011 gestützt auf
Art. 328 Abs. 1 lit. a ZPO
verlangt hat. Nach dieser Bestimmung kann eine Partei beim Gericht, welches als letzte Instanz in der Sache entschieden hat, die Revision des rechtskräftigen Entscheids verlangen, wenn sie nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel findet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte; ausgeschlossen sind Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Entscheid entstanden sind.
3.2
Die Revision nach
Art. 328 ff. ZPO
erlaubt, einen rechtskräftigen Entscheid ("décision entrée en force", "decisione passata in giudicato") aus bestimmten Gründen zu korrigieren, und stellt kein eigentliches Rechtsmittel dar (vgl. Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO] vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7221, 7379, Ziff. 5.23.3; MARAZZI, Erranze alla scoperta del nuovo Codice di procedura civile svizzero, ZSR 128/2009 II S. 423). Das Obergericht hat das Urteil vom 11. August 2011, d.h. den Beschwerdeentscheid über die Arresteinsprache, als revisionsfähigen Entscheid betrachtet, mit der einzigen Begründung, dass dagegen (bzw. mit der Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht) kein ordentliches Rechtsmittel mehr offenstehe. Diese Sicht greift - wie sich aus dem Folgenden ergibt - zu kurz.
3.2.1
Zweck der Revision nach
Art. 328 ff. ZPO
ist es, Gerichtsentscheide, die in materielle Rechtskraft erwachsen sind und deswegen nicht durch andere Rechtsbehelfe (wie Rechtsmittel, Abänderung oder Ergänzung des Entscheides, neue Klage) korrigiert werden können, bei Vorliegen bestimmter Revisionsgründe einer erneuten Prüfung durch das erkennende Gericht zuzuführen (u.a. SCHWANDER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], 2011, N. 3 zu
Art. 328 ZPO
). Der Revision
BGE 138 III 382 S. 385
nach
Art. 328 ff. ZPO
unterliegen nur Gerichtsentscheide, sofern der angefochtene Entscheid Verbindlichkeit im Sinne der materiellen Rechtskraft aufweist (SCHWEIZER, in: Code de procédure civile commenté, Bohnet u.a. [Hrsg.], 2011, N. 10 zu
Art. 328 ZPO
; HERZOG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 27 ff. zu
Art. 328 ZPO
). An einem der Revision zugänglichen Entscheid fehlt es, wenn dieser zwar formell rechtskräftig, aber nicht materiell rechtskräftig und jederzeit auf Begehren überprüft und korrigiert werden kann, was z.B. bei vorsorglichen Massnahmen grundsätzlich zutrifft (u.a. SCHWANDER, a.a.O., N. 14 zu
Art. 328 ZPO
; MEIER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 471).
3.2.2
Der Arrestentscheid erwächst nicht in materielle Rechtskraft, sondern stellt eine vorsorgliche Massnahme für die Zeit des Prosequierungsverfahrens dar (
BGE 133 III 589
E. 1 S. 591; vgl. STOFFEL/CHABLOZ, in: Commentaire romand, Poursuite et faillite, 2005, N. 54 zu
Art. 272 SchKG
; GASSER, Das Abwehrdispositiv der Arrestbetroffenen nach revidiertem SchKG, ZBJV 1994 S. 607). Es ist anerkannt, dass nach Abweisung oder Aufhebung eines Arrestes ein Arrestbegehren neu eingereicht werden kann (vgl. bereits
BGE 60 I 255
E. 2 S. 256), so mit einer veränderten, um neue Tatsachen und Beweismittel ergänzten Begründung. Einem Arrestbegehren soll nur dann der Einwand der
res iudicata
entgegenstehen, wenn es auf dem völlig gleichen Sachverhalt beruht wie ein früheres Arrestbegehren, das zur Abweisung oder Aufhebung des Arrestes geführt hat (JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 4. Aufl. 1997/99, N. 19 zu Art. 271, N. 3 zu
Art. 278 SchKG
; ARTHO VON GUNTEN, Die Arresteinsprache, 2001, S. 20, 118; vgl. MEIER, Grundlagen des vorsorglichen Rechtsschutzes, 1983, S. 164 Rz. 308: Wiederholung "jederzeit und voraussetzungslos" zulässig).
3.2.3
Der Beschwerdeführer hat die Revision verlangt, weil er bestimmte neue Tatsachen bzw. Beweismittel aus entschuldbaren Gründen nicht mehr vor der Entscheidfällung am 11. August 2011 (nach Art. 278 Abs. 3 zweiter Satz SchKG) in das Beschwerdeverfahren gegen die Arresteinsprache habe einbringen können. Damit übergeht er, dass alle - aus irgendwelchen Gründen - bis anhin nicht vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nach Abweisung der Beschwerde gegen die Arresteinsprache bzw. Aufhebung des Arrestbefehls in einem neuen Arrestbegehren vorgebracht werden können. Das gilt für die Tatsachen und Beweismittel, die bereits im
BGE 138 III 382 S. 386
Zeitpunkt der Entscheidfällung existierten oder erst in der Folge entstanden sind. Um die Aufhebung des Arrestbefehls allenfalls zu korrigieren, bedarf es des "Notrechtsmittels" der Revision nicht. Wenn das Obergericht auf das Revisionsbegehren des Beschwerdeführers dennoch eingetreten ist, hat es übergangen, dass das Urteil vom 11. August 2011 einen Entscheid darstellt, welcher der Revision nicht zugänglich ist. Fehlt es an einem revisionsfähigen Entscheid im Sinne von
Art. 328 ZPO
, ist über die Erheblichkeit der nachträglich entdeckten Tatsachen und Beweismittel (Abs. 1 lit. a) nicht zu befinden.
3.3
Nach dem Dargelegten stellt im Ergebnis keine Verletzung von verfassungsmässigen Rechten dar, wenn dem Revisionsbegehren des Beschwerdeführers vor dem Obergericht kein Erfolg beschieden war. Es erübrigt sich, die Vorbringen des Beschwerdeführers weiter zu erörtern. | de |
40c36a32-f5e4-4c43-9831-5c9afd8f46ec | Sachverhalt
ab Seite 60
BGE 146 IV 59 S. 60
A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau erhob am 25. Oktober 2007 Anklage gegen A. wegen verschiedener Vermögens- und Urkundendelikte sowie Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz. A. hatte im Herbst 2006 ihren Wohnsitz nach Kanada verlegt.
B.
B.a
Das Bezirksgericht Münchwilen erklärte A. am 21. Februar 2008 im Abwesenheitsverfahren des mehrfachen gewerbsmässigen Betruges, der mehrfachen Veruntreuung, des Pfändungsbetruges, der Misswirtschaft, der Unterlassung der Buchführung, der Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte, der mehrfachen Fälschung von Ausweisen sowie der Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz schuldig und verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten und einer Busse von Fr. 240.-, bei schuldhafter Nichtbezahlung umwandelbar in eine Ersatzfreiheitsstrafe von drei Tagen. Ferner entschied es über die Einziehung der beschlagnahmten Vermögenswerte und verpflichtete A. zur Zahlung von Schadenersatz an die Geschädigten. Von der Anklage der mehrfachen Urkundenfälschung und der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln in einem Punkt sprach es sie frei.
B.b
Am 10. Januar 2013 wurde das Urteil des Bezirksgerichts Münchwilen der Beurteilten persönlich übergeben. Diese stellte am gleichen Tag ein Gesuch um Neubeurteilung, welchem das Bezirksgericht Münchwilen mit Beschluss vom 2. Mai 2013 stattgab. Der neu angesetzten Hauptverhandlung vom 14. November 2013 blieb A. fern. An der abermals neu angesetzten Hauptverhandlung, an welcher A. wiederum nicht teilnahm, bestätigte das Bezirksgericht Münchwilen am 6. Februar 2014 das Urteil vom 21. Februar 2008. Eine gegen diesen Entscheid geführte Beschwerde hiess das Obergericht des Kantons Thurgau mit Urteil vom 11./23. September 2014 gut und wies die Sache zur neuen Entscheidung an das Bezirksgericht zurück.
B.c
Mit Urteil vom 20. März 2018 erklärte das Bezirksgericht Münchwilen A. erneut des mehrfachen gewerbsmässigen Betruges, der mehrfachen Veruntreuung und weiterer Vermögensdelikte sowie der mehrfachen Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz schuldig und verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten. In einzelnen Anklagepunkten sprach es sie frei, in einem Punkt stellte es das Verfahren zufolge Verjährung ein. Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob es zugunsten einer ambulanten psychotherapeutischen
BGE 146 IV 59 S. 61
Massnahme auf. Ferner entschied es über die Einziehung der beschlagnahmten Vermögenswerte und die geltend gemachten Zivilforderungen.
B.d
Das Obergericht des Kantons Thurgau hiess eine von A. gegen dieses Urteil erhobene Berufung am 23. Januar 2019 teilweise gut und verurteilte sie wegen mehrfacher Veruntreuung, Pfändungsbetruges, Misswirtschaft, Unterlassung der Buchführung, Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte, mehrfacher Fälschung von Ausweisen sowie wegen mehrfacher einfacher Verkehrsregelverletzungen zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Von der Anklage des mehrfachen teilweise gewerbsmässigen Betruges, der Urkundenfälschung und des Missbrauchs von Ausweisen und Kontrollschildern sprach es sie frei. In einem Punkt stellte es das Verfahren zufolge Verjährung ein. In Bezug auf die Anordnung einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung und den Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe bestätige es den erstinstanzlichen Entscheid. Schliesslich verurteilte es A. zur Zahlung von Schadenersatz an zwei Privatkläger als Solidargläubiger; im Übrigen verwies es die Schadenersatzforderungen auf den Zivilweg.
C.
A. führt Beschwerde in Strafsachen, mit der sie beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei das Verfahren in Bezug auf die Anklagepunkte 1 bis 3, 12 sowie auf den Anklagepunkt 5, soweit Handlungen vor dem 20. März 2003 umschrieben würden, zufolge Verjährung einzustellen. Ferner sei sie in den Anklagepunkten 5, soweit Handlungen nach dem 20. März 2003 betreffend, und 7 von Schuld und Strafe freizusprechen. Im Anklagepunkt 4 sei sie der Unterlassung der Buchführung und der Misswirtschaft schuldig zu erklären und angemessen zu bestrafen. Der beschlagnahmte Betrag von CHF 3'488.15 sei freizugeben; der beschlagnahmte Betrag von CHF 21'353.45 sei der Konkursmasse B. AG zu überweisen. Die Zivilforderungen seien auf den Zivilweg zu verweisen.
Subeventualiter beantragt A., sie sei in den Anklagepunkten 1 bis 4 des Pfändungsbetruges, der mehrfachen Fälschung von Ausweisen, der Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte der Unterlassung der Buchführung und der Misswirtschaft sowie der mehrfachen Verkehrsregelverletzung, mit Ausnahme derjenigen vom 10. Dezember 2004 schuldig, von den übrigen Anklagepunkten aber freizusprechen. Sie sei zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu
BGE 146 IV 59 S. 62
CHF 30.-, mit bedingtem Strafvollzug bei einer Probezeit von 3 Jahren, sowie zu einer Busse von CHF 300.- zu verurteilen. Im Weiteren sei ihr die Weisung zu erteilen, eine Psychotherapie zu absolvieren; eventualiter sei eine Massnahme gemäss
Art. 63 StGB
auszusprechen und die Strafe zugunsten der Massnahme aufzuschieben. Schliesslich ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
D.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragen in ihren Vernehmlassungen die Abweisung der Beschwerde. A. hat auf Stellungnahme hierzu stillschweigend verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 23. Januar 2019 auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Die Beschwerdeführerin macht in Bezug auf die Verjährung geltend, die ihr in den Anklagepunkten 1-3, 5 und 12 vorgeworfenen strafbaren Handlungen seien im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils vom 20. März 2018 verjährt gewesen. Die Vorinstanz sei zu Unrecht zum Schluss gelangt, die Verjährung habe ab dem Datum des Abwesenheitsurteils vom 21. Februar 2008 geruht. Diese sogenannte Ruhetheorie stehe im Widerspruch zum Zweck des Instituts der Verjährung. Folge man dieser Auffassung, hätte im vorliegenden Fall über einen Zeitraum von zehn Jahren die Strafverfolgung geruht. Die Taten aus dem Jahr 2001 könnten demzufolge immer noch beurteilt werden, obwohl das Strafbedürfnis sich mit dem Zeitablauf erheblich vermindert habe und sich erhebliche Beweisprobleme stellten. Im Übrigen habe nicht sie es zu vertreten, dass die erstinstanzliche Hauptverhandlung erst fünf Jahre nach Aushändigung des Abwesenheitsurteils habe durchgeführt werden können. Im Weiteren macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinstanz fasse das Abwesenheitsurteil zu Unrecht verjährungsrechtlich als erstinstanzliches Urteil auf. Damit verkenne sie, dass das Abwesenheitsurteil nach Gutheissung des Gesuchs um Neubeurteilung mit der Fällung eines neuen erstinstanzlichen Urteils dahinfalle. Es müsse verjährungsrechtlich insofern gleich behandelt werden wie der Strafbefehl. Im zu beurteilenden Fall könne mithin erst das Urteil des Bezirksgerichts Münchwilen vom 20. März 2018 als erstinstanzliches Urteil gelten.
BGE 146 IV 59 S. 63
3.2
Die Vorinstanz nimmt an, nach dem seit dem 1. Oktober 2002 geltenden Verjährungsrecht könnten Straftaten nach Fällung des erstinstanzlichen Urteils nicht mehr verjähren. Als erstinstanzliches Urteil gelte auch ein im Abwesenheitsverfahren ergangenes Urteil. Bei den Straftaten, welche die Beschwerdeführerin nach dem 1. Oktober 2002 begangen habe, könne die Verfolgungsverjährung daher nicht mehr eintreten. Die Auffassung, welche auch unter der Geltung des neuen Rechts die zwischen dem Abwesenheitsurteil und dem neuen Entscheid verstrichene Zeit an die Verfolgungsverjährung anrechnen wolle, sei daher abzulehnen. Dass Abwesenheitsurteile dadurch unter Umständen sehr lange Wirkung erzielten und die Verjährungsfristen stark ausgedehnt würden, sei in Kauf zu nehmen. Für die Delikte, welche vor Inkrafttreten des neuen Verjährungsrechts verübt worden seien, sei gestützt auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung anzunehmen, dass die Verjährungsfrist mit dem Abwesenheitsurteil vom 21. Februar 2008 bis zur Aufhebung dieses Entscheids durch das Urteil des Bezirksgerichts Münchwilen vom 20. März 2018 geruht habe. Wollte man die seit dem Abwesenheitsurteil verstrichene Zeit an die Verjährungsfrist anrechnen, würde dies dazu führen, dass sich eine Flucht lohne. Es wäre auch stossend, wenn der Täter durch rechtsmissbräuchliches Verhalten das Verfahren verzögern könnte und es in der Hand hätte, die Verjährung eintreten zu lassen. Damit seien die in den Ziffern 1-3, vor dem 20. März 2003 begangenen, und die in den Ziffern 11 und 12 der Anklageschrift angeklagten Straftaten nicht verjährt.
3.3
Die Verfolgungsverjährung richtet sich grundsätzlich nach dem zur Zeit der inkriminierten Taten geltenden Recht. Soweit die der Beschwerdeführerin vorgeworfenen Taten in die Zeit vor Inkrafttreten des neuen Verjährungsrechts am 1. Oktober 2002 fallen, ist das alte Recht (in der bis zum 30. September 2002 geltenden Fassung) anwendbar, soweit sich das neue Recht nicht als milder erweist (
Art. 2 Abs. 2 StGB
). Nach aArt. 72 Ziff. 2 StGB (in der Fassung vom 5. Oktober 1950, in Kraft bis 30. September 2002; AS 1951 1 ff., 7) wurde die Verjährung durch jede Untersuchungshandlung einer Strafverfolgungsbehörde oder Verfügung des Gerichts gegenüber dem Täter und ferner durch jede Ergreifung von Rechtsmitteln gegen einen Entscheid unterbrochen und begann die Verjährungsfrist mit jeder Unterbrechung neu zu laufen. Die Verfolgungsverjährung trat jedoch in jedem Fall ein, wenn die ordentliche Verjährungsfrist
BGE 146 IV 59 S. 64
um die Hälfte, bei Ehrverletzungen und bei Übertretungen um ihre ganze Dauer überschritten war.
Nach dem für die nach dem 1. Oktober 2002 begangenen Straftaten relevanten neuen Verjährungsrecht tritt die Verjährung nicht mehr ein, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist (
Art. 97 Abs. 3 StGB
[in der Fassung vom 21. Juni 2013, in Kraft seit. 1. Januar 2014]; vgl. auch aArt. 70 Abs. 3 StGB in der Fassung vom 5. Okt. 2001, in Kraft vom 1. Okt. 2002 bis 31. Dezember 2006; aArt. 97 Abs. 1 lit. c StGB in der Fassung vom 13. Dezember 2002, in Kraft vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2012). Voraussetzung ist allerdings, dass das Urteil überhaupt je eröffnet wird. Nach der Rechtsprechung wäre von dieser Regel abzuweichen, wenn zwischen der Fällung und Eröffnung ein so grosser Zeitraum läge, dass er mit Blick auf die Dauer der massgeblichen Verjährungsfrist nicht ausser Acht gelassen werden könnte (
BGE 130 IV 101
E. 2.3).
3.4
Im zu beurteilenden Fall stellt sich die Frage, ob in Bezug auf die der Beschwerdeführerin in den Anklagepunkten 1-3, 5 und 12 vorgeworfenen strafbaren Handlungen die seit dem Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Münchwilen vom 21. Februar 2008 bis zur Wiederaufnahme des Verfahrens verstrichene Zeit an die Verfolgungsverjährung anzurechnen ist. Ferner ist zu prüfen, ob das Abwesenheitsurteil als erstinstanzliches Urteil im Sinne des neuen Verjährungsrechts zu würdigen ist.
3.4.1
Die Frage betrifft folgende der Beschwerdeführerin vorgeworfene Straftaten: den durch Verheimlichung einer Liegenschaft anlässlich des Pfändungsvollzuges vom Januar 2002 begangenen Pfändungsbetrug im Sinne von
Art. 163 StGB
(Anklagepunkt 1); den Gebrauch einer gefälschten Lizentiatsurkunde der Universität Zürich vom September/Oktober 2002 gemäss
Art. 252 StGB
(Anklagepunkt 2); die Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte im Sinne von
Art. 169 StGB
durch nicht ordnungsgemässe Deklarierung des Lohnes bis Februar 2004 beim Betreibungsamt (Anklagepunkt 3); die Veruntreuung von anvertrauten Geldern im Zeitraum bis 30. Juni 2003 gemäss
Art. 138 StGB
(Anklagepunkt 5) und die Geschwindigkeitsübertretungen im Zeitraum vom 15. April 2005 bis 27. Juni 2006 gemäss
Art. 90 Abs. 1 SVG
(Anklagepunkt 12).
3.4.2
Das Bundesgericht hat sich in einem früheren, vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung ergangenen Entscheid mit der Frage zu befassen gehabt, wie es sich mit dem Fristenlauf
BGE 146 IV 59 S. 65
der Verfolgungsverjährung verhält, wenn ein Kontumazialurteil auf Verlangen des Angeschuldigten nach seiner Rechtskraft aufgehoben und nachträglich ein Verfahren in seiner Anwesenheit durchgeführt wird. Das Bundesgericht ist nach Auseinandersetzung mit den verschiedenen in der Literatur vertretenen divergierenden Lehrmeinungen zum Schluss gelangt, gestützt auf die neue Regelung des Verjährungsrechts, welche ausschliessen wolle, dass die Täterschaft durch rechtsmissbräuchliches Verhalten den Eintritt der Verjährung herbeiführen könne, erscheine die Auffassung, wonach die Frist der Verfolgungsverjährung während der Gültigkeitsdauer eines Abwesenheitsurteils ruhe, als sachgerecht (Urteil 6B_82/2009 vom 14. Juli 2009 E. 4.3.6). Bei dieser Betrachtungsweise ruht die Verfolgungsverjährung mit Eintritt der Rechtskraft des Abwesenheitsurteils und beginnt mit dessen Aufhebung wieder zu laufen (sog. Ruhetheorie). Das Bundesgericht hat damit dem Gedanken, dass der in Abwesenheit verurteilte Täter aus einer Flucht keinen Nutzen soll ziehen können (vgl. Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Strafgesetzbuches, BBl 1999 II 2134; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2005, § 91 Rz. 29; TRECHSEL/CAPUS, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 9 Vor
Art. 97 StGB
[vgl. auch STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, N. 7 Vor
Art. 70 StGB
]), stärkeres Gewicht beigemessen als den gegenüber dem Umstand geäusserten Bedenken, dass die Ruhetheorie gegebenenfalls zu einer extremen Verlängerung der Verjährungsfristen führt (vgl. FRANZ RIKLIN, Zur Frage der Verjährung im Abwesenheitsverfahren, ZStrR 113/1995 S. 166 f.; CHRISTIAN DENYS, Prescription de l'action pénale, les nouveaux art. 70, 71, 109 et 333 al. 5 CP, SJ 2003 II S. 58 f.; PETER MÜLLER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 67 vor
Art. 97 StGB
).
3.4.3
Dem genannten Entscheid lag ein unter der Geltung des früheren Verjährungsrechts ergangenes Kontumazialurteil vom 13. Februar 1998 zugrunde. Das neue, am 1. Oktober 2002 in Kraft getretene Recht hat das Institut des Ruhens der Verjährung (aArt. 72 StGB) nunmehr aufgegeben. Insofern hat das Bundesgericht zu Recht angenommen, die Frage des Fristenlaufs der Verfolgungsverjährung bei Abwesenheitsurteilen sei nach neuem Recht nicht mehr von Bedeutung, da ein Ruhen des Laufs der Verjährung im Gesetz nicht mehr vorgesehen sei (Urteil 6B_82/2009 vom 14. Juli 2009
BGE 146 IV 59 S. 66
E. 4.3.1). Die Frage, in welchem Zeitpunkt die Verfolgungsverjährung eintritt, entscheidet sich somit danach, ob das Abwesenheitsurteil auch im Falle einer Neubeurteilung verjährungsrechtlich als erstinstanzliches Urteil im Sinne von
Art. 97 Abs. 3 StGB
(aArt. 70 StGB) zu verstehen ist.
3.4.4
Nach den strafprozessualen Bestimmungen über das Verfahren bei Abwesenheit der beschuldigten Person kann das Gericht, wenn eine ordnungsgemäss vorgeladene beschuldigte Person der erstinstanzlichen Hauptverhandlung fernbleibt und diese auch nicht an der neu angesetzten Verhandlung erscheint, die Hauptverhandlung in ihrer Abwesenheit durchführen, soweit sie im bisherigen Verfahren ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu den ihr vorgeworfenen Straftaten zu äussern und die Beweislage ein Urteil ohne ihre Anwesenheit zulässt (Art. 336 Abs. 4,
Art. 366 Abs. 1, 2 und 4 StPO
). Gemäss
Art. 368 Abs. 1 StPO
kann die verurteilte Person, wenn ihr das Abwesenheitsurteil persönlich zugestellt werden kann, innert 10 Tagen beim Gericht, welches das Urteil gefällt hat, schriftlich oder mündlich eine neue Beurteilung verlangen. Gemäss Abs. 3 derselben Bestimmung lehnt das Gericht das Gesuch ab, wenn die verurteilte Person ordnungsgemäss vorgeladen worden, aber der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben ist (vgl. hierzu SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 5 f. zu
Art. 368 StPO
; THOMAS MAURER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 14 zu
Art. 368 StPO
). Sind die Voraussetzungen für eine neue Beurteilung voraussichtlich erfüllt, so setzt die Verfahrensleitung gemäss
Art. 369 Abs. 1 StPO
eine neue Hauptverhandlung an, an welcher das Gericht über das Gesuch um neue Beurteilung entscheidet und gegebenenfalls ein neues Urteil fällt. Mit der Rechtskraft des neuen Urteils fallen das Abwesenheitsurteil, die dagegen ergriffenen Rechtsmittel und die im Rechtsmittelverfahren bereits ergangenen Entscheide dahin (
Art. 370 Abs. 2 StPO
). Das Abwesenheitsurteil bleibt bei bewilligtem Neubeurteilungsverfahren nur dann bestehen, wenn die verurteilte Person der Hauptverhandlung erneut unentschuldigt fernbleibt (
Art. 369 Abs. 4 StPO
).
3.4.5
Gestützt auf diese Regelung kann ein Abwesenheitsurteil im Sinne von
Art. 366 ff. StPO
nur unter der resolutiven Bedingung, dass zu einem späteren Zeitpunkt kein Gesuch um neue Beurteilung eingereicht und das Abwesenheitsurteil durch ein neues Urteil
BGE 146 IV 59 S. 67
ersetzt wird, als erstinstanzliches Urteil gemäss
Art. 97 Abs. 3 StGB
verstanden werden (MATTHIAS ZURBRÜGG, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 63 zu
Art. 97 StGB
; DENYS, a.a.O., S. 58). Soweit mithin das Gesuch um Neubeurteilung gutgeheissen und ein neues Urteil gefällt wird, fällt das Abwesenheitsurteil dahin und gilt verjährungsrechtlich nicht mehr als erstinstanzliches Urteil. Wenn das frühere Abwesenheitsurteil dahinfällt, das Verfahren sich mithin so darstellt, als wäre jenes nie ergangen, muss die zwischen den beiden Urteilen verstrichene Zeit bei der Verfolgungsverjährung berücksichtigt werden. In der Lehre wird denn auch darauf hingewiesen, dass die Verfolgungsverjährung bei neu aufgenommenen Verfahren wieder zu laufen beginnt (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rz. 1407; anders MAURER, a.a.O., N. 4 zu
Art. 370 StPO
[Berücksichtigung bei der Vollstreckungsverjährung]). Das Abwesenheitsurteil ist nur dann ein erstinstanzliches Urteil im Sinne von
Art. 97 Abs. 3 StGB
(aArt. 70 Abs. 3 StGB), wenn es in Rechtskraft erwachsen ist (GILBERT KOLLY, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2009, N. 64 f. zu
Art. 97 StGB
; RIEDO/KUNZ, Jetlag oder Grundprobleme des neuen Verjährungsrechts, AJP 2004 S. 907; vgl. auch Botschaft, a.a.O., S. 2134 [e contrario]). Es verhält sich insofern gleich wie beim Strafbefehl, der nach der Rechtsprechung, soweit gegen ihn Einsprache erhoben wird, nicht als erstinstanzliches Urteil im Sinne von
Art. 97 Abs. 3 StGB
gilt (
BGE 142 IV 11
E. 1.2.2; vgl. auch RIEDO/KUNZ, a.a.O.). Die gegen die unter der Geltung des früheren Verjährungsrechts in der Lehre vertretene Anrechnungstheorie vorgebrachten Bedenken, wonach die verurteilte Person die Verjährung rechtsmissbräuchlich - etwa durch Flucht - herbeiführen könnte und dass sich ein derartiges Verhalten nicht auszahlen dürfe, ist unter der Geltung der Schweizerischen Strafprozessordnung nicht mehr begründet, zumal das Gericht gemäss
Art. 368 Abs. 3 StPO
das Gesuch um Neubeurteilung nur gutheisst, wenn die ordnungsgemäss vorgeladene verurteilte Person der Hauptverhandlung nicht unentschuldigt ferngeblieben ist.
3.4.6
Im zu beurteilenden Fall ist das Abwesenheitsurteil vom 21. Februar 2008 durch das Urteil des Bezirksgerichts Münchwilen am 20. März 2018 ersetzt worden. Jenes kann daher entgegen der Auffassung der Vorinstanz verjährungsrechtlich nicht als erstinstanzliches Urteil im Sinne von
Art. 97 Abs. 3 StGB
angesehen werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Verfolgungsverjährung
BGE 146 IV 59 S. 68
weiter gelaufen ist, wie wenn das Abwesenheitsurteil nie bestanden hätte. Daraus folgt, dass die von der Beschwerdeführerin genannten, nach Inkrafttreten des neuen Verjährungsrechts begangenen Straftaten im Zeitpunkt des neuen erstinstanzlichen Urteils verjährt waren.
Bei diesem Ergebnis erweist sich das neue Recht für die Beschwerdeführerin in Bezug auf die vor dem 1. Oktober 2002 begangenen Straftaten (Anklagepunkte 1 und 2) als milder (
Art. 2 Abs. 2 StGB
;
Art. 389 Abs. 1 StGB
; aArt. 337 StGB [in Kraft bis zum 31. Dezember 2006];
BGE 129 IV 49
E. 5.1;
BGE 130 IV 101
E. 1), so dass auch in Bezug auf diese Straftaten von der Verjährung auszugehen ist. | de |
3699492d-b650-4484-8184-51b8699dbf18 | Sachverhalt
ab Seite 66
BGE 132 III 65 S. 66
A.
Mit Pachtvertrag vom 26. November 1998 pachtete E. von der D. AG das Restaurant "Y.". Mit Kaufvertrag vom 25. Oktober 2002 verkaufte die D. AG der A. AG (Klägerin) das betreffende Grundstück mit dem Restaurant "Y.". Im Grundstückkaufvertrag wurde vereinbart, dass die Klägerin das Pachtverhältnis betreffend das Restaurant "Y." übernehme.
Per 1. Oktober 2003 übernahmen B. und C. (Beklagte) den Pachtvertrag von E. Die Übernahmevereinbarung zwischen den Beklagten und E. enthielt die Zusicherung, im Kaufvertrag der D. AG mit der Klägerin sei vereinbart worden, dass diese den Pachtvertrag übernehme.
Am 11. Dezember 2003 wurde die Klägerin als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen. Am 29. Dezember 2003 kündigte die Klägerin den Beklagten den Pachtvertrag mit amtlichem Formular per 30. Juni 2004. Zur Begründung wurde dringender Eigenbedarf und wichtige Gründe genannt.
B.
Am 10. Februar fochten die Beklagten die Kündigung bei der Schlichtungsbehörde für Mietwesen des Bezirks Zofingen an. Mit Entscheid vom 22. April 2004 wurde die Kündigung vom 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004 als missbräuchlich erklärt und aufgehoben.
Am 28. Mai 2004 reichte die Klägerin beim Bezirksgericht Zofingen Klage gemäss
Art. 274f OR
ein und stellte folgende Rechtsbegehren:
"1. Der Entscheid der Schlichtungsbehörde im Mietwesen des Bezirks Zofingen vom 22.04.2004 (...) sei aufzuheben.
2. Es sei festzustellen, dass der Pachtübernahmevertrag zwischen den Beklagten und Herrn E. vom 30.09./01.10.2003 nichtig ist und damit zwischen den Parteien kein rechtsgültiger Pachtvertrag besteht.
BGE 132 III 65 S. 67
Eventualiter:
3. Es sei die Wirksamkeit der von der Klägerin gegenüber den Beklagten eröffneten Kündigung vom 29.12.2003 per 30. Juni 2004 festzustellen.
4. Alles unter der gesetzlichen Kosten- und Entschädigungsfolge."
Mit Urteil vom 15. Dezember 2004 hiess der Präsident des Bezirksgerichts Zofingen die Klage gut und stellte fest, dass die Übernahmevereinbarung vom 30. September 2003 nichtig sei und zwischen den Parteien kein Mietvertrag bestehe.
Gegen dieses Urteil erhoben die Beklagten Beschwerde ans Obergericht des Kantons Aargau und beantragten im Wesentlichen, die Klage vom 28. Mai 2004 sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei; eventualiter sei richterlich festzustellen, dass die Klägerin den Beklagten für allen aus der vorzeitigen Auflösung des Pachtvertrages entstehenden Schaden bis zum ordentlichen, frühestens möglichen Kündigungstermin vom 31. Dezember 2013 hafte. Mit Entscheid vom 21. April 2005 hiess das Obergericht die Beschwerde gut, hob das Urteil des Präsidenten des Bezirksgerichts Zofingen vom 15. Dezember 2004 auf und trat auf die Klage mangels Feststellungsinteresses nicht ein.
C.
Mit Berufung vom 9. Juni 2005 beantragt die Klägerin dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 21. April 2005 sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventualiter sei festzustellen, dass der Pachtübernahmevertrag zwischen den Beklagten und Herrn E. vom 30.09./01.10.2003 nichtig sei und damit zwischen den Parteien kein rechtsgültiger Pacht- bzw. Mietvertrag bestehe; subeventualiter sei die Wirksamkeit der von der Klägerin gegenüber den Beklagten eröffneten Kündigung vom 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004 festzustellen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Klägerin hat im Anschluss an das Schlichtungsverfahren im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens dem Bezirksgericht Zofingen beantragt, es sei festzustellen, dass der Pachtübernahmevertrag zwischen den Beklagten und E. nichtig sei und damit zwischen den Parteien kein rechtsgültiger Pachtvertrag bestehe; eventuell sei festzustellen, dass die von den Klägern am 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004 ausgesprochene Kündigung wirksam sei.
BGE 132 III 65 S. 68
3.1
Nachdem das Bezirksgericht festgestellt hatte, dass die Übernahmevereinbarung vom 30. September 2003 nichtig sei und zwischen den Parteien kein Vertrag bestehe, ist das Obergericht im kantonalen Berufungsverfahren auf die Klage nicht eingetreten. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es fehle am Feststellungsinteresse, dass zwischen den Parteien kein rechtsgültiger Pachtvertrag bestehe bzw. dass die Kündigung per 30. Juni 2004 wirksam sei. Die Klägerin könne ihr Ziel, die Beklagten aus den gepachteten Räumlichkeiten zu entfernen, um das von ihr geplante Bauvorhaben zu realisieren, nur mit einer Leistungsklage auf Rückgabe der Sache bzw. Ausweisung aus der Liegenschaft, nicht aber mit der Feststellungsklage, erreichen. Das Feststellungsurteil stelle denn auch keinen vollstreckbaren Titel dar, sondern erst der (rechtskräftige) Ausweisungsentscheid, welcher materiellrechtlich über die Rückgabe der Sache entscheide, bilde den Vollstreckungstitel. Die Klägerin hätte daher eine Leistungsklage auf Rückgabe des Pachtobjektes bzw. Ausweisung aus der Liegenschaft erheben können und müssen, wobei als Vorfrage zu prüfen gewesen wäre, ob zwischen den Parteien ein Vertragsverhältnis bestehe bzw. ob dieses durch gültige Kündigung beendet worden sei. Demgegenüber sei ein schutzwürdiges rechtserhebliches Interesse lediglich an der gerichtlichen Feststellung nicht ersichtlich. Diese Begründung hält die Klägerin für bundesrechtswidrig.
3.2
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin mit amtlichem Formular vom 29. Dezember 2003 den Pachtvertrag per 30. Juni 2004 gekündigt. Die Beklagten haben darauf rechtzeitig die Schlichtungsbehörde angerufen. Im Kündigungsschutzverfahren hat die Schlichtungsbehörde - wenn keine Einigung zwischen den Parteien zustande kommt - einen Entscheid über die Ansprüche der Vertragsparteien zu fällen (
Art. 273 Abs. 1 und 4 OR
), gegen welchen Entscheid die unterlegene Partei den Richter anrufen kann (
Art. 273 Abs. 5,
Art. 274f Abs. 1 OR
). Dabei definiert das Gesetz nicht, was unter "Ansprüche der Vertragsparteien" zu verstehen ist. Es ist daher aus dem Gegenstand des Kündigungsschutzverfahrens, über welches die Schlichtungsbehörde bzw. das Gericht zu befinden hat, herzuleiten, welches die Ansprüche der Parteien sind. Gegenstand des Kündigungsschutzverfahrens ist im Allgemeinen die Überprüfung einer anfechtbaren Kündigung im Sinn von
Art. 271 Abs. 1 und 271a OR
und/oder die Erstreckung des Mietverhältnisses (
BGE 121 III 156
E. 1c S. 160 ff. mit Hinweisen; HIGI, Zürcher
BGE 132 III 65 S. 69
Kommentar, Zürich 1994, N. 124 und 126 zu
Art. 273 OR
). Mit der Prüfung der Gültigkeit der Kündigung kann die Beurteilung von zivilrechtlichen Vorfragen in Zusammenhang stehen. Als zivilrechtliche Vorfragen, die im Kündigungsschutzverfahren zu beurteilen sind, wird in der Literatur insbesondere auf die Prüfung der Unwirksamkeit oder Nichtigkeit einer Kündigung verwiesen (HIGI, a.a.O., N. 15 zu
Art. 273 OR
; SVIT-Kommentar, N. 7 zu
Art. 273 OR
; LACHAT/ STOLL/BRUNNER, Mietrecht für die Praxis, 4. Aufl., Zürich 1999, S. 66, Fn. 25; zur Unterscheidung zwischen anfechtbaren, unwirksamen und nichtigen Kündigungen vgl.
BGE 121 III 156
ff.). Insgesamt kann somit festgehalten werden, dass der Gegenstand des konkreten Kündigungsschutzverfahrens durch die Rechtsbegehren der klagenden Partei bestimmt wird. Im Vordergrund steht die Anfechtbarkeit der Kündigung nach
Art. 271 Abs. 1 und 271a OR
. In Frage kommen aber auch die von einer Partei zur Beurteilung aufgeworfenen zivilrechtlichen Vorfragen wie insbesondere die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit der Kündigung.
3.3
Im vorliegenden Fall hat die im Schlichtungsverfahren unterlegene Klägerin im gerichtlichen Verfahren im Eventualstandpunkt beantragt, es sei die Wirksamkeit der Kündigung vom 29. Dezember 2003 per 30. Juni 2004 festzustellen. Mit diesem Rechtsbegehren wandte sich die Klägerin gegen den Entscheid der Schlichtungsbehörde, welche die Kündigung für missbräuchlich erklärt hatte. Sie legte damit dem Gericht "Ansprüche der Vertragsparteien" im Sinn von
Art. 273 Abs. 4 OR
zur Beurteilung vor. Aus dieser bundesrechtlichen Prozessbestimmung ergibt sich ohne weiteres, dass das von der Klägerin im Kündigungsschutzverfahren gestellte (Eventual-)Begehren zulässig ist. Dass die Klägerin kein Rechtsschutzinteresse (Feststellungsinteresse) an der alleinigen Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung hat, weil es ihr möglich gewesen wäre, mit einer Leistungsklage die Ausweisung der Beklagten aus der gepachteten Liegenschaft zu verlangen, trifft nicht zu. Einerseits verschafft das Gesetz den Parteien eines Miet- bzw. Pachtverhältnisses wie erwähnt einen Anspruch darauf, die Rechtswirksamkeit der Kündigung gerichtlich prüfen zu lassen (
Art. 273 OR
). Und andrerseits wäre es im Kündigungsschutzverfahren gar nicht möglich, die Ausweisung zu verlangen, weil der Richter im Fall der Wirksamkeit der Kündigung die Erstreckung des Miet- bzw. Pachtverhältnisses, die eine Ausweisung verbieten würde, zu prüfen hätte (
Art. 273 Abs. 2,
Art. 274e Abs. 3 und
Art. 274f Abs. 3
BGE 132 III 65 S. 70
OR
). Das von der Klägerin gestellte Eventualrechtsbegehren ist daher zulässig. Die gegenteilige Auffassung des Obergerichts, es fehle der Klägerin ein Rechtsschutz- bzw. Feststellungsinteresse, widerspricht den bundesrechtlichen Verfahrensvorschriften zum Kündigungsschutzverfahren.
3.4
Nichts anderes gilt, soweit die Vorinstanz auch in Bezug auf das Hauptbegehren ein Feststellungsinteresse verneint. Wie erwähnt kann die Schlichtungsbehörde und anschliessend das Gericht nicht nur über die Anfechtbarkeit der Kündigung im Sinn von
Art. 271 Abs. 1 und 271a OR
befinden. Vielmehr kann auch über zivilrechtliche Vorfragen, die mit der Kündigung im Zusammenhang stehen, entschieden werden. In erster Linie bedeutet dies, dass die Schlichtungsbehörde bzw. der Richter auch über die Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit der Kündigung entscheiden kann (vgl. oben, E. 3.2). Dasselbe gilt für den Fall, dass umstritten ist, ob zwischen den Parteien überhaupt ein Vertragsverhältnis besteht. Auch dieser Prozessgegenstand ist - ähnlich wie die Frage der Unwirksamkeit und Nichtigkeit der Kündigung - eine zivilrechtliche Vorfrage, die unter den Begriff der "Ansprüche der Parteien" im Sinn von
Art. 273 Abs. 4 OR
fällt. Es muss daher möglich sein, den für das Kündigungsschutzverfahren zuständigen Schlichtungsbehörden und Richtern die Frage zur Beurteilung zu unterbreiten, ob zwischen den Parteien überhaupt ein Vertragsverhältnis besteht, auf welches sich die Kündigung bezieht.
3.5
Aus diesen Gründen kann der Auffassung der Vorinstanz nicht gefolgt werden, dass die Klägerin bezüglich der gestellten Rechtsbegehren kein Rechtsschutzinteresse habe, sondern eine Leistungsklage auf Rückgabe der Liegenschaft bzw. auf Ausweisung aus dem Mietobjekt hätte erheben müssen. Vielmehr war die Klägerin berechtigt, im Kündigungsschutzverfahren die umstrittenen Rechtsbegehren zu stellen, und das Obergericht wäre verpflichtet gewesen, über die "Ansprüche der Vertragsparteien" im Sinn von
Art. 273 Abs. 4 OR
zu befinden. Die Berufung ist daher gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. | de |
8c0f3ded-2e6e-476f-a2cf-3e79c4c57550 | Sachverhalt
ab Seite 206
BGE 125 V 205 S. 206
A.-
Die Ausgleichskasse des Kantons Bern verpflichtete C. mit Verfügung vom 21. März 1997 zur Bezahlung von AHV/IV/EO/AlV/FAK-Beiträgen (einschliesslich Verwaltungskosten) von Fr. 2'823.85 für die Jahre 1995 und 1996 mit der Begründung, er lebe mit L. und ihrem gemeinsamen Kind in Hausgemeinschaft und habe für seine Lebenspartnerin, welche keiner ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehe, Beiträge auf einem Naturallohn für Unterkunft und Verpflegung sowie einem angemessenen Taschengeld zu bezahlen.
B.-
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies mit Entscheid vom 13. Oktober 1997 die Beschwerde von L. und C. ab; es stellte die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts in Frage, befand jedoch, es sei an diesem, eine allfällige Praxisänderung herbeizuführen.
C.-
L. und C. lassen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheides (und sinngemäss auch der Kassenverfügung vom 21. März 1997). Es sei endlich angezeigt, alle nichterwerbstätigen, in Hausgemeinschaft lebenden Personen beitragsrechtlich als Nichterwerbstätige zu qualifizieren.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei, soweit darauf einzutreten sei, in dem Sinne gutzuheissen, dass der kantonale Entscheid und die Kassenverfügung aufgehoben werden und die Sache zur Erfassung von L. als Nichterwerbstätige an die Verwaltung zurückgewiesen wird; das Amt regt die Prüfung der Frage nach einer Praxisänderung hinsichtlich der beitragsrechtlichen Qualifikation der nichterwerbstätigen haushaltführenden Konkubinatspartnerin an. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) (Eintretensfrage; vgl.
BGE 124 V 146
Erw. 1 mit Hinweis).
b) (Eingeschränkte Kognition; vgl.
BGE 124 V 286
Erw. 1b).
2.
Streitig ist die Rechtsfrage, ob die Rechtsprechung (
BGE 110 V 1
) in dem Sinne zu ändern sei, dass die in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebende Frau, die den gemeinsamen Haushalt führt und dafür von ihrem Partner Naturalleistungen (in Form von Kost und Logis) und allenfalls zusätzlich ein Taschengeld erhält, hinsichtlich dieser Tätigkeit beitragsrechtlich nicht mehr als
BGE 125 V 205 S. 207
Unselbstständigerwerbende, sondern als Nichterwerbstätige zu qualifizieren ist.
Eine derartige Praxisänderung lässt sich gegenüber dem Postulat der Rechtssicherheit grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (
BGE 124 V 124
Erw. 6a, 387 Erw. 4c, je mit Hinweisen).
3.
a) Nach bisheriger Rechtsprechung gelten Unterhaltsleistungen, die ein Mann der mit ihm in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebenden Frau für deren Haushaltführung gewährt, beitragsrechtlich als massgebender Lohn im Sinne von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
. Dem lag die Überlegung zu Grunde, dass die in einer solchen Gemeinschaft lebende Frau im Gegensatz zur Ehefrau nach Gesetz nicht verpflichtet ist, den Haushalt zu führen, und dass auch dem Mann aus dem blossen Zusammenleben keine gesetzlichen Pflichten gegenüber der Frau, namentlich keine Unterhaltspflichten erwachsen (
BGE 110 V 2
Erw. 3b mit Hinweisen; SVR 1995 AHV Nr. 52 S. 143 Erw. 2a).
Ferner hat das Eidg. Versicherungsgericht in ZAK 1990 S. 428 Erw. 3d dargelegt, dass die Rechtsprechung zur Beitragserhebung bei Konkubinatspaaren zu einem wesentlichen Teil im Interesse der haushaltführenden Person begründet sei. Sie gewährleiste deren sozialen Schutz, indem ihr in der Regel im individuellen Konto ein höherer Betrag gutgeschrieben werde als bei Annahme von Nichterwerbstätigkeit; der haushaltführende Partner habe nur den hälftigen Beitrag zu übernehmen und sei der obligatorischen Unfallversicherung wie auch der Arbeitslosenversicherung unterstellt.
b) Die Gerichtspraxis geht davon aus, dass die zivilrechtliche Gesetzgebung weder den Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft kenne noch spezifische Regeln zu diesem Sachverhalt enthalte. Es sei zwar bezüglich solcher Verhältnisse ein gesellschaftlicher Wandel in der ethisch-moralischen Wertung festzustellen. Von einer rechtlichen Anerkennung in dem Sinne, dass von der Gerichtspraxis ein spezielles Rechtsinstitut der eheähnlichen Gemeinschaft geschaffen worden wäre, könne jedoch nicht gesprochen werden. Es könne daher nicht darum gehen, einem spezifischen rechtlichen Institut sozialversicherungsrechtlich Rechnung zu tragen, sondern nur darum, den bestehenden Sachverhalt der eheähnlichen Gemeinschaft nach Massgabe des geltenden Sozialversicherungsrechts zu würdigen. Nach der bisherigen Praxis sei aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht kein (fiktiver) Arbeitsvertrag
BGE 125 V 205 S. 208
angenommen, sondern es sei nur - in Ermangelung einer besseren Lösung - die vom Mann seiner Partnerin gewährte Naturalleistung einem Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit gleichgestellt worden. Daran vermöge der verfassungsmässige Grundsatz über die Gleichstellung der Frau mit dem Mann nichts zu ändern, wäre doch nicht anders zu entscheiden, wenn in einer eheähnlichen Gemeinschaft der Mann den Haushalt führte und die Frau ausserhäuslich erwerbstätig wäre. Schliesslich würde eine geänderte Rechtsprechung zu praktischen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Nichterwerbstätigkeit der Partnerin zur (unselbstständigen) Erwerbstätigkeit der Haushälterin führen, wobei sich die Verwaltung bei ihren Abklärungen der Natur der Sache nach wohl regelmässig auf die Darstellung der Beteiligten verlassen müsste. Der Gesichtspunkt der Praktikabilität im Einzelfall spreche somit ebenfalls gegen die Annahme von Nichterwerbstätigkeit (
BGE 110 V 4
ff. Erw. 4a und b).
c) Diese Praxis wurde in ZAK 1988 S. 508, 1990 S. 427,
BGE 116 V 177
und SVR 1995 AHV Nr. 52 S. 143 bestätigt (vgl. auch
BGE 123 I 245
Erw. 5a und ARV 1996/97 Nr. 32 S. 180 Erw. 5).
d) In ZAK 1990 S. 427 stellte das Eidg. Versicherungsgericht fest, der soziale Schutzzweck trete in den Hintergrund, wenn der haushaltführende Konkubinatspartner einer erheblichen ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehe. Das Gericht hat deshalb in einem solchen Fall die Beitragspflicht auf einem Naturaleinkommen verneint. Als erheblich hat es eine Erwerbstätigkeit erklärt, mit welcher ein Einkommen erzielt wird, das mindestens den Naturallohnansätzen der
Art. 10 ff. AHVV
(in der damals gültig gewesenen Fassung) entspricht. Erziele der haushaltführende Konkubinatspartner ein beitragspflichtiges Erwerbseinkommen in mindestens dieser Höhe, sei anzunehmen, dass er aus eigenen Mitteln für seinen Lebensunterhalt aufkommen könne, weshalb es sich nicht rechtfertige, zusätzlich auf einem Naturallohn Beiträge zu erheben (ZAK 1990 S. 428 Erw. 3d).
Dem im erwähnten Ausmass erwerbstätigen Konkubinatspartner gleichgestellt hat es sodann jenen Lebenspartner, der sich nachweisbar dazu entschlossen hat, eine erhebliche Erwerbstätigkeit auszuüben, indem er sich beim Arbeitsamt zur Arbeitsvermittlung meldet, und die Voraussetzungen zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung erfüllt (ZAK 1990 S. 428 Erw. 3d in fine).
e) In
BGE 116 V 177
hat das Eidg. Versicherungsgericht eine gewisse Flexibilität zugelassen, damit speziellen Gegebenheiten im
BGE 125 V 205 S. 209
Einzelfall Rechnung getragen werden kann. Danach sind Ausnahmen von der generellen Regel dann möglich, wenn bescheidene wirtschaftliche Verhältnisse vorliegen und die Bewertung des Naturaleinkommens des einen Konkubinatspartners nach
Art. 11 Abs. 1 AHVV
im Vergleich zur ökonomischen Lage des anderen beitragspflichtigen Partners als offensichtlich unverhältnismässig erscheint. In solchen Fällen ist als Naturaleinkommen, auf welchem die paritätischen Beiträge geschuldet sind, jener Betrag anzusehen, der nach Abzug des betreibungsrechtlichen Notbedarfs des beitragspflichtigen Partners von seinem Bruttoeinkommen verbleibt (
BGE 116 V 180
Erw. 4). Nach ZAK 1990 S. 427 ist - wie bereits erwähnt - eine Beitragspflicht auf dem Naturaleinkommen dann zu verneinen, wenn der haushaltführende Konkubinatspartner einer erheblichen ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgeht; nach SVR 1995 AHV Nr. 52 S. 143 generell, wenn anzunehmen ist, dass er aus eigenen Mitteln für seinen Lebensunterhalt aufkommen kann. Die Rechtsprechung geht jedoch nicht so weit, dass der tatsächliche Beitrag an die Haushaltarbeiten abgeklärt wird; vielmehr wird aus der traditionellen Rollenverteilung abgeleitet, dass die gesamten Arbeiten von der Frau geleistet werden.
f) aa) Im Verfahren, das zum erwähnten, in SVR 1995 AHV Nr. 52 S. 143 publizierten Urteil G. vom 21. Dezember 1994 führte, hatte das BSV in seiner Vernehmlassung vom 14. November 1994 eine Änderung der Rechtsprechung gemäss
BGE 110 V 1
in dem Sinne beantragt, dass die nichterwerbstätige, in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Frau beitragsrechtlich nicht mehr als Unselbstständigerwerbende, sondern als Nichterwerbstätige zu qualifizieren sei; eventuell sei die bisherige Rechtsprechung unter Aufzeichnung der Konsequenzen für die andern Sozialversicherungszweige neu zu begründen. Die Frage einer Praxisänderung konnte indessen offen bleiben, weil wegen des Renteneinkommens der Versicherten von einer Beitragserhebung auf den Naturalleistungen abzusehen war.
bb) Das BSV hatte in der erwähnten Vernehmlassung (die im genannten Urteil G. gemäss den folgenden Ausführungen dargestellt wurde) vorab auf die fehlende Akzeptanz der Praxis verwiesen. Die AHV-rechtliche Behandlung des Konkubinats als Hausdienstangestelltenverhältnis werde von vielen Frauen als verfehlt oder gar unwürdig betrachtet und sei auch in der Doktrin auf Kritik und Ablehnung gestossen. Sodann sei die geltende Praxis nur unvollständig durchsetzbar. Die Ausgleichskassen hätten keine
BGE 125 V 205 S. 210
Möglichkeit, Konkubinatsbeziehungen von Amtes wegen zu eruieren. Die Erfassung im Konkubinat lebender Frauen als Unselbstständigerwerbende erfolge eher nach dem Zufallsprinzip, was unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit als bedenklich erscheine. Auch aus juristischer Sicht sei die der Rechtsprechung zu Grunde liegende Auffassung überholt. Die traditionelle Rollenverteilung, dass der Mann einer Erwerbstätigkeit nachgehe und die Frau den Haushalt besorge, entspreche den heutigen Anschauungen und Lebensformen nicht mehr, was u.a. durch die Aufhebung der Rollenzuordnung im revidierten Eherecht zum Ausdruck gekommen sei. Obwohl das Eherecht auf das Konkubinatsverhältnis keine Anwendung finde, dürfe die Grundaussage des Gesetzgebers für die eheähnliche Gemeinschaft nicht zum Vornherein als bedeutungslos abgetan werden. Zwei Personen, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, seien keine Hausdienstangestellten, sondern grundsätzlich gleichgestellte Partner. Zudem stelle sich die Frage, ob die Rechtsprechung, die sich bisher nur auf jene Fälle bezogen habe, da eine nichterwerbstätige Frau mit einem erwerbstätigen Mann zusammenlebe, auch bei umgekehrter Rollenverteilung Geltung habe, und wie zu verfahren sei, wenn Verwandte oder mehr als zwei Personen in einem gemeinsamen Haushalt leben. Die Rechtsprechung, welche die Haushaltführung unbesehen der Frau zuweise, müsse mindestens dann als geschlechterdiskriminierend bezeichnet werden, wenn der Mann arbeitslos sei und zeitlich ebenfalls die Möglichkeit habe, einen Beitrag an die täglichen Verrichtungen des Haushaltes zu leisten.
Obwohl es auch Argumente für die Beibehaltung der geltenden Praxis gebe, so insbesondere die bessere sozialversicherungsrechtliche Absicherung der im Konkubinat lebenden nichterwerbstätigen Frau, würden die Argumente für eine Änderung der Rechtsprechung überwiegen. Eventuell sei die bisherige Praxis neu zu begründen, indem die Qualifikation der im Konkubinat lebenden Frauen als Arbeitnehmerinnen offen als solche mangels gesetzlicher Regelung und zum sozialen Schutz dieser Frauen dargelegt und die Konsequenzen für die anderen Sozialversicherungszweige aufgezeigt würden. Schliesslich sei die sozialversicherungsrechtliche Stellung der in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Frauen im Vergleich mit den nichterwerbstätigen Ehefrauen "zu legitimieren" und es sei generell zu prüfen, in welchen weiteren Fällen die Haushaltarbeit sozialversicherungsrechtlich zu berücksichtigen sei.
4.
In der Literatur stösst die Rechtsprechung auf Kritik oder gar Ablehnung. THOMAS KOLLER, Die eidgenössische Alters- und
BGE 125 V 205 S. 211
Hinterlassenenversicherung im Verhältnis zum schweizerischen Eherecht, Diss. Bern 1983, erachtet die Annahme eines Arbeitsverhältnisses zwischen den unverheirateten Partnern bezüglich der Haushaltführung als "kaum lebensnah"; es wäre naheliegender gewesen, die unverheiratete Frau als Nichterwerbstätige zu behandeln (S. 39 f.). Die gleiche Auffassung vertritt NATHALIE KOHLER, La situation de la femme dans l'AVS, Diss. Lausanne 1986, S. 80 f. THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl. 1997, legt dar, unter dem Aspekt eines möglichst umfassenden Versicherungsschutzes möge es Argumente für die Gerichtspraxis geben, dogmatisch sei sie "aber kaum haltbar" (S. 109 Rz. 22). JEAN-LOUIS DUC, Notions et solutions du droit privé dans le domaine des assurances sociales, in: Droit privé et assurances sociales, Fribourg 1990, ortet in der fraglichen Rechtsprechung ein "sentiment de malaise" (S. 40). HANSPETER KÄSER, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2. Aufl. 1996, legt dar, dass in der Praxis aus der Formulierung in
BGE 110 V 5
Erw. 4b ("in Ermangelung einer besseren Lösung") abgeleitet werde, dass immer dann, wenn eine bessere Lösung tatsächlich gefunden werden könne, die der Frau gewährten Naturalleistungen nicht als Erwerbseinkommen erfasst würden (S. 92 Ziff. 3.71). UELI KIESER, Rahmenbedingungen der richterlichen Rechtsfortbildung in der AHV, in: SZS 1998 S. 219, stellt fest, dass das AHVG das Konkubinatsverhältnis nicht regle, was dem Eidg. Versicherungsgericht die den tatsächlichen Entwicklungen folgende Ausgestaltung der Rechtsprechung erlaube. KATERINA BAUMANN/MARGARETA LAUTERBURG, Sind eins und eins wirklich zwei? Zivilstandsbedingte Ungleichbehandlungen in der Sozialversicherung, in: F-Frauenfragen 1997/2-3 S. 33, vertreten die Auffassung, dass auf Grund der Einführung von Erziehungs- und Betreuungsgutschriften sich der Rekurs auf den fiktiven Haushaltlohn erübrige.
5.
a) Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus hat in einem rechtskräftigen Urteil vom 28. Mai 1996 (publiziert in Plädoyer 1997 Nr. 1 S. 66 ff.) die AHV-rechtliche Stellung der ausschliesslich haushaltführenden Konkubinatspartnerin umfassend dargestellt und sich mit der Argumentation des Eidg. Versicherungsgerichts auseinandergesetzt. Es kam zum Schluss, dass die Gewährung von Kost und Logis kein Entgelt für in unselbstständiger Stellung geleistete Arbeit darstelle, die Konkubinatspartnerin als Nichterwerbstätige zu qualifizieren sei und ihr Partner daher nicht als Arbeitgeber betrachtet werden könne.
BGE 125 V 205 S. 212
b) Im Wesentlichen wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus in seinem Urteil darauf hin, dass das geltende Eherecht nicht mehr von einer festen Rollenverteilung der Ehegatten ausgehe. Nach Art. 163 des revidierten ZGB sorgten die Ehegatten gemeinsam, ein jeder nach seinen Kräften, für den gebührenden Unterhalt der Familie. Sie verständigten sich über den Beitrag, den jeder von ihnen leistet, namentlich durch Geldzahlungen, Besorgen des Haushaltes, Betreuen der Kinder oder durch Mithilfe im Beruf oder Gewerbe des anderen (
Art. 163 Abs. 2 ZGB
). Gleich wie die Begründung einer Ehe (
Art. 117 Abs. 2 ZGB
) beruhten die Rollenverteilung während der Ehe und die damit verbundenen gegenseitigen Pflichten auf dem Konsens der Ehegatten. Insofern sei kein wesentlicher Unterschied zu den vertraglichen Pflichten innerhalb einer eheähnlichen Gemeinschaft zu erkennen, die ebenfalls durch Konsens begründet und getragen werden müssten. Ein Unterschied bestehe immerhin darin, dass bei der ehelichen Gemeinschaft der Zeitpunkt, ab welchem die gegenseitigen Pflichten gelten, durch die Trauung eindeutig festgelegt würden, während bei der eheähnlichen Gemeinschaft viel weniger klar sei, ab wann von einem festen Bestand gegenseitiger Pflichten auszugehen sei. Dass in einer eheähnlichen Gemeinschaft aber überhaupt keine solchen Pflichten bestünden, könne nicht angenommen werden. Daraus ergebe sich, dass der bisher entscheidende Unterschied zwischen ehelicher und eheähnlicher Gemeinschaft durch die Revision des Eherechts stark an Bedeutung verloren habe (Plädoyer 1997 Nr. 1 S. 68 Erw. 2c).
6.
a) Die Vorinstanz legt in ihrem Entscheid dar, sie folge dem Glarner Urteil nicht, weil es am Eidg. Versicherungsgericht liege, eine allfällige Praxisänderung herbeizuführen. Im Übrigen lägen neue Argumente gegen die bisherige Rechtsprechung vor. So sei der soziale Schutzzweck mit den Erziehungsgutschriften der 10. AHV-Revision, soweit es um Frauen oder Männer gehe, die infolge Kindesbetreuung keiner Erwerbstätigkeit nachgingen, mindestens teilweise weggefallen. Die Praxis der Ausgleichskassen gewähre ferner, wie der vorliegende Fall zeige, keine Gleichbehandlung, sei doch die Konkubinatspartnerin erst nach dem Zuzug von X nach Y [Wohnsitzwechsel innerhalb des Kantons] als Unselbstständigerwerbende erfasst worden.
b) Die Beschwerdeführer lassen im Wesentlichen geltend machen, sie lebten mit ihrer Tochter G. als Familie im gemeinsamen Haushalt. Das elterliche Sorgerecht für G. stehe nach geltendem Recht nur L. zu. Beide Elternteile seien jedoch gleichermassen zu
BGE 125 V 205 S. 213
Unterhaltsleistungen verpflichtet. L. und C. hätten die damit verbundenen Aufgaben so geteilt, dass der Vater den aus ausserhäuslicher Tätigkeit erzielten Erwerb beisteuere, während die Mutter die Betreuungs- und Haushaltarbeit besorge. L. stehe weder als Lebenspartnerin noch als Mutter im Solde von C. Sie beziehe auch keine Naturalleistungen; vielmehr erfülle sie den unbezahlten Teil der elterlichen Unterhaltspflicht. C. sei folglich auch nicht Arbeitgeber seiner Lebenspartnerin. Mit der nach bisheriger Praxis vorgenommenen Gleichstellung der vom Mann seiner Partnerin gewährten Naturalleistungen mit einem Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit übersehe das Eidg. Versicherungsgericht, dass überhaupt kein Lohn, insbesondere auch kein Naturallohn fliesse. Die Gleichstellung mit einer Haushälterin und Kinderfrau sei für eine Lebenspartnerin nicht nur beleidigend, sie entbehre auch einer sachlichen Begründung und sei deshalb willkürlich.
Die kritisierte Rechtsprechung führe dazu, dass ein nicht verheiratetes Paar, solange es einen gemeinsamen Haushalt führe, unverhältnismässig stärker belastet werde als ein Ehepaar. Nebst den üblichen Arbeitnehmerbeiträgen des Erwerbstätigen habe es aus dem Familieneinkommen auch noch Arbeitgeber- sowie Arbeitnehmerbeiträge auf dem supponierten Naturallohn der Nichterwerbstätigen zu bezahlen. Würde L. von C. getrennt leben, könnte sie sich wohl als Nichterwerbstätige veranlagen lassen. Es sei nicht einzusehen, warum sie das während des Zusammenlebens nicht sollte tun können.
c) Die Ausgleichskasse macht in ihrer Vernehmlassung geltend, die Beschwerdeführer widersprächen sich selber, wenn sie einerseits ausführten, L. werde durch die Führung des gemeinsamen Haushaltes daran gehindert, einer ausserhäuslichen Arbeit nachzugehen, gleichzeitig aber vorbrächten, C. halte sich keine Hausangestellte, sondern leiste durch seine Erwerbstätigkeit seinen Beitrag an den Unterhalt der Familie. Die Beschwerdeführer verkennten, dass sie in rechtlicher Hinsicht nicht als Familie gälten, obwohl sie dies so empfinden würden.
d) Das BSV hält fest, die AHV-rechtliche Qualifikation der keiner ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehenden Frau, die in eheähnlicher Gemeinschaft lebe, sei neu zu beurteilen. Es wiederholt im Wesentlichen die bereits im Verfahren, das zum Urteil G. vom 21. Dezember 1994 geführt hat, vorgetragenen Argumente (vgl. Erw. 3f/bb hievor): Mangelnde Akzeptanz, unvollständige Durchsetzbarkeit, starker Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen
BGE 125 V 205 S. 214
und Lebensformen (rechtlich zum Teil verankert im neuen Eherecht), Problematik von Richterrecht im gesetzlich nicht geregelten Bereich des Konkubinatsverhältnisses, fragliche und problematische Ausdehnung der bisherigen Praxis auf weitere Fälle (umgekehrte Rollenverteilung im Konkubinatsverhältnis, Zusammenleben von gleichgeschlechtlichen Partnern, Mehrpersonenverhältnisse in Wohngemeinschaften), neue Entwicklungen in der Rechtsetzung (
Art. 2 Abs. 1 lit. g UVV
in der Fassung vom 15. Dezember 1997 sowie Einführung von Erziehungsgutschriften gemäss
Art. 29sexies AHVG
).
7.
Aus den dargelegten Argumenten ergibt sich, dass auf Grund der neuen Tendenzen in der Rechtsetzung, des Wertewandels in der Gesellschaft, der fehlenden Akzeptanz und der mangelnden Durchsetzbarkeit sowie der dargestellten berechtigten Kritik in der Literatur die bisherige Rechtsprechung nicht aufrechterhalten werden kann. Die Voraussetzungen für eine Praxisänderung (vgl. Erw. 2 hievor) sind erfüllt. Die vom Eidg. Versicherungsgericht in
BGE 110 V 1
"in Ermangelung einer besseren Lösung" vorgenommene "Gleichstellung" ist in dem Sinne aufzuheben, dass Konkubinatspartner und -partnerinnen ohne Erwerbstätigkeit AHV-rechtlich als Nichterwerbstätige zu betrachten sind. Im Einzelnen ist auf Folgendes hinzuweisen.
a) Es entspricht konstanter Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber, wenn er im Sozialversicherungsrecht Regelungen mit Anknüpfung an familienrechtliche Sachverhalte (beispielsweise an die Ehe) trifft, von ihrer Bedeutung her diejenigen Institute im Blickfeld hat, die das Familienrecht kennt (
BGE 121 V 127
Erw. 2c/aa mit Hinweisen). Das Eidg. Versicherungsgericht hat dem Grundsatz, wonach das Familienrecht für das Sozialversicherungsrecht Voraussetzung ist und diesem daher grundsätzlich vorgeht, stets Rechnung getragen (
BGE 121 V 128
Erw. 2c/cc mit Hinweisen).
Die eheähnliche Lebensgemeinschaft, das Konkubinat, ist im ZGB nicht geregelt (
BGE 121 V 128
Erw. 2c/cc; vgl. die Übersicht über die bundesgerichtliche Praxis in VPB 58/II [1994] Nr. 28 S. 247 ff. Erw. 8b mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre; vgl. dazu auch SUZETTE SANDOZ, Le Tribunal fédéral et l'union libre pendant la procédure de divorce, in: SJ 1998 S. 710 f. und S. 718; YVO SCHWANDER, Sollen eheähnliche und andere familiäre Gemeinschaften in der Schweiz gesetzlich geregelt werden?, in: AJP 1994 S. 918 ff.; CATHERINE NOIR-MASNATA, Les effets patrimoniaux du concubinage et leur influence sur le devoir d'entretien entre époux
BGE 125 V 205 S. 215
séparés, Diss. Lausanne 1982). Das Konkubinat bleibt indessen nicht ohne rechtliche Wirkungen zwischen den Partnern (
BGE 123 V 222
Erw. 2e mit Hinweis auf die Doktrin).
Nachdem sich in neuerer Zeit die Formen des Zusammenlebens mit dem zivilrechtlichen Status weniger decken als früher, wird in der Literatur die zivilstandsabhängige Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts kritisiert und, gestützt auf das Rechtsgleichheitsgebot, anstelle davon die Vergleichbarkeit von Lebenssituationen als Massstab postuliert (
BGE 125 V 228
f. Erw. 3e/bb; KATERINA BAUMANN/MARGARETA LAUTERBURG, a.a.O., S. 29 ff.).
Es ist indessen - wie in
BGE 110 V 4
Erw. 4a - weiterhin davon auszugehen, dass die zivilrechtliche Gesetzgebung weder den Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft kennt noch spezifische Regeln zu diesem Sachverhalt enthält. Das hat u.a. dazu geführt, dass das Eidg. Versicherungsgericht im Leistungsbereich des Sozialversicherungsrechts erkannt hat, dass die Auflösung einer eheähnlichen Gemeinschaft keinen "ähnlichen Grund" wie Ehetrennung oder Scheidung im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
darstellt (
BGE 123 V 219
). Der Begriff "mitarbeitende Familienmitglieder" gemäss
Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV
umfasst die Konkubinatspartner nicht (
BGE 121 V 125
). Das AHVG behandelt im Übrigen die in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden (unverheirateten) Personen nicht gleich wie die verheirateten. So ist die Plafonierung der Renten (
Art. 35 AHVG
), die Teilung der Einkommen, Erziehungs- und Betreuungsgutschriften (Art. 29quinquies Abs. 3-5,
Art. 29sexies Abs. 3 und
Art. 29septies Abs. 6 AHVG
), der Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten (
Art. 23-24a AHVG
) und die Befreiung von der Beitragszahlung (
Art. 3 Abs. 3 AHVG
) nur für verheiratete oder verheiratet gewesene Personen statuiert. Gerade die seit dem 1. Januar 1997 geltende Teilung von Einkommen und Gutschriften knüpft an den Zivilstand der Ehe an und ist unter Konkubinatspaaren nicht vorgesehen (vgl. auch
BGE 125 V 221
:
Art. 28 Abs. 4 AHVV
, wonach sich die Beiträge einer verheirateten Person als Nichterwerbstätige auf Grund der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens bemessen, ist gesetz- und verfassungsmässig).
Es kann daher bei der Beantwortung der vorliegenden Rechtsfrage nur darum gehen, auf Grund der erkannten und in Erw. 7 Ingress dargestellten rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen den vorliegenden Sachverhalt nach Massgabe des geltenden Sozialversicherungsrechts zu würdigen, wobei nicht entgegensteht, auch
BGE 125 V 205 S. 216
den Veränderungen der 10. AHV-Revision Rechnung zu tragen (insbesondere
Art. 3 und 29sexies AHVG
).
b) Das Eidg. Versicherungsgericht äusserte sich bisher nicht ausdrücklich zur Frage, ob
Art. 5 Abs. 2 AHVG
auf Naturalleistungen zwischen Konkubinatspartnern unmittelbar anwendbar ist oder ob eine Gesetzeslücke vorliegt, die durch analoge Anwendung von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
zu schliessen ist. Aus der Formulierung in
BGE 110 V 5
Erw. 4b, es werde kein fiktiver Arbeitsvertrag angenommen, sondern die Naturalleistungen würden dem Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit lediglich gleichgestellt, ist - wie auch das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus im zitierten Urteil vom 28. Mai 1996 angenommen hat - abzuleiten, dass die Anwendbarkeit von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
nicht aus einer weiten Auslegung des Gesetzes folgt, sondern auf einem Analogieschluss zur Lückenfüllung beruht. Auch das methodische Vorgehen des Eidg. Versicherungsgerichts deutet nicht auf Auslegung hin, da es sich nicht mit dem Wortlaut, der Systematik oder den Materialien von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
auseinandersetzte, sondern aus dem tatsächlichen Bedürfnis nach sozialer Absicherung für die haushaltführende Konkubinatspartnerin die Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung herleitete und diese in der analogen, nicht unmittelbaren Anwendung von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
fand.
c) Die Anwendung von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
begründete das Eidg. Versicherungsgericht in der fehlenden gesetzlichen, auf Vertrag beruhenden Verpflichtung der Konkubinatspartnerin, den Haushalt zu führen. Dieser entscheidende Unterschied zwischen ehelicher und eheähnlicher Gemeinschaft hat durch die Revision des Eherechts (
Art. 163 ZGB
in der Fassung vom 5. Oktober 1984, in Kraft seit dem 1. Januar 1988) an Bedeutung verloren, weil die Rollenverteilung während der Ehe auf dem Konsens der Ehegatten beruht (
Art. 163 Abs. 2 ZGB
). Unter diesem Gesichtspunkt der veränderten Anschauungen, welche im Gesetz ihren Niederschlag gefunden haben, rechtfertigt es sich nicht mehr, haushaltführende Konkubinatspartnerinnen AHV-rechtlich wie angestellte Haushälterinnen zu qualifizieren.
d) Die geltende Praxis kann - wie der vorliegende Fall zeigt - nur mangelhaft und kaum rechtsgleich durchgesetzt werden. Die Ausgleichskassen sind nicht in der Lage, Konkubinatspaare zu ermitteln; es hängt von Zufälligkeiten ab, ob der beitragspflichtige Naturallohn der haushaltführenden Konkubinatspartnerin erfasst werden kann.
BGE 125 V 205 S. 217
e) Es kommen in der heutigen Gesellschaft vermehrt weitere Formen des gemeinsamen Zusammenlebens mit ganz unterschiedlicher Rollenverteilung vor, deren AHV-rechtliche Qualifikation zu Rechtsungleichheiten führen kann.
f) Für eine Praxisänderung sprechen im Weiteren drei in der Zwischenzeit eingetretene neue Entwicklungen in der Rechtsetzung.
aa) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass frei gewählte Nichterwerbstätigkeit systembedingt den sozialen Schutz in der Sozialversicherung vermindert, hat der Gesetzgeber mit der 10. AHV-Revision für drei Fälle von Nichterwerbstätigkeit eine Korrektur der Folgen vorgenommen, nämlich für die Ehe (Splitting gemäss
Art. 29quinquies Abs. 3 AHVG
), die Kindererziehung und die Betagtenbetreuung (Gutschriften gemäss
Art. 29sexies und 29septies AHVG
). Der mit der bisherigen Rechtsprechung verfolgte Gedanke des sozialen Schutzzweckes (SVR 1995 AHV Nr. 52 S. 143) wird dadurch einerseits relativiert, anderseits ist es nicht mehr gerechtfertigt, durch die Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt des sozialen Schutzes eine vom Gesetzgeber bewusst nicht vorgesehene zusätzliche Sonderregelung für eine bestimmte Gruppe von Nichterwerbstätigen (für Konkubinatspartner ohne Erziehungs- oder Betreuungsaufgaben) beizubehalten.
bb) Mit der 10. AHV-Revision wurde altArt. 3 Abs. 2 lit. b AHVG, wonach u.a. die nichterwerbstätigen Ehefrauen von Versicherten von der Beitragspflicht befreit waren, aufgehoben. Neu eingefügt wurde Absatz 3, wonach die eigenen Beiträge als bezahlt gelten, sofern der Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrages bezahlt hat, u.a. bei (lit. a) nichterwerbstätigen Ehegatten von erwerbstätigen Versicherten. Die Qualifikation der haushaltführenden Konkubinatspartnerin als Nichterwerbstätige ist auch unter diesem Aspekt gerechtfertigt.
cc) Der Bundesrat hat am 15. Dezember 1997 mit Wirkung ab 1. Januar 1998 aus praktischen und konzeptionellen Überlegungen (RKUV 1998 S. 88) in
Art. 2 Abs. 1 lit. g UVV
verordnet, dass Konkubinatspartnerinnen und -partner, die in dieser Eigenschaft AHV-beitragspflichtig sind, in der Unfallversicherung nicht obligatorisch versichert sind.
g) Der Vollständigkeit halber sei auf die Auswirkungen der Praxisänderung auf die Arbeitslosenversicherung hingewiesen.
Für diese Versicherung ist beitragspflichtig, wer massgebenden Lohn im Sinne von
Art. 5 Abs. 2 AHVG
bezieht (
BGE 122 V 251
Erw. 2b mit Hinweisen). Eine Frau, die in einem eheähnlichen
BGE 125 V 205 S. 218
Verhältnis mit einem Mann lebt, den gemeinsamen Haushalt besorgt und von ihrem Partner Unterhaltsleistungen erhält, übt nach bisheriger Praxis eine beitragspflichtige Beschäftigung aus (in
BGE 123 V 219
nicht publizierte, in ARV 1998 Nr. 4 S. 26 wiedergegebene Erw. 3a mit Hinweisen).
Dieser Versicherungsschutz fällt bei Annahme von Nichterwerbstätigkeit weg. Gemildert wird diese Konsequenz indessen durch den auf den 1. Januar 1996 eingeführten Anrechnungstatbestand von Erziehungszeiten Nichterwerbstätiger als Beitragszeit (
Art. 13 Abs. 2bis AVIG
), der auch für Konkubinatspartnerinnen gilt (NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 180). | de |
61b0ff1b-f10b-4d22-95d9-cac180e24ff2 | Erwägungen
ab Seite 393
BGE 121 III 393 S. 393
Aus den Erwägungen:
5.
a) Vor ihrer Verheiratung hatten die Parteien einen Ehevertrag unter Brautleuten geschlossen. In diesem war der Güterstand der Gütertrennung stipuliert und ausserdem vereinbart worden, dass der Ehemann im Falle einer
BGE 121 III 393 S. 394
Scheidung der Ehefrau aus seinem Vermögen eine "Ehesteuer" von Fr. 5'000.-- pro Ehejahr, höchstens jedoch Fr. 50'000.--, auszurichten habe, es sei denn, die Scheidung erfolge aus grobem Verschulden der Frau.
Sinn und Tragweite der Vereinbarung verstehen die Parteien unterschiedlich; auch das Obergericht empfand sie als unklar. Während die Klägerin die "Ehesteuer" ausschliesslich als Abgeltung für die nur dem Ehemann dienliche Wahl des Güterstandes betrachtet und darin keinen Verzicht auf Leistungen aus
Art. 151 und 152 ZGB
erblickt, erachtet der Beklagte die Ansprüche bei Scheidung der Ehe als abschliessend geregelt.
b) Ausgehend von der in
Art. 158 Ziff. 5 ZGB
vorgesehenen Genehmigungsbedürftigkeit von Vereinbarungen über die Nebenfolgen der Scheidung und von solchen über die vorsorglichen Massnahmen während der Prozessdauer (BÜHLER/SPÜHLER, N. 426 ff. zu
Art. 145 ZGB
) hält es das Obergericht für sachgerecht und durch die Lehrmeinung von HAUSHEER/REUSSER/GEISER (N. 17 zu
Art. 182 ZGB
) bestätigt, dass auch ein vor der Eheschliessung im Rahmen eines Ehevertrages erklärter Vorausverzicht auf Unterhaltsansprüche der richterlichen Genehmigung unterliegen müsse. Dafür sprächen die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestehende starke emotionale Bindung der Brautleute mit dem Wunsch, die Ehe einzugehen, und die darin begründete Gefahr, dass eine Partei ihren Interessen objektiv widersprechende Zugeständnisse mache. Ein richterlicher Eingriff durch Nichtgenehmigung des Ehevertrages sei im vorliegenden Fall einerseits bereits wegen dessen Unklarheit und anderseits wegen sachlicher Unangemessenheit angezeigt.
Die Auffassung des Obergerichts, wonach auch vorprozessuale Vereinbarungen über die Nebenfolgen der Genehmigungspflicht unterliegen können, wird auch von HINDERLING/STECK (Das Schweizerische Ehescheidungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 516 Fn. 6a und S. 518 Fn. 11) und HEGNAUER/BREITSCHMID (Grundriss des Eherechts, 3. Aufl. 1993, § 23 Rz. 23.05, S. 217) geteilt. Gegen den von der Vorinstanz angestellten Vergleich der Überprüfungsbedürftigkeit ehevertraglicher Regelungen mit derjenigen von Vereinbarungen im Scheidungsprozess wendet der Beklagte ein, die Interessenlage sei in den beiden Fällen eine durchaus unterschiedliche; während der Druck des Scheidungsprozesses die Bereitschaft zu einem Verzicht oder einem Zugeständnis zu fördern vermöge, liege beim vorehelichen Ehevertrag eine normale Verhandlungssituation vor, bei welcher überdies die mögliche Unterlegenheit einer Partei durch den Beurkundungszwang gemindert werde.
BGE 121 III 393 S. 395
Dass dem so ist, kann indessen füglich bezweifelt werden. In der Regel wird es sich eher umgekehrt verhalten. Mag vor der Heirat um der angestrebten Ehe willen noch die Bereitschaft zur Nachgiebigkeit bestanden haben und der Gedanke an eine Scheidung zurückgestellt worden sein, so gewinnt, je näher diese bevorsteht, die Sorge der Partner um ihre eigene Zukunft zunehmend an Bedeutung. Dazu kommt, dass die auf den Zeitpunkt der Scheidung abzuschätzenden beidseitigen Bedürfnisse und Ressourcen vor der Ehe oft überhaupt nicht, während des Prozesses aber sehr wohl überblickt und abgeschätzt werden können. Die Tragweite eines Verzichts oder eines Zugeständnisses ist im voraus viel schwerer erkennbar als nach längerer Dauer der Ehe oder selbst bei kurzer Ehedauer nach Abschluss des Beweisverfahrens. Aus allen diesen Gründen ist dem Obergericht beizupflichten, dass Vereinbarungen über die Nebenfolgen der Scheidung auch dann der richterlichen Genehmigung bedürfen, wenn sie schon vor der Ehe getroffen worden sind.
Der Beklagte glaubt weiter, die in der Form des Ehevertrages geschlossene Vereinbarung von der Genehmigungspflicht ausschliessen zu dürfen, weil der Ehevertrag eigenen, abschliessend geregelten Formvorschriften unterworfen sei und die Parteien im Rahmen der gesetzlichen Schranken (
Art. 182 ZGB
) Vertragsfreiheit genössen. Dem kann nicht gefolgt werden. Vereinbarungen, welche die Nebenfolgen der Ehescheidung beschlagen und daher von der Sache her der Genehmigung durch den Scheidungsrichter bedürfen, können dieser nicht durch Integration in den Ehevertrag entzogen werden.
c) Ob eine Vertragsbestimmung der Auslegung bedürfe - und damit auch, ob der Vertragstext klar sei - bildet Rechtsfrage (
BGE 105 II 16
E. 2 S. 18). Bei Vereinbarungen über die rein vermögensrechtlichen Folgen der Scheidung für die Ehegatten hat der Richter trotz eines Antrages auf Nichtgenehmigung grundsätzlich den Parteiwillen zu respektieren und darf deshalb die Genehmigung nur aus wichtigen Gründen verweigern. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn die von den Parteien getroffene Lösung unklar oder unvollständig ist, eine Partei durch die im Prozess entstandene Lage ausgenützt wurde oder wenn die Lösung in einer durch Billigkeitserwägungen nicht zu rechtfertigenden Weise von der gesetzlichen Regelung abweicht. Als wichtigen Grund erachtet die Rechtsprechung sodann die wesentliche Veränderung der Verhältnisse seit dem Abschluss der Konvention (
BGE 99 II 359
E. 3c S. 362, mit Hinweisen). Diese Grundsätze sind auch hinsichtlich
BGE 121 III 393 S. 396
eines von den Parteien geschlossenen Ehevertrages, in dem bereits Nebenfolgen für den Fall der Scheidung geregelt wurden, zu beachten.
Der hier streitigen Regelung, vom Beklagten als Verzicht der Ehefrau auf Ansprüche nach
Art. 151 ZGB
verstanden, ist die richterliche Genehmigung aus einem doppelten Grunde zu versagen. Die Bestimmung ist unklar, weil darin nicht gesagt wird, ob die der Klägerin zugesicherte "Ehesteuer" nach
Art. 151 oder
Art. 152 ZGB
geschuldet sein soll (BÜHLER/SPÜHLER, N. 191 zu
Art. 158 ZGB
; HINDERLING/STECK, a.a.O., S. 518 Fn. 11a; HEGNAUER/BREITSCHMID, a.a.O., § 12 Rz. 12.33). Sodann erscheinen die der Ehefrau zuerkannten Leistungen, gemessen an den ihr von Gesetzes wegen zustehenden Ansprüchen, als schlechterdings unbillige Abfindung. Aus den nachstehenden Erwägungen ist ersichtlich, dass das Obergericht ihr mit Recht erheblich mehr zugesprochen hat. | de |
b6544625-eac6-415b-a6e5-d567aa16ef54 | Sachverhalt
ab Seite 24
BGE 111 II 24 S. 24
Armand Perret ist Eigentümer des Grundstücks Art. 1069 des Grundbuchs der Gemeinde Überstorf. Das hangabwärts gelegene Nachbargrundstück Art. 438 steht im Eigentum der Kollektivgesellschaft L. Oppliger Söhne, die es von Hermann Brülhart erworben hat. Bei der Erstellung der Zufahrtsstrasse zum Grundstück Art. 438 ist Erdreich vom Grundstück Art. 1069 abgetragen worden und eine künstliche Böschung entstanden.
Mit Eingabe vom 29. Dezember 1978 erhob Armand Perret beim Bezirksgericht der Sense Klage gegen die Kollektivgesellschaft L. Oppliger Söhne sowie gegen Hermann Brülhart mit dem Antrag:
"Die Beklagten seien solidarisch zu verpflichten, den Zustand der
Parzelle 1069 der Gemeinde Überstorf vor dem Bau der Strasse
wiederherzustellen und die Grenzsteine auf der ursprünglichen Höhenquote
BGE 111 II 24 S. 25
zu versetzen."
Nachdem die Klage, soweit gegen Hermann Brülhart erhoben, durch das Bezirksgericht rechtskräftig abgewiesen und die Sache durch einen ersten Entscheid des Kantonsgerichts (Appellationshof) des Staates Freiburg vom 9. Dezember 1980 zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuer Beurteilung an die erste Instanz zurückgewiesen worden war, erliess der kantonsgerichtliche Appellationshof hinsichtlich der gegen die Kollektivgesellschaft L. Oppliger Söhne erhobenen Klage am 12. Juni 1984 folgendes Urteil:
"1. ...
2. Die Beklagte wird verpflichtet, den ursprünglichen Zustand auf
der Parzelle Nr. 1069 des Grundbuches der Gemeinde Überstorf dadurch
wiederherzustellen, dass sie auf ihrem Grundstück die Böschung nach den
Angaben in den Expertisen Bruderer und Thüler innert sechs Monaten seit
Rechtskraft des Urteils mit Eisenbahnholzschwellen abstützt."
Gegen das kantonsgerichtliche Urteil führt die Beklagte Berufung an das Bundesgericht mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Klage abzuweisen; allenfalls sei die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Aufgrund der für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass beim Bau der Zufahrtsstrasse zum Grundstück der Beklagten Erdreich von der Parzelle des Klägers abgetragen wurde. Es steht ferner fest, dass durch die Überschreitung der natürlichen Neigung sich im oberen Teil der Böschung kleine Rutschungen ereignet haben.
2.
a) Die Beklagte bringt vor, die ungerechtfertigte Einwirkung auf das Grundstück des Klägers habe mit der Beendigung der Strassenbauarbeiten aufgehört. Seither seien nur noch die Folgen der Einwirkung vorhanden. Gegen einen zeitlich zurückliegenden, nicht mehr andauernden Eingriff könne aber nicht mit der Negatorienklage vorgegangen werden. Es bestehe in diesem Fall kein Beseitigungs-, sondern nur ein Schadenersatzanspruch, der aber hier gemäss
Art. 60 OR
verjährt sei.
b) Im Entscheid 107 II 134 ff. hat das Bundesgericht den Fall, da die schädigende Handlung oder der schädigende Zustand mit einem bestimmten Grundstück verbunden ist und die Wirkungen auf einem andern Grundstück eintreten, klar vom direkten Eingriff
BGE 111 II 24 S. 26
in die Substanz des geschädigten Grundstücks unterschieden. Es hielt fest, dass im ersten Fall mit der Beseitigungsklage gemäss
Art. 679 ZGB
nur die Beseitigung des den Schaden verursachenden Zustandes auf dem Ausgangsgrundstück, nicht aber die Wiederherstellung des früheren Zustandes auf dem geschädigten Grundstück verlangt werden könne (
BGE 107 II 136
f.; im gleichen Sinne auch LIVER, in: ZBJV 119/1983, S. 116). Letzteres ist in der Tat nur auf dem Weg der Schadenersatzklage möglich, sei es mit einem Begehren auf Geldleistung, sei es mit einem solchen auf Naturalersatz. Die Schadenersatzklage unterliegt freilich der Verjährung gemäss
Art. 60 OR
. Bei einem direkten Eingriff in die Substanz des geschädigten Grundstücks steht dem Eigentümer dagegen der allgemeine Abwehranspruch des
Art. 641 Abs. 2 ZGB
zu, der dinglicher Natur und unverjährbar ist (vgl.
BGE 83 II 198
).
c) Wie sich aus den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ergibt, wurde bei den Strassenbauarbeiten auf dem Grundstück der Beklagten unmittelbar in die Substanz des klägerischen Grundstücks eingegriffen. Dieses wurde durch die Grabungen somit nicht nur im Sinne von
Art. 685 Abs. 1 ZGB
gefährdet, sondern in Gebrauch und Nutzung unmittelbar beeinträchtigt. Der Störungszustand, der durch das Abtragen von Erdreich auf dem klägerischen Grundstück eingetreten ist, dauert an und ist als dem Eigentum widersprechender Zustand zu qualifizieren (vgl. MEIER-HAYOZ, 5. Aufl., N. 103 zu
Art. 641 ZGB
;
BGE 88 II 267
unten). Der Kläger hat deshalb - und zwar gestützt auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB
- einen Anspruch auf Beseitigung des Störungszustandes. Die Gutheissung der Klage in dem von der Vorinstanz festgehaltenen Sinn verstösst somit nicht gegen Bundesrecht. Bei dieser Sachlage ist der Einrede der Beklagten, ein aus
Art. 679 ZGB
abgeleiteter Schadenersatzanspruch sei verjährt, der Boden entzogen. | de |
41a8f39e-7825-4d2f-8610-085bfe59423d | Sachverhalt
ab Seite 155
BGE 104 II 154 S. 155
A.-
Die Eheleute M., die im Jahre 1947 geheiratet hatten, wurden durch Urteil des Bezirksgerichts Uster vom 20. Dezember 1974 geschieden. Dabei wurde der Ehemann verpflichtet, der Frau eine auf
Art. 151 ZGB
gestützte, indexierte Rente von monatlich Fr. 1'000.- zu bezahlen.
B.-
Mit Klage vom 17. Februar 1976 beantragte Walter M. beim Bezirksgericht Uster die sofortige Aufhebung der Rente, eventuell deren Herabsetzung auf Fr. 700.- monatlich. Zur Begründung seines Hauptantrags führte er aus, seine geschiedene Frau lebe mit einem andern Mann im Konkubinat; sie heirate nur deswegen nicht, um die Rente nicht zu verlieren; damit handle sie rechtsmissbräuchlich im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 ZGB
.
Das Bezirksgericht wies die Klage am 9. Februar 1977 in vollem Umfang ab, während das Obergericht des Kantons Zürich in Gutheissung der Berufung des Klägers mit Urteil vom 2. Februar 1978 die Verpflichtung zur Bezahlung der Rente mit Wirkung ab 1. März 1976 aufhob.
C.-
Amalie M. führt Berufung ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils, eventuell auf Rückweisung an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Nach
Art. 153 Abs. 1 ZGB
hört die Pflicht zur Entrichtung einer Rente im Sinne von Art. 151 bzw. 152 ZGB auf, wenn der berechtigte Ehegatte sich wieder verheiratet. Die Vorinstanz geht in ihrem Entscheid davon aus, im Hinblick auf diese Bestimmung stelle es einen offenbaren Missbrauch eines Rechts dar, wenn der rentenberechtigte Ehegatte nach der Scheidung eine neue Lebensgemeinschaft mit einem Angehörigen des andern Geschlechts bilde, mit diesem aber nicht die Ehe eingehe, um der gesetzlichen Folge des Rentenverlustes
BGE 104 II 154 S. 156
auszuweichen. Der Sachverhalt könne der Vereitelung des Eintritts einer rechtsgeschäftlichen Bedingung zur Seite gestellt werden, für welchen Fall
Art. 156 OR
aus dem allgemeinen Gebot des Handelns nach Treu und Glauben heraus bestimme, dass die Bedingung als erfüllt gelte.
Dieser grundsätzlichen Erwägung ist zuzustimmen. Sie steht in Einklang mit der Lehre (HINDERLING, Das schweizerische Ehescheidungsrecht, 3. Aufl., S. 145 N. 1a; MERZ, N. 578 zu
Art. 2 ZGB
). Was die Beklagte dagegen vorbringt, hält nicht stich. Gewiss lässt
Art. 153 Abs. 1 ZGB
die Rentenverpflichtung nur mit der Wiederverheiratung des berechtigten Ehegatten enden. Doch bleibt wie bei jeder Rechtsausübung auch hier der Tatbestand des Rechtsmissbrauchs vorbehalten. Dass in dieser Frage eine Bundesgerichtspraxis nicht besteht, ist sodann entgegen den Ausführungen in der Berufungsschrift ebensowenig von Bedeutung wie der Umstand, dass die Vorinstanz "lediglich" die erwähnte Stelle bei MERZ zitiert. | de |
2dd09a6a-ef8e-48ab-9885-7057b956df8a | Sachverhalt
ab Seite 1
BGE 106 II 1 S. 1
A.-
Werner und Berta H., die am 1. November 1958 geheiratet hatten, wurden mit Urteil des Bezirksgerichts Horgen
BGE 106 II 1 S. 2
vom 12. Dezember 1977 geschieden. Der aus ihrer Ehe hervorgegangene Sohn Urs, geboren am 3. August 1966, wurde unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt, und der Vater wurde verpflichtet, an die Kosten des Unterhalts und der Erziehung des Kindes einen indexierten monatlichen Beitrag von Fr. 600.-- zuzüglich Kinderzulagen zu bezahlen. In einer vom Gericht genehmigten Scheidungskonvention hatte sich der Ehemann verpflichtet, der Ehefrau einen indexierten Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 900.-- bis zum 31. Juli 1984 und von da einen solchen von Fr. 550.-- zu bezahlen.
B.-
Am 20. September 1978 reichte Werner H. beim Bezirksgericht Zürich gegen Berta H. eine Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils ein, mit der er die Aufhebung des Unterhaltsbeitrags an die geschiedene Ehefrau beantragte. Zur Begründung führte er aus, diese lebe seit dem 1. Juli 1978 mit W. im Konkubinat und heirate diesen nur deshalb nicht, um den Rentenanspruch nicht zu verlieren. Darin liege ein Rechtsmissbrauch im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 ZGB
.
Während das Bezirksgericht die Klage am 17. Januar 1979 abwies, hiess sie das Obergericht des Kantons Zürich auf Berufung des Klägers hin mit Urteil vom 2. Juli 1979 gut und hob die Rentenverpflichtung mit Wirkung ab 1. Januar 1979 auf.
C.-
Mit Berufung ans Bundesgericht beantragt die Beklagte, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Klage abzuweisen; eventuell sei das Rentenbezugsrecht der Beklagten erst ab 1. Mai 1979 und nur für solange einzustellen, als die Beklagte mit W. eheähnlich zusammenlebe.
Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 153 Abs. 1 ZGB
hört die Pflicht zur Entrichtung einer Rente im Sinne von Art. 151 bzw. 152 ZGB auf, wenn der berechtigte Ehegatte sich wieder verheiratet. Das Bundesgericht hat in
BGE 104 II 154
ff. ausgeführt, es stelle einen offenbaren Rechtsmissbrauch dar, wenn der rentenberechtigte Ehegatte nach der Scheidung mit einem Angehörigen des andern Geschlechts eine eheähnliche Lebensgemeinschaft bilde, diesen aber nur deswegen nicht heirate, um der gesetzlichen Folge des Rentenverlustes auszuweichen. Es hat deshalb
BGE 106 II 1 S. 3
im erwähnten Entscheid den Rentenanspruch einer im Konkubinat lebenden, geschiedenen Frau aufgehoben.
Auf diese Rechtsprechung stützt sich der angefochtene Entscheid. Die Vorinstanz stellt fest, dass das Verhältnis zwischen der Beklagten und W. intim sei, dass die Beklagte mit ihrem Sohn Urs zusammen mit W. in einer von diesem gemieteten 3 1/2-Zimmerwohnung wohne, dass sie mit W. im Sommer 1978 zwei Wochen Segelferien am Bodensee verbracht habe und dessen Geschäftswagen für nicht geschäftliche Zwecke benütze, dass sie zur Ausstattung der gemeinsamen Wohnung auch Möbel angeschafft habe und dass W. die Kosten von Ausflügen und damit verbundenen Konsumationen bezahle. Nicht bewiesen sei dagegen, dass W. und die Beklagte in der Öffentlichkeit als Ehepaar aufträten, gemeinsam Anlässe besuchten, Spaziergänge unternähmen und allgemein wie Verheiratete lebten. Wenn der Anschein einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft gegeben und als solcher bewiesen sei, sei es jedoch gerechtfertigt, von der durch das normale menschliche Verhalten und den gewöhnlichen Lauf der Dinge gegebenen Tatsachenvermutung auszugehen, welche durch den Nachweis umgestossen werden könne, dass entgegen dem äusseren Anschein nicht eine Lebensgemeinschaft, sondern nur ein loses, z.B. rein obligationenrechtliches Verhältnis vorliege. Einen solchen Nachweis habe die Beklagte nicht erbracht. Dass sie sich von W. nicht aushalten lasse, sondern an die Kosten des gemeinsamen Haushaltes monatlich Fr. 1'500.-- beitrage, lasse sich durch dessen Belastung mit Unterhaltsleistungen aus seiner Ehescheidung erklären. Wenn die Beklagte trotz der nunmehr einjährigen Probezeit und des vorgerückten Alters der beiden Konkubinatspartner immer noch nicht an Heirat denke, so sei anzunehmen, sie verhalte sich so, um sich des Rentengenusses nicht zu begeben. Ihr Verhalten sei daher als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren, was zur Aufhebung der Rentenverpflichtung des Klägers führen müsse.
2.
Entgegen der Ansicht der Vorinstanz kann indessen allein aus der Tatsache, dass die Beklagte im Konkubinat lebt, nicht auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten geschlossen werden. Wenn
Art. 153 Abs. 1 ZGB
die Pflicht zur Bezahlung einer Scheidungsrente mit der Wiederverheiratung des berechtigten Ehegatten enden lässt, so liegt der gesetzgeberische Sinn dieser Bestimmung offensichtlich darin, dass der rentenberechtigte
BGE 106 II 1 S. 4
Ehegatte mit der Eingehung einer neuen Ehe wiederum in den Genuss der unter Ehegatten geltenden Beistandspflicht (
Art. 159 Abs. 3 ZGB
) gelangt. Handelt es sich dabei, was die Regel darstellt, um die Ehefrau, so erwirbt sie überdies den Unterhaltsanspruch des
Art. 160 Abs. 2 ZGB
gegenüber dem neuen Ehemann. Mit dem Erwerb dieser Ansprüche ist die Bedürftigkeit des berechtigten Ehegatten bzw. der Schaden, für den die Rente Ersatz bieten soll, behoben, so dass die Aufhebung der Rente gerechtfertigt ist. Das Konkubinat unterscheidet sich von der Ehe nun gerade dadurch, dass zwischen den Partnern eines Konkubinatsverhältnisses keine gesetzliche Beistands- und Unterhaltspflicht besteht. Auch in anderer Hinsicht (Erbrecht, Anteil am Vorschlag, Ansprüche aus Art. 151/152 ZGB im Falle der Auflösung des Verhältnisses) ist die Konkubine schlechter gestellt als die Ehefrau. Wenn ein rentenberechtigter geschiedener Ehegatte mit einem neuen Partner keine Ehe eingeht, sondern mit ihm einfach in einem eheähnlichen Verhältnis zusammenlebt, so kann daher darin allein noch nicht ohne weiteres ein Rechtsmissbrauch erblickt werden, der das Dahinfallen der Rente bewirken würde. Von einem solchen kann vielmehr erst dann gesprochen werden, wenn der Rentenberechtigte aus der neuen Gemeinschaft ähnliche Vorteile zieht, wie sie ihm die Ehe bieten würde, wenn also anzunehmen ist, der neue Partner biete ihm Beistand und Unterstützung, wie
Art. 159 Abs. 3 ZGB
das von einem Ehegatten fordert.
Wann dies der Fall sei, kann nicht generell gesagt werden, sondern ist auf Grund der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei ist vor allem die Dauer des Konkubinats von Bedeutung. Je länger nämlich ein Konkubinat gedauert hat, desto eher ist in der Regel der Schluss berechtigt, die Partner fühlten sich moralisch verpflichtet, sich gegenseitig wie Ehegatten beizustehen. Dieser Schluss kann sich auch dann aufdrängen, wenn die Konkubine erwerbstätig ist und ihren Anteil an den Kosten des gemeinsamen Haushalts selber trägt. Wie zwei Ehegatten, so können auch zwei Konkubinatspartner übereinkommen, beide dem Verdienst nachzugehen, um sich einen entsprechend höheren Lebensstandard leisten zu können. Das schliesst nicht aus, dass beide den Willen haben, wie Ehegatten füreinander zu sorgen, wenn der eine von ihnen aus irgendeinem Grund nicht mehr erwerbstätig sein kann. Umgekehrt genügt es entgegen der Ansicht von BÜHLER/SPÜHLER (N. 23 zu
Art. 153 ZGB
)
BGE 106 II 1 S. 5
für das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs nicht, dass der Konkubinatspartner für den Unterhalt der Konkubine aufkommt. Zu beachten ist ferner, dass nach
Art. 2 Abs. 2 ZGB
nur der offenbare Missbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz findet. Kann der rentenberechtigte Ehegatte plausible Gründe dafür anführen, weshalb er seinen Konkubinatspartner nicht heiratet, so kann ihm nicht ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden. Wohl zu weit geht auf der andern Seite die Auffassung von MERZ (N. 578 zu
Art. 2 ZGB
), wonach der Rentenanspruch dann untergeht, wenn angenommen werden muss, die im Konkubinat lebende geschiedene Ehefrau gehe "einzig und allein" deshalb keine neue Ehe ein, um die Rente nicht zu verlieren, dürften doch für den Entscheid, nicht wieder zu heiraten, vielfach auch andere Überlegungen mitspielen, bei beidseitiger Erwerbstätigkeit insbesondere solche fiskalischer Natur.
3.
Im vorliegenden Fall hatte das Konkubinat der Beklagten mit W. im Zeitpunkt der Einreichung der Klage noch nicht einmal drei Monate und im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids erst ein Jahr gedauert. Diese verhältnismässig kurze Dauer lässt den Schluss noch nicht zu, dass das Verhältnis Bestand haben und damit der Beklagten wirtschaftlich ähnliche Vorteile bieten werde, wie dies eine Ehe täte. Dazu kommt, dass das Verhalten der Beklagten durchaus verständlich ist. Sie schliesst eine Wiederverheiratung nicht aus, macht aber geltend, eine neue Bindung müsse reiflich überlegt werden, da sowohl sie als auch W. erst seit kurzem geschieden seien und sie zudem ihrem Sohn eine zweite gescheiterte Ehe ersparen möchte. Wenn die Beklagte mit der Wiederverheiratung zuwartet, um sicher zu sein, dass ihr Verhältnis mit W. von Dauer sein wird, so kann ihr dies in der Tat nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jedenfalls kann unter den heute gegebenen Umständen nicht gesagt werden, sie heirate in rechtsmissbräuchlicher Weise deswegen nicht, um den Rentenanspruch nicht zu verlieren. Die gegenteilige Annahme der Vorinstanz beruht nicht auf Beweiswürdigung, sondern stellt eine aus der allgemeinen Lebenserfahrung fliessende Schlussfolgerung dar, an die das Bundesgericht nicht gebunden ist (
BGE 99 II 84
und 329,
BGE 95 II 124
und 169). Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall von
BGE 104 II 154
ff. In jenem Entscheid hatte die Vorinstanz auf Grund von Zeugenaussagen positiv
BGE 106 II 1 S. 6
festgestellt, dass die damalige Beklagte nur wegen des drohenden Verlustes des Rentenanspruches nicht heiraten wollte, was aus der publizierten Erwägung freilich nicht hervorgeht.
Die Klage ist daher, jedenfalls zur Zeit, abzuweisen. | de |
b3a3881d-9d72-41e4-b7d6-27551b064b34 | Erwägungen
ab Seite 322
BGE 120 II 321 S. 322
Aus den Erwägungen:
2.
Das Handelsgericht hat die Klage deshalb abgewiesen, weil ein Bauhandwerkerpfandrecht an Grundstücken des Verwaltungsvermögens gültig nicht bestellt werden könne. Beim Bankgebäude, zu dessen Schalterhalle und Bankratssaal die Klägerin pfandrechtsgeschützte Leistungen erbracht habe, handle es sich um solches Verwaltungsvermögen im Eigentum der Beklagten, einer selbständigen Anstalt des kantonalen öffentlichen Rechts.
a) Nach dem Gesetz über die Aargauische Kantonalbank vom 3. Juli 1973 (KBG) bildet die Beklagte eine Anstalt des kantonalen öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit unter der Oberaufsicht von Grossem Rat, Regierungsrat und Kontrollkommission; sie führt ihre Geschäfte getrennt von der Staatsverwaltung (§ 1 und § 2 i.V.m. §§ 11-13 KBG). Der Staat haftet für die Verbindlichkeiten der Beklagten, soweit ihre eigenen Mittel nicht ausreichen, und stellt das Grundkapital bereit (§ 4 KBG). Der Reingewinn, der nach Vornahme der im Bankwesen üblichen Abschreibungen und Rückstellungen und nach Verzinsung des Grundkapitals verbleibt, wird mindestens zur Hälfte der Staatskasse überwiesen (§ 25 KBG).
Die Beklagte ist nach dieser gesetzlichen Regelung eine selbständige Anstalt des kantonalen öffentlichen Rechts (KNAPP, Aspects du droit des banques cantonales, FS Häfelin, Zürich 1989, S. 460 und Anm. 5 S. 461; RUSSENBERGER, Die Sonderstellung der Schweiz. Kantonalbanken, Diss. Zürich 1988, S. 34/35) und als solche eine blosse Organisationsform der dezentralen Staatsverwaltung, weshalb sie im Grundsatz auch ohne weiteres Verwaltungsvermögen, Finanzvermögen und Sachen im Gemeingebrauch besitzen kann (JAAG, Gemeingebrauch und Sondernutzung öffentlicher Sachen, ZBl 93/1992 S. 147/148; HÄFELIN/MÜLLER, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2.A. Zürich 1993, S. 424 N. 1822).
Soweit die Klägerin dies in Abrede stellt, kann ihr daher nicht gefolgt werden. Entgegen ihrer Auffassung erlauben die angeblich vom Privatrecht
BGE 120 II 321 S. 323
beherrschten Beziehungen der Beklagten zu ihren Kunden und Angestellten keine abweichenden Schlüsse, insbesondere bezüglich der Organisationsform der Beklagten nicht (
BGE 47 I 242
E. 2 S. 249; vgl.
BGE 105 II 234
E. 2 S. 236;
102 II 45
E. 2 S. 47).
b) Die Zugehörigkeit einer öffentlichen Sache zum Verwaltungsvermögen schliesst die Anwendbarkeit des Zivilrechts nicht völlig aus. Die Gegenstände des Verwaltungsvermögens bleiben vielmehr dem Zivilrecht unterstellt, soweit dies mit ihrer Zweckbestimmung vereinbar ist und sofern das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt. Was die Bestellung eines Pfandrechts an einem öffentlichen Grundstück im besonderen angeht, so hängt deren Zulässigkeit nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung davon ab, ob ein solches Grundstück zwangsverwertet werden kann (für das Bauhandwerkerpfandrecht grundlegend:
BGE 103 II 227
E. 4 S. 235 f.). - In diesem Zusammenhang berufen sich beide Parteien auf das Bundesgesetz über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts vom 4. Dezember 1947 (SR 282.11). Zu Unrecht. Denn als selbständige Anstalt des kantonalen öffentlichen Rechts untersteht die Beklagte diesem Bundesgesetz nicht. Zwar nannte der erste bundesrätliche Entwurf "die Anstalten und Stiftungen des kantonalen öffentlichen Rechts" ebenfalls, doch wurden diese nach Antrag der ständerätlichen Kommission gestrichen, da sie nach privatrechtlichen Gesichtspunkten aufgebaut sind, so dass die Bestimmungen des SchKG auf sie sehr wohl angewendet werden können (FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, 3.A. Zürich 1993, § 84 N. 13; BRAND, SJK Nr. 1036, S. 4). Die von der Klägerin aufgeworfene Frage nach der richtigen Anwendung dieses Bundesgesetzes stellt sich nicht, und die Rechtsprechung des Bundesgerichts vor 1947, welche die Beklagte ausser Betracht lassen will, kann ohne weiteres berücksichtigt werden.
Dass Grundstücke des Verwaltungsvermögens nicht gepfändet und verpfändet - also auch nicht mit einem Bauhandwerkerpfandrecht belastet - werden können, ist im erwähnten Bundesgesetz ausgesprochen, gilt aber allgemein. Denn mit der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe wäre es nicht vereinbar, wenn dazu mit seinem Gebrauchswert unmittelbar dienendes Vermögen verwertet und dem Zweck, dem es gewidmet worden ist, dadurch entfremdet werden könnte (
BGE 103 II 227
E. 4 S. 236). Die allgemeine Tragweite ist eine zwangsläufige
BGE 120 II 321 S. 324
Folge des Vorrangs des öffentlichen Rechts - der sich daraus ergebenden Zweckgebundenheit des Verwaltungsvermögens - über das Privatrecht - des sich daraus ergebenden Anspruchs des Bauhandwerkers auf Pfandbestellung (
BGE 103 II 227
S. 237); das Gemeinwesen soll nicht durch zivilrechtliche Ansprüche in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben behindert werden (vgl. etwa
BGE 119 II 411
E. 3b S. 414, einen Immissionsprozess betreffend).
Zur Zulässigkeit der Bestellung eines Bauhandwerkerpfandrechts an Grundstücken des Verwaltungsvermögens hatte sich das Bundesgericht bislang im Zusammenhang mit einem Gemeindeschulhauses (
BGE 108 II 305
Nr. 59), einem Regionalspital (
BGE 107 II 44
Nr. 9), einer Mehrzweckanlage der PTT (
BGE 103 II 227
Nr. 40), einem Bezirksspital (
BGE 102 Ib 8
Nr. 2) und einem Kindergarten (
BGE 95 I 97
Nr. 14) zu äussern.
c) Die Beklagte bezweckt die "Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung" (§ 57 der Verfassung des Kantons Aargau, SR 131.227), insbesondere durch die Erleichterung des Zahlungsverkehrs, die Ermöglichung sicherer Anlage von Ersparnissen im Dienste einer breiten Vermögensstreuung, die Deckung des Kreditbedarfes des Staates, der Gemeinden und der öffentlich-rechtlichen Zweckverbände sowie der natürlichen und der juristischen Personen privaten Rechts. Sie hat dies mittels Pflege sämtlicher Bankgeschäfte zu tun und sich bei der Kreditgewährung in voller Wahrung gesunder bankbetrieblicher Grundsätze besonders nach den Bedürfnissen des Wohnungsmarktes und nach den Zielen der kantonalen Raumordnungspolitik zu richten (§ 3 Abs. 1 und 2 KBG). Über ihren Geschäftsbereich bestimmt die kantonale Gesetzgebung was folgt: Passivgeschäfte erfolgen "in allen banküblichen Formen" (§ 5 KBG), und das Aktivgeschäft umfasst "alle Arten des kurz- und langfristigen Bankkredits", wobei bezüglich ausländischer Schuldner oder ausländischer Kreditinstitute eine Beschränkung auf Erstklassigkeit besteht (§ 6 KBG). Die Beklagte darf alle weiteren Geschäfte pflegen, "die der Betrieb einer Hypothekar- und Handelsbank mit sich bringt" (§ 7 KBG). Bezüglich der Kredite und Darlehen schreibt das Gesetz als Regel vor, dass sie "nur gegen vollwertige Deckung mit ausreichender Marge gewährt" werden (§ 8 KBG). Ungedeckte Kredite sind zugunsten des Staates Aargau und seiner selbständigen Anstalten und Unternehmungen sowie der Gemeinden und der übrigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Zweckverbände statthaft, zugunsten der Genossenschaften aber nur bei solchen "mit ausreichende Sicherheit bietendem Vermögen oder
BGE 120 II 321 S. 325
mit Haftbarkeit der Mitglieder" und zugunsten der im Handelsregister eingetragenen Erwerbsunternehmungen des privaten Rechts lediglich, "soweit ihre Vermögenslage der Bank als gut bekannt ist" (§ 9 KBG). Alsdann kann bei Sozialkrediten zugunsten der Kantonseinwohner von den üblichen Normen der Deckung abgewichen werden, wobei die Einzelheiten das Geschäftsreglement bestimmt (§ 10 KBG).
Das Geschäftsreglement sieht unter dem Titel "E. Sozialkredite und -darlehen" vor, dass an unbescholtene Kantonsbürger Kleinkredite gegen solidarische Einzelbürgschaft, gegen Abtretung von Lohnansprüchen und Forderungen oder - beschränkt auf den Nominalwert - gegen Lebensversicherungspolicen gewährt werden wie auch Ehestandsdarlehen gegen Abtretung des Eigentumsvorbehaltes höchstens bis zu 80% des Kaufpreises der Möbel (§ 31 des Geschäftsreglementes der Aargauischen Kantonalbank vom 3. Juli 1973).
d) Wenn die Klägerin bei dieser kantonalrechtlichen Geschäftsordnung dafürhält, die Beklagte betreibe das Bankgewerbe wie jede andere, rein privatrechtliche Bank, ist dem die Berechtigung nicht abzusprechen. Ausser an öffentlich- rechtliche Institutionen, für welche letztendlich das Gemeinwesen selber die Zahlungsfähigkeit garantiert, dürfen Kredite in der Tat nur an solvente juristische oder natürliche Personen gewährt werden oder aber nur gegen entsprechende Sicherheiten. Was die Sozialkredite im besonderen angeht, werden auch diese nur gegen Sicherheit vergeben (Bürgschaften, Abtretungen, Verfaustpfändungen, usw.), die dem Bankgeschäft keineswegs fremd sind (EMCH/RENZ/BÖSCH, Das Schweizerische Bankgeschäft, 4.A. Thun 1993, S. 257), wenn sie auch teilweise als "nicht bankmässig" bezeichnet werden (etwa DUBS, Das Sozialkreditgeschäft der schweizerischen Kantonalbanken, Diss. St. Gallen 1965, S. 61 f. und S. 86 ff.); dieser Geschäftsbereich scheint aufgrund der eigenen Anstrengungen der Kantonalbanken bezüglich Kundenwerbung wie auch in Anbetracht der Kreditgewährungspraxis (Verwendungszweck und Höhe) zudem nicht von grosser Bedeutung zu sein (vgl. DUBS, a.a.O., S. 57 ff., 74 ff., 84 ff. und 118 ff.). Ferner steht die volle Wahrung gesunder bankbetrieblicher Grundsätze von Gesetzes wegen vor der Berücksichtigung der weiteren Ziele.
Selbst wenn für die Errichtung einer Kantonalbank ursprünglich gewiss der wohlfahrtsstaatliche Zweck entscheidend gewesen ist, muss heute doch davon
BGE 120 II 321 S. 326
ausgegangen werden, dass die Kantonalbanken zu reinen Universalbanken geworden sind und gewinnstrebende und fiskalische Interessen im Vordergrund stehen (vgl. EMCH/RENZ/BÖSCH, a.a.O., S. 35; KNAPP, Aspects du droit, S. 467/468; BEELI, Das öffentliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen am Beispiel der Luzerner und Zuger Kantonalbank, Diss. Freiburg i.Üe. 1988, S. 38 ff.; RHINOW, BV-Kommentar, Stand Juni 1988, N. 34 zu
Art. 31quater BV
, und KRÄHENMANN, Privatwirtschaftliche Tätigkeit des Gemeinwesens, Basel 1987, S. 65, je mit weiteren Literaturhinweisen). Von Kantonalbankseite wird dies nicht grundsätzlich in Abrede gestellt und durchaus anerkannt, dass die Bestrebungen zur Ausgestaltung als Universalbank und zur Einnahmenbeschaffung für den kantonalen Haushalt unverkennbar seien (etwa HAMMER, Aufgabenwandel bei öffentlich-rechtlichen Unternehmungen, dargestellt am Beispiel der Kantonalbanken, FS Rötheli, Solothurn 1990, S. 425 ff.; FUCHS, Die Rechtsnatur der Kantonalbanken, Zürich 1980, S. 12 ff.). Zumindest für die Beklagte machen die erwähnten Regelungen jüngeren Datums die Richtigkeit dieser Auffassung deutlich. - Die Fragen, ob eine solche privatwirtschaftliche Tätigkeit des Staates zulässig sei (RHINOW, BV-Kommentar, Stand Juni 1988, N. 109 zu
Art. 31 BV
mit Literaturhinweisen; vgl.
BGE 117 Ia 107
E. c S. 113) oder inwiefern eine Kantonalbank das richtige Instrument zur Erreichung der öffentlich-rechtlichen Zweckausrichtung bilde (LEU, Ist eine Staatsgarantie für Banken ökonomisch sinnvoll?, Aktuelle Probleme im Bankrecht, BTJP 1993, Bern 1994, S. 51 ff.), sind im Rahmen der vorliegenden Pfandrechtsstreitigkeit nicht zu beantworten. Wesentlich ist hier einzig, dass die Beklagte von Gesetzes wegen eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, gemäss dieser kantonalrechtlichen Regelung ihre Bankgeschäfte nach Kriterien abwickelt, wie es dies ein privates Unternehmen gleicherweise täte, und damit am Wirtschaftsleben in Konkurrenz mit der Privatwirtschaft teilnimmt (sog. fiskalische Wettbewerbswirtschaft: HÄFELIN/MÜLLER, a.a.O., S. 54 N. 227).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Beklagte ihrer Funktion nach ein Privatbanken vergleichbares Wirtschaftsunternehmen mit freier unternehmerischer Initiative und starker Orientierung am Wettbewerb ist, vom Status her gesehen eine öffentlich-rechtliche Anstalt unter staatlicher Aufsicht, die von Gesetzes wegen eine öffentliche Aufgabe wahrzunehmen hat (vgl. BEELI, a.a.O., S. 40).
BGE 120 II 321 S. 327
e) Insoweit liegt es auf der Hand, dass die Tätigkeit der Beklagten nicht einfach mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben im Bereiche des Schul- oder Spitalwesens verglichen werden darf. Ein Teil der Lehre unterteilt die öffentlich-rechtlichen Anstalten denn auch in solche i.e.S. (z.B. Schulen, Spitäler, Forschungsinstitute) und öffentliche Unternehmen, die sich von den ersteren dadurch unterscheiden, dass sie im Bereich von Handel und Gewerbe staatliche Aufgaben wahrnehmen, welche auf Erwerb ausgerichtet sind; dazu gehören etwa SBB, PTT oder Kantonalbanken (KNAPP, Grundlagen des Verwaltungsrechts, II., 4.A. Basel 1993, N. 2671 ff., und Aspects du droit, S. 469). Mag diese Einteilung im einzelnen auch umstritten sein (BEELI, a.a.O., S. 47 ff.; KRÄHENMANN, a.a.O., S. 6 ff. mit weiteren Begriffsbestimmungen) oder lediglich als eine von vielen erscheinen (MOOR, Droit administratif, III., Berne 1992, S. 330 N. 7.1.1), so zeigt sie immerhin, dass der vorliegende Fall einzig mit dem in
BGE 103 II 227
Nr. 40 beurteilten Sachverhalt die PTT betreffend direkt verglichen werden darf.
f) In jenem Entscheid ist das Bundesgericht allgemein von einem weiten Begriff des Verwaltungsvermögens ausgegangen. Wesentlich sei einzig, ob sich eine Aufgabe als eine solche öffentlicher Art erweise und ob eine bestimmte Sache dieser Aufgabe durch ihren Gebrauchswert unmittelbar diene (
BGE 103 II 227
S. 234). - Von daher gesehen kann nicht verneint werden, dass das im Eigentum der Beklagten stehende Bankgebäude, namentlich die Schalterhalle und der Bankratssaal, zu ihrem Verwaltungsvermögen gehört (zum Erfordernis der Verfügungsgewalt:
BGE 107 II 44
E. b S. 47). Mit ihrem engeren Verständnis dieses Begriffes ist die Klägerin nicht zu hören. Insbesondere meint fehlende Realisierbarkeit als Kennzeichen des Verwaltungsvermögens nicht Unverwertbarkeit schlechthin. Gebrauchswerte, die dem Verwaltungsvermögen zuzuordnen sind, können vielmehr so lange nicht veräussert werden, als sie der Erfüllung der öffentlichen Aufgabe dienen (vgl. etwa HÄFELIN/MÜLLER, a.a.O., S. 425 N. 1822).
g) Der Klägerin ist allerdings darin beizupflichten, dass das Bundesgericht es damit nicht hat bewenden lassen. Gestützt auf die damalige Rechtslage ist weiter ausgeführt worden, eine von der Rechtsordnung dem Staat vorbehaltene Tätigkeit müsse aber vernünftigerweise als öffentliche Aufgabe anerkannt werden, selbst wenn gesetzgeberisch eine privatwirtschaftliche Lösung ebenfalls denkbar gewesen wäre (
BGE 103 II 227
S. 234). - Entgegen der Auffassung der Beklagten kann in jenen Ausführungen nicht bloss eine
BGE 120 II 321 S. 328
einfachere Begründung dafür erblickt werden, dass es sich somit um eine öffentliche Aufgabe gehandelt habe. Das ist vielmehr die Beurteilung der öffentlichen Aufgabe unter dem Blickwinkel der Anwendbarkeit des Zivilrechts gewesen, und als ausschlaggebend hat das Bundesgericht betrachtet, dass die Wahrnehmung dieser Aufgabe durch die Zulassung eines Bauhandwerkerpfandrechts deshalb nicht verunmöglicht werden dürfe, weil aufgrund des diesbezüglich von Verfassungs wegen geltenden Monopols (
Art. 36 Abs. 1 BV
) die gleiche Aufgabe zu den selben Bedingungen nicht sogleich von privater Seite hätte wahrgenommen werden können. Keine Rolle hat dabei gespielt, dass neben dem öffentlichen Hauptzweck, der Erbringung der gesetzlich umschriebenen Leistung, noch ein Fiskalzweck besteht. Der mittelbare öffentliche Zweck, wie er in der Alimentierung der allgemeinen Staatskasse durch die PTT erkannt werden kann (
Art. 36 Abs. 2 BV
), hatte bei Beurteilung auch dieser Frage ausser Betracht zu bleiben, zumal nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ein rein fiskalisches regelmässig nicht als öffentliches Interesse zu werten ist (vgl.
BGE 99 Ia 126
E. 8a S. 140;
BGE 95 I 144
E. b S. 150;
BGE 88 I 248
E. 2 S. 253 mit Hinweisen).
Im Rahmen einer Zivilrechtsstreitigkeit um die Bestellung eines Bauhandwerkerpfandrechts darf sich das Bundesgericht über öffentlichrechtliche Vorschriften, die eine bestimmte Aufgabe einer Anstalt zuweisen, zwar nicht einfach hinwegsetzen, Prozessgegenstand bildet jedoch die Frage nach der Anwendbarkeit des Zivilrechts, danach mithin, ob die Wahrnehmung der gesetzlich umschriebenen öffentlichen Aufgabe dessen Ausschluss nach dem erwähnten Grundsatz rechtfertige. So wenig unter dem Blickwinkel der Willkür eine kantonale Regelung, die als Privatvermögen bezeichnet, was offensichtlich zum Verwaltungsvermögen gehört, unbeanstandet bleiben könnte (
BGE 106 Ia 389
E. bb S. 393;
BGE 97 I 902
E. e S. 909; KNAPP, Grundlagen, II., N. 2888), so wenig darf in der vorliegend zu beurteilenden Frage nur darauf abgestellt werden, dass es sich von Gesetzes wegen um eine öffentliche Aufgabe handelt.
Der Ausschluss des Zivilrechts wird mit anderen Worten nicht durch das Vorliegen einer öffentlichen Aufgabe schlechthin gerechtfertigt, sondern durch besondere Gründe, die im erwähnten Entscheid in der Monopolstellung der PTT bestanden haben und letztlich das öffentliche Interesse betreffen, das die Verwaltung begriffsnotwendig zu verwirklichen suchen muss (vgl.
BGE 94 I 541
E. 5a S. 548; HÄFELIN/MÜLLER, a.a.O., S. 104 N. 450 und S. 107
BGE 120 II 321 S. 329
N. 468). Freilich bedürfen diese besonderen Gründe in der Regel keiner weiteren Erörterung, weil sie sich aus der wahrgenommenen Aufgabe selbst ergeben, sei es dies beispielsweise im Spital- oder Schulwesen, wo Leistungen erbracht werden müssen, weil sie der Markt entweder überhaupt nicht oder so doch zu Bedingungen anbietet, die nur eine Minderheit davon profitieren liesse, oder sei es dies etwa im Bereiche der Sozialpolitik, die Leistungen erforderlich machen kann, wie sie von Privaten unter gleichen Auflagen nicht erbracht würden (MOOR, III., S. 331 N. 7.1.1; vgl. die Zusammenstellung von Motiven der unternehmerischen Betätigung des Staates bei KRÄHENMANN, a.a.O., S. 96 ff.).
h) Die Unterschiede zwischen dem damals beurteilten und dem heute zu beurteilenden Sachverhalt sind augenfällig.
Soweit der Beklagten als Ziele die Wirtschaftsförderung und die soziale Entwicklung vorgeschrieben sind, erreicht sie aufgrund der klaren Geschäftsordnung davon nicht mehr als jedes andere private Bankinstitut. Wie hiervor einlässlich dargelegt, hat sie sich bei ihren Kreditvergaben nach kantonalen Bestimmungen zunächst an die banküblichen Gebräuche zu halten. Auch die weiteren Ziele, die sie zu berücksichtigen hat (Wohnungsmarkt und Raumordnungspolitik), darf die Beklagte aufgrund klarer Gesetzesvorschrift nur "in voller Wahrung gesunder bankbetrieblicher Grundsätze" verfolgen. Dass die Beklagte bei dieser Sachlage nur Leistungen erbringen kann, die von privater Seite in gleicher Weise angeboten werden, liegt auf der Hand. Was die sichere Anlage von Ersparnissen anbetrifft, so hat die Staatsgarantie sicherlich eine gewisse Bedeutung. Zumindest im Verhältnis zu den privaten Grossbanken aber tritt dieses Moment in den Hintergrund und kann für sich allein den Ausschluss des Zivilrechts nicht begründen. Eine öffentliche Aufgabe, die der Beklagten allein vorbehalten wäre, könnte zudem nicht darin erblickt werden, dass sie als kantonale Depositenanstalt wirkt. Zwar tut sie dies von Gesetzes wegen, doch sind die privaten Bankinstitute davon nicht ausgeschlossen (vgl. § 17 des Ausführungsgesetzes zum SchKG vom 13. Oktober 1964). Soweit schliesslich noch die Gewinnverwendung in Frage steht, ist diese als mittelbar öffentlicher Zweck für die hier zu beurteilende Frage wie bereits erwähnt nicht entscheidend.
i) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keine besonderen Gründe im erwähnten Sinne ersichtlich sind, die es rechtfertigten, die Anwendbarkeit des Zivilrechts auf das Verwaltungsvermögen der Beklagten auszuschliessen. Macht der Staat privatwirtschaftliche Tätigkeit gesetzlich zur öffentlichen
BGE 120 II 321 S. 330
Aufgabe und bietet Leistungen an, wie sie von privater Seite zu gleichen Bedingungen erbracht werden, so kann an jenen Liegenschaften, die durch ihren Gebrauchswert der Erfüllung dieser Aufgabe unmittelbar dienen, ein Bauhandwerkerpfandrecht gültig bestellt werden.
Diese Betrachtungsweise entspricht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in Steuerfragen, worauf die Klägerin mit guten Gründen vergleichsweise hinweist. Das Bundesgericht hat es nicht als willkürlich bezeichnet, einer Kantonalbank gehörende Grundstücke in vollem Umfang gemeindesteuerpflichtig zu erklären, weil "der Bankbetrieb, wie er im Luzernischen Kantonalbankgesetz umschrieben wird, keineswegs eine notwendig dem Staat obliegende oder vorbehaltene Aufgabe" darstelle. Der Staat könne seinem Begriffe nach auch ohne Staatsbank bestehen, und die der Bank zugewiesenen Verrichtungen könnten insgesamt auch von Privaten übernommen werden. Der Staat eröffne "einen Gewerbebetrieb (als selbständige oder unselbständige Staatsanstalt), um ihn den öffentlichen Interessen entsprechend zu führen, ohne dass der Betrieb deswegen den Charakter eines Gewerbebetriebes verlieren würde" (
BGE 57 I 79
E. b S. 91/92).
Diese Auffassung findet sich auch in Urteilen zur Steuerpflicht des Vermögens von Gemeindesparkassen wieder: "der Betrieb einer Sparkasse und dessen Sicherung (durch Reservebildung) sei eine privatwirtschaftliche Aufgabe und falle nicht in den Kreis der öffentlichen Zwecke, wie er sich bei Gemeinden nach dem kantonalen Verfassungsrecht, der Gemeindegesetzgebung und den jeweilig geltenden Auffassungen über die öffentlichen Aufgaben der Gemeinden bestimme" (vgl. nicht veröffentlichtes Bundesgerichtsurteil i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung c/Sparkasse Schwyz vom 1. März 1985, ASA 55 1986/87 S. 220 ff. E. 5 mit Hinweisen). | de |
845e507a-0280-4de8-b94f-ab32c6a9566d | Erwägungen
ab Seite 341
BGE 105 IV 341 S. 341
Aus den Erwägungen:
3.
a) Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern (
Art. 14 Abs. 1 VRV
). Das Vortrittsrecht ist verletzt, wenn der Berechtigte durch das Verhalten des Vortrittsbelasteten zu brüskem Bremsen, Beschleunigen oder Ausweichen vor, auf oder kurz nach der Verzweigung gezwungen wird, gleichgültig, ob eine Kollision erfolgt oder nicht.
Gewiss ist im dichten Innerortsverkehr eine etwas elastische Handhabung der Vortrittsregeln notwendig. In gewissen Situationen mag ein Verzicht auf das Vortrittsrecht im Interesse der Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs angezeigt sein und daher als wünschbar erscheinen, dass ein Berechtigter, auch wenn er dazu gesetzlich nicht verpflichtet ist, einem Wartepflichtigen durch Verlangsamen der Fahrt und nötigenfalls Anhalten das Einbiegen ermögliche, wenn dies ohne Gefährdung
BGE 105 IV 341 S. 342
anderer Verkehrsteilnehmer geschehen kann. Auch kommt es bei sich auf kurze Distanz folgenden Kreuzungen und Einmündungen nicht selten vor, dass ein eben eingebogenes Fahrzeug schon bei der nächsten Verzweigung wieder nach links oder nach rechts abschwenken wird und dabei verkehrsbedingt, etwa wegen der entgegenkommenden Fahrzeuge oder wegen der die Seitenstrasse überquerenden Fussgänger, anhalten muss. Im Interesse der Rechtssicherheit, der gerade im Bereich des Strassenverkehrs grosse Bedeutung zukommt, ist aber auch in solchen Fällen nur mit grösster Zurückhaltung anzunehmen, ein Wartepflichtiger habe das Vortrittsrecht nicht vollständig zu respektieren.
b) Im vorliegenden Fall stellen sich indessen solche Fragen nicht. Weder in der Moosgasse noch auf der Hauptstrasse Kerzers-Ins herrschte dichter Verkehr. Obschon der Beschwerdeführer bei der Einmündung der Nebenstrasse in die Hauptstrasse nach eigenen Angaben einen Sicherheitshalt von über einer Minute eingelegt hatte, befanden sich hinter ihm, mit Ausnahme des ihm folgenden Wagens seiner Tochter, keine weiteren Fahrzeuge. Ha. bemerkte den auf der Hauptstrasse aus Richtung Kerzers nahenden Lastenzug auf eine Distanz von 120 m. Die Sicht in Richtung Ins war auf 195 m frei, und der Beschwerdeführer sah von dort einen einzelnen Personenwagen herannahen. Es bestand überhaupt kein Grund, diese beiden vortrittsberechtigten Fahrzeuge nicht vorbeifahren zu lassen, zumal Ha. nicht auf der Hauptstrasse beschleunigend in normaler Geschwindigkeit zumindest bis zu einer nächsten Verzweigung fahren wollte, sondern beabsichtigte, kurz nach dem Einbiegen die Hauptstrasse wieder zu verlassen, um auf den Parkplatz vor dem Eckhaus (Restaurant "Rössli") zu gelangen. Die Vorinstanz beziffert die von Ha. auf der Hauptstrasse zurückgelegte Fahrtstrecke nicht; sie stellt lediglich fest, er habe "gleich darauf" auf den Parkplatz abschwenken wollen. Im Polizeirapport wird zweimal eine Strecke von 20 m erwähnt; nach dem Plan und den Fotos sind es eher noch weniger. Jedenfalls konnte und wollte der Beschwerdeführer auf der Hauptstrasse nicht beschleunigen; vielmehr benötigte er für sein Manöver - Wegfahren aus der Moosgasse bis zum Stillstand auf der Hauptstrasse - nach den Feststellungen der Vorinstanz gegen neun Sekunden. Ha. konnte dabei von Anfang an erkennen, dass sich das von ihm beabsichtigte Manöver
BGE 105 IV 341 S. 343
nicht rasch und in einem Zuge ausführen liess, sondern dass er wegen des aus Richtung Ins entgegenkommenden Wagens auf der Hauptstrasse werde anhalten müssen und dadurch den aus Richtung Kerzers kommenden Ho. in seiner Fahrt behindern werde.
Bei dieser Sachlage kann der Verkehrsablauf entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht in zwei getrennte Phasen zerlegt werden, deren zweite so weit entfernt wäre, dass für sie das in der ersten Phase zugunsten Ho. bestehende Vortrittsrecht nicht mehr gelten würde. Indem Ha. trotz genügender Sicht auf die beiden vortrittsberechtigten Fahrzeuge ganz langsam in die Hauptstrasse einbog und auf dieser nach wenigen Metern schliesslich anhielt, hat er eindeutig das Vortrittsrecht des Ho. missachtet. Wie weit auch Ho. sich vorschriftswidrig verhalten hat - er wurde rechtskräftig gebüsst - ist in diesem Verfahren nicht zu beurteilen. | de |
15c811bb-7d4a-423e-8c00-79d7fbbe9c35 | Sachverhalt
ab Seite 58
BGE 106 IV 58 S. 58
A.-
F. lenkte am 21. Juni 1978 um 06.50 Uhr seinen Personenwagen von dem einem Wohnhaus in Winterthur vorgelagerten Privatparkplatz rückwärts auf die angrenzende Strasse hinaus, um sich in den Verkehr einzufügen. Wegen einer die Sicht nach links verdeckenden Laubhecke konnte er den von dort herannahenden Wagen des G. erst sehen und sein Fahrzeug anhalten, als dieses mit dem Heck ca. 1,5 m in die Strasse hineinragte. G. fuhr wegen am rechten Strassenrand parkierter
BGE 106 IV 58 S. 59
Autos und wegen eines entgegenkommenden Mofa-Fahrers, der die Strasse schräg überquerte, auf der linken Strassenhälfte und leitete, als er den auf die Strasse hinausfahrenden Wagen von F. gewahrte, eine Vollbremsung ein, konnte aber eine Kollision mit diesem nicht mehr verhindern.
B.-
Das Polizeiamt der Stadt Winterthur büsste G. wegen Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die örtlichen Verhältnisse und F. wegen Missachtung des Vortrittsrechts (
Art. 36 Abs. 4 SVG
und
Art. 15 Abs. 3 VRV
) mit je Fr. 40.--.
Auf Einsprache von F. bestätigte der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Winterthur die Busse. Zur Begründung warf er F. im wesentlichen vor, er habe bei den schlechten Sichtverhältnissen nach Osten nicht abschätzen können, ob während der Rückwärtsfahrt einem von dort kommenden Fahrzeug der Vortritt verweigert werde; er hätte deshalb zur Überwachung des Fahrmanövers eine Hilfsperson beiziehen müssen.
Die von F. gegen dieses Urteil geführte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am 4. Dezember 1979 abgewiesen.
C.-
F. verlangt mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde die Aufhebung des obergerichtlichen Entscheides und die Rückweisung der Sache zur Freisprechung. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer bestreitet, das Vortrittsrecht fahrlässig missachtet zu haben. Er macht geltend, er habe während der Wegfahrt aus dem Parkplatz alle ihm zumutbaren Vorsichtspflichten erfüllt. G. hätte nach rechts ausweichen und unfallfrei hinter dem angehaltenen Wagen vorbeikommen können, wenn er langsamer und aufmerksamer gefahren wäre; die Schuld am Zusammenstoss treffe daher ausschliesslich den Vortrittsberechtigten.
Diesem Einwand ist zunächst entgegenzuhalten, dass das Vortrittsrecht durch pflichtwidriges Verhalten des Berechtigten nicht aufgehoben wird (
BGE 102 IV 261
). Zudem gibt es im Strafrecht keine Schuldkompensation. Die Verletzung von Verkehrsregeln durch den Vortrittsberechtigten könnte den Beschwerdeführer nur entlasten, wenn seine eigene Fahrweise einwandfrei gewesen wäre und wenn das Verhalten des G. derart ausserhalb der normalen Erfahrung gelegen hätte, dass
BGE 106 IV 58 S. 60
vernünftigerweise nicht damit gerechnet werden musste (
BGE 97 IV 221
).
2.
Der Fahrzeugführer, der aus einem Parkplatz kommend sich in den Verkehr einfügen will, hat nach
Art. 36 Abs. 4 SVG
allen auf der Strasse verkehrenden Fahrzeugen, ob sie von rechts oder links kommen, den Vortritt zu gewähren und zwar auf der ganzen Strassenbreite (
BGE 102 IV 261
). Es liegt daher an ihm, die nach den Umständen und Sichtverhältnissen gebotenen Massnahmen zu treffen, um eine Beeinträchtigung oder Gefährdung herannahender Vortrittsberechtigter zu verhindern (
BGE 89 IV 142
).
Im vorliegenden Fall lag nichts Aussergewöhnliches darin, dass die Strasse von Fahrzeuglenkern mit der an sich zulässigen Geschwindigkeit von 60 km/h befahren wird. Auf jenem Strassenstück ist grundsätzlich auch das Überholen zulässig. Es musste deshalb damit gerechnet werden, dass in der Fahrtrichtung von G. verkehrende Fahrzeuge schon zum Vorbeifahren an den am rechten Strassenrand parkierten Autos die Strassenmitte benützen und beim Überholen z.B. eines Radfahrers auch die linke Strassenseite beanspruchen. Findet ein solches Überholmanöver ungefähr auf der Höhe der sichtbehindernden Hecke statt und führt gleichzeitig ein Fahrzeug rückwärts aus dem Parkplatz auf die Strasse hinaus, so ist ein Zusammenstoss zwischen beiden selbst dann unvermeidlich, wenn der Überholende nur eine Geschwindigkeit von etwa 40 km/h einhält und der aus dem Parkplatz Kommende im Schritt-Tempo führt. Dem Beschwerdeführer, der den ihm zustehenden Parkplatz regelmässig benützte, waren die örtlichen Verhältnisse bestens bekannt. Insbesondere wusste er, dass ihm beim Rückwärtsfahren aus dem Parkplatz die Sicht nach links solange verdeckt war, bis sein Wagen ca. 1,5 m in die Strasse hineinragte. Wenn er das Fahrmanöver trotzdem ausführte, hat er die Gefährdung von Strassenbenützern bewusst in Kauf genommen und zu Unrecht darauf vertraut, herannahende Vortrittsberechtigte würden sich zum vorneherein auf die Möglichkeit einer Gefahr einstellen und die Geschwindigkeit so herabsetzen, dass sie jederzeit ausweichen oder anhalten könnten. Damit hat der Beschwerdeführer die ihm gegenüber Vortrittsberechtigten obliegende Sorgfaltspflicht verletzt (vgl.
BGE 99 IV 175
,
BGE 93 IV 34
).
Auch die weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers sind unbehelflich. So kann er nichts zu seinen Gunsten daraus ableiten,
BGE 106 IV 58 S. 61
dass der in Frage stehende Privatparkplatz verkehrspolizeilich zugelassen wurde. Wie den Feststellungen der Vorinstanz zu entnehmen ist, hätte der Beschwerdeführer die Strasse rechtzeitig überblicken und eine Gefährdung Vortrittsberechtigter vermeiden können, wenn er den Wagen rückwärts abgestellt und den Parkplatz vorwärtsfahrend verlassen hätte. Dass er dies nach der privaten Parkordnung nicht tun durfte, ist rechtlich ohne Belang. Er hätte im Interesse der Verkehrssicherheit den Hauseigentümer ersuchen können, auf seine Weisung, nur vorwärts zu parkieren, zu verzichten. Er hat sich auch nicht um die Aufstellung eines Verkehrsspiegels an der Strasse bemüht. Wenn er von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch machen wollte und weiter behauptet, es sei ihm keine Hilfsperson zur Überwachung des Fahrmanövers zur Verfügung gestanden, so musste er auf die Benützung dieses Parkplatzes verzichten. Da er trotz der Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens nicht für Abhilfe sorgte, ist er zu Recht wegen Verletzung des Vortrittsrechts im Sinne des
Art. 36 Abs. 4 SVG
bestraft worden. | de |
e294ff5e-0e6f-4d4f-9592-c110df43163d | Sachverhalt
ab Seite 241
BGE 127 III 241 S. 241
Die Fintransverwag ist Eigentümerin des Grundstücks Interlaken, GBBl-Nr. 209, an der Bahnhofstrasse 1 in Interlaken, welches in der Ecke Bahnhofstrasse/Zentralstrasse liegt. In der Bahnhofstrasse/Höhenstrasse verläuft eine Kanalisationsleitung, der sog. Hauptsammelkanal. Dieser Kanal war ursprünglich als undichte Kanalisationsleitung konzipiert. Löcher auf der unteren Seite der Leitung ermöglichten das Eindringen von Grundwasser zwecks Reinigung des Kanalisationsrohrs. In den Jahren 1976/77 dichtete die Gemeinde Interlaken den ursprünglich undichten Hauptsammelkanal ab. Dies hatte zur Folge, dass fortan kein Grundwasser mehr durch den Hauptsammelkanal abgeleitet wurde. Im Frühjahr 1990 wurde auch die Kanalisationsnebenleitung in der Centralstrasse saniert, welche nahe an der Liegenschaft der Fintransverwag vorbei verläuft und in der Bahnhofstrasse/Höhenstrasse in den Hauptsammelkanal mündet. Im Unterschied zum Hauptsammelkanal handelte es sich
BGE 127 III 241 S. 242
bei der Kanalisationsnebenleitung um eine ursprünglich dicht konzipierte Leitung, die aber im Verlaufe der Jahre zunehmend leck geworden war. Die Abdichtung dieser Leitung hatte zur Folge, dass auch durch die Kanalisationsnebenleitung kein Grundwasser mehr abfliessen konnte. Nach Abschluss der Arbeiten am 6. April 1990 drang am 12. April 1990 Grundwasser ins Untergeschoss der Liegenschaft der Fintransverwag ein. Auch später soll es zu weiteren kleineren und grösseren Wassereinbrüchen und übermässigen Feuchtigkeitserscheinungen gekommen sein.
In der Folge klagte die Fintransverwag gegen die Einwohnergemeinde Interlaken vor dem Appellationshof des Kantons Bern. In einem Zwischenentscheid bejahte der Appellationshof die grundsätzliche Haftbarkeit der Gemeinde Interlaken und verpflichtete diese im Endentscheid, der Fintransverwag Fr. 406'588.60 zu bezahlen.
Das Bundesgericht weist die von der Gemeinde Interlaken erhobene Berufung ab, soweit darauf einzutreten war. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
Der Appellationshof vertritt die Auffassung, dass der Anstieg des Grundwasserspiegels um ca. 10 cm, der durch die Abdichtung der Kanalisationsnebenleitung verursacht wurde, eine übermässige Immission im Sinn von
Art. 684 ZGB
darstelle. Die Beklagte sei daher gemäss
Art. 679 ZGB
für den durch den Grundwassereintritt verursachten Schaden haftbar. Die Beklagte wirft der Vorinstanz vor, zu Unrecht eine Haftung gemäss Art. 684/679 ZGB bejaht zu haben.
a)
Art. 684 ZGB
verbietet einem Grundeigentümer in genereller Weise übermässige Einwirkungen auf ein benachbartes Grundstück. Nebst diesem Grundtatbestand sieht das Gesetz für verschiedene Spezialfälle Sonderregelungen vor, welche das nachbarrechtliche Verhältnis regeln. Bezüglich des Wasserablaufs bestimmt
Art. 689 Abs. 1 ZGB
, dass jeder Grundeigentümer verpflichtet ist, das Wasser aufzunehmen, das von dem oberhalb liegenden Grundstück natürlicherweise abfliesst (Abs. 1); der natürliche Ablauf darf nicht zum Schaden des Nachbarn verändert werden (Abs. 2); schliesslich darf das für das untere Grundstück nötige Abwasser nur insoweit entzogen werden, als es für das obere Grundstück unentbehrlich ist (Abs. 3). Zunächst ist zu prüfen, ob die Spezialregelung von
Art. 689 ZGB
auf den hier zu beurteilenden Fall anwendbar ist, oder ob die allgemeine Regel von
Art. 684 ZGB
massgebend ist.
BGE 127 III 241 S. 243
aa) In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass
Art. 689 ZGB
in Bezug auf das "natürlicherweise auf oder in der Erde vorhandene Wasser, soweit dieses keine Bäche formt", anwendbar sei (ARTHUR MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 6 zu Art. 689/690 ZGB). Dieser Formulierung scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass sich
Art. 689 ZGB
auch auf Grundwasser bezieht, eine Sichtweise, die sich auch in einer älteren Dissertation findet:
Art. 689 ZGB
unterscheide nicht zwischen Oberflächen- und Grundwasser und sei auch auf Grundwasser anwendbar (ADOLF E. ALTHERR, Die rechtliche Behandlung des Grundwassers, Diss. Zürich 1934, S. 73). Nach einer anderen Auffassung soll sich
Art. 689 ZGB
nur auf das Oberflächenwasser beziehen und wäre daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar (PETER LIVER, Das Eigentum, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1, S. 254, Fn. 9; HEINZ REY, Basler Kommentar, N. 1 zu Art. 689 f. ZGB, mit Hinweis auf LIVER). Beide Autoren verweisen zur Begründung ihrer Auffassung auf
BGE 64 II 340
ff., in welchem Entscheid das Bundesgericht ausführe, dass sich
Art. 689 Abs. 3 ZGB
ausschliesslich auf Oberflächenwasser beziehe, während das Grundwasser in
Art. 704 Abs. 3 ZGB
den Quellen gleichgestellt werde (a.a.O., E. 2 S. 342; vgl. auch
BGE 48 II 322
).
bb) Die Regelung des Wasserablaufs in
Art. 689 ZGB
bezieht sich in erster Linie auf das Oberflächenwasser; dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Gesetzes, der als Beispiele namentlich Regenwasser, Schneeschmelze und Wasser von nicht gefassten Quellen erwähnt. Auch aus den Materialien ergibt sich, dass der historische Gesetzgeber in erster Linie an Oberflächenwasser dachte (Erläuterungen zum Vorentwurf des EJPD, Drittes Heft, Das Sachenrecht, Bern 1902, S. 94 f.; BBl 1904 IV 66 betreffend Art. 679 VE; Sten.Bull. 1906 N S. 544, 548 f.). Allerdings schliessen weder Wortlaut noch Wortsinn von
Art. 689 ZGB
aus, diese Bestimmung ebenfalls auf Grundwasser anzuwenden. Wie Oberflächenwasser fliesst auch das Grundwasser von einem Grundstück zum anderen. Im vorliegenden Fall hat der Appellationshof gestützt auf die gutachterlichen Erkenntnisse sogar ausdrücklich festgehalten, dass das Grundwasser an der fraglichen Stelle gegen die klägerische Liegenschaft hin fliesse. Es mag als eher ungewöhnlich erscheinen, im Zusammenhang mit Grundwasser, das von einem Grundstück auf ein anderes fliesst, von einem "oberhalb liegenden" (vgl.
Art. 689 Abs. 1 ZGB
) und einem unteren Grundstück zu sprechen. Fliesst aber Grundwasser - wie Oberflächenwasser - von einem Grundstück zum anderen, ist es durchaus sachgerecht, auch diesbezüglich von einem
BGE 127 III 241 S. 244
"oberhalb liegenden" und einem "unteren Grundstück" zu sprechen. Nichts anderes kann für stehendes Grundwasser gelten, sind doch Veränderungen des Grundwasserspiegels zwangsläufig mit dem Zu- bzw. Abfluss von Wasser verbunden.
cc) Aus
BGE 64 II 340
ff. bzw.
BGE 48 II 319
ff. ergibt sich entgegen den sich darauf berufenden Autoren LIVER und REY keineswegs, dass
Art. 689 ZGB
in Bezug auf das Grundwasser prinzipiell nicht anwendbar sei. In diesen Entscheiden hielt das Bundesgericht fest, dass der Quelleigentümer über sein Quellwasser frei verfügen könne, ohne dass der Eigentümer des unteren Grundstückes, auf welches das Wasser abfliesse, sich dagegen wehren könne; insbesondere könne er sich nicht auf
Art. 689 Abs. 3 ZGB
berufen, weil sich diese Bestimmung nur auf Oberflächenwasser beziehe (
BGE 64 II 340
E. 2 S. 342;
BGE 48 II 319
E. 4 S. 322). In beiden Fällen ging es ausschliesslich um die Anwendung des Absatzes 3 von
Art. 689 ZGB
.
Art. 689 Abs. 3 ZGB
findet auf Grundwasser deshalb keine Anwendung, weil gemäss den Vorschriften von
Art. 704 Abs. 1 und 3 ZGB
der Quelleigentümer über das Quell- und Grundwasser frei verfügen kann. Es handelt sich hinsichtlich des Grundwassers um eine
Art. 689 Abs. 3 ZGB
derogierende Spezialvorschrift. Anders verhält es sich in Bezug auf
Art. 689 Abs. 1 und 2 ZGB
. Die Spezialvorschriften zum Quellenrecht äussern sich nicht zur Frage, ob der Quelleigentümer sein Wasser ohne weiteres auf das unten gelegene Grundstück abfliessen lassen darf. Diesbezüglich ist vielmehr
Art. 689 Abs. 1 ZGB
massgebend, welche Bestimmung den Grundeigentümer des unteren Grundstücks verpflichtet, das vom oberhalb liegenden Grundstück abfliessende Wasser, namentlich jenes nicht gefasster Quellen, aufzunehmen. Dass dieses Problem systematisch hier und nicht beim Quellrecht geregelt wurde, hat seinen Grund darin, dass es dabei eben nicht unmittelbar um die Quelle geht, sondern um das aus dieser abfliessende Wasser (Erläuterungen zum Vorentwurf, a.a.O., S. 95). Das Problem stellt sich beim Abfliessen von Quellwasser nicht anders als beim Abfluss von anderem Wasser, namentlich Grundwasser.
b) Aus diesen Gründen ist im vorliegenden Fall
Art. 689 Abs. 1 und 2 ZGB
und nicht
Art. 684 ZGB
anwendbar. Der Grundeigentümer ist verpflichtet, das von einem benachbarten Grundstück ab- bzw. zufliessende Grundwasser aufzunehmen (
Art. 689 Abs. 1 ZGB
), während beide Nachbarn verpflichtet sind, den natürlichen Ablauf nicht zum Schaden des anderen zu verändern (
Art. 689 Abs. 2 ZGB
).
Art. 689 Abs. 2 ZGB
verbietet namentlich Veränderungen
BGE 127 III 241 S. 245
des Wasserablaufs (nachfolgend lit. aa), die auf künstliche Eingriffe zurückzuführen sind (nachfolgend lit. bb) und die nicht mit der ordentlichen Bewirtschaftung des Grundstückes in Zusammenhang stehen (nachfolgend lit. cc) (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 19 zu Art. 689/690 ZGB).
aa) Die Sanierung der im Verlauf der Jahre leck gewordenen Kanalisationsnebenleitung bewirkte nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz, dass vermehrt Grundwasser in Richtung der klägerischen Liegenschaft floss und dort eine Erhöhung des Grundwasserspiegels um ca. 10 cm verursachte und insoweit zu einer "Veränderung des Wasserablaufs" im Sinn von
Art. 689 Abs. 2 ZGB
führte. Daran ändert der auf den ersten Blick bestechend erscheinende Einwand nichts, die Sanierung einer allmählich leck gewordenen Kanalisationsleitung könne letztlich nicht zu einem höheren Grundwasserspiegel führen, als dies der Fall wäre, wenn die Leitung nicht leck geworden wäre. Vor der allmählich einsetzenden Drainagewirkung hatte der Grundwasserspiegel nicht bis zum Kellergeschoss der beklagtischen Liegenschaft gereicht. Dass es nach der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes der Leitung zum Wassereinbruch gekommen ist, ist darauf zurückzuführen, dass seit dem Verlegen der Kanalisationsnebenleitung (1906) von den verschiedensten Grundeigentümern - auch von der Beklagten - immer wieder den Grundwasserspiegel beeinflussende bauliche Massnahmen unterschiedlichster Art getroffen wurden. Dazu zählt u.a. die 1976/77 erfolgte Abdichtung des Hauptsammelkanals. Als sich dann die Beklagte im Frühjahr 1990 anschickte, die Nebenleitung in der Centralstrasse zu verdichten, handelte sie in einem - im Vergleich zur Zeit, als diese verlegt worden war - völlig veränderten Umfeld. Sie durfte die vorausgegangenen Veränderungen nicht einfach ignorieren und sich so verhalten, als ginge es nur gerade um die Wiederherstellung eines ehedem unbedenklichen Zustandes. Jeder Eingriff, der ein Absenken oder Anheben des Grundwasserspiegels zur Folge hat, ist eine Veränderung des Ablaufs im Sinn von
Art. 689 Abs. 2 ZGB
. Verfehlt ist daher die Argumentation der Beklagten, die Gemeinde sei nicht öffentlichrechtlich verpflichtet, Grundwasser abzuführen. Entscheidend ist, dass sie in ihrer Eigenschaft als Grundeigentümerin keine Vorkehren treffen darf, welche den Grundwasserspiegel zum Nachteil der Nachbaren verändern. In diesem Zusammenhang ist auch das Argument der Beklagten unbegründet, dass die Abdichtung der Leitung nur den Wegfall einer negativen Immission (Ableitung von
BGE 127 III 241 S. 246
Grundwasser) bewirkt habe und dass der Wegfall einer Immission von vornherein keine Haftpflicht nach
Art. 684 ZGB
auslösen könne. Zum einen findet im vorliegenden Fall
Art. 689 ZGB
als lex specialis Anwendung, zum andern handelt es sich sehr wohl um das Auftreten und nicht den Wegfall einer Immission, wenn sich der Grundwasserspiegel nach der Leitungssanierung anhebt und auf das Grundeigentum schädliche Einwirkungen hat.
bb) Fraglich ist, ob durch den Eingriff der "natürliche Ablauf" des Wassers verändert wurde. Der Wasserablauf bzw. Grundwasserspiegel war insoweit längst nicht mehr "natürlich", als er seit Jahrzehnten durch senkende und hebende Massnahmen beeinflusst worden war (E. 5b/aa). Gleichwohl kann ein erneuter Eingriff, der ein Absenken oder Anheben des Grundwasserspiegels bewirkt, eine Veränderung des "natürlichen Ablaufs" im Sinn von
Art. 689 Abs. 2 ZGB
bedeuten. Wenn
Art. 689 Abs. 1 ZGB
von natürlicherweise abfliessendem Wasser spricht und Abs. 2 Veränderungen des natürlichen Ablaufs zum Schaden des Nachbarn verbietet, so ist dies nicht so zu verstehen, dass ein nicht mehr ursprünglicher (insoweit nicht mehr natürlicher) Abwasserablauf oder ein längst künstlich beeinflusster Grundwasserspiegel den Grundeigentümer aller Rücksichtnahme entheben würde und dieser sich um einen bereits beeinflussten Grundwasserspiegel nicht mehr zu kümmern hätte und beliebige Veränderungen zum Nachteil der Nachbaren vornehmen könnte. Entscheidend ist, ob der Ablauf bzw. der Grundwasserspiegel künstlich verändert wird (in diesem Sinn MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 21 zu Art. 689/690 ZGB). Bei der zur Diskussion stehenden Abdichtung der Kanalisationsleitung handelt es sich um einen solchen künstlichen Eingriff. Insoweit liegt durchaus eine Veränderung des natürlichen Ablaufs im Sinn von
Art. 689 Abs. 2 ZGB
vor.
cc) Bleibt die Frage, ob die künstliche Veränderung nicht mit der ordnungsgemässen Bewirtschaftung des Grundstückes im Zusammenhang steht (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 22 zu Art. 689/690 ZGB). Gewiss gehört die Sammlung und Ableitung der Abwässer durch Verlegen einer Kanalisationsleitung zur ordentlichen Bewirtschaftung eines Strassengrundstückes. Ohne weiteres kann der Beklagten auch zugestimmt werden, dass sie aus gewässerpolizeilichen Gründen verpflichtet war, die lecke Kanalisationsleitung abzudichten, damit das Abwasser nicht weiterhin durch Sauberwasser verdünnt wurde (
Art. 7 Abs. 2 und
Art. 12 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 24. Januar 1991 über den Schutz der Gewässer [GSchG; SR 814.20]
).
BGE 127 III 241 S. 247
Dies enthob sie aber nicht der Verantwortung als Grundeigentümerin. Vielmehr hatte sie alles Zumutbare vorzukehren, um mögliche schädliche Auswirkungen eines Eingriffs abzuklären. Lassen sich schädliche Auswirkungen nicht ausschliessen, hat entweder der Eingriff zu unterbleiben oder sind Vorkehren ins Auge zu fassen, um die Auswirkungen aufzufangen oder zu minimieren. Sind solche Vorkehren möglich und nicht unverhältnismässig teuer, wird der Eigentümer im Unterlassungsfall zivilrechtlich verantwortlich (
Art. 679 ZGB
). Sind sie hingegen unmöglich oder kommen sie unverhältnismässig teuer zu stehen, erfolgt die Schadensliquidation auf dem Expropriationsweg (
BGE 123 II 481
E. 7a S. 490 f.). Die Beklagte hat bei der Sanierung der Kanalisation keine den Anstieg des Grundwasserspiegels kompensierenden Massnahmen getroffen, obwohl der Einfluss einer solchen baulichen Massnahme auf den prekären Stand des Grundwasserspiegels bekannt war. Ihr Einwand, es würden ihr als Gemeinwesen Vorkehren zugemutet, die in keinem Verhältnis zu ihren "finanziellen und logistischen Kapazitäten" stünden, ist nicht substantiiert, so dass darauf nicht einzutreten ist (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
).
c) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Abdichtung der Kanalisationsnebenleitung zu einer unzulässigen Veränderung des Grundwasserspiegels und in der Folge zu einer Schädigung der Klägerin geführt hat. Dieser steht daher - unabhängig von einem Verschulden der Beklagten - aus Art. 679 in Verbindung mit
Art. 689 ZGB
ein Anspruch auf Schadenersatz bzw. Wiederherstellung des früheren Zustandes zu (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 12 und 23 zu Art 689/690 ZGB). Dass es sich bei den Folgen des angehobenen Grundwasserspiegels - nach den verbindlichen Feststellungen kam es in der klägerischen Liegenschaft zu Wassereinbrüchen und übermässigen Feuchtigkeitserscheinungen - nicht um blosse (allenfalls zu duldende) Belästigungen, sondern um eine Schädigung im Sinn von Art. 689 Abs. 2 bzw.
Art. 679 ZGB
handelt, braucht nicht näher erläutert zu werden. Unerheblich ist, dass nach den Feststellungen der Vorinstanz die Grundwassereinbrüche und Feuchtigkeitserscheinungen durch einen Grundwasseranstieg von bloss ca. 10 cm verursacht wurden. Die Vorinstanz hat die grundsätzliche Haftbarkeit der Beklagten zu Recht bejaht. Die beklagtische Berufung ist daher abzuweisen, soweit überhaupt darauf einzutreten ist. | de |
6eeb85f1-e500-438b-b153-0978d2874a7f | Sachverhalt
ab Seite 35
BGE 113 Ib 34 S. 35
Die Schweiz. Bundesbahnen (SBB) bauen auf der Stettbacherwiese auf dem Gebiet der Gemeinde Zürich das Tieftrasse und den unterirdischen Bahnhof Stettbach für die neue S-Bahn Zürich - Dübendorf/Dietlikon (Teilprojekt 7). Angrenzend an das vom Bau betroffene Areal liegt die Überbauung Mattenhof der Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof.
Für das Teilprojekt 7 der S-Bahn war in den Gemeinden Zürich und Dübendorf Mitte des Jahres 1983 eine öffentliche Planauflage im Sinne von
Art. 30 des Bundesgesetzes über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG)
durchgeführt worden. Der Beginn der Bauarbeiten fiel ebenfalls auf Sommer 1983. Am 21. November 1983 wandte sich die Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof an die SBB, weil infolge der Bauarbeiten Schäden an den Häusern im Mattenhof entstanden seien. Die SBB leiteten die Meldung an die "Zürich"-Versicherungsgesellschaft weiter, mit der die Bauherrinnen einen Vertrag zur Deckung der Bauschäden abgeschlossen hatten. Die Versicherungsgesellschaft liess hierauf ein Gutachten erstellen, gestützt auf das sie in ihrem Schreiben an die Siedlungsgenossenschaft vom 29. November 1985 eine Haftung der SBB ablehnte, da kein adäquater Kausalzusammenhang zwischen den Schäden und den Bauarbeiten für die S-Bahn bestehe. Die Siedlungsgenossenschaft bestritt die Resultate des Gutachtens und reichte schliesslich am 28. Mai 1986 unter Hinweis auf
Art. 41 EntG
beim Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10, ein Begehren um Eröffnung eines Enteignungsverfahrens ein.
BGE 113 Ib 34 S. 36
In ihrer Vernehmlassung zum Begehren um Verfahrenseröffnung stellten die SBB, Kreisdirektion III, Antrag auf Abweisung des Gesuches und machten hauptsächlich geltend, das Entschädigungsbegehren der Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof könne nach
Art. 5 EntG
überhaupt nicht Gegenstand eines Enteignungsverfahrens sein. Die SBB hätten für die Risiken, die mit dem Bau der neuen Bahnstrecke verbunden seien, eine Baustellenversicherung abgeschlossen. Die Schadenmeldung der Siedlungsgenossenschaft sei von der Versicherungsgesellschaft entgegengenommen und das Schadenersatzbegehren nach einlässlicher Prüfung abgewiesen worden. Der Grundeigentümerin stehe es nun frei, ihre rein zivilrechtlichen Ansprüche beim zuständigen Zivilrichter anzumelden. Wäre aber dennoch anzunehmen, es liege ein Enteignungsfall vor, so müsste die Eingabe der Gesuchstellerin vom 28. Mai 1986 in Anwendung von
Art. 41 EntG
als verspätet gelten.
Mit Verfügung vom 24. Juli 1986 erklärte der stellvertretende Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10, das nachträglich angemeldete Entschädigungsbegehren der Siedlungsgenossenschaft als zulässig und das Enteignungsverfahren für eröffnet. Gegen diese Verfügung haben die SBB Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht, die vom Bundesgericht abgewiesen wird aus folgenden Erwägungen
Erwägungen:
2.
Die Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof hat in ihren Eingaben stets geltend gemacht, infolge der für den Bau der S-Bahn-Linie unternommenen Abgrabungen und Aufschüttungen auf den Nachbarparzellen habe sich ihr Grundstück gesenkt und seien an einigen Häusern Schäden entstanden, welche von den SBB zu vergüten seien. Entgegen der Meinung der SBB hat sich die Genossenschaft mit ihrer Entschädigungsforderung zu Recht an den Präsidenten der Schätzungskommission gewandt.
Die sachliche Zuständigkeit der Eidgenössischen Schätzungskommission ist dann gegeben, wenn durch ein mit dem Enteignungsrecht ausgestattetes oder noch auszustattendes Unternehmen Rechte entzogen oder beschränkt werden, die nach Bundesrecht Enteignungsobjekte bilden (
BGE 106 Ib 235
E. 3). Gemäss
Art. 5 EntG
können neben anderen dinglichen Rechten auch die aus dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte Gegenstand der Enteignung sein. Darunter sind insbesondere die Ansprüche des
BGE 113 Ib 34 S. 37
Grundeigentümers auf Unterlassung übermässiger Einwirkungen zu verstehen, und zwar nicht nur der Anspruch auf Unterlassung von schädlichen Immissionen im Sinne von
Art. 684 Abs. 2 ZGB
, sondern auch jener auf Unterlassung von Grabungen und Bauten, die das nachbarliche Grundstück dadurch schädigen, dass Erdreich in Bewegung gebracht oder gefährdet oder vorhandene Vorrichtungen beeinträchtigt werden (
Art. 685 ZGB
). Werden demnach solche Abgrabungen oder Bauten für ein Werk unternommen, für das dem Werkeigentümer das Enteignungsrecht zusteht, so kann der Geschädigte nicht zivilrechtlich auf Beseitigung der Schädigung oder Schutz gegen drohenden Schaden sowie auf Schadenersatz klagen (
Art. 679 ZGB
), sondern nur gestützt auf
Art. 5 EntG
auf dem Enteignungsweg eine Entschädigung verlangen (vgl. etwa
BGE 107 Ib 388
E. 2a,
BGE 106 Ib 244
E. 3 mit zahlreichen Verweisungen). Über den Entschädigungsanspruch entscheidet ausschliesslich der Enteignungsrichter, und zwar nicht nur über die Höhe der Entschädigung, sondern auch darüber, ob überhaupt ein Nachbarrecht verletzt worden sei (
BGE 112 Ib 178
E. 3a, 106 Ib 236 E. 3a, je mit weiteren Hinweisen). Der Grundeigentümer kann den Zivilrichter nur dann anrufen, wenn er geltend macht, die Einwirkungen seien nicht notwendige oder doch leicht vermeidbare Folge des Baues oder Betriebs des Werkes und insbesondere auf unsachgemässe Erstellung zurückzuführen (
BGE 112 Ib 177
,
BGE 107 Ib 389
E. 2a,
BGE 93 I 301
/2). Dementsprechend ist bei der Revision des Eisenbahngesetzes im Jahre 1957 in Art. 20 ausdrücklich festgehalten worden, dass Bahnunternehmungen für schädigende Eingriffe in fremde Rechte nach Massgabe der Bundesgesetzgebung über die Enteignung Ersatz zu leisten haben, sofern der Eingriff nicht gemäss Nachbarrecht oder anderen gesetzlichen Vorschriften geduldet werden muss und es sich nicht um eine unvermeidliche oder nicht leicht abzuwendende Folge des Baues oder Betriebes der Bahn handelt. Es ist daher unverständlich, dass im vorliegenden Fall die - von Gesetzes wegen mit dem Enteignungsrecht ausgestatteten (
Art. 3 EBG
) - SBB die enteignungsrechtliche Natur der eingereichten Entschädigungsforderung bestreiten, obschon von niemandem behauptet wird, die umstrittenen Schäden seien durch unsachgemässe Bauausführung entstanden und vermeidbar gewesen. Die von den Enteignerinnen aufgeworfene Frage des Kausalzusammenhangs zwischen Schaden und Bauarbeiten fällt mit der Frage zusammen, ob überhaupt Nachbarrechte verletzt worden seien - eine Frage, über die, wie dargelegt, der Enteignungsrichter zu entscheiden hat.
BGE 113 Ib 34 S. 38
An der Zuständigkeit der Schätzungskommission vermag, wie in der angefochtenen Verfügung mit Recht ausgeführt wird, auch der von den Enteignerinnen abgeschlossene Versicherungsvertrag nichts zu ändern. Weder berührt dieser Vertrag das öffentlichrechtliche Verhältnis zwischen Enteigner und (möglichen) Enteigneten, noch könnte durch die aufgrund des Vertrages gegebene Zustimmung der Enteigneten zur zivilrechtlichen Behandlung der Entschädigungsansprüche die Kompetenz der ratione materiae unzuständigen Zivilgerichte begründet werden (
BGE 99 Ib 485
E. 2,
BGE 40 II 291
).
3.
Es bleibt zu prüfen, ob das von der Siedlungsgenossenschaft nachträglich eingereichte Entschädigungsbegehren als zulässig betrachtet werden durfte oder ob es, wie die Beschwerdeführerinnen geltend machen, verspätet und damit verwirkt war. Die Siedlungsgenossenschaft stellt heute nicht mehr in Abrede, dass auf dem Gebiet der Gemeinde Zürich, auf dem das umstrittene Grundstück liegt, eine öffentliche Planauflage im Sinne von
Art. 30 EntG
stattgefunden hat; ihr Entschädigungsanspruch untersteht daher nach
Art. 41 Abs. 2 EntG
der Verwirkung. Indessen wird nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Beginn der Verwirkungsfrist aufgeschoben, wenn der Enteignete durch das Verhalten des Enteigners von einer rechtzeitigen Anmeldung seiner Begehren abgehalten wird, so etwa, wenn der Enteignete aufgrund von Verhandlungen mit dem Enteigner zur Annahme berechtigt ist, dieser trete auf seine Ansprüche ein (
BGE 111 Ib 284
,
BGE 106 Ib 335
E. 2b,
BGE 88 I 199
,
BGE 83 II 98
). Der Schätzungskommissions-Präsident hat daher im vorliegenden Fall wohl mit Recht angenommen, die sechsmonatige Verwirkungsfrist gemäss
Art. 41 Abs. 1 lit. b EntG
habe erst in dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, in dem die Versicherungsgesellschaft im Namen der SBB eine Entschädigungsleistung abgelehnt hat, weil die SBB durch die Entgegennahme der Schadensmeldung die Gesuchstellerin von weiteren Schritten, insbesondere von der Anrufung des Schätzungskommissions-Präsidenten abgehalten hätten. Selbst wenn aber hier nicht von einem Aufschub des Fristbeginns ausgegangen werden könnte, wäre dennoch festzustellen, dass die Siedlungsgenossenschaft ihren Entschädigungsanspruch rechtzeitig erhoben hat. Wie die Enteignerinnen selbst erwähnen, hat die Genossenschaft erstmals mit Schreiben vom 21. November 1983, also innerhalb von sechs Monaten sogar seit Baubeginn, Schäden gemeldet und um Entschädigung ersucht. Das Gesuch ist allerdings nicht an den Präsidenten
BGE 113 Ib 34 S. 39
der Schätzungskommission, sondern an die SBB selbst gerichtet worden. Gelangt aber eine Partei rechtzeitig an eine unzuständige Behörde, so gilt die Frist nach der Bestimmung von
Art. 21 Abs. 2 VwVG
, die gemäss
Art. 2 Abs. 3 VwVG
auch für das Verfahren der Schätzungskommissionen gilt, als gewahrt. Nun sind die SBB, wie das Bundesgericht in
BGE 101 Ib 104
E. 2b dargelegt hat, nach Art. 1 des Bundesgesetzes vom 23. Juni 1944 über die Schweizerischen Bundesbahnen eine innerhalb der Schranken der Bundesgesetzgebung selbständige eidgenössische Verwaltung, das heisst ein autonomer eidgenössischer Betrieb im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. c VwVG
und gelten nach dieser Bestimmung als Behörde; sie können damit gegebenenfalls "unzuständige Behörde" im Sinne von
Art. 21 Abs. 2 VwVG
sein. Die sechsmonatige Frist ist daher schon durch das direkt an die SBB gerichtete Entschädigungsbegehren der Siedlungsgenossenschaft eingehalten worden. Diese hätten das Gesuch, zu deren Behandlung sie unzuständig waren, statt der Versicherungsgesellschaft dem Schätzungskommissions-Präsidenten übermitteln und ihn um einstweilige Sistierung des Verfahrens ersuchen müssen, wenn sie den Entschädigungsstreit auf gütlichem Wege erledigen wollten.
Die Beschwerde der Enteignerinnen erweist sich somit als vollständig unbegründet und ist im Verfahren nach
Art. 109 Abs. 1 OG
abzuweisen. | de |
3708a20b-af47-4633-a67a-3610c9965279 | Sachverhalt
ab Seite 173
BGE 101 Ia 172 S. 173
Die ersten Absätze der §§ 53 und 54 des aargauischen Schulgesetzes lauten wie folgt:
§ 53 (Disziplinarmassnahmen)
"1 Wenn ein Lehrer seine Berufspflichten in grober Weise verletzt, in der Schulführung nicht genügt, durch unsittliche Lebensführung Anstoss erregt oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, so kann der Erziehungsrat je nach den Umständen den Lehrer ins Provisorium versetzen, im Amte einstellen oder dem Regierungsrat die Entlassung des Lehrers beantragen."
§ 54 (Verlust und Wiedererlangung der Wahlfähigkeit)
"1 Mit der disziplinarischen Entlassung durch den Regierungsrat ist der Verlust des Wahlfähigkeitszeugnisses verbunden. Es kann frühestens nach drei Jahren wieder erteilt werden, wenn genügende Gewähr vorliegt, dass die Gründe, die zur Entlassung geführt haben, nicht mehr vorhanden sind."
Der nicht dienstpflichtige André Froidevaux besitzt das aargauische Primarlehrerpatent und war seit 1967 als stellvertretender Sekundarlehrer an der Sekundarschule Schafisheim/AG tätig. Er wurde am 5. Mai 1971 ein erstes Mal vom Bezirksgericht Aarau wegen fortgesetzter Aufforderung zur Verletzung militärischer Dienstpflichten (
Art. 276 StGB
) zu vier Wochen Gefängnis, bedingt mit dreijähriger Probezeit, verurteilt, weil er an einer Verteilung von Flugblättern mit der Frage: "MUSST DU NICHT WIDERSTAND LEISTEN?" vor der Kaserne Aarau an einrückende Rekruten mitbeteiligt war. Froidevaux zog das Urteil nicht weiter. Vier Tage nach Erhalt des Urteilsdispositivs, aber noch vor Zustellung der vollständigen Urteilsbegründung, verteilte er zusammen mit andern erneut derartige Flugblätter vor der Kaserne an Rekruten. Die neuen Flugblätter enthielten neben dem Text des früheren Flugblattes auch eine Kritik am Urteil des Bezirksgerichtes unter dem Titel: "IST DIESER TEXT (d.h. der Urteilsspruch) ILLEGAL ODER SIND ES DIE GESETZE?" Auf Grund dieses Vorfalles wurde Froidevaux am 9. August 1972 vom Bezirksgericht Aarau wegen desselben Deliktes erneut verurteilt, diesmal zu einer Gefängnisstrafe von 40 Tagen unbedingt, unter gleichzeitigem Widerruf des im ersten Urteil gewährten bedingten Strafvollzuges. Das zweite bezirksgerichtliche Urteil wurde auf Berufung hin vom aargauischen Obergericht bestätigt. Die dagegen eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Bundesgericht am 14. Dezember 1973 abgewiesen.
BGE 101 Ia 172 S. 174
Froidevaux war bereits am 8. Juni 1972 - also nach der ersten, aber noch vor der zweiten Verurteilung - vom Erziehungsrat mitgeteilt worden, dass er im aargauischen Schulbetrieb nicht mehr tragbar wäre, wenn er nochmals wegen desselben Deliktes verurteilt würde; doch erhielt er damals nur einen Verweis. Er hatte schon im Frühjahr 1972 seine Stelle an der Sekundarschule Schafisheim/AG aufgegeben und war dann nur noch einmal vom 23. Oktober 1972 bis Jahresende 1972 als stellvertretender Lehrer tätig. Nach Abschluss des zweiten strafrechtlichen Verfahrens, zwei Jahre nach dem erneuten Verteilen der Flugblätter, verfügte der Regierungsrat mit Entscheid vom 12. August 1974:
"Lehrer André Froidevaux wird die Wahlfähigkeit als aargauischer Primarlehrer entzogen, und es wird festgestellt, dass er nicht mehr berechtigt ist, als Lehrer im Kanton Aargau tätig zu sein."
Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau wies die hiegegen eingereichte Beschwerde ab. Mit staatsrechtlicher Beschwerde rügt Froidevaux, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei willkürlich und verletze das Recht auf freie Meinungsäusserung. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, aus folgenden Erwägungen
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer beruft sich auf das Willkürverbot und auf die verfassungsmässig geschützte Meinungsäusserungsfreiheit; diese ist vom Bundesgericht als ungeschriebenes Verfassungsrecht des Bundes anerkannt (
BGE 97 I 896
Erw. 4). Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass Art. 18 der aargauischen Kantonsverfassung die Meinungsäusserungsfreiheit umfassender schützt als das ungeschriebene Verfassungsrecht des Bundes. Zu prüfen ist deshalb ausschliesslich, ob der Entscheid des Verwaltungsgerichtes die Bundesverfassung verletzt.
2.
Wenn ein Lehrer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, kann er nach § 53 Abs. 1 des aargauischen Schulgesetzes (SchulG) "je nach den Umständen" vom Erziehungsrat ins Provisorium versetzt oder im Amte eingestellt werden oder vom Regierungsrat entlassen werden. Das Verwaltungsgericht hat mit Recht angenommen, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Entlassung eines Lehrers auch dessen Wahlfähigkeitsausweis
BGE 101 Ia 172 S. 175
entzogen werden kann. Das gilt auch, wenn - wie hier - der Lehrer seiner drohenden Entlassung mit einem Austritt zuvorkommt. Der Entzug des Ausweises ist in diesem Falle keine eigentliche Disziplinarmassnahme, sondern vielmehr der Widerruf eines Verwaltungsaktes. Dieser ist hier zulässig, da die Wahlfähigkeit unter bestimmten Bedingungen - insbesondere gesetzeskonformes Verhalten des Lehrers - zuerkannt wird; sie kann bei Wegfall einer wesentlichen Bedingung durchaus wieder aberkannt werden. Die gesetzmässige Grundlage für die angefochtene Massnahme ist in den §§ 53 und 54 SchulG jedenfalls gegeben. Der Beschwerdeführer bestreitet das auch gar nicht.
Er bezweifelt jedoch, ob in seinem Falle neben der strafrechtlichen Verurteilung noch eine besondere Verwaltungsmassnahme zulässig sei. Die Bundesverfassung schliesst nicht aus, dass eine Tat neben der Bestrafung durch die Strafgerichte auch eine administrative Sanktion nach sich zieht, sofern Straf- und Verwaltungsmassnahme verschiedene Zwecke verfolgen (GRISEL, Droit administratif suisse, S. 335). Der Umstand, dass der Strafrichter die Nebenstrafe der Amtsunfähigkeit nach
Art. 51 StGB
nicht ausgesprochen hat, hindert den Regierungsrat nicht, gestützt auf das kantonale Schulrecht das Wahlfähigkeitszeugnis zu entziehen, wenn er mit hinreichendem Grund annehmen muss, der Lehrer sei im Kanton nicht mehr tragbar. Die Bestrafung des Beschwerdeführers und der Entzug des Wahlfähigkeitszeugnisses stehen zueinander in einem ähnlichen Verhältnis wie die Bestrafung eines Motorfahrzeughalters und der Entzug des Führerausweises. Die Massnahme mag den Betroffenen schwerer treffen als die Strafe. Sie ist aber trotzdem zulässig, weil damit gerechnet werden muss, dass durch die Strafe und gegebenenfalls durch die Strafverbüssung allein der verwaltungskonforme Zustand nicht wieder hergestellt ist. Im Falle des Beschwerdeführers hatte der Strafrichter nicht zu beurteilen, ob dieser noch weiter als Lehrer tätig sein könne. Der Regierungsrat war deshalb berechtigt und verpflichtet, zu prüfen, ob der Beschwerdeführer nach seiner zweifachen Verurteilung für die öffentliche Schule untragbar geworden war. Das kann nach dem klaren Text des § 53 SchulG nicht nur der Fall sein, wenn ein Lehrer seine Berufspflichten gröblich verletzt, sondern auch, wenn er eine Freiheitsstrafe erlitten hat. Der zweite Fall steht neben
BGE 101 Ia 172 S. 176
dem ersten; das Delikt muss sich also nicht auf die Berufspflichten beziehen. § 53 Abs. 1 SchulG enthält also keine unzulässige Strafkumulierung (vgl. dazu GIACOMETTI, Allgemeine Lehren des Verwaltungsrechts, S. 559).
Freilich darf und soll die an zweiter Stelle verfügende Instanz - hier der Regierungsrat - im Rahmen ihres Ermessens die bereits vom Strafrichter ausgesprochene Strafsanktion mitberücksichtigen. Dies schliesst aber nicht aus, allenfalls im öffentlichen Interesse die schärfste vom Gesetz vorgesehene Verwaltungssanktion - hier den Entzug des Wahlfähigkeitszeugnisses - auszusprechen.
3.
Disziplinarmassnahmen und diesen gleichzustellende Verwaltungsmassnahmen müssen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen (
BGE 100 Ia 360
E. 3b). Dieser besagt allgemein, dass das gewählte Mittel durch das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel gedeckt sein muss. Kann das Ziel mit einem weniger in die Freiheit einschneidenden Mittel ebensogut erreicht werden, so hat der Bürger Anspruch auf die Wahl des milderen Mittels. Dabei muss ein angemessenes Verhältnis zwischen dem zu erstrebenden Ziel und der dafür gebotenen Freiheitsbeschränkung bestehen (
BGE 96 I 242
E. 5
BGE 97 I 508
).
Den kantonalen Behörden steht aufgrund von § 53 SchulG bei der Wahl der Massnahmen ein gewisser Spielraum des Ermessens offen, indem auf die konkreten Umstände des Falles - etwa das Verhältnis zwischen Lehrer, Schüler, Eltern und Aufsichtsbehörden - verwiesen wird. Das Bundesgericht kann also nur eingreifen, wenn die kantonalen Behörden diesen Spielraum überschritten haben. Bei Massnahmen, die gegenüber kantonalen Beamten ergriffen werden, übt das Bundesgericht diese Zurückhaltung selbst dann, wenn wie hier gleichzeitig eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit gerügt wird, denn die kantonalen Behörden tragen die Verantwortung für eine einwandfreie Arbeit des öffentlichen Dienstes, und die gute Wahl und Überwachung der ausführenden Beamten ist das beste Mittel hiezu; dies gilt grundsätzlich auch für Lehrer (nicht veröffentlichtes Urteil vom 7. März 1973 i.S. Giordano, E. 4b und c). Eine freie Prüfung der kantonalen Disziplinarentscheide fällt im vorliegenden Fall schon deswegen ausser Betracht, weil der Beamte hier keinen Anspruch darauf hat, im Staatsdienst zu bleiben. Anderseits
BGE 101 Ia 172 S. 177
darf sich im vorliegenden Fall die Kognition auch nicht auf blosse Willkür beschränken, da die angefochtene Massnahme den Beschwerdeführer in seiner Freiheit trifft, weiterhin auf seinem erlernten Beruf zu arbeiten; die vom Kanton Aargau ausgesprochene Massnahme dürfte sich ja auch auf die Anstellungsmöglichkeiten des Beschwerdeführers in anderen Kantonen auswirken, Im ähnlichen Falle
BGE 98 Ia 471
liess sich die blosse Willkürprüfung nur verantworten, weil dem entlassenen Lehrer noch die Wählbarkeit in einer anderen Gemeinde des Kantons blieb. Ob mit der angefochtenen Massnahme der Grundsatz der Verhältnismässigkeit eingehalten worden ist, prüft das Bundesgericht also lediglich mit einer gewissen Zurückhaltung.
4.
Der Beschwerdeführer unterstreicht zuvor zwei Umstände, die seines Erachtens von vornherein zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führen müssen: Einmal ist er seit der Verwarnung durch den Erziehungsrat zwar nochmals verurteilt worden, aber seine zweite Straftat lag vor dieser Verwarnung. Die erste Verurteilung hat ihm offenbar keinen Eindruck gemacht, doch rügt er, es sei nicht dargetan, dass auch die Verwarnung des Erziehungsrates ihm keinen Eindruck gemacht hätte. Zudem habe sich das Verwaltungsgericht mit den Berichten der Schulpflege von Schafisheim und des Schulinspektors sowie mit den Feststellungen der übrigen Lehrer an der gleichen Schule nicht auseinandergesetzt. Nach diesen Berichten kann dem Beschwerdeführer in der Tat nicht vorgeworfen werden, er habe in der Schule seine Schüler in einer Weise beeinflusst, die seiner persönlichen Einstellung zur Armee entspricht, die aber mit dem Schulunterricht an einer politisch neutralen Staatsschule nicht vereinbar wäre.
Das Verwaltungsgericht hat jedoch die beiden Umstände nicht übersehen, weshalb ihm keine aktenwidrige Annahme vorgeworfen werden kann: Es nahm an, nach den bei den Akten liegenden Zeugnissen habe "bis jetzt noch keine Beeinflussung der Schüler festgestellt werden können"; doch müsse aus der schriftlichen Stellungnahme des Beschwerdeführers gegenüber dem Erziehungsrat vom 14. Dezember 1971 geschlossen werden, dass er durchaus den Willen habe, seinen Schülern ein Stück seines Gesellschaftsbildes mitzugeben. Die von ihm verübten Straftaten seien geeignet, stark auf die Schüler zu wirken, "insbesondere dann, wenn sie im beliebten
BGE 101 Ia 172 S. 178
Lehrer den Märtyrer erblickten, der für seine Idee auch Gefängnisstrafe auf sich nehme". Mit der Vermutung, dass das Bekanntwerden der Verurteilung des Beschwerdeführers auf Schüler stark wirken könnte, hat das Verwaltungsgericht den ihm zustehenden Ermessensspielraum jedenfalls nicht überschritten.
Das Verwaltungsgericht nahm ferner an, die erste Verurteilung sei eine genügende Verwarnung gewesen. Dem Beschwerdeführer habe deshalb die Wahlfähigkeitsberechtigung entzogen werden können, auch wenn die erste Verwarnung durch die Erziehungsdirektion erst der zweiten Straftat folgte. Die erste Verurteilung durch das Strafgericht konnte durchaus die Funktion erfüllen, die in andern Fällen der verwaltungsinternen Verwarnung zukommt. Ob im Antrag des Erziehungsrates an den Regierungsrat diesbezüglich ein Fehler unterlaufen ist, ist unerheblich. Das Verwaltungsgericht hat diesen Punkt auf S. 19 seines Entscheides richtiggestellt. Es hat keine rechtlich erheblichen Tatsachen übersehen, sondern sie lediglich anders gewürdigt als der Beschwerdeführer. Dieser hält es für "völlig wirklichkeitsfremd", einer gerichtlichen Verurteilung eine ähnliche Warnwirkung zuzuschreiben wie einer Verwarnung durch die Erziehungsdirektion, da er das Urteil des Bezirksgerichtes eben als Fehlurteil betrachtet habe, Der Beschwerdeführer musste sich aber bei seiner zweiten Straftat doch bereits Rechenschaft geben, dass seine erneute vorsätzliche Verletzung des Strafgesetzbuches Rückwirkungen auf seine Stellung als Lehrer haben könnte, auch wenn die Schulbehörden das erste Disziplinarverfahren noch nicht abgeschlossen hatten. Wenn der Beschwerdeführer im Sinne eines "kalkulierten Risikos" glaubte, er habe höchstens mit einer Gefängnisstrafe und nicht mit zusätzlichen Verwaltungsmassnahmen zu rechnen, muss er die Folgen seiner "Fehlkalkulation" tragen. Die diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichtes über den Sachverhalt sind unter dem beschränkten Blickwinkel, der dem Bundesgericht hier zusteht, nicht zu beanstanden; für die Würdigung der Verhältnismässigkeit ist also vom Tatbestand auszugehen, den das Verwaltungsgericht seinem Urteil zugrunde gelegt hat.
5.
Die Verhältnismässigkeit der vom Regierungsrat getroffenen Massnahme kann vom Bundesgericht auch dann bejaht werden, wenn es nicht alle Erwägungen des kantonalen
BGE 101 Ia 172 S. 179
Verwaltungsgerichtes gleich gewichtet wie dieses. Massgebend ist nur, ob Regierungsrat und Verwaltungsgericht ohne Verfassungsverletzung dem Beschwerdeführer das Wahlfähigkeitszeugnis auch dann entziehen konnten, wenn man annimmt, es sei bis zum Sommer 1971 - als die vom Beschwerdeführer angeführten positiven Meinungsäusserungen abgegeben wurden - kein nachteiliger Einfluss seines Verhaltens auf sein Wirken in der Schule zu verspüren gewesen. Trotz dieser Zeugnisse aus dem Jahre 1971 bleibt die Frage offen, wie sich die Spätere Verurteilung zu einer unbedingten Gefängnisstrafe (letztinstanzlich am 14. Dezember 1973) auf den Schulbetrieb ausgewirkt hätte, wenn der Beschwerdeführer im Schuldienst geblieben wäre oder wenn er wieder in den Schulbetrieb eintreten könnte. Dabei zeigen auf jeden Fall die Petitionen der Lehrer für und gegen den Entzug des Wahlfähigkeitszeugnisses, dass sein Fall im ganzen Kanton bekannt geworden ist. Die entscheidende Frage für den Regierungsrat musste sein, ob den Eltern zugemutet werden kann, ihre Kinder zu einem Lehrer in die Schule zu schicken, der bewusst unmittelbar nach der Verurteilung zu einer bedingten Gefängnisstrafe das gleiche, gegen den Staat gerichtete Delikt erneut begeht und sich so eine unbedingte Gefängnisstrafe zuzieht. Ein solcher Lehrer hat nicht bloss eine von der Mehrheit abweichende politische Auffassung vertreten, sondern er hat ein Strafurteil derart missachtet, dass er kaum tauglich scheint, den Schülern die Achtung vor der geltenden Rechtsordnung - inbegriffen deren anfechtbare Teile - zu vermitteln. Das gehört jedoch zu den unabdingbaren erzieherischen Aufgaben eines jeden Lehrers (vorgenanntes Urteil i.S. Giordano, E. 5c). Auch hohe pädagogische Fähigkeiten können diesen schweren Charaktermangel nicht aufwiegen. Ein solcher Lehrer kann bei Disziplinwidrigkeiten der Schüler seine Aufgabe kaum erfüllen, wenn die Schüler wissen, dass ihr Lehrer sich selbst durch eine strafgerichtliche Verurteilung in keiner Weise von der weiteren Begehung des gleichen vorsätzlichen Deliktes abhalten liess. Wer sich so verhält, verliert das Vertrauen der Eltern und die Autorität gegenüber den Schülern.
Der Beschwerdeführer wusste bei seiner zweiten Straftat, wie sein Flugblatt vom zuständigen zivilen Strafgericht beurteilt worden war. Er, der selbst nicht dienstpflichtige Lehrer, forderte mit andern zusammen die Rekruten mit rhetorischer
BGE 101 Ia 172 S. 180
Frage auf, gegenüber ihren militärischen Lehrern Widerstand zu leisten, weil sie in eine Schule einträten, die "eine totale Gleichmacherei, die Gleichschaltung anstrebe" und die "den Rekruten zum Herdentier macht". Man kann Vätern, die als Wehrmänner zur Landesverteidigung stehen, nicht zumuten, ihre Kinder zu einem Lehrer zu schicken, der unmittelbar nach der strafrechtlichen Verurteilung wegen dieser Äusserungen die ihm gewährte bedingte Verurteilung ausser Acht lässt und seine Anwürfe durch die erneute Verteilung von Flugblättern mit gleichem Inhalt bestätigt. Dies wäre eine Zumutung gegenüber den Eltern, auch wenn der Lehrer bisher keine entsprechende Aufforderung an seine eigenen Schüler in der Schule herangetragen hat. Die Verfassung schützt nicht nur die Freiheit der Bürger einschliesslich der Beamten und Lehrer, sie anerkennt auch die Freiheit der Regierungsorgane, jene Massnahmen durchzusetzen, die unerlässlich sind, um das Vertrauen in die Staatsschule aufrecht zu erhalten. Auch wenn man anerkennt, dass der Beschwerdeführer ein tüchtiger Lehrer war und ihn der Entzug des Wahlfähigkeitszeugnisses schwer trifft, kann deshalb die Verhältnismässigkeit der getroffenen Massnahme bejaht werden. Zumindest haben die kantonalen Behörden den ihnen zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten. Der Entzug ist im übrigen keineswegs endgültig, denn der Beschwerdeführer kann nach drei Jahren um eine Wiedererteilung des Wahlfähigkeitszeugnisses ersuchen, "wenn genügende Gewähr vorliegt, dass die Gründe, die zur Entlassung geführt haben, nicht mehr vorhanden sind" (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SchulG).
6.
Zu Unrecht beruft sich der Beschwerdeführer auch auf eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit. Er bestreitet von vornherein, dass für die Lehrer irgendeine Treuepflicht gegenüber dem Staate bestehe. Der Lehrer ist jedoch Beamter. Das Wort "Treuepflicht" umfasst gerade die Gesamtheit der Pflichten, die dem Beamten innerhalb und ausserhalb seiner amtlichen Tätigkeit obliegen. § 9 des geltenden aargauischen Besoldungsdekretes vom 24. November 1971, das die Rechtsstellung der aargauischen Beamten im allgemeinen umschreibt, übernimmt dabei den Satz von Art. 22 des Beamtengesetzes des Bundes: "Die Beamten haben alles zu tun, was die Interessen des Staates fordern und alles zu unterlassen, was sie beeinträchtigt".
BGE 101 Ia 172 S. 181
Dieser sehr allgemein gefasste Satz bedarf freilich der verfassungskonformen Auslegung. Grundsätzlich verfügt auch der Beamte über die verfassungsmässigen Rechte. Er darf Sich politisch betätigen und sich öffentlich und privat an der politischen Kritik beteiligen (A. GRISEL, Droit administratif suisse, 249; O. K. KAUFMANN, Grundzüge des schweizerischen Beamtenrechts, ZBl 73/1972, 386). Der Beamte hat sich jedoch an die Beschränkungen zu halten, die seine besondere Stellung mit sich bringt.
In jedem Falle hat er sich zumindest aller ungesetzlichen Mittel zu enthalten und darf auch nicht zu deren Gebrauch ermuntern (GRISEL, a.a.O., S. 250). Daran hat sich der Beschwerdeführer nicht gehalten. Anlass zum Entzug seines Wahlfähigkeitszeugnisses waren nicht seine persönlichen Meinungsäusserungen oder sein öffentliches Bekenntnis als Kriegsdienstgegner, sondern die beiden strafrechtlichen Verurteilungen. Dass diese Ausfluss seiner politischen Überzeugung waren, ändert nichts, da politische und Glaubensansichten nicht von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten entbinden (vgl.
Art. 49 Abs. 5 BV
); hiezu gehört auch die Einhaltung der vom Strafrecht gesetzten Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit.
Deshalb steht vorliegend keinesfalls "das Recht auf freie Meinungsäusserung der gesamten Lehrerschaft auf dem Spiel", wie der Beschwerdeführer etwas grosstuerisch behauptet. Zu Unrecht glauben auch die Unterzeichner der Petition an den Erziehungs- und Regierungsrat, der Entscheid des letzteren "käme einem Angriff auf die demokratischen Rechte der Lehrer gleich". Dies trifft nicht zu. Die demokratischen Rechte der Lehrer verdienen vollen Schutz, aber es gibt kein "demokratisches Recht", Seiner politischen Überzeugung durch wiederholte strafbare Handlung Ausdruck zu geben. Wer glaubt, durch wiederholte schwere Verletzung der Rechtsordnung für seine Überzeugung kämpfen zu müssen, ist vielmehr, wie Regierungsrat und Verwaltungsgericht ohne Überschreitung ihres Ermessensspielraumes festgestellt haben, als Lehrer nicht mehr tragbar und kann sich nicht auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen. | de |
720c7855-0a63-494a-baaa-bd5bc8b15e87 | Sachverhalt
ab Seite 358
BGE 100 Ia 357 S. 358
A.-
Frau C. beschwerte sich bei der Anwaltskammer des Kantons Luzern, dass Dr. X., ihr Anwalt, den Empfang eines von ihr anfangs April 1970 ohne Quittung geleisteten Vorschusses von Fr. 500.-- bestreite. Dr. X. machte geltend, bei den Fr. 500.-- habe es sich um die Rückerstattung eines Darlehens gehandelt, das Frau A., seine Sekretärin, ihrer Freundin, Frau C., gewährt habe. Wegen Abwesenheit der Sekretärin habe Frau C. den Betrag ihm zur Weiterleitung an Frau A. übergeben, welchen Auftrag er ausgeführt habe. Er legte ein von Frau A. unterschriebenes, vom 15. April 1970 datiertes Schriftstück ein, das seine Darstellung bestätigte. Frau A. widerrief aber diese Bestätigung und erklärte, die von Dr. X. entworfene Quittung habe sie erst nach dem 15. September 1970 unterschrieben. Von Frau C. habe sie nie Geld bekommen, auch nicht über Dr. X.
Auf Grund dieses Sachverhalts wurde Dr. X. am 30. November 1973 vom Obergericht des Kantons Luzern wegen Urkundenfälschung und Anstiftung dazu zu sechs Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren, verurteilt. Nachdem der Kassationshof des Bundesgerichts eine hiergegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Dr. X. teilweise gutgeheissen hatte, erklärte das Obergericht mit Urteil vom 1. April 1974 Dr. X. schuldig der Urkundenfälschung nach
Art. 251 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB
(Falschbeurkundung) und bestrafte ihn mit vier Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren. Auf eine erneute Nichtigkeitsbeschwerde des Dr. X. trat der Kassationshof des Bundesgerichts am 30. April 1974 nicht ein.
B.-
Nachdem das Urteil des Obergerichts vom 1. April 1974 rechtskräftig geworden war, nahm die Anwaltskammer das von Frau C. gegen Dr. X. angestrengte Beschwerdeverfahren und das auf Grund desselben von Amtes wegen angehobene Disziplinarverfahren gegen Dr. X. wieder auf. Während der Beschwerde der Frau C. keine Folge gegeben wurde, stellte die Anwaltskammer mit Disziplinarentscheid vom 9. Juli 1974 Dr. X. in seiner Berufsausübung als Rechtsanwalt im Kanton Luzern dauernd ein.
C.-
Gegen diesen Entscheid führt Dr. X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 und 31 BV . Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
BGE 100 Ia 357 S. 359
Die Anwaltskammer des Kantons Luzern beantragt Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer beanstandet, dass entgegen der Vorschrift des § 22 lit. e der Luzerner Zivilprozessordnung (ZPO) Oberrichter Dr. Hübscher sowohl bei der Beurteilung der Straffälle als auch beim Disziplinarentscheid mitgewirkt habe.
Nach
§ 22 lit. e ZPO
darf ein Richter an der Verhandlung und Beurteilung eines Rechtsfalles nicht teilnehmen "in Sachen, in welchen er in einer untern Instanz bereits geurteilt hat oder in der er als Sachverständiger tätig war". Dass Oberrichter Dr. Hübscher sowohl die II. Strafkammer, die den Beschwerdeführer strafrechtlich verurteilte, wie auch die Anwaltskammer, welche den Beschwerdeführer disziplinarisch bestrafte, präsidiert hat, verstiess jedoch nicht gegen diese Gesetzesbestimmung, denn die darin genannten Voraussetzungen für das Vorliegen eines Ausstandsgrundes waren hier nicht gegeben. Obergericht und Anwaltskammer stehen nämlich zueinander nicht in dem für einen Ausstandsgrund gemäss
§ 22 lit. e ZPO
erforderlichen Verhältnis der Über- und Unterordnung; das Obergericht ist Rechtsmittelinstanz in Strafsachen, die Anwaltskammer dagegen selbständige staatliche Aufsichtsbehörde über die im Kanton Luzern praktizierenden Rechtsanwälte. Einer Mitwirkung Oberrichter Dr. Hübschers in beiden Verfahren stand demnach keine gesetzliche Vorschrift entgegen.
2.
Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. Durch die gesetzliche Einführung der Bewilligungspflicht und die Schaffung eines Aufsichts- und Disziplinarrechts hat der Kanton Luzern zum Ausdruck gebracht, dass die Handels- und Gewerbefreiheit im Bereich des Anwaltsberufs aus polizeilichen Gründen den auch in andern Kantonen üblichen Beschränkungen unterworfen sein soll (
BGE 98 Ia 598
). Ist es unter dem Gesichtspunkt des Disziplinarrechts gerechtfertigt, dass dem Beschwerdeführer die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs dauernd entzogen wurde, so verstösst der angefochtene Entscheid auch nicht gegen
Art. 31 BV
.
BGE 100 Ia 357 S. 360
3.
a) Die entscheidende Frage ist demnach die, ob die ausgesprochene Disziplinarmassnahme als solche zulässig war. Der Anwaltskammer steht bei der Wahl der Massnahme ein gewisser Spielraum des Ermessens offen, und das Bundesgericht kann nur eingreifen, wenn ihn die kantonale Behörde überschritten hat.
Der Beschwerdeführer rügt, dass sich die Anwaltskammer im Disziplinarverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf das Strafurteil des Obergerichts des Kantons Luzern stützte. mit welchem er wegen Urkundenfälschung nach
Art. 251 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB
zu einer Gefängnisstrafe von vier Monaten unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges mit einer Probezeit von zwei Jahren verurteilt wurde. Dieses Vorgehen ist indessen nicht zu beanstanden. Die Strafgerichte haben das Verhalten des Dr. X. in jeder Hinsicht gründlich abgeklärt. Das Strafurteil ist rechtskräftig, und wenn es die Anwaltskammer ihrem Entscheid zugrundelegte, hat sie damit nicht gegen
Art. 4 BV
verstossen (vgl. DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe, ZSR 1951 S. 114 a; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 268). Der Beschwerdeführer tut nicht dar, inwiefern es geradezu unhaltbar wäre, dass die Anwaltskammer die vom Strafrichter beurteilten Tat- und Rechtsfragen gleich wie dieser würdigte (vgl.
BGE 71 I 469
).
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die dauernde Einstellung in der Berufsausübung als Rechtsanwalt stehe in keinem vernünftigen Verhältnis zu der ihm zur Last gelegten Tat. Disziplinarmassnahmen müssen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen (IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl. Bd. 1 S. 221). Das Luzerner Anwaltsgesetz vom 1. Dezember 1931 (AG) sieht folgende Disziplinarmassnahmen vor: Verweis, Ordnungsbusse bis Fr. 500.-- (§ 13 Abs. 2 AG), zeitlich begrenzte oder dauernde Einstellung in der Berufsausübung (§ 15 Abs. 1 AG). Die Anwaltskammer hat die schwerste Disziplinarmassnahme ausgefällt. Wie im Disziplinarrecht der Beamten soll auch in jenem der Anwälte die strengste Massnahme, d.h. die dauernde Einstellung in der Berufsausübung, ohne vorangehende Warnung nur ausnahmsweise angeordnet werden, nämlich dann, wenn die Verfehlung so schwerwiegend ist, dass sie eine Mentalität aufzeigt. die mit der Eigenschaft eines Anwalts schlechthin unvereinbar ist (vgl.
BGE 81 I 249
).
BGE 100 Ia 357 S. 361
Dr. X. wurde wegen Urkundenfälschung zu einer bedingten Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt. Ob die "Quittung", welche Dr. X. mit seiner Sekretärin zusammen erstellte, inhaltlich unwahr ist, konnte im Strafverfahren nicht eindeutig abgeklärt werden. Im Zweifel nahm der Strafrichter an, es sei bloss das Datum der Quittung gefälscht, und Dr. X. habe diese Tat nur begangen, um sich im Disziplinarverfahren eine bessere Stellung zu verschaffen. Die Verfehlung des Beschwerdeführers, der eine besondere Vertrauensstellung hat und um die Strafbarkeit solcher Handlungen bestens Bescheid weiss, kann nicht als Bagatelldelikt gelten, und der Kassationshof des Bundesgerichts hat es denn auch abgelehnt, die Tat als besonders leichten Fall gemäss
Art. 251 Ziff. 3 StGB
zu qualifizieren. Trotzdem lässt sich nicht sagen, die Straftat weise für sich allein auf derartige Charaktermängel hin, dass der Beschwerdeführer das Vertrauen, das ein Anwalt haben muss, schlechthin nicht mehr verdiene. Es darf denn auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Strafgericht dem Beschwerdeführer den bedingten Strafvollzug mit der minimalen Probezeit von zwei Jahren gewährte. Damit brachte es dem Beschwerdeführer das Vertrauen entgegen, dass er sich durch eine blosse Warnungsstrafe von weiteren Verbrechen und Vergehen abhalten lasse. Die Anwaltskammer hat das ihr zustehende Ermessen klarerweise überschritten und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit missachtet, indem sie allein aus dem Strafurteil den Schluss zog, der Beschwerdeführer sei als Anwalt nicht mehr vertrauenswürdig, und - ohne dass Dr. X. vorher je disziplinarisch bestraft worden wäre - die schwerste, für die berufliche Existenz ausserordentlich einschneidende Massnahme des dauernden Entzugs der Bewilligung zur Berufsausübung anordnete.
4.
Das dauernde Verbot der Berufsausübung wäre vor der Verfassung nur haltbar, wenn zu dem Strafurteil hinzu dem Beschwerdeführer weitere Vorwürfe gemacht werden könnten. Darüber finden sich aber in den Erwägungen des angefochtenen Entscheides keine Angaben. Es steht offen, wie lange Dr. X. bereits als Anwalt praktiziert, ob er sich in dieser Eigenschaft gewisse Verfehlungen zuschulden kommen liess, auch wenn sie nicht zu disziplinarischer Ahndung Anlass gaben, ob er sich allenfalls im Privatleben so aufgeführt hat, dass sein berufliches Ansehen darunter erheblich litt.
BGE 100 Ia 357 S. 362
Da der angefochtene Entscheid dem Proportionalitätsprinzip zuwiderläuft, ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen. Die Anwaltskammer hat im Lichte der vorangehenden Erwägungen neu zu entscheiden.
5.
Wird die Beschwerde schon aus dem genannten Grunde gutgeheissen, so braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob der angefochtene Entscheid entsprechend der Behauptung des Beschwerdeführers auch gegen die Rechtsgleichheit verstösst. | de |
1a98e691-6a78-4257-89ac-72dbedf0fe8a | Sachverhalt
ab Seite 640
BGE 131 II 639 S. 640
Rechtsanwalt X. ist im Anwaltsregister des Kantons Zürich eingetragen. Weil die Zürcher Anwaltskanzlei, für welche er tätig ist, die Eröffnung eines Zweigbüros in Zug plant und er offenbar dessen Leitung übernehmen soll, ersuchte er am 22. Juni 2004 zusätzlich um Eintragung in das Anwaltsregister des Kantons Zug; gleichzeitig verlangte er eine Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung. Der Präsident der Zuger Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte lehnte das Begehren am 12. Juli 2004 ab: Die öffentliche Beurkundung sei den im kantonalen Anwaltsregister eingetragenen Rechtsanwälten vorbehalten. In dieses könne nur eingetragen werden, wer nicht bereits in einem anderen kantonalen Anwaltsregister eingetragen sei und seine "Hauptgeschäftsadresse" im Kanton Zug habe (§ 29 Abs. 1 des Zuger Einführungsgesetzes zum Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte). X. erfülle diese Voraussetzungen nicht, da er in Zürich eingetragen sei und weiterhin überwiegend dort tätig sein werde. Der abschlägige Entscheid der Aufsichtskommission wurde vom Obergericht des Kantons Zug auf Beschwerde hin geschützt (Urteil vom 8. Februar 2005).
Hiergegen ist X. am 14. März 2005 an das Bundesgericht gelangt, bei welchem er (in einer einzigen Eingabe) gleichzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde eingereicht hat. Das Bundesgericht weist beide Rechtsmittel ab, soweit auf sie einzutreten ist. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
I. Verwaltungsgerichtsbeschwerde
2.
2.1
Der Eintrag ins kantonale Anwaltsregister wird durch Art. 4 ff. des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, BGFA; SR 935.61) geregelt. Es handelt sich dabei um Bundesverwaltungsrecht, weshalb
BGE 131 II 639 S. 641
gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über den Registereintrag - gestützt auf
Art. 97 ff. OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
- die eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen steht (
BGE 130 II 87
E. 1 S. 90). Der Beschwerdeführer ist zu diesem Rechtsmittel legitimiert, zumal ihm der Eintrag im Anwaltsregister des Kantons Zug verweigert worden ist (
Art. 103 lit. a OG
).
2.2
Auf die form- und fristgerecht eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb grundsätzlich einzutreten. Unzulässig ist diese aber, soweit nebst dem Registereintrag zugleich die Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung beantragt wird. Dieses letztere Begehren sprengt den Rahmen des anzuwendenden Bundesverwaltungsrechts, ist es doch Sache der Kantone, zu entscheiden, von wem und in welcher Weise auf ihrem Gebiet öffentliche Urkunden hergestellt werden (vgl. E. 6.1).
3.
3.1
Das eidgenössische Anwaltsgesetz verpflichtet die Kantone in Art. 5 Abs. 1 zum Führen eines Registers jener Anwälte, die über eine Geschäftsadresse auf dem Kantonsgebiet verfügen und die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen nach Art. 7 f. BGFA erfüllen. Gemäss
Art. 4 BGFA
können Anwälte, die in einem solchen kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind, in der ganzen Schweiz Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten, ohne dass sie einer weiteren Bewilligung bedürften. Das Register wird von der kantonalen Aufsichtsbehörde geführt, welche zu prüfen hat, ob der Bewerber die Voraussetzungen für den Eintrag erfüllt (
Art. 6 Abs. 2 BGFA
). Die patentierten Rechtsanwälte, welche Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten wollen, "lassen sich ins Register des Kantons eintragen, in dem sie ihre Geschäftsadresse haben" (
Art. 6 Abs. 1 BGFA
). Streitig ist vorliegend, ob diese (abschliessende) bundesrechtliche Regelung des Registereintrags zwingend von einem Eintrag in einem einzigen kantonalen Anwaltsregister ausgeht oder auch den gleichzeitigen Eintrag in zwei oder mehreren Kantonen zulässt.
3.2
Gestützt auf den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen lässt sich die Streitfrage nicht eindeutig beantworten: Die Formulierung von
Art. 5 Abs. 1 und
Art. 4 BGFA
(vgl. oben) schliesst einen gleichzeitigen Eintrag in mehreren kantonalen Registern nicht zum Vornherein aus. Demgegenüber spricht die Verwendung von bestimmten Artikeln in der Einzahl im Text von Art. 6 Abs. 1 eher
BGE 131 II 639 S. 642
für einen einzigen Eintrag ("...in
das
Register
des
Kantons, in
dem
sie
ihre
Geschäftsadresse haben...").
3.3
Zu einem klaren Ergebnis führt jedoch die Auslegung der gesetzlichen Regelung nach historischen und teleologischen Gesichtspunkten: Der Bundesrat hatte in seinem Vernehmlassungsentwurf zunächst noch vorgesehen, dass sich die Rechtsanwälte im Register all jener Kantone einzutragen haben, in denen sie über eine Geschäftsadresse verfügen. Von dieser Vorstellung rückte er dann in seiner Botschaft zum eidgenössischen Anwaltsgesetz ab. Der Bundesrat ging darin klar von einem einzigen Eintrag aus und betonte weiter, dass auch ein Rechtsanwalt, der über mehrere Kanzleien verfügt, sich nur in jenem Kanton eintragen zu lassen habe, in dem er sein Hauptbüro betreibt (BBl 1999 S. 6046). Aus dem Zusammenhang, in welchem diese Ausführungen stehen, ergibt sich - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - zweifelsfrei, dass der Bundesrat nicht nur die Pflicht der Anwälte, sich eintragen zu lassen, auf ein einziges Register beschränken wollte, sondern die Möglichkeit eines mehrfachen Eintrags überhaupt ausschloss. Die eidgenössischen Räte haben diese Sichtweise geteilt und dem bundesrätlichen Entwurf insoweit vorbehaltlos zugestimmt (AB 1999 N 1553; S 1164). Es kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber den Eintrag im Anwaltsregister auch bei Bestehen von mehreren Geschäftsadressen auf einen einzigen Kanton beschränken wollte.
3.4
3.4.1
Dies entspricht zudem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung: Ziel des eidgenössischen Anwaltsgesetzes ist, wie schon dessen Titel zeigt, die Erleichterung der interkantonalen Mobilität der Rechtsanwälte; es handelt sich primär um ein Freizügigkeitsgesetz, welches insoweit das Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über den Binnenmarkt (BGBM; SR 943.02) ergänzt (vgl. BBl 1999 S. 6020). Zu diesem Zweck nimmt es in wesentlichen Bereichen eine Harmonisierung des materiellen Anwaltsrechts vor. Neben dem hier streitigen Registereintrag, welcher die Berufstätigkeit auf dem Gebiet der ganzen Schweiz ermöglicht, ist insbesondere die Vereinheitlichung der Berufsregeln sowie der Aufsicht über die Rechtsanwälte (vgl.
Art. 12 ff. BGFA
) von Bedeutung (vgl. BBl 1999 S. 6039). Diese vom Gesetzgeber mit Blick auf die Freizügigkeit gewollten Vereinfachungen wären durch einen mehrfachen Eintrag in verschiedenen Kantonen in Frage gestellt. Bestünden
BGE 131 II 639 S. 643
Anknüpfungspunkte zu mehreren Aufsichtsbehörden gleichzeitig, so wären Kompetenzkonflikte in Disziplinarsachen - und mittelbar eine Behinderung der Freizügigkeit - vorprogrammiert.
3.4.2
Dabei geht es nicht nur um die Zuständigkeit zur Verfahrensführung als solcher, sondern es käme überhaupt zu einer unerwünschten Komplizierung der Disziplinaraufsicht, wie sich dies etwa am Beispiel von
Art. 16 BGFA
zeigen lässt. Gemäss dieser Bestimmung hat eine Aufsichtsbehörde, welche ein Disziplinarverfahren gegen einen Rechtsanwalt eröffnet, der nicht im Register ihres Kantons eingetragen ist, die Aufsichtsbehörde jenes Kantons zu informieren, in dessen Register der betroffene Anwalt eingetragen ist (Abs. 1). Beabsichtigt sie in der Folge, eine Disziplinarmassnahme anzuordnen, so räumt sie der Aufsichtsbehörde des "Register-Kantons" die Möglichkeit ein, zum Ergebnis der Untersuchung Stellung zu nehmen (Abs. 2). Dadurch soll einerseits die Aufsichtsbehörde des "Register-Kantons", welcher die Hauptverantwortung für die Beaufsichtigung der bei ihr eingetragenen Anwälte zukommt, über den Verlauf des in einem anderen Kanton geführten Verfahrens ins Bild gesetzt werden. Andererseits wird bezweckt, die Zusammenarbeit unter den Aufsichtsbehörden zu fördern und die Ausbildung einer (möglichst) einheitlichen Praxis zu beschleunigen (vgl. BBl 1999 S. 6059). Die Regelung von
Art. 16 BGFA
ist darauf ausgerichtet, Disziplinarverfahren interkantonal zwischen zwei Aufsichtsbehörden zu koordinieren, nicht aber eine Mehr- oder gar Vielzahl von Behörden zu involvieren. Müssen in einem Verfahren mehrere ausserkantonale Stellungnahmen eingeholt und berücksichtigt werden, so verlängert und erschwert dies die Entscheidfindung ungebührlich, was offensichtlich nicht im Sinne des eidgenössischen Anwaltsgesetzes ist. So ging der Bundesrat in seiner Botschaft denn auch ausdrücklich von einer einzigen "zur Hauptsache zuständigen" Aufsichtsbehörde aus, die anzuhören sei (BBl 1999 S. 6059). Die dargestellte Problematik erkennt auch der Beschwerdeführer und schlägt deshalb als zusätzliche Eintragungsmerkmale im Register Zusätze wie etwa "Hauptadresse" und "Zweitadresse" vor. Eine derartige Schaffung von Registereinträgen erster und zweiter Ordnung mit unterschiedlichem Gewicht ist jedoch gesetzlich nicht vorgesehen. Sie würde im Übrigen die geschilderten Komplikationen im Rahmen der Disziplinaraufsicht nicht lösen, sondern vielmehr andere schaffen.
BGE 131 II 639 S. 644
3.4.3
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers sind denn auch keine sachlichen Gründe ersichtlich, wieso ein Mehrfacheintrag gestattet sein müsste. Die Werbewirkung des kantonalen Anwaltsregisters, welche der Beschwerdeführer diesbezüglich anspricht, wird von ihm selbst an anderer Stelle stark relativiert und der Nutzen eines Mehrfacheintrags als für den betroffenen Rechtsanwalt "oft bedeutungslos" bezeichnet. Sollten aber die Grosskanzleien, welche in mehreren Kantonen gleichzeitig Büros unterhalten, insoweit tatsächlich im Vergleich zur einheimischen Anwaltschaft einen Wettbewerbsnachteil erfahren, so würde dieser Umstand allein die Zulassung eines Mehrfacheintrags nicht als geboten erscheinen lassen. Die Grosskanzleien verfügen nämlich über mannigfaltige andere Vorteile, die es ihnen ohne weiteres ermöglichen, im Wettbewerb mit lokalen Anwaltsbüros zu bestehen. Schliesslich kann es im vorliegenden Zusammenhang nicht darauf ankommen, dass die Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung im Kanton Zug vom Eintrag im Zuger Anwaltsregister abhängt. Hierbei handelt es sich um ein sachfremdes Argument, das bei der Auslegung der einschlägigen bundesrechtlichen Bestimmungen zum Anwaltsregister keine Berücksichtigung finden kann.
3.5
Nach dem Gesagten sieht das eidgenössische Anwaltsgesetz einen einzigen Eintrag in einem kantonalen Anwaltsregister vor, der beim Vorhandensein von mehreren Kanzleien zwingend in jenem Kanton vorzunehmen ist, in welchem der betroffene Rechtsanwalt hauptsächlich tätig ist (so auch ERNST STAEHELIN/CHRISTIAN OETIKER, in: Fellmann/Zindel [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, N. 12 zu
Art. 6 BGFA
). Mithin hat es die Vorinstanz zu Recht abgelehnt, den Beschwerdeführer in das Anwaltsregister des Kantons Zug einzutragen, ist dieser doch bereits im Kanton Zürich eingetragen. Auch die Abweisung des - vor Bundesgericht wiederholten - Eventualantrags ist nicht zu beanstanden: Der Beschwerdeführer erklärt selbst, er werde auch nach Eröffnung des Zweigbüros in Zug zunächst noch überwiegend in Zürich tätig sein. Er erfüllt demnach die Voraussetzungen für einen Eintrag im Register des Kantons Zug selbst dann nicht, wenn er sich aus dem Anwaltsregister des Kantons Zürich streichen lässt. Anders verhält es sich diesbezüglich erst dann, wenn der Beschwerdeführer einmal mehrheitlich im Kanton Zug tätig sein sollte. Falls sich die Dinge nach Eröffnung der Zweigstelle in Zug entsprechend entwickeln, ist er aufgrund des Dargelegten gar gehalten, sich im Register des Kantons
BGE 131 II 639 S. 645
Zürich streichen und in jenes des Kantons Zug eintragen zu lassen.
(...)
II. Staatsrechtliche Beschwerde
5.
5.1
Soweit der Beschwerdeführer verlangt, unabhängig vom Registereintrag im Kanton Zug zur öffentlichen Beurkundung zugelassen zu werden, steht selbständiges kantonales Recht in Frage. Als Rechtsmittel auf Bundesebene ist mithin einzig die staatsrechtliche Beschwerde zulässig (Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 in Verbindung mit
Art. 84 Abs. 2 OG
). Als unterlegener Gesuchsteller ist der Beschwerdeführer zu deren Ergreifung legitimiert (vgl.
Art. 88 OG
), zumal die einschlägigen kantonalen Bestimmungen bei Erfüllen der gesetzlichen Voraussetzungen offenbar einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung gewähren (vgl. E. 6.2).
(...)
6.
6.1
Während der materielle Begriff der öffentlichen Beurkundung dem Bundesrecht angehört, liegt die Kompetenz zu deren gesetzlichen Regelung grundsätzlich bei den Kantonen.
Art. 55 SchlT ZGB
überträgt diesen die Aufgabe, zu bestimmen, in welcher Weise auf ihrem Gebiet öffentliche Urkunden hergestellt werden. Mithin hat das kantonale Recht festzulegen, wer auf dem Kantonsgebiet zur Errichtung einer öffentlichen Urkunde sachlich zuständig und wie dabei zu verfahren ist. Neben Zuständigkeit und Form des Verfahrens sind insbesondere die Voraussetzungen für die Tätigkeit als Urkundsperson, die Aufgaben und Berufspflichten der Urkundsperson sowie das Gebühren- und Aufsichtswesen zu regeln (Urteil 2P.433/1997 vom 30. Juni 1998, publ in: ZBGR 81/2000 S. 72, E. 4). Die einem Notar dergestalt durch den Kanton verliehene Beurkundungsbefugnis hat den Charakter einer übertragenen hoheitlichen Funktion und kann als solche nicht unter dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit (
Art. 27 BV
) stehen (so zuletzt
BGE 128 I 280
E. 3 S. 281 f.). Aus diesem Grund findet auch das Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über den Binnenmarkt (BGBM; SR 943.02) keine Anwendung (vgl.
Art. 1 Abs. 3 BGBM
).
6.2
Der Kanton Zug kennt drei Arten von Urkundspersonen mit unterschiedlichen Kompetenzen: die Gemeindeschreiber und
BGE 131 II 639 S. 646
deren Stellvertreter, den Grundbuchverwalter und dessen Stellvertreter sowie die zur öffentlichen Beurkundung ermächtigten Rechtsanwälte (§ 1 und §§ 4-7 des Zuger Gesetzes über die öffentliche Beurkundung und die Beglaubigung in Zivilsachen; BeurkG). Auf Gesuch hin werden die im kantonalen Anwaltsregister eingetragenen Anwälte von der kantonalen Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte zur Beurkundung ermächtigt, wenn sie das Zuger Anwaltspatent besitzen und im Kanton Zug Wohnsitz haben (§ 2 Abs. 1 BeurkG in der Fassung vom 25. April 2002).
7.
7.1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen § 2 Abs. 1 BeurkG und macht geltend, es verstosse sowohl gegen das Rechtsgleichheitsgebot (
Art. 8 BV
; vgl.
BGE 123 I 1
E. 6a S. 7) als auch gegen das Willkürverbot (
Art. 9 BV
; vgl.
BGE 127 I 60
E. 5a S. 70), die Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung auf jene Rechtsanwälte zu beschränken, welche im Anwaltsregister des Kantons Zug eingetragen sind; ein Eintrag in irgendeinem kantonalen Anwaltsregister müsse genügen. Der Beschwerdeführer macht damit nicht geltend, das kantonale Recht sei vom Obergericht falsch angewandt worden; er rügt vielmehr, § 2 Abs. 1 BeurkG sei selbst verfassungswidrig. Damit verlangt er eine vorfrageweise Überprüfung von dessen Verfassungsmässigkeit, was im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig ist (vgl.
BGE 129 I 265
E. 2.3 S. 268).
7.2
Der Zuger Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte wurde gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des eidgenössischen Anwaltsgesetzes neu auch die Aufsicht über die Beurkundungstätigkeit der hierzu ermächtigten Rechtsanwälte übertragen (§ 32 Abs. 1 BeurkG). Weil mit § 2 Abs. 1 BeurkG zugleich das Erfordernis begründet wurde, dass die zur öffentlichen Beurkundung zugelassenen Rechtsanwälte im Zuger Anwaltsregister eingetragen sein müssen, führte diese Massnahme dazu, dass die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte nunmehr die gesamte Tätigkeit der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Rechtsanwälte überwachen kann. Gemäss den Ausführungen des Obergerichts sollte dadurch zusätzlich sichergestellt werden, dass nur Personen öffentliche Urkunden erstellen können, die überwiegend im Kanton Zug tätig sind.
7.3
Den Kantonen kommt bei der Festlegung der Voraussetzungen, unter denen ein Bewerber zur Notariatsausübung zugelassen
BGE 131 II 639 S. 647
wird, grosse Freiheit zu (Urteil 2P.433/1997 vom 30. Juni 1998, publ. in: ZBGR 81/2000 S. 72, E. 6). Die hier streitige Regelung geht nicht über das hinaus, was unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zulässig ist. Das Bestreben des Kantons, die Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung jenen Rechtsanwälten vorzubehalten, die überwiegend im Kanton selbst tätig und deshalb im Anwaltsregister des Kantons Zug eingetragen sind, lässt sich sachlich begründen (vgl. in diesem Zusammenhang
BGE 128 I 280
). Gleiches gilt für die Absicht, die betreffenden Rechtsanwälte generell der primären Aufsicht der Zuger Aufsichtsbehörde zu unterstellen, was mit dem Erfordernis des Registereintrags im Kanton selbst durchaus erreicht wird. Im Übrigen sind der Fall des Beschwerdeführers und die von ihm vorgetragenen - teils etwas gesucht wirkenden - Beispiele (Angestellter eines Unternehmens mit Nebenerwerb als Rechtsanwalt, Zweigbüro einer ausländischen Kanzlei, Verbands- oder Parteisekretär mit Nebenerwerb als Rechtsanwalt, Rechtsanwalt, der nur noch einige Stunden pro Woche arbeitet) im entscheidenden Punkt nicht miteinander vergleichbar: Bei allen genannten Konstellationen wird die Tätigkeit als Rechtsanwalt nur (oder zumindest überwiegend) im Kanton Zug ausgeübt. Damit ist - anders als beim Beschwerdeführer - die hier streitige Voraussetzung für einen Eintrag im Zuger Anwaltsregister erfüllt (vgl. oben E. 3.5). Sobald der Beschwerdeführer ebenfalls überwiegend im Kanton Zug tätig ist, kann er sich, worauf ihn das Obergericht ausdrücklich hingewiesen hat, im dortigen Anwaltsregister eintragen lassen und anschliessend um Ermächtigung zur öffentlichen Beurkundung ersuchen.
7.4
Nach dem Gesagten erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. | de |
b63f26cf-4cd1-4bec-bf19-04276b1d2b1d | Sachverhalt
ab Seite 23
BGE 128 IV 23 S. 23
A.-
Anlässlich einer Verkehrskontrolle in Wittenbach/SG stellte die Kantonspolizei St. Gallen am 12. September 2001 im Kofferraum des vom jugoslawischen Staatsangehörigen B. gelenkten Personenwagens einen gestohlenen Autoradioverstärker fest. Dieser hatte das Gerät zuvor in Oftringen/AG von einem angeblich türkischen Staatsangehörigen für Fr. 100.- gekauft. In der Folge eröffneten die Behörden des Kantons St. Gallen gegen B. eine Strafuntersuchung wegen Hehlerei.
Ein Meinungsaustausch zwischen den Behörden der Kantone St. Gallen und Aargau führte zu keiner Einigung in der Frage des Gerichtsstandes.
B.-
Mit Gesuch vom 7. November 2001 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen der Anklagekammer des Bundesgerichts, die Behörden des Kantons Aargau berechtigt und verpflichtet zu erklären, das Strafverfahren gegen B. wegen Hehlerei und SVG-Widerhandlungen zu führen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt, das Gesuch abzuweisen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Für die Verfolgung und Beurteilung einer strafbaren Handlung sind gemäss
Art. 346 Abs. 1 StGB
die Behörden des Ortes zuständig, wo die strafbare Handlung ausgeführt wurde. Ist die strafbare Handlung an mehreren Orten ausgeführt worden, so sind die Behörden des Ortes zuständig, wo die Untersuchung zuerst angehoben wurde.
BGE 128 IV 23 S. 24
2.
Nach der unbestrittenen Sachverhaltsdarstellung der Gesuchstellerin hat der Beschuldigte in Oftringen/AG von einem angeblich türkischen Staatsangehörigen einen gestohlenen Autoradioverstärker, welcher nach seinen eigenen Angaben üblicherweise Fr. 300.- kosten würde, für Fr. 100.- gekauft. Beide Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass auf Grund dieses Sachverhaltes gegenüber dem Beschuldigten der Verdacht der Hehlerei bestehe.
3.
a) Streitig ist zwischen den Parteien einzig die Frage, durch welche Tathandlung der Beschuldigte allenfalls diesen Tatbestand erfüllt hat.
b) Die Gesuchstellerin vertritt die Auffassung, der Tatbestand der Hehlerei sei allein durch den Erwerb im Kanton Aargau erfüllt.
Die Gesuchsgegnerin geht demgegenüber davon aus, der Beschuldigte habe die strafbare Handlung zusätzlich auch im Kanton St. Gallen ausgeführt, weil er dort das Gerät im Kofferraum seines Personenwagens versteckt gehalten und dieses damit verheimlicht habe. Sie begründet dies damit, dass das Delikt der Hehlerei so lange andauere, bis der rechtmässige Eigentümer wieder in den Besitz der Sache gelange.
c) Die in
Art. 160 StGB
aufgezählten Tathandlungen sind abgesehen vom Sich-Schenken-Lassen und Zum-Pfande-Nehmen, die lediglich als Beispielfälle des Erwerbes zu betrachten sind (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Aufl., Bern 1995, § 20 N. 10), selbständige Tatbestände (vgl.
BGE 90 IV 14
E. 3b). Entscheidend für den Erwerb ist, dass der Hehler im Einverständnis mit dem Vortäter an der Sache Gewahrsam und damit eine abgeleitete neue eigene Verfügungsmacht erlangt (BERNARD CORBOZ, Les principales infractions, Bd. II, Bern 1999, Art. 160 N. 27 mit Hinweisen; STRATENWERTH, a.a.O., N. 10). Hat der Hehler die Verfügungsmacht über die Sache erlangt, kann er hinsichtlich dieser Sache keine weiteren Hehlereihandlungen mehr begehen, weder durch Verheimlichen noch durch Absatzhilfe (vgl. ADOLF SCHÖNKE/HORST SCHRÖDER/WALTER STREE, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl., München 2001, § 260 N. 64).
Der Beschuldigte hat im vorliegenden Fall das gestohlene Gerät vom allfälligen Vortäter gekauft und damit eigene Verfügungsmacht erlangt. Durch diese Erwerbshandlung hat der Beschuldigte allenfalls - sofern sie bösgläubig erfolgte (vgl.
BGE 105 IV 303
E. 3a, e contrario), was insbesondere auf Grund des Erwerbsortes und des deutlich unter dem vom Beschuldigten geschätzten Wert liegenden Kaufpreises mindestens in Betracht fällt - den Tatbestand der
BGE 128 IV 23 S. 25
Hehlerei erfüllt. Damit entfallen die weiteren Tatbestandsvarianten, die lediglich andere Mittel der Aufrechterhaltung des durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Zustandes darstellen.
Der gesetzliche Gerichtsstand liegt daher im Kanton Aargau, wo der Beschuldigte das gestohlene Gerät erworben hat.
d) Triftige Gründe, ausnahmsweise vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen, macht weder die Gesuchsgegnerin geltend, noch ergeben sich solche aus den Akten. | de |
5dbd6356-4803-4210-9f06-35c82ecbdbc2 | Sachverhalt
ab Seite 399
BGE 127 V 398 S. 399
A.-
L., geboren 1975 und wohnhaft im Kanton Basel-Stadt, ist seit 1. Januar 1998 bei der Assura Kranken- und Unfallversicherung (nachfolgend: Assura oder Beschwerdeführerin) unter Einschluss des Unfallrisikos obligatorisch krankenpflegeversichert. Am 31. Mai 1991 hatte sie sich anlässlich eines Strassenverkehrsunfalles schwere Verletzungen an ihrer rechten (dominanten) Hand zugezogen. Nach Abschluss der Heilbehandlung (1994) blieb eine dauerhafte Schädigung dieser Hand bestehen. 1997 schloss L. mit dem zuständigen Haftpflichtversicherer eine Saldovereinbarung über eine Entschädigung von Fr. 390'000.- ab. Nach einer unkontrollierten Handbewegung traten 1998 zunehmende Schmerzen auf. Das festgestellte Karpaltunnel-Syndrom wurde während eines stationären Aufenthalts (vom 19. bis 23. Oktober 1998) in der Klinik B. in M. (Kanton Basel-Landschaft) am 20. Oktober 1998 operativ durch eine Karpaltunnel-Spaltung und eine Neurolyse des Nervus medianus und ulnaris rechts saniert. Die Gesamtrechnung der Klinik B. vom 1. März 1999 belief sich auf Fr. 6443.40, wovon Fr. 1900.- zu Lasten der Assura und der Rest von Fr. 4543.40 zu Lasten von L. fakturiert wurden. Mit Verfügung vom 10. August 1999 lehnte die Assura eine weitergehende Kostenbeteiligung über den Betrag von Fr. 1900.- hinaus ab. Diese Verfügung nahm sie mit Schreiben vom 5. November 1999 zurück und ersetzte sie durch die Verfügung
BGE 127 V 398 S. 400
vom 16. November 1999, womit generell eine Leistungspflicht für Aufenthalt und Behandlung in der Klinik B. abgelehnt und die bereits geleisteten Fr. 1900.- zurückgefordert wurden. Durch den Abschluss der Saldovereinbarung zwischen der Versicherten und dem zuständigen Haftpflichtversicherer vom 27. Oktober/6. November 1997 hätten sich die Vertragsparteien über alle (auch zukünftige) Ansprüche aus dem Unfall vom 31. Mai 1991 vergleichsweise geeinigt. Die vereinbarte Pauschalabgeltung schliesse auch Entschädigungen für etwaige Ansprüche aus allenfalls zukünftig noch notwendigen unfallbedingten Heilbehandlungsmassnahmen mit ein. Deshalb verletze es das sozialversicherungsrechtliche Überentschädigungsverbot, wenn für die gleiche, bereits gegenüber der Versicherten abgegoltene Schadensposition nun auch noch der soziale Krankenversicherer Leistungen erbringen müsse. Die Saldovereinbarung verletze auch die gesetzliche Regressordnung, wonach der Versicherer im Zeitpunkt des Ereignisses bis zur Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der versicherten Person eintrete. An dieser Auffassung hielt die Assura mit Einspracheentscheid vom 4. Januar 2000 fest.
B.-
Das Versicherungsdreiergericht Basel-Stadt hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 11. April 2000 gut, indem es die Assura verpflichtete, L. den noch offenen Betrag von Fr. 4543.40 aus der Rechnung der Klinik B. vom 1. März 1999 (zusätzlich zu den bereits an die Klinik geleisteten Fr. 1900.-) zu bezahlen.
C.-
Hiegegen führt die Assura Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihr Einspracheentscheid vom 4. Januar 2000 zu bestätigen.
L. lässt mit Vernehmlassung die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen und ersucht gleichzeitig um unentgeltliche Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) vertritt die Ansicht (Stellungnahme vom 6. November 2000), falls die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin in grundsätzlicher Hinsicht bejaht werde, richte sich die Kostenübernahme gemäss
Art. 41 Abs. 1 KVG
nach dem im Kanton Basel-Stadt gültigen Spitaltarif.
D.-
In Bezug auf die nachträglich eingeholte, per 1. Januar 1998 in Kraft getretene gemeinsame Spitalliste der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft hält die Versicherte fest, ein Vergleich der aufliegenden Listen zeige, dass die Klinik B. auch bereits auf der ab 1. Januar 1998 gültigen gemeinsamen Spitalliste verzeichnet gewesen
BGE 127 V 398 S. 401
sei und nicht erst ab 1999. Das BSV verzichtet auf weitere Ergänzungen. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Zunächst ist der Hauptstandpunkt der Beschwerde führenden Assura, sie entgehe wegen der zwischen der Versicherten und dem Haftpflichtversicherer abgeschlossenen Saldovereinbarung vom 27. Oktober/6. November 1997 der gesetzlichen Leistungspflicht nach KVG, zu beurteilen.
Das kantonale Gericht erkannte zutreffend, dass, auch wenn sich die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin nach dem am 1. Januar 1996 in Kraft getretenen KVG regelt, die Frage des Verhältnisses zwischen dem Krankenversicherer und dem haftpflichtigen Dritten nach dem im Zeitpunkt des Unfalles geltenden Recht zu beurteilen ist (vgl. GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 397 Fn 995). Das im Zeitpunkt des Unfalles vom 31. Mai 1991 geltende KUVG kannte keine Subrogation des Krankenversicherers in die Haftpflichtansprüche des geschädigten Versicherten gegen haftpflichtige Dritte. Der Versicherte konnte somit damals über seine gesamten Haftpflichtansprüche frei verfügen, sodass der Krankenversicherer - jedenfalls nach voller Entschädigung durch Erfüllung einer Saldovereinbarung - gestützt auf das Überentschädigungsverbot keine Leistungen mehr zu erbringen hatte (vgl. RKUV 1988 Nr. K 768 S. 199 ff. Erw. 1). Weiter stellte die Vorinstanz richtig fest, die Auslegung der Saldovereinbarung vom 27. Oktober/6. November 1997 nach dem Vertrauensprinzip ergebe, dass nach dem Inhalt der Verhandlungen zwischen der Versicherten und dem Haftpflichtversicherer die Behandlungskosten nicht Gegenstand der Einigung gewesen seien. Es hindere der Abschluss einer Saldovereinbarung praxisgemäss (vgl.
BGE 100 II 42
) den Unterzeichnenden nur insoweit an der Erhebung neuer Ansprüche, als er diese im Zeitpunkt der Unterzeichnung bereits gekannt oder deren Entstehung wenigstens als eine Möglichkeit in Betracht gezogen habe. Da jedoch die Ärzte in den Jahren 1994 und 1996 festgestellt hätten, dass durch weitere Operationen keine Besserung mehr erreicht werden könne und der Zustand der geschädigten Hand während dieser Zeit offensichtlich stabil geblieben sei, vermöge die Assura keine Anhaltspunkte darzulegen, wonach der Versicherten die Möglichkeit des Anfallens weiterer Behandlungskosten mit
BGE 127 V 398 S. 402
genügender Deutlichkeit hätte bewusst sein müssen. Aus diesen Gründen sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin grundsätzlich für die Kosten des Aufenthalts der Versicherten in der Klinik B. aufzukommen habe. Dem ist vollumfänglich beizupflichten. Insoweit ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unbegründet.
2.
L. mit Wohnsitz im Kanton Basel-Stadt (Wohnkanton) begab sich in die in M., Kanton Basel-Landschaft (Standortkanton), gelegene private Klinik B. in stationäre Behandlung, womit sie den ihr durch Art. 41 Abs. 1 in fine KVG eröffneten Raum zur Ausübung des Wahlrechts an sich verlassen hat, ohne dass medizinische Gründe im Sinne von
Art. 41 Abs. 2 KVG
bestehen. Die genannte Klinik figuriert nun aber sowohl auf der Spitalliste des Wohn- als auch des Standortkantons, nämlich auf der gemeinsamen Spitalliste für somatische Akutmedizin der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft (Stand per 1. Januar 1998). Zu prüfen ist, nach welchem Tarif die Kostenübernahme zu erfolgen hat.
a) In Bezug auf die Frage des anwendbaren Tarifs geht die Vorinstanz davon aus, dass es sich bei dieser gemeinsamen Spitalliste um eine geschlossene Liste handelt, weshalb davon auszugehen sei, dass nach der Spitalplanung der beiden Kantone der Bedarf für die auf der Liste figurierenden ausserkantonalen Leistungserbringer im Sinne von
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
ausgewiesen sei. Ein Bedarf im Sinne dieser Bestimmung bestehe nicht nur dann, wenn die fragliche medizinische Behandlung im Wohnkanton überhaupt nicht angeboten werde, sondern auch dann, wenn dafür nach der Planung nicht genügend Spitalplätze vorhanden seien. Für die Behandlung in einer auf einer geschlossenen Spitalliste figurierenden Klinik sei somit "der medizinische Grund des fehlenden oder unzureichenden Angebots eo ipso gegeben". Gehöre die Klinik B. nach der Spitalplanung des Kantons Basel-Stadt zu den notwendigen und anerkannten Leistungserbringern, richte sich die Kostenübernahme nach deren Tarif. Die Assura habe deshalb die vollen Kosten des umstrittenen Klinikaufenthalts zu vergüten. Zur Begründung verweist die Vorinstanz auf RKUV 1988 (recte: 1998) Nr. KV 54 S. 548 f.
b) Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der Zulassung der Leistungserbringer (Art. 35 bis 40 KVG) einerseits und der tarifvertraglichen Rechtslage im Lichte des beschränkten Wahlrechts des Leistungserbringers nach
Art. 41 KVG
anderseits (vgl.
BGE 125 V 452
Erw. 3a). In
Art. 39 KVG
werden die Voraussetzungen festgehalten, unter denen ein Leistungserbringer zur sozialen Krankenversicherung zugelassen ist (vgl. dazu EUGSTER, a.a.O., Rz 244 ff.
BGE 127 V 398 S. 403
mit Hinweisen). Es handelt sich dabei um betriebliche, organisatorische und planerische Voraussetzungen, welche der Leistungserbringer (Spital und andere Einrichtungen) zu erfüllen hat. Demgegenüber regelt
Art. 41 KVG
die Wahlfreiheit und zugleich die Übernahme der Kosten durch die Versicherer (MAURER, Das neue Krankenversicherungsrecht, Basel/Frankfurt a.M. 1996, S. 72).
Art. 41 Abs. 2 KVG
nennt die Voraussetzungen, unter denen ein Patient sich zu Lasten der sozialen Krankenversicherung bei vollem Tarifschutz im Sinne von
Art. 44 Abs. 1 KVG
in einem ausserkantonalen Spital behandeln lassen kann. Dabei geht es um Voraussetzungen, die in der Person des Versicherten bzw. im Wesen der notwendigen Behandlung (Notfall oder mangelndes Angebot im Wohnkanton) erfüllt sein müssen.
Da die Rechtsfolge der ausnahmsweisen Kostenübernahme nach dem Tarif des ausserkantonalen Leistungserbringers im Standortkanton (bei vollem Tarifschutz) für eine stationäre Behandlung gemäss
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
nicht schon dann Platz greift, wenn die Behandlung im Wohnkanton nicht angeboten wird, sondern erst dann, wenn diese Behandlung auch nicht in einem ausserkantonalen Spital, welches auf der Spitalliste des Wohnkantons nach
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
aufgeführt ist, erbracht werden kann, ist vorweg der Sinn dieser Bestimmung zu ermitteln.
aa) Der Teilsatz "... oder in einem auf der Spitalliste des Wohnkantons nach Art. 39 Abs. 1 Buchstabe e aufgeführten ausserkantonalen Spital" des heutigen
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
wurde nachträglich als Ergänzungsantrag zum Entwurf des Bundesrates (Botschaft des Bundesrates über die Revision der Krankenversicherung vom 6. November 1991, BBl 1992 I 93 ff., 268) in die Sitzung vom 24. August 1993 der nationalrätlichen Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) eingebracht (Protokoll der Kommission des Nationalrats zur Sitzung vom 24. August 1993, S. 24 f. und Anhang 10). Nach redaktioneller Anpassung wurde dieser Zusatz anlässlich der Sitzung vom 6. Oktober 1993 durch den Nationalrat (Amtl.Bull. 1993 N 1857) und an der Sitzung vom 15. Dezember 1993 durch den Ständerat (Amtl.Bull. 1993 S 1066) diskussionslos angenommen.
bb) Der Bundesrat hatte in seinem Entscheid vom 21. Oktober 1998 in Sachen Kantonalverband appenzellischer Krankenversicherer gegen den Regierungsrat des Kantons Appenzell Ausserrhoden (teilweise publiziert in RKUV 1998 Nr. KV 54 S. 521 ff.) unter anderem zu prüfen, ob das vom Kanton Appenzell Ausserrhoden
BGE 127 V 398 S. 404
gewählte Modell der unterteilten Liste vor Bundesrecht standhalte. Dieser Kanton hatte in einer auf den Bedarf ausgerichteten Liste A die allgemeinen Abteilungen der öffentlichen und privaten Spitäler (unter selektiver Aufnahme von Spitälern und festen Bettenzuweisungen) bezeichnet. Die Liste B (private und halbprivate Abteilungen) verzichtete auf eine staatliche Steuerung des Angebots. Der Bundesrat erachtete das vom Kanton Appenzell Ausserrhoden gewählte Modell als zulässig.
Weiter war im genannten Entscheid die Frage des Einbezugs ausserkantonaler Spitäler für die obligatorische Krankenversicherung (Liste A) zu beurteilen (RKUV 1998 Nr. KV 54 Ziffer 4 S. 545 ff.). Nach der Feststellung, dass es sich bei der Liste A des Kantons Appenzell Ausserrhoden um eine "offene" Liste (mit einer umfassenden Wahlfreiheit in Bezug auf ausserkantonale Spitäler) handle, wurde diese offene Umschreibung der Zulassung weiterer, nicht explizit aufgeführter Leistungserbringer insbesondere für einen kleinen Kanton mit der Begründung als zulässig erachtet, gerade solche Kantone seien in grösserem Umfang auf die Versorgung ihrer Wohnbevölkerung in ausserkantonalen Heilanstalten angewiesen. Die Empfehlung der Sanitätsdirektorenkonferenz, die Kantone sollten nicht für alle in Frage kommenden Spezialbehandlungen die für die Bevölkerung des eigenen Kantons benötigten Kapazitäten bestimmten Spitälern ausserhalb des Kantons zuordnen, sei sachgerecht. Es genüge mit Blick auf die Zulassung der Leistungserbringer, in solchen Fällen festzuhalten, dass sich die Wahlfreiheit der Patienten auf alle ausserkantonalen Institutionen erstrecke, die in ihrem Standortkanton auf der Spitalliste aufgeführt seien.
Unter Verweis darauf, dass im Streitfall das Eidg. Versicherungsgericht zur Beurteilung der Frage zuständig sei, welche Kosten die Versicherer zu übernehmen hätten, hatte der Bundesrat schliesslich zu prüfen, welches die Folgen dieser Wahlfreiheit für die Kostenübernahme seien (RKUV 1998 Nr. KV 54 Ziffer 4.1.3 S. 547 ff.). Dabei vertrat der Bundesrat die Auffassung, nach dem klaren Wortlaut von
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
stehe fest, dass sich diese Bestimmung nur auf den Fall beziehen könne, da der Wohnkanton der Versicherten selber eine namentliche Liste der ausserkantonalen Spitäler erstellt habe ("geschlossene" Liste). Soweit sich ein Kanton auf eine "offene" Liste der ausserkantonalen Spitäler beschränke, folge aus
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
, dass die Ausnahme - das heisst volle Kostendeckung - bei Behandlung in einem ausserkantonalen Spital nur zum Zuge komme, wenn medizinische
BGE 127 V 398 S. 405
Gründe vorlägen. Soweit ein Kanton für alle oder einzelne Leistungsbereiche eine "geschlossene" Liste der ausserkantonalen Leistungserbringer erstelle und diese Liste in Rechtskraft erwachse, sei davon auszugehen, dass nach der Spitalplanung des Wohnkantons der Bedarf im Sinne von
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
ausgewiesen sei. Wenn ein Versicherter auf Grund einer solchen Spitalliste ein ausserkantonales Spital aufsuche, so sei nach Auffassung des Bundesrates anzunehmen, dass die medizinischen Gründe für die ausserkantonale Hospitalisation im Einzelfall von den Kassen anerkannt würden (RKUV 1998 Nr. KV 54 Ziffer 4.1.3.2 S. 548 f.; im gleichen Sinne anscheinend: MAURER, a.a.O., Fn 188, und DUC, Statut des assurés dans des établissements médico-sociaux selon la LAMal; Annexe: Les prestations en cas d'hospitalisation dans la LAMal, plus spécialement en cas de traitement fourni dans une clinique privée, in: SZS 1996 S. 297; anderer Meinung: EUGSTER, a.a.O., Fn 563).
cc) Die Spitalliste hat die Aufgabe, Transparenz und Publizität in der Frage zu schaffen, welche Einrichtungen zu den Spitälern gehören und welches deren Leistungsaufträge sind, sowie die Vereinbarung sachgerechter Vergütungen zu erleichtern (EUGSTER, a.a.O., Rz 249 f. und Fn 562 mit Hinweisen). Wenn ein Spital auf eine Spitalliste gesetzt wird, bedeutet dies nur und einzig, dass es sich dabei um einen zugelassenen Leistungserbringer handelt, welcher KVG-pflichtige Kostenvergütungsansprüche auslöst, wenn sich der Versicherte von ihm behandeln lässt. Damit ist aber über die Frage des anwendbaren Tarifs noch überhaupt nichts gesagt. Hängt die Aufnahme eines Spitals in eine Spitalliste nach
Art. 39 Abs. 1 lit. d und e KVG
unter anderem von einem entsprechend ausgewiesenen Bedarf im Rahmen der kantonalen Spitalplanung ab, sind nach
Art. 41 Abs. 2 KVG
im konkreten Einzelfall des zu behandelnden Versicherten "medizinische Gründe" erforderlich, die gegebenenfalls zur vollen Kostenübernahme nach dem Tarif am Ort des Leistungserbringers führen können. Die Gründe des medizinischen Bedürfnisses nach
Art. 39 Abs. 1 lit. d und e KVG
einerseits und des
Art. 41 Abs. 2 KVG
anderseits sind somit nicht identisch.
dd) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die von der Vorinstanz zur Begründung des angefochtenen Entscheids herangezogene Schlussfolgerung gemäss bundesrätlichem Entscheid vom 21. Oktober 1998 (vgl. RKUV 1998 Nr. KV 54 Ziffer 4.1.3.2 S. 548 f.) im Widerspruch zu den Materialien (Erw. 2b/aa hievor) steht. Durch die Aufnahme des zusätzlichen Teilsatzes in
Art. 41 Abs. 2 lit. b
BGE 127 V 398 S. 406
KVG
sollten ausserkantonale Spitäler, die auf einer Spitalliste des Wohnkantons aufgeführt sind, gleich behandelt werden wie zugelassene Leistungserbringer innerhalb des Wohnkantons. Der volle Tarifschutz gilt im Regelfall nach Massgabe von
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
nur innerhalb der Grenzen des Wohnkantons der versicherten Person. Lässt sie sich aus freiem Willen - d.h. ohne das Vorliegen medizinischer Gründe im Sinne von
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
- durch einen ausserkantonalen Leistungserbringer behandeln, der als solcher auf der Spitalliste des Wohnkantons im Sinne von
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
namentlich aufgeführt ist, so ändert dies nichts daran, dass das Mass der Kostenübernahme an die Höchstgrenze des im Wohnkanton geltenden Tarifs im Sinne von
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
gebunden bleibt, auch wenn der ausserkantonale Leistungserbringer gegebenenfalls seine Leistungen zu einem höheren Tarif des Standortkantons verrechnen wird. Die Ausnahme regelt
Art. 41 Abs. 2 KVG
; nur soweit medizinische Gründe im Sinne der genannten Bestimmung vorliegen, wird der volle Tarifschutz über die örtlichen Grenzen des Wohnkantons hinaus ausgedehnt. Der Versicherer hat hier die Kostenübernahme nach dem Tarif des Standortkantons des ausserkantonalen Leistungserbringers zu leisten, auch wenn dadurch die Höchstgrenze nach
Art. 41 Abs. 1 KVG
überschritten wird, wobei gegebenenfalls hinsichtlich der Kostentragung
Art. 41 Abs. 3 KVG
zu beachten ist.
Damit verhält es sich hier im Ergebnis nicht anders, als wenn sich die Versicherte aus persönlichen Gründen in einem Spital behandeln lässt, das nicht auf der Spitalliste ihres Wohnkantons, jedoch auf derjenigen des Standortkantons liegt. Der Ausgang des vorliegenden Verfahrens ist somit durch
BGE 125 V 448
präjudiziert. Demnach besteht die einzige Konsequenz für diejenige Versicherte, welche für ihre stationäre Behandlung einen ausserhalb ihres Wohnkantons liegenden Leistungserbringer wählt, in einer Verminderung des Tarifschutzes nach
Art. 44 Abs. 1 KVG
, und zwar in dem Sinne, dass - abgesehen von den in
Art. 41 Abs. 2 und 3 KVG
vorgesehenen Fällen - stets nur der Tarif im Wohnkanton der versicherten Person anwendbar ist (
BGE 125 V 452
f. Erw. 3a mit Hinweisen). Den Mehrpreis, der im andern Kanton gefordert wird, muss die Versicherte zu ihren Lasten nehmen (MAURER, a.a.O., S. 72; EUGSTER, a.a.O., Rz 317).
c) Daraus folgt mit dem BSV, dass die Beschwerdeführerin die Kosten für die stationäre Behandlung der Versicherten vom 19. bis 23. Oktober 1998 in der Klinik B. (in M., Kanton Basel-Landschaft)
BGE 127 V 398 S. 407
gemäss
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
höchstens - aber immerhin - nach dem Tarif zu übernehmen hat, der im Wohnkanton der Versicherten (Kanton Basel-Stadt) gilt. Sollte eine solche Tarifierung (nach baselstädtischem Tarif) mindestens zum gleichen Betrag führen, wie ihn die Klinik B. am 1. März 1999 in Rechnung stellte, hätte die Beschwerdeführerin (unter Vorbehalt von Erw. 3) diesen zu vergüten.
3.
Steht fest, dass die Beschwerdeführerin für die stationäre Behandlung der Beschwerdegegnerin grundsätzlich leistungspflichtig ist (Erw. 1) und die Kostenübernahme nach Massgabe von
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
zu erfolgen hat, bleibt zu prüfen, wie dieser grundsätzlich festgestellte Kostenvergütungsanspruch in masslicher Hinsicht zu beziffern ist.
a) Nach ausdrücklicher Bestätigung hätte die Klinik B. über ihre Leistungen für die stationäre Behandlung der in der Stadt Basel wohnenden Versicherten vom 19. bis 23. Oktober 1998 die genau gleiche Abrechnung (wie diejenige gemäss Spitalrechnung vom 1. März 1999) erstellt, auch wenn sie im Kanton Basel-Landschaft wohnhaft gewesen wäre. Weiter ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin bisher nur den Teilbetrag von Fr. 1900.- aus der genannten Spitalrechnung an den Leistungserbringer überwiesen hat. Soweit es zutreffen sollte, dass sich die von der Beschwerdeführerin bereits geleistete Kostenvergütung im Umfang von total Fr. 1900.- - wie im angefochtenen Entscheid festgehalten - aus der Summe von fünf Teilbeträgen zu je Fr. 380.- zusammensetzt, ist nicht nachvollziehbar, auf welche aktenmässige Grundlage sich diese Aussage abstützt. Aus dem von der Beschwerdeführerin aufgelegten, mit Beschluss Nr. 3099 vom 23. Dezember 1997 durch den Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft genehmigten "Spitaltax- und Tarifvertrag für Versicherte mit obligatorischer Krankenpflegeversicherung in der Klinik B." vom 12. Dezember 1997 (nachfolgend: Tarifvertrag) ist ersichtlich, dass es sich beim Teilbetrag von Fr. 380.- gemäss Anhang 1 zum Tarifvertrag um eine ausdrücklich als "Tagesteilpauschale" bezeichnete "Grundtaxe" handelt, die nach dem klaren Wortlaut nicht alle Leistungen im Rahmen eines operativen Eingriffs mit stationärer Behandlung miteinschliesst. Anders verhielte es sich im Falle von "pauschalierten Leistungen" (vgl. Ziffer 22 lit. B des Tarifvertrages sowie Anhang 2), wozu gemäss OP-Code 04.431 des Anhanges 2 zum Tarifvertrag auch "eine Operation bei Karpaltunnel-Syndrom" gehören kann. Das kantonale Gericht erkannte in diesem Zusammenhang im Teilbetrag von
BGE 127 V 398 S. 408
Fr. 380.- unzutreffend eine "Tagespauschale". Schon aus diesem Grund ist nicht ersichtlich, weshalb der Kostenvergütungsanspruch der Beschwerdegegnerin mit Blick auf die Spitalrechnung vom 1. März 1999 auf den Betrag von fünf Tagesteilpauschalen zu je Fr. 380.- beschränkt sein sollte. Bezeichnenderweise will sich die Assura denn auch mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde für den Fall, dass "die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin im Grundsatz anerkannt wird", nicht auf einen konkret bezifferten Betrag hinsichtlich der Kostenübernahme festlegen. Vielmehr beschränkt sie ihre Argumentation darauf, dass der von ihr aufgelegte Tarifvertrag nur für Versicherte innerhalb des Wohnkantons Basel-Landschaft anwendbar sei, sich aber die Kostenübernahme im vorliegenden Fall nach
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
bestimme. Damit schliesst auch die Beschwerdeführerin zutreffend auf ihre Kostenübernahmepflicht nach den Tarifen des Wohnorts der Versicherten (
BGE 125 V 455
Erw. 4). Den vorhandenen Unterlagen ist jedoch kein Hinweis auf den konkret anwendbaren Tarif aus dem Wohnkanton Basel-Stadt zu entnehmen.
b) Nach dem Gesagten sind der angefochtene Entscheid und der Einspracheentscheid aufzuheben und die Sache ist an die Beschwerdeführerin zurückzuweisen, damit sie nach Feststellung des im Wohnkanton der Beschwerdegegnerin konkret anwendbaren Tarifs mit Blick auf die Spitalrechnung vom 1. März 1999 die nach
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
zu ihren Lasten zu übernehmenden Kosten ermittle und sodann eine neue Verfügung über ihre effektive Kostenübernahme erlasse.
4.
(Gerichtskosten, Parteientschädigung, unentgeltliche Verbeiständung) | de |
a0c9f8b8-afe6-4ab5-9112-0b46df5880fd | Sachverhalt
ab Seite 479
BGE 130 III 478 S. 479
A.
Die Lernstudio Zürich AG (nachstehend: Klägerin) wurde 1970 gegründet. Sie hält Zweigniederlassungen in Winterthur, Chur und Basel und ist Inhaberin der Schweizer Wortmarke LERNSTUDIO, die 1994 für Dienstleistungen der Klasse 41 und 42 mit dem Vermerk "durchgesetzte Marke" eingetragen wurde. 1996 liess die Klägerin den Domainnamen www.lernstudio.ch registrieren. Anton Jungen (nachstehend: Beklagter) führt seit 1999 eine Einzelfirma welche im Handelsregister mit der Firma "Kick Lernstudio für Mathematik Schule für Ergänzungsunterricht Anton Jungen" eingetragen ist. In der Werbung verwendet der Beklagte unter anderem die Bezeichnung "Kick Lernstudio" und "Lernstudio Kick". Seit September 2000 führt der Beklagte den Domainnamen www.kicklernstudio.ch.
B.
Mit Klage vom 19. September 2001 beantragte die Klägerin beim Handelsgericht des Kantons Zürich, dem Beklagten sei jeweils unter Androhung der Strafe im Unterlassungsfall zu verbieten, die Bezeichnung Lernstudio im Geschäftsverkehr, namentlich als Bestandteil einer Firmenbezeichnung, zu verwenden, und er sei zu verurteilen, die Bezeichnung Lernstudio innerhalb von 30 Tagen im Handelsregister löschen zu lassen. In der Replik verlangte die Klägerin zudem, der Beklagte sei unter Strafandrohung zur Löschung des Domainnamens www.kicklernstudio.ch zu verurteilen. Das Handelsgericht liess die Ergänzung des Rechtsbegehrens zu und wies die Klage mit Urteil vom 19. Mai 2003 ab.
C.
Gegen das Urteil des Handelsgerichts hat die Klägerin sowohl eine eidgenössische Berufung als auch eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde erhoben. Letztere hat das Kassationsgericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 11. Dezember 2003 abgewiesen, soweit es darauf eintrat. Mit der Berufung beantragt die Klägerin, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen; eventuell sei die Streitsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit darauf eingetreten werden könne. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Das Handelsgericht führte aus, die Marke der Klägerin sei zwar mit dem Vermerk "durchgesetzte Marke" eingetragen worden. Da jedoch das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum (IGE) im Eintragungsverfahren die Glaubhaftmachung der
BGE 130 III 478 S. 480
Verkehrsdurchsetzung genügen lasse, obliege es der Klägerin, im Zivilverfahren den vollen Beweis für die vom Beklagten bestrittene Verkehrsdurchsetzung zu führen.
3.2
Die Klägerin rügt, diese Annahme verletze bundesrechtliche Beweislastregeln. Das Handelsgericht habe ausser Acht gelassen, dass die Marke LERNSTUDIO vom IGE auf Grund nachgewiesener Verkehrsdurchsetzung in das öffentliche Markenregister eingetragen worden sei, weshalb gemäss
Art. 9 ZGB
die Richtigkeit dieser Eintragung vermutet werde und sie lediglich durch den Beweis der Unrichtigkeit umgestossen werden könne. Demnach habe der Beklagte die fehlende Verkehrsdurchsetzung beweisen müssen. Diese Beweislastverteilung entspreche auch
Art. 8 ZGB
, weil der Beklagte eine rechtsvernichtende Tatsache, bzw. den Untergang eines Rechts behaupte.
3.3
Gemäss
Art. 8 ZGB
hat, wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet. Nach dieser Grundregel hat die Partei, welche Ansprüche geltend macht, die rechtsbegründenden Tatsachen zu beweisen (
BGE 128 III 271
E. 2a/aa). Die Verkehrsdurchsetzung eines zum Gemeingut gehörenden Zeichens ist für den Markenschutz rechtsbegründend, da dieser sonst nicht entstehen kann (Art. 2 lit. a Markenschutzgesetz [MSchG; SR 232.11]). Somit hat gemäss
Art. 8 ZGB
der Inhaber einer Marke mit einem zum Gemeingut gehörenden Zeichen dessen Verkehrsdurchsetzung zu beweisen, soweit keine abweichende gesetzliche Beweislastvorschrift vorgeht. Zu diesen Vorschriften gehört
Art. 9 Abs. 1 ZGB
, der vorsieht, dass öffentliche Register und öffentliche Urkunden für die durch sie bezeugten Tatsachen vollen Beweis erbringen, solange nicht die Unrichtigkeit ihres Inhalts nachgewiesen ist. Die Tragweite der Vermutung der Richtigkeit von Eintragungen in öffentlichen Registern hängt davon ab, welche Tatsachen sie bezeugen. Dabei ist zu beachten, dass das IGE bei der Anmeldung von Marken mit gemeinfreien Zeichen als administrative Beweiserleichterung die Glaubhaftmachung der Verkehrsdurchsetzung genügen lässt (vgl.
BGE 130 III 328
E. 3.2 mit Hinweisen). Der Vermerk "durchgesetzte Marke" bezeugt daher bloss, dass das IGE die Verkehrsdurchsetzung des Freizeichens bei der Anmeldung als Marke als glaubhaft erachtet hat. Im Zivilprozess genügt jedoch die Glaubhaftmachung der Verkehrsdurchsetzung nicht, weshalb diese vom Markeninhaber zu beweisen ist, wenn der Verletzungsbeklagte die
BGE 130 III 478 S. 481
Einrede der Schutzunfähigkeit einer aus gemeinfreien Zeichen bestehenden Marke erhebt (LUCAS DAVID, Basler Kommentar zum Markenschutzgesetz, Muster- und Modellgesetz, 2. Aufl., N. 42 zu
Art. 2 MSchG
; CHRISTOPH WILLI, MSchG-Kommentar, N. 188 zu
Art. 2 MSchG
).
3.4
Nach dem Gesagten hat das Handelsgericht die Beweislast richtig verteilt, wenn es annahm, die Klägerin habe die vom Beklagten bestrittene Verkehrsdurchsetzung des gemeinfreien Zeichens LERNSTUDIO als Marke zu beweisen. | de |
253d2d89-6a7b-4de4-81d6-759426126195 | Sachverhalt
ab Seite 635
BGE 133 III 634 S. 635
Am 21. Januar 2002 schloss die X. AG (Beschwerdeführerin) mit der Y. AG (Beschwerdegegnerin) einen bis Ende 2006 gültigen Rahmenlieferungsvertrag. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, dieser Vertrag sei per 31. Dezember 2002 dahingefallen. Die Beschwerdegegnerin bestreitet dies wie auch eine rechtswirksame Kündigung. Sie gelangte mit einer Schadenersatzklage an das Schiedsgericht der Zürcher Handelskammer, welches mit Zwischenentscheid vom 23. Januar 2007 erkannte, der Rahmenvertrag habe nach dem 31. Dezember 2002 rechtsgültig weiterbestanden und die von der Beschwerdeführerin ausgesprochene Kündigung sei unwirksam gewesen. Die von der Beschwerdeführerin ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am 14. Mai 2007 ab.
Das Bundesgericht tritt auf die gegen diesen Zwischenentscheid erhobene Beschwerde in Zivilsachen nicht ein, da es bei Gutheissung der Beschwerde keinen Endentscheid fällen könnte und kein nicht wieder gutzumachender Nachteil dargetan ist. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(...)
1.1
Der angefochtene Entscheid des Obergerichts behandelt den Zwischenentscheid des Schiedsgerichts über materielle Vorfragen, nämlich Bestand und Inhalt des abgeschlossenen Vertrages, mit deren Klärung der Streit zwischen den Parteien nicht beendet ist. Der angefochtene Entscheid erweist sich damit seinerseits als Zwischenentscheid (
BGE 132 III 785
E. 2 S. 789 f.; Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4332 f.; BERGER/KELLERHALS, Internationale und interne Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, Rz. 1755, S. 616 einschliesslich Fn. 80), der nicht die Zuständigkeit oder ein Ausstandsbegehren betrifft. Daher ist die Beschwerde in
BGE 133 III 634 S. 636
Zivilsachen nur zulässig, wenn der Entscheid entweder einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht [BGG; SR 173.110]) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (
Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG
). Die Anwendung der zuletzt genannten Bestimmung setzt mithin voraus, dass das Bundesgericht, sollte es der Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin folgen, selbst einen Endentscheid fällen könnte und die Angelegenheit nicht an die Vorinstanz oder das Schiedsgericht zurückweisen müsste (Urteil des Bundesgerichts 4A_109/2007 vom 30. Juli 2007, E. 2.4 mit Hinweisen auf die unter der Geltung des OG ergangene Rechtsprechung). Da es sich um ein nationales Schiedsgericht handelt, sind zur Beantwortung dieser Frage neben dem BGG auch die Bestimmungen über das nationale Schiedsverfahren, also des Konkordats vom 27. März 1969 über die Schiedsgerichtsbarkeit (KSG; AS 1969 S. 1093) zu beachten.
1.1.1
Ein nationales Schiedsgericht ist keine Vorinstanz des Bundesgerichts im Sinne von
Art. 75 BGG
, wohl aber die gemäss Art. 3 lit. f in Verbindung mit
Art. 45 Abs. 2 KSG
für Entscheide über Nichtigkeitsbeschwerden zuständige Behörde (BERGER/KELLERHALS, a.a.O., Rz. 1745, S. 612; vgl. Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4311). Das Bundesgericht überprüft nur den Entscheid der Kassationsinstanz, nicht auch den Schiedsspruch selbst (vgl. RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl. 1993, S. 328).
1.1.2
Die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss
Art. 36 ff. KSG
ist grundsätzlich kassatorischer Natur (
Art. 40 Abs. 1 KSG
). Die Beschwerdeinstanz kann den Schiedsspruch lediglich bezüglich der vom Schiedsgericht festgesetzten Entschädigungen der Schiedsrichter reformieren, wenn sie die Entschädigung als offensichtlich übersetzt erachtet (
Art. 40 Abs. 3 KSG
). Ferner kann sie selbst die Unzuständigkeit des Schiedsgerichts feststellen (
BGE 102 Ia 574
E. 4 S. 576 f.). Einen weiteren Sonderfall bildet die Rückweisung des Entscheides zur Berichtigung oder Ergänzung des Schiedsentscheides (
Art. 39 und 40 Abs. 1 KSG
).
1.1.3
Art. 107 Abs. 2 BGG
erlaubt dem Bundesgericht an sich, im Rahmen der Beschwerde in Zivilsachen in der Sache selbst zu
BGE 133 III 634 S. 637
entscheiden. Im Lichte von
Art. 40 KSG
kann die Entscheidbefugnis des Bundesgerichts im Zusammenhang mit der Rüge einer Verletzung des Schiedskonkordates aber nicht weiter gehen, als diejenige der Kassationsinstanz selbst (vgl. HANS PETER WALTER, Rechtsmittel gegen Entscheide des TAS nach dem neuen Bundesgesetz über das Bundesgericht und dem Entwurf einer Schweizerischen Zivilprozessordnung, in: Rigozzi/Bernasconi [Hrsg.], The Proceedings before the Court of Arbitration for Sport, S. 155 ff., 168). Sonst käme dem Bundesgericht als Beschwerdeinstanz eine weitere Kognition zu als dem staatlichen kantonalen Gericht, was der Grundkonzeption des BGG widerspräche (vgl.
Art. 110 und 111 Abs. 3 BGG
, die gewährleisten sollen, dass die Vorinstanz des Bundesgerichts grundsätzlich zumindest die gleiche Prüfungsbefugnis besitzt wie das Bundesgericht; Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4350; vgl. auch BERGER/KELLERHALS, a.a.O., Rz. 1750, S. 614). Auch aus dem in
Art. 99 Abs. 2 BGG
enthaltenen Verbot, neue Begehren zu stellen, ergibt sich, dass vor Bundesgericht Begehren, über die sich keine kantonale Instanz aussprechen konnte, unzulässig sind. Von einer Rückweisung an die Vorinstanz oder das Schiedsgericht bei Gutheissung einer Beschwerde in Zivilsachen wegen Verletzung des KSG (vgl.
Art. 95 lit. e BGG
) kann daher nur bei Unzuständigkeit des Schiedsgerichts oder bezüglich der Entschädigung der Schiedsrichter abgesehen werden (TAPPY, Le recours en matière civile, in: Urs Portmann [Hrsg.], La nouvelle loi sur le Tribunal fédéral, S. 51 ff., 113). Zulässig ist ein reformatorischer Entscheid mit Bezug auf den Entscheid der Kassationsinstanz überdies, sofern dadurch materiell nicht in den Schiedsentscheid eingegriffen wird, namentlich, wenn die Kassationsinstanz den Schiedsentscheid zu Unrecht aufgehoben hat (TAPPY, a.a.O., S. 113 Fn. 180).
1.2
Das Schiedsgericht hat in seinem Zwischenentscheid eine materielle Vorfrage entschieden. Da das Bundesgericht nach dem Gesagten bei Gutheissung der Beschwerde materiell nicht selbst entscheiden könnte, sondern die Angelegenheit an die Vorinstanz oder das Schiedsgericht zurückweisen müsste (TAPPY, a.a.O., S. 113 Fn. 180), kann die Gutheissung der Beschwerde keinen Endentscheid herbeiführen (vgl. POUDRET, Particularismes du recours en matière d'arbitrage international, in: Urs Portmann [Hrsg.], La nouvelle loi sur le Tribunal fédéral, S. 121 ff., 124). Eine Anfechtung des Zwischenentscheides gestützt auf
Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG
fällt demnach ausser Betracht. | de |
2dba639f-9f34-4c24-8a41-9adaf7962394 | Sachverhalt
ab Seite 213
BGE 147 V 213 S. 213
A.
A.a
Der über sein Lehrverhältnis als Sanitärzeichner bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen Unfallfolgen versicherte A. (geboren 1967) erlitt bei einem Mofa-Unfall am 27. Mai 1985 verschiedene Verletzungen (Polytrauma mit u.a. multiplen Schädel- und Gesichtsfrakturen). Die Anstalt erbrachte ihm dafür die gesetzlichen Leistungen. Mit Verfügung vom 9. Januar 1987 sprach sie ihm nebst einer Integritätsentschädigung (Einbusse von 20 %) ab 1. Mai 1986 eine Invalidenrente zu, dies auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 25 % sowie eines versicherten Verdienstes von Fr. 31'526.-.
BGE 147 V 213 S. 214
A.b
Vom 1. Oktober 1995 bis 30. November 1998 bezog A. zufolge beruflicher Massnahmen (Neuausbildung zum Krankenpfleger) Taggelder der Invalidenversicherung (IV), weshalb die Suva ihre Rentenzahlungen während dieser Zeit einstellte. Gleiches tat sie nach weiteren beruflichen Massnahmen (Ausbildung zum technischen Kaufmann) für den Zeitraum vom 16. April 2000 bis 15. Oktober 2001. Anschliessend erbrachte die Suva wiederum ihre Rentenzahlungen (Invaliditätsgrad 25 %).
A.c
In der Folge war A. im Rahmen mehrerer kürzerer Arbeitsverhältnisse erwerbstätig. Ab 2. November 2005 wurde er vom Amt für Militär und Zivilschutz des Kantons St. Gallen angestellt; diese im Zeughaus verrichtete Tätigkeit war zunächst befristet und dauerte schliesslich bis 31. Dezember 2009. Auf sein Ersuchen hin richtete ihm die Anstalt während dieser Zeit keine Rentenzahlungen aus. Nach Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses überprüfte die Suva den Rentenanspruch. Mit Verfügung vom 22. Juni 2011 eröffnete sie dem Versicherten, ihm die Rente auf der Grundlage eines unveränderten Invaliditätsgrades von 25 % und eines versicherten Verdienstes von Fr. 31'526.- ab Januar 2010 wieder auszurichten. Die dagegen vorsorglich erhobene Einsprache liess A. wieder zurückziehen.
A.d
Nach erneuter Anmeldung zum Leistungsbezug und entsprechenden Abklärungen sprach ihm die IV-Stelle St. Gallen ab 1. September 2015 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente (monatlich Fr. 1'842.-) mitsamt einer Kinderrente (monatlich Fr. 737.-) zu. In der Folge leitete die Suva ein Revisionsverfahren ein. Im Zuge der kreisärztlichen Untersuchung erhob Dr. med. B., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, eine vollständige Arbeitsunfähigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgrund eines unfallkausalen organischen Psychosyndroms nach Hirnverletzung (ICD-10: F07.2) sowie eines sekundären Alkoholabhängigkeitssyndroms (ICD-10: F10.2). Selbst in einem geschützten Rahmen - so der Kreisarzt - wäre der Versicherte stark überfordert. Mit Verfügung vom 24. Januar 2018 sprach die Suva A. nebst einer zusätzlichen Integritätsentschädigung (Einbusse von 50 %) ab 1. September 2015 eine Invalidenrente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100 % zu, die sie bei einem versicherten Verdienst von wiederum Fr. 31'526.- als Komplementärrente auf monatlich Fr. 961.- festsetzte. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Suva mit Einspracheentscheid vom 4. Juli 2018 ab, soweit sie darauf eintrat.
BGE 147 V 213 S. 215
B.
Die von A. dagegen geführte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 12. Mai 2020 gut, indem es ihm in Aufhebung des Einspracheentscheids ab 1. September 2015 eine monatliche Komplementärrente von Fr. 3'237.- zusprach.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva die vollumfängliche Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids. Eventuell sei dieser insoweit aufzuheben, als dem Versicherten eine Komplementärrente von mehr als Fr. 1'441.- oder (subeventuell) von mehr als Fr. 3'200.- zugesprochen wurde.
A. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, derweil das Bundesamt für Gesundheit auf eine Stellungnahme verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Strittig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es die unfallversicherungsrechtliche Invalidenrente korrigierte. Fest steht, dass der Beschwerdegegner ab 1. September 2015 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % in Ergänzung zur Invalidenrente nach IVG Anspruch auf eine - einzig hinsichtlich der Bemessung umstrittene - Komplementärrente im Sinne von
Art. 20 Abs. 2 UVG
hat. Im Streit liegt die Höhe des versicherten Verdienstes, insbesondere die Frage, ob und allenfalls wie dieser im Zuge des Revisionsverfahrens angepasst werden durfte, oder ob es beim Betrag bleibt, der bei der ursprünglichen Berentung mit Verfügung vom 9. Januar 1987 festgesetzt worden war.
3.
3.1
Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen über das anwendbare Recht (
BGE 141 V 657
E. 3.5.1 S. 661; Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des UVG vom 25. September 2015 [AS 2016 4375, 4387]), wonach auf das Unfallereignis vom 27. Mai 1985 die bis 31. Dezember 2016 gültig gewesenen Bestimmungen des UVG zur Anwendung gelangen (vgl.
BGE 146 V 51
E. 2.3 S. 54), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Massgeblichkeit des per 1. Januar 1997 revidierten Verordnungsrechts zur Komplementärrente (
Art. 31 ff. UVV
[SR 832.202]; vgl. Urteil des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts [heute: sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] U 283/00 vom 15. März 2002 E. 2).
BGE 147 V 213 S. 216
Es kann auf die betreffenden vorinstanzlichen Erwägungen verwiesen werden.
3.2
Darüber hinaus findet sich im kantonalen Gerichtsentscheid eine ebenfalls zutreffende Darstellung der hier anwendbaren Rechtsgrundlagen, worauf ohne Weiteres verwiesen sei. Das betrifft insbesondere die Anspruchsgrundlagen für eine Invalidenrente (
Art. 18 UVG
), deren Bemessung nach Massgabe des versicherten Verdienstes (
Art. 20 Abs. 1 UVG
) und Festsetzung als Komplementärrente bei bestehendem AHV- oder IV-Rentenanspruch (
Art. 20 Abs. 2 UVG
mitsamt der Delegationsnorm in
Art. 20 Abs. 3 UVG
und der Berechnungsnorm gemäss
Art. 31 Abs. 2 UVV
), ebenso den Begriff der Invalidität (
Art. 8 ATSG
) sowie die Voraussetzungen der Revision einer Invalidenrente (
Art. 17 ATSG
).
3.3
3.3.1
Nochmals darzulegen sind die Normen bezüglich des versicherten Verdienstes, der nebst dem Invaliditätsgrad (
Art. 18 Abs. 1 UVG
) die Höhe der Rente bestimmt (
Art. 20 Abs. 1 UVG
):
Taggelder und Renten werden gemäss
Art. 15 Abs. 1 UVG
nach dem versicherten Verdienst bemessen. Als versicherter Verdienst gilt für die Bemessung der Renten der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogene Lohn (
Art. 15 Abs. 2 UVG
). Das damit gesetzlich verankerte Konzept des Vorunfallverdienstes wird auch als abstrakte Berechnungsmethode bezeichnet. Es hängt eng mit dem Äquivalenzprinzip zusammen, wonach für die Bemessung des versicherten Verdienstes als leistungsbestimmender Grösse von denselben Faktoren auszugehen ist, die Basis für die Prämienberechnung bilden (vgl. zum Ganzen:
BGE 139 V 28
E. 4.3.1 S. 34 und
BGE 127 V 456
E. 4; je mit zahlreichen Hinweisen; vgl. auch
BGE 118 V 293
E. 2e; Botschaft vom 18. August 1976 zum UVG, BBl 1976 III 167 und 189; ALFRED MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 1985, S. 321, 326, vgl. auch S. 333).
3.3.2
Gestützt auf die Delegationsnorm von
Art. 15 Abs. 3 UVG
hat der Bundesrat in
Art. 22 ff. UVV
ergänzende Vorschriften erlassen. Unter dem Titel "Im Allgemeinen" hat er in
Art. 22 UVV
zunächst den Höchstbetrag des versicherten Verdienstes pro Jahr und Tag festgelegt (Abs. 1). Weiter schreibt er vor, dass als versicherter Verdienst der nach der AHV-Gesetzgebung massgebende Lohn gilt, dies mit verschiedenen Abweichungen (vgl. Abs. 2 lit. a bis d). In Abs. 4 wird alsdann das Konzept des Vorunfallverdienstes bekräftigt und zusätzlich in verschiedener Hinsicht konkretisiert.
BGE 147 V 213 S. 217
3.3.3
Ebenfalls gemäss Abs. 3 des
Art. 15 UVG
erlässt der Bundesrat Bestimmungen über den versicherten Verdienst in Sonderfällen, die das Äquivalenzprinzip durchbrechen (
BGE 139 V 28
E. 4.3.1 S. 34), dies namentlich bei langdauernder Taggeldberechtigung (lit. a), Berufskrankheiten (lit. b), Versicherten die (noch) nicht den berufsüblichen Lohn erhalten (lit. c) bzw. die unregelmässig beschäftigt sind (lit. d). Umgesetzt hat er dies in Art. 24 Abs. 1 bis 4 UVV unter dem Titel "massgebender Lohn für Renten in Sonderfällen".
Abs. 2 des
Art. 24 UVV
lautet dabei wörtlich wie folgt: "Beginnt die Rente(
"Lorsque le droit à la rente naît [...]"; "Se il diritto alla rendita nasce [...]"
) mehr als fünf Jahre nach dem Unfall oder dem Ausbruch der Berufskrankheit, so ist der Lohn massgebend, den der Versicherte ohne den Unfall oder die Berufskrankheit im Jahre vor dem Rentenbeginn (
" [...] qui précède l'ouverture du droit à la rente [...]"; "[...] precedente l'inizio del diritto alla rendita [...]"
) bezogen hätte, sofern er höher ist als der letzte vor dem Unfall oder dem Ausbruch der Berufskrankheit erzielte Lohn."
Für die erstmalige Festlegung des versicherten Verdienstes war hier jedoch
Art. 24 Abs. 3 UVV
massgeblich: "Bezog der Versicherte wegen beruflicher Ausbildung am Tage des Unfalles nicht den Lohn eines Versicherten mit voller Leistungsfähigkeit derselben Berufsart, so wird der versicherte Verdienst von dem Zeitpunkt an, da er die Ausbildung abgeschlossen hätte, nach dem Lohn festgesetzt, den er im Jahr vor dem Unfall als voll Leistungsfähiger erzielt hätte."
Dem Verständnis dient ein Hinweis auf den (im vorliegenden Fall nicht anwendbaren) Abs. 4 von
Art. 24 UVV
, der einen weiteren "Sonderfall" wie folgt regelt: "Erleidet der Bezüger einer Invalidenrente einen weiteren versicherten Unfall, der zu einer höheren Invalidität führt, so ist für die neue Rente aus beiden Unfällen der Lohn massgebend, den der Versicherte im Jahre vor dem letzten Unfall bezogen hätte, wenn früher kein versicherter Unfall eingetreten wäre. Ist dieser Lohn kleiner als der vor dem ersten versicherten Unfall bezogene Lohn, so ist der höhere Lohn massgebend."
3.4
3.4.1
Abs. 2 von
Art. 24 UVV
hat in erster Linie den Sonderfall vor Augen, wo sich der Rentenbeginn zufolge langdauernder Heilbehandlung und entsprechendem Taggeldbezug beträchtlich verzögert (vgl.
Art. 15 Abs. 3 lit. a UVG
;
BGE 127 V 165
E. 3a S. 172 oben;
BGE 147 V 213 S. 218
BGE 123 V 45
E. 3c S. 51;
BGE 118 V 298
E. 3b S. 303). Rechtsprechungsgemäss gelangt diese Bestimmung aber auch bei Rückfällen (oder Spätfolgen) zur Anwendung, die mehr als fünf Jahre nach dem Unfall eingetreten sind (
BGE 140 V 41
E. 6.1.2 S. 44; Urteil 8C_766/ 2018 vom 23. März 2020 E. 5.1), sei es, dass der Rentenanspruch überhaupt erstmals neu entsteht (Urteil U 427/99 vom 10. Dezember 2001 E. 3a, nicht publ. in:
BGE 127 V 456
, aber in: RKUV 2002 Nr. U 451 S. 61 sowie SVR 2002 UV Nr. 17 S. 57; Urteil U 286/01 vom 8. März 2002 E. 2b), sei es, dass er dies nach Befristung der Rente - mithin nach rentenloser Zeit - wieder tut (RKUV 1988 Nr. U 46 S. 217, U 50/86 E. 4b; vgl. zum Ganzen auch: DOROTHEA RIEDI HUNOLD, in: UVG, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, Hürzeler/Kieser [Hrsg.], 2018, N. 33 zu
Art. 15 UVG
).
3.4.2
Nach ebenfalls gefestigter Rechtsprechung greift
Art. 24 Abs. 2 UVV
nur bei der erstmaligen Rentenfestsetzung, nicht aber bei der revisionsweisen Neufestsetzung (
BGE 135 V 279
E. 5.2 S. 284 mit Hinweis unter anderem auf Urteil U 286/01 vom 8. März 2002 E. 2b). Erstmalig meint dabei die Neuentstehung des Rentenanspruchs, die - wie soeben gezeigt - auch nach einer Rentenbefristung und anschliessender rentenloser Zeit in Betracht fallen kann. Davon zu unterscheiden ist die revisionsweise Erhöhung des Rentenanspruchs; dabei handelt es sich nicht um einen neuen Anspruch, und zwar auch nicht im Umfang der Erhöhung des Invaliditätsgrades (
BGE 118 V 293
E. 2b und 2d S. 296 f.). Praxisgemäss wird diesfalls der Rentenbemessung der - nach bisheriger Rechtsprechung als solcher grundsätzlich nicht revidierbare (vgl.
BGE 139 V 28
E. 4.3.2 S. 35;
BGE 127 V 165
E. 3a S. 172;
BGE 119 V 484
E. 4b S. 492;
BGE 118 V 293
E. 2b S. 296) - Jahresverdienst zugrunde gelegt, den die versicherte Person innerhalb eines Jahres vor dem Unfall erzielt hat (
BGE 118 V 293
E. 2b S. 296 betreffend
Art. 78 Abs. 1 und 4 KUVG
; Urteile 8C_257/2013 vom 25. September 2013 E. 3.1; U 286/01 vom 8. März 2002 E. 2b; vgl. ferner
BGE 140 V 41
E. 6.3.3 S. 45 f.). Dies gilt gleichermassen bei den Komplementärrenten gemäss
Art. 20 Abs. 2 UVG
, und zwar auch dann, wenn diese zufolge Änderung der für Familienangehörige bestimmten Rententeile neu festzusetzen sind (
BGE 119 V 484
E. 4b S. 492 f. mit Hinweis auf den Sonderfall gemäss
Art. 24 Abs. 3 und
Art. 33 Abs. 2 lit. c UVV
).
3.4.3
In
BGE 118 V 293
E. 2e und f S. 298 bezeichnete das damalige Eidg. Versicherungsgericht die grundsätzliche Massgeblichkeit
BGE 147 V 213 S. 219
des ursprünglich nach dem Konzept des Vorunfallverdienstes festgelegten versicherten Verdienstes auch im Revisionsfall als "höchst unbefriedigend". Es sei jedoch, wie bereits in
BGE 99 V 19
erwogen, Sache des Gesetzgebers und nicht des Gerichts, die nachteiligen Folgen zu beseitigen oder zu mildern, wenn die Revisionstatbestände lange Zeit nach dem Grundfall einträten. Die Bindung an die betreffende gesetzliche Ordnung wurde vom Bundesgericht seither verschiedentlich bekräftigt (
BGE 140 V 41
E. 6.3.3 S. 45; Urteil 8C_257/2013 vom 25. September 2013 E. 3.2).
3.4.4
Mit der Sonderregel in
Art. 24 Abs. 2 UVV
soll vermieden werden, dass ein Versicherter mit langdauernder Heilbehandlung und einem um mehr als fünf Jahre nach dem Unfall entstehenden Rentenanspruch auf dem vor dem Unfall erzielten Lohn haften bleibt. Andernfalls resultierten vor allem in Zeiten überdurchschnittlich starken Lohnanstiegs stossende Ergebnisse. Angestrebt wird also die Anpassung an die normale Lohnentwicklung im angestammten Tätigkeitsbereich (
BGE 140 V 41
E. 6.4.2.2 S. 47;
BGE 127 V 165
E. 3b S. 171 f.;
BGE 123 V 45
E. 3c S. 51;
BGE 118 V 298
E. 3b S. 303). Daraus folgt, dass im Rahmen von
Art. 24 Abs. 2 UVV
nicht jeder Bezug zur Grundregel von
Art. 15 Abs. 2 UVG
in Verbindung mit
Art. 22 Abs. 4 UVV
(Massgeblichkeit der Verhältnisse vor dem Unfall) entfällt. Bei der Festsetzung des versicherten Verdienstes ist vielmehr beim angestammten Arbeitsverhältnis anzuknüpfen und haben Arbeitsverhältnisse, die erst nach dem Unfallereignis angetreten werden, unbeachtlich zu bleiben (
BGE 127 V 165
E. 3b S. 171 f.). Auch
Art. 24 Abs. 2 UVV
ermöglicht demnach nicht, eine vom Versicherten angestrebte berufliche Weiterentwicklung und damit eine ohne Unfall mutmasslich realisierte Lohnerhöhung mit zu berücksichtigen (
BGE 127 V 165
E. 3b S. 172 f.; RKUV 1999 Nr. U 327 S. 111, U 204/97 E. 3c). Nicht anders verhält es sich nach bisheriger Rechtsprechung, wenn zwischen dem Eintritt des versicherten Ereignisses und der Rentenfestsetzung eine berufliche Veränderung oder Karriereschritte zu höherem Einkommen führen oder ein neues Arbeitsverhältnis mit anderem Lohnniveau angetreten wird. Auch dabei handelt es sich um Änderungen in den erwerblichen Verhältnissen, die bei der Bemessung des für die Rentenberechnung massgebenden Verdienstes gemäss
Art. 24 Abs. 2 UVV
ausser Acht zu bleiben haben (RKUV 1999 Nr. U 340 S. 405, U 303/97 E. 3c). Genauso hatte das Eidg. Versicherungsgericht zuvor bei Saison-Arbeitnehmern entschieden, indem es die noch vor der
BGE 147 V 213 S. 220
Rentenfestsetzung erlangbar gewesene Jahresaufenthaltsbewilligung bei der Festsetzung des versicherten Verdienstes unberücksichtigt liess (
BGE 118 V 298
E. 3b S. 303). Konsequenterweise erachtete es sodann auch die erst nach dem Unfall anfallenden Kinderzulagen als unbeachtlich, obwohl es sich dabei nicht nur um eine hypothetische Änderung der erwerblichen Verhältnisse handelte (vgl. dazu und zum Ganzen:
BGE 127 V 165
E. 3b S. 171 ff.). Im Rahmen dieses Urteils betonte das Höchstgericht, es entspreche dem Willen des Gesetzgebers, dass Veränderungen des vom Versicherten ohne den Versicherungsfall mutmasslich erzielbaren Jahresverdienstes keinen Einfluss auf die Rente der Unfallversicherung haben sollen. Vorbehältlich
Art. 24 Abs. 4 UVV
gelte der erstmalig festgesetzte versicherte Verdienst grundsätzlich für die gesamte Dauer des Rentenanspruchs; insbesondere könne eine spätere Rentenrevision nicht dazu dienen, den massgebenden Jahresverdienst anzupassen (vgl.
BGE 119 V 484
E. 4b S. 492).
Die Grundsätze dieser Rechtsprechung wurden mit E. 3a des Urteils U 427/99 vom 10. Dezember 2001 (nicht publ. in:
BGE 127 V 456
, aber in: RKUV 2002 Nr. U 451 S. 61 sowie SVR 2002 UV Nr. 17 S. 57; Urteil U 286/01 vom 8. März 2002 E. 2b) explizit bekräftigt und auch in der Folgezeit mehrfach bestätigt (vgl. etwa SVR 2020 UV Nr. 37 S. 148, 8C_766/2018 E. 5.2 bis 5.5 sowie SVR 2012 UV Nr. 3 S. 9, 8C_237/2011 E. 3.3 und Urteil 8C_565/2014 vom 23. September 2014 E. 4.2; je mit Hinweisen).
4.
4.1
Die Beschwerdeführerin hatte bei der Berechnung der Komplementärrente von einer Anpassung des versicherten Verdienstes abgesehen, weil im Rahmen eines Revisionsverfahrens rechtsprechungsgemäss (vgl. E. 3.4.2 oben) nicht darauf zurückgekommen werden dürfe und es demnach mit der Festsetzung in der rechtskräftigen Verfügung vom 22. Juni 2011 sein Bewenden habe. Dazu erwog die Vorinstanz, diese Rechtsprechung sei insofern überholt, als das Bundesgericht in jüngerer Zeit davon ausgehe, dass bei gegebenem Revisionsgrund bezüglich eines Sachverhaltselements der Rentenanspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht mit Wirkung für die Zukunft ("ex nunc et pro futuro") umfassend ("allseitig"), unter Berücksichtigung sowohl der medizinisch-gesundheitlichen als auch der beruflich-erwerblichen Situation, ohne Bindung an frühere Beurteilungen zu prüfen sei (vgl.
BGE 141 V 9
E. 2.3 S. 11 mit Hinweisen). Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb diese
BGE 147 V 213 S. 221
neue Rechtsprechung nicht auch auf den versicherten Verdienst anwendbar sein sollte. Damit werde dieser im vorliegenden Revisionsverfahren (bei unbestrittener Erhöhung des Invaliditätsgrades von 25 % auf 100 % und Festlegung einer Komplementärrente) frei überprüfbar.
4.2
In einem Folgeschritt stellte das kantonale Gericht fest, es sei dem Versicherten erstmals ab 1. Mai 1986, ein Jahr nach dem Unfall vom 27. Mai 1985, eine Rente für eine 25%ige Erwerbsunfähigkeit zugesprochen worden. Die Rentenzahlungen seien im Verlauf aufgrund der von der IV im Zuge beruflicher Massnahmen ausgerichteten Taggeldleistungen mehrfach unterbrochen worden. Ebenso habe die Suva die Rentenzahlungen von 1. November 2005 bis 31. Dezember 2009 eingestellt, da der Versicherte während dieser Dauer erwerbstätig gewesen sei. Bezogen auf diese "Leistungseinstellung" hielt die Vorinstanz an anderer Stelle fest, dass der diesbezügliche Sachverhalt trotz Fehlens einer entsprechenden Verfügung aktenkundig und unbestritten sei. Der Versicherte habe demnach eine bis voraussichtlich Ende 2006 befristete Vollzeitstelle angetreten und sei bereit gewesen, derweil auf seine Rente zu verzichten, sofern es mit der Wiederaktivierung keine Schwierigkeiten geben würde. Das am 2. November 2005 angetretene befristete Arbeitsverhältnis sei schliesslich bis Ende Dezember 2009 verlängert worden. Dazu stellte das kantonale Gericht anhand der IK-Auszüge für 2006 bis 2008 und der Lohnabrechnung für November 2009 in erwerblicher Hinsicht fest, der Versicherte habe während der genannten Zeitspanne ein rentenausschliessendes Einkommen erzielt. Damit sei sein "Leistungsfall" mangels Erwerbseinbusse, ungeachtet allfälliger fortbestehender gesundheitlicher Beschwerden "als abgeschlossen zu betrachten". Sein an die Suva gerichtetes Gesuch vom 8. November 2009, mit dem er unter Hinweis auf die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses nebst Erwähnung der ärztlichen Behandlung von Gelenkproblemen auf eine Überprüfung seines Rentenanspruchs abzielte, sei als Rückfallmeldung zu werten. Soweit dem die Suva mit der am 22. Juni 2011 verfügten rückwirkenden Rentenzusprache (ab Januar 2010) Rechnung getragen und dabei den versicherten Verdienst unverändert (gemäss ursprünglicher Rentenverfügung) bei Fr. 31'526.- belassen habe, wäre richtigerweise
Art. 24 Abs. 2 UVV
anwendbar gewesen. Da der versicherte Verdienst - wie gezeigt (vgl. E. 4.1 oben) - revisionsweise frei überprüfbar sei, werde er nunmehr nach dieser Bestimmung festgesetzt.
BGE 147 V 213 S. 222
5.
Die beschwerdeführende Suva beanstandet diese vorinstanzlichen Erwägungen in verschiedener Hinsicht: Zum einen fusse der Rentenanspruch ab Januar 2010 nicht auf einem Rückfall, mithin nicht im Wiederaufflackern einer vermeintlich geheilten Gesundheitsschädigung, sondern - mit dem Stellenverlust auf Ende Dezember 2009 - in veränderten erwerblichen Verhältnissen. Zum andern liege per Januar 2010 nicht ein erstmaliger Rentenneubeginn vor. Denn es gehe um nichts anderes als um die Wiederausrichtung der bereits seit 1. Mai 1986 laufenden Rente nach erfolgter Sistierung während der Dauer der befristeten Anstellung (2. November 2005 bis 31. Dezember 2009), und dies bei unverändertem Invaliditätsgrad sowie gleichbleibendem versicherten Verdienst. Schliesslich habe das kantonale Gericht übersehen, dass nicht die Rente ab 1. Januar 2010, sondern die im Rahmen einer Rentenrevision erhöhte Komplementärrente ab 1. September 2015 Streitgegenstand des Prozesses gewesen sei. Und diesbezüglich habe (ebenfalls) kein Rentenneubeginn im Sinne von
Art. 24 Abs. 2 UVV
zur Diskussion gestanden, was wiederum eine Anwendung dieser Bestimmung ausschliesse.
6.
6.1
Der Beschwerdeführerin ist vorab darin zuzustimmen, dass sich der Streitgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens, ausgehend vom Einspracheentscheid vom 4. Juli 2018 als zugrunde liegendem Anfechtungsobjekt, allein auf den ab 1. September 2015 bestehenden (Komplementär-)Rentenanspruch bezog. Das wurde allerdings auch vom kantonalen Gericht nicht verkannt, indem es letztlich einzig über den Rentenanspruch des Beschwerdegegners ab diesem Zeitpunkt befand.
6.2
Soweit sich dabei das kantonale Gericht über den versicherten Verdienst ausliess und diesen im Zuge des aktuellen Revisionsverfahrens anpassen zu können glaubte, ist ihm jedoch nicht zu folgen:
6.2.1
Derlei bleibt zunächst deswegen verbaut, weil der Rentenanspruch des Beschwerdegegners mit der hier streitbetroffenen Revisionsverfügung (bzw. dem an deren Stelle tretenden) Einspracheentscheid nicht neu entstand, sondern "lediglich" (von 25 % auf 100 %) erhöht wurde. Auf diesen Sachverhalt findet
Art. 24 Abs. 2 UVV
, wie bereits gezeigt (vgl. E. 3.4.2), nach gefestigter Rechtsprechung keine Anwendung. Zu deren Änderung besteht selbst mit Blick auf die im Revisionsverfahren erfolgende allseitige Prüfung (vgl.
BGE 141 V 9
) kein Anlass. Denn auch hier gilt es den mit
BGE 147 V 213 S. 223
Art. 15 Abs. 2 UVG
und den zugehörigen Verordnungsbestimmungen gesteckten normativen Rahmen zu beachten. Und dabei ist namentlich an den Wortlaut des
Art. 24 Abs. 2 UVV
zu erinnern, der sowohl in französischer als auch in italienischer Sprachfassung eindeutig ausfällt: Dort ist (anders als in der deutschsprachigen Fassung) nicht bloss von der Rente die Rede, sondern - sogar wiederholt - vom entsprechenden Recht ("droit à la rente"; "diritto alla rendita"), das mehr als fünf Jahre nach dem Unfall entsteht (vgl. E. 3.3.3 oben). Damit wird die bloss graduelle Veränderung des Rentenanspruchs nicht erfasst. Dass dies nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergeben würde, ist nicht erkennbar, weshalb keine Veranlassung besteht, davon abzuweichen (vgl.
BGE 146 V 129
E. 5.5.1 S. 136 mit Hinweisen). Insofern fällt unter der Geltung des aktuellen Verordnungsrechts eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung und die damit verbundene Ausweitung des Anwendungsbereichs von
Art. 24 Abs. 2 UVV
auf Fälle, in denen es nur um die Erhöhung eines bestehenden Rentenanspruchs geht, ausser Betracht.
6.2.2
Solches hat denn auch die Vorinstanz zu Recht gar nicht erst erwogen. Soweit sie stattdessen ihr Augenmerk auf die (nach Rückzug der Einsprache rechtskräftig gewordene) Verfügung vom 22. Juni 2011 gerichtet hat, womit der Beschwerdegegner nach vorübergehend rentenloser Zeit ab Januar 2010 wieder eine Invalidenrente für eine Erwerbsunfähigkeit von 25 % zugesprochen erhielt, kann ihr indessen nicht gefolgt werden. Auch wenn ihr beigepflichtet würde, dass ab diesem Zeitpunkt der Rentenanspruch des Beschwerdegegners (wieder) neu entstand und darin ein Anwendungsfall von
Art. 24 Abs. 2 UVV
zu erblicken wäre (vgl. E. 3.4.1), hätte dieser Standpunkt mittels Einsprache gegen die damalige Rentenverfügung verfochten werden müssen. Das entsprechende Versäumnis lässt sich entgegen der Vorinstanz selbst im Rahmen der allseitigen Prüfung gemäss
BGE 141 V 9
nicht mehr beheben. Denn der versicherte Verdienst, der von Gesetzes wegen grundsätzlich abstrakt, mithin nach Massgabe des Vorunfallverdienstes festzulegen ist (vgl. E. 3.3.1), zählt als Rentenberechnungsfaktor zu den im Zeitpunkt der Verfügung bzw. des Einspracheentscheids zeitlich abgeschlossenen Sachverhalten. Als solcher hat er folglich an der Rechtskraft und der damit verbundenen Rechtsbeständigkeit teil und kann im Rahmen einer (allein auf den Invaliditätsgrad abzielenden) Revision des Rentenanspruchs im Sinne einer Anpassung für die Zukunft ("ex nunc et pro futuro") nicht erneut überprüft werden (vgl.
BGE 136 V 369
BGE 147 V 213 S. 224
E. 3.1.1 und 3.1.2 S. 373 ff.; vgl. zur Invalidenversicherung
BGE 147 V 133
, sowie MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, N. 134 zu
Art. 30-31 IVG
und URS MÜLLER, Die materiellen Voraussetzungen der Rentenrevision in der Invalidenversicherung, 2003, S. 78 Rz. 281; allgemein vgl. sodann THOMAS FLÜCKIGER, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 56 zu
Art. 17 ATSG
). Als Möglichkeit verbliebe hier lediglich der Weg der prozessualen Revision (
Art. 53 Abs. 1 ATSG
) oder derjenige der Wiedererwägung (
Art. 53 Abs. 2 ATSG
) der Verfügung vom 22. Juni 2011, wobei die Beschwerdeführerin zu letzterer vom Gericht - und zwar auch vom Bundesgericht - nicht verhalten werden kann (
BGE 133 V 50
E. 4.1 S. 52; Urteil 9C_671/2015 vom 3. Mai 2016 E. 4; je mit Hinweisen).
6.2.3 | de |
77039430-3947-49e1-a10c-3bde15529cf1 | Sachverhalt
ab Seite 167
BGE 111 IV 167 S. 167
Am Freitagnachmittag, 30. November 1984, führten das Trucker-Team-Schweiz und der westschweizerische Fahrlehrerverband auf den Autobahnen rund um Bern Bummelfahrten durch als Protest gegen die neuen Vorschriften des Bundesrates über Geschwindigkeitsbeschränkungen und Verkehrsabgaben. An dieser nicht bewilligten Demonstration nahm auch L. teil. Er fuhr während der zwei Runden, die er mitmachte, grösstenteils an der Spitze der Gruppe demonstrierender Fahrzeuge, die durch langsames Fahren auf beiden Spuren der Autobahn den normalen Verkehr verunmöglichen und Staus verursachen wollten. Dieses Ziel wurde erreicht. Durch langsames Fahren auf der ganzen Breite der Autobahn (mit einer Geschwindigkeit von höchstens 50-60 km/h an der
BGE 111 IV 167 S. 168
Spitze) kam es zu Staus, Verkehrsunfällen und einer zeitweiligen Blockierung des Autobahnnetzes.
L. wurde vom Obergericht des Kantons Bern (I. Strafkammer) am 19. September 1985 wegen Teilnahme an einer nichtbewilligten Demonstration und wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln (
Art. 4 Abs. 5 VRV
/
Art. 90 Ziff. 2 SVG ) zu einer Busse von Fr. 500.-- verurteilt. Der Gebüsste führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei zur Neubeurteilung "im Sinne der Erwägungen des Bundesgerichtes" an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Schuldspruch wegen Teilnahme an einer nichtbewilligten Demonstration wurde schon im kantonalen Verfahren nicht angefochten und ist in Rechtskraft erwachsen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde richtet sich ausschliesslich gegen die Bestrafung gemäss
Art. 90 Ziff. 2 SVG
. Dass L. durch seine Fahrweise im Rahmen der Protestveranstaltung gegen
Art. 4 Abs. 5 VRV
verstiess, indem er ohne zwingende Gründe vorsätzlich durch zu langsame Fahrt den gleichmässigen Verkehrsfluss hinderte, ist unbestritten. Die Strafbarkeit der Widerhandlung gegen eine klare Regel der VRV wird in der Beschwerdeschrift nicht in Zweifel gezogen. L. macht jedoch geltend, sein Verhalten sei zu Unrecht unter Ziff. 2 von
Art. 90 SVG
subsumiert und als Vergehen geahndet worden, obschon die Voraussetzungen dieser Bestimmung nicht erfüllt seien.
2.
Art. 90 SVG
erfasst in Ziff. 1 als Übertretung jeden Verstoss gegen Verkehrsregeln des Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften. Ziff. 2 von
Art. 90 SVG
umschreibt den qualifizierten Fall der Verkehrsregelverletzung, für den auch eine Gefängnisstrafe in Betracht fällt. Voraussetzung der höhern Strafdrohung ist einerseits, dass es sich um eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln handeln muss, und anderseits, dass eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen oder in Kauf genommen wird (
BGE 106 IV 49
ff.).
a) Eine unbedachte fahrlässige Bummelfahrt, die andere behindert, aber nicht gefährdet, dürfte kaum je als grobe Verkehrsregelverletzung einzustufen sein. Dagegen verstösst das vorsätzliche Langsamfahren einer Gruppe von Automobilisten zwecks
BGE 111 IV 167 S. 169
planmässiger Behinderung des Verkehrsflusses auf einer Autobahn subjektiv und objektiv in grober Weise gegen die Vorschrift von
Art. 4 Abs. 5 VRV
. Es geht hier um ein bewusst rechtswidriges Verhalten, das sich deutlich abhebt von der grossen Zahl der SVG-Übertretungen, welche auf ein momentanes Versagen, eine kurze Unaufmerksamkeit oder eine ungeschickte Reaktion zurückzuführen sind. Das in Frage stehende Verhalten des Beschwerdeführers beruht auf einem Entschluss, der ruhig überlegt werden konnte. Ungewöhnlich und gravierend ist auch die Dauer der Verfehlung (im Vergleich zur Dauer einer durchschnittlichen SVG-Übertretung). Ein solches auf Behinderung des Verkehrs abzielendes Verletzen von
Art. 4 Abs. 5 VRV
in planmässigem Zusammenwirken mit andern überschreitet das Mass an Schuld und Rechtswidrigkeit, das üblicherweise bei SVG-Widerhandlungen festzustellen ist, bei weitem und muss in jeder Beziehung als grober Verstoss bezeichnet werden.
b) Die Organisatoren und Teilnehmer der Demonstration wollten durch ihre Langsamfahrt auf Autobahnen Staus verursachen. Sie nahmen damit die Gefahr von Auffahr-Kollisionen in Kauf. Diese Folgen des Unternehmens, an dem er mitwirkte, musste auch der Beschwerdeführer erkennen. Jeder Automobilist weiss zur Genüge, welche unangenehmen Auswirkungen Staus auf Autobahnen haben. Wer durch organisierte Langsamfahrt Stauungen hervorruft, nimmt eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer in Kauf.
Die Vorinstanz hat daher das Verhalten des Beschwerdeführers zu Recht unter
Art. 90 Ziff. 2 SVG
subsumiert. Ob der Beschwerdeführer vorwiegend 60 km/h fuhr, wie er behauptet, ist für die strafrechtliche Beurteilung nicht massgebend. Auch die planmässige Beschränkung der Geschwindigkeit auf 60 km/h auf allen Spuren der Autobahn hindert den gleichmässigen Verkehrsfluss und verletzt
Art. 4 Abs. 5 VRV
in grober Weise. | de |
33cfee04-65a0-4946-8fa6-521903f832bd | Sachverhalt
ab Seite 49
BGE 80 II 49 S. 49
A.-
Die Atlas Transatlantic Trading Co. Ltd. in Basel vereinbarte am 18. Juni 1951 mit der Bank Winterstein in Zürich, einem von dieser zu bezeichnenden Mittelsmann in Frankfurt am Main 50'000 USA-$ in kleinen Noten zu übergeben, wogegen die Bank einige Stunden nachher diesen Betrag abzüglich eines Disagios von 2 3/4% = 1375 $ wiederum in kleinen Noten der Atlas in Zürich zur Verfügung zu stellen habe.
Wie vereinbart, gab die Bank am folgenden Tage den Mittelsmann bekannt, dem die Noten in Frankfurt zu übergeben waren. Da es sich um ein in Deutschland verbotenes Devisengeschäft handelte, nannte sie aber nicht dessen wahren Namen Chaim. Mehl, sondern den Decknamen Vogel.
Nachdem die Bank wiederholt ohne Erfolg die Atlas ersucht hatte, den genauen Zeitpunkt der Übergabe des Geldes bekanntzugeben, eröffnete ihr die Atlas mit Schreiben vom 29. Juni 1951, das Geschäft könne nicht zustande kommen, da die Integrität des Vogel von ihren Gewährsleuten ernstlich in Frage gestellt werde. Die Bank antwortete unverzüglich, eine einseitige Aufhebung des vorbehaltlos abgeschlossenen Geschäftes komme nicht in Frage und sie beharre auf der Auszahlung des ihr zustehenden
BGE 80 II 49 S. 50
Betrages von 1375 $. Die Atlas bestritt jede Zahlungspflicht. Im weiteren Briefwechsel hielten beide Parteien an ihrem Standpunkt fest.
B.-
Mit Klage vom 13. Oktober 1951 belangte die Bank die Atlas auf Bezahlung von Fr. 5960.65 (1375 $ zum Kurs vom 18. Juni 1951) nebst 5% Zins seit 1. August 1951.
Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage.
C.-
Das Zivilgericht und das Appellationsgericht von Basel-Stadt, dieses mit Urteil vom 30. Oktober 1953, schützten die Klage im vollen Umfang.
D.-
Mit der vorliegenden Berufung hält die Beklagte am Antrag auf Klageabweisung fest.
Die Klägerin beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Entscheides. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Es ist zunächst von Amteswegen die Frage des anwendbaren Rechts zu prüfen, da von ihr die Zulässigkeit der Berufung abhängt.
Eine Vereinbarung über das massgebliche Recht haben die Parteien beim Vertragsschluss nicht getroffen, und auch in den Prozessschriften haben sie sich nicht auf eine bestimmte Rechtsordnung berufen, was nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts (
BGE 79 II 302
) eine gültige Rechtswahl darstellen würde. Die erste kantonale Instanz hat, ohne zur Frage des anwendbaren Rechtes Stellung zu nehmen, den Streit auf Grund schweizerischen Rechtes entschieden. Das Appellationsgericht hat das schweizerische Recht als anwendbar erklärt, weil das streitige Geschäft mit ihm den engsten räumlichen Zusammenhang aufweise.
Es kann dahingestellt bleiben, ob dort, wo nach kantonalem Prozessrecht mangels Berufung der Parteien auf ausländisches Recht das schweizerische Recht massgeblich ist, das Schweigen der Parteien über die Frage des anwendbaren Rechtes als Unterstellung unter das schweizerische
BGE 80 II 49 S. 51
Recht angesehen werden könnte. Selbst wenn man nämlich nicht so weit gehen wollte, ergäbe sich für das hier streitige Rechtsverhältnis die Massgeblichkeit des schweizerischen Rechtes auf jeden Fall aus dem Grundsatz, dass beim Fehlen einer Rechtswahl das Recht desjenigen Landes anwendbar ist, mit dem der engste räumliche Zusammenhang besteht. Denn beide Parteien sind Schweizerfirmen, das streitige Geschäft wurde in der Schweiz abgeschlossen und die Schlussoperation, die Zahlung von 50'000 $ abzüglich des Agios von 2 3/4%, hatte in Zürich zu erfolgen. Ein Teil der Vertragsausführung, nämlich die Übergabe der 50'000 $ durch den Mittelsmann der Beklagten an den Vertreter der Klägerin, war freilich im Ausland, in Frankfurt am Main, zu vollziehen. Aber dem kommt im Rahmen des ganzen Geschäftes nur untergeordnete Bedeutung zu. Auf die Berufung ist daher einzutreten.
2.
(Ausführungen darüber, dass es sich beim Vertragsverhältnis der Parteien entgegen der Auffassung der Beklagten nicht um einen Auftrag, sondern um einen Vertrag über Sachleistungen - Kauf oder Tausch - handle.)
3.
Gemäss Feststellung der Vorinstanz sind die Parteien darüber einig, dass das von ihnen geplante Devisengeschäft nach deutschem Recht verboten war. Es fragt sich daher, ob der vom schweizerischen Recht beherrschte Vertrag, der gegen deutsches Devisenrecht verstiess, deswegen auch nach schweizerischem Recht nichtig war, nämlich wegen widerrechtlichen oder gegen die guten Sitten verstossenden Inhalts (
Art. 20 OR
).
Der Nichtigkeitsgrund der Widerrechtlichkeit scheidet jedoch zum vornherein aus; denn eine schweizerische Rechtsvorschrift, die allein unter diesem Gesichtspunkt in Betracht fällt, ist nicht verletzt (vgl.
BGE 76 II 40
).
Die Verletzung der in Frage stehenden (nicht näher dargelegten) deutschen Devisenvorschriften durch die Parteien eines dem schweizerischen Recht unterstehenden
BGE 80 II 49 S. 52
Vertrages sodann bedeutet keinen Verstoss gegen die guten Sitten im Sinne von
Art. 20 OR
. Es handelte sich beim vorliegenden Geschäft weder um einen gewöhnlichen (Waren-) Schmuggel noch um einen Devisenschmuggel, da ja nichts geschmuggelt werden sollte; die Dollars sollten in Deutschland bleiben und lediglich dort die Hand wechseln. Die deutsche Wirtschaft, die deutsche Währungs- und Devisenordnung wurden dadurch nicht geschädigt. Es ist deshalb belanglos, ob und inwieweit Schmuggelgeschäfte als solche nach schweizerischem Recht als nichtig zu betrachten sind. Der Verstoss gegen die deutschen Devisenvorschriften als solche aber bewirkt aus den in
BGE 76 II 41
angestellten, auf den vorliegenden Fall ebenfalls zutreffenden Erwägungen nicht, dass das streitige Geschäft nach schweizerischer Auffassung als sittenwidrig zu empfinden wäre und eine Preisgabe des grundlegenden Satzes des schweizerischen Rechts, wonach Verträge zu halten sind, zu rechtfertigen vermöchte.
4.
Der Vertrag der Parteien war somit gültig. Da nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz die von der Beklagten gegen den von der Klägerin bezeichneten Mittelsmann Chaim Mehl alias Vogel vorgebrachten Beanstandungen nicht bewiesen sind, hat die Beklagte sich unberechtigt geweigert, den Vertrag zu halten. Sie hat daher der Klägerin das von dieser geforderte Erfüllungsinteresse, dessen Höhe nicht bestritten ist, zu ersetzen. | de |
25338077-5676-4373-8f5f-e89039d1acb9 | Sachverhalt
ab Seite 330
BGE 147 V 328 S. 330
A.
A.a
Die A. GmbH ist Zulassungsinhaberin des vom Schweizerischen Heilmittelinstitut (Swissmedic) zugelassenen, patentgeschützten Arzneimittels B., das in verschiedenen Dosierungen (5 mg, 10 mg, 20 mg, 30 mg, 40 mg) und Packungsgrössen seit (...) auf der Liste der pharmazeutischen Spezialitäten und konfektionierten Arzneimittel mit Preisen (Spezialitätenliste [SL]) figuriert. Es enthält den Wirkstoff C. und ist zur Behandlung von (...) indiziert.
A.b
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) teilte der A. GmbH mit Rundschreiben vom (...) mit, dass B. der dreijährlichen Überprüfung der Aufnahmebedingungen der in der SL gelisteten Präparate unterzogen werde, und ersuchte um Eingabe der dafür erforderlichen Daten in die bereitgestellte Internet-Applikation bis (...). Insbesondere wurden Angaben zur Wirksamkeit und Zweckmässigkeit sowie - mit Blick auf das Kriterium der Wirtschaftlichkeit - zu den Grundlagen des von der A. GmbH vorgenommenen therapeutischen Quervergleichs (TQV) gefordert. In Bezug auf Letzteren schlug die A. GmbH im Folgenden als Vergleichspräparat insbesondere D. vor, welches ebenfalls den Wirkstoff C. beinhalte und der gleichen Indikation diene. Das BAG orientierte die Zulassungsinhaberin daraufhin dahingehend, dass es B. als Arzneimittel mit bekanntem Wirkstoff betrachte, da vor dessen Einführung bereits die C.-haltigen Arzneimittel E., F. und D. in die SL aufgenommen worden seien. Ein Arzneimittel mit bekanntem Wirkstoff, welches wie B. keinen Generika-Status aufweise, werde bei der Preisüberprüfung wie ein Originalpräparat behandelt, sei aber per Definition als sogenanntes Nachfolgepräparat einzustufen. Sofern ein solches keinen therapeutischen Fortschritt gegenüber dem bisher in der SL aufgelisteten Originalpräparat bringe, werde dem Patentschutz bei der Preisfestsetzung nicht Rechnung getragen. Da ein derartiger therapeutischer Fortschritt in casu zu verneinen sei, werde B. im TQV mit den patentabgelaufenen (...)-Medikamenten G., H. und I. verglichen. Die A. GmbH hielt dem im Nachgang entgegen, dass ein therapeutischer Fortschritt von B. gegenüber D. auf Grund klinischer Daten durchaus belegt sei (höhere Bioverfügbarkeit, tendenziell bessere klinische Wirksamkeit, Möglichkeit einer Feintitration in Schritten von
BGE 147 V 328 S. 331
5 mg). Der TQV sei daher mit D. als Referenzprodukt durchzuführen. Für den Fall, dass es bei einem Vergleich mit den nicht mehr patentgeschützten Arzneimitteln bleibe, seien andere Äquivalenzdosen zu berücksichtigen.
Die Parteien hielten in der Folge an ihren Standpunkten fest. Mit Verfügung vom (...) ermittelte das BAG die Fabrikabgabe- (FAP) bzw. Publikumspreise (PP) von B. in seinem Sinne und nahm per (...) eine Senkung vor.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 15. Juli 2020 ab.
C.
Die A. GmbH lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie der Verfügung des BAG vom (...) beantragen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das BAG zurückzuweisen mit der Auflage, B. im Rahmen des TQV mit Arzneimitteln zu vergleichen, für die Patentschutz bestehe.
Das BAG schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die A. GmbH wiederholt replikweise ihre Anträge.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Zu prüfen ist zunächst in grundsätzlicher Hinsicht, ob, wie vorinstanzlich bejaht,
Art. 65b Abs. 6 KVV
(SR 832.102) - Beurteilung der Wirtschaftlichkeit eines Originalpräparats bei der Aufnahme in die SL - auch anlässlich des dreijährlichen Überprüfungsverfahrens nach
Art. 65d KVV
und
Art. 34f KLV
(SR 832.112.31) Anwendung findet.
4.1
Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen. Auch ist den Grundrechten und verfassungsmässigen Grundsätzen Rechnung zu tragen und zwar in dem Sinne, dass - sofern durch den Wortlaut (und die weiteren massgeblichen normunmittelbaren Auslegungselemente) nicht klar ausgeschlossen - der Verordnungsbestimmung jener Rechtssinn beizumessen ist, welcher im Rahmen des Gesetzes mit der Verfassung (am besten) übereinstimmt (verfassungskonforme oder verfassungsbezogene Interpretation;
BGE 143 V 139
E. 6.1;
BGE 142 V 488
E. 6.2 mit Hinweis auf
BGE 140 V 538
E. 4.3).
BGE 147 V 328 S. 332
4.2
Bei dem vom Bundesrat gestützt auf
Art. 96 KVG
erlassenen
Art. 65b KVV
"Beurteilung der Wirtschaftlichkeit", welcher eine unmittelbare Umsetzung des in
Art. 32 Abs. 1 KVG
verankerten Wirtschaftlichkeitsgebots darstellt (vgl. nicht publ. E. 2.2 und 2.2.1), handelt es sich um eine unselbstständige Verordnungsnorm im Sinne einer Vollziehungsverordnungsbestimmung. Damit sind dem Bundesrat durch das Legalitäts- und Gewaltenteilungsprinzip in vierfacher Hinsicht Schranken gesetzt. Die Vollziehungsverordnung muss sich auf eine Materie beziehen, die Gegenstand des zu vollziehenden Gesetzes bildet (1.), darf dieses weder aufheben noch abändern (2.), muss der Zielsetzung des Gesetzes folgen und dabei lediglich die Regelung, die in grundsätzlicher Weise bereits im Gesetz Gestalt angenommen hat, aus- und weiterführen, also ergänzen und spezifizieren (3.), und darf den Bürgern keine neuen, nicht schon aus dem Gesetz folgende Pflichten auferlegen (4.), und zwar selbst dann nicht, wenn diese Ergänzungen mit dem Zweck des Gesetzes in Einklang stehen (
BGE 142 V 26
E. 5.1 mit Hinweisen; Urteil 2C_60/2018 vom 31. Mai 2019 E. 6.5).
4.2.1
Dass sich
Art. 65b Abs. 6 KVV
für die Aufnahme eines Arzneimittels in die SL innerhalb dieser Schranken bewegt, wird von keiner Seite bestritten. Gemäss
Art. 32 Abs. 2 KVG
werden die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Leistungen periodisch überprüft. Dabei ist zu beachten, dass es explizit der Zielsetzung von
Art. 32 Abs. 2 KVG
entspricht, sicherzustellen, dass die in der SL gelisteten Arzneimittel - als Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) - die Kriterien von
Art. 32 Abs. 1 KVG
(Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungen) jederzeit erfüllen (vgl.
BGE 142 V 26
E. 5.4). Gemäss Sachüberschrift von
Art. 65d KVV
sowie Abs. 1 dieser Bestimmung ist bei der dreijährlichen Überprüfung denn auch zu kontrollieren, ob das betroffene Arzneimittel die Aufnahmebedingungen noch erfüllt. Letztere werden in
Art. 65 KVV
umschrieben, gemäss dessen Abs. 3 ein Arzneimittel unter anderem wirtschaftlich sein muss. Anhand welcher Massstäbe die Wirtschaftlichkeit zu beurteilen ist, regelt
Art. 65b KVV
("Beurteilung der Wirtschaftlichkeit"). Abs. 2 dieser Bestimmung nennt als Elemente der Wirtschaftlichkeitsbeurteilung den Auslandpreisvergleich (APV) und den TQV. Weiter legt Abs. 6 von
Art. 65b KVV
fest, dass die Kosten für Forschung und Entwicklung bei Originalpräparaten stets, bei Nachfolgepräparaten indessen
BGE 147 V 328 S. 333
lediglich bei Vorliegen eines therapeutischen Fortschritts gegenüber dem in der SL aufgeführten Originalpräparat berücksichtigt werden. Dass anlässlich der dreijährlichen Überprüfung der Aufnahmebedingungen diesbezüglich abweichend zu verfahren wäre, sieht
Art. 65d KVV
nicht vor (anders etwa
Art. 65e Abs. 3 KVV
, wonach im Rahmen der Überprüfung der Aufnahmebedingungen von Originalpräparaten nach Patentablauf bei der Wirtschaftlichkeitsbeurteilung die Kosten für Forschung und Entwicklung nicht mehr berücksichtigt werden). Mangels einer speziellen Regelung und auf Grund der Wortlaute von
Art. 65d KVV
und
Art. 65b Abs. 6 KVV
, die keine entsprechenden Einschränkungen enthalten, ist hier die Wirtschaftlichkeit folglich nach Massgabe der in
Art. 65b KVV
definierten Kriterien zu beurteilen. Die Kosten für Forschung und Entwicklung sind mithin auch im Rahmen der dreijährlichen Überprüfung der Aufnahmebedingungen gemäss
Art. 65d KVV
nur beachtlich, wenn es sich beim zu überprüfenden Arzneimittel um ein Originalpräparat respektive um ein Nachfolgepräparat mit therapeutischem Fortschritt gegenüber dem Originalpräparat im Sinne von
Art. 65b Abs. 6 KVV
handelt.
4.2.2
Dieser Schluss wird zusätzlich untermauert durch Sinn und Zweck von Art. 65b Abs. 6 zweiter Satzteil KVV, wodurch verhindert werden soll, dass die Therapiekosten durch neue, nur leicht modifizierte Originalpräparate, deren Wirksamkeit sich nur wenig vom Vorgängerpräparat unterscheidet (sogenannte Scheininnovation; nicht publ. E. 2.2.3), weiterhin auf hohem Preisniveau gehalten werden (vgl. "Änderungen und Kommentar im Wortlaut" der KVV und KLV des BAG zu den per 1. Juni 2015 vorgesehenen Änderungen, S. 7 Ziff. 4 [nachfolgend: Kommentar BAG 1. Juni 2015], abrufbar unter
www.bag.admin.ch
[dazu im Detail nicht publ. E. 2.2.3]). Inwiefern die Anwendung der Bestimmung (auch) bei der dreijährlichen Überprüfung der Zielsetzung von
Art. 32 Abs. 2 KVG
zuwiderlaufen respektive dazu führen sollte, dass der gesetzlichen Regelung nicht gehörig nachgelebt würde, ist nicht erkennbar. Im Gegenteil gebieten es gerade das in
Art. 43 Abs. 6 KVG
statuierte Sparsamkeitsgebot sowie die mit der periodischen Überprüfung gemäss
Art. 32 Abs. 2 KVG
angestrebte Stossrichtung, nämlich die Sicherstellung, dass die Arzneimittel der SL die WZW-Kriterien von
Art. 32 Abs. 1 KVG
jederzeit erfüllen (
BGE 143 V 369
E. 5.3.2;
BGE 142 V 26
E. 5.4), ein infolge von Scheininnovationen unwirtschaftliches Preisniveau möglichst rasch zu senken.
BGE 147 V 328 S. 334
4.3
Insgesamt ist daher - mit der Vorinstanz (in diesem Sinne bereits Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-6093/2018 vom 17. März 2020 E. 6) - davon auszugehen, dass
Art. 65b Abs. 6 KVV
im Rahmen der dreijährlichen Überprüfung der Aufnahmebedingungen gemäss
Art. 65d KVV
anzuwenden ist. Damit besteht vorliegend eine genügende gesetzliche Grundlage dafür, die Berücksichtigung des Patentschutzes bzw. die Kosten für Forschung und Entwicklung beim TQV eines Nachfolgepräparats vom Vorliegen eines therapeutischen Fortschritts abhängig zu machen. Dem opponiert die Beschwerdeführerin vor dem Bundesgericht denn auch nicht länger.
5.
Weiter nachzugehen ist der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht und das BAG B. bundesrechtskonform als Nachfolgepräparat ohne therapeutischen Fortschritt im Sinne von Art. 65b Abs. 6 Teilsatz 2 KVV eingestuft und dessen TQV folglich nur mit nicht patentgeschützten Vergleichsarzneimitteln durchgeführt haben.
6.
6.1
Die Vorinstanz ist - in Bestätigung der Betrachtungsweise des Beschwerdegegners - zur Auffassung gelangt, dass B., welches sich seit (...) auf der SL befinde, ein Nachfolgepräparat darstelle. Bereits bei dessen Aufnahme in die SL habe es andere Arzneimittel mit demselben Wirkstoff (C.) und Indikationsbereich gegeben, weshalb bei der Wirtschaftlichkeitsbeurteilung Art. 65b Abs. 6 Teilsatz 2 KVV zu berücksichtigen sei.
Dem wird in der Beschwerde entgegengehalten, der Schluss des Bundesverwaltungsgerichts, B. sei als Nachfolgepräparat einzustufen, erweise sich als nicht sachgerecht und stelle eine offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts dar.
6.2
Der Begriff "Nachfolgepräparat", wie er in
Art. 65b Abs. 6 KVV
enthalten ist, wird weder im KVG noch in der KVV oder KLV näher erläutert (im Gegensatz zum Originalpräparat: "Als Originalpräparat gilt ein vom Schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic [Institut] als erstes mit einem bestimmten Wirkstoff zugelassenes Arzneimittel, einschliesslich aller zum gleichen Zeitpunkt oder später zugelassenen Darreichungsformen" [
Art. 64a Abs. 1 KVV
]). Einer genauen, nach Auffassung der Beschwerdeführerin durch Auslegung zu ermittelnden Definition bedarf es vorliegend aus nachfolgenden Überlegungen jedoch nicht.
6.3
6.3.1
Auf Grund der Angaben in den einschlägigen Fachinformationen besteht eine Identität bezüglich Wirkstoff und Indikation von
BGE 147 V 328 S. 335
B. und E. Das erstzugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff C. war E.; es wurde in Tablettenform (10 mg) am (...) in die SL aufgenommen. Mit J. und D. erfolgten per (...) respektive (...) die Aufnahmen von neuen galenischen Formen des Originalpräparats (Retardtabletten à 20 mg respektive langwirksame Kapsel mit veränderter Wirkstofffreigabe). Laut - unbestrittener - Auskunft des Beschwerdegegners wurde D. im Vergleich zu E. und K. als Innovation beurteilt, da der Wirkstoff in zwei Peaks freigesetzt wird, und ist immer noch patentgeschützt. B. figuriert seit (...) in Tabletten- und Kapselform auf der SL. D. wie auch B. dienen der Behandlung von (...). Beide Arzneimittel sind ferner für die orale einmal tägliche Verabreichung am Morgen vorgesehen und je als Kapseln zu 10 mg, 20 mg, 30 mg und 40 mg verfügbar. B. ist zusätzlich als Kapsel zu 5 mg erhältlich. Die maximale Dosis beträgt bei beiden Präparaten 60 mg pro Tag.
6.3.2
B. wurde sodann im Rahmen eines vereinfachten Zulassungsverfahrens als Arzneimittel mit bekannten Wirkstoffen (BWS; Art. 14 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte [Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21] in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 der Verordnung vom 22. Juni 2006 des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und die Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren [VAZV; SR 812.212.23]) deklariert. Als BWS gelten Arzneimittel, die einen Wirkstoff enthalten, der bereits in einem anderen von Swissmedic zugelassenen Arzneimittel enthalten ist oder war (
Art. 12 Abs. 1 VAZV
; vgl. auch Ziff. A.2 des vom BAG herausgegebenen Handbuchs betreffend die SL, Stand 2017 [nachfolgend: SL-Handbuch], abrufbar unter
www.bag.admin.ch
). Es wird unterschieden zwischen "BWS ohne Innovation" und "BWS mit Innovation", wobei die Beschwerdeführerin geltend macht, B. sei im Rahmen des Zulassungsverfahrens als Letzteres klassifiziert worden. Damit wird ein Arzneimittel mit beispielsweise einer neuen Indikation, Darreichungsform, Verabreichungsweg, Dosisstärke und/oder Dosierungsempfehlung bezeichnet, wofür die entsprechenden Vorgaben der von Swissmedic herausgegebenen Wegleitungen "Zulassung Humanarzneimittel mit neuer aktiver Substanz HMV4" und "Änderungen und Zulassungserweiterungen HMV4" eingehalten werden müssen (vgl. Wegleitung "Zulassung Humanarzneimittel mit bekanntem Wirkstoff HMV4" von Swissmedic, S. 3 [Stand 1. März 2021]). Ein "BWS ohne Innovation" stellt demgegenüber ein Arzneimittel dar, das sich hinsichtlich Indikation, Darreichungsform,
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Dosisstärke, Verabreichungsweg und Dosierungsempfehlung sowie bezüglich Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit auf ein bereits von Swissmedic zugelassenes Referenzarzneimittel mit gleichem Wirkstoff abstützt. Einig sind sich die Verfahrensbeteiligten dahingehend, dass B. nicht zu den Generika zu zählen ist, die eine Untergruppe der BWS bilden (Ziff. A.2 SL-Handbuch). Als solches wird ein von Swissmedic zugelassenes Arzneimittel bezeichnet, das im Wesentlichen gleich wie ein Originalpräparat und mit diesem auf Grund identischer Wirkstoffe sowie seiner Darreichungsform und Dosierung austauschbar ist (
Art. 64a Abs. 2 KVV
).
6.4
Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, inwiefern die vorinstanzliche Schlussfolgerung, E. bzw. D. sei als Originalpräparat im Sinne von
Art. 64a Abs. 1 KVV
und B. als Nachfolgepräparat gemäss
Art. 65b Abs. 6 KVV
zu qualifizieren, Bundesrecht verletzen sollte.
6.4.1
Namentlich führt der Einwand der Beschwerdeführerin, die Entwicklungsprozesse beider Medikamente seien unabhängig voneinander vorangetrieben worden und weitgehend parallel verlaufen, wobei B. in Europa, so etwa in Deutschland, sogar früher eine Marktzulassung erhalten habe als D., zu keinem anderen Ergebnis. Wie aus dem Wortlaut von Art. 65b Abs. 6 Teilsatz 2 KVV hervorgeht ("... es sei denn, es handelt sich beim Originalpräparat um ein Nachfolgepräparat, das gegenüber dem
bisher in der Spezialitäten
liste aufgeführten
Originalpräparat ..." [Hervorhebung durch das Bundesgericht]), definiert sich das Nachfolgepräparat im Kontext der SL-Wirtschaftlichkeitsbeurteilung respektive -Preisfestsetzung mittels TQV unmissverständlich als zeitlich nach dem Originalpräparat in die SL aufgenommenes Produkt. Dem Zeitpunkt der (heilmittelrechtlichen) Zulassung des fraglichen Medikaments auf einem Markt ausserhalb der Schweiz kann in diesem Zusammenhang keine entscheidwesentliche Bedeutung beigemessen werden.
6.4.2
Ebenso wenig verfängt das Argument der Beschwerdeführerin, der Umstand, dass es sich bei B. um ein "BWS mit Innovation" handle, spreche gegen die Qualifizierung als Nachfolgepräparat. Zum einen wird die diesbezügliche, angeblich anlässlich des Zulassungsverfahrens erfolgte Einstufung lediglich behauptet, ohne dass entsprechende Belege vorgelegt würden. So enthält denn etwa auch die SL-Aufnahmeverfügung des BAG vom (...), wonach die Preisfestsetzung von B. "auf Grund des Preisvergleichs mit D. wegen des
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ähnlichen Wirkungsprofils" und "ohne Innovationszuschlag" vorgenommen wurde, keinen derartigen Hinweis. Selbst wenn im Übrigen von einem Medikament mit dem Prädikat "BWS mit Innovation" auszugehen wäre, schlösse dies die Einordnung als Nachfolgepräparat im Sinne von
Art. 65b Abs. 6 KVV
nicht per se aus. Denn auch diesfalls ginge es um ein Arzneimittel mit einem Wirkstoff, der bereits in einem anderen von Swissmedic zugelassenen Arzneimittel enthalten ist oder war (vgl. E. 6.3.2 hiervor).
6.4.3
Schliesslich vermag auch der in der Beschwerde angeführte Aufwand für Forschung und Entwicklung die Frage, ob ein Arzneimittel als Nachfolgepräparat gemäss
Art. 65b Abs. 6 KVV
angesehen wird, nicht zu beeinflussen. Vielmehr ist der Patentschutz eines Medikaments respektive dessen Kosten für Forschung und Entwicklung bei der Preisbestimmung nur zu berücksichtigen (mit der Folge, dass der TQV mit patentgeschützten Referenzarzneimitteln durchzuführen wäre), wenn - so Art. 65b Abs. 6 Teilsatz 2 KVV - das Nachfolgepräparat einen therapeutischen Fortschritt gegenüber dem Vorgängerprodukt aufweist. Die Bestimmung bezweckt, dass keine Vergütung zulasten der OKP für einen Innovationsaufwand erfolgt, der in Tat und Wahrheit nicht Ergebnis von Forschung und Entwicklung der betreffenden Zulassungsinhaberin, sondern derjenigen des Originalpräparats darstellt. Es soll mit anderen Worten die Honorierung eines medizinisch keinen Zusatznutzen generierenden, auf der Basis eines bereits in der SL gelisteten Präparates entwickelten Arzneimittels, d.h. ein sogenanntes Patent-Evergreening (Einführung einer neuen galenischen Form oder eines neues Salzes eines patentabgelaufenen Wirkstoffs mit dem Ziel, auch nach dem Ablauf des Wirkstoffpatentschutzes von hohen Preisen zu profitieren, ohne dass die neue Form einen therapeutischen Fortschritt darstellt), verhindert werden. Bei Nachfolgepräparaten ohne entsprechenden therapeutischen Fortschritt ist es deshalb nach Auffassung des BAG sogar zulässig, den TQV mit Generika durchzuführen, damit die durch diese möglichen Einsparungen gesichert und die Therapiekosten nicht durch neue, leicht modifizierte Originalpräparate weiterhin auf hohem Preisniveau gehalten werden (vgl. nicht publ. E. 2.2.3).
7.
Zu beurteilen ist in einem nächsten Schritt, ob die vorinstanzliche Feststellung, B. bringe im Vergleich zu D. keinen therapeutischen Fortschritt, gegen Bundesrecht verstösst. Hierbei sind, worauf die
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Vorinstanz korrekt hinweist, primär medizinische und pharmazeutische Fragen zu beantworten, die besondere Fachkenntnisse und Erfahrungen erfordern, weshalb sich das Gericht bei der Überprüfung der darauf beruhenden Entscheide praxisgemäss einer gewissen Zurückhaltung bedient (
BGE 128 V 159
E. 3b/cc;
BGE 118 V 57
E. 5b mit Hinweis).
7.1
Der therapeutische Fortschritt definiert sich anhand des Nutzens eines Arzneimittels für die medizinische Behandlung. Der Innovationszuschlag verdeutlicht den Mehrnutzen eines Medikaments gegenüber einem anderen, bereits auf der SL aufgeführten Arzneimittel (vgl. Kommentar BAG 1. Juni 2015, S. 7 unten, 15 unten und 23 oben). Der Fortschritt respektive therapeutische Mehrwert in der medizinischen Behandlung ist auf der Basis von kontrollierten klinischen Studien zu belegen (Ziff. C.2.2 SL-Handbuch). Unter "wissenschaftlichen Studien" sind in der Regel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften publizierte Doppelblindstudien zu verstehen (Urteil 9C_354/2017 vom 26. Januar 2018 E. 8.1 mit Hinweisen).
Auch wenn an den therapeutischen Fortschritt im Sinne von
Art. 65b Abs. 6 KVV
- und darin ist der Beschwerdeführerin zu folgen - nicht die gleich hohen Anforderungen wie bei der Prüfung eines Innovationszuschlags im Sinne von
Art. 65b Abs. 7 KVV
gestellt werden dürfen (wofür ein
bedeutender
therapeutischer Fortschritt erforderlich ist [Hervorhebung durch das Bundesgericht]; vgl.nicht publ. E. 2.2.1), genügt es für die Annahme eines solchen nicht, dass sich ein Medikament zum Vorgängerpräparat nur unwesentlich unterscheidet (sog. Scheininnovation [siehenicht publ. E. 2.2.3]); diesgilt auch für den Fall, dass ein Arzneimittel heilmittelrechtlich als "BWS mit Innovation" eingestuft wurde (dazu oben E. 6.3.2). Vielmehr muss - grundsätzlich wie beim Innovationszuschlag nach
Art. 65b Abs. 7 KVV
- mittels klinischer Studien rechtsgenüglich nachgewiesen werden, dass sich aus dem veränderten patentgeschützten Element (beispielsweise Indikation, Darreichungsform, Verabreichungsweg, Dosisstärke und/oder Dosierungsempfehlung) ein Vorteil hinsichtlich Wirksamkeit, Sicherheit oder Behandlungscompliance ergibt (vgl.
Art. 32 Abs. 1 KVG
[Wirksamkeitsnachweis mit wissenschaftlichen Methoden] und
Art. 65a KVV
). Denentsprechenden Erwägungen der Vorinstanz ist vollumfänglich beizupflichten. Ist kein solcher Zusatznutzen belegt, besteht trotz etwa der veränderten patentgeschützten Darreichungsform prinzipiell
BGE 147 V 328 S. 339
keine Rechtfertigung dafür, dass im Rahmen des TQV ein Vergleich des Nachfolgepräparats mit patentgeschützten Produkten erfolgt.
7.2
Die Beschwerdeführerin stützt ihre Argumentation, wonach B. einen therapeutischen Fortschritt gegenüber D. aufweise, letztinstanzlich zum einen auf eine höhere Bioverfügbarkeit und somit bessere klinische Wirksamkeit. Indem die Vorinstanzen die diesbezügliche Relevanz und Aussagekraft der von ihr zur Untermauerung eingereichten klinischen Studien verkannt hätten, sei der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig bzw. rechtsverletzend festgestellt worden.
7.2.1
Gemäss der erstgenannten pharmakokinetischen Arbeit des N. UND ANDERE, einer randomisierten Crossover-Studie, konnte bei der Behandlung von 24 Knaben im Alter zwischen neun bis vierzehn Jahren mit (...) während sieben Tagen im Ergebnis eine höhere Serumkonzentration nach Einnahme von B. 20 mg als nach Einnahme von D. 20 mg beobachtet werden.
Mit Vorinstanz und Beschwerdegegner kann bereits in Anbetracht der geringen Anzahl der untersuchten Patienten und des lediglich auf sieben Tage angelegten Untersuchungszeitraums nicht von einer aussagekräftigen Studie gesprochen werden, zumal es auch an der rechtsprechungsgemäss erforderlichen Publikation in einer Fachzeitschrift fehlt. Eine Studie, die sich noch nicht der Diskussion und dem Urteil der Fachwelt gestellt hat, worunter die alleinige Präsentation an einer Fachveranstaltung nicht gezählt werden kann, lässt noch keinen Rückschluss auf einen Vorteil hinsichtlich Wirksamkeit, Sicherheit oder Behandlungscompliance eines veränderten patentgeschützten Elements eines Medikaments zu. Vielmehr müssen die entsprechenden Studien von der Anlage, der Aktualität, dem Beobachtungszeitraum, der Anzahl und Auswahl der Probanden sowie der Art der Durchführung und Auswertung her wissenschaftlichen Standards genügen und entsprechend gesicherte Aussagen zur Wirksamkeit erlauben (vgl. GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 624 Rz. 707). So wurde höchstrichterlich etwa die Auffassung eines Experten bestätigt, wonach Fallzahlen von je nur hundert Patienten in Untergruppen einer Doppelblindstudie zu klein seien, um statistisch genügend abgesicherte Angaben liefern zu können (Urteil K 71/93 vom 25. April 1994 E. 3c, in: SVR 1994 KV Nr. 25 S. 85). Ferner liess das Bundesgericht zur Bestätigung der Langzeitwirkung einen Zeitraum von 52 Wochen für ein Arzneimittel zur
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Raucherentwöhnung (
BGE 137 V 295
E. 6.1.2.2) respektive in Bezug auf ein Präparat gegen Adipositas (Urteil 2A.243/2006 vom 22. Dezember 2006 E. 3.4.4) bzw. von 78 Wochen bei einem auf die Behandlung von Myozymen bei Morbus Pompe zugeschnittenen Medikament (
BGE 136 V 395
E. 6.7) genügen. Unabhängig davon könnte zudem einzig infolge einer höheren Bioverfügbarkeit bzw. einer erhöhten Serumkonzentration im Blut ohnehin noch nicht auf einen therapeutischen Mehrwert im hier geforderten Sinne geschlossen werden; vielmehr müsste sich dies, wie von der Vorinstanz dargelegt, in einem gesteigerten klinischen Nutzen manifestieren.
7.2.2
Die zweite in der Beschwerde angeführte Studie von P. UND ANDERE erfüllt sodann als randomisierte, aktiv- und placebokontrollierte, während insgesamt 21 Tagen (dreimal an je sieben Tagen) durchgeführte Crossover-Doppelblindstudie mit 147 Kindern im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren mit (...) (C.-Responser) zwar allenfalls die Anforderungen an eine beweiskräftige wissenschaftliche Studie. Sie vermag jedoch nach den überzeugenden Erläuterungen des Bundesverwaltungsgerichts so oder anders keine klinisch relevante Überlegenheit von B. gegenüber D. aufzuzeigen. Wohl ergibt sich daraus ein signifikanter Vorteil von D. und B. im Vergleich zum verwendeten Placebo auf der Skala L., die zur (...) entwickelt wurde. Auch konnte während der gesamten Behandlungsdauer eine tendenziell bessere Wirksamkeit von B. gegenüber D. beobachtet werden, wobei die Differenzen bei den Scores L. keine statistische Relevanz erreichten und deshalb von den Studienautoren als klinisch nicht bedeutsam betrachtet wurden. Aus der Studie resultierte letztendlich die (blosse) Feststellung, dass D. B. nicht unterlegen sei.
Die Schlussfolgerung von Vorinstanz und Beschwerdegegner, die besagte Studie könne nicht als ausreichender Beweis für einen therapeutischen Fortschritt im Sinne von
Art. 65b Abs. 6 KVV
gewertet werden, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als offensichtlich fehlerhaft. Es kann damit offenbleiben, ob deren Aussagekraft für die vorstehenden Belange nicht ohnehin auf Grund anderweitiger Faktoren (nur 21-tägiger Untersuchungszeitraum, Erkenntnisse nur mit Blick auf Kinder relevant, die normal frühstücken etc.) anzuzweifeln ist.
7.3
Die Beschwerdeführerin sieht den entscheidwesentlichen Vorteil ferner darin, dass einzig B. die Möglichkeit einer Feintitration in 5 mg-Schritten (2,5 mg pro Freisetzungsphase) biete; damit könne
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zum Nutzen der Patienten und Kostenträger das optimale Therapieergebnis mit einer möglichst niedrigen Wirkstoffdosierung erzielt werden.
Da es jedoch an Belegen fehlt respektive solche von der Beschwerdeführerin jedenfalls nicht beigebracht werden, welche einen aus der Möglichkeit der entsprechenden Feintitration fliessenden klinisch relevanten Mehrnutzen in Bezug auf Wirksamkeit, Sicherheit oder Behandlungscompliance dokumentieren, mangelt es bereits an einem wissenschaftlich gesicherten Nachweis, der es erlauben würde, auf einen therapeutischen Fortschritt nach Massgabe von
Art. 65b Abs. 6 KVV
zu schliessen. Es hat folglich auch in diesem Punkt bei den Ausführungen im angefochtenen Urteil sein Bewenden.
7.4
Nichts Anderes ergibt sich schliesslich mit Blick auf die patentgeschützte Technologie M., die für B. entwickelt wurde. Allein gestützt darauf lässt sich, wie hiervor erwogen (vgl. E. 6.4.3 und 7.1), noch nicht auf einen - hier vorausgesetzten - Vorteil hinsichtlich Wirksamkeit, Sicherheit oder Behandlungscompliance gegenüber dem Originalpräparat schliessen. Ein
irgendwie
gearteter therapeutischer Fortschritt reicht auch im Kontext von
Art. 65b Abs. 6 KVV
jedenfalls nicht aus, um im Rahmen des TQV einen Vergleich des Nachfolgepräparats mit patentgeschützten Produkten zu rechtfertigen (so die vorerwähnte E. 7.1).
7.5
Zusammenfassend haben somit weder Vorinstanz noch Beschwerdegegner das ihnen zustehende Ermessen unsachgemäss oder willkürlich ausgeübt, indem sie infolge der fehlenden wissenschaftlichen Evidenz einen therapeutischen Fortschritt von B. im Vergleich zu dem in der SL gelisteten, patentgeschützten D. gemäss
Art. 65b Abs. 6 KVV
verneint haben. Die Frage, wie erheblich ein ausgewiesener therapeutischer Fortschritt sein muss, damit er im Rahmen der betreffenden Bestimmung bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit eines Nachfolgepräparats Berücksichtigung finden kann, bzw. worin sich dieser qualitativ vom "bedeutenden therapeutischen Fortschritt" nach
Art. 65b Abs. 7 KVV
unterscheidet, braucht daher mit der Vorinstanz nicht abschliessend beantwortet zu werden.
Die Voraussetzungen zur Anwendung von Art. 65b Abs. 6 Teilsatz 2 KVV sind damit erfüllt, weshalb es nicht zu beanstanden ist, dass der Beschwerdegegner darauf verzichtet hat, dem TQV von B. das patentgeschützte Präparat D. als Vergleichsprodukt zugrunde zu legen. Vielmehr wurde dem Patentschutz von B. bei der
BGE 147 V 328 S. 342
Preisüberprüfung aus sachlichem Grund nicht Rechnung getragen und das Medikament mit drei nicht (mehr) patentgeschützten, langwirksamen C.-haltigen Arzneimitteln verglichen. Da gegen letztere respektive deren konkret herangezogenen Referenzgrössen bzw. -dosierungen letztinstanzlich keine Einwendungen erhoben werden und diesbezüglich auch keine Anhaltspunkte für offensichtliche Rechtsverletzungen erkennbar sind, bleibt es beim vorinstanzlichen Urteil und damit bei den vom Beschwerdegegner am (...) verfügten Preisfestsetzungen. | de |
a91d15c1-7ffa-4221-b08f-23ad67ff129c | Sachverhalt
ab Seite 18
BGE 113 IV 17 S. 18
Der am 1. September 1966 geborene S. war am 30. Juni 1983 in ein Erziehungsheim eingewiesen worden. Am 16. Juli 1984 änderte der Jugendgerichtspräsident des Oberlandes die Massnahme in dem Sinne ab, als er an ihre Stelle die Erziehungshilfe treten liess. Am 14. März 1985 musste S. wegen Widerhandlung gegen das BetmG zu einer bedingt aufgeschobenen Haftstrafe von fünf Tagen und zu einer Busse verurteilt werden. Kurz darauf setzte er sich nach Amsterdam ab, wo er erneut zu Drogen griff. Nachdem er am 17. Juni 1985 in die Schweiz zurückgekehrt war, wurde eine sogenannte Nachbegutachtung angeordnet. Angesichts des Umstandes, dass sich S. in einer relativ ruhigen Phase befand, bei seinem Vater wohnte und einer geregelten Arbeit nachging, empfahl der Experte bloss eine ambulante psychiatrische Begleitung und befürwortete nur für den Fall des Versagens eine Änderung der vom Jugendgerichtspräsidenten des Oberlandes angeordneten Erziehungshilfe. Im Januar 1986 gab S. jedoch seine Stelle auf und verschwand erneut nach Amsterdam, wo er sich wiederum dem Drogenkonsum hingab. Während seiner Abwesenheit verurteilte ihn der Gerichtspräsident II von Thun wegen Diebstahls, Veruntreuung, Hehlerei und Widerhandlungen gegen das BetmG und das SVG zu 30 Tagen Gefängnis, unter Aufschub des Strafvollzuges und Anordnung einer ambulanten psychiatrischen Betreuung. Nachdem S. nach fast dreimonatigem Aufenthalt in Amsterdam in die Schweiz zurückgeschafft worden war, wurde er bei einer Familie plaziert, wo er indessen bald darauf weglief. Am 3. Juli 1986 wurde er zur Abklärung einer allfälligen Drogenabhängigkeit in die Psychiatrische Klinik Waldau eingewiesen, die er nach kurzer Zeit völlig unerwartet verliess. Betrunken und verwahrlost wieder aufgefunden, wurde er trotz Cannabiskonsums am Eintrittstage wieder in die Klinik aufgenommen. Als ihm in der Folge wegen seines verletzenden Verhaltens einem Team-Mitglied gegenüber seine Wegweisung bekanntgegeben wurde, entwich er noch am gleichen Abend aus der Klinik.
Am 18. September 1986 änderte das Oberländische Jugendgericht die vom Jugendgerichtspräsidenten angeordnete Erziehungshilfe ab und verfügte die Unterbringung des S. in einem Erziehungsheim. Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte am 27. November 1986 in Anwendung von
Art. 91 Ziff. 1 und
Art. 93
BGE 113 IV 17 S. 19
StGB
diesen Entscheid. Eine dagegen gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde weist der Kassationshof ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer stellt nach dem Sinn seiner Ausführungen einerseits eine materiellrechtliche und anderseits eine verfahrensrechtliche Frage zur Entscheidung. Hinsichtlich beider Punkte erweist sich indessen seine Beschwerde als unbegründet.
a) Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers hat sich mit der Revision der jugendstrafrechtlichen Bestimmungen an der schon im früheren
Art. 93 StGB
vorgesehenen Möglichkeit, eine einmal angeordnete Massnahme durch eine andere, den Erziehungs- oder Behandlungsbedürfnissen des Jugendlichen besser angepasste zu ersetzen, grundsätzlich nichts geändert. Die Sanktionen des Jugendstrafrechts sind weiterhin ausschliesslich auf die Spezialprävention ausgerichtet (REHBERG, Grundriss, Strafrecht II 4. Aufl. S. 89 Ziff. 2), und es ist die Abänderbarkeit der Massnahmen auch heute noch einer der charakteristischen Züge des jugendstrafrechtlichen Massnahmerechts (BBl 1965 I 592; BOEHLEN, Kommentar zum schweizerischen Jugendstrafrecht, N. 3 zu Art. 86 in Verbindung mit N. 2 zu Art. 93). Dieser Gedanke ist denn auch im rev.
Art. 93 Abs. 1 StGB
verankert und hat seinen Niederschlag überdies in den Art. 93ter und 94 Ziff. 2 Abs. 1 in fine StGB gefunden. Der Hinweis der Vorinstanz auf
BGE 80 IV 149
ist deshalb keineswegs verfehlt.
Entsprechend der besonderen Zielrichtung der jugendstrafrechtlichen Massnahmen verpflichtet das Gesetz die vollziehende Behörde, die Erziehung und besondere Behandlung des Jugendlichen stets zu überwachen (
Art. 93bis Abs. 1 StGB
). Erweist sich dabei, dass die angeordnete Massnahme ihren Zweck nicht erfüllt, ist sie von der urteilenden Behörde zu ändern. Das ist nicht nur gegenüber dem ursprünglichen Entscheid möglich, sondern auch gegenüber einem Abänderungsurteil, wobei die Änderung in der Anordnung einer im Verhältnis zur bisherigen mehr oder weniger eingreifenden Massnahme bestehen kann (BOEHLEN, op.cit. N. 3 zu Art. 86 in Verbindung mit N. 2 zu Art. 93; SCHULTZ, Einführung in den AT des Strafrechts II, 4. Aufl. S. 247). Dass die urteilende Behörde - wie der Beschwerdeführer meint - eine Massnahme nur so lange ändern dürfte, als der Jugendliche noch "strafunmündig" ist, lässt sich weder dem Wortlaut noch dem
BGE 113 IV 17 S. 20
Sinn des Gesetzes entnehmen. Eine Änderung der jugendstrafrechtlichen Massnahmen kann vielmehr formell bis zur Erreichung der in
Art. 94 Ziff. 5 StGB
vorgesehenen Höchstaltersgrenzen, d.h. bis zum zurückgelegten 22. bzw. 25. Altersjahr erfolgen (REHBERG, op.cit. S. 101 in Verbindung mit S. 96 oben), auch wenn eine Änderung der Massnahme in der Regel nur so lange als zweckmässig erscheinen wird, als noch ein genügend langer Zeitraum vor dem zurückgelegten 22. bzw. 25. Altersjahr zur Verfügung steht, um die neu angeordnete Massnahme wirkungsvoll durchführen zu können (BOEHLEN, op.cit. N. 6 zu Art. 86 und N. 5 zu Art. 93 und die dortige Auseinandersetzung mit
BGE 76 IV 224
). Als die Vorinstanz im vorliegenden Fall ihren Änderungsentscheid fällte und die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem Erziehungsheim anordnete, war dieser 20 Jahre und 3 Monate alt. Da die fragliche Massnahme aber nach
Art. 94 Ziff. 5 StGB
bis zum zurückgelegten 22. Altersjahr des Jugendlichen dauern kann, ist deren Anordnung unter dem Gesichtspunkt der noch möglichen Dauer nicht zu beanstanden.
b)
Art. 93 Abs. 1 StGB
weist in seiner revidierten Fassung die Befugnis zur Änderung einer getroffenen Massnahme der "urteilenden" Behörde zu. Damit wurde die frühere Regelung, die von der "zuständigen" Behörde sprach, lediglich zum Zweck der Unterscheidung der urteilenden von der vollziehenden Behörde geändert, um klarzumachen, dass Entscheide, durch welche eine jugendstrafrechtliche Massnahme abgeändert wird, eine inhaltliche Änderung eines früheren Urteils bewirken und daher ihrerseits Urteilscharakter haben mit der Folge, dass sie gleich jenem mit den durch das kantonale Verfahrensrecht gegebenen Rechtsmitteln und in letzter Instanz mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden können (Sten.Bull. N 1969, 131; S 1970 S. 109 und 435 f.). Im übrigen aber blieb es den Kantonen anheimgestellt, die urteilende Behörde im Sinne des
Art. 93 StGB
zu bezeichnen (
Art. 369 StGB
). Insoweit sind demnach die Kantone in der Organisation der Jugendrechtspflege frei. Da zu dieser die Änderung von Massnahmen gemäss
Art. 93 StGB
gehört, bestimmt auch das kantonale Recht, welche Behörde diesen Entscheid zu fällen hat, wenn der Jugendliche inzwischen strafmündig geworden ist. Aus Art. 1 Abs. 4 VStGB (1) ergibt sich entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nichts, was zu einem andern Schluss führen müsste. Diese Bestimmung regelt den Fall, dass der Täter sich teils vor, teils nach dem zurückgelegten 18. Altersjahr
BGE 113 IV 17 S. 21
strafbar gemacht hat. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Der Änderungsentscheid der Dreierkammer des Oberländischen Jugendgerichts, den der Beschwerdeführer beim Obergericht angefochten hat, schloss an strafbare Handlungen an, welche er vor dem 18. Altersjahr begangen hatte und Gegenstand eines am 30. Juni 1983 ergangenen Urteils bildeten, in welchem bereits eine Einweisung des damals noch nicht 17jährigen in ein Erziehungsheim angeordnet worden war, welche Massnahme der Jugendgerichtspräsident im Jahre 1984 durch eine Erziehungshilfe ersetzt hatte. Die Tatsache, dass im vorliegenden Fall die Massnahmeänderung vom Jugendgericht angeordnet wurde, verletzt daher das Bundesrecht nicht. Daran ändert der Umstand nichts, dass sich aus einer solchen Ordnung Kollisionen zwischen der jugendstrafrechtlichen Massnahme und einer vom "Erwachsenenstrafrichter" ausgefällten Sanktion ergeben können. Diese lassen sich in analoger Anwendung von Art. 1 Abs. 4 Satz 2 VStGB (1) lösen (s. RStrS 1982 Nr. 381; vgl. auch
BGE 111 IV 6
ff.).
3.
Der Beschwerdeführer wendet schliesslich ein, auch wenn das Urteil des Obergerichtes aus den von ihm bereits angeführten Gründen nicht zu kassieren wäre, müsste es aufgehoben werden, weil es in keiner Weise den Grundsätzen der Verhältnismässigkeit und Zweckmässigkeit Rechnung trage.
Wie der Kassationshof schon unter der Herrschaft der früheren Fassung des
Art. 93 Abs. 1 StGB
- die anlässlich der Revision von 1971 (Inkrafttreten 1.1.1974) bloss geringfügig abgeändert wurde (s. hierzu BOEHLEN, op.cit. N. 1 zu Art. 93) - entschieden hat, ist die urteilende Behörde bei der Änderung der getroffenen Massnahme nur an die gesetzlichen Voraussetzungen gebunden, unter welchen die neue Massnahme überhaupt zulässig ist, und entscheidet sie im übrigen nach ihrem Ermessen (
BGE 80 IV 149
E. 2, s. auch
BGE 99 IV 138
E. 2,
BGE 96 IV 13
E. 3,
BGE 88 IV 98
E. 2). Voraussetzung für die Anordnung einer Einweisung in ein Erziehungsheim ist nach
Art. 91 Ziff. 1 StGB
, dass der Jugendliche einer besonderen erzieherischen Betreuung bedarf. Dass diese Voraussetzung in casu erfüllt ist, steht nach den für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz über das Verhalten des S. seit Juli 1984 ausser jedem Zweifel; aus ihren eingehenden Erwägungen ergibt sich nämlich, dass die vom Jugendgerichtspräsidenten des Oberlandes angeordnete Erziehungshilfe trotz intensiver Betreuung des S. durch die vollziehende Behörde und vorbildlicher Bemühungen des Lehrmeisters klarerweise versagt hat.
BGE 113 IV 17 S. 22
Der Ersatz dieser Massnahme durch eine Einweisung des Beschwerdeführers in ein Erziehungsheim erscheint daher keineswegs als unverhältnismässig, zumal ja auch dem Versuch, den Beschwerdeführer in einer geeigneten Familie unterzubringen, der Erfolg versagt geblieben ist. Wenn die Vorinstanz gestützt auf ein Gutachten, wonach der Beschwerdeführer für die nächsten ein bis zwei Jahre einer stationären Behandlung mit dem Ziel einer Nachreifung und einer beruflichen Ausbildung bedarf, und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zum Ergebnis gelangte, die Einweisung des S. in ein Erziehungsheim sei die einzig zweckmässige Massnahme, so hat sie damit das ihr zustehende Ermessen nicht überschritten und folglich Bundesrecht nicht verletzt. Soweit der Beschwerdeführer versucht, die vorinstanzliche Würdigung des Gutachtens und die daraus gezogenen Schlüsse des Obergerichtes zu entkräften, ist er nicht zu hören. Die Beweiswürdigung des kantonalen Sachrichters und seine darauf gestützten tatsächlichen Feststellungen binden den Kassationshof und können daher mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht bemängelt werden (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
).
Der Einwand aber, der Beschwerdeführer sei in keiner Weise motiviert und habe sich konsequent und regelmässig gegen eine Anstaltseinweisung ausgesprochen, ist unbehelflich. Angesichts seines bisherigen Verhaltens kann diese Einstellung nicht dazu führen, von der durch die kantonalen Behörden angeordneten Massnahme abzusehen; der Eingewiesene soll nicht durch schlechte Führung sich der Anstaltseinweisung entziehen und eine weniger eingreifende Massnahme erzwingen können, wenn er diese für vorteilhafter hält (
BGE 96 IV 15
). Im vorliegenden Fall ruft das wiederholte Versagen des Beschwerdeführers geradezu einer Fortsetzung seiner erzieherischen Betreuung mit den Mitteln einer anstaltlichen Disziplin. | de |
dd2a8e24-2cd7-4ab8-9ee8-cd8e73f44240 | Sachverhalt
ab Seite 367
BGE 101 II 366 S. 367
A.-
Auf ein Gesuch, das die Schad + Frey AG im Auftrag des Verkehrsvereins Grindelwald an die Eidgenössische Vermessungsdirektion gerichtet hatte, erteilte die Eidgenössische Landestopographie mit Schreiben vom 17. Juli 1972 "die einmalige Bewilligung zur Reproduktion und Veröffentlichung" des Übersichtsplan 1:10000 Ausschnitt Schynige Platte - Schwarzhorn - Kleine Scheidegg - Mettenberg für die Herstellung einer Wanderkarte 1:25000 "Grindelwald". Sie nannte die "Reproduktions-Bedingungen" und "Gebühren". Ferner legte sie zwei Formulare "Zahlungsmodus für die Lizenzgebühren der Landeskarten -" bei und bat, eines davon durch den Verkehrsverein Grindelwald ausfüllen, unterzeichnen zu lassen und es danach zurückzuschicken.
Die Schad + Frey AG. sandte das Formular nicht zurück. Trotzdem druckte sie eine Vorauflage von 3000 Stück der Wanderkarte. Dafür stellte ihr die Eidgenössische Vermessungsdirektion am 29. März 1973 Rechnung über Fr. 1'114.35, woran sie am 29. Mai 1973 Fr. 430.-- zahlte.
Da die Eidgenössische Landestopographie der Meinung war, die Schad + Frey AG habe neben dem Übersichtsplan auch die Landeskarte 1:50000 verwendet, stellte sie am 6. April 1973 Rechnung über Fr. 342.--.
Für eine weitere Auflage der Wanderkarte von 40000 Stück forderten die Vermessungsdirektion am 29. August 1973 Fr. 14'858.-- und die Landestopographie am 13. August 1973
BGE 101 II 366 S. 368
Fr. 4'704.--. Die Schad + Frey AG bezahlte nur die genannten Fr. 430.--. Die offenen Forderungen der eidgenössischen Ämter beliefen sich also auf Fr. 20'588.35.
B.-
Namens der Schweizerischen Eidgenossenschaft klagte die Eidgenössische Finanzverwaltung am 23. Oktober 1974 vor dem Appellationshof des Kantons Bern gegen die Schad + Frey AG mit den Begehren:
"1. Es sei der Beklagten unter Androhung der Straffolgen von
Art. 403 ZPO
bis zur Erfüllung der im Rechtsbegehren 2 genannten
Obligationen gerichtlich zu verbieten, die Wanderkarte
1:25000 "Grindelwald" herzustellen, feilzuhalten, zu verkaufen
oder sonst in Verkehr zu bringen.
2. Die Beklagte sei zu verurteilen, der Klägerin einen Betrag von
Fr. 20'588.35 nebst Verzugszins von 5% seit 26. September 1973
zu bezahlen."
Die Beklagte verlangte, es sei auf die Klage nicht einzutreten, eventuell das Verfahren auf die Frage der sachlichen Zuständigkeit zu beschränken. Gemäss diesem Eventualstandpunkt wurde für die Prozessinstruktion verfügt, worauf der Appellationshof am 11. Juni 1975 die Klage mangels Zuständigkeit zurückwies.
C.-
Die Klägerin legte Berufung an das Bundesgericht ein. Sie beantragt, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an den Appellationshof zurückzuweisen. Die Beklagte begehrt die Bestätigung des angefochtenen Entscheides. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das angefochtene Urteil ist ein selbständiger Vorentscheid des obern kantonalen Gerichtes über die sachliche Zuständigkeit. Die Berufung ist daher zulässig (
Art. 49 OG
).
2.
Der Appellationshof erklärt sich als unzuständig, weil nach seiner u.a. auf ein gemeinsames Gutachten der Professoren A. Troller und H. Huber gestützten Ansicht kein zivilrechtlicher, sondern ein verwaltungsrechtlicher Streit vorliege.
a) Unter einem Zivilrechtsstreit versteht die Rechtsprechung ein kontradiktorisches Verfahren zwischen zwei oder mehreren natürlichen oder juristischen Personen in ihrer Eigenschaft als Trägerinnen privater Rechte oder zwischen solchen Personen und einer nach Bundesrecht die Stellung
BGE 101 II 366 S. 369
einer Partei besitzenden Behörde, das sich vor dem Richter oder einer anderen Spruchbehörde abspielt und auf die endgültige, dauernde Regelung zivilrechtlicher Verhältnisse durch behördlichen Entscheid abzielt (
BGE 98 II 149
, 170, 275 und dort erwähnte Entscheide). Ob ein zivilrechtlicher oder ein öffentlichrechtlicher Streit bestehe, bestimmt sich also nach seinem Gegenstand. Die Grenze lässt sich, scheinen auch
Art. 64 BV
und 6 ZGB klare Begriffe vorauszusetzen, nicht nach einheitlichen und durchwegs gültigen Kriterien ziehen; sie ist fliessend und muss, wenn es um die Zuständigkeit des angerufenen Richters geht, jeweilen für das konkrete Rechtsverhältnis ermittelt werden (vgl. KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts S. 20/21; LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl. 1956, N. 1 zu Art. 1).
b) Hiefür hat die Lehre verschiedene Methoden entwickelt. Diese unterscheiden danach, ob anwendbare Rechtssätze private Interessen wahrnehmen oder öffentliche Interessen verfolgen (Interessentheorie), unmittelbar die Erfüllung öffentlicher Aufgaben betreffen (Funktionstheorie), das Verhältnis zwischen Staat und Bürger oder zwischen Bürgern unter sich regeln (Subjektionstheorie), zwischen Staat und Bürger eine Unterordnung oder Gleichordnung zum Gegenstand haben (Subjektionstheorie), zwingend oder nachgiebig sind usw. (vgl. DESCHENAUX, in Schweizerisches Privatrecht II S. 15 ff.; HUBER, zu
Art. 6 ZGB
N. 110 ff., besonders 119 ff.; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 44 ff.; GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 84). Indessen bietet keine dieser Theorien eine schlechthin und umfassend zutreffende Lösung. Die Lehre neigt daher zur Kombination einzelner Merkmale, indem sie zumeist von der Subjektionstheorie ausgeht (DESCHENAUX, a.a.O. S. 18/19; HUBER, a.a.O. N. 130). Auch die Rechtsprechung hat sich nicht einseitig festgelegt (
BGE 96 I 101
, 409, 428, 541;
BGE 99 Ib 120
E. 2; GRISEL, a.a.O. S. 47 ff.).
3.
Das Bundesgesetz über die Erstellung neuer Landeskarten vom 21. Juni 1935 sieht in Art. 1 vor, dass die Erstellung, Veröffentlichung und Unterhaltung neuer Landeskarten Sache des Bundes ist. Diese Regelung beruht auf dem Gedanken, dass es sich bei der Landeskarte schon mit Rücksicht auf die Armee um eine eidgenössische Angelegenheit handle (Botschaft des Bundesrates vom 1. April 1935, BBl 1935 I S. 644).
BGE 101 II 366 S. 370
Sie ist also im öffentlichen Interesse begründet. Dieses war auch dafür massgebend, dass gemäss Art. 2 des Gesetzes "die Urheberrechte, die bei der Bearbeitung und Nachführung der neuen Landeskarten entstehen", an den Bund übergehen (Botschaft des Bundesrates, a.a.O. S. 645). Ist demnach die gesetzliche Ordnung der Landeskartographie öffentlichrechtlicher Art, so gilt das auch für die gestützt darauf vom Bundesrat erlassene Verordnung betr. die Wiedergabe der eidgenössischen Kartenwerke vom 18. Dezember 1953 sowie die gemäss Art. 7 dieser Verordnung vom Eidgenössischen Militärdepartement am 19. Dezember 1953 erlassene Verfügung betr. die Gebühren für die Wiedergabe der eidgenössischen Kartenwerke (AS 1953 S. 1069), die durch die Verfügung betr. Lizenzgebühren für die Wiedergabe der eidgenössischen Kartenwerke vom 27. Dezember 1967 (AS 1968 S. 4) ersetzt wurde. Wie die Ordnung der Landeskartographie ist auch jene über die Grundbuchvermessung öffentlichrechtlicher Natur, nämlich der gestützt auf
Art. 42ter BV
und
Art. 29 SchlT ZGB
erlassene Bundesbeschluss über die Kostenanteile in der Grundbuchvermessung vom 27. September 1967, in Kraft seit 1. Januar 1968, sowie die in Ausführung des
Art. 950 ZGB
und der
Art. 38-42 SchlT ZGB
am 12. Mai 1971 beschlossene Verordnung über die Grundbuchvermessung. Das ergibt sich nicht nur von der Sache her, sondern insbesondere aus dem ihr zugrundeliegenden Verfassungssatz (vgl. auch die Botschaft des Bundesrates vom 17. Januar 1967, BBl 1967 I S. 313 ff.).
4.
Die Klägerin stellt sich im Prozess auf den Standpunkt, die Beklagte habe die Landeskarte und den Übersichtsplan ohne Bewilligung benützt. Sie habe daher nach
Art. 42 ff. URG
zivilrechtliche Ansprüche auf Unterlassung und Schadenersatz, die vom Appellationshof zu beurteilen seien.
a) Art. 2 des zitierten Bundesgesetzes vom 21. Juni 1935 schafft kein eigenständiges Urheberrecht des Bundes an den Landeskarten. Die Vorschrift kann nur anordnen, dass die von den Beamten und Angestellten erworbenen Urheberrechte von Gesetzes wegen auf den Bund übergehen (vgl. Botschaft des Bundesrates, a.a.O. S. 645; Gutachten Troller/Huber, S. 15 ff.). Etwas anderes bestimmt auch die gestützt auf jene Gesetzesbestimmung erlassene Verordnung vom 18. Dezember 1953 nicht. Sinngemäss muss dasselbe gelten für Art. 9 Abs. 1 der Verordnung des Bundesrates über die Grundbuchvermessung
BGE 101 II 366 S. 371
vom 12. Mai 1971, wonach die Urheberrechte an den Vermessungswerken dem Bund, den betreffenden Kantonen und den Gemeinden zustehen. Dabei kann offen bleiben, ob nach den im Ingress der Verordnung genannten Grundlagen eine solche Vorschrift erlassen werden darf. Jedenfalls kommen dem Bund auf beiden Gebieten keine originären, sondern kraft öffentlichrechtlicher Gesetzgebung zwangsweise übertragene Urheberrechte zu.
b) Ob und inwieweit Urheberrechte an Karten und Vermessungswerken zugunsten des Bundes bestehen, ist auf Grund der Vorschriften des URG, also nach Privatrecht zu bestimmen. Denkbar wäre auch, dass der Bund die Verletzung solcher Rechte nach
Art. 42 ff. URG
, also zivilrechtlich verfolgte. Aber darum geht es hier nicht. Die Klägerin hat schon vor Einleitung des Prozesses sich nicht gegen die Verwendung von Karten und Plänen durch die Beklagte aus Urheberrecht verwahrt, sondern dafür nach ihren Tarifansätzen Rechnung gestellt. Sie verlangt auch mit den Klagebegehren weder die absolute Untersagung urheberrechtswidriger Benützung geschützter Werke noch Schadenersatz aus Urheberrechtsverletzung, sondern sie begehrt bloss ein Herstellungs- und Vertriebsverbot für die Wanderkarte "Grindelwald" bis zur Erfüllung nachgenannter "Obligationen" und fordert unter diesem Titel auf den Rappen die ausstehenden Gebührenbeträge. Das Unterlassungsbegehren hat keine selbständige Bedeutung, sondern hängt mit dem Leistungsbegehren funktionell zusammen. Die Klägerin will also im vorliegenden Verfahren tarifarische Ansprüche für die tatsächliche Benützung von eidgenössischen Plan- und Kartenwerken durchsetzen, nicht aber zivilrechtliche Verhältnisse durch den Richter dauernd regeln lassen. Daher kann offen bleiben, ob Art. 9 der Verordnung vom 18. Dezember 1953, wonach Widerhandlungen gegen die darin enthaltenen Vorschriften zivil- und strafrechtlich nach
Art. 42-61 URG
verfolgt werden, gültig sei.
c) Wenn und soweit Urheberrechte an Karten- und Vermessungswerken bestehen, kann der Bund darüber die Benützungsbedingungen mit Dritten nicht privatrechtlich vereinbaren. Die Verordnungen des Bundesrates vom 18. Dezember 1953 und des EMD vom 12. Mai 1971 sehen vor, dass die zuständigen Departemente oder Dienstabteilungen einseitig die Benützung bewilligen und hiefür Grundsätze und Gebühren
BGE 101 II 366 S. 372
festlegen. Der Bund tritt demnach den Privaten obrigkeitlich gegenüber. Das Recht, Pläne und Karten im Umfange eines allfälligen urheberrechtlichen Schutzes zu benützen, beruht nicht auf einer privatrechtlichen Verfügung, sondern auf einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnis mit privatrechtsgestaltender Wirkung und demnach ist auch das zu erbringende Entgelt keine vertragliche Gegenleistung, sondern eine verwaltungsrechtliche Gebühr (vgl. Gutachten Troller/Huber, S. 22/23, 46/47). Ob und inwieweit die Klägerin eine Bewilligung erteilte und welche Gebühr sie gegebenenfalls erheben durfte, beurteilt sich somit nach Verwaltungsrecht. Dabei kann die Verwaltungsgerichtsbehörde die zivilrechtliche Vorfrage beurteilen, ob und inwiefern an Kartenwerken Urheberrechte bestehen (KUMMER, a.a.O. S. 22; LEUCH, a.a.O.).
5.
Die Klägerin ist in Übereinstimmung mit dem Appellationshof auf den Verwaltungsweg zu verweisen. Die direkte verwaltungsrechtliche Klage nach
Art. 116 OG
steht ihr allerdings nicht offen. Aber sie hat die Möglichkeit, gegenüber der Beklagten auf Grund der Tarife für die Benützung von Karten und Plänen eine Verfügung zu erlassen (Art. 5 VwG), welche die Beklagte auf dem Rechtsmittelweg anfechten kann (
BGE 101 Ib 72
ff.). | de |
a400c2e3-0697-458c-9dfc-6816332e7307 | Sachverhalt
ab Seite 149
BGE 111 II 149 S. 149
A.-
X., geb. 1929, dipl. Ingenieur, wohnhaft in Neapel, kam am 16. November 1982 wie schon in den beiden Vorjahren zu
BGE 111 II 149 S. 150
Professor Dr. med. Y., dem Direktor der medizinischen Klinik des Universitätsspitals Zürich, um sich untersuchen zu lassen. Professor Y. empfahl u.a. in der Sprechstunde eine endoskopische Untersuchung des oberen Verdauungstrakts, welche am 17. November von Dr. med. Z., dem Leiter der Abteilung Endoskopie der Klinik, durchgeführt wurde (sog. diagnostische Endoskopie). Auf Anraten von Dr. Z. und Prof. Y. wurde die Entfernung eines kleinen Polypen im Zwölffingerdarm in Aussicht genommen und am 18. November von Dr. Z. ambulant vorgenommen (sog. therapeutische Endoskopie). Dabei kam es zu Komplikationen mit inneren Blutungen, wobei mehrere Operationen nötig wurden und der Patient 23 Tage, bis 10. Dezember 1982 bewusstlos in der Intensivstation des Universitätsspitals lag. Am 7. Januar 1983 konnte er das Spital verlassen.
X. macht geltend, infolge krasser Verletzung der ärztlichen Kunst durch Dr. Z. sei es zu schweren inneren Verletzungen gekommen; deswegen hätten praktisch die ganze Bauchspeicheldrüse und Teile des Magens entfernt werden müssen. Heute sei er nicht mehr in der Lage, beruflichen Verpflichtungen auch nur im bescheidensten Rahmen nachzukommen.
B.-
Am 9. Dezember 1983 erhob X. gegen den Kanton Zürich Klage auf Zahlung von Fr. 3'075'145.10 zuzüglich 5% Verzugszins ab 18. November 1982 auf Fr. 2'990'775.-- und ab 1. Mai 1983 auf Fr. 84'370.10. Der Beklagte beantragte Abweisung der Klage, weil kein Kunstfehler vorliege und weil allenfalls für einen solchen nicht der Kanton, sondern der privatärztlich tätige Prof. Y haften würde; sodann bestritt er weitgehend den behaupteten Schaden.
Replik und Duplik wurden auf die Frage beschränkt, welches Recht anwendbar sei und inwiefern danach der Beklagte oder nur Prof. Y. haftbar gemacht werden könne.
Im Einvernehmen der Parteien wurde einstweilen auf eine Vorbereitungsverhandlung verzichtet (
Art. 35 Abs. 4 BZP
) und eine Beschränkung der Hauptverhandlung auf die genannten Rechtsfragen in Aussicht genommen (
Art. 66 Abs. 3 BZP
). Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Zuständigkeit des Bundesgerichts als einzige Instanz ist gegeben und unbestritten (
Art. 42 OG
). Das gilt auch insoweit, als die Klage sich auf das kantonale öffentliche Recht stützt (
BGE 107 Ib 157
E. 1 mit Hinweisen).
BGE 111 II 149 S. 151
2.
Der Beklagte stellt die Frage in den Vordergrund, ob überhaupt ein ärztlicher Kunstfehler vorliege; dafür komme nicht darauf an, ob Privatrecht oder öffentliches Haftungsrecht zur Anwendung komme. Weil aber die Frage des Kunstfehlers nicht ohne Beweiserhebung beantwortet werden kann, ist vorerst die massgebliche Rechtsgrundlage zu bestimmen.
3.
Das Universitätsspital Zürich ist eine unselbständige öffentlichrechtliche Anstalt des Kantons Zürich. Als Chefarzt bzw. Oberarzt stehen Prof. Y. wie Dr. Z. in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis zum Beklagten (
BGE 101 II 182
E. 2;
BGE 100 Ia 317
E. 3a; §§ 28 ff. der kantonalen Krankenhausverordnung vom 28. Januar 1981).
a) Öffentliche Beamte und Angestellte haften an sich für von ihnen verursachte Schäden nach Bundeszivilrecht (
Art. 41 ff. OR
). Der kantonale Gesetzgeber kann indes abweichende Regeln festsetzen, soweit der Beamte oder Angestellte den Schaden in Ausübung amtlicher Verrichtungen verursacht hat, nicht dagegen bei gewerblichen Verrichtungen (
Art. 61 OR
). Das Gemeinwesen selbst haftet aber für die Schädigung durch seine Funktionäre nur nach Massgabe des öffentlichen Rechts (
Art. 59 ZGB
), es sei denn, es handle sich um gewerbliche Verrichtungen, welche eine Organ- oder Geschäftsherrenhaftung auszulösen vermögen (
Art. 55 ZGB
, 55 OR;
BGE 108 II 335
E. 1,
BGE 101 II 185
mit Hinweisen). Nach der herrschenden Auffassung gilt die Krankenbetreuung in öffentlichen Spitälern, soweit sie von Ärzten in amtlicher Eigenschaft ausgeübt wird, als hoheitliche, nicht als gewerbliche Tätigkeit (
BGE 102 II 47
,
BGE 101 II 183
mit Hinweisen auch auf abweichende Literaturmeinungen). Diese Rechtsprechung ist in einem unveröffentlichten Urteil vom 10. August 1981 nach grundsätzlicher Überprüfung bestätigt worden (Urteil B. gegen Hôpital de la Gruyère, E. 3). Es besteht kein Anlass, darauf zurückzukommen.
b) Soweit der behauptete Schaden in Ausübung amtlicher Tätigkeit der Spitalärzte verursacht worden ist (dazu nachstehend E. 5), richtet sich demnach die Haftung des Beklagten nach kantonalem öffentlichem Recht.
4.
Gemäss § 6 des kantonalen Gesetzes über die Haftung des Staates und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten vom 14. September 1969 (Haftungsgesetz; HG) haftet der Staat für den Schaden, den ein Beamter in Ausübung hoheitlicher Verrichtungen einem Dritten widerrechtlich zufügt (Abs. 1).
BGE 111 II 149 S. 152
Der Beklagte macht geltend, diese Bestimmung erfasse nicht jede dienstliche und amtliche Verrichtung, sondern nur hoheitliche Tätigkeit im engeren Sinn, nämlich Ausübung staatlicher Zwangsgewalt, was auf öffentliche Spitäler nicht zutreffe. Er beruft sich dafür auf die Entstehungsgeschichte und die seitherige Anwendung des Haftungsgesetzes.
a) Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen, ausgelegt werden (
BGE 103 Ia 290
E. 2c mit Hinweisen). Die Materialien fallen nur dann ins Gewicht, wenn sie angesichts einer unklaren gesetzlichen Bestimmung eine klare Antwort geben; sie sind umso weniger zu beachten, je weiter sie zeitlich zurückliegen (
BGE 108 Ia 37
mit Hinweisen).
Der Wortlaut des Haftungsgesetzes ist umfassend und deckt grundsätzlich auch die Tätigkeit in öffentlichen Spitälern. Die Zürcher Kantonalbank und die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich wurden ausdrücklich von der Unterstellung unter das Gesetz ausgenommen (§ 3 Abs. 2), und zwar mit der Begründung, sie übten grundsätzlich gewerbliche Verrichtungen aus und unterstünden daher primär dem Bundesrecht (Beleuchtender Bericht des Kantonsrats für die Volksabstimmung (verfasst vom Regierungsrat), S. 28); warum für öffentliche Spitäler dasselbe gelten sollte, ohne dass es ausdrücklich gesagt wurde, ist nicht ersichtlich.
b) Dass unter den "hoheitlichen Verrichtungen", welche nach § 6 HG eine Staatshaftung auslösen können, etwas anderes zu verstehen wäre als die "amtlichen Verrichtungen", für die das Gemeinwesen nicht kraft Bundeszivilrecht haftet, belegt der Beklagte nicht. Namentlich geben auch die Gesetzesmaterialien für die behauptete Differenzierung nichts her, war doch vorab im Antrag des Regierungsrats an den Kantonsrat (S. 23-24 und 31), aber auch im Beleuchtenden Bericht des Kantonsrats für die Volksabstimmung (S. 26) von "gewerblichen, d.h. nicht hoheitlichen Verrichtungen" die Rede, wobei letztere ausdrücklich mit amtlichen Verrichtungen gleichgestellt wurden. Auch das Bundesgericht versteht unter beidem dasselbe (vgl.
BGE 102 II 47
, 101 II 183).
Dass der Präsident der vorberatenden Kommission in seinem Eintretensreferat im Kantonsrat auch die Tätigkeit der Ärzte an öffentlichen Spitälern zu den gewerblichen Verrichtungen zählte, ist ebenfalls nicht schlüssig, zumal in der Beratung auch das Gegenteil angenommen und vom Kommissionspräsidenten selber in Betracht gezogen worden ist. Hingegen hiess es in der Tat im Antrag des Regierungsrats an
BGE 111 II 149 S. 153
den Kantonsrat, zu den nicht hoheitlichen Tätigkeiten gehöre unter anderem der Betrieb eines Spitals (S. 31) und im Beleuchtenden Bericht des Kantonsrats wurde entsprechend die Tätigkeit von Ärzten an öffentlichen Spitälern zu den gewerblichen Verrichtungen gezählt (S. 26). Diese Äusserungen über den Ausschluss der Spitäler vom Haftungsgesetz finden ihre Erklärung offenbar in einem Prozess, der kurze Zeit zuvor die Zürcher Gerichte beschäftigt hatte und in welchem Bezirksgericht und Obergericht - noch unter der Herrschaft des alten § 224 EG ZGB - angenommen hatten, die Ärzte kantonaler Krankenhäuser hafteten aus gewerblicher Tätigkeit nach Bundeszivilrecht; das Bundesgericht brauchte damals zu dieser Frage nicht Stellung zu nehmen (ZR 62/1963 Nr. 33; vgl. dazu auch
BGE 101 II 184
E. 2a). Die heute herrschende Auffassung hat jedoch dieser Rechtsprechung und damit auch den genannten Äusserungen des historischen Gesetzgebers die Grundlage entzogen. Seither hat denn auch das Bezirksgericht Hinwil gegenteilig entschieden (ZR 76/1977 Nr. 43).
c) Die vom Beklagten vertretene Auslegung würde ausserdem zu Ergebnissen führen, die auch nicht den Absichten des historischen Gesetzgebers entsprochen haben können. Aufgrund der Auffassung des Beklagten müsste dessen Haftung für seine öffentlichen Spitäler nicht nur nach dem Haftungsgesetz, sondern überhaupt verneint werden, weil nach herrschender Auffassung Spitaltätigkeit hoheitlichen Charakter hat und somit die Haftung nach Bundeszivilrecht ausser Betracht fiele (
Art. 59 ZGB
). Der Geschädigte wäre somit allein auf die persönliche Haftung des Spitalpersonals angewiesen. Diesem würde die Berufung auf amtliche Verrichtung nichts helfen, weil Bundeszivilrecht nach
Art. 61 Abs. 1 OR
subsidiär anwendbar wäre. Die vom Beklagten vertretene Auslegung benachteiligt deshalb nicht nur den Geschädigten, sondern auch das Spitalpersonal. Das sind Ungereimtheiten, die im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze finden und seinem Sinn und Zweck zuwiderlaufen.
Auf die amtliche Tätigkeit der Spitalärzte ist deshalb das Haftungsgesetz anwendbar.
5.
Nach Ansicht des Beklagten bezieht sich die Klage indes gar nicht auf die amtsärztliche Spitaltätigkeit, sondern auf die private ärztliche Tätigkeit des Chefarztes. Der Kläger sei zu diesem als Privatpatient gekommen, und der für die Behandlung beigezogene Dr. Z. habe als Hilfsperson des Chefarztes gehandelt.
BGE 111 II 149 S. 154
Der Kläger bestreitet nicht, dass er als Privatpatient zu Prof. Y. gekommen sei, hält aber für entscheidend, dass er von diesem zur Untersuchung und Behandlung an das Spital verwiesen und dann von Oberarzt Dr. Z. behandelt worden sei. Mit der Verweisung an das Spital sei er zu diesem in ein öffentlichrechtliches Verhältnis getreten, gleich wie wenn er von einem frei praktizierenden Arzt zur Untersuchung und Behandlung überwiesen worden wäre. Er macht denn auch Dr. Z. für die Schädigung anlässlich der therapeutischen Endoskopie vom 18. November 1982 wie für vorangehende ungenügende Information über das bestehende Risiko und unverhältnismässige Indikation verantwortlich. Beiläufig erklärt er allerdings auch, Prof. Y. habe die Operationsempfehlung von Dr. Z. bestätigt; doch macht er ihm daraus keinen Vorwurf und behauptet namentlich nicht, der Beklagte habe auch für dieses Verhalten von Prof. Y. einzustehen. Es braucht daher nicht geprüft zu werden, wie es sich mit der Verantwortlichkeit von Prof. Y. verhielte.
a) Nach der Krankenhausverordnung vom 28. Januar 1981 unterstehen die Chefärzte kantonaler Krankenhäuser dem kantonalen Personalrecht (§ 28;
BGE 100 Ia 316
E. 3). Der Regierungsrat kann ihnen bewilligen, Privatpatienten auf eigene Rechnung zu untersuchen und zu behandeln, sei es ambulant in der Sprechstunde, sei es stationär in der Privatabteilung des Spitals (§ 30 Abs. 1). Die Rechnungstellung für das Arzthonorar erfolgt über die Spitalverwaltung, wobei der Arzt 10-30% seiner Einnahmen dem Staat abzugeben hat (§ 30 Abs. 3 und 4). Schliesslich wird bestimmt, dass das Verhältnis der Privatpatienten zu den Ärzten dem Privatrecht untersteht (§ 36 Abs. 3). Im übrigen beruhen die Beziehungen des Spitals zu seinen Patienten, wie sich aus Gesundheitsgesetz, Krankenhausverordnung und Taxordnungen ergibt, auf öffentlichem Recht (
BGE 101 II 185
f. E. 3, 98 Ia 521, ebenso das Verwaltungsgericht Zürich in ZR 79/1980 Nr. 23).
Es ist nicht bestritten, dass Prof. Y. vom Regierungsrat die Führung einer Privatpraxis an drei Nachmittagen pro Woche bewilligt worden ist und dass der Kläger ihn in diesem Rahmen aufgesucht hat.
b) Die Privatarztbewilligung gilt ausdrücklich nur "für persönliche Verrichtungen des Bewilligungsinhabers" (§ 30 Abs. 2). Abweichende Anordnungen sind vorbehalten, werden hier aber nicht behauptet. Die Bewilligung kann sodann bei Abwesenheit des Chefarztes auf einen Stellvertreter übertragen werden; dass Dr. Z.
BGE 111 II 149 S. 155
in diesem Sinn in Abwesenheit von Prof. Y. tätig geworden wäre, wird ebenfalls nicht geltend gemacht. Es ist daher nicht zu untersuchen, wie seine Tätigkeit diesfalls haftungsrechtlich zu beurteilen wäre (vgl. dazu
BGE 82 II 328
). An der Beschränkung der Privatarztbewilligung auf persönliche Verrichtungen des Chefarztes vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die moderne Medizin eine weitgehende Arbeitsteilung erfordert, wie der Beklagte hervorhebt. Es liegt auf der Hand, dass damit gerade eine Abgrenzung gegenüber Beanspruchung von Spitalpersonal angestrebt wird, namentlich wo wie hier ein spezialisierter Oberarzt mit weiterem medizinischen Personal keineswegs einfache Verrichtungen übernimmt. Der Beklagte muss sich bei dieser von ihm getroffenen Ordnung behaften lassen.
c) Ob die Chefärzte ihren Oberärzten für medizinische Verrichtungen an Privatpatienten einen Anteil ihres Honorars überlassen, kann demgegenüber nicht entscheidend sein, zumal das nach Darstellung des Beklagten ein freiwilliges Entgegenkommen der Chefärzte ist. Davon abgesehen bestätigt auch die kantonale Taxordnung für ambulante Patienten, dass sich nur die Entschädigung für die "persönlichen Bemühungen" des Bewilligungsinhabers nach privatärztlichen Grundsätzen richtet, während für Leistungen des Spitals die Taxordnung gilt (§ 2 Abs. 1 und Abs. 2). Es besteht kein Grund zur Annahme und ist auch nicht behauptet, dass danach Endoskopien, wie sie hier vorgenommen wurden, nicht dem Patienten vom Spital in Rechnung gestellt werden.
d) Die massgebende Tätigkeit von Dr. Z. beruht demnach nicht auf der privaten Beziehung zwischen Chefarzt und Privatpatient gemäss § 36 Abs. 3 der Krankenhausverordnung. Sie fällt deshalb in den Anwendungsbereich des Haftungsgesetzes, ohne dass zu prüfen ist, wieweit im übrigen die Behandlung der Privatpatienten nach der kantonalen Ordnung als amtliche (vgl.
BGE 102 II 50
f. E. 2 für das Kantonsspital Olten) oder als private (vgl.
BGE 82 II 325
ff. für das Kantonsspital Aarau) ärztliche Tätigkeit einzustufen ist. | de |
2a75da62-61ce-43f8-a98c-46d74d4314e7 | Sachverhalt
ab Seite 52
BGE 99 Ib 51 S. 52
Aus dem Sachverhalt:
A.-
Die Unfalldirektoren-Konferenz (UDK), ein Verein im Sinne von
Art. 60 ff. ZGB
, umfasst mit Ausnahme der Altstadt Versicherungs-AG, der Lloyd's und der Secura alle Versicherer, die in der Schweiz auf dem Gebiete der Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung (MHV) tätig sind. Im Sommer 1971 unterbreitete sie dem Eidg. Versicherungsamt (EVA) ihre Berechnungen der MHV-Prämien für das Jahr 1972 zur Genehmigung. Die Prämien für die Haftpflichtversicherung von Personenwagen sollten danach im Durchschnitt um rund 18% erhöht werden. Am 14. September 1971 genehmigte das EVA den neuen Prämientarif. Die drei der UDK nicht angeschlossenen Versicherer erklärten in Zuschriften vom 21. und 24. September 1971 ihr Einverständnis mit den bewilligten Tarifänderungen.
B.-
Der Touring-Club der Schweiz (TCS), Dr. W. Müller, Dr. J. Bühler und Dr. W. Renschler, der Automobil-Club der Schweiz (ACS), die Sozialdemokratische Partei der Schweiz und zwei ihrer Mitglieder, der Landesverband Freier Schweizer Arbeiter und drei seiner Mitglieder, der Schweizerische Abstinenten-Verkehrsverband (SAV) und Erwin Wittker fochten die Verfügung des EVA mit Beschwerden beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) an. Das EJPD entschied am 13. September 1972 gestützt auf einen Bericht der von ihm als Experten beigezogenen Professoren M. H. Amsler, Pully, W. Bickel, Zürich, und L. Schürmann, Olten, auf die Beschwerden der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, des Landesverbandes Freier Schweizer Arbeiter und des ACS nicht einzutreten und die anderen Beschwerden abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden konnte.
C.-
Gegen den Entscheid des EJPD erhoben der Touring-Club der Schweiz, Dr. W. Müller, Dr. J. Bühler und Dr. W.
BGE 99 Ib 51 S. 53
Renschler sowie der Schweizerische Abstinenten-Verkehrsverband Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
D.-
Die UDK, die Altstadt Versicherungs-AG, Lloyd's und Secura wie auch das EJPD beantragen in ihren Vernehmlassungen die Abweisung der drei Beschwerden.
E.-
Der Präsident der verwaltungsrechtlichen Kammer stellte auf entsprechende Gesuche der Beschwerdeführer am 18. Oktober 1972 in drei Verfügungen fest, den drei Verwaltungsgerichtsbeschwerden komme nach
Art. 111 Abs. 1 OG
aufschiebende Wirkung zu. Die UDK reichte hiezu am 27. Oktober ein Wiedererwägungsgesuch ein mit dem Antrag, "zu erkennen, dass der eingereichten Beschwerde gestützt auf
Art. 111 Abs. 2 OG
keine aufschiebende Wirkung zukommt". Da das EJPD in der Folge im Zusammenhang mit dem bei ihm angefochtenen Prämientarif 1973 eine ähnliche Frage zu entscheiden hatte und zu erwarten war, dass gegen diesen Zwischenentscheid des Departements Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben würde, verfügte der Präsident der verwaltungsrechtlichen Kammer am 23. November 1972, den Entscheid über das Wiedererwägungsgesuch auszusetzen, bis die verwaltungsrechtliche Kammer die in Aussicht stehende Verwaltungsgerichtsbeschwerde beurteilt habe.
F.-
Der Bundesrat beschloss am 10. November 1971, losgelöst vom Beschwerdeverfahren betreffend den Prämientarif 1972, die schweizerische Kartellkommission mit einer allgemeinen Erhebung über die Wettbewerbsverhältnisse in der MHV beauftragen zu lassen. Die Erhebung sollte in erster Linie der Orientierung einer zuvor vom EJPD eingesetzten Ad-hoc-Studiengruppe dienen, der die Überprüfung aller mit der MHV zusammenhängenden grundsätzlichen Fragen obliegt. In ihrem Bericht, der am 24. Juli 1972 abgeschlossen wurde und am 19. Oktober 1972 im Buchhandel erschien, regt die Kartellkommission u.a. an, den Kreis der an der Gemeinschaftsstatistik beteiligten Versicherer auszuweiten, ohne aber die Aussenseiter dabei zu verpflichten, sich wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen anzuschliessen. Ausserdem hält sie zur Vermeidung überhöhter Tarife für nötig, dass die Kontrolle der Tarifgestaltung und der Prämienfestsetzung verstärkt wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht
BGE 99 Ib 51 S. 54
ist zulässig gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG (
Art. 97 Abs. 1 OG
), die von einer der in
Art. 98 OG
aufgezählten Instanzen stammen und unter keine der Ausnahmebestimmungen der
Art. 99 - 102 OG
fallen. Die beiden letzten dieser drei Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle offensichtlich erfüllt: Der angefochtene Entscheid stammt von einem Departement des Bundesrates (
Art. 98 lit. b OG
).
Art. 99 lit. b OG
, die einzige Ausnahmebestimmung, die hier in Betracht fallen könnte, erklärt zwar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen über Tarife für unzulässig, nimmt aber Verfügungen über Tarife auf dem Gebiete der Privatversicherung ausdrücklich hievon aus. Der angefochtene Entscheid betrifft nun aber gerade Tarife auf dem Gebiete der Privatversicherung. Zu prüfen bleibt somit lediglich, ob er auch eine Verfügung im Sinne von Art. 5 VwG ist. Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG sind nach dem Wortlaut dieser Bestimmung Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen. Der angefochtene Beschwerdeentscheid des EJPD stützt sich, wie schon das Erkenntnis der ersten Instanz, auf das Bundesgesetz betreffend die Beaufsichtigung von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens vom 25. Juni 1885 (VAG), also auf öffentliches Recht des Bundes. Hingegen könnte auf den ersten Blick fraglich scheinen, ob er auch als Anordnung im Einzelfall gelten kann, betrifft er doch eine schwer bestimmbare Vielzahl von Motorfahrzeughaltern als Versicherungsnehmer. Abgesehen davon, dass er sich auf die Prämien für ein bestimmtes Jahr bezieht, richtet er sich als Bestätigung der vom EVA ausgesprochenen Genehmigung aber rechtlich nur an die UDK, der als Verein im Sinne von
Art. 60 ff. ZGB
eigene Rechtspersönlichkeit zukommt. Er regelt mithin einen Einzelfall im Sinne von Art. 5 VwG. Die vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerden sind somit zulässig.
b) Zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den angefochtenen Entscheid sind zunächst auf Grund von
Art. 103 lit. a OG
, wie die UDK anerkennt, alle Halter von Personenwagen berechtigt. Der Entscheid berührt sie, wenn auch bloss indirekt, als Versicherungsnehmer, lässt er doch für 1972 eine Erhöhung der Versicherungsprämie zu. Ihr Interesse an seiner Aufhebung oder Änderung erscheint schutzwürdig. Sowohl Dr. Müller und Konsorten als auch der TCS sind Halter von Personenwagen und als solche somit zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde berechtigt.
BGE 99 Ib 51 S. 55
Dem SAV hingegen fehlt nach Ansicht der UDK die Legitimation zur Beschwerde, da er anscheinend nicht Halter eines Personenwagens ist und ihn auch keine Spezialvorschrift des Bundesrechts im Sinne von
Art. 103 lit. c OG
zur Beschwerdeführung ermächtigt. Das Bundesgericht hat aber in Anlehnung an seine Rechtsprechung zur staatsrechtlichen Beschwerde (
BGE 93 I 127
) entschieden, dass Vereinigungen, die nach ihren Statuten die Interessen ihrer Mitglieder zu wahren haben, zu diesem Zwecke in eigenem Namen Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben können, sofern der angefochtene Entscheid in schutzwürdige Interessen der Gesamtheit oder doch der Mehrheit ihrer Mitglieder eingreift (
BGE 97 I 593
,
BGE 98 Ib 70
). Der SAV bezweckt nach Art. 2 seiner Statuten nicht nur allgemein die Wahrung der Interessen und Rechte der abstinenten Fahrzeugführer, sondern auch die "Erreichung möglichst günstiger Versicherungsprämien für Motorfahrzeugführer" (lit. c und f). Zwar geht aus den Akten nicht hervor, dass tatsächlich die Mehrheit seiner Mitglieder Halter von Personenwagen und somit Versicherungsnehmer sind. Dies darf aber bei der heutigen Verbreitung des Automobils ohne weiteres angenommen werden. Auch der SAV ist somit zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert. Aus denselben Gründen wäre übrigens der TCS selbst dann zur Beschwerde legimiert, wenn er nicht als Halter von Personenwagen auftreten würde.
Auf die im übrigen frist- und formgerecht eingereichten Beschwerden ist somit grundsätzlich einzutreten. Allerdings kann auf sie nur soweit eingetreten werden, als sie sich auf den Prämientarif 1972 der MHV beziehen. Ausserdem kann die Beschwerde des SAV - was praktisch jedoch bedeutungslos ist - nicht als selbständige Beschwerde entgegengenommen werden, soweit sie sich einfach der Beschwerde von Dr. Müller und Konsorten anschliesst. Hingegen ist der SAV, entgegen der Ansicht der UDK, auch insofern zu hören, als er zur Begründung seiner Beschwerde lediglich auf seine Eingaben an die Vorinstanzen verweist, eröffnet doch die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, anders als die staatsrechtliche Beschwerde, auf die sich die von der UDK zitierten Entscheide beziehen, kein unabhängiges, neues Verfahren. Schliesslich kann auf die Beschwerden von Dr. Müller und Konsorten und des SAV nicht eingetreten werden, soweit sie die Frage der Angemessenheit des angefochtenen Entscheids aufwerfen.
Art. 104 lit. c OG
lässt die Rüge der
BGE 99 Ib 51 S. 56
Unangemessenheit abgesehen von zwei hier ohnehin nicht interessierenden Fällen nur zu, wo sie das Bundesrecht ausdrücklich vorsieht (
BGE 98 Ib 3
). Im Gebiete der Aufsicht des Bundes über die privaten Versicherungsunternehmen besteht keine entsprechende Bestimmung. Das Bundesgericht kann den angefochtenen Departementsentscheid deshalb nur auf Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens (
Art. 104 lit. a OG
) sowie auf unrichtige und unvollständige Feststellung des Sachverhaltes (
Art. 104 lit. b OG
) prüfen.
Art. 105 Abs. 2 OG
findet im vorliegenden Falle keine Anwendung.
3.
Dr. Müller und Konsorten weisen darauf hin, dass das EJPD die drei Experten ausgelesen hat, ohne die Parteien dazu anzuhören.
a) Zwar wird in keiner der drei Beschwerden ausdrücklich geltend gemacht, das EJPD habe im Zusammenhang mit der Bestellung der Expertengruppe einen Verfahrensfehler begangen, der zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen müsse. Das Bundesgericht ist aber nicht an die Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerden gebunden (
Art. 114 Abs. 1 OG
). Das EJPD äussert sich denn auch vorsorglich zu dieser Frage. Es erklärt, es habe sich angesichts der Dringlichkeit der Beschwerdeerledigung die für die Abklärung des Sachverhalts nötigen Fachkenntnisse gestützt auf Art. 12 lit. c VwG beschafft. Die drei Professoren hätten nicht als Sachverständige im Sinne von Art. 12 lit. e VwG, sondern als blosse Auskunftspersonen im Sinne von Art. 12 lit. c VwG geantwortet. Damit habe sich aber auch die Beachtung der nach Art. 19 VwG in Verbindung mit
Art. 57, 58 und 60 BZP
bei Einholung eines eigentlichen Sachverständigengutachtens bestehenden Parteirechte erübrigt. Für den Fall, dass eine Verfahrensverletzung angenommen würde, führt das EJPD an, deren Heilung sei im vorliegenden Falle "möglich und... gerechtfertigt"; nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts könne im Verwaltungsverfahren überdies bei besonderer zeitlicher Dringlichkeit ausnahmsweise vom strengen Wortlaut der Vorschriften über die Beweiserhebung abgewichen werden.
Die Auffassung des Departements, der Expertenbericht vom 8. Juni 1972 sei lediglich eine Auskunft von Drittpersonen im Sinne von Art. 12 lit. c VwG, ist unhaltbar. Dies ergibt sich schon aus der Gegenüberstellung von lit. c und lit. e des Art. 12
BGE 99 Ib 51 S. 57
VwG. Wer in einem Verwaltungsverfahren allein um seiner besonderen Fachkenntnis willen zur Abklärung des Sachverhaltes beigezogen wird, wirkt daran als Sachverständiger und nicht als blosse Auskunftsperson mit. Beim Beizug von Sachverständigen hat die Behörde aber auf Grund der Verweisung von Art. 19 VwG die
Art. 57, 58 und 60 BZP
zu beachten, die insbesondere vorschreiben, dass den Parteien Gelegenheit zu geben ist, zur Ernennung der Sachverständigen Stellung zu nehmen und sich zu den Fragen zu äussern, deren Begutachtung beabsichtigt ist. Diese Verfahrensvorschriften hat das EJPD verletzt. Immerhin hat es am 13. Juni 1972 den Beschwerdeführern den Expertenbericht übermittelt und ihnen dabei eine Frist zur Einreichung von "Bemerkungen" angesetzt. Sowohl der TCS als auch Dr. Müller und Konsorten und der SAV haben diese Gelegenheit zur Stellungnahme wahrgenommen, dabei jedoch weder die Auswahl der Experten noch die Formulierung der Expertenfragen gerügt. Zu Recht machen sie deshalb keine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Eine allfällige Verletzung dieses Anspruchs wäre übrigens ohnehin im Verfahren vor Bundesgericht geheilt worden, kann das Gericht doch im vorliegenden Falle den angefochtenen Entscheid in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht frei überprüfen (vgl.
BGE 93 I 656
;
BGE 96 I 188
).
4.
a) Die Verfügung des EVA vom 14. September 1971 stützt sich auf
Art. 2, 4 und 9 Abs. 1 VAG
. Der Bundesrat hat verschiedene der Befugnisse, die ihm diese Bestimmungen einräumen, gestützt auf Art. 23 des BG über die Organisation der Bundesverwaltung vom 26. März 1914 in Art. 20 des BRB betreffend die Zuständigkeit der Departemente und der ihnen unterstellten Amtsstellen zur selbständigen Erledigung von Geschäften vom 17. November 1914 dem EVA übertragen. Nach
Art. 2 und 4 VAG
haben die privaten Versicherungsunternehmen der Aufsichtsbehörde von jeder Änderung ihrer allgemeinen Versicherungsbedingungen und ihrer Prämientarife Kenntnis zu geben. Nach der Rechtsprechung müssen solche Änderungen von der Aufsichtsbehörde genehmigt werden, bevor sie angewendet werden dürfen (
BGE 80 I 70
ff.).
Art. 9 Abs. 1 VAG
ermächtigt die Aufsichtsbehörde, jederzeit die ihr durch das allgemeine Interesse und dasjenige der Versicherten geboten erscheinenden Verfügungen zu treffen.
b) Im vorliegenden Falle fragt sich, welches der Zweck und
BGE 99 Ib 51 S. 58
die Grenzen dieser Befugnisse des EVA sind. Verfassungsmässige Grundlage des Versicherungsaufsichtsgesetzes bildet
Art. 34 Abs. 2 BV
. Diese Vorschrift ermächtigt den Bund auf dem Gebiete des Versicherungswesens zu gewerbepolizeilichen Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit (BURCKHARDT, Komm. BV 3. A. S. 283/286; FLEINER/GIACOMETTI, Schweiz. Bundesstaatsrecht S. 304). Nach einhelliger Auffassung von Lehre und Rechtsprechung kommt dem VAG dementsprechend ausschliesslich gewerbepolizeilicher Charakter zu (ROELLI/KELLER, Komm. zum VVG Bd. I S. 27; KOENIG, Schweizerisches Privatversicherungsrecht S. 53 ff.; HAYMANN, La surveillance des sociétés d'assurance en Suisse, Diss. Genf 1932 S. 34; LOCHER, Die Gesetzgebung betreffend die staatliche Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmungen in der Schweiz, Diss. Leipzig 1934 S. 17; HATZ, Entwicklung, Aufgaben und Abgrenzung der Staatsaufsicht über die privaten Versicherungsunternehmungen in der Schweiz, Diss. Zürich 1951 S. 13; WYRSCH, Die schweiz. Staatsaufsicht über die Rückversicherung, Diss. Zürich 1957 S. 43 ff.;
BGE 76 I 239
; vgl. auch Art. 1 des Vorentwurfs vom 2. Dezember 1971 für ein neues Versicherungsaufsichtsgesetz). Sein Zweck beschränkt sich somit auf den Schutz der öffentlichen Ordnung, die Wahrung von Sicherheit, Ruhe, Gesundheit und Sittlichkeit und von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr. Ursprünglich stand dabei der Schutz der Versicherten vor Insolvenz des Versicherers im Vordergrund (vgl.
Art. 9 Abs. 2 VAG
). Schon bei der Ausarbeitung des Gesetzes kam aber zum Ausdruck, dass die Staatsaufsicht über die privaten Versicherungsunternehmen auch der Verhinderung von Missbräuchen der Versicherer dienen müsse. In Anknüpfung an diesen Gedanken hat das Bundesgericht in der Folge erklärt, das EVA habe vor der Genehmigung von Prämientarifen nicht nur zu prüfen, ob die vorgesehenen Prämiensätze das versicherungstechnisch erforderliche Minimum nicht unterschritten, sondern auch darüber zu wachen, dass das Publikum nicht übervorteilt werde (
BGE 76 I 242
;
BGE 84 I 145
). Im Unterschied zur älteren Literatur (HAYMANN, a.a.O. S. 63) teilen verschiedene neuere Autoren grundsätzlich diese Auffassung (HATZ, a.a.O. S. 20; WYRSCH, a.a.O. S. 46-51; HUNGERBÜHLER, Die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Versicherungsvertrag, Diss. Bern 1972 S. 59). An ihr ist im vorliegenden Falle festzuhalten. Dabei versteht sich, dass die Pflicht der
BGE 99 Ib 51 S. 59
Aufsichtsbehörde, den Versicherten vor Übervorteilung zu schützen, nicht etwa die Kompetenz einschliesst, die "gerechte" Prämie zu ermitteln und verbindlich festzulegen. Die Aufsichtsbehörde hat nur gerade soweit in das privatrechtliche Verhältnis zwischen Versicherer und Versichertem einzugreifen, als dies der Schutz des Versicherten vor Übervorteilung erfordert. Weitergehende Eingriffe lassen sich vor der Handels- und Gewerbefreiheit nicht halten. Zwischen der versicherungstechnisch gerade noch genügenden und der übersetzten Prämie besteht ein Spielraum, den der Versicherer nach dem heute geltenden Recht bei der Prämienfestlegung frei benützen darf.
c) Nach Ansicht des TCS rechtfertigen der obligatorische Charakter der MHV, ihr sozialpolitisches Ziel und die Konzentration des MHV-Geschäfts auf wenige Versicherer, der Aufsichtsbehörde hier weitergehende Befugnisse zuzuerkennen, als in den anderen Versicherungssparten. Auf den obligatorischen Charakter der MHV weisen auch Dr. Müller und Konsorten hin.
Bereits in
BGE 76 I 245
hat das Bundesgericht festgehalten, dass das Obligatorium der MHV keine besonderen Befugnisse der Aufsichtsbehörde in diesem Versicherungszweig begründet, dass Wesen und Zweck der Aufsicht hier nach dem geltenden Recht dieselben sind wie in allen anderen Versicherungssparten und dass das Obligatorium seinen Zweck - dem Geschädigten einen leistungsfähigen Schuldner zu stellen - bereits erreicht, wenn die Solidität des Versicherers gesichert ist. Dies gilt nach wie vor. Der Gesetzgeber hat die Aufsicht über die MHV in keiner Weise strenger ausgestaltet als die Aufsicht über die anderen Versicherungszweige. Es ist nicht Sache des Gerichts, sie an Stelle des Gesetzgebers weiter auszubauen; dies um so weniger, als gegenwärtig eine Revision des Versicherungsaufsichtsgesetzes in Aussicht steht. Auch die vom TCS angerufene sozialpolitische Zielsetzung der obligatorischen MHV und die Marktkonzentration in dieser Versicherungssparte begründen keine Ausdehnung der Aufsicht über den Rahmen der ihr zugrundeliegenden gewerbepolizeilichen Vorschriften hinaus, solange Verfassung und Gesetz nichts anderes bestimmen. Zur Wahrung privater und öffentlicher Interessen, die durch die "oligopolistische" Marktstruktur der MHV (vgl. Bericht der Kartellkommission S. 157) beeinträchtigt werden, bestehen übrigens auf Grund des Kartellgesetzes besondere Klagemöglichkeiten, die
BGE 99 Ib 51 S. 60
für Eingriffe der Aufsichtsbehörde keinen Raum lassen (
Art. 6 und 22 KG
). Wenn die Kartellkommission in ihrem Bericht anregt, die Überprüfung der Tarifgestaltung und der Prämienfestsetzung in der MHV zu verstärken, so redet sie damit nicht einer Ausdehnung der Aufsichtsbefugnisse das Wort. Offenbar geht es ihr, jedenfalls de lege lata, nur darum, die technische Kontrolle so zu verbessern, dass überhöhte Prämien wirklich verhindert werden können (S. 168). Damit geht sie aber nicht über das hinaus, was hier zum Umfang der Aufsicht über die MHV gesagt worden ist.
5.
Das EVA und auf Beschwerde hin das EJPD haben bei der Kontrolle der Prämientarife der MHV, wie gesehen, Minimal- und Maximalansätze zu bestimmen und damit den Spielraum abzugrenzen, der den Versicherern bei der Prämienfestlegung offen steht. Dabei verfügen sie, was die UDK offenbar verkennt, über ein weites Ermessen. Das Bundesgericht prüft lediglich, ob dieses Ermessen missbraucht oder überschritten wurde.
Im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde können grundsätzlich auch neue Tatsachen berücksichtigt werden, selbst solche, die erst seit Fällung des angefochtenen Entscheides eingetreten sind. Im vorliegenden Falle, wo es um die Prüfung des Prämientarifs für ein bestimmtes bereits abgelaufenes Jahr geht, dürfen dem Entscheid des Bundesgerichts im Hinblick darauf, dass er in der Sache Rückwirkung entfaltet, jedoch nur diejenigen Tatsachen zugrundegelegt werden, die bereits im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheides bekannt waren. | de |
393fff59-6bb2-4113-a86c-b402a8f75c10 | Sachverhalt
ab Seite 251
BGE 132 II 250 S. 251
Am 28. September 2000 schlossen Dr. med. X. einerseits sowie die Klinik S. AG und die Klinik T. AG andererseits eine Vereinbarung, in welcher die Anstellung des Ersteren als Belegarzt am Kompetenzzentrum für Kiefer- und Gesichtschirurgie der beiden Spitäler geregelt wurde. Nachdem X. diese Stelle nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt antreten konnte, verzichtete er in der Folge definitiv auf die Anstellung bei den Kliniken und folgte stattdessen einer Berufung als Ordinarius an die Universität Zürich.
Am 23. April 2003 haben die Klinik S. AG und die Klinik T. AG beim Obergericht des Kantons Zürich Klage gegen X. eingereicht und dessen Verurteilung zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von rund 3,5 Mio. Franken verlangt. In diesem Forderungsprozess wurden sie von Rechtsanwalt B. vertreten. Dieser war Büropartner von Rechtsanwalt A., welcher im Auftrag der Kliniken die Vereinbarung mit X. ausgearbeitet hatte. Im Januar 2004 übergab B. infolge Austritts aus der Kanzlei das Mandat dem - ebenfalls im gleichen Anwaltsbüro tätigen - Rechtsanwalt C. Letzterer hatte X. und drei Arztkollegen beraten, als diese im Hinblick auf die Tätigkeit im Kompetenzzentrum für Kiefer- und Gesichtschirurgie untereinander einen Partnerschaftsvertrag aushandelten; an den entsprechenden Arbeiten war auch Rechtsanwalt A. beteiligt gewesen.
Am 2. Februar 2004 gelangte X. wegen angeblicher "Doppelvertretung" an die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich, welche ein Disziplinarverfahren wegen "Verletzung der Berufsregeln sowie Zutrauenswürdigkeit" eröffnete, das sie alsdann mit Entscheid vom 2. September 2004 einstellte. Die Aufsichtskommission hielt fest, A. sei Anwalt der Kliniken und habe die Vereinbarung vom 28. September 2000 in deren Auftrag ausgearbeitet. Es sei ihm und seinen Kanzleikollegen deshalb unbenommen, die Kliniken im Schadenersatzprozess gegen X. zu vertreten. Zwar seien die beschuldigten Rechtsanwälte auch für Letzteren tätig gewesen, aber nur hinsichtlich des Partnerschaftsvertrags, der das Innenverhältnis zwischen den beteiligten Ärzten regle und
BGE 132 II 250 S. 252
offensichtlich in keinem sachlichen oder rechtlichen Konnex zum Verhältnis zwischen X. und den Kliniken stehe.
Am 15. Oktober 2004 erhob X. "Beschwerde" beim Bundesgericht (2A.604/2004), wobei das Verfahren antragsgemäss sistiert wurde. Nachdem die Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich mit Beschluss vom 10. Juni 2005 auf den Rekurs von X. nicht eingetreten war, nahm das Bundesgericht das Verfahren 2A.604/2004 wieder auf und gab X. Gelegenheit, sich zu dessen Fortgang zu äussern.
Am 12. Juli 2005 reichte X. dem Bundesgericht eine als "Beschwerde/Beschwerdeergänzung" bezeichnete Rechtsschrift ein (2A.447/2005). Er stellt verschiedene - zum Teil nur schwer verständliche - Anträge, wobei er sinngemäss insbesondere die Aufhebung der Beschlüsse der Verwaltungskommission des Obergerichts und der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte verlangte; Erstere sei anzuweisen, auf seinen Rekurs einzutreten, und Letztere, "das gesetzliche Verfahren durchzuführen".
Das Bundesgericht hat die beiden Verfahren vereinigt und ist auf die Beschwerde gegen den Beschluss der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich nicht eingetreten, während es die Beschwerde gegen den Beschluss der Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich abgewiesen hat, soweit es darauf eingetreten ist. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer sieht die Disziplinwidrigkeit im Umstand, dass die beschuldigten Rechtsanwälte als Vertreter der Klinik S. AG und der Klinik T. AG einen Schadenersatzprozess gegen ihn vor dem Zürcher Obergericht führen. Die entsprechende Forderungsklage wurde am 23. April 2003 und damit nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA; SR 935.61) eingereicht. Ob ein Disziplinarverstoss vorliegt, beurteilt sich deshalb nach den einschlägigen Bestimmungen dieses Gesetzes, so dass der letztinstanzliche kantonale Entscheid grundsätzlich der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterliegt (vgl.
BGE 129 II 297
E. 1.1 S. 299). Dementsprechend sind die Eingaben des Beschwerdeführers als Verwaltungsgerichtsbeschwerden entgegen zu nehmen.
3.
Auf die direkt gegen den Entscheid der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte eingereichte erste Beschwerde (2A.604/2004)
BGE 132 II 250 S. 253
ist allerdings mangels Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs nicht einzutreten: Das kantonale Recht hat für Disziplinarentscheide der Aufsichtsbehörde eine Rekursmöglichkeit an eine Gerichtsbehörde zur Verfügung zu stellen.
Art. 98a OG
verpflichtet die Kantone für Streitigkeiten, in denen die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht zulässig ist, zur Bestellung "richterlicher Behörden" als letzte kantonale Instanz. Der Kanton Zürich hat eine entsprechende Rekursmöglichkeit eingerichtet; bis Ende 2004 konnte insoweit an die Verwaltungskommission des Obergerichts gelangt werden (§ 7 der Verordnung vom 15. Mai 2002 betreffend die Anpassung des kantonalen Rechts an das eidgenössische Anwaltsgesetz), während seit dem 1. Januar 2005 nunmehr das Verwaltungsgericht zuständig ist (§ 38 des neuen Zürcher Anwaltsgesetzes vom 17. November 2003 [AnwG/ZH]). Erst Entscheide dieser Behörden stellen Gerichtsentscheide im Sinne von
Art. 98a OG
dar, die Anfechtungsobjekt einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht bilden können. Dieses Rechtsmittel steht nach dem Gesagten gegen Entscheide unterer Instanzen nicht zur Verfügung, wobei die Pflicht zur Erschöpfung des Instanzenzugs auch dann gilt, wenn die vom Beschwerdeführer beanspruchte Legitimation zweifelhaft ist oder - wie hier - gemäss Formulierung der Rechtsmittelbelehrung nicht gegeben wäre.
4.
Grundsätzlich zulässig ist demgegenüber die zweite, gegen das Urteil der Verwaltungskommission des Obergerichts erhobene Beschwerde (2A.447/2005). Zwar stützt sich der angefochtene Nichteintretensentscheid auf kantonales Verfahrensrecht. Er könnte jedoch die richtige Anwendung des Bundesrechts vereiteln, falls das Vorliegen einer nach dem eidgenössischen Anwaltsgesetz zu ahndenden Disziplinarwidrigkeit zu Unrecht verneint worden sein sollte; deshalb steht der Weg der Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen (vgl.
BGE 127 II 264
E. 1a S. 267).
4.1
Im vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahren ist einzig die Frage der Legitimation des Beschwerdeführers zu prüfen: Ist dieser nach
Art. 103 lit. a OG
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die unterbliebene Disziplinierung berechtigt, hätte ihm die kantonale Rechtsmittelinstanz aufgrund von
Art. 98a OG
die Legitimation zum Rekurs ihrerseits nicht absprechen dürfen. In diesem Falle wäre der angefochtene Nichteintretensentscheid schon wegen Verletzung von
Art. 98a OG
aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung ans Zürcher Obergericht zurückzuweisen. Fehlt dem
BGE 132 II 250 S. 254
Beschwerdeführer dagegen das nach
Art. 103 lit. a OG
erforderliche schutzwürdige Interesse an der (materiellen) Anfechtung des Disziplinarentscheids, kann das Bundesgericht auf diesen Streitpunkt nicht eintreten; es fällt diesfalls - mangels Erfüllung der strengeren Legitimationsvorschrift von
Art. 88 OG
- zum Vornherein auch die Anhandnahme der Eingabe als staatsrechtliche Beschwerde ausser Betracht.
4.2
Zunächst ist auf die publizierte Rechtsprechung zu verweisen: Gemäss dieser hat der Einzelne grundsätzlich kein schutzwürdiges, auf dem Weg der Verwaltungsgerichtsbeschwerde durchsetzbares Interesse daran, dass die Aufsichtsbehörde gegen einen beschuldigten Rechtsanwalt ein Disziplinarverfahren eröffnet oder eine Disziplinarsanktion ausfällt (
BGE 129 II 297
E. 3.1 S. 302 f.). Vorbehalten wurde lediglich der Fall, in dem die zur Ausübung der Aufsicht verpflichtete Behörde eine vom Anzeiger beantragte Aufsichtsmassnahme ablehnt, an welcher dieser ein konkretes Interesse hat; hiefür wurde auf ein Beispiel aus dem Bereich der Bankenaufsicht (vgl.
BGE 120 Ib 351
E. 3b S. 355) hingewiesen.
4.3
Der Beschwerdeführer verlangte in seiner Anzeige nicht die Ausfällung einer Disziplinarsanktion, sondern das Ergreifen der "notwendigen Schritte" zur Beseitigung der angeblichen Doppelvertretung. Hierauf nimmt das Obergericht im angefochtenen Entscheid Bezug und betont, es gehe im anwaltsrechtlichen Disziplinarverfahren nicht um aufsichtsrechtliche Verhaltensanweisungen an den Rechtsanwalt, wie dieser ein laufendes Mandat zu führen habe, sondern ausschliesslich um die nachträgliche disziplinarische Sanktionierung behaupteter Verstösse gegen die Berufspflichten.
4.3.1
In der Tat sieht das eidgenössische Anwaltsgesetz, welches das Disziplinarrecht abschliessend regelt (
BGE 129 II 297
E. 1.1 S. 299), einzig die in Art. 17 genannten Sanktionen vor. Zwar kann das kantonale Recht der Aufsichtsbehörde zusätzliche Aufsichtsmittel zur Verfügung stellen (vgl. TOMAS POLEDNA, in: Fellmann/Zindel [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, Zürich 2005, N. 9 zu
Art. 14 BGFA
). Ob und inwieweit eine kantonale Vorschrift zulässig wäre, welche die zuständige Aufsichtsbehörde gegenüber einem Rechtsanwalt zu konkreten Anweisungen für die Art und Weise der Führung eines bestimmten Mandats ermächtigt, bedarf hier aber keiner weiteren Prüfung. Der Beschwerdeführer beruft sich nicht auf eine entsprechende kantonale Norm, und das Zürcher
BGE 132 II 250 S. 255
Anwaltsgesetz scheint auch keine solche zu kennen (vgl. § 13 f. und § 21 AnwG/ZH). Damit kann die Aufsichtsbehörde das Verhalten des Anwalts nur indirekt lenken, indem sie ihn für begangene Disziplinarverstösse nachträglich gemäss
Art. 17 BGFA
sanktioniert. Ihre Rolle ist deshalb wesentlich verschieden etwa von jener der Eidgenössischen Bankenkommission, welche zur aktiven Kontrolle der ihr unterworfenen Einrichtungen verpflichtet ist und über entsprechend weitreichende, spezialgesetzlich normierte Eingriffsmöglichkeiten verfügt: Die Bankenkommission hat, wenn sie von Verstössen gegen das Gesetz oder von sonstigen Missständen Kenntnis erhält, nicht nur Sanktionen zu ergreifen, sondern auch für die Wiederherstellung des ordnungsgemässen Zustands zu sorgen. Zu diesem Zweck ist sie gemäss
Art. 23
ter
Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 8. November 1934 über die Banken und Sparkassen (BankG; SR 952.0)
ausdrücklich befugt, alle "notwendigen Verfügungen" zu treffen (vgl. hierzu
BGE 130 II 351
E. 2.1 S. 354).
4.3.2
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers liegt mithin kein Fall vor, in welchem ihm als Anzeiger ein schutzwürdiges, zur Beschwerdeführung legitimierendes Interesse zukommt. Zwar würde zumindest bei Rechtsanwalt C. die behauptete Doppelvertretung wohl noch andauern, falls der Schadenersatzprozess zwischen dem Beschwerdeführer und den Kliniken noch nicht rechtskräftig beendet ist. Es besteht nach dem Gesagten aber so oder anders keine Möglichkeit für die Aufsichtsbehörde, direkt in ein laufendes Mandat einzugreifen.
4.4
Dem Anzeiger bleibt es unbenommen, mit Mitteln des Zivil- oder Strafrechts selbst gegen den beschuldigten Rechtsanwalt vorzugehen, wenn die angegangene Aufsichtsbehörde die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens oder die Ausfällung einer Sanktion ablehnt. Weil das anwaltsrechtliche Disziplinarverfahren dem allgemeinen öffentlichen Interesse an der korrekten Berufsausübung durch die Rechtsanwälte dient und nicht die Wahrung individueller privater Anliegen sichern soll, ist der Anzeiger nicht im Sinne von
Art. 103 lit. a OG
in schutzwürdigen eigenen Interessen betroffen und kann deshalb nicht auf dem Beschwerdeweg eine Intervention der Aufsichtsbehörde verlangen. Es widerspricht weder den Vorgaben des eidgenössischen Anwaltsgesetzes noch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein faires Verfahren, wenn das Obergericht dem Beschwerdeführer die Legitimation zur Anfechtung des abschlägigen Disziplinarentscheids abgesprochen hat.
BGE 132 II 250 S. 256
Ferner wird in der Beschwerde nicht dargetan, dass das Vorgehen der kantonalen Behörde in willkürlicher Weise gegen kantonales Verfahrensrecht verstosse. Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, dass ihm die Kosten des kantonalen Verfahrens auferlegt worden sind und er den Beschuldigten je eine Parteientschädigung zu bezahlen hat, fehlt es an einer rechtsgenüglichen Begründung für diese Rüge; auf die entsprechenden Vorbringen ist nicht einzugehen. | de |
16bdc8e9-f711-43e1-983a-f7f1cf789491 | Sachverhalt
ab Seite 368
BGE 124 V 368 S. 368
A.-
B., geboren 1955, war bis 31. Mai 1996 bei der SWICA Gesundheitsorganisation, Winterthur, kollektiv für ein Taggeld von 90% des versicherten Lohnes ab dem 61. Tag bei Krankheit und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfall und Berufskrankheit versichert. Per 1. Juni 1996 trat er infolge Stellenwechsels in die Einzelversicherung "Salaria" der SWICA über, wo ebenfalls eine Wartefrist von 60 Tagen vereinbart wurde. Seit 19. Februar 1996 war er wegen einer Berufskrankheit (chronisch-rezidivierendes Ekzem an beiden Händen) zu 100% arbeitsunfähig und erhielt dafür von der SUVA bis zum Behandlungsabschluss am 19. Juni 1996 ein Taggeld von 163 Franken. In der Folge war er wegen Krankheit weiterhin vollumfänglich arbeitsunfähig.
Mit Verfügung vom 12. November 1996 teilte die SWICA B. mit, die 60tägige Wartefrist habe am 20. Juni 1996 zu laufen begonnen und am 18. August 1996 geendet; das Krankengeld werde ab 19. August 1996 ausbezahlt. Diese Verfügung bestätigte die SWICA mit Einspracheentscheid vom 10. Februar 1997.
BGE 124 V 368 S. 369
B.-
Die dagegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 28. Mai 1997 ab.
C.-
B. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, ihm sei in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids ein Krankentaggeld ab 20. Juni 1996 zuzusprechen; (...).
Während die SWICA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung deren Gutheissung. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Nach
Art. 67 Abs. 1 KVG
kann, wer in der Schweiz Wohnsitz hat oder erwerbstätig ist und das 15., aber noch nicht das 65. Altersjahr zurückgelegt hat, bei einem Versicherer nach
Art. 68 KVG
eine Taggeldversicherung abschliessen. Die Taggeldversicherung kann als Kollektivversicherung abgeschlossen werden (
Art. 67 Abs. 3 KVG
). Das Gesetz enthält in
Art. 72 KVG
Bestimmungen insbesondere zum Anspruchsbeginn (Abs. 2), zur Dauer des Anspruchs (Abs. 3) sowie zur Kürzung der Leistung bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit (Abs. 4) und bei Überentschädigung (Abs. 5). Nach Abs. 2 dieses Artikels entsteht der Taggeldanspruch, wenn die versicherte Person mindestens zur Hälfte arbeitsunfähig ist (Satz 1). Ist nichts anderes vereinbart, so entsteht der Anspruch am dritten Tag nach der Erkrankung (Satz 2). Der Leistungsbeginn kann gegen eine entsprechende Herabsetzung der Prämie aufgeschoben werden (Satz 3). Wird für den Anspruch auf Taggeld eine Wartefrist vereinbart, während welcher der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist, so kann die Mindestbezugsdauer des Taggeldes um diese Frist verkürzt werden (Satz 4).
b) Gemäss Kollektivvertrag Nr. 199 1401 ist die Wartefrist (von 60 Tagen) pro Kalenderjahr nur einmal zu bestehen und wird an die Leistungsdauer angerechnet. Sie ist nicht neu zu bestehen, wenn innerhalb eines Monats nach Wiederaufnahme der Arbeit eine Wiedererkrankung mit mindestens 25%iger Arbeitsunfähigkeit eintritt. Diese Bestimmung deckt sich mit Art. 8 Abs. 1 der Zusatzbedingungen Taggeldversicherung Salaria, Ausgabe 1996 (nachfolgend: Zusatzbedingungen), wo zusätzlich festgehalten wird, dass die Wartefrist am Tag der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit beginnt. Der Anspruch auf Taggeld beginnt mit dem Tag, für welchen der behandelnde Arzt oder Chiropraktor den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, die einen Lohn-
BGE 124 V 368 S. 370
und Erwerbsausfall zur Folge hat, bescheinigt (Art. 5 Abs. 1 Zusatzbedingungen). Nach Art. 27 lit. a Satz 1 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), Ausgabe 1996, der den Übertritt von der Kollektiv- in die Einzelversicherung regelt, werden die Übertretenden im gleichen Umfang versichert, wie sie vorher in der Kollektivversicherung versichert waren.
2.
Es steht nach den Akten fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer ab 19. Februar 1996 zunächst wegen einer Berufskrankheit und später wegen einer anderen Krankheit zu 100% arbeitsunfähig war und daher, gestützt auf den Kollektivvertrag bzw. ab 1. Juni 1996 auf die Einzelversicherung, grundsätzlich Anspruch auf die vereinbarten Versicherungsleistungen hatte. Umstritten ist einzig der Beginn des Leistungsanspruchs.
a) Dem klaren Wortlaut nach unterscheidet
Art. 72 Abs. 2 KVG
zwischen der Entstehung des Anspruchs und dem Leistungsbeginn. Während nach Satz 1 dieser Bestimmung der Taggeldanspruch mit der mindestens hälftigen Arbeitsunfähigkeit entsteht, kann der Leistungsbeginn nach Satz 3 aufgeschoben werden. Wohl schränkt Satz 2 diese Regelung insofern ein, als der Anspruch erst am dritten Tag nach der Erkrankung entsteht, wenn nichts anderes vereinbart ist. Diese Bestimmung findet indessen im vorliegenden Fall keine Anwendung, da nach Art. 5 Abs. 1 der Zusatzbedingungen der Anspruch auf Taggeld mit dem Tag beginnt, für welchen der behandelnde Arzt oder Chiropraktor den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, die einen Lohn- und Erwerbsausfall zur Folge hat, bescheinigt. Nach dem Gesagten steht fest, dass nach
Art. 72 Abs. 2 KVG
nicht der Taggeldanspruch an sich, sondern lediglich der Leistungsbeginn aufgeschoben, d.h. eine sogenannte Wartefrist vereinbart werden kann. Diese beginnt mit der Entstehung des Taggeldanspruchs zu laufen. Diese Betrachtungsweise deckt sich im übrigen auch mit der in den Zusatzbedingungen der Beschwerdegegnerin festgehaltenen Regelung, wonach die Wartefrist am Tag der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit zu laufen beginnt (Art. 8 Abs. 1).
b) Von den Bestimmungen über die Entstehung des Anspruchs und den Leistungsbeginn sind die Koordinationsregeln nach
Art. 110 ff. KVV
zu unterscheiden, die der Bundesrat gestützt auf
Art. 78 KVG
erlassen hat. Entgegen der von der Vorinstanz bestätigten Ansicht der SWICA enthält insbesondere
Art. 110 KVV
keine Ausführungen zum Anspruch auf Versicherungsleistungen der Krankenversicherung. Dieser Artikel (in der bis
BGE 124 V 368 S. 371
31. Juli 1998 gültig gewesenen Fassung) stellt vielmehr eine Rang- oder Prioritätenordnung auf: Wenn in einem Versicherungsfall Leistungen der Krankenversicherung mit gleichartigen Leistungen der Unfallversicherung nach dem Unfallversicherungsgesetz (UVG), der Militärversicherung oder der Invalidenversicherung zusammentreffen, gehen die Leistungen dieser anderen Sozialversicherungen vor. Die Krankenversicherung muss somit nicht leisten (Maurer, Das neue Krankenversicherungsrecht, S. 118 f.). Bereits die Wortwahl dieses Artikels schliesst eine Auslegung im Sinne der Beschwerdegegnerin aus: Leistungen der Krankenversicherung und einer anderen Sozialversicherung können nur zusammentreffen, wenn darauf bereits ein Anspruch besteht. Dieser Artikel regelt damit allein - aber immerhin - die Vorleistungspflicht der anderen Sozialversicherungen.
c) Zusammenfassend schiebt
Art. 110 KVV
nicht die Entstehung des Taggeldanspruchs, die in
Art. 72 Abs. 2 Satz 1 KVG
geregelt ist, hinaus, sondern befreit die Krankenkasse von der an sich bestehenden Taggeldleistungspflicht.
3.
Werden die in Erw. 2 gewonnenen Erkenntnisse auf den vorliegenden Fall angewendet, ergibt sich, dass der Beschwerdeführer ab 20. Juni 1996 Taggeldleistungen der SWICA beanspruchen kann.
Er war seit 19. Februar 1996 infolge Berufskrankheit, die ebenfalls unter den Krankheitsbegriff des
Art. 2 Abs. 1 KVG
fällt (vgl. Maurer, a.a.O., S. 119), zu 100% arbeitsunfähig. An diesem Tag entstand grundsätzlich der Anspruch auf Taggelder und begann die 60tägige Wartefrist gemäss Kollektivvertrag zu laufen. Letztere endete am 20. April 1996, womit der Leistungsbeginn an sich auf den 21. April 1996 fiel. Da die SUVA aufgrund von
Art. 110 KVV
zu diesem Zeitpunkt noch Taggelder von 163 Franken ausrichtete, war die SWICA ihrerseits von der Leistungspflicht befreit. Zum Zeitpunkt, als die SUVA ihre Zahlungen wegen Abschlusses der Behandlung der Berufskrankheit einstellte (20. Juni 1996), war die Wartefrist von 60 Tagen gemäss Versicherungspolice längst abgelaufen, so dass die SWICA dem Beschwerdeführer ab 20. Juni 1996 für die weiterdauernde, aber nun nicht mehr berufskrankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit das vereinbarte Taggeld zu erbringen hat.
Nichts an diesem Ergebnis zu ändern vermag der Umstand, dass der Beschwerdeführer während bestehender Krankheit von der Kollektiv- in die Einzelversicherung wechselte, wird doch der Besitzstand beim Übertritt von der Kollektiv- in die Einzelversicherung der SWICA gewahrt (Art. 27 lit. a Satz 1 AVB). | de |
5ad9072b-15e3-4f88-a155-4a6b5ed7ce4a | Sachverhalt
ab Seite 176
BGE 115 II 175 S. 176
A.-
Mit Abtretungsvertrag vom 20. Januar 1972 übertrug W. senior sein in der Gemeinde H. gelegenes Heimwesen samt Vieh und Fahrhabe auf seinen Sohn W. junior. Vom Übernahmepreis von insgesamt Fr. 139'500.-- entfielen Fr. 71'800.-- auf den Hof, der Rest von Fr. 67'700.-- bezog sich auf Vieh und Fahrhabe.
W. junior wurde am 12. Dezember 1978 von seiner Frau R. W.-M. geschieden. Die drei gemeinsamen Töchter gelangten unter die elterliche Gewalt ihrer Mutter. Der Hof verblieb im Eigentum von W. junior, wurde aber fortan von der geschiedenen Frau in Pacht bewirtschaftet. Nachdem diese schliesslich zu ihrem Freund H. V. auf das benachbarte Gut gezogen war, ersetzte W. junior den laufenden Vertrag durch zwei neue Pachtverträge für die Dauer von je 20 Jahren und durch einen Mietvertrag betreffend das Wohnhaus, die er am 11. Oktober und am 24. Dezember 1979 sowie am 10. Januar 1981 mit H. V. abschloss.
Am 11. Juli 1983 einigte sich W. junior mit seinem Vater in einem mit "Vergleich" benannten, öffentlich beurkundeten Vertrag auf die Rückgabe des Heimwesens für Fr. 71'800.--. Die Übernahme bestehender Pachtverhältnisse schlossen sie dabei ausdrücklich aus. Das Grundbuchamt trug W. senior noch gleichentags als neuen Eigentümer ins Grundregister ein. Gleichzeitig unterrichtete es R. W.-M. über die Handänderung unter Hinweis darauf, dass möglicherweise die Voraussetzungen zur Ausübung des Verwandtenvorkaufsrechts nach
Art. 6 EGG
erfüllt seien. Bereits am 20. Juli 1983 übte R. W.-M. dieses Vorkaufsrecht für ihre drei noch minderjährigen Töchter aus, worauf das Heimwesen durch richterliche Verfügung mit einer Kanzleisperre belegt wurde.
B.-
In der Folge klagten die drei Töchter beim Bezirksgericht Pfäffikon/ZH gegen W. senior unter anderem auf Feststellung, dass sie durch Ausübung des ihnen zustehenden gesetzlichen Vorkaufsrechts an Stelle des W. senior in den mit W. junior am 11. Juli 1983 abgeschlossenen Kaufvertrag betreffend Rückübertragung der fraglichen Liegenschaften eingetreten seien.
Das Bezirksgericht hiess die Klage am 19. März 1985 teilweise gut, indem es dem Feststellungsbegehren stattgab und das zuständige Grundbuchamt anwies, die Klägerinnen als Eigentümerinnen des umstrittenen Heimwesens einzutragen.
BGE 115 II 175 S. 177
C.-
W. senior erklärte Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Seine Anträge lauteten auf Klageabweisung und Feststellung, dass den Klägerinnen kein Vorkaufsrecht zustehe.
Mit Urteil vom 31. August 1987 wies das Obergericht die Berufung ab und sprach den Klägerinnen das Eigentum an den streitigen Liegenschaften zu. Letztere wurden sodann verpflichtet, dem Beklagten Fr. 71'800.-- zu bezahlen.
D.-
Gegen dieses Urteil hat W. senior Berufung an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und wiederholt die im kantonalen Verfahren gestellten Anträge.
Die Klägerinnen schliessen auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Wird ein landwirtschaftliches Gewerbe oder werden wesentliche Teile davon verkauft, so steht gemäss
Art. 6 EGG
den Nachkommen, dem Ehegatten und den Eltern des Verkäufers ein Vorkaufsrecht zu.
Art. 11 Abs. 1 EGG
regelt sodann die Reihenfolge der berechtigten Verwandten zur Ausübung des Vorkaufsrechts wie folgt: Kinder, Enkel, Ehegatten, Eltern und - sofern kantonalrechtlich vorgesehen - Geschwister vor ihren Nachkommen.
Der Beklagte wirft dem Obergericht die Verletzung von
Art. 11 Abs. 1 EGG
vor, da es diese Bestimmung trotz Fehlens eines Vorkaufsfalles zur Anwendung gebracht habe. Auch nach Ansicht des Obergerichts - meint der Beklagte - gelte die Veräusserung an einen Vorkaufsberechtigten gerade nicht als Vorkaufsfall. Mit der Rückübereignung des Heimwesens vom Sohn an ihn selbst sei dem Grundanliegen des EGG, nämlich der Erhaltung der Beziehungen zwischen Hof und Familie, hinreichend Nachachtung verschafft worden, weshalb es an der wesentlichsten Voraussetzung, nämlich an der Veräusserung an einen Dritten gebreche.
Mit diesen Vorbringen vermag der Beklagte nicht durchzudringen. Das Obergericht hat die grundsätzliche Besserberechtigung der Klägerinnen als Nachkommen des Veräusserers gegenüber dessen Vater, dem Beklagten, mit Recht bejaht. Tatsächlich kann der Verwandtenverkauf nicht zum vornherein als Ausnahme von
Art. 6 Abs. 1 EGG
behandelt werden; damit die in
Art. 11 Abs. 1 EGG
verankerte Besserstellung bestimmter Verwandter nicht
BGE 115 II 175 S. 178
vereitelt wird, dringt das Vorkaufsrecht je nach dem Rangverhältnis des Vorkaufsberechtigten gegenüber dem "Käufer" durch (JENNY, Das bäuerliche Vorkaufsrecht, Diss. Freiburg, Beromünster 1955, S. 84). Dass das Vorkaufsrecht immer dann versagen soll, wenn die Veräusserung an einen der gesetzlichen Vorkaufsberechtigten erfolgt (vgl. MEIER-HAYOZ, Kommentar, 3. A. Bern 1975, N. 64 zu
Art. 682 ZGB
), kann angesichts der Rangordnung in
Art. 11 Abs. 1 EGG
zumindest für den Geltungsbereich des bäuerlichen Bodenrechts nicht zutreffen. Hier muss vielmehr gelten, dass der Verkauf eines landwirtschaftlichen Gewerbes an einen im letzten Glied Vorkaufsberechtigten den besser Berechtigten nicht um sein Recht bringen darf (D. BINZ-GEHRING, Diss. Bern 1973/74, S. 155 f. lit. c, unter kritischer Bezugnahme auf MEIER-HAYOZ, a.a.O.; im Ergebnis gleich: A. JOST, Handkommentar zum EGG, Bern 1953, N. 2 lit. a zu
Art. 1 EGG
, S. 54 f., A. JOST in: Das neue landwirtschaftliche Bodenrecht der Schweiz, 1954, S. 46; R. HOTZ, Bäuerliches Grundeigentum, in ZSR 98/1979 II 109 ff., insb. S. 126 f.; offengelassen bei O.K. KAUFMANN, Die Neuordnung des Landwirtschaftsrechts, 1952, S. 45; nicht ganz einschlägig
BGE 82 II 468
).
4.
a) Das Vorkaufsrecht räumt seinem Inhaber die Befugnis ein, durch einseitige, vorbehalt- und bedingungslose Erklärung gegenüber dem Verpflichteten das Eigentum an einer Sache zu erwerben, sofern der Verpflichtete diese Sache an einen Dritten verkauft. Auch das Vorkaufsrecht gemäss
Art. 6 EGG
entspricht grundsätzlich dem vertraglichen Vorkaufsrecht sowie den gesetzlichen Vorkaufsrechten des
Art. 682 ZGB
(
BGE 111 II 492
E. 3b mit Hinweisen). Objektive Voraussetzung zur Ausübung des Vorkaufsrechts ist der Eintritt des Vorkaufsfalles;
Art. 6 EGG
verlangt dafür den Abschluss eines Kaufvertrages des Vorkaufsverpflichteten mit einem Dritten. Ob dieser Tatbestand erfüllt ist, beurteilt sich nicht nach formellen, sondern nach materiellen, wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Deshalb kann ein Vorkaufsfall durchaus bejaht werden, obgleich der Form nach kein Kauf abgeschlossen worden ist, nämlich dann, wenn mit einer anderen Rechtsform ein dem Kauf entsprechender wirtschaftlicher Zweck erzielt werden soll (MEIER-HAYOZ, in ZBGR 45/1964 S. 267; MEIER-HAYOZ im Kommentar, a.a.O., NN. 59 ff. zu
Art. 682 ZGB
sowie JENNY, a.a.O., S. 80 ff.). Vorausgesetzt wird demnach ein Rechtsgeschäft, welches auf dem freien Willen des Veräusserers beruht und auf die Veräusserung einer Sache gegen Geld gerichtet ist;
BGE 115 II 175 S. 179
ferner darf die Festsetzung dieser Gegenleistung nicht wesentlich von der Person des Leistungsgegners abhängen (
BGE 94 II 343
E. 2). Nicht als Vorkaufsfall gelten darum etwa die Schenkung, der Erbfall und die Erbteilung sowie der Verpfründungsvertrag; auch die gemischte Schenkung wird von der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre nicht als Vorkaufsfall betrachtet (
BGE 102 II 250
E. 4,
BGE 101 II 62
; anders JENNY, a.a.O., S. 84).
b) Diese Umschreibung des Vorkaufsfalles vermag all jene rechtsgeschäftlichen Vorgänge zu erfassen, die - bezogen auf den wirtschaftlichen Erfolg - einem Kauf gleichkommen. Das ist auch für die Frage des Umgehungsgeschäftes zu beachten. Durch die generell an Sinn und Zweck, insbesondere am wirtschaftlichen Gehalt des Geschäftes anknüpfende Betrachtungsweise kann sich daher ein selbständiger Tatbestand der Umgehung gar als entbehrlich erweisen (MERZ, Kommentar Bern 1966, N. 91 zu
Art. 2 ZGB
, sowie KRAMER, Kommentar, Bern 1986, N. 145 zu
Art. 18 OR
). Rechtsgeschäfte, die in solch wertender Betrachtungsweise nicht als Vorkaufsfall zu bezeichnen sind, können somit nur ausnahmsweise als Umgehungsgeschäft in Erscheinung treten, nämlich wenn sie als ausgesprochen dolos erscheinen; so namentlich, wenn die entsprechenden Rechtsakte keinerlei schützenswerte Zwecke verfolgen, sondern lediglich auf die Vereitelung eines bestimmten Vorkaufsrechts abzielen.
c) Die Abtretung vom Vater auf den Sohn im Jahre 1972 war unbestritten im Hinblick auf die künftige Erbfolge veranlasst worden; sie zielte im wesentlichen darauf ab, die Weiterführung des Gewerbes innerhalb der Familie des Beklagten sicherzustellen. Dieses Ziel ist durch das Scheitern des Sohnes im familiären, offenbar aber auch im wirtschaftlichen Bereich, unerreichbar geworden. Auch hat letzterer mit der Weiterverpachtung an die Mutter der Klägerinnen, oder vielmehr an deren Freund, sein mangelndes Interesse an der aktiven Bewirtschaftung des eigenen Gutes hinlänglich kundgetan. Unter diesen Umständen erweist sich die Annahme, die Rückgabe an den Beklagten bezwecke in wirtschaftlicher Hinsicht die Aufhebung des vorgängigen Abtretungsgeschäftes, durchaus als gerechtfertigt.
Wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat, liegen keinerlei Anzeichen für eine Simulationsabsicht vor. Die Rückübertragung des Heimwesens an den Beklagten zu den verurkundeten Bedingungen entspricht somit dem tatsächlichen Geschäftswillen der Beteiligten. Ob der von den Vertragsparteien
BGE 115 II 175 S. 180
angestrebte Erfolg noch mit demjenigen eines Kaufes verglichen werden kann, bleibt näher zu prüfen. Dabei muss zwar befremden, dass - offensichtlich zur Vermeidung jeglicher Diskussion über einen Vorkaufsfall der Anschein der unfreiwilligen Rückübertragung erweckt werden sollte. Dies allein vermag indessen die Anwendung von
Art. 6 EGG
solange nicht zu rechtfertigen, als der im wesentlichen ernst gemeinte Vertrag aufgrund seiner wirtschaftlichen Zielsetzung nicht als Vorkaufsfall oder als Umgehung des gesetzlichen Vorkaufsrechts betrachtet werden kann. Dem steht namentlich das 1983 vereinbarte Entgelt entgegen; letzteres richtete sich nicht nach dem damaligen Marktwert des Heimwesens, sondern ausschliesslich nach der im Jahre 1972 erfolgten Abtretung, die im Hinblick auf die künftige Erbfolge ausgestaltet wurde und deshalb als Verwandtenkauf neben der Entgeltlichkeit bereits auch ein beträchtliches Mass an unentgeltlicher Zuwendung einschloss. Durch die in der Zwischenzeit erfolgte Wertsteigerung ist das Ausmass der unentgeltlichen Zuwendung zugunsten des Beklagten noch zusätzlich angewachsen, wie auch vom Obergericht zutreffend festgehalten worden ist. Wurde somit die Gegenleistung auch 1983 wesentlich von der Person des Vertragspartners abhängig gemacht, besteht die einzige Ähnlichkeit mit einem Kauf in der Verpflichtung zur Eigentumsübertragung, während das Geschäft als Ganzes einem voll entgeltlichen Vorkaufsfall nicht entspricht. Auch dies hat das Obergericht zutreffend vermerkt, doch hat es sich dann mit seiner Schlussfolgerung, wonach sich die mit dem "Vergleich" beabsichtigte Rückübertragung dennoch als Umgehungsgeschäft erweise, in Widersprüche verstrickt. Dies gilt insbesondere für den Schluss des Obergerichts, der tiefe Übernahmepreis sei bloss gewählt worden, um den "Vergleich" von 1983 als Rückabwicklung des Abtretungsvertrages von 1972 erscheinen zu lassen. Wohl handelten die Vertragsparteien in Kenntnis der grundsätzlichen Vorkaufsberechtigung der Klägerinnen, was sogar im "Vergleich" selbst zum Ausdruck gelangte. Auch war es ihr Anliegen, das entsprechende Vorkaufsrecht nicht entstehen zu lassen, was sie dazu bewog, die Rückübertragung als unfreiwillige in Erscheinung treten zu lassen. Das Handeln der Vertragsparteien erweist sich aber insofern als schützenswert, als für die in Anlehnung an die Übertragung von 1972 vorgenommene Ausgestaltung des "Vergleichs" letztlich nicht die Umgehung des Verwandtenvorkaufsrechts, sondern vorab der Gedanke der "restitutio in integrum" einschliesslich der teilweise
BGE 115 II 175 S. 181
unentgeltlichen Zuwendung wegleitend gewesen ist. Würde man - wie das Obergericht - der Handlungsweise der Vertragsparteien den Schutz versagen, bewirkte dies, dass schliesslich sämtliche zwischen Verwandten abgeschlossenen Übereignungsgeschäfte als Vorkaufsfälle oder als Umgehungsgeschäfte qualifiziert werden müssten. Dies stünde in unhaltbarem Widerspruch zur Begrenzung des Vorkaufsfalles seitens des Gesetzgebers und schliesslich auch zum Grundsatz der Privatautonomie. Dies ist vom Obergericht verkannt worden; durch die Annahme eines Vorkaufsfalles oder vielmehr eines Umgehungsgeschäftes hat es die Verfügungsfreiheit des Beklagten allzusehr eingeschränkt und darum Bundesrecht verletzt.
Erweist sich daher die Handlungsweise der Vertragsparteien als schützenswert und die Annahme eines Vorkaufsfalles als unbegründet, erübrigen sich auch zusätzliche Erwägungen zu den weiteren Rügen des Beklagten. Der angefochtene Entscheid ist als bundesrechtswidrig aufzuheben und die Klage abzuweisen. | de |
c9e271b9-ce95-4141-b8d0-1217fe5fab79 | Sachverhalt
ab Seite 406
BGE 112 II 406 S. 406
A.-
Die zur Coop-Gruppe gehörende Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG, nachmals Ems-Chemie AG, waren seit 1971 an der Spintex AG je hälftig beteiligt. Die Spintex AG, die eine Reihe von Textilunternehmen beherrschte, hielt u.a. sämtliche Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG.
BGE 112 II 406 S. 407
Ende 1980 übertrugen die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG ihre vinkulierten Namenaktien der Spintex AG gemeinsam auf einen ausländischen Erwerber. Gleichzeitig übernahmen sie je die Hälfte der bis dahin von der Spintex AG gehaltenen Beteiligungen an der Kammgarnspinnerei Interlaken AG sowie einer weiteren Gesellschaft. Dieser Vorgang ist in zwei im wesentlichen gleichlautenden Schreiben der Spintex AG vom 31. Dezember 1980 an die Emser Werke AG und die Pent Holding Ltd. festgehalten, wo wörtlich ausgeführt wird:
"Gestützt auf die Vereinbarung zwischen Pent Holding Ltd., Basel, sowie Emser Werke AG, Zürich, und der T. AG (dat. 31. Oktober 1980) werden im Zuge der Sanierung der Spintex AG die Beteiligungen
a) Kammgarnspinnerei Interlaken AG, Interlaken ...
b) S. AG ...
von den bisherigen Aktionären der Spintex AG je hälftig zu den jetzigen Buchwerten übernommen. Die Übernahme der vorerwähnten Beteiligungswerte erfolgt per 31. Dezember 1980."
Die Emser Werke AG übertrugen ihre Beteiligung sofort auf die Ems-Chemie Holding AG, wo die 800 Inhaberaktien wie auch die beiden Zertifikate verblieben. In der Folge bestellten die zwei Aktionärinnen einvernehmlich die Organe der Kammgarnspinnerei Interlaken AG und fällten die unternehmerischen Entscheidungen, brachten aber auch zu gleichen Teilen die zur Weiterführung des defizitären Spinnereibetriebes nötigen Mittel auf und verpflichteten sich in gleicher Weise als Bürgen. Bereits 1981 wurde die Veräusserung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG an Dritte ins Auge gefasst, wobei neben anderen Verhandlungen auch solche mit der Schmid AG Gattikon aufgenommen wurden. Am 14. April 1983 schloss die Pent Holding Ltd., vertreten durch die Coop Schweiz, mit der Schmid AG Gattikon eine Vereinbarung zur Übernahme der Hälfte des Aktienkapitals der Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Darin wurde unter anderem vorgesehen, dass sich die Schmid AG Gattikon darum bemühen werde, von der Ems-Chemie Holding AG deren Anteil am Aktienpaket ebenfalls zu erwerben.
Mit Schreiben vom 5. Mai 1983 ersuchte die Schmid AG Gattikon die Coop Schweiz um Übergabe der erworbenen Aktien. Die Coop Schweiz antwortete ihr tags darauf, dass sie die Ems-Chemie Holding AG zur sofortigen Aushändigung der Titel aufgefordert habe. Bereits am 4. Mai 1983 hatte die Ems-Chemie Holding AG in Kenntnis der Vereinbarung zwischen der Pent Holding Ltd. und
BGE 112 II 406 S. 408
der Schmid AG Gattikon die beiden Zertifikate über je 1000 Inhaberaktien sowie 780 der 800 Einzelaktien bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich hinterlegt mit der Weisung, die Titel nur auf gemeinsames Verlangen der Pent Holding Ltd. und der Ems-Chemie Holding AG herauszugeben. Die restlichen 20 Einzelaktien waren gleichentags am Sitz der Kammgarnspinnerei Interlaken AG als Pflichtaktien des Verwaltungsrats hinterlegt worden.
Das wiederholte Ersuchen der Pent Holding Ltd. um Herausgabe der Aktientitel wurde seitens der Ems-Chemie Holding AG stets zurückgewiesen. Daher gelangte die Pent Holding Ltd. am 8. Juli 1983 mit folgendem Schreiben an die Ems-Chemie Holding AG:
"Wir bestätigen Ihnen, dass wir uns mit Vereinbarung vom 14. April 1983 verpflichtet haben, der Schmid AG, Gattikon, Besitz und Eigentumsrechte an 50% Aktienkapital Kammgarnspinnerei Interlaken zu verschaffen. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass sich die entsprechenden Aktien in unserer freien Verfügungsgewalt befinden, was sich dann allerdings als unzutreffend herausgestellt hat. Effektiv befinden sich die zu übertragenden Inhaberpapiere in Ihrem Gewahrsam und werden uns zur Herausgabe an die Schmid AG vorenthalten.
Wir weisen Sie deshalb ausdrücklich darauf hin, dass Sie den ehemals der Pent Holding Ltd. gehörenden Anteil an der Kammgarnspinnerei Interlaken nunmehr für die Schmid AG, Gattikon, halten."
B.-
Bereits am 11. Juli 1983 hatte die Schmid AG Gattikon beim Vermittleramt des Kreises Rhäzüns Klage gegen die Ems-Chemie Holding AG auf Herausgabe der von der Pent Holding Ltd. an sie veräusserten Titel erhoben. Nach erfolglos verlaufener Sühneverhandlung machte die Schmid AG Gattikon die Streitsache beim Bezirksgericht Imboden anhängig. Dieses schützte den Herausgabeanspruch und hiess die Klage gut.
Die Ems-Chemie Holding AG zog das erstinstanzliche Urteil an das Kantonsgericht von Graubünden weiter, welches die Berufung mit Urteil vom 30. April 1985 abwies. Hiegegen richtet sich die vorliegende Berufung an das Bundesgericht. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte leitet ihren Anspruch auf Herausgabe von 1400 Inhaberaktien bzw. entsprechender Aktienzertifikate der Kammgarnspinnerei Interlaken AG aus dem mit der Pent Holding Ltd. am 14. April 1983 geschlossenen Kaufvertrag sowie aus einer hernach erfolgten Besitzanweisung her,
BGE 112 II 406 S. 409
wodurch sie Eigentum an diesen Titeln begründet haben will. Grundlage für den behaupteten Herausgabeanspruch bildet somit das Eigentum, und das Rechtsbegehren versteht sich als Klage aus dem Recht (Kommentar MEIER-HAYOZ, 5. Auflage Bern 1981, N. 54 ff. zu
Art. 641 ZGB
; Kommentar HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Zürich 1977, N. 33 ff. zu
Art. 641 ZGB
; LIVER, Schweizerisches Privatrecht V/1, Basel 1977, S. 25 ff.; STEINAUER, Les droits réels, Bern 1985, N. 1018 ff.). Vor den kantonalen Instanzen berief sich die Klägerin auch auf den Erwerb des Eigentums durch ihre Rechtsvorgängerin, indem sie geltend machte, die Pent Holding Ltd. habe 1980 das Eigentum an der Hälfte des Aktienkapitals der Kammgarnspinnerei Interlaken AG durch den mit der Spintex AG geschlossenen Vertrag mit Besitzanweisung rechtsgültig erworben.
3.
a) Die kantonalen Gerichte haben sowohl den Hauptstandpunkt der Beklagten verworfen, wonach die Pent Holding Ltd. und die Ems-Chemie AG bzw. die Ems-Chemie Holding AG im Rahmen einer einfachen Gesellschaft Gesamteigentum an den Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG hatten, als auch ihren Eventualstandpunkt abgelehnt, wonach mindestens Miteigentum der beiden Partnerinnen bestehe. Hiegegen wendet sich die Berufung der Beklagten an das Bundesgericht, deren Rügen sich dahin zusammenfassen lassen, das Kantonsgericht von Graubünden habe Bundesrecht verletzt, weil es den Herausgabeanspruch der Klägerin geschützt habe, obwohl diese gar kein Alleineigentum habe erwerben und mangels Zustimmung der Beklagten als Gesamt- oder allenfalls Miteigentümerin nicht über die Titel habe verfügen können (
Art. 653 Abs. 2 ZGB
bzw.
Art. 648 Abs. 2 ZGB
). Das Urteil der Vorinstanz verletze auch
Art. 641 ZGB
dadurch, dass die Beklagte gezwungen werde, die Hälfte der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG herauszugeben, an denen sie mindestens Miteigentum habe.
b) Bis Ende 1980, als die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG ihre durch vinkulierte Namenaktien verkörperten Beteiligungen an der Spintex AG gleichzeitig an denselben Käufer veräusserten, war die Spintex AG Alleineigentümerin der Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG erwarben im Rahmen jener Transaktion je die Hälfte der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Die Titel indessen lagen bei der Ems-Chemie Holding AG, die seit jeher die 800 Einzelaktien und seit 1975 auch
BGE 112 II 406 S. 410
die beiden Zertifikate über je 1000 Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG verwahrt hatte, und sie blieben nach unwidersprochener Feststellung weiterhin bei der Ems-Chemie Holding AG hinterlegt. Zu einer körperlichen Übertragung (Tradition) der Aktientitel an die neuen Eigentümerinnen kam es nicht; vielmehr erfolgte der Eigentumserwerb, wie oben (E. 2) ausgeführt, durch Besitzanweisung.
Steht damit fest, dass die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG anstelle der Spintex AG zu selbständigen und mittelbaren Besitzerinnen der Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG wurden, während die beklagte Ems-Chemie Holding AG diese Titel als unselbständige und unmittelbare Besitzerin für die Erwerberinnen verwahrte, so ist damit noch nichts über die Form des erworbenen Eigentums ausgesagt. Nach den Akten ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Spintex AG, die in den beiden Schreiben vom 31. Dezember 1980 den Eigentumsübergang von ihr auf die Pent Holding Ltd. einerseits und die Emser Werke AG anderseits festhielt, die Titel in solche der einen oder der anderen Übernehmerin ausgesondert hätte. Davon, dass die Erwerberinnen selbst im Augenblick der Übernahme der Aktien eine Ausscheidung vorgenommen hätten, ist nichts bekannt, und auch später kam es nie zu einer Aussonderung der Titel.
Ob bei den Käuferinnen im Augenblick der Übertragung die Meinung bestand, sie erwürben damit Alleineigentum an je der Hälfte der Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG, kann zunächst offenbleiben. Jedenfalls konnte ohne Individualisierung der Titel keine der beiden Erwerberinnen Alleineigentum begründen. Eine Sachgesamtheit - im vorliegenden Fall die Hälfte der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG - kann wohl Gegenstand eines einheitlichen obligatorischen Rechtsgeschäftes sein; dingliche Rechte hingegen entstehen nach dem das schweizerische Sachenrecht beherrschenden Spezialitätsprinzip nur an einzelnen individualisierten Sachen (Kommentar MEIER-HAYOZ, Systematischer Teil zu Art. 641 bis 654 ZGB, N. 75, N. 140 ff.; Kommentar HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Einleitung zu Art. 641 bis 729 ZGB, N. 61). Daher konnte die Spintex AG zwar das Aktienpaket der Kammgarnspinnerei Interlaken AG je hälftig an die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG verkaufen, indessen durch die gleichzeitig vereinbarte Besitzanweisung nur das Alleineigentum an individualisierten, das heisst ausgesonderten Aktientiteln, auf die eine oder die andere der beiden
BGE 112 II 406 S. 411
Erwerberinnen übergehen lassen. Unterblieb die Aussonderung, so konnten die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG nur gemeinschaftliches Eigentum erwerben. Diese Rechtsfolge trat ungeachtet dessen ein, dass die Inhaberaktien anhand ihrer Nummern leicht auszuscheiden gewesen wären, und auch ohne Rücksicht auf einen allfälligen Willen der Erwerberinnen, Alleineigentum zu erlangen. Sie hätte nur durch körperliche Trennung und Übergabe (Tradition) sämtlicher Titel oder, im Falle der Besitzanweisung, durch eine die einzelnen Titel als Eigentum der einen oder der anderen Käuferin kennzeichnende Ausscheidung vermieden werden können. Nur wenn zwei ausgesonderte Hälften erworben worden wären, hätte m.a.W. an den durch die Aussonderung individualisierten Einzelaktien und Zertifikaten Alleineigentum entstehen können.
c) Die Beklagte beruft sich in erster Linie auf Gesamteigentum an den Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG, das - wie sie zutreffend feststellt - nur aufgrund einer personalrechtlichen Verbindung denkbar ist (OSKAR GLETTIG, Die dinglichen Rechte an Aktien, St. Galler Diss. 1953, S. 20). Sie behauptet, dass die Emser Werke AG bzw. (nach 1980) die Ems-Chemie Holding AG mit der Pent Holding Ltd. "stillschweigend eine einfache Gesellschaft bezüglich der Kammgarnspinnerei Interlaken" geführt habe. Das setzt einerseits den Bestand einer einfachen Gesellschaft und anderseits die Einbringung der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG in die einfache Gesellschaft voraus.
Es erübrigt sich, auf die enge Zusammenarbeit zwischen der Pent Holding Ltd. und der Emser Werke AG bzw. der Ems-Chemie Holding AG zwischen 1971 und 1983 im einzelnen einzugehen, um zu untersuchen, ob die Geschäftspartnerinnen sich dadurch zu einer einfachen Gesellschaft zusammengeschlossen haben. Entscheidend nämlich ist die Frage, ob - den Bestand einer einfachen Gesellschaft vorausgesetzt - die Beteiligungen der Pent Holding Ltd. und der Beklagten an der Kammgarnspinnerei Interlaken AG in das Gesamteigentum der einfachen Gesellschaft übergeführt worden sind. Diese Frage lässt sich gewiss nicht gestützt auf die Schreiben bejahen, welche die Spintex AG am 31. Dezember 1980 mit grundsätzlich gleichlautendem Inhalt an die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG gerichtet hat. Die Verkäuferin hatte keinen Anlass, sich zu einer Frage zu äussern, die sie nicht berührte. Daher lassen sich die beiden Schriftstücke nicht einer Art grammatikalischer Auslegung unterziehen, indem
BGE 112 II 406 S. 412
mehr Gewicht auf das Wort "Beteiligungen" oder die Wendung "je hälftig" gelegt wird und daraus Anhaltspunkte für die eine oder die andere Form des zu übertragenden Eigentums herausgelesen werden.
Auch aus dem Umstand, dass die Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG nach dem Erwerb durch die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG nicht ausgeschieden wurden, ja dass - wie die Berufungsklägerin ausführt - nicht einmal festgelegt wurde, welche Nummern dem einzelnen Aktionär gehören sollten, kann nicht gefolgert werden, dass die Titel in eine einfache Gesellschaft eingebracht werden wollten. Das erhellt schon daraus, dass Kaufgegenstand die Sachgesamtheit eines Aktienpakets war, das jederzeit in zwei gleichartige und gleichwertige Hälften geteilt werden konnte. Die Erwerberinnen, die sich Ende 1980 über ihre Beteiligung an der Kammgarnspinnerei Interlaken AG nicht auszuweisen brauchten, mochten es aus irgendwelchen Gründen für ratsam gehalten haben, die Titel unausgeschieden am bisherigen Verwahrungsort zu belassen. Mit der Übernahme des Aktienpakets der Kammgarnspinnerei Interlaken AG schien sich, nachdem diese bis dahin von der Pent Holding Ltd. und der Emser Werke AG mittelbar über die Spintex AG beherrscht worden war, wenig zu ändern. Es ist daher verständlich, dass sich die Beteiligten wenig Gedanken über den Besitz und das Eigentum an den Aktientiteln machten und sich insbesondere keine Rechenschaft darüber gaben, welche rechtlichen Probleme sich daraus ergeben könnten, dass die Titel unausgesondert im Gewahrsam der einen Seite verblieben. Auf eine bestimmte Absicht der Vertragspartnerinnen insbesondere dahingehend, dass konkludent eine einfache Gesellschaft mit dem Ziel begründet werden sollte, die von der Spintex AG erworbenen Aktien der Kammgarnspinnerei
BGE 112 II 406 S. 413
Interlaken AG zur gesamten Hand einzuwerfen, lässt sich daraus jedenfalls nicht schliessen.
Als nicht stichhaltig erweist sich auch das Vorbringen der Beklagten, nur die Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG hätten Gegenstand einer einfachen Gesellschaft bilden können. Wird nämlich entsprechend ihrer eigenen Darstellung davon ausgegangen, dass die Zusammenarbeit der Pent Holding Ltd. und der Emser Werke AG über die Spintex AG sich bereits in den siebziger Jahren zu einem Gesellschaftsverhältnis verdichtet habe und dass der Zweck dieser Gesellschaft vor und nach der Abstossung der Spintex-Gruppe und der Herauslösung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG derselbe gewesen sei, so steht jedenfalls fest, dass der Gesellschaftszweck auch ohne Vereinigung der beidseitigen Beteiligungen an der Spintex AG zur gesamten Hand erzielbar war. Die Beklagte hat zu Recht nicht behauptet, die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG hätten ihre Pakete an Namenaktien der Spintex AG in einer einfachen Gesellschaft zusammengelegt. Hiefür bestand kein Bedürfnis, weil die Namenaktien wegen der Vinkulierung ohnehin nicht frei übertragbar waren. Zweck einer einfachen Gesellschaft war die Aufrechterhaltung des Betriebes von Textilunternehmen, deren Beteiligungen durch die Spintex AG gehalten wurden. Dazu war die Zusammenlegung der Aktien der Spintex AG nicht erforderlich; denn die Titel verkörperten keinerlei Betriebsmittel der einzelnen Unternehmungen. Soweit deren Betriebsmittel nicht ausreichten oder sich Defizite einstellten, hielten die Pent Holding Ltd. und die Beklagte Mittel zu gleichen Teilen bereit oder leisteten Sicherheiten für Betriebskredite. Nicht anders gestaltete sich die Zusammenarbeit im Rahmen des Betriebes der Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Auch hier konnte der Zweck des Zusammenschlusses verfolgt werden, ohne dass die Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG in eine einfache Gesellschaft eingeworfen wurden. Aus den Aktien konnten, ausser durch Belehnung, keine Betriebsmittel gewonnen werden. Auch bestand für die beiden Erwerberinnen der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG keine Notwendigkeit, vorweg Kapitalien zu Betriebszwecken zusammenzulegen, gehörten sie doch zu zahlungskräftigen Wirtschaftsgruppen, die jederzeit die benötigten Gelder oder Sicherheiten beschaffen konnten.
Keine Anhaltspunkte bestehen schliesslich dafür, dass die Aktionärinnen der Kammgarnspinnerei Interlaken AG ihre Beteiligungen in Gesamteigentum übergeführt hätten, um die Titel dereinst gemeinsam verkaufen zu können. Hätte bei der Herauslösung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG aus der Spintex AG diese Absicht bestanden, so wäre sie wohl in einer Urkunde festgehalten worden. Zwar wurde bald nach der Übernahme gemeinsam ein Interessent gesucht, der geneigt gewesen wäre, die Kammgarnspinnerei Interlaken AG gesamthaft zu übernehmen, und wurde im März 1983 die Schweizerische Bankgesellschaft mit einem entsprechenden Vermittlungsmandat betraut; doch lassen sich daraus keine zwingenden Schlüsse ziehen. Nahe liegt einzig die Überlegung, für die gesamthafte Übernahme des Spinnereibetriebes lasse sich leichter ein Käufer finden als für hälftige Beteiligungen.
BGE 112 II 406 S. 414
Jedenfalls war es lediglich im Hinblick auf den Verkauf der Aktien nicht erforderlich, sie alle in eine einfache Gesellschaft einzuwerfen.
Wenn deshalb das Kantonsgericht von Graubünden weder bei der Übernahme der Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG noch zu einem späteren Zeitpunkt schlüssige Indizien für die Begründung von Gesamteigentum zwischen der Pent Holding Ltd. und der Emser Werke AG bzw. der Beklagten zu erkennen glaubte, so ist die entsprechende rechtliche Schlussfolgerung im Zusammenhang mit dem Eigentum an den umstrittenen Aktien nicht zu beanstanden. Mithin verletzte die Vorinstanz Bundesrecht nicht dadurch, dass sie unter dem Blickwinkel des Gesamteigentums keinen Grund sah, die Veräusserung der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG durch die Pent Holding Ltd. an die Klägerin als unzulässig zu bezeichnen.
4.
Die Vorinstanz hat verneint, dass die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG, die nach dem vorstehend Gesagten kein Gesamteigentum begründet, an den Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG aber auch nicht Alleineigentum erworben haben (oben E. 3b), als Miteigentümerinnen der umstrittenen Titel zu betrachten seien. Sie hat deshalb nicht geprüft, ob dem Verkauf der Hälfte der Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG an die klagende Schmid AG Gattikon und deren Verlangen auf Herausgabe der Titel durch die Beklagte Hindernisse aus dem Miteigentum entgegenstanden.
a) Miteigentum ist im vorliegenden Fall - von den Parteien offensichtlich ungewollt - entstanden, weil keine Aussonderung der Einzelaktien und Aktienzertifikate der Kammgarnspinnerei Interlaken AG nach deren Übernahme durch die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG vorgenommen worden ist. Im Ergebnis ist der Tatbestand nicht unähnlich der Vermischung im Sinne von
Art. 727 ZGB
, deren Rechtsfolgen - insbesondere Miteigentum - unabhängig vom Willen wie auch vom guten oder bösen Glauben der daran beteiligten Personen eintreten (Kommentar HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, N. 28 zu
Art. 727 ZGB
). Immerhin ist zu beachten, dass die hier umstrittenen Inhaberaktien gleich wie Geldstücke und Banknoten ohne Beschädigung oder unverhältnismässigen Aufwand wieder getrennt werden können (Kommentar STARK, Bern 1984, N. 7 zu
Art. 935 ZGB
).
Die Lehre hat unter dem Blickwinkel von
Art. 727 ZGB
der Sammelverwahrung von Wertpapieren, wie sie im Bankgeschäft Eingang gefunden hat, besondere Aufmerksamkeit geschenkt und
BGE 112 II 406 S. 415
in diesem Zusammenhang den Begriff des modifizierten und labilen Miteigentums geprägt (Kommentar HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, N. 94c zu
Art. 727 ZGB
; mit Hinweis auf BAERLOCHER in Schweizerisches Privatrecht VII/1, Basel 1977, S. 690, Kommentar OSER/SCHÖNENBERGER, Zürich 1945, N. 4 zu
Art. 484 OR
, Kommentar STARK, N. 7 zu
Art. 935 ZGB
, RICO JENNY, Privatrechtsverhältnisse der Vermengung von Wertpapieren im Verwaltungsdepot der Bank (die Haussammelverwahrung), Zürcher Diss. 1969, S. 112, LIVER in Schweizerisches Privatrecht V/1, S. 382, PHILIPP HECK, Grundriss des Sachenrechts, Tübingen 1930, S. 261). Von labilem Miteigentum wird deshalb gesprochen, weil die aufbewahrende Bank ohne weiteres berechtigt, aber auch verpflichtet ist, jedem Hinterleger auf Verlangen Wertpapiere ohne Mitwirkung und Zustimmung der andern Miteigentümer von Art und Zahl, wie sie vom Ansprecher deponiert wurden, herauszugeben. Damit fällt die Verfügungsbeschränkung, wie sie im Normalfall dem Miteigentümer namentlich durch
Art. 648 Abs. 2 ZGB
auferlegt ist, weg.
b) Mit der Hinterlegung von Inhaberpapieren gleicher Art im Sammeldepot einer Bank lässt sich der hier zu beurteilende Sachverhalt nun in der Tat vergleichen. Wie ausgeführt, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Pent Holding Ltd. und die Emser Werke AG die Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG mit einer bestimmten Absicht im Gewahrsam der Ems-Chemie Holding AG gelassen haben. Sie haben auch nicht willentlich Miteigentum begründet; vielmehr ist diese Rechtsfolge unbeabsichtigt eingetreten, weil die umstrittenen Aktientitel sich mangels Aussonderung vermischt haben. Es rechtfertigt sich deshalb, die Pent Holding Ltd. genauso zu behandeln wie den Eigentümer von gleichartigen Inhaberpapieren, der diese im Sammeldepot einer Bank hinterlegt hat. Das bedeutet nach dem oben (E. a) Gesagten, dass die Pent Holding Ltd. jederzeit und ohne Zustimmung der Emser Werke AG die Hälfte der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG - das sind 400 Einzelaktien und ein 1000 Inhaberaktien verkörperndes Zertifikat - von der Ems-Chemie Holding AG herausverlangen konnte.
Zum gleichen Ergebnis gelangt man bei der analogen Anwendung von
Art. 484 Abs. 2 OR
auf den vorliegenden Rechtsstreit, wie sie insbesondere BAERLOCHER (a.a.O., S. 691 f.) im Zusammenhang mit der Banksammelverwahrung ins Auge fasst. Es ist anerkannt, dass diese obligationenrechtliche Bestimmung Art. 650/651
BGE 112 II 406 S. 416
ZGB vorgeht (BAERLOCHER, a.a.O., S. 691; mit Hinweis auf Kommentar MEIER-HAYOZ, 4. Auflage Bern 1966, N. 7 zu
Art. 651 ZGB
, Kommentar HAAB/SIMONIUS, Zürich 1948, N. 13 zu Art. 650/651 ZGB, Kommentar OSER/SCHÖNENBERGER, N. 5 zu
Art. 484 OR
). Sie verleiht dem Hinterleger die Befugnis, seinen Anteil herauszuverlangen, ohne dass er zuerst die Aufhebung des Miteigentums gegenüber den übrigen Hinterlegern zu verlangen braucht und ohne dass die Auseinandersetzung gemäss
Art. 651 ZGB
vor sich zu gehen braucht (Kommentar OSER/SCHÖNENBERGER, N. 4, 5 zu
Art. 484 OR
).
c) In gleicher Weise beurteilt sich die Rechtslage nach der Übernahme der hälftigen Beteiligung der Emser Werke AG durch die Beklagte. Die noch immer nicht ausgesonderten Titel standen nunmehr im Miteigentum der Pent Holding Ltd. und der Ems-Chemie Holding AG, doch blieb dieses Miteigentum ein solches besonderer Ausprägung. Die Beklagte hatte - nicht anders als die Pent Holding Ltd. - einen Anspruch auf sofortige und vereinfachte Aufhebung des Miteigentums, den sie als unmittelbare Besitzerin durch Aussonderung der Aktientitel hätte befriedigen können. Anderseits blieb sie in ihrer Eigenschaft als Aufbewahrerin zur Herausgabe der Hälfte der Titel an die Pent Holding Ltd. auf deren erstes Verlangen verpflichtet. Dass die Pent Holding Ltd. und die Beklagte später nicht bloss die Absicht gehabt hätten, die von ihnen gehaltenen Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG gleichzeitig an einen Erwerber zu veräussern, sondern darüber hinaus sich gegenseitig rechtlich verpflichtet hätten, nicht anders als gemeinsam über die Titel zu verfügen, kann aus den Umständen nicht geschlossen werden.
d) Daraus folgt, dass die Pent Holding Ltd. ihr Miteigentum an den Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG rechtsgeschäftlich auf die Schmid AG Gattikon übertragen oder mit dieser ein Verpflichtungsgeschäft auf Verschaffung des Eigentums an 1400 Inhaberaktien abschliessen konnte. Ja die Pent Holding Ltd. konnte angesichts des besonderen Charakters ihres Miteigentums der Klägerin nach der Besitzanweisung am Miteigentumsanteil einen eigenen dinglichen Herausgabeanspruch gegenüber der Ems-Chemie Holding AG verschaffen.
Das Kantonsgericht von Graubünden hat daher weder den von der Beklagten angerufenen
Art. 648 Abs. 2 ZGB
noch andere Bestimmungen des materiellen Bundesrechts - namentlich auch nicht die Art. 650/651 ZGB - dadurch verletzt, dass es die
BGE 112 II 406 S. 417
Vindikationsklage der Schmid AG Gattikon geschützt hat. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Vorinstanz den Standpunkt der Beklagten, es liege Miteigentum vor, verworfen hat.
e) Aus dem Gesagten folgt zudem, dass der Vorwurf mangelnder Spezifikation des Klagebegehrens ins Leere stösst. Es liegt im Wesen der Sache, dass der Miteigentümer an vermischten Inhaberpapieren in aller Regel nicht in der Lage ist, die herauszugebenden Titel, auch wenn sie numeriert sind, einzeln zu bezeichnen. Er kann, weil er die Herausgabe einer bestimmten Stückzahl gleichartiger und gleichwertiger Sachen - also von Gattungssachen - verlangt, dem herausgabepflichtigen Schuldner die Auswahl der einzelnen Stücke überlassen (
Art. 71 Abs. 1 OR
).
5.
Die Beklagte sieht die
Art. 919 und 924 ZGB
verletzt, weil die Klägerin an den Titeln, deren Herausgabe sie verlangt, nie Besitz und damit auch nie Eigentum erworben habe. Mangels Besitzes habe die Pent Holding Ltd. der Schmid AG Gattikon aus eigenem Recht auch keinen solchen verschaffen können, so dass sich ein allenfalls zwischen der Klägerin und der Pent Holding Ltd. zustande gekommener Vertrag auf Besitzanweisung wegen unmöglichen Inhalts aufgrund von
Art. 20 OR
als ungültig erwiese. Im übrigen fehle es am Nachweis für den Abschluss eines solchen Vertrages.
a) Als die Pent Holding Ltd. am 14. April 1983 mit der Klägerin die Vereinbarung zur Übernahme der Hälfte des Aktienkapitals der Kammgarnspinnerei Interlaken AG schloss, war unbestrittenermassen der Aufbewahrungsort der Aktientitel in Vergessenheit geraten. Die für die Pent Holding Ltd. handelnden Personen waren sich nicht bewusst, dass sämtliche Titel noch immer unausgesondert im Gewahrsam der Ems-Chemie Holding AG lagen, und die Beklagte merkte offenbar zunächst selber nicht, dass sie selber alle Aktien verwahrte. Erst als die Pent Holding Ltd. an die Beklagte herantrat und ihre Hälfte aus den Aktientiteln herausverlangte, um den mit der Klägerin geschlossenen Vertrag erfüllen zu können, wurde die Beklagte der tatsächlichen Situation gewahr. Sie verweigerte die Herausgabe der Titel und hinterlegte sie bis auf 20 Pflichtaktien des Verwaltungsrates der Kammgarnspinnerei Interlaken AG bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich, die sie anwies, die Titel nur auf gemeinsames Verlangen der Pent Holding Ltd. und der Ems-Chemie Holding AG herauszugeben. Die 20 Pflichtaktien deponierte die Beklagte am Sitz der Kammgarnspinnerei Interlaken AG.
BGE 112 II 406 S. 418
Entgegen der Auffassung der Beklagten vermochten diese nachträglichen Dispositionen die Rechtslage nicht zum Nachteil der Pent Holding Ltd. oder der Klägerin zu ändern. Die Beklagte, welche die Titel bei der Schweizerischen Bankgesellschaft und der Kammgarnspinnerei Interlaken AG hinterlegt hatte, blieb selbständige und mittelbare Besitzerin und hätte als solche einer gegen sie gerichteten Vindikationsklage der Pent Holding Ltd. die Hinterlegung nicht entgegenhalten können. Wäre die Ems-Chemie Holding AG durch den Richter zur Herausgabe der Hälfte der Titel an die Pent Holding Ltd. verpflichtet worden, so hätte gestützt darauf die Schweizerische Bankgesellschaft zur Herausgabe an die Pent Holding Ltd. veranlasst werden können. In gleicher Weise kann aber nun die Schmid AG Gattikon - unter der Voraussetzung, dass sie von der Pent Holding Ltd. die aus dem Miteigentum fliessenden Rechte erworben hat - die Herausgabe der Titel an sich verlangen. Dass die Pent Holding Ltd. nachträglich anderen Sinnes geworden ist, ihre Vereinbarung mit der Klägerin nach Einleitung des vorliegenden Prozesses wegen Willensmangels angefochten und dem Vertrag der Beklagten mit der Schweizerischen Bankgesellschaft über die Hinterlegung der Titel zugestimmt hat, vermag die Rechtslage zwischen den Prozessparteien nicht zu beeinflussen, wie noch aufzuzeigen ist.
b) Gemäss Ziff. 1 der Vereinbarung vom 14. April 1983 sollte die Übernahme der Hälfte des Aktienkapitals der Kammgarnspinnerei Interlaken AG durch die Klägerin "mit sofortiger Wirkung" geschehen. Das war insofern unpräzis formuliert, als gemäss Ziff. 13 der gesamte Vertrag unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die Verbandsdirektion bzw. den Ausschuss des Verwaltungsrates der Coop Schweiz geschlossen wurde, die bis 27. April 1983 zu erfolgen hatte. Offensichtlich verstanden die Parteien diese Vereinbarung als Verpflichtungsgeschäft, wobei die Pent Holding Ltd. davon ausging, dass sie die in ihrem Besitz befindlichen Aktientitel nach erfolgter Genehmigung sofort der Schmid AG Gattikon aushändigen könne. Dabei täuschte sich die Pent Holding Ltd. freilich nicht nur deshalb, weil die Aktien nicht ohne weiteres greifbar waren, sondern sie verkannte auch die Eigentumsverhältnisse. Den Anspruch der Klägerin auf Übertragung des unmittelbaren Besitzes an der Hälfte der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG konnte die Pent Holding Ltd. solange nicht erfüllen, als sich die Beklagte (aus nicht festgestellten
BGE 112 II 406 S. 419
und den Akten nicht zu entnehmenden Gründen) weigerte, die Titel herauszugeben.
Die Klägerin beharrte gegenüber der Pent Holding Ltd. auf der Vertragserfüllung, was sie damit zum Ausdruck brachte, dass sie am 8. Juli 1983 beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Coop Schweiz und die Pent Holding Ltd. Klage auf Übergabe der 1400 Titel einleitete, also auf Erfüllung klagte. In Kenntnis der bevorstehenden Klageeinleitung - die Sühneverhandlung hatte am 5. Juli 1983 stattgefunden - wies die Pent Holding Ltd. die Ems-Chemie Holding AG mit Schreiben vom 8. Juli 1983 darauf hin, dass diese den ehemals der Pent Holding Ltd. gehörenden Anteil an den Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG nunmehr für die Schmid AG Gattikon halte. Ob und inwiefern dieser Schritt zwischen der Pent Holding Ltd. und der Klägerin abgesprochen worden war, lässt sich weder den vorinstanzlichen Feststellungen noch den Akten entnehmen. Hingegen steht fest, dass die Klägerin von der Pent Holding Ltd. eine Fotokopie dieses Schreibens zugestellt erhielt und nur drei Tage später beim Vermittleramt des Kreises Rhäzüns die Klage einleitete, die Gegenstand dieses Verfahrens ist.
In diesen Vorgängen sahen sowohl das Bezirksgericht Imboden als auch das Kantonsgericht von Graubünden - die allerdings vom Alleineigentum der Pent Holding Ltd. ausgingen - eine stillschweigend zustande gekommene Vereinbarung auf Besitzanweisung zwischen der Pent Holding Ltd. und der Schmid AG Gattikon; dabei setzten offenbar beide Instanzen den Zeitpunkt des Zustandekommens vor dem 8. Juli 1983 an, das Bezirksgericht in einer Eventualbegründung aber auch nach diesem Datum. In dem Schreiben der Pent Holding Ltd. an die Ems-Chemie Holding AG sodann sahen die kantonalen Gerichte zwar nicht eine Besitzanweisung, jedoch die Mitteilung einer solchen an den unmittelbaren Besitzer der Sache. Ob aus einer solchen Mitteilung auf eine bereits erfolgte Besitzanweisung geschlossen werden kann, wie die kantonalen Instanzen annahmen, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls erweist sich die Eventualbegründung des Bezirksgerichts als zutreffend, wonach sich das stillschweigende Einverständnis der Klägerin, den Miteigentumsanteil an den umstrittenen Aktien durch Besitzanweisung zu erwerben, aus ihrem weiteren Handeln mit hinreichender Schlüssigkeit ergibt.
Im Besitz der Kopie des Schreibens der Pent Holding Ltd. vom 8. Juli 1983, leitete nämlich die Klägerin bereits am 11. Juli 1983
BGE 112 II 406 S. 420
beim Vermittleramt des Kreises Rhäzüns die vorliegende Klage auf Herausgabe der Hälfte des Aktienpaketes der Kammgarnspinnerei Interlaken AG ein und berief sich damit auf ihr Eigentum. Das von der Klägerin an den Vermittler gerichtete Rechtsbegehren entsprach dem, was den Gerichten zur Entscheidung vorlag. Eigentum an den Titeln konnte die Schmid AG Gattikon sinnvollerweise nur unter der Voraussetzung geltend machen, dass ihr dieses durch die Pent Holding Ltd. übertragen worden war, was - wenn nicht durch Tradition - einzig durch Besitzanweisung am Miteigentumsanteil hatte geschehen können (die Übertragung des Besitzes bei Miteigentum durch ein Surrogat und damit wohl auch durch Besitzanweisung bejaht Kommentar HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, N. 11 zu
Art. 646 ZGB
). Ob das Schreiben der Pent Holding Ltd. an die Ems-Chemie Holding AG vom 8. Juli 1983 in Absprache mit der Klägerin verfasst wurde oder ob diese erst nachträglich davon erfuhr, ist von untergeordneter Bedeutung. Jedenfalls setzte die Einleitung einer sich auf das Eigentum gründenden Klage gegen die Ems-Chemie Holding AG notwendigerweise das Einverständnis der Klägerin mit dem Inhalt des Schreibens vom 8. Juli 1983 voraus, insbesondere damit, dass die Beklagte die Titel nicht mehr für die Pent Holding Ltd., sondern für sie - die Schmid AG Gattikon - halten solle.
c) Der Besitz geht durch Besitzanweisung über, sobald dies zwischen dem Veräusserer und dem Erwerber vereinbart wird. Eine Benachrichtigung des Dritten, der die Sache bisher für den Veräusserer als unselbständiger Besitzer besass, ist für den Übergang der Sache auf den Erwerber als neuen selbständigen Besitzer entgegen der Auffassung der Beklagten nicht erforderlich (
BGE 109 II 150
E. d, mit Hinweisen). Die einzige Auswirkung der Unterlassung der Anzeige an den Dritten (
Art. 924 Abs. 2 ZGB
) besteht darin, dass sich dieser durch Herausgabe der Sache an den bisherigen, selbständigen Besitzer befreien kann (
BGE 93 II 480
E. 5,
BGE 46 II 49
; Kommentar STARK, N. 22 ff. zu
Art. 924 ZGB
).
Durch die Vereinbarung der Besitzanweisung trat die Klägerin auch ohne, ja sogar gegen den Willen der Beklagten in die ihr von der Pent Holding Ltd. eingeräumte Rechtsstellung ein; das heisst, sie wurde mittelbare und selbständige Besitzerin am Miteigentumsanteil betreffend die Hälfte der Aktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Ihre Stellung als selbständige Besitzerin gründet nicht - wie die Parteien des Vertrags vom 14. April 1983 irrtümlicherweise meinten - auf Alleineigentum, sondern auf Miteigentum
BGE 112 II 406 S. 421
zusammen mit der Ems-Chemie Holding AG. Wie oben (E. 4a, b) dargelegt, handelt es sich dabei um Miteigentum besonderer Ausprägung in dem Sinne, dass damit der Anspruch auf dessen jederzeitige Aufhebung durch Herausgabe der Titel verbunden ist. Der dingliche Anspruch auf Herausgabe musste daher der Klägerin nicht eigens abgetreten werden, sondern ging mit der Besitzanweisung am Miteigentumsanteil auf sie über.
Genausowenig wie gegenüber der Pent Holding Ltd. konnte die Beklagte gegenüber der Klägerin, die einen dinglichen Rechtstitel erworben hatte, die Herausgabe mit aus dem Eigentum sich ergebenden Gründen verweigern (
Art. 924 Abs. 3 ZGB
e contrario). Das Kantonsgericht von Graubünden hat deshalb mit dem Entscheid, dass die Klägerin durch Besitzanweisung einen Anspruch auf Herausgabe der 1400 Inhaberaktien der Kammgarnspinnerei Interlaken AG erworben habe, kein Bundesrecht verletzt.
d) Nicht zu hören ist schliesslich das Argument der Beklagten, durch Besitzanweisung hätten ohnehin nur 1390 Aktientitel übertragen werden können, weil seit dem 4. Mai 1983 mit Wissen der Pent Holding Ltd. 20 Pflichtaktien der Mitglieder des Verwaltungsrates am Sitz der Kammgarnspinnerei Interlaken AG hinterlegt gewesen seien.
Auch die bei der Kammgarnspinnerei Interlaken AG liegenden Aktien standen im Miteigentum der Pent Holding Ltd. und der Ems-Chemie Holding AG, und auch bezüglich dieser Titel stand der Pent Holding Ltd. ein Vindikationsanspruch gegenüber der Beklagten zu, der durch Besitzanweisung am Miteigentumsanteil an die Klägerin überging. Durch die Hinterlegung am Sitz der Kammgarnspinnerei Interlaken AG konnte die Beklagte den Anspruch auf Herausgabe nicht ausschliessen, selbst wenn - was die Beklagte nie behauptet hat - die von der Ems-Chemie Holding AG in den Verwaltungsrat der Kammgarnspinnerei Interlaken AG delegierten Personen kraft Statuten zur Hinterlegung von wenigstens 10 Aktien verpflichtet gewesen sein sollten. Die Hinterlegungspflicht besteht gegenüber der Gesellschaft und trifft grundsätzlich die Mitglieder des Verwaltungsrates persönlich (Kommentar BÜRGI, N. 4 zu Art. 709/710 OR). Hinterlegte die Beklagte die Pflichtaktien gegen den Willen der Pent Holding Ltd., so änderte sich damit nichts an deren Anspruch auf Herausgabe der Hälfte aller Aktien. Es oblag der Kammgarnspinnerei Interlaken AG, von den Mitgliedern des Verwaltungsrates, die von der Pent Holding Ltd. (und später von der Schmid AG Gattikon) abgeordnet
BGE 112 II 406 S. 422
wurden, eine den statutarischen Vorschriften entsprechende Zahl von Pflichtaktien einzufordern. Im übrigen konnte die Beklagte dem Vindikationsanspruch genügen, ohne die bei der Kammgarnspinnerei Interlaken AG deponierten Inhaberaktien zurückfordern zu müssen. | de |
09f52454-97ae-40f9-a6c1-e16102e54bc2 | Sachverhalt
ab Seite 502
BGE 81 II 502 S. 502
A.-
Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 15. Januar 1948 verkaufte Göldlin, dem damals die aneinandergrenzenden
BGE 81 II 502 S. 503
Grundstücke Parz. Nr. 459 (Willimatthof), 460 (Willimatt) und 664 in Sursee gehörten, das zuerst genannte Grundstück an Brunner. Der Vertrag bestimmte u.a. wörtlich:
"6. Zu Gunsten der Parzelle Nr. 459 wird zu Lasten der Parzelle Nr. 664 und eine südliche Parzelle (von Parz. Nr. 460) von ca. 700 m2 eine Gewerbebeschränkung für eine öffentliche Autogarage oder Autowerkstätte oder ein sonstiges lärmendes Gewerbe errichtet. Dieses Recht ist im Grundbuch einzutragen.
7. Der Verkäufer räumt dem Käufer auf den oben bezeichneten Parzellen Nr. 664 und von Parz. 460 (ca. 700 m2) ein Vorkaufsrecht ein. Dieses Vorkaufsrecht ist im Grundbuch einzutragen."
Der Kaufvertrag wurde am 17. Februar 1948 in das Grundbuch eingetragen. Auf dem Blatt für das Grundstück Nr. 460 wurde vorgemerkt: "Vorkaufsrecht an 700 m2 zG. Fritz Brunner ... bis 19. Januar 1958."
B.-
Am 14. Oktober 1954 verkaufte Göldlin das Grundstück Nr. 460 (Willimatt) im Umfange von 10 724 m2, das aus Wiesland und der seiner nordöstlichen Grenze folgenden Willimattstrasse besteht, nebst dem mit dieser Liegenschaft nicht zusammenhängenden Strassengrundstück Nr. 963 im Ausmass von 274 m2 zu einem Gesamtpreise von Fr. 70'000.-- an Frau Lehmann, die ihm am 12. August 1954 bereits das neben dem Willimatthof liegende, aus 646 m2 Wiesland bestehende Grundstück Nr. 664 zu Fr. 25'000.-- abgekauft hatte. Der Kaufvertrag vom 14. Oktober 1954 erwähnt unter den Dienstbarkeiten und Grundlasten u.a. ein "Fahrwegrecht (4,50 m Breite) zG. Nr. 973", das beim Verkauf dieser von Nr. 460 abgetrennten Parzelle an die Katholische Kirchgemeinde gemäss Vertrag vom 9. Februar 1954 begründet worden war, sowie das durch den Kaufvertrag vom 12. August 1954 errichtete Fahrwegrecht zugunsten von Nr. 664, und bestimmt in Ziffer 7, dass die Käuferin (Frau Lehmann) dem Verkäufer (Göldlin) auf der verkauften Parzelle Nr. 460 ein im Grundbuch vorzumerkendes Vorkaufsrecht für die Dauer von zehn Jahren einräume.
BGE 81 II 502 S. 504
Am 23. Oktober 1954 richtete Brunner an das Grundbuchamt Sursee sowie an Göldlin und Frau Lehmann folgendes Schreiben:
"Mit Zuschrift vom 21. crt. teilt mir das Grundbuchamt Sursee mit, dass die Parzelle No. 460 des Grundbuches Sursee von Herrn Göldlin an Frau Lehmann verkauft worden ist.
Laut Eintragung im Grundbuch habe ich auf dieser Parzelle ein Vorkaufsrecht für 700 m2 südlich, anstossend an mein Grundstück auf dessen Breite.
Zu Ihrer Orientierung teile ich Ihnen mit, dass ich von diesem Vorkaufsrecht Gebrauch mache.
Ich ersuche Sie hievon Vormerk nehmen zu wollen. Gleichzeitig bitte ich um Mitteilung, wann, wohin und an wen ich mein Betreffnis für fragl. 700 m2 zu vergüten habe."
Göldlin liess Brunner antworten, er betrachte das Vor kaufsrecht als ungültig, da es "in wesentlichen Punkten ...
viel zu wenig bestimmt oder bestimmbar" sei.
C.-
Hierauf leitete Brunner am 9. November 1954 gegen Göldlin Klage ein mit den Begehren:
"1. Der Beklagte habe dem Kläger gegen Bezahlung von Fr. 6.52 pro m2 auf dem Grundstück Willimatt, Parzelle Nr. 460 Grundbuch Sursee, eine Parzelle von 700 m2, gelegen südlich der Parzelle des Klägers Nr. 459, in einer Anstosslänge von 24 m und einer Tiefe von 29.15 m zu überlassen und ihm das Eigentum daran einzuräumen.
2. Der Richter habe dem Kläger an der sub 1 erwähnten Parzelle das Eigentum zuzusprechen." | de |
0a6c9987-8b9b-4f9c-b4bc-f6f578f6b9f1 | Sachverhalt
ab Seite 448
BGE 110 II 447 S. 448
A.-
Wolfgang Vogel und Ernst Bosshard erwarben im Jahre 1968 die Liegenschaft Nr. 297 mit Wohnhaus und Garage in der Gemeinde Laax und begründeten daran zu 46/100 bzw. 54/100 Miteigentum. Am 6. Juli 1979 bot Wolfgang Vogel seinen Miteigentumsanteil von 46/100 Willi Heiz zum Preis von Fr. 240'000.-- zum Kauf an. Dieser erklärte, er beabsichtige, den Miteigentumsanteil von Ernst Bosshard zu erwerben und sehe sich daher nicht in der Lage, auch den Miteigentumsanteil von Wolfgang Vogel zu kaufen. Im Herbst 1979 erwarb dann Willi Heiz den Miteigentumsanteil von Ernst Bosshard.
Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 31. März 1980 verkaufte Wolfgang Vogel seinen Miteigentumsanteil Rudolf Wüthrich zum Preise von Fr. 250'000.--, worin auch noch Mobiliar im Betrag von Fr. 24'000.-- eingeschlossen war. Das Grundbuchamt Laax gab Willi Heiz am gleichen Tag vom Kaufvertrag Kenntnis und setzte ihm eine Frist von 30 Tagen an, um allenfalls sein gesetzliches Vorkaufsrecht gemäss
Art. 682 ZGB
schriftlich auszuüben. Willi Heiz erklärte am 20. April 1980 dem Grundbuchamt Ilanz gegenüber, dass er sein Vorkaufsrecht ausübe, und teilte dies am 23. bzw. 25. April auch Wolfgang Vogel und Rudolf Wüthrich mit. In einer weiteren Korrespondenz befassten sich Willi Heiz und Wolfgang Vogel mit der Zahlungsmodalität des Kaufpreises und mit der Frage, welches Mobiliar mitverkauft werde. Am 2. Mai 1980 teilte das Grundbuchamt Ilanz Willi Heiz, Wolfgang Vogel und Rudolf Wüthrich mit, Willi Heiz sei mit Wirkung ab 31. März 1980 als Alleineigentümer der Liegenschaft Nr. 297 in der Gemeinde Laax ins Grundbuch eingetragen worden. Drei Tage später schrieb Wolfgang Vogel Willi Heiz, dass er die Ausübung des Vorkaufsrechts nicht bestreite und bis zum 10. Mai 1980 die Überweisung des Kaufpreises von Fr. 250'000.-- erwarte, ansonst ein Verzugszins von 4% berechnet werde. Willi Heiz liess dem Verkäufer am 9. Mai 1980 den Betrag von Fr. 223'000.-- und am 7. Juli 1980 "unter Berücksichtigung von Mietzinsanteilen, Nebenkosten und Minderwert des Inventars" noch einen Restbetrag von Fr. 4'430.-- überweisen. Inzwischen hatte Wolfgang Vogel mit Schreiben vom 12. Mai 1980 den Rücktritt vom Kaufvertrag
BGE 110 II 447 S. 449
erklärt, weil der vereinbarte Kaufpreis von Fr. 250'000.-- nicht rechtzeitig geleistet worden sei.
B.-
Nach erfolgloser Sühneverhandlung beim Vermittleramt des Kreises Ilanz reichten Wolfgang Vogel und Rudolf Wüthrich am 25. August 1980 beim Bezirksgericht Glenner gegen Willi Heiz Klage ein mit den Rechtsbegehren, es sei festzustellen, dass der Eintrag von Willi Heiz als Eigentümer von 46/100 Miteigentumsanteil an der Liegenschaft Parzelle Nr. 297 in Laax ungerechtfertigt sei, und es sei dieser Eintrag zu löschen und anstelle von Willi Heiz Rudolf Wüthrich als Miteigentümer im Grundbuch einzutragen. Das Bezirksgericht wies die Klage mit Urteil vom 29. September 1982 vollumfänglich ab.
Dieses Urteil zogen die beiden Kläger mit einer Berufung an das Kantonsgericht von Graubünden weiter. Dieses wies die Berufung am 26. April 1983 ab.
C.-
Die Kläger erheben beim Bundesgericht Berufung, mit der sie die Aufhebung des kantonsgerichtlichen Urteils und die Gutheissung ihrer Klage, eventuell die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Aktenergänzung und zu neuer Entscheidung beantragen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit auf sie einzutreten ist, und bestätigt das angefochtene Urteil. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
In der Berufungsschrift werfen die Kläger die Frage auf, ob der Kläger 2 als Käufer neben dem Kläger 1, dem Verkäufer, zur Grundbuchberichtigungsklage im Sinne von
Art. 975 ZGB
legitimiert sei, weil er durch den Eintrag von Willi Heiz im Grundbuch nicht in seinen dinglichen Rechten verletzt worden sei. Die Kläger verweisen indessen auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts in
BGE 84 II 192
f., wonach in Ausnahmefällen auch ein nicht dinglich Berechtigter zur Grundbuchberichtigungsklage zuzulassen sei. Allerdings ist der Kläger 2 im vorliegenden Fall im Gegensatz zu
BGE 98 II 22
f. nicht zu Unrecht im Grundbuch eingetragen und hat sich der Verkäufer hier entgegen
BGE 84 II 192
f. nicht einer Klage des Käufers auf Zusprechung des Eigentums unterzogen, was einem entsprechenden richterlichen Urteil gleichzusetzen wäre. Doch braucht die Frage, ob sich die erweiterte Anwendung von
Art. 975 ZGB
auch auf den Kläger 2 rechtfertigt,
BGE 110 II 447 S. 450
nicht entschieden zu werden, weil die Berufung des Klägers 2 abgewiesen werden müsste, wenn auf sie eingetreten werden könnte.
2.
Trotz der Tatsache, dass der Kläger 1 in einem Brief vom 5. Mai 1980 an den Beklagten ausdrücklich festgehalten hatte, dass dessen Ausübung des Vorkaufsrechts nicht bestritten werde, machen die Kläger auch vor Bundesgericht wiederum geltend, der Beklagte habe schon mit Schreiben vom 22. Juli 1979 auf sein gesetzliches Vorkaufsrecht verzichtet. Damals habe der Kläger 1 seinen Miteigentumsanteil dem Beklagten zum Kaufe angeboten, worauf dieser das Angebot mit dem Hinweis abgelehnt habe, er erwerbe möglicherweise den Miteigentumsanteil von Ernst Bosshard. In dieser Erklärung ist nach Meinung der Kläger ein Verzicht auf das gesetzliche Vorkaufsrecht zu erblicken. Dabei übersehen die Kläger jedoch, dass der Beklagte im Sommer 1979 noch gar nicht von Gesetzes wegen vorkaufsberechtigt war. Er hatte den Erwerb eines Miteigentumsanteils erst in Aussicht genommen, aber diese Absicht noch keineswegs verwirklicht. Inwiefern die Vorinstanz unter diesen Umständen Bundesrecht verletzt haben sollte, wenn sie die Ablehnung eines Kaufsangebots durch den Beklagten, nicht aber den Verzicht auf die Ausübung eines gesetzlichen Vorkaufsrechts bejaht hat, ist unerfindlich. Dies gilt um so mehr, als zwischen dem Kaufsangebot und dem Vorkaufsfall eine Zeitspanne von fast neun Monaten lag und die Person des Käufers erst nachträglich bekannt wurde. Auch von einem Rechtsmissbrauch, auf den sich die Kläger berufen und der in der Ausübung der erst später entstandenen Vorkaufsberechtigung liegen soll, kann keine Rede sein. Schliesslich muss in diesem Zusammenhang auch die Rüge eines offensichtlichen Versehens der Vorinstanz zum vornherein ins Leere stossen.
4.
Die Vorinstanz hat auch verneint, dass der Verkäufer Vogel in rechtsgültiger Weise am 12. Mai 1980 vom Kaufvertrag zurückgetreten sei, weil der Vorkaufsberechtigte den Kaufpreis von Fr. 250'000.-- nicht bis zu diesem Zeitpunkt bezahlt habe, wobei Fr. 226'000.-- als Entgelt für den Miteigentumsanteil und Fr. 24'000.-- für die gekauften Möbel geschuldet gewesen seien. Einem Rücktritt vom Vertrag sei schon
Art. 214 Abs. 3 OR
in Verbindung mit
Art. 221 OR
entgegengestanden, nachdem aufgrund der Grundbuchanmeldung des Verkäufers vom 31. März 1980 der Beklagte als neuer Eigentümer ins Grundbuch eingetragen worden sei und sich der Verkäufer das Recht, auch nach der
BGE 110 II 447 S. 451
Eigentumsübertragung vom Vertrag noch zurückzutreten, nicht vorbehalten habe.
In der Berufung wird nun eingewendet, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts in
BGE 86 II 233
E. 11c dürfe
Art. 214 Abs. 3 OR
, der gemäss
Art. 221 OR
auf den Grundstückkauf nicht unmittelbar, sondern nur entsprechend anwendbar sei, nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er die Möglichkeit, nach
Art. 107 ff. OR
vorzugehen, ausschliesse. Dabei übersehen die Kläger jedoch, dass in diesem Entscheid eine solche Aussage keineswegs ganz allgemein gemacht wurde und nach dem Wortlaut von
Art. 214 Abs. 3 OR
auch gar nicht möglich war. Vielmehr hat das Bundesgericht festgehalten, der Rücktritt vom Vertrag nach
Art. 107 ff. OR
könne beim Grundstückkauf unter Berufung auf
Art. 214 Abs. 3 OR
dann nicht ausgeschlossen werden, wenn der Käufer der Liegenschaft noch nicht ins Grundbuch eingetragen worden sei. Dem Eintrag ins Grundbuch komme nämlich die Funktion der Besitzesübertragung beim Fahrniskauf zu, die in
Art. 214 Abs. 3 OR
für einen Ausschluss des Rücktrittsrechts vom Vertrag vorausgesetzt werde.
Im vorliegenden Fall ist nicht zu bezweifeln, dass der Beklagte nach der Ausübung des Vorkaufsrechts ins Grundbuch eingetragen worden ist. Dieser Eintrag ist denn auch von den beiden Klägern im vorinstanzlichen Verfahren gerügt worden. Sie machen geltend, die Anmeldung zum Eintrag ins Grundbuch vom 31. März 1980 durch den Verkäufer habe sich ausschliesslich auf den Käufer Wüthrich bezogen, nicht aber auch auf den Fall der Ausübung des Vorkaufsrechts durch den Miteigentümer Willi Heiz. Die Vorinstanz ist auf diese Rüge mit der Begründung nicht eingetreten, sie betreffe das formelle Grundbuchrecht und könne somit nur Gegenstand einer Grundbuchbeschwerde an die Aufsichtsbehörde bilden. In ihrer Berufung an das Bundesgericht stellen sich die Kläger auf den Standpunkt, auch bei Ausübung eines gesetzlichen Vorkaufsrechts müsse die Anmeldung zur Eintragung des Vorkaufsberechtigten in das Grundbuch durch den Verkäufer erfolgen. Sie werfen der Vorinstanz unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, sie sei zu Unrecht nicht auf ihre Rüge eingetreten, der Grundbuchverwalter hätte den Beklagten nicht ohne Zustimmung des Verkäufers in das Grundbuch eintragen dürfen.
Tatsächlich hätte das Kantonsgericht auf diese Rüge eintreten müssen. Wie das Bundesgericht in
BGE 76 I 232
ff. festgehalten
BGE 110 II 447 S. 452
hat, kann entgegen der Auffassung der Vorinstanz mit der Grundbuchbeschwerde nicht geltend gemacht werden, eine Eintragung im Grundbuch sei ohne genügenden Ausweis vorgenommen worden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts können bereits vollzogene Eintragungen im Grundbuch nur auf Anordnung des Richters berichtigt werden (
BGE 98 Ia 186
mit Hinweisen). In einem weiteren Urteil vom 22. März 1934 hat das Bundesgericht überdies entschieden, dass die vom Verkäufer der Urkundsperson erteilte Ermächtigung zur Eintragung des nicht vorkaufsberechtigten Käufers ins Grundbuch nicht ohne weiteres für den sein gesetzliches Vorkaufsrecht ausübenden Miteigentümer gelte (ZBGR 31 (1950) S. 283 f.). Gestützt auf diese Rechtsprechung ist daher im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass der Grundbuchführer von Ilanz, der den Kaufvertrag vom 31. März 1980 öffentlich beurkundet hatte, den Beklagten nicht ohne eine von Wolfgang Vogel entsprechend ergänzte Anmeldung ins Grundbuch hätte eintragen dürfen. Unter diesen Umständen ist aber auch nicht einzusehen, weshalb dem Verkäufer
Art. 214 Abs. 3 OR
entgegenzuhalten ist, da er ja nicht zur Eigentumsübertragung an den Beklagten beigetragen hat.
5.
Das Kantonsgericht hat indessen einen rechtlich wirksamen Rücktritt vom Vertrag durch den Kläger 1 auch noch mit der Begründung verneint, es sei keine Nachfrist im Sinne von
Art. 107 Abs. 1 OR
angesetzt worden. Zwar haben sich der Kläger 1 und der Beklagte erst nach wiederholter Korrespondenz über die Zahlungsmodalitäten geeinigt. Im Schreiben des Verkäufers an den Beklagten von 5. Mai 1980 ist aber nur von einem Verzugszins von 4% die Rede für den Fall, dass der Kaufpreis von Fr. 250'000.-- nicht bis zum 10. Mai 1980 an die Schweizerische Volksbank in Winterthur bezahlt worden sei. Mit Recht hat die Vorinstanz darin nicht eine Nachfristansetzung im Sinne von
Art. 107 OR
erblickt, wurde doch bei dieser Gelegenheit vom Verkäufer zum ersten Mal ein Zahlungstermin erwähnt, nachdem der Beklagte in seinem Schreiben vom 25. April 1980 um die Nennung eines solchen ersucht hatte. Mit Brief vom 29. April 1980 hatte der Kläger 1 noch darauf hingewiesen, dass der Kaufpreis nicht vor dem 2. Mai 1980 zu bezahlen sei und dass er am 1. Mai darüber noch nähere Einzelheiten bekanntgeben werde, was in der Folge jedoch unterblieb.
Es mag allerdings fraglich bleiben, ob
Art. 107 Abs. 1 OR
angesichts von
Art. 214 Abs. 1 OR
überhaupt in Betracht fällt.
BGE 110 II 447 S. 453
Indessen bleibt zu beachten, dass ein Mengenkauf vereinbart worden ist. Gemäss Kaufvertrag vom 31. März 1980 setzt sich der Kaufpreis von Fr. 250'000.-- aus Fr. 226'000.-- für den Miteigentumsanteil und Fr. 24'000.-- für mitverkaufte Möbel zusammen. Auf diese Weise wird aber dem von Gesetzes wegen an einer Liegenschaft Vorkaufsberechtigten die Ausübung seines Vorkaufsrechts in unzulässiger Weise erschwert, wenn er wie der Drittkäufer noch zusätzlich Mobilien mitkaufen sollte, an denen möglicherweise der Dritte, nicht aber er selber ein Interesse hat. Nun hat aber der Beklagte im vorliegenden Fall sich in seinem Schreiben vom 25. April 1980 an den Verkäufer grundsätzlich bereit erklärt, die dem Drittkäufer, d.h. dem Kläger 2, mitverkauften Einrichtungsgegenstände auch zum Preis von Fr. 24'000.-- zu übernehmen. Wenn er diesen Betrag dann nicht schon bis zum 10. Mai 1980 beglich, so geschah dies, weil die vom Verkäufer dem Beklagten überlassenen Möbel ihrem Werte nach weit unter dem vereinbarten Preis von Fr. 24'000.-- lagen. Demgegenüber hatte der Beklagte den Kaufpreis für den Miteigentumsanteil von Fr. 226'000.--, wobei er Fr. 3'000.-- für Mietzinsen und Nebenkosten in Abzug gebracht hatte, am 9. Mai 1980 geleistet. Es geht daher nicht an, einem Vorkaufsberechtigten, der sein Recht form- und fristgerecht ausgeübt hat, zum vornherein zu verunmöglichen, seinen Standpunkt hinsichtlich eines bloss ergänzenden Kaufs von Möbeln zu vertreten, und zwar mit dem Hinweis, der Drittkäufer hätte den Kaufvertrag in seinem ganzen Umfang anstandslos erfüllt und sei deshalb anstelle des Vorkaufsberechtigten ins Grundbuch einzutragen. Beim Teilverzug in Zusammenhang mit einem Mengenkauf, der im Unterschied zu § 508 BGB im schweizerischen Obligationenrecht nicht besonders geregelt ist, erstrecken sich die Rechtsfolgen des Verzugs nicht ohne weiteres auf den ganzen Kaufvertrag (vgl. VON TUHR-ESCHER, Allgemeiner Teil des schweiz. OR, Bd. II 2, S. 158).
6.
Das Rechtsbegehren der Klage, das Gegenstand der Berufung an das Bundesgericht bildet, ist im übrigen auf die Eintragung von Rudolf Wüthrich in das Grundbuch gerichtet. Zwar wird mit ihr auch die Feststellung verlangt, dass die Eintragung des Beklagten im Grundbuch zu Unrecht erfolgt sei, indessen hat die Vorinstanz mit Recht entschieden, dass diesem Feststellungsbegehren keine selbständige Bedeutung zukomme. Wird nämlich der Nachweis eines unrichtigen Eintrags erbracht und dementsprechend die Löschung des Eintrags verlangt, so ist ein anderer Eigentümer
BGE 110 II 447 S. 454
einzutragen. Das Begehren der Klage lautet aber ausschliesslich auf Eintragung des Drittkäufers Rudolf Wüthrich. Dieser kann jedoch im Grundbuch nicht als Eigentümer eingetragen werden, solange der ordnungsgemäss erfolgte Eintritt des Vorkaufsberechtigten in den Kaufvertrag vom 31. März 1980 nicht hinfällig geworden ist. Die Löschung des Eintrags von Willi Heiz könnte daher im heutigen Zeitpunkt nur zum Wiedereintrag von Wolfgang Vogel führen, was nicht Gegenstand des erhobenen Rechtsbegehrens ist und ausserdem auch nicht sinnvoll wäre; denn der Beklagte könnte bei Weigerung des Klägers 1, seine Eintragung im Grundbuch anzumelden, ohne weiteres ein entsprechendes richterliches Urteil erwirken, aufgrund dessen der Grundbuchführer den Eintrag zugunsten des Willi Heiz vorzunehmen hätte. Unter diesen Umständen erübrigt sich eine Grundbuchberichtigung, was zur Abweisung der Klage und damit auch der Berufung führt. | de |
3662d3f4-178d-4520-8653-13f82ca54c40 | Sachverhalt
ab Seite 216
BGE 143 III 216 S. 216
A.
Die C. GmbH (Klägerin 1, Beschwerdegegnerin 1), Deutschland, wurde 1992 gegründet und betreibt seit 2013 eine Zweigniederlassung in der Schweiz. D. (Kläger 2, Beschwerdegegner 2) ist als Geschäftsführer der C. GmbH eingetragen. Die A. GmbH (Beklagte, Beschwerdeführerin) wurde am 21. März 2007 gegründet. Die Stammanteile wurden zu 30 % von der C. GmbH und zu 70 % von F. gehalten. Im März 2009 übernahm die C. GmbH alle
BGE 143 III 216 S. 217
Stammanteile. Im Juni 2009 übernahm G. 70 % der Stammanteile und wurde als Geschäftsführerin und Gesellschafterin mit Einzelunterschrift im Handelsregister eingetragen.
Die A. GmbH ist Inhaberin der CH-Wortmarke Nr. 629 410 "REICO" und der CH-Wort-/Bildmarke Nr. 629 989 "REICO", die beide am 1. Dezember 2011 hinterlegt wurden. Am 14. Dezember 2011 registrierte sie den Domainnamen "reico-vital-systeme.com". Die C. GmbH ist Inhaberin der am 12. März 2007 registrierten deutschen Wort-/Bildmarke DE 30722813 "REICO VITAL-SYSTEME" sowie des Domainnamens "reico-schweiz.com". D. ist Inhaber der Gemeinschaftswortmarke Nr. 008808842 "REICO" mit Priorität vom 13. Januar 2010 und hat am 19. Februar 2013 eine Gemeinschafts-Wort-/Bildmarke "REICO VITAL-SYSTEME" angemeldet. Gegen die Hinterlegung der CH-Wortmarke Nr. 643 963 "REICO" (13. Mai 2013) und der CH-Wort-/Bildmarke Nr. 643 659 "REICO VITAL-SYSTEME" (3. Mai 2013) durch D. hat die A. GmbH Widerspruch erhoben.
B.
Am 12. Dezember 2013 gelangten die Kläger an das Handelsgericht des Kantons St. Gallen und beantragten u.a., es sei der Beklagten unter Strafandrohung zu verbieten, unter den (Wort- sowie Wortbild-)Zeichen "REICO", "REICO Schweiz", "Reico-Vital-Schweiz" und/oder "Reico Vital Systeme" Tierfutter, Nahrungsergänzungsmittel, Boden- und Pflanzenprodukte und/oder Körperhygieneprodukte zu bewerben, anzubieten, in Verkehr zu bringen etc. und es sei ihr zu verbieten, diese Zeichen als Unternehmensbezeichnung im geschäftlichen Verkehr zu verwenden. Die Beklagte sei zudem zu verpflichten, ihr die CH-Marken Nr. 629 410 "REICO" und Nr. 629 989 "REICO" zu übertragen, eventuell seien diese nichtig zu erklären.
Mit Entscheid vom 5. Juli 2016 hiess das Handelsgericht des Kantons St. Gallen die Klage im Wesentlichen gut. Es kam zum Schluss, es seien sämtliche Voraussetzungen einer Agentenmarke (
Art. 4 MSchG
) erfüllt, weshalb sich die Beklagte nicht auf die Priorität ihrer Hinterlegung im schweizerischen Register berufen könne. Zudem schloss das Handelsgericht, dass die Beklagte gewissermassen als Hilfsperson der Klägerin das Zeichen "REICO" gebraucht habe, weshalb diese die Übertragung auch gestützt auf UWG verlangen könne; namentlich könne sie die Verwendung des Zeichens als Firmenbestandteil verbieten.
BGE 143 III 216 S. 218
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beklagte, es sei der Entscheid des Handelsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. Juli 2016 aufzuheben und die Klage sei abzuweisen, eventuell sei die Sache an das Handelsgericht zur Neubeurteilung zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den Entscheid des Handelsgerichts des Kantons St. Gallen auf und weist die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Nach
Art. 4 MSchG
(SR 232.11) geniessen Marken keinen Schutz, die ohne Zustimmung des Inhabers auf den Namen von Agenten, Vertretern oder anderen zum Gebrauch Ermächtigten eingetragen werden oder die nach Wegfall der Zustimmung im Register eingetragen bleiben.
2.1
Der besondere Schutzausschlussgrund der eingetragenen Marke nach
Art. 4 MSchG
beruht - ähnlich wie die relativen Ausschlussgründe - auf dem Vorbestehen bestimmter Drittzeichen; diese sind zwar im Inland nicht als Marke eingetragen, aber vom besser Berechtigten im In- oder Ausland benutzt worden (MATTHIAS STÄDELI, in: Basler Kommentar, Markenschutzgesetz, Wappenschutzgesetz, 3. Aufl. 2017, N. 5 zu
Art. 4 MSchG
; FLORENT THOUVENIN, Nichtigkeit und Anfechtbarkeit im Markenrecht, sic! 2009 S. 546). Die Norm bezweckt den Schutz des wirtschaftlichen Inhabers einer Marke gegenüber einem Agenten, Vertreter oder einem anderen zur Nutzung des Zeichens während der Dauer der Zusammenarbeit Ermächtigten, der das Zeichen ohne Ermächtigung auf seinen Namen hinterlegt oder die Eintragung nach Beendigung der Zusammenarbeit weiterhin behält (Botschaft des Bundesrates vom 21. November 1990 zu einem Bundesgesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben, BBl 1991 I 22 Ziff. 222.12 zu Art. 4 E-MSchG; vgl. auch MARKUS WANG, in: Markenschutzgesetz, Noth/Bühler/Thouvenin [Hrsg.], 2009, N. 1 zu
Art. 4 MSchG
; CHRISTOPH WILLI, Markenschutzgesetz, 2002, N. 1 zu
Art. 4 MSchG
). Dieser Schutz beruht auf der Annahme, dass der Nutzungsberechtigte gegenüber dem Inhaber aufgrund der Zusammenarbeit einer Interessenwahrungs- bzw. Loyalitätspflicht unterliegt, die einer Aneignung der Marke entgegensteht (Urteil 4A_128/2013 vom 30. September 2013 E. 3.2.1, nicht publ. in:
BGE 139 III 424
). Die vom Gesetzgeber anvisierte besondere Konstellation setzt somit einen Vertrag voraus,
BGE 143 III 216 S. 219
der zwischen dem wirklichen und dem angemassten Inhaber der Marke bestanden hat oder noch besteht und der die Wahrung der geschäftlichen Interessen des Geschäftsherrn sowie eine Ermächtigung zum Gebrauch einer fremden Marke zum Inhalt hat (
BGE 131 III 581
E. 2.3 S. 584 f. mit Hinweisen, vgl. auch Urteil 4A_128/2013 vom 30. September 2013 E. 3.2.1, nicht publ. in:
BGE 139 III 424
). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, beurteilt sich im internationalen Verhältnis nach dem Vertragsstatut (vgl. WANG, a.a.O., N. 14 zu
Art. 4 MSchG
; STÄDELI, a.a.O., N. 15 zu
Art. 4 MSchG
).
2.2
Dem angefochtenen Entscheid ist zu den konkreten vertraglichen Beziehungen der Parteien, insbesondere bei der Hinterlegung der Marken durch die Beklagte im Dezember 2011, nichts zu entnehmen. Die Vorinstanz stellt im Gegenteil fest, dass der Inhalt der Zusammenarbeit nach der Gründung der Beklagten und namentlich nach der Übernahme der Mehrheitsbeteiligung an der Beklagten durch deren heutige Geschäftsführerin strittig sei. Sie erwähnt, dass eine beabsichtigte Kooperationsvereinbarung nicht zustande kam und sie hält fest, dass nach der Übernahme der Mehrheitsbeteiligung durch die heutige Geschäftsführerin die Absicht bestand, dass die Beklagte die zu vertreibenden Produkte "ausschliesslich" bei der Klägerin 1 beziehe, diese die Produkte und Dienstleistungen zu "Einstandspreisen" verrechne und die Beklagte den Marketingplan der Klägerin 1 übernehme, dass sie keine Kunden oder Berater ausserhalb der Schweiz beliefere und dass die Klägerin 1 im Gegenzug die Produktehaftung übernehmen sollte. Ungeachtet dessen, dass keine Rahmenvereinbarung zustande kam, schloss die Vorinstanz auf eine weit über eine blosse Liefervereinbarung hinausgehende Zusammenarbeit und mithin auf die von der Rechtsprechung geforderte Loyalitäts- und Interessenwahrungspflicht der Beklagten gegenüber der Klägerin 1.
2.3
Der Schluss auf eine enge Zusammenarbeit, die eine vertragliche Loyalitätsverpflichtung der Beklagten gegenüber der Klägerin 1 begründen soll, ergibt sich für die Vorinstanz aus der Absicht der Beklagten zur Zusammenarbeit (mit entsprechender Exklusitivät, abgestimmtem Marketing) mit der Klägerin 1 sowie aus den Übereinstimmungen der kennzeichnenden Firmenbestandteile und Gesellschaftszwecke der Klägerin 1 und der Beklagten sowie aus der Beteiligung der Klägerin 1 an der Beklagten. Die Beschwerdeführerin rügt zutreffend, dass diese von der Vorinstanz festgestellten Tatsachen nicht ausreichen, um auf eine vertragliche Loyalitätspflicht der Beklagten gegenüber der Klägerin 1 zu schliessen. Die
BGE 143 III 216 S. 220
Minderheitsbeteiligung der Klägerin 1 an der Beklagten weist keine Konzern-Verbundenheit aus. Nach den Erwägungen der Vorinstanz vermögen denn auch die Änderungen der Beteiligungsverhältnisse an der Beklagten den Entscheid nicht zu beeinflussen. Aus Beteiligungen an juristischen Personen allein kann keine Loyalitätsverpflichtung abgeleitet werden. Und dass die Kläger die Beklagte im Jahre 2007 gründeten, erlaubt keine Aussage über den Inhalt allfälliger Vertragsbeziehungen. Auch kann aus einer blossen Absichtserklärung gerade nicht auf eine vertragliche Vereinbarung geschlossen werden, die über eine blosse Lieferantenbeziehung hinausreichen und die erforderliche Treuepflicht der Beklagten gegenüber der Klägerin 1 begründen würde. Dass schliesslich das Kennzeichen "REICO" von beiden Parteien gebraucht und beansprucht wird, ist gerade Gegenstand der vorliegenden Streitigkeit und vermag eine Abweichung vom Prioritätsrecht der Beklagten in der Schweiz nicht zu begründen.
2.4
Die von der Vorinstanz festgestellten Tatsachen reichen nicht aus, um eine vertragliche Treuepflicht der Beklagten gegenüber den Klägern mit dem berechtigten Schluss zu begründen, diese habe das Zeichen "REICO" in der Schweiz für die Kläger gebraucht. Da damit die Grundlage für die Annahme entfällt, die Kläger seien zum Gebrauch des Zeichens "REICO" in der Schweiz besser berechtigt, entfällt auch die Grundlage, der Beklagten aufgrund des Namens- oder Wettbewerbsrechts den Gebrauch des Zeichens "REICO" zu verbieten. Die Beschwerde erweist sich als begründet. Gemäss
Art. 107 Abs. 2 BGG
kann das Bundesgericht in diesem Fall in der Sache selbst entscheiden oder die Sache an die Vorinstanz zurückweisen. Da die Beschwerdegegner in der Antwort vorbringen, die Vertragsbeziehung der Parteien sei über eine blosse Lieferantenbeziehung hinausgegangen - was sie schon vor Vorinstanz behauptet hätten - rechtfertigt es sich, die Sache zur Feststellung des konkreten Inhalts der Vertragsbeziehungen unter den Parteien namentlich im Zeitpunkt der Hinterlegung der Marken durch die Beklagte an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vorinstanz wird zu beurteilen haben, ob eine vertragliche Zusammenarbeit bestand, in deren Rahmen die Kläger die Beklagte zum Gebrauch des umstrittenen Zeichens (das sie für die Schweiz als eigenes beansprucht hätten) für sie ermächtigten, so dass die Beklagte mit der Hinterlegung bzw. dem Einbehalt der Marke nach Beendigung der Zusammenarbeit ihre vertragliche Treuepflicht verletzte. (...) | de |
24091d35-004e-41b2-8cfa-702cf0741bfb | Sachverhalt
ab Seite 256
BGE 105 Ib 255 S. 256
Am 31. August 1978 lenkte Verena Picenoni ihren Personenwagen hinter zwei Fahrzeugen von Silvaplana kommend über den Julierpass in Richtung Julierhospiz. Auf der Geraden bei der Villa Stähli überholte sie zwei in Richtung Hospiz fahrende Wagen. Sie begann das Manöver ungefähr 200 Meter vor der unübersichtlichen Rechtskurve mit Kuppe und beendete es kurz vor der Kuppe, aus welcher ihr Gegenverkehr nahte. Die Beschwerdeführerin räumte im kantonalen Verfahren ein, das Überholmanöver sei "etwas spitz" gewesen. Die beiden Polizeibeamten, die sich im hinteren der zwei überholten Fahrzeuge befanden, sagten als Zeugen aus, der entgegenkommende Lenker habe abbremsen, jedoch nicht eine Vollbremsung einleiten müssen. Auch die beiden überholten Fahrzeuge hätten ihre Geschwindigkeit reduzieren müssen, um der Überholenden das rechtzeitige Wiedereinbiegen zu ermöglichen. Mit Verfügung vom 13. November 1978 entzog das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Graubünden Verena Picenoni wegen schwerer Verkehrsgefährdung den Führerausweis in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
auf die Dauer eines Monats. Der Regierungsrat des Kantons Graubünden bestätigte den Entscheid, liess aber offen, ob eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
oder eine einfache Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 1. Satz SVG vorliege, da jedenfalls nicht ein leichter Fall angenommen werden könne, so dass der Ausweis ohnehin mindestens auf die Dauer eines Monats entzogen werden müsse.
Gegen diesen Entscheid führt Verena Picenoni mit Eingabe vom 30. Mai 1979 Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Ausweisentzug zu widerrufen. Sie bestreitet nicht, eine Verkehrsregelverletzung begangen zu haben, macht aber geltend, sie habe den Verkehr nicht gefährdet. Ein Führerausweisentzug sei unangemessen, eine Verwarnung entspreche besser den gesamten Umständen. Das Bundesamt für Polizeiwesen beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei teilweise gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Verena Picenoni wurde am 8. März 1979 vom Kreisamt Oberengadin aufgrund des nämlichen Vorfalles zu einer Busse von Fr. 90.- verurteilt. Dieses Urteil ist rechtskräftig.
BGE 105 Ib 255 S. 257 Erwägungen
Erwägungen:
1.
Art. 16 Abs. 2 und 3 lit. a SVG
lauten:
"2 Der Führer- oder Lernfahrausweis kann entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat. In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden.
3 Der Führer- oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der Führer
a) den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat."
a) Der Führerausweisentzug gemäss
Art. 16 Abs. 2 und 3 lit. a SVG
setzt demnach zunächst voraus, dass der Führer Verkehrsregeln verletzt hat. Sowohl die Administrativbehörden als auch der Strafrichter werfen der Beschwerdeführerin vor, sie habe
Art. 35 Abs. 2 SVG
verletzt, weil der nötige Raum bei ihrem Überholmanöver nicht übersichtlich und frei gewesen sei und sie den Gegenverkehr behindert habe. Die Beschwerdeführerin räumt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde selber ein, diese Verkehrsregel verletzt zu haben, und sie bestreitet den Sachverhalt, wie er vom Strafrichter festgestellt wurde, nicht, sondern verweist ausdrücklich auf dessen tatsächliche Feststellungen. Das Strafurteil blieb zudem unangefochten.
b) Eine Verkehrsregelverletzung kann nur dann zu einer Administrativmassnahme gemäss
Art. 16 Abs. 2 oder 3 lit. a SVG
führen, wenn die Beschwerdeführerin den Verkehr gefährdet oder - was vorliegend nicht in Betracht fällt - andere belästigt hat. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt nicht eine konkrete Verkehrsgefährdung; es genügt, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin nach den Umständen geeignet war, den Verkehr zu gefährden (sogenannte erhöht-abstrakte Gefährdung;
BGE 104 Ib 100
;
BGE 103 Ib 39
E. 3). Benutzt ein Motorfahrzeugführer für sein Überholmanöver die Gegenfahrbahn und verletzt er dabei
Art. 35 Abs. 2 SVG
, indem entweder der nötige Raum nicht übersichtlich und frei ist oder der Gegenverkehr behindert wird, dann liegt in dieser Verkehrsregelverletzung gleichzeitig eine erhöht-abstrakte Verkehrsgefährdung, denn die Verletzung dieser Regel ist dort, wo mit Gegenverkehr gerechnet werden muss, nach den Umständen stets geeignet, den Verkehr zu gefährden. Im vorliegenden Verfahren räumte die Beschwerdeführerin zudem ein, das Manöver sei "etwas spitz" gewesen. Die Voraussetzungen
BGE 105 Ib 255 S. 258
für eine Administrativmassnahme sind somit gegeben.
2.
Es stellt sich die Frage, welche Administrativmassnahme angemessen sei. Die Beschwerdeführerin vertritt die Ansicht, eine Verwarnung sei im vorliegenden Fall den Umständen angemessen. Die Vorinstanz verfügte oberinstanzlich einen einmonatigen Führerausweisentzug. Sie liess die Frage offen, ob eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
oder eine einfache Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 vorliege, da keinesfalls ein leichter Fall angenommen werden könne, so dass der Ausweis jedenfalls mindestens auf die Dauer eines Monats entzogen werden müsse.
Das Bundesamt für Polizeiwesen vertritt die Auffassung, es gehe nicht an, dass der Regierungsrat die Frage offen lasse, ob eine schwere oder eine einfache Verkehrsgefährdung vorliege. Denn bei der einfachen Verkehrsgefährdung sei der Ausweisentzug fakultativ, so dass die Frage, ob im Einzelfall ein Entzug verfügt werden müsse, in das pflichtgemässe Ermessen der Entzugsbehörde gestellt werde; diese könne zur Auffassung gelangen, die Gesamtheit der Umstände rechtfertige keinen Ausweisentzug. Von einem Entzug könne nicht nur abgesehen werden, wenn ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 2. Satz, vorliege, sondern auch, wenn die Voraussetzungen für einen Entzug gemäss Art. 16 Abs. 2, 1. Satz, erfüllt seien, sich aber aufgrund der gesamten Verhältnisse kein Entzug rechtfertige. Letzteres habe der Regierungsrat indessen nicht geprüft, sondern lediglich festgestellt, dass kein leichter Fall vorliege.
a) Das Bundesgericht hat
Art. 16 Abs. 2 SVG
stets in der Weise ausgelegt, dass auf den Ausweisentzug nur verzichtet werden kann, wenn der Fall leicht im Sinne von Satz 2 dieser Bestimmung ist (
BGE 104 Ib 103
E. 1e;
BGE 103 Ib 41
E. 5; vgl. auch
BGE 104 Ib 52
; Urteile vom 22. Dezember 1978 i.S. Niklaus, vom 27. Januar 1978 i.S. Roth, vom 20. Juni 1977 i.S. Schluroff, vom 12. Oktober 1976 i.S. Vendel). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der bundesrätliche Entwurf vom 24. Juni 1955 sah in Art. 16 Abs. 2 ausschliesslich Satz 1 vor (BBl 1955 II S. 74). Diese Bestimmung enthält eine Kann-Vorschrift, welche den Entscheid, ob im Einzelfall ein Ausweisentzug zu verfügen sei oder nicht, in das pflichtgemässe Ermessen der Behörden stellt. Die nationalrätliche Kommission fügte indessen Satz 2 ein und konkretisierte damit Satz 1, indem die Richtlinie für die Handhabung des Ermessens in das Gesetz aufgenommen wurde (vgl. Sten. Bull. 1956, NR S. 597-599).
BGE 105 Ib 255 S. 259
Gemäss Satz 2 kann in leichten Fällen an die Stelle des Entzuges eine Verwarnung treten. Diese Bestimmung verlöre ihren Sinn, wenn sich die Behörden auch in nicht leichten Fällen mit einer Verwarnung begnügen oder sogar auf jede Massnahme verzichten könnten. Daher kann in nicht leichten Fällen von einem Ausweisentzug nicht abgesehen werden. Der Umstand, dass auch Satz 2 eine Kann-Vorschrift enthält, schliesst die Möglichkeit in sich ein, in besonders leichten Fällen auf jede Massnahme zu verzichten.
b) Diese Ordnung ist insbesondere von Bedeutung, wenn eine berufliche Notwendigkeit besteht, ein Motorfahrzeug zu führen. Während diese Notwendigkeit nach
Art. 33 Abs. 2 VZV
für die Zumessung der Entzugsdauer massgebend mit ins Gewicht fällt, entfällt dieser Gesichtspunkt bei der Umschreibung des leichten Falles in
Art. 31 Abs. 2 VZV
. Der Unterschied besteht mit Grund. Berufsmässig auf ein Motorfahrzeug angewiesene Fahrzeugführer werden wegen der grösseren Massnahmenempfindlichkeit in der Regel schon durch eine kürzere Entzugsdauer wirksam gewarnt und von weiteren Widerhandlungen abgehalten. Aus Rechtsgleichheitsgründen rechtfertigt es sich deshalb, dieses Kriterium bei der Zumessung der Entzugsdauer zu berücksichtigen. Anders verhält es sich beim Grundsatzentscheid, ob der Ausweis entzogen werden soll oder nicht. Personen, die beruflich auf ihr Motorfahrzeug angewiesen sind, sollen nicht in dem Sinne vor anderen Motorfahrzeugführern bevorzugt werden, dass sie sich schwerwiegendere Verfehlungen zuschulden kommen lassen können, bis ein Ausweisentzug verfügt wird. Eine verkehrsgefährdende Verkehrsregelverletzung erscheint weder objektiv noch subjektiv als leichter, wenn sie von einem Führer begangen wird, der beruflich auf das Fahrzeug angewiesen ist. Doch können bei einem leichten Fall alle übrigen wesentlichen Umstände berücksichtigt werden, welche anstelle des Ausweisentzuges eine Verwarnung rechtfertigen.
c) Nach der neueren Rechtsprechung hat der Richter bei der Beurteilung, ob ein leichter Fall im Sinne von
Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG
vorliegt, in erster Linie die Schwere der Verkehrsgefährdung und die Schwere des Verschuldens, daneben aber auch den automobilistischen Leumund zu würdigen (
Art. 31 Abs. 2 VZV
;
BGE 104 Ib 101
E. 2c). Vorliegend ist der automobilistische Leumund der Beschwerdeführerin in keiner Weise getrübt. Da jedoch das Überholen an unübersichtlichen
BGE 105 Ib 255 S. 260
Stellen in der Regel sogar als schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
angesehen werden muss (Ziff. 3.2.1 der Richtlinien der kantonalen Polizeidirektorenkonferenz über die Administrativmassnahmen im Strassenverkehr), genügt der gute Leumund nicht, um von einem Führerausweisentzug absehen zu können. Der Entzug musste deshalb gegenüber der Beschwerdeführerin für die Mindestdauer von einem Monat ausgesprochen werden.
3.
Das Bundesamt für Polizeiwesen glaubt, der Entscheid der Vorinstanz sei von Amtes wegen aufzuheben, weil die Vorinstanz offen gelassen habe, ob ein nicht leichter, d.h. "mittelschwerer Fall", im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 1. Satz SVG oder ein "schwerer Fall" im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
vorliege. Dieses Offenlassen der Subsumtion unter
Art. 16 Abs. 2 oder
Art. 16 Abs. 3 SVG
verletzt nach Ansicht des Bundesamtes Bundesrecht. Das Bundesamt weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen dem fakultativen und dem obligatorischen Führerausweisentzug unter dem Gesichtspunkt des
Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG
von entscheidender Bedeutung sein kann. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Dauer des Führerausweisentzuges mindestens sechs Monate beträgt, wenn dem Führer der Ausweis wegen einer Widerhandlung entzogen werden muss, die er innert zwei Jahren seit Ablauf des letzten Entzuges begangen hat. Wie das Bundesgericht in
BGE 102 Ib 282
zu dieser Bestimmung ausgeführt hat, ist sie anwendbar, wenn der zweite Entzug wegen der Schwere der Verkehrsgefährdung obligatorisch ist, gleichgültig, ob der frühere Ausweisentzug obligatorisch oder fakultativ war. Daraus ergibt sich, dass unter dem Gesichtspunkt von
Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG
zur Frage, ob ein obligatorischer oder fakultativer Entzugsgrund vorliegt, nur Stellung bezogen werden muss, wenn der letzte Ausweisentzug vor weniger als zwei Jahren abgelaufen war. Im Falle der Beschwerdeführerin liegt kein solcher Fall vor, da ihr automobilistischer Leumund unbelastet ist.
Das Bundesamt für Polizeiwesen glaubt jedoch, die Klärung, ob ein "schwerer" oder nur ein nicht leichter "mittelschwerer Fall" vorliegt, müsse gleichwohl entschieden werden, weil der automobilistische Leumund des Betroffenen im Hinblick auf allfällige künftige Verfehlungen unterschiedlich belastet werde, je nachdem man ihm vorwerfe, den Verkehr in schwerer oder
BGE 105 Ib 255 S. 261
lediglich in nicht leichter, mittelschwerer Weise gefährdet zu haben. Das Bundesgericht hat jedoch selbst in zahlreichen Grenzfällen, welche eine kurze Entzugsdauer zum Gegenstand hatten, die Frage offen gelassen, ob dem Beschwerdeführer eine schwere oder nur eine mittelschwere Verkehrsgefährdung zur Last zu legen sei, und es hat sich mit der Feststellung begnügt, dass jedenfalls kein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 2. Satz vorliege (vgl. z.B. Urteile vom 22. Dezember 1978 i.S. Niklaus, vom 30. Juni 1978 i.S. Roth; vgl. auch
BGE 104 Ib 52
E. 2b). Für diese Praxis lässt sich neben verfahrensökonomischen Gesichtspunkten anführen, dass für die Beurteilung des automobilistischen Leumundes mehr die Dauer früherer Ausweisentzüge ins Gewicht fällt als deren rechtliche Qualifikation. Die Unterscheidung spielt deshalb bei späterer neuer Beurteilung des Leumunds nur eine untergeordnete Rolle.
Immerhin muss festgehalten werden, dass dem Betroffenen in einem späteren Verfahren die frühere Verfehlung nicht als schwere Verkehrsgefährdung angerechnet werden darf, wenn die rechtliche Qualifikation seinerzeit offen gelassen wurde; denn die entscheidende Instanz bringt mit dem Offenlassen zum Ausdruck, dass ihres Erachtens ein schwerer Fall nicht eindeutig erwiesen ist.
Da der vorliegende Fall einerseits nicht leicht ist, sondern an der Grenze zwischen den mittelschweren Fällen und der schweren Verkehrsgefährdung liegt und die kantonalen Behörden anderseits den Ausweis auf die Minimaldauer eines Monates entzogen haben, kann ihnen keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn sie die Frage nach der Anwendung von Art. 16 Abs. 2 oder Abs. 3 lit. a SVG im vorliegenden Falle offen gelassen haben. | de |
59deeb0f-8759-47f9-8a0c-1d9fa9cd455a | Sachverhalt
ab Seite 493
BGE 140 V 493 S. 493
A.
Der 1968 geborene A. war zuletzt vom 1. Juni 2012 bis 30. April 2013 als Teamleiter und Verkehrsingenieur bei der Unternehmung B. AG tätig. Am 2. April 2013 meldete er sich beim Regionalen
BGE 140 V 493 S. 494
Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Arbeitsvermittlung an. Drei Tage später beantragte er die Ausrichtung von Arbeitslosentschädigung ab 1. Mai 2013. Mit Verfügung vom 11. Juni 2013 setzte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich (ALK) den versicherten Verdienst ab 1. Mai 2013 auf Fr. 9'750.- und das Taggeld auf Fr. 314.50 fest. Sie bejahte einen grundsätzlichen Anspruch auf 23 entschädigungsberechtigte Taggelder für den Monat Mai 2013 bei einem Höchstanspruch von 400 Taggeldern. Da aber keine Unterhaltspflichten gegenüber Kindern unter 25 Jahren existierten, habe A. vorab eine Wartezeit von 15 Tagen zu bestehen. Daran wurde auf Einsprache hin festgehalten (Einspracheentscheid vom 2. August 2013).
B. | de |
056239b1-52ca-4ec5-9128-45239f35bf61 | Sachverhalt
ab Seite 504
BGE 125 V 503 S. 504
A.-
Mit Verfügung vom 31. August 1998 sprach die IV-Stelle für Versicherte im Ausland dem 1936 geborenen H., deutscher Staatsangehöriger, rückwirkend ab 1. Oktober 1996 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu.
B.-
Am 30. September 1998 gab H. beim Bürgermeisteramt K., Deutschland, eine hiegegen gerichtete Beschwerde zu Protokoll, welche die Amtsstelle am 7. Oktober 1998 der deutschen Post übergab. Mit Entscheid vom 17. März 1999 trat die Eidg. Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen auf die Eingabe wegen Verspätung nicht ein.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt H. die nochmalige Überprüfung des Falles sowie die Gewährung einer halben Invalidenrente ab 1. September 1993 und einer ganzen Rente ab 1. Oktober 1996. Dabei macht er geltend, die an die Eidg. Rekurskommission gerichtete Beschwerde sei fristgerecht erfolgt.
BGE 125 V 503 S. 505
Während sich die IV-Stelle in ihrer Stellungnahme eines formellen Antrages enthält, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den vorinstanzlichen Nichteintretensentscheid. Das Eidg. Versicherungsgericht hat daher zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht auf die bei ihr erhobene Beschwerde nicht eingetreten ist. Dagegen kann auf den in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellten materiellen Antrag nicht eingetreten werden (vgl.
BGE 117 V 122
f. Erw. 1).
2.
Gemäss Art. 33 des Abkommens vom 25. Februar 1964 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale Sicherheit gelten Anträge, Erklärungen und Rechtsbehelfe, die nach den Rechtsvorschriften der einen Vertragspartei bei einer Behörde, einem Gericht, einem Träger oder einer anderen Stelle einzureichen sind, als bei der zuständigen Stelle eingereicht, wenn sie bei einer entsprechenden Stelle der anderen Vertragspartei eingereicht werden; der Tag, an dem die Anträge, Erklärungen und Rechtsbehelfe bei dieser Stelle eingehen, gilt als Tag des Eingangs bei der zuständigen Stelle (Abs. 1). Die Anträge, Erklärungen und Rechtsbehelfe werden von der Stelle, bei der sie eingereicht worden sind, unverzüglich an die zuständige Stelle der anderen Vertragspartei weitergeleitet (Abs. 2).
Zur Weiterleitung der bei einer unzuständigen Stelle der einen Vertragspartei eingehenden Anträge, Erklärungen, Rechtsbehelfe und anderen Unterlagen an zuständige Stellen der anderen Vertragspartei können die Verbindungsstellen in Anspruch genommen werden (Art. 23 der Vereinbarung vom 25. August 1978 zur Durchführung des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale Sicherheit).
3.
Im vorliegenden Fall hat die Rekurskommission in für das Eidg. Versicherungsgericht verbindlicher (
Art. 105 Abs. 2 OG
) und unbestrittener Weise festgestellt, dass die Rentenverfügung dem Beschwerdeführer am 5. September 1998 ausgehändigt worden ist (vgl.
BGE 103 V 66
Erw. 2a; ZAK 1992 S. 370 Erw. 3a) und die Frist von 30 Tagen zur Einreichung eines Rechtsmittels (
Art. 69 IVG
,
Art. 84 Abs. 1 AHVG
und
Art. 50 VwVG
) demnach am 5. Oktober 1998 geendet hat (
Art. 81 IVG
,
Art. 96 AHVG
und
Art. 20 Abs. 1 VwVG
). Da einzig die Protokollaufgabe beim Bürgermeisteramt innert dieser
BGE 125 V 503 S. 506
Frist erfolgt ist, stellt sich die Frage, ob der Versicherte damit rechtzeitig Beschwerde erhoben hat.
4.
a) Nach Massgabe von Art. 33 Abs. 1 des schweizerisch-deutschen Abkommens gilt die vorliegend an die Eidg. Rekurskommission zu richtende Beschwerde gegen die Rentenverfügung der IV-Stelle als fristgerecht eingereicht, wenn sie innert der gleichen Frist bei einer "entsprechenden Stelle" in Deutschland erhoben wird. Uneinigkeit besteht vorliegend einzig in der Frage, ob das Bürgermeisteramt als "entsprechende Stelle" im Sinne dieser staatsvertraglichen Bestimmung zu betrachten ist.
b) Die Auslegung eines Staatsvertrages hat in erster Linie vom Vertragstext auszugehen. Erscheint dieser klar und ist seine Bedeutung, wie sie sich aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie aus Gegenstand und Zweck des Übereinkommens ergibt, nicht offensichtlich sinnwidrig, so kommt eine über den Wortlaut hinausgehende ausdehnende bzw. einschränkende Auslegung nur in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsstaaten zu schliessen ist (
BGE 124 V 228
Erw. 3a,
BGE 121 V 43
Erw. 2c,
BGE 117 V 269
Erw. 3b mit Hinweisen).
c) Nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung von Art. 33 Abs. 1 des schweizerisch-deutschen Abkommens (wie auch der analogen Normen in den übrigen von der Schweiz geschlossenen Sozialversicherungsabkommen; z.B. Frankreich: Art. 33 Abs. 1; Italien: Art. 21; Österreich: Art. 29; Griechenland: Art. 25; Portugal: Art. 34; Dänemark: Art. 34; Belgien: Art. 36 Abs. 1; Zypern: Art. 26) können die nach den Rechtsvorschriften der einen Vertragspartei bei einer bestimmten Stelle (Behörde, Gericht, Träger etc.) vorzunehmenden Rechtsvorkehren mit fristwahrender Wirkung an die Stelle, welche nach den Vorschriften der anderen Vertragspartei hiefür zuständig wäre, gerichtet werden. "Entsprechend" ist somit im Sinne von "in einem parallelen innerstaatlichen Verfahren der anderen Vertragspartei zuständig" zu verstehen. Dass damit, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, nicht die in Art. 35 Abs. 2 des schweizerisch-deutschen Abkommens genannten Verbindungsstellen gemeint sind, ergibt sich auch, wenn die Bestimmung von Art. 33 Abs. 1 des schweizerisch-deutschen Abkommens im Zusammenhang mit Art. 23 der erwähnten schweizerisch-deutschen Verwaltungsvereinbarung gelesen wird, wonach die "entsprechenden Stellen" für die Weiterleitung solcher Eingaben die Verbindungsstellen in Anspruch nehmen können.
BGE 125 V 503 S. 507
d) Damit bleibt vorliegend zu prüfen, ob gegen Bescheide der deutschen Rentenversicherung bei Bürgermeisterämtern ein Rechtsmittel eingelegt werden kann.
Nach § 8 des deutschen Sozialgerichtsgesetzes vom 3. September 1953 (SGG) entscheiden die Sozialgerichte, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten, für die der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht. Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, da es um eine öffentlichrechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung geht, für welche dieser Rechtsweg in
§ 51 Abs. 1 SGG
vorgesehen ist. Mit der Protokollaufgabe beim Bürgermeisteramt hat der Versicherte somit bei einer Stelle Beschwerde erhoben, die auch nach deutschem innerstaatlichen Recht in einem analogen Verfahren hiefür nicht zuständig wäre.
Indessen kennt auch das deutsche Recht den Grundsatz, dass Eingaben an unzuständige innerstaatliche Behörden fristwahrende Wirkung haben und von Amtes wegen an die zuständige Behörde weiterzuleiten sind (für das schweizerische Recht:
BGE 111 V 406
). Gemäss
§ 91 SGG
gilt die Frist für die Erhebung der Klage auch dann als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde oder, soweit es sich um die Versicherung von Seeleuten handelt, auch bei einem deutschen Seemannsamt im Ausland eingegangen ist (Abs. 1). Die Klageschrift ist alsdann unverzüglich an das zuständige Gericht der Sozialgerichtsbarkeit abzugeben (Abs. 2). Dabei gelten als Behörden im Sinne von
§ 91 Abs. 1 SGG
alle Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen (JENS MEYER-LADEWIG, Sozialgerichtsgesetz, 6. Aufl., München 1998, S. 457, N. 3 zu § 91).
Da das Bürgermeisteramt diese Voraussetzung erfüllt, kommt der bei ihm erfolgten Protokollaufgabe fristwahrende Wirkung zu. Wurde die Beschwerde somit rechtzeitig erhoben, hat die Eidg. Rekurskommission auf das Rechtsmittel einzutreten. | de |
2f383cf8-5791-47b9-94bd-a43242109eda | Sachverhalt
ab Seite 228
BGE 119 II 227 S. 228
Die C. AG kaufte im September 1988 von der E. AG einen Computer samt Zubehör zum Preis von Fr. 19'542.--, zahlbar in "100% WIR". In jenem Zeitpunkt waren beide Vertragspartner nicht Mitglieder der Wirtschaftsring-Genossenschaft WIR; die Verkäuferin war es nie gewesen, und die Käuferin war ein Jahr vorher aus der Genossenschaft ausgetreten.
Die Käuferin liess der Verkäuferin noch vor der Lieferung des Kaufgegenstandes 13 WIR-Buchungsaufträge von Dritten im Gesamtbetrag von Fr. 19'425.25 zukommen. Als die Genossenschaft die Buchung dieser Aufträge verweigerte, verlangte die Verkäuferin die Zahlung des Kaufpreises in Schweizerfranken. Dazu glaubte sie sich deswegen berechtigt, weil ihre Mahnung erfolglos geblieben und als Folge davon nach den Geschäftsbedingungen der Genossenschaft die WIR-Schuld zu einer Schuld in Bargeld geworden sei. Die Käuferin verweigerte indessen eine Zahlung in Schweizerfranken.
Auf Klage der E. AG wurde die C. AG mit Urteil des Kantonsgerichts Nidwalden vom 4. Dezember 1991 zur Zahlung von Fr. 19'542.-- nebst 5% Zins seit 1. Februar 1989 verpflichtet.
Die Beklagte appellierte an das Obergericht des Kantons Nidwalden, das den Entscheid der Vorinstanz mit Urteil vom 12. Juni 1992 aufhob und die Klage nur noch insoweit guthiess, als es die Beklagte dazu verpflichtete, der Klägerin "Fr. 116.75 mittels WIR-Buchungsauftrag zu begleichen".
Die Klägerin hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung angefochten, die vom Bundesgericht zur Hauptsache gutgeheissen wird.
BGE 119 II 227 S. 229 Erwägungen
Erwägungen:
1.
Im schriftlichen Kaufangebot vom 22. September 1988, das von der Beklagten mit Brief vom 26. September 1988 angenommen wurde, ist die Zahlungsart für den Kaufpreis ohne weitere Angaben mit "100% WIR" umschrieben. Über die Folgen möglicher Störungen des Verrechnungsablaufes und darüber, ob die mit "WIR" gemeinten Buchungsaufträge im Rahmen des von der Wirtschaftsring-Genossenschaft organisierten Verrechnungsverkehrs zahlungshalber oder an Zahlungsstatt beigebracht würden, bestanden im Zeitpunkt des Vertragsschlusses unstreitig keine ausdrücklichen Abmachungen zwischen den Parteien (vgl. allgemein zur WIR-Genossenschaft und zum Verrechnungsverkehr:
BGE 95 II 178
ff. E. 3; GRAF in ZBJV 114, 1978, S. 31 ff.; WEBER, N. 129 f. zu
Art. 84 OR
; OTT in SJZ 54, 1958, S. 145). Die Klägerin will indessen aus dem Umstand, dass Zahlung in "100% WIR" vereinbart war, durch Auslegung nach dem Vertrauensprinzip ableiten, die Geschäftsbedingungen der Genossenschaft seien Vertragsbestandteil geworden. Sie hält dabei sowohl die Geschäftsbedingungen für "offizielle WIR-Teilnehmer" wie auch jene für "stille WIR-Teilnehmer" für anwendbar (vgl. zu dieser Unterscheidung: MARCEL LAUTNER, Der "WIR"-Verrechnungsverkehr, Diss. Zürich 1962, S. 76 ff.). Dem Obergericht wirft die Klägerin vor, es habe die Anwendbarkeit der Bedingungen für "offizielle WIR-Teilnehmer" zu Unrecht verneint und in Verletzung von
Art. 8 ZGB
nicht abgeklärt, ob nicht auch jene für "stille WIR-Teilnehmer" Vertragsbestandteil geworden seien.
Auch nach Auffassung der Klägerin ist jedoch die vom Obergericht verneinte Frage der Anwendbarkeit der erwähnten Geschäftsbedingungen nur insoweit entscheiderheblich, als beide Ausgaben eine gleichlautende Regelung darüber enthalten, wie der WIR-Gläubiger vorgehen muss, wenn die WIR-Forderungen vom Schuldner nicht rechtzeitig beglichen werden. Danach sind solche Forderungen spätestens innerhalb von dreissig Tagen nach Rechnungsstellung zu begleichen, anderslautende Abmachungen vorbehalten. Der WIR-Gläubiger hat sodann bei Fälligkeit seiner Forderung dem Schuldner schriftlich eine einwöchige Mahnfrist anzusetzen, worauf die Forderung bei Nichtbezahlung sofort ganz in Bargeld fällig wird (Ziff. II.9 der Geschäftsbedingungen für offizielle WIR-Teilnehmer und Ziff. II.3 der Geschäftsbedingungen für stille WIR-Teilnehmer). Da sich zeigen wird, dass die im Fall fehlender vertraglicher Abmachungen anwendbare gesetzliche Regelung zum gleichen Ergebnis
BGE 119 II 227 S. 230
führt, kann offenbleiben, ob die Erwägungen des Obergerichts, die sich mit der Frage der Anwendbarkeit der Geschäftsbedingungen befassen, gegen Bundesrecht verstossen. Nicht zu prüfen sind deshalb auch die von der Klägerin mit der Berufung gegen diese Erwägungen erhobenen Rügen.
2.
a) Ist zwischen Schuldner und Gläubiger nicht vereinbart worden oder ist streitig, ob eine Leistung als zahlungshalber oder als an Zahlungsstatt erfolgt zu gelten habe, so wird nach Lehre und Rechtsprechung eine Leistung zahlungshalber vermutet (
BGE 89 II 341
E. 3; von TUHR/ESCHER, Allg. Teil des schweiz. Obligationenrechts, Bd. II, S. 14 BUCHER, Schweiz. Obligationenrecht Allg. Teil, 2. Aufl., S. 312; SCHRANER, N. 118 der Vorbemerkungen zu
Art. 68-96 OR
; WEBER, N. 144 der Vorbemerkungen zu
Art. 68-96 OR
). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass der Gläubiger, der vom Schuldner eine andere als eine Geldleistung anzunehmen bereit ist, nicht auch noch die Gefahr tragen soll, dadurch schlechter gestellt zu werden. Dieser Grundgedanke ist zwar im Obligationenrecht nicht in allgemeiner Form festgehalten worden. Er hat aber in verschiedenen Einzelbestimmungen seinen Niederschlag gefunden (vgl.
Art. 116 Abs. 2,
Art. 172,
Art. 467 Abs. 1 und
Art. 1103 OR
).
b) Wie es sich verhält, wenn die Vertragsparteien ohne weitere Angaben "WIR-Zahlung" vereinbart haben, die Buchungsaufträge aber von der Genossenschaft nicht ausgeführt werden und eine Umbuchung durch die WIR-Zentrale nicht erfolgt, hatte das Bundesgericht in seinen früheren veröffentlichten Urteilen nicht zu entscheiden. In einem Fall, der den Verkauf von WIR-Guthaben betraf, hat das Bundesgericht zwar angenommen, die Abtretung dieser Guthaben sei zahlungshalber erfolgt und es fehle an der Erfüllung, wenn der Empfänger die Buchungsaufträge erfolglos zur Umbuchung vorweise (
BGE 102 II 342
). Auf den vorliegenden Fall, in dem es ausschliesslich um die Frage geht, welche Rechtsfolge eintritt, wenn das vertraglich vereinbarte Zahlungsmittel der WIR-Buchungen nicht zur Tilgung der Schuld führt, lässt sich die damalige Betrachtungsweise nicht ohne weiteres übertragen. Im Ergebnis rechtfertigt es sich aber auch hier, auf die Vermutung abzustellen, dass die Übergabe der Buchungsaufträge an die Klägerin als Leistung erfüllungshalber erfolgt ist. Die sich gegenüberstehenden Interessen der Parteien sind nämlich nicht wesentlich anders zu gewichten als in jenen Fällen, in denen die bereits erwähnte allgemeine Regel zur Anwendung kommt. Es leuchtet deshalb ebenfalls ein, dass die Klägerin, welche der Beklagten ermöglichen wollte, die Kaufpreisschuld
BGE 119 II 227 S. 231
in anderer Form als mit Geld zu begleichen, nicht auch noch vermutungsweise das Risiko tragen soll, dadurch einen Verlust zu erleiden.
Die Vermutung einer Leistung zahlungshalber käme somit nur dann nicht zum Zuge, wenn die Beklagte aus einer insoweit eindeutigen Willensäusserung der Klägerin auf die Vereinbarung einer Leistung an Zahlungsstatt hätte schliessen dürfen. Eine solche Äusserung fehlt jedoch. Sie lässt sich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht daraus ableiten, dass ein Vorauszahlungsverkauf vereinbart war und die Klägerin nach dem Vertragsschluss die ihr von der Beklagten zugestellten WIR-Buchungsaufträge widerspruchslos entgegengenommen hat. Der Umstand, dass die Beklagte in den Begleitbriefen von "Anzahlungen" sprach, musste die Klägerin nicht zum Widerspruch veranlassen, da dieser Begriff unter den gegebenen Umständen mehrdeutig war. Aus dem Schweigen der Klägerin lässt sich deshalb nichts zu Gunsten der Beklagten ableiten. Entsprechendes gilt sodann für den Brief vom 12. Dezember 1988, in dem die Klägerin auf den noch "ausstehenden Saldo" hingewiesen hat. Auch diese Äusserung war nicht eindeutig; sie durfte jedenfalls von der Beklagten nicht als Einverständnis mit der Hingabe der WIR-Buchungsaufträge an Zahlungsstatt verstanden werden. Schliesslich ist ein solches Einverständnis auch nicht darin zu sehen, dass die Klägerin den Kaufgegenstand geliefert hat, ohne zuvor abzuwarten, ob die WIR-Buchungsaufträge ausgeführt würden.
3.
a) Mit der Hingabe der Leistung erfüllungshalber entsteht zwischen Gläubiger und Schuldner ein auftragsähnliches Rechtsverhältnis, das den Gläubiger verpflichtet, sich mit der gebotenen Sorgfalt um die Verwertung der Ersatzleistung zu bemühen (SCHRANER, N. 109 f. der Vorbemerkungen zu
Art. 68-96 OR
; WEBER, N. 130 ff. der Einleitung und Vorbemerkungen zu
Art. 68-96 OR
). Dieser Verpflichtung ist die Klägerin denn auch nachgekommen. Dass ihre Bemühungen nicht erfolgreich waren, kann ihr nicht angelastet werden. Die Weigerung der WIR-Genossenschaft, den Buchungsaufträgen Folge zu geben, ist unstreitig auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen, welche diese Aufträge unter Verletzung der Geschäftsbedingungen der WIR-Genossenschaft an die Klägerin weitergegeben hat. Der Klägerin ist somit keine mangelnde Sorgfalt hinsichtlich der Erfüllung des zur Beklagten bestehenden auftragsähnlichen Verhältnisses vorzuwerfen. Sie war deshalb nach der mit Brief vom 27. Dezember 1988 mitgeteilten Zurückweisung der Buchungsaufträge durch die WIR-Genossenschaft berechtigt, von
BGE 119 II 227 S. 232
der Beklagten die Zahlung des Kaufpreises in Bargeld zu verlangen. Das hat sie mehrmals, zuletzt mit Brief vom 30. Januar 1989, ohne Erfolg getan. Ihre vorher und auch nachher in der gerichtlichen Auseinandersetzung erklärte Bereitschaft, eventuell eine Tilgung des Kaufpreises durch WIR-Umbuchungen anzunehmen, kann ihr die Beklagte nicht entgegenhalten, da sie selbst diesen Vorschlag stets abgelehnt hat. Das gilt, wie aus der Berufungsantwort hervorgeht, auch hinsichtlich des Buchungsauftrages "Steiner" über Fr. 5'000.--. Ob die von der Klägerin erhobene Rüge, die Vorinstanz habe in diesem Zusammenhang mit der Abweisung ihres gesamten Rechtsbegehrens die Dispositionsmaxime verletzt, im Berufungsverfahren überhaupt zu hören wäre, kann deshalb offenbleiben.
b) Aus diesen Gründen ist die Berufung gutzuheissen, soweit damit die Aufhebung des angefochtenen Urteils verlangt wird. Der materielle Hauptantrag der Klägerin, mit dem sie die Zahlung von Fr. 19'542.-- nebst 5% Zins seit 30. Januar 1989 und von Fr. 60.-- Betreibungskosten verlangt, kann dagegen vom Bundesgericht nur teilweise gutgeheissen werden. Gegen das Zinsbegehren und jenes um Ersatz der Betreibungskosten erhebt die Beklagte zwar keine Einwendungen. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich indessen, dass die Klägerin vor dem Obergericht lediglich die Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils verlangt hatte, mit dem der Beginn des Zinsenlaufes auf den 1. Februar 1989 festgelegt war und keine Betreibungskosten zugesprochen waren. Der etwas weiter gehende materielle Hauptantrag ist insoweit neu und daher unzulässig (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
). | de |
825acd67-495f-4cb0-8655-0455a43e2695 | Sachverhalt
ab Seite 588
BGE 81 II 587 S. 588
Aus dem Tatbestand:
A.-
Die kantonalen Gerichte haben die Ehe der Parteien auf die Widerklage der Ehefrau geschieden, unter Abweisung des Scheidungsbegehrens des Ehemannes.
B.-
Über die Nebenfolgen der Scheidung hatten die Parteien am 12. April 1954 eine Vereinbarung abgeschlossen, der zu entnehmen ist:
3. Mit Wirkung ab 1. Mai 1954 bezahlt Walter Furrer an Frau Hedwig Furrer-Eberhardt eine monatliche Alimentation von Fr. 400.--, vorauszahlbar jeweilen am 1. des Monats. Diese Alimentation wird Frau Furrer Hedwig auf deren Lebenszeit bezahlt. Sie ist auf Seiten des Ehemannes Walter Furrer vererblich. Auch falls sich Frau Furrer nach durchgeführter Scheidung wieder mit ihrem Ehemann aus erster Ehe Herrn Rudolf Baer .... verheiraten sollte, hat sie gleichwohl weiterhin Anspruch auf die vereinbarte Alimentation von Fr. 400.--. Dagegen würde der Alimentationsanspruch dahinfallen bei einer eventuellen Wiederverheiratung von Frau Hedwig Furrer mit irgend einem andern dritten Manne.
7. Ausser der Alimentation anerkennt Walter Furrer seiner Ehefrau unter allen Titeln zusätzlich einen Betrag von Fr. 12'000.-- zahlbar in 4 Jahresraten à Fr. 3000.--. Die erste Rate ist bei Rechtskraft der Ehescheidung zu zahlen, die übrigen Raten jeweilen ein Jahr später.
............................."
Am 15. Oktober 1954 ergänzten die Parteien die Scheidungsvereinbarung, indem sich der Kläger zu weitern Leistungen verpflichtete.
BGE 81 II 587 S. 589
Die Beklagte trug auf Genehmigung, der Kläger dagegen auf Verwerfung beider Vereinbarungen an.
C.-
Das Bezirksgericht sprach die Genehmigung in vollem Umfange aus.
Das Kantonsgericht verwarf in seinem Urteil vom 13. April 1955 die Zusatzvereinbarung, genehmigte aber die Hauptvereinbarung. Es bezeichnete die vom Kläger erhobene Einrede der mangelnden Vertragsfähigkeit als unbegründet. Er sei ein erfolgreicher Geschäftsmann und verstehe die von ihm abzuschliessenden Vereinbarungen richtig einzuschätzen und seinem wirklichen Willen gemäss abzuschliessen. In der erstinstanzlichen Verhandlung habe er ausdrücklich erklärt, er sei sich bei Unterzeichnung der Hauptvereinbarung im klaren gewesen, wozu er sich verpflichte. Die von ihm eingereichten ärztlichen Berichte seien nicht geeignet, Urteilsunfähigkeit beim Abschluss der Vereinbarung darzutun. Im übrigen fand das Kantonsgericht deren Inhalt der Genehmigung wert. Die Leistungen, die der Kläger darin übernahm, entsprächen durchaus dem, was er freiwillig habe auf sich nehmen dürfen. Es bestehe daher kein Grund, die in der Vereinbarung festgelegten Verpflichtungen als unangemessen zu bezeichnen und die Vereinbarung zu verwerfen. - Dagegen beruhe die Zusatzvereinbarung auf unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen. Der Kläger habe sich bei deren Abschluss in einem Irrtum über den grundlegenden Sachverhalt im Sinne von
Art. 24 Ziff. 4 OR
befunden und sich rechtzeitig, binnen Jahresfrist, von der Vereinbarung losgesagt. Das schliesse deren Genehmigung aus.
D.-
Mit vorliegender Berufung hält der Kläger am Antrag auf Nichtgenehmigung auch der ersten Vereinbarung fest und verlangt eine davon abweichende Regelung der Nebenfolgen durch Urteil.
Die Beklagte trägt auf Abweisung der Berufung und auf Bestätigung des angefochtenen Urteils an.
BGE 81 II 587 S. 590 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Zur Scheidungsfrage; sie ist rechtskräftig beurteilt).
2.
Hinsichtlich der wirtschaftlichen Nebenfolgen ist die den Kläger zusätzlich belastende zweite Vereinbarung nicht genehmigt worden. Die Beklagte lässt es dabei bewenden; sie hat weder selbständig Berufung eingelegt, noch sich der Berufung des Klägers angeschlossen. Dieser ist durch die Verwerfung der Zusatzvereinbarung entlastet und keineswegs beschwert. Er findet jedoch, mit deren Wegfall sei auch der Hauptvereinbarung die Grundlage entzogen, weshalb sie ebenfalls nicht genehmigt werden dürfe. Denn nach zutreffender, von der Rechtsprechung anerkannter Auslegung des
Art. 158 Ziff. 5 ZGB
seien Vereinbarungen über die Nebenfolgen der Ehescheidung als Ganzes zu betrachten. Enthalte eine Scheidungskonvention Bestimmungen, die nicht genehmigt werden können, so müsse deshalb die ganze Scheidungskonvention verworfen und die Gesamtheit der Nebenfolgen durch Urteil unabhängig von der Konvention geordnet werden. Hier nun seien Haupt- und Zusatzvereinbarung als die (einheitliche, untrennbare) Scheidungskonvention zu betrachten, was eine Genehmigung bloss der Hauptkonvention als eines Teils der Gesamtkonvention ausschliesse.
Dem ist indessen nicht beizustimmen. Gewiss ist eine im Scheidungsverfahren von den Parteien abgeschlossene Vereinbarung über die wirtschaftlichen Nebenfolgen der Scheidung in ihrer Gesamtheit ins Auge zu fassen. Es ist nicht zulässig, einzelne Bestimmungen der Vereinbarung zu verwerfen und andere, die nach dem Parteiwillen in jenen die notwendige Voraussetzung und Ergänzung hätten finden sollen, zu genehmigen. Erscheinen jene, im Rahmen der gesamten Vereinbarung betrachtet, als der Genehmigung nicht würdig, so sind zugleich die andern zu verwerfen und alle insgesamt durch eine von der Vereinbarung unabhängige gerichtliche Entscheidung zu ersetzen (BGE
BGE 81 II 587 S. 591
62 II 5, 71 II 206). Denn ein blosser Teil einer Vereinbarung, den die Parteien ohne den Rest nicht gewollt hätten, ist für den Fall der Verwerfung dieses Restes gar nicht vereinbart. Daraus folgt jedoch nicht, dass die wirtschaftlichen Nebenfolgen der Scheidung nur entweder ganz durch Vereinbarung oder aber durch Urteil geregelt sein müssen. Einmal kann eine Vereinbarung bestimmte Nebenfolgen ausser Betracht lassen, ohne sie doch ausschliessen zu wollen. Alsdann ist die Lücke durch Urteil auszufüllen. Sodann ergibt sich eine besondere Sachlage bei einer zunächst fertig abgeschlossenen Vereinbarung, die später durch eine Zusatzvereinbarung geändert oder ergänzt worden ist. Liegen in einem solchen Fall Verwerfungsgründe nur gegenüber der Zusatzvereinbarung vor, so steht grundsätzlich nichts der Genehmigung der ersten Vereinbarung entgegen, gleichwie wenn eine Zusatzvereinbarung gar nicht abgeschlossen worden wäre. So verhält es sich, wenn, wie es hier nach dem Urteil des Kantonsgerichts zutrifft, die Zusatzvereinbarung - und nur sie, nicht auch die erste Vereinbarung - wegen Willensmangels für die eine Partei unverbindlich ist und diese sich denn auch binnen nützlicher Frist davon losgesagt hat. Nicht nur wird die Partei, zu deren Lasten die Zusatzvereinbarung vornehmlich ging, durch deren Verwerfung nicht beschwert, sondern es kann die erste Vereinbarung, die seinerzeit als abschliessende Regelung gedacht war, bei Ungültigkeit der Zusatzvereinbarung sehr wohl für sich allein bestehen bleiben und genehmigt werden, sofern sie ihrerseits gültig zustande gekommen und die in ihr enthaltene Regelung sachlich einwandfrei ist.
3.
bis 6. - ..................
7 - Als unangemessen betrachtet der Kläger insbesondere die von ihm in der Vereinbarung übernommene Pflicht zur Alimentationsleistung auch für den Fall, dass sich die Beklagte mit ihrem frühern Ehemann Rudolf Baer wieder verheiraten sollte. Es ist jedoch zulässig, die Pflicht zur Entrichtung einer Rente durch Vereinbarung über den
BGE 81 II 587 S. 592
von
Art. 153 Abs. 1 ZGB
gezogenen Rahmen auszudehnen (
BGE 71 II 139
Erw. 5; GMÜR, 2. Auflage, N. 8, und EGGER, 2. Auflage, N. 5 zu
Art. 153 ZGB
). Hier konnte in der bescheidenen Vermögenslage des Rudolf Baer ein zureichender Grund dafür gefunden werden.
8.
Wenn der Kläger endlich die der Beklagten in Ziff. 7 der Vereinbarung "unter allen Titeln" zusätzlich zuerkannte Forderung von Fr. 12'000.-- als unangemessen bezeichnet, so übersieht er wiederum, dass die Parteien grundsätzlich frei sind, den Inhalt der Vereinbarung zu bestimmen. Es dürfen auf diesem Wege auch Verpflichtungen übernommen (und vom Richter genehmigt) werden, die nicht bereits nach den gesetzlichen Normen bestünden oder die dem Masse nach über die gesetzlichen Verpflichtungen hinausgehen. Insbesondere in den nur die Parteien selbst betreffenden, nur ihre Interessen berührenden Fragen besteht im Rahmen von Recht und Sitte Vertragsfreiheit (vgl.
BGE 60 II 171
; ferner KNAPP, De la convention ou du procès ..., im Journal des Tribunaux 1944, droit fédéral p. 70 lit. C). Der vorliegenden Ziff. 7 der Vereinbarung wäre die Genehmigung deshalb nur zu versagen, wenn sich die darin vorgesehene Leistung auch nicht aus Billigkeitsgründen rechtfertigen liesse und sich vielmehr als ungebührliche Belastung des Klägers erwiese. Das trifft aber nicht zu. Im Betrag von Fr. 12'000.-- ist eine von ihm anerkannte Darlehensschuld von Fr. 4000.-- enthalten. Die restlichen Fr. 8000.-- sind als Entschädigung (zumal für den Entgang einer Anwartschaft) und als Genugtuung zu betrachten. Die Ehe ist durch das Verschulden des Klägers in die Brüche gegangen. Es war auch nur anständig, der Beklagten eine reichliche Genugtuung für das ehewidrige Verhalten und namentlich für die unwürdigen Misshandlungen zu gewähren, mochten diese auch, weil verziehen, nicht mehr als Scheidungsgründe in Betracht fallen und allenfalls aus demselben Grund ein gesetzlicher Genugtuungsanspruch für die betreffenden Vorfälle nicht mehr bestehen. Eine Entschädigung und Genugtuung von
BGE 81 II 587 S. 593
Fr. 8000.-- ist angesichts des Verlaufs dieser Ehe nicht übersetzt, sodass die Vereinbarung auch in diesem Punkte die Genehmigung vollauf verdient. | de |
b144cc85-e787-4394-b838-57906978a6d1 | Sachverhalt
ab Seite 586
BGE 135 III 585 S. 586
A.
A.a
X. und Y. heirateten im Jahre 1959. Ihre gemeinsamen Kinder sind bereits mündig und wirtschaftlich selbständig. Sie reichten dem Präsidenten 2 des Gerichtskreises I in A. am 28./30. August 2006 ein gemeinsames Scheidungsbegehren samt einer Konvention über die Nebenfolgen der Scheidung ein.
A.b
Am 13. November 2006 wurde über das Vermögen von X. der Konkurs ausgesprochen. Die grundbuchliche Anmerkung auf seinen Grundstücken erfolgte tags darauf. Der Konkurs wurde vom Obergericht des Kantons Bern am 11. Dezember 2006 bestätigt.
A.c
Mit Urteil vom 17. Januar 2007 wurde die Ehe von X. und Y. geschieden und ihre Scheidungskonvention genehmigt. Demnach soll insbesondere das Eigentum von X. am Grundstück Nr. x und sein Anteil als Gesamteigentümer des Grundstückes Nr. xx, beide gelegen auf dem Gebiet der Gemeinde B., an Y. übertragen werden. Die Erwerberin verpflichtet sich zur alleinigen Übernahme der auf beiden Grundstücken lastenden Grundpfandschulden. Das Scheidungsurteil ist am 29. Januar 2007 in Rechtskraft erwachsen.
A.d
Am 5. Februar 2007 gelangte der Präsident 2 an das Kreisgrundbuchamt A. zur Vornahme der Eigentumsübertragung gemäss gerichtlich genehmigter Konvention. Das Gesuch wurde mit Verfügung vom 12. Februar 2007 abgewiesen, da über das Vermögen von X. zwischenzeitlich der Konkurs eröffnet worden sei.
B.
X. focht die grundbuchamtliche Abweisungsverfügung erfolglos bei der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern an. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, an welches X. daraufhin gelangte, wies seine Beschwerde am 24. März 2009 ebenfalls ab.
BGE 135 III 585 S. 587
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 15. Mai 2009 ist X. (fortan: Beschwerdeführer) an das Bundesgericht gelangt. Er verlangt die Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichtes. Es sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt die Frage nach dem Verfügungsrecht des Beschwerdeführers über sein Grundeigentum.
2.1
Zum Erwerb von Grundeigentum bedarf es der Eintragung in das Grundbuch (
Art. 656 Abs. 1 ZGB
). Grundbuchliche Verfügungen, wie Eintragung, Änderung und Löschung, dürfen in allen Fällen nur aufgrund eines Ausweises über das Verfügungsrecht und den Rechtsgrund vorgenommen werden (
Art. 965 Abs. 1 ZGB
). Das Verfügungsrecht steht dem Gesuchsteller zu, der sich nach Massgabe des Grundbuches im Zeitpunkt der Grundbuchanmeldung als verfügungsberechtigte Person erweist oder von dieser eine Vollmacht erhalten hat (
Art. 965 Abs. 2 ZGB
; Art. 15 Abs. 2 der Verordnung vom 22. Februar 1910 betreffend das Grundbuch [GBV; SR 211.432.1]; JÜRG SCHMID, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 3. Aufl. 2007, N. 35 zu
Art. 963 ZGB
). Der Rechtsgrund wird durch die Einhaltung der für dessen Gültigkeit erforderlichen Form nachgewiesen (
Art. 965 Abs. 3 ZGB
;
Art. 18 Abs. 1 GBV
). Wird der Eigentumsübergang gerichtlich angeordnet, so erfolgt er ausserbuchlich und bereits mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils (
Art. 656 Abs. 2 ZGB
;
Art. 18 Abs. 2 lit. d GBV
). Eine entsprechende Erklärung des Eigentümers braucht es in diesem Fall nicht (
Art. 963 Abs. 2 ZGB
). Hingegen kann der Erwerber über das Grundstück erst nach Eintrag in das Grundbuch verfügen (
Art. 656 Abs. 2 ZGB
).
2.2 | de |
2afd39bc-3ef4-4a04-9cd0-bc4ff01e2b51 | Sachverhalt
ab Seite 91
BGE 93 IV 90 S. 91
A.-
Gegen X., der mit Liegenschaften handelte, liefen anfangs Oktober 1964 Betreibungen im Forderungsbetrage von insgesamt gegen 4 Millionen Franken. Da keine genügende Deckung bestand und X. sich weigerte, seine Vermögensgegenstände dem Betreibungsbeamten anzugeben und die an verschiedenen Liegenschaften vollzogene Pfändung zu unterzeichnen, wurde am 19. Oktober 1964 über ihn der Konkurs eröffnet. Obschon er davon Kenntnis erhielt und an den beiden folgenden Tagen aufgefordert worden war, beim Konkursamt vorzusprechen und die in seinem Besitz befindlichen Vermögenswerte abzuliefern, erschien er nicht mehr und blieb unbekannten Aufenthaltes, so dass polizeilich nach ihm gefahndet werden musste. Am 17. Dezember 1964 konnte er in Wil/SG, wo er mit seiner Geliebten in einem Hotel wohnte, verhaftet werden. Gleichzeitig wurden zwei Inhaberschuldbriefe, lautend auf Fr. 230'000.-- und Fr. 50'000.--, sowie Banknoten im Betrage von Fr. 360'000.-- beschlagnahmt, die X. teils in einer Ledermappe, teils in einem im Bahnhof Wil eingestellten Koffer versteckt hatte.
B.-
Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich erklärte X. am 26. Mai 1967 des betrügerischen Konkurses im Sinne von
Art. 163 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
schuldig und verurteilte ihn zu 6 Monaten Gefängnis, erstanden durch die erlittene Untersuchungshaft von 240 Tagen.
C.-
Der Verurteilte führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe schon vor der Konkurseröffnung in Wil logiert und bereits damals die Vermögensgegenstände dort verwahrt. Er sei also nicht tätig geworden und habe nichts beiseitegeschafft, so dass auf ihn nicht Art. 163 Ziff. 1, sondern höchstens
Art. 323 Ziff. 4 StGB
wegen Ungehorsams im Konkursverfahren anwendbar sei.
Dass sich der Beschwerdeführer nach der Konkurseröffnung untätig verhalten hat, schliesst die Anwendung von
Art. 163 StGB
nicht aus. Diese Bestimmung erfasst übrigens auch die Vermögensverminderung, die schon vor der Eröffnung des Konkurses im Hinblick auf die zu erwartende Zwangsverwertung vorgenommen wird. Selbst wenn aber der Beschwerdeführer ursprünglich den neuen Aufenthaltsort zum Schutze
BGE 93 IV 90 S. 92
seiner Geliebten geheimgehalten und die Vermögenswerte aus Furcht, sie könnten im Scheidungsprozess beschlagnahmt werden, beiseitegeschafft und versteckt haben sollte, so hat er sie jedenfalls nach der Konkurseröffnung im Sinne des
Art. 163 Ziff. 1 StGB
verheimlicht. Dazu ist nicht eine positive Handlung, z.B. das Fortschaffen oder Verstecken eines Gegenstandes, erforderlich; es genügt, dass der Vermögenswert durch Unterlassung der vorgeschriebenen Anmeldung dem Konkursamt verschwiegen wird (
BGE 88 IV 26
lit. b mit Bezug auf den analogen Tatbestand des
Art. 164 StGB
).
Daran ändert nichts, dass die Verheimlichung von Vermögenswerten zugleich Tatbestandsmerkmal des
Art. 323 Ziff. 4 StGB
ist, wonach der Gemeinschuldner mit Haft oder Busse bestraft wird, wenn er dem Konkursamt nicht alle seine Vermögensstücke angibt und zur Verfügung stellt, obwohl es ihn auf diese Pflicht aufmerksam gemacht hat. Der Unterschied zwischen dieser Bestimmung und
Art. 163 StGB
besteht nicht in der Art der Verheimlichung, sondern darin, dass beim Tatbestand des betrügerischen Konkurses die Verheimlichung zu einer Benachteiligung der Gläubiger führen und der Vorsatz des Täters auch darauf gerichtet sein muss. Eine Bestrafung des Beschwerdeführers wegen blossen Ungehorsams nach
Art. 323 Ziff. 4 StGB
käme nur dann in Frage, wenn er ohne diesen Vorsatz gehandelt hätte (nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 5. Dezember 1958 i.S. Gautschi).
2.
Die vom Beschwerdeführer verheimlichten Vermögensstücke waren mindestens zwei Monate lang dem Zugriff des Betreibungs- und Konkursamtes entzogen und wären es weiterhin geblieben, wenn der Beschwerdeführer nicht hätte verhaftet werden können. Die Gläubigerrechte waren somit gefährdet, und die Zwangsvollstreckung wurde erschwert. Darin liegt eine Benachteiligung der Gläubiger, wenn auch nur eine vorübergehende, was genügt (
BGE 85 IV 219
unten,
BGE 93 IV 17
f.).
Nach den tatsächlichen und darum verbindlichen Feststellungen des Obergerichts wusste der Beschwerdeführer, dass er durch sein Verhalten die Konkursgläubiger benachteiligen oder schädigen konnte, und er hat diesen Erfolg auch in seinen Willensentschluss einbezogen oder war mit ihm zum mindesten für den Fall, dass er eintreten sollte, einverstanden. Die Einwendungen, mit denen der festgestellte Vorsatz in der Beschwerde
BGE 93 IV 90 S. 93
bestritten wird, richten sich ausschliesslich gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz und sind daher unbeachtlich. Selbst wenn übrigens der Beschwerdeführer, wie er behauptet, nur beabsichtigt hätte, die Beschlagnahme der Vermögenswerte durch den Scheidungsrichter zu verhindern, so ergäbe sich daraus nicht zwingend, dass er die Benachteiligung der Konkursgläubiger als notwendige Nebenwirkung seiner Absicht nicht mitgewollt hätte. Ebensowenig wird die vorsätzliche Benachteiligung der Gläubiger dadurch ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit, mit den Vermögenswerten ins Ausland zu verschwinden, keinen Gebrauch gemacht hat. | de |
005c2ba4-b801-47d8-9205-d2b2dcce696a | Erwägungen
ab Seite 154
BGE 143 III 153 S. 154
Aus den Erwägungen:
4.
4.1
Nach
Art. 312 ZPO
stellt die Rechtsmittelinstanz die Berufung der Gegenpartei zur schriftlichen Stellungnahme zu, es sei denn, die Berufung sei offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet; die Frist für die Berufungsantwort beträgt 30 Tage. Nach
Art. 313 Abs. 1 ZPO
kann die Gegenpartei in der Berufungsantwort Anschlussberufung erheben; diese fällt nach
Art. 313 Abs. 2 ZPO
dahin, wenn (a) die Rechtsmittelinstanz nicht auf die Berufung eintritt oder (b) diese als offensichtlich unbegründet abweist oder wenn (c) die Berufung vor Beginn der Urteilsberatung zurückgezogen wird.
4.2
Die Anschlussberufung ist das Rechtsmittel, mit dem der Berufungsbeklagte in einem vom Berufungskläger bereits eingeleiteten Berufungsverfahren beantragt, dass der angefochtene Entscheid zuungunsten des Berufungsklägers abgeändert wird. Die Anschlussberufung ist nicht auf den Gegenstand der Berufung beschränkt und kann sich demnach auf einen beliebigen, mit diesem nicht notwendig in Zusammenhang stehenden Teil des Urteils beziehen (
BGE 138 III 788
E. 4.4 S. 790 f.). Sie hat jedoch keine selbstständige Wirkung; zieht der Berufungskläger die Berufung zurück, fällt die Anschlussberufung dahin. Die Anschlussberufung ist deshalb ein Verteidigungs- oder Gegenangriffsmittel bzw. eine Option zum Gegenangriff der berufungsbeklagten Partei (
BGE 141 III 302
E. 2.2 S. 305; Urteil 4A_241/2014 vom 21. November 2014 E. 2.2).
4.3
Die Anschlussberufung dient dazu, die Berufung führende Partei mit dem Risiko einer Änderung des erstinstanzlichen Entscheids zu ihren Ungunsten zu konfrontieren und sie dadurch zum Rückzug des Rechtsmittels zu bewegen (Botschaft des Bundesrats vom
BGE 143 III 153 S. 155
28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7374 Ziff. 5.23.1 zu Art. 309 und 310; vgl. auch SUTTER-SOMM, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2017, N. 1380). Sie ist für den Fall gedacht, dass sich eine Partei grundsätzlich mit dem erstinstanzlichen Entscheid abfindet, auch wenn sie mit ihren Begehren nicht durchgedrungen ist; die verzichtende Partei soll jedoch auf ihren Entschluss, diesen Entscheid nicht anzufechten, nicht nur zurückkommen können, um die Gegenpartei zum Rückzug des Rechtsmittels zu bewegen, sondern auch, wenn sich wegen der Berufung der Gegenpartei die Gründe für ihren Verzicht nicht verwirklichen - weil namentlich die erwartete Zeitersparnis oder die erwartete Befriedung nicht eintreten (vgl.
BGE 138 III 788
E. 4.4 S. 790 f.).
4.4
Anschlussberufung kann in der Berufungsantwort während der 30-tägigen Frist seit Zustellung der Berufung zur Antwort erhoben werden. Umstritten ist, ob sie während dieser Frist in einer separaten Eingabe eingereicht werden kann (u.a. dafür etwa REETZ/HILBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.] [im Folgenden Sutter-Somm und andere], 3. Aufl. 2016, N. 26 zu
Art. 313 ZPO
; dagegen etwa STERCHI, in: Berner Kommentar, 2012, N. 9 zu
Art. 313 ZPO
). Einhelligkeit besteht in der Doktrin jedoch darüber, dass die Anschlussberufung nur während der Frist eingereicht werden kann, die für die Berufungsantwort läuft (GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kurzkommentar, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu
Art. 312 ZPO
; HUNGERBÜHLER/BUCHER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], 2. Aufl. 2016, N. 13 zu
Art. 313 ZPO
; JEANDIN, in: CPC, Code de procédure civile commenté, Bohnet/Haldy/Jeandin/Schweizer/Tappy [Hrsg.], 2011, N. 5 zu
Art. 313 ZPO
; REETZ/HILBER, a.a.O., N. 27 zu
Art. 313 ZPO
; SPÜHLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 4 zu
Art. 313 ZPO
; STERCHI, a.a.O., N. 9 ff. zu
Art. 313 ZPO
). Eine Anschlussberufung kann daher frühestens nach Eröffnung der Berufungsantwortfrist eingereicht werden und die Möglichkeit zur Anschlussberufung setzt die Zustellung der Berufung zur Antwort voraus.
4.5
Nach
Art. 312 Abs. 1 ZPO
stellt die Rechtsmittelinstanz die Berufung der Gegenpartei zur schriftlichen Stellungnahme zu. Die Zustellung der Berufung an die Gegenpartei ist die Regel (GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 3 zu
Art. 312 ZPO
; JEANDIN, a.a.O., N. 6 zu
Art. 312 ZPO
;
BGE 143 III 153 S. 156
SPÜHLER, a.a.O., N. 2 zu
Art. 312 ZPO
). Eine Fristvorgabe besteht zwar für die Zustellung nicht, aber sie sollte rasch erfolgen, zumal die gesetzliche Frist von 30 Tagen für die begründete Antwort im Interesse der Prozessbeschleunigung und der Waffengleichheit (vgl.
BGE 141 III 554
E. 2.4 S. 557) bestimmt ist (vgl. BRUNNER, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 1, 2 zu
Art. 312 ZPO
; HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 2 zu
Art. 312 ZPO
; REETZ/THEILER, in: Sutter-Somm und andere, a.a.O., N. 14 zu
Art. 312 ZPO
). Vom Grundsatz der Einholung einer Antwort kann nur abgesehen werden, wenn sich die Berufung als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl.
BGE 138 III 568
E. 3.1 S. 569). Dies hat sich im Rahmen einer Vorprüfung herauszustellen und dient ebenfalls der raschen Erledigung (HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 3 zu
Art. 312 ZPO
).
4.6
Als Beispiele für offensichtlich unzulässige Berufungen werden in der Literatur etwa genannt die fehlende Berufungsfähigkeit, die Nichteinhaltung der Berufungsfrist, fehlendes Rechtsschutzinteresse, Nichtleistung des Kostenvorschusses u.ä. (vgl. GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 2 zu
Art. 312 ZPO
; HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 5 zu
Art. 312 ZPO
; JEANDIN, a.a.O., N. 7 zu
Art. 312 ZPO
; REETZ/THEILER, a.a.O., N. 17 zu
Art. 312 ZPO
; SPÜHLER, a.a.O., N. 11 zu
Art. 312 ZPO
; STERCHI, a.a.O., N. 3 zu
Art. 312 ZPO
). Als offensichtlich unbegründete Berufungen werden solche genannt, die ohne weiteres erkennbar keine stichhaltigen Beanstandungen am erstinstanzlichen Entscheid enthalten, die sich schon bei summarischer Prüfung als aussichtslos erweisen (GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 2 zu
Art. 312 ZPO
; HUNGERBÜHLER/BUCHER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 312 ZPO
; JEANDIN, a.a.O., N. 8 zu
Art. 312 ZPO
; REETZ/THEILER, a.a.O., N. 18 zu
Art. 312 ZPO
; SPÜHLER, a.a.O., N. 12 zu
Art. 312 ZPO
; STERCHI, a.a.O., N. 5 zu
Art. 312 ZPO
).
4.7
Die Vorinstanz begründet im angefochtenen Urteil nicht, weshalb sie die Berufung der Klägerin der Beklagten nicht zur Antwort zugestellt hat. Das Urteil umfasst 73 Seiten und setzt sich eingehend mit den Rügen der Klägerin in Bezug auf die Auslegung von Ziffer 1.2.1 des Werkvertrages, in Bezug auf die Umstände, die nach Ansicht der Klägerin zu einer Abänderung des vertraglichen Vorbehalts der Schriftlichkeit für Bestellungsänderungen geführt haben sollen sowie der Vergütung für Beschleunigungsmassnahmen auseinander. Es erscheint ausgeschlossen, dass die Vorinstanz in dieser Streitsache aufgrund einer summarischen Prüfung sämtliche Rügen
BGE 143 III 153 S. 157
der Klägerin gegen den erstinstanzlichen Entscheid als offensichtlich unbegründet beurteilen konnte. Dass die Vorinstanz keine (blosse) Vorprüfung vorgenommen haben kann, ergibt sich ausserdem aus dem zeitlichen Ablauf. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat die Klägerin die Berufung am 9. November 2015 eingereicht. Das Urteil datiert vom 12. September 2016 und wurde am 14. September 2016 versandt. Die Vorinstanz hat
Art. 312 Abs. 1 ZPO
verletzt, indem sie die Berufung der Klägerin der Beklagten nicht zur Antwort zustellte.
4.8
Der Klägerin kann nicht gefolgt werden, wenn sie die Ansicht vertritt, die Beklagte habe ihr Recht auf Erhebung einer Anschlussberufung verwirkt, weil sie auf die Mitteilung des Obergerichts nicht reagiert habe, dass Berufung erhoben worden sei. Der Beklagten ist die Begründung der Berufung vom Obergericht unbestritten nicht zur Kenntnis gebracht worden und es wurde ihr auch sinngemäss keine Frist zur Antwort im Sinne von
Art. 312 ZPO
eröffnet. Auf die blosse Mitteilung, es sei Berufung erhoben worden, musste sie nicht reagieren. Sie durfte die Zustellung der begründeten Berufung mit entsprechender Frist zur Antwort abwarten, ohne ihr Recht auf Antwort und Anschlussberufung zu verwirken. Es oblag vielmehr dem Gericht, ihr die Berufung von Amtes wegen zuzustellen, weshalb aus dem blossen Zuwarten nicht auf einen Verzicht auf Stellungnahme zur Berufung oder Anschlussberufung geschlossen werden kann.
4.9
Die Beschwerde der Beklagten ist begründet. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die durch die Klägerin erhobene Berufung der Beklagten zur Antwort zustelle. (...) | de |
dcdc32cc-82b4-43c3-b7c4-32e9bbc50583 | Sachverhalt
ab Seite 54
BGE 98 Ib 53 S. 54
A.-
Im Jahre 1960 gründeten die X. AG als Fondsleitung und die Treuhandgesellschaft Y. als Treuhänderin den Immobilien- und Wertschriften-Anlagefonds Z. Die X. AG wird von A. beherrscht. Dieser verfügt über sämtliche Aktien der B. AG, welche Inhaberin von Anteilscheinen des Fonds Z. ist.
Auf den 1. Februar 1967, den Zeitpunkt des Inkrafttretens des BG über die Anlagefonds vom 1. Juli 1966 (AFG), meldeten sich die X. AG als Fondsleitung und die Treuhandgesellschaft Y. als Depotbank bei der Eidg. Bankenkommission an, wodurch sie die Bewilligung zur Weiterführung der Geschäfte gemäss
Art. 53 Abs. 3 AFG
erwarben.
Am 29. Mai 1967 beschlossen die beiden Gesellschaften, den Anlagefonds Z. aufzulösen.
In der Folge gelangte die Bankenkommission zum Schluss, dass die X. AG bei der Leitung des Fonds ihre gesetzlichen und vertraglichen Pflichten grob verletzt habe. Sie entzog ihr daher am 26. September 1969 die Bewilligung zur Führung der Geschäfte von Anlagefonds und ernannte an ihrer Stelle für den in Liquidation stehenden Fonds Z. die Treuhandgesellschaft C. als Sachwalter. Eine von der X. AG gegen diese Verfügung erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wurde vom Bundesgericht am 25. September 1970 abgewiesen (
BGE 96 I 474
).
BGE 98 Ib 53 S. 55
Der Sachwalter ersetzte die bisherige Revisionsstelle der Fondsleitung durch die Revisionsgesellschaft D.
B.-
Die B. AG stellte in einer Eingabe vom 11. März 1971 an die Bankenkommission das Begehren, der Revisionsgesellschaft D. sei die Bewilligung zur Tätigkeit als Revisionsstelle des Fonds Z. mit sofortiger Wirkung zu entziehen. Sie machte geltend, die Treuhandgesellschaft C. sei an der Revisionsgesellschaft D. massgebend beteiligt, weshalb dieser die erforderliche Unabhängigkeit fehle.
In einer weiteren Eingabe vom 30. März 1971 beantragte die B. AG der Bankenkommission, der Treuhandgesellschaft C. die Bewilligung zur Tätigkeit als Sachwalter für den Fonds Z. mit sofortiger Wirkung zu entziehen und die Durchführung eines Strafverfahrens gegen die verantwortlichen Funktionäre dieser Gesellschaft zu veranlassen. Zur Begründung wurde vorgebracht, die Sachwalterin habe ihre Pflichten grob verletzt. Es wurde ihr vorgeworfen, sie habe die Interessen der Anleger vernachlässigt, indem sie ein zum Fonds gehörendes Grundstück in der Bundesrepublik Deutschland zu ungünstigen Bedingungen verkauft und Gelegenheiten für eine vorteilhafte Liquidation von Immobilienwerten des Fonds in Frankreich verpasst habe. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass sie ihren ersten Rechenschaftsbericht nicht wahrheitsgetreu abgefasst und nicht rechtzeitig erstattet habe, was strafbar sei. Gerügt wurde auch, dass sie eine von ihr abhängige Revisionsstelle beigezogen habe.
Die Bankenkommission verfügte am 26. April 1971, dass sie auf die Begehren der B. AG nicht eintrete. Sie nahm unter Berufung auf die Botschaft des Bundesrates zum AFG (BBl 1965 III 312) und auf
BGE 93 I 655
an, der Anleger habe ihr gegenüber keine Parteirechte. Die Eingaben der B. AG qualifizierten sich als blosse Aufsichtsbeschwerde im Sinne des Art. 71 des BG über das Verwaltungsverfahren (VwG). Die Aufsichtsbehörde sei nicht verpflichtet, den Anleger darüber zu informieren, welche Folge sie seiner Anzeige geben wolle. Die B. AG könne sich an den Zivilrichter wenden (
Art. 25 Abs. 1 AFG
), und sie könne auch selber Strafanzeige erstatten.
C.-
Gegen diesen Entscheid erhob die B. AG Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den folgenden Anträgen:
"1.- Die angefochtene Verfügung der Eidg. Bankenkommission sei aufzuheben.
2. Es sei der Treuhandgesellschaft C. die Bewilligung zur Geschäftstätigkeit
BGE 98 Ib 53 S. 56
als Sachwalterin bzw. Fondsleitung des Fonds Z. mit sofortiger Wirkung zu entziehen.
3. Es sei gegen die verantwortlichen Funktionäre der Treuhandgesellschaft C. die Durchführung eines Strafverfahrens zu veranlassen mit Bezug auf die in der Eingabe der B. AG an die Eidg. Bankenkommission vom 30. März 1971 umschriebenen Tatbestände.
4. Es sei der Revisionsgesellschaft D. die Bewilligung als Revisionsstelle des Fonds Z. mit sofortiger Wirkung zu entziehen.
5. Eventuell sei die Angelegenheit an die Eidg. Bankenkommission zurückzuweisen mit der Weisung, die Anträge der B. AG in deren Eingaben an die Eidg. Bankenkommission vom 11. März und vom 30. März 1971 materiell zu behandeln und der B. AG in diesem Verfahren die vollen Parteirechte nach dem Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren einzuräumen."
Die Beschwerdeführerin berief sich auf ein ihr von Professor F. Gygi, Bern, erstattetes Rechtsgutachten.
D.-
Die Treuhandgesellschaft C. beantragte für den Fall, dass auf die Beschwerde eingetreten und das Beschwerdebegehren 1 gutgeheissen würde, die Abweisung der Beschwerdebegehren 2-4. Sie erwähnte, dass die zuständige Behörde gegen ihre verantwortlichen Funktionäre auf Anzeige der B. AG vom 1. Juni 1971 hin eine Strafuntersuchung eingeleitet habe.
E.-
Die Bankenkommission beantragte, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, falls angenommen werde, dass keine beschwerdefähige Verfügung vorliege; eventuell sei die Beschwerde abzuweisen.
F.-
Am 23. August 1971 verfügte die Bankenkommission, dass die Revisionsgesellschaft D. ihr Mandat als Revisionsstelle des Fonds Z. niederzulegen habe, da ein Mitglied des Verwaltungsrates dieser Gesellschaft auch dem Verwaltungsrat der Treuhandgesellschaft C. angehöre. Die Revisionsgesellschaft D. kam der Aufforderung nach. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Es ist nicht bestritten, dass die B. AG einer der am Anlagefonds Z. beteiligten Anleger ist. In dieser Eigenschaft hat sie der Bankenkommission in Eingaben vom 11. und 30. März 1971 beantragt, der Revisionsgesellschaft D. die Bewilligung zur Tätigkeit als Revisionsstelle für den Fonds Z. zu entziehen, die Treuhandgesellschaft C. als Sachwalter für die Leitung desselben Fonds abzuberufen und gegen die verantwortlichen
BGE 98 Ib 53 S. 57
Funktionäre dieser Gesellschaft Strafanzeige zu erstatten. Die Bankenkommission hat am 26. April 1971 "verfügt", dass sie auf diese Begehren nicht eintrete, weil sie angenommen hat, der Anleger habe kein Recht darauf, dass die Aufsichtsbehörde über die Anlagefonds solche von ihm gestellte Anträge materiell prüfe und in einem ihm zu eröffnenden Sachentscheid beurteile. Damit hat sie eine Verfügung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. b und c VwG getroffen, nämlich eine Anordnung in einem Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes (aus dem AFG und dem VwG abgeleitete Grundsätze) stützt und die "Feststellung des Nichtbestehens von Rechten" (der Anleger) sowie das "Nichteintreten auf Begehren um Aufhebung von Rechten und Pflichten" (des von der Aufsichtsbehörde eingesetzten Sachwalters und der von diesem beigezogenen Revisionsstelle) zum Gegenstand hat. Nach
Art. 97 Abs. 1 OG
beurteilt das Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne des Art. 5 VwG. Geht eine solche Verfügung - wie der hier angefochtene Entscheid der Bankenkommission - von einer eidgenössischen Kommission im Sinne von
Art. 98 lit. f OG
aus, so kann sie nach dieser Bestimmung unmittelbar mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden, wenn das Bundesrecht das vorsieht. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt; denn
Art. 47 AFG
bestimmt, dass gegen die Entscheidungen und Verfügungen der Aufsichtsbehörde über die Anlagefonds die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig ist. Es liegt keiner der Fälle vor, in denen dieses Rechtsmittel nach
Art. 99-102 OG
ausgeschlossen ist. Die Verfügung der Bankenkommission vom 26. April 1971 unterlag demnach der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht.
Indessen ist die erhobene Beschwerde insoweit gegenstandslos geworden, als sie sich gegen den Beschluss der Bankenkommission richtet, auf das Begehren der Beschwerdeführerin um Absetzung der vom Sachwalter eingesetzten Revisionsstelle - Revisionsgesellschaft D. - nicht einzutreten; denn die Bankenkommission hat am 23. August 1971 verfügt, dass die genannte Revisionsgesellschaft das ihr vom Sachwalter erteilte Mandat niederzulegen habe.
Soweit die Verfügung vom 26. April 1971 die Begehren der Beschwerdeführerin um Abberufung des Sachwalters und um
BGE 98 Ib 53 S. 58
Einreichung einer Strafanzeige gegen die für dessen Geschäftsführung verantwortlichen Personen betrifft, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht gegenstandslos geworden und ist darauf einzutreten, wenn die B. AG in diesen Punkten die Beschwerdelegitimation besitzt.
2.
Nach
Art. 103 lit. a OG
ist zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. Die B. AG ist durch den Beschluss der Bankenkommission, auf ihre Begehren um Abberufung des Sachwalters und um Einreichung einer Strafanzeige nicht einzutreten, offensichtlich berührt. Als Anlegerin ist sie auch daran interessiert, dass dieser Beschluss aufgehoben und auf jene Begehren eingetreten wird.
Art. 103 lit. a OG
verlangt nicht, dass der Beschwerdeführer ein Interesse habe, das durch das in Betracht kommende materielle Recht geschützt ist. Das Interesse kann auch bloss tatsächlicher Art sein, doch muss es auf jeden Fall schutzwürdig sein, d.h. im Beschwerdeverfahren berücksichtigt zu werden verdienen (
BGE 97 I 593
). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die rechtliche oder tatsächliche Stellung des Beschwerdeführers durch den Ausgang des Beschwerdeverfahrens unmittelbar beeinflusst werden kann (GRISEL, Droit administratif suisse, S. 478 f., 504; GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 107 f.). So verhält es sich hier. Die B. AG wahrt mit der Beschwerde in den noch strittigen Punkten ein eigenes, unmittelbares und daher im Sinne von
Art. 103 lit. a OG
schutzwürdiges Interesse.
3.
Nach Art. 25 Abs. 2 VwG hat die in der Sache zuständige Behörde einem Begehren um Erlass einer Feststellungsverfügung über den Bestand, den Nichtbestand oder den Umfang öffentlichrechtlicher Rechte oder Pflichten zu entsprechen, wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse nachweist. Dagegen sagt das Verwaltungsverfahrensgesetz nicht ausdrücklich, dass die Behörde auch auf ein Begehren um Durchführung eines auf den Erlass einer Leistungs- oder Gestaltungsverfügung gerichteten Verfahrens immer dann einzutreten habe, wenn ein schutzwürdiges Interesse des Antragstellers anzunehmen ist. Wie es sich damit verhält, ist durch Auslegung des Gesetzes abzuklären.
Art. 5 VwG umschreibt den Begriff der Verfügung. Darunter fallen nach Abs. 1 Anordnungen, die zum Gegenstand haben: a) Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder
BGE 98 Ib 53 S. 59
Pflichten; b) Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten; c) Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren. Verfügungen aller dieser Arten können gegebenenfalls durch Verwaltungsbeschwerde oder Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden. Zur einen wie zur anderen Beschwerde ist u.a. berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat (Art. 48 lit. a VwG,
Art. 103 lit. a OG
). Die zur Beschwerdeführung befugte Person ist auch Partei in dem der Verfügung vorausgehenden Verfahren (Art. 6 VwG). Art. 48 lit. a VwG,
Art. 103 lit. a OG
und Art. 6 VwG hängen nicht nur miteinander, sondern auch mit Art. 25 Abs. 2 VwG eng zusammen. In Art. 6 wie in Art. 25 Abs. 2 VwG ist von der Stellung des Privaten im Verwaltungsverfahren die Rede, und die zweite Bestimmung stellt wie Art. 48 lit. a VwG und
Art. 103 lit. a OG
darauf ab, ob der Private ein schutzwürdiges Interesse hat. Art. 6 und Art. 48 lit. a VwG sowie
Art. 103 lit. a OG
beziehen sich aber auf Verfügungen aller in Art. 5 VwG genannten Arten, insbesondere auch auf Leistungs- und Gestaltungsverfügungen. Angesichts dieser Zusammenhänge drängt sich die Annahme auf, dass die in der Sache zuständige Verwaltungsbehörde entsprechend dem in Art. 25 Abs. 2 VwG für Feststellungsverfügungen aufgestellten Grundsatz auch auf das von einem Privaten gestellte Begehren um Durchführung eines auf den Erlass einer Leistungs- oder Gestaltungsverfügung gerichteten Verfahrens eintreten muss, wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse an der beantragten Verfügung nachweist.
Diese Auslegung wird durch Art. 5 Abs. 1 lit. c und Art. 13 VwG bestätigt. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. c gilt als Verfügung auch der Beschluss einer Behörde, auf ein Begehren um Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten nicht einzutreten. Eine solche Verfügung kann vom Gesuchsteller gegebenenfalls mit Beschwerde angefochten werden, wenn er ein schutzwürdiges Interesse an ihrer Aufhebung oder Änderung hat. Diese Ordnung setzt voraus, dass die Verwaltungsbehörde auch auf das Begehren eines hinlänglich interessierten Privaten um Durchführung eines Verfahrens, das zu einer Leistungs- oder Gestaltungsverfügung führen soll, einzutreten
BGE 98 Ib 53 S. 60
hat. Art. 13 VwG setzt dies ebenfalls voraus; denn dort ist von "einem Verfahren" (nicht nur von einem Feststellungsverfahren), das eine Partei durch ihr Begehren einleitet, die Rede und wird bestimmt, dass die Behörde auf ein solches Begehren "nicht einzutreten braucht", wenn der Gesuchsteller die notwendige und zumutbare Mitwirkung an der Feststellung des Sachverhaltes verweigert.
Das Fehlen einer dem Art. 25 Abs. 2 VwG entsprechenden ausdrücklichen Bestimmung für Leistungs- und Gestaltungsverfügungen mag darauf zurückzuführen sein, dass der Gesetzgeber angenommen hat, ein genügendes Interesse des eine solche Verfügung beantragenden Gesuchstellers liege in der Regel auf der Hand (vgl. Gygi a.a.O. S. 100).
Der dargelegten Auslegung steht Art. 71 VwG nicht entgegen. Dort wird bestimmt, dass jedermann jederzeit Tatsachen, die im öffentlichen Interesse ein Einschreiten gegen eine Behörde von Amtes wegen erfordern, der Aufsichtsbehörde anzeigen kann, und dass der Anzeiger nicht die Rechte einer Partei hat. Die in dieser Bestimmung vorgesehene Anzeige, im Randtitel "Aufsichtsbeschwerde" genannt, ist ein subsidiärer Rechtsbehelf für Personen, die nicht legitimiert sind (oder trotz Legitimation davon absehen), Begehren zu stellen, auf welche die Behörde (gegebenenfalls auch eine Aufsichtsbehörde) eintreten muss. Solche Begehren können aber auch den Erlass einer Leistungs- oder Gestaltungsverfügung zum Gegenstand haben, wie sich aus dem System der geltenden gesetzlichen Ordnung des Verwaltungsverfahrens und der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bund ergibt.
4.
Gemäss Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 lit. d VwG ist dieses Gesetz auch massgebend für das Verfahren in Verwaltungssachen, die durch Verfügungen eidgenössischer Kommissionen zu erledigen sind. Die Eidg. Bankenkommission ist eine solche Behörde. Sie hat sich daher an die Grundsätze, die sich aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz ergeben, insbesondere auch insoweit zu halten, als sie Verfügungen in Anwendung des Anlagefondsgesetzes zu treffen hat.
Sie hatte am 26. September 1969 gestützt auf Art. 44/45 AFG der X. AG die Bewilligung zur Leitung von Anlagefonds entzogen und an ihrer Stelle für den Fonds Z. die Treuhandgesellschaft C. als Sachwalter ernannt. Die B. AG hat in ihrer Eingabe vom 30. März 1971 der Bankenkommission beantragt, die
BGE 98 Ib 53 S. 61
Treuhandgesellschaft C. als Sachwalter für diesen Fonds abzuberufen. Auf dieses unzweideutige, einlässlich begründete Begehren hätte die Bankenkommission eintreten müssen, wenn sie in der Sache zuständig ist und die Gesuchstellerin ein schutzwürdiges Interesse an der beantragten Massnahme hat. Beide Voraussetzungen sind erfüllt.
Wenn sich zeigt, dass ein von der Bankenkommission für die geschäftsunfähige Fondsleitung ernannter Sachwalter nicht fähig ist, seine Obliegenheiten in gehöriger Weise zu erfüllen, oder wenn er seine Pflichten grob verletzt, muss er abberufen werden können, obwohl weder das Anlagefondsgesetz noch die zugehörige Vollziehungsverordnung (AFV) darüber etwas bestimmt. Zuständig für die Abberufung kann nur die Bankenkommission sein, welche den Sachwalter ernannt hat und unter deren Aufsicht er steht (Art. 43 AFV).
Die B. AG hat das Begehren um Abberufung des Sachwalters in ihrer Eigenschaft als Inhaberin von Anteilscheinen des Fonds Z. gestellt. Es ist - wie erwähnt - nicht bestritten, dass sie diese Stellung hat. Als Anlegerin hat sie aber offensichtlich ein eigenes, unmittelbares und daher schutzwürdiges Interesse an der beantragten Abberufung. In der Tat kann der Anleger durch diese Massnahme wirksam dagegen geschützt werden, dass seine Interessen durch mangelhafte Geschäftsführung des Sachwalters beeinträchtigt werden. Wohl kann der Anleger gegen die mit der Sachwalterschaft betrauten Personen nach
Art. 25 Abs. 1 AFG
Klage auf Schadenersatz erheben, doch ist der Zivilrichter nicht zuständig, den Sachwalter abzuberufen.
Die Bankenkommission betrachtet die Eingabe der B. AG vom 30. März 1971 zu Unrecht als blosse Anzeige im Sinne des Art 71 VwG. Diese Bestimmung betrifft die Aufsicht einer oberen Behörde über die Amtsführung einer ihr unterstellten Behörde. Die Bankenkommission wird allerdings in
Art. 40 ff. AFG
als Aufsichtsbehörde bezeichnet, doch beaufsichtigt sie auf Grund dieses Gesetzes nicht Behörden, sondern die Fondsleitungen und die Depotbanken, die an deren Stelle eingesetzten Sachwalter und auch die Revisionsstellen. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, dass Art. 71 VwG in gewissen Fällen auf Mitteilungen von Anlegern an die Aufsichtsbehörde sinngemäss anwendbar sein könnte. Aber nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz muss die Bankenkommission auf die Eingabe eines Anlegers jedenfalls dann eintreten, wenn damit der Erlass einer in
BGE 98 Ib 53 S. 62
ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Verfügung beantragt wird und der Antragsteller ein schutzwürdiges Interesse an der von ihm verlangten Massnahme hat.
Vergeblich beruft die Bankenkommission sich auf Ausführungen über ihr Verhältnis zu den Anlegern in der Botschaft des Bundesrates zum AFG (BBl 1965 III 312) und in
BGE 93 I 655
. Ob diese Ausführungen den weiten Sinn haben, den die Kommission ihnen beilegt, braucht hier nicht geprüft zu werden. Wäre die Frage zu bejahen, so wäre damit für den Standpunkt der Bankenkommission nichts gewonnen. Jene Ausführungen betreffen die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der revidierten
Art. 97 ff. OG
. Im vorliegenden Fall findet aber diese neue Ordnung Anwendung. Aus ihr ergibt sich, dass die Bankenkommission auf das Begehren der Beschwerdeführerin um Abberufung des für den Fonds Z. an Stelle der geschäftsunfähigen Fondsleitung eingesetzten Sachwalters hätte eintreten müssen.
Der Beschluss der Vorinstanz, auf dieses Begehren nicht einzutreten, ist daher aufzuheben. Es ist zunächst an ihr, einen Sachentscheid darüber zu fällen, weshalb die Angelegenheit an sie zurückzuweisen ist.
5.
Die B. AG hat der Bankenkommission in der Eingabe vom 30. März 1971 auch beantragt, gemäss
Art. 43 Abs. 3 AFG
Strafanzeige gegen die verantwortlichen Funktionäre der Treuhandgesellschaft C. zu erstatten. Nach dieser Bestimmung kann die Aufsichtsbehörde von der zuständigen kantonalen Behörde die Durchführung eines Strafverfahrens verlangen, wenn sie Kenntnis von einer mit Strafe bedrohten Handlung erhält. Das ist eine der "Massnahmen", welche die Aufsichtsbehörde nach
Art. 43 ff. AFG
treffen kann. Ob diese Massnahme den Charakter einer Verfügung im Sinne des Art. 5 VwG habe, ist indessen zweifelhaft, kann aber offen gelassen werden. Auf jeden Fall erscheint das Interesse des Anlegers daran, dass sie getroffen wird, nicht als schutzwürdig. Denn der Anleger ist nicht darauf angewiesen, dass die Bankenkommission Strafanzeige erstattet, da er dies selbst tun kann. Die B. AG hat denn auch im Sommer 1971 selber die Einleitung eines Strafverfahrens gegen die verantwortlichen Funktionäre der Treuhandgesellschaft C. veranlasst. Der Beschluss der Bankenkommission, auf das Begehren der Beschwerdeführerin um Einreichung einer Strafanzeige nicht einzutreten, ist somit nicht zu beanstanden.
BGE 98 Ib 53 S. 63 | de |
0bd5b16b-7405-49fb-9ad0-22018ca2a620 | Sachverhalt
ab Seite 21
BGE 117 IV 20 S. 21
J. führte von 1979 bis 1984 ein Architekturbüro in N. Dieses verwaltete die Liegenschaft X-Strasse 62 in S. Wegen eines in dieser Liegenschaft eingetretenen Wasserschadens überwies die Y-Versicherungsgesellschaft am 2. März 1982 den Betrag von Fr. 11'165.10 auf das private Postcheckkonto von J. Durch Belastung dieses Kontos zahlte J. anfangs April 1982 Löhne in der Höhe von Fr. 11'000.--.
Mit Urteil vom 16. Dezember 1988 erklärte das Strafamtsgericht Thun J. schuldig der qualifizierten Veruntreuung als berufsmässiger Vermögensverwalter und verurteilte ihn in Ausfällung einer Zusatzstrafe zum Urteil des Gerichtspräsidenten II, Thun, vom 17. Juni 1987 zu 6 Monaten Gefängnis, bedingt unter Auferlegung einer Probezeit von 4 Jahren.
Auf Appellation sowohl von J. als auch der Staatsanwaltschaft reduzierte das Obergericht des Kantons Bern am 3. November 1989 die Probezeit für den bedingten Strafvollzug auf 3 Jahre, bestätigte im übrigen aber das erstinstanzliche Urteil.
Eine von J. dagegen eingereichte staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht gut. Erwägungen
Aus der Erwägungen:
1.
b) Der Beschwerdeführer beantragt im erwähnten, an die Vorinstanz gerichteten Schreiben, verschiedene Schriftstücke zu den Akten zu nehmen, eine Abklärung bei der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Bern zu treffen und eine Zeugin sowie ihn
BGE 117 IV 20 S. 22
selber nochmals einzuvernehmen. Damit hätte er seiner Auffassung nach den Beweis namentlich dafür erbringen können, dass sein Büro im Tatzeitpunkt, anfangs April 1982, nur zwei Liegenschaften verwaltete, nämlich je eine auf eigene und auf fremde Rechnung.
Wäre ihm dieser Nachweise gelungen, hätte er nicht als berufsmässiger Vermögensverwalter im Sinne von
Art. 140 Ziff. 2 StGB
betrachtet werden können. Zwar setzt eine Verurteilung wegen qualifizierter Veruntreuung nach der Rechtsprechung nicht voraus, dass die Vermögensverwaltung die Haupttätigkeit des Täters bildet; berufsmässig kann Vermögen auch verwalten, wer sich daneben in wesentlichem Umfange noch anders betätigt (
BGE 100 IV 30
). In Anbetracht der erheblichen Strafdrohung des
Art. 140 Ziff. 2 StGB
von einem Monat Gefängnis bis zu zehn Jahren Zuchthaus und der namentlich mit einer Verlängerung der Strafverfolgungsverjährung verbundenen Zuordnung der qualifizierten Veruntreuung zu den Verbrechen (vgl. Art. 9 Abs. 1 und 70 Abs. 2 StGB), sowie mit Blick darauf, dass
Art. 140 Ziff. 2 StGB
durchwegs nur Tätergruppen erfassen soll, die erhöhtes Vertrauen geniessen, ist eine berufsmässige Vermögensverwaltung indes nicht leichthin anzunehmen. Die Literatur weist zutreffend darauf hin, dass nicht jede Person, die in Ausübung ihres Berufs Vermögen anvertraut erhält, als berufsmässiger Vermögensverwalter angesehen werden kann (NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 155); der Beruf muss vielmehr gerade in der Verwaltung von Vermögen bestehen (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 3. Auflage,
§ 8 N 68
). Da die Besorgung von Liegenschaftsverwaltungen nicht typischerweise zum Architektenberuf gehört, ist ein Architekt danach jedenfalls solange nicht berufsmässiger Vermögensverwalter im Sinne von
Art. 140 Ziff. 2 StGB
, als er nur nebenbei und in geringem Ausmass Liegenschaften verwaltet. Die Annahme einer berufsmässigen Vermögensverwaltung kommt erst in Betracht, wenn die Liegenschaftsverwaltung einen eigenständigen Erwerbszweig des Architekten bildet und einen erheblichen Umfang aufweist; die Verwaltung von ein oder zwei Liegenschaften mittlerer Grösse reicht nicht aus.
2.
Es kann offenbleiben, ob die weitere Rüge des Beschwerdeführers begründet ist, die Vorinstanz habe den Umfang seiner Liegenschaftsverwaltungstätigkeit im Zeitpunkt der Tat, anfangs April 1982, willkürlich beurteilt. Festzuhalten ist, dass es für die Beantwortung der Frage, ob ein Täter wegen Veruntreuung als
BGE 117 IV 20 S. 23
berufsmässiger Vermögensverwalter nach
Art. 140 Ziff. 2 StGB
zu verurteilen ist, entgegen der vom Generalprokurator in seiner Vernehmlassung vertretenen Auffassung allein darauf ankommt, ob die Qualifikationsvoraussetzung im Moment der Tatausführung sowie gegebenenfalls im Moment der Entgegennahme der Gelder gegeben ist. In welchem Ausmass der Beschwerdeführer nach der Begehung der Veruntreuung im April 1982 Liegenschaften verwaltet hat, ist somit belanglos. | de |
0bbe51c6-4dd8-49c8-adf2-2ab3f5d2ce4b | Sachverhalt
ab Seite 63
BGE 106 III 62 S. 63
A.-
In Aufhebung einer vorangegangenen superprovisorischen Verfügung erkannte der Präsident II des Amtsgerichts Luzern-Stadt am 28. September 1978, es seien die beim Betreibungsamt der Stadt Luzern mit Arrest belegten Fr. 227'900.-- Bargeld und die Schecks von Josef K. gerichtlich zu sperren.
Bereits am 27. Juni 1978 hatte das Steueramt Luzern gegen Josef K. eine Sicherstellungsverfügung für eine Forderung von Fr. 965'500.-- erlassen. Die Wehrsteuerverwaltung sodann hatte am 7. Juli 1978 eine Sicherstellungsverfügung für eine Forderung von Fr. 325'500.-- erlassen und am 31. August 1978 einen Arrestbefehl für die beim Betreibungsamt Luzern liegenden Vermögenswerte erwirkt. Diese Vermögenswerte wurden in den zwei Betreibungen Nr. 6011 und Nr. 8624 des Steueramtes Luzern (namens des Kantons Luzern sowie der Einwohner-, Bürger- und katholischen Kirchgemeinde Luzern) und jener Nr. 8518 der Wehrsteuerverwaltung des Kantons Luzern (namens der Schweizerischen Eidgenossenschaft und des Staates Luzern) am 12./27. Dezember 1978 vom Betreibungsamt Luzern gepfändet.
Am 3. Januar 1979 erklärte Frau K. für eine Forderung von Fr. 750'500.-- den privilegierten Pfändungsanschluss gemäss
Art. 111 SchKG
. Im Sinne dieser Bestimmung setzte das Betreibungsamt den Pfändungsgläubigern eine Frist von zehn Tagen an zur Bestreitung des Rechts auf Anschlusspfändung. Das Steueramt der Stadt Luzern bestritt den Anspruch rechtzeitig, weshalb das Betreibungsamt am 23. Januar 1979 dem Anwalt von Frau K. eine zehntägige Frist zur Klage gegen das Steueramt der Stadt Luzern ansetzte. Der Anwalt sandte dem Betreibungsamt am 23. Januar 1979 eine Bestätigung des Präsidenten II des Amtsgerichts Luzern-Stadt, dass Frau K. in dem bei ihm hängigen Ehescheidungsprozess nebst Unterhaltsbeiträgen eine Forderung von Fr. 700'000.-- aus ehelichem Güterrecht geltend mache. Eine Klage gegen die bestreitenden Gläubiger wurde nicht eingereicht.
B.-
Mit Schreiben vom 27. Juni 1980 an das Betreibungsamt Luzern stellte der Anwalt von Frau K., unter Hinweis auf das am 16. Februar 1979 ergangene und in Rechtskraft erwachsene Ehescheidungsurteil, das Begehren um Freigabe der beim
BGE 106 III 62 S. 64
Betreibungsamt liegenden Vermögenswerte. Er verlangte für den Fall, dass seinem Antrag keine Folge geleistet werde, den Erlass eines beschwerdefähigen Entscheides. Das Betreibungsamt, welches das Begehren abwies, erliess am 7. Juli 1980 die folgende Verfügung:
"Der auf die Anschlusspfändung gemäss
Art. 111 SchKG
in Betreibung Nr. 10921 der Frau K. entfallende Anteil am Verwertungserlös wird zufolge erfolgreicher Bestreitung dieses Anschlussrechts dem Steueramt Luzern zugewiesen.
Die Auszahlung erfolgt nach unbenütztem Ablauf der zehntägigen Beschwerdefrist."
C.-
Gegen diese Verfügung erhob Frau K. am 18. Juli 1980 bzw. 1. August 1980 analoge Beschwerden beim Amtsgericht Luzern-Stadt als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs. Sie verlangte damit, das Betreibungsamt sei anzuweisen, die bei ihm liegenden Vermögenswerte des Josef K. herauszugeben. Eventuell habe das Betreibungsamt ihren privilegierten Pfändungsanschluss als rechtzeitig erfolgt anzuerkennen und den Beteiligten gemäss
Art. 111 Abs. 2 SchKG
davon Kenntnis zu geben. Zwar sei unbestritten, dass Frau K. rechtzeitig, nämlich am 23. Januar 1979, Anschlusspfändung für den Betrag von Fr. 750'500.-- erklärt habe; doch werde vorsorglicherweise jetzt, wo die Ansprüche im Ehescheidungsverfahren rechtskräftig beurteilt worden seien, nochmals Anschlusspfändung erklärt.
Nachdem das Amtsgericht Luzern-Stadt die beiden Beschwerden abgewiesen hatte, wandte sich Frau K. an das Obergericht des Kantons Luzern als obere kantonale Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs. Auch das Obergericht gelangte am 24. September 1980 zu einem abweisenden Entscheid.
D.-
Mit Rekurs an das Bundesgericht ersucht Frau K. um Aufhebung des Entscheides des Obergerichts vom 24. September 1980. Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer weist den Rekurs ab, soweit sie darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz einerseits und die Rekurrentin anderseits legen den dritten Satz von
Art. 111 Abs. 1 SchKG
verschieden aus. Während diese sich auf den Standpunkt stellt, die
BGE 106 III 62 S. 65
Bestimmung, dass die Dauer eines Prozess- oder Betreibungsverfahrens nicht in Berechnung falle, gelte auch für den ersten Satz von
Art. 111 Abs. 1 SchKG
- also die vierzigtägige Frist -, will das Obergericht sie nur auf die einjährige Frist des zweiten Satzes bezogen wissen. Zutreffend ist die Auffassung der Vorinstanz.
Bereits in
BGE 41 III 249
E. 2 hat das Bundesgericht festgehalten, dass nur die einjährige Frist um die Dauer eines mit der privilegierten Anschlusspfändung in Beziehung stehenden Prozesses erstreckt werde. Diese Praxis steht in Übereinstimmung mit der allgemein strengen Handhabung der Frist für die Erklärung der Anschlusspfändung (vgl. für die dreissigtägige Frist gemäss
Art. 110 SchKG
BGE 104 III 52
, wo die Auffassung, dass die Frist erst zu laufen beginne, nachdem das Urteil rechtskräftig geworden sei, ebenfalls abgelehnt wird; ferner
BGE 85 III 169
). Die Literatur hat sich der Auffassung des Bundesgerichts angeschlossen (RAGGENBASS, Die privilegierte Anschlusspfändung nach schweizerischem Recht, Diss. Freiburg 1944, S. 90; OTT, Die privilegierte Anschlusspfändung des Ehegatten nach schweizerischem Schuldbetreibungsrecht, in: ZSR 37/1918, S. 312, 315 f.).
Mit der Frage, zu welchem Ergebnis eine gegenteilige Auffassung führen müsste, hat sich das Bundesgericht in
BGE 38 I 241
auseinandergesetzt. Es hat dort insbesondere ausgeführt, dass der nicht privilegierte Gläubiger, der seinerseits einen Aberkennungsprozess mit dem Schuldner führt und provisorisch gepfändet hat, im ungewissen über den wirtschaftlichen Erfolg bliebe; denn selbst wenn der Prozess zugunsten des Gläubigers ausginge, müsste dieser jederzeit mit dem Auftreten des nach
Art. 111 SchKG
privilegierten Gläubigers rechnen, der ihn wegen des Vorranges bei der Kollokation (Art. 219 i.V. mit
Art. 146 SchKG
) um die Früchte seiner Anstrengungen bringen könnte. Um solche Unbilligkeit zu verhindern, muss das Recht zur Teilnahme an der Pfändung ohne vorgängige Betreibung als verwirkt betrachtet werden, wenn die Frist von 40 Tagen - aus welchen Gründen auch immer - nicht eingehalten wurde (so auch OTT, a.a.O., S. 314 f.; vgl. ferner FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Auflage, Band I, S. 263).
Schliesslich ist zu beachten, dass die von Drittgläubigern eingeleitete Betreibung auf Pfändung in aller Regel längst
BGE 106 III 62 S. 66
durchgeführt und abgeschlossen wäre, bevor der Rechtsstreit, welchen die Ehegatten unter sich austragen, entschieden ist. Die von der Rekurrentin vorgeschlagene Lösung wäre daher praktisch nicht durchführbar.
2.
Entgegen ihrer Auffassung konnte sich die Rekurrentin nicht darauf beschränken, zur Wahrung der ihr vom Betreibungsamt angesetzten Frist auf den hängigen Scheidungsprozess zu verweisen. Nur die rechtzeitig erhobene Klage hält die provisorische Teilnahme an der Pfändung aufrecht; der Ansprecher, der die Klagefrist versäumt, hat sein Recht auf Geltendmachung des privilegierten Pfändungsanschlusses verwirkt (AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, S. 199 f.; OTT, a.a.O., S. 329). An dieser Stelle ist der Gesetzestext übrigens eindeutig, sagt doch der erste Satz von
Art. 111 Abs. 3 SchKG
, dass die Teilnahme des die Anschlusspfändung begehrenden Gläubigers "widrigenfalls" - was nichts anderes bedeuten kann als: bei Ausbleiben der Klage innert der Frist von zehn Tagen - dahinfalle. Sodann enthält das Formular Nr. 8 der Betreibungsämter, das dem Anwalt der Rekurrentin am 23. Januar 1979 zugestellt wurde, den gedruckten Satz: "Sie haben infolgedessen innerhalb 10 Tagen, von der Zustellung dieser Anzeige an gerechnet, Klage beim Gericht im beschleunigten Verfahren einzureichen, ansonst die Anschlusspfändung dahinfällt."
Dem Zusammenhang zwischen dem Scheidungsverfahren und dem Widerspruchsprozess hätte in der Weise Rechnung getragen werden können, dass die Sistierung des letzteren bis zur Beendigung des Scheidungsprozesses verlangt worden wäre. Auch wäre es (ohne Sistierung) möglich gewesen, bei vorzeitigem Abschluss des gegen die Drittgläubiger gerichteten Prozesses den auf die provisorische Pfändung entfallenden Verwertungsanteil bis zum Vorliegen des Scheidungsurteils zu hinterlegen (OTT, a.a.O., S. 332).
Der Rekurrentin ist es aber aus prozessualen Gründen verwehrt, die Frage im Rahmen des vorliegenden Verfahrens dem Bundesgericht zur Beurteilung vorzulegen. Wollte sie ihre Rechtsauffassung durch die Aufsichtsbehörde prüfen lassen, so hätte sie nämlich gegen die seinerzeitige Ansetzung der Klagefrist durch das Betreibungsamt Beschwerde führen müssen. Dadurch, dass sie dies unterliess, ist die Fristansetzung in Rechtskraft erwachsen. Von Nichtigkeit der Fristansetzung
BGE 106 III 62 S. 67
kann mangels öffentlicher Interessen, die verletzt sein könnten, entgegen der Meinung der Rekurrentin keine Rede sein (Umkehrschluss aus
BGE 73 III 136
).
5.
Die Rekurrentin hatte ursprünglich innert der vom Gesetz vorgesehenen Frist privilegierte Anschlusspfändung erklärt. Doch unterliess sie es in der Folge, auf Fristansetzung des Betreibungsamtes hin Klage gegen die Drittgläubiger zu erheben. Deshalb hat sie, wie oben (E. 2) ausgeführt, ihr Recht auf Teilnahme an der Anschlusspfändung verwirkt. Entgegen ihrer Auffassung konnte die Rekurrentin nicht erneut Anschlusspfändung erklären, nachdem das Scheidungsurteil rechtskräftig geworden war; denn die vierzigtägige Frist wurde nicht um die Dauer des Scheidungsprozesses erstreckt (E. 1). Somit hat die Vorinstanz die Beschwerden zu Recht abgewiesen. | de |
bcc7b61d-3fbd-4449-ad81-006147a4b769 | Sachverhalt
ab Seite 430
BGE 139 V 429 S. 430
A.
R. war als Angestellter über seine Arbeitgeberin bei der Eidgenössischen Ausgleichskasse (EAK) zum Bezug von Familienzulagen angemeldet. Aus seiner Ehe mit U. gingen drei Kinder, geb. 1990, 1992 und 1994, hervor. Die Ehe wurde am 30. Dezember 2003 geschieden und die Kinder unter die elterliche Sorge der Mutter gestellt.
Am 19. Oktober 2010 reichte U. bei der Familienausgleichskasse des Kantons Bern (FAK) ein Gesuch um Ausrichtung von Familienzulagen rückwirkend ab 1. Januar 2009 ein. Solche wurden ihr am 19. Mai 2011 antragsgemäss zugesprochen.
Mit Verfügung vom 26. März 2012 - ersetzend eine Verfügung vom 14. März 2012 - und Einspracheentscheid vom 8. Mai 2012 verneinte die EAK rückwirkend ab 1. Januar 2009 den Anspruch des R. auf Familienzulagen und forderte für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 31. Mai 2011 zu viel ausgerichtete Zulagen in der Höhe von Fr. 13'700.- zurück.
B.
Die von R. hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 10. Oktober 2012 teilweise gut und reduzierte den Rückforderungsbetrag auf Fr. 4'000.-.
C.
Mit Beschwerde beantragt die EAK, es sei in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides ihr Einspracheentscheid vom 8. Mai 2012 zu bestätigen (Verfahren 8C_927/2012). Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhebt ebenfalls Beschwerde und beantragt, es sei unter Aufhebung des Einsprache- und des kantonalen Gerichtsentscheides festzustellen, dass der Rückforderungsanspruch der EAK verwirkt sei (Verfahren 8C_933/2012).
Im Verfahren 8C_927/2012 beantragen R. und das BSV die Abweisung der Beschwerde der EAK.
Im Verfahren 8C_933/2012 beantragt die EAK die Abweisung der Beschwerde des BSV, während R. auf deren Gutheissung schliesst.
BGE 139 V 429 S. 431 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.3
Neben der EAK hat auch das BSV Beschwerde erhoben. Die Legitimation des BSV ist zu bejahen (
Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG
in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 der Verordnung vom 31. Oktober 2007 über die Familienzulagen [Familienzulagenverordnung, FamZV;SR 836.21] und
Art. 62 Abs. 1
bis
ATSG
[SR 830.1]; vgl. SVR 2011FZ Nr. 2 S. 7, 8C_713/2010 E. 1 und THOMAS FLÜCKIGER, Koordinations- und verfahrensrechtliche Aspekte bei den Kinder- und Ausbildungszulagen, in: Bundesgesetz über die Familienzulagen [FamZG], Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2009, S. 161 ff., 210; vgl.auch MICHAEL PFLÜGER, Die Legitimation des Gemeinwesens zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, 2013, S. 348 Rz. 835 ff.; im Ergebnis wohl anderer Meinung: UELI KIESER, ATSG- Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 72 zu
Art. 62 ATSG
und KIESER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Familienzulagen, Praxiskommentar, 2010, N. 98 zu
Art. 1 FamZG
).
(...)
3.
3.1
Familienzulagen sind einmalige oder periodische Geldleistungen, die ausgerichtet werden, um die finanzielle Belastung durch ein oder mehrere Kinder teilweise auszugleichen (Art. 2 des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die Familienzulagen [Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2]). Für das gleiche Kind wird gemäss
Art. 6 FamZG
nur eine Zulage derselben Art ausgerichtet. Die Differenzzahlung nach
Art. 7 Abs. 2 FamZG
bleibt vorbehalten.
3.2
Haben mehrere Personen für das gleiche Kind Anspruch auf Familienzulagen nach eidgenössischem oder kantonalem Recht, so steht der Anspruch gemäss
Art. 7 Abs. 1 FamZG
in nachstehender Reihenfolge zu:
a. der erwerbstätigen Person;
b. der Person, welche die elterliche Sorge hat oder bis zur Mündigkeit des Kindes hatte;
c. der Person, bei der das Kind überwiegend lebt oder bis zu seiner Mündigkeit lebte;
d. der Person, auf welche die Familienzulagenordnung im Wohnsitzkanton des Kindes anwendbar ist;
e. der Person mit dem höheren AHV-pflichtigen Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit;
f. der Person mit dem höheren AHV-pflichtigen Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit.
BGE 139 V 429 S. 432
3.3
Unrechtmässig bezogene Leistungen sind gemäss
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG
zurückzuerstatten. Der Rückforderungsanspruch erlischt in Anwendung von
Art. 25 Abs. 2 ATSG
mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorsieht, so ist diese Frist massgebend.
4.
4.1
Es steht fest und ist unbestritten, dass R. in der Zeit zwischen 1. Januar 2009 bis 31. Mai 2011 Familienzulagen für seine Kinder aus erster Ehe bezogen hat. Weiter steht fest, dass seine ehemalige Ehefrau am 19. Oktober 2010 für die gleichen Kinder rückwirkend ab 1. Januar 2009 ebenfalls Familienzulagen beantragte, und dass sie bereits ab 1. Januar 2009 als erwerbstätige Person im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit
Art. 13 Abs. 3 FamZG
zu qualifizieren war. Die EAK und das BSV gehen deshalb davon aus, dass der Anspruch in Anwendung von
Art. 7 Abs. 1 FamZG
der geschiedenen Ehefrau zustand, der Leistungsbezug des R. demgemäss unrechtmässig im Sinne von
Art. 25 ATSG
war. Das kantonale Gericht hat demgegenüber erwogen, eine Anspruchskonkurrenz bestehe erst ab dem Zeitpunkt, in dem die Ehefrau ihr eigenes Gesuch eingereicht hatte, mithin ab 19. Oktober 2010. Somit sei auch
Art. 7 Abs. 1 FamZG
erst ab diesem Zeitpunkt anwendbar, der Leistungsbezug des Ehemannes erst ab 19. Oktober 2010 unrechtmässig.
4.2
Gemäss
Art. 13 Abs. 1 FamZG
entsteht und erlischt der Anspruch auf Familienzulagen mit dem Lohnanspruch. In Anwendung von
Art. 1 FamZG
in Verbindung mit
Art. 24 Abs. 1 ATSG
wird er zudem gegebenenfalls auch während fünf Jahren rückwirkend ausgerichtet (FLÜCKIGER, a.a.O., S. 199). Daraus folgt, dass Koordinierungsbedarf und damit eine "Anspruchskonkurrenz" im Sinne der Marginale von
Art. 7 Abs. 1 FamZG
nicht erst ab der Einreichung des Gesuchs der zweiten Person, welche für ein Kind Familienzulagen beansprucht, besteht. Vielmehr gilt
Art. 7 Abs. 1 FamZG
bereits ab dem Zeitpunkt des Entstehens des Lohnanspruches. Auch aus den Materialien ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber kein Wahlrecht mehrerer anspruchsberechtigter Personen, wer von ihnen die Zulage beziehen soll, einführen wollte (vgl. Parlamentarische Initiative Leistungen für die Familie, Zusatzbericht der
BGE 139 V 429 S. 433
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 8. September 2004, BBl 2004 6887, 6905 Ziff. 3.2.2 zu Art. 7 Abs. 2 E-FamZG). Dies hat zwar die Folge, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen sich der Anspruch der erstansprechenden Person nachträglich als nachrangig erweist, unter Umständen der zweitansprechenden Person Nachzahlungen erbracht werden müssen, während die erstansprechende Person grundsätzlich zur Rückzahlung der unrechtmässig bezogenen Leistungen verpflichtet ist (FLÜCKIGER, a.a.O., S. 199 f.). In der Lehre ist daher anerkannt, dass die in
Art. 7 FamZG
vorgesehene Regelung nicht einfach umzusetzen ist (KIESER/REICHMUTH, a.a.O., N. 34 ff. zu
Art. 7 FamZG
). Wie diese Autoren indessen zu Recht bemerken, ist dies letztlich Folge des gesetzgeberischen Entscheides, den Zulagenanspruch nicht an das Kind, sondern an die dieses versorgende Person im Sinne von
Art. 4 FamZG
anzuknüpfen.
4.3
Gilt
Art. 7 Abs. 1 FamZG
demnach nicht erst ab Einreichung des Gesuches der zweiten leistungsansprechenden Person, sondern bereits ab dem Entstehen des Lohnanspruches der ansprechenden Person, so war der Leistungsbezug des R. bereits ab 1. Januar 2009 unrechtmässig. | de |
588c9aaa-7ae4-4fba-991f-4f89612e47c3 | Sachverhalt
ab Seite 74
BGE 135 V 74 S. 74
A.
N. war seit 1991 Mitglied des Verwaltungsrates, vom 13. Dezember 1998 bis 14. März 2002 Delegierter mit Kollektivunterschrift zu zweien, der Firma X. Die Firma war der Ausgleichskasse Schwyz angeschlossen. Am 22. April 2002 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet und danach im summarischen Verfahren durchgeführt. Am 5. Dezember 2003 erfolgte die Auflage des Kollokationsplanes samt Lastenverzeichnis und Inventar. Am 2. April 2004 wurde der Konkurs geschlossen. Die von der Ausgleichskasse eingegebene Forderung u.a. für nicht oder zu wenig bezahlte Sozialversicherungsbeiträge des Bundes sowie nach kantonalem Recht für 2001 und 2002 blieb bis auf eine Konkursdividende von Fr. 3'163.15 ungedeckt. Mit Verfügung vom 20. September 2004 forderte die Ausgleichskasse von N. Schadenersatz in der Höhe von Fr. 59'248.45.
BGE 135 V 74 S. 75
Mit Einspracheentscheid vom 28. Januar 2008 bestätigte sie die Schadenersatzpflicht in der verfügten Höhe.
B.
Die Beschwerde des N. wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 17. April 2008 ab.
C.
N. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 17. April 2008 und demzufolge die Schadenersatzverfügung vom 20. September 2004 seien aufzuheben.
Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der angefochtene Entscheid bestätigt den Einspracheentscheid vom 28. Januar 2008, womit die Ausgleichskasse den Beschwerdeführer - gestützt auf
Art. 52 AHVG
(in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) - zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 59'248.45 für entgangene Sozialversicherungsbeiträge des Bundes sowie Beiträge an die Kantonale Familienausgleichskasse (nachfolgend: FAK-Beiträge) samt Verwaltungskosten, Mahngebühren und Verzugszinsen für 2001 und 2002 verpflichtete.
Der Beschwerdeführer bestreitet eine Schadenersatzpflicht. Die geltend gemachte Forderung sei verjährt, weil die Ausgleichskasse über die Einsprache gegen die Schadenersatzverfügung vom 20. September 2004 erst am 28. Januar 2008 entschieden habe. In dieser Zeit habe die Verwaltung keine verjährungsunterbrechende Handlung unternommen, sodass der Schadenersatzanspruch spätestens zwei Jahre nach Einspracheerhebung erloschen sei. Sodann entfalle eine Schadenersatzpflicht u.a. auch, weil es sich, wie in
BGE 121 V 243
, lediglich um Ausstände von kurzer Dauer gehandelt und ohnehin keine Schädigungsabsicht bestanden habe.
3.
Die Vorinstanz hat, wie die Ausgleichskasse im Einspracheentscheid, nicht danach unterschieden, ob die Forderung entgangene Sozialversicherungsbeiträge des Bundes oder FAK-Beiträge betrifft. Gemäss § 30 Abs. 2 des schwyzerischen Gesetzes vom 11. September 1991 über die Familienzulagen (in der bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Fassung) hat ein Arbeitgeber den durch
BGE 135 V 74 S. 76
vorsätzliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften verursachten Schaden der Kasse zu ersetzen. § 31 erklärt die Bestimmungen der Bundesgesetzgebung über die Familienzulagen in der Landwirtschaft sinngemäss als ergänzendes Recht anwendbar, soweit dieses Gesetz keine Regelung enthält. Es ist zweifelhaft, ob dies eine genügende gesetzliche Grundlage für eine (subsidiäre) Schadenersatzpflicht der Organe einer Aktiengesellschaft darstellt (vgl.
BGE 134 I 179
), und bejahendenfalls, ob die Haftungsgrundsätze nach
Art. 52 AHVG
, in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung, wenigstens sinngemäss anwendbar wären. Dieser Punkt kann indessen offenbleiben. Die Frage der Verjährung des Schadenersatzanspruchs für entgangene Sozialversicherungsbeiträge des Bundes beurteilt sich intertemporalrechtlich nach
Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG
in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung (vgl. E. 4.1 hienach). Der Anspruch war in diesem Zeitpunkt nach der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Regelung gemäss aArt. 82 Abs. 1 AHVV (SR 831.101) noch nicht verwirkt. Die Ausgleichskasse musste frühestens mit der Auflage des Kollokationsplans (mit Lastenverzeichnis und Inventar) am 5. Dezember 2003 fristauslösende Kenntnis vom Schaden haben (
BGE 119 V 89
E. 3 S. 92 mit Hinweisen;
BGE 134 V 353
). § 32 Abs. 2 des seit 1. Januar 2003 in Kraft stehenden kantonalen Gesetzes vom 17. April 2002 über die Familienzulagen (SRSZ 370.100) bestimmt: "Verursacht ein Arbeitgeber durch vorsätzliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden, so hat er diesen der Kasse zu ersetzen.
Art. 52 AHVG
ist sinngemäss anwendbar." Nach dieser Regelung ist somit die im Vordergrund stehende Verjährungsfrage auch in Bezug auf die kantonalrechtlichen FAK-Beiträge ebenfalls im Lichte von
Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG
zu prüfen.
4.
Das kantonale Gericht hat die Verjährungseinrede des Beschwerdeführers als unbegründet erachtet. Für die Frage der Fristwahrung käme weder der Dauer zwischen Einsprache und Einspracheentscheid Bedeutung zu, noch seien nach dem fristgerechten Erlass der Schadenersatzverfügung weitere die Frist unterbrechende Massnahmen erforderlich.
4.1
Gemäss
Art. 52 AHVG
macht die zuständige Ausgleichskasse den Schadenersatzanspruch durch Verfügung geltend (Abs. 2). Der Schadenersatzanspruch verjährt zwei Jahre, nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat, jedenfalls fünf Jahre nach Eintritt des Schadens. Diese Fristen können
BGE 135 V 74 S. 77
unterbrochen werden (Abs. 3 Satz 1 und 2). Wird der Schadenersatzanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für die das Strafrecht eine längere Verjährung vorschreibt, so gilt diese Frist (Abs. 4).
Bei den Fristen nach
Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG
handelt es sich um Verjährungsfristen, die unterbrochen werden können (
BGE 131 V 425
E. 3.1 S. 427 mit Hinweis; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 136/05 vom 23. November 2006 E. 4.1; UELI KIESER, Alters- und Hinterlassenenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1308 Rz. 322; MARCO REICHMUTH, Die Haftung des Arbeitgebers und seiner Organe nach
Art. 52 AHVG
, 2008, S. 194 Rz. 813).
4.2
4.2.1
Das Gesetz regelt nicht, durch welche Handlungen der Ausgleichskasse und der Beschwerdeinstanzen (kantonales Versicherungsgericht, Bundesgericht) sowie der in Anspruch genommenen Person die Verjährung unterbrochen wird und die Dauer der nach der Unterbrechung neu laufenden Frist. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte von
Art. 52 Abs. 3 AHVG
(vgl. Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, BBl 1994 V 983 Ziff. 62, Begründung ad
Art. 52 Abs. 2 und 3 AHVG
, und Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4763 Ziff. 67 ad
Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG
) sind subsidiär die im Rahmen von
Art. 60 OR
(Verjährung des Anspruchs auf Schadenersatz aus unerlaubter Handlung [
Art. 41 ff. OR
]) massgeblichen allgemeinen Bestimmungen nach
Art. 135 ff. OR
(
BGE 123 III 213
E. 6a S. 219 mit Hinweisen auf die Lehre) heranzuziehen (REICHMUTH, a.a.O., S. 194 Rz. 814; vgl. auch
BGE 131 V 55
E. 3.1 S. 56 sowie
BGE 129 V 11
E. 3.5.1 und 3.5.2 S. 14).
Die Verjährung wird unterbrochen u.a. durch Klage oder Einrede vor einem Gerichte (
Art. 135 Ziff. 2 OR
). Mit der Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem (
Art. 137 Abs. 1 OR
). Wird die Verjährung durch eine Klage oder Einrede unterbrochen, so beginnt im Verlaufe des Rechtsstreites mit jeder gerichtlichen Handlung der Parteien und mit jeder Verfügung oder Entscheidung des Richters die Verjährung von neuem (
Art. 138 Abs. 1 OR
). Bei einer gerichtlich angeordneten Sistierung des Verfahrens steht jedoch - analog zu
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR
- die Verjährung bis zum Wegfall des Sistierungsgrundes still (
BGE 130 III 202
E. 3.2 S. 206). Diese
BGE 135 V 74 S. 78
Grundsätze gelten auch für allenfalls längere strafrechtliche Verjährungsfristen. Bei Unterbrechung der Verjährung durch eine richterliche Verfügung erst nach Eintritt der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung wird aber nur eine neue - in der Regel kürzere - zivilrechtliche Verjährungsfrist ausgelöst (
BGE 131 III 430
E. 1 S. 433 ff.). Bei der Anwendung dieser Regelung im Rahmen von
Art. 52 AHVG
ist zu beachten, dass im Unterschied zum Privatrecht, wo die Verjährung nur durch die in
Art. 135 Ziff. 1 und 2 OR
genannten Handlungen unterbrochen werden kann, alle Akte, mit denen die Schadenersatzforderung gegenüber dem Schuldner in geeigneter Weise geltend gemacht wird, verjährungsunterbrechende Wirkung haben (vgl.
BGE 133 V 579
E. 4.3.1 S. 583 mit Hinweisen; RtiD 2005 I S. 40, 2P.327/2003 E. 3).
4.2.2
Geht es um die Haftung im Sinne von
Art. 52 Abs. 1 AHVG
, stellt die Schadenersatzverfügung eine, in der Regel die erste, verjährungsunterbrechende Handlung dar. Ergeht sie rechtzeitig innert der relativen zweijährigen Verjährungsfrist seit Kenntnis des Schadens, beginnt mit Erhebung von Einsprache eine neue zweijährige Verjährungsfrist zu laufen. Entgegen der Auffassung von kantonalem Gericht und Ausgleichskasse wird mit der Schadenersatzverfügung die Verjährungsfrist nicht ein für allemal gewahrt, sodass die Forderung nicht wegen Zeitablaufs während des Einspracheverfahrens oder des nachgelagerten verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens nicht mehr klagbar werden kann. Dies entspräche der Rechtslage bei einer Verwirkungsfrist, namentlich auch derjenigen vor der Änderung von
Art. 52 AHVG
im Rahmen der Schaffung des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (Urteil H 99/06 vom 11. September 2007 E. 5; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 260/03 vom 19. Februar 2004 E. 3; H 183/01 vom 5. Februar 2003 E. 3.2 sowie ZAK 1991 S. 125, H 116/85 E. 2c; THOMAS NUSSBAUMER, Das Schadenersatzverfahren nach
Art. 52 AHVG
, in: Aktuelle Fragen aus dem Beitragsrecht der AHV, 1998, S. 115). Nach dem klaren Wortlaut von
Art. 52 Abs. 3 AHVG
können aber die relative zweijährige und die absolute fünfjährige Verjährungsfrist unterbrochen werden. Dabei ist für die Beantwortung der damit zusammenhängenden Fragen, insbesondere welchen Handlungen der Ausgleichskasse und der Beschwerdeinstanzen verjährungsunterbrechende Wirkung zukommt, sinngemäss die Regelung für Forderungen aus unerlaubter Handlung (
Art. 60 und
Art. 135 ff. OR
) anwendbar, was auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht
BGE 135 V 74 S. 79
(E. 4.2.1). Der Schadenersatzanspruch nach
Art. 52 Abs. 1 AHVG
kann somit auch während des Einspracheverfahrens oder verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens verjähren (offengelassen in: SVR 2005 AHV Nr. 15 S. 48, H 96/03 E. 5.2.1 und im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 136/05 vom 23. November 2006 E. 4.2; unklar KIESER, a.a.O., S. 1309 Rz. 328; mit Bedenken REICHMUTH, a.a.O., S. 214 Rz. 894 f.). Es ist denn auch nicht einsehbar, weshalb die Ausgleichskasse zunächst innert zweier Jahre seit Kenntnis des Schadens die Verfügung erlassen, dann aber beliebig lange mit dem Erlass des Einspracheentscheids soll zuwarten können.
4.3
Vorliegend hat die Ausgleichskasse mit der Schadenersatzverfügung vom 20. September 2004 unbestritten die zweijährige Verjährungsfrist seit Auflage des Kollokationsplanes am 5. Dezember 2003 unterbrochen. Mit der Einsprache vom 7. Oktober 2004 begann die Verjährung von neuem. Danach erfolgte aktenkundig keine prozessuale Handlung der Ausgleichskasse oder des Beschwerdeführers (
Art. 138 Abs. 1 OR
) bis zum Einspracheentscheid vom 28. Januar 2008. In diesem Zeitpunkt war aber die zweijährige Frist gemäss
Art. 52 Abs. 3 AHVG
seit dem 7. Oktober 2004 längst abgelaufen.
Die von Amtes wegen vorfrageweise zu prüfende Frage, ob die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge im Zusammenhang mit einem strafrechtlich relevanten Verhalten steht (
BGE 113 V 256
E. 4a S. 258) - zu denken ist in erster Linie an den Tatbestand der Zweckentfremdung vom Lohn abgezogener Arbeitnehmerbeiträge (
Art. 87 AHVG
) - und daher nach
Art. 52 Abs. 4 AHVG
eine längere - fünfjährige (aArt. 70 StGB;
BGE 112 V 161
) - Verjährungsfrist gelten würde, ist zu verneinen. Weder hat die Ausgleichskasse diese Frage aufgeworfen und dazu Unterlagen eingereicht (
BGE 113 V 256
E. 4a in fine S. 259), noch enthalten die Akten diesbezügliche Hinweise. Im Gegenteil wird dem Beschwerdeführer gerade vorgeworfen, die Firma habe Löhne ausgerichtet, ohne die Sozialversicherungsbeiträge bezahlen zu können. | de |
594fb5d6-ebb4-47f6-bd62-b0a7837c11c4 | Sachverhalt
ab Seite 418
BGE 147 V 417 S. 418
A.
A.a
C.A. bezog von März 2003 bis zu seinem Tod im April 2016 Zusatzleistungen in Form von Ergänzungsleistungen (einschliesslich Krankheitskostenvergütungen), kantonalen Beihilfen und Gemeindezuschüssen. Nach seinem Tod erlangte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, Zusatzleistungen zur AHV/IV, Kenntnis davon, dass er bei der Bank X. über ein Konto mit einem Saldo von mehr als 1,2 Millionen Franken verfügt hatte. Die Söhne des Versicherten und dessen einzige gesetzliche Erben, A.A. und B.A., nahmen die Erbschaft an.
A.b
In der Folge berechnete die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, Zusatzleistungen zur AHV/IV, den Anspruch des Versicherten auf Zusatzleistungen für die Zeit von März 2003 bis April 2016 neu. Am 21. Dezember 2016 forderte sie von A.A. die in den Jahren 2011 bis 2015 unrechtmässig bezogenen Vergütungen für Krankheits- und Behinderungskosten im Betrag von Fr. 5'673.30 zurück. Mit Verfügungen vom 21. Dezember 2016 (an A.A.) und vom 11. Januar 2017 (an B.A.) verlangte sie zudem die zwischen März 2003 und April 2016 erbrachten Zusatzleistungen in der Höhe von Fr. 132'838.- zurück. Am 12. September 2017 erliess die Verwaltung eine weitere Rückerstattungsverfügung betreffend im Jahr 2009 erbrachte Vergütungen für Krankheits- und Behinderungskosten im Gesamtbetrag von Fr. 4'081.-. Mit Einspracheentscheid vom 27. September 2018 wies sie die gegen die Verfügungen vom 21. Dezember 2016 und 11. Januar 2017 erhobene Einsprache ab. Mit Einspracheentscheid vom selben Tag trat sie auf die gegen die Verfügung vom 12. September 2017 erhobene Einsprache mangels Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels nicht ein.
B.
Die gegen die beiden Einspracheentscheide vom 27. September 2018 erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 30. März 2020 ab.
C.
A.A. und B.A. führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, das Urteil vom 30. März 2020 sei insoweit anzupassen, als der Umfang der Rückforderung
BGE 147 V 417 S. 419
auf fünf Jahre, das heisst auf den Zeitraum vom 21. April 2011 bis zum Todestag (21. April 2016), zu beschränken sei.
Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, Zusatzleistungen zur AHV/IV, schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
6.
Streitig ist der Umfang der Rückerstattungspflicht, wobei beschwerdeweise einzig eine fehlerhafte Anwendung von
Art. 25 Abs. 2 ATSG
gerügt wird. Die Beschwerdeführer vertreten die Ansicht, dass die strafrechtliche Verjährungsfrist sich allein gegen die Person richte, die die strafbare Handlung begangen habe und verweisen in diesem Zusammenhang auf die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
. Da sie als Erben kein strafrechtlich relevantes Verschulden treffe, sei diese Bestimmung auf sie nicht anwendbar; vielmehr gelte die Frist von fünf Jahren gemäss
Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG
. Mit der längeren Rückerstattungspflicht erfolge eine Pönalisierung des Verhaltens des Täters. Der Rückforderung komme somit, soweit diese die Frist von fünf Jahren übersteige, die Funktion einer Busse resp. "einer strafähnlichen Ersatzmassnahme", mithin einer Sanktion zu. Als solche sei sie höchstpersönlicher Natur und könne folglich nicht vererbt werden. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz verletze Bundesrecht, insbesondere
Art. 6 und 7 EMRK
.
7.
Kern des Rechtsstreits bildet die Frage, ob die längere strafrechtliche Verjährungsfrist gemäss
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
auf die Erben des straffälligen Empfängers der unrechtmässigen Leistungen anwendbar ist.
7.1
Das Bundesgericht hat sich zu dieser Frage bisher nicht geäussert. Bejaht wurde die Anwendbarkeit der längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist hingegen für den Rückerstattungsanspruch gegen eine juristische Person, deren Organe die strafbare Handlung begangen haben (Urteil K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 6.2, nicht publ. in:
BGE 133 V 579
, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11; in ähnlicher Weise wurde in Urteil 2C_414/2013 vom 2. Februar 2014 betreffend Nachbezug von Zollabgaben die Rechtsprechung bestätigt,
BGE 147 V 417 S. 420
wonach die Verjährungsfrist nach
Art. 12 Abs. 4 VStrR
für alle Leistungs- und Rückleistungspflichtigen gilt, auch diejenigen, welche die Widerhandlung nicht begangen haben [E. 6.1 mit Hinweisen] und wonach
Art. 60 Abs. 2 OR
nicht zur Anwendung kommt [E. 6.4.1]; in Bezug auf
Art. 60 Abs. 2 OR
[in der bis Ende Dezember 2019 gültig gewesenen Fassung] wurde die längere strafrechtliche Verjährungsfrist auf die Organhaftung [
BGE 111 II 429
E. 2d;
BGE 112 II 17
2 E. II/2c] wie auch auf die Haftung des obligatorischen Haftpflichtversicherers des Motorfahrzeughalters [
Art. 65 SVG
;
BGE 112 II 79
E. 3;
BGE 137 III 481
E. 2.3] angewendet, nicht aber auf das Familienoberhaupt [
Art. 333 ZGB
] und den Geschäftsherrn [
Art. 55 OR
;
BGE 122 III 225
E. 5;
BGE 133 III 6
E. 5.1]; ausdrücklich offengelassen wurde diese Frage hinsichtlich der Erbenhaftung [
BGE 90 II 42
8 E. 4;
BGE 107 II 151
E. 4b; vgl. aber das obiter dictum in
BGE 122 III 195
E. 9c]).
Soweit die Beschwerdeführer sodann Bezug nehmen auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts zu
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
, lässt sich gestützt auf den Umstand, dass dort jeweils einzig die Rede war von der rückerstattungspflichtigen Person (resp. deren Organe), welche die strafbare Handlung begangen hat (vgl.
BGE 138 V 74
E. 6.1; Urteil K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 6.2, nicht publ. in:
BGE 133 V 579
, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11; vgl. auch Urteil 9C_340/2020 vom 29. März 2021 E. 2.2), nicht der (Umkehr-)Schluss ziehen, die längere strafrechtliche Frist gelte für die Erben nicht.
7.2
7.2.1
Gemäss
Art. 2 Abs. 1 lit. a ATSV
(SR 830.11) ist nicht nur der Empfänger der unrechtmässigen Leistung rückerstattungspflichtig, sondern auch seine Erben sind es, was sich mit
Art. 560 ZGB
ohne Weiteres begründen lässt (vgl. JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 33 zu
Art. 25 ATSG
). Danach ist vom Prinzip der erbrechtlichen Universalsukzession auszugehen. Die Erben erwerben die Erbschaft als Ganzes mit dem Tod des Erblassers kraft Gesetz (
Art. 560 Abs. 1 ZGB
); unter Vorbehalt gesetzlicher Ausnahmen gehen die Vermögenswerte und Ansprüche ohne Weiteres auf die Erben über und die Schulden des Erblassers werden mit dessen Tod zu persönlichen Schulden der Erben (
Art. 560 Abs. 2 ZGB
). Die Erben werden Universalsukzessoren (Gesamtnachfolger) des Erblassers, wobei der Übergang so erfolgt, wie die Rechte und Pflichten beim Erblasser
BGE 147 V 417 S. 421
vorbestanden. Die übergehenden Rechtspositionen erfahren durch die Universalsukzession grundsätzlich keine Veränderung (WOLF/GENNA, Erbrecht, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/1, 2012, S. 25).
7.2.2
Demgegenüber gehen die untrennbar mit der Person des Erblassers verbundenen höchstpersönlichen Rechte und Pflichten nicht auf die Erben über (zu den unvererblichen höchstpersönlichen Rechten und Pflichten aus öffentlichem Recht vgl. HANS MICHAEL RIEMER, Vererblichkeit und Unvererblichkeit von Rechten und Pflichten im Privatrecht und im öffentlichen Recht, recht 1/2006 S. 26 ff., S. 30 f.). Höchstpersönlicher Natur sind unter anderem die Bussen des Kernstrafrechts (
BGE 116 IV 4
E. 3a) und des Nebenstrafrechts (
BGE 134 III 59
E. 2.3.2). So sind etwa im Bereich des Steuerrechts Hinterziehungsbussen unübertragbar und unvererblich (vgl. Urteil 2C_689/ 2019 vom 15. August 2019 E. 2.2.2), während die Nachsteuer, welche rechtsprechungsgemäss keine Strafsanktion darstellt (vgl. Urteil 2A.480/2005 vom 23. Februar 2006 E. 2.2 mit Hinweisen), vererblich ist.
7.3
Zu prüfen ist im Nachfolgenden, ob die (Gegen-)Einwendung der längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist untrennbar mit der Person des straffälligen Leistungsbezügers verbunden ist, sodass sie dessen Erben nicht entgegengehalten werden kann.
7.3.1
Gemäss dem Wortlaut von
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
ist die längere strafrechtliche Verjährungsfrist massgebend, wenn der Rückerstattungsanspruch "aus einer strafbaren Handlung hergeleitet" wird ("naît d'un acte punissable" resp. "deriva da un atto punibile"). Dieser Bestimmung ist nicht zu entnehmen, dass die strafbare Handlung vom Rückerstattungspflichtigen selbst begangen worden sein muss. Der Wortlaut von
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
steht der Anwendbarkeit der längeren strafrechtlichen Frist auf die Erben des unrechtmässigen Empfängers somit nicht entgegen.
7.3.2
Die Regelung von
Art. 25 ATSG
dient der Durchsetzung des Legalitätsprinzips (
BGE 142 V 259
E. 3.2.2 mit Hinweis auf LOCHER/GÄCHTER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 4. Aufl. 2014, § 43 Rz. 3). Ziel der Rückerstattungspflicht ist die Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung (
BGE 122 V 221
E. 6c; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, N. 10 zu
Art. 25 ATSG
; DORMANN, a.a.O., N. 13 zu
Art. 25 ATSG
). Diesem Zweckgedanken wird indessen durch das Erlöschen des Rückerstattungsanspruchs infolge Verwirkung Grenzen gesetzt, wobei der Rechtsgrund des
BGE 147 V 417 S. 422
Erlöschens im öffentlichen Interesse, primär in der Wahrung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, liegt (vgl. dazu
BGE 136 II 187
E. 7.4 mit Hinweis auf ANDRÉ PIERRE HOLZER, Verjährung und Verwirkung der Leistungsansprüche im Sozialversicherungsrecht, 2005, S. 12 ff. und 34 ff. und ATTILIO GADOLA, Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, AJP 1995 S. 48).
7.3.3
Nicht anders verhält es sich, soweit für die Rückerstattung nicht die ordentliche fünfjährige Verwirkungsfrist, sondern die längere strafrechtliche Frist zur Anwendung gelangt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer stellt die Rückforderung, soweit sie die fünfjährige Frist übersteigt, nicht eine (etwa) mit einer Steuerbusse vergleichbare Strafsanktion dar, welche höchstpersönlicher Natur wäre (vgl. E. 7.2.2 in fine). Vielmehr soll auch diesbezüglich lediglich dem Legalitätsprinzip zur Durchsetzung verholfen werden, allerdings mit der Erweiterung, dass bei dessen deliktischer Verletzung die Wohltat der Verjährung (resp. hier der Verwirkung) erst später zum Tragen kommen soll. Es gilt somit auch hier der Zweckgedanke der Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung, wobei die strafrechtliche Frist gemäss
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
gleichzeitig der Harmonisierung mit anderen Rechtsvorschriften dient.
So bezweckt diese Frist einerseits, die Vorschriften des Sozialversicherungs- und des Strafrechts im Bereich der Verjährung aufeinander abzustimmen. Es soll vermieden werden, dass der sozialversicherungsrechtliche Anspruch verwirkt, bevor die Verfolgungsverjährung des Strafrechts eintritt; denn es erschiene unbefriedigend, wenn der Täter zwar noch bestraft werden könnte, die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen aber nicht mehr verlangt werden dürfte (
BGE 138 V 74
E. 5.2). Andererseits führt
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
auch im Zusammenhang mit der prozessualen Revision gemäss
Art. 53 Abs. 1 ATSG
zu einer Angleichung. Die Revision zieht eine uneingeschränkte materielle Neuprüfung nach sich, wobei auch eine rückwirkende Korrektur (ex tunc) möglich ist (
BGE 129 V 211
E. 3.2.2; Urteil 8C_365/2019 vom 25. September 2019 E. 3.1). Dabei gilt die (grundsätzlich) auf die prozessuale Revision anwendbare Frist von zehn Jahren gemäss
Art. 67 Abs. 1 VwVG
(SR 172.021) nicht, wenn der zu revidierende Entscheid - wie vorliegend - durch ein Verbrechen oder Vergehen beeinflusst wurde (vgl. nicht publ. E. 4.1). Diesem Umstand wird mit der - längeren - strafrechtlichen Frist in
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
Rechnung getragen.
BGE 147 V 417 S. 423
7.4
Mit Blick auf das Dargelegte, namentlich aufgrund der fehlenden höchstpersönlichen Natur der (Gegen-)Einwendung der längeren strafrechtlichen Frist, ergibt sich, dass
Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG
auf die Erben des Empfängers der unrechtmässigen Leistungen anwendbar ist. Diese Regelung hat keinen Sanktionscharakter (vgl. E. 7.3.3), womit der beschwerdeweise erhobenen Rüge einer Verletzung von
Art. 6 und 7 EMRK
die Grundlage entzogen ist. Ob diesbezüglich überhaupt eine ausreichend begründete Beschwerde vorliegt (vgl.
Art. 106 Abs. 2 BGG
;
BGE 136 I 49
E. 1.4.1), erscheint zweifelhaft, kann nach dem Gesagten letztlich aber offenbleiben. Zusammenfassend verletzte das kantonale Gericht kein Bundesrecht, als es die Rückforderung der ab März 2003 bezogenen (bundesrechtlichen) Ergänzungsleistungen bejahte. | de |
f4e2d40b-2249-4327-9ab8-c18add832587 | Sachverhalt
ab Seite 42
BGE 147 III 41 S. 42
A. wurde von der B. GmbH mit Zahlungsbefehl vom 19. Juni 2018, Betreibung Nr. x des Betreibungsamtes Küsnacht-Zollikon-Zumikon, für die Forderung von Fr. 1'041.35 nebst Zins zu 5 % seit dem 31. März 2018 betrieben. Die Betriebene erhob bei Zustellung des Zahlungsbefehls (am 21. Juni 2018) Rechtsvorschlag.
Am 21. September 2018 stellte die B. GmbH das Gesuch um Rechtsöffnung, auf welches das Bezirksgericht Meilen mit Verfügung vom 27. Dezember 2018 nicht eintrat.
Am 24. Januar 2019 gelangte A. an das Betreibungsamt und ersuchte um Nichtbekanntgabe der Betreibung Nr. x an Dritte gemäss
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
. Das Betreibungsamt wies das Gesuch mit Verfügung vom 29. Januar 2019 ab. Als Begründung wurde angeführt, dass die Voraussetzung zur Nichtbekanntgabe fehle, weil ein Rechtsöffnungsverfahren eingeleitet worden sei; der Ausgang des Rechtsöffnungsverfahrens sei nicht massgebend.
Gegen diese Verfügung erhob A. betreibungsrechtliche Beschwerde, welche das Bezirksgeicht Meilen, als untere kantonale Aufsichtsbehörde über die Betreibungsämter, mit Urteil vom 6. Mai 2019 abwies. Das Obergericht des Kantons Zürich, als obere kantonale Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs, wies ihre Beschwerde mit Urteil vom 6. August 2019 ebenfalls ab.
Mit Eingabe vom 23. August 2019 (Postaufgabe) erhob A. Beschwerde in Zivilsachen. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils. In der Sache verlangt sie (wie im kantonalen Verfahren), es sei das Betreibungsamt anzuweisen, Dritten von der Betreibung Nr. x der B. GmbH (Betreibungsgläubigerin) keine Kenntnis zu geben. Eventualiter sei die Sache zur neuen Behandlung an das Betreibungsamt zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur Beschwerde geben das Einsichtsrecht in das Betreibungsregister und die Schranken der Kenntnisgabe einer Betreibung. Gestützt auf
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
hat der betriebene Schuldner die Möglichkeit, auf Antrag zu verhindern, dass ein Eintrag im Betreibungsregisterauszug sichtbar ist. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Auffassung der Aufsichtsbehörde,
BGE 147 III 41 S. 43
wonach der abschlägige Rechtsöffnungsentscheid keinen Einfluss darauf haben soll, ob von der betreffenden Betreibung Kenntnis gegeben wird. Wenn die Rechtsöffnung nicht erteilt oder auf das Gesuch - wie in ihrem Fall - nicht eingetreten werde, könne von einer ungerechtfertigten Betreibung ausgegangen werden, welche eine Bekanntgabe nicht rechtfertige. Dies habe die Vorinstanz übergangen und stelle eine Rechtsverletzung dar.
3.1
Gemäss
Art. 8a Abs. 3 SchKG
geben die Betreibungsämter Dritten unter bestimmten Voraussetzungen (lit. a-d) von einer Betreibung keine Kenntnis. Das ist u.a. der Fall, wenn der Schuldner nach Ablauf einer Frist von drei Monaten seit der Zustellung des Zahlungsbefehls ein entsprechendes Gesuch gestellt hat, sofern der Gläubiger nach Ablauf einer vom Betreibungsamt angesetzten Frist von 20 Tagen den Nachweis nicht erbringt, dass rechtzeitig ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlages (Art. 79-84) eingeleitet wurde; wird dieser Nachweis nachträglich erbracht oder wird die Betreibung fortgesetzt, wird sie Dritten wieder zur Kenntnis gebracht (lit. d; eingefügt durch Ziff. I des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2016, in Kraft seit 1. Januar 2019; AS 2018 4583).
3.2
Ausser Frage steht, dass die Beschwerdeführerin das Gesuch um Nichtbekanntgabe der Betreibung nach Ablauf einer Frist von drei Monaten seit der Zustellung des Zahlungsbefehls gestellt hat. Streitpunkt ist, ob die betreffende Betreibung im Betreibungsregister ersichtlich sein darf, wenn der Schuldner Rechtsvorschlag erhoben und der Gläubiger ein Rechtsöffnungsverfahren bereits eingeleitet hat, welches ohne Erfolg bleibt, und der Schuldner in der Folge ein Begehren um Nichtbekanntgabe der Betreibung stellt.
3.2.1
Das Bundesgericht hat sich im Urteil 5A_319/2020 vom 7. Mai 2020 E. 2 erstmals näher mit dem Verfahren um Nichtbekanntgabe einer Betreibung gemäss
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
befasst. Dabei hat es festgehalten, dass das Betreibungsamt einzig prüfen kann, ob (objektiv) ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlages eingeleitet wurde, jedoch nicht, ob das Rechtsöffnungsverfahren zu Recht oder zu Unrecht eingeleitet wurde bzw. wie es mutmasslich ausgehen werde. Die Frage, ob über eine Betreibung Auskunft zu geben ist, wenn der Gläubiger im Rechtsöffnungsverfahren unterlegen ist, wurde unter Hinweis auf die Literatur offengelassen.
3.2.2
Die im Urteil zitierten Meinungen gehen auseinander. Zum einen wird die Auffassung vertreten, die Abweisung der
BGE 147 III 41 S. 44
Rechtsöffnung ändere nichts daran, dass die Betreibung weiterhin in der Betreibungsauskunft erscheine (RODRIGUEZ/GUBLER, Die Abwehr von Betreibungsregistereinträgen ab dem 1. Januar 2019, ZBJV 2019 S. 25; RÜETSCHI, Das neue Verfahren zur "Löschung" ungerechtfertigter Betreibungen, Plädoyer 2018 6 S. 46/47). Zum anderen wird ein negativer Rechtsöffnungsentscheid als hinreichendes Indiz für eine ungerechtfertigte Betreibung betrachtet, so dass der Schuldner ein Gesuch um Nichtbekanntgabe stellen könne (TEREKHOV, Neuerungen im Betreibungsregisterrecht [...], ZZZ 2019 S. 234), zumindest nach Ablauf von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft des Rechtsöffnungsentscheides (BERNAUER, Der neue
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
, AJP 2019 S. 702).
3.3
Zu klären ist, welche Tragweite das von der Betreibungsgläubigerin eingeleitete
,
erfolglose Rechtsöffnungsverfahren auf das Gesuch um Nichtbekanntgabe nach
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
der Beschwerdeführerin (Betriebene) hat.
3.3.1
Der Wortlaut einer Bestimmung bildet Ausgangspunkt der Gesetzesauslegung. Ist er klar, d.h. eindeutig und unmissverständlich, darf vom Wortlaut nur abgewichen werden, wenn ein triftiger Grund für die Annahme besteht, der Wortlaut ziele am "wahren Sinn", d.h. am Rechtssinn der Regelung vorbei. Anlass für eine solche Annahme können die Entstehungsgeschichte der Bestimmung, ihr Zweck oder der Zusammenhang mit anderen Vorschriften geben, so namentlich, wenn die grammatikalische Auslegung zu einem Ergebnis führt, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann (
BGE 146 V 28
E. 4.2;
BGE 145 III 133
E. 6;
BGE 133 III 257
E. 2.4).
3.3.2
Der Wortlaut von
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
knüpft die Nichtbekanntgabe einer Betreibung an den Umstand, dass rechtzeitig ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlages (
Art. 79-84 SchKG
) eingeleitet wurde (
une procédure ... a été engagée, di aver avviato ... la procedura
). Nach dem klaren Gesetzestext reicht der Nachweis, dass ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlages nach
Art. 79-84 SchKG
(worunter das Rechtsöffnungsverfahren fällt) eingeleitet wurde, um die Betreibung für Dritte sichtbar zu machen. Davon, dass der Gläubiger im betreffenden Verfahren obsiegen muss oder der Ausgang des Verfahrens eine Rolle spielt, ist in keiner Weise die Rede.
3.3.3
Zur Umsetzung der Parlamentarischen Initiative Abate vom 11. Dezember 2011 "Löschung ungerechtfertigter Zahlungsbefehle"
BGE 147 III 41 S. 45
wollte die zuständige Kommission mit der Einführung eines Gesuchs um Nichtbekanntgabe einer Betreibung einen raschen, einfachen und kostengünstigen Rechtsbehelf schaffen, der unabhängig vom Entscheid über den materiellen Bestand der Forderung Mitteilungen an Dritte unterbinden kann. Als Anknüpfungspunkt zur Nichtkenntnisgabe der Betreibung wurde deshalb ein formales, quantitatives Element bestimmt: Seit der Einleitung der Betreibung und in den sechs Monaten davor durfte lediglich eine Betreibung eines anderen Gläubigers eingegangen sein (Parlamentarische Initiative 09.530, Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 19. Februar 2015, BBl 2015 3209 Ziff. 4, S. 3217). Der Bundesrat erachtete den Lösungsansatz der Kommission als sinnvoll, aber aufwändig und wies darauf hin, dass auch gerechtfertigte Betreibungen nicht mehr sichtbar seien. Er schlug eine Lösung vor, wonach Betreibungen, gegen welche der Betriebene Rechtsvorschlag erhoben hat, auf dessen Antrag nicht mehr im Auszug erscheinen, wenn der Betreibende eine bestimmte Frist seit der Zustellung des Zahlungsbefehls unbenutzt verstreichen lassen hat (Parlamentarische Initiative 09.530, Stellungnahme des Bundesrates vom 1. Juli 2015, BBl 2015 5785 Ziff. 2.3, S. 5791).
3.3.4
Das Parlament bestätigte, dass das Untätigbleiben des Gläubigers nach Zustellung des Zahlungsbefehls die Nichtbekanntgabe der Betreibung rechtfertigen soll. Der ungerechtfertigt betriebene Schuldner soll verhindern können, dass seine Kreditwürdigkeit geschädigt wird, wenn der Betreiber "keine Anstalten" macht, die Betreibung fortzuführen (Votum Flach für die Kommission, AB 2016 N 2021). Die Frist von drei Monaten nach Zustellung des Zahlungsbefehls beruht dabei auf der Vorstellung und der Erwartung an den Gläubiger, dass dieser sich nach Erhebung eines Rechtsvorschlages rasch zwecks Fortsetzung des Verfahrens an den Richter wendet, weil er von der Begründetheit seiner Forderung ausgeht (Voten Cramer für die Kommission, Caroni, AB 2016 S 760 f.). Ausgangspunkt ist dabei der Umstand, dass eine Betreibung ohne Nachweis des Bestandes einer Forderung eingeleitet werden kann, was zu "grundlosen" oder "ungerechtfertigten" Betreibungen mit Rechtsvorschlag im Register führen kann. Ein blosses Tätigwerden des Gläubigers soll indes ausreichen, um die Nichtbekanntgabe der Betreibung zu begrenzen bzw. deren Bekanntgabe zu rechtfertigen. Die massgebende Ernsthaftigkeit der jeweiligen Betreibung wird lediglich daran gemessen, ob der Gläubiger ein Verfahren zur
BGE 147 III 41 S. 46
Beseitigung des Rechtsvorschlages einleitet und/oder die Betreibung fortsetzt (vgl. BRÖNNIMANN, Verstärkter Schutz vor ungerechtfertigten Betreibungen und ihre Auswirkungen, in: Festschrift für Jolanta Kren Kostkiewicz, 2018, S. 413). Insoweit ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz festgehalten hat, dass nach der Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm diejenigen Betreibungen nicht mitzuteilen sind, in welchen der Gläubiger nach Zustellung des Zahlungsbefehls und Erhebung des Rechtsvorschlages untätig geblieben ist. Das grund- oder aussichtslose Einreichen von Rechtsöffnungsbegehren durch die Gläubiger und ein Gleichsetzen mit den Betreibungsbegehren war indes kein Thema. Wenn nach der Auffassung der Vorinstanz der Gesetzgeber zum Schutz der Aussagekraft des Betreibungsregisterauszugs keine Ausdehnung der Nichtbekanntgabe auf abgeschlossene, erfolglose Rechtsöffnungsverfahren bzw. keine Verknüpfung mit der Neueinleitung eines Rechtsöffnungsverfahrens (mit Obsiegen) beabsichtigt hat, lässt sich nicht von einem Ergebnis sprechen, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann.
3.4
Die Beschwerdeführerin argumentiert im Zusammenhang mit den anderen "gerichtlichen Entscheidungen" und verlangt, dass erfolglose Rechtsöffnungsurteile als Urteile zu behandeln seien, welche eine Bekanntgabe der Betreibung verhindern.
3.4.1
Gemäss
Art. 8a Abs. 3 lit. a SchKG
geben die Betreibungsämter von der Betreibung keine Kenntnis, wenn u.a. "die Betreibung aufgrund eines gerichtlichen Entscheides" aufgehoben worden ist. Diese gerichtlichen Entscheide können durch Gesuch um Aufhebung der Betreibung nach
Art. 85 SchKG
, Klage um Aufhebung der Betreibung nach
Art. 85a SchKG
, oder mittels allgemeiner negativer Feststellungsklage (nach
Art. 88 ZPO
) erwirkt werden (
BGE 141 III 68
E. 2.6.1; KREN KOSTKIEWICZ,
BGE 141 III 5
Jahre ZPO aus der Sicht des SchKG, in: PraxiZ Bd. 5, 2016, S. 45). Auch die Abweisung einer Anerkennungsklage (
Art. 79 SchKG
) oder die Gutheissung einer Aberkennungsklage (
Art. 83 Abs. 2 SchKG
) sollen dazu gehören (so Urteil 4A_440/2014 vom 27. November 2014 E. 2; GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, Bd. I, 1999, N. 44 zu
Art. 8a SchKG
). Die Entscheide über die Verweigerung der Rechtsöffnung fallen hingegen nicht unter die Entscheide im Sinne von lit. a von
Art. 8a Abs. 3 SchKG
, welche der Kenntnisgabe entgegenstehen, weil diese Entscheide weder den Fortgang der Betreibung hindern noch eine Wirkung auf den
BGE 147 III 41 S. 47
Bestand der Forderung haben (DALLÈVES, in: Commentaire romand, Poursuite et faillite, 2005, N. 11 zu
Art. 8a SchKG
; MUSTER, Les renseignements [article 8a LP], BlSchK 2014 S. 171/172; MÖCKLI, in: SchKG, 2. Aufl. 2014, N. 27 zu
Art. 8a SchKG
; in diesem Sinn
BGE 125 III 334
E. 3 S. 377; WEINGART, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG), 4. Aufl. 2017, N. 41 zu
Art. 8a SchKG
; STOFFEL/CHABLOZ, Voies d'exécution, 3. Aufl. 2016, § 2 Rz. 28;
a.M.
PETER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 23 zu
Art. 8a SchKG
). Entsprechend werden praxisgemäss Betreibungen, für welche einzig das provisorische oder definitive Rechtsöffnungsbegehren abgewiesen wurde, im Betreibungsregisterauszug aufgeführt (vgl. Weisung der Dienststelle Oberaufsicht für Schuldbetreibung und Konkurs Nr. 4, Betreibungsauszug 2016, Ziff. 8).
3.4.2
Wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat, deutet nichts darauf hin, dass mit der Einführung des Rechtsbehelfs gemäss
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
die Reihe der "betreibungsaufhebenden" Gerichtsentscheidungen um die Rechtsöffnungsentscheide erweitert worden wäre (RODRIGUEZ/GUBLER, a.a.O., S. 25). Was die Beschwerdeführerin verlangt, führt indes dazu, für die Bekanntgabe auf den Rechtsöffnungsentscheid abzustellen; auf das Gleiche läuft hinaus, einen erfolglosen Rechtsöffnungsentscheid (Nichteintreten, Abweisung) dann als massgeblich zu erachten, wenn das Verfahren nicht durch ein weiteres Rechtsöffnungsverfahren erneuert wird, worauf die Vorinstanz hingewiesen hat. Alternative Vorschläge (vgl. Bundesamt für Justiz, Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens, Januar 2014, S. 5 Ziff. 42), welche die Bekanntgabe auf den Rechtsöffnungsentscheid bzw. das Bestehen eines Vollstreckungstitels abstellen wollten, wurden nicht weiter verfolgt. Die massgebende - und genügende - Ernsthaftigkeit der jeweiligen Betreibung wird wie erwähnt (oben E. 3.3.4) lediglich daran gemessen, ob der Gläubiger ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlages einleitet. Eine trotz des abschlägigen Rechtsöffnungsbegehrens sichtbare Betreibung muss deren Ernsthaftigkeit nicht in Frage stellen.
3.4.3
Im Übrigen hat sich der Gesetzgeber mit den betreibungsaufhebenden Gerichtsentscheiden (lit. a) befasst, indem er die Anhebung der Klage nach
Art. 85a SchKG
erheblich erleichtert hat, weil das Verfahren nunmehr gerade ungeachtet eines allfälligen Rechtsvorschlages möglich ist. Diese Klage soll nicht mehr nur die
BGE 147 III 41 S. 48
ungerechtfertigte Vollstreckung verhindern, sondern als Mittel der Registerbereinigung dienen (
Art. 85a Abs. 1 SchKG
, geändert durch Ziff. I des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2016, in Kraft seit 1. Januar 2019; AS 2018 4583; Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, a.a.O., Ziff. 2.1, S. 3213, Ziff. 4, S. 3220). Wenn die Vorinstanz im Rechtsöffnungsverfahren, das der Gläubiger bereits eingeleitet hat und das ohne Erfolg bleibt, mit Blick auf den Wortlaut von
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
ein Hindernis gesehen hat, um der Beschwerdeführerin die Nichtbekanntgabe der Betreibung zu gewähren, führt dies nicht zu einem sinnwidrigen oder stossenden Ergebnis, welches der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann (oben E. 3.3.1).
3.5
Nach dem Dargelegten stellt keine Rechtsverletzung dar, wenn die Vorinstanz wegen des von der Betreibungsgläubigerin am 21. September 2018 eingeleiteten (durch Nichteintretensentscheid vom 27. Dezember 2018 erledigten) Rechtsöffnungsverfahrens die Abweisung des Gesuchs der Beschwerdeführerin vom 24. Januar 2019 um Nichtbekanntgabe der Betreibung nach
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
bestätigt hat.
Nicht zu erörtern ist die Frage, ob der Betriebene nach Ablauf der Jahresfrist von
Art. 88 Abs. 2 SchKG
, welche die Gültigkeit des Zahlungsbefehls begrenzt und nach deren Ablauf der Gläubiger nicht mehr tätig werden kann (sondern ohnehin eine neue Betreibung anheben müsste), ein Gesuch um Nichtbekanntgabe der Betreibung stellen kann, damit diese nicht weiter - bis zu fünf Jahren (
Art. 8a Abs. 4 SchKG
) - im Register erscheine (befürwortend RODRIGUEZ/GUBLER, a.a.O., S. 24 f.; BERNAUER, a.a.O., S. 699; ablehnend BRÖNNIMANN, a.a.O., S. 415).
4.
Was die Beschwerdeführerin im Weiteren (eventualiter) vorbringt, vermag am Ergebnis nichts zu ändern. Sie macht geltend, dass gemäss
Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG
zwingend der Gläubiger den Nachweis erbringen müsse, dass ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlag eingeleitet wurde; dieser Nachweis sei vorliegend nicht erbracht worden, weil das Betreibungsamt der Betreibungsgläubigerin gar keine entsprechende Frist angesetzt habe. Die Beschwerdeführerin verkennt den Sinn der Mitwirkung des Gläubigers. Weil der Gesetzgeber zur Nichtbekanntgabe der Betreibung auf die Einleitung eines Verfahrens zur Beseitigung des Rechtsvorschlages abstellt, bestand die Schwierigkeit, dass das Betreibungsamt keine entsprechende Kenntnis vom Gericht erhält, welches der
BGE 147 III 41 S. 49
Gläubiger mit einem Verfahren nach
Art. 79-84 SchKG
angerufen hat. Diese Schwierigkeit wird dadurch behoben, dass das Betreibungsamt den Gläubiger zur Stellungnahme auffordert (RÜETSCHI, a.a.O., S. 44). Zutreffend hat die Vorinstanz festgehalten, dass das Betreibungsamt nur aus diesem Grund auf die Mitteilung des Gläubigers angewiesen ist. Beruft sich indes - wie hier - die Beschwerdeführerin selber darauf, dass die Betreibungsgläubigerin rechtzeitig ein entsprechendes Verfahren eingeleitet hat, erübrigt sich die betreffende Stellungnahme. Wenn die Vorinstanz zum Ergebnis gelangt ist, das Gesuch um Nichtbekanntgabe der Betreibung sei ohne weiteres abzuweisen, ist dies rechtskonform. Schliesslich legt die Beschwerdeführerin nicht dar, inwiefern die Weisung Nr. 5 (vom 18. Oktober 2018) des Bundesamtes für Justiz, Dienst Oberaufsicht SchKG, gesetzwidrig sein soll. | de |
0447fe9d-c954-42ad-8148-c320799863ab | Erwägungen
ab Seite 117
BGE 85 IV 117 S. 117
Aus den Erwägungen:
Der Beschwerdeführer ficht das vorinstanzliche Urteil wegen Verletzung von
Art. 27 StGB
an. Er macht geltend, die ihm zur Last gelegte Tat sei durch das Mittel der Druckerpresse begangen worden und erschöpfe sich im Presseerzeugnis. Die Verfasserin und Verlegerin der Schrift stehe in der Person von Frau X. fest. Da diese nach
BGE 85 IV 117 S. 118
der Haftungsordnung des
Art. 27 Ziff. 2 StGB
allein die Verantwortung für die Veröffentlichung zu tragen habe, sei er als Drucker von der Vorinstanz zu Unrecht bestraft worden.
Dieser Einwand wurde weder in der Einsprache gegen den Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft noch in der gerichtlichen Hauptverhandlung vom 20. Februar 1959 erhoben. Erst in der nach Schluss der Verhandlung und Aufschub der Urteilsberatung dem Bezirksgericht Zürich zugestellten Eingabe vom 26. Februar 1959 wies der Beschwerdeführer auf die Anwendbarkeit von
Art. 27 StGB
hin. Ob die Vorinstanz nievon noch vor der Fällung des vom 27. Februar 1959 datierten Urteils Kenntnis erhielt, ist ungewiss, für den Ausgang der Sache aber ohne Belang. Denn nach § 284 der Zürcher StPO hat der Richter sein Urteil nach seiner freien, aus der Hauptverhandlung und den Untersuchungsaktengeschöpften Überzeugungzufällen. Die Eingabe des Beschwerdeführers vom 26. Februar 1959 musste daher in jedem Fall unbeachtet bleiben. Tatsächlich wird denn auch
Art. 27 StGB
im angefochtenen Urteil mit keinem Wort erwähnt. Gilt demnach der auf diese Vorschrift gestützte Einwand des Beschwerdeführers als erstmals mit der Nichtigkeitsbeschwerde erhoben (
BGE 84 IV 88
), so ist zu prüfen, ob es sich dabei nicht um ein nach
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
unzulässiges Novum handle.
Der Beschwerdeführer bringt zur Begründung seines Einwandes weder neue Tatsachen noch Beweismittel vor, noch enthält die Beschwerde tatsächliche Bestreitungen; der für die Anwendung von
Art. 27 StGB
massgebende Sachverhalt ergibt sich zweifelsfrei aus dem angefochtenen Urteil. Somit frägt sich einzig, ob der Einwand des Beschwerdeführers eine neue Einrede darstelle. Auch das ist zu verneinen. Der Begriff der Einrede, wie er nach allgemeinem Sprachgebrauch verstanden wird, gehört dem zivilrechtlichen und zivilprozessualen Bereich mit seinen Regeln über die Behauptungspflicht und die Beweislast
BGE 85 IV 117 S. 119
an (vgl. GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 1958, S. 136 Anm. 3 und S. 183; STRÄULI/HAUSER, Zürcherische Rechtspflegegesetze II, Gesetz betreffend den Zivilprozess, S. 249; VON TUHR/SIEGWART, Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationenrechtes, 1942, S. 24/5). Dem Strafverfahren ist er dagegen ebenso fremd wie der Begriff der Beweislast im Sinne des Zivilrechtes (WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, N. 1 zu Art. 254). Dass es sich aber bei der Einrede des
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
um einen zivilprozessualen Begriff handelt, zeigt deutlich die Entwicklungsgeschichte dieser Bestimmung. Während das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 22. März 1893 bereits das Verbot neuer Einreden für das Berufungsverfahren vor Bundesgericht kannte (Art. 80), enthielt das Gesetz über die Bundesstrafrechtspflege vom 15. Juni 1934 noch keine entsprechende Bestimmung. Erst bei der Revision des Bundesstrafprozesses von 1943, die gleichzeitig mit derjenigen des OG durchgeführt wurde, wurde ein solches Verbot in
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
aufgenommen. Dabei lehnte sich der Gesetzgeber unmittelbar an den neuen
Art. 55 lit. c OG
an (vgl. Bericht von Bundesrichter Ziegler zum Vorentwurf vom 21. Mai 1940 an das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, S. 117; Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines neuen Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 9. Februar 1943, BBl 1943, S. 164), was auch aus dem Umstand erhellt, dass
Art. 273 Abs.1 lit. b BStP
beinahe wörtlich der für das bundesgerichtliche Berufungsverfahren geltenden Vorschrift entspricht. Als zivilprozessualer Begriff aber ist für die Einrede des
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
im Verfahren auf Nichtigkeitsbeschwerde lediglich insoweit Raum, als es den Zivilpunkt betrifft. Was den Strafpunkt anbelangt, hat der Kassationshof alle sich stellenden Rechtsfragen, die sich nicht auf neue Tatsachen, Beweismittel oder Bestreitungen stützen, von Amtes wegen zu prüfen. Eine Ausnahme
BGE 85 IV 117 S. 120
besteht nur, sofern über die betreffende Frage kein letztinstanzlicher Entscheid im Sinne von
Art. 268 BStP
vorliegt, weil das erstinstanzliche Urteil in diesem Punkt vor oberer Instanz nicht angefochten wurde und infolgedessen nach dem kantonalen Prozessrecht rechtskräftig geworden ist, wie es z.B. vorkommt, wenn nur die Strafzumessung oder die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges und nicht auch die Schuldfrage weitergezogen wird. Das trifft hier aber bei dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten Strafausschliessungsgrund nach
Art. 27 Abs. 1 StGB
nicht zu; denn Gegenstand des bezirksgerichtlichen Urteils bildete überhaupt die Strafbarkeit der von Herbst begangenen Handlungen. | de |
201b4b81-f958-4c23-b4fb-0995dc240a39 | Sachverhalt
ab Seite 12
BGE 122 II 12 S. 12
Am 20. Januar 1989 reichten die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), Abteilung Kraftwerke, beim Bundesamt für Verkehr (BAV) ein Plangenehmigungsgesuch für den Bau einer 132-kV-SBB-Übertragungsleitung
BGE 122 II 12 S. 13
Sargans - St. Margrethen, Abschnitt Buchs - St. Margrethen, ein. Im nachfolgenden Planauflageverfahren erhob der Gemeinderat Rüthi Einsprache und verlangte, dass die Leitung im Bereich des geschützten Valentinsberges verkabelt werde; gleichzeitig sei zu prüfen, ob bestehende Freileitungen ebenfalls unterirdisch verlegt werden könnten. Auch das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) hielt in seiner Stellungnahme zum Projekt fest, es stimme diesem nur unter der Bedingung zu, dass für die Leitung im Raume St. Valentinsberg zwischen Mast 178 und Mast 187 eine neue Linienführung gesucht oder die Leitung verkabelt werde. Die SBB wurden hierauf vom BAV beauftragt abzuklären, ob die südöstlich am Valentinsberg vorbeiführende 50/10kV-SAK-Freileitung, die zur Zeit überdimensioniert sei und nur noch der Ortsversorgung diene, durch ein 20kV-Kabel ersetzt werden könne, sodass das dadurch freiwerdende Trassee für die SBB-Übertragungsleitung oder für eine neue Gemeinschaftsleitung NOK/SBB benützt werden könnte. In der Folge legten die SBB am 17. September 1990 für den fraglichen Leitungsabschnitt ein abgeändertes Projekt vor. Nach diesem verläuft die SBB-Übertragungsleitung ab Mast 181 bis Mast 186 auf dem Trassee bzw. auf den mit neuen Auslegern versehenen Masten der bestehenden Leitung der St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke AG (SAK), während die 20kV-SAK-Leitung auf einem eigenen neuen Trassee verkabelt wird. Das abgeänderte Projekt wurde am 20. Juli 1992 vom BAV genehmigt.
Die für den Bau der SBB-Übertragungsleitung und für die Verkabelung der SAK-Leitung erforderlichen Rechte wurden weitgehend freihändig erworben. Einzig mit den Eigentümern von drei in Rüthi gelegenen Parzellen konnten keine Vereinbarungen geschlossen werden. Nach Eröffnung eines sog. abgekürzten Enteignungsverfahrens erhob die Primarschulgemeinde Rüthi als Eigentümerin einer der betroffenen Parzellen gegen die Enteignung Einsprache. Die SBB ersuchten hierauf den Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 11, um vorzeitige Besitzeinweisung. An der Einigungsverhandlung vom 26. Oktober 1995 widersetzten sich die Enteigneten diesem Gesuch. Mit Verfügung vom 30. Oktober 1995 wies der Schätzungskommissions-Präsident das Begehren um vorzeitige Inbesitznahme der in der Gemeinde Rüthi zu enteignenden Rechte zur Zeit ab. Die SBB haben diese Verfügung mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird.
BGE 122 II 12 S. 14 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Schätzungskommissions-Präsident ist in seiner Verfügung davon ausgegangen, dass es sich beim Bau der SBB-Übertragungsleitung auf dem Trassee der SAK-Leitung und deren Verkabelung auf einem neuen Trassee um eine Art Gemeinschaftsunternehmen handle, für das nur enteignet werden könne, wenn beide beteiligten Elektrizitätswerke mit dem Enteignungsrecht ausgestattet seien. Da hier nur die SBB von Gesetzes wegen über das Enteignungsrecht verfügten und der SAK dieses noch nicht erteilt worden sei, seien gemäss Bundesgerichtsentscheid vom 12. Dezember 1977 i.S. Siber und Wehrli AG gegen SBB - welcher übrigens in
BGE 105 Ib 197
bestätigt worden ist (vgl. insbes. E. 1e in fine S. 201/2) - die Voraussetzungen für einen Eingriff in fremde Rechte nicht gegeben.
Die SBB bringen ihrerseits vor, die SAK-Leitung sei nur zu verlegen, weil das bestehende SAK-Trassee zur Wahrung öffentlicher Interessen - nämlich aus Gründen des Landschafts- und Ortsbildschutzes - in Anspruch genommen werden müsse. Es gehe also nicht darum, der SAK irgendwelche neuen Rechte im Rahmen einer Gemeinschaftsleitung zu verschaffen, sondern es solle nur die bereits vorhandene Leitung in ihrer Funktion aufrechterhalten werden. Die SBB seien als Verursacher verpflichtet, die für die Ersatzvorkehr erforderlichen Durchleitungsrechte zu erwerben, wozu sie nach Art. 4 lit. d des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG; SR 711) auch das Enteignungsrecht ausüben dürften.
Handelt es sich bei der umstrittenen Verkabelung wirklich um eine Massnahme im Sinne von
Art. 4 lit. d EntG
, so sind die SBB in der Tat gehalten, diese notfalls auf dem Enteignungswege selbst zu treffen.
a) Nach
Art. 4 lit. d EntG
darf das Enteignungsrecht unter anderem für Vorkehren beansprucht werden, die zum Ersatz enteigneter Rechte oder zur Wahrung der öffentlichen Interessen erforderlich sind. Damit wird dem Enteigner die Möglichkeit verschafft, bei Inanspruchnahme von Grundstücken, die öffentlichen Zwecken dienen, oder bei Beeinträchtigung öffentlicher Interessen den in Art. 7 bis 10 EntG umschriebenen Ersatz- und Erhaltungspflichten nachzukommen (vgl.
Art. 35 lit. b EntG
). So dürfen nach
Art. 7 Abs. 2 EntG
jene Rechte enteignet werden, durch die die Fortbenützung von bestehenden öffentlichen Einrichtungen, wie Wege, Brücken oder Leitungen, sichergestellt werden kann, soweit diese durch den Bau oder
BGE 122 II 12 S. 15
den Betrieb des Werkes in Mitleidenschaft gezogen werden (vgl. auch speziell für den Eisenbahnbau: Art. 19 Abs. 1 des Eisenbahngesetzes [EBG; SR 742.101]). Weiter ist der Enteigner nach
Art. 9 Abs. 2 EntG
gehalten, sein Werk so auszuführen, dass es das landschaftliche Bild möglichst wenig stört. Auch aus dieser Bestimmung wird in der Lehre geschlossen, dass zur Durchsetzung bestimmter Planänderungen oder Auflagen im Interesse des Landschaftsschutzes das Enteignungsrecht in Anspruch genommen werden dürfe; sofern der Werkeigentümer dieses nicht von Gesetzes wegen besitze, sei es ihm noch besonders zu erteilen (HESS/WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, Bd. I, N. 8 zu
Art. 9 EntG
).
Über Streitigkeiten betreffend die Art und den Umfang solcher Schutz- und Ersatzvorkehren sowie über die Frage, ob und inwieweit die Voraussetzungen für eine Enteignung überhaupt erfüllt seien, hat die zum Entscheid über die Einsprachen berufene Behörde zu befinden. Dagegen urteilt die Eidgenössische Schätzungskommission im Anschluss an den Einspracheentscheid darüber, ob trotz der Ersatzmassnahmen des Enteigners ein Schaden entstanden sei, wie die Eigentumsverhältnisse zu gestalten seien und wer für den Unterhalt aufzukommen habe (Art. 26 sowie
Art. 64 lit. c und d EntG
; vgl.
BGE 116 Ib 241
E. 3a S. 246).
b) Im vorliegenden Fall hatten die SBB ursprünglich geplant, ihre Übertragungsleitung längs der bestehenden Eisenbahnlinie westlich des St. Valentinsberg zu erstellen. Dadurch wäre die Pfarrkirche, die seit 1983 als Baudenkmal unter dem Schutz des Bundes steht, von Hochspannungsleitungen sozusagen umrahmt worden, da bereits die SAK-Leitung und eine 380/220kV-Leitung der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) östlich des Schutzobjektes vorbeiführen. Die SBB sind daher im Plangenehmigungsverfahren auf die Einwendungen der Gemeinde Rüthi und des BUWAL hin aufgefordert worden abzuklären, ob ihre Leitung nicht auch auf die Ostseite, das heisst auf die "Rückseite" des Kirchenhügels verlegt werden könne, wobei zur Vermeidung einer Anhäufung von Leitungen die SAK-Leitung zu verkabeln sei. Die SBB haben hierauf ihr Projekt im fraglichen Bereich geändert und sehen, wie im Sachverhalt geschildert, die Erstellung ihrer Übertragungsleitung auf dem Trassee der nunmehr unterirdisch zu führenden SAK-Leitung vor.
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich, dass es sich bei der Verkabelung der SAK-Leitung nicht bloss um eine Ersatzvorkehr im Sinne von
Art. 7 Abs. 2 EntG
für eine durch das Werk beeinträchtigte Leitung handelt, deren Funktion es in erster Linie aufrechtzuerhalten gälte. Ausschlaggebend für
BGE 122 II 12 S. 16
die Projektänderung und die dadurch bedingte Verlegung der SAK-Freileitung waren vielmehr die Interessen des Landschafts- und Denkmalschutzes. Auch für solche Schutzmassnahmen im öffentlichen Interesse erlaubt aber, wie dargelegt, die Bestimmung von Art. 9 in Verbindung mit
Art. 4 lit. d EntG
den Rückgriff auf die Enteignung. Daran ändert nichts, dass im vorliegenden Fall die Massnahmen zugunsten des Schutzobjektes bereits im Plangenehmigungs- und nicht erst in einem gestützt auf
Art. 9 EntG
angehobenen enteignungsrechtlichen Einspracheverfahren getroffen worden sind. Die Pflicht des Enteigners, bei der Ausführung seines Werkes Landschafts- und Ortsbilder sowie Natur- und Kulturdenkmäler zu schonen, hat allgemeine Geltung (vgl.
Art. 12 und
Art. 3 Abs. 2 lit. a des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz [NHG; SR 451]
). Die Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe müssen ihm deshalb unabhängig davon zur Verfügung stehen, ob er die nötigen Schutzvorkehren schon aus eigenem Antrieb plane oder ob er hiezu im Plangenehmigungsverfahren oder erst im enteignungsrechtlichen Einspracheverfahren angehalten werde. Übrigens sieht das Bundesrecht heute für die meisten öffentlichen Werke sog. kombinierte Verfahren, das heisst mit einem Enteignungsverfahren verbundene Plangenehmigungsverfahren, vor, in denen ohnehin nur noch ein einziges Einspracheverfahren durchgeführt wird.
c) Geht es demnach bei der Verkabelung der SAK-Leitung um eine Schutz- und Ersatzvorkehr im Sinne von
Art. 4 lit. d EntG
in Verbindung mit
Art. 9 und 7 Abs. 2 EntG
, müssen die SBB sie selbst vornehmen und dürfen hiezu auch das Enteignungsrecht ausüben. Dieses steht ihnen schon von Gesetzes wegen zu (
Art. 3 Abs. 1 EBG
). Einer Verleihung des Enteignungsrechtes an die SAK bedarf es nicht. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich als begründet. | de |
9a7e552c-3ce3-44f4-a3cc-17513e52ab18 | Sachverhalt
ab Seite 281
BGE 111 Ib 280 S. 281
Im Zusammenhang mit dem Bau der neuen SBB-Doppelspur Olten-Rothrist wandten sich verschiedene Eigentümer von Grundstücken in Aarburg an die Schweizerischen Bundesbahnen und ersuchten um Aufschluss über die geplanten Schallschutzvorkehren. Die SBB, Kreis II, liessen hierauf im Kloosmattquartier sowohl vor wie auch nach der Inbetriebnahme der neuen Linie Lärmmessungen vornehmen. In der Folge meldeten sich weitere Grundeigentümer aus den Quartieren Schönmatt und Säliring mit Gesuchen um Lärmschutzmassnahmen bei der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 8. Auf Aufforderung des Kommissionspräsidenten nahmen die SBB am 8. Juni 1982 zu den Anfragen und Begehren der Grundeigentümer Stellung und hielten fest, dass sie nicht bereit seien, Lärmschutzmassnahmen zu treffen oder Entschädigungen zu leisten.
Im Verlaufe des weiteren Verfahrens teilten Peter Schnyder und weitere vierzig von ihm vertretene Grundeigentümer dem Schätzungskommissions-Präsidenten mit, dass sie nicht in erster Linie an Entschädigungen, sondern an geeigneten Lärmschutzvorrichtungen interessiert seien. Sie baten daher die Schätzungskommission zu prüfen, ob sie nicht auch zuständig sei, dem Enteigner im Sinne von Art. 7 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG) eine verbindliche Auflage zu erteilen, Vorkehren zu ergreifen, um die benachbarten Grundstücke gegen Gefahren und Nachteile sicherzustellen. Allenfalls sei das Begehren um Schallschutzvorkehren in analoger Anwendung von
Art. 50 EntG
dem zuständigen Departement zu überweisen.
Mit Entscheid vom 4. Oktober 1983 wies die Eidg. Schätzungskommission, Kreis 8, die Begehren der Kläger ab, soweit auf diese eingetreten wurde. Im Entscheid wird festgehalten, dass sich die Legitimation der Ansprecher aus der behaupteten Verletzung von Nachbarrechten ergebe. Die Zuständigkeit der Schätzungskommission
BGE 111 Ib 280 S. 282
sei denn auch nur insoweit zu bejahen, als um Entschädigung für die Beeinträchtigung von Nachbarrechten ersucht werde. Dagegen sei die Schätzungskommission nicht befugt, dem Hauptantrag der Gesuchsteller zu entsprechen und bauliche Massnahmen, insbesondere solche im Sinne von
Art. 7 EntG
, anzuordnen. Auch dem Eventualantrag, die Akten in analoger Anwendung von
Art. 50 EntG
dem zuständigen Departement zu überweisen, könne nicht stattgegeben werden. Es handle sich im vorliegenden Fall nicht um ein normales Enteignungsverfahren mit Planauflage, Einigungs- und Schätzungsverfahren, sondern um ein Verfahren, das nur zur Abklärung diene, ob in Nachbarrechte eingegriffen worden und hiefür eine Entschädigung geschuldet sei.
Gegen diesen Entscheid hat Peter Schnyder Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht mit dem Hauptantrag, der Enteigner sei in Anwendung von
Art. 7 Abs. 3 EntG
zu verpflichten, geeignete Lärmschutzvorrichtungen zu erstellen. Allenfalls sei die Sache dem zuständigen Departement zu übermitteln oder an die Schätzungskommission zurückzuweisen, damit diese die Einigungsverhandlungen nachhole. Schliesslich stellte Schnyder ein Eventualbegehren um Zusprechung einer Minderwertsentschädigung. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer vertritt den Standpunkt, die Schätzungskommission sei kompetent, den Enteigner gestützt auf
Art. 7 Abs. 3 EntG
zu verhalten, die geeigneten Vorrichtungen zum Schutze der Nachbargrundstücke vor übermässigen Immissionen zu erstellen. Dies trifft indessen nicht zu.
Das Bundesgericht hat die Befugnis des Privaten, im Einspracheverfahren um den Bau von Schutzvorrichtungen im Sinne von
Art. 7 Abs. 3 EntG
zu ersuchen, bereits in
BGE 107 Ib 389
und insbesondere in
BGE 108 Ib 507
E. 3 bejaht. Im Einspracheverfahren stehen aber der Schätzungskommission und ihrem Präsidenten grundsätzlich keinerlei Entscheidbefugnisse zu. Wohl obliegt diesem im Rahmen der Einigungsverhandlung die Abklärung streitiger oder zweifelhafter Punkte (
Art. 48 EntG
) - worunter in erster Linie die Erläuterung unklarer Begehren zu verstehen ist (
BGE 110 Ib 42
E. 3a) - und hat er über die Zulässigkeit nachträglicher Einsprachen und Planänderungsbegehren zu befinden
BGE 111 Ib 280 S. 283
(Art. 19 der Verordnung über die eidgenössischen Schätzungskommissionen), sofern sich das Einspracheverfahren nach dem Enteignungsgesetz richtet und nicht gemäss der Spezialgesetzgebung selbständig durchzuführen ist (vgl. BGE
BGE 100 Ib 187
ff. E. 3). Dagegen hat sich der Kommissionspräsident weder mit der Instruktion der Einsprachen zu befassen, noch auch nur verbindlich festzustellen, welches das zur Einsprachenbehandlung zuständige Departement sei (
BGE 110 Ib 42
E. 3a, nicht publ. Entscheide i.S. Gemeinde Rothenthurm vom 8. Juni 1984 E. 2cc und i.S. Besmer vom 3. Januar 1985 E. 2, geschweige denn Planänderungsbegehren materiell zu prüfen und allenfalls Massnahmen im Sinne von
Art. 7 EntG
anzuordnen. Das Bundesgericht hat in
BGE 104 Ib 352
ff. ausdrücklich festgehalten, dass nicht die Schätzungskommission, sondern die Einsprachebehörde über den Umfang von Ersatzvorkehren im Sinne von
Art. 7 Abs. 2 EntG
zu entscheiden habe. Das hindere die Kommission allerdings nicht daran, zu prüfen, ob die vorgesehene Ersatzmassnahme im betreffenden Falle alle Ansprüche des Enteigneten erfülle oder ob noch ein zu ersetzender Schaden verbleibe. Das gleiche gilt auch für die in Art. 7 Abs. 3 vorgeschriebenen Schutzvorkehren gegen Immissionen. Inwieweit der Werkeigentümer solche treffen muss, ist von der Einsprachebehörde zu entscheiden. Dagegen hat die Schätzungskommission darüber zu befinden, ob der Nachbar weiterhin unter übermässigen Beeinträchtigungen durch das Werk zu leiden habe und ihm hiefür eine Entschädigung zu leisten sei (
Art. 64 lit. c EntG
; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 3, 38 zu
Art. 7 EntG
; s.a.
BGE 106 Ib 236
E. 3a).
Die Schätzungskommission hat sich daher zu Recht geweigert, sich mit den auf
Art. 7 Abs. 3 EntG
gestützten Anträgen materiell zu befassen.
3.
Es bleibt zu prüfen, ob das Begehren des Beschwerdeführers um Schutzvorkehren als nachträgliches Planänderungsgesuch zuzulassen und dem zuständigen Departement zu übermitteln sei (vgl. Art. 20 Abs. 1 der Verordnung über die eidgenössischen Schätzungskommissionen).
a) Begehren um Schutzvorrichtungen im Sinne von
Art. 7 Abs. 3 EntG
sind gleich wie die Einsprachen im engeren Sinne und die Schadenersatzforderungen schriftlich und mit Begründung während der Auflagefrist einzureichen (Art. 35 und 36 in Verbindung mit
Art. 30 EntG
). Nach der Eingabefrist können Einsprachen und Entschädigungsforderungen nur unter den in
Art. 39-41 EntG
BGE 111 Ib 280 S. 284
umschriebenen Voraussetzungen erhoben werden. So sind Einsprachen im engeren Sinne nachträglich nur noch entgegenzunehmen, wenn die Ausführung des Werkes noch nicht in Angriff genommen worden ist und die Einhaltung der Frist wegen unverschuldeter Hindernisse nicht möglich war (
Art. 39 EntG
). Andere Begehren, d.h. Begehren nach
Art. 7-10 EntG
(vgl. HESS, a.a.O. N. 2 zu
Art. 40 EntG
), können gemäss
Art. 40 EntG
bis zum Schlusse der Einigungsverhandlung noch angebracht werden, falls sie wegen unverschuldeter Hindernisse innert der Eingabefrist nicht geltend gemacht werden konnten. Zweck dieser zeitlichen Beschränkung der Einsprachemöglichkeit ist, zu verhindern, dass die Planung und Ausführung eines öffentlichen Werkes in einem schon fortgeschrittenen Stadium durch nachträgliche Opposition wieder in Frage gestellt werden kann (Botschaft des Bundesrates zum Entwurfe eines Bundesgesetzes über die Enteignung, BBl 1926 II S. 48; HESS, a.a.O. N. 6 zu
Art. 39 EntG
). Allerdings hat die Regelung von
Art. 39 und 40 EntG
durch die Revision des
Art. 76 EntG
im Jahre 1971 viel von ihrem Sinn eingebüsst, da nun die Bauarbeiten auf vorzeitige Besitzeinweisung hin in Angriff genommen werden können, bevor noch über die Einsprachen und Planänderungsgesuche rechtskräftig entschieden ist (vgl.
Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG
).
Die im Gesetz vorgesehenen Fristen zur Einreichung von Einsprachen sind, wie sich aus
Art. 30 Abs. 1,
Art. 34 Abs. 1 lit. f,
Art. 35 und
Art. 39 Abs. 2 EntG
ergibt, Verwirkungsfristen (
BGE 104 Ib 341
f. E. 3a; vgl. Hess, a.a.O. N. 7 zu
Art. 39 EntG
, N. 6 zu
Art. 40 EntG
). Indessen läuft die Verwirkungsfrist nur, wenn die Verwirkungsfolge dem Enteigneten in der öffentlichen Bekanntmachung (Art. 30 Abs. 1 lit. c) oder, im abgekürzten Verfahren, in der persönlichen Anzeige (
Art. 34 Abs. 1 lit. f EntG
) angedroht wird (
BGE 105 Ib 9
E. 2a, 100 Ib 202 ff. E. 1b,
BGE 92 I 178
f. E. 2). Der Fristbeginn wird zudem nach der Rechtsprechung aufgeschoben, wenn der Enteignete durch das Verhalten des Enteigners von einer rechtzeitigen Anmeldung seiner Begehren abgehalten wird, so etwa, wenn der Enteignete aufgrund von Verhandlungen mit dem Enteigner zur Annahme berechtigt ist, dieser trete auf seine Ansprüche ein (vgl.
BGE 106 Ib 235
E. 2b,
BGE 88 I 199
,
BGE 83 II 98
).
b) Fraglich ist, ob
Art. 40 EntG
auch dann anwendbar sei und die Verwirkung von Begehren im Sinne von
Art. 7 Abs. 3 EntG
ebenfalls eintrete, wenn sich die Notwendigkeit von Schutzvorrichtungen aus den aufgelegten Plänen selbst nicht ergibt und nicht
BGE 111 Ib 280 S. 285
damit gerechnet werden muss, dass nach Inbetriebnahme des Werkes übermässige Einwirkungen entstehen könnten. Die Frage ist zu verneinen. Ein Recht verwirkt, wenn der Berechtigte eine Handlung, die er nach Gesetz innert einer bestimmten Frist zu vollziehen hat, unterlässt. Es wäre aber mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, von Unterlassung zu sprechen und ihr Verwirkungsfolgen beizulegen, wenn objektiv kein Anlass zum Handeln bestand. Gleich wie der Enteignete mit seiner Entschädigungsforderung nur säumig werden kann, wenn der Schaden eingetreten oder zuverlässig voraussehbar ist (
BGE 102 Ib 279
f.), so können auch Säumnisfolgen im Sinne von
Art. 40 EntG
nur eintreten, wenn mit Sicherheit oder mit aller Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die dem Werk benachbarten Grundstücke von übermässigen Einwirkungen bedroht sind.
Art. 40 EntG
erfasst demnach allein die Begehren, zu deren Geltendmachung die Planauflage Anlass gab. Auf Gesuche um Schutzvorkehren, deren Notwendigkeit vor Inbetriebnahme des Werkes objektiv nicht voraussehbar war, kann sich die Vorschrift nicht beziehen. Für diese Begehren hat der Richter mangels einer gesetzlichen Ordnung selbst eine Regelung zu treffen. Dabei ist zu beachten, dass die Nachbarrechte wie die anderen dinglichen Rechte vom Enteigner nur insoweit entzogen oder beschränkt werden dürfen, als dies der Zweck erheischt (
Art. 1 Abs. 2 EntG
), und daher das Enteignungsrecht für vermeidbare Immissionen nicht beansprucht werden kann. Dies spräche dafür, den Betroffenen die Möglichkeit, Schutzvorrichtungen gegen Einwirkungen zu verlangen, unbeschränkt zu gewähren. Andererseits erfordert der Zweck des Enteignungsrechts, das ebensosehr die Interessen des Enteigners wie jene der Enteigneten zu wahren hat (vgl.
BGE 109 Ib 35
mit Hinweis), dass Entschädigungs- und andere Ansprüche nur innert einer bestimmten Frist zuzulassen sind, damit die Realisierung und Finanzierung des im öffentlichen Interesse liegenden Werkes nicht unnötig verzögert und erschwert wird. Es rechtfertigt sich daher, die in Art. 41 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 lit. b EntG getroffene Regelung für nachträgliche Entschädigungsforderungen, die sich auf einen nicht oder seinem Umfang nach nicht vorherzusehenden Schaden beziehen, auf Begehren um Schutzvorrichtungen gegen die unvoraussehbaren Folgen des Werkbetriebes analog anzuwenden. Somit gilt auch hier eine sechsmonatige Verwirkungsfrist vom Zeitpunkt an, in dem der Nachbar Kenntnis von den übermässigen Einwirkungen erhalten hat.
BGE 111 Ib 280 S. 286
4.
Es wird von niemandem behauptet, dass der Beschwerdeführer aufgrund der aufgelegten Pläne hätte damit rechnen müssen, dass seine Liegenschaft nach Inbetriebnahme der Bahnlinie möglicherweise übermässigen Lärmimmissionen ausgesetzt sein würde. Aus den Akten ergibt sich denn auch, dass die Parzelle Schnyder nicht in unmittelbarer Nähe, sondern in einer Entfernung von rund 70 m vom neuen Bahntrasse entfernt liegt. Es ist daher davon auszugehen, dass sich eine Notwendigkeit von Schutzvorrichtungen objektiv nicht voraussehen liess.
Die neue SBB-Strecke ist am 31. Mai 1981 in Betrieb genommen und im Mai 1982 der Taktfahrplan eingeführt worden, der eine gewisse Erhöhung der Zugsfrequenz zur Folge hatte. Der Untersuchungsbericht über die Schallmessungen nach Inbetriebnahme der Bahn wurde in der Gemeinde Aarburg vom 19. Dezember 1981 bis 22. Januar 1982 zur öffentlichen Einsichtnahme aufgelegt. Der Ergänzungsbericht, der sich insbesondere mit der Einführung des Taktfahrplanes befasst, ging den Gesuchstellern im Jahre 1983 zu. Peter Schnyder hat sich, wie den Akten zu entnehmen ist, erstmals mit Schreiben vom 20. Juli 1981 an den Gemeinderat Aarburg gewandt und diesen aufgefordert, die SBB zu geeigneten Lärmschutzmassnahmen zu verhalten; die Eingabe ist den SBB übermittelt worden. Während der Auflage des Messberichtes hat Schnyder seine Begehren wiederholt. Die sechsmonatige Frist ist damit auf jeden Fall eingehalten, ob nun der Fristbeginn auf die Inbetriebnahme der Bahnlinie festzusetzen sei oder ob er auf die Vorlage des Messberichtes falle, auf den die SBB die Anwohner vertrösteten, bevor sie selbst zu den Begehren um Schutzvorkehren Stellung nahmen.
Unter diesen Umständen ist das Planänderungsgesuch des Beschwerdeführers dem Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement zur Behandlung zu übermitteln. Zwar scheint der Schätzungskommissions-Präsident keine eigentliche Einigungsverhandlung durchgeführt zu haben, doch haben die SBB klar zu verstehen gegeben, dass sie zum Bau von Lärmschutzvorrichtungen nicht bereit sind, und würde die Rückweisung der Sache an den Präsidenten zu blossem Leerlauf führen.
5.
Soweit der Beschwerdeführer eventuell um Zusprechung einer Enteignungsentschädigung ersucht, wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde bis zum Vorliegen des Einspracheentscheides sistiert. | de |
84e76a35-9805-45d2-8399-d8a0dd4b05a7 | Sachverhalt
ab Seite 307
BGE 130 III 306 S. 307
An der Liegenschaft "L" besteht Stockwerkeigentum. Die insgesamt fünfzehn Stockwerkeinheiten setzen sich zusammen aus mehreren Studios, 2 1⁄2 bis 5 1⁄2-Zimmerwohnungen, Geschäftslokalen und einer Autoeinstellhalle mit vierundzwanzig Einstellplätzen. Die Autoeinstellhalle ("A") ist entsprechend der Anzahl Einstellplätze in Miteigentum aufgeteilt. Achtzehn Einstellplätze bzw. Miteigentumsanteile sind untrennbar mit Stockwerkeinheiten verbunden. Zur Stockwerkeinheit "Nr. 7" gehört der Einstellplatz Nr. 7 und zur Stockwerkeinheit "Nr. 10" der Einstellplatz Nr. 10.
Im August 1986 verkauften die Eigentümer der Liegenschaft "L" die Stockwerkeinheit "Nr. 7" und den Miteigentumsanteil von
1
/24 an der Autoeinstellhalle, ausmachend den Einstellplatz Nr. 7, an S. Gleichzeitig errichteten sie zu Gunsten des jeweiligen Eigentümers der Stockwerkeinheit "Nr. 7" eine Dienstbarkeit, die mit dem Stichwort
"'Benutzungsrecht' des Autoabstellplatzes Nr. 10"
zu Lasten der Autoeinstellhalle ("A") im Grundbuch eingetragen wurde. Im Oktober 1986 verkauften sie die Stockwerkeinheit "Nr. 10" mit dem Einstellplatz Nr. 10 bzw.
1
/24 der Autoeinstellhalle an die Ehegatten B., die den Einstellplatz Nr. 10 in der Autoeinstellhalle bis Anfang 1997 offenbar ungestört nutzten.
K. erwarb im Jahre 1989 von S. die Stockwerkeinheit "Nr. 7" und den damit verbundenen Miteigentumsanteil an der Autoeinstellhalle (Einstellplatz Nr. 7). Anfangs 1997 wies sie die Ehegatten B. erfolglos auf das ihr zustehende Benutzungsrecht am Einstellplatz Nr. 10 hin. K. erhob Klage mit dem Begehren, den Eigentümern der Stockwerkeinheit "Nr. 10" die Benutzung des Einstellplatzes Nr. 10 unter Strafandrohung zu verbieten. Die Beklagten schlossen auf Abweisung und verlangten widerklageweise die Löschung der Grunddienstbarkeit. Die zweite kantonale Instanz hiess die Klage gut, wies die Widerklage ab und sprach das beantragte Verbot aus. Die von den Beklagten dagegen eingelegte Berufung weist das Bundesgericht ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Im kantonalen Verfahren haben die Beklagten geltend gemacht, die Eintragung der strittigen Grunddienstbarkeit sei rechtlich überhaupt nicht möglich. Die Klägerin könne sich deshalb nicht darauf
BGE 130 III 306 S. 308
berufen, sie habe das "Benutzungsrecht" im Jahre 1989 gutgläubig erworben.
3.1
Der öffentliche Glaube des Grundbuchs schützt den gutgläubigen Dritten, der gestützt auf einen unrichtigen Eintrag im Grundbuch Eigentum oder andere dingliche Rechte an einem Grundstück erwirbt. Massgebend ist ausschliesslich der durch den Grundbucheintrag bewirkte Rechtsschein. Im Vertrauen darauf erwirbt der gutgläubige Dritte somit dingliche Rechte selbst von einem Veräusserer, der im Grundbuch zu Unrecht als Eigentümer eingetragen ist oder dessen Grundstück aus einer im Grundbuch zu Unrecht eingetragenen Dienstbarkeit berechtigt ist (DESCHENAUX, Das Grundbuch, Schweizerisches Privatrecht V/3, 2 Bde, Basel 1988 und 1989, II, § 38/A/II S. 760; HOMBERGER, Zürcher Kommentar, 1938, N. 22 der Vorbem. zu
Art. 942 ff. ZGB
). Der öffentliche Glaube des Grundbuchs reicht nun aber nicht so weit, dass Rechte, die das Gesetz nicht als dingliche anerkennt, durch Eintragung im Grundbuch zu dinglichen werden. Der Eintrag eines nicht eintragungsfähigen Rechts (z.B. Dienstbarkeiten mit unzulässigem Inhalt) geniesst den Schutz von
Art. 973 ZGB
nicht (DESCHENAUX, a.a.O., II, § 38/B/AA/III/1a S. 769, und I, § 24/C/I/4e S. 502 ff. mit Beispielen; zuletzt: SCHMID, Basler Kommentar, 2003, N. 13 zu
Art. 973 ZGB
).
3.2
Das Kantonsgericht hat vorab den Eintrag auf dem Grundbuchblatt der Autoeinstellhalle ("A") "
L (= Lasten)/Benutzungsrecht des Autoabstellplatzes Nr. 10, zugunsten von 'Nr. 7'
" beurteilt. Es ist davon ausgegangen, ein derartiger Eintrag sei rechtlich zulässig.
Die "Autoeinstellhalle" ist gemäss Begründungsakt und Eintragung im Grundbuch als eigene Stockwerkeinheit ausgeschieden. Rechtsprechung und herrschende Lehre sind sich einig, dass ein Stockwerkeigentumsanteil zu Gunsten eines andern mit einer Grunddienstbarkeit belastet werden kann. Voraussetzung einer derartigen Belastung ist nach herrschender Lehre, dass einerseits die Rechtspositionen der anderen Stockwerkeigentümer an der gemeinschaftlichen Sache nicht beeinträchtigt werden und andererseits der belastete Stockwerkeigentumsanteil als Haftungsobjekt des gesetzlichen Pfandrechts gemäss
Art. 712i ZGB
nicht entwertet wird (vgl. zu den Grundsätzen:
BGE 106 II 315
E. 2 S. 317; MEIER-HAYOZ/ REY, Berner Kommentar, 1988, N. 104 ff. und 114 ff., und BÖSCH, Basler Kommentar, 2003, N. 16, je zu
Art. 712a ZGB
; MOOSER, Les
BGE 130 III 306 S. 309
actes de disposition, in: Propriété par étages, Basel 2003, S. 101 ff., 134 f.; WERMELINGER, La propriété par étages: commentaire des articles 712a à 712t du Code civil suisse, Freiburg i.Üe. 2002, N. 67-69 zu
Art. 712c ZGB
, mit dem Beispiel der Garage).
Die Belastung der Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" ("A") mit einem "Benutzungsrecht" zu Gunsten der Stockwerkeinheit "Nr. 7" ist somit nach sachenrechtlichen Grundsätzen möglich und zulässig. Ob sie die erwähnten Voraussetzungen erfüllt hat, ist für die hier einzig zu prüfende Eintragungsfähigkeit der Grunddienstbarkeit nicht massgebend. Ihr Fehlen würde durch den öffentlichen Glauben des Grundbuchs geheilt (E. 3.1 soeben). Ob sich die Klägerin darauf berufen kann, wird noch zu beurteilen sein.
3.3
Gemäss Begründungsakt ist die Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" ("A") entsprechend der Anzahl Einstellplätze in Miteigentum aufgeteilt. Ein oder mehrere Miteigentumsanteile sind mit den übrigen Stockwerkeinheiten "untrennbar" verbunden (Art. 9 des Begründungsakts). Unter dem eingeschränkten Blickwinkel der Eintragungsfähigkeit stellt sich die weitere Frage, ob dieses besondere Eigentumsverhältnis an der Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" die Errichtung einer Grunddienstbarkeit ausschliesse.
3.3.1
Materiellrechtlich liegt im vorliegenden Fall subjektiv-dingliches Miteigentum vor, und zwar nach - unangefochtener - Auffassung der Beklagten unselbstständiges Miteigentum ("copropriété dépendante" bzw. "comproprietà dipendente"): Miteigentumsanteile an der Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" sind mit dem Eigentum an den übrigen Stockwerkeinheiten dauerhaft zu bestimmtem Zweck verknüpft (z.B.
BGE 106 II 11
E. 4 S. 17 ff.; WERMELINGER, a.a.O., N. 20 ff. zu
Art. 712b ZGB
; MEIER-HAYOZ/REY, a.a.O., N. 56 und 85 zu Art. 712b sowie N. 61 zu
Art. 712d ZGB
; vgl. zu dieser und weiteren Möglichkeiten: ZOBL, Rechtsfragen zur Sondernutzung an Autoabstellplätzen bei Stockwerkeigentum, in: Festschrift Grossen, Basel 1992, S. 285 ff.). Dahingestellt bleiben kann dabei im vorliegenden Zusammenhang (E. 3.1 soeben), ob es rechtlich zulässig ist, dass an der Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" neben unselbstständigen auch noch gewöhnliche Miteigentumsanteile bestehen (vgl. dazu SCHMID, a.a.O., N. 13 zu
Art. 946 ZGB
; EGGEN, Privatrechtliche Fragen des neuen Bauens und ihre Wirkungen auf das Grundbuch, ZBGR 53/1972 S. 207 ff., 215).
3.3.2
Im Grundbuch kommt dieses unselbstständige subjektiv-dingliche Miteigentum wie folgt zum Ausdruck: Auf dem
BGE 130 III 306 S. 310
Grundbuchblatt der Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" sind als Eigentümer die Nummern der einzelnen Stockwerkeinheiten eingetragen, denen je Miteigentumsanteile zugeordnet sind. Diese Zuordnung ist auf den Grundbuchblättern der einzelnen Stockwerkeinheiten angemerkt. Grundbuchtechnisch liegt ein Anwendungsfall von
Art. 32 der Verordnung vom 22. Februar 1910 betreffend das Grundbuch (GBV; SR 211.432.11)
vor: Danach ist statt des Namens des Eigentümers die Nummer des Hauptgrundstücks in die Abteilung "Eigentum" einzutragen, wenn das Eigentum an einem Grundstück (Anmerkungsgrundstück) dem jeweiligen Eigentümer eines andern Grundstücks (Hauptgrundstück) zusteht (Abs. 1). Auf dem Blatt des Hauptgrundstücks ist in der Abteilung "Anmerkungen" oder in der Grundstücksbeschreibung auf dieses Eigentumsverhältnis hinzuweisen (Abs. 2). Werden für Miteigentumsanteile oder Stockwerke besondere Blätter eröffnet, so werden die Grundbuchnummern der Miteigentumsanteile oder der Stockwerke in der Abteilung "Eigentum" des Stammgrundstücks eingetragen (Abs. 3).
3.3.3
Unselbstständiges subjektiv-dingliches Miteigentum beruht auf der Vereinbarung der betreffenden Eigentümer. Gemäss
Art. 646 Abs. 3 ZGB
hat jeder Miteigentümer für seinen Anteil die Rechte und Pflichten eines Eigentümers, und es kann dieser Anteil von ihm veräussert und verpfändet und von seinen Gläubigern gepfändet werden. Die Bestimmung ist freilich nicht zwingend und schliesst die Vereinbarung der Miteigentümer nicht aus, das Miteigentum an einem bestimmten Grundstück mit dem Eigentum oder Miteigentum an einem anderen Grundstück derart zu verknüpfen, dass der Miteigentumsanteil am ersten Grundstück das rechtliche Schicksal des zweiten - mit ihm verbundenen - Grundstücks teilt (
BGE 100 II 310
E. 3a S. 312 f.;
BGE 130 III 13
E. 5.2.1 S. 15). Die Vereinbarung der betreffenden Eigentümer besteht in der Widmung des ersten an das zweite Grundstück auf Dauer zu bestimmtem Zweck (z.B. als Wegparzelle oder Parkplatz). Im Sinne von
Art. 32 der Verordnung vom 22. Februar 1910 betreffend das Grundbuch (GBV; SR 211.432.1)
wird das erste Grundstück, das dem zweiten gleichsam dient, als "Anmerkungsgrundstück" und das zweite Grundstück, das das erste gleichsam beherrscht, als "Hauptgrundstück" bezeichnet (
BGE 100 II 310
E. 3b S. 313;
BGE 130 III 13
E. 5.2.2 S. 16). Grundlage des Abhängigkeits- bzw. Eigentumsverhältnisses ist somit die Vereinbarung der betreffenden Eigentümer. Die grundbuchliche Vorkehr gemäss
Art. 32 GBV
hat keine materielle Wirkung und
BGE 130 III 306 S. 311
eröffnet lediglich die Möglichkeit, die Zusammengehörigkeit der Grundstücke zum Ausdruck zu bringen (DESCHENAUX, a.a.O., I, § 20/B/IV S. 417 f.; WERMELINGER, a.a.O., N. 24 zu
Art. 712b ZGB
mit weiteren Hinweisen; allenfalls missverständlich die Formulierung von BRUNNER/WICHTERMANN, Basler Kommentar, 2003, N. 3 zu
Art. 646 ZGB
). Die Anmerkung nimmt am öffentlichen Glauben des Grundbuchs nicht teil und begründet auch kein Rangverhältnis gegenüber dinglichen Rechten, die später eingetragen werden (SCHMID, a.a.O., N. 71 zu Art. 946 und N. 5 zu
Art. 972 ZGB
, mit weiteren Hinweisen).
3.3.4
Wird beachtet, dass unselbstständiges subjektiv-dingliches Miteigentum einzig vom Willen aller Miteigentümer abhängt (E. 3.3.3 soeben), so versteht sich von selbst, dass die Miteigentümer die Verbindung von Haupt- und Anmerkungsgrundstück jederzeit lösen können. Durch gemeinsame Willenserklärung aller Beteiligten ist sowohl die Veräusserung des Anmerkungsgrundstücks als auch seine Belastung rechtlich zulässig (
Art. 648 Abs. 2 ZGB
). Dass die Belastung mit einer Dienstbarkeit oftmals einer eigentlichen Entwidmung des Anmerkungsgrundstücks gleichkommt, ändert nichts an ihrer rechtlichen Zulässigkeit. Die Miteigentümer insgesamt haben vielmehr die gleiche Rechtsmacht wie ein Alleineigentümer (vgl. dazu SCHNEIDER, Das schweizerische Miteigentumsrecht, Diss. Bern 1970, Druckjahr 1973, S. 280 ff. Ziff. 4, und ausführlich in: Probleme des subjektiv-dinglichen Miteigentums, ZBGR 57/1976 S. 1 ff., 14; HUBER, Buchbesprechung, ZBGR 71/1990 S. 248 ff., 252). Entgegen der Darstellung der Beklagten im kantonalen Verfahren lässt sich den Basler Kommentatoren kein abweichender Standpunkt entnehmen. Sie erwähnen die Möglichkeit einer Umwidmung mit Zustimmung aller Miteigentümer ausdrücklich (N. 2 zu
Art. 646 ZGB
), bezeichnen als Anmerkungsgrundstück aber "den unselbstständigen Miteigentumsanteil" und schliessen dessen Belastung mit einer Dienstbarkeit aus (N. 29 i.V.m. N. 3 zu
Art. 646 ZGB
). Ob ein unselbstständiger Miteigentums
anteil
mit einer Dienstbarkeit belastet werden kann, ist hier indessen nicht die Frage. Diese lautet vielmehr dahin, ob die in unselbstständiges Miteigentum aufgeteilte Stockwerkeinheit - in der von den Kommentatoren verwendeten Terminologie: das Stammgrundstück (vgl.
Art. 32 Abs. 3 GBV
) - mit einer Dienstbarkeit belastet werden kann
BGE 130 III 306 S. 312
.
3.3.5
Unter dem eingeschränkten Blickwinkel der Eintragungsfähigkeit ist - entgegen der Auffassung der Beklagten - anzuerkennen, dass die Errichtung der strittigen Grunddienstbarkeit an der Stockwerkeinheit "Autoeinstellhalle" rechtlich möglich und zulässig gewesen ist (E. 3.2 soeben), und zwar unbesehen deren Aufteilung in unselbstständiges subjektiv-dingliches Miteigentum. Ob die Promotoren im Zeitpunkt der Errichtung Eigentümer sämtlicher Miteigentumsanteile und damit verfügungsbefugt waren und ob ihr damaliger Antrag an das Grundbuchamt ausreichend war, ist für die hier einzig zu prüfende Eintragungsfähigkeit der Grunddienstbarkeit nicht massgebend. Allfällige Mängel dieser Art würden durch den öffentlichen Glauben des Grundbuchs geheilt (E. 3.1 hiervor). Ob sich die Klägerin darauf berufen kann, ist im Folgenden zu beurteilen. | de |
9a98a7a9-f520-41c7-b836-bdc0606decd9 | Sachverhalt
ab Seite 275
BGE 105 V 274 S. 275
A.-
Ruzena Kolocova musste sich im Dezember 1974 einer Diskushernienoperation unterziehen, welcher wegen postoperativ persistierender lumboischialgischer Schmerzen im September 1975 eine operative Revision folgte. Darnach meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Rente an. Nach der Darstellung des Versicherungsgerichts des Kantons Bern nahm sie die Anmeldung im Zusammenhang mit dem Gesuch um medizinische Leistungen im November 1975 vor, nach Auffassung der Ausgleichskasse des Kantons Bern erst am 5. Januar 1976. Mit Verfügung vom 17. Dezember 1976 sprach ihr die Ausgleichskasse eine ganze einfache Invalidenrente nebst Zusatzrente vom November 1975 bis August 1976 zu. Mit einer weiteren Verfügung gleichen Datums wurde ihr ab September 1976 eine halbe Rente zugesprochen. Gegen diese Verfügung beschwerte sich Ruzena Kolocova beim Versicherungsgericht des Kantons Bern, welches die Beschwerde mit Entscheid vom 15. Juni 1977, versandt am 9. August 1977, abwies. Am 23. September 1977 sprach Ruzena Kolocova auf der Gemeindeausgleichskasse vor und verlangte Ergänzungsleistungen. Die Gemeindeausgleichskasse besorgte die nötigen Unterlagen und leitete die Sache mit ihren Berechnungen für die Jahre 1976/1977 am 23. August 1978 an die Ausgleichskasse des Kantons Bern weiter, welche das Gesuch am 7. September 1978 mit der Begründung abwies, die Einkommensgrenze sei ab 1. September 1977 überschritten worden.
B.-
Gegen diese Verfügung beschwerte sich Ruzena Kolocova beim Versicherungsgericht des Kantons Bern und machte sinngemäss geltend, sie habe die Ergänzungsleistungen nicht nur ab 1. September 1977, sondern auch für die Jahre 1975 und
BGE 105 V 274 S. 276
1976 beantragt. Das Versicherungsgericht hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 13. Dezember 1978 in dem Sinne gut, dass die Ausgleichskasse zusätzlich über einen allfälligen Ergänzungsleistungsanspruch in der Zeit vom 1. November 1975 bis 31. August 1977 zu befinden habe.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die kantonale Ausgleichskasse die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides. Sie vertritt die Auffassung, dass sie den Ergänzungsleistungsanspruch von Ruzena Kolocova entsprechend dem Datum der Anmeldung erst ab September 1977 habe prüfen können.
Ruzena Kolocova beantragt sinngemäss die Bestätigung des vorinstanzlichen Entscheides. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst sich der Auffassung der Ausgleichskasse an und beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Gemäss
Art. 128 OG
beurteilt das Eidg. Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von
Art. 97 und 98 lit. b bis h OG
auf dem Gebiete der Sozialversicherung. Es liegt im Wesen des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens, dass grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse beurteilt bzw. überprüft werden, zu denen die zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung genommen hat. Demgemäss bestimmt die Verfügung auch den Prozessgegenstand des Beschwerdeverfahrens. Die Verwaltungsverfügung ist somit Anfechtungsobjekt im Beschwerdeverfahren; ohne Verfügung über den bestimmten Gegenstand fehlt es an diesem Anfechtungsobjekt und mithin an einer Sachurteilsvoraussetzung (
BGE 104 V 180
,
BGE 102 V 152
, EVGE 1968 S. 224; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege 1979, S. 97).
2.
Es stellt sich vorab die Frage, ob über einen allfälligen Ergänzungsleistungsanspruch für die Zeit zwischen dem 1. November 1975 und dem 31. August 1977 überhaupt eine Verfügung vorliegt.
In ihrer Vernehmlassung an die Vorinstanz machte die Ausgleichskasse geltend, sie habe mit ihrer Verfügung festhalten wollen, "dass einerseits ab Anmeldemonat kein Ergänzungsleistungsanspruch bestehe und anderseits eine Nachzahlung für
BGE 105 V 274 S. 277
die Zeit vor dem 1. September 1977 nicht möglich sei". Die Vorinstanz folgte dieser Auslegung, indem sie annahm, dass "zumindest sinngemäss nach den gesamten Umständen auch über eine eventuelle Nachzahlung, d.h. eine rückwirkende Ausrichtung von Ergänzungsleistungen entschieden worden ist". Dieser Auffassung ist beizupflichten, kann doch allgemein gesagt werden, dass mit der Festsetzung eines Leistungsbeginns in einer Verfügung der Anspruch auf Leistungen für die vorangehende Zeit in der Regel ausgeschlossen wird, ausser es würden ganz besondere Umstände vorliegen. In diesem Sinne ist mit der Verfügung vom 7. September 1978 auch über einen allfälligen Anspruch auf Ergänzungsleistungen für die Zeit vor dem 1. September 1977 entschieden worden, weshalb die Vorinstanz zu Recht auf die dagegen erhobene Beschwerde eingetreten ist. Demgemäss hat auch das Eidg. Versicherungsgericht die Sache materiell zu behandeln.
3.
Streitig ist somit zunächst die Frage, ob ein Nachzahlungsanspruch für die Zeit vor dem 1. September 1977 besteht.
Nach
Art. 3 Abs. 6 ELG
ist der Bundesrat befugt, über Beginn und Ende des Anspruchs sowie über die Nachzahlung und die Rückforderung von Leistungen nähere Vorschriften aufzustellen. Er hat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, indem er in
Art. 21 Abs. 1 ELV
festhält, dass - unter Vorbehalt von
Art. 22 Abs. 1 ELV
- der Anspruch auf Ergänzungsleistung erstmals für den Monat besteht, in welchem die Anmeldung eingereicht worden ist und sämtliche gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind. Eine Nachzahlung ist möglich, wenn die Anmeldung für die Ergänzungsleistung innert sechs Monaten seit der Zustellung der Verfügung über eine Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung eingereicht wird. Der Anspruch beginnt in diesem Fall mit dem Monat der Anmeldung für die Rente, frühestens jedoch mit der Rentenberechtigung (
Art. 22 Abs. 1 ELV
). Bei einer Herabsetzung einer laufenden Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung mittels Verfügung findet Abs. 1 Anwendung (
Art. 22 Abs. 2 ELV
).
Gemäss den Ausführungen der Vorinstanz führt die vernünftige Auslegung von
Art. 22 Abs. 1 ELV
dazu, dass der Beginn der Frist auf den Zeitpunkt der Rechtskraft der massgeblichen Verfügung gelegt wird. Demgegenüber vertritt die Ausgleichskasse in Übereinstimmung mit dem Bundesamt für Sozialversicherung
BGE 105 V 274 S. 278
die Auffassung, aus dem Wortlaut von
Art. 22 Abs. 1 ELV
sei zu schliessen, dass eine Nachzahlung von Ergänzungsleistungen nur möglich sei, wenn eine entsprechende Anmeldung innert sechs Monaten seit der Zustellung der Rentenverfügung eingereicht wurde.
Die Beurteilung dieser Frage hängt davon ab, was für eine Bedeutung dem in
Art. 22 Abs. 1 ELV
enthaltenen Begriff der Verfügung beizumessen ist. Entgegen der Ansicht der Ausgleichskasse ist darunter nicht nur die Kassenverfügung zu verstehen, sondern bei Weiterzug derselben auch der Entscheid der nächsthöheren kantonalen Instanz und letztlich auch das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts. Dass ein der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterliegender Beschwerdeentscheid eine Verfügung darstellt, ergibt sich klar aus Art. 98 in Verbindung mit
Art. 97 OG
. Nach Lehre und Praxis des Verwaltungsrechts kommt in Analogie dazu bei Weiterzug dem Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts ebenfalls Verfügungscharakter zu (vgl. GYGI, a.a.O., S. 98).
Ob in
Art. 22 Abs. 1 ELV
lediglich die weiterziehbare Kassenverfügung oder bei Weiterzug allenfalls jene der entsprechenden Gerichtsinstanz gemeint ist, kann nur aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift geschlossen werden. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, will die Bestimmung dem Versicherten sechs Monate Zeit einräumen, um sich über die Erfolgsaussichten einer allfälligen Ergänzungsleistungsanmeldung klar zu werden. Zieht ein Versicherter die Verfügung einer unteren Instanz über die AHV- oder IV-Rente weiter, steht die Berechnungsgrundlage der Ergänzungsleistung noch in Frage. Weder der Versicherte noch die Versicherung können in diesem Zeitpunkt eine gesicherte Beurteilung über den Ergänzungsleistungsanspruch vornehmen. Daraus folgt aber, dass unter Verfügung im Sinne von
Art. 22 Abs. 1 ELV
nur die rechtskräftige Verfügung verstanden werden darf. In Präzisierung der Ausführungen der Vorinstanz kommt es daher für die Frist von
Art. 22 Abs. 1 ELV
auf den Zeitpunkt an, in welchem die in Rechtskraft erwachsene Verfügung zugestellt wurde.
4.
Im vorliegenden Fall hat die Versicherte die Kassenverfügung vom 17. Dezember 1976, mit welcher ihr eine ganze einfache Invalidenrente vom November 1975 bis August 1976 zugesprochen worden ist, nicht weitergezogen. Diese ist daher in Rechtskraft erwachsen. Wenn die Versicherte daher für die
BGE 105 V 274 S. 279
nämliche Zeit Ergänzungsleistungen geltend machen wollte, hätte sie dies nach
Art. 22 Abs. 1 ELV
binnen sechs Monaten seit der Zustellung jener Verfügung tun müssen. Da sie mit der Anmeldung vom 23. September 1977 diese halbjährige Frist offensichtlich nicht eingehalten hat, steht ihr für die Zeit bis August 1976 zum vornherein kein Anspruch auf Ergänzungsleistungen zu.
5.
Die Versicherte hat ferner die (ebenfalls vom 17. Dezember 1976 datierende) Verfügung, mit welcher die ganze Rente ab September 1976 auf eine halbe reduziert worden ist, weitergezogen. Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hat die Beschwerde mit Entscheid vom 15. Juni 1977, versandt am 9. August 1977, abgewiesen. Da die Versicherte die Sache darnach auf sich beruhen liess, trat jener Entscheid in Rechtskraft. Es liegt demnach auf der Hand, dass die Versicherte mit der Anmeldung vom 23. September 1977 für die von der zweiten Verfügung erfasste Zeit ab September 1976 die Ergänzungsleistungen nach
Art. 22 Abs. 1 und 2 ELV
rechtzeitig geltend gemacht hat. Da die Ausgleichskasse den allfälligen Ergänzungsleistungsanspruch für die Zeit vom 1. September 1976 bis 31. August 1977 wegen angeblich verspäteter Anmeldung nicht überprüft hat, muss sie dies nachholen.
Wenn die Vorinstanz auch den Anspruch auf Ergänzungsleistungen für die Zeit vom November 1975 bis August 1976 überprüft haben wollte, so geschah dies deshalb, weil sie die beiden Rentenverfügungen offenbar als eine Einheit betrachtete. Da die Versicherte seinerzeit aber lediglich die Herabsetzung der ganzen auf eine halbe Rente und deren Berechnung angefochten hat, ist die Anmeldung für Ergänzungsleistungen vor dem 1. September 1976, wie schon gesagt, als verspätet zu beurteilen. | de |
dd507cf6-036b-444c-a409-543e04914f7c | Sachverhalt
ab Seite 264
BGE 142 V 263 S. 264
A.
Die 1960 geborene A. war ab 1. August 2011 als Sekretärin und Stellvertreterin des Geschäftsleiters bei der Einzelunternehmung ihres damaligen Ehemannes B. angestellt. Nachdem sie B. mit Schreiben vom 5. Dezember 2013 aufgefordert hatte, eine Sicherheit für den zukünftigen Lohn zu leisten, und er ihr mitgeteilt hatte, dass dies nicht möglich sei, kündigte sie das Arbeitsverhältnis am 9. Dezember 2013 fristlos. Gleichentags meldete sie sich auch zur Arbeitsvermittlung an und am 18. Dezember 2013 stellte sie Antrag auf Arbeitslosenentschädigung. Per 16. Februar 2014 meldete das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) A. von der Arbeitsvermittlung ab, da diese ab 17. Februar 2014 eine Stelle bei der C. AG antreten konnte. Am 21. Februar 2014 wurde die Ehe von A. und B. geschieden (Entscheid des Kreisgerichts D.).
Mit Verfügung vom 8. April 2014 lehnte die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen den Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 9. Dezember 2013 ab und gab zur Begründung an, der Ehemann von A. sei Inhaber mit Einzelunterschrift der Einzelunternehmung, weshalb davon auszugehen sei, dass es ihr als Ehefrau des Inhabers möglich sei, Entscheidungen mitzubestimmen oder massgeblich zu beeinflussen; obwohl geltend gemacht werde, dass eine Trennung erfolgt sei, werde die arbeitgeberähnliche Stellung gemäss den vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) publizierten Vorgaben (AVIG-Praxis ALE Rz. B23) erst ab dem Datum der Scheidung, der richterlichen Trennung oder der vom Richter verfügten Eheschutzmassnahmen aufgehoben. Mittels Einsprache machte A. geltend, dass sie sich im November 2008 von B. getrennt und die Modalitäten am 21. April 2009 aussergerichtlich geregelt habe. Der inzwischen geschiedene B. sei seit Längerem mit einer neuen Lebenspartnerin zusammen
BGE 142 V 263 S. 265
und habe mit dieser ein gemeinsames Kind, welches im September 2012 zur Welt gekommen sei. Demgemäss stehe fest, dass die Ehe unwiderruflich zerbrochen sei. Die Arbeitslosenkasse lehnte die Einsprache ab (Einspracheentscheid vom 25. August 2014).
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 23. Juli 2015).
C.
A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiär Verfassungsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, die Streitsache sei zur Neubeurteilung und neuen Entscheidung an das kantonale Gericht, eventualiter an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen; (sub-)eventualiter sei die Anspruchsberechtigung zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern ab 9. Dezember 2013 bis 16. Februar 2014 zu bejahen und die Kasse sei anzuweisen, entsprechende Arbeitslosentaggelder auszurichten.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Das kantonale Gericht hat für das Bundesgericht verbindlich (vgl. nicht publ. E. 2) festgestellt, dass für die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitslosigkeit eine "Wiederaufnahme der Ehe" nicht in Frage kam. Diese Annahme stützt die Vorinstanz auf den Umstand, dass das Ehepaar im November 2008 die faktische Trennung aufgenommen und am 21. April 2009 eine aussergerichtliche Trennungsvereinbarung abgeschlossen hatte, sowie am 14. Juli 2011 das Scheidungsverfahren eingeleitet worden war und im September 2012 das Kind des Ehemannes und dessen neuer Lebenspartnerin geboren wurde.
Ausgehend von diesem Sachverhalt war es für die Vorinstanz trotzdem fraglich, ob der Ehemann (nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses) tatsächlich keine Gefälligkeitsbescheinigungen mehr ausgestellt hätte. Über Jahre habe die Beschwerdeführerin unentgeltlich im Betrieb ihres Ehemannes mitgearbeitet. Wenige Tage vor Einreichung der Scheidungsklage soll am 9. Juli 2011 ein Arbeitsvertrag unterzeichnet worden sein, welcher einen Monatslohn von Fr. 4'500.- festgehalten habe, wobei in der Scheidungsklage vom 14. Juli 2011 noch behauptet worden sei, der Ehemann weigere sich, einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen. Durch den Arbeitsvertrag seien sämtliche Unterhaltszahlungen hinfällig geworden. Die fristlose Kündigung sei nicht verständlich und es stelle sich die Frage, ob diese
BGE 142 V 263 S. 266
abgesprochen worden sei. So falle auf, dass der Arbeitgeber schon am 2. Dezember 2013 eine Bestätigung "An die Arbeitslosenversicherung" ausgestellt habe, wonach er ab sofort keine Lohnzahlungen mehr leisten könne. Schliesslich sei fraglich, ob er im Zeitpunkt der fristlosen Kündigung tatsächlich zahlungsunfähig gewesen sei. Zwar habe die Bank im November 2013 eine saisonale Kontokorrentkredit-Limitenerhöhung wegen Liquiditätsschwierigkeiten abgelehnt. Weitere Angaben, die für eine Zahlungsunfähigkeit sprechen würden, seien aber nicht vorgelegen. Zudem seien die Löhne der Beschwerdeführerin bis zur fristlosen Kündigung jeweils ohne grosse Verspätung bezahlt worden und der Betrieb existiere bis heute. Gemäss Scheidungsvereinbarung habe sich der Ehemann verpflichtet, der Beschwerdeführerin gestützt auf
Art. 165 ZGB
eine Entschädigung von Fr. 120'000.- zu bezahlen und ihr eine güterrechtliche Ausgleichszahlung von Fr. 10'000.- zu leisten. Die Kollektivzeichnungsberechtigung der Ehefrau sei schliesslich erst per 6. März 2014 im Handelsregister gelöscht worden. Damit sei ein gemeinsames Zusammenwirken im Hinblick auf den Antrag auf Arbeitslosenentschädigung nicht auszuschliessen. Die Beschwerdeführerin könne folglich nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dartun, dass eine Einflussnahme auf den Betrieb des Ehemannes unmöglich gewesen sei, weshalb der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung für den Zeitraum vom 9. Dezember 2013 bis 16. Februar 2014 abzulehnen sei.
4.
4.1
Nach dem Wortlaut von
Art. 51 Abs. 2 AVIG
(SR 837.0) sind die im Betrieb mitarbeitenden Ehegatten arbeitgeberähnlicher Personen vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung ausgeschlossen, und zwar unabhängig davon, ob sie selber ebenfalls eine arbeitgeberähnliche Stellung innehaben. Die Tatsache, dass sie mit einer arbeitgeberähnlichen Person verheiratet sind und in deren Betrieb mitarbeiten, genügt für den Ausschluss vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung. Wie die Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Kurzarbeitsentschädigung, welche in
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
eine analoge Regelung kennt, mehrmals betont hat, ist dieser Ausschluss absolut zu verstehen (
BGE 123 V 234
E. 7 S. 236;
BGE 122 V 270
E. 3 S. 272). Es ist somit nicht möglich, den betroffenen Personen unter bestimmten Voraussetzungen im Einzelfall Leistungen zu gewähren (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 2405 Rz. 464).
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
BGE 142 V 263 S. 267
bezweckt, dem Risiko eines Missbrauchs zu begegnen, das der Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung an arbeitgeberähnliche Personen und deren Ehegatten inhärent ist (ARV 2003 S. 240, C 92/02). Dieses Risiko ist dasselbe, ob es nun um Arbeitslosen-, Kurzarbeits- oder Insolvenzentschädigung geht. Daher rechtfertigt sich keine unterschiedliche Behandlung von Ehegatten arbeitgeberähnlicher Personen in Bezug auf diese drei Leistungsarten (SVR 2011 ALV Nr. 14 S. 42, 8C_74/2011 E. 5.1).
4.2
Im Urteil C 16/02 vom 16. September 2002 (ARV 2003 S. 120) hatte das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht (heute: Bundesgericht) entschieden, dass aus Gründen der Rechtssicherheit bei im Betrieb mitarbeitenden Ehegatten arbeitgeberähnlicher Personen der Anspruch auf Insolvenzentschädigung auch dann nicht bejaht werden könne, falls sie getrennt leben. Gemäss Urteil 8C_1032/2010 vom 7. März 2011 soll, was in ARV 2003 S. 120 zur Ausrichtung von Insolvenzentschädigung an den getrennt lebenden Ehegatten einer arbeitgeberähnlichen Person gesagt wurde, analog auch für die Arbeitslosenentschädigung gelten. Ob diese Rechtsprechung, wonach der in Trennung lebende, ehemals im Betrieb mitarbeitende Ehepartner einer arbeitgeberähnlichen Person keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hat, weitergeführt wird, liess das Bundesgericht im Urteil 8C_74/2011 vom 3. Juni 2011 (SVR 2011 ALV Nr. 14 S. 42) ausdrücklich offen. Immerhin hielt es fest, dass eine faktische Trennung allein nicht zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung berechtigt und eine erst später vollzogene Scheidung, eine gerichtliche Ehetrennung bzw. vom Gericht verfügte Eheschutzmassnahmen jedenfalls keinen rückwirkenden Anspruch auf Arbeitslosentaggelder begründen (SVR 2011 ALV Nr. 14 S. 42, 8C_74/2011 E. 5.3.2).
5.
5.1
Gemäss AVIG-Praxis ALE B23 besteht ab Datum einer Scheidung, richterlichen Trennung oder vom Richter verfügten Eheschutzmassnahme Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Ob im Sinne dieser Weisung eine gerichtliche Trennung oder eine richterlich verfügte Eheschutzmassnahme - bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen - eine genügende Grundlage für die Ausrichtung von Arbeitslosentaggeldern darstellt, musste das Bundesgericht bisher nicht entscheiden (SVR 2011 ALV Nr. 14 S. 42, 8C_74/2011 E. 5.3.1).
Im vorliegenden Fall liess sich das Ehepaar nicht gerichtlich trennen und richterliche Eheschutzmassnahmen wurden ebenfalls nicht
BGE 142 V 263 S. 268
getroffen. Die Vorinstanz geht davon aus, dass für die Beschwerdeführerin eine Weiterführung ("Wiederaufnahme") der Ehe zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitslosigkeit im Dezember 2013 nicht mehr in Frage kam. Aus dieser Annahme kann jedoch entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin nicht abgeleitet werden, dass das kantonale Gericht damit auch ein Missbrauchsrisiko oder die Gefahr der Umgehung der relevanten Bestimmungen ausgeschlossen hätte. Das Gegenteil trifft zu, denn mit der beispielhaften Aufzählung von nicht klar einzuordnenden Fakten im angefochtenen Entscheid (vgl. E. 3 hiervor) wurde vielmehr aufgezeigt, dass trotz klaren Scheidungswillens (zumindest seitens der Ehefrau) durchaus Missbrauchspotential vorhanden war. Die letztinstanzlich in diesem Zusammenhang vorgebrachte Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist schon deshalb unbegründet.
5.2
Es ist der Beschwerdeführerin zwar beizupflichten, dass der "Beweis der Unmöglichkeit der Einflussnahme" nicht gelingen kann (dieser ist aber auch nicht gefordert) und beispielsweise auch bei langjährigen Arbeitsverhältnissen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber Absprachen bezüglich Anstellungsverhältnis, Kündigung und Bezug von Arbeitslosentaggeldern vorkommen dürften. Mit ihrer Rüge, dass dieses Missbrauchsrisiko durch
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
nicht erfasst sei, weshalb insoweit eine Verletzung von Bundesrecht vorliege, verkennt sie jedoch, dass das Gesetz (
Art. 31 Abs. 3 lit. c und
Art. 51 Abs. 2 AVIG
) den mitarbeitenden Ehegatten per se - also unabhängig von einem eventuellen Trennungs- oder Scheidungswillen - von der Anspruchsberechtigung auf Kurzarbeits- bzw. Insolvenzentschädigung ausschliesst. Das Bundesgericht hat in ständiger Rechtsprechung eine analoge Anwendung von
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
auf arbeitgeberähnliche Personen und ihre Ehegatten, die Arbeitslosenentschädigung verlangen, bejaht mit der Begründung, dass das Missbrauchsrisiko dasselbe ist, unabhängig davon, ob es um Arbeitslosen-, Kurzarbeits- oder Insolvenzentschädigung geht (vgl. E. 4.1 hiervor). Die vorliegend zu beurteilende Konstellation illustriert beispielhaft, dass keine Gründe auszumachen sind, Ehepartner, welche kurz vor der Scheidung stehen, anders zu behandeln.
5.2.1
Die Vorinstanz zeigt unter Verweis auf die Unterlagen aus dem Scheidungsverfahren namentlich auf, dass die Beschwerdeführerin während der Ehe (Heirat im Jahr 1985) lange zu 50 bis 100 % im Betrieb des Ehemannes mitarbeitete, ohne dafür einen Lohn
BGE 142 V 263 S. 269
erhalten zu haben. In der Scheidungsklage wurde der fehlende Lohn mit "sozialversicherungsrechtlichen Überlegungen" begründet. Erst seit 2001 war ein Monatsgehalt von Fr. 1'000.- und seit April 2009 von Fr. 1'700.- für ein Pensum zwischen 80 und 100 % ausbezahlt worden. Gemäss Arbeitsvertrag vom 9. Juli 2011 wurde schliesslich ein Monatslohn von Fr. 4'500.- vereinbart. Die Beschwerdeführerin stellte im Scheidungsverfahren Antrag auf einen Unterhaltsbeitrag nach gerichtlichem Ermessen, auf eine angemessene Entschädigung nach
Art. 165 ZGB
für ausserordentliche Beiträge im Beruf oder Gewerbe des Ehegatten in der Höhe von mindestens Fr. 474'397.-, auf Begleichung von Lohnausständen in der Höhe von Fr. 11'800.- und auf eine güterrechtliche Ausgleichszahlung von Fr. 13'300.-. Das kantonale Gericht stellt für das Bundesgericht verbindlich fest, dass am Scheidungswillen der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitslosigkeit nicht zu zweifeln war. Dennoch waren zumindest die finanziellen Verflechtungen im Dezember 2013 mannigfaltig. Nicht nur der Anspruch auf Unterhaltszahlungen und der nach dem 9. Dezember 2013 wegfallende Lohnanspruch standen damals in einem - zumindest aus dem Blickwinkel der Arbeitslosenkasse - unauflösbaren Zusammenhang, wie die Scheidungsunterlagen belegen. Diese Wechselwirkungen lassen sich nicht nur im vorliegenden Fall feststellen. Erst mit dem Scheidungsurteil findet jeweils eine endgültige Entflechtung der finanziellen Situation der Ehepartner statt. Während der Trennung können bezüglich der Regelung der Verbindlichkeiten zwischen den Ehepartnern gleichzeitig sowohl widerstreitende (so unter anderem bezüglich der Unterhaltsregelung) als auch gleiche Interessen (beispielsweise sozialversicherungsrechtliche oder steuerliche Auswirkungen von getroffenen Vereinbarungen) bestehen. Für die Arbeitslosenkasse, welche die Voraussetzungen für Taggelder prüfen soll, wäre es - abgesehen vom grossen Abklärungsaufwand - vor Abschluss des Scheidungsverfahrens gar nicht möglich, die richtigen Wertungen vorzunehmen. So verhält es sich auch bei der Beschwerdeführerin. Im angefochtenen Entscheid werden unter anderem Zweifel am Motiv der fristlosen Kündigung, am Bestehen eines Liquidationsengpasses im Betrieb des Ehemannes und an der Unbefangenheit des ehemaligen Arbeitgebers beim Ausstellen einer Bestätigung zuhanden der Arbeitslosenversicherung angebracht und es wird ein Zusammenwirken des Ehepaars im Hinblick auf die Geltendmachung von Arbeitslosenentschädigung nicht ausgeschlossen.
BGE 142 V 263 S. 270
5.2.2
Demgemäss muss die im Urteil 8C_74/2011 vom 3. Juni 2011 (SVR 2011 ALV Nr. 14 S. 42) aufgeworfene Frage, ob mit zunehmender Dauer des Getrenntlebens das Missbrauchsrisiko überhaupt verringert wird oder wegfällt, verneint werden. Es kann nicht Aufgabe der Arbeitslosenkasse sein, abzuklären, aus welchen Gründen ein Ehepaar getrennt lebt, ob die Ehe allenfalls zerrüttet ist oder wie die Chancen für eine Aufgabe des Getrenntlebens stehen (SVR 2011 ALV Nr. 14 S. 42, 8C_74/2011 E. 5.3.2). Vor allem aber lässt sich, wie vorliegend, ein Missbrauchsrisiko selbst dann nicht ausschliessen, wenn von einem klaren Scheidungswillen auszugehen ist. Da somit bis zum Scheidungsurteil eine Umgehungsgefahr persistiert, sind vor diesem Zeitpunkt keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung geschuldet, unabhängig davon, ob und wie lange die Ehepartner faktisch oder gerichtlich getrennt leben oder ob gerichtliche Eheschutzmassnahmen angeordnet wurden. Es ist der Vorinstanz folglich beizupflichten, dass Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung bei andauernder Ehe nicht einmal dann entstehen kann, wenn der Scheidungswille der schon lange getrennt lebenden Ehepartner als unerschütterlich feststehend erscheint.
5.3
Ob im Einzelnen im Dezember 2013 im Betrieb des Ehemannes ein Liquiditätsengpass bestanden hatte und ob die Ehepartner sich bezüglich der Auflösung des Arbeitsverhältnisses abgesprochen hatten, ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens nicht relevant. Sie verkennt, dass hinter der Regelung in
Art. 31 Abs. 3 lit. c und
Art. 51 Abs. 2 AVIG
sowie der analogen Anwendung dieser Bestimmungen bei der Arbeitslosenentschädigung nicht der tatsächliche und nachgewiesene Missbrauch, sondern das Missbrauchsrisiko steht, welches der Konstellation bei im Betrieb des Ehepartners angestellten Personen inhärent ist. Ob die fristlose Kündigung der Beschwerdeführerin somit tatsächlich auf Lohnzahlungsschwierigkeiten ihres Ehemannes zurückzuführen ist, kann offenbleiben. Auf die entsprechenden Sachverhaltsrügen der Beschwerdeführerin muss nicht weiter eingegangen werden. Die vorinstanzliche Ablehnung eines Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung für die Zeit vom 9. Dezember 2013 bis 16. Februar 2014 ist rechtens. (...) | de |
7f6027ff-b063-4e7c-ac8a-9c42408bf208 | Sachverhalt
ab Seite 314
BGE 145 V 314 S. 314
A.
A.a
Mit Verfügung vom 3. Juli 2014 hob die IV-Stelle des Kantons Zug die A. (Jg. 1962) rückwirkend für die Zeit ab 1. Juni 2002
BGE 145 V 314 S. 315
gewährte ganze Invalidenrente auf das Ende des der Verfügungszustellung folgenden Monats hin - mithin per 31. August 2014 - auf. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 26. Februar 2015 mit der Begründung ab, schon die ursprüngliche Rentenzusprache vom 13. Dezember 2004 sei zweifellos unrichtig gewesen. Das Bundesgericht bestätigte diese Betrachtungsweise mit Urteil 8C_251/2015 vom 1. Juni 2015.
A.b
Während des laufenden Verfahrens machte A. am 6. Mai 2015 eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands geltend. Die IV-Stelle trat auf das neue Leistungsbegehren mit Verfügung vom 12. Oktober 2015 nicht ein. Am 27. November 2015 gelangte der Versicherte erneut unter Berufung auf seine verschlechterte gesundheitliche Situation an die Verwaltung. Die IV-Stelle trat auf diese Neuanmeldung ein und tätigte medizinische Abklärungen. Mit Vorbescheid vom 14. April 2016 stellte sie die Abweisung des Leistungsbegehrens in Aussicht. Vom 23. Juni bis 22. Juli 2016 liess sie A. an drei Tagen observieren und beabsichtigte, ihn durch die Dres. med. B. und C. bidisziplinär begutachten zu lassen. Zur angesetzten Begutachtung am 8. März 2017 erschien A. nicht. Mit Verfügung vom 10. März 2017 trat die IV-Stelle - wie vorgängig mehrfach angekündigt - auf das Leistungsbegehren nicht ein, u.a. mit der Begründung, der Versicherte sei nicht zur vereinbarten Begutachtung bei Dr. med. B. erschienen und ohne diese könne über das Leistungsbegehren nicht entschieden werden. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 12. Dezember 2017 rechtskräftig ab.
A.c
Mit Verfügung vom 17. März 2017 forderte die IV-Stelle die entstandenen Abklärungskosten in Höhe von Fr. 2'402.95 zurück.
B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die gegen die Rückforderungsverfügung erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 19. Juli 2018 ab.
C.
A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides, sei er nicht zu verpflichten, die Abklärungskosten zu tragen und es sei auf eine Rückforderung zu verzichten. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. Am 13. Juni 2019 reicht der Versicherte eine weitere Eingabe ein.
BGE 145 V 314 S. 316
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Mit rechtskräftigem Entscheid vom 12. Dezember 2017 hielt das Verwaltungsgericht des Kantons Zug fest, die Untersuchungsmaxime werde durch die Mitwirkungspflicht der Parteien relativiert. Das Vorgehen der Verwaltung, eine erneute ärztliche Beurteilung unter Einbezug der Observationsergebnisse zu veranlassen, sei rechtens gewesen. Soweit der Beschwerdeführer sein Nichterscheinen beim Gutachter Dr. med. B. damit rechtfertigen wolle, dass er keine anfechtbare Verfügung betreffend Gesuch um Entfernung und Löschung der Observationsergebnisse erhalten habe, sei er wegen fehlenden schützenswerten Interesses nicht zu hören, weil er seine Rüge der Unverwertbarkeit der Observationsergebnisse im Verfahren gegen den materiellen Endentscheid hätte vorbringen können. Demnach gebe es keinen Rechtfertigungsgrund für das Nichterscheinen zur Begutachtung, weshalb eine schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht im Sinne von
Art. 43 Abs. 3 ATSG
vorliege. Sodann habe die Verwaltung das Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchgeführt, weshalb sie schliesslich zu Recht nicht auf das Leistungsbegehren eingetreten sei.
3.
Im Entscheid vom 19. Juli 2018 hielt das Verwaltungsgericht des Kantons Zug fest, die IV-Stelle habe dem Beschwerdeführer bei Nichterscheinen zum Begutachtungstermin angedroht, dass er die daraus entstehenden Kosten zu übernehmen habe. Gestützt auf
Art. 45 Abs. 3 ATSG
seien die formellen und materiellen Voraussetzungen zur Kostenüberbindung erfüllt, weshalb dem Beschwerdeführer die Kosten in Höhe von Fr. 2'402.95 mit Verfügung vom 17. März 2017 zu Recht auferlegt worden seien. Auch die bestrittene Kostenhöhe erachtete das Gericht gestützt auf die Abrechnungen der Gutachter anhand des TARMED-Tarifsystems als angemessen und korrekt. Den Antrag auf eine detailliertere Abrechnung wies sie in antizipierter Beweiswürdigung ab.
4.
4.1
Nach
Art. 43 Abs. 1 Satz 1 ATSG
prüft der Versicherungsträger die Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein. Kommen die versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen beanspruchen, den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nach, so kann der Versicherungsträger auf Grund der Akten
BGE 145 V 314 S. 317
verfügen oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen (
Art. 43 Abs. 3 Satz 1 ATSG
; vgl. Urteil 8C_733/2010 vom 10. Dezember 2010 E. 3.1 mit weiteren Hinweisen).
4.2
Gemäss
Art. 45 Abs. 1 Satz 1 ATSG
übernimmt der Versicherungsträger die Kosten der Abklärung, soweit er die Massnahme angeordnet hat. Die Kosten können der Partei auferlegt werden, wenn sie trotz Aufforderung und Androhung der Folgen die Abklärung in unentschuldbarer Weise verhindert oder erschwert hat (
Art. 45 Abs. 3 ATSG
).
5.
5.1
Die Beschwerde dreht sich über weite Strecken um die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse und die Weigerung des Versicherten, unter den gegebenen Umständen an der vorgesehenen Begutachtung mitzuwirken. Diese Fragen wurden mit Entscheid vom 12. Dezember 2017 rechtskräftig entschieden, indem das kantonale Gericht auf Vorliegen einer schuldhaften Verletzung der Mitwirkungspflicht im Sinne von
Art. 43 Abs. 3 ATSG
schloss. Somit liegt in Bezug auf die korrekte Aufforderung zur Begutachtung und das die Mitwirkungspflicht verletzende Verhalten des Beschwerdeführers eine abgeurteilte Sache vor (res iudicata vgl.
BGE 144 I 11
E. 4.2 S. 13 f.;
BGE 142 III 210
E. 2.1 S. 212). Auf die diesbezüglichen Einwendungen des Beschwerdeführers ist daher nicht weiter einzugehen.
5.2
Zur Verfügung vom 17. März 2017 betreffend Kostenauferlegung gestützt auf
Art. 45 Abs. 3 ATSG
wendet der Beschwerdeführer ein, sein Verhalten sei nicht kausal für die entstandenen Kosten gewesen, da er klar angekündigt habe, dass er nicht zur Begutachtung erscheinen werde, wenn den Gutachtern das Observationsmaterial zur Verfügung gestellt werde. In dieser Konstellation sei es nicht ihm anzulasten, dass die Beschwerdegegnerin die Termine nicht (früher) abgesagt habe. Es liege kein stichhaltiger Grund für die Kostenüberbindung vor. Die Verwaltung hätte den angedrohten Nichteintretensentscheid auch fällen können, wenn sie die Begutachtungstermine rechtzeitig abgesagt hätte.
5.3
5.3.1
Es steht, wie erwähnt, fest, dass der Beschwerdeführer seine Mitwirkungspflicht durch die Nichtteilnahme an der bidisziplinären Begutachtung verletzte. Wenn die IV-Stelle einwendet, es könne nicht sein, dass eine versicherte Person mit ihrer einfachen Ankündigung, nicht zur Abklärung zu erscheinen, folgenlos das Abklärungsverfahren sabotieren könne, ohne dass dies Konsequenzen habe, ist
BGE 145 V 314 S. 318
dies nicht stichhaltig. Mit dieser Argumentation verkennt sie, dass die diesbezüglichen Folgen des dadurch unbewiesen gebliebenen Sachverhalts durchaus der Versicherte trägt, indem die IV-Stelle androhungsgemäss auf sein erneutes Leistungsbegehren nicht eintrat.
5.3.2
Eine Kostenüberbindung des ärztlicherseits in Rechnung gestellten Aufwands gemäss
Art. 45 Abs. 3 ATSG
ist jedoch nicht bereits dadurch gerechtfertigt, dass die Mitwirkung bei der medizinischen Untersuchung pflichtwidrig verletzt wurde. Im Urteil K 222/05 vom 29. August 2006 hat sich das Bundesgericht mit der ausnahmsweisen Überbindung der Abklärungskosten bei einer versicherten Person befasst, die ihrem Krankenversicherer Rechnungen und Quittungen mit - auf ihr Begehren hin - wahrheitswidrigen Angaben einreichte. Es erkannte hierzu, dass mit der offensichtlichen Manipulation der Rechnungen ein tadelnswertes und zu missbilligendes Verhalten vorliege, welches die ausnahmsweise Überbindung der Abklärungskosten zu rechtfertigen vermöge. Die dem Verursacherprinzip folgende Bestimmung von
Art. 45 Abs. 3 ATSG
beschlägt mit Blick auf den Wortlaut und ihrem Sinn und Zweck entsprechend die Auferlegung einzig derjenigen Kosten, die entstanden sind, weil die Partei durch ihr unentschuldbares Verhalten eine Abklärungsmassnahme verhindert oder erschwert hat. Voraussetzung für im Ausnahmefall zu tragende Kosten ist somit ein bezüglich der Kostenverursachung vorwerfbares Verhalten (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 38 f. zu
Art. 45 ATSG
; ANNE-SYLVIE DUPONT, in: Commentaire romand, Loi sur la partie générale des assurances sociales, 2018, N. 22 zu
Art. 45 ATSG
; LOCHER/GÄCHTER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 4. Aufl. 2014, § 70 Rz. 71).
5.4
5.4.1
Zu prüfen bleibt daher, ob der Beschwerdeführer die gutachterlicherseits in Rechnung gestellten Aufwendungen in unentschuldbarer Weise verursachte. In sachverhaltlicher Hinsicht ist unbestritten, dass die IV-Stelle den Gutachtensauftrag am 11. Januar 2017 erteilte und die beiden Untersuchungen am 8. und 23. März 2017 vorgesehen waren. Am 12. Januar 2017 verlangte der Rechtsvertreter des Versicherten die Entfernung der Observationsergebnisse aus den Akten. Mit Antwortschreiben vom 10. Februar 2017 führte die IV-Stelle aus, dass sie weiterhin die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Begutachtung erwarte und drohte ihm im Sinne von
Art. 43 Abs. 3 ATSG
an, dass er bei Nichterscheinen mit einem Aktenentscheid oder einem Nichteintreten auf sein Leistungsgesuch rechnen müsse. Am 24. Februar 2017 liess der Beschwerdeführer über seinen
BGE 145 V 314 S. 319
Rechtsanwalt mitteilen, dass er nicht erscheinen werde, wenn das Observationsmaterial den Gutachtern zur Verfügung gestellt werde. Am 1. März 2017 betonte die IV-Stelle nochmals, dass er an der Massnahme teilnehmen müsse und merkte an, die IV-Stelle werde bei Nichterscheinen die Auferlegung der angefallenen Gerichtskosten nach
Art. 45 Abs. 3 ATSG
prüfen. Sie bat Dr. med. B. am 7. März 2017 zu melden, falls der Versicherte morgen nicht erscheine, was eine Mitarbeiterin seiner Praxis anderntags bestätigte und ausführte, sie habe mit dem Versicherten telefoniert und er habe gesagt, dass er nicht komme, was er schon der IV-Stelle mitgeteilt habe. Erst nachdem der Beschwerdeführer den Termin vom 8. März 2017 bei Dr. med. B. (wie angekündigt) nicht wahrgenommen hatte, annullierte die IV-Stelle mit Schreiben vom 10. März 2017 den gesamten Auftrag zur Begutachtung und bat Dr. med. C. um Rechnungsstellung der angefallenen Kosten.
5.4.2
Aus dem zeitlichen Ablauf der Geschehnisse geht hervor, dass sich der Versicherte gegenüber der IV-Stelle stets unmissverständlich gegen die Teilnahme an der Begutachtung ausgesprochen hatte, falls die Dokumente der Observation den Experten vorgelegt würden. Spätestens mit Schreiben vom 24. Februar 2017 musste die IV-Stelle davon ausgehen, dass sich der Beschwerdeführer der veranlassten Begutachtung nicht unterziehen wird, weil sie (zu Recht) daran festhielt, dass die Gutachter die Observationsergebnisse medizinisch zu berücksichtigen hatten. Anders als im erwähnten Urteil K 222/05, wo der Versicherte durch das Einreichen gefälschter Rechnungen in vorwerfbarer Weise einen erhöhten Abklärungsaufwand verursachte, kann hier dem Beschwerdeführer in Bezug auf die Kosten der Abklärung kein über die Verletzung seiner Mitwirkungspflicht hinaus gehendes, zu missbilligendes, tadelnswertes Verhalten vorgeworfen werden. Auch hat er den ersten Termin vom 8. März 2017 nicht kurzfristig platzen lassen. Nachdem im sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahren die Leitung des Verfahrens dem Versicherungsträger obliegt (Grundsatz des Amtsbetriebs) und dieser einen Sozialversicherungsfall hoheitlich zu bearbeiten hat (vgl.
Art. 43 ATSG
;
BGE 133 V 446
E. 7.4 S. 449), wäre es vorliegend an der IV-Stelle gewesen, den Gutachtensauftrag zurückzuziehen. Die Verwaltung hätte es aufgrund der konsequenten Verweigerungshaltung des Versicherten durch ein zügiges Vorgehen ihrerseits in der Hand gehabt, die Begutachtung rechtzeitig abzusagen, ohne dass damit der von den Gutachtern in Rechnung gestellte Aufwand für die kurzfristige Absage/"no show" entstanden wäre. Dies gilt umso mehr, als
BGE 145 V 314 S. 320
sie selber auf die verlangte Entfernung des Observationsmaterials aus den Akten vom 12. Januar 2017 erst am 10. Februar 2017 reagierte, indem sie auf eine Begutachtung unter Vorlage der IV-Akten einschliesslich der Observationsunterlagen beharrte. Ein durch die Widersetzlichkeit verursachter Kostenaufwand (vgl. JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG], 2000, N. 9 zu
Art. 90 MVG
) ist in dieser Konstellation nicht auszumachen. Die strengen Voraussetzungen zur ausnahmsweisen Auferlegung der Abklärungskosten nach
Art. 45 Abs. 3 ATSG
sind vorliegend nicht erfüllt. Die gegenteilige Annahme der Vorinstanz verletzt Bundesrecht. | de |
28aef15e-a5f9-4e62-8397-6a35811e812a | Sachverhalt
ab Seite 28
BGE 108 IV 27 S. 28
A.-
X. und Y. führen in einfacher Gesellschaft ein Malergeschäft. Sie haben die auf ein (im Jahre 1969 eröffnetes) Konto bei der Spar- und Leihkasse Oberfreiamt einbezahlten Arbeitseinkünfte von insgesamt Fr. 113'274.65 sowie die darauf erzielten Zinsen in der Geschäftsbuchhaltung nicht verbucht und dadurch in den Jahren 1974 bis 1978 je mindestens Fr. 8'304.90 an Staats-, Gemeinde- und Kirchensteuern sowie mindestens Fr. 2'908.40 an Wehrsteuern (17. und 18. Periode) dem Fiskus entzogen.
B.-
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen X. und Y. Anklage wegen fortgesetzten Steuerbetrugs und fortgesetzter Urkundenfälschung.
Das Bezirksgericht Bremgarten sprach die beiden Angeklagten von der Anschuldigung der fortgesetzten Urkundenfälschung frei, sprach sie des fortgesetzten Steuerbetrugs im Sinne von Art. 138 des aargauischen Steuergesetzes schuldig und verurteilte sie zu einem Monat Gefängnis (mit bedingtem Strafvollzug) sowie zu einer Busse von je Fr. 2'000.--.
Eine gegen dieses Urteil gerichtete Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Obergericht mit Entscheid vom 10. Dezember 1981 abgewiesen.
C.-
Gegen das Urteil des Obergerichtes führt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei wegen Verletzung des
Art. 251 StGB
aufzuheben und die Sache sei zur Bestrafung der Angeklagten auch wegen Urkundenfälschung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.-
Die beiden Beschwerdegegner beantragen die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
BGE 108 IV 27 S. 29 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig ist, ob der vorliegende Sachverhalt nicht nur nach den steuerrechtlichen Strafnormen, sondern auch als gemeinrechtliches Urkundendelikt gemäss
Art. 251 StGB
zu ahnden ist.
a) Gemäss ständiger, unangefochtener Rechtsprechung, werden Urkundendelikte, welche ausschliesslich einer Schädigung des Fiskus dienen (ungerechtfertigte Herabsetzung der Steuerschuld), vom Fiskalstrafrecht erfasst;
Art. 251 StGB
kommt nicht zur Anwendung, wenn der angestrebte unrechtmässige Vorteil ein Steuervorteil ist, Herstellung oder Gebrauch einer unwahren oder gefälschten Urkunde sich also ausschliesslich auf das Steuerveranlagungsverfahren zu beziehen (vgl.
BGE 106 IV 39
;
BGE 103 IV 39
;
BGE 101 IV 57
). Fiskalstrafrechtliche Urkundendelikte sind in diesem Sinne dem Anwendungsbereich von
Art. 251 StGB
entzogen und nach den Spezialnormen des Steuerrechts zu beurteilen.
Art. 251 StGB
kann auch subsidiär nicht herangezogen werden
BGE 81 IV 166
ff.).
b) Dieser Grundsatz der Anwendbarkeit fiskalstrafrechtlicher Spezialnormen auf steuerliche Urkundendelikte (unter Ausschluss von
Art. 251 StGB
) wurde durch die Abgrenzungsregel eingeschränkt: Massgebend dafür, ob ein rein fiskalrechtliches Urkundendelikt vorliege oder ob
Art. 251 StGB
zum Zuge komme, sei nicht die Absicht des Täters, sondern die objektive Beweisbestimmung der Urkunde. So heisst es etwa in
BGE 101 IV 57
, dort, wo "der Schrift von Gesetzes wegen oder ihrer Natur nach eine besondere Beweisbestimmung" zukomme, wie das bei der Buchhaltung der Fall sei, müsse auf diese objektive Bestimmung der Urkunde abgestellt werden, nicht auf das Motiv des Täters (vgl. auch
BGE 103 IV 39
/40, 177;
BGE 91 IV 191
;
BGE 84 IV 167
).
Aus dieser Argumentation ergibt sich für die Abgrenzung zwischen fiskalstrafrechtlichem Delikt und
Art. 251 StGB
die objektive Beweisbestimmung der in Frage stehenden Urkunde als Kriterium: Bei Schriftstücken, die nach ihrer Natur für das Steuerverfahren bestimmt sind (wie Lohnausweise vgl.
BGE 81 IV 166
ff.), kommen nur die Normen des Fiskalstrafrechts zum Zug. Geht es um Dokumente, welche objektiv auch für andere als steuerliche Zwecke verwendbar sind (wie Buchhaltung, vgl.
BGE 101 IV 57
,
BGE 91 IV 191
, Grundstückkauf-Vertrag, vgl.
BGE 84 IV 167
), so hat nach dieser Konzeption die Beurteilung gemäss
Art. 251 StGB
zu erfolgen.
BGE 108 IV 27 S. 30
Die Regel, wonach es zur Anwendung von
Art. 251 StGB
genügt, dass eine andere Verwendung des Dokumentes als zu Steuerzwecken objektiv möglich ist, wurde in einem neuern Entscheid vom Kassationshof eingeschränkt: Gemäss
BGE 106 IV 39
genügt die objektive Verwendungsmöglichkeit nicht (für die Anwendung von
Art. 251 StGB
), es ist erforderlich, dass der Täter zumindest die Möglichkeit eines nicht-fiskalischen Gebrauchs des Dokumentes erkannte und die Verwirklichung dieser Möglichkeit - auch wenn er sie nicht wollte - nach den Umständen nicht ausschliessen konnte.
2.
Die nicht in allen Teilen konsequente Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Frage der Konkurrenz zwischen Steuerstrafrecht und gemeinem Strafrecht im Bereich der Urkundendelikte wurde von GUIDO JENNY (in ZStR 97/1980 S. 121 ff.) einer kritischen Analyse unterworfen, wobei der Autor den letztgenannten Entscheid (
BGE 106 IV 39
) nicht mehr berücksichtigen konnte.
Jenny kommt zum Schluss, dass die Frage, ob die Urkunden-Tatbestände des Strafgesetzbuches oder ausschliesslich die besonderen Steuerstrafbestimmungen des Fiskalstrafrechts anzuwenden seien, nicht auf der Basis der objektiven Beweisbestimmung der jeweiligen Urkunde gelöst werden sollte. Er weist mit Recht darauf hin, dass objektiv jede Urkunde auch ausserhalb des Steuerrechtsverhältnisses bedeutsam werden kann, selbst wenn sie in erster Linie zu Steuerzwecken erstellt wurde (so etwa der Lohnausweis bei Darlehensgesuchen oder Verhandlungen über einen Mietvertrag). Nach der Auffassung Jennys muss der vom Täter verfolgte Zweck dafür massgebend sein, ob das Fiskalstrafrecht zum Zuge kommt oder
Art. 251 StGB
.
SCHULTZ hat bei der Erörterung der Rechtsprechung des Jahres 1980 (in ZBJV 118 1982 S. 28/29) die Einführung eines subjektiven Erfordernisses in
BGE 106 IV 38
begrüsst, gleichzeitig aber unter Erwähnung der Abhandlung von Jenny auf die Problematik der bundesgerichtlichen Abgrenzung hingewiesen, welche zu einer neuen Schuldform - Wissensschuld als Wissen um die Möglichkeit der Verwendung der Urkunde für nicht-fiskalische Zwecke - führen könnte.
3.
Aufgrund der Schwierigkeiten, die in der Praxis aufgetreten sind und aufgrund der kritischen Äusserungen in der Doktrin drängt sich eine neue Prüfung der Abgrenzungsfrage auf.
a) Die bisherige Rechtsprechung war im Ergebnis bestrebt, den Bereich des
Art. 251 StGB
gegenüber analogen fiskalstrafrechtlichen
BGE 108 IV 27 S. 31
Spezialtatbeständen nach dem primären, objektiven Verwendungszweck der in Frage stehenden Urkunden abzugrenzen. Dem Fiskalstrafrecht blieben demnach jene Delikte vorbehalten, die sich auf "Steuer-Urkunden" beziehen, welche nach ihrer Natur ausschliesslich (oder wenigstens in erster Linie) zur Verwendung im Steuerverfahren bestimmt sind. Alle andern Urkundendelikte, die zu Erlangung eines unrechtmässigen Steuervorteils begangen werden, sich aber auf Schriftstücke beziehen, welche objektiv auch zur nicht-fiskalischen Verwendung bestimmt sind, wären stets gemäss
Art. 251 StGB
zu ahnden.
b) Auch wenn diese Konkurrenzregel im Sinne von
BGE 106 IV 39
durch ein subjektives Erfordernis (Wissen des Täters um die objektive Möglichkeit nicht-fiskalischer Verwendung) ergänzt wird, hält der Leitgedanke der bisherigen Praxis einer grundsätzlichen Überprüfung nicht stand.
Hat der Bundesgesetzgeber nach Doktrin und Praxis unbestrittenermassen die Täuschung des Fiskus mittels unwahrer Urkunden (zur Erlangung eines unrechtmässigen Steuervorteils) vom gemeinrechtlichen Urkundenstrafrecht (
Art. 251 StGB
) ausgenommen und der Spezialgesetzgebung überlassen, dann besteht kein stichhaltiger Grund, zu Steuerzwecken begangene Urkundendelikte doch wieder dem
Art. 251 StGB
zu unterwerfen, sobald das in Frage stehende Dokument an sich objektiv auch zu Beweiszwecken im nicht-fiskalischen Bereich Verwendung finden könnte. Auch wenn der Täter diese objektive Verwendbarkeit der Urkunde zu andern als steuerlichen Zwecken erkennen musste, so liegt darin kein Grund, um ein fiskalisches Urkundendelikt wegen dieser objektiven Möglichkeit einer nicht-fiskalischen Verwendung der zu Steuerzwecken gefälschten Dokumente gemäss
Art. 251 StGB
zu ahnden (sei es ausschliesslich oder - wie dies im vorliegenden Fall beantragt wird - in Konkurrenz zum Steuerdelikt).
Es erscheint folgerichtig, jede konkrete Handlung je nach dem Vorsatz des Täters als Fiskalstraftat oder gemeinrechtliches Urkundendelikt zu qualifizieren. Die objektive Möglichkeit, dass ein in concreto für steuerliche Zwecke verwendetes Dokument auch in nicht-fiskalischen Zusammenhängen als Beweismittel zu gebrauchen wäre, hebt den Charakter des (von
Art. 251 StGB
ausgenommenen) Fiskaldeliktes nicht auf und vermag eine grundlegend andere strafrechtliche Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Lässt sich hingegen nachweisen, dass der Täter mit seiner Fälschung oder Falschbeurkundung nicht nur einen steuerlichen Vorteil erstrebte,
BGE 108 IV 27 S. 32
sondern auch eine Verwendung des Dokumentes im nicht-fiskalischen Bereich beabsichtigte oder zumindest in Kauf nahm, so liegt Konkurrenz zwischen Steuerdelikt und gemeinrechtlichem Urkundendelikt vor; die Voraussetzungen beider Tatbestände sind dann in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt. Wer ein Falsum herstellt und einem Dritten zur freien Verwendung überlässt, kann gegen die Bestrafung gemäss
Art. 251 StGB
nicht den Einwand erheben, er habe angenommen, die falsche Urkunde werde nur im Steuerverfahren eingesetzt. Bei erkennbarer Verwendbarkeit für nicht-fiskalische Zwecke nimmt der Täter, der das Dokument einem Dritten überlässt, zumindest in Kauf, dass die Urkunde zur Erlangung eines nicht-fiskalischen Vorteils Verwendung findet.
4.
Die Beschwerdegegner X. und Y. haben die Buchhaltung ihres Malergeschäftes unrichtig (unvollständig) geführt, um weniger Steuern zahlen zu müssen. Dieser Vorsatz ist unbestritten und muss nach den oben entwickelten Richtlinien die Ahndung der Verfehlungen nach Steuerstrafrecht zur Folge haben. Was die Täter wollten, sind Vorteile bei der Besteuerung. Schuld und Unrechtsgehalt der zu beurteilenden Handlungen werden durch den Straftatbestand des Fiskaldeliktes (Steuerbetrug) voll erfasst. Dass die Buchhaltung an sich auch im nicht-fiskalischen Bereich (unter den Teilhabern des Geschäftes, gegenüber Dritten) Beweisfunktion hat, rechtfertigt eine Bestrafung der in Frage stehenden Urkundendelikte gemäss
Art. 251 StGB
nicht; denn es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Beschwerdegegner mit dem inkriminierten Vorgehen andere als fiskalische Ziele verfolgt oder eventualvorsätzlich die täuschende Verwendung der unrichtigen Buchhaltung in andern als steuerlichen Belangen zumindest in Kauf genommen hätten. Muss aber davon ausgegangen werden, dass der Vorsatz der Beschwerdegegner sich in der Erreichung unrechtmässiger Steuervorteile erschöpfte, so bleibt für die Anwendung von
Art. 251 StGB
kein Raum. | de |
57eecbbf-e828-484d-a2b6-c9e23eed902d | Sachverhalt
ab Seite 96
BGE 118 Ia 95 S. 96
M. F. steht im Verdacht, sie sei Mitglied eines Drogenhändlerringes, welcher grosse Mengen von Kokain von Brasilien nach Europa schmuggelte. Die Bezirksanwaltschaft Zürich leitete gegen M. F. ein Strafverfahren wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz ein. Am 25. Juni 1989 wurde sie durch Bezirksanwalt B. in Untersuchungshaft versetzt. Am 9. September 1991 reichte die Bezirksanwaltschaft Zürich durch denselben Bezirksanwalt B. die Anklageschrift gegen M. F. beim Bezirksgericht Zürich ein. Mit Beschluss vom 23. Oktober 1991 liess die 4. Abteilung des Bezirksgerichtes Zürich die Anklage definitiv nicht zu und schrieb den Prozess als erledigt ab. Der Entscheid wurde im wesentlichen damit begründet, dass die Anklage den Anforderungen von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
nicht genüge, weil der sie vertretende Bezirksanwalt gegenüber M. F. schon die Untersuchungshaft angeordnet habe. Gegen diesen Beschluss rekurrierte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich an das Zürcher Obergericht. In Gutheissung des Rekurses entschied die I. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich mit Beschluss vom 29. November 1991 materiell wie folgt:
"Die von der Bezirksanwaltschaft Zürich am 9. September 1991 beim
Bezirksgericht Zürich (4. Abteilung) gegen M. F. erhobene Anklage wird
zugelassen."
Gegen den Entscheid des Obergerichtes des Kantons Zürich gelangte M. F. mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Sie rügt insbesondere eine Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
und beantragt unter anderem, es sei "die definitive Nichtzulassung der Anklage zu beschliessen". Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Beschwerdeführerin macht zur Hauptsache geltend, die im angefochtenen Entscheid angeordnete Anklagezulassung verletze
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
, da die Anklage durch den gleichen Bezirksanwalt
BGE 118 Ia 95 S. 97
erhoben worden sei, der im Juni 1989 schon Untersuchungshaft gegen sie angeordnet habe. Dieser Mangel sei unheilbar, so dass die Anklage definitiv nicht zugelassen werden könne.
a) In seinem Urteil vom 23. Oktober 1990 i.S. Jutta Huber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, es könnten Zweifel entstehen an der Unparteilichkeit des Gerichtsbeamten, welcher gemäss
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
die Haft anordnet, wenn dieser befugt ist, im nachfolgenden Strafverfahren als Vertreter der Anklagebehörde einzugreifen ("if he is entitled to intervene in the subsequent criminal proceedings as a representative of the prosecuting authority"; "s'il peut intervenir dans la procédure pénale ultérieure en qualité de partie poursuivante"). Da die Haft durch den gleichen zürcherischen Bezirksanwalt angeordnet worden war, welcher 14 Monate später die Anklageschrift verfasste ("in drawing up the indictment"; "en dressant l'acte d'accusation"), stellte der Gerichtshof eine Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
fest (Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 188, Ziff. 41, 43 = EuGRZ 17 (1990) 502 ff.).
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
regelt insbesondere die Anforderungen an die Behörde, welche die Haft anordnet. Es muss sich dabei um einen Richter oder einen anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten ("un autre magistrat habilité par la loi à exercer des fonctions judiciaires") handeln. Im hier zu beurteilenden Fall ist indessen nicht die Anordnung der Haft angefochten, sondern die Anklagezulassung nach zürcherischem Prozessrecht. Die Haftanordnungsverfügung ist rechtskräftig und bildet nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens. In diesem Verfahren kann sich daher grundsätzlich nur die Frage stellen, ob die Anklagezulassung konventionswidrig erscheint. Wie der Europäische Gerichtshof ausdrücklich festgehalten hat, wurde im Urteil Huber allein die Streitfrage beurteilt, ob der damalige Bezirksanwalt im Moment, als er die Haft anordnete, somit in seiner Funktion als Haftrichter, unparteilich erschien oder nicht. ("La Cour note d'emblée que seule prête à controverse l'impartialité du procureur de district de Zurich lors de la délivrance du mandat d'arrêt", Série A, vol. 188, Ziff. 40). Im vorliegenden Fall stellt sich demgegenüber die Frage, ob die Angeschuldigte nach rechtskräftiger Haftanordnung ex post geltend machen kann, die Anklagezulassung bzw. Anklagevertretung durch einen Untersuchungsbeamten, welcher früher die Haft angeordnet hat, verstosse gegen
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
.
BGE 118 Ia 95 S. 98
b) Den kantonalen Instanzen ist insoweit beizupflichten, als
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
keinen Anspruch auf eine qualifizierte Unparteilichkeit der Anklagebehörde im Anklagezulassungsverfahren bzw. bei der Anklagevertretung vor Gericht einräumt. Der Anspruch auf einen Beamten mit "richterlichen Funktionen" bezieht sich nach dem klaren Wortlaut von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
lediglich auf den Haftanordnungsrichter. Die haftanordnende Behörde muss im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtes und der Strassburger Organe unbefangen und mit einer gewissen richterlichen Unabhängigkeit ausgestattet sein (
BGE 115 Ia 59
E. b;
BGE 112 Ia 144
E. 2b). Keine analoge Garantie besteht dagegen für die Strafverfolgungsbehörde, welche Anklagefunktionen ausübt (Ausarbeitung und Einreichung der Anklageschrift, Anklagevertretung vor Gericht usw.). Die EMRK räumt dem Angeschuldigten ebensowenig wie
Art. 58 BV
einen Anspruch auf einen Anklagevertreter mit "richterlicher Unabhängigkeit" ein (vgl.
BGE 112 Ia 146
f. E. c). Für die Unparteilichkeit nichtrichterlicher Behördevertreter gelten vielmehr die weniger weitreichenden Anforderungen von
Art. 4 BV
(
BGE 112 Ia 147
E. d).
c) Im vorliegenden Fall ist nun aber folgender Umstand zu berücksichtigen: Wie die kantonalen Instanzen selber einräumen, hätte Bezirksanwalt B. die Haft nicht anordnen dürfen, da er später unbestrittenermassen Anklagefunktionen ausgeübt hat. Rückblickend war die Anordnung der Haft im Lichte der neueren Strassburger Praxis mit
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
nicht vereinbar. Im Zeitpunkt der Haftanordnung im Juni 1989 konnte die Beschwerdeführerin jedoch die entsprechende Rüge nicht erheben, da sie damals gar nicht wissen konnte, dass der haftanordnende Bezirksanwalt im September 1991 auch die Anklage erheben würde. Unter diesen Umständen würden aber die Garantien von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
vollständig unterlaufen werden, sofern die entsprechende Rüge in einem späteren Verfahrensstadium, nach Bekanntwerden der Verletzung, nicht mehr erhoben werden könnte.
Im angefochtenen Entscheid wird demgegenüber die Auffassung vertreten, eine konventionswidrige Haftanordnung liesse sich im Stadium der Anklagezulassung nicht mehr korrigieren. Dies hätte indessen zur Folge, dass der Grundrechtsanspruch von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
dadurch faktisch ausser Kraft gesetzt werden könnte, dass ihn die Behörden schlichtweg missachten. In dem den Parteien bekannten Urteil vom 10. September 1991 i.S. M. S. (
BGE 117 Ia 199
ff.) hat das Bundesgericht in einem ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass
BGE 118 Ia 95 S. 99
die Rüge der Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
auch noch nach Rechtskraft der Haftanordnung, wenn der Angeschuldigte vom Mangel Kenntnis erhalten hat, erhoben werden könne. Andernfalls liesse sich die von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
geforderte Trennung von haftanordnendem Richter und Anklagevertreter gar nicht durchsetzen (
BGE 117 Ia 202
). Im dort zu beurteilenden Fall war die Anklage durch einen ausserordentlichen Staatsanwalt erhoben worden, der zuvor in der Funktion als Bezirksanwalt Untersuchungshaft gegen den Angeschuldigten angeordnet hatte. Obwohl der haftanordnende Bezirksanwalt nicht mit Sicherheit voraussehen konnte, dass er in der Folge zum ausserordentlichen Staatsanwalt gewählt werden und im gleichen Fall Anklage erheben würde, stellte das Bundesgericht ausdrücklich eine Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
fest. Das Bundesgericht präzisierte zwar, dass die Konventionswidrigkeit "nicht unmittelbar" in der Anklagetätigkeit des betreffenden Beamten lag und die konventionswidrige Haftanordnung nicht mehr anfechtbar war. Es erachtete die Rüge der Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
aber auch noch im späteren Verfahrensstadium als begründet (
BGE 117 Ia 201
E. 4c).
d) Auch im vorliegenden Fall verlangt die Durchsetzung der Konventionsgarantien und die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes, dass die Rüge der Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
noch im Stadium des Anklagezulassungsverfahrens erhoben werden kann. Die Tatsache, dass im Kanton Zürich mit Kreisschreiben der Verwaltungskommission des Obergerichtes sowie der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom 17. Februar 1989 ein richterliches Haftprüfungsverfahren provisorisch eingeführt worden ist, ändert an dieser Betrachtungsweise nichts. Mit der Einführung des Haftrichters wurde den Anforderungen von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
Rechnung getragen. Unabhängig davon verlangt
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
im dargelegten Sinne aber auch noch die wirksame Trennung von haftanordnendem Richter und Anklagebehörden. Das erwähnte Urteil des Europäischen Gerichtshofes i.S. Huber datiert vom 23. Oktober 1990. Es wurde noch im gleichen Jahr in der EuGRZ veröffentlicht. Die staatsrechtliche Beschwerde i.S. M. S. wurde Anfang Juni 1991 eingereicht und Mitte Juni 1991 den zuständigen zürcherischen Behörden förmlich mitgeteilt. Hinzuweisen ist ausserdem auf ein einschlägiges publiziertes Urteil des Zürcher Kassationsgerichtes Nr. 89/259 vom 3. Dezember 1990 i.S. B., welches der neueren Praxis zu
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
Rechnung trägt. Das Urteil wurde veröffentlicht in ZR 89/1990 Nr. 97. Bei dieser Sachlage fragt es
BGE 118 Ia 95 S. 100
sich, weshalb im vorliegenden Fall nicht vorsorglich ein anderer Bezirksanwalt mit der Anklageerhebung betraut worden ist.
e) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass vorliegend
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
verletzt worden ist, indem der gleiche Bezirksanwalt am 25. Juni 1989 die Untersuchungshaft angeordnet hat, der am 9. September 1991 auch die Anklage beim erkennenden Gericht verfasste. Es fragt sich, welche prozessuale Rechtsfolge im vorliegenden Fall an die Konventionsverletzung zu knüpfen ist.
Die Beschwerdeführerin befindet sich bereits seit über zweieinhalb Jahren in Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Gemäss ihren eigenen Ausführungen drängt sie auf eine Beschleunigung des Verfahrens, bzw. sie beklagt sich über eine angeblich bereits überlange Haftdauer. Die Beschwerdeführerin räumt selber ein, dass sich bei einer neuen Anklageerhebung weitere zeitliche Verzögerungen ergeben müssten. Eine neue Anklageerhebung durch einen anderen Anklagevertreter liegt daher im vorliegenden Fall nicht im Interesse der Beschwerdeführerin. Es ist weiter zu beachten, dass die Beschwerdeführerin nicht selbständig gegen die Anklageerhebung vorgegangen ist. Anders als im erwähnten Beschwerdefall i.S. M. S. hat die Beschwerdeführerin nicht von sich aus ein sofortiges Ausstandsbegehren gegen den Verfasser der Anklageschrift erhoben. Nach eigenen Angaben hat sie damit vielmehr zugewartet bis Mitte November 1991.
Es kann aber auch nicht Rechtsfolge der festgestellten Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
sein, dass die Anklage definitiv nicht zugelassen wird, wie dies laut Beschwerdeanträgen dem eigentlichen Ziel der Beschwerdeführerin entspricht. Wie dargelegt, gibt
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
dem Angeschuldigten keinen Anspruch auf einen mit "richterlicher Unabhängigkeit" ausgestatteten Anklagevertreter. Eine Korrektur der festgestellten Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
müsste sich somit in einer neuen Anklageerhebung erschöpfen. Die damit verbundene Verzögerung des Verfahrens widerspricht aber nicht nur den Interessen der Beschwerdeführerin, sie rechtfertigt sich auch aus objektiven Gründen nicht. Die Beschwerdeführerin legt nämlich nicht dar, inwiefern sich der festgestellte Fehler, der das Untersuchungsverfahren betraf, in sachlichen Mängeln der Anklage ausgewirkt haben sollte. Solche sind auch nicht aus den Akten ersichtlich. Da die Anklageerhebung selber nicht fehlerhaft ist, gebietet sich die Aufhebung des angefochtenen Entscheides im vorliegenden Fall nicht. Anders als im zitierten Urteil des Bundesgerichtes i.S. M. S. ist hier auch nicht die Aufhebung des angefochtenen Entscheides wegen selbständigen formellen Verfahrensfehlern, etwa wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs, geboten (vgl. unveröffentlichte E. 3 des Urteils vom 10. September 1991). Aus diesen Gründen führt die festgestellte Grundrechtsverletzung im vorliegenden konkreten Fall nicht zur Notwendigkeit einer neuen Anklageerhebung und damit auch nicht zur Aufhebung des angefochtenen
BGE 118 Ia 95 S. 101
Entscheides. Ob und inwieweit die Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
zu Schadenersatzansprüchen im Sinne von
Art. 5 Ziff. 5 EMRK
und
Art. 7 KV/ZH
führen könnte, hat das Bundesgericht hier nicht zu beurteilen.
f) Da den Anträgen der Beschwerdeführerin nicht stattgegeben werden kann, ist die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne der Erwägungen abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. ... | de |
af3d334a-f31e-4801-a032-ac4b7d5389b6 | Sachverhalt
ab Seite 10
BGE 143 V 9 S. 10
A.
B. mit Wohnsitz in der Gemeinde A., Kanton Schwyz, bezieht eine Witwenrente der AHV, ihre Kinder C., D. und E. eine Waisenrente. Nach einem Klinikaufenthalt trat B. ins Wohnheim F. ein. Ihre Kinder waren fremdplatziert, D. und E. bei einer Pflegefamilie, C. im Kinderheim G. im Kanton Zürich, bis sie zusammen im Kinder- und Jugendheim H. im Kanton Zürich aufgenommen wurden. Mit Verfügungen vom 25. August und 16. September 2015 sprach die Ausgleichskasse Schwyz B. ab 1. August 2015, ihren Kindern E. und C. ab 1. Juni 2015 bzw. D. ab 1. Juli 2015 Ergänzungsleistungen (EL) zu. Der Anspruchsberechnung hatte sie u.a. bei den Ausgaben eine Heimtaxe von jeweils Fr. 111.- (bei der Mutter ab 1. August, bei D. und E. ab 1. Juli, bei C. ab 1. Juni) zugrunde gelegt. Dagegen reichte die Gemeinde A. Einsprache ein, welche die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 28. Januar 2016 abwies.
B. Die dagegen erhobene Beschwerde der Gemeinde A. hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 17. Mai 2016 teilweise gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 28. Januar 2016 im Sinne der Erwägungen teilweise auf und wies die Sache zur Neubeurteilung (Kosten Pflegefamilie) an die Ausgleichskasse zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Politische Gemeinde A., der Entscheid vom 17. Mai 2016 sei aufzuheben, soweit damit die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 28. Januar 2016 abgewiesen und ihr nur eine reduzierte Parteientschädigung zugesprochen worden sei. Die Sache sei zur Neuberechnung der Ergänzungsleistungen für B. sowie für deren
BGE 143 V 9 S. 11
Kinder C., D. und E. unter Anrechnung der vollen Tagestaxen des Wohnheims F. bzw. des Kinderheims G. und des Kinder- und Jugendheims H. an die Ausgleichskasse zurückzuweisen. Die Sache sei zudem an die Vorinstanz zur Zusprechung einer vollen Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren zurückzuweisen.
Die Ausgleichskasse Schwyz, das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz hat die Beschwerdelegitimation der am Recht stehenden Gemeinde nach
Art. 59 ATSG
(SR 830.1) gestützt auf
Art. 20 Abs. 1 ELV
(SR 831.301) i.V.m.
Art. 67 Abs. 1 AHVV
(SR 831.101; unter Hinweis auf
BGE 138 V 292
E. 4.3 S. 297) sowie
Art. 20 Abs. 1 ATSG
und § 6 des schwyzerischen Gesetzes vom 18. Mai 1983 über die Sozialhilfe (SRSZ 380.100) bejaht. Danach wird die Sozialhilfe primär von den Gemeinden geleistet (Abs. 1). Zuständig ist grundsätzlich die Wohnsitzgemeinde der hilfesuchenden Person (Abs. 2). Die vorinstanzlichen Erwägungen geben zu keinen Weiterungen Anlass.
2.
Aufgrund der Rechtsbegehren (und deren Begründung) sind Streitgegenstand der EL-Anspruch von B. ab 1. August 2015 sowie der jeweils gesondert berechnete EL-Anspruch ihrer Kinder C. ab 1. Juni 2015 bzw. D. und E. ab 1. Juli 2015 (
Art. 4 Abs. 1 lit. b ELV
i.V.m.
Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG
[SR 831.30]). Dabei stellt sich einzig die Frage, ob in der Berechnung die tatsächlichen Heimtaxen (Wohnheim F. [Fr. 263.-], Kinderheim G. [Fr. 592.-], Kinder- und Jugendheim H. [Fr. 321.-]) als Ausgaben nach
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
anzuerkennen sind, wie die Beschwerde führende Gemeinde beantragt, und nicht bloss Fr. 111.- im Tag, wie die Vorinstanz erkannt hat.
(...)
4.
Bei Personen, die dauernd oder längere Zeit in einem Heim oder Spital leben, werden u.a. die Tagestaxe als Ausgabe anerkannt; die Kantone können die Kosten begrenzen, die wegen des Aufenthaltes in einem Heim oder Spital berücksichtigt werden; sie sorgen dafür, dass durch den Aufenthalt in einem anerkannten Pflegeheim in der
BGE 143 V 9 S. 12
Regel keine Sozialhilfe-Abhängigkeit begründet wird (
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
). Der seit 1. Januar 2011 in Kraft stehende letzte Teilsatz wurde im Rahmen der Neuordnung der Pflegefinanzierung gemäss Bundesgesetz vom 13. Juni 2008 (AS 2009 3517 ff.; vgl. zum Zweck
BGE 140 V 563
E. 2.2 S. 565 f.) ins Gesetz eingefügt. Als Heim im Sinne dieser Bestimmung gilt jede Einrichtung, die entweder von einem Kanton als Heim anerkannt wird oder über eine kantonale Betriebsbewilligung verfügt (
Art. 25a Abs. 1 ELV
i.V.m.
Art. 9 Abs. 5 lit. h ELG
;
BGE 141 V 255
E. 2.3 S. 260;
BGE 139 V 358
).
§ 5 des schwyzerischen Gesetzes vom 28. März 2007 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (SRSZ 362.200; nachfolgend: ELG/SZ) regelt die Finanzierung der Aufenthalts- und Pflegekosten in Alters- und Pflegeheimen oder in heimähnlichen Institutionen. Danach gilt Folgendes: Als anrechenbare Tagestaxen werden bei nicht pflegebedürftigen Personen höchstens 210 % und bei pflegebedürftigen Personen höchstens 600 % des auf den Tag umgerechneten Betrages für den allgemeinen Lebensbedarf für Alleinstehende berücksichtigt (Abs. 1). Der Regierungsrat kann im Rahmen von Abs. 1 für Grundleistungen und Pflegeaufwand unterschiedliche Begrenzungen festlegen (Abs. 2). Er kann generell oder für bestimmte Pflegeangebote von Abs. 1 abweichende Tagestaxen festlegen, um zu vermeiden, dass pflegebedürftige Personen von der Sozialhilfe abhängig werden (Abs. 3). Die Absätze 2 und 3 wurden im Zuge der Neuordnung der Pflegefinanzierung neu gefasst (vgl. Kantonsratsbeschluss vom 20. Mai 2010 [KRB Neuordnung Pflegefinanzierung; GS 22-102a]).
5.
Die Vorinstanz ist gestützt auf den Wortlaut von
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
und die Entstehungsgeschichte des letzten Teilsatzes dieser Bestimmung zum Ergebnis gelangt, die Einschränkung der Kantone bei der Festsetzung der Tagestaxe, dass durch den Aufenthalt in einem anerkannten Pflegeheim in der Regel keine Sozialhilfe-Abhängigkeit begründet wird, gelte lediglich für Pflegeheime nach
Art. 39 Abs. 3 KVG
. Von Bundesrechts wegen seien die Kantone nicht verpflichtet, auch bei einem Aufenthalt in anderen Einrichtungen im Sinne von
Art. 25a Abs. 1 ELV
die Taxen so festzusetzen, dass die dort lebenden EL-Bezüger - in der Regel - nicht Sozialhilfe beantragen müssten. Bei den in Frage stehenden ausserkantonalen Wohnheimen F., Kinderheim G. sowie Kinder- und Jugendheim H. (E. 2 hiervor) handle es sich unbestrittenermassen nicht um vom
BGE 143 V 9 S. 13
Kanton Schwyz anerkannte Pflegeheime im Sinne von Art. 10 Abs. 2 lit. a letzter Teilsatz ELG. Daraus folgt, was die Vorinstanz nicht ausdrücklich gesagt hat, dass nach
§ 5 Abs. 1 ELG
/SZ die anrechenbare Tagestaxe (höchstens) 210 % des auf den Tag umgerechneten Betrages für den allgemeinen Lebensbedarf für Alleinstehende (Fr. 19'290.-; Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 ELG) beträgt, somit Fr. 111.-.
6.
6.1
Die Beschwerdeführerin bestreitet - zu Recht - nicht die vorinstanzliche Auslegung von Art. 10 Abs. 2 lit. a letzter Teilsatz ELG. Es kann an dieser Stelle ohne Weiteres auf
BGE 138 II 191
E. 5.5.1-5.5.4 S. 208 ff. und die dortigen Hinweise auf die parlamentarische Debatte verwiesen werden. Wie sie indessen richtig vorbringt, wurde in den Urteilen 9C_51/2013 vom 26. Juni 2013 E. 5 (in: SVR 2013 EL Nr. 7 S. 25) und 9C_334/2014 vom 10. November 2014 E. 4.2.1 in fine und E. 4.3.1, die nicht ein anerkanntes Pflegeheim nach
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
und
Art. 39 Abs. 3 KVG
betrafen, in allgemeiner Form gesagt, dass im Heim wohnende EL-Bezüger nicht als Folge der Art und Weise der Finanzierung der Kosten durch die Kantone sollten Sozialhilfe beantragen müssen. Im Urteil 9C_51/2013 wurde u.a. auf die Botschaft vom 7. September 2005 zur Ausführungsgesetzgebung zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA; BBl 2005 6029 ff.) hingewiesen, wo zum neu gefassten Art. 2 E-ELG ausgeführt wurde, der Charakter der EL solle gegenüber heute nicht verändert werden. Sie dienten der Deckung des Existenzbedarfs. "Damit soll nach Möglichkeit verhindert werden, dass noch Sozialhilfe beansprucht werden muss" (S. 6226). Daraus folgt nicht zwingend, die den Kantonen für die Festsetzung der Tagestaxe nach
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
auferlegte Schranke der Verhinderung von Sozialhilfe-Abhängigkeit gelte unterschiedslos für alle nach
Art. 25a Abs. 1 ELV
von ihnen anerkannten Heime.
Die Behandlung der Vorlage im Parlament zeigt Folgendes: Im Ständerat als Erstrat führte der Kommissionssprecher aus, nach dem neu geltenden Grundsatz sollten Personen nicht gleichzeitig auf Sozialhilfe und EL angewiesen sein. Weiter wies er auf das parallel laufende Gesetzgebungsverfahren betreffend die Pflegefinanzierung hin, welches Auswirkungen auf die endgültige Ausgestaltung der NFA haben werde (AB 2006 S 210 [Votum Schiesser]). Im Nationalrat wurde die Befürchtung geäussert, durch die Möglichkeit der
BGE 143 V 9 S. 14
Kantone, die Tagestaxe bei Aufenthalt in einem Heim oder in einem Spital zu begrenzen, könnten die betreffenden Personen an die Sozialhilfe abgeschoben werden. Um das zu verhindern, stellte eine Minderheit den Antrag, einen neuen Satz folgenden Inhalts einzufügen: "Die Kantone beteiligen sich so weit an den Kosten des Aufenthaltes in einer anerkannten Institution, dass keine Person wegen dieses Aufenthaltes Sozialhilfe benötigt" (AB 2006 N 1248 f. [Votum Goll]). In der anschliessenden Diskussion führte Bundesrat Merz u.a. aus, es bestehe keine Verfassungsgrundlage für eine solche Regelung, da sie einen unnötigen Eingriff in die Kompetenzen der Kantone im alters- und sozialpolitischen Bereich darstelle. Der Minderheitsantrag wurde abgelehnt (AB 2006 N 1250).
Die Materialien (zu deren Bedeutung für die Gesetzesauslegung:
BGE 141 V 191
E. 3 S. 194;
BGE 140 III 206
E. 3.5.4 S. 214) lassen somit nur den einen Schluss zu, dass
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
die Kantone nicht verpflichtet, die Tagestaxen auch bei anderen Einrichtungen als anerkannten Pflegeheimen nach
Art. 39 Abs. 3 KVG
so festzusetzen, dass die dort lebenden EL-Bezüger - in der Regel - nicht Sozialhilfe beantragen müssen. Umgekehrt stellt es keinen Verstoss gegen
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
dar, wenn die Taxen für Heime und Spitäler, die nicht Pflegeheime sind, nicht existenzsichernd im EL-rechtlichen Sinne sind, d.h. wenn "die Beträge für den allgemeinen Lebensbedarf nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 1, für den höchstmöglichen Mietzins nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 1 und für die anerkannten Ausgaben nach Artikel 10 Absatz 3 durch die anrechenbaren Einnahmen nicht gedeckt sind" (
Art. 13 Abs. 2 ELG
;
BGE 138 II 191
E. 5.4.1 und 5.4.2 S. 206 f.; Urteil 9C_334/2014 vom 10. November 2014 E. 4.2.2; BBl 2005 6224; vgl. auch AB 2006 S 210), sodass sich allenfalls der Gang zur Sozialhilfe als unumgänglich erweist.
6.2
In der Beschwerde wird sodann vorgebracht, dass Ergänzungsleistungen ausgerichtet würden, um den grundsätzlich Anspruchsberechtigten das Existenzminimum zu gewährleisten, "ohne dass die Versicherten Sozialhilfe beziehen müssen" (
BGE 130 V 185
E. 4.3.3 S. 188;
BGE 127 V 368
E. 5a S. 369; mit Hinweis auf Art. 112 Abs. 2 lit. b bzw. Abs. 6 i.V.m.
Art. 196 Ziff. 10 BV
). Diese Rechtsprechung mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die Sozialhilfe geht auf die Zeit vor Inkrafttreten der EL-Revision am 1. Januar 2008 gemäss Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 (AS 2007 5129 ff.) zurück (vgl.
BGE 143 V 9 S. 15
aber Urteil 9C_787/2011 vom 20. April 2012 E. 4.2, in: SVR 2012 EL Nr. 15 S. 48, betreffend einen Sachverhalt nach dem 1. Januar 2008, sowie URS MÜLLER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum ELG, 3. Aufl. 2015, S. 86 f. Rz. 208). Auf denselben Zeitpunkt wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Ergänzungsleistungen geändert, indem
Art. 112 Abs. 6 BV
aufgehoben und die Übergangsbestimmung des
Art. 196 Ziff. 10 BV
ins ordentliche Recht (
Art. 112a BV
) überführt wurde. In der Botschaft vom 14. November 2001 zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA; BBl 2001 2291 ff.) wurde u.a. ausgeführt, der Bund werde vorwiegend für die EL, also für die Existenzsicherung, zuständig, während die Kantone nebst einer Beteiligung daran vollständig für diejenigen Bereiche der EL die Verantwortung übernähmen, welche in einem Zusammenhang mit Heim- oder Gesundheitskosten stünden. "Trotz dieser Entflechtung wird der Charakter der EL gegenüber heute nicht verändert. Es werden damit auch nicht etwa Sozialhilfetatbestände geschaffen, wie überhaupt EL und Sozialhilfe nicht vermengt werden dürfen." Das in
Art. 112 BV
genannte, aber nicht in allen Fällen erreichte Verfassungsziel einer angemessenen Deckung des Existenzbedarfs, d.h. der Existenzsicherungsteil der EL, soll Hauptaufgabe des Bundes werden. Dabei gehe es darum sicherzustellen, "dass zu Hause und im Heim lebende Personen hinsichtlich des Grundbedarfs gleich behandelt werden". Darüber hinaus hätten die Kantone die Heimkosten alleine zu übernehmen, wobei sie "zwischen Subjekthilfe (individuelle, d.h. personenbezogene Hilfe) und Objekthilfe (Subventionierung von Institutionen) frei wählen" könnten (BBl 2001 2436 f. Ziff. 6.1.5.3.3-6.1.5.3.3.2).
Es kann offenbleiben, ob der Verfassungsgeber das Ziel der Ergänzungsleistungen, zusammen mit den Leistungen der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung den Existenzbedarf zu decken (
Art. 112a Abs. 1 BV
), so verstanden haben wollte, dass die grundsätzlich Anspruchsberechtigten nicht "Sozialhilfe beziehen müssen", wie die (frühere) Rechtsprechung festgehalten hat. Die vom Gesetzgeber mit
Art. 10 Abs. 2 lit. a ELG
getroffene Regelung, wonach bei in Heimen oder Spitälern lebenden Personen die Schranke der Verhinderung von Sozialhilfe-Abhängigkeit lediglich für vom Kanton anerkannte Pflegeheime nach
Art. 39 Abs. 3 KVG
gilt, hingegen jedenfalls nicht für andere nach kantonalem Recht (i.V.m.
Art. 25a Abs. 1 ELV
) anerkannte Einrichtungen (vgl.
BGE 138 II 191
E. 5.5.4
BGE 143 V 9 S. 16
S. 209 ff.), ist für das Bundesgericht (und die anderen rechtsanwendenden Behörden) massgebend (
Art. 190 BV
) und somit anzuwenden (
BGE 137 V 351
E. 4 S. 356;
BGE 131 II 217
E. 2.3 S. 221). Ebenfalls ist hinzunehmen, dass eine die tatsächlichen Heimkosten (bei Weitem) nicht deckende Tagestaxe dazu führen kann, dass kein Anspruch auf eine jährliche Ergänzungsleistung (
Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG
) besteht
und
als Folge davon grundsätzlich auch nicht auf Vergütung der Krankheits- und Behinderungskosten (Art. 3 Abs. 1 lit. b und Art. 14 Abs. 1 Ingress und Abs. 6 ELG; Urteil 9C_455/2016 vom 21. September 2016 E. 4.3.3).
6.3
Weiter beruft sich die Beschwerdeführerin auf
Art. 7 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG; SR 831.26)
. Danach beteiligen sich die Kantone soweit an den Kosten des Aufenthalts in einer anerkannten Institution (welche gemäss Art. 4 Abs. 1 innerhalb oder ausserhalb seines Gebietes stehen kann), dass keine invalide Person wegen dieses Aufenthaltes Sozialhilfe benötigt (Abs. 1). Findet eine invalide Person keinen Platz in einer von ihrem Wohnsitzkanton anerkannten Institution, die ihren Bedürfnissen in angemessener Weise entspricht, so hat sie Anspruch darauf, dass der Kanton sich im Rahmen von Absatz 1 an den Kosten des Aufenthalts in einer anderen Institution beteiligt, welche die Voraussetzungen nach Artikel 5 Absatz 1 erfüllt (Abs. 2). Diese Regelung müsse, so die Beschwerdeführerin weiter, analog auch für nichtinvalide Personen im Rahmen der Ergänzungsleistungen gelten, namentlich wenn der Kanton für sie keine adäquate Unterbringung und Betreuung in einem auf seinem Gebiet gelegenen Heim gewährleisten könne.
Dem kann nach dem Gesagten nicht zugestimmt werden. Die Koordination mit der Invalidenversicherung geht lediglich soweit, dass eine Institution, die nach der Definition des IFEG durch den Kanton anerkannt wird, auch nach dem ELG als Heim gelten soll (vgl.
BGE 139 V 358
E. 4.3 S. 364 mit Hinweis auf BBl 2005 6228 zu Art. 9 Abs. 5 lit. h E-ELG; AB 2006 N 1250 [Votum Bundesrat Merz, wonach für
Art. 7 IFEG
eine Verfassungsgrundlage besteht, nicht hingegen für einen Einschub in Art. 10 Abs. 2 lit. a E-ELG des Inhalts, dass sich die Kantone so weit an den Kosten des Aufenthaltes in einer anerkannten Institution beteiligen, dass keine Person wegen dieses Aufenthaltes Sozialhilfe benötigt; E. 6.1 hiervor]). Soweit darin eine Ungleichbehandlung zwischen invaliden und
BGE 143 V 9 S. 17
anderen nicht in einem Pflegeheim nach
Art. 39 Abs. 3 KVG
lebenden EL-Bezügern zu erblicken ist, fällt ein korrigierendes Eingreifen durch das Bundesgericht ausser Betracht (
Art. 190 BV
).
6.4
Die Beschwerdeführerin macht sodann geltend,
§ 5 ELG
/SZ würde keine Begrenzung der Tagestaxen für Kinder- und Jugendheime vorsehen. Solche Heime könnten nicht als heimähnliche Institutionen im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden, da es sich um Einrichtungen handle, welche der Interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen vom 13. Dezember 2002 (IVSE) unterstellt seien. Somit fehle eine gesetzliche Grundlage für die Begrenzung der Tagestaxen in Bezug auf die Heimaufenthalte der Kinder von B. Damit vermag die Beschwerdeführerin indessen nicht aufzuzeigen, inwiefern die Vorinstanz
§ 5 ELG
/SZ willkürlich ausgelegt und angewendet haben soll (nicht publ. E. 3.2 hiervor). Danach gelten als pflegebedürftig im Sinne dieser Bestimmung Personen, die in einem Pflegeheim leben, das auf der "Pflegeheimliste gemäss
Art. 39 KVG
" des Kantons Schwyz aufgeführt ist (vgl. etwa die ab 1. Januar 2015 gültige Liste im Anhang zum Regierungsratsbeschluss [RRB] Nr. 45/2015). Im Übrigen differenziert
§ 5 Abs. 1 ELG
/SZ nicht danach, ob das Alters- und Pflegeheim oder die heimähnliche Institution im Gebiet des Kantons liegt oder ausserhalb. Unbestritten anerkennt der Kanton Schwyz denn auch das Kinderheim G. und das Kinder- und Jugendheim H. im Kanton Zürich als Heime im EL-rechtlichen Sinne. Selbst wenn Kinder- und Jugendheime nicht unter den Begriff der heimähnlichen Institutionen im Sinne von
§ 5 ELG
/SZ zu subsumieren wären, könnte daraus nicht ohne Weiteres im Umkehrschluss gefolgert werden, der schwyzerische Gesetzgeber habe diese mit Bezug auf den anzuwendenden EL-Tarif mit Pflegeheimen nach
Art. 39 Abs. 3 KVG
i.V.m. Art. 10 Abs. 2 lit. a dritter Teilsatz ELG gleichstellen wollen. Inwiefern in diesem Zusammenhang der Umstand eine Rolle spielen soll, dass der Kanton Schwyz beide ausserkantonalen Heime bereits aufgrund seiner Zugehörigkeit zur IVSE (vgl. zum Zweck dieser interkantonalen Vereinbarung
BGE 142 V 271
E. 6.1 S. 275) anerkennt, wie die Beschwerdeführerin vorbringt, ist nicht ersichtlich. Nicht einzugehen ist auf die Ausführungen in der Beschwerde zur Finanzierung der Aufenthalte in Einrichtungen für Personen in besonderen Notlagen, in Kinder- und Jugendheimen und in Pflegefamilien im Kanton Schwyz nach dem Gesetz vom 28. März 2007 über soziale Einrichtungen (SEG; SRSZ 380.300); sie stehen ausdrücklich unter der unzutreffenden Prämisse, dass eine allfällige
BGE 143 V 9 S. 18
Begrenzung der Tagestaxe nicht zur Sozialhilfe-Abhängigkeit führen darf.
6.5
Schliesslich bringt die Beschwerdeführerin vor, der Fremdplatzierungsentscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sei für die Beschwerdegegnerin verbindlich und - bei unbestrittener Notwendigkeit (Gefährdung des Kindeswohls;
Art. 310 Abs. 1 ZGB
) - die Höhe der dadurch entstehenden Kosten von dieser in keiner Weise in Frage zu stellen. Inwiefern sich daraus im Kontext etwas zu ihren Gunsten ergibt, ist nicht ersichtlich.
BGE 135 V 134
, auf den sie sich zu berufen scheint, ist nicht einschlägig. Danach ist die Sozialhilfebehörde an den (bundesrechtskonform gefällten) Entscheid der zuständigen Behörde zur Unterbringung eines unmündigen Kindes in einem Heim gebunden. Sie kann gestützt auf kantonalrechtliche Sozialhilfebestimmungen die Übernahme der Kosten der angeordneten Massnahme nicht verweigern.
6.6
Die Beschwerde ist unbegründet. (...) | de |
719f7cd1-cf88-4c64-a698-8c0b288c8153 | Sachverhalt
ab Seite 202
BGE 115 V 202 S. 202
A.-
Rita B. (geb. 1966) leidet an beidseitiger Taubheit bei Status nach rezidivierendem Hörsturz links seit 1981 sowie
BGE 115 V 202 S. 203
angeborener Surditas rechts. Am 16. November 1985 nahm Prof. A., Chefarzt der Hals-, Nasen- und Ohrenklinik am Kantonsspital L., eine Cochlea-Implant-Operation am linken Ohr vor, nachdem die Anpassung eines Hörgerätes keinen Erfolg gezeitigt hatte. (Zur Umschreibung des Cochlea-Implantats (CI) vgl. den Sachverhalt in
BGE 115 V 191
.) Dank dieser Rehabilitationsmethode war Rita B. nach kurzer Zeit in der Lage, Höreindrücke von Stimme und Sprache so zu verarbeiten, dass sie gewohnte Stimmen wieder verstehen, ohne Probleme Unterhaltungen führen und ihren Beruf als selbständige Damenschneiderin ausüben konnte.
Am 25. September 1985 ersuchte Rita B. die Invalidenversicherung um Kostengutsprache für das CI. Gestützt auf eine Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) vom 27. November 1985 beschloss die Invalidenversicherungs-Kommission, das Gesuch abzuweisen; für das CI bestehe kein Anspruch auf medizinische Massnahmen, weil das Verfahren noch in der Entwicklungsphase stehe. Mit dieser Begründung lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Luzern das Leistungsbegehren am 15. Januar 1986 verfügungsweise ab.
B.-
Rita B. führte Beschwerde mit dem Antrag, die Invalidenversicherung sei zur Übernahme der mit der Operation verbundenen Kosten zu verpflichten. Nachdem die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde geschlossen hatte, äusserte sich Prof. A. in einer Replik zu medizinischen Gesichtspunkten. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern holte zur Klärung medizinischer Fragen Auskünfte bei verschiedenen Chefärzten schweizerischer Universitätskliniken ein und ersuchte das BSV um eine Stellungnahme. Mit Entscheid vom 4. November 1987 hob es die angefochtene Kassenverfügung in Gutheissung der Beschwerde auf und verpflichtete die Invalidenversicherung, die CI-Operation zu übernehmen.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das BSV, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
Während Rita B. auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Im vorliegenden Fall ist streitig, ob die Invalidenversicherung für das CI aufzukommen hat. Dabei fällt eine Übernahme als
BGE 115 V 202 S. 204
Hilfsmittel nach Massgabe von
Art. 21 IVG
oder als medizinische Massnahme bei Geburtsgebrechen gemäss
Art. 13 IVG
in Betracht.
2.
(Ausführungen darüber, dass das CI nicht unter den Begriff des Hilfsmittels nach
Art. 21 IVG
fällt; siehe
BGE 115 V 193
Erw. 2.)
3.
Nach
Art. 13 IVG
haben minderjährige Versicherte Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2).
Als Geburtsgebrechen im Sinne von
Art. 13 IVG
gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen (
Art. 1 Abs. 1 GgV
). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang aufgeführt; das Eidgenössische Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die nicht in der Liste im Anhang enthalten sind, als Geburtsgebrechen im Sinne von
Art. 13 IVG
bezeichnen (
Art. 1 Abs. 2 GgV
). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (
Art. 2 Abs. 3 GgV
).
4.
a) Die 1966 geborene Beschwerdegegnerin leidet an angeborener Taubheit rechts, einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 445 GgV-Anhang, welche sich bei Status nach rezidivierendem Hörsturz links auf eine beidseitige Taubheit ausdehnte. Die Invalidenversicherung hat somit die von Prof. A. am 16. November 1985 vorgenommene CI-Operation samt Gerät zu übernehmen, sofern die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
b) bis d) (Ausführungen darüber, dass es sich beim CI um eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Massnahme handelt; siehe
BGE 115 V 195
Erw. 4b-d.)
e) Zu prüfen ist des weiteren, ob die Massnahme den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstrebt, wie dies nach
Art. 2 Abs. 3 GgV
verlangt wird.
aa) In tatbeständlicher Hinsicht steht fest, dass die Beschwerdegegnerin trotz angeborener Taubheit rechts eine normale Sprachentwicklung durchgemacht hat und die vollständige Ertaubung erst postlingual, im Alter von 19 Jahren, eingetreten ist.
BGE 115 V 202 S. 205
Medikamentöse Therapien und die Anpassung eines konventionellen Hörgerätes blieben ohne Erfolg. Die vom Mitarbeiterstab von Prof. A. vorgenommenen umfangreichen Abklärungen ergaben, dass die Versicherte sowohl in psychologischer Hinsicht wie auch bezüglich der Ergebnisse der Messungen der Nervenleitfähigkeit die Voraussetzungen für ein CI erfüllte. Die Resultate der Voruntersuchungen aufgrund subtiler Testmethoden liessen zudem mit grosser Wahrscheinlichkeit den Schluss zu, dass eine Versorgung des linken Ohres die Wiedergewinnung von Höreindrücken insbesondere in den Sprachbereichsfrequenzen vermitteln werde; Misserfolge liessen sich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ausschliessen.
bb) (Ausführungen darüber, dass die geforderte Zweckmässigkeit der Versorgung mit einem CI im Rahmen von
Art. 13 IVG
gleich zu beurteilen ist wie bei
Art. 12 IVG
; vgl.
BGE 115 V 191
.)
cc)
Art. 2 Abs. 3 GgV
verlangt sodann, dass die medizinischen Massnahmen den therapeutischen Erfolg in einfacher Weise anstreben. Dieser Verhältnismässigkeitsgrundsatz beschlägt die Relation zwischen den Kosten der medizinischen Massnahme einerseits und dem mit der Eingliederungsmassnahme verfolgten Zweck anderseits (
BGE 103 V 16
Erw. 1b,
BGE 101 V 53
Erw. 3d mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 112 V 399
und
BGE 99 V 35
Erw. 1). Eine betragsmässige Begrenzung der notwendigen Massnahmen käme mangels einer ausdrücklichen gegenteiligen Bestimmung bloss in Frage, wenn zwischen der Massnahme und dem Eingliederungszweck ein derart krasses Missverhältnis bestände, dass sich die Übernahme der Eingliederungsmassnahme schlechthin nicht verantworten liesse (in diesem Sinne
BGE 107 V 87
Erw. 2 bezüglich des Anspruchs auf Vergütung der Transportkosten bei der Sonderschulung).
Zu beachten ist im Zusammenhang mit der Frage nach der Verhältnismässigkeit der Massnahme, dass die Geburtsgebrechen in der Invalidenversicherung eine Sonderstellung einnehmen. Denn minderjährige Versicherte können gemäss
Art. 8 Abs. 2 IVG
unabhängig von der Möglichkeit einer späteren Eingliederung in das Erwerbsleben die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen beanspruchen. Eingliederungszweck ist die Behebung oder Milderung der als Folge eines Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung.
Schliesslich hat der Versicherte nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen
BGE 115 V 202 S. 206
Vorkehren. Denn die Eingliederungsmassnahmen sind lediglich insoweit zu gewähren, als dies im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (
BGE 112 V 399
mit Hinweisen; ZAK 1985 S. 172 Erw. 3a).
5.
Die vorstehend aufgestellten Erfordernisse hinsichtlich Zweckmässigkeit und Einfachheit der medizinischen Vorkehr sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Nachdem herkömmliche Hörapparate nicht zum Ziel geführt, die Abklärungen die Eignung für die Versorgung mit einem CI ergeben hatten und medizinisch-prognostisch mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Erfolg zu erwarten war (
BGE 98 V 34
Erw. 2), müssen die Notwendigkeit und Zweckmässigkeit der medizinischen Massnahme bejaht werden. Mit dem kantonalen Gericht darf auch angenommen werden, dass die an sich sehr hohen Kosten (rund 27'000 Franken für das Gerät, zuzüglich Operations- und Spitalaufenthalts- sowie Gebrauchstrainingskosten) in einem vernünftigen Verhältnis zum Eingliederungserfolg stehen. Mit dem CI ist der Beschwerdegegnerin nicht nur ein annähernd normaler und den vor der vollständigen Ertaubung bestandenen Verhältnissen fast gleichwertiger Sprachkontakt ermöglicht worden. Zusätzlich wurde sie in die Lage versetzt, eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit als selbständige Damenschneiderin aufzunehmen. Zwar ist im Rahmen von
Art. 13 IVG
nicht vorausgesetzt, dass die Massnahme die berufliche Eingliederung unmittelbar beeinflusst und die Erwerbsfähigkeit dauernd und erheblich verbessert. Indessen darf dieser Gesichtspunkt neben dem eigentlichen Eingliederungszweck, der in der Milderung der gesundheitlichen Beeinträchtigung besteht - bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Massnahme ebenfalls nicht völlig ausser acht bleiben, zumal der Invalidenversicherung durch die geglückte berufliche Eingliederung anderweitige Aufwendungen, z.B. für Massnahmen beruflicher Art, erspart bleiben. Unter diesen Umständen kann entgegen der Auffassung des BSV nicht gesagt werden, dass die Kosten für das CI in einem unverantwortbaren Verhältnis zum angestrebten (und auch erreichten) Eingliederungszweck stehen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demzufolge unbegründet.
6.
a) Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das CI das Resultat einer biotechnischen Entwicklung darstellt, welche die kommunikativen Fähigkeiten eines postlingual Ertaubten hinsichtlich Sprachverständnis und Sprachverständlichkeit in bisher nicht gekanntem Ausmass zu verbessern vermag. Laut Ausführungen
BGE 115 V 202 S. 207
von Prof. P., Vorsteher der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kantonsspital B. (Bericht über den 3. Internationalen Kongress der Schwerhörigen vom 3. bis 8. Juli 1988 in Montreux, S. 56), ist es unter der Voraussetzung, dass postoperativ ein intensives Hör- und Sprachtraining durchgeführt wird, möglich, dass der Gehörlose durch ein CI folgendes erreicht: Er kann Umgebungsgeräusche erkennen und voneinander unterscheiden; sein Sprachverständnis wird bei gleichzeitigem Lippenablesen ganz erheblich gebessert; auch ohne visuelle Hilfsmittel wird in vielen Fällen ein sozial ausreichendes, in manchen Fällen sogar vollständiges offenes Sprachverständnis wiedererlangt; der Patient erhält die Möglichkeit, seine eigene Sprache auditiv zu kontrollieren und dadurch die Verständlichkeit seiner Sprache zu verbessern und teilweise völlig zu normalisieren.
Daraus sind bezüglich Übernahme des CI als medizinische Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung nach
Art. 13 IVG
folgende Schlüsse zu ziehen: Das CI ist als medizinische Massnahme zu qualifizieren, sofern die hinsichtlich Zweckmässigkeit genannten Voraussetzungen (Erw. 4e/bb hievor) erfüllt sind. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass die Chancen der kommunikativen Rehabilitation, welche im Rahmen von
Art. 13 IVG
hinreichend ist, bei einem Versicherten, der an einer unmittelbar nach der Geburt aufgetretenen - prälingualen - Gehörlosigkeit leidet, nicht günstig sind. Bei angeborener Taubheit werden daher aufgrund der Testerfahrungen nur besonders ausgewählte Versicherte für ein CI in Frage kommen.
b) und c) (Vgl.
BGE 115 V 201
Erw. 6b und c.) | de |
371834f9-df26-4526-b399-0be400d29c17 | Sachverhalt
ab Seite 55
BGE 113 IV 54 S. 55
F., der nach Verbüssung von knapp fünf Monaten Gefängnis am 17. November 1979 bedingt aus dem Strafvollzug entlassen worden war, begann im Herbst 1983 erneut, Betäubungsmittel zu konsumieren, und ab Februar 1985 solche zu verkaufen und zu vermitteln. Das Strafamtsgericht von Bern verurteilte ihn deswegen am 18. Dezember 1985 zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 15 Monaten. Auf Appellation der Staatsanwaltschaft verweigerte das Obergericht des Kantons Bern am 21. November 1986 den bedingten Aufschub des Strafvollzugs.
Eine von F. dagegen gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde weist das Bundesgericht ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Aufschub des Vollzugs einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 18 Monaten ist gemäss
Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
nicht zulässig, wenn der Verurteilte innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Tat wegen eines vorsätzlich begangenen Verbrechens oder Vergehens eine Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe von mehr als drei Monaten verbüsst hat. | de |
2109728b-756c-45be-a248-b1d7b4e151b0 | Sachverhalt
ab Seite 180
BGE 99 IV 180 S. 180
A.-
Das Kantonsgericht Schaffhausen verpflichtete am 11. Februar 1969 den italienischen Staatsangehörigen Armando Trapletti, seinem ausserehelichen Kinde Michaela Maria Lässer von dessen am 17. November 1967 erfolgten Geburt an bis zur Vollendung des achtzehnten Altersjahres monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 120.-- zuzüglich allfällige gesetzliche oder vertragliche Kinderzulagen zu zahlen.
Am 16./20. Mai 1973 erstattete die Bezirkshauptmannschaft
BGE 99 IV 180 S. 181
Feldkirch, welche die Vormundschaft über Michaela Maria Lässer führt, beim Polizeikommando des Kantons Schaffhausen gegen Trapletti Strafanzeige wegen Vernachlässigung dieser Unterhaltspflicht. Sie machte geltend, Ende Mai 1973 erreichten die rückständigen Beiträge Fr. 7136.--. Der Beschuldigte habe in Schaffhausen zivilrechtlichen Wohnsitz, halte sich dort hin und wieder besuchsweise bei seinen Angehörigen auf, sei aber im übrigen an anderen Orten als Musiker tätig.
Polizeiliche Erhebungen in den Kantonen Schaffhausen, Bern und Graubünden ergaben, dass der Beschuldigte vom 4. Dezember 1971 bis Ende Januar 1972 in Valbella (GR) gewesen war, sich im Juni 1973 in Biel aufhielt, den Monat Juli 1973 in Interlaken verbrachte und anschliessend je einen halben Monat in Basel und Luzern, nachher vierzehn Tage in Deutschland und schliesslich vom 15. September 1973 an in Feldrein am Wörtersee zu arbeiten beabsichtigte. Vom 6. Juni 1972 bis am 6. Juni 1973 soll er dem von der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch mit dem Inkasso der Unterhaltsbeiträge beauftragten Amtsvormund von Tiefencastel insgesamt Fr. 600.-- geleistet haben.
B.-
Am 24. Juli 1973 ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen den Generalprokurator des Kantons Bern, die Verfolgung des Beschuldigten im Kanton Bern einzuleiten. Der Generalprokurator antwortete am 26. Juli 1973, die Behörden des Kantons Schaffhausen seien zuständig.
Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft stellte hierauf das Polizeikommando des Kantons Schaffhausen am 10. August 1973 durch Befragung des Vaters des Beschuldigten fest, dass dieser im Laufe eines Jahres zwei Wochen in Schaffhausen in den Ferien war und sich auch an zwei freien Sonntagen dort aufhielt.
C.-
Mit Gesuch vom 28. August/7. September 1973 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen der Anklagekammer des Bundesgerichtes, die Behörden des Kantons Bern zur Verfolgung und Beurteilung des Beschuldigten zuständig zu erklären. Erwägungen
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
1.
Wer in der Zeit, da er sich in der Schweiz befindet, im Sinne des
Art. 217 StGB
Unterhaltspflichten vernachlässigt, hat sich selbst dann hier zu verantworten, wenn der Unterhaltsberechtigte
BGE 99 IV 180 S. 182
den Wohnsitz im Auslande hat. Der Unterhaltspflichtige kann diesfalls überall dort verfolgt werden, wo er zur Zeit, da er hätte erfüllen sollen, sich aufhielt. An diesen Orten fasste er den massgebenden Entschluss und dauerte sein böser Wille, seine Arbeitsscheu oder seine Liederlichkeit an, und hier unterliess er die Vorkehren, die er hätte treffen müssen, um dem Berechtigten die geschuldeten Leistungen zukommen zu lassen. Das sind im Sinne des
Art. 346 StGB
die Ausführungsorte seines Unterlassungsdeliktes (
BGE 82 IV 68
f.).
Bestehen mehrere Ausführungsorte im Sinne dieser Rechtsprechung, so befindet sich der Gerichtsstand an jenem, wo die Untersuchung zuerst angehoben wurde (
Art. 346 Abs. 2 StGB
). Es kommt nicht darauf an, an welchem der mehreren Orte der Beschuldigte sich länger aufgehalten hat oder im Zeitpunkt der Anhebung der Untersuchung sich befindet. Unerheblich ist auch, an welchem Orte er arbeitete und Verdienst hatte; denn die Erfüllungshandlungen sind nicht nur an diesem Orte, sondern überall dort vorzunehmen, wo der Unterhaltspflichtige weilt und dazu in der Lage ist, z.B. auch an seinen Ferienorten. Das ergibt sich schon daraus, dass auch der Müssige einen Gerichtsstand haben muss.
2.
Die Untersuchung ist am 20. Mai 1973 durch den Eingang der Strafanzeige beim Polizeikommando des Kantons Schaffhausen angehoben worden (
BGE 68 IV 6
, 53,
BGE 71 IV 59
,
BGE 75 IV 140
). Schaffhausen ist auch einer der mehreren Ausführungsorte. Hier hat sich der Beschuldigte in der Zeit, da er Unterhaltsbeiträge hätte leisten sollen, zeitweise aufgehalten. Der Gerichtsstand befindet sich daher in Schaffhausen.
3.
Es besteht kein Grund, in sinngemässer Anwendung des
Art. 263 BStP
hievon abzuweichen. Die Einkommens- und Verdienstverhältnisse des Beschuldigten können von Schaffhausen aus nicht weniger gut festgestellt werden als von einem seiner stets wechselnden Arbeitsorte aus. Es ist namentlich nicht zu ersehen, inwiefern das vom Kanton Bern aus, den Trapletti schon wieder verlassen hat, besser geschehen könnte. Dazu kommt, dass der Beschuldigte in Schaffhausen seine Schriften hinterlegt hat, diesen Ort also als Mittelpunkt seines Lebens betrachtet, soweit ein herumreisender Musiker ein solches Zentrum überhaupt haben kann. Mit Schaffhausen bleibt er durch seine Angehörigen, die er von Zeit zu Zeit besucht, auch am engsten in Verbindung. Hier kann über ihn und seinen jeweiligen Aufenthaltsort Auskunft erhalten werden,
BGE 99 IV 180 S. 183
und hier behalten ihn wegen seines polizeilichen Wohnsitzes vermutlich auch die Steuerbehörden im Auge. In Schaffhausen wurde auch der Prozess durchgeführt, in dem der Beschuldigte zur Leistung der Unterhaltsbeiträge verpflichtet wurde. | de |